Beten bei Jesus Sirach: Exegese, Theologie, Intertextualität und Hermeneutik der antiken Sprachversionen 3110784882, 9783110784886

Um bei einer Lösung der postmodernen Krise des Betens zu helfen, will diese Studie die Theologie des Buches Jesus Sirach

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Beten bei Jesus Sirach: Exegese, Theologie, Intertextualität und Hermeneutik der antiken Sprachversionen
 3110784882, 9783110784886

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches
2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs
3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre
4 Vorbilder des Gebets bei Sirach
5 Exegetischer und theologischer Ertrag
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bibelstellen
Sachregister

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Mirosław Łopuch Beten bei Jesus Sirach

Deuterocanonical and Cognate Literature Studies

Edited by Friedrich V. Reiterer, Kristin De Troyer, Beate Ego and Tobias Nicklas

Band 49

Mirosław Łopuch

Beten bei Jesus Sirach Exegese, Theologie, Intertextualität und Hermeneutik der antiken Sprachversionen

Dissertation an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt, Begutachtung durch Prof. Dr. Burkard M. Zapff und PD Dr. Joachim Eck, Abschluss des Promotionsverfahrens am 24.06.2021. Die Dissertation wurde ursprünglich unter dem Titel „Gebetsweisheit Jesu, des Sohnes Sirachs. Exegese und Theologie ausgewählter Texte unter Berücksichtigung ihrer Intertextualität und der Hermeneutik antiker Sprachversionen“ eingereicht.

ISBN 978-3-11-078488-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078492-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078511-1 ISSN 1865-1666 Library of Congress Control Number: 2022942858 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Κύριε, δίδαξον ἡμᾶς προσεύχεσθαι

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2021 unter dem Titel „Gebetsweisheit Jesu, des Sohnes Sirachs. Exegese und Theologie ausgewählter Texte unter Berücksichtigung ihrer Intertextualität und der Hermeneutik antiker Sprachversionen“ im Fach Alttestamentliche Wissenschaft von der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt als Inauguraldissertation angenommen. Der Abschluss des Promotionsverfahrens fand am 24.06.2021 statt. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet und aktualisiert. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bedanken bei Herrn Prof. Dr. Burkard M. Zapff, meinem Doktorvater, für die engagierte Begleitung meines Weges und die zahlreichen Gelegenheiten, an Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen, sowie für die interessante Aufgabenstellung und seine konstruktive Kritik bei der Durchsicht dieser Arbeit. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn PD Dr. Joachim Eck für seine fachliche Beratung und die bereichernden Gespräche auf persönlicher und akademischer Ebene. Im Weiteren bedanke ich mich bei Herrn Dr. Gabriel Rabo und P. Francis Succar OLM für ihre kostbare Hilfe bei den Übersetzungsproblemen der Peschitta und für die geduldige Einführung in die syrische Kirchentradition und Liturgie. Außerdem möchte ich meinem Bischof Dr. Bohdan Dzyurakh CSsR und dem Bischof Emeritus Petro Kryk für ihren Segenszuspruch, meinem Heimatpfarrer Oleksandr Smetanin für die großherzige geistliche Führung sowie meinem Rektor Erzpr. Dr. Oleksandr Petrynko und den Mitarbeitern des Collegium Orientale für ihre Begleitung und stete Unterstützung bei allen möglichen Problemen ein herzliches Vergelt’s Gott sagen. Ich danke auch meinen Eltern Stefania und Zenon, meiner Schwester Maria und meinem Bruder Petro mit ihren Familien sowie allen anderen Familienmitgliedern und Freunden für Gebet, Liebe und jede nur mögliche Hilfe. Nicht zuletzt gebührt mein herzlicher Dank dem Referat Weltkirche der Diözese Eichstätt für die finanzielle Unterstützung. Eichstätt, den 14.09.2022

https://doi.org/10.1515/9783110784923-202

Dr. Mirosław Łopuch

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

 VII

1 1.1 1.2 1.3 1.4

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches      Hauptthemen und Struktur des Buches 1  5 Relecture der Schrift als prägendes Merkmal  Entstehung und Überlieferung des hebräischen Textes Wechselverhältnis und Hermeneutik der antiken  12 Sprachfassungen 

2 2.1 2.2 2.3

 21 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs   21 Religionsgeschichtliches Umfeld   25 Lexikalischer Befund   37 Anliegen und Vorgehensweise dieser Arbeit 

 41 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre  Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm  41 in Sir 2,1–18   41 3.1.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen   47 3.1.2 Hermeneutik der Sprachversionen   50 3.1.3 Kontextualisierung und Gliederung  Exkurs 1: Anamnese im Spannungsfeld der Produktions- und  55 Rezeptionsästhetik   59 3.1.4 Intertextualität   62 3.1.5 Formale Analyse      3.1.6 Gattungskritik 66  69 3.1.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 2,10   73 Exkurs 2: Kirchliche Rezeptionen in Ost und West   80 3.1.8 Zusammenfassung  3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung  82 in Sir 3,1–16   82 3.2.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen      3.2.2 Hermeneutik der Sprachversionen 90  95 3.2.3 Kontextualisierung und Gliederung   98 3.2.4 Intertextualität   108 3.2.5 Formale Analyse      3.2.6 Gattungskritik 110  111 3.2.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 3,5b   114 3.2.8 Zusammenfassung  3 3.1

7

X 

 Inhaltsverzeichnis

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 Exkurs 3: 3.3.8 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 Exkurs 4: 3.4.5 3.4.6 3.4.7 3.4.8

 115 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31      Textkritik und deutsche Übersetzungen 115  122 Hermeneutik der Sprachversionen   125 Kontextualisierung und Gliederung   127 Intertextualität   134 Formale Analyse      Gattungskritik 135  138 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 3,20   140 Weitere Relecturen der Fürbetergestalt des Mose      Zusammenfassung 144 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten  146 in Sir 4,1–10   146 Textkritik und deutsche Übersetzungen      Hermeneutik der Sprachversionen 152  154 Kontextualisierung und Gliederung   157 Intertextualität   162 Die Vateranrede Gottes als Brücke zum Neuen Testament      Formale Analyse 165  168 Gattungskritik   169 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 4,6   171 Zusammenfassung 

 174 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach   174 4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b   174 4.1.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen   178 4.1.2 Hermeneutik der Sprachversionen     182 4.1.3 Kontextualisierung und Gliederung  186 Exkurs 5: Auf der Spur einer durchdachten Buchkomposition?   188 4.1.4 Intertextualität   194 4.1.5 Formale Analyse      4.1.6 Gattungskritik 196  197 4.1.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 39,5–6 

Exkurs 6: 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 Exkurs 7:

Der Lebenswandel des Schriftgelehrten als Muster der lectio  201 divina   205 Zusammenfassung   208 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6   208 Textkritik und deutsche Übersetzungen      Hermeneutik der Sprachversionen 220 Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Namens Josua (Jesus) 

 224

Inhaltsverzeichnis 

4.2.3 4.2.4 Exkurs 8: 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 Exkurs 9: 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8 5 5.1 5.2 5.3

 226 Kontextualisierung und Gliederung      Intertextualität 227  231 Gebet in der Bedrängnis durch die Feinde   234 Formale Analyse   235 Gattungskritik   237 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 46,5      Zusammenfassung 241  243 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25   243 Textkritik und deutsche Übersetzungen   248 Hermeneutik der Sprachversionen     251 Kontextualisierung und Gliederung  254 Intertextualität  Schriftrelecture als Antwort auf die Herausforderungen  263 der Zeit   267 Formale Analyse   270 Gattungskritik   270 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 48,20      Zusammenfassung 278

 282 Exegetischer und theologischer Ertrag  Intertextualität zwischen dem Sirachbuch und dem Alten  282 Testament   287 Hermeneutische Eigenart antiker Sprachversionen  Zusammenfassung der Grundzüge der sirazidischen  292 Gebetsweisheit 

Abkürzungsverzeichnis 

 297

Quellen- und Literaturverzeichnis  Bibelstellen  Sachregister 

 315  317

 299

 XI

1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches 1.1 Hauptthemen und Struktur des Buches Das biblische Buch Jesus Sirach1 gilt als das umfangreichste Beispiel der weisheitlichen Literatur Israels und des ganzen Alten Orients.2 Es heißt in der rabbinischen Tradition ‫„ בן סירא‬Ben Sira“,3 während es die griechische Septuaginta (LXX) als Σοφία Ἰησοῦ υἱοῦ Σ(ε)ιραχ „Weisheit Jesu, des Sohnes Sirachs“ kennt.4 1 Zu den in der Arbeit verwendeten Quellentexten: Der hebräische Konsonantentext des Ben Sira entstammt der Polyglotte von F. Vattioni (vgl. Vattioni, Ecclesiastico) und der Edition von P.  Beentjes (vgl. Beentjes, Part I–II, 23–178). Der griechische Sirachtext entspricht der textkritischen Edition von J. Ziegler (vgl. Ziegler, Sirach, 123–368), der genannten Polyglotte von Vattioni und der textkritischen Edition der LXX von A. Rahlfs (vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 377–471). Der syrische Text des Sirachbuches folgt der Polyglotte von Vattioni und der diplomatischen Ausgabe von N. Calduch-Benages auf der Grundlage des Codex Ambrosianus (vgl. Calduch-Benages, Text). Bei den anderen biblischen Büchern wird der Masoretische Text (im Weiteren: „MT“) nach der Biblia Hebraica Stuttgartensia zitiert (diplomatische Ausgabe des MT auf der Grundlage des Codex Leningradensis; vgl.  Elliger  / Rudolph, Biblia Hebraica), während der LXX-Text der Rahlfs’schen Edition entspricht (vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 1 und ders., Septuaginta, Vol. 2). Der nur sporadisch zitierte lateinische Bibeltext stammt aus der Vg (vgl. Weber / Gryson, Biblia sacra) und in wenigen Fällen aus der Nova Vulgata (vgl. Nova Vulgata). Da es sich hier um Standardwerke handelt, wird im Weiteren auf ihre vollständige Angabe meistens verzichtet. Beim syrischen Bibeltext hingegen, welcher der kritischen Ausgabe des Peshiṭta Institute Leiden (vgl. die Monographien in der Reihe: The Old Testament in Syriac. According to the Peshiṭta Version, OTSy) und/oder der Ausgabe der United Bible Societies folgt (vgl. Die Heilige Bibel), wird die entsprechende Quelle immer angegeben. Zu den Übersetzungen: Die zu untersuchenden Textkomplexe Sir 2,1–4,10; 38,34c–39,11b; 46,1–6 und 48,17–25 wurden vom Verfasser dieser Arbeit aus dem Hebräischen, Griechischen und Syrischen eigens übersetzt. Bei der Übersetzung des syrischen Bibeltextes wurde die Hilfe von G. Rabo und F. Succar in Anspruch genommen und die dankenswerterweise von B. Zapff zur Verfügung gestellte vorläufige Übersetzung der Sirachsynopse herangezogen (vgl. Zapff / Rabo, Vorläufige Übersetzung der Sirachsynopse). Falls nicht anders angegeben, folgt die deutsche Übersetzung der sonstigen in der Arbeit zitierten hebräischen Sirachstellen der Ausgabe von N. Peters (vgl. Peters, Übersetzung des Buches, 1–454), während der deutsche Text der anderen Bibelstellen im Falle des MT und des NT der revidierten Fassung der ausgangstextorientierten Elberfelder Übersetzung (vgl.  Die Heilige Schrift, Elberfelder Bibel), im Falle der Septuaginta der Ausgabe der Septuaginta Deutsch (vgl. Karrer / Kraus, Septuaginta Deutsch; im Weiteren: „LXX.D“) und bei der Übersetzung des lateinischen Ecclesiasticus ins Deutsche der TusculusAusgabe entnommen ist (vgl. Feichtinger / Schaaf / Hieronymus, Iesus Sirach, 1024–1243). 2 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 60. 3 Vgl. Vattioni, Introduzione, XIII und Tesch, Weisheitsunterricht, 56. 4 Vgl. Vattioni, Introduzione, X–XI. https://doi.org/10.1515/9783110784923-001

2 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

In der syrischen Peschitta (Syr) trägt es den Titel: ‫ܚܟܡܬܐ ܕܒܪ ܣܝܪܐ‬5 „Weisheit des Sohnes des Sira“ bzw. ‫ܣܦܪܐ ܕܝܫܘܥ ܒܪ ܐܣܝܪܐ‬6 „Buch Jesu, des Sohnes des ʾAsira“, oder kurz: ‫„ ܒܪ ܐܣܝܪܐ‬Sohn des ʾAsira“ (oft zusammengeschrieben als ‫ܒܪܣܝܪܐ‬ „Barsira“, „Sirazide“).7 Auch die lateinische Vulgata (Vg) nennt es Liber Iesu filii Sirach „Buch Jesu, des Sohnes Sirachs“ bzw. (Liber) ecclesiasticus8 „kirchliches Buch“.9 Seine Besonderheit besteht darin, dass es eine unübersehbare inhaltliche Nähe zum Neuen Testament10 aufweist11 (vgl. Exkurs 4) und zugleich eine schöpferische Synthese des gesamten Alten Testamentes12 darstellt.13 Denn während die sapientialen Schriften, d. h. das Buch der Sprichwörter, Ijob und Kohelet grundsätzlich Fragen nach dem tieferen Sinn des Lebens, der korrekten Lebensführung und der praktischen Weisheit gewidmet sind,14 geht das Sirachbuch weiter, indem es die traditionelle Sittenlehre mit der typisch israelitischen Schöpfungstheologie, Heilsgeschichte15 und Institution des Gesetzes verbindet (vgl. Sir 17,1–14).16 Die Verknüpfung dieser an sich bekannten, aber bis dahin getrennt wahrgenommenen Themen17 soll in der hellenistischen Zeit erfolgt sein (vgl. Kap. 1.3), was nahelegt, dass der Autor in Berührung mit den Konzepten der frühen Stoa (301–204 v. Chr.)18 kam, ohne jedoch dabei unkritisch deren Weltanschauung anzunehmen (vgl. Kap. 2.1).19 Dies prädisponiert ihn gleichsam als Vermittler zwischen dem traditionellen jüdischen Glauben und dem neuen kosmopolitischen

5 Calduch-Benages, Text, 65. ̈ 6 Vgl. Die Heilige Bibel, 36 (‫)ܣܦܖܐ ܕܐܒܘܟܪܝܦܐ‬. 7 Vgl. Reiterer, Text, 5. Hinsichtlich der syrischen Bezeichnung des Sirachbuches bietet F. V. Reiterer umfangreichere Ausführungen dar. Vgl. Reiterer, Text, 3–6. 8 Vgl. Eißfeldt, Einleitung, 808 und Vattioni, Introduzione, XI. 9 Diese im Abendland verbreitete Bezeichnung entstammt der altkirchlichen Praxis, das Sirachbuch bei der Glaubensunterweisung zu gebrauchen. Vgl. Vattioni, Introduzione, XI. 10 Im Weiteren: „NT“. 11 Die Ähnlichkeiten betreffen vor allem: Sir 4,10 und die Seligpreisungen in Mt 5,7.9; Sir 7,26 und das Scheidungsverbot in Mt  5,31–32; Sir  28,2 und die Vergebungsbitte im Vaterunser in Mt 6,12.14 und Lk 11,4 (vgl. Exkurs 2) sowie Sir 24 und das In-die-Welt-Kommen des präexistenten Logos in Joh 1. 12 Im Weiteren: „AT“. 13 Vgl. Marböck, Einwohnung der Weisheit, 72 und Witte, Texte, 61–62 und 81. 14 Vgl. Becker, Gottesfurcht, 262. 15 Vgl. Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 411. 16 Vgl. Childs, Biblical Theology, 189; Whybray, Ben Sira, 137 und Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 160–161. 17 Vgl. Marböck / Fischer, Gottes Weisheit, 69–70. 18 Dagegen datiert U.  Wicke-Reuter die frühe Stoa in die Zeit zwischen 301 und 232 v. Chr. Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 275–276. 19 Vgl. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 60–61.

1.1 Hauptthemen und Struktur des Buches 

 3

Lebensstil.20 Der Verfasser gibt in einer durch den Hellenismus gewandelten geistig-kulturellen Situation seinen nach Orientierung suchenden Zuhörern bewährte Hilfsmittel an die Hand, von denen drei besondere Aufmerksamkeit verdienen. Neben der göttlichen Weisheit und dem objektiv zuverlässigen Gesetz21 empfiehlt Sirach vor allem die rechtmäßige Gottesfurcht als „die eigentliche Orientierungsgröße des jungen Juden“22, wie etwa in Sir 19,20: πᾶσα σοφία φόβος κυρίου καὶ ἐν πάσῃ σοφίᾳ ποίησις νόμου „Jede Weisheit (ist) Furcht des Herrn, und in jeder Weisheit (ist das) Tun des Gesetzes“. Inwieweit die Weisheit (‫ ָח ְכ ָמה‬/ σοφία / ‫ )ܚܟܡܬܐ‬für die theologische Ausrichtung des Autors von Bedeutung ist, zeigt sich deutlich in Kapitel 24, das einen „Angelpunkt“ des gesamten Sirachbuches darstellt.23 Bei näherem Hinsehen lässt sich feststellen, dass die Einwohnung (σκήνωσις) der göttlichen Weisheit24 zu einem neuen Ausdruck der Gegenwart Gottes wird.25 Als eine greifbare Form dieser Einwohnung wird in Sir 24,23 „das Buch des Bundes des höchsten Gottes, das Gesetz, das uns Mose geboten hat“, hervorgehoben, was zum einen das jüdische Volk in ein einmaliges Näheverhältnis zu Gott stellt.26 Zum anderen hat dies zur Folge, dass das Gesetz (‫ּתֹורה‬ ָ / νόμος / ‫ )ܢܡܘܣܐ‬eine ähnliche Funktion wie 27 die kultischen Vorschriften übernimmt, welche die Israeliten auf die ständige Präsenz (‫„ ׁשכן‬wohnen“) Gottes in ihrer Mitte aufmerksam machen sollten,28 was

20 Vgl. Zapff, Sir 38,1–15, 347–348 und Wright, Hellenization, 34. 21 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 178 und Zapff, Normenbegründung, 35. 22 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 36. 23 Vgl. Marböck, Structure, 67 und ders., Einwohnung der Weisheit, 72. 24 Die Weisheit steht als das allererste Geschöpf Gottes (vgl. Sir 24,8 und Spr 8,22–31) in einer besonderen Nähe zu ihm (vgl. Sir 24,4–6; Ps 104,3 und Weish 7,22–8,8). Dem hermeneutischen Prinzip der dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanums Dei verbum (im Weiteren: „DV“) folgend, wonach „das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen erschlossen sei“ (DV 16; falls nicht anders angegeben, folgt die deutsche Übersetzung der in der Arbeit genannten kirchlichen Lehrdokumente dem Enchiridion symbolorum von H. Denzinger und P. Hünermann, vgl. Denzinger / Hünermann, Kompendium; im Weiteren: „DH“; hier: DH 4223), deutet die katholische Theologie viele alttestamentliche Aussagen über die göttliche Weisheit allegorisch und betrachtet sie im Lichte der neutestamentlichen Offenbarung (vgl. Joh 1 und Hebr 1,3) als indirekte Hinweise auf die göttliche Person des Logos. Vgl. Ott, Grundriß, 98 und Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 416. 25 Vgl. Marböck, Einwohnung der Weisheit, 73. 26 Vgl.  Bar  3,22–4,4. Zur Verbindung von Gesetzesbeobachtung und Weisheit im Sirachbuch vgl.  Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 215 und Kap.  3.2.4. Vgl.  auch das Studium von Gesetz, Weisheit und Propheten sowie die Meditation allgemeiner weisheitlicher Zitate in Sir 38,34d–39,3b in Kap. 4.1.3. 27 Vgl. Köckert, Leben, 105. 28 Vgl. Ex 25,8–9; 29,45–46 und Dtn 12,5.11. Vgl. Marböck, Einwohnung der Weisheit, 72–74.

4 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

wiederum der Grundbedeutung der Gottesfurcht (‫ֹלהים‬ ִ ‫ יִ ְר ַאת ֱא‬/ φόβος τοῦ θεοῦ / ‫ )ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬bzw. „Furcht des Herrn“ (‫ יִ ְר ַאת יְ הוָ ה‬/ φόβος τοῦ κυρίου / ‫)ܕܚܠܬܗ ܕܡܪܝܐ‬ als „bewusstes Leben in der Gegenwart Gottes“29 entspricht. Dieser im Sirachbuch häufig30 erwähnte zentrale Begriff der alttestamentlichen Spiritualität31 wird bereits in Sir 1,14 als „Anfang der Weisheit“ bezeichnet.32 Auch die sogenannte Buchunterschrift in Sir 50,27–29 definiert die Gottesfurcht als den „tiefsten Inhalt“, d. h. das Gesamtthema und das eigentliche konkrete Ziel des gesamten Werkes.33 Um der in Sir Prolog 12 angesprochenen pädagogischen Absicht des Autors nachzukommen, der die religiöse und die profane Erziehung (‫מּוסר‬ ָ / παιδεία / ‫ܝܘܠܦܢܐ‬, vgl. Kap. 4.1.3) seiner Zuhörer nicht voneinander trennt, berührt das Buch neben der oben genannten Thematik beinahe alle Bereiche der alltäglichen Lebenswelt, wie etwa Familie, Arbeit, Gesellschaft, Politik, Recht, Kunst und Religion.34 Durch diese Vielfalt der Themen, die in einer für altorientalisches Denken typischen Weise in verschiedenen Konstellationen immer wiederkehren,35 kann der Eindruck entstehen, dass die einzelnen Sinnsprüche und Motive vom Siraziden nur mechanistisch und ohne innere Ordnung miteinander verbunden wurden.36 Immer öfter wird in der Forschung jedoch die Auffassung einer durchdachten Struktur des Werkes vertreten.37 Denn neben der traditionellen Einteilung in die Abschnitte Sir 1–23; 24,1–42,14 und 42,15–50,24 bzw. 42,15–51,30 (vgl. Abb. 1),38 werden auch Gliederungsmodelle des Sirachbuches

29 Wahl, Lebensfreude, 281. 30 Vgl. Di Lella, Fear of the Lord, 113. Die Gottesfurcht kommt im griechischen Sirachtext an 68 Stellen vor, aber bei zehn von ihnen wird die Gottesfurcht-Lesart von J. Haspecker als zweifelhaft oder unrichtig klassifiziert. Bei 26 Fällen liegt der hebräische Urtext vor, wobei an 18 Stellen der Stamm ‫ ירא‬gebraucht wird. Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 47–50. 31 Vgl. Becker, Gottesfurcht, V und Wahl, Lebensfreude, 281. 32 Mit Rücksicht auf Spr 1,7 ist aber zu bemerken, dass die Bezeichnung „Anfang“ (‫אׁשית‬ ִ ‫ ֵ)ר‬nicht im Sinne einer unvollkommenen Vorstufe der Erkenntnis, sondern vielmehr als ihr Inbegriff oder als eine geistige, zur Erlangung der Weisheit befähigende Anlage zu verstehen ist. Vgl. Becker, Gottesfurcht, 214–216. 33 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 87–89. 34 Vgl. Wischmeyer, Die Kultur, 4 und 17 sowie Becker, Sophia Sirach, 2164–2165. 35 Vgl. „Stereometrie des Gedankenausdrucks“ in: Landsberger, Die Eigenbegrifflichkeit, 17. 36 Vgl. Lang, Die weisheitliche Lehrrede, 27; Reiterer, Review, 38–39; Beentjes, Happy the One, 7 und Becker, Sophia Sirach, 2165: „Auf den ersten Blick scheint das Buch Jesus Sirach ein mehr oder weniger zufälliges Nebeneinander von belehrenden Texten, Hymnen und psalmähnlichen Passagen, kommentierenden Reflexionen und theologischen Erörterungen zu jeweils unterschiedlichen Themen zu sein.“ 37 Vgl. Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 409; Becker, Sophia Sirach, 2165 und Witte, Key Aspects, 14–15. 38 Vgl. Marböck, Structure, 62–63.

1.2 Relecture der Schrift als prägendes Merkmal 

 5

mit fünf, sieben, acht, zehn oder sogar 23 thematisch und literarisch geschlossenen Abschnitten vorgeschlagen.39 Prolog

Epilog I. Teil

Sir 1

II. Teil Sir 24

III. Sir 42

Teil Sir 51

Abb. 1: Die Dreiteilung des Sirachbuches. Das Modell von Cornelius a Lapide (1643) und Johann G. Eichhorn (1795) wird im Grunde genommen bis heute rezipiert.

Als Gliederungskriterien werden dabei neben kleineren40 und größeren inhaltlichen Einheiten, wie etwa das die Buchmitte markierende „Lob der Weisheit“ in Sir 24,1–22 und das „Lob der Väter“ in Sir 44–50, auch die folgenden Strukturelemente vorgestellt: sieben Weisheitsgedichte,41 neun autobiographische Notizen bzw. „Ich“-Reden Sirachs,42 24 weisheitliche Anreden „mein Sohn“  / „Kind“43 sowie zahlreiche Gottesfurchtpassagen, die über die ganze Sirachschrift verteilt sind.44 Eine nicht geringe Rolle spielen schließlich die bislang wenig untersuchten buchübergreifenden Motive, z. B. das als inclusio wirkende Erprobungsmotiv in Sir 2,1–18 und 51,1–12.45

1.2 Relecture der Schrift als prägendes Merkmal Die oben angeführten Gliederungsmodelle, die ein wenig Licht auf die kompositionelle Gestaltung des gesamten Buches werfen, lenken die Aufmerksamkeit auf die Arbeitsweise seines Verfassers. Diese manifestiert sich vor allem in seiner Schriftgelehrsamkeit, die bereits in den Erinnerungen des Enkels in Sir  Prolog 7–12, in der autobiographischen Notiz in Sir 33,16–18 und in der Bemerkung glei-

39 Vgl. Reiterer, Review, 38–39; Marböck, Structure, 63–64 und Corley, Searching, 34–36. 40 In alphabetischer Ordnung (‫)ג → ב → א‬: ‫„ אב‬Vater“ in Sir 3,1–16; ‫„ בשת‬das sich Schämen“ in Sir 4,20–30 und ‫„ גאוה‬Hochmut“ in Sir 7,1–17 usw. 41 Vgl. Sir 1,1–10 bzw. 1,1–30; 4,11–19; 6,18–37; 14,20–15,10; 24,1–29; 32,14–33,18 und 38,24–39,11. 42 Vgl. Sir 16,24–25; 24,30–34; 33,16–19; 34,12–13; 39,12.32; 42,15; 43,32–44,1 und 51,13–30. Zu Sir 34,12–13 vgl. Zapff, Jesus Sirach, 223. 43 Vgl. Sir 2,1; 3,8.12.17; 4,1.20; 6,18.23.32; 10,28; 11,10.20; 14,11; 18,15; 21,1; 26,19; 31,12.22; 37,27; 38,9.16.17; 40,28 und 42,11. 44 Vgl. Reiterer, Review, 39; Marböck, Structure, 66–67; Beentjes, Happy the One, 8; Corley, Searching, 28–31 und Becker, Sophia Sirach, 2165–2166. 45 Vgl. Marböck, Structure, 67 und Calduch-Benages, Trial Motif, 150.

6 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

chen Inhalts in Sir 38,34b–39,1 programmatisch angekündigt wird. Die besagte Herangehensweise bestand im Konkreten darin, bei zahlreichen Ratschlägen für ein sittlich erfülltes Leben (z. B. in Sir 3,1–16)46 sich in schriftkundiger Weise auf ältere biblische Texte (Referenztexte) zu beziehen,47 was am deutlichsten beim Lobgesang auf vorbildliche Persönlichkeiten aus der Vergangenheit in Sir 44–50 sichtbar wird.48 Dadurch war es dem Autor möglich, in seiner umbruchsvollen Zeit einen neuen Zugang zu alten, überlieferten Glaubensinhalten für die jüdische Jugend zu eröffnen.49 Bevor im Folgenden auf die Umstände der Entstehung und Überlieferung des Buches Jesus Sirach eingegangen wird (vgl.  Kap.  1.3), deren Kenntnis ein vertieftes Verständnis des Textes ermöglicht, soll deshalb folgendes festgehalten werden: Wegen seiner Methodik der Aufnahme und des Wiederlesens der alttestamentlichen Schriften in einem neuen heilsgeschichtlichen Kontext50 gilt Ecclesiasticus als die Schriftrelecture schlechthin, was wiederum bedeutet, dass er als Folgetext erst dann richtig verstanden werden kann, wenn er in Verbindung mit den entsprechenden biblischen Referenztexten (Prätexten) gelesen wird.51 Dabei soll bedacht werden, dass die für das Sirachbuch herangezogenen Prätexte wahrscheinlich dem sich damals allmählich herausbildenden biblischen Kanon entnommen wurden. Diese Bemerkung ist sowohl für eine produktionsals auch eine rezeptionsästhetische Textanalyse52 (vgl. Exkurs 1) umso wichtiger, weil durch die Einbindung der Teiltexte in den Kanon oft ein neuer Kontext eta-

46 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 155 und Corley, An Intertextual Study, 169. 47 Vgl. Reiterer, The Influence, 115–116. 48 Vgl. ders., Urtext, 237 und Marböck / Fischer, Gottes Weisheit, 108: „Diese in der hebräischen und griechischen Bibel erstmaligen und einzigartigen ‚Bilder‘ von Gestalten der Geschichte Israels scheinen mehr zu sein als eine chronologisch angeordnete Beispielreihe, beliebige Medaillons einer Ahnengalerie.“ 49 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 18; Zapff, Jesus Sirach, 223 und 315 sowie Zapff, Normenbegründung, 36. 50 Vgl. Voderholzer, Die Heilige Schrift, 165. 51 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 16 und 18. Zum Prä- und Folgetext vgl. Seiler, Intertextualität, 281–282 und 287. Zum Begriff der Relecture vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 76: „Was der Bibel ihre innere und einzigartige Einheit verleiht, beruht unter anderem auf der Tatsache, daß die späteren biblischen Schriften sich oft auf die früheren stützen. Sie machen Anspielungen auf sie, indem sie diese wiederaufnehmen und aus ihnen – manchmal weit entfernt vom ursprünglichen Sinn – neue Sinn-Aspekte entwickeln, oder aber sie beziehen sich direkt auf ihn, sei es, um diesen Sinn zu vertiefen, sei es, um seine Erfüllung aufzuzeigen.“ Vgl. auch Ruppert / Klauck, Die Interpretation, 44–45 (auch Fußnoten 46–47). 52 Zur Unterscheidung zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik vgl.  Voderholzer, Die Heilige Schrift, 165.

1.3 Entstehung und Überlieferung des hebräischen Textes 

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bliert und ihre Leserichtung vorgegeben wurde.53 Für die Existenz eines solchen Kanons im Frühjudentum spräche etwa die dreimalige Erwähnung „des Gesetzes und der Propheten und der übrigen Bücher der Väter“ in Sir Prolog 1–2; 8–10 und 24–25 sowie in Sir 38,34d–39,1b.54 Es ist jedoch nicht sicher, ob die vom Großvater benutzte Büchersammlung dem erst um 100 n. Chr. festgelegten dreiteiligen Tanach entsprach, besonders in Bezug auf die Ketuvim.55 Außerdem handelt es sich bei den primären Adressaten der Sirachschrift – sowohl den Schülern in Jerusalem in Sir Prolog 13 als auch den lernbegierigen Lesern in der Diaspora in Sir Prolog 29 und 34 – vermutlich um „eine elitäre Zielgruppe, die nicht durch redundante Signale unterfordert bzw. um das Vergnügen der literarischen Spurensuche gebracht werden soll[te]“56. Infolgedessen ist bei den literarischen Bezügen auf die genannten kanonischen Texte nicht nur mit expliziten Zitaten oder Verweisen, sondern auch mit subtilen Anspielungen zu rechnen, die ihrer damaligen Leserschaft zwar mehr abverlangten,57 bei den heutigen Exegeten aber für fortwährende Entdeckungsfreude sorgen. Es ist darum nicht verwunderlich, dass die aus dem fundierten und kreativen58 Umgang mit den heiligen Schriften Israels resultierende Intertextualität immer mehr als Objekt der modernen Sirachforschung anerkannt wird.59

1.3 Entstehung und Überlieferung des hebräischen Textes Dem Vorwort des griechischen Übersetzers zufolge wurde das Werk von seinem Großvater Jesus (vgl. ὁ πάππος μου Ἰησοῦς in Sir Prolog 7) geschrieben.60 Bezüglich des vollständigen Namens des Autors unterscheiden sich aber die einzelnen Sprachfassungen leicht voneinander. So heißt er in Sir 50,27 im hebräischen Text: ‫שמעון בן ישוע בן אלעזר בן סירא‬61 „Simeon, der Sohn des Jeschua, des Sohnes

53 Vgl. Seiler, Intertextualität, 287–288. 54 Vgl.  Zenger, Heilige Schrift, 23 und Ueberschaer, Weisheit, 368. In eine ähnliche Richtung weisen auch das Wissen um das Vorhandensein der „heiligen Bücher“ in 1  Makk  12,9 und 2 Makk 2,13–14 sowie die Ermutigung der jüdischen Kämpfer ἐκ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν „aus dem Gesetz und den Propheten“ durch Judas, den Makkabäer, in 2 Makk 15,9. 55 Vgl. Zenger, Heilige Schrift, 23. 56 Vgl. Seiler, Intertextualität, 281. 57 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 130–131. 58 Vgl. Zapff, Schriftgelehrte Rezeptionen, 627. 59 Vgl. Beentjes, Happy the One, 12. 60 Vgl. Vattioni, Introduzione, XVIII und Reiterer, Urtext, 241. 61 In Ms. B XX recto.

8 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

des Eleazar, des Sohnes des Sira“62, und in der LXX: Ἰησοῦς υἱὸς Σιραχ Ελεαζαρ ὁ Ἰεροσολυμίτης „Jesus, der Sohn des Sirach, des Eleazar, des Jerusalemers“63. Eine weitere Abweichung findet sich in Sir 51,30: ‫עד הנה דברי שמעון בן ישוע שנקרא בן‬ ‫ חכמת שמעון בן ישוע בן אלעזר בן סירא‬:‫סירא‬64 „Soweit die Worte Simeons, des Sohnes Jesu, der genannt wird Sohn Sirachs. Die Weisheit Simeons, des Sohnes Jesu, des Sohnes Eleazars, des Sohnes Sirachs“ / ‫„ ܝܫܘܥ ܒܪ ܫܡܥܘܢ ܕܡܬܩܪܐ ܒܪ ܐܣܝܪܐ‬Jesus, der Sohn des Simeon, genannt: der Sohn des ʾAsira“65. Hier verbindet sich der Eigenname des Verfassers zusätzlich mit der formelhaften Bezeichnung seines Buches (vgl. „Ben Sira“ / „Bar ʾAsira“ bzw. Sirazide in Kap. 1.1), die allerdings auch im Sinne eines berühmten Ahnen verstanden werden könnte, wie etwa im Buchtitel: ‫ܝܫܘܥ ܒܪ ܐܣܝܪܐ‬.66 In der Forschung bleibt ferner umstritten, ob der Autor levitischer bzw. priesterlicher Abstammung67 und ob er als Weisheitslehrer oder sogar als Arzt tätig war.68 Sicherlich kann jedoch seiner Weisheitsschrift entnommen werden, dass ihm hellenistische Bräuche nicht fremd waren, obwohl er zugleich als ein traditionsbewusster Jude lebte.69 Dies drückt sich etwa dadurch aus, dass er sein Lebenswerk unter den Bedingungen der Diadochenherrschaft im ersten Viertel des 2. Jh. v. Chr., entweder um 190–18070 oder spätestens um 175 v. Chr.,71 nicht auf Griechisch, sondern auf Hebräisch verfasste (vgl. Ἑβραϊστί λεγόμενα in Sir Prolog 22).72

62 Vgl. Vattioni, Introduzione, XIII und Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 7. 63 Vgl. Vattioni, Introduzione, XIV. Syr enthält in Sir 50,27 keine Angaben zur Person des Autors. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 275 und Calduch-Benages, Text, 267. Der Stelle Sir 50,27 entspricht in der Vg die Stelle Sir 50,29: Iesus filius Sirach Hierosolymita „Jesus, der Sohn des Sirach, aus Jerusalem“. 64 In Ms. B XXI verso. 65 Vgl. van Peursen, Ben Sira, 161. G I enthält in Sir 51,30 keine Angaben zum Autor, dafür aber in der subscriptio in den Kodizes B, S und A: σοφια ιησου υιου σειραχ „Weisheit Jesu, des Sohnes Sirachs“. 66 So in der ostsyrischen Mossul-Tradition. Vgl. Reiterer, Text, 5. Zu den weiteren Belegen für den Verfassernamen in verschiedenen syrischen Handschriften vgl. Reiterer, Text, 3–6. 67 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 12: „Anstatt Ben Sira als einen reichen patrizischen Weisheitslehrer zu zeichnen, scheint es uns befriedigender, in ihm einen priesterlichen Schriftgelehrten und Weisen zu sehen.“ 68 Vgl. Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 413 und Reiterer, Review, 35–36. 69 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 28. 70 Vgl.  Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 1; Reiterer, Review, 37 und Marböck, Einwohnung der Weisheit, 70. Laut E. Zenger entstand das Sirachbuch um 175 v. Chr. Vgl. Zenger, Das Buch der Psalmen, 366. 71 Vgl. Witte, Key Aspects, 29. 72 Vgl. Wright, Hellenization, 62 und Berthelot, Hellenization, 71.

1.3 Entstehung und Überlieferung des hebräischen Textes 

 9

Für die frühere Abfassungszeit sprechen einige buchinterne Argumente, wie z. B. die Fortschreibung der Heilsgeschichte im sogenannten „Lob der Väter“ (laus patrum in Sir 44–50)73 von Adam bis zum Hohepriester Simeon II. (219–196 v. Chr.),74 der in Sir 50,4 wegen der Befestigung Jerusalems gelobt wird. Die genannte Schutzmaßnahme spielte vermutlich eine Rolle beim Versuch der Plünderung des Jerusalemer Tempels durch Ptolemäus IV. im Jahr 217 v. Chr. oder bei der Belagerung der Stadt im Zuge des fünften syrischen Krieges im Jahr 201 v. Chr.75 Auch der Übergang der Herrschaft über Syrien und Palästina von den Ptolemäern76 auf die Seleukiden infolge der Schlacht bei Panäas77 im Jahr 200 bzw. 198 v. Chr. findet vermutlich seinen Niederschlag in Sir 10,8.78 Die Spätdatierung des Ecclesiasticus beruht hingegen auf der Annahme, dass der historische Kontext des Gebets um Rettung in Sir  36,1–22 der Anschlag auf den Jerusalemer Tempelschatz sei, den der Kanzler Heliodor noch vor dem Tod des Königs Seleukus IV. Philopator (187–175 v. Chr.), des Sohnes des Antiochus III., im Jahr 175 v. Chr. verübte.79 Während aber für manche Forscher die in Sir  36,1–22 geschilderte Not genauso gut den Druck seitens des Antiochus  III. (223–187 v. Chr.) widerspiegeln könnte, der im Jahr 190 v. Chr. die Schlacht bei Magnesia verlor und zur Zahlung schwerer Reparationen an Rom verpflichtet war,80 stellen die anderen die sirazidische Verfasserschaft dieses Absatzes generell in Frage.81 Ein weiterer Hinweis auf die besagte Entstehungszeit des Buches besteht darin, dass der an den Überlieferungen Israels festhaltende Verfasser noch ziemlich offen ist für den neuen hellenistischen Lebensstil.82 Dies bezeugen beispielsweise seine Bemerkungen über das rechte Verhalten beim Weingelage (Symposion)83 in Sir 31,12–32,1384 und gegenüber dem Arzt in Sir 38,1–1585 sowie über die

73 Vgl. Vattioni, Introduzione, LIV und Marböck / Fischer, Gottes Weisheit, 107. 74 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 27. 75 Vgl. Palmisano, Salvaci, 307 (mit Fußnote 12). 76 Ptolemäus V. regierte 205–180 v. Chr. 77 Es handelt sich um das spätere Caesarea Philippi (heute: Baniyas) am Fuß des Hermon. 78 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 63 und Palmisano, Salvaci, 306–307 (mit Fußnote 12). 79 Vgl. 2 Makk 3,1–40; 4,7 und Kap. 3.4.7. Vgl. auch Gilbert, Prayer, 120–122 und Palmisano, Salvaci, 310–312 und 314. 80 Vgl. Witte, Key Aspects, 29. Zur Politik des Antiochus III. vgl. Palmisano, Salvaci, 308. 81 Vgl. Gilbert, Prayer, 118 und Zapff, Jesus Sirach, 236. 82 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 25. 83 Vgl. ἐν συμποσίῳ οἴνου „beim Weingelage“ in Sir 31,31. 84 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 28. 85 Vgl. ders., Sir 38,1–15, 358 und Marböck, Einwohnung der Weisheit, 71.

10 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

Reisen in Sir 34,9–1386 und 39,487 (vgl. Kap. 4.1.3). Zugleich fehlt im Sirachbuch die polemische Abgrenzung dessen, was authentisch jüdisch ist (Ἰουδαϊσμός), von den fremden kulturellen Einflüssen (Ἑλληνισμός); diese Polemik sollte erst in den 160er Jahren v. Chr. infolge blutiger Hellenisierungsmaßnahmen des Seleukidenkönigs Antiochus  IV. Epiphanes (175–163 v. Chr.), des Bruders und Nachfolgers des oben erwähnten Seleukus IV., entbrennen.88 Neben diesem bemerkenswerten Schweigen über den Kampf gegen die Hellenisierung (argumentum ex silentio) ergibt sich die vormakkabäische Datierung des Buches auch aus der Zeitangabe im Vorwort zu seiner griechischen Version. Denn aus dem 38. Jahr des ptolemäischen Königs Ptolemaios VIII. Euergetes, das in Sir Prolog 27 als terminus post quem für die Anfertigung der Übersetzung des Enkels (G I) angegebenen wird und dem Zeitraum zwischen 132 und 117 v. Chr. entspricht, folgt ungefähr das Jahr 180 v. Chr. als die Abfassungszeit des großväterlichen Originals.89 Die hebräische Sirachschrift, die Hieronymus (347–420) noch vorgefunden haben soll,90 existierte in der Antike vermutlich in zwei Formen: in einer kürzeren (H I, in spätbiblischem Hebräisch) und in einer erweiterten jüngeren (H II, in mischnischem Hebräisch).91 Nachdem beide im Laufe der Zeit verloren gingen, blieb das Buch in seinen antiken Übersetzungen bewahrt: in griechischer, lateinischer und syrischer Sprache.92 Dieser Zustand hielt bis 1896 an,93 als in der Geniza der Ben-Esra-Synagoge von Fustat in Alt-Kairo hebräische Sirachhand-

86 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 35 und Marböck, Einwohnung der Weisheit, 70. 87 Vgl. Wright, Hellenization, 34. Vgl. auch die allgemeine Bemerkung über Reisen als typisches Motiv sowohl in der deuterokanonischen als auch in der nichtjüdischen hellenistischen Literatur bei Zsengellér, Short Notes, 85. 88 Vgl.  Palmisano, Salvaci, 305; Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 7 und Wolter, Paulus, 15. Bereits im Jahre 175 v. Chr. gründete der Hohepriester Jason Gymnasium und Ephebie. Die Verwandlung Jerusalems in eine griechische Polis fand aber erst nach dem Tod Sirachs statt. Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 2. Vgl. auch 2 Makk 4,13: „Es entstand auf diese Weise ein Höhepunkt des Griechentums (Ἑλληνισμός) und ein Zulauf zur Fremdstämmigkeit durch die alles übertreffende Verruchtheit des gottlosen, mitnichten als Hohepriester wirkenden Jason“. Dabei ist der Ἑλληνισμός als Gegensatz zur jüdischen Lebensart (Ἰουδαϊσμός) wie etwa in 2 Makk 2,21 aufzufassen. 89 Vgl. Vattioni, Introduzione, XVIII; Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 413; Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 31; Reiterer, Review, 37 und Zapff, Normenbegründung, 27. 90 Vgl. Vattioni, Introduzione, XIX. 91 Vgl. Reiterer, Urtext, 249–250; ders., Review, 26; Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 3 und Böhmisch, Die Vorlage, 206. 92 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 29 und Reiterer, Review, 26. 93 Vgl. Reiterer, Text, 16 und Strotmann, Das Buch Jesus Sirach, 428.

1.3 Entstehung und Überlieferung des hebräischen Textes 

 11

schriften entdeckt wurden.94 Die 1952/1956 in Qumran (2Q18 und 11QPsa) und 1964 in Masada (Mas I–VII) gefundenen hebräischen Textfragmente vom 1.  Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. bestätigen ferner, dass es sich bei den unvokalisierten Kairoer Handschriften (A–F) nicht um nachträgliche Rückübersetzungen aus dem Persischen, Griechischen oder Syrischen, sondern höchstwahrscheinlich um die im 11.–12.  Jh. n. Chr. entstandene Abschriften der Originale handelt.95 Nichtsdestoweniger liegen heutzutage lediglich zwei Drittel des gesamten Sirachtextes in hebräischer Sprache vor, verteilt auf neun Manuskripte (vgl. Tab. 1),96 die in ihrem Wortlaut Differenzen aufweisen, wie es in Kap. 3.2.1 und 3.3.1 gezeigt werden soll. Die Frage, ob und inwieweit die einzelnen Handschriften Textzeugen für H I oder H II sind, bleibt aufgrund der widersprüchlichen Forschungslage offen.97 Tab. 1: Die hebräischen Sirachhandschriften mit ihrer Schreibart98 und ihrem Umfang (um der Klarheit willen sind nur die Kapitel ohne Versnummern angegeben). Manuskripte

Kapitel des Sirachbuches

A (fortlaufend)

3–16

B (stichometrisch)

10–11; 15–16; 30–33; 35–51

C (fortlaufend)

Anthologie: 3–8; 18–20; 25–26; 36

D (fortlaufend)

36–38

E (stichometrisch)

32–3499

F (stichometrisch)

31–33

2Q18 (fortlaufend)

6

11QPs = 11Q5 (fortlaufend)

51

Mas I–VII (stichometrisch)

39–44

a

94 Vgl. Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, 1; Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 1 und Fabry, Der Text, 46. 95 Vgl. Reiterer, Text, 26; Strotmann, Das Buch Jesus Sirach, 428; Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, 6 und 19; Beentjes, Happy the One, 14; Fabry, Der Text, 44–47; Marböck, Jesus Sirach, 24; Zapff, Normenbegründung, 29 und Tesch, Weisheitsunterricht, 54. 96 Vgl. Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, 13–19; ders., Happy the One, 3; Marböck, Einwohnung der Weisheit, 69; Zapff, Normenbegründung, 29 und Tesch, Weisheitsunterricht, 55. Reiterer zeigt, dass „ca. 64% des Buches Ben Sira hebräisch belegt sind, wobei der Prolog des Griechen nicht bei der Berechnung berücksichtigt wurde.“ Reiterer, Text, 28. 97 Vgl. Rüger, Text, 27, 44 und 112 sowie Tesch, Weisheitsunterricht, 62–63 und 65. 98 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 34 und 38–39. 99 Vom Sirachkapitel 34 ist in Ms. E I verso nur ein Fragment des einleitenden Verses erhalten. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 179 und Beentjes, Part I–II, 107.

12 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

1.4 Wechselverhältnis und Hermeneutik der antiken Sprachfassungen Angesichts der bruchstückhaften Überlieferung des hebräischen Sirachtextes gewinnen seine antiken Übersetzungen ins Griechische, Lateinische und Syrische immer mehr an Bedeutung. Leider sind die Erkenntnisse, zu welchem Grad die alten Sprachversionen vom Hebräer bzw. voneinander abhängen, bis jetzt wenig gesichert.100 Denn analog zu den zwei erwähnten hebräischen Vorlagen soll es neben der bereits erwähnten Übersetzung des Enkels (G  I),101 die aller  Wahrscheinlichkeit nach für die im ägyptischen Alexandrien lebenden Juden entstanden ist (vgl. Sir Prolog 28 und 34), auch eine jüngere (50–150 n. Chr.), um 135 Zeilen erweiterte und vermutlich auf den längeren hebräischen Text (H II) zurückzuführende griechische Fassung (G II) geben.102 Ihre Existenz ist allerdings keine literarkritische Hypothese, sondern basiert auf der Evidenz der Textgeschichte, weil sie durch die griechischen Minuskelhandschriften 248 (die sogenannte lukianische Rezension von G II)103 und 253 (die origenische bzw. hexaplarische Rezension von G II)104 und durch Kirchenväterzitate bezeugt ist.105 Dagegen stehen die alten Unzialen (Majuskelkodizes) Vaticanus (B), Sinaiticus (‫א‬, S), Alexandrinus (A) und Ephraemi Rescriptus (C) der auf den hebräischen Originaltext (H I) zurückgehenden griechischen Übersetzung des Enkels (G I) am nächsten.106 Keiner der genannten Textzeugen überliefert jedoch G I oder G II in Reinform.107 Außerdem muss beachtet werden, dass das griechische Sirachbuch im Vergleich zum hebräischen Text sowohl Zusätze und Auslassungen als auch eine abweichende Kapitelreihenfolge aufweist.108 Letzteres kommt vermutlich durch eine Blattvertauschung zustande, indem Sir 33,16–36,13 zwischen Sir 30,25 und

100 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 57. 101 Vgl. Marböck, Einwohnung der Weisheit, 69. 102 Vgl. Reiterer, Urtext, 249–250 und Gile, The Additions, 241. M. Gilbert vermutet, dass G II zwischen 80 v. Chr. und 80 n. Chr. entstanden ist. Vgl. Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 3. 103 Vgl. Ziegler, Einleitung, 64–66 und 114; Vattioni, Introduzione, XXIV und Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 38. 104 Vgl. Ziegler, Einleitung, 57–63 und 114; Calduch-Benages, Introduction, 38 und van Peursen, Ben Sira, 154–155. 105 Klemens von Alexandrien (gest. vor 215 n. Chr.) zitiert bereits G II. Vgl. Rüger, Text, 112; Reiterer, Urtext, 250 und Beentjes, Happy the One, 4. 106 Vgl. Vattioni, Introduzione, XXIV und Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 20 und 31. 107 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 63. 108 Vgl. Ziegler, Sirach, 268–291 und Tesch, Weisheitsunterricht, 57–58.

1.4 Wechselverhältnis und Hermeneutik der antiken Sprachfassungen 

 13

30,26 eingeschoben wurde.109 Aufschlussreich ist, dass diesen Unterschied ausnahmslos alle griechischen Handschriften aufweisen, sodass die gesamte Sirachüberlieferung in griechischer Sprache offenbar auf einen Kodex zurückgeführt werden kann.110 Die älteste Übersetzung des Ecclesiasticus ins Lateinische (Vetus Latina, La) entstand im 2. Jh. n. Chr. – sie setzt demnach noch die alte vororigenische Form der LXX voraus111  – und umfasste ursprünglich nur Sir  1–43 und 51 sowie das zusätzliche Kapitel 52, während der Prolog und Sir 44–50 etwas später hinzugefügt wurden.112 Diese von G II zwar abhängige altlateinische Version,113 die von Hieronymus ohne Veränderung in die Vg aufgenommen wurde,114 weist aber von der LXX abweichende Passagen auf, die wiederum mit der hebräischen und der syrischen Fassung übereinstimmen.115 Darüber hinaus behalten die Vetus Latina, die Vg116 und ihre offiziell-kirchliche Neuedition, die Nova Vulgata,117 die auf der hebräischen Vorlage basierende Kapitelreihenfolge bei.118 Ihr folgt auch die Einheitsübersetzung der Bibel,119 deren Kapitel- und Verszählung wiederum in der vorliegenden Arbeit übernommen wird.120

109 Der genaue Umfang des vertauschten Abschnitts wird in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Vgl. Reiterer, Review, 36; Strotmann, Das Buch Jesus Sirach, 428 und Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 409. 110 Vgl. Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 33 und Reiterer, Zählsynopse, 41. 111 Vgl. Eißfeldt, Einleitung, 974. 112 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 57. Bereits Cyprian von Karthago (gest. 258) verwendet die Vetus Latina, die Kapitel 44–50 werden zuerst von Isidor von Sevilla (gest. 636) zitiert. Vgl. Rüger, Text, 112 und Beentjes, Happy the One, 4. 113 Vgl. Reiterer, Urtext, 250; Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 44 und Calduch-Benages, Introduction, 38. 114 Vgl.  Vattioni, Introduzione, XXV und Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 43 (Fußnote 187). 115 Vgl. Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 5 und Tesch, Weisheitsunterricht, 57. „Insbesondere dort, wo hebräische Zeugen fehlen, wäre dann die lateinische Überlieferung zusammen mit der Peschitta mitunter ein wichtiger Zeuge einer hebräischen Textüberlieferung.“ Reiterer, Zählsynopse, 21. 116 Vgl. Weber / Gryson, Biblia sacra, 1067–1074. 117 Vgl. Nova Vulgata, 1208–1219. Bei dieser neu überarbeiteten Vulgataübersetzung handelt es sich keineswegs um einen relevanten Textzeugen, vielmehr hat sie den Rang einer modernen exegetischen Meinung. 118 Vgl. Ziegler, Einleitung, 29 und Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 34. 119 Vgl. Die Bibel, Einheitsübersetzung von 1980 (im Weiteren: „EÜ 1980“). Dieselbe Kapitelund Verszählung des Sirachbuches wurde in der revidierten Einheitsübersetzung beibehalten. Vgl. Die Bibel, Einheitsübersetzung von 2016 (im Weiteren: „EÜ 2016“). 120 Vgl. die Argumentation bei Reiterer, Zählsynopse, 31–32 und 40. Nur bei Sir 4,1–10 wird davon teilweise abgewichen (vgl. Kap. 3.4.1).

14 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

Um 300 n. Chr. wurde das Buch Jesus Sirach ins Syrische übersetzt.121 Diese Übersetzung setzte sich dann als Teil der Peschitta122 (Syr) bei den syrischen Christen als Standardtext durch,123 im Unterschied zu den späteren, der LXX angepassten Fassungen: der nur fragmentarisch überlieferten syro-palästinischen Übersetzung aus dem 4. Jh. (vermutlich lukianische Rezension) und der syro-hexaplarischen Übersetzung aus den Jahren 615–617 (origenische Rezension).124 Die Peschitta-Version des Sirachbuches, deren älteste vorhandene Textzeugen Codex Ambrosianus (B  21  Inf; 7a1 in der Ausgabe des Peshiṭta Institute Leiden) und Codex Nitriense Add. 12.142 (Leiden siglum 7h3) vermutlich aus dem 7. Jh. stammen,125 hat genauso wie der lateinische Ecclesiasticus die Kapitelreihenfolge des hebräischen Textes beibehaltenen.126 Anders als die lateinische Fassung ist sie aber „nicht genuin Tochterübersetzung [des Griechen], wenngleich Abhängigkeiten feststellbar sind, sondern schöpft primär aus dem Hebräer, insbesondere aus dem erweiterten hebräischen Text (H II)“127. Das allein erklärt jedoch nicht, warum der Syrer vom Hebräer abweicht.128 Denn neben den Fällen, in denen Syr gemeinsam mit der griechischen Version gegen den hebräischen Sirachtext zeugt, gibt es auch Belege dafür, dass der Syrer weder mit dem Griechen noch mit dem Hebräer übereinstimmt.129

121 Vgl. Beentjes, Happy the One, 4 und Tesch, Weisheitsunterricht, 57. Die Peschitta-Version wird bereits 337 n. Chr. von Aphrahat zitiert. Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 22–23 und Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 12. 122 Der Name ‫ ܦܫܝܛܬܐ‬bedeutet wörtlich „die Einfache“. Beim alttestamentlichen Teil der Peschitta handelt es sich um eine direkte Bibelübersetzung aus dem Hebräischen ins Syrische. Vgl. Brock, The Bible, 15. 123 „Nun zeigt sich, daß Syr in die Übersetzertradition der Peschitta einzuordnen ist und sich in diesem Rahmen bewegt“. Reiterer, Urtext, 236. 124 Vgl. Eißfeldt, Einleitung, 950–951; Ziegler, Einleitung, 31; Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 41 (Fußnote 176); Calduch-Benages, Introduction, 39 und 41–42 sowie Peursen, Ben Sira, 156. 125 Der Codex Ambrosianus (7a1; B 21 Inf) war die Grundlage für die diplomatische Sirachübersetzung von Calduch-Benages, während der Codex Nitriense Add. 12.142 (7h3) 1861 in der Edition von P. A. de Lagarde diplomatisch dargeboten und in der Polyglotte von Vattioni wiedergegeben wurde. Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 23–24; Calduch-Benages, Introduction, 45–47 und 51–52 sowie Zapff, Schriftgelehrte Rezeptionen, 615. 126 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 31; Calduch-Benages, Introduction, 39 und Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 4. 127 Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 41. Vgl. auch Reiterer, Urtext, 13 und 239; CalduchBenages, Introduction, 39 und Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 6–7. 128 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 67. 129 Vgl. Reiterer, Urtext, 239.

