Betteln und Spenden: Eine soziologische Studie über Rituale freiwilliger Armenunterstützung, ihre historischen und aktuellen Formen sowie ihre sozialen Leistungen [Reprint 2010 ed.] 9783110885668, 9783110135787

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Betteln und Spenden: Eine soziologische Studie über Rituale freiwilliger Armenunterstützung, ihre historischen und aktuellen Formen sowie ihre sozialen Leistungen [Reprint 2010 ed.]
 9783110885668, 9783110135787

Table of contents :
Einleitung
1 Marksteine und Wendepunkte in der historischen Entwicklung der Armenfürsorge
2 Die Grundmerkmale und Grundformen formal freiwilliger Armenunterstützung und die Definition des Forschungsgegenstandes
3 Die Entfaltung des Forschungsinteresses, der Fragestellung sowie Angaben zur Methode
4 Direktes Betteln und Spenden
5 Vermitteltes Betteln und Spenden
6 Die Deutung
Literatur
Bildteil
Abbildungsnachweis

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Materiale Soziologie TB 2 Betteln und Spenden

Materiale Soziologie TB 2

Materielle Soziologie stellt Arbeiten vor, in denen konkrete kulturelle Lebensformen dokumentiert und analysiert werden. Soziologie ist hier Wirklichkeitswissenschaft: der untersuchte Einzelfall kommt selbst zur Sprache. Beschreibung, Deutung und Theorie müssen sich am Material bewähren, an der soziologischen Rekonstruktion von Milieus, Stilen, kommunikativen Mustern, Handlungsfiguren und Sinnkonstruktionen des gesellschaftlichen Lebens. Materiale Soziologie vereinigt Perspektiven von Wissens-, Kultur- und Sprachsoziologie einerseits, Kulturanthropologie und Ethnologie andererseits. Die Autoren stützen sich auf Verfahren der Ethnographie, der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und der Gattungsanalyse: kontrollierte Rekonstruktion tritt an die Stelle sonst üblicher Konstruktion und Spekulation. Herausgegeber

Prof. Dr. Jörg R. Bergmann, Gießen Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner, Hagen Prof. Dr. Thomas Luckmann, Konstanz

Andreas Voß

Betteln und Spenden Eine soziologische Studie über Rituale freiwilliger Armenunterstützung, ihre historischen und aktuellen Formen sowie ihre sozialen Leistungen

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin · New York 1993

Dr. Andreas Voß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Soziologie II: Kommunikation — Wissen — Kultur im Fachbereich Erziehungs-, Sozialund Geisteswissenschaften der FernUniversität Hagen.

Das Buch enthält 42 Abbildungen.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsauf nähme Voss, Andreas:

Betteln und Spenden : eine soziologische Studie über Rituale freiwilliger Armenunterstützung, ihre historischen und aktuellen Formen sowie ihre sozialen Leistungen / Andreas Voss. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Materiale Soziologie ; TB 2) ISBN 3-11-013578-7 NE: GT

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin. Einbandentwurf: Johannes Rother, Berlin.

Vorwort und Danksagungen Wer sich aus soziologischer Perspektive mit Betteln und Spenden beschäftigt, sollte, um keine falschen Erwartungen zu wecken, gleich zu Beginn seinen Standpunkt im Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand darlegen: Im folgenden wird von 'Armen' und 'Reichen' ebenso die Rede sein, wie von 'Mildtätigen' und 'Hartherzigen'. Dennoch ist diese Arbeit nicht unmittelbar geeignet, praktische Fragen aus den Bereichen der Sozialarbeit oder der internationalen Entwicklungshilfe zu beantworten. Solche Fragen werden hier noch nicht einmal gestellt. Das, was im alltäglichen Leben als schreiendes Unrecht, als empörendes Elend, aber auch das was, als milde Gabe und gute Tat gilt, wird hier zum Objekt distanzierter Betrachtung. Wir wollen etwas über die Beziehungen in Erfahrung bringen, in denen Bettler und Angebettelte als sozial Handelnde zueinander stehen und dabei werden wir uns streng an einen Satz von Peter L. Berger halten: "Man darf soziales Handeln eben nicht mit Humanität verwechseln."1 Allen denjenigen, die mir für diese Arbeit ihre Zeit, Energie und Kompetenz 'spendeten', gilt mein Dank: Thomas Lau, den ich während seiner Studie über die Punks an die zweifelhaftesten Orte begleiten mußte, um dort nach Spuren der Punk-Kultur zu suchen, unterstützte mich nicht nur bei der Durchsicht des Manuskriptes. Mit unserer gemeinsamen Feldbeobachtung anläßlich der Veranstaltung 'Arbeitslose spielen Monopoly für die Aktion Sorgenkind' begann diese Arbeit. Hans-Georg Soeffner, der diese Arbeit betreute, warf immer wieder seinen 'Strukturblick' auf Daten und Interpretationen und ermutigte mich, entweder den eingeschlagenen Weg der Analyse fortzusetzen, oder er machte mich auf Irrwege aufmerksam, die es zu meiden galt. Ulrike Krämer und Dietrich Garstka lasen Korrektur und gaben darüber hinaus wichtige Hinweise zum Inhalt dieser Studie. Geoffrey Froner und Jörg Meyer unterstützten micht mit Fotos von Bettlern und Spendern. Lutz Worch, der Leiter des 'Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen' (DZI) in Berlin und seine Mitarbeiter ermöglichten mir, während eines Forschungsaufenhaltes an ihrem Institut, ihre Datenbestände zu durchleuchten. Für die gewährte Gastfreiheit und Hilfe vielen Dank. Ich danke meinen Eltern, die mich durch unermüdliche Zeitungslektüre auf Nachrichten über Bettler und Spender hinwiesen. Und schließlich danke ich meiner Frau Susanne, die mich in jeder Phase der Arbeit unterstützte. Anmerkung l Berger, Peter L. (1982): Einladung zur Soziologie. 3. Auflage. München. S. 12

Inhalt

1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7. 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2

Einleitung l Marksteine und Wendepunkte in der historischen Entwicklung der Armenfürsorge 7 Das vorchristliche Altertum 7 Die frühchristliche und die kirchliche Armenfürsorge 9 Die Koexistenz von kirchlicher und städtischer Armenfürsorge und der Einfluß der Reformation auf das Armenwesen 14 Die Zentralisierung des Unterstützungswesens im Absolutismus . . . . 16 Bürgerliche Privatwohltätigkeit und der Aufbau der Sozialversicherungen 17 Der gesetzliche Anspruch auf Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland 20 Ergebnisse des historischen Rückblicks 21 Die Grundmerkmale und Grundformen formal freiwilliger Armenunterstützung und die Definition des Forschungsgegenstandes 37 Die Grundmerkmale 37 Die Grundformen 38 Die Definition des Forschungsgegenstandes 38 Die Entfaltung des Forschungsinteresses, der Fragestellung sowie Angaben zur Methode 41 Die Entfaltung des Forschungsinteresses 41 Die Fragesstellung 43 Angaben zur Methode 45 Direktes Betteln und Spenden 51 Das verdeckte aktive Betteln (Betteln en passant) und die dazugehörenden Spendeformen 51 Offenes aktives Betteln und die dazugehörigen Spendeformen 53 Das passive Betteln und die dazugehörenden Spendeformen 56 Auskünfte von Spendern 65 Auskünfte von Nicht-Spendern 70 Zusammenfassung 75 Erste Beschreibung des Handlungstypus direktes Betteln und Spenden 78 Der aktuelle Handlungstypus direktes Betteln und Spenden und seine historischen Vorgänger 82 Vermitteltes Betteln und Spenden 91 Die Spendenbriefe und ihre Texte 91 Brief Nr.l 92 Brief Nr.2 96 Brief Nr.3 101 Zusammenfassung und exemplarische Korpuserweiterung 105 Die Spendenbriefe und ihre bildlichen Elemente 109

VIII

Inhalt

5.3 5.4

Schriftliche Äußerungen von Spendenbriefempfängern 111 Erste Beschreibung des Handlungstypus vermitteltes Betteln und Spenden 114 Der aktuelle Handlungstyp vermitteltes Betteln und Spenden und seine historischen Vorgänger 115 Die Deutung 123 Das Bedrohungspotential innerhalb der Begegnung von Bettelnden mit Spendern und Passanten 123 Die Spende, ein freiwilliger Verzicht auf ein Minimum zugunsten des Erhaltes eines Maximums 125 Betteln und Spenden und die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt .. 126 Die Trennung der an Betteln und Spenden beteiligten Gruppen . . . . 133 Der Akt der Spende und andere Formen der Übergabe materieller Güter 133 Betteln, Spenden und das Opfer 134 Formen historischer Beziehungen zwischen den Bettel- und Spenderitualen und dem Opferritus 138 Die sozialen Leistungen der Bettel- und Spenderituale 140 Die Schaffung des Armutsstatus 140 Die Konstruktion von Distanz 140 Die Signalisierung von Zugehörigkeit zur Gesellschaft 144 Die Begrenzung des Mitgefühls 148 Zusammenfassung 151 Schlußbemerkungen 153 Literatur 169 Bildteil 175 Abbildungsnachweis 216

5.5 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.6.1 6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3 6.7.4 6.8 6.9

Einleitung "Hilfe!!! Bitte helft einem armen Invaliden mit ganz kleiner Rente die kaum zum Leben reicht mit einer kleinen Spende. Ich möchte nicht stehlen gehen um meinen Hunger zu stillen. Vielen Dank."

Diesen Text, mit Filzstift auf ein Stück Pappkarton geschrieben, hält im Sommer 1990 ein alter, beinamputierter Mann, an die Wand eines Geschäftshauses gelehnt, Passanten im Zentrum einer bundesdeutschen Großstadt entgegen. Aufforderungen zur Spende begegnen uns an vielen Orten: sei es in Fußgängerzonen durch Bettler, sei es an Bankschaltern in Form von Einzahlungsformularen für Hilfsorganisationen oder in Kirchen durch Klingelbeutel und Opferstock. Nachrichten über Spenden lassen sich täglich in den Printmedien finden, wie z.B. die folgende: "Prinzessin Caroline von Monaco und Modeschöpfer Karl Lagerfeld haben eine Hilfsaktion für krebskranke Kinder gestartet. Die Prinzessin ließ sich von Karl Lagerfeld für eine Ausstellung fotografieren - spendet sozusagen ihren schönen Körper für die kranken Kinder. (...) Das schönste an Carolines Fotos: Man kann sie kaufen - und Gutes tun." (BUNTE vom 6.7.1989)

Gebettelt und gespendet wird für Menschen, Tiere und Sachen. Dabei können Spenden in Form von Bargeld, als Sachspende oder als Banküberweisung den Besitzer wechseln. Eine der zahlreichen gleichlautenden Lexika-Definitionen des Betteins erklärt diese Tätigkeit als "das Ansprechen von Fremden um Gaben, sei es aus wirklicher oder vorgespielter Bedürftigkeit".1 Die Lexika-Definitionen des Spendens heben ab auf den Akt des Gebens ("als Spende geben"). Neben den wohltätigen Formen werden noch weitere Arten des Spendens genannt, so z.B. das Spenden von Blut, das Spenden der Sakramente, das Spenden des Segens oder das Spenden von Beifall.2 Uns interessiert der mildtätige bzw. wohltätige Charakter des Spendens, denn wir wollen etwas über eine aktuelle Form freiwilliger Armenunterstüzung und der sich daraus ergebenden Beziehung zwischen Bettelnden und Angebettelten in Erfahrung bringen. Das mildtätige bzw. wohltätige Spenden gehört in den Bereich freiwilliger Hilfe und Unterstützung für bedürftige und arme Menschen. Die wissenschaftlichen und staatspolitischen Zwecke der Spende spielen in dieser Arbeit keine Rolle. Die kirchlichen und religiösen Zwecke der Spende interessieren uns dann, wenn damit die Unterstützung Armer und Bedürftiger intendiert ist. Unter Armut bzw. Bedürftigkeit wollen wir in unserem Zusammenhang nicht primär die wirtschaftliche Lage einer Person verstehen, sondern die Art und Weise, wie durch das Betteln Armut und Bedürftigkeit ausgedrückt werden, zum

Einleitung

Gegenstand unserer Überlegungen machen. Mit der Frage, ob es sich dabei jeweils um tatsächliche oder vorgespielte Bedürftigkeit handelt, beschäftigen wir uns hier nicht. Uns interessiert das Beziehungsnetz, welches Betteln und Spenden als aufeinander bezogene, korrespondierende Handlungen zwischen unterschiedlichen Personen knüpfen.3 Dieses Beziehungsnetz umfaßt neben den Bettelnden und Spendenden auch diejenigen, die auf das Betteln nicht mit einer Spende reagieren. Wir werden zwei unterschiedliche Arten von Bettel- und Spendehandlungen untersuchen: zum einen die direkte Begegnung von Bettlern und Spendern in der Face-to-face-Situation4, wie sie z.B. in unseren Fußgängerzonen zu beobachten ist und zum anderen das vermittelte Betteln und Spenden, bei dem, ausgelöst durch sogenannte Bettel- oder Spendenbriefe, die Spenden über spendensammelnde Hilfsorganisationen zu den Bedürftigen gelangen. In Zusammenhang mit dieser Form der Armenunterstützung sprechen besonders die Verfasser solcher Bettel- oder Spendenbriefe weniger von betteln, als vielmehr von Spendenwerbung. Werfen wir nun einen ersten Blick auf den Umfang und die Organisationsformen, in denen sich Betteln (Spendenwerbung) und Spenden z.Z. abspielen: Die Spendeaktivitäten der Bundesbürger sind nur sehr schwer in Zahlen auszudrükken, da sie nicht zentral erfaßt werden. Schätzungen gehen davon aus, daß jährlich ca. 3,8 Milliarden DM gespendet werden.5 77% der bundesdeutschen Bevölkerung ab 16 Jahre spenden regelmäßig oder gelegentlich.6 Von diesem Anteil spenden ca. 13% direkt an Bettler.7 Die Zahl derer, die direkt aufgrund eigener Bedürftigkeit betteln, ist nicht bekannt. Die durchschnittliche Summe pro Spender beträgt 60-70 DM pro Jahr.8 Gespendet wird von allen Bevölkerungskreisen.9 Der größte Teil der Spendengelder wird für bedürftige und arme Menschen sowie für Menschen, die sich in akuten oder latenten Notsituationen befinden, gesammelt und gespendet. Alltagssprachlich bezeichnet man diese Art von Spenden, wie wir sahen, als wohltätige oder mildtätige Spenden. Die wohltätige oder mildtätige Spende wird überwiegend durch eingetragene Vereine gesammelt.10 Ein eingetragener Verein kann dann von der Körperschaftssteuer, der Gewerbesteuer, der Vermögenssteuer und von Teilen der Umsatzsteuer befreit werden, wenn er nach seiner Satzung gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwekken dient (KStG § 5). Die Begriffe gemeinnützige Zwecke, mildtätige Zwecke, kirchliche Zwecke sowie der Begriff Selbstlosigkeit finden ihre juristische Definition in der Abgabenordnung (AO §§ 52-55). Die uns besonders interessierenden mildtätigen Zwecke sind aus juristischer Sicht dann gegeben, wenn Personen selbstlos (ohne eigenwirtschaftliche Zwecke) unterstützt werden, weil sie "infolge ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes auf die Hilfe anderer angewiesen sind", oder wenn Personen unterstützt werden, deren Bezüge bestimmte, gesetzlich festgelegte Grenzen nicht überschreiten (AO § 53). Das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) in Berlin geht davon aus, daß im Jahre 1990 etwa 20.000 Vereine existierten, die um Spenden für ihre Zwecke warben.11 Von diesen 20.000 Vereinen traten aber aufgrund der Erfahrungen des DZI nur 10% im größeren Umfang, also z.B. durch überregionale Spendenaufrufe, in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Von diesen überregional tä-

Einleitung

tigen Vereinen sind dann noch einmal ca. 250-300 herauszuheben, die sich, was den Umfang der Spendenwerbung und der Hilfeleistung angeht, bundesweit profilieren. Von diesen 250-300 gemeinnützigen Vereinen sammelt der größere Teil (über 200) für arme und bedürftige Menschen.12 Der kleinere Teil wirbt und sammelt Spenden, z.B. für die Renovierung historischer Gebäude, für den Schutz der Umwelt oder für den Erhalt bestimmter Tierarten. Bedürftige Personen sind in unserer Gesellschaft selbstverständlich nicht ausschließlich und noch nicht einmal vorwiegend auf die Unterstützung durch Spenden angewiesen. Neben dieser Unterstützungsart steht die - gegenüber der freiwilligen Spende vom Umfang her eindeutig dominantere - Form der staatlichen Unterstützungsleistung. Wie kommt es nun auf der einen Seite trotz umfangreicher sozialstaatlicher Maßnahmen dazu, daß bis heute erfolgreich um mildtätige Spenden gebettelt bzw. geworben werden kann, und wie ist es auf der anderen Seite zu erklären, daß die Spender offensichtlich kontinuierlich dem Anliegen von Bettlern und Spendenwerbern nachkommen? Oder anders formuliert: Wie und warum funktioniert das Betteln und Spenden neben einem ausgebauten System staatlicher Sozialleistungen? Die sich daran beinahe zwangsläufug anschließende Frage lautet: Welche Rückschlüsse auf die heutige Gesellschaft läßt eine Analyse des Bettel- und Spendenphänomens zu, und welchen individuellen und gesellschaftlichen Anforderungen entspricht das massenhafte Spenden der Bundesbürger? Um die Lösung dieser ersten Fragen in Angriff nehmen zu können und um weitere Fragen gezielt zu entwickeln, müssen wir zurücktreten, um einen größeren Blickwinkel auf das Phänomen des Betteins und mildtätigen Spendens zu erhalten: Betteln und Spenden, so behauptet der Untertitel dieser Arbeit, seien in ihren historischen und aktuellen Formen Rituale freiwilliger Armenunterstützung. Wie aber definiert sich formal die freiwillige Armenunterstützung, in welchem Verhältnis steht sie zu anderen nicht-freiwilligen, besonders den staatlichen Formen der Armenunterstützung? Wie stellt sich die historische Entwicklung der Beziehung zwischen Bettelnden und Angebettelten innerhalb der Face-to-face-Situation dar? Wie steht es, historisch gesehen, mit dem Verhältnis von mittelbarer und unmittelbarer Unterstützung von Bedürftigen bzw. Armen, und welche Gruppen oder Institutionen haben wann und mit welchen Begründungen das Recht auf die Mittlerposition zwischen Spender und Empfänger für sich in Anspruch genommen? Ein Rückblick in die Geschichte ist notwendig, denn nur aus der historischen Entwicklung der Armenfürsorge heraus lassen sich die Grundmerkmale und die heutige Stellung freiwilliger Armenunterstützung verstehen.13 Die historische Einordnung dient also zunächst der klassifikatorischen Herausarbeitung von Ähnlichkeits- und Kontrastmerkmalen innerhalb des weiten Bereiches der Unterstützung armer und bedürftiger Menschen. Später benötigen wir die historischen Daten dann, um den Wandel bzw. die Stabilität aktueller Bettel- und Spendehandlungen im Vergleich mit der historischen Entwicklung kenntlich machen zu können. Der Gang durch die Geschichte beschränkt sich im Hinblick auf die

Einleitung

zunächst rein klassifikatorische Bestimmung des Forschungsgegenstandes knapp und stichwortartig auf einige wenige Marksteine und Wendepunkte der Entwicklung der Organisations- und Finanzierungsformen der Armenfürsorge. Nach der Darstellung der historischen Entwicklung (Kapitel 1) werden auf deren Grundlage die klassifikatorischen Merkmale freiwilliger Armenunterstützung formuliert (Kapitel 2). Darauf aufbauend wird im selben Kapitel der Forschungsgegenstand definiert. Wir haben uns zu dem etwas ungewöhnlichen Verfahren entschlossen, die historische Rückschau der endgültigen Formulierung von Forschungsgegenstand und Fragestellung voranzustellen, um sicherzugehen, daß nicht zu früh Varianten der Armenunterstützung bei der Definition von Forschungsgegenstand und Fragestellung aus dem Blickfeld geraten, die bei der späteren Analyse von Nutzen gewesen wären. Darüber hinaus sind wir bei der Entfaltung des Forschungsinteresses (Kapitel 3) auf die historischen Fakten angewiesen. Nach der Formulierung von Forschungsinteresse und Fragestellung folgen ebenfalls im 3. Kapitel Angaben zur Methode der Untersuchung. Im 4. Kapitel beschäftigen wir uns mit dem direkten Betteln und Spenden, d.h. mit dem Zusammenspiel zwischen Bettelnden und Spendenden innerhalb der Face-to-face-Situation, wie es in den städtischen Fußgängerzonen zu beobachten ist. Anschließend behandeln wir das vermittelte Betteln (Spendenwerben) und Spenden. Dabei geht es im wesentlichen um die Analyse von Bettel- bzw. Spendenbriefen (Kapitel 5). Mit der Deutung im 6. Kapitel schließt die Untersuchung. Eine detaillierte Diskussion der zu unserem Thema bisher erschienenen Literatur erübrigt sich an dieser Stelle, weil es bislang keine Arbeiten gibt, die das Betteln und Spenden in einer empirischen Studie als Handlungsform gemeinsam erfassen und gebündelt in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Das bedeutet allerdings nicht, daß es zum Betteln und Spenden keine Literatur gäbe. Folgende Arten von Literatur befassen sich im weiteren Sinne mit unserem Thema: Es finden sich Arbeiten mit Schilderungen des Milieus der Armutsbevölkerung, in denen auch die Bettelpraxis immer wieder in einigen Kapiteln zur Sprache kommt, zu nennen sind in diesem Zusammenhang z.B. Girtler (1980) oder Preußer (1989). Darüber hinaus sind insbesondere aus der seit Mitte des letzten Jahrhunderts einsetzenden Dokumentation der Geschichte der Armenpflege zahlreiche Hinweise auf historische Bettel- und Spendeformen zu gewinnen, genannt seien hier z.B. Ratzinger (1884), Uhlhorn (1895) und Liese (1922). Von den neueren Werken, die sich mit der Geschichte der Armenfürsorge befassen, seien Sachße, Tennstedt (1980), Mollat (1984) und Geremek (1988) hervorgehoben. Eine weitere Informationsquelle für unser Thema bot sich in volkskundlichen Studien, als Beispiel sei hier besonders auf Koren (1954) verwiesen. Und schließlich gibt es die sogenannte Ratgeber-Literatur, wie z.B. Mann, Bokatt (1985) oder Müller-Werthmann (1985). Diese Arbeiten erteilen demjenigen, der sich mit der Absicht trägt, eine Spende zu leisten, in erster Linie Auskunft über die Seriosität von spendensammelnden Hilfsorganisationen.

Anmerkungen

Anmerkungen 1 Brockhaus Enzyklopädie. Bd.3. Mannheim 1987 2 Duden - Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich 1981 3 Mit Beziehungsnetz, Beziehungsgeflecht oder Beziehung meinen wir die Art und Weise, in der die an Bettel und Spende beteiligten Personen als sozial Handelnde miteinander umgehen. Dabei legen wir Max Webers Begriff des sozialen Handelns zugrunde. Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage. Tübingen. S.llff. 4 "Die Begegnung (face-to-face situation) ist die einzige soziale Situation, die durch zeitliche und räumliche Unmittelbarkeit gekennzeichnet ist. Sowohl der Stil als auch die Struktur der sozialen Beziehungen und Handlungen, die in dieser Situation stattfinden, sind dadurch wesentlich bestimmt." Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas (1979): Strukturen der Lebenswelt. Bd.l. Frankfurt a.M. S.91 5 "Die Untergrenze des Spendenaufkommens in der Bundesrepublik Deutschland liegt mit Sicherheit über 2 Mrd. DM. Schwerer festzustellen ist die Obergrenze." Mann, Robert und Bokatt, Werner (1985): Spendenmarkt Deutschland - Parteien, Vereine, Stiftungen, Wohlfahrtsverbände, Hilfsorganisationen. Hamburg. S.14 6 Einer repräsentativen Langzeitstudie des Instituts für Demoskopie Allensbach (1962-1985) sind folgende Größenordnungen zu entnehmen (Die Prozentzahlen geben den errechneten Anteil an der Bevölkerung ab 16 Jahre wieder. Den Befragten wurde eine Liste vorgelegt. Es waren Mehrfachnennungen möglich.): Die 77% der Bevölkerung, die spenden, unterteilen sich wie folgt: a) Bargeldspende: 40% gaben Geld in den kirchlichen Opferstock. 38% gaben Geld bei Haussammlungen. 37% gaben Geld in eine Sammelbüchse. b) Bargeldlose Spende: 29% überwiesen Geld für wohltätige Zwecke. ("Der Anteil dieser Spendenart ist in allen Bevölkerungssegmenten stark gestiegen, überdurchschnittlich bei den 30- bis 44jährigen, Personen mit höherer Schulbildung, gelegentlichen und seltenen Kirchenbesuchern.") c) Spende durch den Verkauf von Dienstleistungen: keine Angaben. d) Marktobjekt gekoppelte Spenden: 30% beteiligten sich an einer Lotterie für wohltätige Zwecke. 15% kauften Wohlfahrtsbriefmarken. e) Sachspenden: 54% gaben Sachen. Unter den Sachspenden dominiert die Kleiderspende mit 5o%. Die Lebensmittelspende liegt deutlich darunter mit 12% gefolgt von Spielzeug 8%, Möbeln 6%, Büchern 4%, Medikamenten 3%, Kinderwagen, Fahrräder, Fahrzeuge 2%, Öfen 1%. Institut für Demoskopie Allensbach (1985): Die Stellung der Freien Wohlfahrtspflege Kenntnisse, Erwartungen, Engagement der Bundesbürger, Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsumfragen 1962-1985. Allensbach. S.49ff. 7 Ebenda 8 Müller-Werthmann, Gerhard (1985): Markt der offenen Herzen - Spenden- ein kritischer Ratgeber. Hamburg. S.21 9 Mann, Robert und Bokatt, Werner: Spendenmarkt Deutschland. A.a.O. S.14 und S.16 10 Es handelt sich dabei in der Hauptsache um nichtwirtschaftliche Vereine, die nach dem Vereinsrecht organisiert sind. Das heißt, sie bestehen aus mindestens 7 Mitgliedern, haben einen Vorstand, eine Satzung und sind im Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichtes eingetragen (BGB §§ 23-79).

Einleitung

11 Robert Mann und Werner Bokatt sprechen von bis zu 80.000 Vereinen, die in der Bundesrepublik Deutschland als gemeinnützig und besonders förderungswürdig anerkannt sind. Die Schwierigkeit bei der Abschätzung der Anzahl dieser Vereine liegt in der Tatsache begründet, daß in diesem Bereich keinerlei zentrale Registrier- oder Meldepflicht existiert. "Nicht jeder (dieser Vereine) betreibt gezielt Spendenwerbung. Oft handelt es sich um nur örtlich tätige Gruppierungen, die für ihre Aktivitäten keine übermäßig hohen Summen benötigen und nur gelegentlich von Gönnern unterstützt werden." Ebenda S.16 12 Diese Zahl geht auf eigene Recherchen auf Grundlage der vom DZI zur Verfügung gestellten Daten zurück. 13 Die Begriffe Armenfürsorge, Annenunterstützung, Armenpflege und Liebestätigkeit werden hier synonym gebraucht.

l Marksteine und Wendepunkte in der historischen Entwicklung der Armenfürsorge1 1.1 Das vorchristliche Altertum Die Annenfürsorge im vorchristlichen Altertum läßt sich in eine orientalische und in eine abendländische Form einteilen.2 Die orientalische Form, wie sie sich anhand ägyptischer und israelitischer Quellen darstellt, zeichnete sich durch eine enge Bindung von Religion und Armenpflege aus. Armenpflege war hier insofern religiös motiviert, als daß die Unterstützung von Bedürftigen als ein der Gottheit wohlgefälliges Werk galt und von ihr deshalb belohnt wurde. In Ägypten hoffte der Wohltäter, die Belohnung für seine guten Taten im Jenseits zu erhalten, während der Israeli! bereits im Diesseits Vergeltung für sein mildtätiges Wirken erwarten durfte. In Ägypten läßt sich darüber hinaus ein Verbindungsstrang zwischen Religion und Armenfürsorge nachweisen, der in Israel in dieser Form nicht existierte, nämlich die Überzeugung, daß die Gottheit die besondere Beschützerin der Armen sei.3 Die Armenfürsorge war an die Tempel gebunden. Sowohl in Israel wie auch in Ägypten fand die Verteilung von Gütern an die Armen bzw. die Bewirtung der Armen besonders im Rahmen von Opferfesten statt.4 Die Barmherzigkeit gegen Arme, die sich u.a. im Darreichen von Almosen ausdrückte, die Verbindung von Armenpflege und religiösen Vorstellungen und die Kopplung von Opferhandlungen und Armenunterstützung sind also keine Elemente, die erst durch das Christentum in die Welt getragen wurden.5 Ganz anders stellen sich das griechische und das römische Modell der Armenfürsorge im vorchristlichen Altertum dar. Im Rahmen der sittlichen Verpflichtung zur Menschenliebe kamen alle Bürger - was nicht bedeutet alle Bedürftigen - in den Genuß von Unterstützungen. Spezielle Bestimmungen für Gaben ausschließlich an Arme existierten ebensowenig wie eine allgemeine Armenpflege. Der Begriff Wohltun stand bei den Griechen für materielle Gaben oder Dienste zugunsten von Mitbürgern, Freunden oder Verwandten. Wohltun in diesem Sinne hatte nichts mit Armenpflege gemein.6 Almosengeben an Arme war in Griechenland zwar bekannt, aber Gaben dieser Art kam nicht der Status einer Tugend zu. Der Wohltäter war in erster Linie jemand, der sich durch seine Gaben an die Gemeinschaft der Bürger um den Staat verdient machte.7 Eine ganz ähnliche Einschätzung des Wohltuns findet sich bei den Römern. Wohltun war das vornehmste Kennzeichen des Menschentums und als solches eine Tugend. Auch hier existierte kein expliziter Zusammenhang von Wohltun und Armenpflege.8 Die Armen in Griechenland und Rom verfügten, sofern sie Bürger waren, über die Möglichkeit, sich auf dem Wege politischer Entscheidungen selber staatliche Unterstützungen zuzubilligen. Man kann also zumindest in Hinblick auf den Bürger durchaus von einem Recht auf Unterstützungsleistungen sprechen. Eine

Marksteine und Wendepunkte

persönliche Abhängigkeit zu einem Geber bestand ebensowenig wie ein Zusammenhang zwischen Wohltun und Religion. Die Götter galten nicht, wie im Orient, als Beschützer der Armen.9 Im Orient mit seinem scharfen Gegensatz zwischen mächtigen Reichen und rechtlosen Armen wurde den Armen durch die explizite Anbindung des Unterstützungswesens an die religiöse Sphäre wenigstens ein gewisser moralischer Schutz geboten. Im Okzident dagegen verfügte der Bedürftige, sofern er Bürger war, über Mitspracherecht in Politik und Gesellschaft. Das heißt, der Bedürftige hatte ein Recht auf Unterstützungsleistungen, die Unterstützung war damit nicht - wie im Orient - ein Akt der Gnade. Aufgrund der rechtlich stärkeren Stellung des bedürftigen Bürgers im Okzident im Vergleich zu den orientalischen Armen konnte im Okzident auf eine starke religiöse Absicherung des Armen verzichtet werden.10 Die christliche Form der Armenpflege ist durch und durch orientalisch. Wie der Ägypter kann sich der Christ durch Unterstützung von Armen im Diesseits für die Zeit im Jenseits postitiv profilieren. Allerdings entwickelte das Christentum in der Begründung der Unterstützung von Armen neue Elemente: Barmherzigkeit gegen Arme, Liebe zum Nächsten und Liebe zu Gott bildeten die Eckpfeiler christlicher Armenpflege. Die christliche Armenpflege verstand sich nicht primär als Instrument zur Beseitigung sozialer Not, sondern in ihrer Eigenschaft als Liebestätigkeit waren die Liebe zum Nächsten und damit die Liebe zu Gott (Offenbarung) die essentiellen Elemente.11 Festzuhalten bleibt, daß das Lob des Almosens, daß die Idee von der sündenreinigenden Wirkung der Unterstützung Armer und daß die Vorstellung von der Gottheit als Beschützerin der Armen bereits in Ägypten nachweisbar sind und damit schon viele tausend Jahre vor dem Christentum existierten. Etwa ab der Zeitenwende orientalisierten sich im Okzident (neben bedeutenden anderen gesellschaftlichen Bereichen) die Formen des Austeilungswesens. Die Sozialpolitik Roms beispielsweise, die sich ausschließlich auf Bürger beschränkte, wandelte sich in Richtung auf eine Armenpflege, wie sie aus dem Orient bekannt war. Aus dem Anspruch auf Unterstützung für alle Bürger wurde ein Akt der Gnade für alle Armen.12 Auch die private Freigebigkeit, die sich ehemals zugunsten aller Bürger betätigte, wurde nun zur Armenunterstützung.13 Die Entwicklung im Westen von der okzidentalen, antiken Freigebigkeit zur orientalischen Armenpflege verstärkte sich im Zuge einer Welle der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten im 3. Jahrhundert und durch die Auseinandersetzungen mit der jüdischen und der christlichen Praxis der Armenpflege.14 Besonders die antike vorchristliche okzidentale Gastfreiheit war letztlich der Ansatzpunkt, von dem aus sich Menschenliebe im Okzident zu Armenpflege entwickelte. Der Aufbau von Einrichtungen für die Versorgung von Armen und Fremden vollzog sich nämlich in seinen Anfängen zunächst durch die Umwandlung von vorchristlichen Pilgerherbergen (Gasträume der Ortsansässigen für reisende Pilger) in Armen- und Krankenhäuser.15 Das Ineinanderwachsen von antiker Menschenliebe (Gastfreiheit) und altchristlicher Caritas hatte im Okzident nicht nur zur Folge, daß die Armen die Bürger als bevorzugte Gruppe für den

Frühchristliche und kirchliche Armenfürsorge

Empfang staatlicher und privater Gaben ablösten, sondern etablierte darüber hinaus das Unterstützungswesen - und damit das Verhältnis von Gebern und Empfängern - in der religiösen Sphäre. 1.2 Die frühchristliche und die kirchliche Armenfürsorge Die christliche Armenfürsorge begann im apostolischen Zeitalter. Sie stand zunächst unter dem starken Einfluß der Tradition des jüdischen Unterstützungswesens.16 In der sogenannten urchristlichen Gemeinde wurde Armenfürsorge in erster Linie in Form von unmittelbaren Almosen und in Form von mittelbaren Kollekten, Oblationen und Agapen praktiziert. Es finden sich also außer dem formal nicht institutionalisierten Almosen, welches im direkten Kontakt zwischen Geber und Empfänger den Besitzer wechselte, bereits im frühen Christentum institutionalisierte Varianten der Armenfürsorge.17 Die Unterstützung der Armen war religiös motiviert und bezog sich zunächst vornehmlich auf Glaubensgenossen. Die Aushändigung der Gaben an die Bedürftigen bzw. das gemeinsame Mahl von Spendern und Bedürftigen trug gottesdienstähnliches Gepräge. So waren z.B. die Oblationen in der Regel mit der Feier der Darbringung des eucharistischen Opfers verbunden. Die Priesterschaft übernahm jeweils die Vermittlerrolle zwischen Spendern und Empfängern, indem sie die Gaben in der Frühzeit des Christentums z.T. durchaus im wörtlichen Sinne über den Altar hinweg von den Spendern an die Bedürftigen weiterreichte.18 Im Neuen Testament finden sich Angaben zu einer weiteren Spendeart, nämlich zu Spenden über weite geographische Distanzen, die von den sogenannten heidenchristlichen Gemeinden in Antiochia (Apg.l 1,27-30), Galatien (1.Kor.16,l-4), Mazedonien (2.Kor.8,l und 9,2) und Ajaja (2.Kor.9,2) an die notleidende Gemeinde in Jerusalem gesandt wurden. Die Möglichkeit des Spendens jenseits der Face-to-face-Begegnung zwischen Spender und Empfänger wurde also im Christentum sehr früh entwickelt.19 Mit der Ausbreitung des Christentums erhielt die bereits im vorchristlichen Altertum religiös geprägte Armenfürsorge eine herausragende Bedeutung. Die Sorge um die Armen, ihre Unterstützung und ihr Schutz wurde zu einem konstitutiven Anliegen christlichen Glaubens. Ab dem 2. Jahrhundert wurde die christliche Armenfürsorge auch als missionarisches Mittel auf Nicht-Christen ausgedehnt, wodurch die Ausbreitung des Christentums entscheidend gefördert wurde.20 Einschub zur theologischen Begründung kirchlicher Armenpflege:21 Die theologischen Begründungen der kirchlichen Armenpflege orientieren sich an Jesu Verhalten gegenüber den Armen.22 Nächstenliebe bzw. Caritas bedeutet in diesem Rahmen das Zusammenwirken von wohltätiger Gabe und persönlichem Sich-Herablassen zu den Bedürftigen. Als Beispiele für die geforderte persönliche Zuwendung und Herablassung zu den Bedürftigen werden in der Geschichte der

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Marksteine und Wendepunkte

Theorie kirchlicher Armenpflege immer wieder Jesu Heilungen und das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Luk.10,25-37 u. Matth. 22,35-40) exemplarisch angeführt. Das christliche Almosen als Teil der Nächstenliebe soll nicht nur im direkten Kontakt zwischen Geber und Empfänger überreicht werden, sondern auch im Rahmen von kirchlich organisierten Opferhandlungen (s.o. Oblationen). Die christliche Armenfürsorge, gleich, ob mittelbar oder unmittelbar, gilt als Opfer (Philip.4,18 u. Hebr.13,16 u. Mark.12,33) und Gottesdienst (Jak.1,27).23 Der Besitzende soll sich das, was er den Armen spenden will, selbst versagen, er soll ein persönliches Opfer durch Verzicht bringen. Aus diesem Grunde gelten auch Almosengeben und Fasten als zwei sich ergänzende Tugenden.24 In seiner Eigenschaft als Opfer fungiert das Almosen als verdienstliches Werk, welches dem Schatz im Himmel zugute kommt und damit der Sündentilgung dient (Luk.12,22-34 u. Luk.18,18-27 u. Matth. 19,19-26 u. Mark.10,17-27).25 Aber nicht nur die Definition des Almosens als gutes Werk macht seinen Verdienst aus. Das Almosen wird auch deshalb mit ewigem Lohn vergolten, weil der Arme, der die Gabe erhält, verpflichtet ist, aus Dankbarkeit Gottes Segen für den Spender zu erflehen (Fürbitte).26 Wer die Gabe eines Almosens und damit die Hilfeleistung verweigert, ist zu Höllenqualen verdammt, wie das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazerus zeigt (Luk.16,19-31).27 Den Armen, Bedürftigen und Bedrängten kommt eine Sonderstellung zu. Sie gelten als Stellvertreter Jesu auf Erden. Durch sie nimmt Jesus die Unterstützung selbst entgegen (Matth.25.35-40). Andererseits werden die Armen bevorzugt bei der Vergabe von Plätzen im Himmelreich berücksichtigt (Jak.2 u. Luk.16,19-31). In ihrer Eigenschaft als Stellvertreter Jesu auf Erden kommt ihnen eine Art Botenfunktion zu. Sie ermöglichen, indem sie die Unterstützung annehmen, dem Gebenden, einen Teil seines Besitzes auf sein himmlisches Konto vorauszusenden.28 Schon in der Frühzeit der kirchlichen Armenpflege ging es darum, die unmittelbare Gabe oder die unmittelbare, tätige Hilfe nach dem Typus des Barmherzigen Samariters, die jenseits kirchlicher Aufsicht stattfand, einerseits als Grundhaltung der Nächstenliebe zu fördern, andererseits aber die Stellung des Klerus als Vermittler zwischen Gebenden und Empfangenden zu stärken.29 Beide Formen, also die unmittelbar vom Spender an den Empfänger überreichte Gabe (oder gewährte tätige Hilfe) und die vom Klerus zwischen Spender und Empfänger vermittelte Gabe, sind heilswirksam. Allerdings erhalten die Gaben, die durch die Hände des Klerus gehen, einen besonderen Wert, eine besondere Heiligung durch ihre Verbindung mit der Feier der heiligen Eucharistie.30 Insgesamt liegt eine Art Kreislauf vor, in dem die an die Bedürftigen überreichten Gaben letztlich, nachdem sie verschiedene Phasen der Heiligung durchlaufen haben, wieder dem Spender als heilswirksamer Schatz im Himmel zugute kommen. Der Spender tauscht damit einen materiellen Wert gegen einen ideellen Wert. Die im neuen Testament insbesondere in Zusammenhang mit der Heilungs-

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thematik aufgeführten Typen der Bedürftigkeit, die in den Schriften der Kirchenväter und in den scholastischen Almosenordnungen aufgegriffen wurden, fanden ihre Entsprechung in der Praxis der Armenfürsorge. Von Seiten der Helfenden berief man sich, was die besondere Verdienstlichkeit der Unterstützung bestimmter Bedürftiger anging, ausdrücklich auf das Neue Testament. Das bekannteste Beispiel, welches sich bei der Begründung der Auswahl und der Rechtfertigung der Bevorzugung bestimmter Armutstypen innerhalb der theologischen Theorie der Armenfürsorge findet, aber ist Matth. 25,31-46. Hier werden die Verdienstlichkeit der Unterstützung von Menschen, die sich in akuten Notlagen befinden und der elementare äußere Ausdruck dieser Notlagen beschrieben (Hunger, Durst, Fremdsein, Nacktheit, Krankheit und Gefangensein). Aufbauend auf diesen Grundausdrucksformen der Bedürftigkeit wird dann von der theologischen Theorie unter Berufung auf neutestamentarische Bibeltexte die Unterstützung der im Neuen Testament genannten Gruppen von Bedürftigen als besonders verdienstvoll herausgestellt. Zu diesen Gruppen gehören die Blinden31, die Ausgezehrten32, die Gelähmten, Verkrümmten und Verstümmelten33, die Stummen bzw. die Taubstummen34, die Bessesenen35, die Aussätzigen36, die Witwen und Waise37 sowie die Kinder38. Das Repertoire der Ausdrucksformen der Bedürftigkeit und Armut soll an dieser Stelle weder vollständig beschrieben, noch bereits in seiner Abhängigkeit von der Bettelsituation dargestellt werden. Hier soll stattdessen der Hinweis genügen, daß es ein neutestamentarisches Ensemble von Ausdrucksformen der Bedürftigkeit gibt und daß diese Ausdrucksformen der Bedürftigkeit von der theologischen Theorie und Praxis der Armenfürsorge aufgegriffen und durch die Idee von der besonderen Heilswirksamkeit der Unterstützung von Personengruppen, die biblische Bedürftigkeitsmerkmale aufweisen, weiter tradiert wurden. Die Unterscheidung von pauperes (Freie, die durchaus über Grundbesitz verfügen können, aber von einem Großgrundbesitzer abhängig sind, die aber einen gesicherten Platz innerhalb der Gesellschaft besetzen) und indigentes (egentes) (Notleidende, Entwurzelte, Kranke, Gebrechliche, Alte, Waisenkinder etc.), wie sie im Mittelalter vorgenommen wurde, geht nicht zuletzt auf die Heranziehung der biblischen Armutstypen zur Charakterisierung der indigentes (egentes) zurück. Mit dem Status pauper war nicht zwangsläufig eine Notlage verbunden.39 Mit der wachsenden Zahl der Mitglieder der christlichen Gemeinden und deren Ausbreitung in den Städten wandelten sich die Formen der Unterstützung für bedürftige Glaubensgenossen. So ließen z.B. die Agapen nach, weil diese Form der Armenunterstützung an die Existenz zahlenmäßig kleiner und überschaubarer Gruppen von Christen gebunden war. Statt dessen entwickelten sich andere, schon vorher in Ansätzen praktizierte Formen der Beschaffung von Mitteln für die kirchliche Armenfürsorge weiter, wie z.B. der Opferstock, die Kollekte und die Spende bei Übertritt zum Christentum.40 Die Spenden über weite geographische Distanzen weiteten sich besonders während der Christenverfolgungen (299-324) aus. Sie bezogen sich in der Regel auf den Loskauf von gefangenen Christen, die zum Teil in die entlegensten Gebiete der damals bekannten Welt verschleppt wur-

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den.41 Alle diese Formen der Unterstützung von Bedürftigen waren formal freiwillig. Seit Konstantin (324-337) entwickelten sich zwei neue Formen der Armenpflege, das Xendochium und das Hospital, letzteres auch in Zusammenhang mit dem Aufkommen der Klöster. In dieser Epoche galt die Armen- und Krankenpflege in einem Hospital bereits explizit als Bußübung.42 Die christliche Armenfürsorge nahm sich jetzt potentiell aller Bedürftigen, also auch der Nicht-Christen an.43 Seit das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt worden war (391), wurde das Kirchenvermögen, welches offiziell als Armenvermögen (patrimonium pauperum) galt, von zahlreichen Auflagen befreit, wodurch es sich kontinuierlich vermehrte.44 Auf dem 2. Konzil von Tours (567) wurde eine kirchliche Vorschrift über die Pflichtabgabe des Zehnten an den Klerus für den Bereich der gallischen Kirche erlassen. Bereits auf der 2. Synode zu Macon (583) verschärfte sich diese Vorschrift insoweit, als daß jedem Gläubigen, der nicht seinen Zehnten an die Kirche entrichtete, die Strafe der Exkommunikation drohte. Der Ertrag des Zehnten war nominell ausschließlich zur Unterstützung der Armen bestimmt.45 Mit der Androhung der schweren Strafe der Exkommunikation für die unterlassene Abgabe des Zehnten zugunsten der Armen entbrannte der Konflikt um die vorher formal geltende Freiwilligkeit der Spenden an den vermittelnden Klerus. Seit dem Ende des 6.Jh. etablierten sich Zwangsmaßnahmen, um die Mittel für die Armenpflege einzuziehen. Die Zwangsabgabe wurde in der Folgezeit immer noch als freiwillige Gabe deklariert, um dem Freiwilligkeits-Ideal christlicher Gaben- und Liebestätigkeit nicht zu kraß zu widersprechen. Die direkte Gabe an die Armen, die vom Spender ohne die Vermittlung des Klerus an den Empfänger überreicht wurde, war von den formalen kirchlichen Zwangsmitteln überall dort nicht betroffen, wo sie nicht verordnete Buße war. Auch die direkte Form der Armenunterstützung stand in Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen. Nicht nur, daß die direkte Gabe ein verdienstliches Werk war, sie wurde zudem vielfach im Bereich der Kirchengebäude vom Spender an die Armen überreicht.46 In der Zeit von Gregor dem Großen (590-604) bis zu den Karolingern (751814) wirkte sich besonders die Weiterentwicklung im Bußwesen positiv auf die Finanzmittel der kirchlichen Armenpflege aus. Lange Bußzeiten und das Fasten konnten jetzt durch verstärktes Almosengeben abgekürzt werden. So durften Kranke, Reisende und Soldaten nach verschiedenen Synodalbeschlüssen im zweiten Jahr der Buße das Fasten am Dienstag, Donnerstag und Samstag durch die Speisung von drei Armen oder durch ein Almosen ersetzen. In den Bußbüchern der Karolingerzeit wurden genaue Tarifangaben vorgelegt, nach denen der Sünder sein siebenwöchiges Fasten in Almosenspenden verwandeln konnte.47 Eine weitere zunehmend wichtige Einnahmequelle für die kirchliche Armenpflege stellten die Gaben an Arme dar, die in Verbindung mit dem Gedenken an die Toten geleistet wurden. Die Almosenstiftung über den Tod hinaus hatte bereits gegen Ende des 6. Jahrhunderts bedeutende Ausmaße angenommen.48 Bei der Almosenstiftung wurde das Stiftungskapital der Kirche mit der Auflage

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zur Verfügung gestellt, bestimmte Anteile daraus zu bestimmten Anlässen (z.B. Todestag des Stifters oder eines Heiligen) an Arme auszuteilen. Als Gegenleistung für die erhaltene Gabe mußten die Bedürftigen unter anderem für das Seelenheil des Stifters beten.49 Die wesentlichste Entwicklung der Armenpflege in der Epoche von den Karolingern (751-814) bis zu den Hohenstaufen (1125-1254) ist gekennzeichnet durch den Übergang der Armenpflege von den Gemeinden auf die Klöster. Die Gaben wurden an der Klosterpforte durch den cellarius, portarius oder provisor ausgegeben. Dabei war die Klosterpforte nicht nur der Ort für die Austeilung von Gaben. Hier wurden auch die Spenden, die die Mönche selbst erhielten, in Empfang genommen.50 Für den Empfang von durchreisenden Armen und Pilgern gab es ausdrückliche Vorschriften. So verlangt z.B. die bis heute gültige Regel des heiligen Benedikt, daß mit dem einlaßbegehrenden Armen, in dem Christus verehrt wird, zunächst an der Klosterpforte gebetet werden muß. Dann erhält er den Friedenskuß. Ist der Gast in das Klostergebäude eingetreten, begegnet man ihm mit tiefer Demut, zum Teil werfen sich die Benedektiner vor ihm nieder, danach ist ein erneutes Gebet und das Verlesen der göttlichen Gesetze vorgesehen. Dann bewirtet man den Gast. Schließlich werden dem Gast die Füße gewaschen und es wird der Vers "Wir haben deine Barmherzigkeit empfangen, o Gott inmitten deines Tempels" gesprochen.51 Aber die Hilfe durch die Klöster hatte für die unfreiwillig Armen auch eine Kehrseite, denn die Mitglieder von Klostergemeinschaften reklamierten für sich den Status alspauperes christi und erhoben Anspruch auf private Spenden und auf das Kirchenvermögen. Durch dieses Selbstverständnis wurden besonders die Bettelorden zu ausgesprochenen Konkurrenten der Bedürftigen, denn auch das Almosen an bettelnde Mönche galt als verdienstliches Werk. Die Tendenz, neben den formal freiwilligen Gaben auch zwangsweise Mittel für die kirchliche Armenpflege zu beschaffen, setzte sich fort. So wurde z.B. auf den Synoden von Erfurt und Dingolfing im Jahre 932 die Einführung von Pflichtoblationen beschlossen, bei denen von jedem Gemeindemitglied jährlich eine bestimmte Summe Geldes an den Klerus zum Zwecke der Armenpflege zu zahlen war.52 Neben den institutionalisierten Varianten der Armenfürsorge, in denen der Klerus als Vermittler zwischen Gebern und Empfängern auftrat, blieb das direkte unmittelbare Almosen des Laien weiterhin die herausragendste Form der Unterstützung von Bedürftigen. Die Orte, an denen das direkte Almosen in Form von Geld oder Naturalien hauptsächlich gegeben und empfangen wurde, waren die Kirchenportale und Vorhallen der Gotteshäuser53, die Klosterpforten54, Durchgänge und Brücken55, Gräber und Friedhöfe56, Wegkreuzungen und Wegränder außerhalb der Städte und Dörfer57, Leprosenhäuser vor den Toren der Städte58. Bevor wir uns der Ära der städtischen Armenfürsorge zuwenden, noch ein zusammenfassendes Wort zu den Hauptformen der Unterstützungsleistung in den Epochen vor der städtisch-administrativ organisierten Armenfürsorge. Das Almosen und später das Hospital waren die Eckpfeiler der Armenpflege, wobei das Almosen die umfangreichste Form sozialer Hilfeleistung darstellte. Das Hospital

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konnte immer nur Unterstützung für eine eng begrenzte Anzahl von Bedürftigen leisten. Das Almosen dagegen bezog sich potentiell auf alle Bedürftigen, ohne daß es eine explizite Überprüfung der Unterstützungsbedürftigkeit gegeben hätte.

1.3 Die Koexistenz von kirchlicher und städtischer Armenfürsorge und der Einfluß der Reformation auf das Armenwesen Nach den Kreuzzügen begannen die städtischen Verwaltungen sich nachhaltig mit der Armenfürsorge zu beschäftigen. Viele Hospitäler wurden unter städtische Aufsicht gestellt.59 Die städtische Armenfürsorge verschaffte sich in der Folgezeit insbesondere durch den Erlaß von Bettel- und Almosenordnungen Autorität. Nürnberg z.B. erhielt im Jahre 1370 seine erste Bettelordnung.60 Mit ihrer Hilfe versuchte man das Bettelwesen im wesentlichen dadurch zu ordnen, daß man die Bettelerlaubnis an das Tragen bestimmter, von der Stadt ausgegebener Bettelzeichen band. Die zum Tragen dieses Zeichens berechtigten Bettler mußten sich in ein Verzeichnis einschreiben lassen. Ferner beschränkte diese Bettelordnung die Dauer des Aufenthaltes fremder Bettler in der Stadt auf drei Tage. Die erlassenen Vorschriften überwachte ein eigens dazu berufener Bürger der Stadt. Um die Tragweite dieser einschränkenden administrativen Maßnahmen zu verstehen, ist es notwendig, sich klarzumachen, daß der weltliche und natürlich besonders der religiöse Bettel bisher keinerlei Ächtung unterlag, sondern unter dem Schutz der Kirche stand. Betteln galt als legitime Form der Unterhaltssicherung. Bettler konnten Mitglieder in einer Berufsgenossenschaft sein und über ein zu versteuerndes Einkommen verfügen.61 Die Einführung der Bettelzeichen war ein bedeutender Schritt in Richtung auf die Kontrolle des Bettlers und untergrub einen wichtigen Grundsatz der alten Ideologie des Almosens, wonach potentiell jedem Bedürftigen Unterstützung zustand.62 Aufgrund der Ausweitung des religiösen Bettels stieg der Reichtum der Bettelorden ständig an. Diese Entwicklung mußte zwangsläufig mit den sich entwickelnden Werthaltungen des städtischen Bürgertums kollidieren. Und so wurden die Bettelverbote bzw. die Regelung des Bettelwesens zu Ausgangspunkten der städtischen Armenfürsorge. In erster Linie sollte der stadt-fremde, arbeitsfähige Bettel durch den Erlaß von Bettelordnungen mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln bekämpft werden.63 Arbeitspflicht und Leibesstrafen für Gesunde und Arbeitsfähige, die man beim Betteln aufgriff, Beschränkung des Aufenhaltsrechtes ortsfremder Bettler, die Ausgabe von Bettelzeichen und die Überwachung der Bettler durch Bettelvögte waren die wesentlichsten Bestimmungen der spätmittelalterlichen Bettelordnungen. Erst gegen Ende des 15Jh. zeigten sich in der Nürnberger Ordnung von 1478 die ersten Versuche, über die einfache Statuierung der Arbeitspflicht und die strafrechtliche Verfolgung unberechtigt Bettelnder hinaus, positive Vorschläge für die Vermeidung des Bettels zu machen. Diese Vorschläge bezogen sich in erster Linie auf die Erziehung der Kinder der Bettler, die z.T. in städtische Obhut

Kirchliche und städtische Armenfürsorge

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übergehen sollte, um diese Kinder ihrem aus bürgerlicher Sicht schädlichen Milieu zu entziehen.64 Die städtische Armenpflege war zu ihrer Finanzierung, jedenfalls zum größten Teil, noch genau wie die kirchliche Armenpflege, auf formal freiwillige Gaben (Stiftungen, Spenden, Schenkungen etc.) in der Regel von bürgerlichen und adeligen Schichten angewiesen.65 Es hatten sich also weniger die Formen der Almosensammlung gewandelt als vielmehr der Vermittler (vom Klerus zur städtischen Verwaltung) und die Verteilungsmodalitäten. Die Verbürgerlichung der Armenfürsorge war folglich nicht gleichbedeutend mit ihrer Säkularisierung.66 Die Kirche blieb aber in der Epoche der massiv einsetzenden städtischen Armenpflege nicht untätig. Ein bedeutendes Verfahren zur Vermehrung des Kirchenvermögens und damit auch zur Bereitstellung von Mitteln für die Armenpflege war in der Zeit vor der Reformation der an den Bußgedanken geknüpfte Ablaßhandel.67 Die Reformation spielte für die Weiterentwicklung des Armenwesens in Richtung auf eine massive konkrete und praktische Verstärkung der in den städtischen Armenordnungen angelegten Tendenzen keine entscheidende Rolle.68 Luther selbst hatte an den Kirchenordnungen Wittenbergs von 1522 (Neuregelung des gemeinen Kastens) und Leisnigs (1523) aktiv mitgewirkt. In diesen Ordnungen wurde eher traditionell an die Mildtätigkeit des Volkes appelliert.69 In der Wittenberger Ordnung von 1522 findet sich eine rein mittelalterlich traditionelle Auffassung zum Verhältnis von Staat und Kirche, wodurch die Entwicklung zur Kommunalisierung der Armenpflege gebremst wurde.70 Die Reformation konnte somit selbst keine wirklich neuen und dauerhaften Impulse für die Armenfürsorge liefern.71 Die bedeutenderen Entwicklungen in der Armenpflege begannen mit der Reaktion der nicht-reformierten Gebiete auf die neue Lehre. Johann Ludwig Vives (1492-1540) legte 1526 seine Schrift "De subventione pauperum ..." dem Magistrat der Stadt Brügge vor, der ihn mit der Neuordnung des städtischen Armenwesens beauftragt hatte.72 Vives verlangte darin im wesentlichen die vollständige Beseitigung des Bettels, Arbeitspflicht für alle, das heißt auch für Alte und Kranke, die Einrichtung einer städtischen Arbeitsversorgung für die Bedürftigen in Zusammenhang mit dem Angebot von handwerklichen Ausbildungsplätzen, die Heranziehung der Ärzte als begutachtende Instanz für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und die Ausweisung aller ortsfremden Bettler. Die Finanzierung der neuen Ordnung sollte traditionell, das heißt durch die Mittel freiwilliger Schenkungen, Stiftungen und Spenden geschehen, die ausdrücklich unter städtischer Aufsicht verwaltet werden sollten. Eine Armensteuer lehnte Vives ebenso prinzipiell ab wie die kirchliche Aufsicht über die Finanzbestände der Armenfürsorge. Im Hinblick auf die Finanzierung unterscheiden sich die Vivischen Pläne also kaum von der kirchlichen Armenpflege.73 Die Ausnahmestellung der Vivischen Reform besteht in ihrer durchgehenden planmäßig rationalen Orientierung.74 Während z.B die städtischen Armenverzeichnisse überwiegend armenpolizeiliche Funktionen hatten, verlangte Vives aufgrund seines dreistufigen Armenzensus eine differenzierte individuelle Begut-

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achtung und - je nach Stufe - eine unterschiedliche, d.h. immer einzelfallgerechte Behandlung der Bedürftigen.75 Die Armen galten Vives nicht mehr als pauperes christi. Anstelle der Verklärung der Armen aufgrund ihrer (ehemals unterstellten) Botenfunktion zwischen Gott und dem Geber, setzte Vives die minutiöse Prüfung der Bedürftigkeit.76 Mit der Bestimmung, daß diejenigen Armen, die ihren Zustand durch Arbeitsunwilligkeit selbst verschuldet haben, besonders streng zu behandeln seien, hält ein säkulares Schuldprinzip Einzug in die Armenfürsorge, welches die kirchliche Armenpflege in dieser Form vorher nicht kannte.77 Vives Ordnung fand innerhalb kurzer Zeit ihre Umsetzung in zahlreichen Städten, darunter Ypern (1529), Gent (1534), Brüssel (1538), und Brügge (1562). Zu umfassender Bedeutung kam diese Ordnung im Jahre 1531, in dem Karl V. (1519-1556) die auf Vivischen Grundlagen erstellte Yperner Armenordnung als Maßstab für die Armengesetzgebung in den gesamten Niederlanden und später auch in Spanien und Deutschland durchzusetzen versuchte.78 1.4 Die Zentralisierung des Unterstützungswesens im Absolutismus Der nächste große Schritt in der Entwicklung der Armenfürsorge ging einher mit der Entwicklung des absolutistischen Staates. Das Armenwesen wurde im Zuge fortschreitender Säkularisierung und Zentralisierung auch innerhalb der Kleinstaaten weitgehend der Kompetenz der Kirchen, Städte und Gemeinden entzogen und auf übergeordneter staatlicher Ebene angesiedelt.79 Das bedeutete allerdings nicht, daß Städte und Gemeinden keine Rolle mehr im Armenwesen spielten. Sie blieben vielmehr ausführende Organe des Unterstützungswesens, verloren aber ihre Selbstverwaltung in diesem Bereich. Durch die Verschiebung der Verwaltungsebene wurde keine Monopolstellung des Staates auf dem Gebiet der Armenfürsorge etabliert. Die kirchliche und die freiwillige direkte Armenpflege blieben präsent. Die Finanzierung der staatlich kontrollierten, regionalen Almosenämter und Armenkassen verlief immer noch überwiegend in der traditionellen Form durch freiwillige Stiftungen, Schenkungen und Spenden. Um diese freiwilligen Gaben zu fördern, wurden wöchentliche oder monatliche Haussammlungen abgehalten, bei denen auch der Klerus durch Aufrufe während der Gottesdienste unterstützend mitwirkte. Das Arbeitshaus setzte sich in dieser Zeit in Anlehnung an die humanistischen Gedanken, wie sie z.B. Vives formulierte, als Erziehungsinstrument allgemein durch. Finanziert wurden diese Arbeitshäuser zum einen durch den Ertrag der Zwangsarbeit der Insassen und zum anderen durch externe Kollekten, Lotterien, landesherrliche und städtische Spenden und durch private Stiftungen80. Besondere Schwierigkeiten erwuchsen der Armenfürsorge des absolutistischen Staates immer wieder durch die unmittelbaren Gaben der Bürger an Bedürftige oder an sich als bedürftig Darstellende, denn durch solche direkten Gaben wurden besonders die Zwangsmaßnahmen der Almosenämter und Armenkassen in ihrer Wirkung auf die Armen abgeschwächt.81

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Als beispielhaft für Teile der soeben skizzierten Entwicklung können die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 herangezogen werden.82 Hierin erklärte sich derStaat ausdrücklich als zuständig für das Unterstützungswesen.83 Gleichzeitig verwies der Gesetzgeber die praktische Ausführung und Gestaltung der Armenfürsorge in den Bereich der politischen Gemeinde, wobei der Pfarrer prinzipiell zur Mitarbeit in den Armenkommissionen herangezogen wurde.84 Die Kosten der Armenfürsorge hatte die Kommune soweit als möglich aus den Zinsen der vorhandenen Stiftungen und Kapitalien (§25) zu tragen. Wenn diese Mittel nicht ausreichten, sollten sie z.B. durch Kirchen- und Hauskollekten (§26), Luxussteuern (§27) oder auch Strafgelder (§28) ergänzt werden. Eine spezielle, allgemeine Armensteuer war aber nicht vorgesehen.85 Das Betteln war für alle Armen verboten (§4, §5, §20). Ein bedeutender Aspekt des Allgemeinen Landrechtes bestand in der Einteilung der Armen in zwei Gruppen. Die erste Gruppe bildeten diejenigen Bedürftigen, die von der politischen Gemeinde unterstützt wurden. Diese Unterstützungsform setzte die ausdrückliche Aufnahme als Einwohner einer Gemeinde voraus (§ 11). Diejenigen, die kein Heimatrecht nachweisen konnten und auch anderweitig nicht unterstützt wurden, bildeten die zweite Gruppe und sollten in öffentliche Landarmenhäuser eingewiesen werden (§ 16). Am Vorabend der industriellen Revolution hatte sich also das Heimatprinzip in der Armenfürsorge, welches von den städtischen Armenordnungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit ausging, endgültig durchgesetzt. Durch die Übernahme des Fürsorgewesens in die Hände des Staates konnten die Bettelverbote und die sonstigen Zwangsmaßnahmen gegen die Armen wirksamer durchgesetzt werden. Das Armenwesen erfuhr mit Hilfe staatlicher Autorität eine weitere Bürokratisierung und Säkularisierung, ohne daß allerdings der Einfluß der Kirche auf die Armenfürsorge gänzlich ausgeschaltet worden wäre. Die Finanzierung der Armenfürsorge bestand in einer Mischung aus freiwilligen und erzwungenen Gaben. Der Schritt zur umfassenden Finanzierung der staatlichen Armenfürsorge aus den allgemeinen Steuermitteln wurde jedoch endgültig auch im Preußischen Landrecht noch nicht vollzogen. Erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts befreite sich die öffentlich- staatliche Armenfürsorge zunehmend von den alten Finanzierungsformen, die noch aus der Blütezeit kirchlicher Armenfürsorge stammten, und erhob ihre Mittel nicht mehr zum größten Teil aus freiwilligen Gaben der Bürgerschaft oder besonderen Armensteueren, sondern aus allgemeinen Steuermitteln.86 1.5 Die bürgerliche Privatwohltätigkeit und der Aufbau der Sozialversicherungen Das Heimatprinzip blieb im Vergleich zur langen Geschichte seiner Durchsetzung allerdings nur kurze Zeit in Kraft. Im Zuge der durch die beginnende Industrialisierung bedingten großen Binnenwanderungsschübe erwies sich das Heimatprinzip als nicht mehr praktikabel. Im "Preußischen Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege" von 1842 wurde deshalb das Heimatprinzip aufgegeben und der

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Unterstützungswohnsitz eingeführt. Jetzt mußte ein Bedürftiger dort unterstützt werden, wo er sich eine Wohnung genommen oder sich mindestens drei Jahre lang aufgehalten hatte.87 Wer unterstützungsbedürftig wurde, ohne daß er die Voraussetzungen für die Gewährung von Unterstützungsleistungen erfüllt hatte, galt als Landarmer. Er fiel damit in die Zuständigkeit des Landarmenverbandes, welcher auf Provinzebene finanziert wurde. Gleiches galt für Bedürftige, die aufgrund der mangelnden finanziellen Möglichkeiten einer Gemeinde nicht unterstützt werden konnten.88 Der Verpflichtung des Staates zur Armenfürsorge korrespondierte kein einklagbares Recht auf Unterstützung.89 Im 19. Jahrhundert begann mit zunehmender staatlicher Kompetenz, öffentlicher Reglementierung und weiterer Professionalisierung des Armenwesens ein massiver Ausbau der organisierten, bürgerlichen Privatwohltätigkeit. Dies geschah nicht zuletzt als Reaktion auf die trotz aller Bemühungen immer noch unzureichende öffentliche Armenfürsorge.90 Die organisierte bürgerliche Privatwohltätigkeit entwickelte später ihr Betätigungsfeld als Verwundeten- und Krankenpflege im Rahmen des patriotischen Engagements, welches in Folge der allgemeinen Militärpflicht (1813/1814) und der Befreiungskriege (1813-1815) in Deutschland aufkeimte.91 Die bürgerliche Privatwohltätigkeit war nicht plötzlich entstanden. Ihre Linien lassen sich von den bürgerlichen Reformversuchen des Armenwesens im 18. und 19. Jahrhundert (z.B. Hamburger Armenanstalt 1788 und Elberfelder System 1853) zurückverfolgen bis zu den städtischen Armenordnungen des Mittelalters und den frühen bürgerlichen Hospitalgründungen in den oberitalienischen Städten.92 Die neue Qualität organisierter bürgerlicher Privatwohltätigkeit im 19. Jahrhundert bestand darin, daß sie, auch wenn sie sich an den Vorgaben öffentlichstaatlicher Armenfürsorge, wie z.B. der allgemeinen Arbeitspflicht, orientierte, formal unabhängig vom Staat blieb.93 Hauptmerkmal jeder Privatwohltätigkeit ist die freiwillige, nicht einklagbare Unterstützungsleistung. Zu diesem Prinzip der Freiwilligkeit gehört die potentielle Unabhängigkeit bei der Festlegung des Umfanges und der Art der Unterstützungsleistungen und die freie und unabhängige Auswahl der Unterstützungsempfänger. Diese Grundsätze der privaten Armenpflege gelten auch dann, wenn eine enge Zusammenarbeit mit der staatlichen Armenfürsorge stattfindet.94 Die bürgerliche Privatwohltätigkeit des 19. Jahrhunderts wurde in ihrer Form nicht nur von patriotischen Schüben geprägt, wie sie z.B. nach der Völkerschlacht von Leipzig (1813) als Reaktionen auf äußere Bedrohungen auftraten. Auch die großen Epidemien (Cholera, Pocken, Diphtherie etc.) seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, der Weberaufstand von 1844, die Revolution von 1848/1849 und die umfangreiche Wanderbettelei in Folge der Wirtschaftskrise von 1873 (Wiener Börsenkrach) beschleunigten jeweils die Gründung bürgerlicher, wohltätiger Vereine. Diese Gründungen motivierten sich aus der bürgerlichen Reaktion auf die so wahrgenommene innere Bedrohung von Staat und Gesellschaft.95 Neben der privaten bürgerlichen, nicht-konfessionellen Armenfürsorge entstand eine ebenfalls private bürgerliche, aber konfessionell geprägte Armenfürsor-

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ge. Auch hier wurde, wie in der nicht-konfessionellen privaten Armenfürsorge, der Verein als Organisations- und Rechtsform gewählt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche katholische Caritasvereine, die sich dann im Zuge der Romantik und des Historismus zum Teil auf die kirchliche Armenpflege des Mittelalters beriefen.96 Auch auf evangelischer Seite stützten sich die konfessionell gebundenen Wohltätigkeitsvereine auf die Tradition der mittelalterlichen, kirchlichen Armenpflege.97 Konfessionelle und nicht-konfessionelle Privatwohltätigkeit steuerten einen erheblichen Teil an Mitteln und Personal zur öffentlichen Armenfürsorge bei. Die finanziellen Mittel für die private Armenpflege wurden in der Regel durch Vereinsbeiträge, öffentliche Sammlungen, Lotterien, Wohltätgkeitsbälle und den Verkauf von selbstgefertigten Waren beschafft. Konfessionelle Vereine konnten darüber hinaus auf einen Teil der kirchlichen Kollekten zählen. Schon in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts begann die Internationalisierung der organisierten bürgerlichen Privatwohltätigkeit im Rahmen internationaler Kongresse und international gewährter Unterstützung.98 Die industrielle Entwicklung des 19. Jahrhunderts bedeutete einerseits das Ende des traditionellen Pauperismus, andererseits den Beginn der Armut des Industrieproletariates.99 Das staatliche Interesse richtete sich deshalb zunehmend auf die Absicherung dieses großen Teils der Bevölkerung. Neben der Armenpolitik entstand jetzt eine eigenständige Arbeiterpolitik.100 Deutlichster Ausdruck dieser Arbeiterpolitik im 19. Jahrhundert war die Sozialgesetzgebung unter Reichskanzler Bismarck. Die Krankenversicherung trat 1883 in Kraft, gefolgt von der Unfallversicherung 1884 und der Alters- und Invalidenversicherung 1889. Diese Gesetze bezogen sich primär auf die Industriearbeiterschaft und sollten die Angehörigen dieser Schicht vor der Verarmung schützen. Die Sozialversicherungspflicht für Angestellte mit einem Jahreseinkommen zwischen 2000 und 5000 Mark wurde 1911 eingeführt, die Arbeitlosenversicherung 1927.101 Die Sozialversicherungsgesetze brachten eine wesentliche Veränderung gegenüber der Armenfürsorge. Während die auf dem Bedarfsprinzip basierende Armenfürsorge bislang keinen Rechtsanspruch auf Unterstützung kannte, waren die auf dem Äquivalenzprinzip beruhenden Sozialversicherungen mit einem solchen expliziten Rechtsanspruch verbunden.102 Mit diesem Rechtsanspruch korrespondierte auf der anderen Seite die Zwangsmitgliedschaft in den jeweiligen Versicherungen. Die Weimarer Republik schafft mit der "Reichsfürsorgepflichtverordnung" von 1924 das Konzept des Unterstützungswohnsitzes ab und schreibt den gewöhnlichen Aufenthalt als Ort für die zu leistenden Unterstützungen fest (§§7-10 und §38). Im Jahre 1925 beschloß der Reichstag eine Novelle zu den "Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge" vom 4.12.1924. Hierin wurden die obersten Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen beauftragt, Richtsätze für die Bemessung des notwendigen Lebensunterhaltes von Hilfsbedürftigen festzulegen.103 Zwei Jahre später, also 1927, wurden diese Fürsorge-Richtsätze eingeführt.104 Die freie Wohlfahrtspflege wurde in der Weimarer Republik subventioniert.