1.4 Wechselverhältnis und Hermeneutik der antiken Sprachfassungen 

 15

Diese und andere Beobachtungen zur Hermeneutik der antiken Sprachversionen könnten überlieferungsgeschichtlich etwa dadurch erklärt werden, dass bei der Übersetzung der hebräischen Vorlage neben interpretativen Abweichungen vermutlich auch andere Versionen herangezogen wurden (vgl.  Abb.  2A).130 Hierbei läge der Fokus der Untersuchung nicht nur auf der Systematisierung der Tendenzen der Übersetzer, sondern auch (soweit möglich) auf der Einschätzung ihrer Eigenständigkeit. Dafür böte es sich an, nach dem Ursprungsort, dem historischen Kontext, der Zielgruppe sowie den sprachlichen Herausforderungen, mit denen sie sich konfrontiert sahen, zu fragen. Weil darauf bereits im Prolog des Enkels hingewiesen wird (vgl.  Sir Prolog 19–22 und 27–29), kommt dieser übersetzerorientierten Hypothese im Falle von G I ein gewisser Vorrang zu. Sie wird ebenfalls dadurch unterstützt, dass zwischen der Verfassung des großväterlichen Textes und seiner griechischen Übersetzung eine relativ kurze Zeit verflossen ist (vgl. Kap. 1.3), was wiederum die Ansammlung einer größeren Zahl von Abweichungen in der Vorlage eher unwahrscheinlich macht. Dies gilt umso mehr, als der Enkel das ursprüngliche Gedankengut des mit ihm verwandten Verfassers und die eventuellen fremden Überarbeitungen leicht auseinander halten konnte. Dennoch sind die anderen Modelle der Überlieferung des Sirachtextes nicht so leicht von der Hand zu weisen. Möglich wäre nämlich, dass die drei antiken Sprachfassungen dieselbe hebräische Vorlage hatten, die sich von den überlieferten Manuskripten unterschied, dann aber bei ihrer Wiedergabe aus bestimmten Gründen davon abwichen.131 Zu berücksichtigen wäre auch das von Reiterer postulierte Modell, nach dem die Abweichungen nicht erst durch die Übersetzer zustande gekommen sind, sondern aus den bereits modifizierten Vorlagen übernommen wurden.132 Demgemäß wurde der hebräische Sirachtext im Laufe der Zeit durch seine Tradenten insofern verändert, dass beim Abschreiben entweder die Textpassagen umgestellt oder die Notizen, die ursprünglich als Randbemerkungen gedacht waren, schrittweise in den Haupttext gelangt sind.133 Worin solche Modifikationen genau bestünden, lasst sich nur vorsichtig anhand der neun bis dato erhaltenen hebräischen Handschriften sowie der alten Sirachversionen erahnen, die in diesem Fall als Zeugen für die jeweiligen Entwicklungsstufen der Vorlage aufzufassen wären. So zeigt sich etwa in Sir 51,19–20, dass die Qumran-Fragmente und G  I

130 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 236 und 251. 131 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 235–236. 132 Vgl. Reiterer, Urtext, 250–251. Vgl. auch Kap. 3.2.2; Exkurs 3 und Kap. 3.4.2. 133 Vgl. ders., Zählsynopse, 52–53 und 62–64 sowie Böhmisch, Die Vorlage, 233.

16 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

zu einem anderen Traditionsstrom gehören als Ms.  B und Syr.134 Die zwei letzteren unterscheiden sich allerdings in Sir 16,3 voneinander in dem Maße, dass verschiedene Vorlagen anzunehmen sind.135 Zugleich haben G I und Ms. B miteinander mehr gemeinsame Elemente als mit Ms. A,136 während zwischen Ms. A und Syr eine stärkere textuelle Verwandtschaft postuliert wird (vgl. Abb. 2B).137 In die gleiche Richtung gehen die neuesten Befunde in Ms. A, welche die Annahme einer eigenen hebräischen Vorlage der Peschitta-Version unterstützen.138 Ihre Existenz scheinen auch die Ähnlichkeiten zwischen der hebräischen Paraphrase zu Sir 22–23 (Ms. ENA 3053.3)139 und dem syrischen Sirachtext zu bestätigen.140 Für das tradentenorientierte Modell der Textüberlieferung spräche ferner die Tatsache, dass  – im Unterschied zu G  I  – zwischen der Urfassung des Buches und seiner Übertragung ins Syrische beinahe fünf Jahrhunderte lagen, währenddessen sicherlich mehrere Kopisten am Werk waren. Dass sich dabei Einiges am Wortlaut des hebräischen Textes verändern konnte, legt der innersprachliche Vergleich der Kairoer Handschiften mit den antiken Textzeugen aus Qumran und Masada nahe (vgl. Kap. 1.3). Weil allerdings nicht auszuschließen ist, dass auch der christliche Peschitta-Übersetzer in den Sirachtext eingegriffen hat,141 konstatiert Reiterer: „Für die Textgeschichte ergibt sich daraus: An dieser Stelle scheint es einen Ausgangstext gegeben zu haben. Die verschiedenen Entwicklungsstufen sind Deutungen, Glättungen oder Interpretationen“142.

134 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 71–72. 135 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 68. 136 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 66. 137 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 67. 138 Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 200. Als Abklatsch auf dem gegenüberliegenden Blatt in Ms A I recto sollte sich in Spiegelschrift der hebräische Text von Sir 1,✶9–✶12, der bisher als verschollen galt, abgedruckt haben. Vgl. Reymond, New Hebrew Text, 83 und passim. 139 Vgl. Exkurse 2 und 4. 140 Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 200 und passim. Die von M. Segal postulierte hebräische Vorlage der syrischen Sirachübersetzung wird als „H III“ bezeichnet. Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 213–214 und 236. 141 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 23 und 67. 142 Reiterer, Zählsynopse, 54.

1.4 Wechselverhältnis und Hermeneutik der antiken Sprachfassungen 

 17

(A)

HI

GI

H II

G II

Syr

La

Q

Ms. B

H?

H?

(B)

H?

GI

Ms. A

Syr

Abb. 2: Verschiedene Modelle der Überlieferung des Sirachtextes in hebräischer (H), griechischer (G), syrischer (Syr) und lateinischer (La) Sprache. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Textfassungen entstanden entweder dadurch, dass die Übersetzer neben der Interpretation der Vorlage auch andere Versionen heranzogen (A) oder dadurch, dass die Tradenten ihre hebräische Vorlage veränderten, was durch die Übersetzer getreu wiedergegeben wurde (B).143

Mit Rücksicht auf die oben skizzierte Problematik der Textüberlieferung des Buches Jesus Sirach und die allmähliche Wiederaufwertung der LXX im wissenschaftlichen Diskurs144 wird verständlich, dass G  I als die älteste vollständige

143 Wie etwa von Reiterer für Sir 16,3 und 51,19–20 postuliert wird. Siehe die Argumentation im Text. 144 Vgl. die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI.: „Heute wissen wir, daß die in Alexandrien entstandene griechische Übersetzung des Alten Testamentes – die Septuaginta – mehr als eine bloße (vielleicht sogar wenig positiv zu beurteilende) Übersetzung des hebräischen Textes, nämlich ein selbständiger Textzeuge und ein eigener wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte ist, in dem sich diese Begegnung auf eine Weise realisiert hat, die für die Entstehung des Christentums und seine Verbreitung entscheidende Bedeutung gewann.“ Benedikt XVI., Glaube, 19–20. Vgl. auch DV 22 (DH 4229): „[D]ie Kirche [hat] schon in ihren Anfängen die griechische älteste Übersetzung des Alten Testamentes, die nach den siebzig Männern benannt ist, als die ihre angenommen; die anderen orientalischen Übersetzungen aber und die lateinischen Übersetzungen, besonders die sogenannte Vulgata, hält sie immer in Ehren“.

18 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

Textfassung145 zur Grundlage einiger aktueller Sirachübersetzungen in verschiedenen Sprachen wurde.146 Denn als gesichert gilt der hebräische Text des Ben Sira nur dort, wo sich mehrere Handschriften mit den antiken Übersetzungen decken.147 Gleichwohl führen die lückenhaften hebräischen Manuskripte an den authentischen großväterlichen Ausgangstext (H I) heran – obwohl sie mit ihm im Ganzen nicht zu identifizieren sind –, weshalb es richtig ist, ihnen eine bevorzugte Bedeutung für die Exegese des Sirachtextes beizumessen.148 Dies begünstigte vor nicht langer Zeit Versuche, die möglichst ursprüngliche Textfassung aus den in verschiedenen Sprachen verfügbaren Manuskripten zu (re-)konstruieren, was aber zu eklektischen149 Übersetzungen des Sirachbuches und folglich zu einem künstlichen Mischtext geführt hat.150 Dabei wurde jedoch zu wenig auf die hermeneutische Eigenart der einzelnen Textfassungen geachtet, wie etwa der griechischen, die nicht nur eigene Kommentare oder variierende Übersetzungen derselben hebräischen Lexeme,151 sondern an manchen Stellen sogar abweichende Aussagen beinhaltet.152 Als Beispiel möge hier die Darstellung der Träume in Sir 34,6 (im Vergleich zur syrischen Version)153 oder des Arztes in Sir 38,15 angeführt werden, wo die durchaus positive Beurteilung dieses Berufs im hebräischen Sirachtext in der griechischen und der 145 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 18. G I ist „zwar der umfassendste und vielleicht auch in manchen Passagen beste Zeuge für die ursprüngliche Absicht des Autors, bietet [aber] nicht an allen Stellen mit Sicherheit eine ‚richtige‘ Übersetzung“. Ders., Urtext, 32. 146 Dazu gehören z. B.: das deutschsprachige Projekt LXX.D von 2009 und die ukrainische Übersetzung der LXX von 2006 unter Berücksichtigung des Kanons der Ostroher Bibel, der ersten gedruckten vollständigen Bibel in kirchenslawischer Sprache von 1580/1581 (vgl. Turkonyak, Ostroher Bibel). Beachtenswert sind ebenfalls die neuen Übersetzungen des von Ziegler herausgegebenen griechischen Sirachtextes (G I und G II), z. B. die polnische Übersetzung, die 2008 im Verlag der Gesellschaft vom hl. Apostel Paulus erschien (vgl. Brzegowy, Pismo Święte, 1547) und die italienische La Bibbia di Gerusalemme von 2009 (vgl. Filippi, Introduzione, 1552). Der Text der griechischen Langfassung bildet die Grundlage auch im Falle der EÜ 2016. 147 Vgl. Reiterer, Urtext, 14 und 241 sowie Marböck, Jesus Sirach, 24. 148 Vgl.  Reiterer, Zählsynopse, 18 und Tesch, Weisheitsunterricht, 65–66. Reiterer führt verschiede Gründe an, die mitunter Ms.  A, mitunter Ms.  B als die jüngere Textfassung erweisen. Vgl. Reiterer, Urtext, 12–13 und 239. 149 Dabei handelt es sich um einen idealen Text („the text that never was“), der eine Mischung aus den verfügbaren Fassungen darstellt. Vgl. Sahle, Copy-Text-Theorie, 176. 150 Als Beispiel kann hier die EÜ 1980 dienen, die nicht selten von einer zur anderen Tradition hinüberwechselt, wie etwa in Sir 46,6, wo nach Ms. B (Kolon d), G I (Kolon b) und Syr (Kola a und e) übersetzt wird. Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 45. Vgl. auch Wischmeyer, Die Kultur, 3; Marböck, Einwohnung der Weisheit, 70 und Zapff, Gemeinsamkeiten, 236. 151 Vgl. Reiterer, Urtext, 242 und Tesch, Weisheitsunterricht, 59. 152 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 25. 153 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 30–32.

1.4 Wechselverhältnis und Hermeneutik der antiken Sprachfassungen 

 19

syrischen Variante wieder ein Stück weit zurückgenommen wird.154 Weitere Diskrepanzen betreffen neben der Betonung der göttlichen Transzendenz155 auch die Darstellung des Hohepriesters Aaron in Sir 45,7, die mit dem Entstehungsort der jeweiligen Sprachfassung zusammenhängen könnte (Palästina vs. Ägypten).156 Vermutlich aufgrund der veränderten religionspolitischen Situation in Jerusalem wurde außerdem die Notiz über das aaronitische Priestertum Simeons II. in Sir 50,23–24 unübersetzt gelassen.157 Auch die syrische Variante stellt keine wörtliche Übersetzung des hebräischen Textes dar, sondern enthält zahlreiche Auslassungen und Zusätze, wie z. B. eine eschatologische Glosse mit zwölf Versen zwischen Sir 1,22 und 1,27.158 Zu den wichtigsten theologisch motivierten Abweichungen gehören ferner: eine kritische Haltung gegenüber dem Opferkult,159 dem Priestertum, dem Königtum und dem mosaischen Gesetz, die Empfehlung der Armut sowie die Vermeidung der prophetischen Literatur und des Anthropomorphismus Gottes,160 z. B. das Ersetzen der Formulierung ‫„ עין ייי‬das Auge des Herrn“161 / οἱ ὀφθαλμοὶ κυρίου „die Augen des Herrn“ durch den Ausdruck ‫„ ܡܐܡܪܗ ܕܡܪܝܐ‬das Wort des Herrn“ in Sir 11,12 und die Auslassung von ‫ אף‬/ ὀργή „Zorn [scil. Gottes]“162 in Sir 47,20 und 48,10.163 Zu nennen sind schließlich Passagen, die sich auf die personifizierte Weisheit bzw. auf Christus beziehen und wie die anderen genannten Änderungen vermutlich von christlichen Bearbeitern des syrischen Sirachbuches stammen.164 Ähnliche hermeneutische Beobachtungen lassen sich nicht nur zwischen dem hebräischen Text und seinen antiken Übersetzungen, sondern auch zwischen den einzelnen hebräischen Manuskripten feststellen, wobei sich nicht alle Abweichungen auf Verschreibungen zurückführen lassen.165 „Kein erhalte-

154 Vgl. ders., Sir 38,1–15, 355–356. Vgl. das Gebet des Arztes in Sir 38,13 als Relecture der Fürbetergestalt des Mose in Exkurs 3. 155 Vgl. Beentjes, Happy the One, 5. 156 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 34. 157 Vgl. Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 11 und Zapff, Jesus Sirach, 384–385. 158 Vgl. Calduch-Benages, Introduction, 50 und 57. 159 Vgl. Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 12 und Böhmisch, Die Vorlage, 202. 160 Vgl. Calduch-Benages, Introduction, 39–41. 161 In Ms. A IV verso. 162 In Ms. B XVII recto und verso. Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 353 und 359. 163 Vgl. Calduch-Benages, Introduction, 49. 164 Vgl.  Reiterer, Zählsynopse, 23; Calduch-Benages, Introduction, 40 und Owens, Christian Features, 178.  F. Böhmisch plädiert für die judenchristliche Herkunft des syrischen Übersetzers. Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 203 und 230–231. 165 Vgl. Reiterer, Urtext, 12 und Tesch, Weisheitsunterricht, 55–56.

20 

 1 Hinführung zur Problematik des Sirachbuches

ner Text ist wirklich das Original“166, vielmehr handelt es sich – selbst bei den ältesten Sirachfassungen  – bisweilen auch um Auslegungen.167 Das Zustandekommen solcher interpretatorischer Abweichungen168 kann grundsätzlich durch zweierlei erklärt werden: Zum einen galt das Buch Ben Sira im Judentum nicht als kanonisch, d. h. als abgeschlossen und unveränderlich, obwohl es paradoxerweise selbst ein wichtiges Zeugnis für die Bildung des biblischen Kanons ist (vgl. Kap. 1.2).169 Zum anderen wurde neben der tradierten Textvorlage auch die Lebens- und Vorstellungswelt der jeweiligen Zielgruppe beachtet.170 Somit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass nicht nur der schriftgelehrte Autor (vgl.  Kap.  1.2), sondern auch die hebräischen Tradenten und die Verfasser der kanonischen Übersetzungen des Sirachbuches (G I / G II, Syr und La / Vg)171 als Teilnehmer am Prozess der innerbiblischen Auslegung anzusehen sind. Das Besondere dieses Relectureprozesses ist, dass nicht selten erst der Vergleich mit den vor- und nachgängigen Bibeltexten einen Sinn ergibt, den jeder dieser Texte für sich genommen nicht hat.172

166 Reiterer, Zählsynopse, 54. 167 Vgl. Reiterer, Review, 27 und Tesch, Weisheitsunterricht, 59. 168 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 227. 169 Vgl. Reiterer, Review, 24–25; Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 11 und Zapff, Normenbegründung, 25. 170 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 59–60. Vgl. auch Masini, La lectio divina, 396: „L’inculturazione del testo biblico si realizza in due tappe successive. La prima tappa è costituita dalla traduzione, la quale ‚è sempre qualcosa di più di una semplice trascrizione del testo originale‘. Infatti ‚il passagio da una lingua a un’altra comporta necessariamente un cambiamento di contesto culturale: i concetti non sono identici a la portata dei simboli è differente, perché mettono in rapporto con altre tradizioni di pensiero e altri modi di vivere‘.“ 171 Im Gegensatz zur hebräischen Bibel gehören die griechische Kurzfassung (G I als Bestandteil der LXX) und die syrische Version des Sirachbuches (als Bestand der Peschitta) zu den deuterokanonischen Büchern des AT der Ostkirchen, während die lateinische Kirche in ihrer Liturgie traditionellerweise die längere Sirachversion bevorzugte. Vgl. Vattioni, Introduzione, XXIV–XXV; Filippi, Introduzione, 1552 und Marböck, Einwohnung der Weisheit, 70. Die Kanonizität des Buches Sirach (Ecclesiasticus) wurde in der westlichen Kirche im Rahmen der Synode von Rom im Jahre 382 (DH 179), der dritten Synode von Karthago im Jahre 397 (dort unter den „fünf Büchern Salomos“; DH 186) und des ökumenischen Konzils von Trient im Jahre 1546 (DH 1502) festgelegt. Während die östliche Kirche sich im 7. Jh. dem umfangreichen „Septuagintakanon“ angeschlossen hat, schieden die Reformatoren alle nicht auf Hebräisch überlieferten alttestamentlichen Bücher – darunter auch das Buch Sirach – aus. Vgl. Reiterer, Text, 16; Zenger, Heilige Schrift, 27 und Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 409. 172 Vgl. Frevel, Gottesbilder, 58.

2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs 2.1 Religionsgeschichtliches Umfeld Die bislang angeführten Beobachtungen über die sirazidische Weisheitsschrift, vor allem die Themen, um die sie kreist (vgl. Kap. 1.1), ihr jüdischer Entstehungskontext (vgl. Kap. 1.3) sowie ihr frühchristlicher Gebrauch (vgl. Kap. 1.4), lassen erkennen, dass sie hauptsächlich als Lehrmaterial gedacht war, das an den überlieferten biblischen Gottesglauben als Orientierung in Zeiten des Umbruchs erinnern sollte. Weil die stetige Berücksichtigung dieser pädagogisch-religiösen Absicht für eine schriftgemäße Auslegung des Werkes von Schlüsselbedeutung ist,1 besteht weiterhin der dringende Bedarf nach einem tiefen Verständnis des dieser Absicht zugrundeliegenden Gottesbildes. Das letztere kann nicht nur anhand der ethisch-weltanschaulichen oder religiös-polemischen Aussagen des Siraziden (vgl.  Sir  43,27–28; 50,25–26), sondern ebenfalls  – und sogar in privilegierter Weise  – durch seinen Zugang zum Gebet ermittelt werden.2 Dies lässt sich dadurch erklären, dass das Gottesbild immer einen konstitutiven Teil des Glaubens bildet, der wiederum im Beten seinen Ausdruck findet (lex orandi – lex credendi).3 Während im Judentum und im Christentum das Gebet als kommunikative Beziehung mit dem personalen Gott4 als selbstverständlich vorausgesetzt5 und nach der vielfachen Bezeugung durch die Bibel6 und die Kirchenväter als „Gespräch mit Gott“ bezeichnet wird,7 war das bei den Nachbarn Israels nicht immer der Fall. Um die Gebetsanweisungen des Sirachbuches tiefer zu erfassen,

1 Gemäß dem klassischen Prinzip der Bibelexegese „muß der Ausleger der Heiligen Schrift, um zu durchschauen, was er [scil. Gott] uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die Hagiographen wirklich zu sagen beabsichtigten und (was) Gott mit ihren Worten kundzutun wollte“. DV 12 (DH 4217). 2 Vgl. Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 779: „Die Eigenart des Gottesgedankens drückt auch dem Gebet seinen Stempel auf“. 3 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche; im Weiteren: „KKK“; hier: KKK 1124. 4 Vgl. Walser, Beten denken, 414. 5 Zum gemeinsamen geistlichen Erbe der Juden und der Christen vgl.  Nostra aetate, NA  4 (DH 4198); vgl. auch Röm 9,4–5. 6 Z. B. in Ex 33,11: „Und der HERR redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet“. Vgl. KKK 2576. 7 Vgl. Hörmann, Gebet, 416: „Dein Gebet ist Sprechen mit Gott; wenn du liest, spricht Gott mit dir; wenn du betest, sprichst du mit Gott (Augustinus, In Ps 85 en. 7, PL 37,1086; vgl. Gregor von Nyssa, Orat. 1 de orat. dom., PG 44,1124; Johannes Chrys., In Gen. hom 30,5, PG 53,280; Neilos von A., De orat. 3, PG 79,1168; Ambrosius, De off. min. I 20,88, PL 16,50; Hieronymus, Ep. 22,25, PL 22,411; Maximus Conf., Liber ascet. 24, PG 90,980; 2. Vat. Konz., Dei verbum 25).“ https://doi.org/10.1515/9783110784923-002

22 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

soll deshalb kurz über sein zeitgenössisches, vom Hellenismus geprägtes religiös-soziales Umfeld berichtet werden. Der Begriff hellenistisches Judentum besagt in erster Linie, dass die damals in der Diaspora und in der Heimat lebenden Juden einem ständig wachsenden, wenngleich lokal unterschiedlich geprägten Einfluss der griechischen Kultur ausgesetzt waren.8 Bis zu den tragischen Ereignissen unter dem Seleukidenkönig Antiochus  IV. Epiphanes in den 160er Jahren v. Chr. sollte es sich dabei um einen relativ friedlichen Prozess handeln,9 was die grundsätzliche Offenheit Sirachs gegenüber dem neuen Lebensstil erklärt (vgl.  Kap.  1.3). Doch standen manche vom Hellenismus geförderten Werte, wie Ruhmsucht und Konkurrenzkampf, im Widerspruch zu den typisch biblischen Tugenden, wie Demut (vgl. Sir 3,17) und Solidarität mit den Armen (vgl. Sir 4,8).10 Dazu wurden gewisse Vorstellungen und Handlungsmuster kolpoltiert, die von den (traditionsbewussten) Juden als anstößig empfunden wurden (vgl.  1  Makk 1,13–15 und 2  Makk 4,11–13), sodass zum Teil – vor allem im geistigen und religiösen Bereich – mit der Gegnerschaft zu rechnen war.11 Als Beispiel mögen etwa die Vielgötterei und die Deifizierung der Regenten angeführt werden, deren Auswirkungen bis in den Alltag reichten,12 weil der Kult in der Antike einen festen Bestandteil des öffentlichen Lebens bildete.13 Noch schwierigere ethische Implikationen hatte für die jüdische Jugend die hellenistische Bildung (παιδεία) mit der dazugehörenden Nacktheit und Päderastie,14 weil sie für die Vollrechtsfähigkeit und den sozialen Aufstieg unentbehrlich war.15 Gerade dies erklärt, warum die frommen Weisheitslehrer mit ihren Lehrhäusern (vgl. Sir 51,23), in denen ein konkurrenzfähiges, an der Tora und Gottesfurcht orientiertes Bildungsprogramm absolviert werden konnte,16 die Aufgabe als „Träger der neuen israelitischen Position“ zu erfüllen hatten.17

8 Vgl. Hengel, Judaism, 7 und 11; Sterling, Judaism, 264; Wright, Hellenization, 63 und Zsengellér, Short Notes, 83. 9 Vgl. Collins, Cult, 38–40 und 42 sowie Berthelot, Hellenization, 69–70. 10 Vgl. Reiterer, Zwischen Jerusalem, 273. 11 Vgl. Reiterer, Zwischen Jerusalem, 283 und Wright, Hellenization, 64. 12 Vgl. Reiterer, Zwischen Jerusalem, 251–253 und 280–281. 13 Vgl. Collins, Cult, 41. 14 Vgl. Reiterer, Zwischen Jerusalem, 265–268 und 271–272. 15 Vgl. Hengel, Judaism, 13 und Reiterer, Zwischen Jerusalem, 283. 16 Vgl.  Calduch-Benages, Emotions, 157: „This concerns in particular the book of Ben Sira, a compendium of wisdom teachings addressed to all who seek to become wise, specially the young disciples who attended his school“. 17 Vgl. Reiterer, Zwischen Jerusalem, 270, 277 und 283.

2.1 Religionsgeschichtliches Umfeld 

 23

Einen beträchtlichen Teil eines solchen Programms machte nicht zuletzt die Gebetslehre aus, wie im folgenden Abschnitt über den sirazidischen Gebetswortschatz gezeigt wird. Um den entsprechenden religionsgeschichtlichen Kontext genauer zu schildern, sollen hier noch zwei entgegengesetzte Zugänge zum Gebet aus der hellenistischen Zeit berücksichtigt werden. In der Regel gab es noch die emotionale Frömmigkeit der angestammten Religion(en), welche Opfer und Gebet zu den allzu menschlich gesinnten Göttern auch für Glücksgüter wie z. B. soziales Ansehen, Vertrauen der Freunde, Furcht der Feinde und Reichtum forderte.18 Dem stand jedoch die kühle, reservierte Weltanschauung der griechischen Philosophie – vor allem der Stoa – sehr kritisch gegenüber, was zum Verblassen und schließlich zur Aufhebung der genannten Gebetspraxis führte.19 Zwar kam es infolge dieser popularphilosophischen Aufklärung zu einer an sich erwünschten Läuterung der in ihrem Kern naiv-eudämonistischen Gebetshaltung; weil hier aber jegliche Vorstellung eines personalen göttlichen Wesens fehlte, entbehrte notwendigerweise auch das „philosophische“ Beten charakteristischer Züge eines wirklichen Bittgebets:20 „Nirgends ist eine konkrete Notlage zu erkennen, aus der heraus ein Beter um Hilfe riefe, weder eine äußere Not noch ein geängstetes Gewissen“21. Für die Stoiker war es nämlich sinnlos, um etwas zu bitten, wofür die Götter ohnehin nicht zuständig waren oder was der Mensch durch eigene Anstrengung erlangen könnte, wie etwa die rechte Gesinnung.22 Vielmehr sollte das Gebet, das nun mehr einer philosophischen Spekulation glich, die Ergebenheit des Menschen dem Schicksal bzw. der Natur gegenüber ausdrücken.23 Eine wesentliche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Heimarmene (εἱμαρμένη),24 eine auf der monistischen und pantheistischen25 Weltanschauung gründende Lehre über das unabwendbare Schicksal, das die Vollendung der

18 Vgl. Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 776–778. 19 Vgl. Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 779. 20 Vgl. Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 779. 21 Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 781. 22 Vgl. Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 779. 23 Vgl.  Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 780. Mit der Natur im Einklang zu leben, war das Ziel (τέλος) der gesamten stoischen Ethik. Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 14 und 160. 24 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 84. 25 Der Begriff der „Natur“ wurde in der Stoa nicht im Sinne der Schöpfung Gottes aufgefasst. Denn der Gott der Stoiker stand der Welt nicht gegenüber (transzendent), sondern existierte ausschließlich in und mit der Materie (immanent). Vgl.  Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 17–18 (auch Fußnote 21), 22 und 48. Somit postulierten die Stoiker die Einheit von Gott und Natur (Monismus) und die Vergöttlichung der Natur (Pantheismus). Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 20–21, 25, 33, 35 und 56.

24 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

Werke der göttlichen Pronoia (πρόνοια), d. h. der planenden Fürsorge Gottes für Welt und Mensch,26 garantieren sollte.27 Da für die Stoa alles mit Notwendigkeit geschah und alle Ereignisse im Kosmos determiniert waren,28 gab es folglich in ihrem religiösen Denksystem weder Platz für das für die Bibel so charakteristische Bittgebet noch für die Anamnese früher erbeteter und erlangter Heilserfahrungen (vgl. Kap. 3.1.7). Im Unterschied zu seinem hellenistisch geprägten Umfeld lehnte Sirach, dem es gelang, „in vielfältiger Weise, zentrale Überzeugungen des traditionellen Glaubens und der Überlieferungen Israels vor diesem neuen geistesgeschichtlichen Hintergrund zu formulieren“29, alle deterministischen Vorstellungen kompromisslos ab30 (vgl.  Sir 15,11–20). Umso intensiver widmete er sich in seinem Buch dem Gebet,31 das in Israel seit alters praktiziert worden war.32 Er widerlegte auch die Vorstellungen der traditionellen griechisch-römischen Religion, wonach die Vergehen der Menschen nicht selten durch die Götter verursacht wurden,33 indem er gegen die entgegengesetzte Position (vgl.  Sir  16,17–23) hervorhob, dass die moralische Schlechtigkeit der menschlichen Handlungen den Gott Israels wirklich angeht (vgl.  Sir 17,19–20).34 Weil JHWH keinen Automatismus kennt und die Gebetserhörung mit unsittlichem Lebenswandel unvereinbar ist (vgl. Sir 28,1–4), nehmen innerhalb der sirazidischen Gebetsweisheit die Passagen über das Buß- und Sühnegebet einen besonderen Raum ein (vgl.  Sir 38,9–10). Denn ohne wahre Umkehr (vgl. Sir 17,24), Abwendung von den Sünden und Bitte um ihre Vergebung (vgl. Sir 17,25–26 und 21,1) nützt die Verrichtung der Gebete nichts, wie es den rhetorischen Fragen in Sir 28,4 und 34,29.31 zu entnehmen ist.35 Dies alles erweist den Siraziden als einen frommen und scharfsinnigen Theologen und sein Werk als eine gelungene Synthese der alttestamentlichen Spiritualität.

26 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 26, 31 und 56. 27 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 36. 28 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 34. 29 Vgl. Zapff, Sir 38,1–15, 348. 30 Vgl. Witte, Texte, 80. 31 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 32. 32 Vgl. Gen 4,26; 12,8; Ex 2,23; Ri 6,6–7; 1 Sam 7,5; 1 Kön 8,22–23; Neh 8,6; Ps 116,13; Dan 3,51 und Joël 3,5. Vgl. Moulton / Geden, ἐπικαλέω, 367–368. 33 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 135–136. 34 Vgl. auch 1 Sam 2,3; Jes 58,4 und Am 3,2. 35 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 35.

2.2 Lexikalischer Befund 

 25

2.2 Lexikalischer Befund Zwar ist die Bedeutung, welche der Autor der Gebetsthematik beimisst  – wie schon bei flüchtiger Lektüre des Ecclesiasticus zu sehen ist – offensichtlich; sie bedarf jedoch einer genaueren Prüfung. Um einen besseren Einblick in das Thema zu gewinnen, werden deshalb die über das ganze Buch verteilten einschlägigen Passagen zusammengestellt: neben den drei Gebeten mit einer direkten Anrede Gottes36 (vgl. Abb. 4) auch andere Gebetstexte37 sowie zahlreiche Aussagen über das Gebet (z. B. Mahnungen, Aufforderungen, rhetorische Fragen)38 und die Abschnitte, die der Schilderung beispielhafter Betergestalten39 gewidmet sind.40 Angesichts der eingangs angedeuteten Hermeneutik der antiken Sprachversionen werden die auf das Gebet bezogenen Stellen sowohl im erhaltenen hebräischen Konsonantentext als auch in der Peschitta und in der griechischen Version untersucht. Bei der letzteren, die sich als die älteste vollständig überlieferte Textfassung für eine Überschau besonders gut eignet, werden u. a. die folgenden gebetsbezogenen Lexeme berücksichtigt: δέησις „Bitte, Gebet“, δέομαι „bitten, beten“ (außer i. S. v. „betteln, jemanden bitten“ in Sir 4,5; 33,20.22), προσευχή „Gebet“41, εὔχομαι „beten“ (außer i. S.  v. „geloben“42 in Sir 18,23)43, ἐπικαλέω „anrufen“, αἰνέω „preisen“ (außer Sir 11,2; 21,15; 39,9; 44,1; 47,6, wo ein Mensch Objekt des Lobes ist, und außer Sir 24,21, wo die göttliche Weisheit sich selbst preist), ἀνθομολόγησις „Danksagung, Lobpreis“, ὑμνέω „lobsingen, in Hymnen preisen“, ἐξομολόγησις „Lobpreis“ (außer i. S. v. „Anerkennung“ für Menschen in Sir 18,28), ἐξομολογέω Med. „bekennen, preisen“, εὐλογέω „preisen“ (außer i. S.  v. „einen Menschen preisen“ in Sir  1,13; 4,13; 31,23; 33,12 und außer i. S.  v. „das Volk segnen“ in Sir  45,15)44, ὑψόω „erheben“ (außer dort, wo Objekt der Erhebung nicht Gott ist, sondern ein Mensch wie etwa in Sir 15,5 und 45,6 oder

36 Im Weiteren: „eigentliche Gebetstexte“. 37 Als Gebet wird von J.  van Oorschot auch der sogenannte Schöpfungspsalm in Sir 39,12–35 eingestuft. Vgl. van Oorschot, Strukturen, 33. Gilbert nennt es „a hymn of praise to the Lord“. Vgl. Gilbert, Prayer, 128. 38 Im Weiteren: „Gebetslehre“. Zur religionswissenschaftlichen Unterscheidung zwischen den Gebetstexten und den Texten über das Gebet vgl. Urbanz, Gebet, 23. 39 Im Weiteren: „Vorbilder des Gebets“. 40 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 31–32. 41 Das entsprechende Verb προσεύχομαι „beten“ fehlt bei Sirach. 42 Vgl. Balz, εὐχή, 223 und Urbanz, Die Gebetsschule, 45. 43 Das entsprechende Substantiv εὐχή kommt im ganzen Buch nur einmal in Sir 18,22 i. S. v. „Gelübde“ vor. Vgl. Balz, εὐχή, 223. 44 Vgl. ‫„ ܒܪܟ‬segnen“; i. S. v. „Gott segnen“, d. h. „loben, preisen“ in Sir 32,13 (außer i. S. v. „einen Menschen segnen“ in Sir 34,29).

26 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

eine Sache wie in Sir 50,10.22) und δοξάζω „ehren, preisen, verherrlichen“ (außer i. S. v. „einen Menschen ehren“ in Sir 3,2.4.6.10; 7,27.31; 10,23.24.26.27.28.29.30.31; 24,12; 25,5; 44,7; 45,3; 46,2.12; 47,6; 48,4.6; 49,16 und 50,5.11; übergangen werden auch die Stellen: Sir 35,1045, wo es sich aufgrund des Parallelismus vielmehr um die Darbringung kultischer Opfer handelt, und Sir 36,5, wo die Rede vom Selbstlob Gottes ist).46 Aus dieser Auflistung ergibt sich, dass als Gebetslexeme nicht selten solche Wörter fungieren, die in ihrer Grundbedeutung keine typischen Gebetsvokabeln sind. So wird etwa das Verb ‫„ קרא‬rufen“ / ἐπικαλέω „anrufen“ / ‫„ ܩܪܐ‬rufen“ in der Samuelperikope in Sir 46,16 i. S. v. „Gott anrufen“ gebraucht, aber in Sir 46,19 bedeutet es „als Zeugen rufen“. Auch in Sir 47,18 wird seine Passivform ‫ נקרא‬/ ἐπικεκλημένος / ‫ ܐܬܩܪܝ‬sowohl i. S. v. „(be)nennen“ verwendet,47 als auch um auszudrücken, dass das Volk Gott gehört: ‫ נקראת בשם הנכבד הנקרא על ישראל‬48 „Du [scil. Salomo] wurdest benannt nach dem Namen des Herrlichen, der über Israel angerufen ist“49 / ἐν ὀνόματι κυρίου τοῦ θεοῦ τοῦ ἐπικεκλημένου θεοῦ Ισραηλ „Im Namen Gottes, des Herrn, des angerufenen Gottes Israels“ / ‫ܘܐܬܩܪܝܬ ܒܫܡܗ‬ ‫ ܕܕܝܠܗ ܗܘ ܐܝܩܪܐ ܕܐܬܩܪܝ ܥܠ ܐܝܣܪܝܠ‬.‫ ܕܐܠܗܐ‬50 „Und du wurdest nach dem Namen Gottes benannt, dem die Ehre gehört, der über Israel gerufen wurde“.

Von dieser besonderen Beziehung Gottes zu Israel spricht der Autor in gleicher Weise sonst in Sir 36,1751: ‫רחם על עם נקרא בשמך‬52 „Hab Erbarmen mit dem Volk, das nach deinen Namen benannt ist“53 / ἐλέησον λαόν κύριε κεκλημένον ἐπ᾽ ὀνόματί σου „Hab Erbarmen mit dem Volk, Herr, das gerufen worden ist bei deinem Namen“ / ‫„ ܘܚܕܝ ܥܠ ܥܡܟ ܕܐܬܩܪܝ ܫܡܟ ܥܠܘܗܝ‬Und freue dich über dein Volk, über dem dein Name gerufen worden ist“.54 Es ist außerdem hinzuzufügen, dass Stichwörter wie ἐπιστρέφω „(um) wenden“ in Sir 17,25, διηγέομαι „erzählen, darstellen“ in Sir 17,9 und ἐκδιηγέομαι 45 Der Stelle Sir 35,10 entspricht in der Edition von Rahlfs Sir 35,7. 46 Vgl.  eine ähnliche Auflistung der griechischen Termini zu Klage und Lob bei W. Urbanz. Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 33–34 und 37–38. 47 Im Aramäischen heißt das Verb ‫ קרא‬neben seiner Grundbedeutung „laut sprechen, rufen“ auch „herbeirufen, einladen, berufen, benennen“. Vgl. Hug, ‫קרא‬, 668. 48 In Ms. B XVII recto. 49 Modifiziert nach Peters. 50 Vattioni liest ‫ ܐܝܣܪܐܝܠ‬statt ‫ܐܝܣܪܝܠ‬. 51 Der Stelle Sir 36,17 entspricht in der Rahlfs’schen Edition Sir 36,11, während sie in der Edition von Beentjes und in der Polyglotte von Vattioni als Sir 36,12 und in der Ausgabe von CalduchBenages als Sir 36,14 gezählt wird. 52 In Ms. B VI verso. 53 Nach der EÜ 1980. 54 Vgl. 2 Sam 12,28 und Jes 63,19.

2.2 Lexikalischer Befund 

 27

„erzählen“ in Sir 18,5; 36,10; 42,15.17; 43,31, ζητέω „suchen“ in Sir 28,3; 51,13 oder μιμνῄσκομαι „gedenken“ in Sir 42,15 in diese Analyse nicht eingeflossen sind, da sie die Artikulation der eigentlichen Gebetstexte nicht notwendig implizieren.55 Zur methodischen Vorgehensweise ist noch zu ergänzen, dass hier weder Opfer noch Altardienst, wie in Sir 50,19cd, berücksichtigt werden. Dagegen wird die Erhebung der Hände in Sir 48,20 als typische Gebetshaltung des Alten Orients und somit als metonymischer Ausdruck für das Gebet beachtet.56 Diese Ambivalenz wird noch deutlicher bei den kultischen Gesten der Händeerhebung in Sir 50,20 und der Proskynese in Sir 50,17.21 (vgl. ‫„ ויפלו על פניהם ארצה‬und sie fielen auf ihr Angesicht zur Erde nieder“57 / ἔπεσαν ἐπὶ πρόσωπον ἐπὶ τὴν γῆν „und sie ̈ fielen auf [ihr] Angesicht auf die Erde nieder“ / ‫ܐܦܝܗܘܢ ܥܠ ܐܪܥܐ‬ ‫„ ܘܢܦܠܘ ܥܠ‬und sie sind auf ihr Angesicht auf die Erde niedergefallen“; ‫„ להשתחות‬um sich zu niederzuwerfen, um anzubeten“58 / προσκυνῆσαι „um niederkniend zu huldigen, um anzubeten“59 / ‫„ ܠܡܣܓܕ‬um sich zu neigen, um anzubeten“60), die keine direkte verbale Gottesanrufung voraussetzen, sondern vielmehr dazu dienen, den Segen zu erteilen bzw. zu empfangen. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch das Verb ὀρθρίζω, das in Sir 4,12 zwar „früh aufstehen, sich früh aufzumachen, sich frühmorgens [der Weisheit] zuwenden“ bedeutet, aber in Sir 32,14 und 39,5 i. S. v. „sich früh an Gott wenden“, d. h. „beten“ gebraucht wird (vgl. ‫ ܡܨܐܠ‬und ̇ ‫ܠܡܨܠܝܘ‬ in Syr).61 Weitere Lexeme des Bedeutungsfeldes „Beten“, wie etwa αἰτέω „fragen, bitten“, ἐρωτάω „fragen, bitten“ und εὐχαριστέω „danksagen“,62 fehlen im Sirachbuch. Auch wenn das „Beten“ im engeren Sinne das Aussprechen der an Gott gerichteten Worte durch Menschen bedeutet,63 umfasst das Vokabular der einschlägigen Sirachpassagen neben der Gottesanrufung nicht selten auch die göttliche Reaktion64 (vgl. ‫„ ענה‬antworten“, im religiösen Sprachgebrauch: „erhören“65), sodass die beiden Teile des gottmenschlichen Dialogs oft nach dem Klage-ErhörungsParadigma einander zugeordnet sind. Dass dies gewissermaßen in der Natur der

55 Vgl. dagegen Urbanz, Gebet, 227–228. 56 Vgl. den Parallelismus in Ps 141,2 sowie Urbanz, Gebet, 26 und 229–230. 57 Modifiziert nach Peters. 58 Vgl. Holladay / Köhler, ‫שחה‬, 365. 59 Vgl. Benseler / Kaegi, προσκυνέω, 771. 60 Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܓܕ‬, 360 und Hanna / Bulut, ‫ܣܓܕ‬, 265 (aramäisch). 61 Vgl. Kap. 4.1.2. 62 Vgl. Herrmann / Greeven, εὔχομαι, 774. 63 Vgl. Hörmann, Gebet, 416: „[W]enn du betest, sprichst du mit Gott“. 64 Vgl. Urbanz, Gebet, 26. 65 Vgl. Gzella, ‫עני‬, 585–587.

28 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

Sache liegt, zeigt die bereits erwähnte, grundlegende Gebetsvokabel des Sirachbuches „(an)rufen“. Denn eine Anrufung, ohne dass es jemanden gibt, der sie „(er)hören“ (‫שמע‬66) kann, macht wenig Sinn und steht sogar im Widerspruch zum biblischen Verständnis.67 Tab. 2: Die semantischen Felder der gewählten Gebetsvokabeln im Sirachbuch. Das Feld des Sprechens (menschlicherseits)

Das Feld des Hörens (göttlicherseits)

Hebräisch

‫„ קרא‬rufen“ in Sir 46,5.16; 47,5 ‫„ צעק‬schreien“ in Sir 4,6 ‫„ צעקה‬Geschrei“ in Sir 4,668

‫„ שמע‬hören“ in Sir 4,6 ‫„ ענה‬erhören“ in Sir 46,5

Griechisch

ἐπικαλέω „anrufen“ in Sir 2,10; 3,5; 4,6; 46,5.16; 47,5 δέομαι „bitten, beten“ in Sir 4,5 δέησις „Bitte, Gebet“ in Sir 4,6 προσευχή „Gebet“ in Sir 3,5

ἐπακούω „hören, erhören“69 in Sir 4,6; 46,5

Syrisch

‫„ ܩܪܐ‬rufen“ in Sir 2,10 ‫„ ܨܠܝ‬beten“ in Sir 3,5; 46,5; 47,5 ‫„ ܓܥܬܐ‬Geschrei, Hilferuf“70

εἰσακούω „erhören“ in Sir 3,5

‫„ ܫܡܥ‬hören“ in Sir 3,5; 4,6 ‫„ ܥܢܐ‬erhören“ in Sir 2,10; 3,5; 46,5

Um diesem unentbehrlichen dialogalen71 Charakter des biblischen Betens gerecht zu werden, sollen deshalb die beiden Schritte innerhalb des Gebetsprozesses, sowohl die Anrufung Gottes seitens des Beters als auch die göttliche Antwort darauf, als Objekt der vorliegenden Analyse untersucht werden. Demzufolge kann der über das ganze Buch verteilte Gebetswortschatz in zwei semantische Felder eingeteilt werden: das Feld des menschlichen Sprechens und das des göttlichen (Er)hörens, wie es Tab. 2 zu entnehmen ist. Es ist ferner zu bemerken, dass die Schrift Sirachs nur wenige allgemeine Anleitungen zum Beten (‫ ְּת ִפ ָלה‬/ προσευχή / ‫„ ܨܠܘܬܐ‬Gebet“; ‫ עתר‬/ δέομαι / ‫„ ܨܠܝ‬beten“)

66 Vgl. Waltisberg, ‫ׁשמע‬, 781: „Das Verb dient zur Bezeichnung der auditiven Wahrnehmung im allgemeinsten Sinn und hat öfter die sich aus dem reinen Hören ergebenden Konnotationen ‚gehorchen‘ und ‚verstehen‘“. 67 Vgl. die Episode mit dem Propheten Elija und den 450 Propheten des Baal auf dem Karmel in 1 Kön 18. 68 In der Formulierung ‫„ ובקול צעקתו‬auf die Stimme seines Geschreis“, d. h. „lautes Geschrei“. 69 Vgl. Menge, ἐπακούω, 255. 70 Das Substantiv ‫( ܓܥܬܐ‬von ‫„ ܓܥܐ‬schreien, rufen“) kommt in der Formulierung ‫ܘܒܩܐܠ ܕܓܥܬܗ‬ „auf die Stimme seines Geschreis“ vor. 71 Vgl. Urbanz, Gebet, 21.

2.2 Lexikalischer Befund 

 29

bietet,72 wie etwa in Sir 7,14: ‫ ואל תישן דבר בתפלה‬/ καὶ μὴ δευτερώσῃς λόγον ἐν προσευχῇ σου „Und wiederhole nicht ein Wort in deinem Gebet“ / ‫ܘܐܠ ܬܫܚܠܦ‬ ̇ ‫ܨܠܘܬܟ‬ ‫ ̈ܡܠܝ‬73 „Und verändere nicht die Worte deines Gebetes“ und Sir 37,15: ‫ ועם כל אלה עתר אל אל‬/ ‫ܐܠܠܗܐ‬ ‫„ ܘܥܡ ܟܠܗܝܢ ̣ܗܘܝܬ ̇ܡܨܐܠ‬Und bei alledem bete zu ̣ Gott“74 / καὶ ἐπὶ πᾶσι τούτοις δεήθητι ὑψίστου „Und bei allen diesen (Dingen) bete zum Höchsten“. Meistens handelt es sich um ein konkretes Gebetsanliegen: sei es Lob, Dank, Buße (Sühnegebet) oder Bitte für sich bzw. für andere (Fürbitte). Der Übersichtlichkeit wegen können die genannten Gebetsarten zu den zwei übergreifenden Kategorien Klage und Lob zusammengefasst werden,75 wobei etwa in Sir 35,16–21 auffällt, dass im Hebräischen mehr spezifische Termini für das Begriffsfeld der Klage (vgl. ‫„ ַּת ֲחנּונִ ים‬Flehen“; ‫„ ְצ ָע ָקה‬Schrei, Geschrei, Hilferuf“; ‫„ ִׂשי ַ ח‬Gedanke, Rede, Geschwätz“; ‫רּורים‬ ִ ‫„ ַּת ְמ‬Bitterkeiten76, Klage77“ und ‫„ ַׁשוְ ָעה‬Geschrei, Ruf, Hilferuf“) als im Griechischen vorkommen78 (vgl. ἱκετεία „Flehen“ und λαλιά „Rede, Klage“ sowie die allgemeinen Ausdrücke δέησις „Bitte, Gebet“ und προσευχή „Gebet“; die Peschitta liest hier: ‫„ ܨܠܘܬܐ‬Gebet“; ‫„ ܒܥܘܬܐ‬Bitte, Wunsch, Gebet“79; ‫„ ܒܥܘܬܐ‬Verlangen“80 und ‫„ ܡܪܪܐ‬Bitterkeit, Groll“81).82 Gelegentlich können die analysierten Texte als Mischtyp sowohl der Klage als auch dem Lob zugeordnet werden83 (vgl. Sir 17,25–28; 39,5–6; 51,13–22). Die entsprechende Zuordnung zur einen oder andern Gebetsart unter Angabe des inhaltlichen Schwerpunktes (Gebetslehre, Vorbilder des Gebets, eigentliche Gebetstexte) fasst der tabellarische Überblick der auf das Gebet bezogenen Stellen im hebräischen, syrischen und griechischen Sirachbuch zusammen (vgl. Tab. 3).84

72 Vgl. Reitemeyer, Weisheitslehre, 66–67 und Urbanz, Gebet, 25 (auch Fußnote 7). 73 Die Verbform ‫( ܫܚܠܦ‬Schafʿel von ‫„ ܚܠܦ‬vertauschen“) bedeutet „verändern“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܫܚܠܦ‬, 394 (aramäisch). 74 Modifiziert nach Peters. 75 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 33–38 und ders., Gebet im Sirachbuch, 22 und 225. 76 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫רּורים‬ ִ ‫ּת ְמ‬, ַ 883. 77 Vgl. Sir 35,20a nach Peters: „Die Klage des Bedrückten (bringt) Ruhe“. 78 Vgl. Urbanz, Gebet, 27. 79 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܒܥܘܬܐ‬, 45 (aramäisch). Das Substantiv ‫ ܒܥܘܬܐ‬kommt von ‫„ ܒܥܐ‬wünschen, möchten, suchen, bitten“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܒܥܐ‬, 44 (aramäisch). 80 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܐܢܩܬܐ‬, 16 (aramäisch). 81 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܡܪܪܐ‬, 225 (aramäisch). 82 Zu beachten ist die abweichende Verszählung in der Polyglotte von Vattioni in Ms. B (Sir 35,13–17) und in Syr (Sir 35,14–17). 83 Vgl. Urbanz, Gebet, 24. 84 Vgl. Smend, Griechisch-syrisch-hebräischer Index, passim und Barthélemy / Rickenbacher, Konkordanz, passim.

2,10

1

3,5

3,20

4,6

7,10.14

17,10

17,25.27–28

21,1.5

2

3

4

5

6

7

8

(2,11)

Stelle

Nr.



?

?

?

?

?

‫בתפלה‬ ‫בתפלה‬

‫צועק‬ ‫ובקול צעקתו‬ (‫)ישמע‬

Hebräisch

LXX

δεήθητι αἰνέσει ἀνθομολόγησιν ἐξομολόγησις αἰνέσει

— δεήθητι ‫ ܨܠܘܬܗ‬δέησις

— — ̇ ‫ܘܝܗܒܝܢ ܬܫܒܘܚܬܐ‬ — —

‫ ܢܗܘܘܢ ܡܫܒܚܝܢ‬αἰνέσουσιν

‫ ܨܠܘܬܟ‬προσευχῇ ‫ ܨܠܘܬܟ‬προσευχῇ

— — ‫ ܘܒܩܠ ܓܥܬܗ‬δεήσεως ̇ (‫)ܫܡܥ‬ (ἐπακούσεται)

— δοξάζεται

‫ ܡܨܐܠ‬προσευχῆς (‫( )ܢܫܬܡܥ ܘܢܬܥܢܐ‬εἰσακουσθήσεται)

‫ ܩܪܝܗܝ‬ἐπεκαλέσατο (‫)ܘܐܠ ܥܢܝܗܝ‬ (‫)ܘܫܡܥ‬ (‫)ܘܫܡܥ ܒܩܐܠ‬

Syrisch

Gebetslexeme (mit Gebetserhörung)

Buße Bitte

Buße und Lobpreis

Lobpreis

Allgemeine Gebetslehre

Bitte

Lobpreis

Bitte

Bitte

Gebetsart

Lehre

Lehre

Lehre

Lehre

Lehre

Lehre

Lehre

Lehre

Inhalt

Tab. 3: Die wichtigsten auf das Gebet bezogenen Sirachstellen nach Vattioni mit der Angabe einzelner Lexeme, der Gebetsart und inhaltlicher Schwerpunkte (die Lexeme des Erhörens werden in Klammern aufgeführt). Die sieben, in den folgenden Kapiteln näher zu untersuchenden Stellen werden durch Fettdruck und Schattierung hervorgehoben. Die Erklärung der Zeichen: „?“ eine beschädigte Handschrift; „—“ fehlende Passagen oder Gebetsvokabeln in einer intakten Handschrift bzw. Sinnverschiebungen.

30   2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

28,2.4

32,13–14

34,29.3186

35,16–17. 20–2187

10

11

12

13

— ‫ותחנוני‬ (‫)ישמע‬ ‫צעקת‬ ‫שיח‬ — ‫תמרורי‬ —

?

‫ברך‬ ‫ומשחרהו‬ ‫מענה‬ (‫)ויענהו‬ ‫בתפלתו‬

?

?

‫ܨܠܘܬܗ‬ ‫ܘܒܥܘܬܐ‬ ̇ (‫)ܫܡܥ‬ ‫ܐܢܩܬܐ‬ ‫ܘܨܠܘܬܐ‬ ̇ (‫)ܫܡܥ‬ ‫ܡܪܪܐ‬ ̇ (‫)ܫܡܥ‬

— ‫ܒܩܐܠ‬ (‫)ܢܫܡܥ‬ ‫ܨܠܘܬܗ‬ (‫)ܫܡܥ‬ — δέησιν (εἰσακούσεται) ἱκετείαν λαλιάν — — —

εὐχόμενος φωνῆς (εἰσακούσεται) προσευχῆς (εἰσακούσεται)

‫ ̇ܨܐܠ‬δεηθέντος — δεῖται ‫ ̇ܒܪܟ‬εὐλόγησον ‫ ܡܨܐܠ‬ὀρθρίζοντες (‫— )ܢܥܢܝܘܗܝ‬ — — — —

— —85

Bitte

Buße und Bitte

Lobpreis und Bitte

Buße

Bitte (um Selbstbeherrschung) und Armentheologie

Lehre

Lehre

Lehre

Lehre

(fortgesetzt)

Eigentlicher Gebetstext

85 Das Gebet um Selbstbeherrschung in Sir 22,27–23,6 enthält keine speziellen Gebetsvokabeln. Vgl. Calduch-Benages, Emotions, 146. 86 Der Stelle Sir 34,29.31 entspricht in der Rahlfs’schen Edition und in Syr in der Polyglotte von Vattioni Sir 34,24.26. 87 Der Passage Sir 35,16–17.20–21 entsprechen: Sir 35,13–14.16–17 im hebräischen Text in der Polyglotte von Vattioni und in der Rahlfs’schen Edition sowie Sir 35,14–17 im syrischen Text in der Polyglotte von Vattioni.

22,27–23,6

9

2.2 Lexikalischer Befund   31

36,1–2288: 36,22

37,15

38,9.1389

38,34; 39,5–6

39,14–15.3590

14

15

16

17

18

‫וצעקה‬ ‫שועת‬

‫עתר‬

? ?

?

‫התפלל‬ ‫יעתיר‬

LXX

δέησις ὀρθρίσαι δεηθήσεται προσευχῇ δεηθήσεται προσευχῇ ἐξομολογήσεται

‫— ܐܪܝܡܘ ܩܠܟܘܢ‬91 ‫ ܘܫܒܚܘ‬αἰνέσατε

— ̇ ‫ܠܡܨܠܝܘ‬ ‫ܢܒܥܐ‬ ‫ܒܨܠܘܬܗ‬ ̣ ‫ܢܒܥܐ‬ — —

‫ ܢܨܐܠ‬δεηθήσονται

(‫( )ܘܬܫܡܥ‬εἰσάκουσον) ‫ ܨܠܘܬܐ‬δεήσεως ‫ ̇ܡܨܐܠ‬δεήθητι ‫ ̇ܨܐܠ‬εὖξαι

‫ ܘܨܠܘܬܗܘܢ‬δέησις ‫ ܨܠܘܬܗܘܢ‬προσευχὴ

Syrisch

Gebetslexeme (mit Gebetserhörung)

(‫)תשמע‬ ‫תפלת‬

Hebräisch

Lobpreis

Bitt- und Bußgebet mündet im Lobpreis

Lehre und Gebetstext

Lehre und Vorbild (Schriftgelehrter)

Lehre Lehre

Allgemeine Gebetslehre

Eigentlicher Gebetstext

Inhalt

Bitte Buße

Fürbitte (um Rettung)

Gebetsart

88 Der Stelle Sir 36,1–22 entspricht in der Rahlfs’schen Edition und in Syr in der Polyglotte von Vattioni Sir 36,1–17. 89 Der Passage Sir 38,13 in der EÜ entspricht in der Rahlfs’schen Edition, im griechischen und im syrischen Text in der Polyglotte von Vattioni sowie in der Ausgabe von Calduch-Benages Sir 38,14. 90 Der Stelle Sir 39,14cd in der EÜ entspricht in Syr in der Polyglotte von Vattioni und in der Ausgabe von Calduch-Benages Sir 39,15ab. 91 Anstelle von διάδοτε ὀσμὴν „verteilt Wohlgeruch!“ in Sir 39,14c in der LXX konjizieren Ziegler und damit auch Vattioni διάδοτε φωνὴν „lasst die Stimme erschallen!“, um den Text an Syr anzugleichen. Vgl. Ziegler, Sirach, 308 und Zapff, Jesus Sirach, 269.

Stelle

Nr.

Tab. 3 (fortgesetzt)

32   2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

43,11.28.30–31

46,5

46,16–17

47,5

19

20

21

22 ‫קרא‬

‫קרא‬ (‫)נשמע קולו‬

‫קרא‬ (‫)ויענהו‬

‫וברך‬ ‫נ]גד[לה‬ [‫מ]גד[ל]י‬ ‫הרימו קול‬ ‫מרומים‬ —

? ? ? ‫נבל‬ ֶ ‫]בש[ירות‬ ‫וכל מיני‬ [‫שי]ר‬ ‫תאמר בתרועה‬ ‫הרנינו‬ ‫וברכו‬

? ? ἐξομολογήσασθε ἐν αἰνέσει — ἐν ᾠδαῖς χειλέων καὶ ἐν κινύραις ἐρεῖτε ἐν ἐξομολογήσει ὑμνήσατε εὐλογήσατε

— ἐπεκαλέσατο (‫( )ܐܫܡܥ ܩܠܗ‬ἀκουστὴν ἐποίησεν τὴν φωνὴν αὐτου) ‫ ̇ܨܠܝ‬ἐπεκαλέσατο

‫ ܨܠܝ‬ἐπεκαλέσατο (‫( )ܘܥܢܝܗܝ‬ἐπήκουσεν)

— εὐλόγησον δοξάζοντες δοξάζοντες ὑψώσατε ὑψοῦντες μεγαλυνεῖ

— ‫ܐܡܪܘ‬ ‫̇ܒܪܟܘ‬ ‫ܘܫܒܚܘ‬

— ̈ ‫ܒܬܫܒܚܬܐ‬ ‫ܘܒܬܘܕܝܬܐ‬ ‫ܘܒܩܐܠ ܪܡܐ‬

‫ ܘܐܘܕܘ‬εὐλογήσατε ‫ ܡܢܘ ܓܒܪܘܬܗ‬δότε τῷ ὀνόματι αὐτοῦ μεγαλωσύνην

Bitte

Bitte

Bitte

Lobpreis

(fortgesetzt)

Vorbild (David) – Väterlob

Vorbild (Samuel) – Väterlob

Vorbild (Josua) – Väterlob

Lehre

2.2 Lexikalischer Befund   33

47,8–10

48,20

50,18–1992

23

24

25

‫ויתן השיר‬ —

? ‫]ב]קול תפלתם‬

‫]ויקר]או‬ ‫ויפרשו כפים‬

‫הודות‬ ‫]כ[בוד‬ ? ‫נגינות שיר‬ ‫וקול‬ ? ‫]נ[בלים תיקן‬ [‫בהל]לו‬ ‫ירון‬

Hebräisch ̈ ‫ܩܐܠ‬ ‫ܒܡܐܠ ܕܬܘܕܝܬܐ‬ ‫ܘܕܐܝܩܪܐ‬ — — — — ̈ ‫ܬܫܒܚܬܗ ܐܡܪ ܗܘܐ‬ ̈ ‫ܬܫܒܚܬܐ‬ ‫ܝܗܒ‬ —

‫ ܘܝܗܒܘ ܠܬܘܕܝܬܐ‬ᾔνεσαν — ψαλτῳδοὶ

— ἐπεκαλέσαντο ̈ ‫ ܘܦܪܣ‬ἐκπετάσαντες τὰς ‫ܐܝܕܘܗܝ‬ ̣ χεῖρας αὐτῶν (‫)ܫܡܥ‬ (ἐπήκουσεν) ̣ ‫— ܨܠܘܬܗ‬

LXX ἐξομολόγησιν ῥήματι δόξης ὕμνησεν ψαλτῳδοὺς ἠχοῦς μέλη αἰνέσουσιν ἐν ᾠδαῖς ἐν τῷ αἰνεῖν ἠχεῖν

Syrisch

Gebetslexeme (mit Gebetserhörung)

Bußliturgie und Lobpreis

Bitte

Lobpreis

Gebetsart

Vorbilder (Simeon II. und Volk) –Väterlob

Vorbilder (Hiskija und Jesaja) – Väterlob

Vorbild (David) – Väterlob

Inhalt

92 Der Stelle Sir 50,17–19 in der EÜ, in der Rahlfs’schen Edition des LXX-Textes sowie im hebräischen und im griechischen Sirachtext in der Polyglotte von Vattioni entspricht in Syr in der Polyglotte von Vattioni und in der Ausgabe von Calduch-Benages Sir 50,17.

Stelle

Nr.

Tab. 3 (fortgesetzt)

34   2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

50,22

51,1.9–12

51,13(16). 22

26

27

28

‫ואתפלל תפלה‬ ‫אהודנו‬

φωναῖς ἤχῳ μέλος ἐδεήθη ἐν προσευχῇ

‫ ܘܨܠܝܬ ܨܠܘܬܗ‬ἐν προσευχῇ μου ‫ ܐܫܒܚܝܘܗܝ‬αἰνέσω

ἱκετείαν μου ἐδεήθην ἐπεκαλεσάμην αἰνέσω ὑμνήσω ἐν ἐξομολογήσει (εἰσηκούσθη) δέησίς μου — — ἐξομολογήσομαί αἰνέσω εὐλογήσω

‫ ܘܐܫܒܚ‬αἰνέσω σε ̈ ‫ܒܬܫܒܚܬܐ‬ ‫ ܘܐܫܬܥܐ‬ἐξομολογοῦμαι

‫ ܐܘܕܐ‬ἐξομολογήσομαί σοι

[‫ ]ܘܫܒܚܘ‬εὐλογήσατε

‫ܩܠܗܘܢ‬ — — ‫ܘܐܬܒܣܡܘ‬ ‫ܒܨܠܘܬܐ‬

‫קולי‬ ‫ܩܠܝ‬ ‫שועתי‬ ‫ܘܨܠܝܬ‬ ‫וארומם‬ ‫ܘܩܪܝܬ‬ ‫אהללה‬ ‫ܐܫܒܚ‬ ̈ ‫ܒܬܫܒܚܬܐ ואזכרך בתפלה‬ ‫ܘܐܬܕܟܪܟ‬ (‫)שמע‬ (‫)ܫܡܥ‬ ‫קולי‬ ‫ܒܩܠܝ‬ (‫)ויאזין‬ (‫)ܘܨܬ‬ ‫תחנוני‬ ‫ܠܬܚܢܢܬܝ‬ ‫הודיתי‬ ‫ܐܘܕܐ‬ ‫ואהללה‬ ‫ܘܐܫܒܚ‬ ‫ואברכה‬ ‫ܘܐܒܪܟ‬

‫אודיך‬ ‫אספרה‬

‫אהללך‬

‫ברכו‬

‫קולו‬ ‫המון‬ — ‫וירנו‬ ‫בתפלה‬ Lobpreis

Bitte und Lobpreis

Danklied (für die Rettung und Bestätigung des KlageErhörungs-Paradigmas)

Lehre und Gebetstext

Lehre und Vorbild (Sirach)

Eigentlicher Gebetstext

2.2 Lexikalischer Befund   35

36 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

Nach der Gesamtschau der 28 Stellen, von denen jede eine bis mehrere Gebetsvokabeln enthält, kann festgestellt werden, dass die beiden Hauptkategorien, Klage und Lob, im Sirachbuch in etwa gleicher Häufigkeit vorkommen.93 Dabei lässt sich allerdings eine gewisse Gesetzmäßigkeit in der Verteilung der Gebetstermini erkennen: Während der erste Teil des Buches in Sir 1–23 vergleichsweise wenig auf das Gebet bezogenen Wortschatz bietet, weist der zweite Teil in Sir 24–41 überwiegend die Belege der Klage und der Rest des Buches in Sir 42–51 die Termini des Lobes auf,94 wie es in Abb. 3 zu sehen ist. Diese Tendenz wird dadurch bestätigt, dass die Passagen zum Dank- und Lobgebet – mit Ausnahme von Sir 3,20 (δοξάζω) und 17,10.27–28 (αἰνέω, ἀνθομολόγησις und ἐξομολόγησις) – im ersten Teil des Buches fehlen.95

Abb. 3: Die graphische Verteilung der Gebetsstellen im griechischen Sirachbuch. Zur besseren Orientierung wird für jedes Kapitel des Buches (x-Achse) neben der entsprechenden Zahl der Lexeme des Bedeutungsfeldes „Beten“ (y-Achse) auch die Gebetsart angegeben (siehe Legende).

Der letzten Beobachtung entspricht auch die Reihenfolge der drei eigentlichen Gebete des Siraziden, die eine ähnliche Dynamik wie die Gebetsstruktur innerhalb mancher Psalmen aufweist:96 vom Buß- und Sühnegebet in Sir 22,27–23,6 über das Fürbittgebet in Sir 36,1–22 bis hin zu Dankgebet und Lobpreis in Sir 51,1–12

93 Das griechische Sirachbuch enthält 90 Gebetstermini: 41 im Bereich der Klage und 49 im Bereich des Lobes (vgl. Tab. 3). 94 Vgl. Urbanz, Gebet, 231. 95 Vgl. den Überblick über die Lobgebetsstellen in: Urbanz, Die Gebetsschule, 36. 96 Vgl. Ps 22.

 37

2.3 Anliegen und Vorgehensweise dieser Arbeit 

(vgl. Abb. 4).97 All dies begründet wiederum die Vermutung, dass den Gebetstexten und der Gebetslehre eine Schlüsselrolle zum Verständnis des gesamten Werkes zufällt.

A

S

B

P

C

Abb. 4: Die drei Gebete mit der direkten Anrede Gottes in ihrem unmittelbaren Kontext im Sirachbuch:98 A – Bußgebet in Sir 22,27–23,6 (Gebet um Selbstbeherrschung) mit der anschließenden Gebetslehre in Sir 23,7–27 (schraffierte Fläche);99 B – Fürbitte in Sir 36,1–22 (Gebet um Rettung) mit der vorausgehenden Gebetslehre in Sir 34,21–35,26 (schraffierte Fläche); C – Dank- und Lobgebet in Sir 51,1–12. Zur besseren Orientierung werden auch andere Textkomplexe gezeigt: S – Lob der Weisheit in Sir 24,1–22 (laus sapientiae) und P – Lob der Väter in Sir 44,1–50,24 (laus patrum).

2.3 Anliegen und Vorgehensweise dieser Arbeit Obwohl das Beten eine der häufigsten religiösen Handlungen der Menschen darstellt,100 erlebt es in der postmodernen Welt eine tiefe Krise, weshalb es wieder in den Fokus der Theologie gerät.101 Dass es, wie bereits gezeigt, in der Weisheitsschrift Jesus Sirach an vielen Stellen reflektiert wird,102 rechtfertigt die Wahl des Materialobjektes der vorliegenden Arbeit, welche die Gebetstheologie des Ecclesiasticus exemplarisch beleuchten will, in der Hoffnung, auf diese Weise gewissermaßen indirekt einen Beitrag zur Überwindung der besagten Krise zu leisten. Zu diesem Zweck böte es sich zwar an, die drei eigentlichen Gebetstexte Sir 22,27–23,6; 36,1–22 und 51,1–12, die eine Anrede Gottes in der 2. Pers. Sing. enthalten (vgl. Abb. 4), zu analysieren. Weil aber ihre Auslegung als relativ gut erforschtes Terrain gilt103 und im Ecclesiasticus daneben zahlreiche weitere potenziell aufschlussreiche Passagen

97 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 46. 98 Vgl. Gilbert, Prayer, 118 und 120. 99 Vgl. Calduch-Benages, Emotions, 145. 100 Vgl. Hörmann, Gebet, 416 und Urbanz, Gebet, 20. 101 Vgl. Böttigheimer, Sinn(losigkeit) des Bittgebets, 9 und passim. 102 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 32. 103 Exemplarisch zu nennen sind hier: Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 70–97 (zu Sir 22,27–23,6 und 51,1–12); Marböck / Fischer, Gottes Weisheit, 149–166 (zu Sir 36,1–22); Reiterer, Gott, 137–170 (zu Sir 22,27–23,6); Mulder, Three Psalms, 171–202 (zu Sir 51) und Palmisano, Salvaci, passim (zu Sir 36,1–17).

38 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

über das Gebet in Praxis und Reflexion zu finden sind,104 wird hier bis auf einige Ergänzungen (vgl. Exkurse 2–4 und 10) auf eine detaillierte Untersuchung dieser Texteinheiten verzichtet. Stattdessen ist das angestrebte Ziel dieser Studie, nach den grundlegenden Vorüberlegungen in Kap.  1 und der Schilderung des religionsgeschichtlichen Kontexts und des Gebetsvokabulars des Sirachbuches in Kap. 2, die Gebetslehre seines Autors in Kap.  3 exemplarisch zu vertiefen, wobei es sich um ihre vier ersten Belege in Sir 2,1–18; 3,1–16; 3,17–31 und 4,1–10 handelt. An dieser Stelle sei nur kurz angemerkt, dass die Wahl dieser Texte dadurch motiviert ist, dass sie zugleich die erste größere sirazidische Lehreinheit bilden und somit programmatische Aussagen enthalten können (vgl.  Kap.  3.4.3). Außerdem sollen in Kap.  4 einige Abschnitte exegetisch analysiert werden, die den vorbildlichen Betergestalten, sowohl aus dem beruflichen Umfeld des Siraziden (das erste Beispiel eines Beters im Sirachbuch in Sir  38,34c–39,11b) als auch aus der biblischen Heilsgeschichte (das erste Vorbild des Gebets im Väterlob in Sir 46,1–6 und das erste Beispiel des kollektiven Gebets in Sir 48,17–25), gewidmet sind. Um aber die Aussageabsicht der insgesamt sieben zu exegetisierenden, auf das Gebet bezogenen Sirachperikopen voller zu erfassen, soll auch ihre Einbindung in den Duktus des gesamten Werkes berücksichtigt werden (vgl. Abb. 5). L 1234

A

S

B

P 5

6 7

C

Abb. 5: Die Verteilung der sieben zu untersuchenden, auf das Gebet bezogenen Perikopen im Sirachbuch (1–7). Zur besseren Orientierung werden auch andere Textkomplexe gezeigt: L – erste Lehreinheit in Sir 2,1–4,10; S – Lob der Weisheit in Sir 24,1–22 und P – Lob der Väter in Sir 44,1–50,24 sowie die drei eigentlichen Gebetstexte: A – Bußgebet in Sir 22,27–23,6; B – Fürbitte in Sir 36,1–22; C – Dank- und Lobgebet in Sir 51,1–12.

Wegen der anfangs erwähnten fragmentarischen Überlieferung des Sirachbuches in hebräischer Sprache (vgl. Kap. 1.3) und der hermeneutischen Beobachtungen bezüglich seiner antiken Übersetzungen (vgl. Kap. 1.4) bilden sowohl die erhaltene hebräische Fassung als auch die griechische, die syrische und – seltener – die lateinische Version die textuelle Basis bei der Übersetzung und exegetischen Arbeit. Weil aber Ecclesiasticus in der Forschung als Paradebeispiel für eine gelungene Schriftrelecture anerkannt ist und diese bereits eines der zentralen

104 Vgl. Urbanz, Gebet, passim und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 37.

2.3 Anliegen und Vorgehensweise dieser Arbeit 

 39

Anliegen seines Verfassers war (vgl. Kap. 1.2),105 sollen bei der Analyse der einschlägigen Perikopen neben den Elementen der klassischen Exegese (Textkritik, Kontextualisierung, inhaltliche und formale Analyse, Gattungskritik) auch die folgenden zwei Aspekte der aktuellen Sirachforschung als Formalobjekt der Arbeit gelten: die hermeneutische Eigenart der oben genannten Sprachfassungen106 und der schriftgelehrte Umgang des Autors mit anderen alttestamentlichen Texten, die geprägte Vorbilder, Motive oder Themen enthalten. Dabei steht im Vordergrund nicht die Frage nach der Chronologie dieser Texte  – auch wenn sie einen wichtigen Bestandteil der exegetischen Arbeit bildet  –, sondern vielmehr die Untersuchung ihrer intertextuellen Vernetzung mit dem Sirachbuch.107 Diese kann nämlich mit unterschiedlicher Deutlichkeit108 mit Anspielungen, Verweisen und Zitaten markiert werden,109 wobei sich zwischen den einzelnen genannten Formen oft keine scharfe Grenze ziehen lässt. Dazu liegt der Fokus der intertextuellen Lektüre nicht allein auf der Einschätzung des Einflusses der geprägten Inhalte auf das Werk Sirachs, wie es im Falle der klassischen Traditionsgeschichte wäre, sondern auch auf der Skizzierung der Intentionalität110 der Intertextualität (vgl.  Exkurs 9), d. h. der Funktion, welche die geprägten Inhalte in ihrem neuen Kontext zu erfüllen haben (interpretatorisches Moment).111 Eingegangen wird ebenfalls auf das spannungsbesetzte Verhältnis zwischen dem produktions- und rezeptionsästhetischen Ansatz, mit dem bei manchen intertextuellen Bezügen anstelle einer literarischen Abhängigkeit zu rechnen ist (vgl. Exkurs 1 und Kap. 3.2.4). Außerdem wird auf verschiedene buchübergreifende Strukturelemente und Motive geachtet, wie etwa Klage-Erhörungs-Paradigma, Weisheitsgedicht, „Ich“Rede des Autors und Erprobungsmotiv112. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen einerseits die kontextuelle Einbindung des Gebetes, insbesondere seine

105 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 18. 106 Diese Hermeneutik wird nur insoweit überlieferungsgeschichtlich reflektiert, als es die Quellenlage erlaubt, sodass es sich mehr um Vorschläge als um endgültige Lösungen handelt, wie etwa bei Sir 3,20 in Kap. 3.3.7. 107 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 129. 108 Zur Deutlichkeit der Intertextualitäts-Indikatoren vgl. Seiler, Intertextualität, 280–283. 109 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 127–128 und 130–131. 110 Vgl. Reiterer, The Influence, 115–116: „[Ben Sira] wants to see that the meaning of the quotation has been grasped, which presupposes that we should start understanding its aim as Ben Sira sees it. Now, he takes over that aim (more or less literally) in his new context. Therefore, he expects that the readers again should not just consider the quotation itself, but rather they should wonder why Ben Sira refers to such a biblical passage here and in this context.“ 111 Vgl. Pellegrini, Elija, 127 und 131–133. 112 Vgl. Calduch-Benages, Trial Motif, 150.

40 

 2 Vorüberlegungen zur Gebetsweisheit Sirachs

Verbindung mit den Hauptthemen des Sirachbuches, wie Gottesfurcht, Gesetz, Weisheit, Erziehung und Heilsgeschichte ermöglichen und andererseits den Weg zu aufschlussreichen buchinternen Beobachtungen eröffnen (vgl. Exkurs 5). So können die entdeckten Zusammenhänge einem besseren Verständnis der kompositionellen Anordnung verschiedener Texteinheiten113 und damit auch der ihr zugrunde liegenden Intention des Verfassers dienen.114 Im Übrigen wird im Laufe der Arbeit mehrfach auf die spätere Rezeption des sirazidischen Gedankenguts, sowohl im NT als auch in der Kirche, hingewiesen, auch wenn die Exkurse 2, 4, 6 und 7 diesem Thema eigens gewidmet sind. Hier sei nur noch bemerkt, dass solche Exkurse, welche die festgelegte Reihung der einzelnen Abschnitte der Arbeit unterbrechen und deren Zahl insgesamt bei neun liegt, der Beleuchtung wichtiger Blickpunkte der Exegese und Theologie des Sirachbuches dienen, die über das oben genannte Material- oder Formalobjekt des jeweiligen Abschnittes hinausgehen. Eine problemorientierte Zusammenfassung der Ergebnisse des Projektes in Bezug sowohl auf die Intertextualität (vgl.  Kap.  5.1) und Hermeneutik der einzelnen Sprachfassungen (vgl. Kap. 5.2) als auch auf die Gebetstheologie Sirachs (vgl. Kap. 4.3.7 und 5.3) rundet die gesamte Untersuchung ab.

113 Vgl. Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 409. 114 Vgl. Becker, Sophia Sirach, 2165.

3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre 3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 3.1.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Als erste bei Sirach vorkommende Gebetsstelle soll die Passage Sir  2,10 erläutert werden (vgl.  Tab.  3), die den Aufruf enthält, sich auf die erhörten Gebete früherer Generationen zu besinnen. Angesichts der Tatsache, dass keine der bis dato gefundenen neun hebräischen Handschriften (vgl.  Tab.  1 in Kap.  1.3) das Sirachkapitel 2 überliefert,1 ist bei der Suche nach der ältesten vollständig erhaltenen Fassung dieses Abschnitts die griechische Übersetzung des Enkels (G I) in Betracht zu ziehen, deren älteste Handschriftenbelege Codex Vaticanus Graecus 1209 (Kodex 03, B oder LXXB)2 und Codex Sinaiticus (01, ‫א‬, S oder LXXS)3 bereits aus dem 4. Jh. n. Chr.4 stammen. Die meisten Wortlautabweichungen des Kodex ‫ א‬von dem unten abgedruckten Text von Sir 2,1–18, der wiederum den Editionen von A.  Rahlfs5 und von J.  Ziegler6 entnommen ist, können in drei Kategorien unterteilt werden. Zunächst handelt es sich um die ursprüngliche Leseart dieser Majuskel (S✶), wie etwa das Fehlen der Konjunktion ἵνα7 in V. 3b8 und V. 7b, das aber durch den Syrer nicht bestätigt wird (vgl. ‫„ ܡܛܘܠ‬weil, wegen, für, denn, da“9 in V. 3b und

1 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 11 und 13 sowie Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, 13–19 und 179. 2 Die Stelle Sir 2,10 im Codex Vaticanus, p. 834, kann unter: http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat. gr.1209/0838 (Biblioteca Apostolica Vaticana) abgerufen werden; letzter Abruf am 26.01.2019. 3 Sir  2,1–18 im Codex Sinaiticus, Folio 161, Schreiber A, kann unter folgendem Link eingesehen werden: http://codexsinaiticus.org/de/manuscript.aspx?book=31&chapter=2&lid=de&side=r&verse=3&zoomSlider=0; (Codex Sinaiticus-Projekt); letzter Abruf am 26.01.2019. 4 Vgl. Fabry, Der Text, 56. 5 Vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 380–381. 6 Vgl. Ziegler, Sirach, 133–136. Auch die Polyglotte von Vattioni von 1968 übernimmt den griechischen Text Zieglers textkritischer Edition. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 10 und 12 (siehe auch die einleitende Bemerkung des Herausgebers in: Vattioni, Introduzione, LIV). 7 Die Bedeutung ist final: „damit, auf dass“ bzw. konsekutiv: „so dass“, vgl. Menge, ἵνα, 343. Nach Verben des Befehlens, Ermahnens, Bittens oder Sorgens folgt ein Finalsatz, vgl. Benseler / Kaegi, ἵνα, 424. 8 Vgl. Futur Pass.: καὶ αὐξηθήσεται „und du wirst gedeihen“ statt Konjunktiv Aorist Pass.: ἵνα αὐξηθῇς „damit du gedeihst“. 9 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܡܛܘܠ‬, 189 (aramäisch). https://doi.org/10.1515/9783110784923-003

42 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

‫„ ܕܠܡܐ‬wenn, damit nicht etwa“10 in V. 7b). Außerdem wurden im Sinaiticus die folgenden Formulierungen durch einen suppletor (Ss) hinzugefügt: ἐν νόσοις καὶ πενίᾳ ἐπ᾿ αὐτῷ πεποιθὼς γίνου bzw. γεινου11 „In Krankheiten und Armut sei ݁ „und in Krankheit voll Vertrauen auf ihn“ in V. 5c (vgl. dazu ‫ܘܒܡܣܟܢܘܬܐ‬ ‫ܘܒܡܪܥܐ‬ ݂ und in Armut“ in V. 4b) und ὅτι δόσις αἰωνία μετὰ χαρᾶς τὸ ἀνταπόδομα αὐτοῦ „Denn ein ewiges Geschenk mit Freude [ist] seine Vergeltung“ in V. 9c.12 Schließlich sollten noch die hier vorgenommenen Korrekturen (Sc), wie beispielsweise die durch andere Majuskeln nicht belegte Verbesserung: ἐντολὰς „Gebote“ statt ὁδοὺς „Wege“ (vgl. ‫„ ܐܘ̈ܪܚܬܗ‬seine Wege“) in V. 15b, erwähnt werden. Griechische Version

Deutsche Übersetzung

(1a)

τέκνον εἰ προσέρχῃ δουλεύειν κυρίῳ

(1b) (2a) (2b) (3a) (3b) (4a)

ἑτοίμασον τὴν ψυχήν σου εἰς πειρασμόν εὔθυνον τὴν καρδίαν σου καὶ καρτέρησον καὶ μὴ σπεύσῃς ἐν καιρῷ ἐπαγωγῆς κολλήθητι αὐτῷ καὶ μὴ ἀποστῇς ἵνα αὐξηθῇς ἐπ᾽ ἐσχάτων σου πᾶν ὃ ἐὰν ἐπαχθῇ σοι δέξαι

(4b)

καὶ ἐν ἀλλάγμασιν ταπεινώσεώς σου μακροθύμησον ὅτι ἐν πυρὶ δοκιμάζεται χρυσὸς καὶ ἄνθρωποι δεκτοὶ ἐν καμίνῳ ταπεινώσεως | ἐν νόσοις καὶ πενίᾳ ἐπ᾿ αὐτῷ πεποιθὼς γίνου13 πίστευσον αὐτῷ καὶ ἀντιλήμψεταί σου

Kind, wenn du dich nahst, dem Herrn zu dienen, halte deine Seele für Versuchung bereit. Lenke dein Herz und halte standhaft aus und beeile dich nicht zum Zeitpunkt der Not. Hänge ihm an und falle nicht ab, damit du gedeihst an deinem Ende. Alles, was auch immer über dich gebracht wird, nimm an, und bei Wechselhaftigkeiten deiner Erniedrigung sei langmütig. Denn im Feuer wird das Gold geprüft und [Gott] wohlgefällige Menschen im Ofen der Erniedrigung. | In Krankheiten und Armut sei voll Vertrauen auf ihn. Glaube ihm und er wird sich deiner annehmen, mache deine Wege gerade und hoffe auf ihn. Die ihr den Herrn fürchtet, wartet auf sein Erbarmen und wendet euch nicht ab, damit ihr nicht fallt. Die ihr den Herrn fürchtet, glaubt ihm,

(5a) (5b) (5c) (6a) (6b)

(7b)

εὔθυνον τὰς ὁδούς σου καὶ ἔλπισον ἐπ᾽ αὐτόν οἱ φοβούμενοι τὸν κύριον ἀναμείνατε τὸ ἔλεος αὐτοῦ καὶ μὴ ἐκκλίνητε ἵνα μὴ πέσητε

(8a)

οἱ φοβούμενοι κύριον πιστεύσατε αὐτῷ

(7a)

10 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܕܠܡܐ‬, 75 (aramäisch). 11 Die Schreibweise γίνου folgt der Polyglotte von Vattioni, während die Form γεινου in der Edition von Rahlfs dem Kodex ‫ א‬zuzuordnen ist (vgl. auch Sir 4,10a in Kap. 3.4.1). 12 Nach P. Skehan und A. Di Lella handelt sich in V. 9c um einen christlichen Zusatz über das postmortale Leben. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 150. 13 Der Zusatz in V. 5c (G II) fehlt im Haupttext bei Rahlfs und in der Vg.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

(8b) (9a) (9b) (9c) (10a) (10b) (10c) (10d) (11a) (11b) (12a) (12b) (13a) (13b) (14a) (14b) (15a)

καὶ οὐ μὴ πταίσῃ ὁ μισθὸς ὑμῶν οἱ φοβούμενοι κύριον ἐλπίσατε εἰς ἀγαθὰ καὶ εἰς εὐφροσύνην αἰῶνος καὶ ἔλεος | ὅτι δόσις αἰωνία μετὰ χαρᾶς τὸ ἀνταπόδομα αὐτοῦ14 ἐμβλέψατε εἰς ἀρχαίας γενεὰς καὶ ἴδετε τίς ἐνεπίστευσεν κυρίῳ καὶ κατῃσχύνθη ; ἢ τίς ἐνέμεινεν τῷ φόβῳ αὐτοῦ καὶ ἐγκατελείφθη ; ἢ τίς ἐπεκαλέσατο αὐτόν καὶ ὑπερεῖδεν αὐτόν ; διότι οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων ὁ κύριος καὶ ἀφίησιν ἁμαρτίας καὶ σῴζει ἐν καιρῷ θλίψεως οὐαὶ καρδίαις δειλαῖς καὶ χερσὶν παρειμέναις καὶ ἁμαρτωλῷ ἐπιβαίνοντι ἐπὶ δύο τρίβους οὐαὶ καρδίᾳ παρειμένῃ ὅτι οὐ πιστεύει διὰ τοῦτο οὐ σκεπασθήσεται οὐαὶ ὑμῖν τοῖς ἀπολωλεκόσιν τὴν ὑπομονήν καὶ τί ποιήσετε ὅταν ἐπισκέπτηται ὁ κύριος ;

(18a)

οἱ φοβούμενοι κύριον οὐκ ἀπειθήσουσιν ῥημάτων αὐτοῦ καὶ οἱ ἀγαπῶντες αὐτὸν συντηρήσουσιν τὰς ὁδοὺς αὐτοῦ οἱ φοβούμενοι κύριον ζητήσουσιν εὐδοκίαν αὐτοῦ καὶ οἱ ἀγαπῶντες αὐτὸν ἐμπλησθήσονται τοῦ νόμου οἱ φοβούμενοι κύριον ἑτοιμάσουσιν καρδίας αὐτῶν καὶ ἐνώπιον αὐτοῦ ταπεινώσουσιν τὰς ψυχὰς αὐτῶν ἐμπεσούμεθα εἰς χεῖρας κυρίου

(18b) (18c) (18d)

καὶ οὐκ εἰς χεῖρας ἀνθρώπων ὡς γὰρ ἡ μεγαλωσύνη αὐτοῦ οὕτως καὶ τὸ ἔλεος αὐτοῦ

(15b) (16a) (16b) (17a) (17b)

 43

und euer Lohn wird nicht verfallen. Die ihr den Herrn fürchtet, hofft auf Gutes und auf ewige Fröhlichkeit und Erbarmen. | Denn ein ewiges Geschenk mit Freude [ist] seine Vergeltung. Blickt auf frühere Generationen und seht: Wer vertraute sich dem Herrn an und wurde beschämt? Oder wer beharrte in seiner Furcht und wurde verlassen? Oder wer rief ihn an und er übersah ihn? Denn mitleidig und barmherzig [ist] der Herr, und er vergibt Sünden und rettet zum Zeitpunkt der Bedrängnis. Wehe feigen Herzen und nachlässigen Händen und einem Sünder, der auf zwei Pfaden wandelt! Wehe einem nachlässigen Herzen, weil es nicht glaubt! Darum wird es nicht geschützt werden. Wehe euch, die ihr die Standhaftigkeit verloren habt! Denn was werdet ihr tun, wenn der Herr nachsieht? Die den Herrn fürchten, werden seinen Worten nicht ungehorsam sein, und die ihn lieben, werden seine Wege bewahren. Die den Herrn fürchten, werden sein Wohlwollen suchen, und die ihn lieben, werden vom Gesetz erfüllt werden. Die den Herrn fürchten, werden ihre Herzen bereit machen und sie werden vor ihm ihre Seelen erniedrigen. Wir wollen uns in die Hände des Herrn werfen und nicht in die Hände der Menschen. Denn wie seine Majestät, so [ist] auch sein Erbarmen.

14 Der Zusatz in V. 9c (G II) fehlt bei Rahlfs und in der Vg.

44 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Aufgrund der eingangs angeführten hermeneutischen Beobachtungen bezüglich der antiken Sirachübersetzungen (vgl. Kap. 1.4) soll im Weiteren neben G I auch Syr herangezogen werden, wobei der unten abgedruckte Text, der gelegentlich mit Hilfe des Codex Ambrosianus (7a1) kritisch kommentiert wird, dem Londoner Kodex (7h3) aus dem 7. Jh. entstammt.15 Syrische Version (1a)

‫ܕܐܠܗܐ‬ ‫ܒܪܝ ܐܢ ݂ܩܪܒܬ ܠܕܚܠܬܗ‬ ݂ ݂

(1b) (3a) (3b) (4a) (4b) (5a) (5b) (6a) (6b)

̈ ݂ ‫ܢܣܝܘܢܝܢ‬ ‫ܢܦܫܟ ܠܟܠ‬ ‫ܐܫܠܡܬ‬ ݂ ݁ ‫ܬܪܦܝܗ‬ ‫ܒܗ ܘܐܠ‬ ݂݁ ‫ܐܬܕܒܩ‬ ݁ ‫ܕܬܬܚܟܡ ܒܐܘ̈ܪܚܬܟ‬ ‫ܡܛܘܠ‬17 ݁ ݂ ‫ܥܠܝܟ ݁ܩܒܠ‬ ‫ܟܠ ܕܐܬܐ‬ ݁ ‫ܘܒܡܣܟܢܘܬܐ ܐܓܪ ܪܘܚܟ‬ ‫ܘܒܡܪܥܐ‬ ݂ ‫ܕܗܒܐ‬ ‫ܡܬܒܩܐ‬ ‫ܡܛܠ ܕܒܢܘܪܐ‬ ݂ ݂ ‫ܘܒܪܢܫܐ ܒܟܘܪܐ ܕܡܣܟܢܘܬܐ‬ ݂ ‫ܘܗܘ ܢܗܘܐ ܠܟ ܥܕܘܪܐ‬ ‫ܗܝܡܢ‬ ݂ ‫ܒܐܠܗܐ‬ ݂ ‫ܘܗܘ ܢܬܪܘܨ ܐܘ̈ܪܚܬܟ‬ ݂ ‫ܒܗ‬ ݂ ‫ ݁ܣܒܪ‬18

(7a)

̈ ‫ܕܡܪܝܐ ݁ܣܒܪܘ ܠܛܘܒܗ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ ݂

(7b)

‫ܒܬܪܗ ܕܠܡܐ ݂ܬܦܠܘܢ‬ ‫ܘܐܠ ܬܫܬܘܚܪܘܢ ܡܢ‬ ݂

(8a) (8b) (9a)

̈ ‫ܕܡܪܝܐ ܗܝܡܢܘ ܒܗ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ ݂ ‫ܡܒܝܬ ܐܓܪܟܘܢ‬ ݂ ‫ܘܗ ݂ܘ ܐܠ‬ ݂ 19 ̈ ݁ ‫ܕܡܪܝܐ ܣܒܪܘ ܠܛܘܒܗ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ ݂

(9b) (10a)

‫ܕܠܥܠܡ ܘܠܦܘܪܩܢܐ‬ ‫ܠܚܕܘܬܐ‬ ݂ ݁ ‫ܗܘܐ‬ ݂ ‫ܐܣܬܟܠܘ ܠܡܕܡ ܕܡܢ ܠܩܘܕܡܝܢ‬ ݁̈ ‫ܐܬܒܝܢܘ ܘܚܙܘ‬ ‫ܥܠܡܐ‬ ‫ܘܠܕܡܢ ܕ̈ܪܝ‬ ݂

(10b)

‫ܡܢ݂ ܘ ܗܝܡܢ ܒܗ ܘܫܒܩܗ‬

Deutsche Übersetzung Mein Sohn, wenn du dich der Gottesfurcht genähert hast, hast du dich16 allen Versuchungen ausgeliefert. Hänge dich an sie und lass sie nicht los, damit du auf deinen Wegen weise wirst. Alles, was auf dich zukommt, nimm entgegen, und in Krankheit und in Armut, sei langmütig! Denn im Feuer wird das Gold geprüft, und der Mensch im Ofen der Armut. Glaube an Gott und er wird dir Helfer sein, hoffe auf ihn und er wird deine Wege gerade machen. Die ihr den Herrn fürchtet, hofft auf seine Seligpreisung, und bleibt nicht hinter ihm zurück, damit ihr nicht fallt. Die ihr den Herrn fürchtet, glaubt an ihn, und er hält euren Lohn nicht zurück.20 Die ihr den Herrn fürchtet, hofft auf seine Seligpreisung, auf ewige Freude und Rettung. Begreift, was von alters her geschehen ist, und was seit den Generationen der Äonen [war], erkennt und seht! Wer hat an ihn geglaubt, und er hat ihn verlassen?

15 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 11 und 13 (7h3) sowie Calduch-Benages, Text, 70–73 (7a1). 16 Wörtlich: „deine Seele“. Anstelle des einfachen Suffixes kann im Syrischen das Reflexiv durch ‫„ ܢܦܫܐ‬Seele“ umschrieben werden. Vgl. Brockelmann, Syrische Grammatik, 108. 17 Statt ‫„ ܒܐܚܪܝܬܟ‬an deinem Ende“ liest 7h3: ‫„ ܒܐܘ̈ܪܚܬܟ‬auf deinen Wegen“. 18 In der Polyglotte von Vattioni und in der Ausgabe von Calduch-Benages steht V. 6ab vor V. 5ab. 19 Statt ‫„ ܐܓܪܗܘܢ‬ihren Lohn“ hat 7h3: ‫„ ܐܓܪܟܘܢ‬euren Lohn“. 20 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „und er behält euren Lohn nicht [über Nacht]“ (vgl. Kap. 3.1.2 und 3.1.4).

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

(10c)

‫ܐܬܬܟܠ ܥܠܘܗܝ ܘܐܪܡܝܗ‬ ‫ܐܘ ܡܢ݂ ܘ‬ ݂

(10d)

‫ܐܘ ܡܢ݂ ܘ ܩܪܝܗܝ ܘܐܠ ܥܢܝܗܝ‬

(11a) (11b)

‫ܘܪܚܡܬܢܐ ܡܪܝܐ‬ ݂ ‫ܗܘ‬ ݂ ‫ܡܛܠ ݁ܕܚܢܢܐ‬ ‫ܘܦܪܩ ܒܟܠ ܥܕܢ ܕܥܩܬܐ‬ ‫ܘܫܡܥ‬ ݂

(11c)

݁ ‫ܘܫܡܥ ܒܩܐܠ‬ ‫ܕܥ ̈ܒܕܝ ܨܒܝܢܗ‬

(12a) (12b) (13a) (13b) (14a) (14b)

̈ ‫ܡ̈ܪܦܝܬܐ‬ ‫ܘܐܝܕܝܐ‬ ‫ܠܒܐ ܡܣܝܐ‬ ݂ ݁ ‫ܒܪܢܫܐ‬ ̈ ‫ܣܓܝܐܐ‬ ‫ܕܦܣܥ ܥܠ ̈ܫܒܝܐܠ‬ ݁ ‫ܘܝ ܠܗ ܠܠܒܐ ܕܐܠ ݁ܡ ݂ܗܝܡܢ‬ ‫ܐܦ ݂ܗ ݂ܘ ܐܠ ݁ܢܬܩܝܡ‬ ݁ ‫ܘܝ ܠܟܘܢ ܓܢܒ̈ܪܝ ܬܘܟܠܢܐ‬ ‫ܡܢܐ ܬܥܒܕܘܢ ܟܕ ܢܕܘܢ ܡܪܝܐ‬

(15a)

̈ ‫ܕܡܪܝܐ ܐܠ ݂ܢܣܢܘܢ ܡܐܡܪܗ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ ݂

(15b)

݁ ‫ܕܪܚܡܝܢ ݂ܠܗ ܢ݂ ܛܪܘܢ ܐܘ̈ܪܚܬܗ‬ ‫ܘܐܝܠܝܢ‬

(16a)

̈ ‫ܕܡܪܝܐ ܢܬܪܥܘܢ ܨܒܝܢܗ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ ݂

(16b) (17a)

݁ ‫ܘܗܝ ܢܐܠܦܘܢ ܢܡܘܣܗ‬ ݂ ‫ܘ̈ܪܚܡ‬ ݁ 23 ‫ܐܠܠܗܐ ݂ܢܬܩܢ ܠܒܗ‬ ‫ܕܕܚܠ‬ ݂

(17b) (18c) (18d) (18e) (18 f ) (19a) (19b)

݁ ‫ܘܕܫܒܩ ݂ܠܗ ܡܘܒܕ ܪܘܚܗ‬ ‫ܪܒܘܬܗ‬ ‫ܕܐܝܟ‬ ‫ܡܛܠ‬ ݂ ‫̈ܪܚܡܘܗܝ‬ ݂ ‫ܗܟܢܐ‬ ‫ܫܡܗ‬ ‫ܘܐܝܟ‬ ݂ ‫ܗܟܢܐ ݁ܥ ̈ܒܕܘܗܝ‬ ‫ܕܕܚܠ ܐܠܠܗܐ ܢܣܓܐ ܩܢܝܢܗ‬24 ‫ܘܙܪܥܗ ܢܬܒܪܟ ܡܢ ܒܬܪܗ‬25

 45

Oder wer hat sich auf ihn verlassen, und er hat ihn verworfen? Oder wer hat ihn angerufen, und er hat ihm nicht geantwortet? Denn barmherzig und gnädig [ist] der Herr, und er hat gehört und gerettet in jeder Zeit der Not, und er hat auf die Stimme derer gehört, die seinen Willen tun. Ein faulendes Herz und schlaffe Hände: ein Mensch, der auf vielen Spuren schreitet. Wehe dem Herzen, das nicht glaubt, auch dieses wird nicht gefestigt21 werden. Wehe euch, selbstsichere Helden, was werdet ihr machen, wenn der Herr richten wird? Die den Herrn fürchten, werden sein Wort nicht verabscheuen, und jene, die ihn lieben, werden seine Wege bewahren. Die den Herrn fürchten, werden über seinen Willen nachdenken,22 und die ihn lieben, werden sein Gesetz lernen. Wer Gott fürchtet, dessen Herz wird beständig sein, und wer ihn verlässt, verliert seinen Geist. Denn wie seine Majestät, so [ist] sein Erbarmen, und wie sein Name, so [sind] seine Werke. | Wer Gott fürchtet, wird sein Eigentum vermehren | und sein Samen wird nach ihm gesegnet werden.

21 Alternative Übersetzungsmöglichkeit: „aufgerichtet“. 22 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „[sie] werden seinen Willen zufriedenstellen“ (vgl. Kap. 3.1.2). 23 Die imperfekte intransitive Verbform ‫ ݂ܢܬܩܢ‬in V. 17a ist 3. Pers. Sing. masc. von ‫„ ܬܩܢ‬in gutem Zustand, beständig, fest, sicher, wiederhergestellt, geheilt sein“. In der Ausgabe von CalduchBenages wird die Stelle jedoch transitiv übersetzt: „Der Gottesfürchtige (Subjekt) wird sein Herz (Objekt) festigen“ („He who fears God steadies his heart“). Dies könnte daraus resultieren, dass die transitiven Verbstämme von ‫ܬܩܢ‬, Paʿel: „gründen, errichten, bilden, formen, wiederherstellen, stärken, festigen, erneuern, vorbereiten“ (vgl. Hanna / Bulut, ‫ܬܩܢ‬, 422 (aramäisch)) und Afʿel: „festlegen, bilden, formen, befestigen, festmachen, ausrüsten, herstellen, vorbereiten“ (vgl. Smith / Smith, ‫ܬܩܢ‬, 618), bei fehlender Vokalisierung vom Schriftbild her identisch sind. 24 Nach 7h3; fehlt in 7a1. 25 Nach 7h3; fehlt in 7a1.

46 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Auffällig ist, dass V. 2ab und 18ab in der syrischen Fassung fehlen. Weil der hebräische Text der Perikope nicht überliefert ist, bleibt offen, ob die besagten Passagen vom Enkel Sirachs hinzugefügt oder eher vom syrischen Übersetzer ausgelassen wurden. Für ihre Ursprünglichkeit sprächen jedoch sowohl die Bezeugung durch die Vg26 als auch die Tatsache, dass der Syrer oftmals einen kürzeren Text bietet als der Grieche.27 Eventuell könnte es sich hier auch um Veränderungen in den entsprechenden Vorlagen handeln, die von den jeweiligen Übersetzern übernommen wurden (vgl. Kap. 1.4). Textkritisch von Bedeutung ist ferner V. 3b, wo 7a1 ‫„ ܒܐܚܪܝܬܟ‬an deinem Ende“ liest (vgl. LXX: ἐπ᾽ ἐσχάτων σου „an deinem Ende“), während 7h3 an dieser Stelle ‫„ ܒܐܘ̈ܪܚܬܟ‬auf deinen Wegen“ hat. Dieser lexikalische Unterschied könnte auf eine Verwechslung zwischen ‫„ ַא ֲח ִרית‬Ende einer Zeit“28 und ‫„ ָא ְרחֹות‬Wege, Pfade“29 in der hebräischen Vorlage zurückgeführt werden.30 Eine Alternative wäre – da beide Varianten im Syrischen sinnvoll erscheinen – eine bewusste Metathese, die eine Uminterpretation des Textes zum Ziel hat, was etwa der Chiasmus: ‫ܒܡܣܟܢܘܬܐ – ܒܐܘ̈ܪܚܬܟ‬ – ‫ ܐܘ̈ܪܚܬܟ – ܡܣܟܢܘܬܐ‬in V. 3–6 des Londoner Kodex ݂ nahelegt (vgl. Kap. 3.1.5). Außerdem erweitert der Syrer V. 10a und fügt noch drei weitere Passagen in V. 11c31, 18ef32 und 19ab hinzu, wobei jedoch der letzte Zusatz im Codex Ambrosianus nicht überliefert wird. Schließlich führt 7h3 in V. 11bc die ݁ „er hört“ und ‫„ ݁ܦ ݂ܪܩ‬er rettet“ an, was an präsentischen Partizipialformen: ‫ܫܡܥ‬ die Formen des aktiven Präsens in G I: ἀφίησιν „er vergibt“ und σῴζει „er rettet“ erinnert, während 7a1 an dieser Stelle die finiten Verbformen im Perf. hat: ‫ܫܡܥ‬ „er hat gehört“ und ‫ܦܪܩ‬ ݂ „er hat gerettet“.

26 Der Stelle Sir 2,18ab entspricht in der Vg Sir 2,22: dicentes si paenitentiam non egerimus incidemus in Dei manus et non in manus hominum „Und sie sagen, (auch) wenn wir keine Buße getan haben, werden wir in die Hände Gottes fallen und nicht in die Hände der Menschen“. 27 Vgl. das Fehlen von Sir 48,17cd.19a–20a in Syr in Kap 4.3.1 und die ähnlichen Beobachtungen Reiterers bezüglich Sir 44,16–45,26. Vgl. Reiterer, Urtext, 34–49 und 238. 28 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫א ֲח ִרית‬, ַ 27. 29 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫א ַֹרח‬, 65. 30 Wie etwa in Ijob 8,13 im MT: ‫„ ָא ְרחֹות‬die Pfade“ vs. LXX: τὰ ἔσχατα „die letzten [Dinge]“. Vgl. Lust (Bd. 1), ἔσχατος, 183. 31 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 66. 32 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 25.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

 47

3.1.2 Hermeneutik der Sprachversionen Der oben präsentierte textkritische Befund von Sir 2 weist darauf hin, dass der syrische Übersetzer – abgesehen von V. 10c33 – etwas großzügiger im Gebrauch des theologisch profilierteren Gottesfurchtbegriffs ist als der Enkel des Spruchdichters. Denn gegenüber der siebenmaligen Erwähnung in G I wird die Gottesfurcht in der Peschitta-Version bis zu achtmal34 angeführt. Dazu wird in V. 3a das von ‫ܕܚܠܬܗ‬ ‫ܕܐܠܗܐ‬ abhängige feminine enklitische Pronomen in der Formulierung ‫ܒܗ‬ ݂݁ ‫ܐܬܕܒܩ‬ ݂ „hänge dich an sie [scil. die Gottesfurcht]!“, gebraucht, im Unterschied zu G I: κολλήθητι αὐτῷ „hänge ihm [scil. dem Herrn] an!“ Auch der Überblick der übrigen Gottesfurchtstellen (z. B. Sir 38,34c35 in Kap. 4.1.2) zeigt, dass es sich bei der öfteren Erwähnung der Gottesfurcht in der Peschitta um eine Tendenz handeln kann,36 die vermutlich mit ihrer stärkeren Transzendenzbetonung zusammenhängt. Aufgrund der mangelhaften Überlieferung der Perikope auf Hebräisch bleibt jedoch offen, ob es sich dabei um eine Leistung der hebräischen Tradenten oder um den eigenen Interpretationsbeitrag des Peschitta-Übersetzers handelt (vgl. Kap. 1.4). Ferner ist auffällig, dass durch das Vorkommen der Gottesfurcht in V. 1a37 und 19a in Syr eine inclusio entsteht, welche die besagte Haltung als zentrales Thema der Perikope hervorhebt.38 Dies korreliert wiederum mit der Hauptintention des Buches, dessen Gesamtthema und Ziel laut Sir 50,27–29 ebendiese Gottesfurcht ist.39 Demgegenüber liest die LXX in V. 1a den Ausdruck δουλεύειν κυρίῳ „dem Herrn dienen“ anstatt von ‫„ ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬Gottesfurcht“.40 Hier soll aber angemerkt werden, dass, obwohl die beiden Formulierungen dem heutigen Leser voneinander unterschieden zu sein scheinen, die Verben ‫„ ירא‬fürchten“ (i. S. v. „verehren“) und ‫„ עבד‬dienen“ im AT nahezu synonym verwendet werden,41

33 Im Gegensatz zum hebräischen (Ms. B) und syrischen Text erwähnt G I die Gottesfurcht auch in Sir 45,23. Vgl. Zapff, Einige hermeneutische Beobachtungen, 251–252. 34 In V. 1a, 7a, 8a, 9a, 15a, 16a, 17a und 19a. 35 Der Stelle Sir 38,34 (Verszählung gemäß der EÜ) entspricht in der Rahlfsʼschen Edition der LXX und im syrischen Sirachbuch Sir 39,1. Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 263. 36 Vgl. Sir 1,10; 6,37; 16,4; 26,28 und 32,12 sowie die tabellarische Übersicht der Gottesfurchtstellen bei Haspecker. Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 48–50. 37 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 150. 38 Vgl. die Bemerkung Haspeckers in Bezug auf das ganze Sirachbuch. Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 87–89. 39 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 87–89. 40 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 64. 41 Vgl. Sir 1,10; 6,37; 16,4; 26,28 und 32,12 sowie die tabellarische Übersicht der Gottesfurchtstellen bei Haspecker. Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 48–50.

48 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

um die Sorge um die Reinheit des JHWH-Kultes auszudrücken.42 Weil aber zur Zeit der Entstehung des Sirachbuches die Treue zu JHWH für die Israeliten in gewissem Maße selbstverständlich geworden war,43 könnte sich die in V. 1ab erwähnte Erprobung auf die Herausforderungen beziehen, die angesichts der damals aktuellen Risiken des hellenistischen Denkens auf die frommen Juden zukamen (vgl. Kap. 2.1 und 3.3.4).44 Zu den weiteren Abweichungen, die für die Hermeneutik der Sprachversionen eine Relevanz haben können, hier aber nur am Rande erwähnt werden, zählt etwa der Gebrauch des abstrakten Begriffs ταπείνωσις „Erniedrigung“ durch den Enkel in V. 4b und 5b, wo der Syrer konkret über Krankheit und Armut spricht.45 So kommt es zu einer kleinen Sinnverschiebung zwischen den beiden Versionen, da die Peschitta die Demut erst in Sir 3 erwähnt. In G I wird ferner in V. 7b das Verb ἐκκλίνω „abwenden“ (räumliche Bedeutung) statt ‫„ ܐܫܬܘܚܪ‬zurückbleiben“ bzw. „zögern“46 (zeitliche Bedeutung) benutzt und der Leser wird in V. 6b dazu aufgefordert, seine Lebenswege selber zu ebnen, während der Syrer diese Aufgabe vielmehr Gott überlässt.47 Außerdem kommt anstelle von ‫„ ܛܘܒܐ‬Seligpreisung“ bzw. „Seligkeit“48 in V. 7a und 9a in Syr das Wort ἔλεος „Erbarmen“ in V. 7a und 9b in G I,49 was die „gnädige und schöpferische Treue Gottes“ hervorhebt, die in menschliches Elend hereinbricht,50 wie es oft in den Bußpsalmen der Fall ist.51 Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass der Enkel – im Unterschied zur Peschitta – in V. 11b die Vergebung der Sünden thematisiert und dementsprechend in V. 12b den theologisch profilierteren Begriff ἁμαρτωλός „Sünder“ gebraucht anstatt ‫„ ܒܪܢܫܐ‬Mensch“. Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass die Problematik der Sündentilgung in den beiden Sprachversionen bereits in der nächsten Perikope in Sir 3,3.14b.15b auftaucht (vgl. Kap. 3.2.1).52

42 Ein solcher Sprachgebrauch ist zumindest in 2  Kön 17,34 bezeugt, wonach diejenigen, die JHWH lediglich als einen unter vielen Göttern anbeten, ihn nicht fürchten. Vgl. Becker, Gottesfurcht, 120–123. 43 Vgl. Becker, Gottesfurcht, 267. Dafür spricht etwa Jdt 8,18, dagegen 2 Makk 12,40. 44 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 23. 45 Die beiden menschlichen Nöte werden, wie bereits in Kap.  3.1.1 gezeigt, im griechischen Codex Sinaiticus in V. 5c ausdrücklich benannt. 46 Die Verbform ‫ ܐܫܬܘܚܪ‬ist Eschtafʿel von ‫ܐܚܪ‬. Vgl. Smith / Smith, ‫ܐܚܪ‬, 11. 47 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 23. 48 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܛܘܒܐ‬, 118 (aramäisch). 49 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151. 50 Vgl. Staudinger, ἔλεος, 1047 und 1049. 51 Z. B. in Ps 6,5; 25,7 und 51,3. 52 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 24 und Marböck, Jesus Sirach, 66.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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Der Unterschied besteht außerdem in V. 8b, wo die LXX: οὐ μὴ πταίσῃ ὁ μισθὸς ὑμῶν „[E]uer Lohn wird nicht verfallen“, liest, während die Peschitta: ‫ܘܗ ݂ܘ‬ ݂ ‫ܡܒܝܬ ܐܓܪܟܘܢ‬ ݂ ‫„ ܐܠ‬und er [scil. der Herr] hält euren Lohn nicht zurück“, enthält. Weil die Afʿelform ‫„ ܐܒܝܬ‬übernachten, durch die Nacht hindurch halten“53 bedeuten kann, handelt es sich hier höchstwahrscheinlich um ein eigentümliches Sprachbild: „und er behält euren Lohn nicht [über Nacht]“, mittels dessen ein zusätzlicher Schriftbezug zu Lev 19,13 und Dtn 24,14–15 hergestellt wird (vgl. Kap. 3.1.4). Es ist nicht auszuschließen, dass die syrische Variante wegen ihrer sprachlichen Verwandtschaft mit dem Hebräischen dem Sinn des inzwischen verlorenen Urtextes etwas näherkommt als der Grieche. Dafür klagt G I in V. 14a offenkundig über unstandhafte Menschen, während Syr die Adressaten des Weherufs als ‫„ ܓܢܒ̈ܪܝ ܬܘܟܠܢܐ‬selbstsichere“ bzw. „verlässliche Helden“ bezeichnet, was in diesem Zusammenhang geradezu an Ironie grenzt. Dazu gebraucht die Peschitta in V. 15a den verstärkten Ausdruck ‫„ ܣܢܐ‬hassen, verabscheuen“54 (vgl. Kap. 3.1.5) anstatt von ἀπειθέω „ungehorsam sein“. Nicht zuletzt spricht der Enkel Sirachs in V. 16a von der Suche der Gottesfürchtigen nach dem Wohlwollen Gottes, während der Syrer ihre Konformität mit dem Willen Gottes thematisiert. Hier ist anzumerken, dass die passive Verbform ‫„ ܐܬܪܥܝ‬versöhnt sein“ außerdem „paktieren, einen Plan für gemeinsames Handeln ausdenken“ und deshalb auch „denken, sinnen“ heißen kann.55 Da die letzte Bedeutung im syrischen Sirachbuch mehrmals belegt ist,56 kann der Satz ̈ ‫ܕܡܪܝܐ ܢܬܪܥܘܢ ܨܒܝܢܗ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ folgendermaßen übersetzt werden: „Die den Herrn ݂ fürchten, werden über seinen Willen nachdenken“,57 was dem eher intellektuell orientierten Bemühen der Frommen: ‫„ ܢܐܠܦܘܢ ܢܡܘܣܗ‬sie werden sein Gesetz lernen“, im darauffolgenden Halbvers entspräche. Sollte aber die zuerst erwähnte Bedeutung von ‫ ܐܬܪܥܝ‬berücksichtigt werden,58 dann wäre V. 16a wie folgt zu verstehen: „Die den Herrn fürchten, werden seinen Willen zufriedenstellen“. Dies könnte wiederum gut mit der handlungsorientierten Aussage im vorausgehenden Halbvers korrelieren, wonach die Aufgabe derer, die Gott lieben, in der Bewahrung seiner Wege besteht.

53 Die Verbform ‫ ܐܒܝܬ‬ist Afʿel von ‫ܒܘܬ‬. Vgl. Smith / Smith, ‫ܒܘܬ‬, ‫ܒܬ‬, 40. 54 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܣܢܐ‬, 277 (aramäisch). 55 Die Verbform ‫ ܐܬܪܥܝ‬ist Ethpaʿal von ‫„ ܪܥܐ‬weiden“. Vgl. Jennings / Gantillon, ‫ܪܥܐ‬, 210 und Smith / Smith, ‫ܪܥܐ‬, 545. 56 Vgl. Sir 7,12; 12,16; 16,23 und 37,8. 57 In der Ausgabe von Calduch-Benages wird die Stelle wie folgt übersetzt: „Those who fear the Lord think of his will“. 58 Vgl. Paʿel ‫[„ ܪܥܝ‬z. B. Tiere mit Futter] befriedigen, stillen, zufriedenstellen, besänftigen, versöhnen“. Vgl. Jennings / Gantillon, ‫ܪܥܐ‬, 210.

50 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Theologie des Syrers. Denn während die Entsprechung des Willens Gottes gegenüber in V. 11c darin besteht, dass er einfach „getan“ (‫ )ܥܒܕ‬wird, ist bereits in V. 16a – gemäß dem oben angedeuteten semantischen Spektrum von ‫ – ܪܥܝ‬von der Satisfaktion die Rede. Dementsprechend können die Frommen den Willen Gottes so gnädig stimmen, dass er sich ihnen (wieder) zuwendet,59 was einen gewissen Anthropomorphismus Gottes nicht nur denkbar, sondern sogar notwendig macht (vgl. V. 8b in Kap. 3.1.4). Weil Sir 2 in den überlieferten hebräischen Manuskripten fehlt, kann leider nicht mehr eingeschätzt werden, wie groß dabei der eigene Interpretationsbeitrag des syrischen Übersetzers war. Sollte jedoch die Auffassung von der Befriedigung des Willens Gottes auf den großväterlichen Ausgangstext zurückgehen, dann wäre im Rückschluss von der Vermeidung anthropomorpher Ausssagen über Gott in G I auszugehen (vgl. Kap. 3.2.2, dagegen Kap. 3.1.6). Schließlich sei noch auf eine deutliche Sinnverschiebung in V. 17b hingewiesen, bei welcher der Grieche auf die anzustrebende Selbsterniedrigung als Frucht der Gottesfurcht aus V. 17a verweist, während der Syrer vom alternativen Weg dessen spricht, der Gott verlassen hat.