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Öffentliche und private Fürsorge wirkten also gemeinsam. Voraussetzung für die enge und kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Fürsorge war die straffere Organisation der privatwohltätigen Bereiche, die 1924 in der Gründung der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege ihren vorläufigen Höhepunkt fand. In dieser Liga organisierten sich die damaligen Reichsspitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege zu einer gemeinsamen Arbeitsgemeinschaft.105 Während der nationalsozialistischen Herrschaft ab 1933 wurden das öffentliche und das private Fürsorgewesen innerhalb kürzester Zeit gleichgeschaltet. Die Sozialgesetze der Weimarer Republik blieben zwar in Kraft und wurden z.T. sogar ausgebaut, aber die Rassengesetzgebung avanvcierte auch im Unterstützungswesen zu einer maßgeblichen Entscheidungsgrundlage für den Zuspruch oder die Verweigerung von Hilfe.106 Die private freie Wohlfahrtspflege ging in der NSVolkswohlfahrt auf. Die meisten Einrichtungen der Spitzenverbände der freien Wohlfahrt wurden der NS-Volkswohlfahrt einverleibt. Neben das Fürsorgeprinzip wurde gleichwertig das Prinzip der Ausmerze gestellt. Letzteres offenbart sich besonders im Gesetz über die Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 und in der sogenannten Euthanasie-Akuon, in der nach Kriegsausbruch ab 1939 tausende von geistig behinderten Menschen umgebracht wurden.107 Die Vorstellung von der Schaffung eines gesunden Volkes leitete die Maßnahmen im Unterstützungswesen und führte darüber hinaus zu den vorher unbekannten Formen bürokratisch organisierten Mordes an einer ganzen Gruppe von Behinderten.108 1.6 Der gesetzliche Anspruch auf Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland Nach dem 2. Weltkrieg setzen mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Gesetzgebungsmaßnahmen im Bereich der Sozialpolitik ein, die hier nicht einzeln dargestellt werden können. Das Bundessozialhilfegesetz vom 30.6.1961 allerdings muß genannt werden, denn es bringt eine strukturelle Veränderung gegenüber allen vorherigen Entwicklungen des Unterstützungswesens. Diesem Gesetz war ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 24.6.1957 vorausgegangen, in dem festgestellt wurde, daß für den Bedürftigen ein Rechtsanspruch auf Fürsorge besteht.109 Das Bundessozialhilfegesetzt nahm dieses Urteil auf und schrieb den Rechtsanspruch des Bedürftigen auf Unterstützung in seinem § 4 gesetzlich fest.110 Wenn auch schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine Pflicht des Staates zur Förderung des öffentlichen Unterstützungswesens bestand (Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege von 1842), so korrespondierte dieser Pflicht doch bis zum Bundessozialhilfegesetz von 1961 nie ein einklagbares Recht auf seilen der Unterstützungsbedürftigen. Die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege entwickelten sich nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft auf Vereinsbasis erneut zu unabhängigen Einrichtungen. Die heutigen 6 Spitzenverbände arbeiten eng mit dem öffentlichen

Ergebnisse des historischen Rückblicks

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Unterstützungswesen zusammen.111 Die Arbeit dieser Spitzenverbände finanziert sich aus Spenden, aus staatlichen Subventionen und - soweit es das Diakonische Werk der EKD und den Deutschen Caritasverband betrifft - auch aus kirchlichen Unterstützungen. Die Spitzenverbände haben heute durch die Beschäftigung von zahlreichen professionellen Mitarbeitern und durch den Aufbau einer professionellen Verwaltung einen so hohen Organisationsgrad erreicht, daß sie mit den privatwohltätigen Vereinen des letzten Jahrhunderts, aus denen sie letztlich hervorgegangen sind, nur noch wenig gemein haben. Dies gilt gerade dann, wenn man berücksichtigt, daß heute ca. 1,5 Millionen ehrenamtliche Mitarbeiter in den Spitzenverbänden tätig sind.112 Neben den Spitzenverbänden gibt es zahlreiche Vereine, deren Zweck in der Unterstützung Bedürftiger in der Bundesrepublik und darüber hinaus in aller Welt liegt. Diese Vereine finanzieren sich und ihre Arbeit in der Hauptsache über Spenden. 1.7 Ergebnisse des historischen Rückblicks Folgende Punkte wollen wir im Hinblick auf die Entfaltung des Forschungsgegenstandes als Ergebnisse des historischen Rückblickes festhalten: 1. Bereits im vorchristlichen Altertum waren in Ägypten und Israel wesentliche Bereiche der Unterstützung von Bedürftigen speziell im Rahmen von Opferhandlungen an religiöse Vorstellungen gebunden. Auch für Griechenland und das römische Reich lassen sich Kopplungen von Armenunterstützung und religiösen Handlungen nachweisen. 2. Dem christlichen Klerus gelang es, eine religiös motivierte Mittlerstellung zwischen Gebern und Empfängern einzunehmen und gleichzeitig die unmittelbar tätige Hilfe nach dem Beispiel des Barmherzigen Samariters über das Gebot der Nächstenliebe abzusichern und zu fördern. Im Neuen Testament wurde die Sonderstellung der Armen und Bedürftigen als Vertreter Gottes auf Erden ausdrücklich formuliert. Die Unterstützung der Armen erhielt auch im Christentum eine transzendente, das alltägliche Dasein übersteigende, Bedeutung, indem sie als verdienstliches Werk (später in stärkerer Anknüpfung an den Bußgedanken) dem mildtätigen Spender nach seinem irdischen Ableben Anspruch auf himmlischen Lohn versprach. Das Neue Testament definiert eine Reihe von Personengruppen (Hungrige, Fremde, Blinde, Lahme etc.), deren Unterstützung als besonders verdienstvoll dargestellt wurde. Die Caritas-Theorien des Mittelalters forderten unter Berufung auf das Neue Testatament und das Beispiel Jesu die direkte und persönliche Herablassung zu den Armen. Die Armenfürsorge der christlichen Kirche organisierte sich in einer Mischung aus formal freiwilligen Abgaben und Zwangsabgaben. Vermittelte Unterstützungsleistungen über weite geographische Distanzen (in der Regel für Glaubensbrüder) wurden bereits im Neuen Testament sowie später auch bei den Kirchenvätern erwähnt. Die kirchliche Armenfürsorge kannte keine Überprüfung des Unterstützungsanspruchs der potentiellen Empfänger. Die Armenpflege als Aufgabe des

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Marksteine und Wendepunkte

Klerus erlosch zu keiner Zeit, auch wenn sie sich organisatorisch an die städtische und später die staatliche Armenfürsorge anschließen mußte. 3. Nicht die Reformation, sondern bereits die Neuordnung des Armenwesens in den Städten ab dem 14. Jahrhundert sorgte für die Entwicklung eines zunehmend vom Einfluß des Klerus und seiner Ideenwelt unabhängigen Unterstützungswesens. Der Einfluß städtisch-bürgerlicher Normen drückte sich in der Rationalisierung, der Bürokratisierung, der Pädagogisierung und teilweise der Professionalisierung der Armenpflege aus. Die Präsentation von Bedürftigkeit führte nicht mehr generell zur Auslösung von religiös motivierter Mildtätigkeit, vielmehr wurde der jeweils präsentierte Zustand der Bedürftigkeit prinzipiell in Frage gestellt und nach festgelegten Kriterien untersucht. Armut und Bettel verloren ihre Hochschätzung. Ab dem 18. Jahrhundert wurde der Bettel auch im deutschsprachigen Raum mit zum Teil brutalen Mitteln verfolgt. Die Finanzierung des städtischen Armenwesens verlief überwiegend durch Aufrufe in christlicher Terminologie auf formal freiwilliger Basis und in Zusammenarbeit mit dem Klerus. Eine durchgehende Finanzierung der Armenfürsorge aus den allgemeinen Steuermitteln brachte die städtische Armenpflege nicht hervor, auch wenn verschiedene Zwangsabgaben zugunsten der Unterstützung Bedürftiger bekannt waren. Die direkten Gaben von Spendern an Bedürftige oder sich als bedürftig darstellende Empfänger waren auch zur Zeit der städtischen Armenfürsorge so stark verbreitet, daß sie die städtischen Maßnahmen zum Teil unterliefen. Die direkte, unmittelbare Gabe an Bedürftige hat sich bis heute - wenn auch im Vergleich zu den vorausgehenden Jahrhunderten im eingeschränkten Umfang erhalten. 4. Mit Ende des 18. Jahrhunderts beanspruchte der Staat die gesetzgeberische Organisation der Armenfürsorge, auch wenn deren praktische Ausführung auf der Ebene der politischen Gemeinde angesiedelt blieb. Zunächst wurden die Mittel für die Unterstützungsleistungen noch aus speziellen Armensteuern geschöpft. Ab dem 19. Jahrhundert setzte sich dann die Finanzierung der staatlichen Armenfürsorge aus allgemeinen Steuermitteln durch. Die staatliche Armenfürsorge operierte, genau wie die städtische, mit festen Überprüfungskriterien für den Zustand der Bedürftigkeit. Armenfürsorge war Staatsaufgabe, ohne daß auf seilen der potentiellen Empfänger ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Unterstützungsleistungen bestanden hätte. Im 18. Jahrhundert entwickelten sich verschiedene neue Institutionen zur Unterbringung Bedürftiger (z.B. Arbeitshaus), so daß der ohnehin verbotene Straßenbettel sich weiter verminderte. Für die direkte, unmittelbare Spende an Bedürftige dezimierten sich Anlässe und Gelegenheiten immer stärker, weil die potentiellen Empfänger solcher Spenden nicht mehr in dem vorher üblichen Maße in der Öffentlichkeit auftraten. Die Möglichkeiten vermittelten Spendens zugunsten des öffentlichen Armenwesens dagegen weiteten sich aus. Mit dem Verblassen der christlich-religiösen Motive der Armenfürsorge und der späteren Übernahme des Armenwesens in die Hände das Staates entwickelte sich seit der Aufklärung die freiwillige, aber organisierte bürgerliche Privatwohl

Anmerkungen

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tätigkeit. Ihre Organisationsform war der Verein. Die organisierte bürgerliche Privatwohltätigkeit arbeitete zwar mit kirchlichen und staatlichen Institutionen zusammen, blieb aber rein rechtlich von diesen unabhängig. Sie motivierte sich in ihren Anfängen in der Hauptsache aus der bürgerlichen Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung von Staat und Gesellschaft durch Armut und Bedürftigkeit. Die Privatwohltätigkeit hat sich heute stark ausgeweitet, sich zum Teil deutlich bürokratisiert und besonders im Verwaltungsbereich professionalisiert. Die enge Zusammenarbeit mit der staatlichen Armenfürsorge hat allerdings bis heute nicht dazu geführt, daß die Privatwohltätigkeit ihre formale Unabhängigkeit dem Staat gegenüber einbüßen mußte. 5. Die Sozialversicherungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gehörten in den Bereich der Vorsorgemaßnahmen staatlicher Armenfürsorge. Auf Grundlage des Äquivalenzprinzips erwirbt der Sozialversicherte einen einklagbaren Anspruch auf eine gewisse Absicherung gegen die wesentlichen Lebensrisiken (Krankheit, Unfall, Hilflosigkeit im Alter und Arbeitslosigkeit). 6. Mit der bundesrepublikanischen Sozialhilfegesetzgebung verpflichtet sich der Staat zur Unterstützung Bedürftiger und gibt ihnen erstmalig ein einklagbares Recht auf Unterstützung.In der Bundesrepublik ergänzen sich formal freiwillige Privatwohltätigkeit und staatliche Armenunterstützung bzw. Sozialhilfe. Das Nebeneinander von freiwilliger und nicht-freiwilliger Finanzierung der Unterstützungsleistungen ist der Regelfall, wenn auch die Proportionen der beiden Bereiche je nach geschichtlicher Situation unterschiedlich ausfallen. Wir sagten eingangs, die wohltätige Spende gehöre in den Bereich der freiwilligen Armenunterstützung. Die Erhebung von speziellen Armenabgaben oder die Finanzierung der Armenfürsorge aus allgemeinen Steuermitteln sind, wie der historische Rückblick zeigte, die Gegenpole zu einer Finanzierung von Unterstützungsleistungen aus freiwilligen Spenden. Beide Finanzierungsformen bleiben, auch dort, wo sie historisch gesehen gleichzeitig auftreten (Regelfall), deutlich voneinander geschieden. Im folgenden Kapitel werden wir uns den Bereich der zeitgenössischen freiwilligen Armenunterstützung genauer ansehen und in Vorbereitung auf die Definition des Forschungsgegenstandes die Grundmerkmale und Grundformen formal freiwilliger Armenunterstützung bestimmen.

Anmerkungen l Wenn hier von Marksteinen und Wendepunkten die Rede ist, so wird damit angezeigt, daß keine zusammenhängende und lückenlose Darstellung der Geschichte der Armenfürsorge folgt, sondern daß in Anlehnung an die einschlägige Literatur einige Ereignisse exemplarisch herausgegriffen werden, um die Hauptlinien der Entwicklung der Armenfürsorge zu skizzieren. Es können darüber hinaus nur solche Entwicklungsstränge Eingang in dieses Kapitel finden, die im weitesten Sinne für die christlich-europäische und später im engeren Sinne für die deutsche Geschichte der Armenfürsorge von Belang sind. 2 Zum folgenden vgl.: Bolkenstein, Hendrik (1967): Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Groningen. (Nachdruck der Ausgabe Utrecht 1939)

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3 Ebenda S. 19 4 Ebenda S.27 und S.54 5 Ebenda S. 16 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß die verdienstvollen Wohltaten, die im Alten Testament bei Hiob (29,12-17, 31,16-22 und 31,32) und im Neuen Testament im Matthäus-Evangelium (25, 31-46) genannt werden, bereits in Ägypten in der Zeit der VI. Dynastie (das Ende der VI. Dynastie liegt um 2190 v. Chr.) in ganz ähnlicher Formulierung in Gestalt von Grabinschriften erschienen, die die Verstorbenen als Wohltäter priesen. In diesen Inschriften wurden "den Hungernden Brot geben, den Dürstenden Wasser, die Nackten kleiden" als Formen der Unterstützung genannt. Es fehlt hier allerdings die spätere christliche Gleichsetzung von Armut und Göttlichkeit. "In Ägypten war sehr häufig die Rede von Verpflichtungen gegen Arme und Geringe im allgemeinen und Witwen und Waisen, Greise, Fremdlinge und Verirrte, Kranke, Blinde, Krüppel, vor allem Hungernde, Dürstende und Nackte im besonderen. Beinah genau dieselben Kategorien führt Hiob an, wenn er die hohe Sittlichkeit seines Wandels dartun will." Ebenda S.38 Max Weber sieht in den Geboten ägyptischer Karität eine "weitgehende Vorwegnahme der Karität der christlichen Evangelien". Weber, Max (1976): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, III, Das antike Judentum. 6. Auflage. Tübingen. S.275 6 Bolkenstein, Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. A.a.O. S.101 7 Ebenda S.99 und S.150 8 Ebenda S.306 9 Ebenda S.321, S.459 und S.462 Bolkenstein legt dar, daß eine Verbindung von Religion und Armenpflege bei Griechen und Römern im vorchristlichen Altertum nicht nachweisbar ist. Aus dem Material, welches Bolkenstein seiner Analyse zugrunde legt, wird aber deutlich, daß bei Griechen und Römern sehr wohl einige Verbindungen zwischen religiösen Vorstellungen und dem Akt des Gebens an Bedürftige zu finden sind, auch wenn diese Verbindungen sich durch ihre Indirektheit klar von den ägyptischen, israelitischen und späteren christlichen Kopplungen von Armenpflege und Religion unterscheiden. Folgende Beispiele für das gemeinsame Auftreten der Austeilung von Unterstützungsleistungen an Bedürftige und religiösen Vorstellungen bzw. religiösen Feiern bei Griechen und Römern seien genannt: - Wohltun bei Griechen und Römern war nicht nur Kennzeichen des Menschentums, sondern darüber hinaus ein wichtiges Merkmal der Gottheit. Den Wohlhabenden galt in ihrer Eigenschaft als potentielle Wohltäter die besondere Gunst der Götter. Ebenda S. 174 und S.321 - Die Bettler in Griechenland waren unter anderem häufig an Straßen und Wegkreuzungen anzutreffen. An diesen Orten wurden auch die Opfer für Hekate und Trioditis niedergelegt. Ebenda S.209 - Opferfeste waren zwar nur selten (meistens waren Freunde eingeladen und nicht Arme), aber trotzdem nachweisbar eine Form der Unterstützungsleistung auch für bedürftige und nicht-bedürftige Mitbürger. Bedürftige Mitbürger galten allerdings nicht als privilegierte Empfänger von Opfergaben. Ebenda S.242 - Die amtlichen 'beneficenta' in Rom fanden vielfach im Rahmen von Leichenfeiern statt. (Ebenda S.338) Die Benefizierten waren nicht in erster Linie Arme, sondern Bürger (Wähler). Unabhängig davon stellt sich auch hier der Zusammenhang von Austeilungen und religiösen Vorstellungen bzw. religiösen Feiern (Leichenfeiern) her.

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- Römische Kaufleute gelobten vor unsicheren geschäftlichen Unternehmungen Hercules, ein Zehntel des Gewinns zu opfern (Decuma) und in Form eines Opferschmauses darzubringen. Der größte Teil des Opfers wurde dabei von bedürftigen und nicht-bedürftigen Bürgern verzehrt, der kleinere Teil ging an den Tempel. Ebenda S.378 Auch wenn der Ertrag der Opfer und der übrigen Unterstützungsformen nicht ausschließlich Armen überreicht wurde, sondern an alle Bürger, so scheint es dennoch auch bei Griechen und Römern im vorchristlichen Altertum, ähnlich wie bei Ägyptern, Israeliten und später Christen, eine Verbindung zwischen dem Akt der Austeilung zugunsten der Gemeinschaft und den religiösen Vorstellungen gegeben zu haben. Schon die Verbindung von Austeilungen und Opfern weist in diese Richtung. Ebenda S.444ff. Ebenda S.440 - So legt z.B. Claudius (41-54) formell fest, daß die staatlichen Getreidespenden (frumentationes) nicht länger aus der staatlichen, sondern aus der kaiserlichen Kasse zu zahlen waren. Bereits Augustus (52-14) hatte die gesetzlichen Regelungen, die die staatlichen Austeilungen als Anspruch aller Bürger definierten, gelockert. Die Empfänger der staatlichen Gaben geraten also in eine persönliche Abhängigkeit zum Kaiser. Sie werden zu seinen Schützlingen. Ebenda S.467ff. - Mit den Stiftungen Trajans (98-117) zugunsten der Kinder aus bedürftigen Familien gerieten die Armen als herausgehobene Gruppe von Empfängern staatlicher Sozialleistungen nachhaltig in das Blickfeld der Wohlhabenden und Mächtigen. Ebenda S.468 - Plutarch (45-125) empfahl im Gegensatz zur bisherigen abendländischen Tradition die konsequente Verbindung von religiösen Festen und der Verteilung milder Gaben an Arme zum Zwecke der Stärkung des religiösen Sinns der Masse. "Es ist dies vielleicht der erste Fall, daß in der abendländischen Welt die Wohltätigkeit gegen Arme zur Stärkung des Glaubens empfohlen wird." Ebenda S.478 Ebenda S.470 Ebenda S.476f. "Die Entwicklung, in deren Verlauf Gasträume und Gebäude zur Bewirtung und Beherbergung von Pilgern und Festbesuchern sich in Anstalten zur Speisung und Aufnahme von Notleidenden gewandelt haben, ist nur ein Symptom, ein sichtbarer Ausdruck (...) (dafür) (...) daß aus der Menschenliebe, die sich zum Teil in (...) Gastfreiheit äußerte, 'Philantropie', d.h. Armenpflege geworden ist." Ebenda S.483 Krause, Gerhard und Müller, Gerhard (Hrsg.) (1979): Theologische Realenzyklopädie. Bd.4. Berlin/New York. S. 15 Auch wenn zu diesem Zeitpunkt von einer differenzierten Ausgestaltung kirchlicher Institutionen innerhalb des Christentums noch keine Rede sein kann, so war es doch gerade die christliche Armenpflege, die frühe institutionelle Stufen innerhalb der Organisation der Christen zu ihrer Abwicklung benötigte und die im weiteren Verlauf ihrer Geschichte auch die Entwicklung institutioneller Einheiten innerhalb der späteren christlichen Kirche förderte. Ratzinger, Georg (1884): Geschichte der kirchlichen Armenpflege. Freiburg i. Br. S.20, S.41, S.66f. und S.69 Am Beispiel Galliens weist Thomas Sternberg darauf hin, daß die Oblationen später durchaus nicht obligatorisch in der von Ratzinger beschriebenen Weise im Rahmen des Gottesdienstes stattfanden: "Der Begriff Oblatio' ist weder terminus technicus für die Gabenabgabe in Form von Naturalien oder Geld innerhalb oder vor der Meßfeier noch für die Eucharistie selbst oder für die Stiftungen. (...) Anhand mehrerer Quellen kann man nachweisen, daß in der gal-

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likanischen Liturgie ebenso wie im Osten, aber anders als in Rom, die mitgebrachten Gaben vor der Meßfeier in einem eigenen Raum abgegeben wurden." Sternberg, Thomas (1989): Orientalium More Secutus - Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7. Jahrhunderts in Gallien. Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 16. Münster. S.9 und S.10 Für unseren Zusammenhang ist zunächst weniger bedeutend, ob die Gaben vor, während oder nach dem Gottesdienst überreicht wurden. Wichtig ist hingegen, daß sie immer gleichgültig, wie das Ritual je nach Zeitalter oder Region auch differenziert war - in einem sakralen Raum übergeben wurden. Das gleiche gilt für die Formulierung: Die Gaben wurden auf den Altar gelegt und danach den Armen überreicht. "Noch die Bußbücher späterer Zeit unterscheiden Almosen pauschal von Gaben 'auf den Altar'. Es ist fraglich, ob mit dieser Bezeichnung eine anhaltende Praxis deutlich wird, nach der die Gaben tatsächlich auf einen Altar gelegt werden. (...) Auch zu einer Zeit, in der die Gaben zur Meßfeier vorher in einem eigenen Raum abgeliefert wurden, treffen wir dennoch auf die Formulierungen 'ad altare' und 'in altario'. Auch für andere von der Eucharistie völlig getrennte Schenkungen finden wir diese Bezeichnung." Ebenda S.10 Auch in diesem Falle ist also zu bedenken, daß die Gabe durchaus nicht immer im wortwörtlichen Sinne über den Altar hinweg gereicht wurde. Dennoch verweist das Sprachmuster (ad altare, in altario) auf einen sakralen Zusammenhang bei der Übergabe der Gaben. Diesen sakralen Zusammenhang wollen wir zunächst festhalten. Anmerkung: Die in dieser Arbeit zitierten Bibeltexte dienen generell nicht als Beleg für historische Ereignisse, sondern sie werden angeführt, weil sie in wechselnden Interpretationen die theoretische Argumentation und die praktische Ausgestaltung nicht nur der kirchlichen Armenpflege, sondern auch der frühen weltlichen Armenunterstützung über Generationen hinweg beeinflußt haben. Es sind damit die unterschiedlichen Formen der Rezeption und Adaption der entsprechenden Bibeltexte, die uns interessieren. Diese Formen sind soziale Realität. Krause, Gerhard und Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd.4. A.a.O., S.18 Thomas Sternberg bezeichnet die Caritas als integralen Bestandteil christlicher Existenz. Sternberg, Thomas: Orientalium More Secutus. A.a.O. S.3 Es soll an dieser Stelle eine Auflistung der wichtigsten inhaltlichen Grundzüge genügen. Auf unterschiedliche Akzente, wie sie z.B. schon bei den Evangelisten zur Frage der Unterstützung von Bedürftigen auftauchen, kann hier ebensowenig eingegangen werden, wie auf regional verschiedene Schwerpunktsetzungen in der Theorie kirchlicher Armenfürsorge. Die theologischen Theorien zur Frage der Armenunterstützung setzen, ausgehend von der Interpretation, insbesondere des Neuen Testamentes, massiv mit den Schriften der Kirchenväter ein und erfahren ihren Höhepunkt in den Almosenlehren der Scholastik. Die Almosenlehren prägen ihrerseits auch die Anfänge eines weltlichen Armenwesens in den mittelalterlichen Städten. Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. A.a.O. S.26ff. Galling, Kurt (Hrsg.) (1986): Die Religion in Geschichte und Gegenwart - Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 1. Bd. Tübingen. S.616ff. Krause, Gerhard und Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. A.a.O. S.17 "Das Almosen wird im Hinblick auf die Beziehung des Menschen zu übernatürlichen Kräften als Opfer dargebracht." Geremek, Bronislaw (1988): Geschichte der Armut - Elend und Barmherzigkeit in Europa. München, Zürich. S.309 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.573

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25 Cyprian (gest. 258) geht sogar soweit, die soteriologische Wirkung des Almosens mit der der Taufe gleichzusetzen. Ebenda S.20 26 Foerstl, Johann Nepumuk (1909): Das Almosen - Eine Untersuchung über die Grundsätze der Armenfürsorge in Mittelalter und Gegenwart. Paderborn. S.23 Die Verpflichtung zu einer Art Gegengabe für den Erhalt des Almosens, die den Armen auferlegt war, bestand in der Praxis nicht immer in vollständigen Fürbitten. Häufig reichte auch ein mit dem Dank verbundener Segenspruch. Fürbitte und Segensspruch waren in jedem Falle anerkannte Gegenleistungen für den Erhalt des Almosens. Darüber hinaus waren die Armen nach dem biblischen Vorbild der Scherflein der Witwe (Mark.12,41-44; Luk.21,1-4) bei bestimmten Anlässen (besonders Gottesdiensten und Begräbnissen) verpflichtet, einen Teil des ihnen gespendeten Geldes selbst wiederum zu spenden. Durch die Spende, die man von den Armen verlangte, eröffnete man ihnen im bescheidenen Maße die Möglichkeit, selbst Schätze im Himmel anzuhäufen. Das eigentliche Lohnmotiv spielt bei der Einschleifung und Verbreitung des Almosens eine entscheidende Rolle: "In den theologischen Erörterungen über das Almosen nimmt (...) die Besprechung des Lohnmotivs einen sehr breiten Raum ein. Mehr als jedes andere war nun dieses Motiv geeignet, eine überaus reiche Entwicklung der Liebestätigkeit zu erwecken und zu fördern, gerade in den breiten Schichten des gläubigen Volkes, welches für diesen Beweggrund erfahrungsgemäß am empfänglichsten sich zeigte. Dieses von den Theologen so ausführlich erklärte Lohnmotiv in populärer Form und in recht wirksamer Weise den Gläubigen dargestellt zu haben, ist vor allem das Verdienst der aus den Bettelorden hervorgehenden Volksprediger, die mit beredtem Munde in dichtgefüllten Gotteshäusern und (...) auch vor ungezählten Scharen auf freiem Felde das Evangelium verkündeten." Ebenda S.27 und S.28 27 Zur theologischen Bestimmung des Tatbestandes der verweigerten Hilfeleistung gab es die verschiedensten Ansätze: "Die Unterlassung des Almosens ist (z.B.) nach Thomas (1225/1226-1274) nur dann eine schwere Sünde, wenn auf seilen des Empfängers eine 'drückende augenscheinliche Not' (evidens et urgens necessitas) besteht; fernerhin ist hierzu notwendig, daß der Notleidende von niemand anderem Hilfe zu erwarten hat." Ebenda S.21 Wir werden uns später, bei der Analyse von Bettelszenen, mit dem aktuellen Repertoire befassen, welches den Ausdruck von drückender augenscheinlicher Not schafft. 28 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.239 29 Nächstenliebe steht in den Caritas-Theorien nicht für einen eigenständigen Wert, sondern bildet in Einheit mit der Selbstliebe die Gottesliebe, die sich wiederum in den Werken der Barmherzigkeit gegen den Nächsten dokumentiert. Georg Ratzinger führt zu diesem Themenkomplex Jak.1,27 an. Ebenda S.32f. Vgl. auch Fuerth, Maria (1933): Caritas und Humanitas - Zur Form und Wandlung des christlichen Liebesgedankens. Stuttgart. Auch mit dem Stichwort Nächstenliebe werden wir uns später noch genauer zu befassen haben. 30 Unter Heiligung soll hier die Herauslösung des Übergabeaktes und der Gaben aus der alltäglichen und profanen Welt verstanden werden. (Auch hier noch einmal der obligatorische Hinweis, daß wir uns später ausführlich mit dem Phänomen der Herauslösung des Übergabeaktes aus der alltäglichen, profanen Welt befassen.) Ignatius verlangt sogar, daß ohne die Anwesenheit des Bischofs keine Agapen abgehalten werden sollen: "Wo der Bischof ist, muß die Gemeinde sein, gleichwie die Kirche da ist, wo Christus ist. Ohne Bischofsoll niemand Agapen veranstalten." zitiert nach Georg Ratzinger: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.73

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"Durch die Übergabe des Almosens an den Bischof sollten die Gläubigen stets gemahnt werden, daß sie ihre Gabe nicht so fast den Armen geben, als vielmehr Gott zum Opfer bringen, der sie durch seinen Stellvertreter, den Bischof, an die Armen austheilen läßt." Ebenda S.73 Matth.9,27-34; Matth.20,29-34; Matth.21,14; Matth.15,30-31; Matth.20,29-34; Mark. 10,46-52; Mark.8,22-26; Luk.18,35-43; Joh.9; Joh.5,1-4 Joh.5,1-17 Apg.3,1-26; Luk.13,10-17; Matth.12,9-13; Mark.3,1-6; Luk.6,6-11; Joh.5,1-9 Matth.9,27-34; Mark.7,31-35 Matth.8,1-14; Mark.5,2-17; Mark.9,14-29; Luk.8,27-37; Luk.9,37-45 Matth.8,1-4; Mark.1,40-45; Luk.5,12-14; Luk.17,11-19 Luk.18,1-8 Matth.19.13-15; Luk.18,15-17; Mark.10,13-16 Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. A.a.O. S.37, aber auch Bolkenstein, Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. A.a.O. S.328 und Scherpner, Hans (1974): Theorie der Fürsorge. 2. Auflage. Göttingen. S.25ff. Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.69ff. So ist z.B. bei Eusebius und Tertullian von der Hilfe für die gefangenen Mitbrüder in den Bergwerken selbst bis nach Armenien die Rede. Ebenda S.74ff. Ebenda S.146 Krause, Gerhard und Müller, Gerhard: Theologische Realenzyklopädie. Bd.4. A.a.O. S.21 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.153f. Die alte kirchliche Lehre, nach der das Kirchenvermögen als Armenvermögen galt (Origines, Ambrosius, Augustinus), sollte nicht wörtlich genommen werden. Die Bezeichnung des Kirchengutes z.B. als patrimonium pauperum weist vielmehr eindeutig rhetorischen Charakter auf. "Von mehr als etwa 20-30% der kirchlichen Einnahmen für caritative Zwecke werden wir nicht ausgehen können, also ungefähr einem Anteil, der bis heute in etwa zutrifft, aber auch nicht weniger." Sternberg, Thomas: Orientalium More Secutus. A.a.O. S.16 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.114 Allerdings war die Abgabe des Zehnten, der entweder zu einem Teil oder ganz den Armen zugute kommen sollte, kein völlig neues Element kirchlicher Armenfürsorge. Schon in der Frühzeit des Christentums wurde die Ablieferung eines Armenzehnten gefordert. Diese Forderungen tauchten im 3. und 4. Jahrhundert verstärkt auf, konnten sich aber erst im Mittelalter durchsetzen. "Seit dem 3.Jh. bemühte sich die Kirche um ein praktikables und effektives System pflichtmäßiger Abgaben, jedoch mit geringem Erfolg, wie die Quellen des 4.Jh. zeigen. Es handelt sich um Versuche, die alttestamentlichen Gebote der Darbringung von Ernteerstlingen und Zehnten in der Kirche als dem neuen Gottesvolk zu realisieren." Krause Gerhard und Müller Gerhard: Theologische Realenzyklopädie. Bd.4. A.a.O. S.19 Am Beispiel Galliens zeigt sich, daß die Durchsetzung des Zehnten nicht mit den diesbezüglichen Synodal- und Konzilsbeschlüssen gleichgesetzt werden darf. "Von einem gesetzlich vorgeschriebenen Zehnten im Sinne einer allgemeinen Steuer für kirchliche und damit auch soziale Belange können wir erst in karolingischer Zeit ausgehen." Sternberg, Thomas: Orientalium More Secutus. A.a.O. S.ll "Es hat den Anschein, als ob vor allem der Vorraum der Kirche, das Portal und das Atrium der Ort für solch unmittelbare Hilfeleistungen gewesen seien." Ebenda S.22 "Unmittelbare Leistungen direkt an Arme durch Laien scheint es in Zusammenhang mit den matriculari (Armenverzeichnisse) gegeben zu haben. (...) Vor allem in Verbindung von Buße

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und Almosen, aber auch von Heiligenbitte und Spende an die Armen in der Nähe des Heiligtums scheint ein wesentliches Moment privater Hilfe zu liegen." Ebenda S.23 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.221ff. Sternberg, Thomas: Orientalium Secutus More. A.a.O. S.14 "Schon die frühchristlichen Totenmähler hatten einen deutlich caritativen Akzent. Zum Totengedenken gehört auch in der Folgezeit das Almosen als entscheidender Bestandteil. Es wird somit zu einem wesentlichen Element privater Caritas." Ebenda S.23 Ebenda S.23 Holzherr, Georg (Hrsg.) (1980): Die Benediktsregel - Eine Anleitung zu christlichem Leben. Zürich, Einsiedeln, Köln. S.219ff. und Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. A.a.O. S.49f. Daß die Anwendung dieser Regel zu einer wirksamen Unterstützung für breite Armutsschichten führte, wie es die theologisch motivierte Geschichtsschreibung der Armenpflege darstellt, scheint fraglich. Es wird sich bei den Armen, die in den Genuß solcher Begrüßungs- und Bewirtungszeremonien kamen, eher um eine symbolisch begrenzte Anzahl von Repräsentanten der Armut gehandelt haben, die durch ihre Anwesenheit die Ausführung des Zeremoniells ermöglichten: "Eine bestimmte Gruppe von Armen wird in den Klöstern ständig unterhalten, und aus ihr rekrutieren sich dann diejenigen, von denen die Liturgie bestimmt, daß ihnen die Füße gewaschen werden, daß man ihnen ein Nachtlager gewährt und daß man sie am gemeinsamen Mal mit den Mönchen teilnehmen läßt. Es hängt mit dem liturgischen Charakter dieser Hilfe zusammen, daß die Zahl der Armen, die an der Zeremonie teilnehmen, beschränkt und genau definiert ist; diese symbolische Zahl ist eines der Anzeichen dafür, daß das karitative Wirken der Kirche sich ritualisiert hat." Geremek, Bronislaw: Geschichte der Armut - Elend und Barmherzigkeit in Europa. A.a.O. S.56 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.252 Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. A.a.O. S.106 und S.145 Sternberg, Thomas: Orientalium more Secutus. A.a.O. S.22 Ebenda S.23 Ebenda S.223 und S.87 Moeller von, Ernst (1906): Die Elendsbruderschaften - Ein Beitrag zur Geschichte der Fremdenfürsorge. Leipzig. S.155 Koren, Hans (1954): Die Spende - Eine volkskundliche Studie über die Beziehung "Arme Seelen - arme Leute". Graz. S.34 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.342 und Krause, Gerhard, Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzylopädie. Bd.4. A.a.O. S.26 Ebenda S.27 Bereits während der Kreuzzüge (1096-1270) hatte sich eine ebenfalls nicht zum Klerus gehörende Gruppe, nämlich der Adel, mit zahlreichen Hospitalgründungen um das Unterstützungswesen verdient gemacht. Unter dem Stichwort mute, welches ein Pflichtverhältnis auch jenseits der Armut ausdrückte, engagierten sich Adelige besonders in den Ritterorden (Johanniter, Templer etc.) im Bereich des Hospitalwesens. Hedda Ragotzky zeigt, daß dem richtigen Geben das richtige Nehmen entsprechen mußte, um den milte-Akt der Ordnung gemäß auszuführen und gelingen zu lassen: "Die kunst des Gebens besteht darin, dem zu geben, der gute kunst hat. (...) Ein solches Geben ist bescheidenlich (...), wer so gibt, der gibt durch Got und durch ere (...), er vollzieht das recht der milte (...). Mit dieser Charakteristik ist milte im Grundriß als interaktives Verhältnis entworfen: In der kunst des Nehmens verkörpert sich die sozial-ethische Qualität des Nehmenden, diese zu erkennen und angemessen zu honorieren, macht die kunst des Gebens aus. Das Zusammenwirken dieser Befähigung beider Handlungspartner ist die

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Voraussetzung für das Gelingen des milte-Akts." Ragotzky, Hedda (1980): Die kunst der milte. Anspruch und Funktion der milte-Diskussion in den Texten des Strickers. In: Kaiser, Gert (Hrsg.) (1980): Gesellschaftliche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur. München. S.78 Die Armenpflege durch weltliche Herrscher beschränkte sich nicht nur auf die Hospitalgründungen oder die Verteilung von Almosen. Auch festgelegte Formen der persönlichen Bewirtung von Armen im Hause des Wohltäters sind belegt: Ludwig IX (der Heilige 12261270) pflegte nach Auskunft seines Biographen, täglich Essen unter die Armen zu verteilen, "'nicht gerechnet diejenigen, die an seiner Tafel aßen und denen er bisweilen selbst das Brot schnitt, und zu trinken einschenkte'. Dieser Brauch, die Armen im eigenen Hause zu unterhalten, indem man sie an der eigenen Tafel teilnehmen ließ, wurde außer von den Klöstern und den Herrschern auch von den kirchlichen Würdenträgern praktiziert und erreichte, wie einige testamentarische Vermächtnisse bestätigen, schließlich auch die bürgerlichen Schichten." Geremek, Bronislaw: Geschichte der Armut - Elend und Barmherzigkeit in Europa. A.a.O. S.56f. Rüger, Willi (1932): Mittelalterliches Almosenwesen - Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg. Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian (1980): Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart. S.29f. Geremek, Bronislaw: Geschichte der Armut - Elend und Barmherzigkeit in Europa. A.a.O. S.52 Die in der älteren Literatur angegebene deutliche quantitative Zunahme des Bettels kann durch aussagefähige Zahlen nicht belegt werden, weshalb auch die städtischen Armenordnungen nicht primär durch diese nicht nachweisbare Steigerung motiviert sein konnten. Während in der altern Literatur (Uhlhorn, Ratzinger, Ehrle etc.) die im 15. und 16. Jahrhundert vermehrt auftretenden Klagen über den Bettel als Anzeichen einer zahlenmäßigen Steigerung der Bettelei gewertet werden, interpretieren Sachße und Tennstedt diese vermehrt auftretenden Klagen, wie sie z.B. bei Sebastian Brant im "Narrenschiff (1494), im "Liber Vagatorum" (1510) oder in der volkstümlichen Bettelkritik auftauchten, in erster Linie als Ausdruck einer veränderten, jetzt negativen Haltung gegenüber dem Bettel, die von den städtisch bürgerlichen Schichten geprägt und später nach der Reformation zum Teil von beiden Kirchen übernommen wurde. Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.36 Scherpner, Hans: Theorie der Fürsorge. A.a.O. S.46f. Auffällig ist die umfangreiche Verwendung klerikalen Vokabulars auch durch die weltlich städtischen Verwaltungen bei der Formulierung von Armenordnungen. Diese Nähe zur Form der Finanzierung kirchlicher Armenfürsorge ging sogar soweit, daß die Nürnberger Armenordnung von 1522 verlangte, von den Kanzeln herab für die weltliche Armenfürsorge zu werben. Unter Punkt 12, in dem es um die Finanzierung der Armenfürsorge ging, hieß es, daß das gemeine Volk "umb Christus willen" Almosen in die städtische Armenkasse geben sollte. Rüger, Willi: Mittelalterliches Almosenwesen - Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg. A.a.O. S.85 Bei dieser Verkündung städtischer Maßnahmen in den Kirchen blieb auch die alte Idee von der jenseitigen Belohnung der Almosenspende in Kraft: "Darumb werden euwer lieb sonders zweyfels bey Got dem almechtigen, ewiger und untodlicher belonung gewarten, und ein hoch christenlich und gut werck furdern." Ebenda S.85 Krause, Gerhard und Müller, Gerhard: Theologische Realenzyklopädie. Bd.4. A.a.O. S.26

Anmerkungen

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67 "Ablaß ist der Erlaß einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, deren Schuld schon getilgt ist; der Erlaß wird von der kirchlichen Autorität aus dem Kirchenschatz gewährt, und zwar für die Lebenden in der Weise der Lossprechung, für die Toten in der Weise der Fürbitte." Eicher, Peter (Hrsg.) (1984): Handbuch theologischer Grundbegriffe. München. S.1447ff. "Allmählich wird der Brauch eingeführt und später kodifiziert, eine Bußform durch eine andere zu ersetzen, falls ernsthafte Gründe dafür vorhanden sind (communicatio poenitentiae). In manchen Fällen kann sogar die auferlegte Buße reduziert oder durch eine andere, die weniger schwer ist, 'abgekauft' werden, wie zum Beispiel ein langes Fasten auf eine bestimmte Anzahl von Psalmen oder auf ein Almosen reduziert wird (redemptio poenitentiae). Durch Vermittlung des Dieners der Kirche wird die Buße vermindert, d.h. der Priester erläßt einen Teil der auferlegten Buße (remissio vel relaxatio poenitentiae)." Aus der Umwandlung von Bußformen und dessen Reglementierung entwickelte sich das Ablaßwesen. Anciaux, Paul (1961): Das Sakrament der Buße - Geschichte, Wesen und Form der Kirchlichen Buße. Mainz. S.179 f. (Zitat), S.180 und S.182 Der Ablaß konnte ursprünglich nicht durch ein Almosen gewonnen werden, obwohl Almosengeben neben Fasten und Beten zu den Hauptbußwerken zählt. Generelle Almosenablässe lassen sich vor dem 11. Jahrhundert nicht nachweisen. Erst im 12. Jahrhundert werden sie in größerer Zahl ausgestellt. Der erworbene Ablaß konnte als Bußermäßigung eingesetzt werden. Kirchenbesuch oder Almosen ergaben einen Ablaß, der wiederum dazu berechtigte, z.B. einen Teil der Bußübung des Fastens auszulassen. "Gleich von Anfang an haben sich die Abiäße für Almosen und Kirchenbesuch sowohl auf die Privatbuße als auch auf die öffentliche Buße bezogen." Paulus, Nikolaus (1922/23): Geschichte des Ablasses im Mittelalter - vom Ursprünge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. 3 Bde. Paderborn, Bd.l. S.193 (Zitat) und S.132, S.143, S.153 "Nebst den Kirchen waren es besonders die Krankenhäuser und mannigfaltigen Wohltätigkeitsanstalten, die durch zahlreiche Ablaßverleihungen unterstützt worden sind. In den päpstlichen und bischöflichen Regestenwerken, in den Urkundenbüchern und Lokalgeschichten finden sich hierüber Angaben in Hülle und Fülle. (...) Es haben freilich gerade die Almosensammler dieser Anstalten und Genossenschaften, die sogenannten Qästoren, öfters durch anstößiges Auftreten zu berechtigten Klagen Anlaß gegeben. Andererseits aber muß doch zugegeben werden, daß die Armen- und Krankenpflege durch die Ablässe mächtig gefördert worden ist." Ebenda Bd.2. S.239 und S.241 Ablaß wurde auch jenen gewährt, die 'frommen und ehrenwerten Männern' Almosen geben, um diese nicht armen Vermittler in die Lage zu versetzen, verschämte Arme zu unterstützen. Ebenda Bd.2. S.242 Daß Paulus nachweist, daß die meisten Abiäße 'Fälschungen' waren, sei nur am Rande vermerkt. Für unseren Zusammenhang wollen wir festhalten, daß der Ablaß in seiner Eigenschaft als Erlaß der zeitlichen Sünden, deren Schuld bereits getilgt ist und als Möglichkeit, harte körperliche Bußstrafen zu modifizieren, eng mit der Gabe des Almosens verbunden ist. Der durch Almosen gewonnene Ablaß bietet die Möglichkeit, materielle Leistungen für den Nachlaß zeitlicher Sünden einzusetzen. "Auf die Inanspruchnahme der Person folgt immer die bloße Inanspruchnahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit." Gottlob, A. (1906): Kreuzablaß und Almosenablaß. Stuttgart. S.207 Zu diesem Themenbereich siehe auch: Beringer, Franz (1921/22): Die Ablässe, ihr Wesen und Gebrauch. 2 Bde. Paderborn. Apostolische Bußkonstitution, Bußordnung der deutschen Bischöfe, Apostolische Konstitution über die Neuordnung des Ablaßwesens (1967) Bd.2. Trier. 68 Von einer prinzipiellen Neugestaltung der Wohlfahrtspflege durch die Reformation in bezug auf die Träger der Unterstützung, von einem Übergang von der kirchlichen Armenpflege zur weltlichen Gemeindearmenpflege kann nicht die Rede sein." Feuchtwanger, L. (1908): Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter

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der Reformation. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (1908) 4. Heft. S.171 "Die feste Zuversicht Luthers, der Glaube werde die Guttaten und die Freigebigkeit, auch ohne 'Gesetz', von selber erzeugen, war aufs bitterste enttäuscht worden." Feuchtwanger, L· (1909): Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (1909) 1. Heft. S. 210 Der Rückgang der freiwilligen Almosen, der in einigen Gebieten Deutschlands zum zeitweisen Zusammenbruch des gesamten Unterstützungswesens führte, aber eben nicht zu seiner Reform, ging natürlich zu einem wesentlichen Anteil auf Luthers Lehre über die Unwirksamkeit (ehemals) verdienstlicher Werke zurück. Diese Lehre wirkte sich im Bereich des Almosens für die Bedürftigen spürbar aus, denn die Geber übten sich unter Berufung auf die neuen Ideen in unterschiedlichen Graden der Zurückhaltung. Ebenda S.212ff. Ebenda S.174 Die Leistungen der Reformation in bezug auf die Armenunterstützung bestehen "nur in der Herbeiführung der Disposition für die moderne Armenpflege und für die moderne Sozialpolitik: Diese große religiöse Bewegung hat dem modernen Staat mit seinen kulturellen Aufgaben den Weg geebnet und sie hat, indem sie wider Willen die Impulse zu der reichen Mildtätigkeit des Mittelalters beseitigte, den Minderbegüterten die Selbstverantwortung eingeimpft, die Pflicht, zuerst für sich und die ihren den notdürftigen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Aus einem ursprünglichen ethischen Mangel der lutherischen Lehre, aus einer Weltunkenntnis bildeten sich die Grundmauern der heutigen Wirtschaftsverfassung." Feuchtwanger, L (1909): Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation. A.a.O. S.214 Die protestantischen Sekten dagegen nahmen später konkreten Einfluß vor allem auf die berüchtigte englische Armengesetzgebung: "Die mittelalterliche Ethik hatte den Bettel nicht nur geduldet, sondern in den Bettelorden geradezu glorifiziert. Auch die weltlichen Bettler wurden, da sie ja dem Besitzenden Gelegenheit zu guten Werken durch Almosen gaben, gelegentlich geradezu als Stand bezeichnet und gewertet. Noch die anglikanische Sozialethik der Stuarts stand dieser Haltung innerlich sehr nahe. Es war der puritanischen Askese vorbehalten, an jener harten englischen Armengesetzgebung mitzuarbeiten, welche hierin grundsätzlichen Wandel schuf. Und sie konnte das, weil die protestantischen Sekten und die streng puritanischen Gemeinschaften überhaupt in ihrer eigenen Mitte den Bettel tatsächlich nicht kannten." Weber, Max (1986): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.l. S.Auflage. Tübingen. S.199f. Zum Folgenden vgl.: Scherpner, Hans: Theorie der Fürsorge. A.a.O. S.70ff. "Neben den kirchlichen Almosenfonds, die erst in der Reformationszeit und nur in einem Teil der Städte in die Finanzierung einbezogen werden, ist die kommunale Armenfürsorge ganz auf die private Spendenbereitschaft der Bürger angewiesen, der zwar durch vielfältige Ermahnungen, nicht aber durch hoheitlichen Zwang nachgeholfen wird. Eine zwangsweise öffentliche Armensteuer entstammt erst späterer Zeit. (...) Das Almosen beginnt, sich von einer religiös motivierten Mildtätigkeit zur zweckrationalen sozialpolitischen Strategie zu wandeln." Sachße, Christoph; Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.33 Ebenda S.101 "Kommunalisierung", "Rationalisierung", "Bürokratisierung" und "Pädagogisierung" sind die Schlagworte zur Charakterisierung der städtischen Armenfürsorge. Ebenda S.30 Ebenda S.102

Anmerkungen

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76 Die Radikalität dieser Reform zeigt sich unter anderem darin, daß der Stadtrat von Ypern 1531 ein theologisches Gutachten von der Sorbonne in Paris anforderte, um das vollständige Bettelverbot der vivischen Armenordnung überprüfen zu lassen. Trotz massiver Probleme, verursacht durch den Bettel, waren sich die Ratsmitglieder Yperns doch nicht sicher genug, um die jahrhundertealten Ideen von der Gottgefälligkeit des Betteins ohne weiteres ad acta legen zu können. Das Gutachten fiel in bezug auf das allgemeine Bettelverbot im übrigen durchweg positiv aus. Die Gutachter mahnten allerdings an, daß dem Mendicanten-Orden das Almosensammeln nicht verwehrt werden dürfe. Außerdem waren sie der Meinung, daß, wer das Betteln verbietet, auch für die ehemaligen Bettler zu sorgen habe. Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.443 77 "Die mittelalterliche Lehre war durchgängig der Meinung gewesen, daß zwischen dem sündigen und dem würdigen Armen kein Unterschied zu machen sei, daß also moralische Fehler eines wirklich Bedürftigen nicht dazu berechtigten, ihm das Almosen zu verweigern." Ebenda S.97 78 Feuchtwanger, L. (1908): Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation. A.a.O. S.202 79 Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.86 80 Ebenda S.113ff. Die quantitative Bedeutung der Arbeitshäuser sollte nicht überschätzt werden, da durch sie nur ein sehr geringer Teil der Armutsbevölkerung erfaßt wurde. Die eigentliche erzieherrische Wirkung richtete sich deshalb eher nach außen, auf diejenigen Bedürftigen, die nicht Insassen eines Arbeitshauses waren und durch die abschreckende Behandlung der Arbeitshäusler zu einer strebsamen Lebensführung angehalten werden sollten. Ebenda S.122 und S.123 81 "Was (...) das Verhalten der Bürger angeht, so ist hier unschwer das Fortwirken historischer Traditionen zu erkennen. Die Einstellung, daß das Almosen ein gottgefälliges Werk sei und die Unterstützung des Bedürftigen die Pflicht eines jeden Christenmenschen, ist in der Bevölkerung tief verwurzelt und durch die rationalen Erwägungen der Kameralisten wie auch durch obrigkeitliche Gebote nicht so ohne weiteres aus der Welt zu schaffen." Ebenda S.109f. 82 Weil das preußische Armenwesen auch nach der Reichsgründung von 1871 für das Deutsche Reich prägend blieb, soll es (in Anlehnung an Sachße/Tennstedt) hier auch weiterhin jedenfalls in seinen Grundzügen - exemplarisch im Mittelpunkt stehen. 83 "§.1. Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen, und denselben auch von anderen Privatpersonen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können." Hattenhauer, Hans (Hrsg.) (1970): Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Frankfurt a.M., Berlin. S.663 84 Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.227 85 "Bei der Finanzierung der Armenfürsorge gehen die Bemühungen dahin, sie aus der immer unverläßlicher werdenden privaten Spendenbereitschaft in öffentliche Bahnen zu lenken, ohne daß eine an den Prinzipien des Steuerstaates orientierte öffentliche Zwangsfinanzierung bereits durchgesetzt werden könnte." Ebenda S.130 86 Scherpner, Hans: Theorie der Fürsorge. A.a.O. S.46f. 87 Ebenda S.200 88 Ebenda S.202 Vgl. auch: Orthbandt, Eberhard (1980): Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. Frankfurt a.M. S.8f.

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89 Ebenda S.17 90 "Der stark sentimentale Zug ab Mitte des 18Jh. fördert vor allem die private Fürsorge. Es gründen sich zahlreiche Vereine und philanthropische Gesellschaften." Koch, Lotte (1933): Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung. Erlangen. S.95 91 Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.222ff. 92 So gründete z.B. bereits im 9. Jahrhundert ein Bürger der Stadt Siena (Soror, gest.898) das Hospital Maria della Scala. Diese Einrichtung war, auch wenn der Klerus die oberste Kontrolle ausübte, insofern unbhängig von der übrigen, rein kirchlichen Armenfürsorge, als daß die Verwaltung des Hospitals durch zwei Stadtbürger Sienas geleitet wurde. Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.272 und S.318 93 Die Empfänger privatwohltätiger Gaben wurden keineswegs mit Luxus verwöhnt. Sie waren vielmehr "ähnlichen Diskriminierungen ausgesetzt wie die Empfänger kommunaler Unterstützungsleistungen." Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.241 94 Emil Münsterberg liefert am Ende des 19. Jahrhunderts folgende Definition der Unterscheidung von öffentlicher und privater Armenpflege: "Die öffentliche Armenpflege ist Zwangsarmenpflege, d.h. ihre Übung unterliegt dem staatlichen Zwange, den jedes Gesetz übt. Ihr steht gegenüber, schon durch das Wort als Gegensatz des Zwanges gekennzeichnet, die freie Liebestätigkeit. (...) So bleibt als ganz freie Liebestätigkeit eigentlich nur die übrig, die von privaten Wohltätigkeitsvereinen und Anstalten oder von einzelnen Privatpersonen nach freiem Ermessen geübt wird. Man pflegt daher auch zu unterscheiden zwischen der eigentlichen öffentlichen Armenpflege auf der einen und der nicht öffentlichen Armenpflege auf der anderen Seite und die letztere wieder zu trennen in kirchliche Armenpflege, Stiftungspflege, Vereinstätigkeit und Liebestätigkeit einzelner Privatpersonen. Doch verwischen sich die einzelnen Unterschiede vielfach in der praktischen Tätigkeit." Münsterberg, Emil (1897): Die Armenpflege - Einführung in die praktische Liebestätigkeit. Berlin. S.49 und S.50 95 Orthbandt, Eberhard: Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. A.a.O. S.225f. Am Beispiel der Vagabundennot der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, die in Zusammenhang mit Wirtschaftskrise und Wanderbettelei steht, "läßt sich (...) recht deutlich analysieren, daß die Privatwohltätigkeit in der Motivation grundsätzlich sowohl durch die sinnliche Wahrnehmung der Not als auch durch Abwehr und Furcht bestimmt sein konnte." Ebenda S.236 96 Ebenda S.227 97 Ebenda S.229 98 Blankenburg, Martin (1988): Internationale Wohlfahrt -Ursprünge und Entwicklung des ICSW. Berlin. 99 Der traditionelle Pauperismus "war gekennzeichnet durch das auf der geringen Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte beruhende Elend ('Nahrungslosigkeit') breiter städticher und ländlicher Bevölkerungsschichten: Bei insgesamt schwach entwickelter Produktivität führte jede Mißernte, Seuche oder Teuerung unmittelbar zur Existenzgefährdung der breiten Armutsbevölkerung." Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.257 100 Aufgabe dieser Arbeiterpolitik war "die Verhinderung des Absinkens (der Industriearbeiter) unter proletarisches Niveau." Ebenda S.262 101 Lampert, Heinz (1980): Sozialpolitik. Berlin, Heidelberg, New York. S.133

Anmerkungen

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102 Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.264 103 Orthbandt, Eberhard: Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. A.a.O. S.219ff. 104 Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. S.210 105 Orthbandt, Eberhard: Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. A.a.O. S.249f. und: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.) (1985): Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege -Aufgaben und Finanzierung. Freiburg i.Br. S.15 106 Lampert, Heinz: Sozialpolitik. A.a.O. S. 152 107 Orthbandt, Eberhard: Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. A.a.O. S.287ff. 108 "Wir gehen nicht von dem einzelnen Menschen aus, wir vertreten nicht die Anschauung, man muß die Hungernden speisen, die Durstigen tränken und die Nackten bekleiden - das sind uns keine Motive. Unsere Motive sind ganz anderer Art. Sie lassen sich am lapidarsten in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchsetzen zu können." J. Goebbels, zitiert nach: Lampert, Heinz: Sozialpolitik. A.a.O. S.156 109 Der Leitsatz des Urteils lautet: "Soweit das Gesetz dem Träger der Fürsorge zugunsten des Bedürftigen Pflichten auferlegt, hat der Bedürftige entsprechende Rechte." Zitiert nach: Orthbandt, Eberhard: Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. A.a.O. S.356 110 Ebenda S.21 111 Zu den Spitzenverbänden gehören: Die Arbeiterwohlfahrt, das Diakonische Werk der EKD, der Deutsche Caritasverband, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. 112 Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.) (1985): Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege -Aufgaben und Finanzierung. A.a.O. S.19

2 Die Grundmerkmale und Grundformen formal freiwilliger Armenunterstützung und die Definition des Forschungsgegenstandes 2.1 Die Grundmerkmale Als Grundmerkmal formal freiwilliger Armenunterstützung soll, wie schon im historischen Teil angedeutet, das Fehlen jedes objektiv gesetzlichen Zwangs bei der Gabe von Mitteln oder dem Einsatz von tätiger Hilfe zugunsten von Bedürftigen gelten. Wenn von formaler Freiwilligkeit der Armenunterstützung die Rede ist, so soll das nicht heißen, daß z.B. bei den Oblationen und Agapen der apostolischen Zeit keine Form von Zwang auf die Spender gewirkt hätte. - Ganz im Gegenteil, die öffentliche Verlesung der Namen der Spender oder die öffentliche Fürbitte für die wohlhabenden Geber im Rahmen der Agapen und Oblationen waren sicher massive Formen des Zwangs. Nur fehlte dieser Motivation zur Spende die objektiv gesetzlich festgeschriebene und einklagbare Grundlage. Formal freiwillige Armenunterstützung ist weder in der Höhe noch in bezug auf den Zeitpunkt der Übergabe von Geld, Naturalien oder der Leistung tätiger Hilfe gesetzlich einklagbar reglementiert. Sie kann darüber hinaus nicht professionell, sondern allenfalls ehrenamtlich betrieben werden. Nimmt man diese Definition, so fällt auf, daß die Mittelbeschaffung für die kirchliche Armenpflege historisch keineswegs durchgehend als formal freiwillig eingestuft werden kann. Auf der anderen Seite waren die städtische und die staatliche Armenfürsorge zumindest in ihren Anfängen nicht grundsätzlich an die Finanzierung durch Zwangsmaßnahmen gebunden. Für die Finanzierung der kirchlichen Armenpflege galt zwar das Ideal der Freiwilligkeit, aber z.B. die gesetzlich festgeschriebene Abgabe des Zehnten seit dem frühen Mittelalter oder die späteren Pflichtoblationen wiesen keinerlei freiwillige Komponente auf. Es soll nun nicht im einzelnen dargestellt werden, welche Formen der Finanzierung in der Geschichte der Armenfürsorge das Prädikat formal freiwillig verdienen und welche nicht. Wir wollen uns vielmehr dem Bereich der Armenfürsorge zuwenden, der seit jeher durchgehend auf formal freiwilliger Basis strukturiert ist, also dem Bereich der Privatwohltätigkeit. Die Privatwohltätigkeit bzw. die freie Wohlfahrtspflege, ob in Vereinen organisiert oder von Einzelpersonen ausgeübt, ist von der öffentlich-staatlichen Armenfürsorge auch dann formal unabhängig, wenn sie für ihre Tätigkeit finanziell vom Staat unterstützt wird. Die heutige freie Wohlfahrtspflege finanziert sich, soweit sie nicht von der öffentlichen Hand oder aus Mitgliedsbeiträgen unterstützt wird, zum größten Teil aus Spenden.1 Niemand kann gesetzlich zur Privatwohltätigkeit gezwungen werden, und auf seilen der Empfänger besteht ihr gegenüber kein Rechtsanspruch.2 Neben der in Vereinen organisierten freiwilligen Armenunterstützung, die sich als vermittelnde Instanz zwischen Spender und Empfänger betätigt, existiert bis heute die unmittelbare, die direkte Gabe an Bedürftige.

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Grundmerkmale, Grundformen, Forschungsgegenstand

2.2 Die Grundformen Die freiwillige Armenpflege umfaßt damit folgende Grundformen: 1. Unterstützung durch Geld bzw. andere materielle Güter a) als unmittelbare, direkt vom Spender dem Empfänger übergebene Spende, b) als vermittelte über einen Dritten vom Spender zum Empfänger weitergeleitete Spende. 2. Unterstützung durch freiwillige, unmittelbar tätige Hilfe im Rahmen nichtprofessioneller Hilfe, in der Regel im direkten Kontakt zum Bedürftigen.3 Uns interessieren im folgenden primär die vom Spender direkt an den Empfänger übergebene Spende (la) und die vermittelte Spende, die über einen Dritten an den Empfänger weitergeleitet wird. Der historische Rückblick zeigt uns, daß direktes und unmittelbares Spenden an die Bedürftigen, was den Umfang angeht, lange Zeit gleichwertig neben dem vermittelten Spenden existierte. Der historische Rückblick zeigt aber auch, daß durch die Entwicklung und den Ausbau bestimmter Institutionen, ausgehend vom Hospital über die Armen- und Irrenhäuser bis hin zum heutigen Obdachlosenasyl oder Altersheim, die Masse der Bedürftigen systematisch aus der Öffentlichkeit entfernt wurde, so daß sich für das direkte Spenden, welches den direkten Kontakt von Geber und Nehmer voraussetzt, immer weniger Möglichkeiten boten. Das vermittelte Spenden ist heute also wesentlich umfangreicher als das direkte Spenden. Diese Spendeform bietet die Möglichkeit, auch ohne unmittelbare Präsenz von Bedürftigen sich an der freiwilligen Armenfürsorge zu beteiligen. Eine Form der Unterstützung Armer und Hilfsbedürftiger ist als Untersuchungsgegenstand ausdrücklich ausgeschlossen, nämlich die Unterstützung im Rahmen von Familien-, Sippen- und Nachbarschaftsverbänden oder Freundeskreisen, also die Unterstützung innerhalb von Gruppen, deren Mitglieder auch außerhalb der Hilfsbeziehung in einem engen persönlichen Verhältnis zueinander stehen.4 Uns interessiert die Hilfe für Gruppenfremde, also die primäre Hilfsbeziehung. 2.3 Definition des Forschungsgegenstandes Unser Forschungsgegenstand ist das Betteln und Spenden im Rahmen freiwilliger Armenunterstützung für den bedürftigen bzw. sich als bedürftig präsentierenden Gruppenfremden. Dabei beschäftigen wir uns sowohl mit dem direkten Betteln und Spenden, welches innerhalb der Face-to-face-Situation, z.B. in Fußgängerzonen, zwischen Bettlern und Spendern stattfindet, als auch mit dem vermittelten Betteln und Spenden außerhalb der Face-to-face-Situation, wie es z.B. durch Bettelbriefe und Überweisungen von Spenden an vermittelnde Hilfsorganisationen geschieht. Damit ist unser Forschungsgegenstand durch die direkte oder vermittelte Übergabe von Geld oder anderen materiellen Gütern an gruppenfremde Personen, die sich als bedürftig darstellen, charakterisiert. Die unmittelbare, nicht-professionelle, tätige Hilfe für bedürftige Gruppen-

Forschungsgegenstand

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fremde im Rahmen freiwilliger Armenunterstützung, wie sie z.B. dann geleistet wird, wenn ein Wohltäter einem Bettler privat Obdach gewährt, wollen wir, da es sich hier nicht um die Übergabe eines materiellen Gutes handelt, nicht unter das Spenden subsummieren. Diese Art der Hilfe wird uns später bei der Deutung des Bettel- und Spendephänomens als Kontrast zum Akt des Spendens dienen. Unseren Forschungsgegenstand haben wir zunächst unter Voranstellung historischer Fakten rein klassifikatorisch erschlossen, um ihn aus den vielfältigen Formen freiwilliger Armenunterstützung in einem ersten Zugriff isolieren zu können. Die staatliche Armenfürsorge wird im folgenden Kapitel, indem es um die Formulierung des Forschungsinteresses und die Entwicklung einer eingrenzten Fragestellung geht, noch einmal kurz auf klassifikatorischer Ebene mit der privatwohltätigen freiwilligen Armenunterstützung verglichen. Spenden, die zugunsten von Sachen, Ideen oder Ähnlichem gegeben und empfangen werden, gehören nicht zu unserem Forschungsgegenstand.

Anmerkungen 1 Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.): Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege - Aufgaben und Finanzierung. A.a.O. S.24 2 '"Die Privatwohltätigkeit wird freiwillig aus Privatmitteln ausgeübt. (Unter Privatwohltätigkeit) fällt nicht nur die Wohltätigkeitsausübung einzelner Personen und Vereine, die sich damit beschäftigen, sondern auch die der kirchlichen Gemeinden, selbst die, welche aus dem städtischen Stiftungsfonds geübt wird. Privatwohltätigkeit ist also jede Wohltätigkeit, die nicht zu der öffentlichen gehört, und zwar ohne Rücksicht darauf, von wem, in welchem Umfange und mit welchen Nebenzwecken sie ausgeübt wird. Private Armenpflege (...) kann sich ihr Arbeitsfeld nach Belieben aussuchen und nach Belieben ausdehenen oder beschränken, ihr nichtzusagende Tätigkeit einfach unterlassen. (...) Sie kann das machen wie sie will, da niemand ihr gegenüber einen Rechtsanspruch hat.'" Kassel, Osius zitiert nach: Orthbandt, Eberhard: Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge. A.a.O. S.104 3 Die professionelle, aber durch freiwillige Abgaben finanzierte Armenunterstützung der Wohlfahrtsverbände gehört nur, was ihre Finanzierung angeht, in den Bereich freiwilliger Armenunterstützung. Der professionellen und damit entlohnten Tätigkeit selbst fehlt jedenfalls auf der klassifikatorischcn Ebene das -was die Juristen 'Selbstlosigkeit' nennen, die immer dann prinzipiell nicht gegeben sein kann, wenn "Erwerbszwecke" verfolgt werden (AO §55). 4 Dora Peyser geht in ihrer Untersuchung über die Hilfe als soziologisches Phänomen von drei Ebenen der Unterstützungs- bzw. Hilfsbeziehung aus: a) Hilfe, die nur am Wohl der Gruppe orientiert ist und von ihr ausgeht, b) Hilfe für den Gruppengenossen als Person und c) Hilfe für fremde Personen. Innerhalb des ersten Typus beruht die Hilfe auf Gegenseitigkeit. Der Helfer und der Empfänger der Hilfe stehen ebenbürtig nebeneinander. Ihre Rollen können sich jederzeit vertauschen. Dora Peyser weist in diesem Zusammenhang auf die Formen der Bittarbeit wie z.B. den gemeinsamen Hausbau oder auf die Gruppenhilfe im Falle der Niederkunft hin. Sie unterscheidet zwischen einer primären und einer sekundären Hilfsbeziehung:

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Grundmerkmale, Grundformen, Forschungsgegenstand

Die primäre Hilfsbeziehung stützt sich auf eine manchmal sehr allgemeine gedanklich vorausgesetzte Verbundenheit. Das kann sogar die erdumspannende menschliche Gattungssolidarität sein, die z.B. internationale Hilfsleistung trägt. Eine primäre Hilfsbeziehung wird durch das Bedürfnis der Menschen nach Hilfe geschaffen. Sie besteht immer dann, wenn die an der Hilfe beteiligten Akteure primär durch die Hilfeleistung miteinander in Kontakt stehen. Eine sekundäre Hilfsbeziehung besteht dann, wenn die Beteiligten in einem engen persönlichen Verhältnis zueinander stehen, z.B. in der Familie, unter Freunden etc. Peyser, Dora (1934): Hilfe als soziologisches Phänomen. Würzburg. S.3ff.