3.1.3 Kontextualisierung und Gliederung Wie oben verdeutlicht, widmet sich das Sirachkapitel 2 vor allem der Gottesfurcht, genauso wie Sir 1. Außerdem knüpft es durch den Aufruf in V. 10a, der Heilserfahrungen früherer Generationen (ἀρχαίας γενεὰς; vgl. ‫„ ܕܡܢ ܠܩܘܕܡܝܢ‬von ݁̈ alters her“ sowie ‫ܥܠܡܐ‬ ‫„ ܘܠܕܡܢ ܕ̈ܪܝ‬und was seit den Generationen der Äonen [war]“) zu gedenken, sowohl an die Weisheitssuche des gottesfürchtigen60 Schriftgelehr̈ ‫„ ܕܟܠܗܘܢ‬aller Früten in Sir 39,1a (vgl. πάντων ἀρχαίων „aller Vorfahren“ / ‫ܩܕܡܝܐ‬ heren“ in Kap. 4.1.1) als auch an die ehrwürdigen Männer der Vorzeit in Sir 44,1–261 an (vgl. ‫„ מימות עולם‬seit den Tagen der Vorzeit“62 / ἀπ᾽ αἰῶνος „von Ewigkeit her“ / ‫„ ܥܠ ܕ̈ܪܐ ܕܥܠܡܐ‬über die Generationen der Ewigkeit“). Deshalb kann die zu untersuchende Perikope als programmatische Überleitung zwischen dem ersten Weis-

59 Vgl. Mal 1,9: „Und nun, besänftigt doch Gott, daß er uns gnädig sei!“ Dieser Sachverhalt liegt auch der kirchlichen Lehre von der stellvertretenden Genugtuung Christi und der Gläubigen zugrunde. Vgl. Ott, Grundriß, 276–277 und 443–444. ̇ ‫„ ܒܪܡ ̇ܗܘ‬Wer aber sich hingibt, um Gott zu fürchten“. 60 Vgl. Sir 38,34c: ‫ܕܝܗܒ ܢܦܫܗ ܠܡܕܚܠ ܐܠܠܗܐ‬ 61 Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 39. 62 Nach der EÜ 1980.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

 51

heits- und Gottesfurchtgedicht in Sir 1,1–30 am Anfang des Buches und den konkreten Lehren in den weiteren Teilen des Buches dienen.63 ̈ in Sir 3,1 als Obgleich die Anreden τέκνον / ‫ ܒܪܝ‬in Sir 2,164 und τέκνα / ‫ܒܢܝܐ‬ eine formale Abgrenzung der Perikope nach vorne und nach hinten fungieren, stellt sie mit den umliegenden Textabschnitten – zumindest in der ältesten griechischen Sirachversion – eine literarische Einheit dar. Denn neben allgemeinen Ausdrücken wie ψυχή σου „deine Seele“ / ‫„ ܢܦܫܟ‬du selbst“65 und καρδία σου „dein Herz“, welche die nacheinander folgenden Verse in Sir 1,30 und 2,1–2 verbinden,66 gibt es auch zwei Stichwortgruppen, die Sir 2,1–18 mit dem Gesamtkontext der Weisheitsschrift Sirachs eng verknüpfen. Die erste Gruppe ist mit dem Lexem „Demut“ verbunden: ταπείνωσις „Erniedrigung“ in Sir 2,4b.5b; ταπεινόω „erniedrige“ in Sir 2,17b; 3,18a; 4,7; 6,12; 7,11.17 etc.; ταπεινός „niedrig, demütig“ in Sir 3,20b; ‫„ ֲענָ וָ ה‬Demut“ / πραΰτης „Sanftmut“ / ‫„ ܡܟܝܟܘܬܐ‬Demut, Sanftmut“ in Sir 3,17a und 4,8b; ‫„ ָענָ ו‬demütig“ / πραΰς „sanftmütig“ / ‫„ ܡܟܝܟܐ‬bescheiden, demütig, niedrig“ in Sir 3,19b.67 Das zweite Wortfeld kreist um den bereits erwähnten Begriff der Gottesfurcht, sowohl in der griechischen Version: φόβος κυρίου „Furcht des Herrn“ in Sir 1,27.28.30; φόβος αὐτοῦ „seine [scil. des Herrn] Furcht“ in Sir 2,10c; οἱ φοβούμενοι (τὸν) κύριον „die, die den Herrn fürchten“ in Sir 2,7–9.15–17; ὁ φοβούμενος κύριον „wer den Herrn fürchtet“ in Sir 3,7a (nur in G II), als auch in der Peschitta: ‫„ ܕܚܠܬܗ ܕܡܪܝܐ‬Furcht des Herrn“ in Sir 1,2868; ̈ ‫„ ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬Gottesfurcht“ in Sir 1,30; 2,1; ‫ܕܡܪܝܐ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ „die den Herrn fürchten“ ݂ in Sir 2,7a usw.; ‫„ ܕܕܚܠ ܐܠܠܗܐ‬wer Gott fürchtet“ in Sir 2,17a.19a (hier fehlt Sir 3,7 jedoch).69 Inhaltlich gesehen stellt Sir 2,1–18 ein hilfreiches Bündel an Ermutigungen und Ratschlägen für den Frommen dar (vgl. V. 1a). Dieser soll in erster Linie bereit sein, die Versuchungen zu erdulden (vgl. V. 1b), um – nachdem er sich durch Geduld und Treue bewährt hat (vgl. V. 2–6) – von Gott belohnt zu werden

63 Vgl. Sauer, Gedanken, 54–57; Becker, Sophia Sirach, 2165 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 38. 64 Vgl. Calduch-Benages, Amid Trials, 260. 65 Auch in Sir 4,22 übersetzt der Enkel Sirachs den idiomatischen semitischen Ausdruck ‫ נפשך‬/ ‫„ ܢܦܫܟ‬du selbst“ wörtlich ins Griechische als ψυχή σου „deine Seele“. Dagegen gebraucht er dafür in Sir 4,27 das Reflexivpronomen σεαυτόν „dich selbst“. Vgl. Wright, Translation Greek, 92–93. 66 Es fehlt die entsprechende syrische Formulierung ‫„ ܠܒܟ‬dein Herz“ in Sir 2,2, da dieser Vers in Syr nicht überliefert ist (vgl. Kap. 3.1.1). 67 Anstatt der „Demut“ thematisiert die Peschitta in Sir 2,4b.5b die Krankheit und Armut und in Sir 2,17b den Weg dessen, der Gott verlässt (vgl. Kap. 3.1.2). 68 Die diplomatische Übersetzung von Calduch-Benages führt die Stelle als Sir 1,27 an. 69 Zu den griechischen und syrischen Stichwörtern vgl. Smend, Griechisch-syrisch-hebräischer Index, passim.

52 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

(vgl. V. 7–9). Während die früheren Generationen diese Belohnung bereits erfahren haben (vgl. V. 10), streben sie die Frommen durch Aszese und Gesetzeserfüllung (vgl. V. 15–17) im Hinblick auf Gottes Erbarmen (vgl. V. 18d) erst an.70 Trotz der Anrede τέκνον „Kind“ / ‫„ ܒܪܝ‬mein Sohn“ fehlt im Text jegliche Notiz des Verfassers in der 1. Pers. Sing., die als Gliederungsmerkmal benutzt werden könnte.71 Als klare Zäsur, die den zu untersuchenden Textabschnitt in zwei Strophen teilt, könnte jedoch der Singular-Plural-Wechsel des Adressaten in V. 6b / 7a fungieren. Denn während in der ersten Strophe, die mit der besagten singularischen Anrede beginnt, der Adressat stets in der 2. Pers. Sing. steht (vgl. προσέρχῃ, ἑτοίμασον, ݂ ψυχήν σου, εὔθυνον, καρδίαν σου, μὴ σπεύσῃς; ‫ܢܦܫܟ‬, ‫ܐܫܠܡܬ‬, ݂ ‫)ܩܪܒܬ‬, ݂ werden im weiteren Duktus des Textes die Zuhörer im Plur. angesprochen (vgl. ἀναμείνατε, ݁ Auch die μὴ ἐκκλίνητε, μὴ πέσητε, πιστεύσατε; ‫ܗܝܡܢܘ‬, ‫ܬܦܠܘܢ‬,݂ ‫ܐܠ ܬܫܬܘܚܪܘܢ‬, ‫)ܣܒܪܘ‬. gesamte Perikope wird in V. 18a in G I mit der Aufforderung in der 1. Pers. Plur. abgeschlossen (die Stelle fehlt in Syr), weshalb sich eine Gliederung wie in Tab. 4 ergibt. Tab. 4: Die zweiteilige Gliederung von Sir 2,1–18 im griechischen Sirachbuch. Strophe

Inhalt

Verse

Form und Inhalt

I

Lehrrede mit einem Adressaten

1a

Anrede im Sing. (τέκνον) mit einem Konditionalsatz (εἰ)

II

Lehrrede mit mehreren Adressaten

1b–3a

Instruktionen für den, der Gott dienen will

3b

Motivation (ἵνα): Wachstum

4ab

Instruktionen

5ab

Begründung (ὅτι): Schmelzofenmetapher

(5c) + 6ab

Instruktionen

7a–9b

Instruktionen für die Gottesfürchtigen im Plur. Motivation (ἵνα): Bewahrung vor dem Fall Verheißung des Lohnes an die Gottesfürchtigen

(9c)

Nur G II: Gottbezogene Begründung (ὅτι) Ewige Gabe mit Freude

10a

Instruktion: Aufforderung zum Rückblick

70 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 21. 71 Zu autobiographischen Notizen als Hilfe zur Gliederung des Sirachbuches, vgl. Reiterer, Review, 39; Marböck, Structure, 66; Liesen, Strategical Self-References, 64–65; Beentjes, Happy the One, 8 und Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 8.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

 53

Tab. 4 (fortgesetzt) Strophe

Inhalt

Verse

Form und Inhalt

10b–d

Drei rhetorische Fragen

10b

Gottesvertrauen

10c

Gottesfurcht

10d

GEBETSERHÖRUNG

11ab

Gottbezogene Begründung (διότι): Sündenvergebung

12a–14b

Drei Weherufe: Alternativer Weg der Untreuen Begründung (ὅτι, διὰ τοῦτο), rhetorische Frage

15a–17b

Drei Verheißungen seitens der Gottesfürchtigen

18ab

Instruktion: Aufforderung zum Vertrauen

18cd

Abschließende Begründung (γὰρ)

Auf eine solche Zweiteilung der Perikope verweist K. Tesch, wobei sie die erste Strophe (vgl. V. 1–6) als mahnendes Lehrgedicht zur Geduld im Leiden und den Rest der Perikope (vgl. V. 7–18) als mahnendes Lehrgedicht über die Gottesfurcht bezeichnet.72 Beim näheren Hinsehen erinnert die vorgeschlagene Struktur auch an das Dreizeilerschema von N. Peters,73 vor allem wegen der wiederkehrenden Dreierstrukturen: jeweils drei Partizipialkonstruktionen mit den Gottesfürchtigen in V. 7–9 und 15–1774 sowie drei Weherufe gegen die Untreuen in V. 12–14 (die Peschitta hat aber nur zwei Weherufe in V. 13–14). Die vorgeschlagene Gliederung wird zusätzlich durch das Vorkommen paralleler Elemente in den beiden Strophen unterstrichen, wobei die Aufforderungen an den einzelnen Frommen in der ersten Strophe (vgl. V. 1b–3a, 4ab, 5c75 und 6ab) mit den im Plur. formulierten Aufforderungen in der zweiten Strophe korrespondieren (vgl. V. 7–9 und 18) und die Begründung mit ὅτι / ‫ ܡܛܠ‬in V. 5ab dem kausalen Satz mit διότι / ‫ ܡܛܠ‬in V. 11ab entspricht. Wird dazu noch der begründende Zusatz76 in V. 9c in G II berücksichtigt, dann ergibt sich, dass der Aufruf zum anamnetischen Rückblick77 in V. 10a und die drei darauffolgenden rhetorischen Fragen in V. 10b–d durch die zwei mit ὅτι bzw. διότι angeleiteten gottbezogenen Begründungen (vgl. V. 9c und 11ab) umrahmt und dadurch kompositionell hervorgehoben werden. Es ist bemerkenswert, dass

72 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 46. 73 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 22 und Skehan / Di Lella, The Wisdom, 150. 74 Vgl.  Haspecker, Gottesfurcht, 48; Skehan  / Di Lella, The Wisdom, 152 und Marböck, Jesus Sirach, 63. 75 Nur in G II. 76 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 24. 77 Vgl. Sauer, Gedanken, 55.

54 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

jede dieser rhetorischen Fragen eines der zentralen Themen der alttestamentlichen Spiritualität betrifft, darunter – zum ersten Mal im gesamten Sirachbuch – das Gebet in V. 10d. Dabei setzt G I das geschichtsbewusste Beten in die unmittelbare Nähe der zwei theologisch profilierteren Begriffe: Gottesfurcht in V. 10c und Sündenvergebung in V. 11b. Die griechische Langfassung kennt eine analoge Verbindung von Sündentilgung und Gebetserhörung des Gottesfürchtigen, der seine Eltern ehrt, auch in Sir 3,3–7 (vgl. Kap. 3.2.3 und 3.2.7). Dafür spricht die Peschitta in V. 10c vom Sich-Verlassen auf Gott und versichert in V. 11b, dass er die Gebete gehört hat. Aber auch hier ist eine – wenn auch indirekte – Verbindung zwischen der Erhörung des Bittstellers und seiner gottesfürchtigen Haltung ݁ ‫„ ܘܫܡܥ ܒܩܐܠ‬Und er [scil. der Herr] hat auf die zu erkennen (vgl. V. 11c: ‫ܕܥ ̈ܒܕܝ ܨܒܝܢܗ‬ ̈ ‫ܨܒܝܢܐ‬ Stimme derer gehört, die seinen Willen tun“ und Sir 34,14: ‫ܕܕܚܠܘܗܝ ̇ܥܒܕ ܡܪܝܐ‬ „Den Willen derer, die ihn fürchten, tut der Herr“), sodass die beiden Versionen in dieser Hinsicht insgesamt doch nicht so stark divergieren. Die zum Teil anders gesetzte theologische Akzentuierung, wie sie im Vergleich von Sir 2 in G I und Syr deutlich wird, könnte durch die eigene Hermeneutik der beiden Sprachfassungen bedingt sein.78 An dieser Stelle genügt es darauf hinzuweisen, dass es sich sowohl bei der Gottesfurcht, welche eines der Hauptthemen des Sirachbuches und einer der zentralen Begriffe der alttestamentlichen Spiritualität ist (vgl. Kap. 1.1), als auch beim Gebet, welches das Materialobjekt der vorliegenden Arbeit bildet, um die wirksamsten Heiligungsmittel handelt79 – nicht zuletzt, weil es sich beim Gebet um den höchsten Ausdruck der Gottesfurcht handelt.80 Denn, wie die Gottesfurcht in ihrer Grundbedeutung das Bewusstsein der Allgegenwart Gottes ist81 (vgl. Sir 19,20: πᾶσα σοφία φόβος κυρίου καὶ ἐν πάσῃ σοφίᾳ ποίησις νόμου [καὶ γνῶσις τῆς παντοκρατορίας αὐτοῦ] „Jede Weisheit (ist) Furcht des Herrn, und in jeder Weisheit (ist das) Tun des Gesetzes [und die Erkenntnis seiner Allherrschaft]“82), so verlangt auch jede Verrichtung des Gebets zumindest den Glauben an einen lebendigen und persönlichen Gott, der dieses Gebet erhören kann (vgl. Kap. 3.1.7 und 4.3.7). 78 Nicht auszuschließen wäre, dass G  I und Syr voneinander abweichende Vorlagen hatten (vgl. Kap. 1.4). 79 Vgl. Sir 2,10c; 6,15; 26,23; 28,22 und 33,1 für die Gottesfurcht sowie Sir 2,10d; 3,5; 21,5; 35,16–22 und 38,9 für das Gebet. 80 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 67. 81 Vgl. Wahl, Lebensfreude, 281. Siehe dazu auch das Lob des Gottesfürchtigen, der den Herrn stets vor Augen hat, in Ps 25,12–15. 82 Bei dem eingeklammerten Zusatz handelt es sich um die jüngere Fassung des griechischen Sirachtextes (G II). Die Passage Sir 19,20 ist Teil des vierten weisheitlichen Summariums (vgl. Kap. 4.1.3).

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

 55

Exkurs 1: Anamnese im Spannungsfeld der Produktions- und Rezeptionsästhetik Der in der Gliederung von Sir 2,1–18 hervorgehobene Appell zum Gedächtnis früherer Heilserfahrungen, als dessen Urform der Aufruf Moses in Dtn  32,7 gelten könnte, wirkt für das gesamte Sirachbuch programmatisch. Einerseits verweist er im Sinne der Produktionsästhetik83 auf die in Kap. 1.2 erwähnte Schriftgelehrsamkeit des Autors, der in seinem Lebenswerk oft mit unterschiedlicher Deutlichkeit84 Ereignisse, Motive oder Bilder aus anderen Büchern des AT aufgreift.85 Andererseits werden dadurch auch die Leser zum anamnetischen Rückblick und folgerichtig zur intertextuellen Lektüre der darauffolgenden Zeilen aufgefordert, womit der Bereich der Rezeptionsästhetik86 angesprochen wird. Dabei soll nicht verheimlicht werden, dass der letztere Ansatz oft in Spannung zum Verfahren der Produktionsästhetik steht. Denn er geht über den durch den Verfasser vorgegebenen Textsinn hinaus und erinnert deshalb in gewisser Weise sowohl an den sensus plenior, d. h. an den von Gott gewollten, aber vom menschlichen Autor nicht klar ausgedrückten tieferen Sinn eines inspirierten Textes,87 als auch an die traditionelle Lehre vom vierfachen Schriftsinn (quatuor sensus scripturae), bei welchem hinter dem Wortsinn eines biblischen Textes mehrere Bedeutungsebenen ausgemacht werden.88 Beim Aufruf zur Anamnese früherer Heilserfahrungen in V.  10a beeinflussen sich jedoch die beiden Formen der Werkanalyse gegenseitig und verschmelzen beinahe miteinander, weil der Lektüreprozess durch die Leser offensichtlich vom Autor selbst intendiert wurde. So könnte bei den besagten Heilserfahrungen an die Standhaftigkeit des Patriarchen Abraham89 in der Erprobung in Gen 22,1 gedacht werden: ‫ֹלהים נִ ָּסה‬ ִ ‫וְ ָה ֱא‬ 90 ‫ת־א ְב ָר ָהם‬ ַ ‫ ֶא‬/ ὁ θεὸς ἐπείραζεν τὸν Αβρααμ / ‫„ ܐܠܗܐ ܢܣܝ ܐܠܒܪܗܡ‬Gott versuchte Abraham“, wofür er belohnt wurde, indem seine Nachkommen zahlreich wie Sterne geworden sind. Ein solcher Querbezug zur Vätererzählung wäre auch im Sinne Sirachs, vor allem wenn er seine Zuhörer trotz der Bedrängnis und Not 83 Vgl. Voderholzer, Die Heilige Schrift, 162. 84 Zu den Möglichkeiten unterschiedlicher Deutlichkeit der Intertextualität vgl.  Seiler, Intertextualität, 280–282. 85 Vgl. die Anspielung auf das Gesetz, die Propheten und die übrigen biblischen Schriften in Sir Prolog 1–2; 8–10 und 24–25 sowie Sir 38,34d–39,1b. Vgl. Zenger, Heilige Schrift, 23. 86 Vgl. Voderholzer, Die Heilige Schrift, 162–163. 87 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 73–74. 88 Vgl. KKK 115–118. 89 Auch Calduch-Benages verweist auf Abraham, indem sie Sir 2,10 mit Ps 22,5–6 verbindet. Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 37. 90 Jansma / Peshiṭta Institute, Genesis, 40.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

zum Festhalten an Gott ermutigt, wie etwa in V. 1b: ἑτοίμασον τὴν ψυχήν σου εἰς ̈ ݂ πειρασμόν „halte deine Seele für Versuchung bereit!“ / ‫ܢܣܝܘܢܝܢ‬ ‫ܢܦܫܟ ܠܟܠ‬ ‫ܐܫܠܡܬ‬ ݂ „du hast dich allen Versuchungen ausgeliefert“ und V. 3b: ἵνα αὐξηθῇς ἐπ᾽ ἐσχάτων σου „damit du gedeihst an deinem Ende“.91 Folglich wird der allgemein formulierte Aufruf in V. 10 vertieft und konkretisiert, indem der Patriarch zum Vorbild der Treue zu Gott wird,92 wie es auch sonst in der Abrahamperikope des Väterlobes in Sir 44,20: ‫ובניסוי נמצא נאמן‬93 / καὶ ἐν πειρασμῷ εὑρέθη πιστός „[U]nd in der Versuchung wurde er als treu befunden“, und bei den anderen biblischen Autoren zu sehen ist.94 An solche lebendige Geschichtserfahrung Israels knüpft auch das auf Griechisch überlieferte deuterokanonische Juditbuch95 an, um das Gottvertrauen seiner Leser zu stärken, wie etwa in Jdt 8,25–26: παρὰ ταῦτα πάντα εὐχαριστήσωμεν κυρίῳ τῷ θεῷ ἡμῶν ὃς πειράζει ἡμᾶς καθὰ καὶ τοὺς πατέρας ἡμῶν. μνήσθητε ὅσα ἐποίησεν μετὰ Αβρααμ „Außerdem lasst uns dem Herrn, unserm Gott, danken, der uns versucht, so wie auch unsere Väter. Erinnert euch an alles, was er mit Abraham gemacht hat“.96 Die Berührungspunkte sind deutlich genug, um zu versuchen, den programmatischen Aufruf in V. 10a sogar als „Nachhall“ der zitierten Worte der Protagonistin Judit zu deuten. Produktionsästhetisch betrachtet, stünde dies zwar im Widerspruch zu der in der Forschung meistens vertretenen Entstehungschronologie, wonach die Juditschrift wahrscheinlich erst aus der Hasmonäerzeit97 stammt, während der Ecclesiasticus bereits um 180 v. Chr. verfasst wurde (vgl. Kap. 1.3). Dem ist jedoch zu erwidern, dass wegen des Fehlens des hebräischen Textes der Perikope nicht mehr eingeschätzt werden kann, wie groß der eigene Interpretationsbeitrag des Übersetzers war, der das Lebenswerk seines Großvaters erst zwischen 132 und 117 v. Chr. der griechischen Leserschaft nahe gebracht hat (vgl. Kap. 1.3). Denn es ist nicht auszuschließen, dass er (oder einer der Tradenten) den vorgefundenen Sirachtext umgedeutet und der inzwischen bekannten Juditerzählung angeglichen hat, weil er zusätzliche Schriftbezüge herstellen wollte, wie es vermutlich auch bei der Hausmetapher in Sir 3,9 der Fall war (vgl. Kap. 3.2.4). Um dem besonderen Charakter des Buches Judit, das in Form einer „romanhaften theologischen Lehrerzählung“ verdichtete Erfahrungen aus der Geschichte

91 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 23. 92 Dabei geht es um den geistlichen und moralischen Schriftsinn. Vgl. KKK 117. 93 In Ms. B XIV recto. 94 Vgl. Jes 51,2; Weish 10,5; 1 Makk 2,51–52 und Hebr 11,17–19. 95 Vgl. Engel, Das Buch Judit, 289 und 301. 96 Vgl. Schmitz / Engel, Judit, 263. 97 Vgl. Schmitz / Engel, Judit, 62–63.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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Israels vom 8./7. bis ins 2. Jh. v. Chr. vermittelt,98 gerecht zu werden, soll außerdem nach alternativen Lösungen – wie z. B. denen von S. Seiler – Ausschau gehalten werden: Als erster (traditionsgeschichtlicher) Lösungsansatz wäre denkbar, dass die Autoren der beiden Bücher bei der Wahl ihrer Motive und Themen aus einer gemeinsamen geistigen Tradition geschöpft haben, um ihren Intentionen literarischen Ausdruck zu verleihen (vgl. „Assyrer“ als Symbol der widergöttlichen Weltmacht in Exkurs 9); eine andere Möglichkeit sieht aber vor, dass – abgesehen von den erforderlichen und berechtigten (literar)historischen Fragestellungen – die intertextuellen Bezüge der beiden Texte im übergreifenden Zusammenhang des biblischen Kanons untersucht werden, wobei die von diesem Kanon intendierte Leserichtung samt den sich darauf beziehenden Begriffen Prätext und Folgetext zu berücksichtigen ist.99 Nicht zuletzt wegen des großen intertextuellen Potentials des Sirachbuches im Allgemeinen (vgl. Kap. 1.2) und insbesondere der Aufforderung in V. 10a, kann sich dieser kanonische Zugang100 gut für die vorliegende Untersuchung eignen,101 wie es im Folgenden gezeigt wird. Davor soll aber noch eine Schwierigkeit behoben werden. Denn trotz der angeführten Beweggründe scheint der Vergleich mit Jdt der geistigen Welt des patriarchal orientierten Sirachbuches, bei welchem im Rahmen des „Väterlobes“ – wie bereits der Titel besagt – keine weiblichen Gestalten gerühmt werden,102 nicht gemäß zu sein. Diesem vorschnellen Urteil ist jedoch entgegenzuhalten, dass in Sir 40,19.23 den höchsten Gütern neben der Tugend der Gottesfurcht auch „eine treue, besser: in Liebe eng verbundene“103 (‫)אשה נחשקת‬ und verständige Frau (‫)אשה משכלת‬104 zugezählt wird.105 Die Ähnlichkeit mit der intelligenten und eloquenten Heldin Judit (vgl. Jdt 11,21: οὐκ ἔστιν τοιαύτη γυνὴ ἀπ᾽ ἄκρου ἕως ἄκρου τῆς γῆς ἐν καλῷ προσώπῳ καὶ συνέσει λόγων „Eine solche Frau gibt es nicht von einem Ende bis zum (andern) Ende der Erde an Schönheit des Angesichts und Einsicht der Worte“), die laut Jdt 13,16 und 16,22 bis ans Lebensende ihrem keuschen Witwenstand treu blieb, liegt hier auf der Hand.

98 Vgl. Schmitz / Engel, Judit, 50–51 und 61. 99 Vgl. Seiler, Intertextualität, 278. 100 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 44–46. 101 Vgl. Seiler, Intertextualität, 291. 102 Die Heldinnen Israels fehlen auch in den Geschichtssummarien in Neh 9,6–37 und 1 Makk 2,51–60. Vgl. Witte, Texte, 71 (auch Fußnote 63). 103 Zapff, Jesus Sirach, 281. 104 Der hier zitierte hebräische Text von Sir 40,19.23 ist in Ms. B X recto überliefert. 105 Einer guten Ehefrau sind auch die Stellen Sir 26,1–4.13–18.23b.24b.25b.26a und 36,26–31 gewidmet. Vgl. Rapp, Der gottesfürchtigen Frau, 325 und 335 sowie Balla, The Relationship, 113, 119 und 123.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Die besondere theologische Nähe von Jdt und Sir  2 wird ferner durch die gleiche Frömmigkeit bestätigt, die sowohl das „erinnerungsgesättigte“ Gebet106 und den Glauben an seine Erhörung als auch die erwartungsvolle Haltung der Protagonistin Gott gegenüber umfasst (vgl. V. 7–9 und 10d sowie Jdt 8,17:107 διόπερ ἀναμένοντες τὴν παρ᾽ αὐτοῦ σωτηρίαν ἐπικαλεσώμεθα αὐτὸν εἰς βοήθειαν ἡμῶν καὶ εἰσακούσεται τῆς φωνῆς ἡμῶν „Deshalb lasst uns auf die Rettung von ihm [scil. Gott] her warten und ihn zu unserer Hilfe anrufen, und er wird auf unsere Stimme hören“; Jdt 8,20108: ἡμεῖς δὲ ἕτερον θεὸν οὐκ ἔγνωμεν πλὴν αὐτοῦ ὅθεν ἐλπίζομεν ὅτι οὐχ ὑπερόψεται ἡμᾶς „Wir aber kennen keinen anderen Gott außer ihm; daher hoffen wir, dass er uns nicht übersehen wird“ und Jdt 9,4: ἐπεκαλέσαντό σε εἰς βοηθόν ὁ θεὸς ὁ θεὸς ὁ ἐμός καὶ εἰσάκουσον ἐμοῦ τῆς χήρας „[Sie hatten] dich als Helfer angerufen […]. Gott, mein Gott, erhöre auch mich, die Witwe!“). Ähnlich ist auch die freiwillige Demütigung vor Gott in V. 17b in G I und Jdt 9,1. Auffällig ist außerdem die Übereinstimmung von zentralen Themen, wie z. B. Gottesfurcht,109 in den beiden Texten.110 Denn genauso wie in V. 12–17 der hier zu untersuchenden Sirachperikope steht in Jdt  16,15–17 neben dem Lob der Gottesfürchtigen: ἔτι δὲ τοῖς φοβουμένοις σε σὺ εὐιλατεύσεις αὐτοῖς […] ὁ δὲ φοβούμενος τὸν κύριον μέγας διὰ παντός „Bei denen aber, die dich [scil. den Herrn] fürchten – du wirst ihnen gnädig sein […]. Wer aber den Herrn fürchtet, ist groß auf immer“, auch der Tadel der entgegengesetzten Haltung in Form eines Weherufs: οὐαὶ ἔθνεσιν ἐπανιστανομένοις τῷ γένει μου „Wehe den Völkern, die gegen mein Volk aufstehen!“ Zu betonen ist auch die positive Wertung der Erprobung in Jdt  8,25–27,111 die nach V.  1 in erster Linie diejenigen betrifft, die Gott nahe sind. Solche Menschen werden laut V.  5 durch verschiedene Prüfungen wie Gold im Feuerofen geläutert, damit sie schließlich zur Weisheit gelangen112 (vgl. Sir 4,17),113 was besonders an Jdt 8,27 erinnert. An dieser Stelle ist jedoch einzuwenden, dass die Erprobung als Erziehungsmaßnahme Gottes bereits in Dtn 8,5 belegt ist114 und dass κάμινος „Feuerofen“ jener Ort war, an dem sich der Glaube der drei Jünglinge laut Dan 3,19–97 bewährte. Auch das in V. 5 als Metapher für Erprobung verwendete Bild der Gold-

106 Vgl. Franziskus, Offener Geist, 253. 107 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151. 108 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 67. 109 Vgl. Schmitz / Engel, Judit, 246–247. 110 Vgl. Jdt 8,8.31 und 11,17. 111 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 64 und Schmitz / Engel, Judit, 262–265. 112 Vgl. Marböck, Gerechtigkeit Gottes, 44. 113 Vgl. Schmitz / Engel, Judit, 262. 114 Vgl. auch Spr 3,11–12 und Hebr 12,5–6. Vgl. Moore, Judith, 183.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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läuterung ist in der Bibel geläufig.115 Daraus lässt sich schließen, dass die nicht zu übersehende, übereinstimmende Prägung der geistigen Welt in Sir 2 und Jdt nicht notwendig auf eine fassbare literarische Abhängigkeit der beiden Texte hinweisen muss. Denn viele der oben genannten Gemeinsamkeiten – und das scheint bezeichnend für mehrere in dieser Arbeit geschilderte intertextuelle Bezüge  – können genauso gut sowohl auf der kanonischen Schriftlektüre der untersuchten Texte als auch auf der Verwurzelung in der gemeinsamen biblischen Tradition beruhen. Die Aufgabe der letzteren ist nichts Geringeres als die „Erinnerung an das Vergangene, um Gott neue Räume zu erschließen“ und somit „die Gegenwart neu [zu deuten]“116. So zeigt sich schließlich, dass die Anamnese früherer Heilserfahrungen durch die Wiederaufnahme der älteren Bibelpassagen, wie sie beim Lesen des Sirachbuches vor Augen tritt, nicht nur der Retrospektive dient, sondern auch Bedeutung für die Gegenwart und für die Zukunft hat.117

3.1.4 Intertextualität Dass bei der Erforschung der Intertextualität die eigene Hermeneutik der Sprachversionen berücksichtigt werden soll, bezeugt deutlich der in Kap. 3.1.2 vorgeschlagene alttestamentliche Schriftbezug in der Peschitta-Version in V. 8b: ‫ܘܗ ݂ܘ‬ ݂ ‫ܡܒܝܬ ܐܓܪܟܘܢ‬ ‫„ ܐܠ‬Und er [scil. der Herr] behält euren Lohn nicht [über Nacht]“. ݂ Hier spielt der syrische Übersetzer – falls es nicht bereits in seiner hebräischen Vorlage stand – höchstwahrscheinlich auf den den Arbeitern vorenthaltenen Tagelohn in Lev 19,13118 an: ‫א־ת ִלין ְּפ ֻע ַלת ָׂש ִכיר ִא ְּתָך ַעד־ּב ֶֹקר‬ ָ ֹ ‫ ל‬/ ‫ܐܠ ܢܒܘܬ ܐܓܪܐ ܕܐܓܝܪܐ‬ ‫ ܠܘܬܟ ܥܕܡܐ ܠܨܦܪܐ‬119 „[D]er Lohn des Tagelöhners soll über Nacht bis zum Morgen nicht bei dir bleiben“ (vgl. Dtn 24,14–15),120 und meint dabei eine strenge Forderung des Gesetzes, deren Unterlassung traditionell als himmelschreiende Sünde121

115 Vgl. Ps 66,10; Spr 17,3; Weish 3,5–6; Jes 48,10; Sach 13,9 und Mal 3,2–3 sowie 1 Kor 3,13 und 1 Petr 1,7. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 150–151. 116 Franziskus, Offener Geist, 253. 117 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 30. 118 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151. 119 Lane, Leviticus, 48–49. 120 Dieser schmerzliche Aspekt der sozialen Wirklichkeit Israels wird auch in Sir 34,27 thematisiert: καὶ ἐκχέων αἷμα ὁ ἀποστερῶν μισθὸν μισθίου „Und Blut vergießt, wer den Lohn des Lohṅ .‫ܘܕܐܫܕ ܕܡܐ ܙܟܝܐ ܐܠܠܗܐ ̇ܓܠܙ‬ ̇ ̇ ‫ ܘܗܘ‬.‫ܕܛܠܡ ܐܓܪܐ ܕܐܓܝܪܐ ̇ܛܠܡ ܒܪܝܗ‬ arbeiters raubt“ / ‫ܡܩܒܠ ܦܘܪܥܢܐ ܒܝܫܐ‬ „Und wer unschuldiges Blut vergießt, beraubt Gott; wer den Lohnarbeiter um den Lohn prellt, prellt seinen Schöpfer und er empfängt schlimme Vergeltung“. Die Polyglotte von Vattioni führt diese Stelle in Syr als Sir 34,22b–d an. 121 Vgl. Jak 5,4 und KKK 1867.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

bezeichnet wird (vgl. Kap. 3.4.7). Diese radikale Konsequenz, mit der die Tora den Schutz der Tagelöhner fordert, bürgt auch dafür, dass den Frommen ihr „Lohn“ nicht lange vorenthalten wird. Eine solche Anspielung auf das Gesetz zielt in erster Linie darauf, die Leser zu einer noch eifrigeren Erweisung der Wohltaten anzuspornen, wofür sie Anerkennung zu erwarten haben. Das ist zwar auch dem Enkel Sirachs bekannt, der in V. 8b die grundsätzliche Möglichkeit eines Verdienstes bei Gott einräumt und dafür die kommende Belohnung verheißt: καὶ οὐ μὴ πταίσῃ ὁ μισθὸς ὑμῶν „[U]nd euer Lohn wird nicht verfallen“ (vgl. auch V. 9a–c). Durch die Heranziehung des besagten Querbezugs wird jedoch etwas über den gewöhnlichen ethischen Zusammenhang hinaus ausgesagt, was Folgen für das in der Peschitta vermittelte Gottesbild hat. Das Erstaunliche dieser Relecture besteht darin, dass hier Gott zu demjenigen wird, dem das Gesetz122 die Verpflichtung auferlegt, das zum Überleben Notwendige noch am gleichen Tag zu übergeben. Ihm, der sonst als Garant der sozialen Gerechtigkeit gilt, wird mit der Ankündigung der Ersatzpflichtigkeit der guten Werke „aufgebürdet“, den Menschen ihre Wohltaten zu erstatten, was wiederum ̇ an die anthropomorphisierende Formulierung in Sir 3,6b erinnert: ‫ܚܘ ̣̈ܒܐܠ ̇ܛ ̈ܒܐ‬ ̣ ‫ܘܪܡܐ‬ ‫ܐܠܗܐ܂ ̇ܡܢ ܕܡܝܩܪ ܐܠܡܗ‬ ‫[„ ܥܠ‬U]nd zu guten Belohnungen nötigt Gott, wer seine Mutter ̣ ehrt“123 (vgl. Kap. 3.2.2). Dass sich eine solche Überzeugung auf das Verständnis des biblischen Bittgebets, wie etwa der Brotbitte des Vaterunsers in Mt 6,11 und Lk 11,3, auswirken konnte, liegt auf der Hand, wenngleich umgekehrt nicht auszuschließen ist, dass es sich an diesen Stellen um den christlichen Einfluss auf die Peschitta handelt. Ein anschauliches Beispiel für die Unterschiede zwischen den beiden Sirachversionen stellt auch der Abschluss der Perikope dar, der in der griechischen Fassung V. 18a–d und in Syr V. 18c–f umfasst (7a1 enthält noch zusätzlich V. 19ab). In schriftgelehrter Weise wird hier  – vor allem in G  I  – ein Spruch Davids aus 2 Sam 24,14 aufgegriffen: ‫ל־אּפ ָֹלה‬ ֶ ‫ד־א ָדם ַא‬ ָ ַ‫ּובי‬ ְ ‫י־ר ִּבים ַר ֲח ָמו‬ ַ ‫„ נִ ְּפ ָלה־ּנָ א ְביַ ד־יְ הוָ ה ִּכ‬Laß uns doch in die Hand des HERRN fallen, denn seine Erbarmungen sind groß! Aber in die Hand der Menschen laß mich nicht fallen!“ / ἐμπεσοῦμαι δὴ ἐν χειρὶ κυρίου ὅτι πολλοὶ οἱ οἰκτιρμοὶ αὐτοῦ σφόδρα εἰς δὲ χεῖρας ἀνθρώπου οὐ μὴ ἐμπέσω „Ich will doch in die Hand des Herrn fallen, denn (die Zahl) seiner Mitleidserweise ist sehr groß; ich will aber nicht in die Hände eines Menschen fallen“ / ‫ܦܩܚ ܠܢ ܕܢܬܡܣܪ‬ ̈ ‫ܕܣܓܝܐܝܢ ̈ܪܚܡܘܗܝ ܘܒܐܝܕܐ‬ ̈ 124 „Es ist besser für uns, dass ̈ ‫ ܒܐܝܕܘܗܝ ܕܡܪܝܐ ܐܠܗܢ‬ ‫ܕܒܢܝ ܐܢܫܐ ܐܠ ܢܬܡܣܪ‬

122 Vgl. Ex 22,25–26 und Dtn 24,12–13. 123 Andere Übersetzungmöglichkeit: „Und der erlegt Gott gute Belohnungen [für sich] auf, wer seine Mutter ehrt“. 124 de Boer, Samuel, 144.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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wir in die Hände des Herrn, unseres Gottes, ausgeliefert werden, dessen Erbarmungen groß [sind], und [dass] wir in die Hand der Menschen nicht ausgeliefert werden“.125

Das Zitat beim Enkel des Spruchdichters weicht von seinem alttestamentlichen Bezugstext nur insofern ab, dass das göttliche Erbarmen – vermutlich wegen des darauffolgenden Vergleichs mit seiner Majestät in V. 18c – erst nach der Phrase „und nicht in die Hände der Menschen“ erwähnt wird und dass der dafür in der LXX stehende Ausdruck οἰκτιρμοὶ „Erbarmungen, Mitleidserweise“ durch das Synonym ἔλεος „Erbarmen“ ausgetauscht wird, während beim Syrer dasselbe Lexem ‫ ̈ܪܚܡܐ‬gebraucht wird. Doch noch wichtiger ist die Tatsache, dass den ursprünglichen Rahmen der hier zitierten Worte Davids die von ihm eingeleitete Volkszählung in 2 Sam 24 und 1 Chr 21,1–17 bildete, die im Grunde genommen nichts anderes war als ein sündhafter Versuch, „sich des Volkes [Gottes] zu bemächtigen“126 (vgl. ‫אתי‬ ִ ‫ ָח ָט‬/ ἥμαρτον / ‫ ܚܛܝܬ‬127„ich habe gesündigt“ in 2 Sam 24,10). Weil dieser blamable Kontext von Sirach weggelassen wurde, rückte die Gestalt des israelitischen Königs – und darin besteht das Neuartige der sirazidischen Relecture – in ein besseres Licht, als es noch im Referenztext der Fall war.128 Diese Abweichung, die wiederum an das Vorgehen des Autors beim judäischen König Hiskija in Sir 48,17–25 erinnert (vgl. Kap. 4.3.4), ist ganz im Sinne der zusammenfassenden Notiz in Sir 49,4 zu verstehen, welche den beiden genannten Herrschern ein vor allem religiös einwandfreies Verhalten bescheinigt: ‫ לבד מדויד יחזקיהו ויאשיהו כלם השחיתו‬129 „Außer David, Hiskija und Joschija haben alle ruchlos130 gehandelt“131 / πάρεξ Δαυιδ καὶ Εζεκιου καὶ Ιωσιου πάντες πλημμέλειαν ἐπλημμέλησαν „Außer David und Ezekias und Josias begingen alle eine Verfehlung132“.133 Dadurch jedoch, dass V. 18ab mit einer

125 Vgl. auch 1 Chr 21,13. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 152; Schreiner, Jesus Sirach, 25 und Marböck, Jesus Sirach, 69. 126 Vgl. Franziskus, Offener Geist, 216. 127 de Boer, Samuel, 144. 128 Ein einziges Mal im Sirachbuch wird die Sünde Davids in Sir 47,11 angesprochen, wobei es sich wahrscheinlich um seinen Ehebruch mit Batseba handelt (vgl. 2 Sam 11–12). Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 349 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 48. Eine weitere in Betracht kommende Ursache dieser Sünde wäre die Volkszählung Davids in 2 Sam 24. 129 In Ms. B XVIII verso. 130 Die Verbform ‫ ִה ְׁש ִחית‬ist Hifʿil von ‫ ׁשחת‬und bedeutet im moralischen Sinn „verderbt, schlecht handeln“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ׁשחת‬, 820. 131 Nach der EÜ 1980. 132 Das Wort πλημμέλεια bedeutet „Fehler, Versehen, Vergehen, Frevel, Irrtum“. Vgl. Benseler / Kaegi, πλημμέλεια, 722. 133 Diese drei Könige waren allerdings nicht frei von jeder Schuld (vgl.  die Sünde Davids in Sir 47,11), sondern nur frei von Verfehlungen religiösen Charakters, wie die definitive Zerstörung

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

anthropomorphen Aussage über Gott: ἐμπεσούμεθα εἰς χεῖρας κυρίου καὶ οὐκ εἰς χεῖρας ἀνθρώπων „Wir wollen uns in die Hände des Herrn werfen und nicht in die Hände der Menschen“, die auch durch die Vg belegt wird,134 in der Peschitta nicht überliefert wird, ist dort der besagte Querbezug zum AT kaum noch erkennbar.135

3.1.5 Formale Analyse Die bisherigen Beobachtungen zu Sir 2,1–18 werden durch die formale Analyse bestätigt. So findet etwa der bereits erwähnte Singular-Plural-Wechsel des Adressaten in V. 6 / 7, der den Text in zwei Strophen trennt (vgl. Kap. 3.1.3), seine formale Entsprechung darin, dass der Anfang und das Ende der beiden Strophen jeweils mit denselben Ausdrücken markiert werden: εὔθυνον „mache gerade, lenke!“ in V. 2a und 6b sowie τὸ ἔλεος αὐτοῦ „sein Erbarmen“ in V. 7a und 18d. Zugleich wird die ganze Perikope sowohl durch den wiederholten Gebrauch der einzelnen Lexeme (vgl. ψυχή „Seele“ in V. 1b und 17b; καρδία / ‫„ ܠܒܐ‬Herz“ in V. 2b und 17a; ταπείνωσις „Erniedrigung“ in V. 4b und 5b sowie ταπεινόω „erniedrigen“ in V. 17b) als auch durch die Aufforderungen zur Wachsamkeit (vgl. ἑτοίμασον τὴν ψυχήν σου εἰς πειρασμόν „halte deine Seele für Versuchung bereit!“ in V. 1b und ἑτοιμάσουσιν καρδίας αὐτῶν „sie werden ihre Herzen bereit machen“ in V. 17a) wie mit einer Klammer zusammengehalten. Einige dieser rhetorischen Figuren mit kunstvoller Wortstellung136 sind ausschließlich in der LXX zu finden, da in der Peschitta bestimmte Passagen entweder gänzlich fehlen (vgl. V. 2ab) oder verschiedene bedeutungsverwandte, aber nicht immer synonyme Lexeme gebraucht werden, wo im Griechischen immer ein und dasselbe Wort vorkommt. Als Beispiel möge hier die Verwendung von ‫„ ܛܘܒܗ‬seine Seligpreisung“ in V. 7a und ‫„ ̈ܪܚܡܘܗܝ‬sein Erbarmen“137 in V. 18d für ἔλεος „Erbarmen“ sowie ‫„ ܢܦܫܐ‬Seele“ in V. 1b und ‫„ ܪܘܚܐ‬Geist“ in V. 17b für ψυχή dienen.138

der Gottesbeziehung oder die Vernachlässigung des Jerusalemer Tempels (z. B. „die Häuser, die die Könige von Juda hatten verfallen lassen“ in 2 Chr 34,11). Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 369. 134 Der Stelle Sir 2,18ab entspricht in der Vg Sir 2,22: dicentes si paenitentiam non egerimus incidemus in Dei manus et non in manus hominum „Und sie sagen, (auch) wenn wir keine Buße getan haben, werden wir in die Hände Gottes fallen und nicht in die Hände der Menschen“. 135 Zu verschiedenen Möglichkeiten der überlieferungsgeschichtlichen Erklärung dieses Befunds vgl. Kap. 3.1.1. 136 Im Weiteren: „Stellungsfiguren“. 137 Im Syrischen steht das Wort ‫ ̈ܪܚܡܘܗܝ‬im Plur. (eigentlich: „seine Erbarmungen“). 138 Vgl. dagegen die Übersetzung von ‫„ כבד‬ehren“ in Ms. A mithilfe von δοξάζω und τιμάω in G I in Sir 3,1–16 (vgl. Kap. 3.2.5).

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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Unabhängig davon wird in V. 1b in den beiden antiken Sprachversionen klar das Bewusstsein um die Versuchung (πειρασμός / ‫ )ܢܣܝܘܢܐ‬ausgedrückt, die auf den Frommen laut V. 2b ἐν καιρῷ ἐπαγωγῆς „zum Zeitpunkt der Not“139 bzw. laut V. 11b ἐν καιρῷ θλίψεως „zum Zeitpunkt der Bedrängnis“ / ‫„ ܒܟܠ ܥܕܢ ܕܥܩܬܐ‬in jeder Zeit der Not140“ lauert. Dies zusammen mit den Aufrufen, versuchende Leiden zu erdulden141 (vgl. καρτέρησον „sei standhaft!“ in V. 2a; δέξαι „nimm an, ertrage!“ / ‫„ ݁ܩܒܠ‬nimm entgegen!“ in V. 4a und μακροθύμησον / ‫„ ܐܓܪ ܪܘܚܟ‬sei langmütig!“142 in V. 4b), verweist unmissverständlich darauf, dass es sich beim Erprobungsmotiv um eines der wichtigsten Elemente der analysierten Perikope handelt.143 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass dieses Motiv auch in Sir 51,1–12 angewandt wird und somit Rahmungen (inclusio) für das ganze Buch bildet.144 Es dient nämlich der wohldurchdachten Konzeption des Autors, die göttliche Erziehungsstrategie145 zu erhellen, deren Ziel in V. 3b auf den Punkt gebracht wird: „damit du gedeihst an deinem Ende“ (G I) bzw. „damit du auf deinen Wegen weise wirst“ (Syr / 7h3). Zugleich werden die einzelnen in Tab. 4 aufgelisteten Gliederungselemente von Sir 2 miteinander kunstvoll verwoben. So wird in der griechischen Version die Dreiergruppe mit den Aufforderungen an die Gottesfürchtigen in V. 7–9, welche zusätzlich durch den Ausdruck ἔλεος in V. 7a und 9b flankiert werden (inclusio), mit Hilfe der abwechselnden Verbsequenz: πίστευσον „glaube, vertraue!“ (V. 6a) – ἔλπισον „hoffe!“ (V. 6b) – πιστεύσατε „glaubt, vertraut!“ (V. 8a) – ἐλπίσατε „hofft!“ (V. 9a) – ἐνεπίστευσεν „er vertraute sich an“ (V. 10b) mit dem ersten Teil des Abschnitts in V. 1–6 verknüpft.146 Auch im syrischen Text überlappt teilweise die chiastische Anordnung: ‫„ ܒܐܘ̈ܪܚܬܟ‬auf deinen Wegen“ (V. 3b) – ‫ܒܡܣܟܢܘܬܐ‬ „in ݂ Armut“ (V. 4b) – ‫„ ܡܣܟܢܘܬܐ‬Armut“ (V. 5b) – ‫„ ܐܘ̈ܪܚܬܟ‬deine Wege“ (V. 6b) mit der

139 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „zum Zeitpunkt der Verlockung“. Vgl. Liddell, ἐπαγωγή (Nr. 4 und 7), 603. 140 Das Wort ‫ ܥܩܬܐ‬bedeutet „Not“ bzw. „Qual, Leid, Kummer“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܥܩܬܐ‬, 302 (aramäisch). 141 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 21. 142 Im Syrischen handelt es sich dabei um einen idiomatischen Ausdruck (wörtlich: „mach deinen Geist lang!“). Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܓܪ‬, 327–328. 143 Vgl.  Marböck, Gerechtigkeit Gottes, 44; Calduch-Benages, Amid Trials, 258 und CalduchBenages, Ben Sira’s Teaching, 38. 144 Vgl.  auch die Erprobungen auf Reisen in Sir  34,10–11 (vgl.  Kap.  3.1.6) und Sir  39,4d (vgl. Kap. 4.1.1–2). Vgl. Marböck, Structure, 67 und Calduch-Benages, Trial Motif, 150. Außerdem wird das Wort πειρασμός „Versuchung“ in G I im religiösen Kontext in Sir 2,1; 33,1; 44,20 und im profanen Kontext in Sir 6,7; 27,5.7 gebraucht. 145 Vgl. Dtn 8,2–16. Vgl. Schmitz / Engel, Judit, 262. 146 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151.

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folgenden Verbsequenz: ‫„ ܗܝܡܢ‬glaube!“ (V. 6a) – ‫„ ݁ܣܒܪ‬hoffe!“ (V. 6b) – ‫„ ݁ܣܒܪܘ‬hofft!“ ݁ „hofft!“ (V. 9a) – ‫„ ܗܝܡܢ‬er hat geglaubt“ (V. 7a) – ‫„ ܗܝܡܢܘ‬glaubt!“ (V. 8a) – ‫ܣܒܪܘ‬ ݁ (V. 10b) – ‫[„ ܐܠ ܡ ݂ܗܝܡܢ‬das] nicht glaubt“ (V. 13a), was auf Gottesvertrauen als ein weiteres Hauptthema der Perikope verweist. Dasselbe gilt in G I für die durch die dreimalige Interjektion οὐαὶ „Wehe!“ herausragenden V. 12–14, die sich fließend mittels der Sequenz der entsprechenden theologischen Begriffe: ἁμαρτία (V. 11b) – καρδία (V. 12a) – ἁμαρτωλός (V. 12b) – καρδία (V. 13a), an die vorausgehende Begründung in V. 11 anschließen. Auch die futurisch formulierte Charakterisierung der Gottesfürchtigen in V. 15–17, die gewissermaßen an die in Sir 32,16; 33,1 und 34,14–17 erwähnten Verheißungen erinnert, wird durch die Stichwörter ἑτοιμάζω (V. 1b und 17a), καρδία (V. 2a, 12a, 13a und 17a), ταπεινόω (V. 17b; vgl. ταπείνωσις in V. 4b und 5b) und ψυχή (V. 1b und 17b) in den Duktus des gesamten Abschnitts eingebunden. Eine klare Opposition innerhalb dieser Komposition bilden die bereits erwähnten Weherufe an diejenigen, welche Gott untreu geworden sind, indem sie möglicherweise untragbare Kompromisse zwischen dem überlieferten Glauben der Väter und der hellenistischen Weltanschauung zu schließen versuchten,147 wie etwa in V. 12: οὐαὶ καρδίαις δειλαῖς καὶ χερσὶν παρειμέναις καὶ ἁμαρτωλῷ ἐπιβαίνοντι ἐπὶ δύο τρίβους „Wehe feigen Herzen und nachlässigen Händen und ̈ einem Sünder, der auf zwei Pfaden wandelt!“148 (in Syr: ‫ܣܓܝܐܐ‬ ‫„ ܥܠ ̈ܫܒܝܐܠ‬auf vielen Spuren“). Diese typisch weisheitliche Gegenüberstellung gegensätzlicher Lebenswege,149 durch welche die positive Alternative des Lebens noch sichtbarer wird, wird zusätzlich verstärkt, indem sich innerhalb der Weherufe die gleichen Merkmale wie in dem übrigen Teil des Kapitels befinden. So bemängelt Sirach in V. 13a den fehlenden Glauben, ohne den das Herz, d. h. das personale Zentrum des Menschen, der göttlichen Hilfe beraubt ist:150 οὐαὶ καρδίᾳ παρειμένῃ ὅτι οὐ ݁ πιστεύει „Wehe einem nachlässigen Herzen, weil es nicht glaubt!“ / ‫ܘܝ ܠܗ ܠܠܒܐ‬ ݁ ‫„ ܕܐܠ ܡ ݂ܗܝܡܢ‬Wehe dem Herzen, das nicht glaubt“. Dies entspricht der singularisch formulierten Aufforderung in V. 6a: πίστευσον αὐτῷ „glaube ihm [scil. Gott]!“ / ‫ܒܐܠܗܐ‬ ‫„ ܗܝܡܢ‬glaube an Gott!“ und dem gleichartigen Appell im Plur. in V. 8a: ݂ πιστεύσατε αὐτῷ „glaubt ihm!“ / ‫„ ܗܝܡܢܘ ܒܗ‬glaubt an ihn!“ in der ersten Strophe. Gewisse Ähnlichkeiten mit dem Rest der Perikope bieten auch die drei Gestaltungselemente der Weherufe in G I: die mit ὅτι angeleitete Begründung in V. 13a 147 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151; Calduch-Benages, Amid Trials, 259 und Marböck, Jesus Sirach, 67. 148 Vgl. auch Sir 41,8. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 152. 149 Vgl. Zenger, Die Nacht, 42. 150 Vgl. das passivum divinum in V. 13b: οὐ σκεπασθήσεται „es [scil. das Herz] wird nicht geschützt werden“ / ‫„ ܐܦ ݂ܗ ݂ܘ ܐܠ ݁ܢܬܩܝܡ‬auch dieses wird nicht gefestigt/aufgerichtet werden“.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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(analog zu V. 5a, 9c und 11a), die im Futur gehaltene Folge unweisen Verhaltens in V. 13b (analog zu V. 6a, 8b und 15–17) und die rhetorische Frage in V. 14b (analog zu V. 10d)151. Erwähnenswert ist außerdem der synonyme Parallelismus zwischen den ̈ Partizipialkonstruktionen: οἱ φοβούμενοι κύριον / ‫ܕܡܪܝܐ‬ ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ „die den Herrn ݂ ݁ fürchten“ bzw. ‫ܐܠܠܗܐ‬ ‫„ ܕܕܚܠ‬die Gott fürchten“ in V. 15a, 16a und 17a sowie οἱ ݂ ݁ ݁ ἀγαπῶντες αὐτὸν /‫ܕܪܚܡܝܢ ݂ܠܗ‬ bzw. ‫ܘ̈ܪܚܡܘܗܝ‬ „die ihn [scil. den Herrn] lieben“ in V. 15b und 16b.152 Dieser Parallelismus verweist wiederum auf eine sehr enge Verknüpfung von Gottesfurcht und Gottesliebe im Sirachbuch,153 die besonders deutlich in Sir 7,29–31154 und im Wahrsatz in Sir 25,12 in G II zutage tritt: φόβος Κυρίου ἀρχὴ ἀγαπήσεως αὐτοῦ „Furcht des Herrn (ist) Anfang der Liebe zu ihm“. Ein solcher Zusammenhang, der für den heutigen Leser nicht unmittelbar verständlich ist,155 war für das AT jedoch typisch.156 Weil das Verb ‫ אהב‬/ ἀγαπάω / ‫„ ܪܚܡ‬lieben“ (als Gegenwort zu ‫„ ܣܢܐ‬hassen, verabscheuen“ in V. 15a) im Sinne der Bundesterminologie des Alten Orients „in Treue anzuhängen“ bedeutet,157 handelt es sich hier nicht um ein flüchtiges Gefühlsmoment, sondern vielmehr um das Treueverhältnis zum Bundesgott.158 Als Konkretion dieser Treue gilt in G I die Demut, die bei der Ertragung der Erprobungen in V. 5b und 17b erwiesen und deren positiver Wert auch an anderen Stellen des Sirachbuches betont wird.159 Die den griechischen Text der Perikope abrundende Aufforderung Sirachs an seine Adressaten in V. 18ab offenbart, dass die Scheidelinie nicht nur zwischen den JHWH Treuen und den ihm Untreuen,160 sondern – was noch gewichtiger 151 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 67. 152 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 152. 153 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 291–292 und 294. 154 Vgl. die Sequenz der drei Imperative in der 1. Pers. Sing. in Sir 7,29–31: I. ‫„ פחד אל‬fürchte Gott!“ / εὐλαβοῦ τὸν κύριον „fürchte den Herrn!“ / ‫ܕܚܠ ܡܢ ܐܠܗܐ‬ ̣ „fürchte Gott!“; II. ‫אהוב עושך‬ „liebe deinen Schöpfer!“ / ἀγάπησον τὸν ποιήσαντά σε „liebe den, der dich gemacht hat!“ / Syr hat dagegen: ‫„ ܝܩܪ ܒܪܝܟ‬ehre deinen Schöpfer!“; III. ‫„ כבד אל‬ehre Gott!“ / LXX hat dagegen: φοβοῦ τὸν κύριον „fürchte den Herrn!“ / ‫„ ܫܒܚܝܗܝ ܠܗ‬preise ihn!“. Der hebräische Text von Sir 7,29–31 entstammt Ms. A III recto. 155 Vgl. Becker, Gottesfurcht, 107. 156 Wie etwa im Hauptgebot in Dtn 10,12. Auch an anderen Stellen des Deuteronomiums bleibt der Zusammenhang zwischen ‫„ אהב‬lieben“ (z. B. Dtn 6,5) und ‫„ ירא‬sich fürchten“ (z. B. Dtn 5,29; 6,2.13.24) deutlich. Vgl. Becker, Gottesfurcht, 96. Vgl. dazu die Synonymität von „fürchten“ und „dienen“ in Kap. 3.1.2. 157 Vgl. Becker, Gottesfurcht, 108–110. 158 Vgl. Becker, Gottesfurcht, 97. Vgl. Mt 6,24. 159 Vgl. ταπείνωσις in Sir 2,4.5 und ταπεινόω in Sir 3,18a; 4,7; 7,17 etc. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 152. 160 Vgl. Calduch-Benages, Amid Trials, 259.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

ist – auch zwischen Gott (vgl. „die Hände des Herrn“ in V. 18a) und den Menschen verläuft (vgl. „die Hände der Menschen“ in V. 18b). Diese Gegenüberstellung wird durch den darauffolgenden, in den beiden Versionen überlieferten Nominalsatz in V. 18c–d gesteigert, in welchem die zwei unüberbietbaren Eigenschaften Gottes: μεγαλωσύνη / ‫„ ܪܒܘܬܐ‬Größe, Majestät“ und ἔλεος / ‫„ ̈ܪܚܡܐ‬Erbarmen, Barmherzigkeit“ genannt werden. Auch in V. 11a wird Gott in ähnlicher Weise als οἰκτίρμων „mitleidig“ / ‫„ ܚܢܢܐ‬Barmherziger“161 und ἐλεήμων „barmherzig“ / ‫„ ݂ܪܚܡܬܢܐ‬mitleidend, barmherzig, gnädig“162 bezeichnet. Bemerkenswert in diesem Kontext ist schließlich, dass der besagte qualifizierende Nominalsatz zusammen mit den Phrasen in V. 6a, 10d, 11b und 14b die einzigen Stellen im ganzen Abschnitt in G I bildet, bei denen Gott als Subjekt des Satzes fungiert (in Syr außerdem in V. 6b, 8b, 10b, 10c, 11c). Diese kurze Zusammenstellung genügt bereits, um die Ambivalenz der theologischen Position des Enkels zu erschließen, wonach Gott als der Andere und Transzendente geschildert wird, dessen Maßstäbe ganz anders sind als die der Menschen in V. 18b, und zugleich als der Nahe, der die Gebete der Menschen hört, ihre Taten in V. 10d und 14b sieht und seine unvergleichbare Macht in V. 18a walten lassen kann. Vor allem wird aber in V. 7a, 9b und 18d sein Erbarmen gepriesen, denn „er vergibt Sünden und rettet zur Zeit der Bedrängnis“ (V. 11b).

3.1.6 Gattungskritik Allein die bisher geschilderten inhaltlichen und formalen Beobachtungen, wie etwa die Berührungen mit dem lehrhaften163 Juditbuch, insbesondere in Jdt 8,24–27 und 16,15–17 (vgl. Exkurs 1) und der Gebrauch der „uralten weisheitlichen Anrede“164 τέκνον165 / ‫ ܒܪܝ‬in Sir 2,1, ermöglichen die gattungstheoretische Zuordnung der Paränese in Sir 2166. Es handelt sich dabei offensichtlich um eine weisheitliche Lehrrede,167 was auch sprachliche Gemeinsamkeiten mit der Gottes-

161 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܚܢܢܐ‬, 110 (aramäisch). 162 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܪܚܡܬܢܐ‬, 374 (aramäisch). 163 Vgl. Engel, Das Buch Judit, 296 und Schmitz / Engel, Judit, 61. 164 Marböck, Jesus Sirach, 64. 165 Vgl. Lang, Die weisheitliche Lehrrede, 31 und Skehan / Di Lella, The Wisdom, 150. 166 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 63. 167 Vgl. Witte, Texte, 74. K. Tesch spricht hier von einem Lehrgedicht. Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 46.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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furchtrede in Sir 34,1–20168 in der LXX (und zum Teil in Syr)169 bestätigen, die in diesem Abschnitt kurz erörtert werden sollen. Als Paradebeispiel möge hier die mehrfache Erwähnung der Gottesfürchtigen in Sir 2,7–9.15–17 sowohl im griechischen als auch im syrischen Text dienen, der eine Dreiergruppe mit φοβούμενος bzw. φοβούμενοι (τὸν) κύριον in Sir 34,14.16a.17 in G I entspricht170 (dafür werden ̈ „die ihn [scil. den die Gotttesfürchtigen in Syr nur zweimal erwähnt: ‫ܕܕܚܠܘܗܝ‬ Herrn] fürchten“ in Sir 34,13 und ‫„ ܕܕܚܠ ܐܠܗܐ‬wer Gott fürchtet“ in Sir 34,15171). Die stilistische Nähe der zu vergleichenden Perikopen, deren hebräische Vorlage im Laufe der Zeit verloren gegangen ist,172 bezeugen auch die drei folgenden Elemente: die rhetorischen Fragen in Sir 2,10b–d und 34,4.18173 in den beiden Sprachversionen, die mit ὅτι, διότι bzw. γὰρ / ‫ ܡܛܠ‬angeleiteten Begründungen in Sir 2,5a.9c174.11a.18c und 34,15175 sowie die Formulierung „die (den Herrn) lieben“ in Sir 2,15b.16b in G I und Syr und Sir 34,19a in G I.176 Neben den sprachlichen Ähnlichkeiten zeigen die beiden Texte ein gemeinsames Interesse an den Erprobungen und Versuchungen (vgl. πειρασμός / ‫ܢܣܝܘܢܐ‬ in Sir 2,1b im frommen Leben sowie πειράομαι in Sir 34,10 / ‫ ܢܣܝ‬177 in Sir 34,10.11 auf Reisen).178 Aus ihnen werden die Frommen von Gott gerettet (vgl. σῴζω /

168 Sir 34,1–20 gehört zu einer größeren Texteinheit, die durch die Anreden in Sir 33,19 und 37,27 markiert wird. 169 Dem genannten Abschnitt entsprechen Sir 34,1–17 in Syr in der Polyglotte von Vattioni und Sir 34,1a–20b bei Calduch-Benages. 170 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 48 und 291–292 sowie Marböck, Jesus Sirach, 63. 171 Im Vergleich zur Polyglotte von Vattioni ist die Verszählung bei Calduch-Benages leicht verschoben und der genannten Stelle in Syr entspricht in 7a1 Sir 34,14.17. 172 Zum fehlenden Sirachkapitel 2 in den hebräischen Handschriften vgl. Kap. 3.1.1. Zur fragmentarisch überlieferten Passage Sir 34,1 in Ms. E I verso vgl. Kap. 1.3. 173 Der Stelle Sir 34,18 in der LXX und in 7a1 entspricht in der Polyglotte von Vattioni die Stelle Sir 34,15b. 174 Sir 2,9c ist nur in G II überliefert. 175 Der Stelle Sir 34,15 in G I und 7a1 entspricht in der Polyglotte von Vattioni die Stelle Sir 34,13b. ̈ „seine [scil. des Herrn] Diener“. Der Stelle 176 Die Peschitta liest in Sir 34,16 dagegen ‫ܥܒܕܘܗܝ‬ Sir 34,16 im syrischen Text der Polyglotte von Vattioni entspricht bei Calduch-Benages die Passage Sir 34,19. 177 Das Verb ‫ ܢܣܝ‬ist Paʿel von ‫ ܢܣܐ‬und bedeutet „probieren, versuchen, prüfen, erfahren“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܣܐ‬, 341 und Hanna / Bulut, ‫ ܢܣܝ‬,‫ܢܣܐ‬, 258 (aramäisch). 178 Außer Sir 34,14–17 sind laut Calduch-Benages auch die Stellen Sir 39,4 und 51,13a den zahlreichen Erprobungen auf Reisen gewidmet. Vgl. Calduch-Benages, Trial Motif, 145–147. Auch Marböck sieht die Verbindung von Sir 34,9–13 und 39,4 durch die Erfahrungen auf Reisen. Vgl. Marböck, Gerechtigkeit Gottes, 44.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

‫ ܦܪܩ‬in Sir 2,11b und 34,15179 sowie διασῴζω / ‫ ܐܬܦܨܝ‬180 in Sir 34,13b181), dem in Sir 2,11a.18a.18cd und Sir 34,16b182.19a–20b183 eine Reihe von Eigenschaften beifügt wird, die Anthropomorphismen, wie die Beschreibung mit Merkmalen des menschlichen Körpers, nicht ausgenommen (vgl. χεῖρες κυρίου „die Hände ̈ „die Augen des des Herrn“ in Sir 2,18a184 und οἱ ὀφθαλμοὶ κυρίου / ‫ܥܝܢܘܗܝ ܕܡܪܝܐ‬ 185 Herrn“ in Sir 34,19a ). Um aber der ersehnten göttlichen Rettung würdig zu werden, bedarf der Fromme einerseits des Gesetzesgehorsams (vgl. Sir 2,16b und 34,8a) und andererseits der Gottesfurcht, welche in Sir 2 mehrmals erwähnt wird und zugleich den Höhepunkt der gesamten Texteinheit Sir 34,1–20 darstellt.186 Auch die bereits in Kap. 3.1.5 geschilderte Zusammengehörigkeit von Gottesfurcht und Gottesliebe bestätigt die inhaltliche Nähe von Sir 2,15–16 und 34,14–19a. Die Analogie besteht ferner in einer für die sapientiale Literatur sehr typischen Gegenüberstellung zweier Lebenswege187 mit scharfem Tadel derjenigen, die Gott untreu geworden sind, wie es in den Weherufen in Sir 2,12–14 und bei der Kritik der Traummantik in Sir 34,1–2.5.7 der Fall ist. Obwohl in Sir 2,1–18 die in der 1. Pers. Sing. formulierten Aussagen des Autors, die dem Gesagten einen noch verbindlicheren Charakter verleihen würden (vgl. Sir 34,12–13188), fehlen, scheint die erstrebte Wirkung von Sir 2,1–18 und 34,1–20 identisch zu sein. Denn in den beiden Texten ist die Unterweisung für die jungen, nach Orientierung suchenden Zuhörer189 als „Sitz im Leben“ anzunehmen. Während aber die Thematisierung der Versuchungen zu Beginn und der Errettung durch Gott am Ende des Abschnitts den beiden Reden gemeinsam ist, werden die Akzente innerhalb des jeweiligen Textstücks ein bisschen anders gesetzt, 179 Vgl. Sir 34,13b in der Polyglotte von Vattioni. 180 Das Verb ‫ ܐܬܦܨܝ‬bedeutet „befreit werden“ und ist die Passivform (Ethpaʿal) des Verbs ‫ܦܨܝ‬, das wiederum Paʿelform von ‫ ܦܨܐ‬ist. Vgl. Smith / Smith, ‫ܦܨܐ‬, 454 und Hanna / Bulut, ‫ܦܨܝ‬, 321 (aramäisch). 181 Vgl. Sir 34,12b in der Polyglotte von Vattioni. 182 Sir 34,16b ist nur in G I überliefert. 183 Der Stelle Sir 34,19–20 in G I und 7a1 entspricht in der Polyglotte von Vattioni die Stelle Sir 34,16–17. 184 Die Passage ist in den hebräischen Handschriften nicht überliefert und fehlt in der Peschitta. 185 Weil diese Passage in den hebräischen Handschriften nicht überliefert ist, kann nicht mehr eingeschätzt werden, ob es sich dabei um die ursprüngliche Lesart oder um den eigenen Interpretationsbeitrag der Tradenten bzw. der Übersetzer handelt. 186 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 177. 187 Vgl. Zenger, Die Nacht, 42. 188 Der Stelle Sir 34,12–13 in G I und 7a1 entspricht in der Polyglotte von Vattioni die Stelle Sir 34,11–12. 189 Vgl. Zapff, Normenbegründung, 36.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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wobei in Sir 2 als Hilfestellung zur Erlangung des Heils neben der Gottesfurcht in V. 10c in G I auch das gläubige Gebet in V. 10d in G I und Syr empfohlen wird (vgl. Kap. 3.1.3).

3.1.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 2,10 Wie bereits angedeutet, wird das Beten zum ersten Mal im Sirachbuch im Rahmen eines Aufrufs erwähnt, der Gebetserhörungen vorheriger Generationen zu gedenken. Die einschlägige Stelle befindet sich in G I zwischen den zwei mit ὅτι bzw. διότι „denn“ angeleiteten Kausalsätzen in V. 9c und 11, welche das Vertrauen der heimgesuchten und geprüften Frommen durch früher erlebte positive Erfahrungen mit Gott begründen.190 Die hier allgemein angesprochene biblische Heilsgeschichte wird auch in der Aufforderung in V.  10a aufgegriffen, die aus zwei (in Syr: drei) Imperativen besteht und sich an die Gottesfürchtigen richtet.191 Ein solcher Verweis auf die alten Heilserfahrungen wäre sicherlich für das pagan-hellenistische religiöse Denken fremd gewesen, weil es der Geschichte gerade zu entfliehen suchte,192 nicht aber für den in der jüdischen Tradition verwurzelten Weisheitslehrer.193 Es muss betont werden, dass es sich bei diesem anamnetischen Rückblick um kein sentimentales, rein menschliches Sich-Erinnern an die Vergangenheit handelt, das den Entmutigten und Angefochtenen zwar Trost verleihen, aber sie nicht heilen könnte. Vielmehr ist es das Realgedächtnis der Heilstaten Gottes, das von ihm selbst ermöglicht ist.194 Denn zum Kern der biblischen Botschaft gehört die Aussage, dass  – im Unterschied zu einem unpersönlichen „Gott“ der Stoa (vgl. Kap. 2.1) – der transzendente Gott Israels nicht ungeschichtlich ist, sondern seinen ewigen Heilswillen im Laufe der Geschichte offenbart, die deshalb als Heilsgeschichte zu deuten ist.195 Aus ebendiesem intrinsisch-theologischen Grund können die rechtgläubigen Akte der Gottesanbetung, einschließlich des Gebets, die historische Dimension kaum entbehren.196

190 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151 und Marböck, Jesus Sirach, 67. 191 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151. 192 Vgl. Kunzler, Anamnesis, 109. 193 Als Beispiel dieses traditionellen jüdischen Denkens möge hier Ps 77,6 dienen: ‫יָמים‬ ִ ‫ִח ַּׁש ְב ִּתי‬ ̈ ‫ ִמ ֶּק ֶדם‬/ διελογισάμην ἡμέρας ἀρχαίας / ‫ܝܘܡܝ ܕܡܢ ܩܕܡ‬ ‫„ ܘܚܫܒܬ‬und ich habe der früheren Tage gedacht“. Walter, The Book of Psalms, 88. Die syrische Bibelausgabe der United Bible Societies liest ̈ ‫ܚܫܒܬ‬. Die Heilige Bibel, 421 (AT, hier als Ps 77,5). leicht anders: ‫ܝܘܡܝ ܕܡܢ ܩܕܝܡ‬ 194 Vgl. Kunzler, Anamnesis, 106 und 114. 195 Vgl. Kunzler, Anamnesis, 108. 196 Vgl. Kunzler, Anamnesis, 109.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Weil aber das biblische Gebet ein „Gespräch“ des Menschen mit Gott ist (vgl.  Kap.  2.1), ist auch die damit konstitutiv verbundene Anamnese früherer Gebetserhörungen immer ein Werk der beiden Dialogpartner.197 Damit die noch zur Zeit der Väter erbeteten und vollbrachten Heilswerke anamnetisch neu „aufleben“, indem der sie gedenkende Mensch zum „Zeitgenossen“ jener längst vergangenen Ereignisse wird, bedarf es allerdings zweier Dinge. Zum einen muss sich der Betroffene als Mitglied des Bundesvolkes mit den Vätern identifizieren.198 Zum anderen wird bei demjenigen, an den der Anamnese-Befehl ergeht, ein lebendiger Glaube daran vorausgesetzt (vgl. V. 8a und 13a), dass das Geschehene kein Zufall, sondern eine göttliche Fügung war.199 Dieser Glaube muss ferner mit dem Vertrauen des Beters einhergehen, dass auch er an den heilsamen Erfahrungen der früheren Generationen Anteil haben kann. Dies entfaltet der Autor kunstvoll in Form der drei rhetorischen Fragen in V. 10b–d, die inhaltlich an Ps 22,5–6 (vgl. Pass. von καταισχύνω „beschämen“ in V. 10b) und Ps 37,25 (vgl. Pass. von ἐγκαταλείπω „verlassen“ in V. 10c) erinnern.200 Auffällig ist dabei der streng symmetrische Satzbau jeder dieser Fragen in der  griechischen Sirachversion, vor allem die Eröffnung mit dem Fragewort τίς (α) und die Verbindung der kurzen, stets im Aorist formulierten Satzglieder (β und δ) mit der Konjunktion καί (γ). Während nämlich im vorderen Teil jeder Frage (β) die auf Gott gerichteten Haltungen des Frommen in der Aktivform beschrieben werden, wird im hinteren, in der Passivform (passivum divinum) gehaltenen Teil (δ) zum Ausdruck gebracht, was dieser Fromme seitens Gottes niemals zu befürchten hat: das Zuschanden-, Verlassen- und Ignoriertwerden. Eine kleine formale Abweichung liegt lediglich in V.  10d vor, wo anstatt der Aktivform das Medium ἐπικαλέομαι „zu sich herbeirufen, zu Hilfe rufen, appellieren, anrufen“201 und anstelle der Passivform das Aktiv ὑπεροράω „übersehen“ gebraucht werden, aber auch an dieser Stelle bleibt der Mensch (β) bzw. Gott (δ) der jeweils Handelnde

197 Vgl. Kunzler, Anamnesis, 116. 198 Wie etwa im sogenannten „kleinen heilsgeschichtlichen Credo“ in Dtn 26,5b–10a und in Ps 44,2: ‫ימי ֶק ֶדם‬ ֵ ‫יהם ִּב‬ ֶ ‫ימ‬ ֵ ‫רּו־לנּו ּפ ַֹעל ָּפ ַע ְל ָּת ִב‬ ָ ‫בֹותינּו ִס ְּפ‬ ֵ ‫ֹלהים׀ ְּב ָאזְ נֵ ינּו ָׁש ַמ ְענּו ֲא‬ ִ ‫ ֱא‬/ ὁ θεός ἐν τοῖς ὠσὶν ἡμῶν ἠκούσαμεν οἱ πατέρες ἡμῶν ἀνήγγειλαν ἡμῖν ἔργον ὃ εἰργάσω ἐν ταῖς ἡμέραις αὐτῶν ἐν ἡμέραις ἀρχαίαις „Gott, mit unseren Ohren haben wir gehört, unsere Väter haben uns erzählt die Groß̈ ̈ tat, die du gewirkt hast in ihren Tagen, in den Tagen der Vorzeit“ / ‫ܐܒܗܝܢ‬ ‫ܒܐܕܢܝܢ ܘܐܦ‬ ‫ܐܠܗܐ ܫܡܥܢܢ‬ ̈ ̈ ̈ ‫ ܒܝܘܡܬܐ ܩܕܡܝܐ‬:‫ ܡܕܡ ܕܥܒܕܬ ܒܝܘܡܝܗܘܢ‬.‫„ ܐܫܬܥܝܘ ܠܢ‬Gott, mit unseren Ohren haben wir gehört, auch unsere Väter haben uns erzählt, was du gewirkt hast in ihren Tagen, in den früheren Tagen“. Walter, The Book of Psalms, 47. 199 Vgl. Kunzler, Anamnesis, 112–114. 200 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 151 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 40. Die entsprechenden Stellen in der LXX sind Ps 21,6 und 36,25. 201 Das Verb ἐπικαλέομαι ist Med. von ἐπικαλέω. Vgl. Benseler / Kaegi, ἐπικαλέω, 311.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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(vgl. Abb. 6A). Diese Beobachtung ist für das Gebet als Materialobjekt der vorliegenden Arbeit insofern relevant, als sie auf seine dialogale Grundstruktur schließen lässt, da hier auf eine gläubige Anrufung seitens des Menschen immer eine göttliche Reaktion folgt. Eine ähnliche Struktur ist auch in Syr erkennbar, wo in V. 10b–d in den Satzgliedern β immer der Mensch das Subjekt des Satzes ist und Gott – sein Objekt, während in den Satzgliedern δ dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis umgekehrt wird (vgl. Abb. 6B).

Abb. 6: Die symmetrisch angeordneten Satzteile in Sir 2,10b–d in G I (A) und Syr (B). Während in den Satzgliedern β immer der Mensch das Subjekt des Satzes bildet, ist in den Satzgliedern δ Gott der Handelnde (als Subjekt in G I und Syr bzw. als passivum divinum in G I).

Der oben geschilderte Parallelismus der Satzglieder β in V. 10b–d lässt ferner eine Synonymität oder zumindest eine gewisse Ähnlichkeit der Wirkung von Gottvertrauen, Gottesfurcht (nur in G I) und Gottesanrufung annehmen. Denn das Leben in der Gottesfurcht, die als „bewusstes Leben in der Gegenwart Gottes“202 aufzufassen ist, führt allmählich zum vertrauten Umgang mit Gott und mündet schließlich in seiner Anrufung, welche ohne Vertrauen auf seine Gegenwart und Hilfe völlig gegenstandslos wäre (vgl. Kap. 3.1.3). Auch wenn der Gottesfurchtbegriff in V. 10c in der Peschitta ausnahmsweise ausgelassen wird (‫ܐܬܬܟܠ ܥܠܘܗܝ ܘܐܪܡܝܗ‬ ‫„ ܐܘ ܡܢ݂ ܘ‬Oder wer hat sich auf ihn verlassen, und er hat ihn ݂

202 Wahl, Lebensfreude, 281.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

verworfen?“),203 mindert dies keineswegs seine Bedeutung innerhalb der untersuchten Perikope.204 Angesichts der häufig unterschiedlichen Hermeneutik der Sprachversionen ist außerordentlich wichtig, dass das Klage-Erhörungs-Paradigma im Duktus der rhetorischen Frage in V. 10d in allen drei antiken Übersetzungen explizit erwähnt wird (vgl. G I, Syr und Vg: et quis invocavit illum et despexit illum205 „[Und w]er hat ihn [scil. den Herrn] angerufen, und er [scil. der Herr] hat ihn verschmäht?“).206 In Syr wird dieser Zusammenhang noch verstärkt, indem in V. 11b anstelle von ἀφίησιν ἁμαρτίας „er [scil. der Herr] vergibt Sünden“ das Verb der Wahrnehmung ‫„ ܫܡܥ‬hören“ gebraucht und eine zusätzliche Phrase in V. 11c hinzugefügt wird: ݁ ‫[„ ܘܫܡܥ ܒܩܐܠ‬U]nd er [scil. der Herr] hat auf die Stimme derer gehört, ‫ܕܥ ̈ܒܕܝ ܨܒܝܢܗ‬ die seinen Willen tun“, was eine Anspielung auf die Erhörung des gottgefälligen Josua in Sir 46,5–6 und die des integren Samuel in Sir 46,16–19 sein könnte (vgl. Exkurs 8). Während der Syrer in V. 10d wie zu erwarten: ‫ܐܘ ܡܢ݂ ܘ ܩܪܝܗܝ ܘܐܠ‬ ‫„ ܥܢܝܗܝ‬Oder wer hat ihn angerufen, und er hat ihm nicht geantwortet?“, liest, mag die entsprechende Formulierung in G I: ἢ τίς ἐπεκαλέσατο αὐτόν καὶ ὑπερεῖδεν αὐτόν „Oder wer rief ihn an und er [scil. der Herr] übersah ihn?“, als göttliche Antwort auf das Gebet etwas befremdlich erscheinen. Das Motiv des vom Beter schmerzlich empfundenen „Übersehens“ durch Gott bzw. seines Sich-Verbergens ist aber in der Bibel durchaus bekannt. Es kommt nämlich – zusammen mit der Überzeugung, dass Gott den Gerechten nicht im Stich lässt – sowohl im Psalter207 als auch in der bereits erwähnten Juditerzählung vor.208 Entscheidend ist dabei, dass der Beter den positiven Ausgang der ihn heimsuchenden Erprobungen als Erhörung seines Flehens durch Gott erkennt, wie etwa in Jdt 9,1; 12,8; 13,4.18 und 203 Die Gottesfurcht fehlt auch in der Vg: permansit in mandatis eius et derelictus est „[Wer] hat in seinen [scil. des Herrn] Weisungen verharrt und ist verlassen worden?“ Der Stelle Sir 2,10c in der LXX entspricht in der Vg Sir 2,12a. 204 Vgl. die achtmalige Erwähnung der Gottesfurcht in Syr in Sir 2, insbesondere in der inclusio in V. 1a und 19a in Kap. 3.1.2. 205 Der Stelle Sir 2,10d in der LXX entspricht in der Vg Sir 2,12b. 206 Vgl. Palmisano, Salvaci, 341. 207 Z. B. in Ps 37,25 und 55,2: ‫ל־ּת ְת ַע ַלם ִמ ְּת ִחּנָ ִתי‬ ִ ‫ֹלהים ְּת ִפ ָל ִתי וְ ַא‬ ִ ‫„ ַה ֲאזִ ינָ ה ֱא‬Nimm zu Ohren, o Gott, mein Gebet, und verbirg dich nicht vor meinem Flehen!“ / Ps 54,2 LXX: ἐνώτισαι ὁ θεός τὴν προσευχὴν μου καὶ μὴ ὑπερίδῃς τὴν δέησίν μου „Vernimm, Gott, mein Gebet, und verachte [wörtlich: übersieh] nicht mein Flehen“ / ‫„ ܨܘܬ ܐܠܗܐ ܨܠܘܬܝ ܘܐܠ ܬܗܡܐ ܡܢ ܒܥܘܬܝ‬Höre, o Gott, mein Gebet und wende [deine Augen] von meiner Bitte nicht ab“. Walter, The Book of Psalms, 60. Das Verb ‫ܐܗܡܝ‬ „vernachlässigen, versäumen, ablassen, missachten“ ist Afʿel von ‫ ܗܡܐ‬und bedeutet wörtlich „die Augen abwenden“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܗܡܐ‬, 104 und Hanna / Bulut, ‫ܗܡܐ‬, ‫ܐܗܡܝ‬, 83 (aramäisch). 208 Vgl. Jdt 8,20: ὅθεν ἐλπίζομεν ὅτι οὐχ ὑπερόψεται ἡμᾶς οὐδ᾽ ἀπὸ τοῦ γένους ἡμῶν „daher hoffen wir, dass er uns nicht übersehen wird und (niemanden) von unserem Volk“. Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 67.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

 73

V. 10d (vgl. Exkurs 1), was wiederum die eigentliche Grundlage des sirazidischen Gebetsverständnisses bildet (vgl. Kap. 3.1.3 und 4.3.7).

Exkurs 2: Kirchliche Rezeptionen in Ost und West Nach der Exegese des Aufrufs in V.  10, geschichtsbewusst zu beten, wird nun auf das enorme Anwendungspotenzial dieser Stelle für die kirchliche Praxis im Laufe der Zeit hingewiesen. Die Passage findet sich bereits im Trostschreiben Εἰς νεωτέραν χηρεύσασαν (Ad viduam iuniorem „An eine junge Witwe“) des Johannes Chrysostomus (gest. 407),209 wo er neben seiner Schriftgelehrsamkeit210 auch sein seelsorgerliches Wirken zeigt. Sir 2,10 (G I)

Deutscher Text

Chrysostomus (vid. 1,6)211 Deutscher Text

ἐμβλέψατε εἰς ἀρχαίας γενεὰς καὶ ἴδετε τίς ἐνεπίστευσεν κυρίῳ καὶ κατῃσχύνθη ;

Blickt auf frühere Generationen und seht: Wer vertraute sich dem Herrn an und wurde beschämt?

Ἐμβλέψατε γὰρ, φησὶν, εἰς ἀρχαίας γενεὰς, καὶ ἴδετε τίς ἤλπισεν ἐπὶ Κύριον, καὶ κατῃσχύνθη,

ἢ τίς ἐνέμεινεν τῷ φόβῳ αὐτοῦ καὶ ἐγκατελείφθη ; ἢ τίς ἐπεκαλέσατο αὐτόν καὶ ὑπερεῖδεν αὐτόν ;

Oder wer beharrte in seiner Furcht und wurde verlassen? Oder wer rief ihn an und er übersah ihn?

Blickt – heißt es nämlich – auf frühere Generationen und seht: Wer vertraute auf den Herrn und wurde beschämt? ἢ τίς ἐπεκαλέσατο αὐτὸν, Oder wer rief ihn an καὶ ὑπερεῖδεν αὐτὸν, und er übersah ihn? ἢ τίς ἐνέμεινε ταῖς ἐντολαῖς αὐτοῦ, καὶ ἐγκατέλιπεν αὐτόν

Oder wer beharrte in seinen Geboten und er verließ ihn?

Der Kirchenvater zitiert jedoch die einschlägige Sirachstelle für seinen Bedarf mit der leicht veränderten Reihenfolge der Satzglieder: 10a – 10b – 10d – 10c, wobei er im Kolon b: τίς ἤλπισεν ἐπὶ Κύριον „Wer vertraute auf den Herrn“, liest, im Unterschied zu G I: τίς ἐνεπίστευσεν κυρίῳ „Wer vertraute sich dem Herrn an“.212 Auch im Kolon c (bzw. Kolon d in vid. 1,6) liest er: ταῖς ἐντολαῖς αὐτοῦ „in seinen Geboten“ anstelle von: τῷ φόβῳ αὐτοῦ „in seiner Furcht“ und wechselt vom Pass.: ἐγκατελείφθη „er [scil. der Beter] wurde verlassen“ zum Aktiv: ἐγκατέλιπεν αὐτόν

209 Vgl. Dünzl / Kaczynski, Johannes Chrysostomus, 379–380. 210 Chrysostomus spielt hier vermutlich auf 1 Tim 5,5 an. 211 Vgl. Johannes Chrysostomus, vid. 1,6 (PG 48,608). 212 Die Edition von Colbertino hat wiederum: τίς ἐνεπίστευσε τῷ Κυρίῳ. Johannes Chrysostomus, vid. 1,6 (PG 48,608). Zur alternativen Lesart siehe dort die Fußnote d.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

„er [scil. der Herr] verließ ihn“.213 Angesichts all dieser kleinen Unterschiede ist es nicht auszuschließen, dass Chrysostomus hier eine von G I abweichende griechische Sirachfassung benutzte,214 wie es auch sonst bei Kirchenväterzitaten vermutet wird.215 Ein weiteres Beispiel für die sich im kirchlichen Usus befindliche Aufforderung, auf die Heilserfahrungen früherer Generationen zurückzublicken, stellt das Memorare dar,216 eines der römisch-katholischen Grundgebete,217 das deutliche Gemeinsamkeiten mit dem lateinischen Text der untersuchten Sirachstelle aufweist.218 In beiden Texten klingt vor allem eine feste Überzeugung von der Wirksamkeit der Gottesanrufung durch (vgl.  quis invocavit eum „Wer hat ihn angerufen“; quemquam […] tua implorantem auxilia, tua petentem suffragia „dass jemand, der […] deinen Beistand anrief und um deine Fürbitte flehte“), die sich aus dem Glauben an die Gebetserhörung früherer Generationen speist (vgl. die inclusio mit non esse auditum a saeculo „es ist noch nie gehört worden“ und audi propitia et exaudi „höre gnädig an und erhöre [mich]!“). Auf die Universalität dieser Heilserfahrungen, die in der Vg durch das Indefinitpronomen nullus219 „niemand“ und das Fragepronomen quis „wer?“ ausgedrückt wird, deutet im Memorare das Indefinitpronomen quisquam „jemand“ hin, während auf ihre zeitliche Ausdehnung der Ausdruck non … a saeculo „noch nie“ verweist. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine weitere Anspielung auf den Vg-Text von Jes 64,3: a saeculo non audierunt220 „Noch nie haben sie gehört“. Bemerkenswert sind außerdem die stichwortartigen Verbindungen durch den gemeinsamen Gebrauch von derelictus und derelictum (Part. von derelinquo „verlassen“) sowie despexit und despicere (Perf. und Inf. von despicio „ver-

213 Johannes Chrysostomus, vid. 1,6 (PG 48,608). 214 Vgl. Zieglers textkritische Bemerkung zu Sir 2,10 in: Ziegler, Sirach, 134–135. 215 Vgl. Rüger, Text, 112 und Kap. 1.4. 216 Die hier zitierte deutsch-lateinische Fasssung des Gebets entspricht dem Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche. Vgl. Katechismus, Kompendium, 232–233. 217 Im Jahr 1846 erteilte Papst Pius IX. allen, die das Gebet Memorare verrichten würden, einen partialen Ablass. Vgl. Thurston, The Memorare, 152. Eine leicht abweichende Variante des Gebets enthalten bereits einige Textzeugnisse aus dem 15. und 16. Jh. Vgl. Thurston, The Memorare, 161–162. Die Autorschaft des Gebets wurde früher dem hl. Bernard von Clairvaux, dem hl. Johannes Chrysostomus oder dem hl.  Augustinus zugeschrieben. Vgl.  Thurston, The Memorare, 154 und 162. 218 Vgl. Feichtinger / Schaaf / Hieronymus, Iesus Sirach, 1032. 219 Der Ausdruck quia nullus sei sekundär für quis enim. Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 24. 220 Der Stelle Jes 64,3 entspricht in der Vg Jes 64,4. Vgl. auch Joh 9,32.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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schmähen“; vgl. ‫(„ ܐܪܡܝ‬weg)werfen, verwerfen“221 in Sir 2,10c). Bei all diesen Gemeinsamkeiten fällt zugleich auf, dass sich die beiden Texte voneinander am meisten durch den Adressaten des Appells unterscheiden: Während sich Sirach noch an seine nach Orientierung suchenden Leser wendet, richtet sich die Interzession memorare „gedenke!“ an Maria, die Mutter Jesu. Dabei ähnelt der Ton dieses Gebetsrufes sogar dem des Psalmisten (vgl. recordare Domine „gedenke, Herr!“222), was an die einzigartige Stellung Mariens im Heilsplan Gottes denken lässt, wie sie in der kirchlichen Lehre begegnet.223 Sir 2,11–12 (Vg)224

Deutscher Text225

Memorare (1846)226

Deutscher Text227

Respicite, filii, nationes hominum228: et scitote

Blickt zurück, Kinder, auf die Menschenvölker und wisst:

Gedenke, o gütigste Jungfrau Maria, es ist noch nie gehört worden,

quia nullus speravit in Domino et confusus est.

Wer hat auf den Herrn gehofft und ist verstört worden,

Memorare, o piissima Virgo Maria, non esse auditum a saeculo, quemquam ad tua currentem praesidia, tua implorantem auxilia,

Quis enim permansit in mandatis ejus,

verharrte in seinen Geboten

tua petentem suffragia,

und um deine Fürbitte flehte,

dass jemand, der zu dir seine Zuflucht nahm, deinen Beistand anrief

221 Das Verb ‫ ܐܪܡܝ‬ist Afʿelform von ‫„ ܪܡܐ‬stellen, legen, werfen“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܪܡܐ‬, 542 und Hanna / Bulut, ‫ܐܪܡܝ‬, 23 (aramäisch). 222 Vgl. Ps 25,6: ‫ֹר־ר ֲח ֶמיָך יְ הוָ ה‬ ַ ‫„ זְ כ‬Denke an deine Erbarmungen, HERR“ / recordare miserationum tuarum Domine „Erinnere dich an dein Mitgefühl, Herr“. Beriger, Ps 18–41, 127. Der Stelle Ps 25,6 entspricht in der Vg Ps 24,6. 223 Vgl. die dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium (LG 62, DH 4177): „Deswegen wird die selige Jungfrau in der Kirche unter den Titeln der Anwältin, der Helferin, des Beistandes und der Mittlerin angerufen. Dies wird jedoch so verstanden, daß es der Würde und Wirksamkeit Christi, des einen Mittlers, nichts wegnimmt und nichts hinzufügt“. 224 Der Stelle Sir 2,10 in der LXX und Syr entspricht in der Vg Sir 2,11–12. 225 Feichtinger / Schaaf / Hieronymus, Iesus Sirach, 1033. 226 Katechismus, Kompendium, 233. 227 Katechismus, Kompendium, 232. 228 Das Zitat von Sir 2,10 bei Chrysostomus lautet in lateinischer Übersetzung: Inspicite enim, inquit, in antiquas generationes, et videte si quis speravit in Domino, et confusus est, vel si quis invocavit illum, et despectus est, vel si quis stetit in mandatis ejus, et derelictus est. Johannes Chrysostomus, vid. 1,6 (PG 48,608). Anstelle von antiquas generationes / ἀρχαίας γενεὰς „frühere Generationen“ liest die Vg allerdings nationes hominum „Menschenvölker“, was Peters durch die vermutliche Verwechslung von ‫ ) ( א‬und ‫ ) ( ק‬in der alten hebräischen Schrift erklärt (‫ָא ָדם‬ „Mensch“ statt ‫„ ֶק ֶדם‬vorher, Vorzeit“). Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 24.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

et derelictus est? aut quis invocavit eum,

et despexit illum?

und ist gänzlich verlassen worden? Wer hat ihn angerufen,

esse derelictum.

und er hat ihn verschmäht?

Noli, Mater Verbi, verba mea despicere, sed audi propitia et exaudi. Amen.

Ego tali animatus confidentia, ad te, Virgo Virginum, Mater, curro; ad te venio; coram te gemens peccator assisto.

von dir verlassen worden ist. Von diesem Vertrauen beseelt, nehme ich meine Zuflucht zu dir, o Jungfrau der Jungfrauen, meine Mutter, zu dir komme ich, vor dir stehe ich als ein sündiger Mensch. O Mutter des ewigen Wortes, verschmähe nicht meine Worte, sondern höre sie gnädig an und erhöre mich! Amen.

Dass die Anamnese früherer Gebetserhörungen auch sonst dienlich sein kann, indem sie dem Betroffenen Ermutigung schenkt, wusste auch der Verfasser der folgenden Vesperstichire des 6.  Tones aus dem Wochenlob der byzantinischen Kirche.229 Griechischer Text230

Deutscher Text231

Ὁ Θεὸς ὁ θέλων σωθῆναι πάντας, ἐπίβλεψον, ἴδε τὴν προσευχήν μου, καὶ μή μου τὰ δάκρυα, ὡς μάταια ἀπώσῃ· τίς γὰρ προσῆλθέ σοι προσπίπτων, καὶ εὐθὺς οὐκ ἐσώθη; τίς δὲ ἐβόησε θερμῶς σοι, καὶ εὐθὺς οὐκ ἠκούσθη; καὶ γὰρ Δέσποτα, ταχὺς εὑρίσκῃ, εἰς σωτηρίαν πᾶσι τοῖς αἰτοῦσί σε Κύριε, διὰ τὸ μέγα σου ἔλεος.

O Gott, der du willst, dass alle errettet werden, blick herab, sieh auf mein Gebet, und vewirf nicht meine Tränen als eitel; denn wer kam zu dir weinend und wurde nicht sofort errettet? Wer hat heiß zu dir gerufen und wurde nicht sofort gehört? Doch, o Gebieter, du bist schnell, zu erretten alle, die dich bitten, o Herr, ob deines großen Erbarmens!

Denn in seine an Gott gerichtete Klage, die deutlich an den Aufruf in Sir 2,10 erinnert, fügt er eine mehrgliedrige Bitte ein, deren Anfang: ἐπίβλεψον, ἴδε τὴν προσευχήν μου „blick herab, sieh auf mein Gebet!“, eher an die griechische Übersetzung anknüpft (vgl. ἐμβλέψατε εἰς ἀρχαίας γενεὰς καὶ ἴδετε „Blickt 229 Vgl. Maltzew, Oktoichos, 402. 230 Parakletike, 490. 231 Modifiziert nach: Maltzew, Oktoichos, 402.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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auf frühere Generationen und seht!“ in Kolon a und ὑπερεῖδεν „er übersah“ in Kolon d), der letzte Teil μή ἀπώσῃ „verwirf nicht!“ jedoch an die Peschitta-Version (vgl. ‫„ ܘܐܪܡܝܗ‬und er hat ihn verworfen“ in Sir 2,10c). Die besagte Stichire enthält außerdem zwei parallel aufgebaute rhetorische Fragen mit τίς „wer“ (vgl. Sir 2,10b–d), die jeweils mit einem passivischen Verb enden: ἠκούσθη „er [scil. der Beter] wurde gehört“ (passivum divinum, vgl. ‫„ ܘܫܡܥ‬und er [scil. der Herr] hat gehört“ in Sir 2,11bc) bzw. ἐσώθη „er wurde errettet“. Das letztere Verb verschiebt allerdings leicht den theologischen Schwerpunkt des Textes im Vergleich zur originalen Sirachstelle, sodass sich der Glaube an die Gebetserhörung mit der Lehre vom universalen Heilswillen Gottes verbindet. Diese prägt den Grundton dieses liturgischen Textes (vgl. σωθῆναι πάντας „alle zu erretten“ und εἰς σωτηρίαν πᾶσι „zur Rettung allen“) und macht den Bezug zu 1 Tim 2,4 erkennbar. Dass es sich bei den drei bisher angeführten Rezeptionen von Si 2,10 um keine isolierten Fälle handelt, bestätigen zahlreiche Wiederaufnahmen des Sirachbuches bei den Kirchenvätern, z. B. bei Gregor von Nazianz (gest. um 390),232 der in seiner zweiten Rede Ἀπολογητικός (Apologetica) die Stelle Sir 3,9 (ohne γὰρ) anführt: εὐλογία πατρὸς στηρίζει οἴκους τέκνων233 „Der Segen des Vaters befestigt die Häuser der Kinder“ (or. 2,116). Dazu kommen andere christliche Grundgebete, die gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Ecclesiasticus aufweisen, wie etwa die Vergebungsbitte des Vaterunsers in Mt 6,12.14 und Lk 11,4: καὶ ἄφες ἡμῖν τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν, καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν „und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir selbst vergeben jedem, ̈ der uns schuldig ist“ / ‫ܚܝܒܝܢ ܠܢ‬ ‫ ܘܫܒܘܩ ܠܢ‬ ݂ ‫ܫܒܩܢ ݂ܠܟܠ ݁ܕ‬ ݂ ‫ܐܦ ܐܢܚܢܢ ݁ܓܝܪ‬ ݂ ‫ܚܛܗܝܢ‬ ݂ 234 „und erlass uns unsere Sünden, denn auch wir haben allen erlassen, die uns schuldig [sind]“, die stark an die Forderung nach Vergebung in Sir 28,2 erinnert:235 ἄφες ἀδίκημα τῷ πλησίον σου καὶ τότε δεηθέντος σου αἱ ἁμαρτίαι σου λυθήσονται „Vergib das Unrecht deinem Nächsten, (damit du,) wenn du betest, von deinen ̈ Sünden erlöst wirst“ / ‫ܚܛܗܝܟ ܢܫܬܒܩܘܢ ܠܟ‬ ‫„ ܫܒܘܩ ܡܐ ܕܒܠܒܟ ܘܒܬܪܟܢ ̇ܨܐܠ ܘܟܠ‬Erlass, was in deinem Herzen [ist], und dann bete und alle deine Sünden werden dir erlassen werden“.236

232 Vgl. Hartmann, Gregor von Nazianz, 295. 233 Gregor von Nazianz, or. 2 (Ἀπολογητικός), 238 sowie ders., or. 2 (Λόγος Β΄), 78 und 80. 234 Die Heilige Bibel, 92 (NT). 235 Diese Entsprechung bemerkte bereits Thomas von Aquin (gest. 1274) in der Summa Theologiae IIa-IIae q. 83 a. 16 ad 3. Vgl. Maidl, Desiderii interpres, 69 (Fußnote 32). 236 Dies erinnert an die Bitte gleichen Inhalts in Gen 50,17. Vgl. Jüngling, Der Nächste, 245.

78 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Ein weiteres Beispiel stellt das Gebet um Selbstbeherrschung in Sir 22,27–23,6 dar, das auf Hebräisch zwar nicht mehr erhalten ist,237 in diesem Zusammenhang aber insoweit interessiert, als es sowohl eine jüdische wie eine christliche Rezeption aufzuweisen hat. Zum einen ist hier an das mittelalterliche hebräische Fragment ENA 3053.3 aus der Geniza der Ben-Esra-Synagoge in Kairo zu denken,238 das 1931 von J. Marcus herausgegeben wurde.239 Diese prosodische Version von Sir 22,22–23,9,240 die vermutlich Teil einer umfangreichen gereimten Sirachparaphrase mit Elementen von Piyyut (einer Art der synagogalen Dichtung) war,241 enthält nicht nur Wiederholungen und Wortspiele, sondern sie wechselt auch vom „Ich“ zum „Du“, indem anstelle der eigenen Bitte um Selbstbeherrschung die weisheitliche Instruktion seitens einer Autorität eintritt.242 Einige inhaltliche und formelle Übereinstimmungen mit dem besagten Sirachtext zeigt zum anderen das sogenannte „Gebet des heiligen Ephräm des Syrers“ (ἡ εὐχή τοῦ ὁσίου Ἐφραίμ τοῦ Σύρου), das in der byzantinischen Tradition alle Gottesdienste der Großen Fastenzeit begleitet. Bemerkenswert sind vor allem die ähnlichen Anreden Gottes: κύριε πάτερ καὶ δέσποτα ζωῆς μου „Herr, Vater und Beherrscher meines Lebens!“, in Sir 23,1 und κύριε πάτερ καὶ θεὲ ζωῆς μου „Herr, Vater und Gott meines Lebens!“, in Sir 23,4 (vgl. Exkurs 4) sowie Κύριε καὶ Δέσποτα τῆς ζωῆς μου „Herr und Gebieter meines Lebens!“, und Κύριε Βασιλεῦ „Herr, König!“, im untersuchten ostkirchlichen Gebet. Außerdem wird in Sir  23,4 und im Ephrämgebet dieselbe Formulierung μή μοι δῷς „gib mir nicht!“ gebraucht. Der Unterschied besteht aber darin, dass, während in G I noch andere Verneinungen mit μὴ in Sir 22,7 und 23,1.4.6 vorkommen, das Ephrämgebet eine Bejahung Ναί und zwei positiv formulierte Bitten enthält: χάρισαί μοι „verleihe mir!“, und δώρησαί μοι τοῦ ὁρᾷν „lass mich erkennen!“ (wörtlich: „gewähre mir zu sehen!“), woraus sich seine dialektische Struktur ergibt.

237 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 117 und 119 sowie Calduch-Benages, Emotions, 147. 238 Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 214. Weil Ms. ENA 3053.3 zur Elkan Nathan Adler Sammlung, New York, gehört (vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 214), wird es auch als „Ms. Adler“ mit zugehöriger Zahl zitiert. Vgl. Exkurs 4. 239 Vgl. Marcus, A Prosodic Version, 26–27. 240 Nur die Zeilen 11–31 beziehen sich auf das Gebet in Sir 22,27–23,6. Vgl. Beentjes, The Prayer, 23–27. 241 Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 217 und 224. 242 Vgl. Beentjes, The Prayer, 28–32.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

Sir 22,27–23,6 (27) τίς δώσει ἐπὶ στόμα μου φυλακὴν καὶ ἐπὶ τῶν χειλέων μου σφραγῖδα πανοῦργον ἵνα μὴ πέσω ἀπ᾽ αὐτῆς καὶ ἡ γλῶσσά μου ἀπολέσῃ με (1) κύριε πάτερ καὶ δέσποτα ζωῆς μου

(2)

(3)

 79

Deutscher Text

Ephrämgebet243

Wer wird vor meinen Mund eine Wache stellen und vor meine Lippen ein kluges Siegel, damit ich nicht falle durch sie und meine Zunge mich nicht zugrunde richtet? Herr, Vater und Beherrscher meines Lebens,

Κύριε καὶ Herr und Δέσποτα τῆς ζωῆς Gebieter meines μου, Lebens,

μὴ ἐγκαταλίπῃς με ἐν überlasse mich nicht βουλῇ αὐτῶν μὴ ἀφῇς ihrem (bösen) Rat, und με πεσεῖν ἐν αὐτοῖς lasse nicht zu, dass ich ihretwegen falle. τίς ἐπιστήσει ἐπὶ τοῦ Wer wird meinem διανοήματός μου Denken (zur Strafe) μάστιγας καὶ ἐπὶ τῆς Hiebe auferlegen und καρδίας μου παιδείαν meinem Herzen die Zucht σοφίας ἵνα ἐπὶ τοῖς der Weisheit, damit ἀγνοήμασίν μου μὴ (sie) meine Vergehen φείσωνται καὶ οὐ μὴ nicht schonen und ihre παρῇ τὰ ἁμαρτήματα Verfehlungen nicht αὐτῶν (mehr) existieren, ὅπως μὴ sodass meine πληθυνθῶσιν αἱ Unkenntnis nicht ἄγνοιαί μου καὶ überhandnimmt αἱ ἁμαρτίαι μου und meine Sünden πλεονάσωσιν καὶ zu viel werden und πεσοῦμαι ἔναντι ich angesichts der τῶν ὑπεναντίων καὶ Widersacher falle und ἐπιχαρεῖταί μοι ὁ mein Feind sich an mir ἐχθρός μου freut,

πνεῦμα ἀργίας, περιεργίας, φιλαρχίας, καὶ ἀργολογίας μή μοι δῷς. Πνεῦμα δὲ σωφροσύνης, ταπεινοφροσύνης, ὑπομονῆς καὶ ἀγάπης χάρισαί μοι τῷ σῷ δούλῳ.

243 Hieratikon, 34. 244 Patriarchale Liturgiekommission, Die göttliche Liturgie, 114.

Deutscher Text244

den Geist des Müßiggangs, des Kleinmuts, der Herrschsucht und der Geschwätzigkeit gib mir nicht. Den Geist der Lauterkeit, Demut, Geduld und Liebe hingegen verleihe mir, Deinem Diener.

80  (4)

(5) (6)

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

κύριε πάτερ καὶ θεὲ ζωῆς μου

Herr, Vater und Gott meines Lebens,

Ναί, Κύριε Βασιλεῦ,

Ja, Herr und König,

μετεωρισμὸν ὀφθαλμῶν μὴ δῷς μοι καὶ ἐπιθυμίαν ἀπόστρεψον ἀπ᾽ ἐμοῦ κοιλίας ὄρεξις καὶ συνουσιασμὸς μὴ καταλαβέτωσάν με καὶ ψυχῇ ἀναιδεῖ μὴ παραδῷς με

gib mir keine hochmütigen Augen; und Begierde wende ab von mir. Begehren des Bauches und Geschlechtsverkehr sollen mich nicht in Beschlag nehmen, und liefere mich nicht einer schamlosen Seele aus!

δώρησαί μοι τοῦ ὁρᾷν τὰ ἐμὰ πταίσματα, καὶ μὴ κατακρίνειν τὸν ἀδελφόν μου, ὅτι εὐλογητὸς εἶ εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων. Ἀμήν.

lass mich meine eigenen Sünden recht erkennen und nicht meinen Bruder verurteilen, denn gepriesen bist Du in Ewigkeit. Amen.

Gemeinsam für die beiden Texte sind schließlich die drei Themenbereiche der Moral: „die Zucht der Zunge“245 (vgl.  Sir  22,27 und die Bitte: πνεῦμα […] ἀργολογίας μή μοι δῷς „den Geist […] der Geschwätzigkeit gib mir nicht!“), die Erkenntnis eigener Sünden (vgl. Sir 23,2 und die Bitte: δώρησαί μοι τοῦ ὁρᾷν τὰ ἐμὰ πταίσματα „lass mich meine eigenen Sünden recht erkennen!“) sowie der Widerspruch gegen die Überheblichkeit (vgl.  Sir  23,4 und die zweifache Bitte: πνεῦμα […] φιλαρχίας […] μή μοι δῷς. Πνεῦμα δὲ […] ταπεινοφροσύνης […] χάρισαί μοι „den Geist […] der Herrschsucht […] gib mir nicht. Den Geist der […] Demut […] hingegen verleihe mir“). Anhand dieser vielfachen kirchlichen Rezeption des Lebenswerkes Sirachs ist deutlich seine Stellung als „kirchliches [Vorlese] buch“ (Liber ecclesiasticus) zu erkennen, die es einst hatte (vgl.  Kap.  1.4) und noch haben könnte.

3.1.8 Zusammenfassung Zum ersten Mal im gesamten Buch wird das Gebet im Rahmen der programmatischen Paränese in Sir 2 thematisiert, dessen hebräische Vorlage jedoch fehlt. Die Analyse des überlieferten griechischen und des syrischen Textbestandes zeigt, dass die eigene Hermeneutik der jeweiligen Sprachversion berücksichtigt werden muss (vgl. Kap. 3.1.1–2). So erwähnt etwa der Londoner Kodex – im Unterschied zu G  I  – die Gottesfurcht in V.  1a und 19a, wodurch eine inclusio entsteht, die diese fromme Haltung hervorhebt. Demgegenüber thematisiert der Grieche die Sündenvergebung in V. 11b und die Demut in V. 4b und 5b, von denen beim Syrer erst in Sir 3 die Rede ist. Dank einer Ergänzung in V. 9c in G II ist ferner mit einer von der Peschitta leicht abweichenden Komposition zu rechnen. Dabei umrah245 Marböck, Jesus Sirach, 266.

3.1 Anamnese früherer Gebetserhörungen als Programm in Sir 2,1–18 

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men die gottbezogenen Begründungen in V. 9c und 11a sowohl die Aufforderung zum anamnetischen Rückblick in V. 10a als auch die drei rhetorischen Fragen in V. 10b–d, von denen sich die letzte in V. 10d auf das Beten bezieht (vgl. Kap. 3.1.3). Der an dieser Stelle in allen antiken Versionen ausgedrückte Glaube, dass Gott die Bitten der Frommen erhört, wird auch durch die zusätzliche Phrase in V. 11c in Syr bestätigt. Wegen der nur in G I überlieferten Gottesfurchtpassage in V. 10c rückt das Bittgebet in die unmittelbare Nähe von Gottesfurcht und Sündenvergebung (vgl. V. 11b), wie es auch in Sir 3,1–16 der Fall ist. Die LXX und die Peschitta stimmen insofern überein, als sie in V. 1–4 den Leser zur Beharrlichkeit in den Erprobungen auffordern und den Lohn dafür versprechen. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Relecture der Gestalt Abrahams (vgl. Gen 22,1–19), der auch in Sir 44,19–21 als Vorbild der Treue zu Gott dient (vgl. Exkurs 1). Die Zweckmäßigkeit dieser intertextuellen Lektüre wird in der bereits erwähnten Aufforderung in V.  10a betont, die als methodologische Programmatik sowohl für die untersuchte Perikope als auch für das gesamte Sirachbuch gelten kann. Außerdem können noch zwei weitere Querbezüge zum AT festgestellt werden, die aber aufs Engste mit der Hermeneutik der Sprachversionen verknüpft sind (vgl. Kap. 3.1.4). Zum einen handelt es sich in der Peschitta in V. 8b vermutlich um einen Verweis auf Lev 19,13 und Dtn 24,14–15, dessen Sinn der folgende ist: Wie Gott mit Hilfe des Gesetzes den Schutz der Tagelöhner fordert, so wird er auch den Frommen den gebührenden Lohn für ihren guten Wandel nicht vorenthalten. Dass aber die strenge Forderung des Gesetzes, Wohltaten unverzüglich zu erstatten, Gott selbst auferlegt wird, setzt beim Syrer ein bestimmtes Gottesbild voraus, dem Anthropomorphismen nicht fremd sind (vgl. V. 16a und Sir 3,6b), was wiederum praktische Konsequenzen für eine biblische Spiritualität und Gebetspraxis haben muss. Zum anderen zitiert die griechische Version in V. 18 die Worte Davids aus 2 Sam 24,14 bzw. 1 Chr 21,13 nach der von ihm eingeleiteten sündhaften Volkszählung. Dadurch aber, dass die Passage im Sirachbuch jeglicher Einbindung in den ursprünglichen biblischen Kontext entbehrt, der den König belasten könnte, erscheint seine Gestalt in einem viel besseren Licht als im Referenztext, wie es auch im Väterlob der Fall ist (vgl. Sir 49,4). Das Fehlen von V. 18ab in der Peschitta macht diesen intertextuellen Bezug fast unkenntlich. Aus dem bisher Gesagten muss schließlich hervorgehoben werden, was die Grundlage für das Verständnis des Gebets bei Sirach bildet. Dabei handelt es sich einerseits um den unvermeidlichen Charakter der Versuchungen, unter denen die Frommen zu leiden haben (vgl. V. 1 und 5), und andererseits um die Schilderung Gottes als des Retters, der die an ihn gerichteten Gebete der versuchten Frommen erhört (vgl. Kap. 3.1.5). Die Thematisierung der beiden Aspekte bereits am Anfang des Sirachbuches ist sicherlich nicht zufällig, sondern dient der Vermittlung

82 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

eines offenbarungsgemäßen Gottesbildes. Der erwähnte Zusammenhang wird zusätzlich durch eine für die weisheitliche Lehrrede (vgl.  Kap.  3.1.6) typische Gegenüberstellung zweier Lebenswege verstärkt, wie etwa in V. 13, wo der Glaube ex negativo als Voraussetzung für die göttliche Zuwendung herausgestellt wird. Das aus diesem Glauben hervorgehende Gebet hat eine dialogale Struktur, wie es V. 10 mit dem Klage-Erhörungs-Schema zu entnehmen ist (vgl. Kap. 3.1.7). Die im Rahmen dieses Schemas präsente genuin biblische Denkweise, das Bittgebet mit der Anamnese der längst vergangenen Heilsereignisse zu verbinden, wird schließlich zum konstitutiven Element der auf V.  10 anspielenden kirchlichen Gebete, wie etwa des lateinischen Gebets Memorare und der byzantinischen Vesperstichire des 6. Tons (vgl. Exkurs 2).