3 Die Entfaltung des Forschungsinteresses und der Fragestellung sowie Angaben zur Methode 3.1. Die Entfaltung des Forschungsinteresses Nach dem historischen Rückblick drängt sich folgende Frage auf: Sind direktes und vermitteltes Betteln und Spenden im Rahmen privater freiwilliger Armenunterstützung nicht Anachronismen im Zeitalter des Sozialstaates? Privatwohltätigkeit und staatliche Armenfürsorge bzw. Sozialhilfe folgen, wie sich zeigte, unterschiedlichen Prinzipien. Indem sich die Verteilung der staatlichen Sozialleistungen nach objektiv festgeschriebenen Kriterien richtet, orientiert sie sich an einer "sachlich bestimmten Erscheinung" der Armut.1 Die freiwillige, private Armenunterstützung dagegen operiert mit einer subjektiven Beurteilung der Armut. "Der Staat kommt der Armut, die Privatwohltätigkeit kommt den Armen zu Hilfe. Hierin liegt ein soziologischer Unterschied ersten Ranges."2 Während im Rahmen der Privatwohltätigkeit bedürftige und helfende Individuen miteinander in einem direkten oder vermittelten Kontakt stehen, ist der Bedürftige, der staatliche Unterstützungen erhält, formal mit seinen Ansprüchen an die Gesamtheit der steuerzahlenden Bürger und die sie repräsentierenden Institutionen der Armenfürsorge (z.B. Sozialamt) verwiesen.3 Staatliche Armenfürsorge bzw. Sozialhilfe ist gleichbedeutend mit einer institutionell geprägten Beziehung zwischen den beteiligten Personen. Freiwillige Privatwohltätigkeit steht - so lautet der hypothetische Umkehrschluß - für eine alltägliche Strukturierung des Verhältnisses zwischen Spendern und Spendenempfängem.* Staatliche Unterstützung ist in unserer Gesellschaft eine zuverlässig erwartbare und mit dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 auch eine einklagbare Leistung geworden (s.o.). In der staatlichen Armenfürsorge tritt Hilfe nur durch den allgemeinen, administrativ festgelegten Begriff der Armut in Funktion.5 Der Schwerpunkt bei der Organisation und Durchführung sozialer Hilfe liegt heute in der bürokratisch-administrativen Erstellung und Anwendung von Entscheidungsprogrammen. Ob staatliche Unterstützung einsetzt oder nicht, entscheidet sich prinzipiell auf zwei Ebenen. Zum einen muß über das generelle Programm, d.h. die jeweiligen Gesetze und Verordnungen, zum anderen muß über den Einzelfall, also die konkrete Anwendung des Programms entschieden werden. Die Frage, ob jemand staatliche Unterstützung erhält oder nicht, wird demzufolge heute weniger dadurch entschieden, ob jemand als "besonders arm, blind oder verkrüppelt" erscheint, sondern darüber, ob er über Interessenvertreter verfügt, die in der Lage sind, nicht nur seinen Einzelfall, sondern zusätzlich auch die Entscheidung über das Hilfsprogramm in seinem Sinne positiv zu beeinflussen.6 Mit der Entwicklung der Armenfürsorge vom mittelalterlichen Almosenwesen bis hin zur zeitgenössischen Sozialhilfe sind erhebliche Wandlungen verbunden nicht nur in der Wertschätzung der Armut, sondern vor allem auch in der Art und Weise, wie Armut überhaupt erkannt und erfaßt wird.7 Das heißt, staatliche

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Forschungsinteresse, Fragestellung, Methode

Armenfürsorge und formal freiwillige Armenunterstützung operieren mit völlig unterschiedlichen Wahrnehmungsrastern, um das, was jeweils als Armut gelten soll, klassifizieren und daraufhin entsprechend handeln zu können. Während also die formal freiwilligen Formen der Armenunterstützung offensichtlich nach wie vor auf die unmittelbare bzw. mittelbare Anschauung der Armut angewiesen sind, unterbindet die staatliche Unterstützung die Notwendigkeit der Bedürftigen, Not und Elend unterstützungswirksam zu präsentieren.8 Die staatliche Armenfürsorge kommt mit ihrer gesetzlich festgelegten und bürokratisch auf dem Formularwege überprüften Armutsdefinition der expliziten Darstellung von Armut auf seilen der Bedürftigen zuvor. Nicht der mehr oder minder gelungene Ausdruck von Armut führt zum Erhalt staatlicher Unterstützungen, sondern der schriftlich erbrachte Nachweis (Kontoauszüge, Verdienstbescheinigungen etc.) überzeugt die Mitarbeiter der Sozialämter von der Bedürftigkeit eines Klienten.9 Wenn wir nun davon ausgehen, daß die staatliche Sozialhilfe in der Bundesrepublik, gemessen an der Höhe der Aufwendungen gegenüber der freiwilligen privaten Armenunterstützung, die bedeutendere und im Prinzip wirkungsvollere Form der Unterstützung Bedürftiger ist, dann stellt sich die grundsätzliche Frage, welche Funktion der freiwilligen, privaten Armenunterstützung und damit auch dem direkten und dem vermittelten Betteln und Spenden heute zukommt. Diese Frage stellt sich auch deshalb, weil jeder Steuerzahler, indem er Steuern zahlt, bereits seinen Beitrag zur Finanzierung von Unterstützungsleistungen an Bedürftige erbringt. Warum also diese zusätzliche, freiwillige Leistung an Bedürftige? Das Institut für Demoskopie in Allensbach hat herausgefunden, daß es zwar noch zu früh sei, "von einer dauerhaften Abkehr von wohlfahrtsstaatlichem Denken zu sprechen."10 Aber vieles deute darauf hin, "daß die Bevölkerung im sozialen Bereich jetzt wieder mehr auf private Hilfeleistung baut und nicht mehr für alles und jedes den Staat in Anspruch nehmen will."11 Dieses Ergebnis mag zwar den Freien Wohlfahrtsverbänden als Auftraggeber der Studie und den Spendern, denen altruistische Motive unterstellt werden, schmeicheln, erklärt aber in keiner Weise die soziale Funktion freiwilliger Armenunterstützung. Wir fragen uns, ob aus soziologischer Perspektive die Unterstützung der Bedürftigen überhaupt das Wesentliche der Privatwohltätigkeit ist oder ob möglicherweise neben der Unterstützungsintention noch ganz andere Faktoren die Privatwohltätigkeit und damit auch direktes und vermitteltes Betteln und Spenden beeinflussen? Niklas Luhmann geht in seiner Arbeit über die Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen davon aus, daß es eine gewisse Zufälligkeit des Beisammenseins der verschiedenen Arten des Helfens gäbe, worin sich ein Ausfallen der gesamtgesellschaftlichen Strukturierung der verschiedenen vorkommenden Formen des Helfens zeige. Besonderes die direkte, freiwillige Unterstützung Bedürftiger in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Abstufungen sei eine Art "survival" im Vergleich zur (staatlich) organisierten Armenfürsorge. In der jeweiligen Form der Hilfe würden heute nicht mehr Probleme von gesamtgesellschaftlichem Rang gelöst, sondern Probleme in Teilsystemen der Gesellschaft. Damit sei "ein einheitliches Muster, eine religiöse oder moralische Formel entbehrlich geworden."12

Fragestellung

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Wir vermuten, daß ein einheitliches Muster, eine religiöse oder moralische Formel für das heutige Betteln und Spenden keineswegs entbehrlich geworden sind. Wir suchen nach diesem einheitlichen Muster, mit dem sich die Wesensmerkmale des direkten und des vermittelten Betteins und Spendens und des durch diese Handlungen geknüpften Beziehungsnetzes zwischen Bettlern, Angebettelten und Spendern beschreiben lassen. Unsere Grundhypothese lautet, daß die verschiedenen Arten des Helfens keineswegs in einer gewissen Zufälligkeit beisammen sind, sondern daß die Formen des Helfens, zu denen auch die unterschiedlichen Varianten des Spendens gehören, nach wie vor einer starken gesamtgesellschaftlichen Strukturierung unterliegen. Betteln und Spenden kommt nicht die Rolle eines demnächst aussterbenden, weil überflüssigen und anachronistischen survivals zu, sondern die Tatsachen, daß die Spende historisch durchgängig nachweisbar ist und daß heute fast 80% der erwachsenen Bevölkerung spenden, sollen uns erste Hinweise auf die Vitalität und damit die soziale Notwendigkeit der Spende in unserer Gesellschaft sein. Wenn wir nach einem einheitlichen Muster für das Betteln und Spenden suchen, so tun wir dies nicht in der Annahme, daß die daran beteiligten Gruppen durch die Jahrhunderte hindurch unverändert miteinander umgehen. Wir vermuten, daß zwar das Muster für das durch Betteln und Spenden geknüpfte Beziehungsnetz zwischen Gebern und Empfängern im Verlaufe der Geschichte nahezu unverändert bleibt, daß aber die jeweilige historische Ausgestaltung dieses Musters gewissen Wandlungen unterliegt. Wir werden im folgenden also zwei Stränge verfolgen: erstens versuchen wir, Betteln und Spenden als Handlungstypus mit den dafür notwendigen Merkmalen zu bestimmen, und zweitens versuchen wir unter Hinzuziehung historischer Daten, die Geschichte der Entwicklung dieses Handlungstypus und damit die Spezifik heutigen Betteins und Spendens herauszuarbeiten.13 Auf dieser Grundlage richtet sich unser weiteres Forschungsinteresse auf die Untersuchung der übergeordneten Bedeutung, die Bettel- und Spendehandlungen in einer modernen Industriegesellschaft mit einer ausgebauten, staatlichen, säkularen Sozialhilfe haben könnten. Ob die freiwilligen Unterstützungen von bettelnden Bedürftigen bzw. spendenwerbenden Vermittlern in Form der direkten bzw. der vermittelten Spenden Anachronismen, bloße Überbleibsel ferner Tage sind oder ob sie bis heute soziale Funktionen erfüllen und soziale Leistungen erbringen, für die es einen gesellschaftlichen Bedarf möglicherweise auch jenseits der reinen Hilfe für Bedürftige gibt, werden wir am Ende der Untersuchung zu fragen haben. 3.2 Die Fragestellung Folgende Einzelfragen beschreiben den engeren Kreis unserer Fragestellung: 1. Wie ermöglichen bettelnde, angebettelte und spendende Personen wechselseitiges Verstehen? Wie konstruiren sie Sinn in und mit ihren Handlungen?14 2. Welches (Routine)-Wissen, welche Typisierungsprozesse und kulturhistorischen Vorverständigungen steuern die wechselseitigen Erwartungen von Bettlern, Angebettelten und Spendern?

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Forschungsinteresse, Fragestellung, Methode

3. Handelt es sich bei direktem und vermitteltem Betteln und Spenden um Rituale mit festen Rollen in festen Symbolzusammenhängen?15 Handelt es sich um Rituale, die, indem sie zu ihrer Abwicklung ganz bestimmte, immer wieder auftauchende Gleichförmigkeiten und Regelmäßigkeiten von Handlungen benötigen, diese Handlungen in einem angebbaren Rahmen (vor)strukturieren?16 4. Welche Distanzen bestimmen vermitteltes und welche direktes Betteln und Spenden? Wie werden diese Distanzen je nach Rolle der Handelnden aufgebaut, und wie wirken sie sich auf die Beziehungen zwischen den Beteiligten aus?17 5. Welche sozialen Leistungen erbringen das Betteln und Spenden?18 6. Wenn es sich bei direktem und vermitteltem Betteln und Spenden um Rituale mit möglicherweise festen Distanzverhältnissen für die jeweiligen sozialen Rollen handeln sollte, auf welche gesellschaftlichen Problemlagen antworten dann diese Rituale, und welche Erkenntnisse können wir schließlich durch den Vergleich der beiden Bettel- und Spendevarianten über eine Gesellschaft gewinnen, deren Mitglieder sich dieser Handlungsformen bedienen? Unser Forschungsinteresse und unsere Fragestellung richten sich zusammenfassend also darauf, direktes und vermitteltes Betteln und Spenden als ein Beziehungsgeflecht zwischen Bettlern, Angebettelten und Spendern in seiner aktuellen, spezifischen Ausprägung zu verstehen, das heißt, seinen sozialen Sinn aufzudecken. Das Forschungsinteresse und die Fragestellung zielen letztlich darauf, eine Erklärung, eine schlüssige Antwort auf die Frage zu finden, warum in unserer Gesellschaft, die über ein ausgebautes staatliches Unterstützungswesen verfügt, nach wie vor gebettelt und gespendet wird. Wenn wir sagen, unsere Gesellschaft verfüge über ein ausgebautes staatliches Unterstützungswesen, so ist damit nicht gemeint, daß es für die Unterstützten hierzulande wie im Paradies zugehe und daß es keine Not und Armut mehr gäbe.19 Mit dem Begriff ausgebautes Unterstützungswesen meinen wir, daß die Masse der Notleidenden und Elenden zur Zeit durch entsprechende finanzielle Leistungen oder Unterbringung in Hospitälern, Pflegeheimen, Asylen etc. davon abgehalten wird, sich in der Öffentlichkeit als bedürftig zu präsentieren. Die Bettler, die wir z.Z. in den Fußgängerzonen, auf Bahnhöfen oder in den Fußgängertunneln der Innenstädte finden, sind nur ein winziger Rest der Bettlerheere, die noch im letzten Jahrhundert durch die Städte und Gemeinden zogen. Noch einmal: Wir behaupten weder, daß das System der staatlichen Armenfürsorge bzw. Sozialhilfe Not und Leid der Unterstützungsempfänger beseitigt habe, noch, daß dieses System den Bedürftigen gegenüber menschlicher sei als andere Unterstützungsformen. Gleiches gilt in Bezug auf die Entwicklungshilfe und die Spenden für international tätige Hilfsorganisationen. Uns interessiert lediglich die Tatsache, daß trotz des weitgehenden Verschwindens der Armen aus den öffentlich zugänglichen Bereichen, also trotz der kaum möglichen direkten Anschauung von Armut, die Spende als Form freiwilliger Armenunterstützung so massiv auftritt. Für diese Tatsache suchen wir nach einer Erklärung.

Methode

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3.3 Angaben zur Methode Welches Methoden-Instrumentarium hinsichtlich der Datenerhebung sollte man sich bereitlegen, wenn man es - was die möglichen Handlungsweisen angeht - mit einem relativ umfangreichen Forschungsgegenstand zu tun hat, und welches Methoden-Instrumentarium garantiert darüber hinaus, daß durch seinen Einsatz zumindest die Chance besteht, begründete Antworten auf die soeben dargestellten Frageschwerpunkte zu erhalten? Die Beantwortung dieser Frage hängt ganz wesentlich damit zusammen, welche Handlungsweisen überhaupt in Zusammenhang mit einem bestimmten Phänomen auftreten und welche Daten über diese Handlungsweisen zuverlässig erhoben werden können. Im Bereich direkten Betteins und Spendens interessiert uns primär das Zusammenspiel zwischen Bettelnden, Angebettelten und Spendenden in den öffentlich zugänglichen Bereichen städtischer Fußgängerzonen. Im Bereich vermittelten Betteins bzw. Spendenwerbens und Spendens finden sich verschiedene Arten von Handlungsweisen, über die sich verschiedene Arten von Daten gewinnen lassen. Die Palette reicht dabei vom Ausfüllen eines SpendeÜberweisungsformulars bis hin zum Transport des Geldbetrages innerhalb des Bankensystems. Da wir etwas über das Handlungs- und Beziehungsgeflecht zwischen Bettlern bzw. Spendenwerben, Angebettelten und Spendern in Erfahrung bringen wollen, haben wir uns entschlossen, im Bereich vermittelten Betteins und Spendens im Schwerpunkt die Aktivitäten der Gruppe der Bettelnden, also hier der Spendenwerber, zu beobachten und zu dokumentieren. Bei dieser Gruppe können wir davon ausgehen, daß sie Kontakte sowohl zu den Spendern wie auch zu den bedürftigen Spendenempfängern unterhält. Bei den Handlungen der Spendenwerber, so läßt sich vermuten, spielen Spender und Spendenempfänger jeweils bestimmte Rollen. Die Gruppe der Spendenwerber unterscheidet sich in professionell und nicht-professionell tätige Werber. Die professionell tätigen Spendenwerber, mit deren Tätigkeit wir uns befassen, sind Mitarbeiter einer Hilfsorganisation oder einer Werbeagentur und beschäftigen sich beispielsweise mit der Produktion von Spendenbriefen, mit der Anzeigenwerbung für Spenden in den Tageszeitungen, mit Plakatwerbung oder Spendenwerbung in den elektronischen Medien. Wir werden uns bei der Analyse der Tätigkeiten dieser Gruppe mit den sogenannten Bettel- oder Spendenbriefen befassen, denn diese Briefe zeigen neben textlichen auch nicht-textliche Elemente, die für unsere Interpretation des Bettel- und Spendephänomens von Bedeutung sind. Darüber hinaus liegen uns schriftliche Äußerungen von Empfängern von Bettel- oder Spendenbriefen vor, die wir in Relation zu diesen Briefen analysieren werden. Das direkte Betteln und Spenden in der Fußgängerzone haben wir mit ethnographischen Methoden beobachtet und dokumentiert. Zum Einsatz kamen: Feldprotokolle, Fotografie, Kurzinterviews mit Bettlern, Spendern und NichtSpendern. Diese Verfahren der Datenerhebung führten zur Dokumentation künstlicher Daten.20 Die Bettel- bzw. Spendenbriefe und die schriftlichen Reaktionen von Empfängern solcher Briefe erforderten kein künstliches Verfahren der Datenerhebung.

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Forschungsinteresse, Fragestellung, Methode

Sie liegen im Original vor. Diesem Material kommt der Status natürlicher Daten zu.21 Bei der Interpretation unserer Daten interessiert uns, ob direktes und vermitteltes Betteln und Spenden und das durch Betteln, Geben und Empfangen geknüpfte Beziehungsnetz als soziologische Tatbestände eingestuft werden können oder ob sie vielleicht trotz ihrer weiten Verbreitung eher zufällige und individuelle Launen zahlreicher Einzelner sind.22 Ziel ist dabei die Rekonstruktion eines objektiven Typus gesellschaftlichen Handelns?2 In den zwei nun folgenden Abschnitten 6 und 7, in denen unsere Daten über das direkte und das vermittelte Betteln und Spenden offengelegt werden, deuten wir die vorgestellten Phänomene jeweils noch nicht bis zur Stufe der fallgenerierenden Strukturen2* aus, sondern wir beschränken uns in einem ersten Schritt auf die Herausarbeitung bestimmter, in den Daten immer wieder auftauchender Einzelelemente (wie z.B. bestimmte Gesten, bestimmte Körperhaltungen, bestimmte Kleidungsvarianten, bestimmte Distanzen, bestimmte sprachliche Formulierungen etc.). Auf dieser Grundlage erarbeiten wir eine erste Beschreibung des Handlungstypus direkten Betteins und Spendens. Außerdem ordnen wir auf dieser Interpretationsebene, soweit dies exemplarisch möglich ist, das von uns isolierte, visuelle Ausdrucksrepertoire, in dem sich Bedürftige während des Betteins in der Face-to-face-Situation präsentieren, historisch ein und erhalten so erste Hinweise auf die Spezifik der aktuellen Ausdifferenzierung und Ausgestaltung der hier interessierenden Bettel- und Spendeformen.25 Das gleiche Verfahren setzen wir bei der Untersuchung vermittelten Betteins und Spendens ein. Nachdem dieser erste Schritt vollzogen ist, wenden wir uns auf Grundlage der Analyse der Summe der von uns herausgearbeiteten und isolierten Einzelelemente und der ersten Beschreibung der jeweiligen Handlungstypen, im Deutungskapitel der Deskription und Rekonstruktion fallgenerierender Strukturen zu, die für alle behandelten Spendevarianten Anspruch auf Gültigkeit erheben, um schließlich nach dem gesamtgesellschaftlichen Resultat und damit nach den sozialen Leistungen zu fragen, welche das Betteln und Spenden hervorbringen.

Anmerkungen 1 Hierzu und zum folgenden: Simmel, Georg (1958): Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 4. Auflage. Berlin. S.356ff. 2 Ebenda S.364f. 3 "Solange noch eine besondere Armensteuer besteht, hat das Verhältnis zwischen der Gesamtheit und dem Armen noch nicht die abstrakte Reinheit erlangt, die diesen in unmittelbarer Verbindung mit dem Ganzen als ungeteilter Einheit setzt; der Staat ist vielmehr nur der Vermittler, der die individuellen, wenn auch nicht mehr freiwilligen Beiträge ihrer Bestimmung zuführt. Sobald die Armensteuer in der Steuerpflicht überhaupt aufgegengen ist, und die Fürsorge aus den allgemeinen Staats- oder Kommunaleinkünften erfolgt, ist jene Verbindung vollzogen, die Unterstützungsbeziehungen zum Armen wird eine Funktion der Gesamtheit als solcher, nicht mehr der Summe der Individuen, wie im Falle der Armensteuer."

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Ebenda S.357 Diese Position Simmels gerät auch dadurch nicht ins Wanken, daß seit 1961 in der Bundesrepublik Deutschland ein einklagbares Recht auf Unterstützungsleistungen besteht. Wenn wir in dieser Arbeit mit den Begriffen "alltäglich" bzw. "Alltag" und "institutionell" bzw. "Institution" operieren, so sind damit jeweils unterschiedliche Erlebnis- und Erkenntnisstile und die damit zusammenhängende Setzung unterschiedlicher Realitätsakzente im Sinne von Alfred Schütz und Thomas Luckmann angesprochen. Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas (1979 und 1984): Strukturen der Lebenswelt. Bd.l und Bd.2. Frankfurt a.M. Zum Folgenden vgl.: Luhmann, Niklas (1973): Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Otto, Hans-Uwe und Schneider, Siegfried (Hrsg.) (1973) Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. Neuwied, Berlin. Ebenda S.33 und S.34 "Dazu kommt das für die ganze Soziologie des Armen äußerst Wichtige: daß von allen nicht individualistischen, sondern auf eine rein generelle Qualität gegründeten sozialen Ansprüchen der des Armen der sinnlich eindrucksvollste ist; von so akuten Erregungen, wie durch Unglücksfälle oder durch sexuelle Provokation abgesehen, gibt es keine, die so ganz unpersönlich, so gleichgültig gegen die sonstigen Beschaffenheiten ihres Gegenstandes und zugleich so wirksam und unmittelbar beanspruchend wäre, wie die von Not und Elend. Dies hat von jeher der Armenpflicht einen spezifisch lokalen Charakter gegeben; sie statt dessen in einem so großen Kreise zu zentralisieren, daß sie statt durch unmittelbare Anschauung nur noch durch den allgemeinen Begriff der Armut in Funktion tritt - das ist einer der längsten Wege, die soziologische Formen zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit zurückgelegt haben." Simmel, Georg: Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. A.a.O. S.358 In Zusammenhang mit dem vermittelten Spenden, das sich über Bankeinzahlungen oder die Übergabe des Spendegutes an einen Spendensammler abwickelt, kann natürlich nicht von der unmittelbaren Anschauung von Not und Elend gesprochen werden. Eine solche unmittelbare Anschauung existiert nur im Bereich der direkt vom Geber zum Empfänger überreichten Spende. Im Bereich vermittelten Spendens gibt es die Anschauung von Not und Elend grundsätzlich nur mittelbar, daß heißt medial, über Filme, Fotos und Texte, sei es z.B. in Form eines Fernsehberichtes über die Opfer einer Erdbebenkatastrophe mit eingeblendetem Spendenkonto, sei es durch Plakate oder durch Bettelbriefe. Welche Verschiebungen sich durch die mittelbare Anschauung von Not und Elend gegenüber der unmittelbaren Anschauung ergeben, können wir jetzt noch nicht klären. Für uns ist zunächst nur von Bedeutung, daß die freiwillige Armenunterstützung auf die unmittelbare bzw. die mittelbare Anschauung der Armut angewiesen ist, während das staatliche Unterstützungswesen mit wesentlich abstrakteren Anschaungsformen der Armut (Formulare, Gesetzestexte, Verordnungen etc.) operiert. Die Notwendigkeit zur strategischen Präsentation von Bedürftigkeit ist selbstverständlich auch im Bereich der staatlichen Sozialhilfe noch nicht vollständig verschwunden. Diese Präsentation von Bedürftigkeit wird aber heute weniger in der krassen Form durch das Vorzeigen verstümmelter Glieder oder ausgemergelter Körper praktiziert, als vielmehr in der Vermeidung der Präsentation von Gegenständen, die von den Behördenmitarbeitern dem Luxusbereich zugeordnet werden könnten (Schmuck, Uhren, bestimmte Bekleidungsmarken etc.). Institut für Demoskopie Allensbach: Die Stellung der Freien Wohlfahrtspflege - Kenntnisse, Erwartungen, Engagement der Bundesbürger, Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsumfragen 1962-1985. A.a.O. S.97 Ebenda

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Forschungsinteresse, Fragestellung, Methode

12 Luhmann, Niklas: Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. A.a.O. S.36f. 13 Hierzu vgl. Max Webers Begriff des (" -) Typus in: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. A.a.O. S.9ff. Wir versprechen uns von dieser Vorgehensweise, daß der "so rekonstruierte Typus (...) die strukturelle Differenz von evolutionär und historisch sich verändernden Strukturformationen einerseits und ihren konkret historisch-kulturspezifischen Ausdifferenzierungen andererseits" enthält und veranschaulicht. Soeffner, Hans-Georg (1989): Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Frankfurt a.M. S.62 Nur so gelangen wir zu spezifischen Erkenntnissen über unsere heutige Gesellschaft, in der, wie in ihren historischen Vorgängern und wie in vielen Gesellschaften anderer Kulturkreise das Betteln und Spenden praktiziert werden. 14 Die Begriffe Verstehen und Sinn hier in ihrer Eigenschaft als Interaktionsprodukte und nicht als den Handlungen oder Gegenständen per se innewohnenden Eigenschaften. "Alltägliches Verstehen - Alltagshermeneutik - vollzieht sich im alltäglichen Interaktionszusammenhang auf der Grundlage impliziten Wissens, von dem man eigentlich nicht sagen kann, daß die Deutenden es haben: Sie leben es." Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags - der Alltag der Auslegung. A.a.O. S. 137 Der Sinn einer Handlung, eines Gegenstandes oder auch eines Textes liegt nicht quasi einmal festgeschrieben und ewig gültig in den Handlungen, den Gegenständen oder den Texten selbst, sondern "Sinn ist prinzipiell ein Interaktionsprodukt. (...) Sinn ist eine Beziehungsgröße." Daß heißt, Sinn stellt sich erst in und durch Interaktion her bzw. wird in der wissenschaftlichen Einstellung "interaktiv nachvollzogen". Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.) (1984): Beiträge zu einer Soziologie der Interaktion. Frankfurt a.M. New York. S.336 Wir unterstellen zunächst, daß Betteln und Spenden interaktiven Sinn erzeugt. 15 Mit dem Begriff Ritual sind symbolische Verhaltensweisen angesprochen. "Das Ritual, die Verknüpfung von Symbolen und symbolischen Gesten in gleichbleibenden und vorstrukturierten Handlungsketten, kann verstanden werden als ein durch symbolisches Handeln ausgestalteter, in Handlungen repräsentierter und durch Handlungen strukturierter Text." Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags - der Alltag der Auslegung. A.a.O. S. 178 Rituelles Handeln ist nicht allein auf kultisches Handeln beschränkt, wo es unter der Anleitung von Spezialisten abläuft, sondern rituelles Handeln findet sich auch jenseits der Steuerung durch Spezialisten im praktischen alltäglichen Handeln in Form der Alltagsrituale. Außerdem trennen und verbinden Rituale in Zusammenhang mit Symbolen unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche. Oder anders formuliert: Rituelles Handeln markiert die Grenzen zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen. Ebenda S.176ff. Das heißt, Rituale werden sowohl innerhalb bestimmter Wirklichkeitsbereiche als auch im Übergang zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen eingesetzt. Sie sichern und markieren Grenzüberschreitungen. "Rituelles Handeln (...) durchzieht, strukturiert und rahmt (...) nahezu alle Bereiche menschlicher Interaktion, von der religiös vorgeprägten über die institutionell ausgearbeitete bis hin zur alltäglichen." Ebenda S.177 Auch unterhalb der Ebene von Wirklichkeitsbereichswechseln, die mit Hilfe von Symbolen und Ritualen vollzogen werden, bleibt das Ritual Grenzüberschreitungsverhalten, denn Rituale sind immer auf die Konstitution oder Bestätigung von Gemeinschaft hin orientiert. Durch das Ritual ist es Individuen erst möglich, Sozialität aufzubauen. Rituale sind Schutz und Hilfe in potentiell unsicheren Situationen. Sie sind "sichtbare Verknüpfungs- und Orientierungselemente einer einheitlichen Wirklichkeitsdeutung." Ebenda S.179 Über den Einsatz von Ritualen verschaffen sich also die Handelnden, besonders in poten-

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tiell unsicheren Situationen (z.B. Begrüßung, Abschied, Trauer, Wut, Begegnung mit dem Fremden), eine einheitliche, ordnende Auffassung darüber, wie die jeweilige Situation definiert und wie demzufolge in ihr wechselseitig koordiniert gehandelt werden soll. Rituale garantieren, wenn sie funktionieren, Affektdistanzierungen. Sie bilden Handlungsketten, die die Sequenzen der aufeinanderfolgenden Handlungen vom Zeitpunkt des Eintritts in das Ritual an vorstrukturieren. Handlungen des Gegenübers verlieren im Rahmen von Ritualen an Unberechenbarkeit. "Hinter den angeblich bloß formalen Oberflächenerscheinungen rituellen Handelns verbirgt sich dessen allgemeiner Sinn - seine affektdistanzierende, strukturierende und ordnende Funktion." Ebenda S.177 Zu den Begriffen Wirklichkeilsbereich, Grenzüberschreitung und Symbol vgl. auch: Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd.l und Bd.2. a.a.O. Beim Betteln und Spenden begegnen sich - auch wenn wir noch nicht wissen, wie - Wohlhabende und Besitzlose, Satte und Hungernde, Gesunde und Kranke, Starke und Schwache. Wir können also mit einigem Recht davon augehen, daß die Bettel- und Spendesituation für die Beteiligten eine schwierige, wenn nicht sogar potentiell bedrohliche Situation darstellt, zu deren Bewältigung der Einsatz von Ritualen notwendig ist. Hier sind die Gleichförmigkeiten und Regelmäßigkeiten gemeint, die nicht bloßer statistischer Natur sind, sondern die als Indiz für einen "soziologischen Tatbestand" gelten. Emile Durkheim (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Hrsg. und eingeleitet von Rene König. Frankfurt a.M. S.41 (Einleitung) und S.lOSff. Der Begriff Distanz hier in seiner Bedeutung als Beziehungsmodus, wie ihn Otto Luthe in Auseinandersetzung insbesondere mit Simmel, von Wiese und Mannheim formuliert: "Distanz ist ein in den Verhältnissen des Menschen zu sich selbst (...) sowie zu seiner sozialen, physischen und symbolischen Welt durch kognitives, affektives und handelndes Abstandnehmen und -halten sich artikulierender Beziehungsmodus und (im Ergebnis) ein sein selbst wie die Gesellschaft und deren Kultur strukturierendes Prinzip." Luthe, Otto (1985): Distanz - Untersuchung zu einer vernachlässigten Kategorie. München. S.87 Unter sozialen Leistungen verstehen wir das überindividuelle, intersubjektive Resultat welches Betteln und Spenden für eine Gesellschaft hervorbringt, deren Mitglieder diese Handlungsformen praktizieren. Aus dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für die Bundesrepublik Deutschland: "Über 3,1 Millionen Sozialhilfeempfänger wurden 1987 laut Statistischem Bundesamt (1989) gezählt, über fünf Prozent der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik. (...) Wesentlich mehr Personen - berücksichtigen wir die Dunkelziffer - hatten ein so geringes Einkommen, daß ihnen Sozialhilfe zugestanden hätte." Schneider, Ulrich (1989): Armut in der Bundesrepublik Deutschland, in: Blätter der Wohlfahrtspflege. (1989) 136. Jahrgang. S.271 Zum Begriff künstliche Daten vgl.: Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags - der Alltag der Auslegung. a.a.O. S.58ff. Zum Begriff natürliche Daten: Ebenda S.58 "Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt". Durkheim, Emil: Die Regeln der soziologischen Methode. a.a.O. S.114 Dazu vgl.: Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags - der Alltag der Auslegung. a.a.O. S.62 (Unter Hinweis auf Max Weber und Marcel Mauss.) Ebenda

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Forschungsinteresse, Fragestellung, Methode

25 Mit visuellem Ausdrucksrepertoire meinen wir die Art und Weise, in der sich die Bedürftigen bei der Überreichung der direkten Spende, also während des Betteins, präsentieren bzw. in der Bedürftige, z.B. in Fotos von Spendenbriefen bei der vermittelten Spende präsentiert werden. Dazu gehören z.B.: der Körper (Gliedmaßen, Haare, Haut, Zähne), die Kleidung, die Position, die eingenommen wird, die Gesten, die ausgeführt werden, die Schilder, die in die Höhe gehalten werden, die Gegenstände, die eingesetzt werden (z.B. Bettelgefäße) und die Orte, die zum Betteln gewählt werden.

4 Direktes Betteln und Spenden Aus unserem historischen Rückblick wissen wir, daß die Regelung des Armenwesens lange Zeit gleichbedeutend war mit der Reglementierung des Bettelwesens. Was über Jahrhunderte hinweg als ein Hauptbetätigungsfeld kommunaler Verwaltungen galt, nämlich die Sanktionierung des Bettels, spielt heute eine so geringe Rolle, daß die gesetzlichen Vorschriften zur Regelung des Bettels abgeschafft wurden. Mit Inkrafttreten des 2. Strafrechtsreformgesetzes vom 1.10.1973 entfiel der Straftatbestand des Betteins (§361 Nummer 4 StGB). Heute fällt die Aufsicht über das Bettelwesen in das Zwischenreich der Zuständigkeit von Ordnungsamt und Polizei. Eine Umfrage bei verschiedenen westdeutschen Ordnungsämtern ergab, daß im Jahre 1990 zumindest in Nordrhein-Westfalen keine expliziten Verordnungen bezüglich des Betteins existieren. Liegen allerdings Beschwerden über Bettler vor, dann untersuchen die Mitarbeiter von Polizei bzw. Ordnungsamt die Art und Weise, in der gebettelt wird. Bei besonders deutlichen Formen des Betteins, die z.B. im verbalen und körperlichen Bedrängen von Passanten bestehen können, schreitet (allerdings immer erst auf eine Beschwerde hin) das Ordnungsamt ein und versucht, solches Betteln zu unterbinden.1 Grundlage dieser Intervention ist dann der §118 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (Erregung öffentlichen Ärgernisses).2 Wir wollen im folgenden darlegen, wie sich direktes Betteln und Spenden in westdeutschen Großstädten (Schwerpunkt Essen) abspielt. Aufgrund unserer Beobachtungen, die auf Feldforschungen der Jahre 1989 und 1990 zurückgehen, lassen sich drei Grundformen des Betteins (und damit auch des Spendens) unterscheiden: 1. das verdeckte aktive Betteln, 2. das offene aktive Betteln und 3. das passive Betteln. 4.1 Das verdeckte aktive Betteln (Betteln en passant) und die dazugehörenden Spendeformen Das verdeckte aktive Betteln wird hauptsächlich von Jugendlichen im innerstädtischen Kern (hier besonders in Fußgängerzonen, auf öffentlichen Plätzen, in Bahnhofshallen) praktiziert. Eine Variante des verdeckten aktiven Betteins besteht darin, daß der Bettelnde den potentiellen Spender so anspricht, als sei dieser ein Bekannter, von dem er sich etwas borgen möchte. Exemplarisch für diese Variante ist die Formel "kannst du mir mal 'ne Mark leihen?".3 Das "du" und das "leihen" zielen auf die Etablierung von Vertrautheit zwischen Bettler und potentiellem Spender bzw. unterstellen, daß eine solche Vertrautheit bereits besteht. Der potentielle Spender wird in der Regel angesprochen, während er an dem Bettelnden vorbeigeht. Dabei bewegt sich der Bettelnde aus seiner Gruppe von Gleichaltrigen und ebenfalls Bettelnden heraus (bei dieser Variante wurden kaum Einzelbettler beobachtet) und geht ein Stück auf den potentiellen Spender zu. Dann stellt er mitlaufend im Vorbeigehen, scheinbar beiläufig, seine Frage.

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Direktes Betteln und Spenden

Erfolgt auf seilen des potentiellen Spenders keine sofortige Reaktion des Innehaltens, sondern ein Ausweichmanöver, dann wird der Passant auch von dem Bettelnden in der Regel nicht weiter verfolgt. Der Bettelnde kehrt dann umgehend zu seinem Ausgangspunkt zurück. Hat der Bettelnde Erfolg und der angesprochene Passant bleibt stehen, greift nach seiner Börse - was die Ausnahme ist, meistens wechselt loses Geld aus Hosen-, Jacken- oder Manteltaschen den Besitzer - und übereicht dem Bettelnden Geld, dann wickelt sich die ganze Prozedur sehr schnell ab. Zwischen Ansprechen, Stehenbleiben und Überreichen des Geldes vergehen oft nicht mehr als handgestoppte 10 bis maximal 15 Sekunden. Viele der Spender haben Münzgeld (Geldscheine wurden bei unserer Beobachtung nicht festgestellt) griffbereit. Weder vor noch nach der Übergabe des Geldes vereinbaren Geber und Nehmer die Modalitäten der Rückgabe des Geldes. Der Begriff "leihen" wird also von beiden Beteiligten nicht ernst genommen. Statt zu besprechen, wann und wo das Geld zurückgegeben wird, gehen beide auseinander. Der Geber setzt seinen Weg fort, und der Nehmer dreht sich um und kehrt an seinen Ausgangspunkt zurück, um den nächsten potentiellen Freigebigen auszuspähen. Ahnliche Varianten des aktiven verdeckten Betteins werden z.B. eingeleitet durch die Frage: "Hast du mal 'ne Mark?".4 Auch hier geschieht das Betteln beinahe beiläufig, bis an die Grenze ausdrücklich dargestellten Desinteresses besonders für ausweichende und ablehnende Reaktionen des jeweils angesprochenen potentiellen Spenders. Die gesamte Situation wird in ihrer Wichtigkeit von seilen des Bettelnden durch die Beiläufigkeit, die scheinbare Zufälligkeit und durch die Unmitlelbarkeil der Frage, die ja an einen fremden Passanlen gerichtet wird, sowie durch das Duzen (auch beim Ansprechen älterer, potentieller Spender) ausdrücklich heruntergespielt.5 Die derart Beileiden erwecken den Eindruck, sie seien gar nichl auf die Gabe des Spenders angewiesen. Ja es stellt sich sogar die Frage, ob man hier überhaupt von Bettlern und von Betteln sprechen kann. Die Jugendlichen, die diese Betlelform praktizieren, sind mit zueinander farblich und in der Größe passenden Blousons, Jeans und Sporlschuhen bekleidel und unlerscheiden sich rein äußerlich nichl signifikanl von Jugendlichen gleicher Allersslufe, die sich in den Innenslädlen aufhallen.6 Der Bettler en passant suggeriert durch die Art seiner Frage eine Dimension der Vertraulheil zwischen sich und dem polenliellen Spender. Seine Ansprache des potentiellen Spenders ist mit anderen alltäglichen Situationen unbedingt vergleichbar. Das Betteln hal hier zunächsl die gleiche Qualiläl wie z.B. die Frage an den Nachbarn, um etwa ein Werkzeug auszuleihen. Der Beltelnde kommt dem potenliellen Spender relaliv nahe, ohne ihn allerdings zu berühren. Er slehl ihm mil einem Absland von ca. 70 -100 Zenlimeler gegenüber, ganz so wie in zahllosen allläglichen Silualionen, bei denen Vertrautheit eine Rolle spielt.7 Das Betteln wird durch die Bezeichnung "leihen", aber auch durch die sehr schnelle, beiläufige Abwicklung und durch die dabei stehend eingenommene Distanz zum Spender in seiner Bedeutung heruntergespielt. Dieses Herunterspielen, dieses gezielle Aufsuchen und Inszenieren eines allläglichen Verlrautheitsmusters mit den dazugehörigen Distanzen durch beide Beteiligten (der Spender akzeptiert die

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Unterstellung) ermöglicht es dem Bettler en passant, die gesamte Bettelhandlung so zu gestalten, als frage er nach einer selbstverständlichen, kleinen Gefälligkeit. Betteln en passant erregt kein allgemeines öffentliches Aufsehen. Neben den in der Hauptsache von Jugendlichen praktizierten Formen verdeckten aktiven Betteins gibt es natürlich noch andere Varianten des verdeckten aktiven Betteins, die dann in der Regel von Erwachsenen ausgeübt werden. Diese Formen des Bettels sind mit dem Erzählen langer und meist trauriger klingender Geschichten verbunden, an deren Ende jeweils die Bitte um Geld steht. Die Ansprache der potentiellen Spender geschieht im öffentlichen Bereich oder an der Haustür, der Grenze zwischen öffentlichem und privatem Bereich, wobei der angesprochene potentielle Spender lange Zeit über die eigentliche Absicht des Bettlers im Unklaren gelassen wird. Auch bei dieser Variante des Betteins wird keine allgemeine, öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Verdecktes aktives Betteln an der Haustür kommt noch in einer weiteren Variante vor. Diese Form findet sich in erster Linie in städtischen Wohnbereichen mit Einfamilienhäusern und in ländlichen Gegenden. Der Einstieg geschieht hier, indem der Bettelnde kleinere Dienste im Bereich Haus- und Gartenarbeit anbietet. Er tritt also zunächst gar nicht als Bettler auf. Wird ihm Arbeit angeboten, dann erhält er Lohn und möglicherweise eine Mahlzeit für die geleistete Arbeit, und das Betteln entfällt. Erst wenn die Gefragten angeben, daß keine Notwendigkeit für solche Arbeiten besteht, fragt der Bettelnde direkt nach etwas Geld.8 Neben diesen Formen verdeckten aktiven Betteins an der Haustür gibt es bis heute in ländlichen Gegenden, wenn auch nur sehr vereinzelt, das Betteln anläßlich von Begräbnissen. In diesem Fall suchen herumziehende Bettler gezielt Gastwirtschaften auf, in denen Begräbnisfeiern stattfinden. Die Bettler erhalten dann zumeist Geld und eine Mahlzeit vom Totenschmaus. 4.2 Offenes aktives Betteln und die dazugehörenden Spendeformen Offenes aktives Betteln verhüllt in keiner Weise die eigentliche Bettelabsicht. Offenes aktives Betteln war bis vor kurzem in der Bundesrepublik selten zu beobachten. In jüngster Zeit wird offenes aktives Betteln allerdings häufiger, und zwar durch Roma praktiziert. Voraussetzung offenen aktiven Betteins ist die Bewegung des Bettlers auf den potentiellen Spender zu. Dies kann mit Ansprechen und/oder Berühren bzw. Festhalten verbunden sein. Der oder die Bettelnde kommt dem potentiellen Spender dabei z.T. hautnah (hautnah bis 50 Zentimeter = intime/persönliche Distanz).9 Bei den Roma betreiben nur Frauen und Kinder das offene aktive Betteln. Wir konnten folgende Bettelvarianten beobachten: Ein Kind (ca. 6-7 Jahre alt) sitzt an der Wand eines Geschäftes in der Fußgängerzone und spielt auf einer Spielzeug-Gitarre, während zwei weitere Kinder (gleichen Alters) mit ausgestreckten offenen Händen auf die Passanten zugehen. Die Mehrzahl der Passanten reagiert abweisend auf diese Art des Betteins. Viele laufen bereits, sobald sie die Kinder sehen, in einen Bogen an ihnen vorbei. Geld erhalten die Kinder in der Regel von jüngeren Passanten.

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Direktes Betteln und Spenden

Erwachsene Begleitpersonen der Kinder waren in unmittelbarer Nähe nicht anwesend. Selbstverständlich sind es nicht ausschließlich Roma, bei denen man auf die Kopplung von Musizieren und die Bitte um Geld trifft. Viele, die in den Fußgängerzonen musizieren, gehen, nachdem sie ihre Vorstellung beendet haben, mit der offenen Hand oder häufiger mit dem umgekehrten Hut oder einer Schale auf die Passanten zu. Allerdings stehen in der Regel die Passanten dann in einen Kreis oder Halbkreis um die Musizierenden herum, und die Musiker schreiten nach Beendigung ihrer Vorstellung diesen Kreis in der soeben beschriebenen Weise ab. Im Falle der musizierenden Romakinder dagegen bekommt der Beobachter eine gänzlich andere Bewegungsfigur geboten. Die Passanten bilden keineswegs einen Kreis, sondern sie versuchen, den Kindern, die auf sie zu- und hinter ihnen herlaufen, auszuweichen. Eine zweite Form offenen aktiven Betteins von Roma-Mädchen sieht wie folgt aus: Die Bettelhandlung wird von den Mädchen eingeleitet, indem sie auf die Passanten zugehen und ihnen schon aus einer Entfernug von ca. 2-3 Metern am ausgestreckten Arm einen Zettel entgegenhalten (Abb.l). Die Passanten reagieren auf das Entgegentreten und die Präsentation des Zettels in der Regel mit einem Ausweichmanöver, indem sie versuchen, möglichtst zügig und mit abgewandtem Blick aus der Nähe der Mädchen und damit der gesamten Situation zu entkommen (Abb.2, Abb.3, Abb.4). Teilweise strecken die Spendeunwilligen auch deutlich die Ellenbogen in Richtung der herannahenden Bettlerin heraus. Alle angebettelten Passanten versuchen zu vermeiden, daß die Bettlerinnen sie berühren. Dies gilt mit einer Ausnahme. Wir konnten einen Passanten beobachten, der von sich aus eines der bettelnden Mädchen berührte. Er tat dies, indem er, während er weiterging, eine Hand auf die Schulter des Mädchens legte. Nachdem er in dieser Haltung kurz zu ihr gesprochen hatte, ließ er sie wieder los. Durch seine Kleidung war dieser Passant als ein katholischer Pfarrer zu erkennen. Eine Spende überreichte er nicht. Kommt es zu Spendehandlungen, dann wird den Bettlerinnen Geld direkt in die offene Hand gegeben. Bei dieser Übergabe vermeiden die Spender den Hautkontakt zu den Bettlerinnen, indem sie das Geld von oben herab in einer kurzen Entfernung in die offene Hand fallen lassen. Daraufhin bedanken sich die Empfänger (entweder verbal oder durch Kopfnicken) und wenden sich danach sofort anderen Passanten zu. Die Dauer des gesamten Vorgangs kann sehr unterschiedlich sein. Wir beobachteten die Gabe einer Spende schon unmittelbar nach Hochzeigen des Schildes, wie auch ein langes Verfolgen, am Ärmel Festhalten und Einreden auf den potentiellen Spender mit einer Gabe nach über 60 Sekunden. Auch hier ließ die Bettlerin nach Erhalt der Spende sofort vom Spender ab. In der Regel wird Münzgeld gespendet, welches die Spender, wie bei der Spende im Falle des aktiven verdeckten Betteins, nicht lange hervorsuchen müssen. Die Texte, die die Mädchen auf ihren Zetteln präsentieren, werden nur von ganz wenigen Spendern aufmerksam gelesen.

Offenes aktives Betteln

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Folgende Texte haben wir fotografisch dokumentiert: Schild I (Abb.5): "MAINE DAMEN UND HEREN ICH HABEN 3 BRUDER UND 2 SCHVESTRA MAINE FATA IST TOT MAINE MUTI KRANK HILFEN SI # PAR MARK ZUESEN VILLE DANK!!!

Schild II (Abb.6): "MAINE DAMEN UND HEREN ICH HABENS 2 SCHVESTRA MAINE FATA IST TOT MAINE MUTI KRANK HILFENN SI PAR MARK ZU ESSEN: VILLEDANKÜ!

Schild III (Abb.7): DAMEN UND HERREN ICH KOMME AUS RUMÄNIEN MEINE MUTTER IST KRANK MEIN VATER HAT UNS VERLASSEN ICH HABE 2 BRÜDER UND 3 SCHWESTER UND NICHT GENÜGEND ZU ESSEN HABEN SIE BITTE EIN GUTES HERZ UND HELFEN SIE MIR MIT EINE SPENDE IN NAME GOTTES! DANK

Kinderreichtum (2-5 Geschwister), Verwaisung, Krankheit, Hunger, so lautet die Beschreibung der Situation der Bettlerinnen. Nach dieser Situationsbeschreibung schließt sich die Bitte um eine Geldspende an. In Schild III wird diese Bitte mit dem Zusatz in Name Gottes versehen. Der Bitte folgt jeweils ein Dank. Die Orthographie der Schilder I und II weist in ihren Fehlern deutliche Übereinstimmungen auf. Schild III, welches im Vergleich zu den beiden ersten Schildern relativ wenig orthographische Fehler enthält, ist in eine Klarsichthülle eingeschweißt. Die Mädchen geben auf Befragung hin an, pro Person zwischen 10 und 20 DM am Tag (ca. 10.00 - 17.00 Uhr) zu erhalten. Häufig werden sie von Passanten beschimpft. Bei schroffen Zurückweisungen, z.B. durch Beschimpfungen oder Wegstoßen mit den Armen, reagieren die Mädchen, indem sie ihrerseits die betreffenden Passanten beschimpfen. Dies geschieht in rumänischer Sprache. Auf

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die Frage, was sie denn solchen Spendeunwilligen nachrufe, antwortet eines der Mädchen: "Daß der soll krepieren". Eine weitere Variante aktiven offenen Betteins besteht bei den Roma darin, daß Frauen mit anscheinend schlafenden Kindern auf dem Arm auf einer Decke oder direkt auf dem Straßenpflaster der Fußgängerzone hocken und dabei eine Hand z.T. sehr weit mit fast durchgedrücktem Ellbogen herausstrecken.10 Diese Form des Betteins würde eigentlich in die Kategorie passives Betteln gehören, weil sich die Bettelnde nicht auf die potentiellen Spender zubewegt. Allerdings konnten wir in einigen Fällen feststellen, daß die bettelnde Mutter von Zeit zu Zeit hohe, langgezogene Laute ausstieß. Durch die Nähe dieser Laute zum Schmerzens- oder Klagelaut, aber auch zum Hilferuf, liegt hier eindeutig ein aktivisches Element vor, denn die Bettelnde wartet nicht, bis sie durch die Blicke der potentiellen Spender wahrgenommen wird, sondern wendet sich aktiv, in diesem Fall akustisch, an die Passanten. Der Aufmerksamkeitswert dieses Rufens ist gegenüber dem bloßen Hocken und Händeausstrecken enorm erhöht. So blicken sich viele Passanten, die die Bettlerin und das Kind aufgrund deren sitzender Stellung im Getümmel der Fußgängerzone sonst gar nicht wahrgenommen hätten, ruckartig nach der Quelle dieser Laute um. Insgesamt ist offenes aktives Betteln, welches mit Ansprechen, Zubewegen und z.T. Berühren und Festhalten des potentiellen Spenders verbunden sein kann, in unserer Gesellschaft im Vergleich zu anderen Bettelformen zur Zeit selten zu beobachten. Allerdings gibt es, was die Verbreitung dieser Bettelform angeht, starke regionale Unterschiede. Offenes aktives Betteln wird in der Hauptsache von Roma praktiziert. 4.3 Das passive Betteln und die dazugehörenden Spendeformen Vorbemerkung: Die folgenden Beschreibungen gehen genau wie die vorherigen auf Beobachtungen von Bettlern und Spendern zurück. Der größte Teil der Bettler wurde bei ihrer Tätigkeit - dem von ihnen selbst sogenannten "Sitzung machen" - von mir nicht angesprochen. Bettelnde legen höchsten Wert auf Diskretion. Nach Angaben von Sozialarbeitern reisen die Bettler, die in der Regel an ihrem Wohnsitz Sozialhilfe oder Arbeitslosenunterstützung oder -hilfe bekommen, z.T. aus den Nachbargemeinden zu ihrem Bettelort an, um nicht von Mitarbeitern der Sozial- oder Arbeitsämter bei ihrer Tätigkeit erkannt zu werden, denn diesen Amtspersonen gegenüber sind alle Nebeneinkünfte anzugeben. Ich habe dennoch versucht, Kontakt zu einigen Bettlern zu bekommen. Da sich die Mitarbeiter von Sozialämtern und caritativen Einrichtungen außerstande sahen, mir Kontakte mit Bettlern zu vermitteln, war ich darauf verwiesen, die Bettler während des Betteins anzusprechen. Seitens der befragten Sozialarbeiter warnte man mich einhellig, Bettler bei der Tätigkeit des Betteins direkt anzusprechen, da diese doch nur mit Flucht oder Aggression reagieren würden. Die einzige Möglichkeit, mit Bettelnden in Kontakt zu treten, bestünde - so eine Sozialarbeiterin - darin, dem Bettler

Passives Betteln

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einen Zettel mit einer Telefonnummer und der Bitte um Anruf in seinen Bettelbehälter zu werfen und auf eine Reaktion zu warten. Dieses Verfahren schien mir zu zeitraubend. Die ersten Kontakt-Tests, bei denen ich die Bettler direkt ansprach, schlugen wie vorhergesagt fehl. Die Bettler verließen unmittelbar nach dem Kontaktversuch ihren Platz, oder aber sie wiesen mich schroff und unter Drohungen zurück ("Hau ab, was willst du von mir?", "Sieh zu, daß du weiterkommst.") Alle Angesprochenen zeigten sich sehr irritiert, geradezu erschrocken. Außerdem erregte mein Verhalten ein bemerkenswertes Aufsehen bei den Passanten. Die Vorbeigehenden drehten sich um, hielten kurz inne, um zu sehen, wer dort mit einem Bettler spricht. Um mit den Bettlern behutsamer ins Gespräch zu kommen und um das Schreck-Element bei ihnen zu verringern, änderte ich meine Strategie. Ich näherte mich den Bettlern als Spender, beugte mich herab (die meisten Betteler sitzen auf dem Boden), warf ihnen 2-3 DM in ihr Bettelgefäß, ging in die Hocke und sprach sie an. Auf diese Weise konnte ich einige Bettler, begleitend zur Feldbeobachtung, über Bettelmethoden, Bettelerträge, günstige Tages- und Jahreszeiten, über Spender etc. befragen, und ich erhielt von einigen auch die Erlaubnis, sie zu fotografieren. Eines allerdings ließ sich nicht ausschalten: die Passanten reagierten, sobald ich mich mit einem Bettler unterhielt, weiterhin mit besonderer Aufmerksamkeit. Passives Betteln ist derzeit die verbreitetste Form des Betteins in Deutschland. Passives Betteln bedeutet: kein Zubewegen auf Passanten, kein Rufen oder Ansprechen und kein Berühren oder Festhalten des potentiellen Spenders. Passives Betteln ist immer offenes Betteln. Es findet in den Fußgängerzonen 'der Städte statt. Der passiv Bettelnde inszeniert sein Tun so, daß er von den Blicken der Passanten wahrgenommen wird, sein Ausdrucksrepertoire ist überwiegend visueller Natur. Nach unseren Beobachtungen sitzt oder hockt der Bettler mit gesenktem Kopf z.B. an einem Bauzaun, an einer Außenmauer eines Geschäftes oder an einem Pfeiler zur Straßenabsperrung entweder direkt auf dem Straßenpflaster oder auf einer Decke, einem Rucksack, einem Stück Pappe oder einem kleinen Campinghocker (Abb.8, Abb.9, Abb.10, Abb.ll). Der Bettler sitzt oder hockt dabei in einer besonderen Weise - nämlich lautlos, ohne seine Körperhaltung zu ändern, fast unbeweglich und das z.T. über Zeiträume von ein bis zwei Stunden. Entweder in der Hand des Bettlers, auf seinen Knien oder in einer Entfernung von bis zu 50 Zentimetern vor bzw. neben ihm auf dem Boden stehend, befinden sich Behälter oder Gefäße, in denen Münzen liegen. Die ersten Münzen werden häufig vom Bettler selbst hineingelegt. Diese Behälter oder Gefäße können die unterschiedlichsten Formen haben. Beobachtet wurden z.B.: umgedrehte Hüte oder Mützen (Abb.8, Abb.ll), Plastik-Becher (Abb.9), Aschenbecher (Abb.10), Mc-Donald's-Becher (Abb.li) und aus Papier gefaltete viereckige Behälter (Abb.21). Die Verwendung eines Bettelgefäßes können wir in der Mehrzahl der beobachteten Fälle nachweisen. Dort, wo die Bettler ein solches Gefäß nicht einsetzen, dienen die offenen Hände zur Annahme der Spende. So z.B. bei einem

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Direktes Betteln und Spenden

Bettler, der auf dem Straßenpflaster kniet und beide Hände mit angewinkelten Armen ausstreckt (Abb.13, Abb.14). In die rechte Hand werden ihm die Spenden gelegt. In einem weiteren Fall sitzt ein Bettler mit dem Rücken an der Wand eines Geschäftes und hält die rechte offene Hand, auf dem rechten Knie abgestützt, den Passanten entgegen (Abb.15, Abb.16). Neben den Bettlern stehen häufig Reisetaschen oder gefüllte Plastiktüten. Einige Bettler führen Hunde mit sich, die während des Betteins neben ihnen sitzen oder liegen. Auffällig ist, daß selbst bei sommerlichen Temperaturen viele der Bettler mit Wollpullovern, dicken Jacken oder Mänteln bekleidet sind. Bei einigen Bettlern ist die Kleidung verschlissen oder verschmutzt. Auch verschmutzte Hände und Fingernägel kommen vor (Abb.17). Schmutz an der Kleidung ist aber bei weitem nicht die Regel, wie die sauberen Hemden, Pullover und Jacken vieler Bettler belegen. Auffälig ist ferner, daß bei einigen Bettelnden die Haare ungekämmt vom Kopf abstehen. Zahnlücken sind häufig zu beobachten, in einem Fall verweist der eingefallene Mund einer älteren Bettlerin auf gänzliche Zahnlosigkeit. Hautausschläge bis hin zu deutlich erkennbaren Geschwüren im Gesicht (Abb.13) sind ebenso keine Seltenheit wie unrasierte Bettler. Zwei Bettler geben an, sich etwa 4-5 Tage, bevor sie betteln gehen, nicht mehr zu rasieren (Abb.8, Abb.9). In mehrern Fällen sind Krücken zu sehen. Entweder stützen sich die Betteler auf die Krücken (Abb.18, Abb.21), oder die Krücken stehen neben dem Bettler an die Wand gelehnt bzw. werden vom Bettler quer auf dem Schoß gehalten (Abb. 19). Die Bettler mit Krücken scheinen ein- oder beidseitige Fuß- bzw. Beinamputationen aufzuweisen. In einem Fall entblößt ein sitzender Bettler sein rechtes Schienbein, welches Rötungen, Schwielen und Beulen aufweist, indem er die Hose bis zum Knie hochzieht. Hier steht das Bettelgefäß, ein Aschenbecher, an der Seite des entblößten Körperteils. Zu diesen Fällen, in denen körperliche Gebrechen präsentiert werden, kommen weitere hinzu, bei denen sich die Bettler durch die gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten als Blinde zu erkennen geben. In einem weiteren Fall bettelt ein Bettler stehend, mit gesenktem Kopf, nach vorn gebeugt und zittert bzw. zuckt dabei stark. Vor ihm liegt auf dem Boden eine Pommes-frites-Schale. Aus unserer Beobachtungsphase sind uns nur zwei weitere Bettler bekannt, die stehend ihre Tätigkeit betreiben. Der eine davon steht, den Kopf gesenkt, in der Nähe des Eingangs zu einem Kaufhaus und hält in der linken, stark zitternden, Hand einen Schwerbehinderten-Ausweis und in der rechten eine Metalldose zur Aufnahme der Spenden. Der andere steht, mit einem Krückstock in der linken Hand, eine Reisetasche neben sich und einem aus weißen Papier gefalteten kleinen Behälter vor sich, Kopf und Oberkörper leicht nach vorn gebeugt am Nordportal des Kölner Domes (Abb.21). Einige Bettler präsentieren religiöse Symbole oder Körperhaltungen, wie sie auch in der religiösen Sphäre vorkommen. So trägt z.B der Bettler in Abb.19 ein großes, für Passanten deutlich sichtbares Kruzifix um den Hals. Das Kruzifix hängt nicht unter, sondern auf dem Hemd unmittelbar über dem Bettelschild (Abb.20).

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Die Körperhaltung des knieenden Bettlers mit den vorgestreckten offenen Händen weist eine deutliche Nähe zu bestimmten Formen der Gebetshaltung auf (Abb.13, Abb.14). (Erinnert sei hier noch einmal an das Schild III der Mädchen, auf dem im Namen Gottes um eine Spende gebeten wurde (Abb.7).) Bis auf eine Ausnahme, bei der zwei Jugendliche gemeinsam passiv betteln, gehen die passiven Bettler, die wir beobachten konnten, ihrer Tätigkeit allein nach. Die meisten von ihnen sind Männer. Die Mehrzahl der passiv Bettelnden hält ein Pappschild oder ein Stück Papier (mit Plastikfolie geschützt) mit einem Text vor der Brust oder hat es gefaltet und sehr dicht vor sich stehen. Auf den Schildern stehen Texte, von denen wir einige vorstellen wollen. (Z.T. konnten wir diese Texte auch fotografisch dokumentieren.): 1. "Bin in Not"

(Gezeigt von einem hockenden, scheinbar beinamputierten 40-50jährigen Mann, neben dem zwei Krücken liegen.) 2. "Obdachloser bettelt lieber als wie stehlen

(Gezeigt von einem 20-30 jährigen, hockenden Mann) 3. "Möchf nicht klauen Möcht' nicht stehlen Drum Liebe Leute helft einem in Notgeratenen Vielen Dank! (Abb.10) 4. "Hilfe!!! Bitte helft einem armen Invaliden mit ganz kleiner Rente die kaum zum Leben reicht mit einer kleinen Spende. Ich möchte nicht stehlen gehen um meinen Hunger zu stillen. Besten Dank." (Abb.20) 5. "ich habe Hunger Danke!" (Abb.9) 6. "Habe kein zu Hause und keine Arbeit Bitte um eine Gabe Danke!!!" (Abb.8)

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7. "Wir Bitten um eine Hilfe Danke"

(Gezeigt von zwei hockenden Jugendlichen (männl. u.weibl.) im Alter von ungefähr 20 Jahren) 8. "Ich habe Hunger Bitte helft mir Danke Ich bekomme nichts vom Arbeitsamt, oder vom Sozialamt! Ich such eine Arbeit bin 33 Jahre, habe einen Beruf gelernt."

(Abb.ll) 9. "Komme aus dem Knast habe Hunger!! Bitte um eine kleine Spende!! Danke!!"

(Gezeigt von einem kockenden 30-40 jährigen Mann) 10. "Bitte eine Gabe Danke!"

(Gezeigt im Juli von einer winterlich gekleideten, hockenden, ca. 50-60jährigen Frau) Die Texte auf den Schildern drücken Attribute von Bedürftigkeit aus. Not, Obdachlosigkeit, Invalidität, kleine Rente, Hunger, Arbeitslosigkeit und ehemalige Strafgefangenschaft sind die Oberbegriffe, mit denen hier, auf dem Pflaster der Fußgängerzone hockend, um eine Spende gebeten wird. Dabei ist auffällig, daß die Bitte um eine Spende auf einigen Schildern gar nicht explizit auftaucht (Nr.l, Nr.5,), sondern daß nur sehr knappe Situationsbeschreibungen zu lesen sind. (Den vorgezogenen Dank auf dem Schild Nr.5 kann man allerdings - wie alle Formulierungen vorgezogenen Dankes auf den Bettelschildern - auch durchaus als indirekte Aufforderung zur Spende verstehen.) Zumindest diejenigen, die auch aufgrund der Präsentation von Schildern ohne explizite Spendenaufforderung spenden, wissen ganz offensichtlich, daß hier jemand bettelt, auch, wenn dies nicht explizit in den Texten formuliert wird. In drei Texten wird auf die Spezifizierung des Grundes für die Hilfsbedürftigkeit verzichtet. In den Texten Nr.l und Nr.3 ist lediglich von Not die Rede, im Text Nr.10 wird ohne nähere Angaben von Gründen um eine Gabe gebeten. Auch auf diese Schilder, von den Bettlern hockend präsentiert, reagieren Passanten mit Spendehandlungen. Dies ist zunächst insbesondere im Falle des Textes Nr.3 erstaunlich, der von einem jungen Mann gezeigt wird, der körperlich und in seiner Gesamterscheinung (Kleidung, Frisur etc.) keinerlei Hinweise auf Bedürftigkeit liefert (Abb.10), während es sich ja im Falle des Textes Nr.l um einen Bettler mit

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Krücken und im Falle des Textes Nr.10 um eine im Sommer winterlich gekleidete ältere Frau handelt. Selbst das Schild, auf dem der Text Nr.3 steht, ist strahlend sauber. Der Text Nr.3 weist mit dem zweimaligen korrekt mit Apostroph geschriebenen "Möcht"' und dem beinahe kessen "Drum Liebe Leute ..." in Zusammenhang mit den Versalien der ersten drei Zeilen eine gewisse formale Nähe zur Gestaltung lyrischer Texte auf. Die Schrift ist regelmäßig geschwungen und deutlich lesbar. Es finden sich also bis auf das "helft einem in Notgeratenen" keine näheren Hinweise auf Gründe, die die Bedürftigkeit des jungen Bettlers erklären könnten. Dennoch ist festzuhalten, daß auch dieser Bettler Spenden erhält. Das Arrangement, in dem er sich präsentiert, wird von den Passanten also als Betteln verstanden. Allerdings erhält dieser Bettler deutlich weniger Spenden als diejenigen Bettler, die deutliche Zeichen von Bedürftigkeit setzen. In drei Texten ist von "stehlen" oder "klauen" die Rede (Nr.2, Nr.3, Nr.4). Besonders die Texte Nr.3 und Nr.4 legen demjenigen Passanten, der sie liest, den Schluß nahe, daß er mit seiner Spende einen Diebstahl verhindert bzw. mit einer unterlassenen Spende einen Diebstahl provoziert. In jedem Falle steckt in diesen Texten, die an die Vorbeigehenden gerichtet sind, ein gewisses Bedrohungspotential. Auffällig ist ferner die Verwendung der Begriffe Gabe oder müde Gabe in den Texten Nr.6 und Nr.10. Im alltäglichen Sprachgebrauch finden sich diese Begriffe kaum noch. Der Begriff müde Gabe verweist darüber hinaus auf die bis heute zu findende Bezeichnung der Spende im klerikalen Bereich. In zwei Fällen spielt der Begriff Arbeit eine Rolle (Text Nr.6. und Nr.8). Der Hinweis darauf, keine Arbeit zu haben, fungiert hier als Legitimation des Bettels. Im Falle des Textes Nr.8 verkündet der Bettler sogar, daß er Arbeit suche. Allerdings verrät er den Passanten nicht, welchen Beruf er gelernt hat. Die Texte und die Bettelschilder sind in der Regel sehr lange in Gebrauch. Ein Bettler erzählt, daß er mit seinem Text schon fünf Jahre fährt und nur das Schild hin und wieder erneuert, den Text aber unverändert läßt. Die Schilder selbst weisen hinsichtlich des Gestaltungsgrades ganz unterschiedliche Qualitäten auf. Die Palette reicht von dem sorgfältig gestalteten Schild (z.B. Abb.10, Abb.ll), über den kleinen Zettel (Abb.9) bis hin zum abgenutzen Pappdeckel (Abb. 17). Die Bettler, die keine Schilder halten, präsentieren sich auch anders als diejenigen mit Schildern. So streckt z.B. der Bettler von Abb.12 das Bettelgefäß mit fast durchgedrücktem Ellenbogen weit heraus, den Passanten entgegen. Trotz der hockenden Stellung bewegt er sich auf die Passanten zu, indem er, kurz bevor sie an ihm vorbeiziehen, den Oberkörper in ihre Richtung nach vorn beugt und deutlich hörbar mit dem Geld in seinem Mc-Donalds-Becher klimpert. (Zur Erinnerung: die meisten passiv Bettelnden hocken nahezu unbewegt und lautlos auf dem Straßenpflaster.) Das Klimpern des Geldes können wir zwar nicht in dem Foto vermitteln, dennoch sei darauf hingewiesen, daß es dieses akustische Signal war, mit dem der Bettler viele Passanten auf sich und sein Begehren aufmerksam machte. Darüber hinaus sucht er einerseits Blickkontakt zu den Vorbeiziehenden, indem er den Kopf hebend, scheinbar zu ihnen aufblickte. Andererseits wird dieser Blickkontakt dadurch, daß der Bettler eine Spiegelbrille trägt, von ihm in

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letzter Konsequenz nicht ausgeführt. Die Mehrzahl der anderen Bettler, die wir beobachteten, vermeiden jede Art von Blickkontakt zu den potentiellen Spendern. Bei dem soeben vorgestellten Bettler könnte man aufgrund des Nach-vorn-Beugens in Richtung auf die Passanten, des lauten Klimperns mit dem Geld und aufgrund des angedeuteten Blickkontaktes, trotz der hockenden Stellung, beinahe von aktivem Betteln sprechen. Ein weiterer Bettler, der hockend mit der ausgestreckten Rechten bettelt, zeichnet sich durch einen üppigen Vollbart und durch langes Haupthaar aus, wie wir es bei keinem Bettler mit Schild beobachten konnten (Abb.15, Abb.16). Ein anderer Bettler, der ohne Schild bettelt, tut dies im Gegensatz zu denen mit Schild, knieend, mit gebetsartig vorgestreckten Händen (Abb.13, Abb.14). Schließlich sei noch auf den Bettler am Nordportal des Kölner Domes verwiesen, der ebenfalls ohne Schild bettelt (Abb.22). Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die hier vorgestellten Bettler, die auf ein Schild verzichten, entweder eine vergleichsweise hohe Bewegungsintensität in Richtung auf die Passanten aufweisen und dabei Geräusche (Klimpern mit Geld) produzieren oder ein im Vergleich zu anderen Bettlern auffälliges Äußeres zeigen (üpppiger Vollbart) oder sich in einer Körperhaltung präsentieren, die auch in der religiösen Sphäre anzutreffen ist (knieend, Hände gebetsartig ausgestreckt) oder aber an einem besonderen Ort (Kircheneingang) ihrer Tätigkeit nachgehen. Die Hauptbettelzeiten liegen, wie uns Bettler auf Befragung hin mitteilten und wie unsere Beobachtungen bestätigten, in der Zeit von ca. 9.00 - 12.00 Uhr und von 14.00 -17.00 Uhr. Vor Weihnachten wird nach Angaben der Bettler zum Teil auch bis 19.00 Uhr gebettelt. Die Anzahl der Spender variiert stark. In der gleichen Zeit (11.00 - 12.00 Uhr) spenden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen nach unseren Beobachtungen bei demselben Bettler, am selben Bettelort, einmal sieben und einmal sechzehn Personen. Die erbettelten Summen sind schwer exakt anzugeben. Darüber hinaus scheint es starke jahreszeitliche Schwankungen zu geben. Laut Aussagen von Bettlern kommen im Durchschnitt 8 - 1 2 DM pro Stunde zusammen. Die besten Bettelergebnisse würden in der Vorweihnachszeit ab Mitte November erzielt. Nach übereinstimmenden Auskünften von Bettlern und Sozialarbeitern fänden sich in Einzelfällen 300-400 DM täglich in den Bettelgefäßen. Ein Bettler berichtet, daß er bei Schneeregen im Dezember einmal in 3 Stunden über 100 DM erbettelt habe. Außerhalb dieser Hochzeiten sehen die Summen bescheidener aus. 30-60 DM durchschnittlich für eine sechsstündige Sitzung könnten - nach Auskunft von Bettlern und Sozialarbeitern - eine realistische Dimension jenseits allen Bettlerlateins abstecken. Allerdings ist schlechtes Wetter nicht immer gutes Spenden-Wetter. Außerhalb der Vorweihnachtszeit, so die Bettler, sei schlechtes Wetter hinderlich. Die Passanten hätten dann in der einen Hand den Regenschirm, in der anderen die Einkaufstüten und könnten deshalb nicht ungehindert und ohne naß zu werden ihr Geld herausholen und schmeißen, wie die Bettler die Übergabe des Geldes nennen. Die Höhe der einzelnen Spende variiert sehr stark. Sie reicht von ein paar Pfennigen bis zu 20 DM und 50 DM Scheinen, wobei letzterer als absolute

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Ausnahme gilt. Nur einer der befragten Bettler gibt an, schon einmal einen solchen Schein beim Betteln erhalten zu haben. Es dominiert das Münzgeld. Die Hauptspendesumme liegt nach Auskunft der Bettelnden zwischen l DM und 5 DM. Frauen im Alter über 50 Jahren spenden nach Einschätzung der Bettler am häufigsten. (Unsere Feldbeobachtung bestätigt dies.) Der Wert ihrer Gabe schwanke zwischen l DM und 2 DM. Junge Leute dagegen, so die befragten Bettler, spenden nicht so oft, aber wenn sie spenden, dann geben sie höhere Summen, mindestens 5 DM. Mehrere Bettler geben an, daß es wichtig sei, nicht zu schlecht gekleidet zu sein. Andererseits dürfe man, wenn man bettelt, auch nicht zu gut gekleidet sein. Der Bettler von Abb.9 erzählt, daß er demnächst Elektroorgel in der Fußgängerzone spielen wolle. Der Bettler wörtlich: "Einmal gibt's mehr Geld und vor allen Dingen is, man kann den Leuten dann auch inne, in de Augen gucken, das ist dann nicht mehr so deprimierend, als wenn man jetzt auf der Straße ist und äh bettelt nech." Alle befragten Bettler geben an, daß sie während des Betteins, bis auf wenige Ausnahmen, von Passanten und Spendern nicht angesprochen werden. Häufiger dagegen werden Bettler von Passanten bedroht oder beschimpft. "Geh doch arbeiten, du Penner", oder "So 'ne BOSS-Jacke wie du hab ich nicht", bis hin zu "Wenn ich gleich hier wieder vorbeikomm, bist du weg, sonst passiert was". Solche und ähnliche Drohungen von Passanten sind, nach unseren Beobachtungen und nach Aussagen der befragten Bettler, keine Seltenheit. Ein Bettler, der während des Betteins ein trockenes Brötchen ißt, muß sich z.B. die Bemerkung "Betteln und dabei fressen wa, du spinnst doch" von einem Passanten gefallen lassen. Außer bei den Roma konnten wir in keinem Fall beobachten, daß die Bettler mit Gegenbeschimpfungen reagieren. Sie bleiben alle unbewegt und stumm. Bei der Auswahl der Orte, an denen gebettelt wird, spielt nach Angaben der Bettler neben dem Kriterium der Höhe der Passantenfrequenz besonders das Kriterium der Sicherheit vor Vertreibung eine Rolle. Während unserer Beobachtungsphase erfüllt ein Bauzaun für verschiedene Bettler die Ansprüche, die sie an einen guten Bettelplatz stellen. An diesem Ort können sie durch keinen Geschäftsbesitzer vertrieben werden. Die auf der hinter dem Zaun liegenden Baustelle tätigen Arbeiter nehmen von den Bettlern keine Notiz. Der Spendevorgang beim passiven Betteln ist außerordentlich kurz. Der Spender geht gezielt auf den Bettler zu. Während dieses Anmarsches sucht er meist schon in seinen Taschen nach Geld. Vor dem Bettler angekommen, wird entweder noch kurz nach Geld gesucht, oder das schon bereitliegende Geld mit einer herabbeugenden Bewegung in das auf dem Boden stehende oder das sich in der Hand des hockenden Bettlers befindende Bettelgefäß geworfen bzw. in die offene Hand gelegt. Der Akt des Sich-Herabbeugens geschieht in der einen Variante, bei der der Bettler etwas erhöht hockt, indem die Spender mit durchgedrückten Knieen den Oberkörper soweit herabbeugen, daß sie das Bettelgefäß oder die geöffnete Hand gerade erreichen und die Münze hineinfallen lassen können (Abb.22). Manchmal hält der Bettler den Spendern seinen Bettelbehälter ein wenig entgegen, so daß sie ihn leichter erreichen können. In der zweiten

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Variante, bei der der Bettler auf dem Boden hockt, beugen die Spender ihren Oberkörper stark oder gehen in die Knie bzw. in die Hocke, um ihre Spende an den Bettler zu übergeben (Abb.23, Abb.24). Die Spender kommen dem Bettler gerade so nah, wie es der Standort des Bettelgefäßes erfordert, also zwischen 5 und 50 Zentimetern (intime/soziale Distanz). Manche strecken sich dabei extrem (Abb.24). In dem Moment, in dem das Geld mit hellem Klang auf den Boden des Bettelgefäßes fällt, bedankt sich der Bettler, entweder, indem er mit dem Kopf nickt oder den ohnehin gesenkten Kopf noch tiefer senkt (Abb.22) oder indem er einen Dank ("Danke", "Dankeschön", "vielen Dank") ausspricht. Beim Dank kann es dazu kommen, daß der Bettler den Spender anschaut, seinen Blick zu ihm empor richtet. Dabei sind auch Blickkontakte zwischen Bettlern und Spendern möglich. Außerhalb des Dankens wird der Blickkontakt zum potentiellen oder tatsächlichen Spender von den Bettlern in der Regel vermieden. Der Dank erfolgt allerdings nicht in allen Fällen. Er ist häufig von der Höhe der gespendeten Summe abhängig. In der Regel vergehen nicht mehr als 15 - 20 Sekunden zwischen Ansteuern des Bettlers, Sich-Herabbeugen, Geld in das Bettelgefäß werfen, ggf. Dank durch den Bettler, aufrichten und weitergehen. Während der eigentlichen Geldübergabe findet kein Blickkontakt statt. Statt dessen wird vom Spender das Bettelgefäß fixiert. Der Bettler hält den Kopf gesenkt oder blickt zumindest nach unten. Hautkontakt konnte in keinem der beobachteten Fälle festgestellt werden. Selbst in den wenigen Fällen, in denen mit offener Hand gebettelt wird und die Spender dadurch gezwungen sind, bei der Übergabe der Spende extrem nah an den Bettler heranzukommen, ist kein Hautkontakt zu beobachten. Im Falle der Abb.25 wird deutlich, wie die gegebene Münze als eine Art Puffer zwischen dem Daumen der Spenderin und der Handfläche des Bettlers fungiert und so den Hautkontakt verhindert. Spender und Bettler sprechen (bis auf den Dank des Bettlers) in der Regel nicht miteinander. Natürlich gibt es Ausnahmen. So z.B. bei einer Spenderin, die einem Bettler eine Münze in die Hand gibt und sich danach vermutlich Wechselgeld von ihm herausgeben läßt. Während der gesamten Aktion spricht die Spenderin mit dem Bettler. Finden Spender in ihren Taschen nicht sofort Geld, dann verharren sie in einer Entfernung von ca. 3-5 Metern (soziale/öffentliche Distanz) meist abgewandt vom Bettler und setzen ihren Weg zur Bettelschale erst fort, wenn sie das passende Geldstück oder den passenden Schein gefunden haben.11 Hier dauert die Spendehandlung dann natürlich länger als 15 Sekunden. Während dieser Zeit nehmen die Spender keinen Blickkontakt zum Bettler auf. In einigen Fällen geben Eltern von Kleinkindern diesen Geld in die Hand, damit sie es dem Bettler überreichen (Abb.26). Die Annäherung an den Bettler und die Übergabe des Geldes wird auch hier zügig und unter Einhaltung der entsprechenden Distanzen ausgeführt. Personen, die nicht spenden, aber den Bettler gesehen haben, laufen häufig in einem kleinen Bogen an dem Bettler vorbei (Abb.27). Passanten, die einen hockenden Bettler nicht schon aus weiterer Entfernung sehen, weil sie die Aus-

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lagen der Schaufenster oder andere innerstädtische Attraktionen im Auge haben, kommen dem Bettler mitunter sehr nah. Das Wahrnehmen des Bettlers ist häufig mit einem kurzen, schreckartigen Innehalten verbunden, dem dann ein Ausweichmanöver des Passanten folgt. 4.4 Auskünfte von Spendern Wir befragten 50 Passanten in der Fußgängerzone, unmittelbar, nachdem sie eine Spende gegeben hatten, nach dem Grund für ihre Tat. Die Befragung wurde mittels Diktaphon aufgezeichnet. Die Frage, die an alle einheitlich gestellt wurde, lautete: "Entschuldigen Sie bitte, wir machen eine Umfrage. Sie haben der Bettlerin/dem Bettler dort Geld gegeben. Können Sie mir sagen, warum Sie das getan haben?" Sofern die Befragten nicht allergrößte Eile signalisierten, wurden Sie auch noch um Angaben zur Höhe des gespendeten Betrages, zu ihrem Alter und zur Regelmäßigkeit von Spenden an Bettler gebeten. Wir stießen bei den Spendern auf eine große Bereitschaft, sich interviewen zu lassen. Niemand verweigerte das Interview. Folgende Antworten seien hier exemplarisch wiedergegeben: Zu einer 50-60jährigen Bettlerin, die im Sommer in winterlicher Kleidung an einer Ecke eines Kaufhauses auf dem Pflaster der Fußgängerzone hockte und ein Schild mit der Aufschrift: "Bitte eine Gabe Danke!" in der linken Hand auf dem Schoß hielt. Das Schild war nach vorn abgeknickt und bildete eine Aufnahmefläche für die Spenden. 1. Ein Mann, Anfang 40: I: Eingangsfrage (s.o.)12 M: "Weil mich das berührt. Es geht mir relativ gut, es ging mir aber nicht immer so und äh ich vergeß so was nicht. I: Hm .. äh geben Sie regelmäßig Bettlern auf der Straße was? M: Nicht regelmäßig, aber äh och eigentlich schon. I: Und wieviel, darf ich mal fragen, wieviel sie gegeben haben? M: 'N Zehner. I: Danke schön. M: Bitte schön."

2. Eine Frau, um die 50, in Begleitung ihres Mannes: I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Das kann ich ihnen ganz genau sagen, ich hab gerade gesagt, vielleicht sitz ich auch mal da. I: Hm, hm. F: So einfach war das. I: Und äh geben sie öfter schon mal? F: Nein, an und für sich nicht, aber das schoß mir gerade so in den Kopf halt, vielleicht sitzt du auch mal da. Man kann ja nicht wissen. Das war 's. I: Hm .. äh und wieviel haben sie gegeben? F: 'Ne Mark. I: Danke schön."

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Direktes Betteln und Spenden

3. Eine Frau (31), mit zwei kleinen Kindern, Sozialhilfeempfängerin: I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Also ich tu das öfter. I:Hm. F: Warum, kann ich nicht sagen, weil ich was über hab. Also ich hab selber nicht viel, aber äh ich kann mir vorstellen, weiß ich nicht, daß äh, wenn mehr Leute was geben würden, daß es den Leuten besser ginge ne. I: Sie haben den Kleinen das geben lassen? F: Nein, ich hab 's dann gemacht, weil, ich hab 's mir kurz vorher überlegt, daß er 's doch nicht machen soll. I: Ja, warum nicht? F: Ich find 's nicht so gut irgendwie ... I: Äh, wie alt sind sie, darf ich das noch wissen? F: Einunddreißig. I: Und was sind sie von Beruf? F: Ich bin Sozialhilfeempfänger (lacht). Nur Mutter, Hausfrau und Mutter ... also wenn ich hier sitze, weiß ich nicht, wenn ich mal hier landen würde, würde ich mich auch freuen, wenn 's was gäbe... I: Ich danke Ihnen, tschüß. F: Tschüß."

Zum Bettler auf Abb.9: 4. Ein Mann (52), arbeitslos: I: Eingangsfrage (s.o.) M: "Weil er mir leid tut... I: Warum? M: Et könnte sein, also es kann aus dem Grunde sein, also der braucht das nicht, da steht drauf, er hat Hunger, ne. I: Ja. M: Aber es könnte ja sein, daß es so stimmt. Wahrscheinlich stimmt es nicht. Aber äh denken sie mal dran, was Jesus gesagt hat... (geht weiter) I:Hm. M: Also das war so im Prinzip alles ne. I: Geben Sie häufiger hier was? M: Ja. I: Ja, und darf ich auch mal fragen, wieviel sie gegeben haben? M: Eine Mark. I: Wie alt sind Sie? M: Zweiundfünzig. I: Und was sind sie von Beruf? M: Ich bin zur Zeit arbeitslos. I: Ich danke Ihnen. M: Ich bedanke mich auch."

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5. Eine Frau (26): I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Weil ich befördert worden bin, ich mein, da soll er auch n*bißchen wat von haben. I: Wieviel haben sie ihm gegeben? F: Zwei Mark. I: Tun sie das öfter? F: Kommt drauf an, wer es ist, aber solchen Leuten meistens ja. I: Wie alt sind Sie? F: Sechsundzwandzig. I: Danke, tschüß. F: Ja, tschüß."

(Die Frau kehrte noch einmal zurück und fragte, ob der Bettler "echt" sei, oder von uns nur für die Umfrage an seinen Platz gesetzt wurde.) 6. Eine Frau (43), Hausfrau: I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Ja weil ich denke, daß es mir gut geht und äh .. aus dem Grund kann ich ihm auch etwas davon geben. I: Geben Sie häufiger was? F: Ja, grundsätzlich eigentlich, wenn ich so was sehe. I: Und wieviel geben sie? F: Ja, zwischen fünfzig Pfennig und einer Mark. I: Darf ich auch noch wissen, was sie von Beruf sind? F: Hausfrau und Mutter. I: Und wie alt sind sie? F: Äh wie alt bin ich? Zweiund, Dreiundvierzig. I: Danke schön. F: Bitte."

7. Ein Mann (26), Dreher: I: Eingangsfrage (s.o.) M: "Ja der sah 'n bißchen glaubwürdig aus, aus diesem Grund... I: Spielt das für sie 'ne Rolle, wenn Sie was geben, ob jemand glaubwürdig ist? M: Ja man hat manchmal 'n bißchen Angst, selbst in solch eine Situation zu kommen. I:Hm. M: Würd ich sagen ne. Geht ja schnell heutzutage. I: Geben Sie immer was? M: Nein, ganz ganz selten. I: Wieviel haben sie dem Mann gegeben? M: Fünfzig Pfennig. I: Und was sind Sie von Beruf? M: Dreher bei xxxx. I: Und wie alt sind Sie? M: Sechsundzwanzig. I: Danke, tschüß. M: Tschüß."

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8. Ein Mann (46), Pädagogischer Leiter: I: Eingangsfrage (s.o.) M: "Ja, weil er geschrieben hat, daß er Hunger hat und weil ich, wenn ich sehe, wie ich selbst einkaufe und die Leute hier mit viel Geld rumlaufen, denke ich, ob das stimmt oder nicht, ich finde es in Ordnung. ... I: Geben sie immer, wenn jemand sitzt? M: Nein. I: Nach welchen Kriterien entscheiden Sie das? M: Ich hab keine Kriterien. Das ist subjektives Empfinden. Das hab ich manchmal, und manchmal hab ich 's nicht. I: Wieviel haben Sie dem Mann gegeben? M: Zwei Mark. I: Zwei Mark und, äh ja, darf ich auch noch wissen, wie alt Sie sind? M: Sechsundvierzig. I: Und was sind Sie von Beruf? M: Ääh, ich bin pädagogischer Leiter. I: Ja, das war 's schon. Ich bedanke mich. M: Bitte schön."

9. Eine Frau (47), Apothekerin und Hausfrau: I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Ich hab das aus dem spontanen Gefühl heraus, weil ich dem Mann das im Moment glaube, weil er wirklich bedürftig ist und sehr anständig aussah. Das ist, glaube ich, das Gefühl. Das ist *ne spontane Handlung. I: Ja. F: Also, wenn ich manchmal hier auf der xxx-Straße äh verschiedene Leute anschaue, hab ich ein negatives Gefühl dazu. I:Hm. F: So spontan. I: Und wieviel haben Sie dem Mann gegeben? F: Eine Mark. I: Eine Mark. Äh und das heißt, Sie geben auch nicht immer? F: Nein, auf keinen Fall. I: Äh und was sind so die die Kriterien? F: Vielleicht das Alter, vielleicht der Gesichtsausdruck, jetzt im Moment würd ich sagen, das ist der Gesichtsausdruck des Mannes gewesen. Und im Gefühl, daß ich auch gerad 'n gutes Essen hatte und er also eben schreibt, ich habe Hunger. Man realisiert das dann vielleicht. I:Hm. F: Aber sonst, ich weiß, daß verschiedene, wie zum Beispiel die beiden oder die drei auch, die jetzt da kommen, mit diesen Zetteln, die laufen seit ein zwei Jahren regelmäßig hier diese Straße ab. Die lagen mit ihren Kindern auf dem Schoß, mit Kindern von fünf bis zehn Jahren, den ganzen Tag schlafend auf dem Schoß. Den Leuten geb ich prinzipiell dann nichts, weil ich das nicht glaube. I:Hm. F: Aber ich könnte mir vorstellen, daß ich diesem Mann glauben könnte (lacht). I: Sagen Sie mir noch, was Sie von Beruf sind? F: Ich bin Apothekerin und Hausfrau. I: Und wie alt sind Sie? F: Siebenundvierzig. I: Danke schön, tschüß. F: Bitte schön."

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(Auch diese Spenderin kehrte noch einmal zurück und fragte, ob der Bettler zu unserer Umfrage gehöre.) 10. Eine Frau (57), ehemalige Sekretärin: I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Ja, weil es, weil er mir sehr leid tut. I: Ja. F: Er ist in einem Alter, wo er vielleicht gar keine Arbeit mehr haben kann oder bekommen kann. Und er sieht auch wiederum gepflegt noch aus, nicht ganz so verkommen, nicht obdachlos oder so, obwohl die mir auch besonders leid tun, die Obdachlosen. I:hm. F: Und jeder kann mal in so eine Lage kommen. Wenn man es hört im Fernsehen, oder verfolgt, denn durch die hohen Mieten oder Mieterhöhungen, kann manch eine Familie, wenn sie noch Ratenzahlungen hat oder so, oder Kredite eben abzuzahlen hat, in so 'ne furchtbare Lage kommen. Und an sich geb ich immer 'Ne Mark geb ich eigentlich immer im Durchschnitt. I: Darf ich 'mal fragen von Beruf sind? F: Ja ich war Sekretärin bei xxx. I: Ich danke Ihnen, sagen Sie mir noch ihr Alter? F: Ja, siebenundfünfzig. I: Danke schön, Wiedersehen. F: Bitte."

Wir wollen die Aussagen der Spender hier nicht ausführlich interpretieren, sondern in einem ersten Interpretationsschritt schauen, welche Elemente in den unterschiedlichen Äußerungen der Interviewten immer wieder auftauchen. Zunächst fällt auf, daß in allen der hier transkribierten Äußerungen (bis auf Nr.4) die Interviewten mit Hilfe von Selbstbeobachtungskategorien ihre eigene Lage mit der des Bettlers vergleichen. Dabei gibt es verschiedene Arten des Vergleichs: Vier der Interviewten äußern Überlegungen zu ihrem zukünftigen Schicksal, indem sie ausführen, daß auch sie (bzw. jeder) einmal in die Lage geraten könnten, betteln zu müssen (Nr.2, Nr.3, Nr.7, Nr.10).13 Die Interviewten Nr.l, Nr.5, Nr.6, Nr.8 und Nr.9, vergleichen ihr bisheriges Schicksal mit dem des Bettlers, indem sie erzählen, daß es ihnen (im Gegensatz zum Bettler) gut geht.14 Zwei der Interviewten sind der Meinung, daß es ihnen so gut geht, daß sie dem Bettler in einem gewissen Umfang daran teilhaben lassen wollen.15 Viele der Spender sehen sich durch den Anblick des Bettlers zu Äußerung von Selbstbeobachtungskategorien, z.T. sogar des körperlichen Befindens, veranlaßt. Der Anblick des Bettlers scheint wie ein Spiegel zu wirken und bei den Spendern mit der Selbstbeobachtung verbunden zu sein.16 Nur in der Äußerung Nr.4 zieht der Interviewte keinen Vergleich zwischen seiner Lage und der des Bettlers. Er fordert dazu auf, daran zu denken, "was Jesus gesagt hat". Vier der Befragten äußern Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bettelnden. Sie

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mißtrauen ihm (Nr.4, Nr.5, Nr.8 und Nr.9).17 Die Interviewte Nr.5 äußerte diese Zweifel und das Mißtrauen zwar erst, nachdem das Kurzinterview abgeschlossen war, aber ihre Rückkehr und ihre Frage verweisen auch den impliziten Zweifel gegenüber dem Bettler. Der im Nachhinein geäußerte Zweifel führte vorher, so er denn schon vorhanden war, jeweils nicht dazu, die Spende zu unterlassen. Die Interviewten Nr.9 und Nr.10 weisen darauf hin, daß sie dem Bettler etwas geben, weil er "sehr anständig" und "noch gepflegt" wirkt.18 (Der Bettler, über den dieses gesagt wird, hatte selbst geäußert, daß er darauf achte, nicht zu schlecht angezogen zu sein, s.o.) 4.5 Auskünfte von Nicht-Spendern Analog zur Befragung der 50 Spender interviewten wir auch 50 Passanten, die den Bettler zwar gesehen hatten, aber keine Spende überreichten, sondern an ihm vorübergingen. Die Befragung wurde wieder mittels Diktaphon aufgezeichnet. Die Eingangsfrage, die an alle gestellt wurde, lautete diesmal: "Entschuldigen Sie bitte, wir machen eine Umfrage. Sie haben den Bettler eben gesehen, können Sie mir sagen, warum sie ihm nichts gegeben haben?" Des weiteren wurden die Interviewten noch gefragt, ob sie Bettlern nie etwas geben. Auch hier fragten wir, sofern sich die Gelegenheit dazu bot, jeweils nach Alter und Beruf der Interviewten. Im Vergleich zu den Spendern gab es seitens der Nicht-Spender eine deutlich geringere Bereitschaft, sich befragen zu lassen. Über ein Drittel der Angesprochenen entzog sich durch zügiges Weitergehen einem Interview. Folgende Interviews seien hier exemplarisch wiedergegeben: Zum Bettler von Abb.8 1. Eine Frau (35), Lehrerin: I: Eingangsfrage (s.o.) F: "Warum? Weil denke, das wir im Moment 'n sehr gutes Sozialsystem haben.... I: Ja. F: Und ich denke auch, daß jeder genug bekommen kann.... I: Und geben Sie Bettlern nie was, die auf der Straße sitzen? F: Nein, manchmal überwältigt mich dann doch äh.... I: Was überwältigt sie? F: Hach, Gefühle, denk ich mir. I: Ja. F: Weil's einem selbst sehr gut geht oder relativ gut geht, und die anderen da sitzen, ich mein, zu sitzen ist wahrscheinlich nie angenehm, aber ich weiß natürlich nicht, ob die 's nötig haben. I: Ja. F: Und ich glaub 's auch, ehrlich gesagt, nicht. ... I: Und in diesem Fall der Mann sieht nicht so aus, als hätte er es nötig? F: Nein in diesem Fall muß ich einfach sagen, bin ich im Moment sehr schwer bepackt und

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möchte eigentlich auch nicht so viel Aufenthalte haben. I: Danke schön, F: Bitte." I: Darf ich noch wissen, wie alt Sie sind? F: Ich bin fünfunddreißig. I: Und was sind Sie von Beruf? F: Ich bin Lehrerin. I: Danke.

Zu einem einseitig beinamputierten Bettler, ca. 40 Jahre alt, der in der Fußgängerzone, auf einer Decke saß, den Rücken an die Wand eines Geschäftshauses gelehnt. Neben ihm standen zwei an die Wand gelehnte Krücken. In der Hand hielt er ein Pappschild mit der Aufschrift: "Bin in Not". Als Bettelgefäß diente ihm eine runde Blechdose, die vor ihm auf dem Boden stand. 2. Eine Frau (25), Apothekenhelferin und ein Mann (27), Elektriker: I: Eingangsfrage (s.o.) M: "Ich geb grundsätzlich Bettlern nichts. F: Ich auch nicht. I: Warum nicht. F: Weil viele davon alkoholabhängig sind, oder die vertrinken ihr Geld sowieso. I: Und der auch meinen Sie? F: Ich mein, ich hab ihn mir jetzt nicht so genau angeguckt, aber ich mein, wenn man hier jetzt durch diese Stadt geht und jedem was geben sollte. I: Hn, hn. F: Ich hab wirklich die Einstellung jetzt, es hungern soviele Menschen auf der Welt, da müßte man ja jedem was geben, irgendwie muß man auch mal Grenzen ziehen. (Geht weiter) I: Hn ... Dankeschön, wie alt sind sie, und was sind sie von Beruf? F: Ich bin fünfundzwanzig und Apothekenhelferin. M: Und ich bin siebenundzwanzig und Elektriker. I: Dankeschön, tschüß. F: Tschüß."

Zum Bettler von Abb. 17 3. Ein Mann (43), Maschinenschlosser: I: Eingangsfrage (s.o.) M: "Ja, ich weiß nicht, vielleicht sollt der arbeiten gehen, wenn er gesund ist. ... I: Und wenn er krank ist? M: Ja, dann würd ich ihm wat geben, ja. I:Hn. M: Hab ich irgendwie doch etwas, etwas Mitleid hab ich schon mit so Leuten. I:Hn. M: Vielleicht beim nächstenmal tu ich ihm wat rein. I: Der sieht gesund aus? M: Ja, so ziemlich so, ja so, vielleicht täuscht der etwas, will den Leuten irgendwie etwas vortäuschen, das ist möglich. ... I: Geben sie nie etwas?

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M: Doch, ich gebe schon mal wat, aber meine Freundin und so, die sagt äh, ich sollte dat sein lassen, wenn man da beklaut wird und so in dieser Situation .. also kommt vor hier, wenn einer irgendwie wat haben will und dann, der andere beklaut einen .. also .. aber ich hab doch schon Mitleid mit so Leuten. ... I: Danke schön, sagen Sie mir nochmal, was Sie von Beruf sind, und wie alt sie sind, bitte? M: Äh, ich bin dreiundvierzig Jahre, und von Beruf bin ich Maschienenschlosser, arbeite als Stahlformenbauer. I: Danke. M: Bitte schön, tschüß."

Zum Bettler von Abb.17 4. Ein Mann (21), Elektriker: I: Eingangsfrage (s.o.) M: Weil ich gerade aus dem Urlaub komme, ich mein, das hat mit dem Urlaub nichts zu tun, ich meine, der kann genauso arbeiten gehn. I: Ja M: Weil jeder, ich mein, jeder ist für sich selber zuständig. Ich seh das nicht ein, ich, so wie ich den jetzt seh, kann er arbeiten gehn. I: Ja, wie sieht der denn aus für Sie, wie sehen Sie den? M: Ganz normal, nur daß er kein Bock hat zu arbeiten oder, so seh ich dat jetzt auf den ersten Blick, vielleicht hat er ja doch irgendwelche Schäden, das weiß ich nicht. I:Hn. M: Aber ich mein, er könnte arbeiten gehen. (Geht weiter) I: Hn, okay, sagen Sie mir noch bitte, wie alt Sie sind, und was Sie von Beruf sind? M: Ich bin Elektriker und bin 21 Jahre alt. I: Danke schön tschüß. (Mann kehrt noch einmal zurück) M: Ich war also wie gesagt im Urlaub. I: Jaa. M: Unten inne Türkei und da haben die Leute es viel nötiger, also die verhungern wirklich aufe Straße. I: Ja. M: Und da geb ich lieber solchen, als solchen, die richtig arbeiten können. Solche Bettler gibt es gar nicht da drüben, die müssen alle hart arbeiten. I: Ja. M: Das sind keine Bettler für mich. I: Das sind keine Bettler, hier die sind keine Bettler? M: Nein, das sind keine Bettler, wenn die keine Arme und keine Beine haben, wie die da drüben, das sind Bettler für mich. Aber der hat Arme und Beine. I: Hn. M: Nur keinen Willen zu arbeiten, so seh ich dat. (Geht weiter) I: Danke, tschüß."

Zum gleichen Bettler, wie vor Interview Nr.2 beschrieben. 5. Eine Frau Fl (23), Schneiderlehrling und eine weitere Frau F2 (24), Managerin in einem Restaurant: I: Eingangsfrage (s.o.)

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Fl: "Wem? I: Dem Bettler, der da auf der Straße sitzt. Fl: Warum hab ich dem nichts gegeben? Also ich muß sagen, ich geb Leuten was, aber meistens nicht, die mit Schildern an der Straße stehen, sondern die mir so begegnen. I: Ja, wie? Fl: Ja, wo ich meine, daß sie 's nötig haben, also zum Beispiel war neulich in einer Gaststätte jemand, der war auch sehr betrunken, der wurde rausgeschmissen, der hatte noch nicht mal Geld für Zigaretten, dem bin ich auch hinterhergegangen, hab ihm Geld gegeben aber.. chchch. I: Aber was? Fl: Weiß auch nicht, also ich würd sagen, die Schilder, mit denen die sich hinstellen, das schreckt eher ab. ... I: Ja ... sie finden das abschreckend? Fl: Ich weiß nicht so recht so, ich kann das nicht sagen, warum ich das jetzt nicht gemacht habe. Hier sitzen auch soviele Leute rum. I: Ja. F2: Wenn man jedem was gibt, dann ich meine zwanzig Leute und dann kommen noch die Frauen, die mit ihren Kindern da sitzen und Leute, die mit ihren Hunden da sitzen, ich weiß auch nicht. .. Fl: Also man hätte ihm schon was geben solin. F2: Ja. I:Hn. Fl: Stimmt natürlich. F2: Man is manchmal, manchmal ist man auch so mit sich selbst beschäftigt, und ich mein, wir haben uns jetzt länger nicht gesehn, wir haben viel gesprochen, wir haben, dann sieht man das nicht, aber manchmal, wenn man, besonders wenn man aus der Stadt kommt, man hat so viele Einkaufstüten, dann sieht man Leute die sitzen da, und dann fühlt man sich doch irgendwo .. ich geb auch öfters was, ja. Fl: Also ich glaub, man neigt auch, also ich find das sehr traurig, wie der Mann da sitzt, also, bekomm ich auch Mitleid mit ihm ... vor Horten stehen auch zwei Penner, einer sitzt da auch, das ist alles manchmal, soviel Elend auf einmal, das ver, also da guck ich lieber weg und denk, nee, da will ich jetzt nichts mit zu tun haben. I: Hm, sie sagen Penner? Fl: Ja, vor dem Hauptbahnhofstehen Penner. I:Hn. Fl: Also unten bei Horten, also er ist keiner, aber vor, unten stehen welche. I: Und Pennern geben Sie nichts? Fl: Doch, denen würde ich eher was geben als Leuten, die ahm mit 'm Schild auf der Straße stehen also .. also ich find er sieht aus, als würde es ihm noch ganz gut gehen, er hat noch ganz gute Kleidung an und ahm die Penner, oder den Leuten, den ich was geb, die ahm können sich keine Kleidung mehr leisten. ... I: Sagen Sie mir noch ihr Alter und ihren Beruf? Fl: Ich bin dreiundzwanzig und Schneiderlehrling. I: Und Sie? F2: Ich bin vierundzwanzig und Managerin im Restaurant. I: Ich bedanke mich."

Auch die Aussagen der Nicht-Spender wollen wir genau wie die Aussagen der Spender an dieser Stelle nicht ausführlich interpretieren. Wir schauen uns zunächst in einem ersten Interpretationsschritt an, welche Themen von den Befragten mehrfach genannt werden. Dabei stützen wir uns auch auf Zitate von Inter-

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views, die hier nicht in voller Länge abgedruckt sind. Diese Zitate sind mit einem Stern (*) gekennzeichnet: Der Hinweis auf den Sozialstaat, die Sozialhilfe oder das Sozialsystem ist ein von Nicht-Spendern oft eingesetztes Argument zur Begründung der nicht erfolgten Spende.19 Die Vermutung, daß die Bettler die Spenden für den Kauf von Alkohol verwenden, wird von zahlreichen Interviewten geäußert und als ein Grund des Nichtspendens ins Feld geführt.20 Die von den Interviewten wahrgenommene Vielzahl der Bettler liefert die Grundlage für das Argument, man könne nicht jedem geben, also gibt man keinem.21 Der überwiegende Teil der Interviewten mißtraut den Bettlern und äußert genau wie die Spender Zweifel an der Glaubwürdigkeit bei der Präsentation von Not und Armut.22 Viele der Interviewten mißtrauen den Bettlern, weil diese ihrer Meinung nach offensichtlich gesund seien, und nur deshalb bettelten, weil sie die Arbeit scheuten.23 Die nach Meinung der Interviewten nicht erkennbare Arbeitsunfähigkeit liefert den Anlaß für Mißtrauen und das Argument für die Unterlassung einer Spende. Die Arbeitsunfähigkeit selbst muß sich, so die Interviewten, in erster Linie äußerlich sichtbar in Verstümmelungen und/oder Krankheit zeigen.24 Ein befragter Bettler, dem dieses Argument der Passanten wohl bekannt war, sagte folgendes: "... Wissen Sie, ick kann nich arbeten, den Arbet macht det Leben süß und ick bin nun mal leider Diabetiker...". Das Mißtrauen und der Zweifel gegenüber den Bettlern äußern sich nicht allein in der Unterstellung, sie seien kerngesund und arbeitsscheu. Auch Angaben über den angeblich versteckten Reichtum der Bettler sind immer wieder zu hören.25 Aber nicht nur diejenigen unter den Bettlern, von denen Passanten vermuten, daß sie einen "dreihundertfünfziger Mercedes CL" fahren, trifft das Mißtrauen und der Zweifel. Bettler, die während des Betteins rauchen, essen oder mit Hunden ihren Platz teilen, werden des heimlichen Luxus verdächtigt. Aber auch Bettler, deren Kleidung als zu gut eingestuft wird, müssen auf so manche Spende verzichten.26 Die Kategorien, mit denen die Interviewten bei Bettelnden zwischen Bedürftigkeit und Nichtbedürftigkeit unterscheiden, lauten also auf der untersten Ebene: sichtbare Krankheit bzw. Verstümmelung und/oder schlechte Kleidung bedeutet einen Hinweis auf Bedürftigkeit, sichtbare Gesundheit und gute Kleidung bedeutet Täuschung und damit vorgespielte Bedürftigkeit. Neben der äußerlich erkennbaren Krankheit bzw. Verstümmelung und der schlechten Kleidung gilt den Nicht-Spendern der Hunger als Kategorie 'echter Bedürftigkeit'.27 Viele der Nicht-Spender haben irgendwann einmal die Äußerung eines Bettlers oder den Text eines Bettelschildes allzu wörtlich genommen und den sich als hungrig darstellenden Bettlern etwas zu essen gegeben, was häufig zu einer Enttäuschung und damit zu weiterem Mißtrauen führte.28 Das Mißtrauen gegenüber den Bettlern kennt aber noch eine weitere Spielart - nämlich die Scheu vor Aggressionen, die von ihnen ausgehen könnten.29 Einige der Nicht-Spender sind dem Interviewer gegenüber der Meinung, daß sie eigentlich eine Spende hätten geben sollen.30

Zusammenfassung

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Als letztes Element, welches sich in den Interviews immer wieder findet, seien die uns schon aus den Reaktionen der Spender bekannten Selbstbetrachtungen der Interviewten genannt. Der Anblick des Bettlers gibt auch den Nicht-Spendern unter den Passanten Anlaß, ihre Lebensposition im Vergleich zu der des Bettlers zu definieren.31 Der Nichtspender bestimmt (genau wie der Spender) in Form von mitgeteilten Selbstbeobachtungskategorien angesichts des Bettlers - wie an einer Meßlatte - seine Lebensposition. In der Regel mit dem Ergebnis: Mir geht es gut. 4.6 Zusammenfassung 1. Distanz und Dauer: Verdecktes aktives Betteln (Betteln en passant) findet, was die naheste Entfernung zum Spender angeht, in einem Abstand von 70-100 Zentimetern statt. Der Vorgang von der Kontaktaufnahme bis zur Kontaktbeendigung dauert zwischen 10 und 15 Sekunden. Die eingehaltene Entfernung der sozialen Distanz entspricht der von beiden unterstellten, persönlichen Vertrautheit zwischen Geber und Nehmer. Die Gesamthandlung wird wie zahllose alltägliche Handlungen inszeniert, bei denen jemand um einen kleinen Gefallen gebeten wird. Offenes aktives Betteln benötigt eine Entfernung zwischen Bettler und Spender, die in der nahen Phase vom Hautkontakt bis zu 50 Zentimetern reicht. Die hier eingehaltene Distanzkategorie ist die der intimen bzw. der persönlichen Distanz. Die Dauer zwischen Kontaktaufnahme und -beendigung kann zwischen wenigen Sekunden und über einer Minute liegen. Der nahe Kontakt, der bis zum Hautkontakt reichen kann, wird dabei jeweils von den Bettelnden, niemals von den Angebettelten oder den Spendern gesucht. Spendeunwillige reagieren auf die Bettler zum Teil mit Abwehrhaltungen der Arme, mit zügigem Weitergehen und Abwenden des Kopfes. Passives Betteln findet in der nahen Phase in einer Distanz von unter 1-50 Zentimetern zwischen Bettler und Spender statt. Auch hier liegt intime bzw. persönliche Distanz vor. Der Spendevorgang dauert, wenn passendes Geld zur Hand ist, vom Ansteuern des Bettlers bis zur Übergabe des Geldes, den darauffolgenden Dank und das Weitergehen des Spenders, zwischen 15 und 20 Sekunden. Spender bzw. Passanten und Bettler meiden in der Regel den Blickkontakt. Beide ratifizieren somit die faktisch eingenommene Entfernung, die bis zur intimen Distanz reichen kann, nicht vollständig. Hautkontakt zwischen Bettler und Spender findet nicht statt. Muß der Spender erst noch nach passenden Geldstücken suchen, dann dauert der Vorgang länger. Während dieser Suche verharrt der Spender in einer Entfernung von 3 - 5 Metern zum Bettler. Dies entspricht der öffentlichen Distanz. In dieser Entfernung wird kein Blickkontakt zum Bettler aufgenommen. Gespräche zwischen Spender und Bettler finden in der Regel nicht statt. Unvermitteltes Ansprechen führt zu schreckartigen Reaktionen des Bettlers (z.B. schnelles Verlassen des Bettelplatzes) und zu einer hohen Aufmerksamkeit der Passanten.

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Direktes Betteln und Spenden

Bettelnde und Passanten bedrohen sich in einigen Fällen. Passanten bedrohen Bettler, etwa, indem sie diese beschimpfen, und Bettler drohen Passanten, z.B. in den Texten ihrer Bettelschilder mit Diebstählen im Falle von unterlassenen Spenden. Insgesamt können wir festhalten, daß im Verhältnis zur eingenommenen Nähe (z.T. intime/persönliche Distanz) der tatsächliche beiderseitige Kontakt außerordentlich kurz ausfällt. Spender und Bettler kommen sich sehr kurz sehr nahe. Die hier eingenommenen Distanzkategorien zielen außerhalb der Bettel/SpendeSituation - jedenfalls im Bereich sich einander bekannter Personen - gerade auf ein längeres Verweilen. Das heißt, die eingenommene Distanz der Nähe und der außerordentlich kurze Kontakt stehen in einem eigenartigen Verhältnis zueinander.32 Hinzu kommt, daß beim passiven Betteln, auch wenn der Spender sich bis auf die intime Distanz nähert, Haut- und Blickkontakte zwischen Bettler und Spender vermieden werden, wodurch sie trotz der faktisch eingenommenen Nähe dieser Distanzkategorie die volle Anerkennung verweigern. Die zu den einzelnen Bettelvarianten gehörenden Spendehandlungen weisen innerhalb ihres Grundtyps - was die eingehaltenen Distanzen und die benötigte Dauer betrifft - ein hohes Maß an Übereinstimmung auf. Spender oder Passanten berühren niemals von sich aus die Bettler. 2. Die von Spendern angegebenen Gründe für ihre Tat: Zum jetzigen Zeitpunkt wollen wir in bezug auf diesen Bereich nur festhalten, daß viele der befragten Spender ihre eigene Lebenssituation über mitgeteilte Selbstbeobachtungskategorien an der Lage des Bettlers messen. Ergebnis dieser Messung ist die Feststellung durch die Interviewten, daß es ihnen gut gehe. Einige Spender sehen sich angesichts des Bettlers zu Äußerungen über ihr eigenes zukünftiges Schicksal veranlaßt, indem sie einen Perspektivenwechsel vornehmen und sich vorstellen, selbst einmal in die Lage des Bettlers zu geraten. Außerdem äußeren zahlreiche der Befragten im Nachhinein Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bettlers. Dieser Zweifel, so er denn vor der Spendehandlung schon vorhanden gewesen sein sollte, führt aber nicht dazu, die Spende zu unterlassen. 3. Die von Nicht-Spendern angegebenen Gründe für die Unterlassung einer Spende: Von den Nicht-Spendern wird auf den Sozialstaat bzw. die Sozialhilfe und damit auf die als gesichert angesehene Versorgung der Bettler verwiesen. Der Verdacht der nicht sinnvollen Verwendung der Spende (Kauf von Alkoholika) spielt bei der Begründung des Nicht-Spendens ebenso eine Rolle wie die Überlegung, wenn man einem Bettler gäbe, allen geben zu müssen, was dann wiederum nicht zu leisten sei. Aus den Interviews mit den Nicht-Spendern wird, genau wie bei den Spendern, ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Bettlern deutlich. Dieses Mißtrauen entzündet sich an der Frage nach der tatsächlichen Bedürftigkeit der Bettler. Mangelnde äußerlich sichtbare Krankheit und/oder Verstümmelung und damit zusammenhängend nicht glaubhaft präsentierte Arbeitsunfähigkeit ist für viele der Interviewten der Grund, nichts zu geben. Nicht vorhandener Hunger und zu gute Kleidung dienen für die Nicht-Spender ebenfalls als Begründung ihrer Handlung. Das Mißtrauen gegenüber den Bettlern äußert sich auch in den Ver-

Zusammenfassung

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mutungen über ihren heimlichen Luxus und versteckten Reichtum. Neben diesen Formen des Mißtrauens und Zweifels gibt es auch Formen ausgesprochener Scheu vor Aggressionen der Bettler, die sich nach Einschätzung der Interviewten im Rahmen der Bettelsituation ergeben könnten. Einige der Nichtspender liefern durch die Art ihrer Reaktionen auf die Frage nach dem Grund für ihr Verhalten so etwas wie ein Schuldgeständnis ab. Sie sind dem Interviewer gegenüber der Meinung, daß sie eigentlich etwas hätten geben sollen. Die Nicht-Spender nutzen genau wie die Spender - den Anblick des Bettlers zu einer Art Positionsbestimmung. In Form von Selbstbeobachtungskategorien, die dem Interviewer mitgeteilt werden, kommen auch sie zu dem Ergebnis, daß es ihnen zum jetzigen Zeitpunkt im Vergleich zum Bettler gut gehe. 4. Das beobachtete Ausdrucksrepertoire der Bettler Beim verdeckten aktiven Betteln wendet sich der Bettelnde verbal an den potentiellen Spender. In bezug auf Kleidung und Körperzustand unterscheidet sich der verdeckt aktiv Bettelnde nicht signifikant von Passanten und Spendern (Ausnahmen: z.B. Punks).Das offene aktive Betteln der Romakinder und -frauen wurde im wesentlichen bewerkstelligt durch: Kinder ohne sichtbare Begleitung von Erwachsenen, Musizieren und Singen, direktes Zugehen auf die potentiellen Spender, Hochhalten von Schildern mit Texten, die eine Notlage beschreiben und/oder durch die um eine Gabe gebeten wird, z.T. mit der Formulierung "in Name Gottes", Hocken auf dem Straßenpflaster, Halten von Kleinkindern im Arm, Herausstrecken der offenen Hand, mit klagender Stimme rufen. Das passive Betteln ist verbunden mit: dem nahezu regungslosen Hocken auf dem Straßenpflaster von Fußgängerzonen im Innenstadtbereich, dem Hochhalten von Schildern mit Texten, die eine Notlage beschreiben und/oder durch die um eine Gabe gebeten wird, dem Präsentieren von Symbolen oder Körperhaltungen, wie sie auch in der religiösen Sphäre vorkommen, dem nahezu regungslosen Stehen mit gesenktem Kopf, Herausstrecken der offenen Hand, dem Aufstellen von Bettelgefäßen, dem Tragen verschlissener Kleidung, die z.T. verschmutzt ist, unfrisierten Haaren, Zahnlücken oder Zahnlosigkeit, deutlich sichtbaren Hautausschlägen im Gesicht, der Präsentation fehlender Glieder, Verletzungen oder anderer körperlicher Gebrechen, z.T. durch Entblößungen der entsprechenden Körperpartien (Amputationen, Hautrötungen, Schwielen, Beulen, Zuckungen, Zittern, Blindheit), dem Aufstellen oder Halten von Krücken.

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Direktes Betteln und Spenden

4.7 Erste Beschreibung des Handlungstypus direktes Betteln und Spenden Die Liste der Merkmale direkten Betteins, die wir aus unseren Beobachtungen von Bettlern, Spendern und Passanten isoliert haben, wollen wir nun einer Überprüfung unterziehen. Dabei wollen wir aus Gründen der Darstellung das Betteln zunächst ohne das Spenden betrachten. Wir fragen uns jetzt, welche Merkmale zum direkten Betteins gehören. Der Handlungstypus des direkten Betteins läßt sich nur im Vergleich zu den Handlungsformen beschreiben, die in der Umgebung des Bettlers (hier in der Fußgängerzone) praktiziert werden. Ausgangspunkt unserer Überlegungen soll das passive Betteln sein. Schaut man sich die Situation in einer Fußgängerzone an, dann fällt schnell auf, daß der Bettler sich anders verhält als alle Menschen in seiner Umgebung. Während seine Mitmenschen zügig und scheinbar zielstrebig, mit oder ohne Einkaufstaschen bepackt, in ständiger Bewegung die Fußgängerzone durchqueren, sitzt der Bettler allein und beinahe regungslos an eine Hauswand gelehnt auf dem Straßenpflaster. Selbstverständlich sitzen in den Fußgängerbereichen unserer Städte, besonders bei schönem Wetter, auch Personen, die nicht betteln. Nur sitzen sie auf städtischen Bänken oder auf Stühlen vor den Cafes. Niemals sitzen sie jedoch allein und beinahe regungslos an eine Hauswand gelehnt, direkt auf dem Straßenpflaster. Allerdings gibt es auch Besucher der Fußgängerzonen, die direkt auf dem steinigen Untergrund hocken. Neben den stadtplanwälzenden Touristen sind dies vor allem die meist jugendlichen Hocker. Sie sitzen aber nicht - wie die passiv Bettelnden - allein am Rande der Fußgängerstraßen, zu Füßen der Passanten, sondern gruppenweise auf Plätzen, vorzugsweise leicht erhöht auf und an Brunnen oder den Stufen von Monumenten. Das Freiluft-Hocken von Jugendlichen im öffentlichen Bereich hat heute im Vergleich zu den 70er Jahren stark nachgelassen. Das Hocken von Jugendlichen auf den öffentlichen Plätzen zielt auf die Etablierung einer relativ weiten Distanz. Nur das (bewundernde) Schauen, nicht das Näherkommen der Passanten wird angestrebt. Der Bettler dagegen hockt zu Füßen der Passanten. Er ist darauf angewiesen, daß diejenigen unter den Passanten, die spenden wollen, schnell auf Armeslänge an ihn herantreten können. Zwischen dem hockenden Bettler und dem Passanten liegt kein freies Blickfeld. Der auf dem Pflaster der Fußgängerzone hockende Bettler taucht plötzlich im Blickfeld auf. Das Hocken der Bettler unterscheidet sich also von dem Hocken anderer Personen in erster Linie durch die Distanz, die zu den Passanten eingenommen wird. Aus unseren Beobachtungen der passiv Bettelnden wissen wir, daß diese in wenigen Fällen auch stehend, beinahe regungslos, den Rücken Hauswänden oder Schaufenstern zugewandt, mit gesenktem Blick ihrer Tätigkeit nachgehen. Aber auch diese Art des Stehens unterscheidet sich - genau wie die Art der Bettler zu hocken - von vergleichbaren Körperhaltungen, die von Passanten in der Umgebung der Bettler präsentiert werden. Wenn Passanten in den Fußgängerzonen stehen, dann tun sie dies nicht regungslos mit gesektem Kopf, den Rücken Hauswänden oder Schaufenstern und die Vorderseite des Körpers den Passanten zugewandt, sondern umgekehrt, den Rücken den übrigen Passanten zugedreht, erhöbe-

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nen Hauptes studieren sie, durchaus nicht regungslos, sondern kleine Ausfallschritte machend, die Angebote in den Schaufenstern, um sich nach kurzer Zeit wieder in den Bewegungsrhythmus des Stroms der Passanten einzureihen. Sowohl durch das Stehen mit gesenktem Blick, wie auch im besonderen Maße durch das Hocken, etablieren die passiv Bettelnden im Vergleich zu den Körperhaltungen und Bewegungsrhythmen ihrer Umgebung einen starken Kontrast. Dieser Kontrast läßt sich als ein Gefalle beschreibend Der passiv Bettelnde, der mit gesenktem Blick bettelt und besonders derjenige, der zu Füßen der Passanten hockt, macht sich kleiner, niedriger als die anderen. So gut wie nie treffen sich die Blicke von Passanten und Bettlern auf gleicher Höhe. Die Passanten blicken in der Regel buchstäblich auf den passiv Bettelnden herab. Der erwachsene Bettler, der sich in Gegenwart von fremden, erwachsenen Passanten auf das Pflaster der Fußgängerzone hockt, begibt sich gegenüber den Stehenden oder Gehenden objektiv in eine Position physischer Schwäche. Seine Fluchtmöglichkeiten bei aggressivem Verhalten der Passanten sind erheblich eingeschränkt. Aber es ist nicht nur eine Position physischer Schwäche, in die sich der Bettler begibt. Der passive Bettler bezeichnet sich in seinen Bettelschildern öffentlich als Arbeitslosen, als Obdachlosen, als ehemaligen Strafgefangenen, alles Zustände, die in der Öffentlichkeit eher verheimlicht, denn daß sie von einem einzelnen öffentlich bekannt werden. Der Bettler zeigt Hautausschläge und Beinstümpfe, Dinge, die andere Menschen mit großem Aufwand zu kaschieren versuchen. Der Bettler präsentiert sich in Kleidung, die andere schon lange aus ihren Schränken verbannt haben. Kein Zweifel: der passive Bettler verstärkt mit diesen Ausdrucksmitteln das Gefalle zwischen sich und den Passanten, welches bereits dadurch massiv konstituiert wird, daß er vor den Passanten hockt, sich duckt, kleiner macht, den Oberkörper und Kopf beugt, den Blick senkt. Der Bettler offenbart, indem er seine Gebrechen zeigt, eine Position der Schwäche.34 Er bietet durch die Art seiner Präsentation einen Kontrast zu seiner Umgebung. Dieser Kontrast besteht in der Konstruktion eines Gefälles, welches der Bettler zwischen sich und den Passanten aufbaut. In einzelnen Fällen wird das Gefalle so konstruiert, daß das passive Betteln demütig und schamvoll wirkt. Dies gilt besonders dann, wenn der Kopf deutlich gesenkt gehalten wird. Neben der Etablierung eines Gefälles gehört noch etwas anderes zum direkten Betteln: nämlich eine Hinwendung zu den Passanten. Die stumm den Fremden entgegengestreckte, hohle Hand ist eine der einfachsten und deutlichsten Formen der Hinwendung. Diese Bittgeste legt die Bedürftigkeit offen und fordert gleichzeitig Hilfe von denen, an die sie gerichtet ist. Der Bettler, der mit der offenen Hand bettelt, tut etwas, was in unserer Gesellschaft außerhalb der Bettelsituation zwischen Erwachsenen im alltäglichen Umgang in dieser Form nicht praktiziert wird. Die bittend vorgestreckte Hand findet sich dagegen im Handlungsrepertoire von Kleinkindern in der alltäglichen Interaktion mit Erwachsenen. In diesem Fall besteht auch schon vor der Ausführung der Bittgeste und unabhängig von ihr ein naturgegebenes Gefalle zwischen den Interaktionspartnern. Die offene, hohle Hand zwischen Erwachsenen dagegen ist nicht nur ein Akt der Hinwendung und Aufforderung, sondern wirkt mit an der Konstruktion eines Gefälles, welches

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Direktes Betteln und Spenden

zwischen den erwachsenen Mitgliedern unserer Gesellschaft nicht per se gegebenen ist. Das Aufstellen eines Bettelgefäßes vermeidet zwar die offene Hand, ist aber ebenso wie diese das - wenn auch diskretere - Eingeständnis der Bedürftigkeit, gepaart mit der Aufforderung, dieser Bedürftigkeit abzuhelfen. Die schriftlichen Aufforderungen zur Spende, so wie wir sie aus den Bettelschildern kennen, unterstreichen lediglich die Offenlegungs- und Aufforderungsintention der hingestreckten, hohlen Hand oder des aufgestellten Bettelgefäßes. Welche der Ausdrucksmerkmale des passiven Betteins aus unserer Liste (s.o.) gehören nun zwingend zum direkten, (passiven) Betteln und welche nicht? Die Antwort muß lauten: es gehören alle Merkmale dazu, die 1. geeignet sind, ein Gefalle zwischen Bettler und Passanten zu etablieren und die 2. eine offenlegende und auffordernde Geste in Richtung auf die Passanten darstellen. Dabei sind viele Formen der Kombination möglich. Häufig aber bedienen sich die Bettler in unserer Gesellschaft einer sparsamen Darstellung bei der Konstruktion des Gefälles und der Darstellung der Bittgeste. Eine Hamburger Tageszeitung machte ein Bettelexperiment.35 Ein Redakteur, ein junger Mann in Freizeitkleidung, hockt, eine Zigarette rauchend, auf dem Pflaster einer Brücke in der Hamburger Innenstadt. Er wirkt weder ausgezehrt, noch krank oder gebrechlich. Vor ihm steht ein Schuhkarton als Bettelgefäß, in den Händen hält er ein Schild mit der Aufschrift "ICH BIN SO HUNGRIG, BITTE!". Innerhalb von 25 Minuten kam es, so der Artikel, zu vier Spendehandlungen mit einem Gesamtertrag von DM 3,31,-. Die hockende Stellung in einer Umgebung von stehenden oder gehenden Passanten (Etablierung von Gefalle) und ein Bettelgefäß, hier gepaart mit einem Bettelschild (Geste der Offenlegung der Hilfsbedürftigkeit und der Aufforderung an die Passanten), präsentiert an einem belebten Ort im innerstädtischen Bereich, reichen aus, um von Vorbeigehenden als Bettelnder eingestuft zu werden und somit Spenden zu erhalten. Innerhalb des verdeckten aktiven Betteins wird gezielt kein Gefalle etabliert. Es kommt weder zum expliziten Eingeständnis der Bedürftigkeit, noch zur Präsentation von Körperhaltungen, die den Aufbau eines Gefälles ermöglichen würden. Bettelnde und Spendende verwischen gemeinsam die klaren Konturen der Bettelsituation, indem die Bettelnden die Passanten z.B. auffordern, ihnen etwas Geld zu "leihen" und indem die Spender bei dieser Falschbezeichnung mitspielen. Verdecktes aktives Betteln ist im Sinne unserer Definition des Handlungstypus streng genommen überhaupt kein Betteln. Wir werden es trotzdem weiter als Betteln bezeichnen, weil es in seiner gezielten Abgrenzung zum offenen aktiven und zum passiven Betteln gerade die Gültigkeit und Wirksamkeit der Konturen dieser Bettelformen bestätigt. Das offene aktive Betteln wird zwar nicht, wie das passive Betteln in einer hockenden Körperhaltung gegenüber den Angebettelten praktiziert, dennoch schafft es ebenfalls ein Gefalle. Diejenigen, die wir beim offenen aktiven Betteln beobachten konnten, waren Kinder bzw. Jugendliche. Zu den angebettelten Erwachsenen bestand also ohnehin bereits ein Gefalle. Darüber hinaus präsentierten sich diese Kinder und Jugendlichen in Ausführung ihrer Offenlegungs- und

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Aufforderungsgeste mit den Bettelschildern in einer Position der Schwäche (Hunger, Halb-Waisen etc.). Das Musizieren, welches wir als Ausdrucksmittel beim offenen aktiven Betteln dokumentiert haben, gehört nicht dem Handlungstyp an. Das Musizieren ist zwar häufig mit Betteln verbunden, paßt aber nicht in die Reihe der Ausdrucksmerkmale, mit denen ein Gefalle etabliert werden kann. Im Gegenteil, es hat die Tendenz, das Gefalle aufzuheben (siehe s.o. Aussage des Bettlers). An die Stelle der Präsentation von Schwäche und Unterlegenheit tritt die Präsentation einer Art materieller Vor- oder Gegenleistung für den Erhalt einer Geldgabe. Soviel zunächst zur ersten Beschreibung Handlungstyps des direkten Betteins und zur Verortung einzelner Ausdrucksmerkmale zu diesem Typus. Den Ausdrucksmerkmalen, die religiöse Symbole beinhalten, können wir uns hier auf der Ebene der ersten Beschreibung noch nicht zuwenden. Das direkte Betteln ist die Voraussetzung für das direkte Spenden. Präsentiert sich eine Person in dem soeben beschriebenen Arrangement (Gefalle plus Bittgeste), dann hat diese Person eine gute Chance, von den Passanten als bettelnd eingestuft zu werden. Die so wahrgenommene Bettelszene kann der Passant nur mit drei Handlungsvarianten bewältigen: In der ersten Variante geht er an dem Bettler vorbei; die zweite Möglichkeit besteht in der Beschimpfung oder Bedrohung des Bettlers, und in der dritten Variante beugt sich der Passant zum Bettler herab und überreicht ihm eine Spende. Die verstehbar arrangierte Bettelszene verengt also die Handlungsmöglichkeiten derer, die diese Szene wahrnehmen.36 Aus unserer Feldstudie wissen wir, daß die Bettelszene alle diejenigen, die Notiz von ihr genommen haben, zu einer typisierten Reaktion zwingt. Zur Reaktion im Handlungstypus direktes Spenden gehört das Eingehen auf den Handlungstypus direktes Betteln. Das heißt, der Handlungstypus direktes Spenden muß das vom Bettler konstruierte Gefalle betätigen und erhalten. Die herabbeugende Bewegung während der Übergabe der Spende ist die Essenz des Handlungstypus direktes Spenden. Selbst das Kleinkind muß sich aus seinem Kinderwagen bei der Übergabe der Spende zu dem hockenden, bettelnden Erwachsenen herabbeugen (Abb.26). In diesem Hinabbeugen wird das Gefalle und der Kontrast, in dem der Bettelnde zu seiner Umgebung steht, unterstrichen. Die gleichförmige Abwicklung des Spendevorgangs, die Berührungsvermeidung, die zügige Entfernung aus der Nähe des Bettlers, die Blickchoreographie, all diese Ausdruckselemente verweisen auf den tiefen Kontrast zwischen Bettlern und Spendern. Die Passanten weisen untereinander keine mit dem direkten Spenden vergleichbare Handlungsform auf. Der Handlungstypus direktes Spenden zeichnet sich also dadurch aus, daß er die im Handlungstypus direktes Betteln angelegten Tendenzen aufnimmt und von der Gegenseite her bestätigt. Der Schaffung eines Gefälles durch den Bettler entspricht das Sich-Herabbeugen des Spenders, der Aufforderungsgeste entspricht die Übergabe einer Spende. Man kann also von einem gemeinsamen Handlungstypus des direkten Betteins und Spendens sprechen.

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Direktes Betteln und Spenden

4.8 Der aktuelle Handlungstypus direktes Betteln und Spenden und seine historischen Vorgänger. Wir wollen in diesem Kapitel prüfen, ob die Konstruktion eines Gefälles und die Ausführung einer auffordernden Bittgeste durch den Bettler sowie die herabbeugende Übergabe einer Spende durch den Spender ausschließlich zeitgenössische Formen direkten Betteins und Spendens sind oder ob dieser Handlungstypus auf eine längere Geschichte zurückblicken kann. Dazu werden wir uns einige Beispiele von Bettel- und Spendeszenen ansehen, die uns die bildende Kunst hinterlassen hat. Wir nehmen die Antwort vorweg: Die Konstruktion eines Gefälles in Verbindung mit einer auffordernden Bittgeste sowie die herabbeugende Übergabe der Spende läßt sich historisch weit zurückverfolgen und weist damit eine hohe Konstanz auch jenseits der jeweiligen weitern konkreten historischen Ausgestaltungen des Betteins und Spendens auf. Almosenverteilung oder Elisabeth speist Hungrige heißt eine Szene auf dem Elisabeth-Schrein (um 1235 begonnen). Die stehende Elisabeth beugt sich tief zu den Hungrigen hinab, die vor ihr auf dem Boden hockend und kauernd die offenen Hände bettelnd ausstrecken. Elisabeth reicht mit der linken Hand aus einer Schürze, die eine weitere Frau hält, kleine Brote oder Münzen zu den Bettelnden herab. Mit ihrer rechten Hand legt sie eine Gabe in die offene Hand einer Frau, die ein Kind im Arm hält (Abb.28).37 In einer Federzeichnung aus dem Hausbuch des Fürsten Waldburg-Wolsegg (15.Jh.) sieht man einen Bettler mit einer Krücke im Eingang einer Kapelle hocken. Eine Frau reicht ihm gerade ein Geldstück als Spende herab (Abb.29).38 In Rembrandts Zeichnung "Die Bettler an der Haustür" von 1648 ist ebenfalls ein Gefalle zwischen Bettlern und Spendern dargestellt. Die Bettler, eine vierköpfige Familie, stehen z.T. gebeugt und gut einen Kopf tiefer als der Spender vor dessen Haustür. Der Spender steht erhöht in seiner Tür und reicht eine Münze hinab in die ausgestreckte offene Hand der bettelnden Mutter (Abb.30).39 Die Caritas verteilt Almosen an die Armen lautet der Titel eines Gemäldes von Giuseppe Bonito (1707-1780). Die hier dargestellten, bettelnden Armen kauern oder knien zum Teil mit unbekleidetem Oberkörper auf der Treppe eines Tempels vor der Caritas, die eine Münze in einer herabbeugenden Bewegung den Armen an ihrer rechten Seite überreicht und mit der Linken den Kopf eines halbnackten Armen berührt, der ihren Rocksaum küßt. Zehn Erwachsene und drei Kinder auf den Armen von Frauen (Müttern) umlagern auf den Treppen hockend die Caritas. Nur eine der Erwachsenen steht mit deutlich gesenktem Kopf und Oberkörper rechts neben der aufrecht stehenden und alle Armen überragenden Caritas. Vier der abgebildeten Armen strecken der Caritas die offene Hand entgegen.40 Eine Zeichnung von Otto Dix aus dem Jahre 1921 zeigt einen an der Wand eines Geschäftes auf dem Bürgersteig hockenden Bettler, dem anstelle der Füße zwei stockartige Prothesen aus den Hosenbeinen ragen. Er liegt mit ausgestreck-

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ter Hand auf dem Boden. Eine Person, von der nur Kopf, Hals, Arm und Hand zu sehen sind, blickt von oben auf den Bettler herab und läßt aus mit glitzernden Ringen geschmückten Fingern eine Münze in die ausgestreckte Hand des Bettlers fallen, ohne ihn dabei zu berühren (Abb.31).41 Die Merkmale, die den Handlungstyp direktes Betteln und Spenden bilden, lassen sich also über lange historische Zeiträume zurückverfolgen. Die Konstruktion eines Gefälles in Verbindung mit einer Bittgeste auf Seiten des Bettlers sowie die herabbeugende Übergabe einer Spende zeigen sich über Jahrhunderte bis heute in ihrer Grundausformung nahezu unverändert.42 Der Handlungstypus direktes Betteln und Spenden erweist sich damit historisch gesehen als ein stabiler Handlungstypus mit einer hohen Kontinuität in seinem szenischen Arrangement.43 Die historische Stabilität der Typisierungen innerhalb des direkten Betteins und Spendens hat Folgen. Die Auswahl und Kombination von Elementen aus dem begrenzten Typen-Repertoire für die Darstellung des Kontrastes und Gefälles führt zu einer starken Anonymisierung der Bettel- und Spendesituation. Eine Begegnung ohne Gefalle, im Typus des persönlichen Gespräches bzw. des mitleidenden Anteilnehmens sind hier überhaupt nicht gefragt, lösen Irritationen bei Bettlern und Passanten aus. Der Bettler muß seine Präsentation während des Betteins auf einen anonymen, überpersönlichen, historisch gewachsenen Gefälletypus (Obdachloser, Blinder, Einbeiniger etc.) bzw. auf die jeweils kollektiv anerkannte Kombination verschiedener Gefälletypen reduzieren. Die Anonymisierung ist das immer schon angelegte Muster bei Betteln und Spenden und nicht etwa das Resultat der oft beklagten Unübersichtlichkeit und Unpersönlichkeit des modernen Lebens. Schon der Bettler zu biblischen Zeiten und höchstwahrscheinlich alle Bettelnden der Menschheitsgeschichte vor ihm, war, wie uns der historische Rückblick zeigt (s.o.), auf die Präsentation bestimmter, begrenzter, anonymer und überpersönlicher, kollektiv anerkannter Repertoire-Elemente zur Konstruktion und zum Ausdruck des Gefälles zwischen ihm und den Angebettelten verwiesen. Er mußte eben neben der Tatsache, daß er hungrig, durstig, fremd, nackt, krank, gefangen war, eine Auswahl dieser Typologien von Bedürftigkeit zum Ausdruck bringen können. Das Phänomen von Bettel und Spende stand und steht folglich auch in der Face-to-face-Situation niemals mit einer Kontaktaufnahme zwischen Bettler und Spender in Zusammenhang, die sich im Bereich des Typus direkter, persönlicher Begegnung abspielt.44 Die starke Anonymisierung und die deutliche Typisierung sind unweigerlich mit Betteln und Spenden verbunden. Der Bettler, so er bettelt, präsentiert sich nicht als Person im Muster singulärer Individualität, sondern als Repräsentant eines bestimmten Gefalle- und Bedürftigkeitstypus. Das heutige direkte Betteln und Spenden ist - wenn auch historisch in der Grundform sehr stabil - dennoch bei weitem nicht unverändert gegenüber seinen historischen Vorläufern. Viele ehmalige Bettelelemente, wie sie z.B. der über vagatorum beschrieb, werden zur Zeit bei uns nicht mehr präsentiert: so z.B. das Tragen von Ketten, womit auf eine frühere Gefangenschaft des Bettlers verwiesen werden sollte, das Nasen- oder Augenbluten, der Schaum vor dem Mund, das

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Direktes Betteln und Spenden

zuckende Wälzen auf dem Boden, die offenen Brüste bei Frauen oder auch das Präsentieren von verfaulten Gliedern.45 Viele Elemente des ehemaligen Bettelrepertoires würden heute, insbesondere bei fließendem Blut, zuckendem auf dem Boden Wälzen oder faulenden Gliedern eher den Ruf nach dem Notarzt laut werden lassen, als zu einer Spende Anlaß geben. Einen Bettler, der sich so präsentierte, würde man kurzerhand aus der Öffentlichkeit entfernen und in eine Klinik oder eine geschlossene Anstalt einweisen.46 Das direkte Betteln ist heute diskreter, und was die Repertoirebreite betrifft, sparsamer als in vergangenen Epochen. Darüber hinaus betteln z.Z., wie uns die historischen Berichte über große Bettlerheere zeigen, wesentlich weniger Menschen als früher. Noch in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts wurde, wie zahlreiche Fotos, aber auch die künstlerischen Arbeiten z.B. von Grosz, Dix, Baluschek und Kollwitz ahnen lassen, aus heutiger Sicht weitaus drastischer und den Passanten stärker beanspruchend gebettelt als zur Zeit. Die Tatsache, daß heute viele Bettler Not und Elend öffentlich u.a. durch Texte vermitteln, zeigt, daß das Betteln und die dazugehörige Spende heute mit einem geringeren und abstrakteren, aber gleichwohl historisch gewachsenem Bettel-Repertoire auskommen. Abschließend zu diesem Kapitel und in Vorbereitung auf den nächsten Abschnitt noch eine Bemerkung: Wenn wir Formulierungen benutzen wie: die Bettler präsentieren löchrige Kleidung, rasieren sich vor dem Betteln fünf Tage nicht, zeigen uns ihre amputierten Beinstümpfe etc., so tun wir dies nicht mit der Absicht, im Unterton auszudrücken, jeder obdachlose Bettler würde abends von seiner Frau in einer Luxuslimosine ins wohlausgestattete Einfamilienhaus heimgeholt. Wir wollen keinen neuen liber vagatorum - von der falschen Bettler-Büberey schreiben, sondern das Betteln und das Spenden beobachten und analysieren. Wir wissen, daß vielen Bettelnden, die in schadhafter Kleidung auf dem Pflaster hocken, gar keine Wahlmöglichkeit gegeben ist. Sie stellen einen Unterlegenheits- und Bedürftigkeitstypus dar, der sie zugleich sind. Mit dieser Bemerkung wollen wir die direkte Spende verlassen und uns der vermittelten Spende zuwenden. Viele Elemente, die wir bei der direkten Spende beobachten konnten, werden uns bei der vermittelten Spende wieder begegnen, allerdings nicht in der Face-to-face-Situation, sondern in Form von Fotos, Zeichnungen und Texten.

Anmerkungen l Beschwerden dieser Art scheint es zumindest in der Vergangenheit sehr selten gegeben zu haben. So berichtete z.B. ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes Essen, daß es im Zeitraum von 1987-1989 zu lediglich zwei Einsätzen aufgrund von Beschwerden über Bettelnde kam. Eine steigende Tendenz wird allerdings in jüngster Zeit in Zusammenhang mit den Roma genannt. Die aktiven Bettelformen, die von dieser Gruppe praktiziert werden, rufen laut Ordnungsämtern häufig heftige Beschwerdereaktionen seitens der ortsansässigen Bevölkerung hervor.