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 3.2.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Zum zweiten Mal wird das Beten im Buch Ecclesiasticus bereits in Sir  3,5 (vgl.  Tab.  3) innerhalb eines Textabschnittes erwähnt, der dem ehrfürchtigen Umgang mit den Eltern gewidmet ist.246 Der in Ms.  A I recto erhaltene hebräische Konsonantentext von Kapitel 3 beginnt allerdings erst mit dem Schluss von V. 6b, woran unmittelbar V. 8 anschließt,247 weshalb der folgende Kommentar von Sir 3,1–16 durch die Analyse von G I und Syr ergänzt werden muss (V. 7 fehlt auch in der Peschitta).248 Soweit die Quellenlage dies erlaubt, soll aber zuvor noch auf hebräische Textvarianten in der handschriftlichen Überlieferung eingegangen werden, da die kurze Passage Sir 3,14–16 neben Ms. A auch in der hebräischen Florilegien-Handschrift C I recto enthalten ist.249

246 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 25. 247 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 79–80. Das Fragment Sir 3,6fin.8–16 in Ms. A I recto kann unter folgendem Link abgerufen und konsultiert werden: https://www.bensira.org/navigator. php?Manuscript=A&PageNum=1; letzter Abruf am 08.12.2017. 248 Zum hebräischen Text der zu untersuchenden Elternperikope vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 15 und 17 sowie Beentjes, Part I–II, 23. 249 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 17; Rüger, Text, 27; Beentjes, Part I–II, 95 und Tesch, Weisheitsunterricht, 79. Das Fragment Sir 3,14–16 im hebräischen Ms. C I recto kann unter folgendem Link eingesehen werden: https://www.bensira.org/navigator.php?Manuscript=C&PageNum=1; letzter Abruf am 12.12.2017.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 83

Wie es bei den hebräischen Sirachhandschriften oft der Fall ist,250 weicht zum Teil der Wortlaut der beiden genannten Textzeugen voneinander ab (vgl. Kap. 1.4), auch wenn ihre Hauptaussage meistens dieselbe bleibt. Als Beispiel kann hier der Vergleich zwischen Naturerscheinungen und der Sündenvergebung in V. 15b dienen, wo Mss. A und C verschiedene, wenngleich fast synonyme Vokabeln für Wetterphänomene verwenden (‫„ חם‬Wärme, heißes [Wetter]“251 vs. ‫„ חורב‬Dürre, Hitze“252 sowie ‫„ כפור‬Reif“253 vs. ‫„ קרח‬Eis, Kälte“254). Eine kleine Abweichung scheint außerdem V. 14b zu bergen, wo Ms. C von einem unvergänglichen Wert der Ehrfurcht gegen die Eltern spricht, während Ms. A – in Übereinstimmung mit dem LXX-Text – eine dezidiert übernatürliche Wirkung einer solchen Haltung hervorhebt,255 die „anstatt der Sünde […] gepflanzt sein [wird]“. Der hier angesprochene sündenvergebende Aspekt der Elternehrung, der für die Gebetslehre Sirachs entscheidend ist, wird sonst in V. 3 (G I), 11b (Ms. A und G I) und 15b (Mss. A, C und G I) bezeugt, sodass sich die hebräischen Handschriften in dieser Hinsicht insgesamt nicht voneinander unterscheiden. Textkritisch interessant ist ferner V. 14b, wo eine Randbemerkung in Ms. A I recto darauf verweist, dass statt ‫„ תנתע‬sie wird ausgeschlagen werden“256 vielmehr ‫„ תנטע‬sie wird gepflanzt sein“257 zu lesen ist, was ein Indiz dafür ist, dass das vorliegende Vertauschen von ‫ ת‬und ‫ ט‬durch ein Diktat entstanden ist.258 Ein weiterer Unterschied findet sich in V. 15a, wo Ms. C ‫„ ביום‬am Tag“ bzw. „täglich“ liest, was auf den innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang schließen lässt. Dies scheint auch durch die maskuline Verbform ‫„ יזכר‬er [scil. der Vater] wird gedenken“ bestätigt zu werden, was beinhaltet, dass die Wohltat (‫ ְ צ ָד ָקה‬259) am Vater durch ihn selbst, d. h. noch zu seinen Lebzeiten, dem Sohn 250 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 55–56. 251 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫חֹם‬, 238 und Dalman, ‫חם‬, ָ 150: „warm, heiß“. 252 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ח ֶֹרב‬, 257. Das Wort ‫ ח ֶֹרב‬ist in Jes 25,4–5 ein Sinnbild für den „Sturm der Gewaltigen“. 253 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ּכפֹור‬, ְ 358. 254 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ק ַרח‬, ֶ 728. 255 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 28. 256 Die Verbform ‫ תנתע‬ist Nifʿal von ‫( נתע‬Hapaxlegomenon im MT in Ijob 4,10). Vgl. Gesenius / Buhl, ‫נתע‬, 531. 257 Die Verbform ‫ תנטע‬ist Nifʿal von ‫„ נטע‬pflanzen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫נטע‬, 501. 258 Vgl. Beentjes, Reading, 109; ders., Happy the One, 313 und Tesch, Weisheitsunterricht, 56. Ein weiterer Hörfehler liegt in Sir 44,10b vor. Vgl. Reiterer Reiterer, Urtext, 14. 259 Das Substantiv ‫ ְצ ָד ָקה‬bedeutet im Neuhebräischen „Milde, Barmherzigkeit, Mildtätigkeit, Almosen“ (vgl. Dalman, ‫צ ָד ָקה‬, ְ 359), analog zu ἐλεημοσύνη „Barmherzigkeit“ und ‫„ ܙܕܩܬܐ‬Almosen, Spende“ (vgl. Hanna / Bulut, ‫ܙܕܩܬܐ‬, 89 (aramäisch)). Der Ausdruck leitet sich ab von der Wurzel ‫„ צדק‬gerecht sein“ (vgl. Gesenius / Buhl, ‫צדק‬, 674). Demgemäß heißt ‫ צדקת אב‬im Althebräischen: „das rechte Verhalten gegen den Vater“ (vgl. Gesenius / Buhl, ‫צ ָד ָקה‬, ְ 675).

84 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

erwidert werden wird. Demgegenüber hat Ms. A die von ‫ ְצ ָד ָקה‬abhängige feminine Verbform ‫תזכר‬, bei der es sich aus syntaktischen Gründen nur um die 3. Pers. Sing. Pass. handeln kann: „ihrer [scil. der Wohltat] wird gedacht werden“ (i. S. v.: „sie wird dir zugutegehalten werden“). Dies besagt allerdings, dass der Sohn für die dem Vater erwiesene Ehre erst ‫„ ביום צרה‬am Tag der Bedrängnis“ belohnt werden wird, was auf eine spätere Abrechnung im kritischen Moment des Lebens oder sogar am Todestag hindeutet. Außerdem unterscheiden sich die beiden hebräischen Handschriften voneinander in V. 16a, wo in Ms. A als Frevler bezeichnet wird, wer seinen Vater verachtet (‫ בוזה‬260), während in Ms. C derjenige als Lästerer verurteilt wird, der seinen Vater verlässt (‫ העוזב‬261; vgl. G I: ἐγκαταλιπὼν „wer verlässt“262). Um die Relevanz dieser lexikalischen Abweichung angemessen zu bewerten, bietet sich ein Blick in das vollständigere Ms. A an, wo das Verb ‫„ עזב‬verlassen“ in V. 13a: ‫„ עזוב לו‬hab Nachsicht mit ihm [scil. deinem Vater]!“263, und V. 12b: ‫„ אל תעזבהו‬lass von ihm nicht ab!“, gebraucht wird. Weil sich im zweiten Fall das Suffixobjekt der 3. Pers. Sing. masc. ‫ הו‬entweder auf ‫„ כבוד‬Ruhm“264 oder eben auf ‫„ אביך‬deinen Vater“ im vorangehenden Satz beziehen kann, üben vermutlich die beiden Textzeugen im Grunde genommen die gleiche Kritik am „Verlassen“ des Vaters. Dabei ist nicht an eine bloß räumliche Distanzierung von den Eltern zu denken, denn dies stünde im Gegensatz zur Schöpfungsordnung in Gen 2,24: ‫ת־א ִביו‬ ָ ‫ב־איׁש ֶא‬ ִ ָ‫ל־ּכן יַ ֲעז‬ ֵ ‫ַע‬ ‫ת־אּמֹו‬ ִ ‫„ וְ ֶא‬Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen“, die der Autor oftmals thematisiert.265 Es widerspräche auch dem spätalttestamentlichen Tobitbuch, mit dem das Sirachbuch viele Gemeinsamkeiten teilt (vgl. Kap. 3.2.4, 3.2.6–7 und 3.4.6), wie etwa das Motiv einer langen Reise,266 welche die physische Abwesenheit des Sohnes zu Folge hat. Es handelt sich deshalb vielmehr um die Anprangerung unterlassener Ehrung des Vaters, was ebenfalls der syrische Übersetzer in V. 12b einsah: ‫„ ܘܐܠ ܬܫܒܘܩ ܐܝܩܪܗ‬und lass von seiner [scil. deines Vaters] Ehre nicht ab!“, und was auch in V. 13b in Ms. A zur Sprache kommt: ‫ואל תכלים‬

260 Das Wort ‫ בוזה‬ist Part. von ‫„ בזה‬geringschätzen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫בזה‬, 90. 261 Das Wort ‫ עוזב‬ist Part. von ‫„ עזב‬verlassen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫עזב‬, 576. 262 Das Wort ἐγκαταλιπὼν ist Part. von ἐγκαταλείπω „zurücklassen, verlassen, im Stich lassen“. Vgl. Benseler / Kaegi, ἐγκαταλείπω, 229. 263 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫עזב‬, 576. 264 Peters übersetzt diese Stelle wie folgt: „und laß sie [scil. die Ehre deines Vaters] nicht außer acht“. 265 Vgl. Sir 15,14–17,10; 39,12–35 und 42,15–43,33. 266 Z. B. in Tob 5,17 und 11,2 sowie Sir 34,9–13. Zur letzteren Stelle vgl. Zapff, Normenbegründung, 35.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 85

‫„ אותו כל ימי חייו‬und beschäme ihn nicht alle Tage seines Lebens!“ (vgl. die LXX: μὴ λυπήσῃς αὐτὸν „betrübe ihn nicht!“). Hebräischer Text Ms. A

Deutsche Übersetzung …, wer seine Mutter ehrt. Mein Sohn, ehre deinen Vater im Wort und im Tun, damit dich alle Segnungen erreichen. Der Segen des Vaters gründet die Wurzel, und der Fluch der Mutter entwurzelt267 die Pflanzung. Brüste dich nicht mit der Schmach deines Vaters, denn sie [ist] dir keine Ehre. Die Ehre eines Menschen [ist] die Ehre seines Vaters, und die Sünde vermehrt, wer seine Mutter verflucht. Mein Sohn, beweise dich stark im Ruhm deines Vaters und lass von ihm268 nicht ab alle Tage deines Lebens. Selbst wenn sein Verstand abnimmt, hab Nachsicht mit ihm und beschäme ihn nicht alle Tage seines Lebens. Die Wohltat am Vater wird nicht ausgelöscht und anstatt der Sünde wird sie gepflanzt sein. Am Tag der Bedrängnis wird ihrer für dich gedacht werden,270 um wie Wärme auf Reif deine Sünden wegzuschaffen.271 Denn frevelhaft handelt, wer seinen Vater verachtet, und seinen Schöpfer kränkt, wer seine Mutter verflucht.

(14a)

‫ מכבד אמו‬... ‫בני במאמר ובמעשה כבד אביך‬ ‫עבור ישיגוך כל ברכות‬ ‫ברכת אב תיסד שרש‬ ‫וקללת אם תנתש נטע‬ ‫אל תתכבד בקלון אביך‬ ‫כי לא כבוד הוא לך‬ ‫כבוד איש כבוד אביו‬ ‫ומרבה חטא מקלל אמו‬ ‫בני התחזק בכבוד אביך‬ ‫ואל תעזבהו כל ימי חייך‬ ‫וגם אם יחסר מדעו עזוב לו‬ ‫ואל תכלים אותו כל ימי חייו‬ ‫צדקת אב לא תמחה‬ ‫ותמור חטאת היא תנטע‬269 ‫ביום צרה תזכר לך‬ ‫כחם על כפור להשבית עוניך‬ ‫כי מזיד בוזה אביו‬ ‫ומכעיס בוראו מקלל אמו‬ Ms. C ‫צדקת אב אל תשכח וׄ תחת‬

(14b) (15a) (15b)

‫[ענותו תתנצ[ב‬ ‫ביום יזכר לך‬ ‫וכחורב על קרח נמס חטאתיך‬

(16a) (16b)

‫כמגדף העוזב אביו‬ ‫וזועם אל יסחוב אמו‬

(6b) (8a) (8b) (9a) (9b) (10a) (10b) (11a) (11b) (12a) (12b) (13a) (13b) (14a) (14b) (15a) (15b) (16a) (16b)

Die Wohltat am Vater wird weder vergessen werden noch untergehen; seine Demut wird fortbestehen. Am Tag wird er deiner gedenken und wie Hitze auf Eis: es löst sich auf, [so werden] deine Sünden [sich auflösen]. Wie einer, der lästert, [ist], wer seinen Vater verlässt und [dem] zürnt Gott, [wer] seine Mutter zerrt.

267 Das Verb ‫ נתׁש‬bedeutet „entwurzeln“ (vgl. Holladay / Köhler, ‫נָ ַתׁש‬, 251) bzw. „ausreißen“ (vgl. Gesenius / Buhl, ‫נתׁש‬, 532). 268 Aus syntaktischen Gründen kann hier sowohl „Ruhm“ als auch „Vater“ gemeint sein. 269 Gemäß der Randbemerkung in Ms. A I recto, die das Verb ‫„ תנטע‬sie wird gepflanzt sein“ anstelle von ‫„ תנתע‬sie wird ausgeschlagen werden“ bevorzugt. Das Vertauschen von ‫ ת‬und ‫ ט‬könnte durch Diktat entstanden sein. Vgl. Beentjes, Reading, 109 und Tesch, Weisheitsunterricht, 56. 270 Anderer Übersetzungsvorschlag: „Am Tag der Bedrängnis wird sie dir zugutegehalten werden“. 271 Alternative Übersetzung: „um [so] deine Sünden wegzuschaffen, wie [es] Wärme mit dem Reif [tut]“.

86 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Wie bereits erwähnt, entbehrt das hebräische Ms. A der einleitenden Verse von Sir 3. Zur Analyse der zu untersuchenden Perikope bietet sich deshalb, als Ergänzung, die griechische Übersetzung des Enkels an, welche durch den aus dem 4. Jh. n. Chr.272 stammenden Codex Sinaiticus bezeugt ist. Der in dieser Majuskelhandschrift überlieferte Text der Elternperikope273 entspricht – abgesehen von kleinen Wortlautabweichungen – dem unten abgedruckten, der wiederum den Editionen von Rahlfs und von Ziegler (mit einigen Modifikationen) entnommen ist.274

(1a) (1b) (2a) (2b) (3) (4) (5a) (5b) (6a) (6b) (7a) (7b) (8a) (8b)

Griechische Version

Deutsche Übersetzung

ἐμοῦ τοῦ πατρὸς ἀκούσατε τέκνα καὶ οὕτως ποιήσατε ἵνα σωθῆτε ὁ γὰρ κύριος ἐδόξασεν πατέρα ἐπὶ τέκνοις καὶ κρίσιν μητρὸς ἐστερέωσεν ἐφ᾽ υἱοῖς

Hört mich, den Vater, ihr Kinder, und handelt so, damit ihr gerettet werdet. Denn der Herr hat den Vater über275 [seine] Kinder zu Ehren gebracht und das Recht der Mutter über276 [ihre] Söhne hat er befestigt. Wer [seinen] Vater ehrt, sühnt Sünden und wie derjenige, der [Schätze] sammelt, [ist], wer seine Mutter ehrt. Wer [seinen] Vater ehrt, wird sich über [seine] Kinder freuen und am Tag seines Gebetes wird er erhört werden. Wer [seinen] Vater ehrt, wird lange leben und wer dem Herrn gehorcht, wird seine Mutter ausruhen lassen. | Wer den Herrn fürchtet, wird [seinen] Vater ehren und wie Herren wird er sich denen unterwerfen, die ihn gezeugt haben. Ehre deinen Vater in Tat und Wort, damit Segen von ihm über dich kommt.

ὁ τιμῶν πατέρα ἐξιλάσκεται ἁμαρτίας καὶ ὡς ὁ ἀποθησαυρίζων ὁ δοξάζων μητέρα αὐτοῦ ὁ τιμῶν πατέρα εὐφρανθήσεται ὑπὸ τέκνων καὶ ἐν ἡμέρᾳ προσευχῆς αὐτοῦ εἰσακουσθήσεται ὁ δοξάζων πατέρα μακροημερεύσει καὶ ὁ εἰσακούων κυρίου ἀναπαύσει μητέρα αὐτοῦ | ὁ φοβούμενος κύριον τιμήσει πατέρα καὶ ὡς δεσπόταις δουλεύσει ἐν τοῖς γεννήσασιν αὐτόν ἐν ἔργῳ καὶ λόγῳ τίμα τὸν πατέρα σου ἵνα ἐπέλθῃ σοι εὐλογία παρ᾽ αὐτοῦ

272 Vgl. Fabry, Der Text, 56. 273 Sir 3,1–16 aus dem Codex Sinaiticus, Folio 161–161b, Schreiber A, kann unter: http://codexsinaiticus.org/de/manuscript.aspx?book=31&chapter=3&lid=de&side=r&verse=2&zoomSlider=0, abgerufen werden; zuletzt am 26.01.2019. 274 Vgl. Ziegler, Sirach, 136–139; Vattioni, Ecclesiastico, 14 und 16 sowie Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 381–382. 275 Vgl. LXX.D. Alternative Übersetzung: „bei [seinen] Kindern“ bzw. „wegen [seiner] Kinder“. Siehe die Argumentation im Text. 276 Vgl.  LXX.D. Ebenfalls mögliche Übersetzung: „bei [ihren] Söhnen“ bzw. „wegen [ihrer] Söhne“.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

(9a) (9b)

εὐλογία γὰρ πατρὸς στηρίζει οἴκους τέκνων κατάρα δὲ μητρὸς ἐκριζοῖ θεμέλια

(10a)

μὴ δοξάζου ἐν ἀτιμίᾳ πατρός σου

(10b)

οὐ γάρ ἐστίν σοι δόξα πατρὸς ἀτιμία

(11a)

ἡ γὰρ δόξα ἀνθρώπου ἐκ τιμῆς πατρὸς αὐτοῦ καὶ ὄνειδος τέκνοις μήτηρ ἐν ἀδοξίᾳ

(11b) (12a) (12b) (13a) (13b) (14a) (14b) (15a) (15b) (16a) (16b)

τέκνον ἀντιλαβοῦ ἐν γήρᾳ πατρός σου καὶ μὴ λυπήσῃς αὐτὸν ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ καὶ ἐὰv ἀπολείπῃ σύνεσιν συγγνώμην ἔχε καὶ μὴ ἀτιμάσῃς αὐτὸν ἐν πάσῃ ἰσχύι σου ἐλεημοσύνη γὰρ πατρὸς οὐκ ἐπιλησθήσεται καὶ ἀντὶ ἁμαρτιῶν προσανοικοδομηθήσεταί σοι ἐν ἡμέρᾳ θλίψεώς ἀναμνησθήσεταί σου ὡς εὐδία ἐπὶ παγετῷ οὕτως ἀναλυθήσονταί σου αἱ ἁμαρτίαι ὡς βλάσφημος ὁ ἐγκαταλιπὼν πατέρα καὶ κεκατηραμένος ὑπὸ κυρίου ὁ παροργίζων μητέρα αὐτοῦ

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Denn der Segen des Vaters befestigt die Häuser der Kinder, aber der Fluch der Mutter entwurzelt die Fundamente. Brüste dich nicht mit der Unehre deines Vaters, denn Unehre [deines] Vaters ist dir keine Ehre. Denn die Ehre eines Menschen [kommt] aus der Ehre seines Vaters, und Schmach für die Kinder [ist] eine Mutter in Unehre. Kind, stehe deinem Vater im Greisenalter bei und betrübe ihn nicht in seinem Leben. Und selbst wenn er den Verstand verliert, hab Nachsicht und verunehre ihn nicht in deiner ganzen Kraft. Denn die Barmherzigkeit gegenüber dem Vater wird nicht vergessen werden und anstatt der Sünden wird sie dir errichtet werden. Am Tag der Bedrängnis wird deiner gedacht werden, wie heiteres Wetter auf Reif [wirkt], so werden deine Sünden aufgelöst werden. Wie ein Lästerer [ist], wer [seinen] Vater verlässt, und vom Herrn verflucht [ist], wer seine Mutter erzürnt.

Ein auffälliger Unterschied zwischen den beiden griechischsprachigen Editionen besteht etwa darin, dass V. 1 bei Ziegler mit: ἐλεγμὸν πατρὸς ἀκούσατε, τέκνα „[Auf] die Zurechtweisung des Vaters hört, ihr Kinder!“277, angeleitet wird, während Rahlfs an dieser Stelle in Übereinstimmung mit dem Kodex ‫א‬: ἐμοῦ τοῦ πατρὸς ἀκούσατε τέκνα „Hört mich, den Vater, ihr Kinder!“278 liest. Außerdem können wegen der

277 Vgl. die Übersetzung nach Smend, Die Weisheit, 4 (deutsch): „Höret ihr Söhne das Recht des Vaters“, und nach Peters: „Auf das Recht des Vaters höret, Söhne“. Das Wort ἐλεγμός „Zurechtweisung“ kommt im griechischen Sirachbuch mehrmals vor (vgl. Sir 20,29; 21,6; 32,17; 41,4; 48,7.10). 278 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 70–71: „Auf mich, den Vater, hört, ihr Kinder“. So hat auch die kirchenslawische Fassung: Мене ѿц҃а послꙋша́ите ча́да „Hört mich, den Vater, ihr Kinder“. Turkonyak, Ostroher Bibel, 1055. Vgl. LXX.D: „Meinen Vater hört, Kinder“.

88 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Mehrdeutigkeit der Präposition ἐπί279 drei verschiedene Aspekte der Elternrechte in V. 2 betont werden. Entweder handelt es sich hier um eine hierarchische Beziehung zwischen Eltern und Kindern: „Denn der Herr hat den Vater über [seine] Kinder zu Ehren gebracht und das Recht der Mutter über [ihre] Söhne hat er befestigt“, oder um den Geltungsbereich elterlicher Rechte im Hauswesen: „Denn der Herr hat dem Vater Ehre verliehen bei den Kindern und den Rechtsanspruch der Mutter auf die Söhne gegründet“280, oder um den Grund der Elternehrung: „wegen der Kinder“, wofür die syntaktische Umgebung des Kausalsatzes spräche (vgl. die Partikel γὰρ / ‫„ ܓܝܪ‬denn“). Ein ähnliches Problem betrifft die entsprechende Präposition ‫ܥܠ‬281 in der Peschitta: „über die Söhne“ bzw. „wegen der Söhne“282 und die Präposition in 283 innerhalb der Vg: Deus enim honoravit patrem in filiis et iudicium matris exquirens in filios „Gott hat nämlich den Vater in seinen Kindern geehrt und auch das Urteil der Mutter gegenüber ihren Kindern erforscht“284. Eine weitere Besonderheit der textkritischen Edition Zieglers stellt die Hinzufügung von V. 7a in G II dar, worauf im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird. An zwei anderen Stellen entscheiden sich Rahlfs und Ziegler gemeinsam gegen den Wortlaut des Sinaiticus: In V. 10b ziehen sie aufgrund mehrerer (complures) Textzeugen den Ausdruck πατρὸς ἀτιμία „die Unehre [deines] Vaters“ der Formulierung προς ατιμειαν vor und in V. 12b haben sie: ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ „in ̈ ̈ ‫ܝܘܡܝ‬ seinem Leben“ (vgl. ‫ܚܝܝܟ‬ ‫ ܟܠ‬/ ‫„ כל ימי חייך‬alle Tage deines Lebens“) anstatt der Lesart von ‫א‬: ἐν πάσῃ ἰσχύι σου „in deiner ganzen Kraft“, was als Anpassung an den gleichlautenden Abschluss von V. 13b zu erklären wäre. Dazu gebraucht Ziegler in V. 13a – diesmal im Einklang mit ‫א‬, aber im Unterschied zu Rahlfs – die Formulierung καὶ ἐὰv anstatt der durch Vokalverschmelzung (Krasis) entstandenen Modalpartikel κἂν. Schließlich lässt er gemäß der ursprünglichen Lesart der Majuskel (S✶) in V. 15a das Possessivpronomen σου „dein“ aus, was den Formulierungen ‫„ ביום צרה‬am Tag der Bedrängnis“ in Ms. A und ‫„ ܒܝܘܡܐ ܕܥܩܬܐ‬am Tag der Not“ in der Peschitta näher entspricht, während Rahlfs: ἐν ἡμέρᾳ θλίψεώς σου „am Tag deiner Bedrängnis“ liest. 279 Die Präposition ἐπί kann bei der Verwendung mit Dativ neben der räumlichen („bei“) oder der kausalen Bedeutung („wegen“) auch zur Angabe der Vorsteherschaft („über“) oder zur Bezeichnung eines Zieles („gegen“) dienen. Vgl. Benseler / Kaegi, ἐπὶ, 304–305. 280 Marböck, Jesus Sirach, 70. 281 Die Präposition ‫ ܥܠ‬kann „wegen“, „über“ oder „gegen“ bedeuten. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܥܠ‬, 295. 282 Zapff / Rabo, Vorläufige Übersetzung der Sirachsynopse. 283 Die Präposition in ist mehrdeutig und kann beim Akkusativ i. S. v. „für“ (Ziel) bzw. „gegen, mit Rücksicht auf“ (Gesinnung oder Handlungsweise in Beziehung auf ein Objekt; freundlich oder feindlich) oder beim Ablativ i. S. v. „in“ (räumlich), „unter“ (Menge, zu der ein Ding gehört), oder „wegen“ (kausal oder konzessiv) gebraucht werden. Vgl. Menge / Güthling, in, 365–367. 284 Der Stelle Sir 3,2 entspricht in der Vg Sir 3,3.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 89

Bevor im folgenden Abschnitt ein Vergleich der angeführten Sprachvarianten von Sir 3,1–16 gemacht wird, soll noch kurz auf die Abweichungen innerhalb der Textüberlieferung in den syrischen Handschriften 7a1 und 7h3 eingegangen werden,285 die textkritisch relevant sein könnten. In Betracht kommt hier ledig̈ lich, dass in der Polyglotte von F. Vattioni – anders als in 7a1 – die Wörter ‫ܥܒܕܐ‬ ̈ „Werke“ in V. 8a, ‫ܢܐܬܝܢ‬ „sie werden kommen“ in V. 8b und ‫„ ܥܩ̈ܪܐ‬Wurzeln“ in V. 9b mit Pluralpunkten (Seyame) markiert sind und dass die Partikel ‫„ ܓܝܪ‬denn“ in V. 11a hinzugefügt wird. Ferner liest Vattioni in V. 15b ‫„ ܐܓܠܝܕܐ‬Eis, Frost“286 anstatt von ‫ܓܠܝܕܐ‬, aber es handelt sich dabei offensichtlich um ein und dasselbe Lexem. Syrische Version (1a)

̇ ‫ܐܠܒܗ‬ ̈ ̈ ‫ܘܥܒܕܘ‬ ‫ܫܡܥ ̣ܘ‬ ‫ܐ‬ ‫ܒܢܝܐ ܕܝܢ‬ ̣ ̣

(1b) (2a)

‫ܡܛܠ ܕܬܚܘܢ ̈ܚܝܐ ܕܠܥܠܡ ܥܠܡܝܢ‬ ̈ ‫ܡܪܝܐ ܓܝܪ ܫܒܚ ܐܠܒܐ ܥܠ‬ ‫ܒܢܝܐ‬

(2b)

̈ ‫ܘܕܝܢܐ ܕܐܡܐ ܥܠ‬ ̇ ‫ܝܠܕ‬ ‫ܝܗ ܫܪܪ‬ ̣ ̣

(3)

̈ ̇ ‫ܚܘܒܘܗܝ‬ ‫ܡܫܬܒܩܝܢ‬ ‫ܕܡܝܩܪ ܐܠܒܘܗܝ‬

(4) (5a)

̇ ̇ ‫ܘܣܐܡ ܣ ̣ܝ ̈ܡܬܐ ̇ܡܢ‬ ‫ܕܡܝܩܪ ܐܠܡܗ‬ ‫ܢܚܕܐ ܡܢ ܒܪܗ‬ ̣ ‫ܕܡܝܩܪ ܐܠܒܘܗܝ‬

(5b)

‫ܢܫܬܡܥ ܘܢܬܥܢܐ‬ ‫ܘܟܕ ̇ܡܨܐܠ‬ ̣

(6a)

̇ ̈ ‫ܕܡܝܩܪ ܐܠܒܘܗܝ ܢܣܓܘܢ‬ ‫ܝܘܡܬܗ‬

(6b)

̇ ‫ܐܠܗܐ‬ ‫ܚܘ ̣̈ܒܐܠ ̇ܛ ̈ܒܐ ܥܠ‬ ̣ ̣ ‫ܘܪܡܐ‬ ‫̇ܡܢ ܕܡܝܩܪ ܐܠܡܗ‬ ̇ ̈ ‫ܒܪܝ ̇ܒ‬ ‫ܘܒܡܠܬܐ ܝܩܪ ܐܠܒܘܟ‬ ‫ܥܒܕܐ‬ ̣ ̈ ‫ܕܢܐܬܝܢ ܥܠܝܟ ܟܘܠܗܝܢ ܒܘ̈ܪܟܬܗ‬ ‫ܡܛܠ‬ ‫ܕܐܒܐ ܬܩܝܡ ܡܕܝ̈ܪܐ‬ ‫ܒܘܪܟܬܐ‬ ̣

(8a) (8b) (9a)

Deutsche Übersetzung Ihr Söhne287, hört aber auf die Eltern und handelt [danach], damit ihr das ewige Leben habt.288 Denn der Herr hat den Vater über289 die Söhne gepriesen und das Recht der Mutter hat er über290 ihre Kinder bestätigt. Wer seinen Vater ehrt, dessen Schulden werden erlassen und Schätze legt an, wer seine Mutter ehrt. Wer seinen Vater ehrt, wird sich wegen seines Sohnes freuen und wenn er betet, wird er gehört und erhört werden. Wer seinen Vater ehrt, dessen Tage werden sich mehren und der erlegt Gott gute Belohnungen [für sich] auf,291 wer seine Mutter ehrt. Mein Sohn, ehre deinen Vater in Taten und im Wort, damit alle seine Segnungen über dich kommen. Der Segen des Vaters errichtet die Wohnungen,

285 Zum syrischen Text der zu untersuchenden Perikope vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 15 und 17 sowie Calduch-Benages, Text, 72 und 74–75. 286 Vgl. Smith / Smith, ‫ܐܓܠܝܕܐ‬, 3. ̈ bedeutet auch „Kinder“. Siehe das Synonym ‫ܝܠܕܐ‬ ̈ „Kinder“ in V. 2b. 287 Das Wort ‫ܒܢܝܐ‬ 288 Wörtlich: „damit ihr das Leben aller Ewigkeit lebt“ (etymologische Figur). 289 Alternative Übersetzung: „wegen der Söhne“. 290 Ebenfalls mögliche Übersetzung: „wegen ihrer Kinder“. 291 Anderer Übersetzungsvorschlag: „und zu guten Belohnungen nötigt Gott“.

90 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

(9b) (10a) (10b) (11a)

‫ܕܐܡܐ ܬܥܩܘܪ ܥܩ̈ܪܐ‬ ‫ܘܠܘܛܬܐ‬ ̣ ‫ܐܠ ܬܬܝܩܪ ̣ܒܨܥܪܗ ܕܐܒܘܟ‬ ̇ ‫ܡܛܠ ܕܐܠ ܗܘܐ ܐܝܩܪܐ‬ ‫ܗܘܐ ܠܟ‬ ‫ܐܝܩܪܗ ܓܝܪ ܕܓܒܪܐ ܐܝܩܪܗ ܗܘ ܕܐܒܘܗܝ‬

(11b)

̈ ‫̈ܪܘܪܒܐ ̇ܡܢ ܕܡܨܥܪ ܐܠܡܗ‬ ‫ܘܚܘܒܐ‬ ̣

(12a) (12b)

‫ܒܪܝ ܐܬܥܫܢ ܒܐܝܩܪܗ ܕܐܒܘܟ‬ ̈ ‫ܘܐܠ ܬܫܒܘܩ ܐܝܩܪܗ ܟܠ‬ ̈ ‫ܝܘܡܝ‬ ‫ܚܝܝܟ‬

(13a) (13b) (14a) (14b) (15a)

‫ܒܛܠ ܡܕܥܗ ܫܒܘܩ ܠܗ‬ ‫ܐܦܢ‬ ̣ ̈ ‫ܘܐܠ ̇ ̣ܬܒܗܬܝܘܗܝ ܟܠ‬ ̈ ‫ܝܘܡܝ‬ ‫ܚܝܘܗܝ‬ ̇ ‫ܕܐܒ ̣ܐ ܐܠ ܡܬܛܥܝܐ‬ ‫ܙܕܩܬܐ‬ ̈ ‫ܘܚܠܦ‬ ̇ ‫ܚܘܒܐ ܗ ̣ܝ ܡܬܢܨܒܐ‬ ‫ܕܥܩܬܐ ܗ ̣ܝ ܬܬܕܟܪ ܠܟ‬ ‫ܒܝܘܡܐ‬ ̣

(15b) (16a) (16b)

̈ ‫ܚܛܗܝܟ‬ ‫ܐܝܟ ܚܘܡܐ ܥܠ ܓܠܝܕܐ ܠܡܒܛܠܘ‬ ‫ܡܛܠ ܕܡܓܕܦ ̇ܡܢ ܕܫܐܛ ܐܠܒܘܗܝ‬ ‫ܒܪܝܗ ̇ܡܢ ܕܡܨܥܪ ܐܠܡܗ‬ ‫ܘܠܝܛ ܩܕܡ‬ ̣

und der Fluch der Mutter reißt die Wurzeln aus.292 Brüste dich nicht mit der Schmach deines Vaters, denn sie ist dir keine Ehre. Denn die Ehre eines Mannes [ist] die Ehre seines Vaters, und große Schulden [lädt auf sich], wer seine Mutter beschimpft. Mein Sohn, stärke dich in der Ehre deines Vaters und lass von seiner Ehre nicht ab alle Tage deines Lebens. Wenn auch sein Verstand anhält, verzeihe [es] ihm und beschäme ihn nicht alle Tage seines Lebens. Ein Almosen an den Vater wird nicht vergessen und anstatt der Schulden wird es293 eingepflanzt. Am Tag der Not wird seiner für dich gedacht werden, um wie Hitze auf Eis deine Sünden aufzuheben.294 Denn es lästert, wer seinen Vater verachtet und es flucht vor seinem Schöpfer, wer seine Mutter beschimpft.

3.2.2 Hermeneutik der Sprachversionen Genauso, wie bei den hebräischen Manuskripten A und C in Kap. 3.2.1, zeigt auch der Vergleich der einzelnen Sprachfassungen – trotz der so weitgehenden Übereinstimmung – einige Differenzen.295 So weicht die Peschitta-Version beim Numerus ̈ des Objekts von G I ab, indem sie statt πατήρ „Vater“ in V. 1a ‫ܐܒܗܐ‬ „die Eltern“296 liest und somit auch die Mutter als Weisheitslehrerin im Blick hat (in V. 5a ist der Numerus umgekehrt: ‫„ ܒܪܗ‬sein Sohn“ vs. τέκνα „Kinder“). Dafür werden die beiden Elternteile in G I in V. 7b berücksichtigt: καὶ ὡς δεσπόταις δουλεύσει ἐν

292 Wörtlich: „und der Fluch der Mutter entwurzelt die Wurzeln“ (etymologische Figur); ‫ܥܩܪ‬ „entwurzeln, ausreißen, ruinieren, zerstören“; ‫„ ܥܩܪܐ‬Wurzel“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܥܩܪ‬, ‫ܥܩܪܐ‬, 302 (aramäisch). 293 Das Substantiv ‫„ ܙܕܩܬܐ‬das Almosen“ ist im Syrischen feminin. 294 Alternative Übersetzung: „um [so] deine Sünden aufzuheben, wie [es] Wärme mit dem Eis [tut]“. 295 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 71–72. ̈ 296 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܐܒܗܐ‬, 1 (aramäisch) und Hanna / Bulut, Eltern, 105 (deutsch). Vom ̈ Substantiv ‫„ ܐܒܐ‬Vater“ werden im Syrischen zwei Pluralformen abgeleitet: ‫ܐܒܗܐ‬ „Eltern“ (mit ̈ Maskulinendung) sowie ‫ܐܒܗܬܐ‬ „Väter“ (mit Femininendung). Vgl. Thackston, Introduction, 24–25 und 193.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 91

τοῖς γεννήσασιν αὐτόν „und wie Herren wird er sich denen unterwerfen, die ihn gezeugt haben“.297 Auch der Zweck der weisheitlichen Unterweisung wird in V. 1b leicht anders ausgedrückt: Während G I allgemein vom „Retten“ (σῴζω) spricht, ̈ ab, was eventuell zielt Syr ausdrücklich auf das „ewige Leben“ (‫)ܚܝܐ ܕܠܥܠܡ ܥܠܡܝܢ‬ eine Interpretation des christlichen Übersetzers bzw. Bearbeiters sein könnte.298 Dagegen spräche allerdings, dass bereits Sir 2,9b in G I: εἰς εὐφροσύνην αἰῶνος καὶ ἔλεος „auf ewige Fröhlichkeit und Erbarmen“ , in die gleiche Richtung weist (vgl. ‫ܕܠܥܠܡ ܘܠܦܘܪܩܢܐ‬ ‫„ ܠܚܕܘܬܐ‬auf ewige Freude und Rettung“).299 Ferner versteht ݂ die Übersetzung des Enkels den ehrfürchtigen Umgang mit der Mutter in V. 6b als Zeichen bzw. Folge echter Frömmigkeit: καὶ ὁ εἰσακούων κυρίου ἀναπαύσει μητέρα αὐτοῦ „und wer dem Herrn gehorcht, wird seine Mutter ausruhen lassen“, während die Peschitta auf die Ehrung der Mutter als Ursache des Verdienstes veṙ „und der erlegt Gott gute Belohweist: ‫ܐܠܗܐ܂ ̇ܡܢ ܕܡܝܩܪ ܐܠܡܗ‬ ‫ܚܘ ̣̈ܒܐܠ ̇ܛ ̈ܒܐ ܥܠ‬ ̣ ̣ ‫ܘܪܡܐ‬ nungen [für sich] auf, wer seine Mutter ehrt“. Die oben angeführte Konstruktion mit ‫ܚܘ ̣̈ܒܐܠ ̇ܛ ̈ܒܐ‬ ̣ „gute Belohnungen“, die ̈ mit der Phrase ‫̈ܪܘܪܒܐ‬ ‫ܚܘܒܐ‬ „große Schulden“ in V. 11b korrespondiert (vgl. ‫חטא‬ ̣ „Sünde“ in Ms. A; anders in G I: ὄνειδος „Schmach“), wirft zugleich Licht auf die besondere Gottesvorstellung, die der Peschitta (und eventuell auch ihrer Vorlage) zugrunde liegt. Denn es handelt sich in V. 6b nicht um eine „gewöhnliche“ Erwerbung des Verdienstes, wie etwa in Sir 16,14 oder in V. 4: καὶ ὡς ὁ ἀποθησαυρίζων ὁ δοξάζων μητέρα αὐτοῦ „und wie derjenige, der [Schätze] sammelt, [ist], wer seine ̇ ̇ ‫ܘܣܐܡ ܣ ̣ܝ ̈ܡܬܐ ̇ܡܢ‬ Mutter ehrt“ / ‫ܕܡܝܩܪ ܐܠܡܗ‬ „und Schätze legt an, wer seine Mutter ehrt“. Weil das Verb ‫„ ܪܡܐ‬ausgießen, stellen, legen“300 in Verbindung mit ‫ܥܠ‬ „jemandem etwas (z. B. Bußgeld, Tribut) auferlegen“301 bedeutet, wird hier Gott vielmehr „genötigt“, um nicht zu sagen „verpflichtet“, die Wohltaten zu belohnen, die ein guter Sohn seiner Mutter erwiesen hat. Dies setzt gewisse anthropomorphe Züge Gottes voraus und erinnert somit an Sir 2,8b in Syr (vgl. Kap. 3.1.4), wo mit Hilfe einer vermutlichen Anspielung auf Lev 19,13 und Dtn 24,14–15 auf eine strenge Verpflichtung Gottes zu schließen ist, die Menschen für ihre guten 297 Auch die Vg liest in Sir 3,8: qui timet Deum honorat parentes et quasi dominis serviet in his qui se generaverunt „Wer Gott fürchtet, ehrt seine Eltern und wird gleichsam als Herren denen dienen, die ihn gezeugt haben“. Der Stelle Sir 3,8 in der Vg entspricht Sir 3,7 in der griechischen Version. 298 Vgl.  Owens, Christian Features, 178. Auch bei der Formulierung δόσις αἰωνία μετὰ χαρᾶς „ein ewiges Geschenk mit Freude“ in Sir 2,9c in G II könnte es sich um einen christlichen Zusatz über das postmortale Leben handeln. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 150. 299 Vgl. ‫עֹולם‬ ָ ‫ ִׂש ְמ ַחת‬/ εὐφροσύνη αἰώνιος / ‫„ ܚܕܘܬܐ ܠܥܠܡ‬ewige Freude“ (Die Heilige Bibel, 552 (AT)), in Bezug auf die künftige Herrlichkeit Jerusalems in Jes 61,7. 300 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܪܡܐ‬, 377 (aramäisch). 301 Vgl. Smith / Smith, ‫ܪܡܐ‬, 542.

92 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Taten zu beschenken. Weil Ms. A in V. 6b nur die Phrase: ‫„ מכבד אמו‬wer seine Mutter ehrt“, enthält, bleibt offen, ob die griechische oder eher die syrische Fassung die ursprünglichere Lesart bezeugt. Im letzteren Fall wäre im Rückschluss von der Vermeidung anthropomorpher Aussagen über Gott in G I auszugehen (vgl. Kap. 3.1.2). Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass nur die griechische Langfassung (G II) der zu untersuchenden Perikope den Zusatz mit der Gottesfurcht in V. 7a hat:302 ὁ φοβούμενος κύριον τιμήσει πατέρα „Wer den Herrn fürchtet, wird [seinen] Vater ehren“. Die daraus resultierende großartige Einbindung des Elterngebotes in die sirazidische Theologie der Gottesfurcht mag zwar überraschen, aber sie ordnet sich kompositionell so gut in den Textduktus ein, dass zwischen V. 6b und 7a sogar ein Parallelismus besteht.303 Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass eine solche Verzahnung von Elterngebot und Gottesfurcht noch einmal in Sir 7,27–31 in G I vorkommt, wo anhand des Parallelismus der Satzglieder ein innerer Zusammenhang zwischen der Vaterehrung: ἐν ὅλῃ καρδίᾳ σου δόξασον τὸν πατέρα σου „Mit deinem ganzen Herzen ehre deinen Vater“, und der Gottesfurcht: ἐν ὅλῃ ψυχῇ σου εὐλαβοῦ τὸν κύριον „Mit deiner ganzen Seele fürchte den Herrn“, klar zu erkennen ist. Während die Peschitta diesmal der griechischen Variante gleicht, erwähnt hier der hebräische Text die Eltern mit keinem Wort, da die Stelle Sir 7,27–28 in Ms. A II verso fehlt und unmittelbar an Sir 7,26: ‫„ אשה לך אל תתעבה ושנואה אל תאמן בה‬Hast du eine Frau, so verstoße sie nicht und schenk dein Vertrauen keiner Geschiedenen“304, die Passage Sir 7,29a anknüpft: ‫„ בכל לבך פחד אל‬Fürchte Gott von ganzem Herzen“305.306 Diese Beobachtung kann ein wenig Licht auf die Traditionsströme werfen, in welche die beiden antiken Übersetzungen hineingehören. Denn während die LXX die Hauptthemen des Buches, wie Gottesfurcht und Erziehung, miteinander tiefer zu verbinden weiß, erweckt die Peschitta den Eindruck, dass sie einmal dem hebräischen Ms. A (wegen des Fehlens von Sir 3,7) und ein andermal G I folgt (wegen der Erwähnung von Sir 7,27–28).307

302 Vgl. Kap. 3.2.1. 303 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 155. 304 Nach der EÜ 1980. 305 Nach der EÜ 1980. 306 Ms.  A II verso kann unter: https://www.bensira.org/navigator.php?Manuscript=A&PageNum=4, eingesehen werden (letzter Abruf am 24.01.2018). Dieser Textbefund bietet keine Grundlage für eine direkte Verbindung von Elterngebot und Gottesfurcht, wie es in G I und Syr der Fall ist. 307 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 39 und Calduch-Benages, Text, 93. Zu verschiedenen Erklärungen anhand von überlieferungsgeschichtlichen Modellen vgl. Kap. 1.4.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 93

Ein ähnliches Beispiel, stellt im Rahmen von Sir 3,1–16 die variierende Metaphorik der Sprachfassungen dar. So ersetzt etwa die griechische Version – auch wenn nicht vollständig308 – das in Ms. A gebrauchte Sinnbild der jungen Pflanze (vgl. ‫„ שרש‬Wurzel“ in V. 9a, ‫„ נתש‬entwurzeln“ und ‫„ נטע‬Pflanzung“ in V. 9b sowie ‫„ תנטע‬sie wird gepflanzt sein“ in V. 14b) durch die semantisch äquivalente309 Baubzw. Hausmetapher (vgl. οἶκοι „Häuser“ in V. 9a, θεμέλια „Fundamente“ in V. 9b und προσανοικοδομηθήσεταί „sie wird noch dazu erbaut, errichtet werden“310 in V. 14b).311 Dieser Wechsel, der auch in Sir 10,16 zu beobachten ist (vgl. θεμέλια in G I statt ‫ שרש‬in Ms. A), könnte etwa dem Umstand geschuldet sein, dass den Adressaten des Enkels in der ägyptischen Großstadt Alexandrien die Bilder aus dem bäuerlichen Leben im judäischen Heimatland nicht mehr geläufig waren (vgl. Kap. 1.4).312 Demgegenüber verwendet Syr in V. 9 die beiden Metaphern: ‫ܒܘܪܟܬܐ ܕܐܒܐ‬ ‫„ ܬܩܝܡ ܡܕܝ̈ܪܐ܇ ܘܠܘܛܬܐ ܕܐܡܐ ܬܥܩܘܪ ܥܩ̈ܪܐ‬Der Segen des Vaters errichtet die Wohnungen313, und der Fluch der Mutter reißt die Wurzeln aus“, wobei der Gebrauch des Substantivs ‫„ ܥܩ̈ܪܐ‬Wurzeln“314 anstelle von ‫„ ܫܪܫܐ‬Wurzel, Stamm“315 und seine Erwähnung erst in V. 9b (vgl. das Lexem ‫ שרש‬in V. 9a in der hebräischen Vorlage) vermutlich formale Gründe hat.316 Diese Beobachtung, dass im vorderen Versteil die Wortwahl der Peschitta im Einklang mit G I ist, aber nicht mit Ms. A, stellt eher eine Ausnahme dar.317 Denn meistens orientiert sich der Syrer ̈ ‫ܕܐܒ݀ܐ ܐܠ ܡܬܛܥܝܐ ܘܚܠܦ‬ ̇ am Hebräer, wie etwa in V. 14: ‫ܡܬܢܨܒܐ‬ ‫ܚܘܒܐ ܗ ̣ܝ‬ ̣ ݁ ‫„ ܙܕܩܬܐ‬Ein Almosen an den Vater wird nicht vergessen und anstatt der Schulden wird es ein-

308 Beispielsweise erinnert das Verb ἐκριζόω „entwurzeln“ in V. 9b noch an den bildhaften Ausdruck des Hebräischen. Umgekehrt weist aber auch das Verb ‫ יסד‬in Ms. A die bautechnische Bedeutung „gründen, das Fundament legen“ (vgl. König, ‫יָ ַסד‬, 152; Gesenius / Buhl, ‫יסד‬, 304 und Holladay / Köhler, ‫יָ ַסד‬, 136) und somit eine gewisse Verwandtschaft mit der Haussymbolik auf. Der Ausdruck ‫„ יסד בית‬das Fundament des Hauses zu legen“ kommt im MT sechsmal vor (vgl. 1 Kön 5,31; 6,37; 2 Chr 24,27; Esra 3,11; Sach 4,9; 8,9). 309 Vgl. den Parallelismus mit „bauen“ und „pflanzen“ in Jes 65,21–22. 310 Vgl. Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 279–280. 311 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 27; Sauer, Ben Sira, 340 und Marböck, Jesus Sirach, 72. 312 Vgl. Sauer, Ben Sira, 340. Zum weiteren Grund für diesen Wechsel vgl. Kap. 3.2.4. 313 Vgl. ‫„ ܡܕܝܪܐ‬Wohnung, Wohnhaus, Wohnstätte“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܡܕܝܪܐ‬, 175 (aramäisch). 314 Auch in Jes 11,1 übersetzt die Peschitta das hebräische Lexem ‫ ׁש ֶֹרׁש‬mit ‫( ܥܩܪܐ‬Die Heilige Bibel, 520 (AT)). 315 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܫܪܫܐ‬, 409 (aramäisch). 316 Es handelt sich hier um eine etymologische Figur ‫„ ܬܥܩܘܪ ܥܩ̈ܪܐ‬sie entwurzelt die Wurzeln“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܥܩܪ‬, ‫ܥܩܪܐ‬, 302 (aramäisch). Die gleiche Redefigur mit ‫ ܫܪܫܐ‬und ‫ ܫܪܫ‬hätte vielmehr die entgegengesetzte Bedeutung: „Wurzeln schlagen, fassen, gründen“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܫܪܫ‬, ‫ܫܪܫܐ‬, 599 und Hanna / Bulut, ‫ܫܪܫ‬, ‫ܫܪܫܐ‬, 409 (aramäisch). 317 Zu den weiteren Stellen, an denen die syrische und die griechische Variante gemeinsam gegen den hebräischen Text (Ms. B) zeugen, vgl. Reiterer, Urtext, 239.

94 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

gepflanzt318“ (vgl. Tab. 5). Dies ist auch in Sir 10,15–16 der Fall, wo er zusammen mit Ms. A nur von ‫ ܥܩܪܐ‬/ ‫„ שרש‬Wurzel“ spricht, während G I neben der Pflanzenmetapher (vgl. ῥίζαι „Wurzeln“ und φυτεύω „pflanzen“ in Kap. 3.3.6) auch die Hausmetapher enthält (vgl. θεμέλια „Fundamente“). Tab. 5: Die Verbreitung der Pflanzen- und Hausmetapher in den Sprachfassungen von Sir 3,1–16. Ms. A (9a)

‫שרש‬

(9b)

‫נטע‬

(14b)

‫תנטע‬

„Wurzel“ „Pflanzung“ „sie wird gepflanzt sein“

Syr

G I

‫ܡܕܝ̈ܪܐ‬

„Wohnungen“

οἶκοι

„Häuser“

‫ܥܩ̈ܪܐ‬

„Wurzeln“

θεμέλια

„Fundamente“

‫ܡܬܢܨܒܐ‬

„sie wird gepflanzt“

προσανοικοδομηθήσεταί

„sie wird noch dazu erbaut werden“

Die geschilderte Ähnlichkeit des Syrers mit G  I könnte ein Indiz dafür sein, dass er neben dem hebräischen Sirachtext, der vermutlich dem heutigen Ms. A glich,319 auch seine griechische Fassung kannte (vgl. Kap. 1.4 und 3.2.4). Denkbar wäre eventuell, dass der Syrer, der Grieche und der Hebräer dieselbe hebräische Vorlage hatten, die sich von den bis dato überlieferten hebräischen Handschriften unterschied, dann aber bei ihrer Wiedergabe aus bestimmten Gründen davon abwichen.320 Nicht auszuschließen ist allerdings auch, dass die besagten Abweichungen in den bereits modifizierten hebräischen Vorlagen vorhanden waren, von woher sie von den Übersetzern übernommen wurden (vgl. Kap. 1.4).321 Im Kontext dieser Analyse ist schließlich zu beachten, dass sich auch in V. 16b die hermeneutische Eigenart der einzelnen Sprachfassungen in Bezug auf das vermittelte Gottesbild niederschlagen kann. So „kränkt“ (‫ מכעיס‬322) nach Ms. A seinen Schöpfer derjenige, der seine Mutter verflucht.323 Diese starke Anthropomorphisierung der Beziehung zwischen Gott und Mensch wird jedoch von 318 Das Wort ‫ ܡܬܢܨܒܐ‬ist Part. Ethpeʿel (Pass. von Peʿal) von ‫„ ܢܨܒ‬einpflanzen, implantieren, befestigen, errichten“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܨܒ‬, 347 und Hanna / Bulut, ‫ܢܨܒ‬, 260 (aramäisch). 319 Für die Ursprünglichkeit von Ms. A spricht auch der Gebrauch der Pflanzenmetapher in Sir 3,28b (vgl. Kap. 3.3.5). An anderen Stellen scheint diese Handschrift aber die jüngere Textfassung (H II) zu bezeugen. Vgl. Reiterer, Urtext, 12. Zum Postulat der gemeinsamen Vorlage von Ms. A und Syr vgl. Kap. 1.4 und Reiterer, Zählsynopse, 67. 320 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 235–236. 321 Vgl. Reiterer, Urtext, 250–251. 322 Die Verbform ‫ מכעיס‬ist Part. Hifʿil von ‫ כעס‬und bedeutet „der, der erzürnt, verdrießlich macht“ i. S. v. „der, der Gott durch Sünden kränkt und reizt“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫כעס‬, 357 und Dalman, ‫ּכ ַעס‬, ְָ 204. 323 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 28.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 95

den anderen Textzeugen nicht unterstützt. In Syr „flucht“ zwar ein unehrenhafter Sohn vor seinem Schöpfer, was aber noch lange nicht bedeutet, dass er ihn dadurch zum „Erzürnen“ zu nötigen vermag: ‫ܒܪܝܗ ̇ܡܢ ܕܡܨܥܪ ܐܠܡܗ‬ ‫„ ܘܠܝܛ ܩܕܡ‬und ̣ es flucht vor seinem Schöpfer, wer seine Mutter beschimpft“. Eine andere Lösung verfolgt etwa Ms. C, wo sich mit dem Wechsel von Subjekt und Objekt zugleich ein Perspektivenwechsel vollzieht, nach welchem derjenige, der „seine Mutter zerrt“, selber von Gott zur Verantwortung gezogen wird. Dabei ist der Ausdruck ‫וזועם אל‬ doppeldeutig324 und heißt entweder: „und Gott zürnt [ihm]“325 oder: „und Gott verflucht [ihn]“326. Auch der Enkel Sirachs verwendet an dieser Stelle die Formulierung: κεκατηραμένος ὑπὸ κυρίου „vom Herrn verflucht“327 in Bezug auf den Sohn, der seine Mutter zum Zorn reizt (ὁ παροργίζων μητέρα αὐτοῦ), was seinem Anliegen entspricht, anthropomorphe Aussagen über Gott zu vermeiden.

3.2.3 Kontextualisierung und Gliederung Neben den genannten lexikalen Divergenzen ist auch auf den thematisch-kompositionellen Zusammenhalt von Sir 3,1–16 in den einzelnen Sprachfassungen zu achten. So lässt die gehäufte Erwähnung des Vaters (siebenmal in Ms. A, 13mal in G I, 14mal in G II und elfmal in Syr) und der Mutter (viermal in Ms. A, sechsmal in G I, G II und Syr, dazu werden die Eltern in G I und Syr jeweils einmal genannt) diese Perikope als einen in sich konsistenten Text über die pflichtgemäße328 Ehrung der Eltern erkennen. Während die typischen weisheitlichen Anreden an die Schüler: ̈ (mit dem Aufruf zum Hören) in V. 1 und ‫ בני‬/ τέκνον / ‫ ܒܪܝ‬in V. 17329 einer τέκνα / ‫ܒܢܝܐ‬ klaren Abgrenzung nach vorne und nach hinten dienen, wird der Text durch einige Stichwörter mit den umliegenden Perikopen verknüpft (vgl. ἐν καιρῷ θλίψεως „zum Zeitpunkt der Bedrängnis“ / ‫„ ܒܟܠ ܥܕܢ ܕܥܩܬܐ‬in jeder Zeit der Not“ in Sir 2,11b und ἐν ἡμέρᾳ θλίψεώς „am Tag der Bedrängnis“ / ‫„ ܒܝܘܡܐ ܕܥܩܬܐ‬am Tag der Not“ in Sir 3,15a; εἰσακούω „erhören“ / ‫„ ܫܡܥ‬hören“ in Sir 3,5b und 4,6b; ‫„ ְצ ָד ָקה‬Wohltat, Barmherzigkeit, Almosen“ / ἐλεημοσύνη „Barmherzigkeit“ / ‫„ ܙܕܩܬܐ‬Almosen, Spende“ in Sir 3,14a und 3,30b; παροργίζω „erzürnen“ in Sir 3,16b und 4,2.3; λυπέω

324 Das Wort ‫ זועם‬ist Part. von ‫„ זעם‬zürnen“ bzw. „verfluchen, verwünschen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫זעם‬, 203. 325 Vgl. Mal 1,4: ‫ד־עֹולם‬ ָ ‫„ וְ ָה ָעם ֲא ֶׁשר־זָ ַעם יְ הוָ ה ַע‬das Volk, dem der Herr ewig zürnt“ (nach der EÜ 1980). 326 Tesch, Weisheitsunterricht, 81. 327 Das Wort κεκατηραμένος ist Part. von καταράομαι „verfluchen“. Vgl.  Benseler  / Kaegi, καταράομαι, 469. 328 Vgl. Strotmann, Das Buch Jesus Sirach, 431. 329 Vgl. Kap. 3.3.1 und Tesch, Weisheitsunterricht, 46.