Anmerkungen

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2 In bezug auf diesen Paragraphen räumen allerdings die Mitarbeiter von Ordnungsämtern ein, daß zum Teil "waghalsige Konstruktionen" notwendig seien, um hier massive Ordnungswidrigkeiten nachzuweisen. 3 Daß in Düsseldorf (Klein-Paris) alles etwas teurer ist, bestätigen auch die Summen, die die Bettler vor dem Carsch-Haus versuchen, verdeckt aktiv zu erbetteln. Hier lautete die Frage: "Kannst du mir 'mal fünf Mark leihen?". 4 Eine weitere Einstiegs-Variante, die festgestellt wurde, beginnt mit der Frage: "Hast du mal fufzig Pfennig für Telefonieren?". 5 "Hast Du 'mal zufällig 'ne Mark?" fragte eine junge Frau auf den Stufen zur Hauptpost sitzend die herein- und herausströmenden Postkunden. 6 Ausnahmen hiervon stellen z.B. Punks dar, wobei davon ausgegangen werden kann, daß die Präsentation z.B. löchriger Kleidung im Falle der Punks eine Stilisierung bedeutet, die mehr anstrebt, als den Ausdruck von Bedürftigkeit. Vgl.: Lau, Thomas (1992): Die heiligen Narren. Punk 1976-1986. Berlin, New York. 7 Hier und im Folgenden geben wir jeweils die naheste Entfernung an. Bei Edward T. Hall gilt die Entfernung von 70 -100 cm annähernd als die weite Phase der persönlichen Distanz:

"Jemanden 'auf Armeslänge' von sich entfernt halten, ist eine Ausdrucksform für die weite Phase der persönlichen Distanz. Sie erstreckt sich von einem Punkt, der gerade außerhalb der Entfernung, bei der man eine Person leicht berühren kann, liegt, bis zu dem Punkt, an dem zwei Personen die Finger berühren können, wenn sie beide Arme ausstrecken. Das ist die Grenze der körperlichen Herrschaft im eigentlichen Sinn. Darüber hinaus vermag eine Person nicht leicht an jemand 'Hand anzulegen*. Bei dieser Entfernung können Themen von persönlichem Interesse und Engagement behandelt werden." Hall, Edward T. (1976): Die Sprache des Raumes. Düsseldorf. S.125 Diese Distanzkategorisierung entspricht unserer Beobachtung der suggerierten Vertrautheit zwischen Spender und Empfänger beim Betteln en passant. Hall nennt zu folgenden weiteren Distanzkategorien folgende Entfernungen: Intime Distanz: nahe Phase 0 cm, weite Phase 14-45cm Persönliche Distanz: nahe Phase 45-75 cm, weite Phase 75-120cm soziale Distanz: nahe Phase 120-220cm, weite Phase 220-360cm öffentliche Distanz: nahe Phase 360-750cm, weite Phase 750cm und mehr Ebenda S.llSff. Bei diesen Distanzkategorien und den dazugehörigen Entfernungsangaben ist nach Hall zu bedenken, daß Entfernungen je nach Kulturzugehörigkeit unterschiedlich ausfallen können. Das oben zitierte Modell basiert auf Untersuchungen aus den USA (Ostküste). Völlig andere Distanzen gelten z.B. in der arabischen Welt oder in Japan. Ebenda S.120f. und S.130ff. 8 Diese Frage kann dann schon einmal mit dem Zusatz versehen werden: "Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen". Gibt der Gefragte etwas, so zieht der Bettler in der Regel weiter, gibt er nichts, kann es zu Beschimpfungen oder Bedrohungen durch den Bettler kommen. Gelegentlich speit der Bettler auch vor dem Spendeunwilligen aus. (Diese Beschreibung geht zurück auf Informanten-Berichte aus einer ländlichen Gegend Norddeutschlands.) "Noch heute kursieren unter der Landbevölkerung angstgeladene Geschichten über den vermuteten Zusammenhang von abgewiesenen Bettlern und brennenden Scheunen.", berichtet Norbert Preußer in seiner Studie von den Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland seit 1807, unter Hinweis auf den Einsatz 'magischer Praktiken' durch die Bettelnden . Die Angst vor 'magischen Kräften' der Bettler findet sich nach Preußer aber nicht allein bei der Landbevölkerung. "Abergläubische Vorstellungen treiben ihr Unwesen nicht nur in den Köpfen bigotter

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Bauersfrauen, sondern plagen mitunter auch noch die Sacharbeiter moderner Verwaltungen mit unruhigen Nächten; noch immer gelingt es mancher Sinti-Frau, die scheinbare Rationalität administrativer Vollzüge zu durchkreuzen und engherzigen Sachbearbeitern den Schauer über den Rücken zu jagen. Kaum ein Beamter bleibt im Gedanken an seine schwangere Gattin völlig kühl und unbetroffen, wenn eine Sinti-Frau ihre Beschwörungsformeln durch die Amtsflure kreischt und das Kind im Mutterleib verflucht - und manch einer von ihnen erkundigt sich noch heute bei seinen Kollegen, was denn von derlei Auftritten zu halten sei." Preußer, Norbert (1989): Not macht erfinderisch - Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland seit 1807. München. S.144 und S.148 Die intime Distanz ist bei Hall wie folgt definiert: "In intimer Distanz ist die Gegenwart des anderen deutlich und kann wegen des beträchtlich verstärkten sensorischen Inputs überwältigend sein. Das (oft verzerrte) Sehen, der Geruchssinn, die Körperwärme des ändern, Geräusch, Geruch und Spüren des Atems vereinigen sich, um das unverkennbare Involvement mit einem anderen Körper zu signalisieren. (...) Der körperliche Kontakt oder die greifbare Möglichkeit des körperlichen Involvements stehen im Bewußtsein beider Personen an erster Stelle." Hall, Edward, T.: Die Sprache des Raumes. A.a.O. S.121f. Amerikaner finden es ungehörig, wenn sich Fremde in der intimen Distanz aufhalten. Sind diese Situationen nicht vermeidbar (überfüllte U-Bahnen, Busse, Aufzüge etc.), dann kommen Abwehrmaßnahmen wie Unbewegtheit, vermeiden des Blickkontaktes, richten der Augen ins Unendliche, Hände an den Körper pressen etc. zum Einsatz, um die von der Entfernung her bestehende intime Distanz nicht gänzlich zu vollziehen, bzw. akzeptieren zu müssen. (Für Deutsche gilt dies sicher in ähnlicher Weise.) Ebenda. S.122ff. Die Tatsache, daß die Kinder, wie wir selbst beobachten konnten, stundenlang schlafen, bzw. so aussehen, als würden sie schlafen, veranlaßte Mitarbeiter des Ordnungsamtes einer westdeutschen Großstadt nach eigenen Aussagen, Mutter und Kind ins Gesundheitsamt zu fahren, um dort prüfen zu lassen, ob dem Kind eventuell Schlafmittel verabreicht wurden. Die Untersuchung ergab, daß dies nicht der Fall war. Zur nahen Phase der öffentlichen Distanz: "Bei 360 Zentimetern kann ein wachsamer Mensch bei Bedrohung ein Ausweich- oder Verteidigungsmanöver unternehmen. Diese Distanz kann sogar eine verkümmerte aber unterbewußte Form der Fluchtreaktion fördern." Hall, Edward T.: Die Sprache des Raumes. A.a.O. S.129 Die bei allen Interviews gleichlautende Eingangsfrage wird bei den Transkripten nicht jedesmal neu ausgeschrieben. Zeichenerklärung: I = Interviewer, M = Mann, F = Frau,... = Gesprächspause, xxx = Anonymisierung von Eigennamen. Z.B.: "... vielleicht sitzt du auch mal da. Man kann ja nicht wissen ..." (Nr.2) oder "... Ja man hat manchmal n'bißchen Angst, selbst in solch eine Situation zu kommen ..." (Nr.7) Z.B.: "... Es geht mir relativ gut, es ging mir aber nicht immer so und äh ich vergeß so was nicht..." (Nr.l) oder "... wenn ich sehe, wie ich selbst einkaufe ..." (Nr.8) "... Weil ich befördert worden bin, ich mein da soll er auch n'bißchen wat von haben ..." (Nr.5) oder "... Ja weil ich denke, daß es mir gut geht und äh .. aus dem Grund kann ich ihm auch etwas davon geben..." (Nr.6) ZB.: "... Und im Gefühl, daß ich auch grad 'n gutes Essen hatte..." (Nr.9) oder "... wenn ich sehe, wie ich selbst einkaufe ..." (Nr.8) ZB.: "... Wahrscheinlich stimmt es nicht..." (Nr.4.) oder "... Aber ich könnte mir vorstellen, daß ich diesem Mann glauben könnte ..." (Nr.9)

Anmerkungen

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18 "... weil er wirklich bedürftig ist und sehr anständig aussah ..." (Nr.9) und "... Und er sieht auch gepflegt noch aus, nicht ganz so verkommen ..." (Nr.10) 19 Z.B."... weil ich denke, daß wir im Moment 'n sehr gutes Sdzialsystem haben ..." (Nr.l) Andere Interviewte kleiden dieses Argument in Formulierungen wie: "... die kriegen ja alle Sozialhilfe, die kriegen ja alle Geld..." (*) oder "... wir sind ein sehr guter Sozialstaat, in Deutschland braucht niemand zu betteln ..." (*) 20 Z.B. "...weil viele davon alkoholabhängig sind oder die vertrinken ihr Geld sowieso.." (Nr.2) oder "...und äh, kaum haben se mal was eingenommen, das kennen wir ja schon, dann sitzen se in der nächsten Wirtschaft oder haben die Pulle dann in der Hand, und das unterstützen wir leider nicht.." (*) 21 Z.B."... wenn man jedem was gibt, dann ich meine zwanzig Leute und dann kommen noch die Frauen, die mit ihren Kindern da sitzen und Leute, die mit ihren Hunden da sitzen, ich weiß auch nicht..." (Nr.5) oder "... es hungern soviele Menschen auf der Welt, da müßte man ja jedem was geben, irgendwie muß man auch mal Grenzen ziehen ..." (Nr.6) Ein Interviewter untermauert das Argument, 'wenn man einem gibt, muß man allen geben' mit dem Gleichheitsgrundsatz und nennt die Spende an den einzelnen explizit 'ungerecht': "...sehen Sie, es sitzen soviel Bettler hier und wenn ich jetzt dem einen was geben würde und dem anderen nicht, das ist ja ungerecht..." (*) 22 ZB."... aber ich weiß natürlich nicht, ob die's nötig haben (...) und ich glaub's auch ehrlich gesagt nicht ..." (Nr.l) 23 Z.B. "... Vielleicht sollt er arbeiten gehen, wenn er gesund ist..." (Nr.3) oder "... wenn die keine Arme und keine Beine haben, wie die da drüben (in der Türkei), das sind Bettler für mich, aber der hat Arme und Beine (...) nur keinen Willen zu arbeiten ..." (Nr.4) 24 Eine Frau formuliert diesen Sachverhalt so: "... F: Ich denke, weil der vielleicht auch arbeiten kann (...), der sieht doch gut, gesund und äh nicht krank aus. I: Und wie sieht der aus? F: Joa, wie sieht der aus, wie Reinhold Messner, der macht sogar Gewalttouren (lacht) ..." (*) 25 Z.B."... wissen Sie, Bettler, wir haben ganz schlechte Erfahrungen gemacht, (...) wissen Sie, was das für rei, Leute sind? Ganz reiche Leute, die ha, die fahren, wir wohnen in der Nähe, die fahren einen dreihundertfünfziger Mercedes, CL..." (*) 26 ZB. "...also ich find er sieht aus, als würde es ihm noch ganz gut gehen, er hat noch ganz gute Kleidung an und ahm die Penner, oder den Leuten, den ich was geb, die ahm können sich keine Kleidung mehr leisten ..." (Nr.5) 27 ZB."... unten inne Türkei, da haben es die Leute viel nötiger, also, die verhungern wirklich aufe Straße (...) und da geb ich lieber solchen, als solchen, die richtig arbeiten können ..." (Nr.4) 28 Auf die Frage, warum sie dem Bettler nichts gegeben habe, antwortet eine junge Frau: "Weil ich schon mal Brot gegeben habe, beziehungsweise Teilchen und weil die sich nicht darüber gefreut haben ..." (*) Eine andere Interviewte sagt: " ... wir haben sogar, es kommen Bettler ins Haus, den geben wir Butterbrot, weil sie Hunger hatten, wir geben denen Butterbrot und anschließend liegt das unten im Treppenhaus ..." (*) 29 Diese Scheu äußert sich z.B. wie folgt: "... wenn man da beklaut wird und so in dieser Situation .. also kommt vor hier, wenn einer irgendwie wat haben will und dann, der andere beklaut einen ..." (Nr.3)

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30 Z.B."... hab ich irgendwie doch etwas, etwas Mitleid hab ich schon mit so Leuten (...) vielleicht beim nächsten Mal tu ich ihm wat rein ..." (Nr.3) oder "... also man hätte ihm schon was geben sollen ..." (Nr.5) Auf die Frage, warum er einem Bettler nichts gegeben habe, gerät ein Mann regelrecht ins tottern: " M:... das kann ich jetzt so im Moment gar nicht mal sagen e w w, normalerweise is blöd ne, das ich nichts gegeben hab... I: Ich will sie nicht in Verlegenheit bringen. M: Nee aber hawa wia jj ja, is normalerweise so. I: Ja. M: Nämlich Scheiße.... I: Geben Sie denn sonst den Bettlern was? M: Wwenn ich dat jetzt sagen würde, würden Sie mir das sowieso nicht glauben. I:Hn. M: Öfter wohl, aber jetzt hab ich dat nicht gemacht aber da ist dat irgendwie, ob ich jetzt sagt ja oder nein, das spielt keine Rolle, das kommt immer auf den Moment drauf an..." (*) 31 Z.B. "... weil's einem selbst sehr gut geht oder relativ gut geht, und die anderen da sitzen, ich mein zu sitzen ist wahrscheinlich nie angenehm ..." (Nr.l) oder "... aber manchmal, wenn man, besonders wenn man aus der Stadt kommt, man hat so viele Einkaufstüten, dann sieht man Leute, die sitzen da, und dann fühlt man sich doch irgendwo .. ich geb auch öfters was, ja ..." (Nr.5) Eine Frau sagt angesichts eines Bettlers: "... würde ich mich ja auch nie, wenn ich so arm wäre, dahin setzen, sondern ich würde mich echt bemühen, irgendeinen Job anzunehmen. Egal, was es war, und wenn ich äh putzen würde, Toilleten putzen würde ..." (*) 32 Die Bettel- und Spendesituation ist natürlich nicht die einzige, in der eine intime Distanz in Zusammenhang mit einer außerordentlich kurzen Verweildauer auftritt. Man denke z.B. an den Kauf mit Überreichen des Geldes in die Hände des Verkäufers und Rückgabe des Wechselgeldes in die Hände des Käufers. Allerdings kommt es hier durchaus zu Blick- und Hautkontakten, während solche Blick- und Hautkontakte außer beim offenen aktiven Betteln in der Regel nicht zu beobachten sind. 33 Wer der Meinung ist, das Sitzen oder Hocken der Bettler hätte einen Bequemlichkeitsaspekt und sei Ausdruck ihrer Faulheit und mangelnden Disziplin möge sich einmal über einen Zeitraum von nur wenigen Minuten unbeweglich mit gesenktem Kopf auf die heimische Auslegeware hocken. Er wird sehr schnell bemerken, daß die Art der Bettler zu sitzen oder zu Hocken mit einer starken physischen Beanspruchung verbunden ist. 34 "Das Gebrechen rechtfertigt die Bettelei. (...) Die Ausübung des Bettlerberufes erfordert, daß der Grund für die Bitte um Almosen sichtbar gemacht wird, während die Unterstützung bei den Verschämten Armen' auf persönlicher Bekanntschaft beruht. (...) Die Berufstechniken der Bettler beruhen (...) auf der Zurschaustellung äußerer Zeichen der 'Schwäche', der Verkrüppelung oder der Not, um auf diese Weise Unterstützung zu erlangen." Geremek, Bronislaw: Geschichte der Armut - Elend und Barmherzigkeit in Europa. a.a.O. S.65 und S.67 Norbert Preußer führt diesen Gedanken weiter, indem er feststellt: "Das Einkommen des Bettlers steigt in dem Maße, wie es ihm gelingt, Beschädigungen seiner Arbeitskraft augenfällig zu demonstrieren." Preußer, Norbert: Not macht erfinderisch. Aa.O. S.150 Die letzte Aussage wird durch unsere Beobachtungen nicht ganz gedeckt, denn wir sahen, daß auch junge Bettler, die keine auffällige Beschädigung ihrer Arbeitskraft aufwiesen (z.B. Abb.10), reichlich mit Spenden bedacht wurden. Die Konstruktion eines Gefälles muß also nicht zwangsläufig mit der Präsentation beschädigter Arbeitskraft einhergehen.

Anmerkungen

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35 Von dem Tenor des Artikels, der in etwa lautet, daß viele Bettler Betrüger seien und von dem Erbetteltem Geld ein Leben in Saus und Braus auf Kosten des wohlmeinenden hanseatischen Spenders führten, distanzieren wir uns. Das Experiment jedoch bleibt interessant. In: DIE WELT, 19.7.1989 36 Eine Szene setzt sich zusammen aus Einzelhandlungen und dem 'szenischen Arrangement' dieser Einzelhandlungen. "Für jemanden, der 'neu' in eine (...) Szene eintritt, steht (...) nicht die extensive Deutung jeder von ihm an anderen wahrgenommenen Einzeläußerung oder Geste im Vordergrund, sondern die möglichst rasche Identifitzierng des Arrangements, dessen Entschlüsselung ihm allein helfen kann, die folgenden Szenen zu bewältigen." Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags der Alltag der Auslegung. A.a.O. S. 153 und Goffman, Erving (1980): Rahmen-Analyse - Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt a.M. S.31ff. 37 Aus: Nigg, Walter (1979): Elisabeth von Thüringen - Die Mutter der Armen. Freiburg i.Br. Tafel 22 38 Aus: Hampe, Theodor (1924): Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Jena. S.25 39 Aus: Sachße, Christoph und Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. A.a.O. Abb.6 40 Staatsgalerie Stuttgart 41 Aus: Concelmann, Otto (Hrsg.) (1959): Otto Dix. Hannover. 42 Die Verbindung der Konstruktion eines Gefälles mit der Ausführung von Bittgesten wird auch von Kunsthistorikern als Erkennungszeichen des Bettlers eingestuft. Elisabeth Sudeck stellt in ihrer Arbeit über Bettlerdarstellungen vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zu Rembrandt fest, daß im wesentlichen drei Typen in der bildlichen Darstellung des Bettlers nachweisbar sind. "1. wird körperliches Siechtum, Krankheit und Verkrüppelung als typische Eigenschaft für den Bettler dargestellt, 2. wird das Moment der Anforderung an die Hilfe des Nächsten durch Bittgesten hervorgehoben, 3. wird die Armut und das Elend durch zerlumpte, schlechte Gewänder und traurige, erbärmliche Mienen geschildert. (...) Meistens sind in jeder Darstellung Ansätze zu allen drei Typen vorhanden, und einer tritt nur besonders augenfällig für den Gesamteindruck ausschlaggebend hervor." (...) "Die äussere Erscheinung ist zu einer Art Abbreviatur geworden, eine Andeutung genügt, um die Vorstellung 'Bettler' wachzurufen." Sudeck, Elisabeth (1931): Bettlerdarstellungen vom Ende des XV. Jahrhunderts bis zu Rembrandt. Straßburg. S.2 und S.10 43 Die gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, daß in den frühchristlichen und frühmittelalterlichen Heiligendarstellungen die Figur des Heiligen in der Bedeutungsperspektive grundsätzlich größer dargestellt wird, als die ihn umgebenden Figuren - auch wenn es sich bei diesen nicht um Bedürftige handelt. Das Gefalle zwischen dem gebückten, hockenden oder kauernden Bedürftigen und dem sich herabbeugenden Heiligen wird durch die Bedeutungsperspektive nicht relativiert, weil etwa der Heilige ohnehin größer dargestellt wird, als alle anderen Figuren, sondern es wird durch die extremen Größenunterschiede und den dadurch noch deutlicher werdenden Akt des Sich-Herabbeugens noch stärker definiert als in allen ändern Formen der Darstellung der Bettel- und Spendeszene. 44 Selbst die Sozialarbeiterin, die die Handhabe für eine institutionelle Kontaktaufnahme hätte, wählt für die Begegnung mit dem Bettelnden das anonyme Spendemuster, indem sie dem Bettler eine Adressenkarte, gleichsam wie eine Spende, in seinen Sammelbehälter wirft (s.o.). Dies ist die einzig adäquate Form des Kontaktes mit Bettelnden.

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45 Ave-Lallemant, Friedrich Christian Benedict (1980): Das deutsche Gaunertum. Bd.l, Hildesheim, New York. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1858) 46 Daß die drastischen Formen der (vorgetäuschten) Verstümmelung bzw. die Selbstverstümmelung weitestgehend aus dem direkten Betteln geschwunden sind, bedeutet allerdings nicht, daß diese Formen zur Erlangung von (heute institutionellen) Unterstützungsleistungen überhaupt nicht mehr praktiziert werden. Roland Girtler berichtet von den Sandlern, daß sie sich z.B. gezielt vergiften oder Metallgegenstände schlucken, um in einem Spital versorgt zu werden. Girtler, Roland (1980): Vagabunden der Großstadt - Teilnehmende Beobachtung in der Lebenswelt der 'Sandler' Wiens. Stuttgart.

5 Vermitteltes Betteln und Spenden Der historische Rückblick hat gezeigt, daß vermitteltes Betteln und Spenden durch das Christentum einen starken Auftrieb erhielt. Der Klerus beanspruchte eine religiös motivierte Mittlerstellung zwischen Spendern und bedürftigen Empfängern und übernahm so große Anteile an der Organisation der Annenunterstützung. Heute bittet nicht mehr nur der Klerus stellvertretend für die Armen und Bedürftigen um Spenden. Es widmen sich auch viele weltliche Organisationen, die auf Vereinsbasis organisiert sind, dieser Aufgabe. Das vermittelte Betteln bzw. die Spendenwerbung kennt die verschiedensten Formen.1 Die Palette reicht dabei von Plakaten über Fernsehspots bis hin zu öffentlichen Sammelveranstaltungen. Aus der Vielzahl der Formen der Spendenwerbung wählen wir zur genaueren Betrachtung die sogenannten Bettel- oder Spendenbriefe aus. Ein wesentlicher Grund für diese Wahl besteht in der Tatsache, daß wir es bei der Interpretation solcher Briefe mit natürlichen Daten zu tun haben. Die Bettel- bzw. Spendenbriefe enthalten neben Einzahlungs- und Überweisungsformularen und Fotos bzw. Zeichnungen, die Bedürftige abbilden, auch die mehr oder weniger ausführlich formulierte schriftliche Bitte um eine Spende.2 Daß es bei dieser Sorte von vermittelten Spenden unergiebig ist, den Spendevorgang, also die Überweisung der Spende bei Banken und Postämtern, zu beobachten, sagten wir bereits. Stattdessen wollen wir uns den Texten und Bildern widmen, die die Werber spendensammelnder Hilfsorganisationen produzieren, um den Empfänger ihres Spendenbriefes zu einer Spende zu bewegen. Wenn wir uns die Aktivitäten der Spendenwerber ansehen, dann, so vermuten wir, erfahren wir etwas über das Beziehungsgeflecht zwischen Spendern, Spendenwerbern und Spendenempfängern. Wir untersuchen die Texte und die bildlichen Elemente der Spendenbriefe, wobei wir bei den visuellen Ausdrucksformen wiederum eine historische Einordnung vornehmen. Daran anschließend wenden wir uns schriftlichen Äußerungen von Spendern über die vermittelte Spende zu. Die Vorstellung unserers Datenmaterials schließt ab mit Daten über vermittelte Spenden anläßlich von Begräbnissen. Am Ende des Kapitels versuchen wir eine erste Beschreibung des Handlungstyps vermitteltes Betteln und Spenden, und zwar im Vergleich zum direkten Betteln und Spenden. 5.1 Die Spendenbriefe und ihre Texte Findet sich ein Spendenbrief im Briefkasten, so zeichnet sich sein Äußeres durch folgende Merkmale aus: Die Umschläge haben in der Mehrzahl der Fälle das Format DIN A5 oder C6 Langformat. Sie sind weiß oder packpapier-beige, selten andersfarbig. Die Adresse ist maschinengeschrieben. Auf dem Umschlag befindet sich das Signet der Spendenorganisation. Spendenwerbebriefe werden in der Regel durch Stempel mit Frankiermaschinen als Postvertriebsstück oder als

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Drucksache mit Briefmarken freigemacht.3 Bei einigen Spendenbriefen sind auf dem Umschlag Fotos abgedruckt. Spendenbriefe enthalten in der Regel ein maschinengeschriebenes Anschreiben. Neben diesem Anschreiben sind häufig umfangreiche, prospektartig gebundene Texte, die mit Farbfotos versehen sind, im Brief enthalten. Die Texte und Fotos informieren über den Tätigkeitsbereich der Hilfsorganisation, von der der Brief stammt. Schließlich finden sich in allen Spendewerbebriefen ein oder mehrere Einzahlungsformulare, auf denen der Name der Hilfsorganisation mit Kontonummer bereits vorgedruckt ist. Wenden wir uns nun exemplarisch den Texten dreier Spendenbriefe zu.4 Wir können dabei nicht explizit auf alle Einzelheiten der drei Schreiben eingehen, sondern versuchen vielmehr in einem ersten Interpretationsschritt die Bedeutung einiger weniger - im Hinblick auf die Fragestellung relevanter - Aspekte am Material selbst herauszuheben. So wollen wir untersuchen, ob sich Einzelelemente isolieren lassen, die in allen drei Briefen auftauchen. Die Verbreitung dieser Einzelelemente in anderen Spendenbriefen überprüfen wir dann exemplarisch anhand einer Korpuserweiterung. Folgende Fragen leiten uns bei der Analyse der Texte: 1. Welchen Tonfall und welchen Charakter hat der Brief? 2. Wie wird die Situation des Briefempfängers im Vergleich zur Situation der potentiellen Spendenempfänger dargestellt? 3. Welche Funktion wird der Spende zugeschrieben? 4. Wie werden Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit bei der Darstellung der Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger konstruiert? 5. Welche Distanz wird dem Briefempfänger zu den potentiellen Spendenempfängern vermittelt? 5.1.1 Brief Nr.l Das erste Beispiel eines Spendenbriefes stammt von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Abb.32). Äußere Form und Inhalt des Briefes: Der Umschlag des Briefes hat die Form C 6 Langformat mit Sichtfenster. Er ist als Drucksache mit einer 30 Pfennig Briefmarke freigemacht. Abgestempelt wurde der Brief am 2.5.'88 in Marburg. Auf seiner Rückseite sind Name und Adresse der Absenderin abgedruckt. Der Brief enthält ein Anschreiben, eine kleine Karte (8,5x8,7 cm) mit dem Foto eines Blumenstraußes und dem Aufdruck "Vielen Dank" sowie drei Einzahlungsformulare (Bargeldüberweisung Bank, Bargeldüberweisung Post, bargeldlose Überweisung vom Bankkonto). Der Briefkopf des Anschreibens mit Namen und Titel der Absenderin ist am oberen Blattrand in der Mitte angeordnet. Er ist in grauer Schrift und in einem anderen Schrifttyp als der weitere Brief gedruckt. Am unteren Rand der Vorderseite des Anschreibens befindet sich in gleicher Farbe wie der Briefkopf das Signet, der komplette Name und die Adresse der Hilfsorganisation, die sich als eingetragener Verein erweist. Die Schrift des beidseitig mit Flattersatz bedruckten, maschinengeschriebenen Briefes stammt von einem Nadeldrucker.

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Name und Anschrift des Empfängers stehen bei zweimaliger Faltung des Blattes in Höhe des Sichtfensters. Der Brief ist auf den selben Tag datiert, an dem er abgestempelt wurde. 1. Der Tonfall und Charakter des Briefes: Die Anrede des Briefes besteht aus einem geschäftlich, förmlichen und einem privaten, persönlichen Element. Die Spannung zwischen dem "Sehr geehrter" und dem "lieber" zieht sich durch das gesamte Schreiben. Einerseits liegt in Gestalt des Briefumschlages (mit Sichtfenster), der Art der Frankierung (Drucksache), der gedruckten Maschinenschrift und der beiliegenden Einzahlungsformulare ein geschäftlicher, offizieller Charakter bei diesem Brief vor.5 Andererseits verweist der Tonfall, in dem der Brief gehalten ist, auf einen privaten Brief: So erzählt z.B. die Autorin von sich selbst. Sie läßt den Leser wissen, sie habe den Krieg noch erlebt. Sie vermittelt Unmittelbarkeit, indem sie den Leser auf die Aktualität des Briefes - und des eigentlichen Schreibprozesses - hinweist ("schreibe ich Ihnen heute diesen Brief). Sie wirbt um persönliche Glaubwürdigkeit ("Glauben Sie mir"). Sie weiß um die Gefühle anderer ("weiß ich aus ungezählten Gesprächen mit Müttern ..."). Sie ist "von Herzen" dankbar. Sie schreibt im "P.S." von einem Zeichen ihrer "Verbundenheit" mit dem Briefempfänger und legt dem Brief einen "Blumengruß" bei. All dies sind Elemente, die in der Regel nicht in einem geschäftlichen oder offiziellen Brief, sondern eher im privaten Brief zu finden sind. Insgesamt schwankt also der Brief zwischen einem offiziellen, geschäftlichen und einem privaten Charakter. Allerdings verträgt die Kommunikationsform Brief diese Mischung, ohne größere Irritationen beim Leser hervorzurufen.6 Eines aber muß den Empfänger des Briefes, der noch nie für die Lebensshilfe gespendet hat, irritieren: Es ist der Dank der Briefautorin für das geleistete Engagement. Hier klaffen der Charakter des Privatbriefes einerseits und die Tatsache, daß wir es hier mit einem gedruckten Serienbrief zu tun haben, andererseits, weit auseinander. 2. Die Situation des Briefempfängers im Vergleich zur Situation des potentiellen Spendenempfängers: Die Briefautorin unterstellt eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß sich auch der Briefempfänger in einer guten Lebenssituation befindet ("Nie zuvor, so lesen wir da, ging es uns so gut wie heute."). Mit "soviel gereist", "so anspruchsvoll gegessen" und "soviel Geld für Kleidung ausgegeben" sind sogar eindeutig Bereiche des Luxus und des Überflusses angesprochen. Durch das "ging es uns so gut" wird darüber hinaus ein Kollektiv, ein Wir-Muster zwischen der Absenderin und dem Briefempfänger bzw. allen Briefempfängern etabliert. Mit den Wendungen "den Krieg noch erlebt" und "Dankbarkeit" reißt die Schilderung des dolce vita, dessen Genüsse der Briefempfänger aller unterstellten Wahrscheinlichkeit nach in vollen Zügen genießen kann, jäh ab. Statt dessen erscheint der Hinweis oder sogar die Mahnung, daß gute Lebenssituationen sich ändern können. Mit "Krieg" hält eine ebenso reale ("noch erlebt") wie schicksalhafte Bedrohung des süßen Lebens ("Dankbarkeit") Einzug in den Text. Den Faden unberechenbarer, schicksalhafter Verschlechterung guter Lebenssituationen, den die Autorin am Anfang des Textes aufnimmt, spinnt sie in der Mitte ("Ohne mein Zutun haben mich meine Lebensumstände zum lebenslangen

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Außenseiter gemacht'") und am Ende des Briefes weiter ("die unverschuldet von diesem schweren Schicksalsschlag getroffen wurden."). Fühle Dich nicht zu sicher in Deinem Leben voll Überfluß, auch Dich kann das Schicksal plötzlich und unvorhersehbar zum lebenslangen Außenseiter machen, auch wenn Du meinst, ohne Schuld zu sein. So lautet die Botschaft dieser Passagen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. jedenfalls auf der Organisationsebene keineswegs einen kirchlichen oder religiösen Hintergrund hat, wie man bei diesem zwar verdeckten, aber dennoch deutlichen Hinweis auf die Macht unberechenbarer Schicksalskräfte vermuten könnte. Auch die Formulierung "wichtiges, gutes Werk" spricht eher eine christlich-religiöse, denn eine profane Sprache. 3. Die Funktion der Spende: Die Spende selbst kommt als wichtiges und gutes Werk denen zugute, denen das passiert ist, was auch dem Briefempfänger und potentiellen Spender jederzeit passieren kann, nämlich unverschuldet von einem schweren Schicksalsschlag getroffen zu werden. Die Spende, um die die Briefautorin hier wirbt, hat aber noch eine weitere Funktion. Sie bekommt eine Art Vorsorgecharakter für den Fall zugeschrieben, daß sich die gute Lebenslage des Spenders schicksalhaft und unverschuldet verschlechtert. Der Spende kommt ein Nutzen zu, der über den Nutzen, den die eigentlichen Empfänger der Spende davontragen, hinausgeht. In einem Kreislauf kommt die vermittelte Spende - jetzt umgewandelt in eine Art Vorsorge - dem Spender selbst zugute. Durch den Spendenbrief wird dem Briefempfänger ein Perspektivenwechsel angeboten. Er soll heute, wo es ihm gut geht, spenden, denn schon morgen könnten auch ihn, genau wie im Falle der Angehörigen geistig Behinderter, die Lebensumstände zum lebenslangen Außenseiter machen. Mit der Spende trifft der Spender Vorsorge für diesen in der Zukunft drohenden Tag X und verschafft sich damit Beruhigung in der Gegenwart. So wie der Vorsorgecharakter der Spende dem Briefempfänger in diesem Schreiben nahegebracht wird, drängt sich der Vergleich mit der Werbung für Versicherungen auf. Auch dort wird - allerdings offen - mit der möglichen Verschlechterung von guten Lebenslagen argumentiert. So heißt es z.B. in einer Anzeige: "Gleichgültig, ob sie mit Auto, Bahn oder Flugzeug unterwegs sind, sollte einmal etwas passieren, hilft ihnen der ARAG-Schutzbrief."7 Absicherung für die Zukunft vor einer möglichen Verschlechterung der guten Lebenslage und Beruhigung in der Gegenwart, dieses Prinzip gilt in der Werbung für Versicherungen ebenso wie im Spendenbrief der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. Der Spende wird hier also über die Funktion hinaus, die sie für die bedürftigen Spendenempfänger erfüllt, eine Art Vorsorge- bzw. Versicherungscharakter für den Spender zugeschrieben. Ein nicht-materieller Wert wird für einen materiellen Wert angeboten. 4. Die Herstellung von Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit bei der Darstellung der Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger: Die Bedürftigen sind nicht nur aufgrund der Kommunikationsform Brief abwesend, sondern sie sind gleichzeitig auch noch nicht einmal die Verfasser des Schreibens. Im Vergleich zur Face-to-face-Situation bei der direkten Spende sind

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sie, wenn man so will, doppelt abwesend. Diese fehlende Präsenz der Bedürftigen und der direkten Anschauung ihres Leides, also den Mangel an unmittelbarer, alltäglicher Anschauung, versucht die Briefautorin in drei Varianten wettzumachen, wobei sich die ersten beiden Varianten auf die allgemeine Konstruktion von Unmittelbarkeit, ohne Erwähnung der Bedürftigen beziehen: In der ersten Variante simuliert die Briefautorin schriftlich den Ton eines Gesprächspartners, der sich in einer Face-to-face-Unterhaltung mit einer zweiten Person befindet. Allerdings tauchen die Gesprächsanteile der zweiten Person, des Briefempfängers, nicht explizit auf. Sie haben in den Zwischenräumen die, die Rhythmik der Komposition der kurzen Absätze schafft, ihren Platz. Darüber hinaus spricht die Briefautorin den Briefempfänger mehrfach direkt an. In dem Satz "Doch bitte lesen Sie auf der Rückseite weiter, Herr Voss," scheint die Schreiberin des Briefes geradezu leibhaftig und ärmel-zupfend vor dem Briefempfänger zu stehen. Ähnlich verhält es sich mit der vorgezogenen Danksagung ("Ich danke Ihnen!"). Mit dieser Simulation einer mündlichen Ansprache verstärkt die Briefautorin die Aufforderungsintention ihres Schreibens. Die Aufforderungsintention ergibt sich aus Formulierungen wie "... möchte ich jetzt die dringende Bitte an Sie richten..." ebenso wie aus dem mehrfachen vorgezogenen Dank.8 Die zweite Variante, dem Mangel an Anschaulichkeit zu begegnen, besteht darin, daß die Briefautorin innerhalb der Simulation eines persönlichen Gespräches scheinbar aktuell auf den Akt des Schreibens eingeht ("schreibe ich ihnen heute diesen Brief). So etwas schafft Unmittelbarkeit, konstruiert Authentizität und Glaubwürdigkeit, denn dem Leser wird der Eindruck vermittelt, daß die Briefautorin gewissermaßen gerade von den geistig behinderten Mitmenschen und ihren Angehörigen kommt und von Sorge getrieben, rasch den Spendenbrief schreibt. Die Datierung des Briefes vom "2.Mai 1988" und die Abstempelung des Briefes am selben Tag unterstützen zusätzlich die Aktualität und Dringlichkeit des Anliegens der Briefautorin. Eine gewisse Nähe zu denjenigen, um derentwillen hier um Spenden gebeten wird, drückt die Briefschreiberin auch dadurch aus, daß sie angibt, ungezählte Gespräche mit den Bedürftigen geführt zu haben und im brieflichen Kontakt zu ihnen zu stehen, wobei ihr wiederum aktuell, jüngst erschütternde Zeilen geschrieben wurden. Die dritte Variante, dem Verlust an unmittelbarer Anschauung zu begegnen, besteht in einer Beschreibung der Lage der Bedürftigen. In unserem Beispiel finden wir eine Vielzahl von Redewendungen, die die schlechte Situation der Spendenempfänger plastisch ausmalen: "nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen", "schwerer Schlag", "viele Hoffnungen sind zerstört", "immer auf fremde Hilfe und oft auch Pflege angewiesen", "Nahezu immer sind es dann die Mütter, die diese Hilfe zu leisten haben.", "Schwerstarbeit", "Isolation", "nicht dazu gehören, am Rande stehen", "ohne mein Zutun haben mich meine Lebensumstände zum lebenslangen Außenseiter gemacht", "die Negativseite einer hochentwickelten Welt", "ratlosen Eltern", "unberechtige Vorurteile", "unverschuldet von einem schweren Schicksalsschlag getroffen". Außerdem wird die schlechte Lage der Bedürftigen, wie wir bereits oben zeigten, mit der guten Lage der Briefempfänger

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verglichen. Durch die Konstruktion dieses Gefälles gewinnt die Schilderung der Situation der Bedürftigen noch einmal an Anschaulichkeit. 5. Die Distanz zwischen Briefempfänger und potentiellem Spendenempfänger: Die geschilderte, schlechte Lebenssituation der Bedürftigen wird dem Briefempfänger außer mit den soeben dargestellten Mitteln durch folgende Formulierungen nahegebracht: "Lebensstandard in unserem Land", "unsere geistig behinderten Mitmenschen und ihrer Angehörigen", "aber auch hier liegt noch ein weiter Weg vor uns ...", "mehr als 300.000 Müttern geistig behinderter Menschen in unserem Land". Durch den Einsatz von "unserem", "unsere", "uns" und "unserem" wird die schlechte Lebenssituation der Bedürftigen mit der angenommenen guten Lebenssituation des Briefempfängers verknüpft. Dem Briefempfänger wird mitgeteilt, daß auch die geistig behinderten Mitmenschen und ihre Angehörigen zur Gemeinschaft unseres Landes gehören und damit auch Anspruch auf das süße Leben erheben dürfen. Trotz dieser Mahnung, die Bedürftigen zur Gemeinschaft derer, die in Luxus leben, zuzulassen, verbleibt der Briefempfänger dennoch in einer anderen, exklusiven Gruppe. Er teilt mit den Bedürftigen zwar die Mitgliedschaft in der großen Gruppe derer, die in unserem Land leben, aber zusätzlich gehört er zu denen, die aufgrund ihrer positiven Lebenssituation mit einer vermittelten Spende anderen helfen können und sich damit gleichzeitig aktiv gegen einen Schicksalsschlag absichern, der die Bedürftigen bereits ereilt hat. Das im ersten Absatz etablierte Wir-Muster läßt sich also durchaus als ein Wirpotentielle-Spender-Muster bezeichnen. Adressat einer Bitte um eine Spende zu sein bzw. eine Spende zu geben, konstituiert folglich die Zugehörigkeit zu einer exklusiven Gruppe, zu der die Bedürftigen, auch wenn sie Landsleute sind, nicht zählen. Der Brief zielt mit sprachlichen Mitteln einerseits auf die Etablierung von Nähe. Die Briefschreiberin versucht sich dem Empfänger nahe zu bringen (z.T. Privatbrief- und Gesprächs-Charakter), sie stellt ihre Nähe zu den bedürftigen Spendenempfängern heraus, und sie weist darauf hin, daß auch der Briefempfänger den Bedürftigen gar nicht so fern steht. Zum einen kann er selbst jederzeit in ihre Lage kommen, zum anderen teilt er mit ihnen die Mitgliedschaft in der großen Gruppe der Landsleute. Von der exklusiven Gruppe derer aber, die um eine Spende gebeten werden, sind die Bedürftigen ausgeschlossen. Hier zeigt sich eine gewisse Ferne zwischen Briefempfänger und den potentiellen Spendenempfängern. Soweit das erste Beispiel. 5.1.2 Brief Nr.2 Absender des zweiten Briefes ist die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e. V. (Abb.33). Äußere Form und Inhalt des Briefes: Wie schon im ersten Beispiel, so wird auch hier als Umschlag das C 6 Langformat mit Sichtfenster eingesetzt. Der Umschlag ist packpapier-beige und zeigt über dem Sichtfenster einen Stempelaufdruck mit Namen und Adresse der Hilfsorganisation. Die Adresse des Empfängers, die durch das Sichtfenster zu lesen ist, stammt von einem Aufdruck auf einem der zwei Einzahlungsformulare. Der Brief ist mit einer Frankiermaschine

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freigemacht und in Berlin laut Stempel ("—11.87") an einem Tag im November von der Post angenommen worden. Am 23.11.87 erreichte der Brief seinen Empfänger. Der Brief enthält ein Anschreiben, ein beidseitiges, gelb und grün bedrucktes Informationsblatt, eine beidseitig grün und grau bedruckte Bestellkarte für eine "Dritte-Welt-Zeitschrift für 8- bis 12-jährige" und zwei Einzahlungsformulare (Bareinzahlung und Überweisungsauftrag), in die jeweils Name und Adresse des Empfängers eingedruckt sind. Der Briefkopf des auf Umweltschutzpapier gedruckten Anschreibens zeigt das Signet der Hilfsorganisation, ihren Namen und ihre Adresse. Das Anschreiben ist in Maschinenschrift verschiedener Stärke im Blocksatz gedruckt. Am linken Rand findet sich ein schmales graues Band mit der Aufschrift "SCHUTZ DES REGENWALDES : SICHERUNG DER LANDRECHTE DER INDIOS : SCHUTZ DES REGENWALDES". Am unteren Blattrand sind die Konten und die Telefonnummer der Hilfsorganisation eingedruckt. Schon beim ersten Durchlesen wird deutlich, daß dieser Brief sich an eine andere Spender- und Spenderinnenklientel wendet als das erste hier vorgestellte Schreiben. Hier sind die angesprochen, die sich für die sogenannte S.Welt und für den Umweltschutz engagieren möchten. - Doch sehen wir uns zunächst die Details an. 1. Der Tonfall und Charakter des Briefes: Das Anschreiben ist als Aufruf überschrieben. Dieser Aufruf richtet sich nicht an einen einzelnen Empfänger, sondern an eine unbestimmte Zahl von Personen. Der Briefempfänger wird mit der Anrede einem Kreis von lieben Freundinnen und Freunden zugerechnet. Die Spannung zwischen einem geschäftlichen, offiziellen Charakter des Schreibens, der sich, wie im ersten Beispiel, aus der Art des Umschlages, der Frankierungsart und der Verschriftungsform ergibt und einem privaten Charakter ist in diesem Brief nicht so stark ausgeprägt, was allerdings nicht heißen soll, daß eine solche Spannung nicht besteht. Zwischen der geschäftlichen Aufmachung des Briefes (Umschlag, Frankierung, Maschinenschrift, Druck) und dem "Liebe Freundinnen und Freunde" liegen durchaus Inkonsistenzen. Im Vergleich zum ersten Brief muß aber festgestellt werden, daß außer in der Anrede und in "den besten Wünschen für ein friedvolles Weihnachtsfest" keine privat klingenden Elemente eingesetzt werden. Es überwiegen vielmehr die Entlehnungen aus dem Bereich geschäftlicher oder offizieller Briefe. So könnte man sich z.B. vor dem über der Anrede stehenden Satz "Unterstützung der Huambisa und Aguaruna zur Sicherung ihrer Landrechte und zur Verbesserung ihrer Lebensgrundlage", ohne damit einen Stilbruch zu provozieren, ein offizielles bzw. geschäftliches Betr.: vorstellen. Die Zeilen "gez. Elmar Schwalbach-Forck (Lateinamerika-Referat)" rufen insbesondere durch das "gez." und das Wort Referat einen offiziellen, beinahe behördlichen Ton hervor. Auch der verfrühte Dank ("Für ihre Unterstützung danken wir im Voraus.") ist, so wie er hier formuliert wurde, eher dem Geschäfts- denn dem Privatbrief zuzuordnen. 2. Die Situation des Briefempfängers im Vergleich zur Situation des potentiellen Spendenempfängers: Nach der Zeile "WEIHNACHTSAUFRUF 1987" steht

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fett gedruckt der Satz, der das Leitmotiv des gesamten Schreibens ankündigt: "Die Tage scheinen gezählt." Dieser Satz verweist auf eine in Kürze bevorstehende Katastrophe. Durch das Wort "scheinen" vermittelt der Briefautor allerdings die Aussicht auf Hoffnung darauf, daß sich der Anfang des bevorstehenden Endes noch hinauszögern oder das Ende gar ganz umgehen läßt. Der Empfänger des Schreibens, der diese Mitteilung erhält, ist nun gespannt, worin die Bedrohung besteht und vor allem, welche Schutzmaßnahmen der Briefautor empfiehlt. Die folgenden Zeilen bringen zunächst eine kurze Beruhigung. Nur die Tage der Huambisa und Aguaruna scheinen gezählt. Die nächsten Absätze wiegen den Leser weiterhin in Sicherheit, wenn auch mit der Nennung der Bundesrepublik Deutschland als Vergleichsgröße die angekündigte Bedrohung wieder etwas näher rückt. Der 4. Absatz bringt es an den Tag, wenn "den gegenwärtigen Rodungen kein Einhalt geboten wird", dann muß sich der Briefempfänger darauf einstellen, in nächster Zukunft sein Leben auf einem schmalen Streifen bewohnbaren Landes zwischen dem Nordsee-Bad Bielefeld und der am Alpenrand beginnenden Wüste zu fristen. Kein Zweifel, es sind nicht nur die Tage der Urwaldindianer, sondern auch die des Briefempfängers, die gezählt scheinen. Ging es zunächst nur um die Sicherung der Landrechte und um die Verbesserung der Lebensgrundlage zweier Indianerstämme, so überwiegt jetzt die direkte katastrophale Bedrohung für den Briefempfänger. Analog zum ersten Beispiel können wir feststellen, daß im Zusammenhang mit· der Werbung um Spenden für Dritte die vermutete gegenwärtige oder die vermutete zukünftige Lebenssituation des potentiellen Spenders thematisiert wird. Im ersten Brief wird dem potentiellen Spender unterstellt, er lebe in einer guten, an Luxus grenzenden Lebenssituation. An diese Unterstellung knüpft sich der Hinweis, daß sich solche Situationen jederzeit schicksalhaft und ohne Schuld in Leid und Elend verwandeln können. Auch der Brief der Aktionsgemeinschaft Solidansche Welt e.V. läßt dem Briefempfänger einerseits die Option auf eine gute Lebenssituation ("ein friedvolles Weihnachtsfest") und droht ihm andererseits Unheil an. Der Briefautor verzichtet bei der Unheilsverkündung auf eine detaillierte Darstellung der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, bevor die Katastrophe eintritt. Er operiert statt dessen mit den eher dunkel andeutenden, denn klar aussagenden Begriffen "fatale Klimaveränderungen" und "Gleichgewicht des Weltklimas". (Wobei der Briefautor mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, daß seine Leserschaft diesen andeutenden Begriffen die hinlänglich bekannten und inzwischen zum Allgemeingut gehörenden Kontexte wie: Steigerung des CO2Gehaltes, Aufheizung der Erdatmosphäre, Schmelze der Polkappen etc. hinzufügt.) Aus der großen Palette möglicher Folgen fataler Klimaveränderungen (von Algenpest über Ozonloch bis Robbensterben etc.) entscheidet sich der Briefautor für das Motiv der Überflutung. Mit der Wahl der Katastrophensorte Flut spielt er ein altbekanntes Katastrophenmuster an.9 Die (Sint-)Flut ist immer auch der Beweis der Kraft transzendenter Mächte, die nur sehr begrenzt und unter ganz bestimmten Bedingungen dem Einfluß des Menschen unterliegen. 3. Die Funktion der Spende: Wie soll man ein "friedvolles Weihnachtsfest" verleben, wenn einem Ende November die Möglichkeit zu derartig schlechten Zu-

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kunftsaussichten prophezeit wird? Die Antwort, die der Briefautor gibt, lautet: Mit einer Spende an die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e.V. läßt sich das drohende Unheil gewissermaßen gerade noch vor dem Heiligen Abend abwenden. Denn diese Spende kommt den Indianern zugute, die ihrerseits Garanten für den Schutz des Regenwaldes sind, und der geschützte Regenwald ist seinerseits für den Spender Garant eines Klimagleichgewichtes und damit letztlich Garant eines friedvollen Weihnachtsfestes. Die Spende, die über die Hilfsorganisation in den entlegenen südamerikanischen Regenwald vermittelt wird, kommt also letztlich dem Spender selbst zugute. Der Spender wird hier, wie im ersten Beispiel, über den Nutzen für die bedürftigen Spendenempfänger hinaus, innerhalb eines Kreislaufes eine Art Vorsorgecharakter zum Wohle des Spenders zugeschrieben. Mit einer Spende an die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e. V. läßt sich der Lauf des Schicksals beeinflussen und die große Flutkatastrophe bleibt dem Briefempfänger für dieses Weihnachtsfest erspart. Aber die Spende bewirkt noch mehr. Mit der Spende kann man Teil der Aktions-Gemeinschaft werden, kann man sich Hoffnung auf Mitgliedschaft in einem (wenn auch anonymen) Kreis von lieben Freundinnen und Freunden machen. Diese Gruppe zeichnet sich dadurch aus, daß sie anderen hilft, selbst nicht auf Spenden angewiesen ist und durch eine vermittelte Spende an in der Ferne lebende Bedürftige, die eigene positive Lebenssituation aktiv erhalten kann. Auch hier konstituiert der Spendenaufruf zwei Gruppen: die Adressaten und potentiellen Spender und die Gruppe der Bedürftigen und potentiellen Empfänger der Spende. 4. Die Herstellung von Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit bei der Darstellung der Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger: Auch in diesem Schreiben stellt sich das Problem, den Briefempfänger schriftlich von der Bedürftigkeit von Menschen zu überzeugen, die ihm nicht alltäglich anschaulich in der Face-to-face-Situation begegnen. Außerdem muß dem Empfänger eine noch nicht direkt wahrnehmbare Gefahr, der er mit einer vermittelten Spende entrinnen kann, glaubhaft geschildert werden. Es sind wieder mindestens drei Lösungsvarianten, mit denen der Briefautor Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit produziert: In diesem Beispiel wird der Briefempfänger nicht wie im ersten Schreiben in Form einer simulierten Unterhaltung persönlich angesprochen, sondern er erhält einen an eine Gruppe von lieben Freundinnen und Freunden gerichteten Aufruf. Der Briefautor strebt damit nicht die Form Privatbrief, sondern vielmehr eine öffentliche bzw. halböffentliche Form an, die sich nicht namentlich an einzelne Empfänger wendet. Während also im ersten Schreiben großer Wert auf die Schaffung des Musters eines individuellen brieflichen Kontaktes gelegt wurde, liegt der Schwerpunkt im zweiten Brief auf der Konstituierung eines Wir-Musters. Dieses Wir-Muster bleibt in den Angaben, wer dazu gehört und wer nicht, unklar und anonym. Eines aber ist sicher: eine Spende garantiert einen gewissen Anteil an der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von lieben Freundinnen und Freunden. Anstelle von Glaubwürdigkeitsbemühungen, die, wie im ersten Brief, mit den

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Elementen des Privatbriefes operieren, finden wir hier einen starken Einsatz von Elementen, wie sie in offiziellen oder geschäftlichen Schreiben üblich sind. Das "gez." vermittelt trotz der fehlenden handschriftlichen Unterschrift so etwas wie behördlich geprüft und beglaubigt. Mit "(Lateinamerika-Referat)" wird dem Leser internationale verwaltungstechnische und organisatorische Kompetenz im Bereich der angesprochenen Probleme der Indianer und des Regenwaldes signalisiert. Der Briefautor schmückt seinen Aufruf mit gestalterischen und sprachlichen Elementen, die in der Lage sind, anstelle der unmittelbaren, alltäglichen Anschauung der Bedürftigkeit der Spendenempfänger zumindest Unmittelbarkeit und Aktualität und damit Authentizität und Glaubwürdigkeit in bezug auf den Aufruf zu konstruieren. Das graue Band am linken Rand des Briefbogens, mit durchlaufendem Quertext, suggeriert die Aktualität und Dringlichkeit einer Agenturmeldung oder eines Telex. Mit diesem gestalterischen Mittel schafft der Briefautor eine Form der Unmittelbarkeit. Die fett gedruckte Formulierung "Noch ist es nicht zu spät!" unterstreicht die Dringlichkeit und Aktualität des Aufrufes, so daß auch diesem Brief eine starke Aufforderungsintention zugrunde liegt. Eine ausgiebige Schilderung der Lage der Spendenempfänger zum Beweis ihrer Bedürftigkeit findet sich im Vergleich zum ersten Brief in diesem Beispiel nicht. Dennoch erfährt der Empfänger des Aufrufes, daß die Landrechte zweier Indianerstämme gesichert werden müssen, daß die Lebensgrundlage dieser Indianer verbessert werden muß und daß mit der Zerstörung der Regenwälder die Vertreibung der Ureinwohner einhergeht. Die allgemein gehaltene Darstellung der Situation der Spendenempfänger läuft auf den Oberbegriff Rechtlose, Vertriebene und Verfolgte hinaus. Der Briefautor greift nicht zu sprachlichen Mitteln, mit deren Hilfe das Los der Indianer in einer besonders drastischen Weise beschrieben werden könnte. Die Melodie rechtlos, vertrieben und verfolgt wird nur kurz angespielt. Um so drastischer fällt die Beschreibung möglicher Folgen einer unterlassenen Spende für den potentiellen Spender aus. Als wolle er den Verdacht, maßlos zu übertreiben, abschwächen, betont der Briefautor explizit, daß es sich hier nicht um "Spinnereien" handele. Auch wenn die schlechte Lage der Urwaldindinaner nicht ausführlich dargestellt wird und die persönliche Zukunft des Briefempfängers als außerordentlich bedrohlich beschrieben wird, so besteht doch ein Gefalle zwischen Urwaldindianern und Briefempfänger: die Huambisa und die Aguaruna sind bereits jetzt in Gefahr, die Briefempfänger erst in der - wenn auch nahen - Zukunft. 5. Die Distanz zwischen dem Briefempfänger und dem potentiellen Spendenempfänger: Der Briefempfänger wird nach der Prophezeihung des Briefautors zwar nicht in der Hölle gebraten, aber es ist sehr gut möglich, daß er in Nordseewasser ertrinkt bzw. in der Wüste verdurstet. Sollte ihm dieses Schicksal erspart bleiben, dann droht die Möglichkeit - und hier besteht eine deutliche Parallele zu den Vertriebenen des Regenwaldes - aufgrund der Klimaveränderungen aus seiner angestammten Heimat vertrieben zu werden und sich mit Millionen anderer Menschen einen kleinen Rest bewohnbaren Landes teilen zu müssen. Die über die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e. V. vermittelte Spende an akut von Vertreibung Bedrohte soll diese und den Spender selbst vor Vertreibung schützen.

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Beiden, dem noch friedvoll lebenden Briefempfänger und den Regenwaldbewohnern, droht dieselbe Gefahr. Der Briefautor konstruiert damit - über die allgemeine Abhängigkeit aller Menschen vom Weltklima hinaus - eine Art Schicksalsgemeinschaft bestehend aus den Empfängern des Briefes und den Bewohnern des Regenwaldes. Trotzdem gehören letztere, wie wir oben feststellten, nicht zum Kreis der lieben Freundinnen und Freunde. Auch hier findet sich die gleiche Distanzvariante wie im ersten Brief: einerseits sind die potentiellen Spendenempfänger, genau wie der Briefempfänger, Mitglieder einer großen Gemeinschaft (Landsleute im 1. Brief, von Vertreibung Bedrohte im 2. Brief) und ihm deshalb nahe, andererseits sind sie von der Mitgliedschaft in der Gruppe derer, die um eine Spende gebeten werden und ggf. spenden, also vom Kreis der lieben Freundinnen und Freunde ausgeschlossen. Auch in diesem Spendenbrief wird also ein Vergleich zwischen der Lebenslage der potentiellen Spender und der Lebenslage der bedürftigen Empfänger der vermittelten Spende gezogen. Wenn Du spendest, lieber Briefempfänger, dann bleibt Dir das Schicksal der hier präsentierten Bedürftigen erspart, und du kannst dein bisheriges Leben in Luxus (Brief 1) und Sicherheit (Brief 2) weiterleben. Unter dieser Grundaussage lassen sich beide bis jetzt vorgestellten Briefe, auch wenn sie mit unterschiedlichen Darstellungsmitteln operieren, zusammenfassen. 5.1.3 Brief Nr.3 Die "Christoffel-Blindenmission e.V." sandte den dritten Brief (Abb.34). Äußere Form und Inhalt des Briefes: Der Umschlag aus weiß-grauem Recyclingpapier hat das Format DIN A5. Die Vorderseite ist mit einem Sichtfenster versehen. Am oberen Rand finden sich als grüner Aufdruck: 1. der Name und die Adresse der Hilfsorganisation, 2. der Satz "CBM hilft sichtbar!", 3. das Signet der Hilfsorganisation, eine Weltkugel, in der Kreuz und Auge abgebildet sind, mit der Unterzeile "Gegründet 1906" und 4. die Frankierung als Postvertriebsstück. Die Sendung erreichte den Empfänger am 24.9.1988. Der Brief enthält drei auf der Rückseite mit Texten und Fotos bedruckte Einzahlungsformulare (Bargeldüberweisung Bank, Bargeldüberweisung Post, bargeldlose Überweisung Bank) und eine 16seitige Broschüre (Format 21 14,8 cm) im Vierfarbdruck mit zahlreichen Fotos. Die Adresse des Empfängers, die durch das Sichtfenster zu lesen ist, stammt vom Aufdruck auf dem Formular der Bargeldüberweisung für die Bank. 1. Der Tonfall und Charakter des Briefes: Auch dieser Brief hat eine geschäftlich-offizielle Aufmachung. Umschlag, Frankierung, Maschinenschrift und Druck verweisen in diese Richtung. Das Schreiben ist nicht auf einem Extrablatt gedruckt, sondern Teil einer Broschüre. Dennoch orientiert sich der Text an dem Muster von Brieftexten. So findet sich z.B. eine Anrede ebenso wie eine aus Briefen bekannte Grußformel und die Unterzeichnung des Textes. Wir können in diesem Fall also durchaus von einem brieflichen Anschreiben sprechen. Im übrigen ist die Kopplung von Broschüre und Anschreiben in den Spendenbriefen durchaus keine Seltenheit. Der Briefautor gibt seinem Schreiben keinen individuellen, privaten Charakter.

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Er spricht den Briefempfänger im Plural als "Liebe Freunde unserer missionsdiakonischen Arbeit!" an und signalisiert damit und mit der Tatsache, daß das Anschreiben Teil einer Broschüre ist, dem Briefempfänger unmißverständlich, daß außer ihm viele andere lieben Freunde diesen Text erhalten. Die Unterzeichnung des Briefes in Maschinenschrift tut ihr übriges, den geschäftlichen, nicht-privaten, sondern eher öffentlichen Charakter dieses Schreibens zu unterstreichen. In diesem Text besteht also ebenfalls nur eine geringe Spannung zwischen einer geschäftlich, offiziellen Aufmachung und einem privaten, individuellen Charakter. Der Tonfall des Briefes kommt z.T. dem einer Predigt nahe. Die rhetorischen Fragen (...'"Warum verhungern jeden Tag 70.000 Menschen? Wo sind die, die zu Gott beten?'", "Wie anders auch sollten wir unseren Erntedank sichtbar zum Ausdruck bringen ...") und die ständige Wiederholung eines Motivs ( "unser täglich(es) Brot") verweisen auf die Nähe zum Predigttonfall. 2. Die Situation der Briefempfänger im Vergleich zur Situation der potentiellen Spendenempfänger: Die Situation der Briefempfänger wird gleich im ersten Absatz angesprochen. In unserem Land ist die Ernte eingebracht. Es finden "Erntedankgottesdienste" statt. Die Briefempfänger und mit ihnen der Briefautor "sind voll Dank, weil wir uns bewußt sind, daß wir wieder beschenkt wurden." Der 3. Absatz verweist darauf, daß "manch einem" vielleicht sogar ein "Überfluß" zuteil wurde. Der Strang, der mit dem Begriff Überfluß bezeichnet werden kann, setzt sich im vierten Absatz fort. Unter dem Sichwort "selbstverständlich" wird hier der "Sonntagsbraten" und nicht etwa das einfache Mahl ins Spiel gebracht. Als selbstverständlich gilt auch die physische und psychische Gesundheit und die soziale Eingebundenheit, die der Briefautor sich und den Briefempfängern zuschreibt ("die gesunden Füße, die uns tragen - der klare Verstand, der uns planen und schaffen läßt - Freunde, die uns zur Seite stehen."). Am Ende des vierten Absatzes wird die gute Lage des Briefempfängers mit "Gottes Erbarmen" in Beziehung gesetzt. Dem Briefempfänger wird jetzt - wie schon am Anfang mit dem Wort "beschenkt" angekündigt - unmißverständlich klar gemacht, daß er nicht allein Schmied seines Glückes ist, sondern daß seine gute Lage wesentlich von dem Wohlwollen einer transzendenten Macht abhängt. Über die Interpretation des Wortes '"unser"' aus der vierten Bitte des Vaterunser gelangt der Briefautor zu Menschen, die verhungern. Der Briefautor weist den Briefempfängern als Mitglieder in der Gruppe derer, "die zu Gott beten", eine unmittelbare Verantwortung für das Schicksal der Verhungernden zu. Mit dem Zitat '"Brich dem Hungrigen dein Brot'" zeigt der Briefautor eine Möglichkeit, wie diese Verantwortung wahrgenommen werden kann. Auch in diesem Spendenbrief wird also die gute Lage der Briefempfänger ausdrücklich thematisiert. 3. Die Funktion der Spende: An keiner Stelle des Anschreibens bittet der Briefautor explizit um eine Spende. Das Wort Spende kommt noch nicht einmal vor. Dennoch kann man die Sätze '"Brich dem Hungrigen dein Brot'", "Wie anders auch sollten wir unseren Erntedank sichtbar zum Ausdruck bringen, als

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dadurch, daß wir diejenigen nicht vergessen, die im Dunkeln sind" und "... mit dem bedrängenden Gedanken an die zahllosen Hungernden in aller Welt, denen ich werde helfen müssen, wenn sie nicht umkommen sollen." durchaus als eine im Vergleich zu den beiden anderen Briefen zwar indirekte -, aber trotzdem deutliche Aufforderung zur Unterstützung der Bedürftigen verstehen. Die Briefempfänger sollen einerseits diejenigen, die im Dunkeln sind, "nicht vergessen", sie sollen den "bedrängenden Gedanken an die zahlosen Hungernden und Leidenden in aller Welt" zulassen, und sie sollen andererseits der Aufforderung des Briefautors folgen, den Bedürftigen zu helfen, um sie vor dem Tod zu bewahren. Daran, daß mit helfen nicht das bloße an die Verhungernden denken, sondern letztlich eine Spende gemeint ist, lassen z.B. Texte auf den Einzahlungsformularen wie: "Verwendungszweck: abzugsfähige Spende" oder "Bei der CBM ist Ihre Spende in guten Händen." und natürlich die Tatsache, daß überhaupt Einzahlungsformulare beigelegt sind, keinen Zweifel. Aber schon die Formulierung "diejenigen nicht vergessen, die 'im Dunkeln' sind" enthält, wenn man die Nähe zum Predigt-Ton hinzuzieht, neben dem bloßen Denken an die Bedürftigen immer auch die implizite Aufforderung, sie durch tätige Hilfe oder durch Überweisung materieller Güter zu unterstützen. In Zusammenhang mit den vorherigen Worten "unseren Erntedank sichtbar zum Ausdruck bringen" überwiegt sogar deutlich die Aufforderung, die Bedürftigen durch sichtbare tätige Hilfe oder die Überweisung sichtbarer materieller Güter zu unterstützen, die bloßen, unsichtbaren Gedanken treten dagegen in den Hintergrund. Die indirekte, nicht explizite Aufforderung zur Spende ist durchaus keine Seltenheit in Spendenbriefen. "Wie anders auch sollten wir unseren Erntedank sichtbar zum Ausdruck bringen als dadurch, daß wir diejenigen nicht vergessen, die im Dunkeln sind und die doch mitgemeint sind, wenn wir beten: 'Unser tägliches Brot gib uns heute.'" fragt der Briefautor im 8. Absatz. In dieser Frage verknüpft er die Aufforderung, die Bedürftigen sichtbar als Ausdruck des Erntedankes zu unterstützen und letztlich für sie zu spenden, mit dem vorher geschilderten Wohlstand der Briefempfänger (die Ernte ist eingebracht) und der ebenfalls vorher dargestellten miserablen Situation der Verhungernden (sie sind im Dunkeln). Während der Spende in den ersten beiden Beispielen eine in die Zukunft weisende Bedeutung und Funktion für den Spender zukam, so zeigt sich bei der Spende hier eine in die Vergangenheit reichende Dimension. Der Spende wurde in den ersten beiden Briefen in Zusammenhang mit der Erwähnung der Kraft der Schicksalsmächte ein Versicherungs- bzw. Vorsorgecharakter zur Abwendung von Unheil und Übel für den Spender zugeschrieben. Im Brief der Christoffel-Blindenmission e.V. wird die Spende als sichtbarer Ausdruck des Dankes dafür angepriesen, daß es dem Briefempfänger in der Vergangenheit so gut erging. Auch in diesem Brief findet sich der deutliche Hinweis, daß die gute Lage des Briefempfängers an das Wohlwollen einer tranzendenten Macht gebunden ist ("Was immer wir vorzuweisen haben - worauf immer wir stolz sein mögen: es ist in jedem Falle Gottes Erbarmen mit uns."). Die Spende, als materielle Leistung,

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fungiert als Dank dafür, daß dem Briefempfänger eine positive Lebenssituation beschert wurde. In den ersten beiden Briefen kam der Spende eine in die Zukunft weisende Dimension der Vorsorge zu. Die Spende schützt den Spender davor, daß es ihm in der Zukunft nicht mehr so gut gehen könnte wie in der Gegenwart. Im dritten Beispiel fungiert die Spende als sichtbarer Dank für das, was der Briefempfänger in der Vergangenheit von einer transzendenten Macht geschenkt bekommen hat. Dank hat natürlich ganz allgemein nicht nur retrospektiven Charakter. Er sichert auch das zukünftige Wohlwollen desjenigen, dem man dankt. Im Vergleich zu den beiden anderen Briefen kleidet sich die Dimension des Schicksalhaften und Transzendenten hier durchgängig in eine christlich-theologische Terminologie. 4. Die Herstellung von Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit bei der Darstellung der Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger: Auch in diesem Schreiben steht der Briefautor vor der Aufgabe, die Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger, außerhalb der Face-to-face-Situation, ohne direkte, alltägliche Anschauung als Vermittler zwischen potentiellem Spender und potentiellem Empfänger schriftlich darstellen zu müssen. Wir schauen wiederum nach den Mitteln, mit denen er diese Aufgabe bewältigt: Im Schreiben des Pfarrers Hans Rupp werden die Briefempfänger als Kollektiv wie in einer Predigt angesprochen. Die Nähe zum Predigt-Ton, so darf unterstellt werden, sorgt zumindest bei einer kirchlich orientierten Spenderklientel für eine hohe und verpflichtende Appellfunktion des Textes. Die Aufforderungsintention des Briefes ist unverkennbar. Die Unterzeichnung mit dem Zusatz Pfarrer verleiht dem Text darüber hinaus Glaubwürdigkeit und Autorität. Auch der Pfarrer setzt in seinem Schreiben, wie die Briefautoren in den beiden ersten Beispielen, Aktualitäts- und Dringlichkeitssignale. Er spricht den Briefempfänger direkt auf die Situation der aktuellen Lesehandlung an ("Wenn Sie dieses Heft lesen, ist in unserem Land ..."). Damit schafft er einen gewissen Grad an Unmittelbarkeit. Mit der Formulierung '"Warum verhungern jeden Tag 70.000 Menschen? Wo sind die, die zu Gott beten?" verweist der Briefautor auf die Dringlichkeit der Hilfe angesichts des täglichen Todes einer großen Zahl von Menschen. Die Schilderung der Lage der Bedürftigen fällt im Anschreiben auf den ersten Blick nicht sehr umfangreich aus. Wir erfahren nur, daß sie verhungern bzw. hungern und daß sie von "Unterernährung", "Armut", "Kindersterblichkeit" und "vielem anderen" bedroht sind. Außerdem sind sie '"im Dunkeln"' (bei dieser Formulierung klingt die missionarische Dimension der Hilfsarbeit an) und werden als Leidende und Darbende bezeichnet. Den richtigen Kontrast und den richtigen Dringlichkeitsakzent erhält diese an der Formel Hunger und Armut orientierte Beschreibung der Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger erst durch den Vergleich mit der guten Lebenslage des Spendenempfängers. Jetzt steht den Hungernden der Sonntagsbraten und den Darbenden der Überfluß gegenüber. Erst durch die Konstruktion dieses Gefälles zwischen Bedürftigen und Briefem-

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pfängern gewinnt die formelhafte Beschreibung der schlechten Lage der Bedürftigen Anschaulichkeit. 5. Die Distanz zwischen Briefempfänger und potentiellem Spendenempfänger: Selbstverständlich werden auch durch diesen verdeckten Spendenaufruf wieder zwei Gruppen konstituiert, und zwar die Gruppe der Adressaten des verdeckten Spendenaufrufes, also die lieben Freunde unserer missionsdiakonischen Arbeit, und die Gruppe der potentiellen Spendenempfänger. Mit dem wir sind in diesem Brief zum einen die Empfänger und der Autor des Schreibens (z.B. "Wir feiern und sind voll Dank ...") und zum anderen der Briefautor und die Mitglieder der Hilfsorganisation gemeint (z.B. "Wir sagen Ihnen unseren herzlichen Dank ..."). Die potentiellen Spendenempfänger sind von diesem wir und damit auch von dem Kreis der lieben Freunde ausgeschlossen. Ihnen kommt die Mitgliedschaft in der Gruppe zu, die durch "das Wörtchen 'unser'" in der vierten Bitte des Vaterunser umschrieben wird. Unter diese Gruppe fallen alle Menschen und somit auch die Briefempfänger, der Briefautor und die potentiellen Spendenempfänger. Die Bedürftigen sind dem Briefempfänger folglich nahe, weil sie "mitgemeint sind, wenn wir beten: 'Unser tägliches Brot gib uns heute.'" Außerdem sind sich die Briefempfänger und die Bedürftigen, genau wie in den ersten beiden Briefen, in ihrer Eigenschaft als potentielle Schicksalsgefährten nah. Denn die Tatsache, daß die Briefempfänger z.Z. nicht hungern müssen, verdanken sie einzig dem Wohlwollen Gottes. Andereseits sind die Bedürftigen dem Briefempfänger fern, denn sie gehören nicht zu der exklusiven Gruppe, die in diesem Schreiben mit dem wir gemeint ist und die sich dadurch auszeichnet, daß sie mit einer Spende für die gute Lebenslage der Vergangenheit danken kann und sich damit auch für die Zukunft absichert. In den Formulierungen des Briefes wird die Distanzkategorie gleichzeitiger Nähe und Ferne zwischen Briefempfänger und potentiellen Spendenempfängern sehr plastisch dargestellt: '"Brich dem Hungrigen dein Brot'" fordert Pfarrer Hans Rupp und verlangt damit Nähe zum Bedürftigen. Wörtlich genommen müßten die Briefempfänger, wenn sie dem Hungrigen ihr Brot brechen wollen, sich diesen mindestens bis auf Armeslänge nähern. Bei den Hungernden in "Zentralamerika", "Haiti" und in "aller Welt", für die der Briefautor um Unterstützung bittet, wird man mit der Kategorie Armeslänge allerdings nicht sehr weit kommen. Die dem Briefempfänger geographisch fernen Bedürftigen werden ihm also in Zusammenhang mit der Aufforderung, sie zu unterstützen, in einem Distanzverhältnis der Nähe präsentiert. 5.1.4 Zusammenfassung und exemplarische Korpuserweiterung 1. Die drei von uns untersuchten Briefe haben alle eine geschäftliche, behördliche bzw. offizielle Aufmachung (Umschlag, Frankierung, Maschinenschrift, Druck). Die Briefe weisen im Anschreiben eine Spannung auf zwischen privat klingenden Elementen und Elementen, die dem geschäftlich, behördlich-offiziellen Briefver-

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kehr zuzuordnen sind. Als Tonfälle der drei Briefe analysierten wir: Simulation eines Gespräches (Brief 1), Aufruf (Brief 2) und Nähe zur Predigt (Brief 3). 2. In allen drei Briefen wird ausdrücklich die gute Lebenssituation der Briefempfänger thematisiert, bzw. es wurde den Briefempfängern unterstellt, in einer solchen zu leben. Die gute Lebenssituation der Briefempfänger wird in Kontrast gesetzt zur schlechten Lage der potentiellen Spendenempfänger. Die Empfänger der drei Schreiben werden darauf hingewiesen, daß ihre derzeitige gute Lebenssituation sich grundlegend verschlechtern kann. In Zusammenhang damit drohen die Briefautoren mehr oder minder explizit mit der Macht unberechenbarer Schicksalskräfte. 3. Der Spende, so wie sie dem Briefempfänger in den drei Schreiben präsentiert wird, kommen mindestens drei Funktionen zu: Erstens ist sie eine Art Versicherungs- oder Vorsorgemaßnahme für den Spender. Durch eine Spende, die von einer Hilfsorganisation an Bedürftige weitergeleitet wird, läßt sich versorgen für den Fall, daß man schuldlos von einer Behinderung heimgesucht wird (Brief 1), daß man vor einer Naturkatastrophe fliehen muß (Brief 2), und es läßt sich mit einer Spende sichtbar danken für das, was man in der Vergangenheit von einer transzendenten Macht an Nahrung geschenkt bekam, wodurch man sich das Wohlwollen eben jener Macht auch für die Zukunft sichert (Brief 3). Mit einer über eine Hilfsorganisation an Bedürftige vermittelten Spende kann der Spender also sein zukünftiges Schicksal, welches als in der Hand transzendenter Mächte liegend dargestellt wird, positiv beeinflussen. Er vermindert so die Gefahr, daß ihm das gleiche Schicksal wie das der potentiellen Spendenempfänger ereilt. Es liegt hier eine Art Kreislauf vor, in dem sich die vom Spender gegebene materielle Spende wandelt und als immaterielles Gut in Form einer Vorsorgeoder Versicherungsmaßnahme dem Spender selbst wieder zugute kommt. Die zweite Funktion der Spende besteht in ihrer Eigenschaft, Gruppen zu bilden. Die Adressaten der Briefe bilden zwar mit den bedürftigen, potentiellen Spendenempfängern eine große Gruppe, aber sie gehören darüber hinaus der exklusiven, kleineren Gruppe derer an, die a) um eine Spende gebeten werden und die b) mit einer Spende ihr Schicksal positiv beeinflussen kann. Die dritte Funktion der Spende umfaßt die Hilfeleistung für die in den Schreiben präsentierten Bedürftigen. 4. Die Herstellung von Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit bei der Formulierung der Bitte um eine Spende und bei der Darstellung der Bedürftigkeit der potentiellen Spendenempfänger versuchen die Briefautoren im wesentlichen durch folgende Mittel zu gewährleisten: Die Anrede, der Gesamt-Tonfall und die Grußformel der Schreiben sorgen in je unterschiedlicher Ausprägung dafür, daß dem Leser ein hoher Authentizitäts- und Glaubwürdigkeitsgehalt vermittelt wird. Die Palette reicht dabei von der Simulation eines Gespräches und der Erwähnung persönlicher Kontakte der Briefautorin mit den Bedürftigen (Element der Zeugenschaft) (Brief 1) über den Auffruf und die Präsentation internationaler verwaltungstechnischer und organisatorischer Kompetenz (Brief 2) bis hin zur Nähe zur Predigt und zum Einsatz kirchlicher Titel (Pfarrer) (Brief 3). Allen drei Briefen liegt eine Aufforderungsintention zugrunde. Die Aufforde-

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rungsintention ist gepaart mit Dringlichkeitssignalen, die die Notwendigkeit, unverzüglich zu spenden, unterstreichen sollen, und sie gewinnt mit der Setzung von Aktualitätsakzenten an Anschaulichkeit. Der Schilderung der schlechten Lage der Bedürftigen wird immer die gute Lage der Briefempfänger kontrastiv gegenübergestellt. Erst durch die Konstruktion dieses Gefälles wird die schlechte Lage der Bedürftigen für die Briefempfänger anschaulich und einschätzbar. Als Kategorien von Bedürftigkeit werden angeführt Angehörige von Behinderten (Brief 1), Rechtlose, Verfolgte, Vertriebene (Brief 2), Hungernde und Arme (Brief 3). 5. Die Distanz, die den Briefempfängern zu den bedürftigen potentiellen Spendenempfängern vermittelt wird, schwankt zwischen Nähe und Ferne. Die Bedürftigen sind dem Briefempfänger nah, weil sie mit ihm die Mitgliedschaft in großen Gruppen teilen (Landsleute (Brief 1), vom Weltklima Betroffene (Brief 2), Menschen (Brief 3)). Darüber hinaus sind sich die potentiellen Spendenempfänger und die Briefempfänger in ihrer Eigenschaft als mögliche Schicksalsgenossen nah. Die Briefempfänger werden darauf hingewiesen, daß sie aufgrund des Wirkens transzendenter Mächte jederzeit in eine ebenso schlechte Lage wie die potentiellen Spendenempfänger geraten könnten. Andererseits sind die potentiellen Spendenempfänger den Briefempfängern fern, weil sie nicht zu der exklusiven Gruppe der um eine Spende gebetenen lieben Freunde gehören. Alle, die um eine Spende gebeten werden und besonders diejenigen, die aufgrund dieser Bitte spenden, können sich Vorsorge und Versicherung in bezug auf ihr zukünftiges Schicksal verschaffen. Den potentiellen Spendenempfänger ist die Mitgliedschaft in diesem bevorzugten Kreis nicht gegeben. Im Anschluß an diese Zusammenfassung sei darauf verwiesen, daß die unter den fünf Punkten herausgearbeiteten Merkmale von Spendenbriefen nicht nur in den drei von uns untersuchten Schreiben zu finden sind. Wir wollen dies kurz exemplarisch an einem Merkmal belegen: Die Spende wird in den drei Briefen so dargestellt, als schütze sie den Briefempfänger vor Schicksalsschlägen. Der vermittelten Spende, so stellten wir fest, kommt in Zusammenhang mit der expliziten oder nur angedeuten Darstellung einer Bedrohung für den Briefempfänger und möglichen Spender eine Art Vorsorge- oder Versicherungsfunktion zu. Der Spender erhält somit für seine Spende eine Gegenleistung. Hier eine kleine Auswahl von Beispielen für das Vorkommen dieser Funktionszuschreibung der vermittelten Spende auch in anderen Spendenbriefen: In einem Brief der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Geschäftsstelle Niedersachsen, vom "Herbst 1987" heißt es: "(...) vor einem halben Jahr, im März 1987, kenterte vor Zeebrügge das Fährschiff 'Herald of Free Enterprise'. (...) Uns alle haben die Bilder und Meldungen vom Schicksal der Betroffenen tief bewegt. Sicher auch deshalb, weil diese Katastrophe auf so tragische Weise daran erinnert hat, daß menschliches und technisches Versagen nie ganz ausgeschlossen werden können. Ein derart erschütterndes Ereignis mahnt aber auch immer wieder, sich bewußt zu machen, wie wichtig es ist, stets auf diesen extremen Ernstfall vorbereitet zu sein - durch einen leistungs

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starken, modernen Seenotrettungsdienst. (...) Daher an dieser Stelle unsere ganz herzliche Bitte: Unterstützen sie auch weiterhin die Seenotretter (...)"

In einem Brief der Salem-Hüfe vom November 1987 heißt es unter der Überschrift "Licht und Finsternis, Wärme und Kälte": "Um uns herum wird es, auch geistig, von Tag zu Tag dunkler und kälter. Unfriedlicher. Gefährlicher. Was bringt das neue Jahr? Aufschwung? Frieden? Oder Hunger, Krieg, Pestillenz, Seuchen? Möge GOTT der HERR uns gnädig sein. Möge ER auch das SALEM-WERK und alle, die dazugehören, die mitarbeiten, die es durch geistige und geldliche Opfergaben fördern, fühlbar segnen und behüten. Dann kann uns weder Kälte noch Finsternis etwas anhaben."

(Neben der angedeuteten Bedrohung, der mit einer Spende begegnet werden kann, ist hier auch wieder sehr deutlich die Schaffung von Gruppenzugehörigkeit durch die Zahlung einer Spende angesprochen.) Die Deutsche Herzstiftung e.V. schreibt in einem Brief vom Februar 1987: "In der Bundesrepublik Deutschland erkrankt fast jeder zweite an Herz oder Kreislauf. Die Sterberate liegt nahezu dreimal so hoch wie bei Krebs. (...) Die Arbeit der Deutschen Herzstiftung ist zum einen auf die Verhütung von Herz und Kreislaufkrankheiten und zum anderen auf die Rehabilitation bereits Erkrankter ausgerichtet. Die Stiftung bzw. die Ergebnisse ihrer Arbeit helfen Ihnen daher, entweder gesund zti bleiben, oder - falls sie schon erkrankt sind bzw. noch erkranken sollten - mit ihrer Krankheit besser fertig zu werden. (...) Die Arbeit der Deutschen Herzstiftung kostet sehr viel Geld. (...) die Deutsche Herzstiftung ist auf jede Mark angewiesen. Zur Vorlage beim Finanzamt erhalten sie eine Spendenbescheinigung."

In einem Brief des Deutschen Hilfsfonds e.V. vom Januar 1987 finden sich folgende Zeilen: "Vor dem Preisgericht aber werden die Werke, die Taten der Gläubigen entschieden. Jeder Gläubige wird hier eine besondere Belohnung vom himmlischen Vater empfangen. Das Preisgericht Jesu Christi ist vielerorts unbekannt. Das mag auch daran liegen, daß in einigen Bibelübersetzungen das Wort 'Preisgericht' als 'RichtstuhF übersetzt wurde. Hier vor Gottes Preisgericht wird jedem Gläubigen offenbar werden, wie wir auf dieser Erde während unseres Lebens gehandelt haben. (...) Bemühten wir uns, das Schicksal unserer unschuldig in Not geratenen Schwestern und Brüder zu erleichtern oder waren wir gleichgültig? Haben wir aus Liebe zu Gott gespendet, oder haben wir nur von unserem Überfluß gegeben? (...) Jesus Christus wird als unbestechlicher Richter urteilen. Seinen Augen entgeht nichts. Doch nur jene Menschen werden von Jesus belohnt, die barmherzig waren (...) Sie werden in wunderbarer Weise belohnt werden, gesegnet mit himmlischen Gütern. Das wird uns im Wort Gottes ausdrücklich zugesichert."

Soweit einige weitere Beispiele für die der Spende zugeschriebene Funktion, das zukünftige Schicksal des Spenders positiv beeinflussen zu können. Wir haben mit Bedacht zwei Beispiele aus dem Bereich christlich-religiösen und zwei Beispiele aus dem Bereich säkularen Vokabulars ausgewählt, um zu belegen, daß dieses Element, genau wie in den Briefen l und 2, nicht nur von religiös gebundenen Hilfsorganisationen eingesetzt wird.

Die bildlichen Elemente

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5.2 Die Spendenbriefe und ihre bildlichen Elemente Wir schauen uns im folgenden an, wie die Bedürftigen dem potentiellen Spender in den Spendenbriefen bildlich präsentiert werden und welche Übereinstimmungen bzw. welche Differenzen es dabei zum Ausdrucksrepertoire Bettelnder inner halb der Face-to-face-Situation gibt. Wir können im folgenden nur exemplarisch einige Bildbeispiele vorstellen. Dort, wo wir keine Bildbeispiele abbilden, beschränken wir uns auf die Nennung des Motivs mit Angabe der Quelle.10 In zahlreichen Spendenbriefen werden die potentiellen Spendenempfänger auf dem Boden hockend oder kauernd dargestellt.11 Dort, wo die potentiellen Spendenempfänger stehend abgebildet werden, wirken sie durch die Kameraposition kleiner als der Betrachter des Bildes.12 In vielen Fotos sind die potentiellen Spendenempfänger mit körperlichen Gebrechen abgebildet. Sie sind blind, weisen Verstümmelungen oder Amputationen auf, sie werden mit Krücken gezeigt.13 Die Fotos in den Spendenbriefen präsentieren die potentiellen Spendenempfänger häufig in stark beanspruchter, z.T. zerrissener oder auch unvollständiger Kleidung.14 Die Mehrzahl der Hilfsorganisationen wirbt mit der Abbildung von Menschen dunkler Hautfarbe bzw. von Menschen, die im Vergleich zum Briefempfänger deutlich als Fremde erkennbar sind, um Spenden. Insgesamt können wir bereits jetzt festhalten, daß der größte Teil der Ausdruckselemente, die wir anhand der Face-to-face-Situation bei den Bettlern beobachten konnten, sich auch bei den Abbildungen von potentiellen Spendenempfängern in den Spendenbriefen wiederfinden. Allerdings finden sich auch Darstellungen der Bedürftigen, die wir als Konstellationen und Kompositionen nicht aus der Face-to-face-Situation zwischen Bettlern und Spendern kennen. Hier sind vier Punkte zu nennen: 1. Die Abbildung des Blickes des Bedürftigen und damit die Konstruktion eines vermittelten Blickkontaktes zwischen den abgebildeten Personen, für die um Spenden geworben wird, und dem Betrachter des Bildes (z.B. Abb.36). 2. Die Darstellungen von Personen in extremen Notlagen, z.B. in Form ihrer Abbildung als Verhungernde15 bzw. Verhungerte (Abb.37)16 oder als von schwersten Verletzungen betroffen, wortwörtlich bis auf die Knochen entblößt17. In dieser Schärfe kommen die Elemente Hunger und Verletzung in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Face-to-face-Bettel- und Spendesituation bei der direkten Spende zur Zeit nicht vor. 3. Der dritte Bereich von bildlichen Darstellungen Bedürftiger in Spendenbriefen, für den es keine Entsprechungen aus der Face-to-face-Bettelsituation gibt, ist der Bereich der Darstellung der positiven Folgen der Spenden. Die Bedürftigen werden zwar immer noch mit Merkmalen von Bedürftigkeit gezeigt, aber ihnen ist bereits durch Spenden geholfen worden. Ihre Wunden sind nicht mehr offen, sondern (frisch) verbunden18, sie hocken nicht mehr bewegungsunfähig im Staub der Straße, sondern sie sitzen vor einem sauberen Pflegeheim in einem Rollstuhl (Abb.38)19. Nicht selten wird bei dieser Art der Darstellung von Be-

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dürftigen der Gründer oder ein Mitglied der Hilfsorganisation mitabgebildet. Solche Bilder zeigen dann die Vetreter der Hilfsorganisation in einer großen Nähe zu den Bedürftigen. Diese Nähe geht z.T. bis zur Abbildung von Berührungen. Die Vertreter der Hilfsorganisation werden in der Regel größer als die Bedürftigen dargestellt und beugen sich z.T. zu den nunmehr Versorgten hinab20. 4. Die vierte Variante der Darstellung Bedürftiger, die wir nicht aus der Selbstpräsentation Bettelnder bei der direkten Spende kennen, verzichtet auf den Einsatz von Merkmalen wie z.B. Unterernährung, Verstümmelung, mangelhafte Kleidung etc. Hier werden die meist farbigen, potentiellen Spendenempfänger beispielsweise lachend21 oder arbeitend22 abgebildet. Der dunklen oder schwarzen Hautfarbe kommt in diesen wie in vielen anderen Fotos der Spendenbriefe die Funktion des Anzeigens allgemeiner Bedürftigkeit zu. Eine genauere, visuelle Information über Art und Umfang der Bedürftigkeit wird hier nicht übermittelt. Vielmehr wird direkt oder indirekt auf die positiven Wirkungen der Spende verwiesen, indem die ehemaligen Bedürftigen jetzt z.B. über Arbeitsgerät verfügen und sich deshalb selbst versorgen können. Viele der Fotos und Zeichnungen in den Spendenbriefen bilden keine kompletten Bettelszenen im Sinne unserer Definition ab. Diejenigen, um derentwillen die Briefautoren um Spenden bitten, werden zwar hockend dargestellt, die explizite Hinwendung zum Betrachter in Form einer ausgestreckten Hand oder eines Bettelgefäßes, wie wir sie aus der Bettelszene in der Face-to-face-Situation kennen, fehlt aber häufig. Statt dessen findet sich eine ausgesprochen detaillierte und z.T. drastische Darstellung von Bedürftigkeitsattributen wie verstümmelte Glieder oder ausgezehrte Leiber. Die Fotos, die keine Bettelszenen darstellen, bekommen ihre konkrete Bedeutung und damit ihre Aufforderungsintention und Hinwendung zum Betrachter erst durch das Zusammenspiel mit den Texten der Spendenbriefe und durch die beiliegenden Einzahlungsformulare. Zu all den Abbildungen aus den Spendenbriefen, die keine Bettelszene darstellen, ließen sich, wenn man sie ausschließlich so isoliert betrachtet, wie sie hier wiedergegeben sind, zahllose unendliche Geschichten erzählen, sprich endlose Kontexte konstruieren. Erst durch das Zusammenwirken von Texten und Einzahlungsformularen mit den Bildern erhalten die Bilder Deutungsvorzeichen und werden aus ihrer potentiellen Vieldeutigkeit herausgehoben. So heißt es z.B. in einem Text zur Abb.37: "Ein Patient -10 Jahre alt, verhungert. Schon eine kleine Spende kann große Hilfe leisten. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch die Frachtkosten aufzubringen sind. Luftfracht ist teuer (...)", und unter einem Foto, welches ein von Bomben zefetztes Kind zeigt, steht folgender Text: "Unter dem Motto 'Deutsche helfen Afghanistan' leistet HELP den Afghanen strikt humanitäre Hilfe. Um diese Hilfe leisten zu können, bittet HELP um Spenden." Diese Texte lassen durch ihre Aufforderungsintention dem Briefempfänger für die Deutung der Bilder kaum noch Spielräume. Dem Empfänger des Briefes wird schriftlich und bildlich unmißverständlich klar gemacht, daß die abgebildeten Personen bedürftig sind und dringend eine Spende benötigen. Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen: Die bildlichen Darstellungen potentieller Spendenempfänger in den Spendenbriefen sind mit den Ausdrucks-

Spendenbriefempfänger

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elementen von Bedürftigkeit vergleichbar, die Bettler in der Face-to-face-Situation bei der direkten Spende einsetzen. Die Palette reicht dabei von der Abbildung Hockender oder Kauernder über die Abbildung von Verstümmelten bis zu Bildern von notdürftig oder schlecht bekleideten Personen. Das heißt, beim direkten Betteln und Spenden und bei der vermittelten Werbung um Spendenfinden sich vergleichbare - mit begrenzten, historisch gewachsenen und relativ stabilen Ausdrucksvarianten operierende - Darstellungen von Bedürftigkeit. Im Falle des direkten Betteins liegt dieser Darstellung eine Selbstpräsentation der Bettelnden zugrunde, im Falle der vermittelten Spendenwerbung werden die Bedürftigen dem potentiellen Spender in Form von Fotos und Zeichnungen in eben diesen immer wiederkehrenden, begrenzten Ausdrucksvarianten von einem Briefautor präsentiert. Die Darstellung Bedürftiger in Form von Fotos und Zeichnungen geht z.T. über das beim direkten Betteln und Spenden beobachtete Repertoire des Ausdrucks von Bedürftigkeit hinaus. Fotos von akut Verletzten mit blutenden Wunden oder Nahaufnahmen von Geschwüren sind keine Seltenheit. Werden Vertreter der Hilfsorganisationen mit Bedürftigen abgebildet, dann erscheinen diese Vertreter in der Regel größer als diejenigen, denen geholfen werden soll. Außerdem berühren die Vertreter der Hilfsorganisationen die Bedürftigen bzw. werden sehr nah bei ihnen abgebildet. Für diese Nähe gibt es keine Entsprechung innerhalb der Face-to-face-Situation beim direkten Betteln und Spenden. In den Fotos werden an den Bedürftigen z.T. auch die positiven Folgen der Spenden gezeigt. Lachende, wohlgenährte Menschen (meist dunkler Hautfarbe), die z.B. an von Spendengeldern gekauften Maschinen arbeiten, gehören zum Bildrepertoire der Spendenbrief-Produzenten. Die Distanz, die dem Briefempfänger zu den abgebildeten Bedürftigen vermittelt wird, ist jeweils so nah, daß die Signale der Bedürftigkeit ausreichend gut erkannt werden können. Der dem Betrachter durch die Kameraperspektive vermittelte Blickwinkel verläuft entweder von oben herab, vom Betrachter auf die Bedürftigen oder in einer relativ waagerechten Linie. In unserem gesamten Bildmaterial findet sich keine Abbildung, die die Bedürftigen in einer Perspektive darstellt, in der der Betrachter sie von unten nach oben sieht, so daß die Bedürftigen als über ihm stehend erscheinen. Hier finden sich also Entsprechungen zu dem mit sprachlichen Mitteln konstruierten Gefalle zwischen Briefempfängern und Bedürftigen und zu der Konstruktion eines Gefälles, wie wir es vom direkten Betteln und Spenden kennen. 5.3 Schriftliche Äußerungen von Spendenbriefempfängern Uns interessiert das Beziehungsgeflecht, welches die mit der Spende in Zusammenhang stehenden Handlungen hervorbringen. Also gilt es, etwas über die Spender zu erfahren, die sich der vermittelten Spende bedienen. Wir konnten in diesem Fall nicht einfach analog zur direkten Spende in der Face-to-face-Situation Spender bzw. Empfänger von Spendebriefen befragen, weil uns solche im Falle

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der vermittelten Spende nicht in der nötigen Anzahl zur Verfügung standen. Deshalb haben wir die Archive des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) in Berlin nach Reaktionen von Spendenbrief-Empfängern durchgesehen. Das DZI leistet u.a. die Aufgabe, Hilfsorganisationen in Hinblick auf den Einsatz der Spenden zu kontrollieren und interessierte Spender auf Anfrage über die Glaubwürdigkeit und Seriosität von Hilfsorganisationen zu informieren. Pro Jahr erhält das DZI über 12.000 Anfragen von Bürgern, die spenden wollen bzw. gespendet haben. Uns liegen ca. 150 Anfragen von Spendern bzw. potentiellen Spendern an das DZI vor. Aus diesen Anfragen zitieren wir einige Beispiele (die Briefautoren bleiben dabei anonym). Die Mehrzahl der Briefe ist knapp und im Geschäftston gehalten. Die Briefautoren bitten in ihren Schreiben in der Regel um Auskunft über eine oder mehere Hilfsorganisationen. Zwei Beispiele mögen illustrieren, wie solche Briefe aussehen: Brief a) (Adresse, Ort, Datum) "Sehr geehrte Herren! An die 'Christoffel Blindenmission e.V. 6140 Bensheim' zahle ich seit einigen Jahren sporadisch Geldbeträge in Form von Spenden. Aufgrund eines Hinweises aus meinem Bekanntenkreis erlaube ich mir die Anfrage, ob Sie mir über die o.a. Organisation Näheres mitteilen können. Es interessiert mich besonders, inwieweit von mir gezahlte Gelder tatsächlich zu dem angegebenen Zweck, der Hilfe in Entwicklungsgebieten, verwendet werden. Mit freundl. Gruß" (Unterschrift)

Brief b) (Adresse, Ort, Datum) "Sehr geehrte Damen und Herren, Anfang November 19xx habe ich eine Kinderpatenschaft für ein Kind in Mexiko übernommen. Der Monatsbeitrag beträgt 45,-- DM. Die Kinderpatenschaft wird überwacht von: World Vision, Oberursel bei Frankfurt. Können Sie mir Auskünfte darüber geben, ob diese Institution seriös ist und ob die Beiträge auch sinnvoll verwendet werden? Ich bitte um ihre Auskunft und verbleibe mit freundlichen Grüßen (Unterschrift)"

Neben diesen eher knappen Briefen, aus denen ein deutlicher Zweifel an der Seriosität von Hilfsorganisationen spricht, gibt es auch noch eine andere Sorte von Briefen an das DZI. In diesen Briefen fragen die Briefautoren zwar auch nach der Seriosität und Glaubwürdigkeit bestimmter Hilfsorganisationen, aber sie kleiden ihre Anfrage in z.T. ausführliche Schilderungen ihrer eigenen Lebenssituation. Wir zitieren auszugsweise fünf Beispiele: Brief c) "... In der Anlage übersende ich Ihnen zwei Bittbriefe, die mir in den letzten Tagen zugeschickt

Spendenbriefempfänger

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wurden. Besonders in der Weihnachtszeit häufen sich solche Bitten von Organisationen, von denen man gar nicht weiß, ob sie förderungswürdig sind oder ob es sich um Scheinfirmen und Scheinorganisationen handelt.... Diese Bittbriefe nehmen aber so Überhand, daß man eigentlich gar nicht mehr leben kann, ohne ständig mit einem schlechten Gewissen herumzulaufen. Man hat ein schlechtes Gewissen, wenn man sich an einen gedeckten Tisch setzt, sich ein neues Kleidungsstück anschafft oder sich gar im Urlaub verwöhnen läßt, um sich möglichst gut zu erholen und seine Arbeitskraft aufzufrischen. ... Es ist kaum einer in Deutschland so arm, daß er sich nicht eine Weile noch mehr einschränken und Verzicht üben könnte ..."

Brief d) "... Die Christoffel-Blindenmission e.V., 6140 Bensheim, ist mir seit Jahren als treue Hilfsorganisation bekannt. Ich habe mir vorgenommen, ihr nach meinem Tode eine beachtliche Geldsumme zukommen zu lassen. ..."

Brief e) "... Meine 91jährige Mutter hat ihr Testament, das bisher die Berücksichtigung der Norddeutschen Mission sowie der Christoffel-Blindenmission vorsah, aufgrund einiger Werbeschriften zugunsten einer Organisation 'Evangelium in Spanien', evtl. einem Zweig des Fliednerwerkes geändert. Ich wäre ihnen sehr dankbar für die Mitteilung, ob Sie diese Organisation kennen und wie Sie sie beurteilen ..."

Brief f) "... Wenn ich bald den 1. Bausparvertrag für mein Altbauhäuschen und in ein paar Jahren auch den 2. Bausparvertrag abbezahlt habe, möchte ich von dem Geld, das mir dann zusätzlich zur Verfügung steht, einen Teil als Gabe einer Wohltätigkeitsorganisation meiner Wahl zukommen lassen ..."

Brief g) " ... Ich bin nicht vermögend sondern Rentner. Ich habe in der Zeit einer 5-jährigen russ. Kriegsgefangenschaft kennengelernt, was Hunger bedeutet und welche Tiefen Menschen durchschreiten müssen bis sie an Unterernährung sterben müssen. Die öfters gezeigten Bilder in Presse und Fernsehen haben mich veranlaßt, wenigstens einem Kind zu helfen. Dies ist für mich ein echtes Opfer und ich möchte gerne die Gewißheit haben, daß die Hilfe auch ankommt.

Wir gehen auf der Ebene des ersten Interpretationsschrittes bei diesen brieflichen Anfragen von Spendern an das DZI nicht ins Detail, halten aber fest, daß auf seilen der Spender - ebenso wie bei den Spenderbefragungen bei der direkten Spende - zwei Elemente immer wieder zum Ausdruck gebracht werden: Erstens der Zweifel an der Seriosität der Hilfsorganisationen, die um Spenden bitten (Briefe a und b) und zweitens der Vergleich der eigenen (jetzt guten) Lebenssituation des Briefautors mit der schlechten Lage der bedürftigen, potentiellen Spendenempfänger (Briefe c, f und g). Durch diesen Vergleich wird das in den Texten und Bildern der Spendenbriefe konstruierte Gefalle zu den Bedürftigen betätigt und ausgebaut. Der Vergleich der guten Lebenssituation des potentiellen Spenders mit der schlechten Lage der Bedürftigen und damit die Akzeptanz des Kontrastes bzw.

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Gefälles zwischen Bedürftigen und Angebettelten, ließ sich auch in den Interviews mit Spendern und Nichtspendern und in den Texten der Spendenbriefen nachweisen. Aber es findet sich in den schriftlichen Äußerungen von Spendern bzw. potentiellen Spendern noch eine weitere Variante der Artikulation der eigenen Situation, diesmal allerdings nicht im Vergleich zur Situation der bedürftigen Spendenempfänger, sondern in der Verbindung von Spende und Testament bzw. Spende und (eigenem) Tod (Briefe d und e). Diese Verbindung ist bis "heute weit verbreitet und findet sich z.B. in vielen Todesanzeigen in Tageszeitungen.23 Die Verbindung von Spende und Testament, Tod und Begräbnis ist keineswegs eine neuere Erfindung, sondern weist eine lange historische Tradition auf.24 In den uns vorliegenden Reaktionen von potentiellen Spendern auf den Erhalt eines oder mehrerer Spendenbriefe tauchen zwei somit Elemente immer wieder auf: Zum einen äußern die potentiellen Spender Zweifel an der Seriosität der Hilfsorganisation, zum anderen setzen sie ihre gute Lebenssituation in Beziehung zur schlechten Lage der Bedürftigen und akzeptieren damit das von den Briefautoren konstruierte Gefalle zu den potentiellen Spendenempfängern. Die eigene Lebenssituation wird auch artikuliert bei der Verbindung von Spende und Testament bzw. Spende und Tod. 5.4 Erste Beschreibung des Handlungstypus vermitteltes Betteln und Spenden Bei der ersten Beschreibung dieses Handlungstypus betrachten wir aus Gründen der Darstellung das vermittelte Betteln bzw. das vermittelte Spendenwerben zunächst getrennt vom vermittelten Spenden. Vermitteltes Betteln operiert sowohl auf der textlichen wie auf der bildlichen Ebene der Spendenbriefe mit der Konstruktion eines Kontrastes zwischen potentiellen Spendern und potentiellen Spendenempfängern.25 Dieser Kontrast hat den Charakter eines Gefälles. Auf der Ebene der Texte wird die geschilderte gute Lebenssituation der potentiellen Spender mit der geschilderten schlechten Lebenssituation der potentiellen Spendenempfänger kontrastiert. Das dabei entstehende Gefalle findet seine Entsprechung in der bildlichen Darstellung der potentiellen Spendenempfänger. Sie werden häufig in einem Blickwinkel dargestellt, der vom Betrachter des Bildes aus gesehen, von oben nach unten verläuft.26 Das Gefalle zwischen den potentiellen Spendern und den potentiellen Spendenempfängern wird noch verstärkt durch die textliche und bildliche Darstellung der Gebrechen der potentiellen Spendenempfänger. Unterernährung, Verstümmelung, Behinderung oder Krankheit etc. werden ausführlich präsentiert und dienen als Offenlegung und Ausweis der Bedürftigkeit und damit als Unterstreichung der Berechtigung, Spenden zu empfangen. Die potentiellen Spendenempfänger werden in der Regel in einer Position der Schwäche dargestellt. Mit der Konstruktion dieses Gefälles gleicht das vermittelte Betteln dem direkten Betteln. Auch dort findet sich das Element der Hinwendung zum potentiellen Spender. In den Spendenbriefen ist diese Hinwendung in die schriftliche Aufforderung, eine Spende zu überweisen, geklei-

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det. Die beigelegten Einzahlungsformulare unterstützen den Aufforderungscharakter der Spendenbriefe. Insgesamt können wir also festhalten, daß vermitteltes Betteln um Spenden mit den gleichen Mitteln (Konstruktion eines Gefälles und auffordernde Bitte an denpotentiellen Spender) operiert wie das direkte Betteln. Der Begriff Betteln ist demnach für diese Art der Spendenwerbung - auch wenn sie stellvertretend für die abwesenden Bedürftigen stattfindet - durchaus angemessen. Die szenischen Arrangements werden zwar mit unterschiedlichen Darstellungsformen konstruiert (innerhalb der Face-to-face-Situation beim direkten Betteln und durch Texte und Abbildungen beim vermittelten Betteln), sind aber trotzdem vergleichbar. 5.5 Der aktuelle Handlungstyp vermitteltes Betteln und Spenden und seine historischen Vorgänger. Vermitteltes Betteln und Spenden in Abwesenheit der Bedürftigen hat, wie uns der historische Rückblick zeigte, zumindest im christlichen Kulturkreis eine lange Tradition. Die Spendebereitschaft wurde im Christentum lange Zeit über das in der Predigt gesprochene Wort und das Aufstellen bzw. Herumreichen von Opferstöcken bzw. Klingelbeuteln im Kirchengebäude angeregt. Wir wollen jetzt nicht noch einmal auf die verschiedensten historischen Varianten vermittelten Betteins und Spendens eingehen, sondern uns wie beim direkten Betteln und Spenden mit Hilfe von Gemälden und Zeichnungen den Darstellungen der Formen vermittelten Betteins und Spendens zuwenden. Spätestens seit dem Mittelalter war das vermittelte Betteln nicht nur mit dem gesprochenen Wort, sondern auch mit der Präsentation von Bildern oder Skulpturen verbunden. So standen in den Kirchen Sammelbehälter bereit, in die der Spender vor und nach dem Gottesdienst oder der Beichte seine Spende legen konnte. Die Sammelbehälter bildeten oft eine gestalterische Einheit mit Bildern und Skulpturen. Diese Bilder und Skulpturen zeigten anfangs nicht anonyme Bedürftige, sondern Maria, Jesus oder verschiedene Heilige: "Marien- und Heiligenbilder am oder beim Opferstock waren im Mittelalter sehr häufig, einige wenige überlebten in ihrem alten Zusammenhang. (...) Opferstöcke bei Marienbildern - nicht nur Gnadenbildern - sind bezeugt in Höxter 1310, Obernkirchen 1368, Düsseldorf 1392, Bremen 1417, Köln 1431, Straßburg 1440 etc. Noch heute steht ein urtümlicher Opferstock, aus einem Baumstamm gehauen und schwer mit Eisen beschlagen, neben einer reich mit Silbervotiven behängten Madonna des späten 13. Jahrhunderts im Portal der Marienkirche von Tongern."27 In einem Bild von Hans Scheufelin von 1522 ist Christus als Schmerzensmann mit blutenden Wunden zu sehen. Er schwebt auf einer Opfertruhe, die ihrerseits von hockenden Bedürftigen und von Spendern umgeben ist. Die Spender überreichen, sich herabbeugend, ihre Gaben entweder direkt den hockenden Bedürftigen oder sie stecken sie, sich ebenfalls herabbeugend, in die Schlitze der mit Schlössern gesicherten Opfertruhe. Wir haben es also auch hier mit der Dar-

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Stellung eines Gefälles und der Abbildung von Akten des Sich-Herabbeugens zu tun. Am unteren Bildrand findet sich in der Mitte der Text: "Daniels capi. IIII. Gebene ewer heilig almusen den armen, so wierdet sich Got über ewr Sund erbarmen." Den Spendern wurde also Sündenvergebung in Aussicht gestellt. "Das Bild hing ursprünglich um eine Säule gebogen über dem Almosenkasten in der St. Georgskirche."28 Ein Aquarell der Innenansicht der St. Georgskirche zu Nördlingen zeigt, daß das Bild noch um 1820 an diesem Ort hing.29 Wenn man sich vor Augen führt, daß dieses Bild über einem Almosenkasten hing, der ja seinerseits bereits die holzgewordene Aufforderung zur Spende zugunsten abwesender Bedürftiger darstellt, dann haben wir mit diesem Ensemble einen Beleg für eine mindestens drei Jahrhunderte dauernde verdoppelte Aufforderung zur Spende für Arme bei deren gleichzeitiger Abwesenheit. Es gab auch Varianten, in denen weder Heilige noch Arme dargestellt wurden, sondern nur der sich herabbeugende Spender in gestalterischer Einheit mit einem Sammelgefäß (Abb.39). "Man sieht (...) einen, nicht eben mageren, Lübecker Bürger in Aktion, der gerade Münzen aus einer flachen rechteckigen Schale in den (später erneuerten) Opferstock schüttet. Die Figur, ehemals neben dem Lettner von St. Marien in Lübeck, wurde um 1525 von Benedikt Dreyer geschnitzt. Der ursprüngliche Zusammenhang kann ähnlich gewesen oder jedenfalls geworden sein wie bei der gezeigten Almosentafel von Schäufelein, d.h. es ist möglich, daß die Figur von Anfang an oder wenig später zu einem Armenkasten gehörte, zur Mildtätigkeit gegenüber den Bedürftigen, den weniger gut genährten auffordern sollte."30 Auch "die Ärmsten, die selbst auf Mildtätigkeit angewiesen waren, opferten, so die Aussätzigen im Wallfahrtsort Bogenberg/Niederbayern. Auf ihrem Opferstock liest man: gab der sundersiechen (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts)." 31 Ein eindrucksvolles Beispiel für die gestalterische Einheit von Skulptur und Opferstock ist der Opferstock der Friedhofskapelle in Wegenscheid aus dem frühen 18. Jahrhundert (Abb.40). "Der Geldkasten ist durch ein starkes Brett mit liegender Christusfigur verschlossen. Diese hat an der Stelle der Seitenwunde einen Schlitz zum Einwerfen des Opfergeldes."32 Ein ähnliches Beispiel findet sich in der Christusfigur vom Heiligen Grab des Klosters Mödingen/Schwaben, gegen 1300 (Abb.41). "Die quadratische Aussparung hat einen Falz, konnte (...) verschlossen werden. Daß sie von Anfang an für Opfergaben bestimmt war, mutet unwahrscheinlich an. Bekannt ist ja, daß man in solchen Figuren am Karfreitag das Sakrament barg, den in der Hostie präsenten Christus in seinem Bild."33 Bei dieser Art der Verbindung von Skulptur und Opferstock gelangte also die Spende in den dargestellten Körper des Gottes.34 Es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele für die Verbindung von bildlichen Darstellungen und Spendemöglichkeit innerhalb von Kirchen und Kapellen.35 Dort, wo sie nicht mehr existieren, verweisen bis heute z.B. Rechnungen auf die ursprüngliche Einheit von Opferstock und Skulptur bzw. Gemälde. Neben diesen immobilen Verbindungen von bildlichen Darstellungen und Aufforderungen zur Spende gab es die Möglichkeit, die Bilder und Skulpturen über Land zu transportieren, um die Betrachter dieser Werke zur Spende zu

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veranlassen. "So wie man Bilder neben oder über dem Opferstock aufstellte, so hat man auch mit transportablen Bildern gesammelt, ebenso wie mit Reliquien. Schon 1266 verbot eine Magdeburger Synode, Bilder außerhalb der gewohnten Festtage zum Sammeln herumzutragen."36 Die Präsentation von Bildern oder Skulpturen wurde aber nicht nur beim vermittelten Betteln und Spenden eingesetzt. Auch beim direkten Betteln und Spenden benutzten Bettler Bilder oder Skulpturen. "1502 malte Hans Burkmair vor San Giovanni in Laterano einen verkrüppelten Pilger/Bettler, der mit einer Statuette der heiligen Barbara das Almosen erbittet, der Patronin für einen guten Tod."37 (Abb.42). (Das direkte Betteln in Verbindung mit der Präsentation von religiösen Symbolen wird, wie wir sahen, bis heute praktiziert (Abb.19 u. Abb.20).) Eine Überlegung nach einer Alternative zur relativ kostspieligen Präsentation von Bildern oder Skulpturen zum Zwecke der Sammlung von Spenden ist aus dem englischen Salisbury im 17. Jahrhundert belegt. In jedem Gasthaus, so ein Vorschlag der Behörden dieser Stadt, muß eine Opferbüchse für die Armen aufgestellt werden, "bei der immer zwei Bettler stehen sollen, um auf diese Weise an das Gebot der Nächstenliebe zu erinnern und Mitleid zu erwecken."38 Hier sollten zwar zwei leibhaftige Bettler neben der Sammelbüchse aufgestellt werden, die Spende sollte der Spender aber nicht ihnen überreichen, sondern in die Sammelbüchse legen. Die Bettler sollten also nach dem Vorschlag der Behörden von Salisbury als preiswerte lebende Skulpturen eingesetzt werden. Dem gegenüber hat schon Bernhard von Clairvaux darauf hingewiesen, daß hohe Investitionen in Bilder oder Reliquienschreine einen die Investitionssumme übersteigenden Gewinn erbringen.39 Die Tradition der Abbildung von Bedürftigen in Verbindung mit der Aufforderung zur Spende und der Bereitstellung eines Sammelgefäßes ist im kirchlichen Bereich bis heute lebendig, wie das Beispiel eines mit einem Plakat, Prospekten und einem Foto versehenen Opferstockes aus dem Essener Münster zeigt (gesehen Ostern 1991). Der Spender blickt, während er sich beugt, um seine Spende in den Opferstock zu legen, auf die Abbildung der Bedürftigen herab. Auch hier wird also von denen, die stellvertretend für die abwesenden Bedürftigen betteln, und durch den Spender, ein Gefalle konstruiert. Abschließend sei noch auf eine Tradition des Bildaufbaus und damit der Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Helfenden und Bedürftigen hingewiesen. Wir haben einige Beispiele von Fotos aus Spendenbriefen zitiert, in denen Berührungsszenen zwischen Vertretern von Hilfsorganisationen und Bedürftigen abgebildet sind (z.B. Abb.38). Die Komposition und Gestaltung dieser Fotos weist durch ihre herabbeugende Bewegung des Helfenden zu den Bedürftigen eine Nähe zur künstlerischen Darstellung von Heilungsszenen auf, in denen Jesus sich heilend und berührend zu den Bedürftigen und Gebrechlichen herabbeugt. (So z.B. in El Grecos Blindenheilung von 1577). Es gibt also eine lange Tradition der Verbindung von bildlichen Darstellungen Bedürftiger mit der Aufforderung zur Spende. Die Abbildungen, die überwiegend in gestalterischer Einheit mit Sammelbehältern gefertigt wurden, standen oder hingen in sakralen Räumen oder an deren Grenzen. Die Verbindung von bildli-

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chen Darstellungen von Bedürftigen mit der Aufforderung zur Spende in einem sakralen Raum läßt sich bis heute nachweisen. Aber nicht nur der Klerus bettelt auf diese Weise. Auch Straßenbettler verwenden seit langer Zeit die Präsentation religiöser Symbole beim direkten Betteln. Soviel zunächst zum vermittelten Betteln und Spenden. Wir wollen damit die Vorstellung des Datenmaterials und die ersten Beschreibungen der Handlungstypen des direkten und des vermittelten Betteins und Spendens abschließen und uns nun der Deutung des Bettel- und Spendephänomens zuwenden, um daran anschließend das soziologische Resultat unserer Arbeit formulieren zu können.

Anmerkungen 1 Wir sprechen hier zunächst wieder im alltagssprachlichen Sinne von Betteln bzw. von Spendenwerbung. Erst am Ende dieses Kapitels werden wir den Handlungstyp direktes Betteln mit den heutigen Formen des vermittelten Betteins bzw. der Spendenwerbung vergleichen, um dann zu entscheiden, ob wir es hier mit Betteln im Sinne unserer Definition zu tun haben. 2 Wir wollen an dieser Stelle nicht detailliert auf die Methode des Direkt-Marketing oder mailing eingehen, nach der die Bettel- bzw. Spendenbriefe versandt werden. Es soll der Hinweis genügen, daß die Briefe aufgrund EDV-gesteuerter Adressenlisten versandt werden. Dabei hat sich herausgestellt, daß Empfänger von Spendenbriefen, von denen bekannt ist, daß sie schon einmal nach Empfang eines Bettelbriefes gespendet haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder spenden als Empfänger, die noch nie mit einer Spende auf einen solchen Brief reagierten. Die Adressen von Spendern sind daher in Spendenwerbekreisen höchst begehrt. Dazu siehe: Prochazka, Klaus (1982): Spendenwerbung - Aufbau, Ablauf, Fragen, in: Borgmann-Quadde, Rainer (Hrsg.) (1982): Stichwort Spendenwesen. Berlin. S.32ff. Bettel- bzw. Spendenbriefe sind, auch wenn sie in einem noch so persönlichen Ton gehalten sind, Massenprodukte, das heißt, jeder Brief einer bestimmten Serie hat exakt den gleichen Wortlaut. Zum Thema der Werbung für sogenannte soziale Zwecke siehe u.a. auch: Holscher, Claus (1976): Sozio-Marketing - Eine Untersuchung der außengerichteten Funktionen sozialwirtschaftlich tätiger Einzelwirtschaften. Diss. Augsburg. Holscher, Claus (1976): Sozio-Marketing: Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. In: Meyer, Paul W. und Hermanns, Arnold (Hrsg.) (1976): Praxisorientiertes Marketing Ansätze und Perspektiven. Stuttgart. Kotler, Philip (1978): Marketing für Nonprofit-Organisationen. Stuttgart. Seiler, Peter (1984): Spendenmarkt und Spendenmarketing in der Bundesrepublik Deutschland - Eine kritische Analyse. Diplomarbeit, Augsburg. 3 "Die meisten Spendenbriefe gehen als Standardmassendrucksache zur Post - zum günstigsten Gebührensatz, den die Post ihren Kunden gewährt." Prochazka, Klaus: Spendenwerbung - Aubau, Ablauf, Fragen. A.a.O. S.36 4 Durch die schriftliche Bitte um Informationsmaterial bei 74 spendensammelnden Hilfsorganisationen gelangte mein Name und meine Adresse in die Computer der DirektWerber. In der Regel erhielt ich von den Hilfsorganisation als erstes Antwortschreiben einen persönlichen, individuellen Brief mit einem Dank für meine Anfrage und einer kurzen Information über das Tätigkeitsfeld der einzelnen Hilfsorganisation. Danach wurde ich dann unaufgefordert mit den allgemeinen Spendenbriefen der verschiedensten Hilfsorganisationen

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versorgt. Alle zitierten Beispiele von Spendenbriefen stammen aus Serien, wie sie jeder andere Empfänger auch erhalten hat. "Besonders das (Umschlagsformat) DIN-Lang wird vorwiegend im offiziellen Schriftverkehr benutzt und hat dann in der Regel ein Sichtfenster (...). Dieses Format verweist neben einigen anderen "auf den offiziellen Handlungsbereich, vor allem Geschäfts- und Behördenverkehr." Ermert, Karl (1979): Briefsorten - Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen. S.lll und S.112 "Private Briefe und halboffizielle Briefe mit privatem Absender werden durch Briefmarken freigemacht, während halboffizielle Briefe mit offiziellem Absender und volloffizielle Briefe häufig mit Hilfe von Frankiermaschinen freigestempelt werden." Ebenda S.112 In unserem Fall liegt eine Drucksache vor, die wir ebenfalls eher im geschäftlich-offiziellen, denn im privaten Bereich verorten. "Handschriftlichkeit verweist in der Regel auf den privaten Handlungsbereich (...) Maschinenschriftlichkeit auf halb- oder volloffizielle Korrespondenz. (...) Gedruckte bzw. vervielfältigte Briefe finden sich nur im offiziellen Bereich." Ebenda S.115 "Wichtig für die Charakteristik des Briefes ist die grundsätzliche Möglichkeit auch zu privater, intimer, persönlich gefärbter Kommunikation, die die Person des Schreibers und des Empfängers bewußt miteinbezieht. Diese grundsätzliche Möglichkeit färbt auf die Briefkommunikation allgemein ab und wird auch dann häufig als Fiktion aufrecht erhalten, wenn, wie in der Korrespondenz mit Behörden und im Geschäftsverkehr, das persönliche Moment faktisch verschwindet." Ebenda S.57 In: Motor & Reisen. 5/88. S.5 "Die Verbindlichkeit einer Aufforderung kann unter zwei Aspekten beschrieben werden, einmal hinsichtlich der Absicht des Schreibers, zum anderen hinsichtlich des tatsächlich entstehenden Zwangs für den Empfänger eines Briefes. (...) Einer Zahlungsaufforderung (z.B.), auch wenn sie sprachlich in der Form einer Bitte gekleidet ist (...), wird der säumige Schuldner nach Kräften nachkommen müssen, wenn er nicht u.U. ernsthafte Folgen riskieren will." Ermert, Karl: Briefsorten - Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. A.a.O. S.72f. Was der Empfänger des Briefes der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. riskiert, wenn er der Bitte um eine Spende nicht nachkommt, wissen wir bereits: er versäumt es, sein zukünftiges Leben gegen Schicksalsschläge abzusichern. Implizit liegt hier also eine starke Aufforderungsintention vor. "Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, daß alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden." (l.Mose 7.19) Die Jahreszahlen geben, falls keine Information über das Erscheinungsdatum vorliegen, das Jahr an, in dem uns das Material von der jeweiligen Hilfsorganisation zugesandt wurde. Dieses Element findet sich z.B.: bei der Aktion Leprahilfe e.V. Soest, Prospekt 1986, Titelbild (Abb.35) bei der Chistoffel-Blindenmission Bensheim, Prospekt Sept./Okt. 1989, S.16 bei dem Deutschen Institut für ärztliche Mission, Prospekt Nov./Dez. 1987. S.4 bei der Adventistischen Entwicklungs- und Katastrophenhilfe e.V., Beilageblatt Aug. 1988 (Abb.36) bei der Heilsarmee, Prospekt Nr.3 1987, Titelblatt bei dem Kinderhilfswerk für Afrika e.V., Prospekt 1988, S.2 bei Brot für die Welt, Prospekt 1986/87, S.13

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Vermitteltes Betteln und Spenden

12 So z.B.: bei Brot für die Welt, Jahresbericht 1987, S.41 13 Weiterhin z.B.: bei der Bundesgemeinschaft Hilfe für Behinderte, Prospekt 1988, Titelblatt oder bei der Ceylon-Direkthilfe e.V., Prospekt September 1987, S.4. 14 So z.B.: bei dem Spangenberg-Sozial-Werk e.V., Prospekt 1988, S.8, bei der Adventistischen Entwicklungs- und Katastrophenhilfe e.V., Prospekt Aug. 1988, bei dem Päpstlichen Missionswerk der Kinder in Deutschland, Prospekt 1988, S.14, bei dem Internationalen Hilfsfond, Prospekt Juli/August 1988, S.8.) 15 action medeor, Prospekt 1988, S.4 16 Kinderhilfswerk Bergen, Prospekt 1988, S.8 (Abb.37) 17 HELP - Hilfe zur Selbsthilfe e.V., Prospekt 1986, S.2 18 Allgemeine Missions-Gesellschaft, Prospekt 1985, S.34 19 Kinderhilfswerk für die dritte Welt e.V.,Prospekt 1988, S. 17 (Abb.38) 20 Allgemeine Missions-Gesellschaft, Lepra Report 1987/88, S.4 21 Brot für die Welt, Prospekt, 1986/87, Titelblatt 22 Eritrea-Hilfswerk in Deutschland e.V., Prospekt 1988, S.ll 23 Folgende drei Beispiele seien zitiert: "Anstelle freundlichst zugedachter Kränze und Blumen wird um eine Spende zugunsten des Rauhen Hauses, Hamburg, Postgiro Hamburg Kto.-Nr.5528-204, BLZ 200 100 20, gebeten." (DIE WELT 13.12/88) "Anstelle von Kranz- und Blumenspenden bitten wir um die Unterstützung der Stiftung Menschen für Menschen, Kto.-Nr.700 000 bei der Sparkasse München." (Frankfurter Allgemeine Zeitung 3.2.'87) "Im Sinne des Verstorbenen bitten wir, statt Blumen- und Kranzspenden die Deutsche Welthungerhilfe, Konto 111, bei der Sparkasse Bonn (Bankleitzahl 380 500 00) zu unterstützen." (DIE WELT 31.7/87) Eine Form der Spende wird hier durch eine andere ersetzt. Anstelle der Kranz- und Blumenspende für den Verstorbenen erhalten nun Bedürftige den finanziellen Gegenwert solcher Spenden. Durch Kranz- und Blumenspenden soll der Verstorbene geehrt werden, den Spenden an Bedürftige anläßlich von Begräbissen kommt die gleiche Funktion zu. Der Verstorbene wird von den Hinterbliebenen geehrt, es wird seiner gedacht, indem die Trauernden an Bedürftige spenden. 24 Koren, Hans: Die Spende - eine volkskundliche Studie über die Beziehung "Arme Seelen arme Leute". Aa.O. S.126 Zur Verbindung von Spende und Totenbrauchtum siehe auch: Löffler, Peter (1975): Studien zum Totenbrauchtum in den Gilden, Bruderschaften und Nachbarschaften Westfalens vom Ende des 15. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Münster. S.285ff. 25 Wir sprechen in Zusammenhang mit dem vermittelten Betteln und Spenden von einem Handlungstypus und meinen damit die Handlung der Gestaltung des Spendenbriefes durch die Briefautoren und die Handlung der Rezeption dieses Briefes durch die Briefempfänger. Den in den Fotos der Spendenwerber abgebildeten bedürftigen Personen kommt natürlich nicht der gleiche Wirklichkeitsakzent zu wie den leibhaftigen Straßenbettlern. Im Vorgriff auf unsere spätere Definition des Bettel- und Spenderituals möchten wir hier auf Goffmans Begriff der Hyperritualisiening verweisen: "Was ist also unter dem Gesichtspunkt des Rituals-der Unterschied zwischen den in der Reklame abgebildeten Szenen und den Szenen des wirklichen Lebens? Eine Antwort wäre: die 'Hyperritualisierung'. Die Standardisierung, Übertreibung und Vereinfachung, wie sie für Rituale im allgemeinen typisch ist, finden wir in kommerziellen Reklameposen in erhöhtem Maße wieder (...)".

Anmerkungen

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Goffman, Erving (1981): Geschlecht und Werbung. Frankfurt a.M. S.327 Unter dem Gesichtspunkt der Hyperritualisierung und Übertreibung erklären sich auch die Fotos aus den Spendenbriefen, die Szenen abbilden, für die es in dieser Form keine Entsprechung innerhalb des direkten Betteins und Spendens innerhalb der Face-to-faceSituation gibt. Besonders bei den Hilfsorganisationen, die zugunsten von Kindern um Spenden werben, kann mit einfachen Mitteln ein deutliches und aussagekräftiges Gefalle zwischen den abgebildeten, bedürftigen Kindern und den erwachsenen Spendenbrief-Empfängern konstruiert werden. Vermutlich ist das einer der Gründe, warum soviele Hilfsorganisationen eine so erfolgreiche Spendenwerbung mit Kindern und für Kinder betreiben. Das KindMuster wird z.T. auch auf der Textebene angewandt und das auch in Fällen, in denen nicht nur für Kinder um Spenden geworben wird, so z.B. im Fall der Aktion-Sorgenkind, die entgegen ihres Namens - auch erwachsene Bedürftige unterstützt. Das Kind-Muster und damit die Konstruktion eines Gefälles wird sogar auf Spenden übertragen, die nicht zugunsten von Menschen gegeben werden: So starteten z.B. Linda Evans, Victoria Principal und Jane Fonda eine Spendenaktion zugunsten einer Landschaftssanierung. "Die drei Schönen vom Film und Fernsehen erkoren einen kleinen Fluß beim Flagstaff in Arizona zum 'Patenkind'. Natürlich spendeten sie Geld und kontrollierten auch die Aktion." Aktuell 7 Tage Nr.5/10.12.1986 Kroos, Renate (1985): Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst. In: Hauk, Karl (Hrsg.) (1985): Frühmittelalterliche Studien. Bd.19. Berlin, New York. S.505 Gröber, Karl und Hörn, Adam (1940): Die Kunstdenkmäler von Schwaben und Neuberg, II Stadt Nördlingen. München. S.322 und S.338 Ebenda S.19 und Kroos, Renate: Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst. A.a.O. S.504 Ebenda S.511 Ebenda S.507 Röttger, Bernhard, H. (1924): Die Kunstdenkmäler von Niederbayern, XI Bezirksamt Wegenscheid. München. S.127f. und Kroos, Renate: Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst. A.a.O. S.503 Ebenda S.503 Ebenda S.503 Ebenda S.506 Darüber hinaus sind noch mit Heiligenfiguren verzierte Sammelgefäße dokumentiert, die, wie heute der Klingelbeutel, im Gottesdienst eingesetzt wurden. Ebenda S.SlOff. Auch die Portalgestaltungen in mittelalterlichen Kirchen sind in diesem Zusammenhang zu nennen. An den Portalen wurde der Kirchenbesucher z.B. durch die Darstellung von Largitas und ihrem Gegenbild Avaritia auf das richtige Verhalten hingewiesen (z.B. Kathedrale von Sens). Außerdem war dies der Ort, an dem sich zahlreiche Bettler aufhielten. Ebenda S.510 Ebenda S.507 Ebenda S.508 Geremek, Bronislaw: Geschichte der Armut - Elend und Barmherzigkeit in Europa. A.a.O. S.220 Kroos, Renate: Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst. A.a.O. S.505

6 Die Deutung Wir haben uns bislang mit der Darstellung aktueller Formen direkten und vermittelten Betteins und Spendens befaßt. Darüber hinaus haben wir versucht, diese aktuellen Formen historisch zurückzuverfolgen und dabei festgestellt, daß die Handlungstypen heutigen direkten und vermittelten Betteins und Spendens mit einem vergleichbaren Ausdrucksrepertoire operieren und daß dieses Ausdrucksrepertoire eine deutliche historische Stabilität aufweist. Im folgenden werden wir versuchen, weitere Merkmale direkten und vermittelten Betteins und Spendens aufzudecken, die über die erste Beschreibung des Handlungstypus hinausgehen, um uns danach auf die Suche nach einer übergreifenden Erklärung des Bettel- und Spendephänomens zu machen. 6.1 Das Bedrohungspotential innerhalb der Begegnung von Bettelnden mit Spendern und Passanten Aus unserer Feldbeobachtung und der Befragung von Bettlern, Spendern und Nicht-Spendern geht hervor, daß sich für Bettler wie für Spender und Passanten die Bettelsituation beim offenen aktiven und beim passiven Betteln als bedrohlich darstellt. Die Passanten begegnen dieser Bedrohung, indem sie zu den Bettelnden im Vergleich zu anderen Mitmenschen, einen deutlichen Abstand halten bzw. gezielt vor den Bettelnden ausweichen oder aber andere physische Abwehrmaßnahmen ergreifen, wie z.B. das Herausstrecken der Ellenbogen. Diejenigen, die den Bettlern näher kommen, also die Spender, tun dies mit einem hohen Maß an Gleichförmigkeit. Der Spendevorgang mit seiner schnellen Annäherung, mit dem Sich-Herabbeugen, mit der Übergabe des schon zurechtgelegten Geldes und dem zügigen Entfernen aus der Nähe des Bettlers, verweist darauf, daß die Annäherung an den Bettler beim passiven Betteln bzw. die Annäherung des Bettlers beim aktiven Betteln von den Spendern als gefahrvoll und unsicher eingestuft wird. Die Tatsache, daß z.T. Eltern ihren Kindern Geld geben, damit diese es den Bettlern überreichen, bedeutet keineswegs, daß hier die Bettelsituation nicht als bedrohlich eingestuft wird, denn auch in diesen Fällen wird die Übergabe der Spende durch die Kinder zügig und mit den entsprechenden Distanzen durchgeführt. Aber nicht nur Spender und Passanten zeigen durch ihr Verhalten an, daß für sie die Begegnung mit dem Bettler eine potentiell bedrohliche, eine kritische Situation ist. Auch für den Bettler ist, wie wir aus seinem Verhalten schließen können, diese Begegnung gefahrvoll. Nähert sich ein Passant, dann kann er dies adäquat, d.h. ohne Irritationen beim Bettler (und bei anderen Passanten) auszulösen, nur im Rahmen der Übergabe einer Spende tun. Die Art und Weise, in der die Spendehandlungen von

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Geber- und Empfängerseite in ihrer voraussagbaren Gleichförmigkeit gestaltet werden, ist eine Abfederung, die der Annäherung an den Bettler einen Teil ihrer wechselseitigen Bedrohlichkeit nimmt. Die Aggressionen oder Fluchtreaktionen der außerhalb der Übergabe einer Spende angesprochenen Bettler verweisen auf die Stärke des Bedrohungspotentials, welches aus Sicht der Bettler von den Passanten ausgeht. Diesem Bedrohungspotential begegnen die Bettler, je nach Bettelart in unterschiedlicher Weise. Die aktiv Bettelnden (Roma) reagieren auf Bedrohungen durch Passanten mit Beschimpfungen. Diesen Beschimpfungen kommt z.T. der Charakter von Flüchen zu.1 Bei den passiv Bettelnden konnten wir solche verbalen Gegenangriffe nicht beobachten. Allerdings drohten einige der Bettler auf ihren Schildern Diebstähle für den Fall an, daß Spenden ausbleiben. Was den Schutz vor Aggressionen der Passanten betrifft, so müssen sich die passiv Bettelnden voll und ganz auf die Wirksamkeit des von ihnen eingesetzten Ausdrucksrepertoirs verlassen. Dieses Ausdrucksrepertoire, welches z.B. im Hocken in einer Umgebung von Stehenden oder Gehenden, in der Präsentation von Amputationen oder Wunden oder auch in der Selbstbezeichnung als Arbeitslosen besteht, etabliert, wie wir sahen, einen Kontrast in Form eines deutlichen Gefälles zwischen dem Bettler und seiner Umgebung. Der Bettler begibt sich in eine Position extremer Schwäche und Unterlegenheit. Daran ändern auch seine schriftlichen Drohungen nichts. Die extreme Unterlegenheit und Schwäche, die passiv Bettelnde innerhalb der Bettelsituation präsentieren, verweist auf die Intensität der Bedrohung, in der sich der hockende Bettler in der Fußgängerzone befindet. Das Ausdrucksrepertoire der Bettler ist also nicht nur Ausweis ihrer Bedürftigkeit und damit ihrer Berechtigung, Spenden zu empfangen. Dieses Repertoire des Bettlers läuft darauf hinaus, sich innerhalb der gefahrvollen Begegnung mit Passanten und Spendern als so schwach und unterlegen darzustellen, daß die von ihm selbst ausgehenden Bedrohungen vermindert und eine Annäherung und damit verbunden die Übergabe der Spende möglich werden. Die Bettelsituation ist also gekennzeichnet durch eine Mischung aus Demut und Drohung. Das Resultat dieser Mischung ist die Schaffung einer Situation der Unsicherheit. In der gezielten Inszenierung dieser ambivalenten Situation liegt die Stärke und zugleich die einzige Chance des passiv Bettelnden. Er setzt darauf, daß seine Präsentation funktioniert, er mit Spenden bedacht wird und gleichzeitig die Nicht-Spender unter den Passanten in einer sicheren Distanz von sich fernhalten kann. Aber nicht nur bei den Formen der direkten Spende zeigt sich die Gefahr, die in der Begegnung zwischen Bettlern und Passanten - in der Begegnung zwischen Armen und Reichen liegt. Bei der vermittelten Spende wurde in den Spendenbriefen ebenfalls ein Bedrohungspotential aufgebaut. Hier, im Rahmen der medial vermittelten Begegnung mit den Armen, konstruierten die Briefautoren Visionen individueller oder kollektiver Schicksalsschläge und Katastrophen, die zwar nicht von den Bedürftigen, sondern von transzendenten Mächten ausgehen, vor denen sich der Briefempfänger allerdings - so die Logik der Texte - durch eine Spende zugunsten Bedürftiger schützen kann. Innerhalb des Beziehungsgeflechtes Spende besteht somit ein deutliches Bedro-

Freiwilliger Verzicht

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hungspotential. Die Begegnung zwischen Bettelnden und ihrer Umgebung stellt sich auf Grundlage der Analyse der Handlungen aller beteiligten Akteure als potentiell unsicher und als mit Gefahren angereichert dar. Die Spendehandlung selbst ist eine Handlungsform, die in der Lage ist, die wechselseitige Bedrohung zwischen Bettlern und Spendern so abzufedern, daß die Annäherung an den Bettler zur Übergabe der Spende möglich wird. 6.2 Die Spende, ein freiwilliger Verzicht auf ein Minimum zugunsten des Erhaltes eines Maximums In diesem Kapitel geht es einzig um die Spender. Diejenigen, die einem Straßenbettler Geld geben oder diejenigen, die einen Spendenbrief mit einer Spende beantworten, leisten einen freiwilligen Verzicht. "Es ist kaum einer in Deutschland so arm, daß er sich nicht eine Weile noch mehr einschränken und Verzicht üben könnte...", schreibt eine Spenderin, in einem Brief, in dem sie nach der Seriosität einer Hilfsorganisation fragt. Der historische Rückblick zeigte uns, daß schon die kirchlichen Almosenlehren das Verzichtselement besonders herausstellten. Über den Zusammenhang von Fasten (Buße) und Almosen bewerteten sie dasjenige Almosen als besonders verdienstvoll, welches sich der Spender gewissermaßen vom Munde abgespart hatte, für das er also einen spürbaren Verzicht leisten mußte. Wie läßt sich nun der Umfang des Verzichtes bestimmen? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es für uns nicht darum, den Wert einer Spende in Mark und Pfennig auszurechnen. Uns interessiert nicht primär die durchschnittlich von einem Spender pro Jahr gespendete Summe, sondern vielmehr die Bewertung der Akteure selbst, mit der sie ihre Spende bemessen und welche Vergleichsgrößen sie dabei heranziehen. So sagt z.B. eine Spenderin, die wir in der Fußgängerzone befragten: "Weil ich befördert worden bin, ich mein, da soll er auch 'n bißchen wat von haben." Der Bettler erhält hier also einen Teil von etwas Größerem. Einige der Befragten gaben an, daß es ihnen so gut gehe, daß sie etwas von ihrem Überfluß abgeben können (z.B.: "...weil ich was über hab..."). Der Bettler bekommt also einen Teil eines größeren Gesamtbudgets. Ein anderer Spender schreibt, daß, sobald er seine Bausparverträge abbezahlt habe, einen Teil des ihm dann zusätzlich zur Verfügung stehenden Geldes spenden wolle. Auch hier wird der kleinere Teil eines größeren Teiles als Spende vorgesehen. In den Spendenbriefen findet sich eine ähnliche Konstruktion, allerdings in umgekehrter Perspektive. Hier wird demjenigen, der spendet, der Schutz vor Schicksalschlägen und damit der Erhalt seines Lebensglückes versprochen. Die Spende ist hier wiederum der kleinere Teil eines größeren Ganzen. Indem man einen kleineren Teil des Besitzes gibt, werden die Schicksalsmächte, die implizit oder explizit als existent angenommen werden, positiv beeinflußt, und dadurch wird das gesamte weitere Lebensglück garantiert. Die Spende ist also im Vergleich zur hohen Gewinnausschüttung, die sie verspricht, eine ebenso geringe wie lohnende Investition. Der Spender tauscht hier ein minimales materielles gegen

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ein maximales immaterielles Gut - und daß im Falle der vermittelten Spende ohne das Risiko der Annäherung an den Bettler. Der historische Rückblick zeigte, daß die Höhe der Spende immer im Verhältnis zu den insgesamt zur Verfügung stehenden Mitteln bewertet wurde, also immer ein kleinerer Teil eines größeren Ganzen war. Gleichzeitig war die Spende als kleinerer Teil des größeren Ganzen nach der christlichen Almosenlehre in der Lage, dieses größere Ganze in seiner jenseitigen Existenz abzusichern. Die neutestamentarische Forderung, das diesseitige materielle Gut vollständig zu geben, um das jenseitige Gut (einen Schatz im Himmel und damit ewiges Leben) zu erhalten, wie sie Jesus dem Reichen bzw. dem reichen Jüngling gegenüber formuliert (Luk.18, 18-27; Matth.19,19-26; Mark. 10,17-27), blieb eine Überspitzung der Formel einen Teil vom diesseitigen, materiellen Gut für den Erhalt des ganzen jenseitigen, immateriellen Gutes. Der Forderung, alles Diesseitige zu geben, um alles Jenseitige zu erhalten, konnte und kann nur in Ausnahmefällen, wie z.B. bei Eintritt in ein Kloster, nachgekommen werden. 6.3 Betteln und Spenden und die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt Bevor wir uns erneut dem Material zuwenden, wollen wir kurz darlegen, mit Hilfe welcher Theorie wir die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes definieren werden.2 Drei konzentrisch auseinander hervorgehende Sphären gesellschaftlichen Handelns und Wissens lassen sich unterscheiden: I. Sphäre Die Welt in unmittelbarer Sicht- bzw. Reichweite, als Wirkwelt, als alltägliche Lebenswelt, als Ort der relativ natürlichen Weltanschauung bildet die erste Sphäre. Unabdingbar notwendig zur kommunikativen Schaffung dieses Sinnbezirkes ist das Handeln im Rahmen von Face-to-face-Situationen. Dies ist die Welt der Anzeichen, Merkzeichen und Symptome, die in unmittelbarer Beobachtung und Interaktion gedeutet werden. Außerdem gilt in der I. Sphäre, also der alltäglichen Lebenswelt, die gegenseitige Unterstellung und Idealisierung "der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Konkruenz der Relevanzsysteme", also die möglichst ungestörte Annahme, jeder kann jederzeit eines jeden Perspektive einnehmen ("Generalthese der wechselseitigen Perspektiven").3 II. Sphäre Die nächste Sphäre, der nächste Sinnbezirk, wird gebildet durch die Welt in potentieller Reichweite. Dies ist die Welt des vermittelten, institutionell bestimmten Handelns und Wissens. Die Indirektheit des gesellschaftlichen Handelns ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal dieser Sphäre gegenüber der Welt des Alltags, die immer eine Welt des direkten Einwirkens ist. In der Welt in potentieller Reichweite bestehen grundsätzlich Verweisungszusammenhänge, die über die unmittelbare Handlung in der Face-to-face-Situation hinausgehen und einen neuen Verweisungszusammenhang bilden. Im Vergleich zur Lebenswelt des Alltags findet sich hier eine zunehmende Anonymisierung der sozialen Beziehun-

Die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt

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gen. Die Unterstellung permanent möglicher Perspektivenwechsel gilt für Handlungen, die diese Sphäre etablieren, nicht mehr.4 III. Sphäre Die letzte Sphäre kann beschrieben werden als die Welt des symbolisch ausgeformten Wissens, der Kosmien und Weltbilder. Hier spielt das nicht wirklich Präsente gegenüber dem wirklich Präsenten die bedeutendere Rolle. Der transzendente Hintergrund ist gegenüber der tatsächlichen Handlung oder gegenüber den tatsächlichen Dingen das Wesentlichere.5 "Alle drei Sphären sind aufeinander bezogen. Trotz ihrer jeweils unterschiedlich strukturierten, räumlichen und zeitlichen Dimensionen und Erfahrungshorizonte existieren sie für uns gleichzeitig. Jeder von uns lebt in allen drei Sphären: in der des 'unmittelbaren', des 'mittelbaren' und des 'symbolisch-vergesellschafteten Wissens und Handelns' - und in den durch sie geformten Zuwendungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsweisen. Das Überschreiten der jeweiligen Sektorengrenzen ist verknüpft mit der Eröffnung eines anderen Auslegungs- und Sinnhorizontes. Während jedoch die Beherrschung der ersten beiden Sphären für jeden von uns lebensnotwendig zu sein scheint, ist sie für die dritte unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen möglicherweise verzichtbar."6 "So deutlich sich einerseits in theorethischer Einstellung die drei Sphären des hier skizzierten (idealtypischen) Modells voneinander abgrenzen lassen, so unbestreitbar ist es andererseits, daß wir alle - mit allerdings unterschiedlichen Chancen der Teilhabe und je nach Sozialisation unterschiedlichen Verfügungsmöglichkeiten - in all diesen Symbolwelten zu Hause sind. Sozialität ist nicht nur die 'Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein' (Mead), sondern auch die, in vielfältigen Wirklichkeiten und Deutungszusammenhängen zu leben."7 Diese drei Sphären sind folglich zu verstehen als kommunikativ erzeugte unterschiedliche Erlebnis- und Erkenntnisstile. Der Übergang von einer Sphäre zur anderen, von einem Erlebnis- und Erkenntnisstil zum anderen erfolgt mit Hilfe von Ritualen und Symbolen: "Symbole, obwohl wesentlich Verkörperungen einer anderen Wirklichkeit in der alltäglichen, können in Verbindung mit bestimmten (nämlich ritualisierten) Handlungen im Überschreiten der Grenzen zu anderen Wirklichkeiten, einschließlich der letzten Grenze in Anspruch genommen werden. (...) Symbole geben Kunde von außeralltäglichen Wirklichkeiten - oder Nachricht von der alltäglichen in jener außeralltäglichen Sicht, die sich in vollem Abstand zu ihr erschließt."8 Symbole und ritualisierte Handlungen markieren also nicht nur Grenzen zwischen einzelnen Sinnwelten bzw. Sphären, sie sind auch gleichzeitig die Mittel, mit denen diese Grenzen überwunden werden können. Unter Transzendenz' bzw. unter der 'transzendenten' Funktion der Spende wollen wir das Vorstoßen zu den Grenzen der alltäglichen Erfahrung verstehen.9 Innerhalb des von uns bislang vorgestellten Materials gibt es zahlreiche Hinweise darauf, daß das Bettel- und Spendephänomen von Vorstößen zu den Grenzen der alltäglichen Lebenswelt geprägt ist. So finden wir bei der direkten Spende z.B.: den Dank im Namen Gottes auf einem Bettelschild, die Positionie-

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rung des Bettlers im Eingangsbereich von Kirchen, die Präsentation christlichreligiöser Symbole, die Einnahme von Körperhaltungen, die eine Nähe zur Gebetshaltung aurweisen. Alle diese von den Bettlern eingesetzten Symbole signalisieren dem in der Regel sich in der alltäglichen Lebenseinstellung befindlichen Passanten die Grenze der alltäglichen Lebenswelt. Der Bettler, der sich in dieser Art an die Passanten wendet, etabliert um sich eine andere als die alltägliche Sphäre. (Wir werden in Kürze sehen, daß dies für die Bettler im allgemeinen gilt und nicht nur für diejenigen, die religiöse Symbole einsetzen.) Der Markierung von alltagsweltlichen Grenzen mittels Symbolen durch einige Bettler entspricht auf seilen der Spender eine Transzendenzerfahrung, ausgelöst durch ihre Begegnung mit dem Bettler: So stellen die interviewten Spender nach ihrer Spende Überlegungen über den Lauf ihres zukünftigen oder bisherigen Schicksals an, indem sie ihren Wohlstand mit der Bedürftigkeit des Bettlers vergleichen oder die eigene, mögliche Verarmung in Betracht ziehen. Diese in Form von Selbstbeobachtungskategorien mitgeteilten Überlegungen transzendieren die alltägliche Sphäre, wie sie in einer Fußgängerzone herrscht, und statt Sonderangebot und Schlußverkauf blitzt plötzlich, ausgelöst durch die Begegnung mit dem Bettler, so etwas wie eine Lebensbilanz en miniature auf. Aber nicht nur die Spender, auch die Nicht-Spender äußern sich im Interview angesichts des Bettlers in Selbstbeobachtungskategorien, wobei sie genau wie die Spender zu dem Ergebnis kommen, daß es ihnen im Vergleich zum Bettler gut geht. Diese Lebensbilanz en miniature auf seilen der Spender und Nicht-Spender zeigt sich nichl nur angesichts von Bettlern, die explizit chrisllich-religiöse Symbole einsetzen. Auch beim vermittelten Bellein und Spenden finden sich Hinweise auf Vorstöße zu den Grenzen der alltäglichen Lebenswelt: So wurden z.B. in den Spendenbriefen der Briefempfänger und potentielle Spender darauf hingewiesen, daß mit einer Spende an eine Hilfsorganisation das Schicksal, welches als in der Hand transzendenter Mächte liegend dargeslelll wurde, posiliv beeinflußl werden kann. In einer Art Kreislauf, in dem sich die vom Spender gegebene materielle Spende in ein immaterielles Gut in Form einer Vorsorge- oder Versicherungsmaßnahme wandell, wird der Spender selbsl zum Nutznießer seiner eigenen Spende. Diese in den Spendenbriefen immer wieder auftretende Konstruktion transzendierl die alllägliche Lebenswell: a) durch die Annahme der Existenz von Schicksalsmächlen und die Herausstellung ihres z.T. lebensbedrohlichen Wirkens und b) durch die in Aussicht gestellte Möglichkeil, diese Schicksalskräfte durch eine Spende an eine Hilfsorganisation zugunsten bedürftiger Menschen posiliv beeinflussen zu können. Diese in den Spendebriefen formulierten Vorstellungen von der Funktion der Spende, die über die reine Hilfeleistung an Bedürftige hinausgeht, übersteigen die Möglichkeilen allläglicher Erfahrung. Diese Vorstellungen verweisen mit ihrer Nähe zum chrisllichen Almosen-Konzept genau wie dieses auf das Außeralllägliche. Ein weilerer Aspekl der vermittelten Spende steht für die Transzendenz der alltäglichen Lebenswell: Die Spende anläßlich von Begräbnissen übersteigt die an das Hier und Jetzt gebundene Vorstellungsdimension des alltäglichen Sinnbezirkes.