96 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

„betrüben“ in Sir 3,12b und 4,2a).330 Es besteht ferner eine große inhaltliche Nähe zu Sir 7,27–28, wo in G I und Syr eine kurze Auslegung des Elterngebotes dargeboten wird (vgl. Kap. 3.2.2). Nicht zuletzt wird die zu untersuchende Textgröße durch ihre zentrale Thematik der Elternehrung „als erste unmittelbare Konkretisierung der Gottesfurcht“331 in den Makrokontext des sirazidischen Werkes eingebettet, was durch die Formulierung ὁ φοβούμενος κύριον „wer den Herrn fürchtet“ in Sir 3,7a in G II noch ausdrücklicher zutage tritt (vgl. φόβος κυρίου „Furcht des Herrn“ in Sir 1,27.28.30 / ‫„ ܕܚܠܬܗ ܕܡܪܝܐ‬Furcht des Herrn“ in Sir 1,28 und ‫„ ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬Gottesfurcht“ in Sir 1,30 und 2,1; φόβος αὐτοῦ „seine [scil. des Herrn] Furcht“ in Sir 2,10c; ̈ οἱ φοβούμενοι κύριον „die den Herrn fürchten“ in Sir 2,7a.8a.9a.15a.16a.17a / ‫ܕܚܠܘܗܝ‬ ‫ܕܡܪܝܐ‬ „die den Herrn fürchten“ in Sir 2,7a.8a.9a.15a.16a und ‫„ ܕܕܚܠ ܐܠܠܗܐ‬wer Gott ݂ fürchtet“ in Sir 2,17a.19a in Kap. 3.1.3). Tab. 6: Die Gliederung von Sir 3,1–16 mit den Anreden und einer Ringkomposition in G I. Strophe

Verse

Form und Inhalt

I

1a

̈ Anrede im Plur. (τέκνα / ‫)ܒܢܝܐ‬

1ab

Instruktion im Plur.

II

Gottbezogene Begründung (γὰρ / ‫ )ܓܝܪ‬der Elternrechte

3

Sündentilgung

4

Verdienstlichkeit der Elternehrung Vergleich mit Schätzesammeln

5a–6a

Verheißungen

5a

Kindersegen

5b

GEBETSERHÖRUNG

6a

Langes Leben

6b

Gottesbezug bei Mutterehrung

(7ab)

G I: Elternehrung und G II: Gottesfurcht

8a

Ms. A und Syr: Anrede im Sing. (‫ בני‬/ ‫)ܒܪܝ‬

Nur G I: Ringkomposition

Motivation (ἵνα / ‫)ܡܛܠ‬: Rettung / ewiges Leben 2ab

Instruktion im Sing.: Elterngebot 8b

Motivation: väterlicher Segen

9ab

Segen und Fluch mit der Pflanzen- bzw. Hausmetapher Nur G I: Begründung (γὰρ)

10a

Instruktion (Verbot) im Sing.

10b–11b

Begründung (‫ כי‬/ γάρ, γὰρ / ‫ ܓܝܪ‬,‫)ܡܛܠ‬: Ehre vs. Schmach

330 Zu den griechischen Stichwörtern vgl. Marböck, Jesus Sirach, 72–73 und Smend, Griechischsyrisch-hebräischer Index, passim (mit den syrischen Entsprechungen). 331 Marböck, Jesus Sirach, 73. Vgl.  auch Corley, Respect, 139: „It is noteworthy that within his book Ben Sira deals with honoring parents (3:1–16) soon after his passage on fearing God (1:11–30)“.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 97

Tab. 6 (fortgesetzt) Strophe III

Verse

Form und Inhalt

12a

Anrede im Sing. (‫ בני‬/ τέκνον / ‫)ܒܪܝ‬

12a–13b

Instruktionen im Sing.: Elternehrung im Alter

14a–15b

Verdienstlichkeit der Elternehrung Verheißung der Hilfe und der Sündentilgung Nur G I: als Begründung (γὰρ)

16ab

Lehrabschluss: Vergleich zwischen der (Gottes)lästerung und dem alternativen Weg des frevlerischen Sohnes Nur Syr: als Begründung (‫)ܡܛܠ‬

Werden nur das bruchstückhaft erhaltene hebräische Ms. A und der syrische Sirachtext berücksichtigt, kann die Perikope in drei Strophen V. 1a–6b, 8a–11b und 12a–16b unterteilt werden,332 wobei jede Strophe konsequent mit der ̈ „meine Söhne“ (V. 1a) bzw. ‫ בני‬/ ‫„ ܒܪܝ‬mein Sohn“ (V. 8a und 12a) Anrede ‫ܒܢܝܐ‬ beginnt und mit dem Stichwort ‫ אמו‬/ ‫„ ܐܡܗ‬seine Mutter“ endet. Dieser dreistrophigen Gliederung entspricht auch die inhaltliche Bestimmung der einzelnen Teile, denn die erste Strophe widmet sich der Ehrung als grundsätzlicher Einstellung der Kinder zu ihren Eltern, die zweite operiert mit Segen und Fluch für die Kinder als Lohn für ihr Verhalten gegenüber den Eltern und die dritte thematisiert schließlich die gebührenden Wohltaten gegenüber den senilen Eltern sowie die Konsequenzen ihrer Ausübung oder Unterlassung durch die Kinder.333 Im Vergleich dazu zeigt der griechische Text eine leicht abweichende Struktur. Denn durch eine zusätzliche Gottesfurchtstelle in V. 7a in G II und das Fehlen des zweiten Aufmerksamkeitsrufs in V. 8a,334 der ein wichtiges Gliederungselement im hebräischen und im syrischen Text bildet,335 wird in V. 1a–8b eine Ringkomposition mit doppelter Rahmung sichtbar. Dabei besteht der äußere Rahmen aus zwei Instruktions-Motivations-Sequenzen in V. 1b und 8ab, der innere aus

332 Skehan und Di Lella schlagen drei gleichlange Strophen mit jeweils fünf Bikola vor, wobei die erste Zäsur zwischen V.  6b und 7a verläuft. Vgl.  Skehan  / Di Lella, The Wisdom, 153–154. Vgl. auch Marböck, Jesus Sirach, 73 und Tesch, Weisheitsunterricht, 80–82. Hier wird allerdings für die zweite Zäsur zwischen V. 13 und 14 plädiert. 333 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 82–84. 334 Die Anrede in V.  8a ist vermutlich durch den Enkel weggelassen. Aber auch das Gegenteil ist nicht auszuschließen. Denn es könnte sich genauso gut um die Hinzufügung der besagten Anrede in der Vorstufe von Ms. A handeln, die möglicherweise als Vorlage von Syr diente (vgl. Kap. 1.4). 335 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 73.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

den Sätzen mit Gottesbezug in V. 2ab und 6b–7a (vgl. Tab. 6). Dazwischen werden die Sündentilgung in V. 3, der Vergleich der Elternehrung mit Schätzesammeln in V. 4, welcher die Verdienstlichkeit des guten Handelns illustriert, und eine dreifache Verheißung in V. 5a–6a erwähnt. Die letztere konkretisiert sich wiederum in Kindersegen in V. 5a, Gebetserhörung in V. 5b und langem Leben in V. 6a. Hierzu fällt auf, dass am Ende der Perikope eine ähnliche Sequenz wiederkehrt, welche den verdienstlichen Charakter der Elternehrung mit der Verheißung der Hilfe und der Sündentilgung in V. 14a–15b sowie den Gottesbezug in V. 16ab enthält.336 Auch wenn in der Schlussmahnung in V. 16a Gott nicht ausdrücklich als Objekt der Lästerung genannt wird, handelt es sich hier aufgrund des Parallelismus mit V. 16b und der überwiegend religiösen Prägung von ‫ גדף‬/ ‫„ ܓܕܦ‬lästern“ (vgl. Sir 48,18d)337 höchstwahrscheinlich um eine Gotteslästerung.

3.2.4 Intertextualität Sowohl die oben erwähnte kompositionelle Anordnung der Themen wie Elternehrung, Sündenvergebung und Gebetserhörung, als auch die intertextuellen Bezüge, auf die im Folgenden eingegangen wird, bezeugen die anfangs erwähnte schriftgelehrte Arbeitsweise des Hagiographen (vgl. Kap. 1.2). Dabei sei darauf verwiesen, dass er in seinem Werk die ältere Weisheit Israels mit der Tora verbindet. Denn zum einen erinnert der Nominalsatz in V. 11a: ‫כבוד איש כבוד אביו‬ „Die Ehre eines Menschen [ist] die Ehre seines Vaters“ / ἡ γὰρ δόξα ἀνθρώπου ἐκ τιμῆς πατρὸς αὐτοῦ „Denn die Ehre eines Menschen [kommt] aus der Ehre seines Vaters“ / ‫„ ܐܝܩܪܗ ܓܝܪ ܕܓܒܪܐ ܐܝܩܪܗ ܗܘ ܕܐܒܘܗܝ‬Denn die Ehre eines Mannes [ist] die Ehre seines Vaters“, an Spr 17,6: ‫בֹותם‬ ָ ‫„ וְ ִת ְפ ֶא ֶרת ָּבנִ ים ֲא‬und der Kinder Schmuck [sind] ihre Väter“ / καύχημα δὲ τέκνων πατέρες αὐτῶν „Ruhm der Kinder [sind] ̈ ‫„ ܘܬܫܒܘܚܬܐ‬und der Lobpreis der Söhne [sind] ihre ̈ ‫ܕܒܢܝܐ‬ ihre Väter“ / ‫ܐܒܗܝܗܘܢ‬ Eltern338“ (vgl. auch V. 12 vs. Spr 23,22 und V. 16 vs. Spr 15,20; 20,20).339 Zum anderen liegt auf der Hand, dass es sich bei der vorangehenden Instruktion in ̇ „Ehre deinen Vater!“, um eine V. 8a: ‫ כבד אביך‬/ τίμα τὸν πατέρα σου / ‫ܝܩܪ ܐܠܒܘܟ‬ Relecture des dekalogischen Elterngebotes handelt. Dasselbe betrifft die Erwäh-

336 Vgl. Marböck, Jesus Sirach und Tesch, Weisheitsunterricht, 83. 337 In den protokanonischen Büchern des AT kommt das Verb ‫ גדף‬siebenmal vor, wobei es in Num 15,30; 2 Kön 19,6.22; Jes 37,6.23 und Ez 20,27 Gott als Objekt hat. Lediglich in Ps 44,17 wird ein Mensch gelästert. ̈ 338 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܐܒܗܐ‬, 1 (aramäisch). 339 Vgl. Wischmeyer, Die Kultur, 200 und Corley, Respect, 143.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

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nung von ‫ ָּכבֹוד‬/ δόξα / ‫„ ܐܝܩܪܐ‬Ehre, Ruhm“ in V. 11a340 und die Verheißung in V. 6a: ὁ δοξάζων πατέρα μακροημερεύσει „Wer [seinen] Vater ehrt, wird lange ̇ „Wer seinen Vater ehrt, dessen Tage werden ̈ leben“ / ‫ܝܘܡܬܗ‬ ‫ܕܡܝܩܪ ܐܠܒܘܗܝ ܢܣܓܘܢ‬ sich mehren“ (vgl. Ex 20,12: ‫ֹלהיָך נ ֵֹתן ָלְך‬ ֶ ‫יָמיָך ַעל ָה ֲא ָד ָמה ֲא ֶׁשר־יְ הוָ ה ֱא‬ ֶ ‫ת־א ֶּמָך ְל ַמ ַען יַ ֲא ִרכּון‬ ִ ‫ת־א ִביָך וְ ֶא‬ ָ ‫„ ַּכ ֵּבד ֶא‬Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lange währen in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt“ / τίμα τὸν πατέρα σου καὶ τὴν μητέρα ἵνα εὖ σοι γένηται καὶ ἵνα μακροχρόνιος γένῃ ἐπὶ τῆς γῆς τῆς ἀγαθῆς ἧς κύριος ὁ θεός σου δίδωσίν σοι „Ehre deinen Vater und die Mutter, damit es dir gut geht und damit du lange lebst auf dem guten Land, das der Herr, ܿ ‫ܝܘܡܝܟ ܒܐܪܥܐ܇ ܕܡܪܝܐ ܐܠܗܟ‬ ̈ dein Gott, dir gibt“ / ‫ܝܗܒ ܠܟ‬ ‫ܘܐܠܡܟ ܕ ܼܢܣܓܘܢ‬ ‫ ܝܩܪ ܐܠܒܘܟ‬341 „Ehre ܼ deinen Vater und deine Mutter, damit sich deine Tage mehren in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt“; vgl. auch Dtn 5,16).342

Als Wiederaufarbeitung der partizipialen Todesrechtssätze in Lev 24,16: „Und wer den Namen des HERRN lästert, muß getötet werden“, und Ex 21,15.17: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, muß getötet werden. […] Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, muß getötet werden“, sind möglicherweise auch die Partizipialkonstruktionen in V. 16 zu verstehen.343 Der dadurch erreichte Vergleich zwischen einem schweren Verstoß gegen die Elternehrung einerseits und einer (todeswürdigen) Gotteslästerung andererseits könnte der Abschreckung für frevlerische Kinder und einer noch eifrigeren Erfüllung des Elterngebotes dienen. Das hier zu untersuchende Prinzip der Intertextualität kann ferner helfen, die bereits genannte Verbindung von Vaterehrung und Gottesfurcht in V. 7a in G II, durch welche die Erfüllung des Elterngebotes explizit zur ersten Konkretisierung der Gottesfurcht wird:344 „Wer den Herrn fürchtet, wird [seinen] Vater ehren“, im Sinne der Produktionsästhetik zu erklären. Denn es handelt sich dabei vermutlich um die zwei parallel gestalteten Forderungen des Gesetzes, die aufgegriffen und zu einer neuen Aussage verarbeitet wurden: Dtn  5,16 („Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie der HERR, dein Gott, es dir geboten hat, damit deine Tage lange währen und damit es dir gutgeht in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!“) und Dtn  6,2–3 („[D]amit du den HERRN, deinen Gott, fürchtest alle

340 Vgl. Corley, An Intertextual Study, 169. ̈ „deine Tage“ findet sich noch die textkritische 341 Koster, Exodus, 163–164. Anstatt von ‫ܝܘܡܝܟ‬ ̈ „dein Leben“. Variante ‫ܚܝܝܟ‬ 342 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 155; Sauer, Ben Sira, 340 und Corley, Respect, 143. 343 Auch in Mk 7,10 wird das Elterngebot mit den genannten Todesrechtssätzen verknüpft: „Denn Mose hat gesagt: ‚Ehre deinen Vater und deine Mutter!’ und: ‚Wer Vater oder Mutter flucht, soll des Todes sterben’“. 344 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 73.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Tage deines Lebens, um alle seine Ordnungen und seine Gebote zu bewahren, die ich dir gebiete – du und dein Sohn und deines Sohnes Sohn –, und damit deine Tage lange währen. Höre nun, Israel, und achte darauf, sie zu tun, damit es dir gutgeht und ihr sehr zahlreich werdet – wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat – in einem Land, das von Milch und Honig überfließt!“).

Als Indiz dafür, dass ebendiese Deuteronomiumstellen im Frühjudentum zusammen gelesen und gedacht werden konnten, dient der hebräische Papyrus Nash (Camb. Univ. Libr. Ms. or. 233) aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr.,345 in dem sich der Dekalog in einer Mischform von Ex 20,2–17 und Dtn 5,6–21 mit dem Anfang von ‫( ְׁש ַמע יִ ְׂש ָר ֵאל‬Šǝmaʿ Yiśraʾel) aus Dtn 6,4–5 nahtlos verbindet.346 Dazu entspricht die in Dtn 6,3 erwähnte göttliche Verheißung über die Mehrung des Volkes dem Kindersegen in V. 5a für diejenigen, welche das Elterngebot befolgen, was die hier vorgeschlagene schriftgelehrte Abhängigkeit zu bestätigen scheint. Der Vollständigkeit halber sei dazu angemerkt, dass auf einen ähnlichen Zusammenhang zwischen der inhaltsgleichen Passage Sir 7,27–28 (vgl. Kap. 3.2.2) und dem Šǝmaʿ bereits J. Corley verwiesen hat.347 Die Elternperikope Sir 3,1–16 enthält außerdem mehrere (potenzielle) Anspielungen auf die biblische Heilsgeschichte. Als Bezugstext kommt zunächst Gen 9,18–29 in Betracht,348 weil der Patriarch Noach dem frühjüdischen Jubiläenbuch349 zufolge seine Kinder lehrte, „Vater und Mutter zu ehren“350 (Jub 7,20). Demnach kann die Erzählung über seinen Fluch und Segen einen wichtigen Beitrag zur Interpretation und Verplausibilisierung des Elterngebotes leisten. Diesem Auslegungsschlüssel folgend, wird der Adressat des Sirachbuches anhand des folgenschweren unehrenhaften Verhaltens Chams davor gewarnt, sich mit der Schande seines (senilen) Vaters zu rühmen, indem er sich z. B. über ihn lustig macht.351 Dies ist vor allem den eindringlichen Mahnungen in V. 10ab: „Brüste dich nicht mit der Schmach deines Vaters, denn sie [ist] dir keine Ehre“, und V. 13ab: „Selbst wenn sein Verstand abnimmt, hab Nachsicht mit ihm und beschäme ihn nicht alle Tage seines Lebens“, zu entnehmen. Ob der in V. 13a erwähnte Vernunftverlust des Vaters infolge des Alterungsprozesses (V. 12a) oder des maßlosen 345 W. Albright datiert den Papyrus Nash in die makkabäische Zeit, genauer gesagt in die zweite Hälfte des 2. Jh. v. Chr. Vgl. Albright, A Biblical Fragment, 149 und 172. 346 Vgl. Peters, Die älteste Abschrift, 10 und 14 sowie ders., Der Papyrus Nash, 53. 347 Vgl. Corley, Respect, 167: „Thus, Ben Sira seems to suggest that fulfilling the Shema implies honoring parents“. 348 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 156. 349 Vgl. VanderKam, Introduction, IX. 350 Littmann, Das Buch der Jubiläen, 53. Die Stelle 7,20 ist nur in altäthiopischen Handschriften (auf Ge’ez) erhalten. Vgl. VanderKam, The Book of Jubilees, 45–46 und 265. 351 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 82.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

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Weingenusses (vgl. Gen 9,21) zustande kommt, bleibt zweitrangig. Viel bedeutsamer ist der moralische Ertrag des Verhaltens des Sohnes, den Sirach durch den Satz in V. 9ab auf den Punkt bringt: „Der Segen (‫ ְּב ָר ָכה‬/ εὐλογία / ‫ )ܒܘܪܟܬܐ‬des Vaters gründet die Wurzel und der Fluch (‫ ְק ָל ָלה‬/ κατάρα / ‫ )ܠܘܛܬܐ‬der Mutter reißt die Pflanzung aus“, und der auch in den Worten Noachs an seine Nachkommen in Gen 9,25: ‫ ָארּור ְּכנָ ַען‬/ ἐπικατάρατος Χανααν / ‫„ ܠܝܛ ܟܢܥܢ‬Verflucht sei Kanaan“ und Gen 9,26: ‫ֹלהי ֵׁשם‬ ֵ ‫ ָּברּוְך יְ הֹוָ ה ֱא‬/ εὐλογητὸς κύριος ὁ θεὸς τοῦ Σημ / ‫ܒܪܝܟ ܡܪܝܐ ܐܠܗܗ‬ ‫ ܕܫܝܡ‬352 „Gepriesen sei der HERR, der Gott Sems“, anklingt (vgl. Jub 7,10–12).353 Aufgrund dieser Beobachtungen stellt sich deshalb die Frage, ob die Verheißung der Erhörung in V. 5b in G I und Syr, die für die Gebetslehre in Sir 3,1–16 von zentraler Bedeutung ist (vgl. Kap. 3.2.7), genauso die Frucht der Schriftgelehrsamkeit Sirachs sein könnte. Dabei soll daran erinnert werden, dass ein allgemeiner Zusammenhang zwischen dem Lebenswandel und der Effektivität des Gebets bereits in der älteren Weisheitsliteratur bekannt ist,354 sodass als wirklich innovativ allein die vom Autor pointierte, konkrete Abhängigkeit der Gebetserhörung von der Erfüllung des Elterngebotes bezeichnet werden kann. Als Beispiel für diesen Zusammenhang diene der sittsame Lebenswandel Samuels, der im Rahmen des Väterlobes namentlich erwähnt wird. Denn zum einen nimmt der Autor in Sir 46,16–18 Bezug auf eine Episode aus 1 Sam 7,7–10, als die von Philistern bedrängten Israeliten ihren letzten Richter ums Gebet baten und er schließlich von Gott erhört wurde (vgl. Exkurs 8). Zum anderen kann seine Kindheitsgeschichte in 1 Sam 2–3, deren Echo noch in Sir 46,13 nachhallt, die zwei entgegengesetzten Lebenswege der Kinder in der zu untersuchenden Elternperikope in V. 9ab, 11ab und 16ab anschaulich illustrieren. Hier ist einerseits der Ungehorsam der leiblichen Söhne Elis in 1 Sam 2,25 zu beachten: ‫יהם‬ ֶ ‫ וְ לֹא יִ ְׁש ְמעּו ְלקֹול ֲא ִב‬/ καὶ οὐκ ἤκουον τῆς φωνῆς τοῦ πατρὸς αὐτῶν / ‫ ܘܐܠ ܫܡܥܘ ܠܩܐܠ ܕܐܒܘܗܘܢ‬355 „Und sie hörten nicht auf die Stimme ihres Vaters“, dem in V. 1a entgegensetzt wird: ἐμοῦ ̇ ‫ܐܠܒܗ‬ ̈ ̈ τοῦ πατρὸς ἀκούσατε τέκνα „Hört mich, den Vater, ihr Kinder!“ / ‫ܐ‬ ‫ܒܢܝܐ ܕܝܢ‬ ‫ܘܥܒܕܘ‬ ‫ܫܡܥ ̣ܘ‬ „Ihr Söhne, hört aber auf die Eltern und handelt [danach]!“ Andereṛ ̣ seits ist an die vorbildliche Fügsamkeit Samuels in 1 Sam 3,4–8 gegenüber Eli zu denken, dessen Schützling er war (vgl. 1 Sam 2,11 und 3,16: ‫מּואל‬ ֵ ‫ת־ׁש‬ ְ ‫וַ ּיִ ְק ָרא ֵע ִלי ֶא‬ ‫אמר ִהּנֵ נִ י‬ ֶ ֹ ‫מּואל ְּבנִ י וַ ּי‬ ֵ ‫אמר ְׁש‬ ֶ ֹ ‫„ וַ ּי‬Da rief Eli Samuel und sagte: Samuel, mein Sohn! Er antwortete: Hier bin ich!“). 352 Jansma / Peshiṭta Institute, Genesis, 17. 353 Vgl. Littmann, Das Buch der Jubiläen, 53. Die Stelle 7,10–12 ist nur in altäthiopischen Handschriften (auf Ge’ez) erhalten. Vgl. VanderKam, The Book of Jubilees, 44 und 265. 354 Wie etwa in Spr 15,29: „Fern ist der HERR von den Gottlosen, aber das Gebet der Gerechten hört er“. Vgl. auch Spr 1,28–29; 21,13 und Ps 34,16.18. 355 de Boer, Samuel, 6.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Dazu korrespondiert die Hausmetapher in der Verheißung an den jungen Protagonisten in 1 Sam 2,35: ‫יתי לֹו ַּביִ ת נֶ ֱא ָמן‬ ִ ִ‫ּובנ‬ ָ / καὶ οἰκοδομήσω αὐτῷ οἶκον πιστόν / ‫„ ܘܐܒܢܐ ܠܗ ܒܝܬܐ ܡܗܝܡܢܐ‬Und ich werde ihm ein beständiges Haus bauen“, mit den Stichwörtern οἶκοι „Häuser“ in V. 9a und προσανοικοδομηθήσεταί „sie wird noch dazu erbaut, errichtet werden“ in V. 14b in G I sowie ‫„ ܡܕܝ̈ܪܐ‬Wohnungen“ in V. 9a in Syr (vgl. Tab. 5). Auch der angekündigte Untergang des „Hauses“ (d. h. der Nachkommen) Elis in 1 Sam 2,31–32 ruft Assoziationen mit der Entwurzelung der Fundamente in V. 9b in der griechischen Sirachfassung hervor. Dieser kurze Vergleich zeigt bereits, dass die Verstärkung des Schriftbezugs zum Samuelbuch einer der möglichen Gründe für den bereits erwähnten Wechsel von der Pflanzenzur Hausmetapher beim Enkel des Spruchdichters und dem (vermutlich) von ihm abhängigen Syrer sein könnte (vgl. die Diskussion in Kap. 3.2.2). Dabei erweist sich die Elternehrung, die sich in den beiden Texten zugunsten von Familie und Haushalt auswirkt, als wichtige Konkretion der Weisheit (vgl. Spr 24,3: ‫ְּב ָח ְכ ָמה ָיִּבנֶ ה‬ ‫ ָּביִ ת‬/ μετὰ σοφίας οἰκοδομεῖται οἶκος / ‫ ܒܚܟܡܬܐ ܡܬܒܢܐ ܒܝܬܐ‬356 „Mit Weisheit wird ein Haus gebaut“). Als denkbarer Bezugstext für Sir 3,1–16 kommt nicht zuletzt das deuterokanonische Buch Tobit in Frage, das der Weisheitsschrift Sirachs sowohl aufgrund der Entstehungszeit um 200 v. Chr.357 als auch der Thematik, wie etwa Betonung von Gesetz, Gottesfurcht und Gebet sowie Erprobungs- und Wandermotiv (vgl.  Kap.  3.2.1), sehr nahe ist.358 Hier sei nur vorgemerkt, dass diese Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Büchern nicht notwendig auf einer literarischen Abhängigkeit beruhen müssen. Denn es kann sich genauso gut um intertextuelle Bezüge aufgrund der kanonischen Schriftlektüre handeln, wie es auch bei den Büchern Judit (vgl. Exkurs 1) und Daniel (vgl. Kap. 3.4.4) zu vermuten ist. Besondere Aufmerksamkeit zieht vor allem die edle Gesinnung der beiden Hauptfiguren auf sich, sowohl die Sorge der Sara in Tob 3,10, ihrem alten Vater Raguël nicht die Schande anzutun: μήποτε ὀνειδίσωσιν τὸν πατέρα μου359 „Niemals sollen sie meinen Vater schmähen“ (vgl. ὄνειδος in V. 11b),360 als auch der dem jungen Tobias in Tob 4,3 erteilte Auftrag, sich um seine senilen Eltern zu kümmern, was stark an die Instruktionen Sirachs über die Ehrung der Eltern im Alter in V.  12 erinnert.361

356 Di Lella, Proverbs, 41. 357 Vgl. Schüngel-Straumann, Tobit, 39; Engel, Das Buch Tobit, 286 und Rautenberg, Verlässlichkeit, 13. 358 Vgl. Lisewski, Studien, 270–276 und Urbanz, Die Gebetsschule, 48. 359 In der griechischen Langfassung. 360 Vgl. Bellia, From Tobit, 10 und Egger-Wenzel, Sarah’s Grief, 206–207. 361 Vgl. Corley, Respect, 159.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

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Auffällig ist ferner die hohe Wertung der Barmherzigkeit in der Unterweisung für Tobias,362 für welche V. 14a und das griechische Tobitbuch sogar dasselbe Wort ἐλεημοσύνη benutzen, während die Peschitta in Tob 4,7–11 und 14,11 anstatt des im syrischen Sirachbuch gebrauchten Wortes ‫„ ܙܕܩܬܐ‬Almosen, Spende“ das Lexem ‫ ܡܪܚܡܢܘܬܐ‬363 „Barmherzigkeit“ verwendet.364 Ein weiterer Berührungspunkt ist der Vergleich mit der Sammlung der Schätze, der sich sowohl auf die Ehrung der Mutter in V. 4: καὶ ὡς ὁ ἀποθησαυρίζων ὁ δοξάζων μητέρα αὐτοῦ „und ̇ wie derjenige, der [Schätze] sammelt, [ist], wer seine Mutter ehrt“ / ‫ܘܣܐܡ ܣ ̣ܝ ̈ܡܬܐ‬ ̇ ̇ ‫„ ܡܢ ܕܡܝܩܪ ܐܠܡܗ‬und Schätze legt an, wer seine Mutter ehrt“, als auch auf die den Armen erwiesene Wohltätigkeit in Tob 4,9 bezieht: θέμα γὰρ ἀγαθὸν θησαυρίζεις σεαυτῷ εἰς ἡμέραν ἀνάγκης „Denn du sammelst dir einen guten Schatz für den Tag der Not“ / ‫ ܣܝܡܬܐ ܓܝܪ ܣܐܡ ܐܢܬ ܠܟ ܠܝܘܡܐ ܕܐܢܢܩܐ‬365 „Denn du legst dir einen Schatz an für den Tag der Not“.366 Den beiden Büchern gemeinsam ist schließlich die Gegenüberstellung zweier Wege: einerseits der guten und andererseits der frevelhaften Kinder, wie es in V. 9ab und 16ab sowie am väterlichen Segen in Tob 11,17 und an der gerechten Strafe für Nadab (Haman) in Tob 14,10 deutlich wird, der seinem Onkel und Erzieher Achikar (Achiacharos)367 Gutes mit Bösem vergalt.368 Was jedoch die drei zuletzt erwähnten alttestamentlichen Perikopen, nämlich die nachsintflutliche Episode mit den Söhnen Noachs, die Kindheitsgeschichte Samuels und die Tobiterzählung von V. 9b, unterscheidet, ist die gänzlich fehlende Beteiligung der Mutter an böser Verwünschung ihrer Kinder, was eine gewisse Tendenz im gesamten AT widerspiegelt. Denn vom mütterlichen Fluch ist weder in der Jakobserzählung in Gen 27,46 die Rede, wo Rebekka lediglich über ihren Herzenskummer wegen der heidnischen Frauen Esaus zu Isaak sprach, noch in der Episode über Jabez in 1 Chr 4,9–10, dem seine Mutter bei der Geburt einen nachteiligen Namen gab.369 Ein potenzieller Bezugstext für Sir 3,1–16 scheint zwar das auf Griechisch und Syrisch überlieferte Textstück Sir 23,24–26 über die Kinder zu sein, welche aus einer ehebrecherischen Verbindung geboren wurden 362 Vgl. Engel, Das Buch Tobit, 287 und Rautenberg, Verlässlichkeit, 66. 363 Vgl. Lebram, Tobit, [10] und [45]. 364 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 156 und Schüngel-Straumann, Tobit, 101. 365 Lebram, Tobit, [10]. 366 Vgl. Corley, Respect, 151. 367 Nach der LXX.D heißt der Onkel in Tob 2,10 „Achiacharos“. In Tob 14,10 sind die Personennamen in der griechischen Kurz- und Langfassung des Tobitbuches unterschiedlich überliefert. 368 Vgl. Schüngel-Straumann, Tobit, 180. 369 Vgl. Japhet / Mach, 1 Chronik, 133. Der Name ‫( יַ ְע ֵּבץ‬Jabez) enthält ein Wortspiel mit ‫ע ֶֹצב‬ „Schmerz, Pein“ (vgl. Gesenius / Buhl, ‫ע ֶֹצב‬, 610) und ‫„ עצב‬betrüben, kränken“ (vgl. Gesenius / Buhl, ‫עצב‬, 609).

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

und auf denen zur Zeit Sirachs die Schande ihrer Mutter lastete: „Die Kinder werden keine Wurzel (ῥίζα / ‫ )ܥܩܪܐ‬treiben […]. Zum Fluch (κατάρα / ‫ )ܠܘܛܬܐ‬nur hinterlässt sie ihr Gedenken“370. In einem solchen Fall handelt es sich allerdings um die Mutter als Objekt der Verfluchung (genitivus obiectivus), während in der Formulierung κατάρα μητρὸς / ‫„ ܠܘܛܬܐ ܕܐܡܐ‬der Fluch der Mutter“ in V. 9b die Mutter eindeutig als Subjekt dieser Handlung (genitivus subiectivus) aufzufassen ist, analog zur parallelen Genitivverbindung εὐλογία πατρὸς / ‫„ ܒܘܪܟܬܐ ܕܐܒܐ‬der Segen des Vaters“ in V. 9a. Auch im Partizipialsatz in Spr 20,20371: ‫ְמ ַק ֵלל ָא ִביו וְ ִאּמֹו‬ ‫„ יִ ְד ַעְך נֵ רֹו ֶּב ֱאיׁשּון ח ֶֹׁשְך‬Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, dessen Leuchte wird erlöschen in tiefster Finsternis!“, tritt die Mutter als Objekt auf, wie es auch in V. 11b und 16b der Fall ist. Angesichts des bisher Gesagten wird klar, dass in der Bibel mit der von allen gefürchteten mütterlichen Malediktion äußerst sparsam umgegangen wird. Dass sie dennoch von Sirach in V. 9b ausdrücklich angeführt wird, kann folglich bedeuten, dass er auf diese Weise das vielleicht offensichtlichste und schwerste Argument anführt, um seine Zuhörer zu einer noch eifrigeren Erfüllung des Elterngebotes anzuspornen. Als plausibler Referenztext dafür könnte die Erzählung in Ri 17,1–4 angesehen werden,372 wonach die Mutter des Ephraimiters Micha denjenigen verfluchte, der ihr Geld gestohlen hatte,373 ohne jedoch zu wissen, dass es ihr eigener Sohn war; sobald dieser aber seine Schuld bekannte und ihr das Gestohlene zurückgab, hob sie den Fluch auf, indem sie ihn in Ri 17,2 segnete: ‫ ָּברּוְך ְּבנִ י ַליהוָ ה‬/ εὐλογητὸς ὁ υἱός μου τῷ κυρίῳ / ‫ ܒܪܝܟ ܒܪܝ ܠܡܪܝܐ‬374 „Möge mein Sohn gesegnet sein für den Herrn“375, und einen Teil des Geldes als Wiedergutmachung für den Aufbau eines Heiligtums aufwandte.376 Gegen eine literarische Abhängigkeit zwischen V. 9b und dem Richterbuch sprechen jedoch andere Vokabeln für „Verfluchen“ (vgl. ‫ ְק ָל ָלה‬/ κατάρα / ‫ ܠܘܛܬܐ‬in V. 9b vs. ‫ אלה‬/ ἀράομαι / ‫ ܝܡܐ‬377 in Ri 17,2) und die Tatsache, dass in Ri 17,1–18,31 die Ätiologie eines Kultbildes der Daniten das zentrale Thema ist. Es handelt sich hier nicht primär um die Haltung gegenüber den Eltern, da der Bezug zum Vater komplett zu fehlen scheint.

370 Berger, Kommentar, 360. 371 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 156. 372 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 42. 373 Hier wird der Fluch als „Rechtserzwingungsmittel“ gegen Diebstahl gebraucht, genauso wie in Spr 29,24. 374 Dirksen, Judges, 47. 375 Die Elberfelder Übersetzung des MT hat dagegen: „Sei gesegnet dem HERRN, mein Sohn!“ 376 Vgl. Groß, Richter, 767–768 und 771. 377 Das Verb ‫ ܝܡܐ‬bedeutet „schwören“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܝܡܐ‬, 132 (aramäisch).

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

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Darum könnte es sich in V. 9b nicht allein um biblische Anspielungen handeln, sondern vermutlich auch um eine eigene Schöpfung des Autors. Tesch plädiert hier sogar für ein „bewährtes Sprichwort“, das Sirach gebraucht haben sollte, um die von ihm geforderte Ehrung der Eltern ex negativo zu verdeutlichen.378 Dieser mangelnde Bezug zur Heiligen Schrift könnte außerdem einen wichtigen Grundsatz bestätigen, dass Sirach, wenn er sonst in schriftkundiger Weise auf konkrete Stellen oder Motive aus dem AT zurückgriff, immer einen kontextuellen Hinweis hinzufügte, der den jeweiligen Bezug rechtfertigte.379 Denn im umgekehrten Fall – bei der fehlenden kontextuellen Ähnlichkeit – müsste es sich um außerbiblische idiomatische Wendungen handeln, welche die Entwurzelung als Sinnbild der Strafe enthalten, wie etwa in der Grabinschrift Eschmunazors, des Königs von Sidon aus dem 5. Jh. v. Chr.380 (vgl. Ijob 18,16; Hos 9,16; Am 2,9; Sir 10,16–17; Mk 11,20 und Jud 12). Da aber die Existenz eines solchen Spruches, wo auch die Mutter erwähnt wird, nicht evident ist, bleibt diese Hypothese unsicher. Hier sei nur noch nebenbei bemerkt, dass auch eine literarische Abhängigkeit von der Selbstverfluchung in Ijob 31,8 kaum nachzuweisen ist, da hier zwar synonyme, aber nicht dieselben Wörter wie bei Sirach gebraucht werden (vgl. ‫ ׁשרׁש‬Puʿal: „entwurzelt werden“381 vs. ‫„ נתׁש‬entwurzeln, ausreißen“ und ‫„ ֶצ ֱא ָצ ִאים‬Gewächse, Sprößlinge, Nachkommen“382 vs. ‫„ נֶ ַטע‬Pflanzung“). Tab. 7: Potenzielle Referenztexte für Sir 3,1–16 in den anderen alttestamentlichen Büchern. Auf einige der fettmarkierten intertextuellen Bezüge wird im Rahmen der Einzelexegese von V. 5b näher eingegangen. Verse

Inhalt

Potenzielle Bezugstexte

Inhalt

2ab

Elternrechte von Gott

Ex 20,12; Dtn 5,16

Gesetz

3

Verheißung der Sündentilgung

Spr 16,6

Weisheit

5a

Elternehrung / Kindersegen

Dtn 5,16; 6,2–3

Gesetz

378 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 83. 379 Vgl. Beentjes, Happy the One, 12 und 14–15. „For it appears that in all those cases where Ben Sira quotes Scripture, he not only adopted the biblical wording as such, but also added a contextual clue that supports his use of Scripture. This is a major methodological observation that is important for people who like to discuss intertextuality in the Book of Ben Sira.“ Beentjes, Happy the One, 12. 380 Die Fluchformel aus der phönizischen Grabinschrift lautet in der hebräischen Umschrift: ‫„ אל יכן לם שרש למט ופר למעל‬Mögen sie keine Wurzel nach unten haben und keine Frucht nach oben!“ (Segert, Inscriptions, 269). 381 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ׁשרׁש‬, 864. 382 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫צ ֱא ָצ ִאים‬, ֶ 670.

106 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Tab. 7 (fortgesetzt) Verse

Inhalt

Potenzielle Bezugstexte

Inhalt

5b

Elternehrung / GEBETSERHÖRUNG

1 Sam 2–3; 7,5–14 (Sir 46,13–18)

Samuelerzählung

Tob 3,1.7.11.16; 4,1

Tobiterzählung

Spr 1,28–29; 15,29; 21,13

Weisheit

6a.7a.8a

Elternehrung

Ex 20,12; Dtn 5,16; 6,2–3

Gesetz

9ab

Segen und Fluch / Pflanzen- (Ms. A, Syr) bzw. Hausmetapher (G I, Syr)

Gen 9,25–26

Noacherzählung

Ri 17,1–13

Michaerzählung

1 Sam 2,31.35 (zutreffend für G I und Syr)

Samuelerzählung

Tob 11,17

Tobiterzählung

10a–11a

Ehre und Schmach

Spr 24,3 (zu V. 9a)

Weisheit

Außerbiblisch? (zu V. 9b)

Allgemeine Weisheit

Ex 20,12; Dtn 5,16

Gesetz

Gen 9,18–29

Noacherzählung

12a–13b

Elternehrung im Alter und beim Vernunftverlust

Gen 9,18–29

14a

Barmherzigkeit (ἐλεημοσύνη)

Tob 4,7–11; 14,11

15a

Rettung am Tag der Bedrängnis

Tob 3,1.7.11.16; 4,1 1 Sam 2–3; 7,5–14 (Sir 46,13–18)

Samuelerzählung

Verheißung der Sündentilgung

Spr 16,6

Weisheit

Tob 12,9

Tobiterzählung

14b.15b 16ab

Schlussmahnung

Tob 4,3–4

Tobiterzählung

Tob 14,10 Ex 21,15.17; Lev 24,16

Gesetz

Trotzdem spricht einiges dafür, dass die Ehrung der beiden Elternteile (vor allem des Vaters), die für V. 9 konstitutiv ist, auch in der Michaerzählung eine wesentliche Rolle spielt. Daher muss die Intertextualität, die zwischen diesen Texten vorgeschlagen wurde, nicht zwangsläufig Abschied von dem oben aufgestellten Grundsatz über die Bewahrung des Kontextes beim Schriftgelehrten Sirach bedeuten. Denn die Bestellung eines der Söhne Michas und eines jungen Leviten zu Priestern in Ri 17,5.11 sowie die an den letzteren gerichteten Worte in Ri 17,10: ‫ּולכ ֵֹהן‬ ְ ‫ה־לי ְל ָאב‬ ִ ֵ‫„ ְׁש ָבה ִע ָּמ ִדי וֶ ְהי‬Bleibe bei mir und werde mir zum Vater und zum Priester!“, und Ri 18,19 weisen auf einen engen Zusammenhang von Pries-

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 107

tertum und geistlicher Vaterschaft hin. Dieser alttestamentliche383 Gedanke gilt für die Michaerzählung umso mehr, da der im danitischen Heiligtum angestellte Levit eindeutig zu jung war (vgl. ‫„ נַ ַער‬Knabe, Jüngling“384 / παιδάριον „Kindchen, Kind, Bursche“385 in Ri 17,7.11.12), um als leiblicher Vater angesprochen werden zu dürfen. Die Verwendung der Vateranrede gegenüber dem Priester im übertragenen Sinne, wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass im Alten Orient der Ehrentitel „Vater“ für hohe Würdenträger gebraucht wurde386 und dass in Sir 7,27–31387 mit gewisser Selbstverständlichkeit die Eltern mit den Priestern in Verbindung gebracht werden. Insofern könnte der von Micha angestrebte „väterliche“ Segen, den er sich in Ri 17,13 durch die Einsetzung eines Leviten bzw. Priesters erhoffte, zusammen mit dem von ihm gefürchteten Fluch seiner Mutter den biblischen Kontext von V. 9ab bilden. Mit diesem innerbiblischen Querbezug wird die hier dargebotene Auswahl der potenziellen intertextuellen Bezüge der Elternperikope Sir 3,1–16 (vgl. Tab. 7) abgeschlossen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die angeführten Beispiele sollten vielmehr den Leser auf den Relecture-Charakter des Sirachbuches sensibilisieren, der durchaus der katechetisch-pädagogischen Absicht seines Autors entspricht, den überlieferten jüdischen Glauben zu schützen und ihn in einer veränderten Situation neu zu formulieren388 (vgl.  Kap.  1.2). Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es oft kaum möglich ist, in jedem Fall eine konkrete literarische Abhängigkeit mit Sicherheit festzustellen, sodass höchstens von der Intertextualität aus rezeptionsästhetischer Sicht gesprochen werden darf (vgl. Exkurs 1). Durch die Identifikation der möglichen Vorbilder und Beispiele aus dem AT werden aber die nicht selten abstrakten Lehrinhalte des Sirachbuches anschaulicher gemacht und sozusagen „mit Leben“ gefüllt, was ihre kreative Umsetzung im Alltag wesentlich erleichtert.

383 Vgl. Gen 8,20; 12,8; 27,27–29; 28,18; Esra 1,5; 3,12; 8,29; Neh 8,13 und 2 Chr 19,8. Vgl. Hahn, Der Priester, 36 und 38–39. Der Zusammenhang von Priestertum und geistlicher Vaterschaft spielt auch heute eine große Rolle. Vgl. Kongregation für den Klerus, Der Priester, 34 (Nr. 19): „Der Reichtum der geistlichen Vaterschaft des Pfarrers als ein sakramentaler ‚pater familias‘ der Pfarre mit den sich ergebenden Banden, die pastorale Fruchtbarkeit hervorbringen, ist offensichtlich.“ 384 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫נַ ַער‬, 510–511. 385 Vgl. Benseler / Kaegi, παιδάριον, 659. 386 Z. B. Josef in Gen 45,8, Haman in Est 3,13 f, Simon in 1 Makk 2,65 und Rasi in 2 Makk 14,37. Vgl. auch Jesu Kritik an machtgierigen Schriftgelehrten und Pharisäern in Mt 23,9. 387 Zur Verknüpfung von Elternehrung und Gottesfurcht in diesem Textabschnitt vgl. Kap. 3.2.2. 388 Vgl. Zumstein, Kreative Erinnerung, 18.

108 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

3.2.5 Formale Analyse Ein genauerer Blick auf Sir 3,1–16 zeigt neben dem früher angedeuteten, häufigen Gebrauch der Verwandtschaftsbezeichnungen „Vater“ und „Mutter“, dass diese Bezeichnungen eine abwechselnde Sequenz bilden, was zusätzlich für die Einheitlichkeit des Abschnitts spricht. Dabei wird im fragmentarisch erhaltenen hebräischen Text (Ms. A) der Vater immer in der vorderen, die Mutter aber nur in der zweiten Hälfte des jeweiligen Verses erwähnt: ‫( ֵאם‬V. 6b) – ‫( ָאב‬V. 8a und V. 9a) – ‫( ֵאם‬V. 9b) – ‫( ָאב‬V.10a und 11a) – ‫( ֵאם‬V. 11b) – ‫( ָאב‬V. 12a, 14a und 16a) – ‫( ֵאם‬V. 16b). In der griechischen Übersetzung wird das Wort „Vater“ noch häufiger genannt. Auf jede Erwähnung der Mutter kommt meist eine dreimalige Nennung des Vaters: πατήρ (V. 1a und V. 2a) – μήτηρ (V. 2b) – πατήρ (V. 3, V. 5a und V. 6a) – μήτηρ (V. 6b) – πατήρ (V. 7a in G II, V. 8a und V. 9a) – μήτηρ (V. 9b) – πατήρ (V.10a, 10b und 11a) – μήτηρ (V. 11b) – πατήρ (V. 12a, 14a und 16a) – μήτηρ (V. 16b). Bemerkenswert ist außerdem, dass G II in der Mitte dieser Sequenz in V. 7b den partizipialen Ausdruck für die beiden Elternteile γεννήσαντες „die ̈ gezeugt haben“ hat. Demgegenüber werden die Eltern (‫)ܐܒܗܐ‬ in der syrischen Version der untersuchten Perikope, deren Komposition am meisten dem hebräischen Text entspricht (vgl. Kap. 3.2.3), bereits im einleitenden Ruf zum Hören in V. 1a erwähnt. Festzustellen ist ferner die für den Griechen typische, variierende Übersetzung derselben hebräischen Lexeme (vgl. Kap. 1.4 und 3.3.5),389 da das Verb ‫כבד‬ „ehren“ mithilfe von δοξάζω und τιμάω abwechselnd wiedergegeben wird,390 im Unterschied zum Syrer, der es immer mit ‫„ ܝܩܪ‬ehren, achten“391 übersetzt. Eine Ausnahme bildet die allein in G II in V. 7a überlieferte Gottesfurchtpassage mit einer zusätzlichen Verbform von τιμάω, die zwischen δοξάζω in V. 6a und τιμάω in V. 8a eingeschoben wird. Diese zusätzliche Stelle ist im griechischen Text auch deshalb wichtig, weil unmittelbar danach der partizipiale Satzstil (V. 3–7a) zum verbalen wechselt und die Personalpronomen in der Du-Form σου und σοι eingeleitet werden (V. 8a–15b; außer den Begründungen in V. 9ab und 11ab sowie der Schlussmahnung in 16ab). All diese formalen Beobachtungen decken sich mit dem Plural-Singular-Wechsel der Imperativformen (Plur. in V. 1a; Sing. in V. 8a, 10a, 12a–13b) und untermauern somit die in Kap. 3.2.3 vorgeschlagene dreistrophige Gliederung der Perikope. Auch der Parallelismus zwischen V. 6b und 7a in

389 Vgl. Reiterer, Urtext, 242 und Tesch, Weisheitsunterricht, 59. 390 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 81. 391 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܝܩܪ‬, 134 (aramäisch).

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 109

G II, der die Zuordnung der Gottesfurchtpassage zur ersten Strophe rechtfertigt,392 bestätigt diese Struktur. Erwähnenswert sind nicht nur einige semantische Figuren, wie etwa die in Kap. 3.2.1–2 erwähnten Vergleiche (mit ‫ כ‬in V. 15b und 16a in Ms. C; mit ὡς in V. 4, 7b, 15b und 16a in G I; mit ‫ ܐܝܟ‬in V. 15b in Syr) und die Haus- bzw. Pflanzenmetapher (vgl. ‫„ נתש‬entwurzeln, verpflanzen, ausreißen, zerstören“ in V. 9b im Gegensatz zu ‫„ נטע‬pflanzen“ in V. 14b).393 Auch die Stellungsfiguren, die in den drei Strophen der Elternperikope vorkommen, verdienen bemerkt zu werden. So heben in der ersten Strophe der Chiasmus in V. 3–4394 und die Dreiergruppe in V. 3–6a die Ehrung der Eltern hervor. Denn der Partizipialsatz in V. 3a, der zusammen mit dem kreuzweise entgegengesetzten Satzteil in V. 4b das dekalogische Elterngebot darstellt, bildet zugleich das erste Glied der dreifachen Wiederholung: „Wer seinen Vater ehrt“ (ὁ τιμῶν πατέρα in V. 3 und 5a bzw. ὁ δοξάζων πατέρα in V. 6a / ‫ ܕܡܝܩܪ ܐܠܒܘܗܝ‬in V. 3, 5a und 6a). Auffallend ist ferner der antithetische Parallelismus in V. 9ab395 in der zweiten Strophe, mit dessen Hilfe die zwei einander entgegengesetzten Lebenswege kontrastiert werden. Zu beachten ist auch die fein gestaltete Struktur in V. 12a–13b in der dritten Strophe, die in Ms. A und ̈ ‫„ ܟܠ‬alle Tage ̈ ‫ܝܘܡܝ‬ Syr in Form eines Parallelismus vorliegt (vgl. ‫ כל ימי חייך‬/ ‫ܚܝܝܟ‬ ̈ ̈ deines Lebens“ in V. 12b und ‫ כל ימי חייו‬/ ‫„ ܟܠ ܝܘܡܝ ܚܝܘܗܝ‬alle Tage seines Lebens“ in V. 13b), in G I aber zusätzlich durch einen Chiasmus zwischen V. 12a und 13a ergänzt wird (vgl. Abb. 7).396

Abb. 7: Die chiastisch-parallel angeordneten Satzteile in Sir 3,12a–13b in G I.

392 Nach Skehan und Di Lella gehört jedoch V. 7 zur mittleren Strophe. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 153–154. 393 Vgl. König, ‫נָ ַתׁש‬, 293; Gesenius / Buhl, ‫נתׁש‬, 532 und Holladay / Köhler, ‫נָ ַתׁש‬, 251. 394 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 155. 395 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 156. 396 Es wäre aber möglich, dass die besagte Verfeinerung in G I auf eine veränderte hebräische Vorlage zurückgeht. Vgl. Reiterer, Gott, 165 und Kap. 1.4.

110 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Die zuletzt genannte rhetorische Figur fokussiert die Aufmerksamkeit der Leser auf die Pflege der Eltern: Während die beiden Imperative in den Satzteilen β: ἀντιλαβοῦ [πατρός σου] „stehe [deinem Vater] bei!“, und γ: συγγνώμην ἔχε „hab Nachsicht!“, die Instruktionen für den Sohn beinhalten, widmen sich die zwei anderen kreuzweise entgegengesetzten Satzteile γ: ἐν γήρᾳ „im Greisenalter“, und β: ἐὰv ἀπολείπῃ σύνεσιν „Und selbst wenn er den Verstand verliert“, der Gebrechlichkeit des Vaters. Dazu lässt sich zwischen V. 12b und 13b ein synonymer Parallelismus erkennen, wobei auf das Verbot im Satzteil β: μὴ λυπήσῃς αὐτὸν „betrübe ihn nicht!“, bzw. μὴ ἀτιμάσῃς αὐτὸν „verunehre ihn nicht!“, der entsprechende „zeitliche Geltungsbereich“ in Form eines Temporalausdrucks in γ folgt: ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ „in seinem Leben“, bzw. ἐν πάσῃ ἰσχύι σου „in deiner ganzen Kraft“.

3.2.6 Gattungskritik Wie in Kap. 3.2.4 bereits angedeutet, erinnert die Instruktion Sirachs in V. 12ab: ‫„ בני התחזק בכבוד אביך ואל תעזבהו כל ימי חייך‬Mein Sohn, beweise dich stark im Ruhm deines Vaters und lass von ihm nicht ab alle Tage deines Lebens“ / τέκνον ἀντιλαβοῦ ἐν γήρᾳ πατρός σου καὶ μὴ λυπήσῃς αὐτὸν ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ „Kind, stehe deinem Vater im Greisenalter bei und betrübe ihn nicht in seinem Leben“ / ‫ܒܪܝ ܐܬܥܫܢ ܒܐܝܩܪܗ ܕܐܒܘܟ܂ ܘܐܠ ܬܫܒܘܩ ܐܝܩܪܗ‬ ̈ ̈ ‫ܝܘܡܝ‬ ‫ܚܝܝܟ‬ ‫„ ܟܠ‬Mein Sohn, stärke dich in der Ehre deines Vaters und lass von seiner Ehre nicht ab alle Tage deines Lebens“,

stark an die Aufforderung der Elternehrung in Tob 4,3: παιδίον, ἐὰν ἀποθάνω, θάψον με καὶ μὴ ὑπερίδῃς τὴν μητέρα σου, τίμα αὐτὴν πάσας τὰς ἡμέρας τῆς ζωῆς σου καὶ ποίει τὸ ἀρεστὸν αὐτῇ καὶ μὴ λυπήσῃς αὐτήν „Kind, wenn ich gestorben bin, begrabe mich. Und verachte nicht deine Mutter. Ehre sie alle Tage deines Lebens. Und tue, was ihr gefällt und betrübe sie nicht“.

Diese auffallende sprachliche Ähnlichkeit deckt sich mit der Betonung identischer Erziehungsinhalte, wobei an das Gebet (vgl. V. 5b und Tob 4,19) und die Werke der Barmherzigkeit (ἐλεημοσύνη397) vor allem gegenüber den Eltern zu denken ist. Den letzteren wird nämlich eine sündentilgende Wirkung zugesprochen, nicht nur in V. 14b und 15b, sondern auch in Tob 12,9: ἐλεημοσύνη γὰρ ἐκ θανάτου ῥύεται καὶ αὐτὴ ἀποκαθαριεῖ πᾶσαν ἁμαρτίαν οἱ ποιοῦντες ἐλεημοσύνας καὶ δικαιοσύνας πλησθήσονται ζωῆς „Denn Barmherzigkeit errettet vom Tode, 397 Vgl.  Skehan  / Di Lella, The Wisdom, 156; Marböck, Jesus Sirach, 92 und Schüngel-Straumann, Tobit, 101.

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 111

und sie reinigt jede Sünde. Die, (die Taten der) Barmherzigkeit und Gerechtigkeit tun, werden mit Leben erfüllt werden“, was die Ehrung der Eltern als Konkretion der Tugend der Barmherzigkeit ausweist, die bereits in der älteren Weisheitsliteratur hochgeschätzt war.398 Weil schließlich der „Sitz im Leben“ der sirazidischen Elternperikope – genauso wie des Absatzes Tob 4,3–21 – die Unterweisung der ̈ in V. 1a; ‫ בני‬/ τέκνον / ‫ ܒܪܝ‬in V. 8a und 12a Jugend ist (vgl. die Anreden τέκνα / ‫ܒܢܝܐ‬ sowie παιδίον in Tob 4,3399), ist Sir 3,1–16 am ehesten der weisheitlichen Gattung der Lehrrede zuzuordnen.400

3.2.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 3,5b Nachdem die wichtigsten inhaltlichen und formalen Aspekte der gesamten Elternperikope skizziert wurden, wird im Folgenden der auf das Gebet und seine Erhörung bezogene V. 5b näher betrachtet. Da dieser aber in den erhaltenen hebräischen Manuskripten fehlt, soll hier auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der griechischen und der syrischen Version eingegangen werden. Wie aus der Gliederung von Sir 3,1–16 ersichtlich ist (vgl. Tab. 6), gehört die Gebetserhörung – neben dem Kindersegen in V. 5a und dem langen Leben in V.  6a  – zu den drei Verheißungen an diejenigen, welche ihre Eltern ehren. Diesen „Gütern“ geht noch die im Präsens (Syr: Part. Ethpeʿel401) formulierte Zusicherung der Sündentilgung in V.  3 voraus, die sonst noch in V.  14b und 15b als Folge der Wohltat am Vater in V. 14a erscheint. Weil die Vergebung der Sünden, welche die unentbehrliche Vorbedingung aller Gebetserhörung ist (vgl. Spr 15,29), gerade durch die Befolgung des Elterngebotes erlangt werden kann, verwundert es nicht, wenn in V. 5 von einem engen Zusammenhang zwischen der Elternehrung seitens der Bittsteller und der Erhörung ihres Flehens die Rede ist (vgl. Abb. 8).

398 Vgl. Spr 16,6: ‫„ ְּב ֶח ֶסד וֶ ֱא ֶמת יְ ֻכ ַּפר ָעֹון‬Durch Güte und Treue wird Schuld gesühnt“ / LXX Spr 15,27a: ἐλεημοσύναις καὶ πίστεσιν ἀποκαθαίρονται ἁμαρτίαι „Durch Taten der Barmherzigkeit und der Treue werden Sünden abgewaschen“. 399 Vgl. auch Tob 4,4.5.12.13.14.19.21. 400 Zur gattungstheoretischen Zuordnung von Tob 4,3–21 als Lehrrede vgl. Rautenberg, Verlässlichkeit, 64–65. 401 Die Form ‫ ܡܫܬܒܩܝܢ‬ist Part. Ethpeʿel (Pass. von Peʿal) Plur. masc. von ‫„ ܫܒܩ‬verlassen, verzeihen, vergeben“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܫܒܩ‬, 557 und Hanna / Bulut, ‫ܫܒܩ‬, 384 (aramäisch).