Die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt

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Die Funktion der vermittelten Spende an Arme, anstelle der Kranz- und Blumenspende anläßlich eines Begräbnisses, kann nur greifen, indem die an der Spende Beteiligten an die Grenzen der alltäglichen Sphäre vorstoßen bzw. diese Grenzen überschreiten oder den Vorstoß und die Überschreitung, wenn schon nicht vollziehen, so doch zumindest zitieren. Diejenigen, die in diesem Falle zu Spenden aufrufen oder spenden, akzeptieren damit auch dann, wenn sie es überwiegend aus Gründen der Konvention täten, den Gedanken, daß man Verstorbene mit einer Spende an Bedürftige ehren kann. Ein erneuter Griff in unser Material soll belegen, daß die Übersteigung der alltäglichen Lebenssphäre innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes nicht auf Einzelbeispiele oder bestimmte Spendesorten beschränkt ist, sondern prinzipiell jede Begegnung (auch die medial vermittelte) von bedürftigen Bettelnden und angebettelten, potentiellen Spendern prägt. Wir schauen uns dazu noch einmal die Äußerungen von Spendern und Nicht-Spendern an: Die interviewten Spender ziehen angesichts des Bettlers eine Lebensbilanz en miniature. Darüber hinaus mißtrauen sie dem Bettler. Sie zweifeln nicht nur an seiner Bedürftigkeit, sie scheuen auch den direkten Körperkontakt. Das gleiche gilt für die interviewten Nicht-Spender, sie äußern zusätzlich Scheu vor möglichen Aggressionen, denen sie innerhalb der Bettelsituation ausgesetzt sein könnten. Außerdem beschäftigt sie intensiv die Frage nach der Gesundheit bzw. Krankheit des Bettlers. Wie ist diese Einstellung zum Bettler und zum Betteln zu erklären? Weshalb das allgemeine Mißtrauen, die Überlegungen zu Krankheit und Gesundheit, die Auslösung kleiner Lebensbilanzen durch den Anblick des Bettlers und die Vermeidung von Berührung? Hier müssen wir eine Klammer aufmachen und einige historische Informationen über die ehemalige gesellschaftliche Rolle und über die vergangene kollektive Einschätzung des Bettlers hinzuziehen: Der Bettler war eine Person, der noch bis in den Anfang unseres Jahrhunderts hinein explizit außeralltägliche Kräfte zugeschrieben wurden. Diese Zuschreibung teilte er mit dem umherziehenden Fremden, wobei der Bettler häufig gleichzeitig auch umherziehender Fremder war. Es gibt zahllose Beispiele für die außeralltägliche Rolle des Bettlers (und des Fremden): So sollte die morgendliche Begegnung mit einem Bettler Glück bringen.10 Bettler wurden als Werwölfe angesehen und gaben sich auch als solche aus, um durch die erweckte Furcht reichlich Spenden zu bekommen.11 Dem Stab des Bettlers traute man eine zauberkräftige Wirkung zu. Wenn man einem ins Haus kommenden Bettler stillschweigend den Stab aus der Hand nahm und sich damit berührte, konnten dadurch Überbeine geheilt werden.12 Bei Zahnschmerzen steckte man eine Laus, die aus der Kleidung eines Bettlers stammte, in den hohlen Zahn.13 Oft erhielt anstelle eines außeralltäglichen Wesens der Bettler eine Gabe: So gaben sich beim Viehhandel Käufer und Verkäufer gegenseitig einen Gottesheller, der dann an einen Bettler oder in die Armenbüchse gegeben wurde. Unterließ man dies, dann gedieh das Vieh nicht.14 Um vom Alpdrücken befreit zu werden, mußte man dem Alp (der als Wesen vorgestellt wurde) in der Nacht z.B. Speisung

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versprechen. Am nächsten Morgen würde sich dann der Alp in seiner wahren Gestalt, oft als Bettler, einstellen. Wurde ihm die versprochene Mahlzeit verweigert, so kehrte er als Alp zurück.15 Für die Übergabe von Gütern an Bettler gab es zahlreiche Vorschriften: Man durfte einem Bettler weder das Oberste noch das Unterste von einem Brot geben, sonst drohte die Gefahr, daß man bald selbst betteln gehen mußte.16 Bei Hochzeiten wurde der Ärmste im Orte aufgefordert, an der Tür (Aufenthaltsort der Armen Seelen) zu stehen und bekam dort von der Braut Kuchen und Geld. Dadurch wurde alles Unglück aus der Ehe verbannt.17 Der Bettler spielte eine bedeutende Rolle bei den Fruchtbarkeitsriten. Der vielgestaltige Vegetationsdämon wurde oft als Bettler vorgestellt. Bei der Bestellung des Feldes legte man, wenn zum ersten Mal geackert wurde, eine Schüssel mit Speisen zwischen das Gespann und den Pflug und trieb den Pflug darüber. Blieb die Schüssel unversehrt, dann war dies ein gutes Zeichen für die Ernte. Danach wurde die Schüssel unter die Armen verteilt, damit sie für das Gedeihen der Saat beteten.18 Aber nicht nur beim Pflügen, auch bei der Aussaat und der Ernte (Erstlingsfrüchte und Ährenlesen) wurden die Bedürftigen, die immer eine Funktion im Fruchtbarkeitsritus übernahmen, mit Spenden bedacht.19 Darüber hinaus sei noch einmal an die Orte erinnert, an denen sich die Bettler vorzugsweise aufhielten und an denen sie auch heute noch z.T. anzutreffen sind: bei den Kirchen- und Tempeltüren, den Wegesrändern und -kreuzungen, den Eingangsbereichen von Häusern, den Stadttoren und Brücken, den Gräbern und Friedhöfen handelt es sich sämtlich um Grenzbereiche, denen über lange Zeit hinweg Außeralltäglichkeit zugeschrieben wurde. Der Bettler war nicht nur für das Glück zuständig, neben seiner Rolle als Glücksbringer war er auch - und das öfter - Träger des Unheils.20 Mildtätigkeit gegenüber dem Bettler wurde belohnt, Hartherzigkeit bestraft, indem der Ruch des Bettlers in Erfüllung ging.21 Ein Fluch des abgewiesenen Bettlers war auch bei den Mächtigen gefürchtet. So ängstigten z.B. König Ferdinand III. (12171252), den Eroberer von Cordoba, alle Heere der Mauren nicht so sehr, wie der Fluch eines armen, unterdrückten Weibes.22 Der Fluch des abgewiesenen Bettlers wurde auch durch das Christentum in seiner Macht bestätigt und untermauert. Der als Armer auf Erden wandelnde Gott wird den Hartherzigen am Tage des Jüngsten Gerichtes laut Neuem Testament folgendes mitteilen: "Gehet hin von mir ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist von dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht." (Matth.25,41-43)

Alle Darbenden '"sind nach dem schönen Glauben vieler Völker mit stiller Sonderkraft des Nutzens und des Schadens, von Segen und Fluch, ausgerüstet. Segen ist das einzige, was sie zu geben haben, Fluch das einzige, was sie schützt.'" Der Bettler wurde also sowohl als Glücksbringer wie auch als Träger des Unglücks gesehen. Er erhielt Spenden oft in Vertretung außeralltäglicher Wesen,

Die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt

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Dinge, die mit ihm in Berührung kamen, hatten zauberkräftige Wirkung, und für die Übergabe der Spende gab es genaue Regeln. Man durfte sich den Bettler nicht zum Feind machen, sein Fluch war gefürchtet. Die christliche Vorstellung vom Bettler unterscheidet sich kaum von diesen Zuschreibungen. Auch hier kommt dem Bettler eine deutlich außeralltägliche Dimension zu. So erhält der Bettler z.B. die Spende in Stellvertretung eines außeralltäglichen Wesens (Jesus). Der Bettelnde wird als Bote zu Gott gesehen, er wird als Engel bezeichnet, um nur einige der christlichen Zuschreibungen zu nennen. Kein Zweifel, der Bettler gilt sowohl in nicht-christlichen als auch in christlichen Vorstellungen als Person, die über besondere außeralltägliche Kräfte und Fähigkeiten verfügt.24 In der Begegnung mit einem Bettler müssen deshalb besondere Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden. Die heute von Passanten geäußerte Scheu, die Furcht vor Aggression, die Spekulationen über seine Krankheiten und ihr allgemeines Mißtrauen dem Bettler gegenüber sind zu verstehen als Hinweise auf Reste des ehemals kollektiv geteilten Wissens um die außeralltägliche Kraft des Bettlers. Besonders die festen Distanzen, die in je unterschiedlicher Ausprägung sowohl von den Spendern als auch von den übrigen Passanten den Bettlern gegenüber eingehalten werden, und die hohe Gleichförmigkeit der Spendehandlungen mit ihrer Schnelligkeit, in der die Nähe zum Bettler gesucht und wieder verlassen wird, mit ihrer Blickchoreographie und ihrer Berührungsvermeidung, zeigen unmißverständlich an, daß der Begegnung mit dem Bettler von den Spendern durch ihre Handlungen eine außeralltägliche Dimension zugeschrieben wird. Die Distanz, die zum Bettelnden sowohl von Spendern wie von Nicht-Spendern eingehalten wird, kreiert Außeralltäglichkeit in erster Linie durch die von Spendern und Nicht-Spendern gegenüber allen Bettelnden angestrebte Berührungsvermeidung, Für die beobachtete, angestrebte Berührungsvermeidung, die in Zusammenhang mit einer überwiegenden Meidung des Blickkontaktes zwischen Bettlern und Passanten und Spendern auftritt, gibt es keine Entsprechung innerhalb von alltäglichen Handlungsweisen. Die angestrebte Berührungs- und Blickvermeidung in dieser Form verweist - auch wenn sie nicht in jedem Fall gelingt - auf die kommunikative Schaffung von Außeralltäglichkeit?5

Eine vergleichbare Konstruktion von Außeralltäglichkeit, die ebenfalls mit den grenzmarkierenden Formen der Berührungs- und Blickvermeidung operiert, findet sich im Falle der kommunikativen Etablierung sakraler, heiliger Sinnbezirke, die von der profanen Welt als getrennt erlebt werden müssen.26 Der Körper- und Blickkontakt zum Bettler wird nun nicht gemieden, weil er per se eine außeralltägliche Person ist, sondern umgekehrt: der Bettler ist erst dadurch eine außeralltägliche Person, daß seine Umgebung ihm gegenüber den Körper- und Blickkontakt meidet. Dabei ist es relativ unwichtig, ob es wie im Falle des aktiven Betteins teilweise zu massiven Körperkontakten zwischen Bettlern und Angebettelten kommt. Entscheidend ist, daß von seilen der Angebettelten in aller Regel versucht wird, Körper- und Blickkontakte zu vermeiden (z.B. Abb.2, Abb.3, Abb.4). Die Berührung wird beim aktiven Betteln natürlich z.T. von den Bettlern

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als Druckmittel dem potentiellen Spender gegenüber eingesetzt. Der Spender wird in diesem Fall, nachdem er seine Spende überreicht hat, damit belohnt, daß der Bettler von ihm abläßt und wieder in eine alltägliche Distanz, wie sie in einer Fußgängerzone vorherrscht, entschwindet. Eine Verschärfung der Berührungsdrohung tritt dann ein, wenn ein aktiver Bettler z.B. schmutzig oder mit offenen Wunden und Geschwüren sich dem Angebettelten nähert.27 Die passiven Bettler dagegen nutzen die Berührungsscheu der Passanten, indem sie mit der Inszenierung der Bettelsituation dem Passanten eine relativ sichere Übergabeform des Geldes anbieten und deutlich anzeigen, daß der Spender keinen Berührungskontakt zu fürchten hat. Zusätzlich meiden sie in der Mehrzahl der Fälle auch den Blickkontakt zu den sich nähernden Spendern.28 Nur einen Passanten konnten wir beobachten, der die Berührungs- und Blickvermeidung nicht praktizierte und ein bettelndes Zigeunermädchen von sich aus berührte und dies sogar, ohne dabei zu spenden. Es handelte sich um einen katholischen Pfarrer, also um einen Menschen, dem selbst eine Nähe zum Außeralltäglichen zugeschrieben wird. Wir sehen, daß nicht nur dem Bettler, der sich mit christlichen Symbolen schmückt, der im Namen Gottes bettelt oder der während des Betteins eine Art Gebetshaltung einnimmt, Außeralltäglichkeit über den Distanzmodus, den die umgebenden Menschen zu ihm entwickeln, zugeschrieben wird. Die Ausstattung mit christlichen Symbolen ist lediglich eine Variante. Unser Material zeigt, daß auch die Bettler, die sich bei der Schaffung der Bettelsituation keiner explizit christlichen Symbolik bedienen, mit einem gleichförmigen Verhalten von Passanten und Spendern rechnen können. Die Art und Weise, in der Spender und Passanten innerhalb der vom Bettler inszenierten Bettelsituation gleichförmig handeln, transzendiert den alltäglichen Sinnbezirk, indem es den Bettler über die zu ihm eingehaltenen Distanzen (Berührungs- und Blickkontaktvermeidung, Meiden des längeren Verweilens in seiner Nähe etc.) aus der Sphäre des Alltäglichen ausschließt und damit in den Bereich des Außeralltäglichen verweist. Das Außeralltägliche kennzeichnet jede Begegnung mit dem Bettler. Die Außeralltäglichkeit haftet dem Bettler nicht per se an, sondern sie ist das Ergebnis des Distanz- und Beziehungsmodus, in dem seine Umgebung (Passanten und Spender) selbst in der Annäherung bei der Übergabe der Spende - sich von ihm fernhält. Der Akt der Übergabe der Spende schafft und überschreitet die Grenze zwischen Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit. Die Spende ermöglicht den abgesicherten Kontakt zwischen den beiden getrennten Welten. Sie ist Grenze und Brücke zugleich.

Aber nicht nur bei den unterschiedlichen Varianten des direkten Betteins und Spendens, auch beim vermittelten Betteln und Spenden wird die alltägliche Lebenssphäre transzendiert und Außeralltäglichkeit, zwar nicht immer explizit, so doch implizit, markiert. In den Bettelbriefen bemühen sich die Briefautoren, den potentiellen Spendern zu vermitteln, daß eine Spende an eine Hilfsorganisation zugunsten Bedürftiger, die als existent angenommenen außeralltäglichen Schicksalskräfte positiv stimmen kann. So kommt die Spende in einer Art Kreislauf dem Spender selbst wieder zugute. Solche Vorstellungen übersteigen, genau wie das christliche Almosenkonzept, die Lebenswelt des Alltags. Innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes

Übergabe

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markieren also die beteiligten Akteure über Symbole und über immer gleichförmig gestaltete Distanzmodi Grenzen der alltäglichen Lebenswelt. Der Akt der Übergabe der Spende ermöglicht den abgesicherten Kontakt zwischen Bettlernund Spendern über die durch diesen Akt selbst mitgeschaffenen lebensweltlichen Grenzen hinweg. 6.4 Die Trennung der an Betteln und Spenden beteiligten Gruppen Schon auf den ersten Blick läßt sich in den meisten Fällen feststellen, wer innerhalb einer Menschenmenge in einer Fußgängerzone zur Gruppe der Bettelnden und wer zur Gruppe der angebettelten Passanten gehört.29 Diejenigen, die die Bettelsituation (Gefalle plus Bittgeste) inszenieren, verlassen damit die Gruppe der Passanten und markieren so die Grenzen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Tritt nun ein Passant aus der Gruppe der Adressaten des Bettels heraus, um sich einem Bettler zu nähern und eine Spende zu überreichen, dann bestätigt und untermauert er die in der Bettelsituation angelegte Gruppentrennung und versichert sich und anderen, daß er zur Gruppe der nicht-bedürftigen Passanten gehört. Im Falle der vermittelten Spende fanden wir bei den Spendenbriefen ebenfalls das Element der Trennung von Gruppen. Die Überweisung einer Spende löst hier den Spender aus der angedrohten Schicksalsgemeinschaft mit den Bedürftigen. Innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes sind somit deutlich voneinander geschiedene Gruppen auszumachen. Durch eine Spende kann der Adressat einer Bitte um Spenden unterstreichen, daß er nicht zur Gruppe der bedürftigen Spendenempfänger, sondern zur Gruppe der nichtbedürftigen Passanten gehört. Die Spendehandlung selbst bestätigt damit die Trennung der beiden Gruppen. Soweit die Auflistung der wichtigsten übergreifenden Merkmale des durch direktes und vermitteltes Betteln und Spenden geschaffenen Beziehungsgeflechtes. Schauen wir nun, ob es möglich ist, das Rätsel um die Verknüpfung der einzelnen zunächst verstreuten und von einander unabhängigen Merkmale zu lösen und so das Bettel- und Spendephänomen zu einer Gesamtfigur zusammenzuführen und zu erklären. 6.5 Der Akt der Spende und andere Formen der Übergabe materieller Güter Betrachtet man den Kern des Bettel- und Spendephänomens, also das Spenden selbst, so ist sie auf der untersten Ebene zunächst definierbar als die Übergabe eines materiellen Gutes. Als Gegenleistung dafür erhält der Spender bei der direkten Spende z.B. einen mündlichen Dank oder ein Kopfnicken des Bettlers. Bei der vermittelten Spende erhält der Spender z.B. einen schriftlichen Dank oder eine schriftliche Spendenbescheinigung. Mit dieser Definition fallen übergreifende Erklärungen des Bettel- und Spen-

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dephänomens, die auf das Muster Kauf oder Tausch hinauslaufen, bereits aus jedenfalls dann, wenn man unterstellt, daß beim Kauf und beim Tausch annähernd gleichwertige Leistungen den Besitzer wechseln. Kauf oder Tausch lassen sich allerdings dann noch aufrechterhalten, wenn man die Perspektive des Wirtschaftswissenschaftlers einnimmt, der mit psychologischen Begriffen operierend, zumindest die vermittelte Spende innerhalb des Bereiches gängiger Austauschbeziehungen verortet, indem er das positive Selbstwertgefühl, welches die Spende beim Spender seiner Meinung nach hinterläßt, als Gegenleistung für die Spende definiert.30 Auch der Begriff Geschenk läßt sich solange in Zusammenhang mit der Spende benutzen, solange man ihn und den Akt der Spende auf die direkte oder vermittelte Übergabe eines materiellen Gutes (z.B. Geld) gegen ein immaterielles Gut (z.B. Dank) reduziert. Zieht man aber hinzu, daß - wie sich anhand des dokumentierten Datenmaterials herausteilte - innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche konstituiert werden, deren Grenzen mit der Spendehandlung erreicht bzw. überschritten werden, dann zeigt sich, daß die oben genannten Synonymbegriffe für unsere Zwecke nicht ausreichen. Weder beim Kauf oder Tausch noch beim Geschenk werden notwendig die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt aufgerichtet und überschritten. Nur eine Form der Übergabe eines materiellen Gutes ist in der Lage, das zu bündeln und in einer Gesamtfigur zu erfassen, was wir bei der Beobachtung und Analyse des Betteins und Spendens bislang in Erfahrung bringen konnten: es ist die des Opfers. Innerhalb des Opfers werden die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt aufgerichtet und überschritten. Es wird eine gefahrvolle Begegnung (hier zwischen Heiligem und Profanem) rituell abgefedert und damit ermöglicht. Darüber hinaus schafft das Opfer Gruppenzugehörigkeiten und die Gelegenheit, diese darzustellen. All diese Merkmale und Funktionen teilen das Betteln und Spenden mit dem Opfer. Das Betteln und Spenden und das Opfer weisen damit eine ähnliche Verbindung von ähnlichen Einzelmerkmalen auf. Die Analogie dieser Verbindungen, die man guten Gewissens als Strukturen bezeichnen kann, ist es, die uns veranlaßt, der Fährte Opfer zu folgen und die soeben gemachten Aussagen im Detail zu belegen. 6.6 Betteln, Spenden und das Opfer Wir haben gesehen, daß die Begegnung zwischen Bettelnden und Passanten durch die Art und Weise, wie diese beiden Gruppen miteinander umgehen, als kritisch und gefahrvoll definiert wird. Die Bettelnden werden in dieser Begegnung durch die festen außeralltäglichen Distanzen, die zu ihnen eingenommen werden, aus der Sphäre des Alltäglichen herausgelöst. Einzig eine Form der Annäherung an die so mit Außeralltäglichkeit versehenen Bettler wird sowohl von den Bettelnden

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als auch von den Passanten akzeptiert: Die Annäherung im Rahmen der Übergabe einer Spende. Bei dieser Übergabe konstituieren und begegnen sich Alltägliches und Außeralltägliches. Der aus der alltäglichen Sphäre kommende Spender trifft auf den mit Außeralltäglichkeit geladenen Bettler - eine Außeralltäglichkeit, die ihrerseits Resultat der von der Umgebung zum Bettler eingehaltenen Distanz ist. Es begegnen sich beim Akt der Spende also zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche bzw. deren Vertreter. Und genau an dieser Stelle ergibt sich eine erste Legitimation, in bezug auf die heute beobachtbaren Bettel- und Spendevarianten von Übereinstimmung mit der Funktion des Opfers zu sprechen: Auch beim Opfer geht es darum, die Sphäre des Alltäglichen, hier des Profanen, von der Sphäre des Außeralltäglichen, hier des Heiligen, zu scheiden, um dann einen Kontakt zwischen diesen beiden Sphären herzustellen. Das Opfer beruht auf der Etablierung einer Kommunikation zwischen der außeralltäglichen, heiligen und der alltäglichen, profanen Welt durch die Vermittlung einer Opfergabe.31 Die durch das Opfer freigesetzten außeralltäglichen, heiligen Kräfte erfordern Distanz. Sie sind so stark, daß sie für den Opfernden gefährlich werden können.32 Das Opfer setzt diese Kräfte nicht nur frei, es dämpft sie auch, indem es den indirekten Kontakt anstelle eines gefährlichen, wenn nicht gar tödlichen direkten Kontaktes ermöglicht. Dank des Opfers können sich die beiden Welten des Profanen und des Heiligen begegnen und dabei gleichzeitig getrennt bleiben.33 Diese Begegnung geht mit der Konstitution des Heiligen einher.34 Das Opfer ist damit eine Art kommunikativer Grundtechnik, die gleichzeitig in zwei Richtungen wirkt: einmal in Richtung auf die Grenzziehung zwischen der Sphäre des Profanen und der Sphäre des Heiligen und zum anderen in Richtung auf die rituelle Absicherung der gefahrvollen Überschreitung dieser durch das Opfer selbst geschaffenen Grenze. Eine identische Funktion erfüllt das Betteln und Spenden. Durch die direkten und vermittelten Formen der Bettel- und Spenderituale wird zum einen die Außeralltäglichkeit des Bettelnden kommunikativ - besonders über die beschriebenen Distanzmodi - hergestellt und zum anderen wird die gefahrvolle Begegnung zwischen den so mit Außeralltäglichkeit versehenen Bettelnden und den aus der Sphäre der Alltäglichkeit kommenden Spendern in ihrer Gefährlichkeit derart herabgemindert, daß die Annäherung und der Kontakt zwischen diesen beiden Gruppen - oder besser zwischen diesen beiden Welten - bei gleichzeitiger Entfaltung von Distanz möglich bleibt.35 Wobei der Kontakt kein alltäglicher Kontakt ist. Die von allen Spendern angestrebte Vermeidung des Körper- und Blickkontaktes, für die es in dieser Form kein alltägliches Äquivalent gibt, steht für die prinzipielle Indirektheit des Kontaktes im Rahmen der Spende. Aufgrund dieser prinzipiellen Indirektheit der Spende funktionieren auch die verschiedenen Formen der vermittelten Spende, wie z.B. die bargeldlose Spende, wie wir sie bei den Spendenbriefen kennengelernt haben. (Wir kommen auf diesen Sachverhalt zurück.) Die Bettel- und Spenderituale und der Opferritus ermöglichen und strukturieren also die jeweils als gefahrvoll inszenierte Begegnung zwischen zwei durch die

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Rituale bzw. den Ritus selbst geschaffenen unterschiedlichen Sinnbezirken und deren Repräsentanten. Damit zeigt sich die deutliche Analogie zweier Merkmale der Spende mit zwei Merkmalen des Opfers (1. Die Inszenierung von Bedrohung bei der Begegnung zwischen Bettelnden, Spendern und Passanten und 2. die transzendente Dimension des durch die Bettel- und Spenderituale geknüpften Beziehungsgeflechtes). Wenden wir uns nun einem weiteren Merkmal der Spende zu. Wir hatten es beschrieben als den freiwilligen Verzicht auf einen kleinen Teil zugunsten des Erhaltes eines größeren Teils. Diesem Merkmal der Bettel- und Spenderituale korrespondiert auf seilen des Opferritus die Bemessung der Opfergabe nach dem Prinzip pars-pro-toto. Mit diesem Prinzip ist eine Form der Teilung umschrieben. So steht z.B. die Opferung der Erstlinge einer Ernte für den Dank über den Erhalt der gesamten Ernte und die Bitte um den Erhalt einer reichen Ernte im nächsten Jahr, also letztlich für den Erhalt des Lebens schlechthin.36 Der Sündenbock, der in einigen Opferriten als ein Teil der Herde in die Wüste gejagt wird, trägt die Sünden der Gemeinschaft der Menschen, die an diesem Ritus beteiligt sind, mit sich. Durch seine Opferung, also durch die Opferung eines kleineren Teiles des Besitzes, wird die gesamte Gemeinschaft der Opfernden von ihren Sünden entlastet. Das in unserer Kultur wohl prominenteste Beispiel für eine Ausformung des Prinzips 'pars-pro-toto ist der Opfertod Christi, der als freiwilliger Verzicht auf irdisches Leben durch einen Menschen, so die theologische Theorie, das Seelenheil der gesamten Menschheit rettet.37 Unter dem Stichwort ein Teil für das Ganze wird also die Opfergabe bemessen. Im Opfer kommt dem Ganzen, welches erhalten, geschützt und gefördert werden soll, häufig aber durchaus nicht notwendig eine existentielle Dimension zu. Es geht um die Ernte, um das Vermögen, um die Gesundheit, um den Abbau von Sünden oder das ewige Seelenheil. Diese existentielle Dimension ist bei den Bettel- und Spenderitualen zwar nicht zwingend gegeben, kommt aber dennoch vor. Man denke z.B. an die Spendenbriefe der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft oder der deutschen Herzstiftung, in der es buchstäblich auf Leben und Tod ging. Der Verzicht auf eine kleine Summe Geldes kann, so die Briefautoren, das Leben des Spenders sichern. Der Verzicht ist ein wichtiges Merkmal der Spende und des Opfers, denn mit der Opfergabe verzichtet der Opfernde darauf, profanen, alltäglichen Nutzen aus seinem materiellen Gut zu ziehen.38 Das Element der formalen Freiwilligkeit des Verzichtes, welches, wie der historische Rückblick zeigte, ein wesentliches Kriterium freiwilliger Armenunterstützung und damit auch der Bettel- und Spenderituale war und ist, spielt im Opfer-Ritus ebenfalls eine bedeutende Rolle. So ist es für die Gemeinschaft der Opfernden von großer Wichtigkeit, ob sich z.B. ein Opfertier freiwillig, also ruhig und ohne zu scheuen auf den Opferplatz führen und dort töten läßt.39 Das Prinzip pars-pro-toto beinhaltet das Prinzip do-ut-des.40 Beide Prinzipien sind an die Vorstellung eines oder mehrerer göttlicher, transzendenter Wesen gebunden, denn beide Prinzipien sind Ausformulierungen des Gotteszwanges. In den von uns dokumentierten Varianten des Betteins und Spendens trafen wir

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auch immer wieder auf die Annahme der Existenz und Wirksamkeit transzendenter Wesen. Eine Spende, so z.B. die Argumentation der Autoren von Spendenbriefen, sei in der Lage, das zukünftige Schicksal des Spenders positiv zu beeinflussen. Gleiches gilt für das Opfer.41 Das Prinzip der Bettel- und Spenderituale (freiwilliger Verzicht auf einen kleinen Teil zugunsten des Erhaltes eines größeren Teiles) und das Prinzip des Opferritus (pars-pro-toto und damit zusammenhängend do-ut-des) weisen also deutliche Übereinstimmungen auf. Wenden wir uns nun einem weiteren von uns isolierten Merkmal der Bettelund Spenderituale zu: der Gruppenbildung. Wir hatten festgestellt, daß mit der Inszenierung der Bettelsituation die Bettelnden durch das spezielle Arrangement ihres Ausdrucksrepertoires zwei Gruppen schaffen, nämlich die Gruppe der sich als außeralltäglich inszenierenden Bettelnden und die Gruppe der Adressaten des Bettels. Die Gruppe der Adressaten des Bettels, seien sie nun Spender oder nicht, nimmt, wie wir aus den Interviews wissen, diese Teilung auf und verschafft sich angesichts des Bettlers mittels Selbstbeobachtungskategorien die Gewißheit, nicht zu denen zu gehören, die zu Füßen der Passanten betteln, sondern zur großen Gruppe derer, die den hockenden und kauernden Bettlern aufrecht begegnet. Der Bettler als das Repräsentant des Außeralltäglichen gibt der Menge in der Fußgängerzone die Möglichkeit, sich in Abgrenzung zu ihm als zusammengehörig zu definieren. Analoges geschieht im Opferritus. In der Abgrenzung zu dem vom Opferritus geschaffenen Heiligen bestimmen sich erst die Grenzen der Zugehörigkeit zur (profanen) Gemeinschaft. Das Heilige bzw. die Heiligen Dinge sind soziale Dinge.42 Damit hat das Opfer eine bedeutende soziale Funktion. Es erneuert in der Etablierung und Abgrenzung zum Heiligen periodisch die (profane) Gemeinschaft.43 Das Opfer verfolgt den Anspruch, ein Gleichgewicht im Sinne einer (harmonischen) Balance zwischen den Menschen und dem Heiligen bzw. den Göttern und zwischen den Menschen selbst herzustellen, indem es bei den Opfernden die Gewißheit hinterläßt, zu einer großen Gemeinschaft zu gehören.44 So wie im Opferritus das Heilige den Menschen dazu dient, sich in Abgrenzung zu Außeralltäglichen als Gemeinschaft zu erleben, so nimmt im durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflecht der Bettler die Rolle des außeralltäglichen Gegenübers auf sich, mit dessen Hilfe sich die übrigen Gesellschaftsmitglieder über Abgrenzungshandlungen ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft in der alltäglichen Sphäre versichern. Der Opferritus und die Bettel- und Spenderituale sind beide überindividuelle, soziologische Tatbestände, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielen. Die Eigenschaft der Spende innerhalb der Bettel- und Spenderituale, Übergabe eines materiellen Gutes bei gleichzeitiger Konstitution getrennter Sinnbezirke zu sein, führt uns zu einem letzten Zusammenhang zwischen den Bettelund Spenderitualen und dem Opferritus: "Das Almosen ist das Produkt eines moralischen Begriffes der Gabe und des Reichtums einerseits und des Begriffes des Opfers andererseits."45 Das Element der ritualisierten aus dem Alltag herausgehobenen Übergabe, verbindet also den Akt der Spende und den Akt des Opferns.46 Unabhängig von der Entwicklung und Differenzierung von Opfer und

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Almosen im semitischen Kulturraum, wollen wir uns nun kurz vergegenwärtigen, welche Formen historischer Beziehungen zwischen den Bettel- und Spenderitualen und dem Opferritus im christlich-europäischen Kultur kreis nachweisbar sind. 6.6.1 Formen historischer Beziehungen zwischen den Bettel- und Spenderitualen und dem Opferritus Die Bettel- und Spenderituale und der Opferritus weisen nicht nur in ihren Funktionen deutliche Übereinstimmungen auf, es gibt auch zahlreiche Belege für Entwicklung von Spendevarianten auf der Grundlage von Opferhandlungen. Besonders unter dem Einfluß des Christentums, welches die Gabe an die Armen in Fortführung der orientalischen Tradition immer schon als Opfer definierte, kommt es zur Umwandlung ehemaliger heidnischer Opfergaben in Almosen, die ausdrücklich an Arme gegeben wurden: "Es verbinden sich hier die christliche Vorstellung der Almosenpflicht Besitzender gegen Notleidende und der heidnische Drang, sich des Wohlwollens gefährlicher Dämonen durch Opfer zu versichern, ehe diese Schaden können, oder nachdem sie zu schaden begonnen."47 "Es sind ursprünglich alte Opfergaben, die Bettler und Arme heute empfangen."48 So wurden zahlreiche Opfergaben, die ursprünglich einmal für die Vegetationsdämonen oder Hausgeister vorgesehen waren, z.B. in Brotspenden an Arme und Kinder umgewandelt.49 Derselbe Wandel fand bei Opfergaben statt, die nach Beendigung der Ernte oder des Dreschens früher an den Vegetationsdämon, später dann christlich motiviert, an die Armen ausgeteilt wurden.50 Über die Nähe, in der die Person des armen Bettlers dem heidnischen Volksaberglauben nach zu den Geistern und Vegetationsdämonen sowie den Toten stand, haben wir bereits berichtet. Über diese Nähe erhielt das Almosen neben seiner christlich erlösenden Kraft eine zusätzlich abwehrende Eigenschaft, die heidnischen Opferhandlungen entsprang. Diese Opferhandlungen waren ihrerseits wiederum im Kampf gegen die sogenannten bösen Mächte erprobt.51 Aber auch ohne die unter dem Einfluß des Christentums vorgenommene explizite Umwandlung heidnischer Opfergaben an Dämonen und Geister in Gaben an Bettler und Arme waren die Bettler und die Armen potentielle Nutznießer von Opfergaben, die ursprünglich für außeralltägliche Wesen bestimmt waren. In einigen Fällen ist dies explizit belegt, so z.B. für die Speiseopfer, die man in Griechenland der Göttin Hekate an Wegkreuzungen darbrachte, die aber von Armen verzehrt wurden oder im Rahmen von Totenspeisungen, in deren Verlauf die Armen die dargebrachte Nahrung verzehrten.52 In anderen Fällen braucht es wenig Phantasie, sich vorzustellen, daß die Armen und Fremden von all den Speise- und Geldopfern, die die Menschen an die Schwellen ihrer Haustüren, auf die Felder oder Gräber niederlegten, profitierten. Opferhandlungen, in deren Verlauf Geld in die Rinde oder die Wurzeln von Bäumen gesteckt wurde, damit sie wieder Früchte tragen53 oder Opfer, bei denen Nahrung auf den Feldern vergraben wurde54 oder aber Opferhandlungen, die darin bestanden, eine Münze oder etwas Speise auf einem Baumstubben oder einem Stein für einen Waldgeist auszulegen, damit der Opfernde in Zukunft vom Jagdglück be-

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günstigt werde55, eigneten sich ebenfalls zu indirekten Versorgung von ortsansässigen oder umherziehenden Armen. Es gibt also zahlreiche Belege für die historischen Beziehungen zwischen dem Opfer zugunsten von übersinnlichen Wesen und der Spende zugunsten Bedürftiger. Diese Beziehungen wurden durch das Christentum zwar verstärkt, waren aber trotzdem schon vor und neben dem Christentum existent. Aber nicht nur für den europäischen Raum ist die Kopplung von Opfer und direkter oder indirekter Versorgung Bedürftiger belegt. Die ethnologische Literatur liefert zahlreiche Hinweise darauf, daß es sich bei der Versorgung von Armen, Alten, Kranken und Fremden auf der Grundlage von Opfergaben um ein weitverbreitetes - wenn nicht sogar um ein universales Muster handelt.56 Die heutigen Formen der Bettel- und Spenderituale sind selbstverständlich keine vollständigen Opfer, denn der komplette Katalog der zu einem vollständigen Opferritus gehörenden Einzelrituale findet sich beim Betteln und Spenden nicht. So fehlen z.B. die unterschiedlichen Varianten der mit Lustrationshandlungen verbundenen Sakralisierungen und Desakralisierungen bei Beginn und Ende von Opferzeremonien, es fehlt die Verbindung von Opfer und Gebet. Auch der Festcharakter des Opfers findet sich (außerhalb von Spendensammel-Veranstaltungen) durchaus nicht zwingend innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes.57 Dennoch weisen die Bettel- und Spenderituale und der Opferritus in ihren jeweiligen Funktionen deutliche Übereinstimmungen auf: Sie schaffen eine Grenze zwischen Alltäglichem (Profanem) und Außeralltäglichem (Heiligen). Sie ermöglichen und dämpfen den gefahrvollen Kontakt zwischen den Sinnbezirken des Alltäglichen und Außeralltäglichen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Grenze zwischen diesen beiden Sphären. Sie sind Formen des freiwilligen Verzichtes, alltäglichen Nutzen aus einem materiellen Gut zu ziehen. Sie beinhalten die Funktionsprinzipien pars-pro-toto und do-ut-des in Verbindung mit der Annahme der Existenz und Wirksamkeit transzendenter Mächte. Sie sind komunikative Formen, durch deren Einsatz man sein Schicksal positiv beeinflussen kann. Sie ermöglichen mit der kommunikativen Schaffung der Sphäre des Außeralltäglichen bzw. Heiligen die Abgrenzung zu dieser Sphäre und damit die Definition der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft derer, die die Mitgliedschaft in der alltäglichen Sphäre teilen. Und schließlich geht die Spende (das Almosen) historisch aus dem Opfer hervor. Die Analogien zwischen den Bettel- und Spenderitualen und dem Opferritus umfassen also wesentliche Merkmale beider Handlungsformen. Diese Analogien beziehen sich dabei nicht nur auf Einzelelemente, sondern auch auf die jeweils ähnliche Verbindung von jeweils ähnlichen Einzelelementen.

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6.7 Die sozialen Leistungen der Bettel- und Spenderituale58 6.7.1 Die Schaffung des Armutsstatus Die rituell hochgradig besetzte, gefahrvolle Begegnung zwischen Bettelnden und Angebettelten schützt nicht nur Spender und Passanten vor zu großer Nähe zum Bettler, sie schützt auch den Bettelnden vor den Spendern und Passanten. Der Akt der Übergabe und Annahme der Spende selbst ist, genau wie der Opferritus ein kommunikatives Verfahren zur Grenzmarkierung, ein Schwellen- und damit ein Trennungsritual, aber auch gleichzeitig ein Verfahren zur Überbrückung der durch das Ritual selbst geschaffenen Grenzen, Schwellen und Trennungen.59 Dem Akt des Gebens und Annehmens der Spende kommt die Funktion der eigentlichen wechselseitigen Markierung und Überbrückung der Grenzen zwischen Spender und Bettelnden zu.60 Der Akt des Gebens und Annehmens der Spende ist dasjenige Element innerhalb der Bettel- und Spenderituale, durch das der Bettler als Armer anerkannt und bestätigt wird.61 Die soziale Reaktion bzw. die kollektive Attitüde,62 die die Gesellschaft dem Bettler gegenüber einnimmt, macht ihn letztlich zum Bedürftigen, weist ihm den Status des Armen zu. 6.7.2 Die Konstruktion von Distanz Die außeralltägliche Distanzform ist sowohl bei der direkten, wie auch bei der vermittelten Spende von einer besonderen Spannung zwischen Nähe und Ferne geprägt, für die es innerhalb der alltäglichen Sphäre keine Entsprechung gibt. Der Aufbau eines solchen außeralltäglichen Distanzmodus ist Resultat der rituell stark überformten Begegnung zwischen Bettelnden und Angebettelten. Wir wollen in diesem Kapitel den besonderen Distanzmodus, der das Betteln und Spenden prägt, näher bestimmen. Zunächst sei darauf verwiesen, daß auch der Fremde in einem ganz ähnlichen Distanzverhältnis zu der ihn umgebenden Gruppe steht wie der Arme. Beide gehören zwar der sie umgebenden Gruppe an, beide stehen aber auch zugleich außerhalb der Gruppe, ihr gegenüber.63 Für die Schaffung dieses besonderen Distanzverhältnisses ist es von entscheidender Bedeutung, daß Fremde - wie Arme - von der umgebenden Gruppe zunächst ganz allgemein als zur menschlichen Gemeinschaft gehörend eingestuft werden.64 Aus der Befragung der Bettler wissen wir, daß sie große Sorgfalt auf die Inszenierung genereller Zugehörigkeit zur Gruppe, bei gleichzeitiger Konstruktion eines Gefälles verwenden. Anhand der Interviews mit Spendern war zu erfahren, wie wichtig die Einhaltung dieser Balance zwischen sogenannter Anständigkeit und Bedürftigkeit für die Gratwanderung ist, die die Bettelnden zu bewältigen haben. Fremdsein oder Armsein bedeutet trotz der Tatsache, daß Fremde und Arme als Elemente der Gruppe außerhalb der Gruppe stehen, nicht, daß es keine Wechselwirkung zwischen der Gruppe und ihnen gäbe, im Gegenteil.65 In der Wechselwirkung mit der umgebenden Gruppe entsteht erst dieser außeralltägliche

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Distanzmodus mit seiner besonderen Kombination von Innerhalb und gleichzeitig Außerhalb, von Nähe und gleichzeitiger Ferne.66 Der Fremde und der Arme teilen aber nicht nur den gleichen Distanzmodus, in dem sie zur Gesellschaft stehen, sie werden auch mit dem gleichen kommunikativen Verfahren in diesen Distanzmodus verwiesen. Der Fremde, jedenfalls sobald man ihn als Gast behandelt und nicht als Feind bekämpft,67 wird genau wie der Arme,in gebührender, d.h. außeralltäglicher Distanz zur übrigen Gesellschaft gehalten. Dabei sind die Merkmale des Opfers innerhalb des Rituals der Gastfreiheit unverkennbar.68 Die außeralltägliche Distanz, die über Gastfreiheit und Spende dem Fremden und Armen gegenüber aufgebaut und aufrechterhalten wird, zielt neben der Affektdistanzierung darauf, dem Fremden oder Armen gegenüber nicht in eine permanente Unterhaltsverpflichtung zu geraten. Gastfreiheit muß also im Umgang mit den Fremden und Armen eine rituell im Hinblick auf ihr Ende vorbestimmte, temporäre Beziehung bleiben und darf nicht in Gastfreundschaft hinübergleiten.69 Demzufolge ist auch die Zeit, in der man Fremde und Arme unterstützt, in der Regel im voraus festgelegt.70 Durch diese Art der Festlegung unterscheidet sich die Unterstützung des Fremden und Armen von der Unterstützung des Familienmitgliedes oder Freundes. Die Fremden und die Armen werden also mit einem vergleichbaren Ritualrepertoire in eine außeralltägliche Distanz zu der sie umgebenden Gemeinschaft versetzt Um noch etwas mehr über die Eigenschaften dieser außeralltäglichen Distanz zu erfahren, schauen wir uns kurz einige Fälle an, in denen diese außeralltägliche Distanz geplant durchbrochen wird. Diejenigen, die die Berührungsscheu vor den Armen nicht durch einen repektvollen Abstand zu den Außeralltäglichen darstellen, sind selbst Außeralltägliche. Während der Feldbeobachtung sahen wir einen katholischen Pfarrer, der eine Bettlerin von sich aus berührte, ohne dabei eine Spende zu überreichen (s.o.). Ein Geistlicher, zumal ein katholischer, weist genau - wie der bettelnde Arme - Merkmale des Außeralltäglichen auf, wenn diese bei einem Pfarrer auch anders ausgestaltet sind (Kleidung, Vorschriften der Lebensführung, Zölibat etc.). In der Begegnung zwischen Bettlerin und Pfarrer treffen sich also nicht, wie in den meisten anderen Fällen innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes, Alltägliches und Außeralltägliches, sondern es treffen sich verschiedene Grade der Außeralltäglichkeit. Diejenigen, die den alltäglichen Menschen fern sind, gestalten ihr Verhältnis untereinander zeitweise in einer extremen Nähe. Dafür gibt es eine lange Tradition: So teilt der heilige Martin von Tours nicht nur seinen Mantel mit einem frierenden Armen, er küßt auch einen Leprosen, den Inbegriff dessen, von dem Abstand gewahrt werden muß. Die heilige Elisabeth küßt den Leprosen die Füße, speist die Armen an ihrem Tisch und bedient sie dabei häufig selbst. Ebenso Ludwig IX (der Heilige), er trägt außerdem Aussätzige in die Hospitäler von Paris. Thomas Becket wäscht einem Aussätzigen den Kopf. Auch Edward der Bekenner trägt Arme und Kranke in die Hospitäler.71 Die Ordensregel der Benediktiner schreibt vor, daß ankommende Gäste, zu denen in erster Linie Arme

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und (arme) Pilger gehören, unter anderem mit Friedenskuß, Gebet, Bewirtung und Fußwaschung zu empfangen sind.72 Die Reihe derer, die die übliche Distanz zu den Armen durchbrechen und in extreme Nähe verwandeln, läßt sich bis in unsere Tage fortsetzen: "Prinzessin Di in Sterbeklinik: Sie streichelte Aids-Kinder"73 und auch die hautnahe Hilfe der Mutter Theresa in den Slums von Kalkutta ist allgemein bekannt. Diejenigen, die die Distanz zu den Armen in extremen Fällen bis hin zum Kuß gestalten, sind entweder mit religiöser und/oder mit weltlicher Macht ausgestattet. Dabei darf man nicht annehmen, daß für die Heiligen und Mächtigen keine Grenzen zu den Armen existierten oder daß die Grenzen leicht zu überwinden seien.74 Aus der extrem nahen Distanz zu den außeralltäglichen Armen läßt sich für die, die diese Nähe suchen und mutig die von Furcht, Abscheu und Ekel gezogenen Schranken überwinden, selbst Außeralltäglichkeit gewinnen. So demonstrieren Kleriker und Herrscher die eigene Außeralltäglichkeit, indem sie hochritualisiert die extreme Nähe zu den Armen suchen. Gemeinsam teilen Könige (Herrschende), Heilige und Arme das Schicksal, symbolisch partiell aus der Gesellschaft exkommuniziert zu sein.75 Sie stellen nicht für jedermann unter allen Umständen alltägliche Kommunikatoren dar, sondern es kann nur mit Hilfe bestimmter ritueller und damit stark symbolisierter Kommunikationsstile an sie herangetreten werden. Arme, Heilige, Könige (Herrschende), sie alle sind herausgehoben aus der Gesellschaft, bilden über Außeralltäglichkeit schaffende Rituale, die im Umgang mit ihnen eingehalten werden müssen, den Oberen' und 'unteren' Rand der Gesellschaft, wobei die Heiligen je nach Typus sowohl zu den Armen als auch zu den Herrschenden gehören können. Mit den Armen und den Herrschern sind die beiden äußersten Randpunkte der Gesellschaft beschrieben, die das, was zwischen ihnen liegt - nämlich die Mitgliedschaft in der alltäglichen Lebenswelt - durch ihre Funktion als Fixierpunkte stabilisieren.76 In dieser Position und in dieser kommunikativen Funktion sind beide Gruppen strukturgleich. Dennoch bedeutet die Nähe, die zwischen ihnen aufgebaut sein kann, nicht, daß etwa der Arme von sich aus auf den Herrschenden oder den Heiligen zugehen, ihn berühren und küssen dürfte. Die Bewegung, die zur Berührung führt, verläuft grundsätzlich von oben nach unten.77 Und damit ist diese Nähe natürlich weit entfernt von alltäglicher Nähe und alltäglicher Sozialität, in der die Gleichheit der Positionen innerhalb der Kommunikation wechselseitig zumindest unterstellbar sein muß.78 Die Distanz zu den Armen wurde über Jahrhunderte explizit durch eine doppelte Grenze markiert. Zu der Abscheu vor dem bettelnden Armen kam noch das explizite Argument seiner sakralen Außenstellung. Indem man den Armen zum Stellvertreter Gottes machte, mußte man ihm adäquat begegnen - also mit einer ähnlichen außeralltäglichen Distanz wie dem Sakralen. Dies bewirkte, daß über die Abscheu hinaus die Distanzhaltung dem Armen gegenüber noch verstärkt wurde. Das Christentum vergrößerte mit der Sakralisierung aber nicht nur die Distanz, sondern koppelte die Sakralisierung des Armen gleichzeitig mit der außerweltlichen Belohnung seiner Unterstützung. Abscheuverhalten wurde so, jedenfalls zum Teil, in Unterstützungs- und damit auch in Spendeverhalten kana-

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lisiert. Heute ist die explizite christlich-sakrale Aura des Bettlers zwar noch in Resten vorhanden, das zeigt sich z.B. dann, wenn einer der interviewten Spender angesichts des Bettlers äußert, man solle einmal daran denken, was Jesus gesagt habe, aber in den meisten Fällen ist bei Spendern und Passanten nur die sich in den eingehaltenen Distanzen dokumentierende implizite Scheu vor der Außeralltäglichkeit des Bettler geblieben, die jenseits eines expliziten, christlichen Kontextes steht. Insgesamt läßt sich die Distanz, die zwischen armen Bettelnden und Angebettelten kommunikativ von beiden Seiten aufgebaut wird, jenseits aller Angaben in Metern und Zentimetern - wie wir anhand des Vergleiches der Distanz zu den Fremden und der Distanz zwischen Herrschern und Armen feststellen konnten als eine Distanz des Randes, eine Distanz auf der Grenze zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur Gesellschaft beschreiben.79 Im Buch Sirach wird diese Distanz in einem Rat an den Armen in folgende Worte gefaßt: "Sei nicht zudringlich, sonst mußt du dich zurückziehen und ziehe dich nicht zurück, damit du nicht in Vergessenheit gerätst."80

Bei aller Gleichheit zwischen direktem und vermitteltem Betteln und Spenden, was die generelle Indirektheit, die generelle Außeralltäglichkeit betrifft, bleibt doch ein wesentlicher Unterschied zwischen der direkten und der vermittelten Art zu betteln und zu spenden: direktes Betteln und Spenden ist ein interaktiv geprägtes Ereignis. Vermitteltes Betteln und Spenden dagegen ist, wie alle schriftlich oder bildlich vermittelten Beziehungen, kein interaktiv geprägtes Ereignis mehr. Es ist ein von der Face-to-face-Situation abgeleitetes Ereignis, bei dem der außeralltägliche Distanz- und Beziehungsmodus des direkten Betteins und Spendens mit schriftlichen und bildlichen Mitteln zitiert wird. Die Hauptlast der historischen Ausweitung vermittelten Betteins und Spendens, in deren Verlaufe sich die Vertreter religiöser und weltlicher Institutionen zwischen die Spender und die Empfänger geschoben haben, tragen die Armen.81 Sie zahlen mit dem Verlust an Integration. Die staatliche Armenpflege, die ja letztlich die verschiedenen explizit sakralen Formen des vermittelten Spendens verweltlichte und bürokratisch rationalisierte, bildet den vorläufig letzten Punkt einer Entwicklung, in deren Verlauf die Armen immer mehr an Öffentlichkeit und damit an Integration einbüßten. Während die Armen in den Anfängen der vermittelten, christlichen Armenpflege noch an den Agapen und Oblationen teilnahmen, wurden diese Feste später ohne sie gefeiert. Auch die vom Klerus im Verlaufe der Geschichte der Armenpflege entwickelten zahlreichen weiteren Formen des Spendensammelns (z.B. die Opferkästen s.o.)erforderten die Anwesenheit von Armen nicht mehr unbedingt. Heute begegnen uns die Armen in unserer Gesellschaft hauptsächlich in Texten und Bildern von Spendenbriefen, auf Plakaten, in Fernsehspots und Zeitungsanzeigen. Das so gestaltete vermittelte Betteln und Spenden operiert zwar noch mit den ursprünglichen Mustern der Konstruktion eines Gefälles und der Inszenierung einer gefahrvollen Begegnung mit dem außeralltäglichen Armen, ist selbst aber völlig gefahrlos geworden. Und so können die Hungernden der Ent-

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Wicklungsländer durch vermittelte Spenden auch jederzeit und ohne die Gefahr einer 'Ansteckung' unterstützt werden. Die weitgehende Orientierung an den biblischen Armutsgruppen, wie wir sie in den Texten und Bildern der Spendenbriefe finden, macht die vermittelte Spende noch 'attraktiver' als die direkte Spende an den Bettler, der (ebenfalls schriftlich) auf seinem Schild mitteilt, er habe Hunger, ohne aber die äußeren Zeichen des Hungers so drastisch wie in den Elendsfotos mitliefern zu können.82 Der größte Anteil heutigen Betteins und Spendern geschieht vermittelt. Den sozialen Preis dafür zahlen die Empfanger vermittelter Spenden. Sie verlieren selbst ihre Position am Rand der Gesellschaft. Die Bewohner der Alters-, Pflege-, und Behindertenheime, der Asyle und Anstalten, aber auch die Armen in den Entwicklungsländern befinden sich in einer Distanz, die nur noch medial in Beziehung zur übrigen menschlichen Gemeinschaft steht. Es ist dies de facto eine Distanz des vollständigen Außen und nicht mehr eine Distanz des Randes, die noch in direkter Wechselwirkung mit dem Innen steht. Für die Gesellschaft bedeutet die Ausweitung des vermittelten Betteins und Spendens in Zusammenhang mit der Dominanz staatlicher Armenpflege den Verlust von Grenzen und Schnittpunkten unterschiedlicher Sektoren und damit den Verlust an Öffentlichkeit.83 6.7.3 Die Signalisierung von Zugehörigkeit zur Gesellschaft Wir haben gesehen, daß das Ausdrucksrepertoire, welches die Bettler zur Inszenierung der Bettelsituation einsetzen, ein Gefalle zwischen ihnen und den Angebettelten etabliert. Dieses Ausdrucksrepertoire erwies sich in der historischen Betrachtung als außerordentlich stabil. Selbst das mit Fotos und Zeichnungen operierende Betteln im Rahmen der vermittelten Spende versucht, dieses Gefalle medial zu schaffen. Die direkte Spende besteht in einem Akt des Sich-Herabbeugens zum Bettler unter Vermeidung des Körperkontaktes. Herrschende und Heilige führen den Akt des Sich-Herabbeugens zu den Armen ebenfalls aus. Sie suchen dabei aber z.T. die extreme Nähe zu den Armen. In den Caritas-Theorien wird der Akt des Sich-Herabbeugens zu den Armen zum Mittelpunkt der Theoriebildung. Einschub zur Entwicklung der Theorie der caritas:.84 Die Entwicklung der caritas läßt sich in drei Stufen einteilen: 1. Agape-caritas: Diese frühe Form der caritas versteht den Akt des SichHerabbeugens zum Armen als Imitation der von Gott zum Menschen herabsteigenden Liebe, die sich in der Darbringung des Erlösungsopfers Gottes ausdrückt. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache Imitation der von oben nach unten verlaufenden Richtung. "Die caritas hat ja eine doppelte Bedeutung: sie ist die Liebe Gottes, die zu den Menschen herabsteigt, um sich in dem Erlösungstod ihnen darzubieten (caritas) (...) und sie ist die Liebe des von Gott erschauten Menschen zu Gott (amor Dei), die nun ihrerseits wieder herabsteigen muß zu den Menschen." (...) Caritas-agape ist die Liebe, "die auf Gott gerichtet ist und von

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dieser Richtung auf Gott wiederum herabsteigt zum Menschen. In dieser die göttliche Liebe voraussetzenden Richtung auf Gott liegt das Geheimnis der caritas."85 Es besteht hier also kein direktes, unmittelbares, alltägliches Verhältnis zwischen dem Armen und dem Caritasübenden. Der Akt des Sich-Herabbeugens vom Almosengebenden zum Armen geschieht über Gott. Die aufsteigende Liebe zu Gott ist Voraussetzung dafür, über Gott zum Armen herabsteigen zu können. "Die caritas des Evangeliums ist das paradoxeste christliche Phänomen, sie ist unheimlich in ihrer Paradoxie. Sie verlangt vom Menschen keine humanen Gefühle, kein Mitleid mit sich selbst und anderen, keine Moral und keine Ethik. Sie hat zur Voraussetzung, daß der Mensch seiner selbst entwerde, wie die Mystik sagt, und nur noch geöffnet sei für die Liebe Gottes. Das ist keine Demut! Denn zur Demut gehört auf der anderen Seite die Hochschätzung der Persönlichkeit. Das ist viel mehr: Das Zerschlagen der Persönlichkeit aus dem Wissen um die absolute Nichtigkeit des Menschen."86 Die Paradoxie des Wesens der caritas besteht darin, daß sie "dem Menschen nicht hilft, um ihm seine jeweilige Existenz zu erleichtern, daß sie ihn nicht liebt, um sein Dasein in der Welt zu verbessern. Die caritas liebt den Menschen gerade wegen seiner Niedrigkeit. So kann sie nicht anerkennen, daß der Mensch irgendeinen Anspruch auf eine bessere Lebensmöglichkeit hat. Die Frage nach dem Warum des Leides, also die Frage nach der Theodizee, existiert für die Caritas nicht."87 Für caritas in diesem Sinne existiert nur das fraglose Geben an die Armen, nicht die Überprüfung der Bedürftigkeit. Armut nach diesem Konzept gilt als Wesenszug und nicht wie später als Folge persönlicher Schuld. Diese Form der caritas ist damit keine Humanität und keine auf Mitleid basierende Nächstenliebe. Sie ist in erster Linie eine Theorie der Liebe, die ihren Sitz primär in theoretischen Abbhandlungen, Heiligenlegenden etc. hat. "Im Augenblick der Umsetzung in die praktische Tat, im Augenblick des Versuchs, sie zu organisieren, und sei das noch so sehr im christlichen Geiste, widersetzt sie sich diesem Versuch durch die in ihr wohnende Paradoxie."88 2. Mönchs-caritas: Das Ende des Urbildes der mystisch-asketischen caritasagape wird eingeleitet, indem sich das Mönchtum der Caritas-Idee bemächtigt. "Der Mönch, der Caritas übt und der im vollen Bewußtsein sich zu den Ärmsten herabneigt, tut dies nicht, weil gerade in dieser Herabneigung sich caritas manifestiert, sondern weil er von der Niedrigkeit, zu der er sich hergebeugt hat, eine Abtötung seines Seins erhofft, um dann nach oben zu streben, um auf den Pfad der unio mystika zu Gott zu gelangen."89 Auch hier steht also keineswegs die Unterstützung des Armen im Vordergrund, sondern eine Wirkung auf denjenigen, der sich herabbeugt. Diese Liebe, "die von unten nach oben steigt, ist eine aktive Kraft, die sich vom Niederen zum Höheren emporschwingt, vom Höheren zum Allerhöchsten emporstrebt, um sich mit ihm zu vereinigen. Diese Liebe ist im Gegensatz zur caritas eros."90 Vor allen Dingen aber wird die Idee der caritas individualisiert, und zwar durch die mönchische Mystik des Mittelalters mit ihrer Überbetonung des individuellen Gottesverhältnisses.91 Diese Individualisierung der caritas bereitet schließlich den Boden für den Einzug und die spätere Instituti-

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onalisierung der Idee der guten Werke in die caritas-Übung. "Die katholische Kirche wurde zur Erlösungs- und Gnadenanstalt der Menschheit und änderte die Passivität der ursprünglichen Erlöserreligion."92 3. humanitas-Nächstenliebe: Dies ist die caritas der Humanisten, Reformatoren und Gegenreformatoren. Die Idee der humanitas "ist mit dem neuen Bildungsgedanken eng verknüpft. Dem Wesen der humanitas liegt der Gedanke zugrunde, daß die menschliche Natur von Grund aus gut sei und daß es ihr höchstens an den Möglichkeiten mangelt, ihre Fähigkeiten zu verwirklichen. Die Voraussetzung der humanitas, die Zuneigung, Liebe und Fürsorge gegenüber allem Menschlichen ist im Grunde eine neue Verherrlichung des Menschengeschlechts. Die theoretische Betonung der Bruderliebe, nicht nur vom Gottesgedanken aus, sondern durch das Gleichheits- und Verbundenheitsgefühl der Menschen untereinander, gipfelt meist in der Lobpreisung der menschlichen Natur."93 Auch die humanitas führt nicht zum Aufbau einer alltäglichen, innerweltlichen Beziehung zum Armen. Anstatt Gott in die Begegnung mit dem Armen einzuschließen, schiebt sich hier die Weltanschauung der ideellen Gleichheit aller Menschen zwischen die Armen und die Wohltäter. Der Akt der Herablassung zum Armen ist weiterhin präsent, in dem man ihn als zu erziehendes Objekt betrachtet, an welchem sich die Richtigkeit der Idee von der Gleichheit aller Menschen erweisen soll. Der Gebende tritt in der Funktion eines Erziehers auf. Fazit: Die humanitas-Nächstenliebe ist von einem alltäglichen Beziehungsmodus zwischen Armen und Wohltätern genauso weit entfernt wie die Mönchscaritas und die caritas-agape. Die älteren Formen der caritas orientieren sich nicht am Wohl des Armen. Alle Formen der caritas entweltlichen den Akt des SichHerabbeugens, den Umgang mit den Armen. Sie alle versuchen mit den gleichen Mitteln (Einsatz von Kosmologien) das bestehende Gefalle zwischen Armen und Wohltätern so zu nutzen, daß der Wohltäter im Akt des Sich- Herabbeugens sich erhöhen kann, sei es zu Gott oder zu einer Idee allgemeiner Philantropie. Der mit theologischen Theorien beladene Akt des Sich-Herabbeugens strebt aber nicht nur auf eine innere Wirkung im Wohltäter (Selbsterhöhung durch Herablassung zu den Armen), sondern hat darüber hinaus eine wesentliche intersubjektive Dimension. Der Akt des Sich-Herabbeugens trennt Welten. Die im Bettler verkörperte Armut liefert bis heute der Gesellschaft den Anlaß, mit dem Akt des Sich-Herabbeugens zu den Armen die Ränder der Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu definieren.94 Auf diese Weise können soziale Trennlinien symbolisch ausgedrückt und intersubjektiv mitgeteilt werden. In den historischen wie in den zeitgenössischen Bettel- und Spendeformen findet sich die symbolische Darstellung und Lösung eines universalen menschlichen Problems. Beim Betteln und Spenden handelt es sich nicht primär darum, materielle Mittel so umzuverteilen, daß der Mangel auf seilen der Bettelnden nachhaltig behoben wird. Das primäre, universale Problem besteht darin, ob eine Person die vollständige Zugehörigkeit zur Gesellschaft zugebilligt bekommt oder nicht. Dieses Problem wird von den Handelnden innerhalb des durch Betteln und Spenden geknüpften Beziehungsgeflechtes dargestellt und gelöst. Dem Anderen (Armen, Fremden, Kranken etc.) die vollständige Zugehörigkeit zur Gesellschaft

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in Form der Zuweisung einer Randposition zu verweigern, ist eines der wirksamsten kommunikativen Verfahren, sich selbst und anderen die vollständige Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu signalisieren. Über das Außen wird das Innen bestimmt. Das Auseinanderhalten dieser beiden Kategorien ist für das Zusammenleben - oder besser für das getrennte Zusammenleben - von außerordentlicher Wichtigkeit. Innen und Außen dürfen nicht verwechselt werden können.95 Die Bettel- und Spendentuale verleihen der Trennung von Innen und Außen symbolisch Ausdruck. Sie antworten so auf das Problem der Scheidung dieser beiden Kategorien und die damit zusammenhängende Entscheidung über die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Die Bettel- und Spenderituale sind Rituale des Fragens nach im voraus festgelegten Antworten.96 Die Antworten auf die Fragen: Wer gehört zum Innen? und Wer gehöhrt zum Außen? sind natürlich in materieller Hinsicht schon lange, bevor sich der Bettler auf das Straßenpflaster hockt, gegeben. In den Bettel- und Spenderitualen aber werden diese Fragen und Antworten symbolisch (zum wechselseitigen Nutzen) dargestellt, und erst dadurch bekommen die abstrakten Kategorien von Innen und Außen ihren Realitätsgehalt. Dem Bettler kommt besonders in einem Wohlfahrtsstaat - der die Armut aus der Öffentlichkeit der Straßen und Plätze in die Asyle und Heime verbannt und damit die öffentliche Darstellung von Hierachien fast unmöglich gemacht hat - die Funktion eines sozialen Meßpunktes zu. Indem die Spender und Passanten den Bettler erblicken, nehmen sie - wie die Interviews belegen - eine Bestimmung ihrer eigenen Position vor. Diese Positionsbestimmung versichert den Passanten und in besonderer Weise den sich herabbeugenden Spendern, daß sie im Bettler den äußersten Rand der Gesellschaft geortet haben und sich selbst vollständig innerhalb der Gesellschaft befinden. Selbst die Kinder, die von ihren Eltern zum Spenden aufgefordert werden, demonstrieren so gegenüber dem erwachsenen Bettler ihren Anspruch auf den Status des Innerhalb.97 Daß der Bettler bei seinem Arrangement der Bettelszene sich nicht so außeralltäglich und fremd präsentieren darf, daß die Passanten ihn als nicht mehr zur menschlichen Gemeinschaft gehörend einstufen, liegt auf der Hand, denn wo keine generelle Zugehörigkeit unterstellt werden kann, kann auch keine Abgrenzung stattfinden. Natürlich ist es nicht nur der Akt der Spende, der eine solche Positionsbestimmung ermöglicht. Eine Schimpfkanonade in Richtung des Bettlers kann z.B. eine ganz ähnliche Funktion erfüllen und Auskunft über das Innen und Außen geben.98 Und natürlich ist es nicht ausschließlich der bettelnde Arme, der die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft symbolisch darstellbar und damit bestimmbar macht. Die Liste der unehrlichen Leute und verfemten Berufe war, ist und bleibt lang. Dennoch scheinen die Bettel- und Spenderituale als kommunikative Mittel besonders geeignet zu sein, den Anspruch auf volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu dokumentieren. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Spenden von Menschen, die selbst Empfänger von Unterstützungsleistungen sind.99 Hier versuchen sich diejenigen, die durch den Erhalt staatlicher Unterstützungen aus der Öffentlichkeit als Arme entfernt wurden und damit sogar ihre Stellung am Rande

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der Gesellschaft eingebüßt haben, einen potentiellen Zugang zur Gesellschaft offen zu halten. Die, die bereits 'Unten' sind, beugen sich noch einmal herab, zu den Sorgenkindern, den hungernde Sowjetbürgern und den Bettlern, die sie - wie ihre vermittelte oder direkte Spende dokumentiert - noch tiefer als sich selber wähnen. Die Spende nach dem Muster der zwei Scherflein der Armen Witwe (Luk.21,1-4; Mark. 12,41-44) sichert einen schmalen Zugang zur Gesellschaft, denn die Attitüde des Sich-Herabbeugens und Spendens ist, ein über Jahrhunderte erprobtes kommunikatives Mittel, den Anspruch auf Mitgliedschaft in einer Gesellschaft symbolisch auszudrücken. Mit der Inszenierung der Bettelszene schafft der Bettler, wie auf der anderen Seite der Spender mit der Übergabe der Spende, ein Gegenüber, zur Gesellschaft und damit die Kontur der Gesellschaft selbst. 6.7.4 Die Begrenzung des Mitgefühls Beide Formen der Spende schaffen ein indirektes, außeralltägliches Verhältnis zwischen Spender und Empfänger. Das Neue Testament, als der für unsere Kultur über Jahrhunderte bedeutenste Text zur Problematik des Umgangs mit den Armen, verlangt demgegenüber die persönliche Zuwendung zum Armen. Jesus fordert, die Armen, die Krüppel, die Lahmen an den eigenen Tisch zu laden. Die gruppenfremden Armen sollen anstelle der Gruppengenossen (Freunde, Brüder, Verwandten und Nachbarn) bewirtet werden.100 Daß hier keine alltägliche Form der Bewirtung vorliegen kann, geht schon allein aus der Tatsache hervor, daß die Bewirtung der Armen mit einem außeralltäglichen Lohn vergolten werden soll. Dennoch bleibt die Forderung nach einem alltäglichen, persönlichen Distanzmodus zwischen Gebenden und Empfangenden bestehen. Im Alten Testament versprach die Bewirtung der Armen zwar auch himmlischen Lohn, war aber noch explizit zyklisch gebunden und zielte schon deshalb von vornherein nicht auf die Etablierung einer alltäglichen, persönlichen Beziehung zwischen den Armen und den Mitgliedern der Gesellschaft, sondern im Gegenteil auf die Schaffung einer außeralltäglichen Distanz.101 Hier ist auch nicht die Rede davon, die Armen an den eigenen Tisch zu laden, sondern die Armen werden an eine anonyme Instanz ('deiner Stadt') verwiesen. Von der Idee der Alltäglichkeit und persönlichen Zuwendung in der Beziehung zwischen Empfangenden und Gebenden findet sich hier noch keine Spur. Die wohl schärfste neutestamentarische Forderung, dem Notleidenden (hier allerdings nicht dem Armen, sondern dem akut Verletzten) direkte, tätige, persönliche Hilfe zukommen zu lassen, findet sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Luk. 10,25-37). Aber auch diese Form der Hilfe bleibt zumindest durch die Eingangsfrage vor dem Gleichnis noch an den Kontext der Vergeltung durch himmlischen Lohn gebunden ("... was muß ich tun, daß ich das ewige Leben erwerbe?"). Das Neue Testament beschert dem Hilfswilligen somit zwei sich widersprechende Elemente: zum einen die schon aus dem alten Testament bekannte himmlische, außeralltägliche Entlohnung für die Unterstützung des Gruppen-

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fremden und zum anderen die Forderung, auch diesem Gruppenfremden alltägliche, direkte und persönliche Zuwendung zuteil werden zu lassen, wie dies sonst nur unter Gruppengenossen praktiziert wird. Es mischt sich hier das alttestamentarische (orientalisch-jüdische) Muster der über Gott verlaufenden Indirektheit der Beziehung zum Armen mit der neuen christlichen Forderung nach Direktheit im Verhältnis zwischen dem Gebenden und dem gruppenfremden Empfangenden. Das alte Muster der Außeralltäglichkeit trifft auf die neue Forderung nach Alltäglichkeit. Keine der Unterstützungsformen, die infolge der caritas-Theorien entstanden sind, löst den neutestamentarischen Anspruch nach alltäglicher Direktheit in der Beziehung zu den Armen ein. Im Gegenteil, alle caritas-Theorien stellen die Beziehung zwischen dem Armen und dem Helfenden als eine entweltlichte dar, indem sie Gott in diese Beziehung einflechten. Der heilige Franz von Assisi kann noch soviele 'innige Bruderküsse' an die Leprösen verteilen, der heilige Ludwig kann noch soviele Arme aus dem Schmutz der Straßen von Paris auflesen und Mutter Theresa kann noch so vielen Sterbenden in Kalkutta beistehen, nie wird das Ergebnis all dieser hochritualisierten Handlungen der Aufbau einer alltäglichen Beziehung zwischen dem Helfenden und dem Hilfsbedürftigen sein.102 Allerdings operieren all diese Verfahren des Helfens mit der Konstruktion von Nähe zwischen Hilfsbedürftigen und Helfenden, nehmen also die Forderung des Neuen Testamentes scheinbar auf, setzen sie aber mit den alten Mitteln der rituellen Schaffung außeralltäglicher Distanz um und lösen so letztlich den neuen Direktheitsanspruch nicht ein.103 Der neutestamentarische Anspruch der unmittelbaren, direkten, tätigen und persönlichen Zuwendung dem gruppenfremden, hilfsbedürftigen Nächsten gegenüber, konnte und kann nicht eingelöst werden, weil universale und zugleich persönliche Zuwendung nicht miteinander vereinbar sind. Die direkten, persönlichen und 'spontanen' Sozialbeziehungen sind entweder die Wahlbeziehungen oder die Blutsbeziehungen. In diesen Beziehungen herrscht gegenseitiger Hilfszwang. Alle anderen Hilfsbeziehungen, also besonders die zu Gruppenfremden, sind per se nicht spontan, sondern immer vermittelt, die Forderung nach alltäglicher Distanz ist unerfüllbar. Würde man versuchen, sie zu erfüllen, dann wäre man der Konfrontation mit dem Leid des anderen und damit dem eigenen Mitgefühl ohne die Zwischenschaltung eines rituellen Filters schutzlos ausgeliefert.104 Im Falle der Wahrnehmung der unterschiedlichen Ausdrucksformen der Armut führt das Mitgefühl, also die Übernahme der Haltung der hilfsbedürftigen Person im Wahrnehmenden selbst, allerdings nicht zwangsläufig zur Entwicklung einer Hilfsbeziehung zwischen Wahrnehmenden und Notleidenden. Die Not und das Elend des randständigen Armen können so groß sein, daß das unmittelbare Mitgefühl überfordert ist. Die Fluchtreaktion vor der Wahrnehmung des Armen ist die Folge.105 Es gibt nur ein Motiv, dem Gruppenfremden zu helfen, nämlich im Fremden potentiell sich selbst zu helfen. Jeder Arme, dem man begegnet, ist man selbst, und man hilft aus dem Impuls heraus, daß es einem selbst einmal ähnlich ergehen könnte. Diese Form des sich selbst Erkennens in dem Armen setzt ein universales

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Menschenbild voraus. Und so ist auch das eigentliche Motiv der christlichen Armenpflege (neben dem älteren Lohnmotiv) ein Identifikationsmotiv. Dabei geht es weniger um die wirksame Unterstützung des Armen als vielmehr um den Versuch, den Anspruch einzulösen, nach dem in der christlichen Universalgesellschaft sich jeder mit jedem identifizieren können muß. Die Armenpflege ist für den Christen deshalb so attraktiv und herausfordernd, weil sie die Gelegenheit bietet, dem Anspruch der Identifikation mit potentiell jedem Anderen (hier dem Armen) in einer Extremsituation (Gefalle), herabbeugend gerecht zu werden. Die christliche Armenpflege kann unter diesem Aspekt jenseits aller Hilfsmotive als ein Instrument zur Erprobung und Durchsetzung der Idee von der christlichen Universalgesellschaft verstanden werden.106 Die Begegnung mit dem Elend eröffnet zwei Reaktionsformen: zum einen die Fluchtreaktion und zum anderen die Mitgefühlreaktion. Die Mitgefühlreaktion dem Gruppenfremden gegenüber 'filtert' mit ihrer starken Ritualisierung den unmittelbaren Eindruck des Leides und hemmt die Fluchtreaktion.107 Diese Mitgefühlreaktion bedeutet gerade nicht, wie im Neuen Testament gefordert, einen alltäglichen Distanzmodus gegenüber dem Leidenden einzunehmen. Dem Elend kann man sich in der Haltung des Mitfühlenden nur nähern unter dem Schutz von rituell gleichablaufenden Handlungen, die es verhindern, daß man dem Elend unmittelbar und damit schutzlos begegnet. Wenn jeder Arme dem ich begegne, so wie es das Mead'sche Mitgefühlkonzept formuliert und wie auch die Interviews belegen, ich selber sein könnte, dann müssen rituelle Schranken die Intensität des Mitgefühls begrenzen. Die Merkmale des Opfers bieten dazu neben der Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens - eine kommunikative Form, durch die der helfende Laie sich in den Kontext einer universalen Ritualisierung begibt und so helfen kann, ohne sich persönlich zuwenden zu müssen. Der eigentliche Sinn der Ritualisierung des Betteins und Spendens besteht also darin, die Hilfe zu ermöglichen, ohne zu stark am Elend des anderen leiden zu müssen. Der Gewinn für den Spender ist dabei der größtmögliche: das Elend ist in eine außeralltägliche Distanz verwiesen, die Hierarchie ist bestätigt und die Hilfe gewährt. Zusätzlich kann derjenige, der spendet, einen Prestigegewinn für sich verbuchen. Die Spende genießt bis heute auch außerhalb des explizit christlichen Kontextes in unserer Gesellschaft ein hohes Ansehen. Dies zeigt sich z.B. darin, daß Kinder schon sehr früh zum Spenden erzogen werden. Der positive Wert, den unsere Gesellschaft der Spende zumißt, zeigt sich auch in der Übertreibung bei der Auskunft über die Höhe von gespendeten Summen und in den Reaktionen der Nicht-Spender, die es z.T. 'bereuten', nicht gespendet zu haben und wortreich versuchten, die Unterlassung der Spende zu begründen. Darüber hinaus zeigt sich die Wertschätzung der Spende besonders in den öffentlichen Belobigungen von Spendern, wie sie z.B. in den Printmedien zu finden sind, aber auch in unserer Steuergesetzgebung. Die Belobigung und Bevorzugung des Spenders unter dem Schlagwort der Uneigennützigkeit ändert nichts an der Tatsache, daß in der

Zusammenfassung

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Hauptsache er der Nutznießer der von uns beschriebenen sozialen Leistungen der Spende ist.108 Die Anonymität des bettelnden Armen ist ein weiteres Mittel, das Mitgefühl so zu begrenzen, daß Hilfe ohne alltägliche Zuwendung möglich wird. Anonymität in diesem Zusammenhang bedeutet, dem Armen nicht als alltägliche Person zu begegnen, sondern ihn jenseits seiner persönlichen Lebensumstände lediglich als Vertreter einer bestimmten Armutsgruppe (Blinde, Einbeinige, Hungernde, Waise etc.) wahrzunehmen. Anonymität bedeutet aber auch, daß der Arme sich selbst deutlich erkennbar als Vertreter einer der Armutsgruppen präsentieren muß. Mit dieser 'Selbstanonymisierung' macht er die Spende möglich und schützt sich als Person zugleich vor der herablassenden Gönnerhaftigkeit des Spenders, die er nicht mit alltäglicher Dankbarkeit vergelten muß. Die Bettel- und Spenderituale können also den neutestamentarischen Direktheitsanspruch nicht einlösen. Es ist ein kommunikatives Mittel, welches geradezu auf das Gegenteil dieses Anspruches zielt - nämlich auf die Schaffung einer außeralltäglichen Distanz. Die Übergabe eines materiellen Gutes an den Armen entbindet von der tätigen Hilfe und der Zuwendung in einem persönlichen Distanzmodus. Die Schranken zu den Armen werden gerade durch diejenigen Rituale errichtet und aufrecht erhalten, durch welche den Armen Hilfe und Unterstützung zuteil wird. Darin besteht die Essenz der sozialen Leistungen der Bettel- und Spenderituale. Durch Betteln und Spenden wird bis heute auf eine ebenso einfache wie eindringliche und historisch erprobte Art und Weise der gesellschaftlichen Hierarchie symbolisch Ausdruck verliehen. Die neutestamentarische Forderung nach Direktheit und Alltäglichkeit im Verhältnis zwischen Gebenden und bedürftigen Empfangenden konterkariert die geltende Hierarchie an dem einzigen Punkt, an dem sie für das gesellschaftliche Gefüge von existenzieller Bedeutung ist: an der Grenze zwischen 'Innen' und 'Außen', in unserem Fall an der Grenze der Unterscheidung zwischen arm und nicht-arm. Der Versuch der Auflösung der Hierarchie an dieser Stelle machte und macht das Christentum in seinen ethischen Normen zu einer tendenziell unerfüllbaren Religion.109 Die direkte, tätige und persönliche Zuwendung gegenüber dem gruppenfremden Hilfsbedürftigen nach dem Muster des barmherzigen Samariters kann nur die (literarische) Ausnahme von der Regel sein. Die Regel lautet, daß alle Hilfe gegen den Gruppenfremden und damit auch die direkte und vermittelte Spende nur unter dem beiderseitig notwendigen Schutz des rituellen Aufbaus eines außeralltäglichen Distanzmodus geleistet werden kann. 6.8 Zusammenfassung Folgende Thesen zum Betteln und Spenden seien noch einmal besonders herausgestellt: Betteln und Spenden konstruieren ein Gefalle. Die Konstruktion des Gefälles und die Ausdrucksmittel, mit denen das Gefalle inszeniert wird, weisen eine

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deutliche historische Stabilität auf. Der Bettelnde muß also, wenn er sein Anliegen verstehbar darstellen will, seine Präsentation auf anonyme, überpersönliche, historisch gewachsene Gefalle- und Bedürftigkeitstypen reduzieren. Die Bettel- und Spendesituation zeichnet sich somit durch einen hohen Grad an Anonymität im Verhältnis zwischen den beteiligten Akteuren aus. Das Verhältnis zwischen Bettelnden und Angebettelten wird aber nicht nur durch die darin vorherrschende Anonymität bestimmt. Die Bettel- und Spendesituation ist darüber hinaus mit ihrer starken Ritualisierung, die über einen langen historischen Zeitraum hinweg bis heute mit Merkmalen der kommunikativen Form Opfer' operiert, aus der alltäglichen Sphäre herausgehoben. Die Außeralltäglichkeit, die dem bettelnden Armen über den außeralltäglichen Distanzmodus, den Spender und Passanten ihm gegenüber einhalten, zugeschrieben wird, kleidet sich heute nur noch in Ausnahmefällen in einen expliziten christlichen Kontext. Geblieben ist die sich in der Einhaltung außeralltäglicher Distanzen äußernde Scheu vor dem Bettler. Die Bettel- und Spenderituale sind grundsätzlich keine kommunikative Form, mit der der für unsere Kultur so bedeutende neutestamentarische Anspruch nach alltäglicher, direkter und persönlicher Zuwendung zum gruppenfremden Hilfsbedürftigen eingelöst werden kann. Es ist im Gegenteil darauf angelegt, über den Aufbau außeralltäglicher Distanzen, bei der Wahrnehmung des Elends des Armen, den Fluchtimpuls ebenso in Schranken zu halten wie das Mitgefühl. Die Grenzen zu den Armen werden durch die Bettel- und Spenderituale, welche die Hilfeleistung ermöglichen, zugleich geschaffen und aufrecht erhalten. Mit dem Einsatz von Merkmalen der kommunikativen Form Opfer' ist die rituelle Konstruktion und gleichzeitige Dämpfung von Bedrohung und Gefahr in der Begegnung zwischen Bettelnden und Angebettelten verbunden. Die starke Ritualisierung des Spendevorgangs schützt die daran beteiligten Akteure und ermöglicht erst die Annäherung an den Bettler und damit die Übergabe und Annahme der Spende. Diese Form der Übergabe und der Annahme der Spende ist es, die dem Bettelnden den Status des Armen zuweist. Der ritualisierte Spendevorgang und dabei besonders das Sich-Herabbeugen zum Bettler definieren den Rand der Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Der Akt des Sich-Herabbeugens drückt hierarchische Gruppentrennungen symbolisch aus, teilt sie intersubjektiv mit und verleiht ihnen so Realität. Heute ist im Vergleich zu früheren Phasen der Geschichte der Armenfürsorge eine starke Ausweitung vermittelten Betteins und Spendens festzustellen. Das vermittelte Betteln und Spenden ist bei aller strukturellen Gleichheit mit dem direkten Betteln und Spenden im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Gebern und Empfängern kein soziales Ereignis mehr. Die Armen bezahlen die Ausweitung vermittelten Betteins und Spendens in Zusammenhang mit der Dominanz der staatlichen, institutionellen Armenpflege mit dem Verlust an Sozialität. Sie verlieren durch diese Entwicklung selbst ihre Position am Rand der Gesellschaft und sind von einer Wechselwirkung mit ihr, wie sie beim direkten Betteln und Spenden noch besteht, abgeschnitten.

Schlußbemerkungen

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6.9 Schlußbemerkungen Wie ist abschließend der Umstand zu bewerten, daß eine moderne Industriegesellschaft mit einer 'funktionierenden', gesetzlich geregelten, staatlichen Annenfürsorge sich immer noch der lang erprobten Bettel- und Spenderituale bedient? Zunächst haben wir festgestellt, daß heute - durch die organisierte staatliche Armenpflege - der größte Teil der früheren Bettlergruppen aus der Öffentlichkeit verbannt wurde. Die soziale Funktion des Bettlers, die darin besteht, über die Zuweisung und Besetzung einer Randposition symbolisch über das 'Innen' und 'Außen' einer Gesellschaft Auskunft zu geben, wurde damit aber nicht gleichzeitig überflüssig. Im Gegenteil, das hohe Aufkommen vermittelten Betteins und Spendens besonders an die Armen in der sogenannten 3. Welt zeigt, daß gerade eine demokratische Gesellschaft, die Hierarchien nur noch sehr flüchtig und sparsam symbolisch in der Öffentlichkeit darstellt, auf die Bettel- und Spenderituale zur Vergewisserung der elementaren Grenzen der Zugehörigkeit angewiesen bleibt. Die Bettel- und Spenderituale als Teile freiwilliger Armenpflege sind in unserer Gesellschaft aufgrund der vitalen sozialen Funktion, die sie bis heute erfüllen, alles andere als ein bloßes 'survival'. Und auch von einem zufälligen Beisammensein der verschiedenen Unterstützungsarten und einem sich darin zeigenden Auseinanderfallen der gesamtgesellschaftlichen Strukturierung in der Armenfürsorge kann keine Rede sein. Die Palette der unterschiedlichen staatlichen und privaten Unterstützungsformen entspricht sämtlichen derzeitigen gesellschaftlichen Erfordernissen. Die staatliche Sozialpolitik verbannt die Masse der sogenannten 'sozialschwachen' Behinderten, Kranken, Alten, Fremden, etc., aus denen sich noch bis in unser Jahrhundert hinein die Bettlerheere rekrutierten, in Heime, Asyle und Kliniken und damit aus der Öffentlichkeit. Die geleistete Unterstützung lindert nicht nur ihre Not, sie macht sie auch im soziologischen Wortsinne zur Kategorie der 'Sozialschwachen', zu Menschen, die in ein komplettes 'Außen' im Verhältnis zur Gesellschaft gestellt sind. Auf der anderen Seite erhält sich unsere Gesellschaft mit der Praxis der direkten Spende gerade soviele Bettler als Repräsentanten des Randes der vollen Zugehörigkeit zur Gesellschaft, wie notwendig sind, um das hierarchische Gleichgewicht zu konstruieren und zu erhalten. Mit dem vermittelten Betteln und Spenden, von dem inzwischen massenhaft Gebrauch gemacht wird, hat sich unsere Gesellschaft eine Form der Bettel- und Spenderituale ausgebaut, welche die gefahrlose, vermittelte Überweisung der Spende ohne Face-to-face-Kontakt mit den Armen ermöglicht. Auch das vermittelte Betteln und Spenden hat die symbolische Zuweisung gesellschaftlicher Positionen zum Resultat: Allerdings wird der Empfänger einer vermittelten Spende nicht mehr in eine Distanz des Randes zur übrigen Gesellschaft verwiesen, sondern wie der Empfänger staatlicher Unterstützungen, in ein vollständiges 'Außen'. Die Opferelemente innerhalb der Bettel- und Spenderituale werden heute nicht bzw. nicht mehr durchgängig in einen explizit christlichen Kontext eingebettet. Die Opferelemente sind ganz offensichtlich auch unterhalb der Ebene ihrer expliziten christlichen Ausformulierung wirksam.110 Das Wissen um den 'richtigen' Umgang mit dem Bettler und um die damit verbundene symbolische Darstel-

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Deutung

lung von Gruppenzugehörigkeiten perpetuiert sich in jeder Begegnung mit dem bettelnden Armen. Das Wissen liegt in der kommunikativen Form und damit in den Bettel- und Spenderitualen selbst begründet. Von den jeweiligen historisch sich wandelnden religiösen oder auch weltlichen Ideologisierungen des Verhältnisses zwischen den jeweiligen Gesellschaften und ihren Armen zeigen sich die Bettel- und Spenderituale demzufolge in ihrer historischen Stabilität nahezu unbeeinflußt. Durch den Einsatz von Merkmalen des Opfers innerhalb der Bettel- und Spenderituale zur symbolischen Grenzziehung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und damit zur symbolischen Bestimmung des 'Innen' und des 'Außen' unterscheidet sich unsere moderne Industriegesellschaft in diesem Bereich weder von ihren historischen Vorläufern noch von zahlreichen sogenannten 'einfachen Gesellschaften' anderer Kulturkreise, die die Begegnung zwischen bettelnden Armen und Angebettelten mit Hilfe von Merkmalen des Opfers ebenfalls als eine indirekte, nicht alltägliche Beziehung gestalten. Um das Verhältnis zwischen Bedürftigen und Helfenden wäre es keinesfalls besser bestellt, wenn Betteln und Spenden eine unmittelbare, alltägliche Beziehung etablierten, wie es das Christentum fordert. Im Gegenteil: in diesem Fall könnte weder gebettelt noch gespendet werden. Das Elend aber existierte zweifellos weiter, dann allerdings ohne die Rituale, welche die Armut zwar symbolisch mit allen Konsequenzen markieren, den von ihr Geplagten aber zugleich Linderung in ihrer Not verschaffen - wenn auch in viel zu geringem Umfang.

Anmerkungen 1 So ist das Herbeiwünschen des Todes für einen Dritten, wie es in dem Satz "Daß der soll krepieren" (s.o.) zum Ausdruck kommt, zweifellos ebenso ein Kriterium des Fluches, wie die Unverständlichkeit des Ausrufes. (Zur Erinnerung: Der Satz wurde in rumänischer Sprache gesprochen.) 2 Bei dieser Definition greifen wir zurück auf: Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd. I und Bd. II. A.a.O. und auf Soeffner, Hans-Georg (1990): "Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden". In: Ragotzky, Hedda und Wenzel, Horst (Hrsg.) (1990): Höfische Repräsentation - Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen. 3 Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd.I. A.a.O. S.89 4 Soeffner, Hans-Georg: Appräsentation und Repräsentation - Von der Wahrnehmung zur gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden. A.a.O. S.48ff. Ders. (1991): Zur Soziologie des Symbols und des Rituals. In: Oelkers, Jürgen und Wegenast, Klaus (Hrsg) (1991): Das Symbol - Brücke des Verstehens. Bern. S.63ff. 5 Ebenda 6 Ebenda S.49 7 Ebenda S.55 8 Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd.II. A.a.O. S.179 9 Zu den unterschiedlichen Abstufungen der Erfahrung von zeitlicher und räumlicher Transzendenz vgl.: Ebenda Bd.I bes. S.64ff. und Bd.II. A.a.O. bes. S.142ff.

Anmerkungen

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10 Wuttke, Adolf (1900): Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. S.Auflage. Berlin. §288 11 Ebenda §408 12 Ebenda §508 13 Ebenda §527 14 Ebenda §690 15 Ebenda §402 16 Ebenda §624 17 Ebenda §563 18 Jahn, Ulrich (1884): Die Deutschen Opferbräuche bei Ackerbau und Viehzucht. Breslau. S.75 19 Ebenda S.173 20 Bächthold-Stäubli, Hanns (Hrsg.) (1927): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd.I. Berlin und Leipzig. S.1192 21 Ebenda S.1195 22 Ratzinger, Georg: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. A.a.O. S.405 23 Danckert, Werner (1963): Unehrliche Leute - Die verfehmten Berufe. Bern, München. S.213 Die Rache der Götter verleiht dem Bettlerfluch tödliche Wirkung. Mitunter erscheinen die Götter selbst in ärmlicher Menschengestalt, als Gabenheischende, um die Menschen zu prüfen. Ebenda S.213 24 Wobei das, was in den Handbüchern und Lexika über den Aberglauben in bezug auf den Bettler niedergelegt ist, immer schon als Mischung zwischen nicht-christlichen und christlichen Elementen zu verstehen ist. 25 Auch wenn wir darlegen, daß innerhalb des Bettel- und Spendephänomens die Grenzen der I. Sphäre erreicht bzw. überschritten werden, so kann dennoch nicht die Rede davon sein, daß die beteiligten Akteure durch ihre aufeinanderbezogenen Handlungen eine vom alltäglichen Sinnbezirk vollständig getrennte Sinnwelt etablieren. Festzuhalten bleibt aber, daß die Grenzen, die hier erreicht bzw. überschritten und rituell aufgezeigt (Ritual als Zeichen) werden, die Grenzen sind, die zwischen der I. und der III. Sphäre liegen. 26 Die heilige Welt scheint "in einer Art Widerspruch, ihrem eigensten Wesen nach geneigt zu sein, sich gerade in (die) profane Welt auszudehnen (...) Darum ist es nötig, (die beiden Welten) von einander entfernt zu halten und zwischen ihnen gewissermaßen ein Vakuum herzustellen. Die außerordentliche Ansteckung des Heiligen verpflichtet zu dieser Vorsicht." Durkheim, Emile (1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 3. Auflage. Frankfurt a.M., 3. S.431 "Vor allem gibt es Berührungsverbote: das sind die Primärtabus, von denen die anderen kaum mehr sind, als besondere Variationen. Sie beruhen auf dem Prinzip, daß das Profane das Heilige nicht berühren darf." Ebenda S.410 "Aber der Kontakt kann auch anders erfolgen, als durch die Berührung. Man kann schon durch den Blick in Beziehung mit einem Ding treten: Der Blick ist ein Beziehungsvorgang." Ebenda, S.412 Die Berührungsvermeidung besteht bei den Passanten, die den Bettler wahrnehmen, in einer ambivalenten Spannung zwischen dem ihnen bekannten Gebot, dem Unglücklichen zu Helfen und der Scheu vor der Ansteckung durch das im Bettler personifizierte Unglück. 27 "Die Erregung von Ekel droht mit der Verringerung räumlicher Distanz und zielt derart auf jenes menschliche Sinnesorgan, das am empfindlichsten auf Nähe reagiert: auf die Nase. Sobald die Armut sich hüllt in die Aura von Schmutz und schlechten Gerüchen, erzeugt sie Berührungsängste, die nur beruhigt werden können durch distanzerweiternde Handlungen". Preußer, Norbert: Not macht erfinderisch. A.a.O. S.142

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Zur Definition des Begriffes Schmutz s.u. 28 Unter dem Aspekt der Trennung von außeralltäglichem Heiligen und alltäglichem Profanen, auf den wir oben im Anschluß an Durkheim hingewiesen haben, muß nicht nur vermieden werden, daß die mit Außeralltäglichkeit geladene Person ungeschützt angeblickt wird, sondern es muß auch vermieden werden, daß diese Person selbst ihren Blick auf profane Menschen richtet, und vor allem muß der beiderseitige Blickkontakt gemieden werden. In Zusammenhang mit den abergläubischen Vorstellungen über Abwehrmaßnahmen des bösen Blickes, der u.a. den Bettlern zugeschrieben wurde (vgl. Bächthold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd.I, A.a.O. S.687) läßt sich der oben dargestellte Sachverhalt noch einmal an einem Beispiel zeigen: "Eines der natürlichsten und einfachsten Mittel, dem bösen Blicke von Menschen und Geistern zu entgehen, besteht darin, daß man den Kopf wegdreht oder dem verdächtigen Wesen den Rücken zeigt." Ebenda S.689 "Ganz ähnliche Vorsichtsmaßregeln, wie sie der dem bösen Blick ausgesetzte anwendet, übt auch derjenige aus, der durch seinen Blick andere schädigen kann. Entweder tut er es freiwillig im Bewußtsein seiner unheilvollen Kraft, oder er wird von anderen dazu gezwungen. Aus diesem Grunde wendet (er) den Kopf ab, senkt die Augen, bedeckt das Gesicht mit der Hand. Der mit dem bösen Blick Behaftete trägt häufig Brillengläser, damit die Vorübergehenden nicht von den Ausflüssen seines giftigen Blickes berührt werden." Ebenda, S.699 Nun wollen wir mit der Erwähnung des bösen Blickes nicht behaupten, daß diese Art von Blick den Bettlern bis heute zugeschrieben wird, sondern uns geht es darum, festzuhalten, daß die Berührungs- und Blickvermeidung, wie wir sie im Umgang zwischen Bettlern und Spendern und Nichtspendern beobachtet und dokumentiert haben, ein massiver Hinweis auf die kommunikative Schaffung von Außeralltäglichkeit ist. Das Abwenden des Blickes durch Spender und Nicht-Spender und das Senken des Kopfes oder Niederschlagen der Augen durch den Bettler sind exakt die Maßnahmen, die es zu ergreifen gilt, wenn sich alltägliche und außeralltägliche Personen begegnen. In diesem Zusammenhang sei neben dem Hinweis auf die Berührungsvermeidung und Blickchoreographie auch noch einmal ausdrücklich auf den Bettler mit der Spiegelbrille (Abb.12) und auf das Interview Nr.5 mit Nicht-Spendern verwiesen ("... soviel Elend auf einmal, das ver, also da guck ich lieber weg ...") hingewiesen. Der Bettler von Abb.9 macht in der egologischen Perspektive so etwas wie eigene Scham für das objektive Ergebnis der Vermeidung des Blickkontaktes zu den Passanten verantwortlich. Schließlich sei noch in Zusammenhang mit der sogenannten Ansteckungsfähigkeit des Heiligen (Durkheim) auf die besonders bei Nicht-Spendern im Zuge von Überlegungen über die Arbeitsfähigkeit geäußerten Spekulationen über Krankheit und Gesundheit des Bettlers hingewiesen. 29 Wir benutzen den Begriff Gruppe an dieser Stelle lediglich, um Personen zu definieren, die sich durch gemeinsame äußere, rein klassifikatorische Merkmale auszeichnen und damit von anderen Personen unterscheiden. Von einer Gruppe, die sich durch die besondere Art sozialer Beziehungen der einzelnen Gruppenmitglieder zueinander definiert, sprechen wir hier nicht. 30 "Auf den ersten Blick erscheint es, daß die Spender keine Austauschbeziehung mit der (Spende-) Organisation eingehen, sondern daß sie zwar der Organisation etwas zukommen lassen, selbst aber nichts erhalten. Es ist jedoch zu bedenken, daß Spenden ein positives Selbstwertgefühl erzeugt, daß für die Spender die Befriedigung eines oder mehrerer ihrer Bedürfnisse mit sich bringen kann. Der Spender mag große Erfüllung in dem Gedanken finden, daß seine Gabe dazu verhelfen wird, einigen weniger vom Glück bevorzugten Mitmenschen Hilfe zu bringen. (...) Die Genugtuung, die solche Gedanken und Gefühle mit sich bringen, ist der Austauschwert für den finanziellen Beitrag." Kotler, Philip: Marketing für Nonprofit-Organisationen. A.a.O. S.32

Anmerkungen

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31 Wir beziehen uns bei unserer Opferdefinition im wesentlichen auf Henri Hubert und Marcel Mauss: "Ce precede (die Opferhandlung) consiste ä etablir une communication entre le monde sacre et le monde profane par l'intermediaire d'une victime, c'est-ä-dire d'une chose detruite au cours de la ceremonie." Hubert, Henri und Mauss, Marcel (1%9): Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. In: Durkheim Emile (Hrsg.): L'annee sociologique. Nendeln/Uechtenstein (Nachdruck der Ausgabe von 1899). S.133 Hier ist es notwendig zu erläutern, weshalb die nach Hubert und Mauss notwendige Zerstörung der Opfergabe nicht jede Herausarbeitung von Analogien zwischen Spende und Opfer von vornherein sinnlos macht, denn von einer Vernichtung der Spende berichten unsere Beobachtungen nichts. Hubert und Mauss sehen in der Zerstörung der Opfergabe (victime) einen wesentlichen Punkt der Opferhandlung, da erst mit diesem Akt die Opfergabe definitiv von der profanen Welt getrennt wird: "Par cette destruction, l'acte essentiel du sacrifice etait accompli. La victime etait separee definitivement du monde profane (...)" Ebenda S.71 Ganz ohne Frage sind die rituelle Zerstörung einer Opfergabe und mehr noch die rituelle Tötung (ebenda S.67) eines Tieres oder eines Menschen diejenigen Akte, in der die Opferzeremonie ihren Höhepunkt findet. Neben der reinen Zerstörung oder Tötung der Opfergabe gibt es allerdings noch andere Varianten, das Opfer zu gestalten: "Bei jedem Neumond sollten die reichen Bürger Töpfe mit zubereiteten Speisen an Wegen und Straßenkreuzungen für Hekate deponieren. Hier (war) (...) sichergestellt, daß die Göttin diese Mahlzeit zu sich nahm, das heißt, die Opfergaben zum Verschwinden gebracht wurden, die Bettler nutzten, gut bezeugt, diese Gaben als eine Art Stadtküche." Gladigow, Burkhard (1984): Die Teilung des Opfers - Zur Interpretation von Opfern in vckund frühgeschichtlichen Epochen. In: Hauck, Karl (Hrsg.) (1984): Frühmittelalterliche Studien. Bd. 18. Berlin, New York. S.26 Eine weitere Variante bestand z.B. darin, daß man die Opfergaben, ohne sie zu zerstören in ein spezielles Depot innerhalb des Tempelbezirkes brachte (z.B. Rom und Griechenland). "Unter dieser Perspektive ist das Opfer ein Transport- und Umsetzungsmechanismus, der gesellschaftliche Güter mit einem veränderten, erweiterten Reflexionsrahmen neu zuordnet: Verzicht im Augenblick der Verfügungsmöglichkeit zugunsten einer längerfristigen Perspektive." (...) "Eine Wirtschaftsgeschichte des Opfers wäre zur Ergänzung der vielen philosophisch-theologischen Theorien des Opfers dringend erforderlich." Ebenda S.29 und S.36 Neben diesen hier zitierten Formen der Nicht-Zerstörung der Opfergabe, gibt es zahllose Beispiele, die belegen, daß innerhalb der Opferhandlung die Opfergabe nicht notwendig zerstört, im Sinne von gänzlich vernichtet und unbrauchbar gemacht werden muß. Dazu siehe u.a.: Jahn, Ulrich: Die Deutschen Opferbräuche bei Ackerbau und Viehzucht. A.a.O. Das Opfer verdient seinen Namen also auch dann, wenn die Opfergaben lediglich geheiligt und aus den profanen Benutzungszusammenhängen enthoben werden. Das wesentliche der Opfergabe besteht nicht darin, daß sie zerstört wird, sondern darin, daß ihr Geber freiwillig darauf verzichtet, aus ihrem profanen Gebrauch profanen, alltäglichen Nutzen zu ziehen. Anstelle des profanen Gebrauches überweist der Geber seine Opfergabe in der Hoffnung auf außeralltäglichen Lohn via Opferhandlung in die heilige Sphäre. Der freiwillige Verzicht auf profanen Gebrauch und die Zerstörung unterscheiden sich auf dieser Ebene nicht. Spende und Opfer operieren beide mit dem Element des freiwilligen Verzichtes auf profanen Gebrauch. 32 "Dans le cas du sacrifice, les energies religieuses mises en jeu sont plus fortes; de lä leurs ravages." Hubert, Henri und Mauss, Marcel: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. A.a.O.

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S.59 33 Ebenda S.135ff. 34 Wobei die Heiligung (eines Gegenstandes, eines Menschen, einer Handlung) grundsätzlich von der alltäglichen, profanen Welt trennt, wie Hubert und Mauss am Beispiel eines einzelnen Rituals aus einem indischen Opferritus ausführen: "Un pretre prend, du feu des dieux, un brandon et, ce brandon a la main, il fait trois fois le tour de la bete (Opfertier). Ce tour se faisait dans l'Inde autour de toutes les victimes, avec ou sans le feu. Cetait le dieu, Agni, qui entourait la bete de toutes parts, la sacrait, la separait." Ebenda S.65 35 Wir können jetzt, nachdem die Vorstellung unseres Datenmaterials abgeschlossen ist, direktes Betteln und Spenden als Rituale auf Grundlage der Definition von S.64f. bezeichnen, denn in Bettel- und Spenderitualen sind auf der Ebene direkten Betteins und Spendens verschiedene Einzelhandlungen (z.B. das Hocken auf dem Boden, das Ausstrecken der Hand durch den Bettler und das Zurechtlegen des Geldes, die Annäherung, die herabbeugende Übergabe der Spende und die Rückkehr in den Strom der Fußgänger durch den Spender) ineinandergreifend zu einer Handlungskette zusammengebunden. Diese Handlungskette zeigt, wie für Rituale typisch^ in jedem Einzelfall ein hohes Maß an gleichförmigem Verlauf. Bettel- und Spendehandlungen unterscheiden sich - wenn auch täglich vorkommend - von bloßen Alltagsritualen, weil mit ihrer Hilfe der geregelte Kontakt zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen möglich wird. Wegen der deutlichen Übereinstimmungen im Bereich des vermittelten und direkten Betteins und Spendens (Konstruktion eines Gefälles plus Bittgeste sowie die Akzeptanz und Unterstreichung dieses Gefälles durch die Spende) werden wir unter dem Begriff Bettel- und Spenderituale auch das vermittelte Betteln und Spenden fassen. In bezug auf das Opfer sprechen wir von einem Ritus, weil das Opfer eine Bündelung von Einzelritualen zu Ritualketten unter einem Thema darstellt. Hier handelt es sich nicht mehr nur um einfache Rituale, sondern um einen auf Sakralisation und Desakralisation gerichteten religiösen Ritus. Der Ritus "ist in einem besonderen Sinne sozial, da er sich nicht auf Mitmenschen richtet, sondern auf etwas außeralltäglich Anderes, einen außeralltäglich Anderen. (...) Soziologisch ist jedenfalls von Interesse, dass es sich um eine Art von Handlung dreht, die von Menschen an Außeralltägliches gerichtet ist und von der Menschen meinen, dass sie von dort auch 'beantwortet' wird." Luckmann, Thomas (1985): Riten als Bewältigung lebensweltlicher Grenzen. In: Schweizer Zeitschrift für Soziologie (1985) Bd.3. S.549f. 36 Dazu vgl. z.B.: Jahn, Ulrich: Die deutschen Opferbräuche bei Ackerbau und Viehzucht. A.a.O. 37 Zur Definition der Kreuzigung Christi als Opfer, als 'Ritus des Kreuzopfers' siehe u.a.: Hartmann, Wilhelm (1967): Oblatio Munda - Die heilige Messe als Opfer. Wien. 38 "Jedes Opfer bedeutet Verzicht, je kostbarer die Gabe, desto wirksamer das Opfer." Höfer, Josef und Rahner, Karl (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd.7 A.a.O. S.1170 "Um den Göttern zu dienen, muß man sich vergessen; um ihnen in seinem Leben den Platz einzuräumen, der ihnen zusteht, muß man seine profanen Interessen opfern." Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. A.a.O. S.428 39 Hubert, Henri und Mauss, Marcel: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. A.a.O. S.64 40 "Si (...) on veut engager la divinite par un contrat, le sacrifice a plutöt la forme d'une attribution: le do ut des est le principe et, par suite, il n'y a pas de part reservee aux sacrifiants." Hubert, Henri et Mauss, Marcel: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. A.a.O. S.105

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Implizit unterliegen alle Opferformen der sogenannten do-ut-des Ökonomie. Das gilt auch für die Dankopfer, denn auch diese suchen letztlich über den dargebrachten Dank für etwas in der Vergangenheit Erhaltenes hinaus auch das zukünftige Wohlwollen der Gottheit zu sichern. Die do-ut-des Formel etabliert keine einseitige Abhängigkeit des Menschen von Gott, sondern enthält auch das Element des Gotteszwanges. Van der Leeuw sieht in der Opferformel eine wechselseitige Abhängigkeit begründet: "Der Mensch gibt, damit Gott gebe. Gott gibt, damit der Mensch gebe." van der Leeuw, Geradus (1920/21): Die do-ut-des-Formel in der Opfertheorie. In: Archiv für Religionswissenschaft (1920/21) Bd.20. Leipzig. S.245 "(...) dans toutes ces sortes de sacrifice, le sacrifiant, ä Tissue de la ceremonie, a ameliore son sort, soit qu'il ait supprime le mal dont il souffrait, soit qu'il se soit remis en etat de grace, soit qu'il ait acquis und force divine." Hubert, Henri et Mauss, Marcel: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. A.a.O. S.100 Hubert, Henri und Mauss, Marcel (1909): Melanges d'histoire des Religions. Paris. S.XVI f. Hubert, Henri et Mauss, Marcel: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. A.a.O. S.137f. "Das Opfer gehört zur Gemeinschaft, ist die Gemeinschaft, bildet sie und stärkt sie." van der Leeuw, Geradus: Phänomenologie der Religion. A.a.O. S.404 "(...) le sacrifice a la pretention de jouer parmi les hommes un röle harmonieux, d'etre une sorte de ciment social." Bottinelli, P. (1946): Le sacrifice et sä valeur objektive et sociale. Paris. S.7 Mauss, Marcel (1984): Die Gabe - Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften. 2. Auflage. Frankfurt. S.47 Mauss nennt einen Zeitpunkt, an dem das Opfer und die Gabe für Bedürftige sich im semitischen Kulturraum differenzierten: "... es ist die alte Moral der zum Gerechtigkeitsprinzip gewordenen Gabe; Götter wie Geister billigen es, daß Anteile, die man ihnen gab und die bei nutzlosen Opferungen zerstört wurden, den Armen und Kindern zugute kommen. Eben dies ist die Geschichte der Moralvorstellungen der Semiten. Das arabische 'sadaqa' bedeutet ursprünglich, so wie das hebräische 'zedaqa' ausschließlich 'Gerechtigkeit' und bekam später die Bedeutung von Almosen. Mit der mischnaischen Epoche, dem Sieg der 'Armen' in Jerusalem, läßt sich sogar der Zeitpunkt angeben, da die Doktrin der Nächstenliebe und des Almosens entstanden ist, die dann mit dem Christentum und dem Islam um die Welt wanderte. In jener Zeit erfuhr das Wort 'zedaqa' einen Bedeutungswandel, denn in der Bibel hieß es noch nicht Almosen." Ebenda S.47 Bächthold Stäubli, Hanns (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd.I. A.a.O. S.274 Ebenda S.1192 "... so nach dem Rastetter Hofrecht von 1378, wonach das aus den ausgescharrten Teigresten hergestellte Mutschellaiblein, das für die Hausgeister bestimmt ist, den Armen gegeben wurde." Ebenda S.1608 Ebenda S.1192 Ebenda S.276 Die abwehrenden Eigenschaften des Almosens bestehen z.B. darin, daß es in der Lage ist, vor dem sogenannten bösen Blick (des Bettlers) zu schützen, es bewahrt vor dem Feind, besitzt Zauberkraft und schützt davor und vertreibt Krankheitsgeister. Ebenda S.274ff.

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52 "(...) stellte man früher in den deutschen Gemeinden in Valsungen und in den Bergen zwischen Dräu und Brenta am Allerseelentag einen Topf gekochter Bohnen auf das Grab; man ließ die Speise mehrere Stunden stehen und verteilte sie dann unter die Armen. In Tirol stellte die Bäuerin am Vorabend vor Allerseelen Milch und Krapfen auf den Tisch; am nächsten Tag wird diese Speise unter die Armen verteilt.11 Ebenda Bd.IX S.537 Dazu siehe auch: Koren, Hans: Die Spende - Eine volkskundliche Studie über die Beziehung 'Arme Seelen - arme Leute'. A.a.O. S.126 53 Wuttke, Adolf (1900): Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. 3. Auflage. Berlin. S.65 54 Jahn, Ulrich: Die deutschen Opferbräuche bei Ackerbau und Viehzucht. A.a.O. S.78 55 Mannhardt, Wilhelm (1875): Wald- und Feldkulte. Berlin. Erster Teil. S.130 56 In den sogennanten kleinen oder einfachen Gesellschaften gibt es natürlich keine Armen und Fremden in einem solchen Umfang wie in den europäischen Gesellschaften. Dafür gibt es aber Randständige wie Kranke, Alte, Behinderte, Aussätzige, die, sofern sie nicht gänzlich sich selbst überlassen bleiben, z.T. aus Opfergaben oder deren Resten versorgt werden. Dazu z.B.: Hellwig, A. (1903): Das Asylrecht der Naturvölker. In: Berliner juristische Beiträge. (1903) Heft 1. Sterly, Joachim (1973): Krankheiten und Krankenbehandlung bei den Chimbu im zentralen Hochland von Neu-Guinea. Hamburg Es gibt aber auch zahlreiche Belege für Fälle, bei denen die Randständigen nicht die Nutznießer der Opfergaben sind, sondern selbst die Rolle der Opfergabe zugewiesen bekommen, um dann im Verlaufe der Zeremonie formvollendet hingeschlachtet zu werden. Koty, John (1934): Die Behandlung der Alten und Kranken bei den Naturvölkern. Stuttgart. Für die arabischen Gesellschaften, die selbstverständlich nicht zu den o.g. kleinen oder einfachen Gesellschaften zählen, ist der Zusammenhang von Opfer und Versorgung von Fremden ausführlich belegt. Chelhod, Joseph (1955): Le sacrifice chez les Arabes - recherches sur revolution, la nature et la function des rites sacrificiels en Arabie Occidental. Paris. 57 Zu den Spendensammel-Veranstaltungen, ihrem Festcharakter und ihrer Beziehung zum Opferritus vgl.: Lau, Thomas und Voß, Andreas (1988): Die Spende - Eine Odyssee im religiösen Kosmos. In: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.) (1988) : Kultur und Alltag. Soziale Welt. Sonderband 6. Göttingen. S.285ff. 58 Zum Begriff soziale Leistungen s.o. 59 Zur Funktion des Opfers als kommunikatives Verfahren zur Grenzmarkierung, zur Trennung und Überbrückung vgl.: Leach, Edmund (1978): Kultur und Kommunikation - Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a.M. S. 101 ff. 60 Der Akt des Gebens und Nehmens (nicht nur einer Spende) ist eine der ganz wesentlichen Formen der Schaffung von Sozialität: "Das Geben überhaupt ist eine der stärksten soziologischen Funktionen. Ohne daß in der Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird - auch außerhalb des Tausches - würde überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen." (Jedes Geben ist) "eine Wechselwirkung zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden." Simmel, Georg (1922): Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 2. Auflage. München und Leipzig. S.444 61 "(...) soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt die Unterstützung (...), sondern derjenige, der Unterstützung genießt bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen sollte - auch wenn sie zufällig ausbleibt - dieser heißt der

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Arme. (...) Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, daß er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte. So ist nach dieser Richtung die Armut nicht an und für sich, als ein quantitativ festzulegender Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen gewissen Zustand hin eintritt (...)" Simmel, Georg (1958): Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 4.Auflage. Berlin. S.371f. Ebenda S.372 "Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anderes als die Armen und die mannigfachen 'inneren Feinde' - ein Element, dessen immanente Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt." Simmel, Georg (1968): Das individuelle Gesetz - Philosophische Exkurse. Hrsg. von Landmann, Michael. Frankfurt a.M. S.63f. "Der Fremde (wie der Arme) ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden." Ebenda S.67f. "(...) das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd - dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinne des Wortes -, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah." Ebenda S.63 "So ist der Arme zwar gewissermaßen außerhalb der Gruppe gestellt, aber dieses Außerhalb ist nur eine besondere Art der Wechselwirkung mit ihr, die ihn in eine Einheit mit dem Ganzen im weitesten Sinne verwebt." Simmel, Georg (1958): Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. A.a.O. S.352f. "So steht der Arme freilich außerhalb der Gruppe, indem er ein bloßes Objekt für die Vornahmen der Gesamtheit mit ihm ist aber dieses Außerhalb ist - kurz ausgedrückt - nur eine besondere Form des Innerhalb." Ebenda S.368 Zur Doppelbedeutung des lateinischen hostis, des mittelhochdeutschen gart und des altslawischen gosti jeweils als Gast und Feind vgl.: Warnotte, D. (1927): Les origines sociologiques de l'obligation contractuelle. Bruxelles. S.51 Eine Untersuchung über den arabischen Kulturraum belegt dies im Detail. Ausgangspunkt des mit Mitteln des Opfers operierenden Rituals der Gastfreiheit ist die Furcht vor dem ankommenden Fremden. "L'etranger qui arrive dans un campement inspire une certaine crainte." Chelhod, Joseph: Le sacrifice chez les Arabes. Aa.O. S. 185 Diese furcht kennen nicht nur die Beduinen, die in ihrem Zeltlager in der Wüste (wenn auch selten) von einem ankommenden Fremden überrascht werden, sondern diese Furcht ist allgemein verbreitet (s.o. Doppelbedeutung des Wortes gast). Gastfreiheit oder Kampf sind die Alternativen der gefährlichen Begegnung mit dem Fremden. Wenn die Aggression vermieden werden soll, dann muß die Begegnung mit dem Fremden (genau wie die gefährliche Begegnung mit Armen) rituell abgefedert werden. Dies geschieht unter Einsatz von Merkmalen des Opfers im Rahmen der Gastfreiheit. "A son stade le plus oleve, l'hospitalite est exercee sous forme de sacrifice." (...) "Tant que dure l'hospitalite, il (der Fremde) est considere comme une personne sacree." Ebenda S.185 Auch hier wird also eine Begegnung, in diesem Fall die mit Fremden, über das Opfer in der Form der Gastfreiheit aus der alltäglichen Sphäre herausgehoben und der Fremde - zum

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beiderseitigen Schutz von Gast und Gastgeber - so in einer nicht-alltäglichen Distanz zu der ihn umgebenden Gemeinschaft gehalten. Der historische Zusammenhang von Gastfreiheit, die mit Merkmalen des Opfers operiert, und freiwilliger Armenunterstützung ist auch für Kulturräume außerhalb Arabiens belegt: "(...) die Gastfreiheit (hat) im praktischen Leben wie im sittlichen Urteil des abendländischen Altertums den Raum ausgefüllt (...), den später in der Kaiserzeit die Wohltätigkeit einnehmen sollte (-derart daß man die Wohltätigkeit als eine Fortsetzung der Gastfreiheit in einer von anderen sozialen Verhältnissen umgeprägten Form ansehen kann-) (...)" Bolkenstein, Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. A.a.O. S.lll - Dazu siehe auch oben S.15f. "Die ambivalente Einstellung gegenüber dem Fremden, als dem Träger rätselhafter und unbekannter Kräfte, führt auf der einen Seite zur Absperrung vor ihm, zu seiner Fernhaltung und Verfolgung, auf der anderen Seite aber zur abergläubischen Scheu, die ihm göttliche Verehrung zollt." (...) "Allmählich entwuchs (...) die Gastfreundschaft den strengen Formen: während sie auf der einen Seite in Wohltätigkeit überging, entwickelte sie sich auf der anderen zu einer ungebundenen Gastfreundlichkeit und Gastfreiheit." (...) "Je einseitiger der Vorteil aus der Gastfreundschaft später auf Seiten der Bewirteten lag, desto mehr wurde die caritative Grundlage betont, desto mehr sah man in dem Fremden den Armen (...)" Bächtold-Stäubli, Hanns: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd.III. A.a.O. S.307 und S.311 "Im Gegensatz zur Gastfreiheit bezeichnet die Gastfreundschaft eine dauernde Beziehung, die auch bestehen bleibt, nachdem die Gastfreiheit genossen ist." Bolkenstein, Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. A.a.O. S.166 Als historische Beispiele seien zu diesem Umstand besonders Bußregeln genannt, die z.B. Klerikern für die ein oder mehrmalige - in jedem Falle aber zeitlich begrenzte - Speisung von Armen Abiäße versprachen. Paulus, Nikolaus: Geschichte des Ablasses im Mittelalter - vom Ursprünge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Bd.II. A.a.O. S.242 (Dazu siehe auch S.33f. oben.) Aber auch außerhalb der Buße gibt es Beispiele für die institutionelle Verhinderung der Gastfreundschaft. So ist z.B. die Speisung der Armen Roms durch den Bischof von Rom bis heute eine Veranstaltung, bei der der Bischof die Armen in vorher festgelegter Zahl und in vorher festgelegter zeitlicher Begrenzung an seinen Tisch bittet. Dieses rituell abgesicherte Verfahren verhindert, daß alle Armen Roms an der Tafel des Bischofs platznehmen und es verhindert vor allem, daß sie dort sitzen bleiben. Es handelt sich hier also um keine alltägliche Beziehung, sondern um eine institutionelle, zyklisch wiederkehrende Beziehung und damit um ein hochgradig anonymisiertes Verhältnis zwischen Gebenden und Empfangenden. Dazu siehe u.a. von Sales Doye, Franz (1929): Heilige und Selige der römisch-katholischen Kirche. Bd. l und 2. Leipzig. Holzherr, Georg: Die Benediktsregel - eine Anleitung zum christlichen Leben. A.a.O. S.219ff. (Dazu siehe auch oben S.27f.) "Zärtlich strich die königliche Hand einem Jungen aus Puerto Rico über den Kopf... Dann küßte sie ein blondes Mädchen auf die Wange, drückte einen 9jährigen fest an sich. ... Diana zog Mantel und Handschuhe aus, blieb über zwei Stunden, ließ sich von den Kindern anfassen." Bild am Sonntag, 5.2.1989 So versucht - wie erzählt wird - selbst der Virtuose der Nähe zu den Armen, Franz von Assisi, zunächst dem Aussätzigen auszuweichen: "Eines Tages ritt Franz über die Ebene vor der Stadt Assisi. Da begegnete ihm ein Aussätziger. Er will ihm aus dem Wege gehen, jedoch bekommt er die Eingebung, daß er auch diesen Armen lieben müsse, wie sich selbst. Franz stieg vom Pferd, reichte dem Kranken ein Geldstück und gab ihm den Bruderkuß. Dann bestieg er wieder das Pferd und ritt freudig

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fort." Mitterrutzner, P. Augustin (1961): Der heilige Franziskus von Assisi und die Armut - eine genetische Darstellung seiner religiösen Anschauung von der Armut im Lichte der Quellen des 13. Jahrhunderts. Brixen. S. 106 Das, was in dieser Version der Legende als aus dem Wege gehen bezeichnet wird, nennt Mollat wesentlich schärfer einen schrecklichen Widerwillen. "Der bezeichnendste und deshalb wohl berühmteste Vorfall im Leben des hl. Franziskus dürfte wohl der Kuß des Leprosen sein, wobei der Heilige seinen schrecklichen Widerwillen überwinden mußte." Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. A.a.O. S.109 Dies gilt für Arme besonders in der Bettelsituation und für Könige (Herrschende) besonders in der höfischer Repräsentation. Neben allen Unterschieden in der Ausgestaltung der Bettel- und der Repräsentationssituation folgen beide dem Prinzip der Inszenierung eines Kontrastes. Dieser Kontrast wird in Relation zur jeweiligen Umgebung des Bettelnden bzw. Herrschenden aufgebaut. Dabei finden sich im Vergleich zwischen Bettler und Herrscher nicht nur diametrale Gegensätze bei der Wahl der Mittel für die Schaffung des Kontrastes, wie sie etwa in der Erniedrigung des Bettlers und der Erhöhung des Herrschenden zu Finden sind. Beide operieren z.B. mit dem Element der Bewegungslosigkeit in einer Umgebung von Menschen, die in Bewegung sind. Der passiv Bettelnde kauert beinahe regungslos zu Füßen der an ihm vorbeiziehenden Passanten, der König thront unbewegt über den Mitgliedern seines Hofstaates. "Der König ist der unbewegte Beweger (rex non pugnat) die Fülle der Macht, aus der die Rechte kommen und in die sie zurückkehren." Wenzel, Horst (1990): Repräsentation und schöner Schein am Hof und in der höfischen Literatur. In: Ragotzky, Hedda und Wenzel, Horst (Hrsg.): Höfische Repräsentation - Das Zeremoniell und die Zeichen. A.a.O. S.193 Zum ritualisierten Ausschluß von Herrschenden aus der sie umgebenden Gemeinschaft vgl. auch: Freud, Sigmund (1981): Totem und Tabu. 18. Auflage. Frankfurt a.M. S.48ff. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß viele derjenigen, die mehr oder minder lautstark freiwillig eine Randposition im Verhältnis zur übrigen Gesellschaft einzunehmen versuchen, sich mit dem Ausdrucksrepertoire der Armut schmücken. Die Liste reicht dabei von den Bettelmönchen über die Hippies, den Punks bis hin zu den Jugendlichen 'aus gutem Hause' in ihren kunstvoll zerrissenen Jeans. Sie alle präsentieren Versatzstücke des Ausdrucksrepertoires der Armut z.T. bis hin zum Betteln, um ihrer tatsächlichen Randstellung oder ihrem Flirt mit dieser gesellschaftlichen Position symbolisch Ausdruck zu verleihen. Die Attribute freiwilliger Armut sind im Vergleich zu den Attributen der Herrschaft, die ebenfalls eine Randposition markieren, in jedem Falle preiswerter zu erwerben und vor allem sind sie im Vergleich zu den Attributen erzwungener Armut leichter wieder abzulegen. In einigen Heiligenlegenden wird die Bewegungsrichtung von oben nach unten verdeutlicht, indem man die Distanz zwischen oben und unten noch größer wirken läßt. So steigen z.B. der heilige Martin oder der heilige Franziskus von ihren Pferden hinab zu den Armen herunter. Wir werden gleich unter dem Stichwort cariias sehen, welche kommunikative Wirkung der Akt des Sichherabbeugens zu den Armen entfaltet. Der Fußkuß für die Leprosen, wie ihn z.B die Heilige Elisabeth praktiziert haben soll, kann per se kein alltägliches Verhältnis zwischen den beteiligten Akteuren etablieren, auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird: So z.B. bei Oexle, Otto Gerhard (1981): Armut und Armenfürsorge um 1200. Ein Beitrag zum Verständnis der freiwilligen Armut bei Elisabeth von Thüringen. In: Sankt Elisabeth Fürstin Dienerin Heilige. Sigmaringen 1981. S.91: "Berühmt ist die Begebenheit, als Elisabeth an einem Gründonnerstag viele Leprosen herbeiholte, ihnen Füße und Hände wusch und ihre scheußlichen Geschwüre küßte. Ein solcher Kuß bedeutete nicht bloß eine Demütigung oder Kasteiung, er war vor allem ein

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Zeichen der Gleichstellung im sozialen, physischen und emotionellen Sinn. Handlungen dieser Art als 'Stilisierungen' zu bezeichnen heißt: sie gründlich mißverstehen." Und Stilisierungen waren sie eben doch, wenn man berücksichtigt, daß dieser Kuß der Füße der Leprosen durch eine Adelige - zudem ausgeführt in einem zyklischen wiederkehrenden Zeitraum, an einem kirchlichen Feiertag im Rahmen des mandatum pauperum - die gezielte Umkehr dessen war, was im Mittelalter gemeinhin mit dem Fußkuß ausgedrückt wurde: nämlich die symbolische Darstellung einer hierarchischen Rangordnung, innerhalb derer der Niedriggestelltere dem Höhergestellteren die Füße zu küssen hatte. Dazu siehe: Schreiner, Klaus (1990): 'Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes' (Osculetur me osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktion einer symbolischen Handlung. In: Ragotzky, Hedda und Wenzel, Horst (Hrsg.) (1990): Höfische Repräsentation - Das Zeremoniell und die Zeichen. A.a.O. S.90 Der Begriff Distanz des Randes sollte nicht als eine bloße Metapher aufgefaßt werden, sondern als eine Beschreibung sozialer Realität. Man denke nur an die Aufenthaltsorte der Bettler an den Türen der Kirchen und Privathäuser, in Durchgängen, an den Rändern der innerstädtischen Wege, wie wir sie aus unserer Feldbeobachtung und aus dem historischen Rückblick kennengelernt haben. Jes. Sir. 13,10 in: Nötscher, Friedrich (Hrsg.) (1951): Das alte Testament - Sirarch. Würzburg. S.36 "Ist aber (...) der Empfänger aus dem Zweckprozeß des Gebens ganz ausgeschaltet, spielt er keine andere Rolle als der Kasten, in den eine Spende für irgendwelche Seelenmessen gelegt wird, so ist die Wechelwirkung abgeschnitten, die Schenkaktion ist kein soziales, sondern ein bloß individuelles Ereignis." Simmel, Georg (1958): Soziologie - Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. A.a.O. S.353 Dazu sei noch einmal auf die 'Hyperritualisierung' in den Fotos der Spendenbriefe verwiesen (s.o.). "(...) Gesellschaft als das die unterschiedlichen sozialen Welten übergreifende Kosmion und dazu als ein Kosmion in Bewegung 'ereignet' sich dort, wo die unterschiedlichen Prozesse, Zielsetzungen, Glaubens- und Wissensformen aufeinandertreffen - an den Grenzen und Schnittpunkten unterschiedlicher Sektoren. Dort vollziehen sich Austausch und Auseinandersetzung, Zuordnung und/oder Hierarchisierung. Hier liegt zugleich der Ursprung für jenes Medium, das aus der Wechselbeziehung zwischen unterschiedlichen Sektoren 'Gesellschaft' werden läßt: hier ist der Ursprung der Öffentlichkeit." Soeffner, Hans-Georg (1991): 'Trajectory' - Das geplante Fragment. Die Kritik der empirischen Vernunft bei Anselm Strauss. Manuskript. Hagen. Wir beziehen uns hier im wesentlichen auf: Fuerth, Maria: Caritas und Humanitas - Zur Form und Wandlung des christlichen Liebesgedankens. A.a.O. Ebenda S.56 Ebenda S.55 Ebenda S.58 Ebenda S.62 Ebenda S.59 Ebenda S.61 Ebenda S.77 und S.109 Ebenda S.69 Ebenda S.113 "Die Armut erst ermöglichte es dem Reichen, seine humilitas zu bewähren und sich herabzuneigen. Für den mittelalterlichen Menschen war Armut gleichsam vorhanden, damit der Mensch die Möglichkeit habe, caritas als imitatio der agape Dei durch Herabneigen zu üben."

Anmerkungen

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Ebenda S.135 95 Edmund Leach weist unter Hinzuziehung der Kategorie Schmutz am Beispiel von Schwellen und Pforten auf die Notwendigkeit der Unverwechselbarkeit von Innen und Außen hin: "Mary Douglas hat (...) an den Aphorismus von Lord Chesterfield erinnert, daß Schmutz Materie am falschen Platz sei. Erde im Garten ist nichts weiter als Erde, normale Materie an ihrem normalen Platz; Erde auf dem Küchenfußboden dagegen ist Schmutz - Materie am falschen Platz. Und je genauer wir unsere Grenzen festlegen, desto beklemmender werden wir uns des Schmutzes bewußt, der auf zweideutige Weise auf die falsche Seite der Grenze geraten ist. Grenzen sind sozusagen per definitionem schmutzig, und wir verwenden beträchtliche Anstrengungen darauf, sie rein zu halten, um uns das Vertrauen in unser Kategoriensystem zu erhalten. Die Archäologie und die vergleichende Ethnographie zeigen deutlich, daß während der ganzen Menschheitsgeschichte und überall auf der Welt die unterschiedlichsten Gesellschaften Schwellen und Pforten eine ungeheure rituelle Wichtigkeit beigemessen haben. Die Bedeutung dieser Zugangswege als Verteidigungsanlagen spielt dafür nur eine ziemlich marginale Rolle; die Basis dieser Elaborationen ist psycho-sozial: Dauernd bewegen sich Individuen über diese Schwellen hin und her, und es wird dabei für unsere moralische Sicherheit ungeheuer wichtig, daß es dadurch nicht zu Verwechselungen zwischen Innen und Außen kommt; es muß zwischen ihnen eine reinliche und mit Bedeutung aufgeladene physische Abgrenzung erfolgen. Und was für den territorialen Raum gilt, gilt in gleicher Weise für den sozialen Raum und die soziale Zeit." Leach, Edmund: Kultur und Kommunikation - Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. A.a.O. S.78 und S.79 % Mit dieser Frage- und Antwortfunktion gleichen die Bettel- und Spenderituale, genau wie mit der Schaffung von Grenzen zu außeralltäglichen Wirklichkeitsbereichen, zwei Funktionen des Ritus: "Riten setzen die Gemeinschaft mit- und gegeneinander handelnder Menschen in eine Beziehung (und zwar eine Beziehung des Handelns, des 'Fragens' und des 'Antwortens') zu einer Wirklichkeitsschicht, die mit außeralltäglichen Eigenschaften und Kräften ausgestattet ist." Luckmann, Thomas: Riten als Bewältigung lebensweltlicher Grenzen. A.a.O. S.550 97 Darüberhinaus kommt der Spende an den Bettler duch Kinder ein versöhnlicher Charakter zu, weil das Gefalle zwischen Gebenden und Empfangenden in diesem Fall geringer ist, als zwischen erwachsenen Spendern und Empfängern. 98 Zur Rolle des Bettlers als Reiniger des Alltags und als 'moralischer Blitzableiter vgl.: Danckert, Werner: Unehrliche Leute - Die verfehmten Berufe. A.a.O. S.213 Die "althellenischen Bettler waren 'öffentliche Arbeiter' besonderer Artung: sie waren die 'Reiniger', sie übernahmen an den Türen sitzend bei Mahlzeiten und Banketten die Rolle desjenigen, der die (durch Frevel, Lästerung und so weiter entstandenen) 'Flecken' (Befleckungen) auf sich nimmt. 'Dieses ist im täglichen Leben die Rolle, die bei den öffentlichen und feierlichen Anlässen der Sündenbock spielt': der Bock, den Aaron nach 3. Moses 16,21f. mit allen Sünden Israels beladen in die Wüste jagt. Auch ihn überhäufte man mit Geschenken und beschimpfte ihn gleichzeitig: ein ambivalentes Verhalten, das sich aus dem magischen Consensus ergibt." Ebenda S.212f. 99 Dazu folgende Beispiele: "Monopoly-Marathon im Zelt vor der Lamberti-Kirche, Arbeitslose spielen für die Sorgenkinder" Ruhr-Nachrichten 1.3.1986 "Auch Nichtseßhafte sammeln für notleidende Menschen in der Sowjetunion. Besonders bedanken möchten wir uns bei den Nichtseßhaften aus dem Caritas-Männerwohnheim. (...)

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Deutung

Obwohl die meisten Spender nur über ein Taschengeld von monatlich 134,70 verfügen, wollen sie noch mehr Geld für die WAZ-Hungerhilfe sammeln." Westdeutsche Allgemeine Zeitung 12.12.1990 Nicht zu vergessen auch der die Sozialhilfeempfängerin und der Arbeitslose, die Bettlern auf der Straße spendeten. Im Mittelalter war die Spende des Armen an den Armen z.T. noch institutionalisiert und damit explizit vorgeschrieben. Man sicherte dem Armen so einen Anteil am Handlungspotential derer, die sich vollständig innerhalb der Gesellschaft befanden. 100 "(...) Wenn du ein Mittags- oder Abendmahl machst, so lade nicht deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch reiche Nachbarn, auf daß sie dich nicht etwa wieder laden und dir vergolten werde. Sondern wenn du ein Mahl machst, so lade die Armen, die Krüppel, die Lahmen, die Blinden, so bist du selig, denn sie haben's nicht zu vergelten; es wird dir aber vergolten werden in der Auferstehung der Gerechten." Luk.14,12-14 101 "Alle drei Jahre sollst du aussondern den ganzen Zehnten vom Ertrag dieses Jahres und sollst ihn hinterlegen in deiner Stadt. Dann soll kommen der Levit, der weder Anteil noch Erbe mit dir hat, und der Fremdling und die Waise, und die Witwe, die in deiner Stadt leben, und sollen essen und sich sättigen, auf daß dich der Herr, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hand, die du tust." 5.Mose 14,28-29 102 Alltägliche Kommunikationsstile sperren sich gegen eine hochgradige symbolische Verdichtung (z.B. Mutter-Kind-Interaktion). "Es gehört zur Natur der Gesellschaft, daß sie sich in ihren Gebräuchen und in ihren Institutionen symbolisch ausdrückt, während die normalen individuellen Verhaltensweisen im Gegensatz dazu niemals durch sich selbst symbolisch sind: sie sind nur die Elemente, aus welchen ein symbolisches System, daß nur kollektiv sein kann, sich bildet." Levi-Strauss, Claude (1974): Vorwort zu: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie. Bd.l. In: Lepenies, Wolf und Ritter, Henning (Hrsg.) (1974): Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie. Bd.l. München. S.13 103 Die Kirche hat den Widerspruch zwischen dem alten Muster der Indirektheit und der neuen Forderung nach Direktheit harmonisiert. Indem sie die Armutsbewegungen integrierte und sich selbst auf theoretischer Ebene mit den Armen identifizierte (pauperes Christi, s.o.), konnte sie die im Neuen Testament geforderte alltägliche Nähe zu den Armen in sichere, rituelle, außeralltägliche Nähe ummünzen. Die Vermittlerrolle des Klerus zwischen Armen und Gebenden konnte beansprucht und ausgebaut werden, weil der Klerus über das Wissen um die kommunikativen Verfahren für die rituelle Schaffung von außeralltäglicher Nähe zu den Armen verfügte. 104 "Mitgefühl besteht beim Menschen darin, daß man in der eigenen Identität die Haltung des Individuums auslöst, das hilfsbedürftig ist. Ein Arzt kann eine Operation ganz objektiv durchführen, ohne das geringste Mitgefühl zu haben. Bei der Haltung des Mitgefühls aber setzen wir voraus, daß unsere Haltung in uns die Haltung der hilfsbedürftigen Person auslöst. Wir fühlen mit ihr und können uns in die andere Person hineindenken, weil wir durch unsere eigene Haltung in uns selbst die Haltung dieser Person ausgelöst haben. (...) Es gibt Menschen, denen gegenüber man nur sehr schwer Mitgefühl haben kann. Damit man jemandem gegenüber Mitgefühl haben kann, muß es eine Reaktion geben, die der Haltung des anderen entspricht. Gibt es keine solche entsprechende Reaktion, so kann man in sich selbst kein Mitgefühl auslösen. Mehr noch, auch die andere Person muß mithelfen, die Person, der das Mitgefühl entgegengebracht wird, muß antworten, wenn die mitfühlende Person in sich selbst diese Haltung auslösen soll. (...) Ist keine Reaktion zu verzeichnen, so kann man gegenüber dieser Person kein Mitgefühl haben. Hier zeigen sich die Grenzen des Mitgefühls; es kann einzig in einem kooperativen Prozeß auftreten." Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M. S.346 u.

Anmerkungen

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S.347 105 Dies gilt besonders in all den Fällen, in denen sich die Armutsgruppen in einer ausgesprochen drastischen Form präsentieren, wie es z.B. bei den Leprösen der Fall ist: "Eine (...) Erklärung für die Absonderung der Leprösen könnte ihre äußere Erscheinung gewesen sein: Man hielt sich fern von ihnen, weil sie Ekel und Entsetzen einflößten. In Form des Knoten-Aussatzes führt Lepra zur Verdickung von Nase und Lippen, das Gesicht nimmt ein tierhaftes Aussehen an (...); in einem weiteren Stadium kommt es zu Verstümmelungen von Nase, Ohren, Fingerspitzen oder Gliedmaßen mit fahlen, farblosen, mitunter schwärenden Wunden. So war der Leprose also unsauber, häßlich, wahrhaft abstoßend. Kaum noch menschenähnlich zu nennen, war der Leprakranke zum fremden Wesen geworden, und man floh ihn. Er flößte Angst ein. Er erregte Anstoß und gehörte entfernt." Ruffle, Jacques und Sourina, Jean-Charles (1987): Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. Stuttgart. S.90f. Anhand dieser Beschreibung wird noch einmal deutlich, daß der Kuß des Leprosen durch den heiligen Franz von Assisi die genaue Umkehrung der alltäglichen Fluchtreaktion in außeralltägliche rituelle Nähe bedeutet. Aus der folgerichtigen, drastischen Darstellung des Gegenteils alltäglichen Umgangs mit den Armen gewinnt Franziskus den Status des Heiligen. 106 "Im Übergang vom Römischen Reich zum Christentum finden wir eine Form der Propaganda, die den bewußten Versuch macht, eine (...) Universalgesellschaft zu organisieren." (...) Die Propaganda des Christentums oder des Buddhismus versuchte, "die verschiedenen Menschen in eine bestimmte geistige Gruppe hereinzubringen, (...) in der sie sich als Mitglieder einer einzigen Gesellschaft erkennen könnten. Dieser Versuch verband sich unvermeidlich mit der politischen Struktur - besonders beim Christentum -, und dahinter stand die Annahme, die sich in missionarischen Projekten ausdrückte, daß dieses gesellschaftliche Prinzip, dieses Erkennen der Bruderschaft der Menschen, die Basis für die Universalgesellschaft der Menschen bilde." Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft. A.a.O. S.329 Ein wesentliches Instrumentarium, welches die Idee der christlichen Universalgesellschaft transportiert, ist nach Max Weber die Eucharistie, die rituelle Tischgemeinschaft, die wir auch als Form christlicher Armenpflege kennengelernt haben. Die Eucharistie hebt potentiell Geburts- und Klassenschranken auf bzw. fordert deren Aufhebung, damit das gemeinsame rituelle Mahl zustande kommt. "Alle Verbrüderung aller Zeiten setzte Speisegemeinschaft voraus. Nicht die wirkliche, alltäglich geübte, aber: ihre rituelle Möglichkeit." Weber, Max (1966): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, II Hinduismus und Buddhismus. 4.Auflage. Tübingen. S.38 107 So findet sich in denjenigen Berufen, die den Umgang mit menschlichem Leid bewältigen müssen (z.B. Mediziner, Priester, Mitarbeiter von Bestattungsinsitituten etc.), ein hoher Ritualisierungsgrad im Umgang mit den jeweiligen 'Klienten'. 108 In diesem Zusammenhang können die Arbeiten, die eine uneigennützige Intention bei der Hilfe für bedürftige, gruppenfremde Personen unterstellen und diese als Mittelpunkt der Hilfsbeziehung bezeichnen, solange nicht überzeugen, wie sie die Altruismuskonzepte, mit denen sie operieren, nicht konsequent auf ihre kulturhistorische Genese und auf ihre soziale Realität, das heißt, bezogen auf die Wechselwirkung zwischen Helfendem und Hilfsbedürftigen und Gesellschaft, hin untersuchen. Dazu siehe u.a.: Lück, Helmut, E. (1975): Prosoziales Verhalten - empirische Untersuchungen zur Hilfeleistung. Köln. Wispe, Lauren (1978): Altruism, Sympathy, and Helping - Psychological and Sociological Principles. New York. Staub, Ervin (1978): Positive Social Behavior and Morality - Social and Personal Influences.

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Deutung

New York, San Francisco, London. Bierhof, Hans Werner (1980): Hilfreiches Verhalten - Soziale Einflüsse und pädagogische Implikationen. Darmstadt. 109 " (...) soziales Verantwortungsbewußtsein ist (...) kein Ersatz für die symbolischen Formen sondern in seiner Funktion sogar von ihnen abhängig. Wo jede Form von Ritual im Keim erstickt wird, besteht die Gefahr, daß die philanthropischen Impulse ins Leere stoßen; denn es ist eine Illusion, wenn man glaubt, daß es irgendeine Form von Organisation ohne ein Minimum von symbolischen Ausdrucksformen geben könne - der alte Prophetentraum vom Gottesreich der spontanen und total unvermittelten Kommunikation. Die spontane Einfühlung reicht allenfalls für das kurze Aufblitzen einer Einsicht aus. Aber der Gedanke, daß es eine Ordnung geben könnte, in der jung und alt, Mensch und Tier, Löwe und Lamm in spontaner Eintracht nebeneinander leben, ist eine millennialistische Vision. Wer das Ritual (und sei es auch nur in seinen hochgradig magischen Formen) verachtet, hängt in Wirklichkeit im Namen der Vernunft einem höchst irrationalen Kommunikationsbegriff an." Douglas, Mary (1981): Ritual, Tabu und Körpersymbolik - Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a.M. S.74 110 Das Opfer weist unterhalb seiner durch die jeweiligen Religionen explizit definierten Anwendung eine 'funktionale Mehrdeutigkeit' auf. "Diese Mehrdeutigkeit beweist, daß die wahre Funktion eines Ritus nicht in den besonderen und bestimmten Wirkungen liegt, die er anzuzielen scheint und durch die man ihn gewöhnlich charakterisiert, sondern in einer allgemeinen Handlung, die, obwohl sie immer und überall an sich gleich bleibt, dennoch fähig ist, verschiedene Formen je nach den Umständen anzunehmen." Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. A.a.O. S.519 Im Falle der Bettel- und Spenderituale haben die darin vorkommenden Merkmale des Opfers heute im wesentlichen zwar ihren christlichen Kontext eingebüßt, ihre soziale Funktion aber beibehalten.

Literatur Anciaux, Paul (1961): Das Sakrament der Buße - Geschichte, Wesen und Form der Kirchlichen Buße. Mainz. Apostolische Bußkonstitution, Bußordnung der deutschen Bischöfe, Apostolische Konstitution über die Neuordnung des Ablaßwesens (1967) Bd.2. Trier. -Lallemant, Friedrich Christian Benedict (1980): Das deutsche Gaunertum. Bd.l. Hildesheim, New York. (Nachdruck der Ausgabe von 1858) Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.) (1927): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin, Leipzig. Berger, Peter L. (1982): Einladung zur Soziologie. 3. Auflage. München. Beringer, Franz (1921/22): Die Ablässe, ihr Wesen und Gebrauch. 2 Bde. Paderborn. Bierhof, Hans Werner (1980): Hilfreiches Verhalten - Soziale Einflüsse und pädagogische Implikationen. Darmstadt. Blankenburg, Martin (1988): Internationale Wohlfahrt -Ursprünge und Entwicklung des ICSW. Berlin. Bolkenstein, Hendrik (1967): Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Groningen. (Nachdruck der Ausgabe von 1939) Bottinelli, P. (1946): Le sacrifice et sä valeur objective et sociale. Paris. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.) (1985): Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege - Aufgaben und Finanzierung. Freiburg i.Br. Chelhod, Joseph (1955): Le sacrifice chez les Arabes - recherches sur revolution, la nature et la function des rites sacrificiels en Arabie Occidentale. Paris. Concelmann, Otto (Hrsg.) (1959): Otto Dix. Hannover. Danckert, Werner (1963): Unehrliche Leute - Die verfehmten Berufe. Bern, München. Douglas, Mary (1981): Ritual, Tabu und Körpersymbolik - Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a.M. Duden - Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich 1981. Durkheim, Emil (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Hrsg. und eingeleitet von Reno König. Frankfurt a.M. Durkheim, Emil (1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 3. Auflage. Frankfurt a.M. Eicher, Peter (Hrsg.) (1984): Handbuch theologischer Grundbegriffe. München. Ermert, Karl (1979): Briefsorten - Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen. Feuchtwanger, L. (1908 und 1909): Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (1908) 4. Heft und (1909) 1. Heft. Foerstl, Johann Nepumuk (1909): Das Almosen - Eine Untersuchung über die Grundsätze der Armenfürsorge in Mittelalter und Gegenwart. Paderborn. Freud, Sigmund (1981): Totem und Tabu. 18. Auflage. Frankfurt a.M.

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Literatur

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