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

JHWH

Sündentilgung

Elternehrung Gebet der Kinder

Gebetserhörung

Abb. 8: Der Zusammenhang von Gebet und Elternehrung in Sir 3,1–16. Die Erfüllung des Elterngebotes durch die Kinder bewirkt die Tilgung ihrer Sünden, was dann die Erhörung ihres Gebetes durch Gott ermöglicht.

Laut V. 5b in G I trifft die verheißene Gebetserhörung noch ἐν ἡμέρᾳ προσευχῆς αὐτοῦ „am Tag seines Gebetes“ ein, anders als in der Peschitta, die hier viel allgemeiner wirkt: ‫ܢܫܬܡܥ ܘܢܬܥܢܐ‬ ‫ܢܚܕܐ ܡܢ ܒܪܗ܂ ܘܟܕ ̇ܡܨܐܠ‬ ̣ ̣ ‫„ ܕܡܝܩܪ ܐܠܒܘܗܝ‬Wer seinen Vater ehrt, wird sich wegen seines Sohnes freuen und wenn er betet, wird er gehört und erhört werden“, auch wenn sie die Zeit der Belohnung in V. 15a als ‫„ ܒܝܘܡܐ ܕܥܩܬܐ‬am Tag der Not“ bestimmen kann, wobei an einen kritischen Moment des Lebens oder sogar an den Todestag zu denken ist (vgl. Ms. A: ‫ביום צרה‬ / ἐν ἡμέρᾳ θλίψεώς „am Tag der Bedrängnis“ in Kap. 3.2.1). So scheint der LXXText dank der bestimmten Zeitangabe in V. 5b direkter als die syrische Variante an den vermutlichen Bezugstext im Buch Tobit (vgl. Kap. 3.2.4) zu knüpfen, in welchem die gleiche Formulierung mehrmals gebraucht wird, um das zeitliche Zusammentreffen vom Bittgebet und dessen Erhörung auszudrücken. Denn zunächst verbindet der Ausdruck ἐν τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ / ‫ ܒܗ ܟܕ ܒܗ ܒܝܘܡܐ‬402 „am selben Tag“403 in Tob 3,7 das Flehen des alten Tobit mit dem Gebet der Sara, die trotz ihres Kummers um die Ehre ihres Vaters Raguël besorgt ist. Danach leitet der Ausdruck ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ / ‫ ܒܝܘܡܐ ̇ܗܘ‬404 „an jenem Tag“ in Tob 4,1 die entscheidende Wende der Handlung ein, was für die Leser ein wichtiger Hinweis ist, dass der Anfang der Rettung noch an demselben Tag geschieht. Durch die drei weiteren Formulierungen in der Langfassung des griechischen Tobitbuches: ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ „an jenem Tag“ in Tob 3,10, ἐν αὐτῷ τῷ καιρῷ διαπετάσασα τὰς χεῖρας πρὸς τὴν θυρίδα ἐδεήθη καὶ εἶπεν εὐλογητὸς „In diesem Augenblick streckte sie die Hände aus zum Fenster und betete und sprach“ in Tob 3,11 und vor allem ἐν αὐτῷ τῷ καιρῷ εἰσηκούσθη ἡ προσευχὴ ἀμφοτέρων ἐνώπιον τῆς

402 Lebram, Tobit, [7]. 403 Vgl. Smith / Smith, ‫ܟܕ‬, 204. 404 Lebram, Tobit, [9].

3.2 Elternehrung als Bedingung schneller Gebetserhörung in Sir 3,1–16 

 113

δόξης τοῦ θεοῦ „In diesem Augenblick wurde das Gebet der beiden vor der Herrlichkeit Gottes erhört“ in Tob 3,16, wird die zeitliche Koinzidenz der Anrufung und der Antwort Gottes noch stärker betont. Diese sprachliche Übereinstimmung bekräftigt zusätzlich die oben vorgeschlagene Intertextualität zwischen Sir 3,1–16 und der Tobiterzählung und erweist zugleich das Sirachbuch als „Teil einer größeren Bewegung“ innerhalb der zwischentestamentlichen Literatur, welche die Verbreitung der Gebete bezeugt.405 Die schnelle Erhörung des Gebetes in V. 5b in G I verrät viel Ähnlichkeit auch mit 1 Sam 7,9–10: „Und Samuel schrie (‫ וּיִ זְ ַעק‬/ ἐβόησεν)406 zu dem HERRN um Hilfe für Israel, und der HERR erhörte ihn (‫ וַ ּיַ ֲענֵ הּו‬/ ἐπήκουσεν αὐτοῦ / ‫)ܘܥܢܝܗܝ‬. Es geschah nämlich, während Samuel noch das Brandopfer opferte, rückten die Philister heran zum Kampf gegen Israel. Aber der HERR donnerte mit starkem Donner an demselben Tag (‫)ּבּיֹום ַההּוא‬ ַ 407 über den Philistern und schreckte sie, und sie wurden vor Israel geschlagen.“408

Eine solche Bedrängnis des Beters durch die Feinde, von der sonst in der Samuelperikope in Sir 46,16 die Rede ist:409 καὶ ἐπεκαλέσατο τὸν κύριον δυνάστην ἐν τῷ θλῖψαι ἐχθροὺς αὐτοῦ κυκλόθεν ἐν προσφορᾷ ἀρνὸς γαλαθηνοῦ „Und er [scil. Samuel] rief den Herrn an, den Herrscher, als seine Feinde [ihn, scil. Samuel] von allen Seiten bedrängten, mit der Opfergabe eines Milchlammes“410, korreliert gut mit der Formulierung ‫ ביום צרה‬/ ἐν ἡμέρᾳ θλίψεώς „am Tag der Bedrängnis“ bzw. ‫„ ܒܝܘܡܐ ܕܥܩܬܐ‬am Tag der Not“ in V. 15a. Auch der Kontext der Elternehrung in V. 5a und das in 1 Sam 3,16 geschilderte Verhalten des jungen Samuel, der den Priester Eli anstelle des Vaters ehrte, korrespondieren wegen der in G I gebrauchten Hausmetapher besser miteinander als in der syrischen Version (vgl. Kap. 3.2.2 und 3.2.4). Darum kann die Schriftgelehrsamkeit des Autors bzw. des Bearbeiters in der griechischen Fassung der Elternperikope deutlicher als in Syr zum Vorschein kommen. Trotzdem wird die gebetsbezogene Passage in V. 5b in der Peschitta zumindest genauso gut wie in der Übersetzung des Enkels in das buchübergreifende

405 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 48. 406 Syr hingegen liest: ‫„ ܨܠܝ‬er hat gebetet“. 407 Vgl. ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνη / ‫„ ܒܝܘܡܐ ܿܗܘ‬an jenem Tag“. 408 Nach Elberfelder Übersetzung. Zu den hier erwähnten Peschitta-Zitaten vgl. de Boer, Samuel, 16. 409 Während Sir 46,16 in Ms. B nur fragmentarisch überliefert ist, ist der positive Grundzug dieser Stelle in der Peschitta vermutlich im Sinne eines Summariums auf den glücklichen Ausgang der Schlacht zu beziehen. Auffällig ist außerdem, dass Syr hier kein explizites Gebetsvokabular verwendet (vgl. Exkurs 8). 410 Modifiziert nach der LXX.D.

114 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Klage-Erhörungs-Paradigma eingebunden. Denn während in G I die stichwortartige Verbindung durch die Vokabel προσευχή „Gebet“ mit Sir 7,10.14; 34,31; 35,21; 39,5.6; 50,19 und 51,13 und durch das Verb εἰσακούω „erhören“ mit Sir 34,29.31, 35,16; 36,22 und 51,11 besteht, verbindet sich V. 5b in der syrischen Überlieferung durch das Verb ‫„ ܫܡܥ‬hören“ mit Sir 2,11; 4,6; 34,29.31; 35,16.17. 20; 36,22; 46,17; 48,20 und 51,11 durch das Verb ‫„ ܥܢܐ‬erhören“ mit Sir 2,10; 32,14 und 46,5 und durch das Verb ‫„ ܨܠܝ‬beten“ mit Sir 28,2; 32,14; 37,15; 38,9.13; 39,5; 46,5; 47,5 und 51,9.16 (vgl. Tab. 3).

3.2.8 Zusammenfassung Zum zweiten Mal begegnet die Gebetsthematik im Ecclesiasticus in Sir  3,1–16. Der Vergleich dieser Perikope in den einzelnen Sprachfassungen macht deutlich, dass der hebräische Konsonantentext in den Manuskripten A und C bruchstückhaft überliefert ist, da V. 1–6 in Ms. A fehlen und Ms. C nur V. 12–16 enthält, die in ihrem Wortlaut von Ms. A abweichen (vgl. Kap. 3.2.1). Es ist bezeichnend, dass der Hebräer das Sprachbild der jungen Pflanze in V. 9ab und 14b verwendet, während sich der Grieche an dieser Stelle einer Hausmetapher bedient, was vermutlich den Wechsel von der ländlichen zur städtischen Lebenskultur der Adressaten von G I widerspiegelt (vgl. Kap. 3.2.2). Dass der Syrer die Elemente der beiden bildhaften Ausdrücke verwendet, könnte etwa dadurch erklärt werden, dass er den hebräischen und den griechischen Sirachtext kannte. Die Alternative wäre entweder, dass der Hebräer, der Grieche und der Syrer bei der Wiedergabe derselben hebräischen Vorlage von ihr aus bestimmten Gründen abwichen, oder dass die besagten Abweichungen aus den bereits modifizierten Vorlagen bzw. Vorstufen übernommen wurden. Außerdem spricht die Peschitta in V. 6b über die Gott vom Beter „auferlegten“ Belohnungen für die Wohltaten, die der Sohn seiner Mutter erweist. Eine ähnliche anthropomorphisierende Denkweise lässt sich auch in V.  16b erkennen  – diesmal aber nur in Ms.  A  –, wo der frevlerische Sohn Gott „kränkt“. Die hermeneutische Eigenart der einzelnen Sprachversionen zeigt sich ferner durch eine leicht veränderte Struktur des Textes in der griechischen Langfassung (G II), die in V. 7a eine Gottesfurchtpassage enthält, was zusammen mit der fehlenden Anrede in V. 8a in G I auf eine Ringkomposition in V. 1a–8b schließen lässt (vgl.  Kap. 3.2.3). Innerhalb dieser Komposition wird die Ehrung der Eltern als zentrales Thema des Abschnitts mit einigen wichtigen Inhaltsaspekten der sirazidischen Theologie, wie etwa Sündentilgung in V. 3 (sonst noch in V. 14b und 15b), Gebetserhörung in V. 5b und Gottesfurcht in V. 7a auf äußerst geschickte Weise kombiniert. Dadurch wird die Ehrung der Eltern als die erste Konkretion

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

 115

der Gottesfurcht in die Theologie des Sirachbuches eingebunden, was sonst in Sir 7,27–29 in G I geschieht. Dass aber auch die Peschitta – im Unterschied zum hebräischen Text – die letztere Stelle beinhaltet, könnte ein weiterer Hinweis auf den potenziellen Einfluss der LXX sein, wenngleich die oben genannten, alternativen überlieferungsgeschichtlichen Erklärungen nicht auszuschließen sind. Bei seiner Auslegung des Elterngebotes knüpft der Autor öfters an ältere alttestamentliche Texte an, wie etwa an das mosaische Gesetz in Ex  20,12 und Dtn  5,16 (vgl.  Kap.  3.2.4). Seine schriftkundige Arbeitsweise zeigt sich auch bei der Gegenüberstellung von Segen und Fluch in V. 9 als Folge der Einhaltung bzw. Unterlassung der Elternehrung, wobei die Noacherzählung, die Michaerzählung, die Kindheitsgeschichte Samuels und das spätalttestamentliche Tobitbuch als mögliche Referenztexte ins Spiel kommen. Weil in 1 Sam 2,31–35 die Hausmetapher vorkommt, weist V. 9 in der Übersetzung des Enkels eine größere Nähe zu diesem Bezugstext auf als die entsprechende Passage in Ms. A, welche die Pflanzenmetapher enthält. Neben den erwähnten Sprachbildern enthält die Perikope mehrere Stellungsfiguren, die im LXX-Text verfeinert sind, z. B. die abwechselnde Sequenz zweier Synonyme für das Verb „ehren“ anstelle ein und desselben hebräischen bzw. syrischen Lexems und die chiastisch-parallel angeordnete Struktur in Sir 3,12a– 13b anstelle eines einfachen Parallelismus in Ms. A und Syr (vgl. Kap. 3.2.5). Die beiden antiken Sirachübersetzungen unterscheiden sich auch leicht im Hinblick auf die Zeitangabe des Eintreffens der verheißenen Gebetserhörung in V. 5b, die aus dem ehrfürchtigen Umgang mit den Eltern resultiert und den eigentlichen Kern der Gebetslehre von Sir  3,1–16 ausmacht (vgl.  Kap.  3.2.7). Denn laut der Peschitta wird das Gebet dann beantwortet, wenn es verrichtet wird, während die Erhörung laut G I noch am Tag der Gottesanrufung erfolgt. Dies korrespondiert wiederum gut mit 1 Sam 7,9–10 und dem Buch Tobit, von dem manche Passagen (z. B. Tob 4,3) so große Ähnlichkeiten mit der sirazidischen Elternperikope (insbesondere V. 12) aufweisen, dass hier von einer gemeinsamen literarischen Gattung der weisheitlichen Lehrrede gesprochen werden darf (vgl. Kap. 3.2.6).

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 3.3.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Die dritte auf das Gebet bezogene Passage des Ecclesiasticus ist Sir 3,20. Obwohl sie unter den alten Sprachfassungen nur vom Enkel Sirachs überliefert wurde, ist es ratsam die gesamte Perikope Sir 3,17–31 auch im hebräischen und im syrischen Text zu analysieren, um die besagte Gebetsstelle vor dem Hintergrund ihrer

116 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

unmittelbaren Umgebung zu beleuchten. Als hebräische Textzeugen gelten hier sowohl Ms. A, das außer V. 20 den ganzen Abschnitt enthält,411 als auch die Florilegien-Handschrift C mit einer leicht abweichenden Fassung von V. 17–18 und 21–22.412 Auffallend ist bei Ms. A vor allem, dass das Wort ‫„ יגלה‬er wird offenbaren“ in V. 19b durch den Kopisten doppelt geschrieben wurde (davon einmal gestrichen)413 und dass V. 25 zwischen V. 27 und 28 steht.414 Dazu wurde in V. 28a zu Recht der Buchstabe ‫( ל‬der 15. Buchstabe im Vers) durch ‫ ת‬ersetzt, weshalb ‫מכת‬ als status constr. des femininen Substantivs ‫„ ַמ ָּכה‬Wunde“415 (vgl. ‫„ ܡܚܘܬܐ‬Schlag, Wunde“416) statt ‫)מּכֹל( מכל‬ ִ „nämlich jede, von jedem, von allem“417 zu lesen ist. Diese Lesart entspricht besser, nicht nur der Kongruenz in Numerus und Genus mit der davor stehenden Verbform ‫„ תרוץ‬sie wird / möge laufen“ (3. Pers. Sing. fem.) und dem femininen Suffix in ‫ ָלּה‬im darauffolgenden Semikolon, sondern auch dem „medizinischen“ Kontext in V. 28a: ‫„ אל תרוץ לרפאות‬sie [scil. die Wunde] möge nicht schnell heilen“ (wörtlich: „sie möge nicht zur Heilung laufen“)418 und ‫„ אין לה רפואה‬für sie gibt es keine Heilung“. Beim Vergleich der beiden Handschriften fällt ferner auf, dass Ms. A in V. 18b ‫„ רחמים‬Erbarmen“ liest, während Ms. C an dieser Stelle ‫„ חן‬Gnade“ hat.419 Außerdem wurden die jeweils am Satzende in V. 21a und b stehenden Vetitive ‫„ אל ]תד[רוש‬untersuche nicht!“ und ‫אל תחקור‬ „erforsche nicht!“ in beiden Handschriften kreuzweise vertauscht, weshalb die in Ms. C in V. 21bβ fehlenden Buchstaben ‫ תד‬problemlos aus dem gleichlautenden Satzteil in Ms. A in V. 21aβ ergänzt werden können. Schließlich hat Ms. C in V. 22a den Subordinationsmarker ‫ ֲא ֶׁשר‬anstatt der proklitischen Relativpartikel -‫( ֶׁש‬vgl. das proklitische Relativpronomen ‫ ܕ‬in Syr) und gebraucht in V. 22b den Vetitiv ‫( אל יהי לך‬punktuelles Verbot i. S. v.: „beschäftige dich nicht!“) anstatt eines verneinten Nominalsatzes mit ‫( ֵאין ְלָך‬i. S. v.: „Du brauchst dich nicht zu beschäf-

411 Das Textstück Sir 3,18b–28a im hebräischen Ms. A I recto kann unter folgendem Link geöffnet werden: https://www.bensira.org/navigator.php?Manuscript=A&PageNum=1; letzter Abruf am 17.12.2018. 412 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 17 und 19 sowie Beentjes, Part I–II, 23–24 (Ms. A I recto) und 95 (C  I recto). Sir  3,21 in Ms.  C I recto kann unter: https://www.bensira.org/navigator.php?Manuscript=C&PageNum=1, abgerufen werden; letzter Abruf am 17.12.2018. 413 Vgl. die textkritische Bemerkung zum hebräischen Text von V. 19 bei Vattioni. 414 In der Edition von Beentjes fehlt das zweite Wort ‫ כי‬in V. 28b. 415 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫מ ָּכה‬, ַ 421. 416 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܡܚܘܬܐ‬, 186 (aramäisch). 417 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫מן‬, ִ 435. 418 Vgl. die ähnliche Formulierung in Jes 58,8: ‫„ וַ ֲא ֻר ָכ ְתָך ְמ ֵה ָרה ִת ְצ ָמח‬und deine Heilung wird schnell sprossen“. 419 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 159.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

 117

tigen“,420 vgl. Syr: ‫ ܠܝܬ ܠܟ‬und Vg: non est enim tibi necessarium „es ist nämlich für dich nicht notwendig“421). Hebräischer Text (Ms. A) (17a) (17b) (18a) (18b) (19a) (19b) (21aα) (21aβ) (21bα) (21bβ) (22a) (22b) (23a) (23b) (24a) (24b) (25a)422 (25b) (26a) (26b) (27a) (27b) (28a)

‫בני בעשרך התהלך בענוה‬ ‫ותאהב מנותן מתנות‬ ‫מעט נפשך מכל גדולת עולם‬ ‫ולפני ֵאל תמצא רחמים‬ ‫כי רבים רחמי אלהים‬ ‫ולענוים יגלה סודו‬ ‫פלאות ממך‬ ‫אל תדרוש‬ ‫ומכוסה ממך‬ ‫אל תחקור‬ ‫במה שהורשית התבונן‬ ‫ואין לך עסק בנסתרות‬ ‫וביותר ממך אל תמר‬

(28b) (29a)

‫כי רב ממך הראית‬ ‫עשתונֵ י בני אדם‬ ְ ‫כי רבים‬ ‫ודמיונות רעות מתעות‬ ‫באין אישון יחסר אור‬ ‫ובאין דעת תחסר חכמה‬ ‫לב כבד תבאש אחריתו‬ ‫ואוהב טובות ינהג בהם‬ ‫לב כבד ירבו מכאביו‬ ‫ומתחולל מוסיף עון על עון‬ ‫אל תרוץ לרפאות מכת לץ‬ ‫כי אין לה רפואה‬ ‫כי מנטע רע נטעו‬ ‫לב חכם יבין משלי חכמים‬

(29b)

‫ואזן מקשבת לחכמה תשמח‬

(30a) (30b) (31a) (31b)

‫אש לוהטת יכבו מים‬ ‫כן צדקה תכפר חטאת‬ ‫פועל טוב יקראנו בדרכיו‬ ‫ובעת מוטו ימצא משען‬

Deutsche Übersetzung Mein Sohn, bei deinem Reichtum wandle in Demut und du wirst mehr geliebt werden als wer Geschenke gibt. Mache dich selbst kleiner als alle Größe der Welt und du wirst vor Gott Erbarmen finden. Denn groß [ist] das Erbarmen Gottes und den Demütigen wird er sein Geheimnis offenbaren. Was dir zu wunderbar [ist], untersuche nicht und was dir verborgen [ist], erforsche nicht. Auf das, was du in Besitz genommen hast, achte, und mit dem Verborgenen brauchst du dich nicht zu beschäftigen. Und über das, was über dich hinausgeht, spekuliere nicht, denn mehr als du [hast], hast du gezeigt bekommen. Denn viele [sind] die Gedanken der Söhne Adams und böse Einbildungen verführen. Wo keine Pupille [ist], wird Licht fehlen und wo keine Erkenntnis [ist], wird Weisheit fehlen. Ein verstocktes Herz: sein Ende wird widerlich sein, und wer das Gute liebt, wird sich damit beschäftigen. Ein verstocktes Herz: seine Leiden werden sich mehren und der Verdrehte häuft Sünde auf Sünde. Möge die Wunde des Übermütigen nicht schnell heilen, denn für sie gibt es keine Heilung, denn von einer schlechten Pflanze [ist] seine Pflanze. Ein weises Herz wird auf die Sprüche der Weisen achten und ein Ohr, das auf die Weisheit merkt, wird sich freuen. Ein loderndes Feuer wird das Wasser auslöschen, ebenso wird Wohltat Sünde sühnen. Wer Gutes tut, dem wird es auf seinen Wegen begegnen und zur Zeit, [wo] er wankt, wird er eine Stütze finden.

420 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫איִ ן‬, ַ 31. 421 Modifizert nach B. Feichtinger und I. Schaaf. Der Stelle Sir 3,22b entspricht in der Vg Sir 3,23. 422 In Ms. A steht V. 25 erst nach V. 27.

118 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

(17a)

Ms. C ‫בני את כל מלאכתיך בענוה הלוך‬

(17b)

‫ומאיש מתן תאהב‬

(18a)

‫בני גדול אתה כן תשפיל נפשך‬

(18b) (21aα) (21aβ) (21bα) (21bβ) (22a) (22b)

‫ובעיני אלהים תמצא חן‬ ‫פלאות ממך‬ ‫אל תחקור‬ ‫ורעים ממך‬ ‫אל ]תד[רוש‬ ‫באשר הורשיתה התבונן‬ ‫ועסק אל יהי לך בנסתרות‬

Mein Sohn, bei allen deinen Geschäften wandle in Demut und du wirst mehr geliebt werden als einer, der Geschenke [gibt]. Mein Sohn, [wirst] du angesehen, dann sollst du dich selbst erniedrigen und du wirst in den Augen Gottes Gnade finden. Was dir zu wunderbar [ist], erforsche nicht und was dir zu böse [ist], untersuche nicht. Auf das, was du in Besitz genommen hast, achte, und mit dem Verborgenen beschäftige dich nicht.

Der Textbestand der griechischen Version von Sir 3,17–31 (Editionen von Rahlfs und von Ziegler)423 unterscheidet sich, wie bereits angedeutet, von der hebräischen und der syrischen Fassung durch den zusätzlichen V. 20. Allerdings erinnert die erste Hälfte dieser Passage (a) an den Kausativsatz in V. 19a in Ms. A und Syr, sodass in Wirklichkeit nur die zweite Vershälfte (b), welche zugleich die Gebetsstelle bildet, zum Proprium des Griechen gehört. Ferner sind V. 19 und V. 25 nicht in G I, sondern in G II überliefert, wobei in V. 19a ein anderer Text als in Ms. A und Syr vorliegt. Beachtenswert ist auch V. 17b, bei welchem Rahlfs in Übereinstimmung u. a. mit den Majuskeln B und ‫ א‬ὑπὸ ἀνθρώπου δεκτοῦ „von einem [Gott] wohlgefälligen Menschen“ liest. Im Unterschied dazu konjiziert Ziegler:424 ὑπὲρ ἄνθρωπον δότην „mehr als ein Mensch, [der] ein Geber [ist]“, um den Text an die ähnlichen Formulierungen in Mss. A, C und Syr anzugleichen (vgl. Kap. 3.3.2).425 Außerdem weicht er an zwei weiteren Stellen von der Rahlfsʼschen Edition ab, indem er den bestimmten Artikel τοῦ in V. 20a (mit den Kodizes ‫ א‬und A) und das Pronomen αὐτοῦ in V. 31b (mit dem Kodex B) weglässt.

423 Mit wenigen Ausnahmen. Vgl.  Ziegler, Sirach, 136–139; Vattioni, Ecclesiastico, 14 und 16 (hier fehlt die Markierung von V. 19 als G II) sowie Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 382–383. Die Stelle Sir 3,17a–18b.20a im Codex Vaticanus, p. 835, kann unter folgendem Link eingesehen werden: http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.gr. 1209/0839; zuletzt am 26.01.2017. 424 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 79. 425 Vgl. Reiterer, Zählsynopse, 41: „Der Vergleich von Ziegler und Rahlfs macht die Leser auf die unterschiedliche Methodik der Ausgaben aufmerksam: Rahlfs bringt meistens (nicht immer) die jeweilige Mehrheitslesart zur Stelle. Ziegler dagegen entscheidet sich nicht selten aus sachlichen Gründen für eine Minderheitslesart oder gar gegen die gesamte griechische Textüberlieferung, so wie sie in den Septuagintahandschriften vorliegt“.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

 119

Griechische Version

Deutsche Übersetzung

(17a) (17b)

τέκνον ἐν πραΰτητι τὰ ἔργα σου διέξαγε καὶ ὑπὸ ἀνθρώπου δεκτοῦ ἀγαπηθήσῃ

(18a)

(20a) (20b) (21a)

ὅσῳ μέγας εἶ τοσούτῳ ταπείνου σεαυτόν καὶ ἔναντι κυρίου εὑρήσεις χάριν | πολλοί εἰσιν ὑψηλοὶ καὶ ἐπίδοξοι | ἀλλὰ πραέσιν ἀποκαλύπτει τὰ μυστήρια αὐτοῦ ὅτι μεγάλη ἡ δυναστεία τοῦ κυρίου καὶ ὑπὸ τῶν ταπεινῶν δοξάζεται χαλεπώτερά σου μὴ ζήτει

(21b) (22a) (22b)

καὶ ἰσχυρότερά σου μὴ ἐξέταζε ἃ προσετάγη σοι ταῦτα διανοοῦ οὐ γάρ ἐστίν σοι χρεία τῶν κρυπτῶν

(23a)

(25a)

ἐν τοῖς περισσοῖς τῶν ἔργων σου μὴ περιεργάζου πλείονα γὰρ συνέσεως ἀνθρώπων ὑπεδείχθη σοι πολλοὺς γὰρ ἐπλάνησεν ἡ ὑπόλημψις αὐτῶν καὶ ὑπόνοια πονηρὰ ὠλίσθησεν διανοίας αὐτῶν | κόρας μὴ ἔχων ἀπορήσεις φωτός

(25b)

| γνώσεως δὲ ἀμοιρῶν μὴ ἐπαγγέλλου

(26a)

καρδία σκληρὰ κακωθήσεται ἐπ᾽ ἐσχάτων καὶ ὁ ἀγαπῶν κίνδυνον ἐν αὐτῷ ἀπολεῖται καρδία σκληρὰ βαρυνθήσεται πόνοις

Kind, vollbringe deine Werke in Sanftmut und du wirst von einem [Gott] wohlgefälligen Menschen geliebt werden. Je größer du bist, desto mehr erniedrige dich selbst und du wirst vor dem Herrn Gnade finden. | Viele sind hochmütig und angesehen, | aber er offenbart seine Geheimnisse den Sanftmütigen. Denn groß [ist] die Macht des Herrn und von den Demütigen wird er verherrlicht. Nach dem, was dir zu schlimm [ist], verlange nicht und was dir zu schwer [ist], erforsche nicht. Was dir angeordnet wurde, gedenke, denn mit dem Verborgenen brauchst du dich nicht zu beschäftigen. In das, was über deine Arbeit hinausgeht, mische dich nicht ein, denn, was für den Menschenverstand zu viel [ist], wurde dir gezeigt. Denn viele verführte ihre [eigene] Mutmaßung und böser Argwohn lies ihre Gedanken ausgleiten. | Wenn du keine Pupille hast, wird dir Licht fehlen, | ohne Anteil an Erkenntnis erbiete dich als Lehrer nicht. Ein verstocktes Herz wird am Ende übel zugerichtet werden und wer Gefahr liebt, wird darin umkommen. Ein verstocktes Herz wird mit Leiden beschwert werden und der Sünder wird Sünde auf Sünden häufen. Für die Not des Übermütigen gibt es keine Heilung, denn eine schlechte Pflanze hat in ihm Wurzel gefasst. Das Herz des Verständigen wird über einen Denkspruch nachdenken und das Ohr des Zuhörers [ist] das Verlangen des Weisen.

(18b) (19a) (19b)

(23b) (24a) (24b)

(26b) (27a) (27b) (28a)

καὶ ὁ ἁμαρτωλὸς προσθήσει ἁμαρτίαν ἐφ᾽ ἁμαρτίαις ἐπαγωγῇ ὑπερηφάνου οὐκ ἔστιν ἴασις

(28b)

φυτὸν γὰρ πονηρίας ἐρρίζωκεν ἐν αὐτῷ

(29a)

καρδία συνετοῦ διανοηθήσεται παραβολήν καὶ οὖς ἀκροατοῦ ἐπιθυμία σοφοῦ

(29b)

120 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

(30a)

πῦρ φλογιζόμενον ἀποσβέσει ὕδωρ

(30b) (31a)

καὶ ἐλεημοσύνη ἐξιλάσεται ἁμαρτίας ὁ ἀνταποδιδοὺς χάριτας μέμνηται εἰς τὰ μετὰ ταῦτα καὶ ἐν καιρῷ πτώσεως αὐτοῦ εὑρήσει στήριγμα

(31b)

Ein loderndes Feuer wird das Wasser auslöschen und Barmherzigkeit wird Sünden sühnen. Wer Dank abstattet, dessen wird in Zukunft gedacht und zum Zeitpunkt seines Falls wird er eine Stütze finden.

Im Vergleich dazu sind in der syrischen Version der Perikope nur wenige Stellen textkritisch relevant.426 Als erste ist V. 26a zu nennen, wo anstatt der auf das feminine Substantiv ‫„ ܚܪܬܐ‬Ende, Resultat“427 bezogenen kausativen Afʿelform ‫„ ܬܐܒܫ‬sie wird Böses antun, schädigen, kränken“ in 7a1 der Londoner Kodex die Peʿalform ‫„ ܬܒܐܫ‬sie wird sich verschlechtern, verschlimmern“ enthält,428 was näher an die Formulierungen ‫„ תבאש אחריתו‬sein Ende wird widerlich, übel sein“ in Ms. A und κακωθήσεται ἐπ᾽ ἐσχάτων „[das Herz] wird am Ende übel zugerichtet werden“ in G I herankommt. Die zweite Stelle ist V. 29a, wo 7h3 ‫[„ ܢܣܬܩܠ‬das Herz] wird geschmückt werden“429 hat, während 7a1 ‫[„ ܢܣܬܟܠ‬das Herz] wird verstehen“430 liest, was wiederum gut mit ‫[„ יבין‬das Herz] wird achten“ in Ms. A und διανοηθήσεται „[das Herz] wird nachdenken“ korreliert. Das hier vorliegende Vertauschen von ‫ ܟ‬und ‫ ܩ‬ist vermutlich durch Diktat entstanden. Auch bei dem darauffolgenden Wort ‫ ̈ܡܬܠܐܠ‬handelt es sich in 7a1 um einen Schreibfehler, da in 7h3 bereits die korrekte Form ‫„ ̈ܡܬܐܠ‬Sprüche“431 zu finden ist (vgl. ‫„ ְמ ָׁש ִלים‬Sprüche“ / παραβολή „Denkspruch, Gleichnis“ in V. 29a). Darüber hinaus steht V. 25 in Syr erst nach V. 27, wie es bereits in Ms. A der Fall ist.

426 Zum syrischen Text von Sir 3,17–31 vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 17 und 19 (7h3) sowie Calduch-Benages, Text, 74 und 76–77 (7a1). 427 Vgl. Smith / Smith, ‫ܚܪܬܐ‬, 160 und Hanna / Bulut, ‫ܚܪܬܐ‬, 114 (aramäisch). 428 Vgl. Smith / Smith, ‫ܒܐܫ‬, 34; Hanna / Bulut, ‫ܐܒܫ‬, 2 (aramäisch) und Hanna / Bulut, ‫ܒܐܫ‬, 30 (aramäisch). 429 Die Verbform ‫„ ܐܣܬܩܠ‬geschmückt, elegant gemacht werden“ ist Ethpeʿel von ‫ ܣܩܠ‬Peʿal: „polieren, glätten, ausschmücken, verzieren, prangen, verschönern“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܩܠ‬, 388 und Hanna / Bulut, ‫ܣܩܠ‬, 281 (aramäisch). 430 Die Verbform ‫„ ܐܣܬܟܠ‬prüfen, untersuchen, genau betrachten, bemerken, begreifen“ ist Ethpaʿal von ‫ ܣܟܠ‬Paʿel: „verstehen, wissen, begreifen, erkennen, erläutern“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܟܠ‬, 377 und Hanna / Bulut, ‫ܣܟܠ‬, 275 (aramäisch). 431 Vgl. Smith / Smith, ‫ ܡܬܐܠ‬, 317 und Hanna / Bulut, ‫ܡܬܐܠ‬, 240 (aramäisch).

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

(17a)

Syrische Version ‫ܒܪܝ ܒܥܘܬܪܟ ܒܡܟܝܟܘܬܐ ̇ܗܠܟ‬ ݂

(17b)

̇ ‫ܘܡܢ ܓܒܪܐ‬ ̈ ‫ܡܘܗܒܬܐ ܢܪܚܡܘܢܟ‬ ‫ܕܝܗܒ‬

(18a)

‫ܒܟܠ ܕܐܝܬ ܕܪܒ ܒܥܠܡܐ ܐܙܥܪ ܢܦܫܟ‬

(18b) (19a) (19b)

‫̈ܪܚܡܐ‬ ̣ ‫ܘܩܕܡ ܐܠܗܐ ܬܫܟܚ‬ ̈ ̇ ‫ܕܣܓܝܐܝܢ ܐܢܘܢ‬ ‫̈ܪܚܡܘܗܝ‬ ‫ܡܛܠ‬ ‫ܕܐܠܗܐ‬432 ̈ ‫ܘܠܡܟܝܟܐ ̈ܪܐܙܐ ܡܬܓܠܝܢ‬

(21a) (21b) (22a) (22b)

̈ ‫ܡܢܟ ܐܠ ܬܒܥܐ‬ ‫ܕܩܫܝܢ‬ ̣ ̇ ̈ ‫ܡܢܟ ܐܠ ܬܥܩܒ‬ ‫ܘܕܬܩܝܦܢ‬ ̣ ‫ܒܡܐ ܕܐܫܠܛܘܟ ܐܣܬܟܠ‬ ̈ ‫ܟܣܝܬܐ‬ ‫ܘܠܝܬ ܠܟ ܬܘܟܠܢܐ ܥܠ‬

(23a)

̇ ̇ ‫ܘܒܫܪܟܐ‬ ‫ܬܬܥܣܩ‬ ‫ܕܥ ̈ܒܕܘܗܝ ܐܠ‬

(23b) (24a)

̇ ‫ܡܛܠ‬ ‫ܕܣܓܝ ܡܢܟ ̣ܐܬܚܘܝ ܠܟ‬ ̈ ‫ܡܛܠ ܕܣܓܝܐܝܢ ܐܢܘܢ ̈ܪܥܝܢܝܗܘܢ‬ ̈ ‫ܕܒܢܝܢܫܐ‬ ̈ ̈ ̈ ‫ܬܐ ܡܛܥܝܢ‬ ̣ ‫ܘܕܡܘܬܐ ܒܝܫ‬ ̈ ‫ܡܢ ܕܠܝܬ ܠܗ‬ ̈ ‫ܒܒܬܐ‬ ‫ܕܥܝܢܐ ܚܣܝܪ ܢܘܗܪܐ‬ ‫ܗܘ‬ ̇ ‫ܝܕܥܬܐ ܐܠ ܬܗܘܐ‬ ‫ܕܓܗܪ ܐܢܬ ܡܢ‬ ‫ܘܡܐ‬ ̣ ‫̇ܡܠܟ ܠܡܦܣܘ‬

(24b) (25a)434 (25b)

(26a)

‫ܠܒܐ ܩܫܝܐ ܬܒܐܫ ܚܪܬܗ‬

(26b) (27a)

̇ ̇ ‫ܘܡܢ‬ ‫ܕܪܚܡ ̇ܛ ̈ܒܬܐ ܒܗܝܢ ܢܕܪܘܟ‬ ̇ ̈ ‫ܟܐܒܘܗ ̣ܝ‬ ‫ܢܣܓܘܢ‬ ‫ܠܒܐ ܩܫܝܐ‬

(27b)

̇ ‫ܘܕܡܪܚ‬ ̈ ̈ ‫ܚܛܗܐ‬ ‫ܚܛܗܐ ̇ܥܠ‬ ‫ܢܘܣܦ‬ ̣

(28a)

̇ ‫ܠܡܚܘܬܗ ܕܡܡܝܩܢܐ ܠܝܬ‬ ‫ܠܗ ܐܣܝܘܬܐ‬ ̣

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Deutsche Übersetzung Mein Sohn, bei deinem Reichtum wandle in Demut und sie werden dich mehr lieben als einen Mann, der Gaben gibt. Bei allem, was in der Welt groß [ist], erniedrige dich selbst und du wirst vor Gott Erbarmen finden. Denn groß [ist] das Erbarmen Gottes und den Demütigen werden die Geheimnisse offenbart. Was dir zu schwierig [ist], suche nicht und was dir zu stark [ist], untersuche nicht. Das, wozu sie dich ermächtigten, verstehe, und du hast keine Zuversicht hinsichtlich des Verborgenen. Und mit dem Rest seiner Werke mach dir [selbst] keine Schwierigkeiten,433 denn mehr als du [hast], ist dir gezeigt worden. Denn viele [sind] die Gedanken der Menschen und böse Einbildungen führen irre. Wer keine Augenpupillen hat, entbehrt das Licht und wenn du durch die Erkenntnis verblendet bist, erteile keine Ratschläge, um zu überzeugen. Ein verhärtetes Herz: sein Ende wird sich verschlimmern und wer das Gute liebt, wird es erlangen. Ein verhärtetes Herz: seine Leiden werden sich mehren und wer frech [ist], wird Sünden auf Sünden häufen. Für die Wunde des Spötters gibt es keine Heilung,

̈ ̈ 432 In der Ausgabe von Calduch-Benages ist hier fälschlicherweise ‫ܣܓܐܝܢ‬ statt ‫ܣܓܝܐܝܢ‬ abgë druckt. Das Wort ‫ܣܓܝܐܝܢ‬ „viele“ ist Plur. masc. von ‫„ ܣܓܝ‬viel, sehr“. Vgl. Thackston, Introduction, 47 und Hanna / Bulut, ‫ܣܓܝ‬, 265 (aramäisch). 433 Alternative Übersetzungsmöglichkeiten: „Und über den Rest seiner Werke streite nicht!“, bzw.: „Und gegen den Rest seiner Werke sträube dich nicht!“ Vgl. Smith / Smith, ‫ܥܣܩ‬, 421 und Hanna / Bulut, ‫ܥܣܩ‬, 299 (aramäisch). 434 In Syr steht V. 25 zwischen V. 27 und 28.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

(28b)

‫ܡܛܠ ܕܡܢ ܢܨܒܬܐ ܒܝܫܬܐ ܢܨܒܬܗ‬

(29a)

̈ ̈ ‫ܚܟܝܡܐ ܢܣܬܟܠ‬ ‫ܕܚܟܝܡܐ‬ ‫ܒܡܬܐܠ‬ ‫ܠܒܐ‬ ̣

(29b)

̈ ‫ܒܚܟܝܡܐ‬ ‫ܘܐܕܢܐ ܕܫܡܥܐ ܬܚܕܐ‬

(30a)

̇ ‫ܢܘܪܐ‬ ‫ܢܕܥܟܘܢ ̈ܡܝܐ‬ ‫ܕܝܩܕܐ‬ ̣

(30b) (31a) (31b)

̈ ̇ ‫ܙܕܩܬܐ‬ ‫ܚܛܗܐ‬ ‫ܫܒܩܐ‬ ‫ܗܟܢܐ‬ ̣ ̇ ‫ܕܥܒܕ ܕܫܦ ̣ܝܪ ܥܬܝܕ ܒܐܘܪܚܗ‬ ̇ ‫ܘܒܥܕܢܐ‬ ‫ܦܠ ܡܫܟܚ ܠܗ ܣܡܟܐ‬ ‫ܕܢ‬ ̣

denn von einer schlechten Pflanze [ist] seine Pflanze. Ein weises Herz wird die Sprüche der Weisen verstehen und ein Ohr, das hört, wird sich an den Weisen freuen. Das Feuer, das lodert: das Wasser wird es auslöschen, ebenso tilgt ein Almosen die Sünden. Wer Gutes tut, [ist] auf seinen Weg vorbereitet und zum Zeitpunkt, [wo] er fällt, findet er für sich eine Stütze.

3.3.2 Hermeneutik der Sprachversionen Der oben aufgezeigte abweichende Textbestand der Perikope in G I lässt auf eine bestimmte innere Absicht und die hermeneutische Eigenart dieser Variante schließen. Diese auf dem Wege des direkten Vergleichs mit den anderen Sprachfassungen zu ermitteln,435 soll die Aufgabe dieses Abschnitts sein. Auffällig ist zunächst der in V. 17b vorkommende Unterschied zwischen den Formulierungen ‫„ מנותן מתנות‬mehr als wer Geschenke gibt“ in Ms. A (vgl. ‫„ מאיש מתן‬mehr als einer, ̇ ‫„ ܡܢ ܓܒܪܐ‬mehr als einen Mann, ̈ der Geschenke [gibt]“ in Ms. C und ‫ܡܘܗܒܬܐ‬ ‫ܕܝܗܒ‬ der Gaben gibt“ in Syr) und ὑπὸ ἀνθρώπου δεκτοῦ „von einem [Gott] wohlgefälligen Menschen“ in der griechischen Textüberlieferung. Die genannte Abweichung ist vermutlich wegen der Umdeutung der Präposition ‫ ִמן‬als Zeichen des Komparativs zum Zeichen des Verursachers (in einer passivischen Konstruktion) zustandegekommen,436 was den Perspektivenwechsel vom „Geben“ (vgl. ‫ )נתן‬zum „Annehmen“ (vgl. δεκτός437) nach sich gezogen hat, wobei es sich wahrscheinlich um die Annahme durch Gott handelt.438 Angesichts der bereits angedeuteten Abweichungen zwischen den beiden hebräischen Handschriften zeigt sich ferner, dass der LXX-Text oft näher an der Kairoer Handschrift C ist, wie es etwa bei ‫„ מלאכתיך‬deine Arbeiten, Werke, Geschäfte, Dienste“ / τὰ ἔργα σου „deine 435 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 236–237. 436 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫מן‬, ִ 434. 437 Das Verbaladjektiv δεκτός kommt von δέχομαι „aufnehmen, annehmen, empfangen“ und bedeutet „empfangen, angenommen, akzeptabel, annehmlich, angenehm, willkommen“. Vgl. Benseler / Kaegi, δεκτός, 175; Bauer, δεκτός, 315; Nützel, δεκτός, 683; Lust (Bd. 1), δεκτός, 98 und Liddell, δεκτός, 377. 438 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 28. Vgl. ἄνθρωποι δεκτοὶ „(von Gott) angenommene Menschen“ in Sir 2,5b und δεκτή „(Gott) wohlgefällig“ in Spr 10,24 nach der LXX.D.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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Werke“ in V. 17a, ‫„ איש‬Mann, Mensch, einer“ / ἄνθρωπος „Mensch“ in V. 17b, ‫„ גדול אתה‬du [wirst] angesehen“ bzw. „groß“ / ὅσῳ μέγας εἶ „je größer du bist“ in V. 18a, ‫ חן‬/ χάρις „Gnade“ in V. 18b sowie ‫„ רעים ממך‬was dir zu böse [ist]“ in V. 21b / χαλεπώτερά σου „was dir zu schlimm [ist]“ in V. 21a der Fall ist. Allein der verneinte indikativische Nominalsatz V. 22b erinnert mehr an Ms. A, da Ms. C hier den Vetitiv hat. Im weiteren Verlauf des Textes treten noch andere kleine Differenzen auf, die aus einem an den Sprachversionen orientierten Blickwinkel relevant sein könnten. So scheint die griechische Version in V. 22a vom hebräischen Text abzuweichen, da sie die passivische Formulierung ἃ προσετάγη „was dir angeordnet wurde“ enthält, während die deutsche Übersetzung des hebräischen Textes aktivisch klingt: „was du in Besitz genommen hast“. Beim genaueren Hinsehen wird jedoch deutlich, dass das jeweilige Verb in Mss. A (‫ )הורשית‬und C (‫ )הורשיתה‬in der Verursachungsform (Hifʿil von ‫)ירש‬, d. h. im Sinne eines Auftrages gebraucht wird: „was dir zum Besitz übergeben worden ist“,439 sodass die Sprachfassungen gar nicht so weit auseinander gehen. Eine weitere Abweichung begegnet in V. 25b, der im Hebräischen unpersönlich, aber in G II und Syr in der Du-Form formuliert ist.440 Dazu fällt auf, dass hier der Hebräer und der Grieche von der Unwissenheit sprechen, die sich aus Mangel an Erkenntnis ergibt: ‫„ ובאין דעת תחסר חכמה‬und wo keine Erkenntnis [ist], wird Weisheit fehlen“ / γνώσεως δὲ ἀμοιρῶν μὴ ἐπαγγέλλου441 „ohne Anteil an Erkenntnis erbiete dich als Lehrer nicht!“ Demgegenüber ist im Syrischen von der Verblendung die Rede, welche die Folge des Übermaßes an Erkenntnis ist: ̇ ‫ܝܕܥܬܐ ܐܠ ܬܗܘܐ ̇ܡܠܟ ܠܡܦܣܘ‬ ‫ܕܓܗܪ ܐܢܬ ܡܢ‬ ‫„ ܘܡܐ‬und wenn du durch die Erkenntnis ̣ verblendet bist,442 erteile keine Ratschläge, um zu überzeugen“ (vgl. Kap. 3.3.4). Ferner erwähnen Ms. A und Syr in V. 26 sowohl den positiven als auch den negativen Lebensweg, während G I nur von der bösen Alternative des Lebens spricht.

439 Alternative Übersetzung: „wovon du Eigentümer geworden bist“. Das Verb ‫„ ירש‬in Besitz nehmen“ bedeutet im Hifʿil „zum Besitze geben“ oder „in Besitz nehmen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ירש‬, 321. B. Davidson führt die Verbform ‫הֹור ְׁש ָּת‬ ַ als Hifʿil 2. Pers. Sing. masc. von ‫ ירש‬an. Vgl. Davidson, ‫הֹור ְׁש ָּת‬, ַ CLXXIV. 440 Der Personenwechsel ist auch in Sir 4,15–16 zu sehen, wo Ms. A und Syr eine Ich-Rede enthalten, während G I die 3. Pers. Sing. hat. Vgl. Böhmisch, Die Vorlage, 210. 441 Die Verbform ἐπαγγέλλου ist Imperativ von ἐπαγγέλλομαι „von sich ankündigen, sich anerbitten, sich für geschickt in einem Fache ausgeben, ἀρετήν für einen Lehrer der Tugend, überh. verheißen, sich erbieten, sich wozu bereit erklären, versprechen“ und kommt von ἐπαγγέλλω „ankündigen, anzeigen, verkündigen, wissen lassen, öffentlich ankündigen, bekannt machen“. Vgl. Benseler / Kaegi, ἐπαγγέλλω, 294–295. 442 Das Verb ‫ ܓܗܪ‬bedeutet „verblenden, verdunkeln“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܓܗܪ‬, 62 und Hanna / Bulut, ‫ܓܗܪ‬, 54 (aramäisch).

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Die letztere Version enthält auch in V. 27b den theologisch profilierteren Begriff ἁμαρτωλός „Sünder“ (vgl. Sir 2,12b in Kap. 3.1.2), wo Ms. A ‫„ מתחולל‬der Verdrehte“443 und der Syrer ‫„ ܡܪܚ‬frech, kühn, verwegen, eigensinnig, unverschämt“444 lesen. Schließlich weichen in V. 31a das hebräische Ms. A (‫„ בדרכיו‬auf seinen Wegen“) und die Peschitta (‫„ ܒܐܘܪܚܗ‬auf seinen Weg“) von der griechischen Übersetzung des Enkels ab (εἰς τὰ μετὰ ταῦτα „in Zukunft“), was wiederum stark an Sir 2,3b erinnert, wo es sich ursprünglich entweder um eine bewusste Metathese (Uminterpretation) oder um eine Verwechslung durch den Übersetzer handeln könnte (vgl. ἐπ᾽ ἐσχάτων σου / 7a1: ‫„ ܒܐܚܪܝܬܟ‬an deinem Ende“ vs. 7h3: ‫ܒܐܘ̈ܪܚܬܟ‬ „auf deinen Wegen“ in Kap. 3.1.1). Außer den geschilderten Sinnverschiebungen ist auch der in G I überlieferte V. 20 zu berücksichtigen, dessen zweite Hälfte einen Gottes- und Gebetsbezug enthält. Weil diese Passage für die Theologie des Sirachbuches relevant ist, wird sie im Rahmen der Einzelexegese in Kap. 3.3.7 näher vorgestellt. An dieser Stelle genügt es darauf hinzuweisen, dass der Kausativsatz in V. 20a: ὅτι μεγάλη ἡ δυναστεία τοῦ κυρίου „Denn groß [ist] die Macht des Herrn“, zumindest zum Teil ̈ ̇ ‫ܕܣܓܝܐܝܢ ܐܢܘܢ‬ der Formulierung in V. 19a: ‫ כי רבים רחמי אלהים‬/ ‫̈ܪܚܡܘܗܝ ܕܐܠܗܐ‬ ‫ܡܛܠ‬ „Denn groß [ist] das Erbarmen Gottes“, entspricht. Während aber in der hebräischen und der syrischen Fassung vor allem die Zuwendung Gottes zum Ausdruck gebracht wird, betont G I seine Souveränität. Der Vollständigkeit halber sei dazu angemerkt, dass das Adjektiv μέγας „groß“ nicht nur in V. 20a gebraucht wird, um die absolute Macht Gottes zu unterstreichen, sondern auch in V. 18a in Bezug auf den Adressaten, der (nur) menschliches Ansehen genießt. In die gleiche Richtung weist auch die Verwendung ̈ der Formulierung ‫ כי רבים‬/ ‫ܕܣܓܝܐܝܢ ܐܢܘܢ‬ ‫„ ܡܛܠ‬Denn groß [ist] / viele [sind]445“ sowohl in Bezug auf Gottes Erbarmen in V. 19a als auch in Bezug auf die Gedan-

443 Das Wort „der Verdrehte“ ist ein das Hebräische nachahmender, etymologisierender Übersetzungsvorschlag. Das Part. ‫חֹולל‬ ֵ ‫ ִמ ְת‬ist Hithpoʿlel von ‫„ חול‬tanzen, wirbeln, taumeln, schwanken, sich im Kreise drehen“ (vom Wirbelwind, z. B. in Jer 23,19 und 30,23) bzw. von ‫„ חיל‬beben, erschaudern, sich winden“ (vom Frevler, z. B. in Ijob 15,20). Vgl. Cassel, ‫ חול‬/ ‫חיל‬, 93; Davidson, ‫חֹולל‬ ֵ ‫מ ְת‬, ִ DXXVI; Gesenius / Buhl, ‫חול‬, 217–218; Holladay / Köhler, ‫חול‬, 97; Holladay / Köhler, ‫חיל‬, 102 und Dalman, ‫חּול‬, 139. Die alternative Übersetzungsmöglichkeit bieten Hofʿal „niedergelegt werden“ und Hithpoʿlel „beruhigt sein“. Dalman, ‫ חול‬,‫חּול‬, 139. R.-F. Edel gibt die Bedeutung von ‫ חיל‬/ ‫ חול‬in Jes 13,8 als „kreisen, sich winden (vor Schmerz), von der Gebärerin“ an. Vgl. Edel, Hebräisch-deutsche Präparation, 32. Diese phonetisch-semantische Ambivalenz kann im Deutschen im ähnlichlautenden Verb „kreißen“ d. h. „in Geburtswehen liegen, gebären“ gewissermaßen nachempfunden werden. 444 Vgl. Smith / Smith, ‫ܡܪܚ‬, 300 und Hanna / Bulut, ‫ܡܪܚܐ‬, 223 (aramäisch). 445 Die Substantive ‫ רחמים‬und ‫„ ̈ܪܚܡܐ‬Erbarmen, Barmherzigkeit“ stehen im Plur. (eigentlich: „Erbarmungen“). Vgl. Sir 2,18d in Kap. 3.1.5.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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ken der Menschen in V. 24a, wobei hier trotz einer gewissen Ähnlichkeit eine noch größere Unterschiedenheit Gottes von seiner Kreatur festzustellen ist. Dass diese Problematik bereits dem Enkel Sirachs bewusst gewesen sein könnte, bezeugt zumindest die Gegenüberstellung in Sir 2,18ab, wonach die bestimmende Scheidelinie zwischen Gott und den Menschen verläuft (vgl. Kap. 3.1.5). Schließlich können noch einige Textverschiebungen festgestellt werden, wie etwa ‫„ מתעות‬sie verführen“ (Part. Plur. fem.)446 in V. 24b vs. ἐπλάνησεν „sie verführte“ (Aorist 3. Pers. Sing.) in V. 24a sowie ‫[„ חכמים‬die] Weisen“ in V. 29a vs. σοφός „[der] Weise“ in V. 29b. Dies alles zeigt, wie problematisch ein Mischtext sein kann, der durch die Rückübersetzung fehlender hebräischer Passagen aus dem Griechischen bzw. dem Syrischen gewonnen wird, ohne dabei die hermeneutische Eigenart der jeweiligen Sprachfassung zu berücksichtigen (vgl. Kap. 1.4).

3.3.3 Kontextualisierung und Gliederung Nach der Schilderung der wichtigsten Abweichungen zwischen den einzelnen Sprachfassungen soll nun sowohl auf die Einbindung der Perikope Sir 3,17–31 in den Duktus des Ecclesiasticus als auch auf ihre Gliederung und inhaltlichen Schwerpunkte eingegangen werden. Die mehrfache Erwähnung demütiger Gesinnung in V. 17a, 19b und 20b (nur in G I) zusammen mit der in allen Sprachfassungen überlieferten Aufforderung zur Selbsterniedrigung in V.  18 genügt bereits, um die Demut als zentrales Thema des besagten Lehrtextes zu erkennen. Diese erstrebenswerte Tugend ist wiederum eng mit der Gottesfurcht verbunden, was deutlich in Sir 2,17 in G I zum Ausdruck kommt: οἱ φοβούμενοι κύριον ἑτοιμάσουσιν καρδίας αὐτῶν καὶ ἐνώπιον αὐτοῦ ταπεινώσουσιν τὰς ψυχὰς αὐτῶν „Die den Herrn fürchten, werden ihre Herzen bereit machen und vor ihm werden sie ihre Seelen erniedrigen“.447 Ein solcher tugendethischer Zusammenhang erklärt das kompositionelle Verfahren des Hagiographen, der den zu untersuchenden Absatz gleich nach der einleitenden Belehrung über die geschöpfliche Gottesfurcht (als die angemessenste Haltung Gott gegenüber) in Sir 1–2 und nach der Würdigung des Elterngebotes (als erster Konkretisierung der Gottesfurcht) in Sir 3,1–16 platziert hat. Die Demut dient nicht nur als stichwortartige Verbindung mit der voranund der nachgehenden Perikope (vgl. ταπείνωσις „Erniedrigung“ in Sir 2,4b.5b; 446 Das Wort ‫„ ַמ ְת ֶעה‬verführend“ ist die partizipiale Hifʿilform „herumirren lassen, irre führen, verführen“ und kommt von ‫„ תעה‬umherirren, taumeln, abirren, irre gehen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫תעה‬, 884–885. 447 Vgl. auch Spr 15,33. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 159.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

ταπεινόω „erniedrige“ in Sir 2,17b; 3,18a; 4,7b und ταπεινός „niedrig, demütig“ in Sir 3,20b sowie ‫„ ֲענָ וָ ה‬Demut“ / πραΰτης „Sanftmut“ / ‫„ ܡܟܝܟܘܬܐ‬Demut, Sanftmut, Bescheidenheit“448 in Sir 3,17a und 4,8b; ‫ מעט‬Piʿel: „wenig werden“449 / ‫„ ܐܙܥܪ‬verkleinern, verringern“450 in Si 3,18a; ‫„ ָענָ ו‬demütig“ / πραΰς „sanftmütig“ / ‫„ ܡܟܝܟܐ‬bescheiden, demütig, niedrig“ in 3,19b und ‫„ כפף‬beugen“451 / ‫ܐܡܟ‬ „erniedrigen“452 in Sir 4,7b), sondern sie wird auch sonst im Sirachbuch vorgestellt, z. B. in Sir 10,12–18 und 13,20.453 Als ein weiteres Bindeglied dient etwa der in V. 30b angesprochene verdienstliche Charakter der Werke der Barmherzigkeit, der thematisch an Sir 3,14–15 und 4,10 anknüpft. Tab. 8: Die Gliederung von Sir 3,17–31. Strophe

Verse

Form und Inhalt

I

17a

Anrede im Sing. (‫ בני‬/ τέκνον / ‫)ܒܪܝ‬

II III

17a–18b

Instruktionen mit Verheißungen an den Demütigen (Sing.)

19ab

Begründung (‫ כי‬/ ὅτι / ‫ )ܡܛܠ‬mit der Verheißung an die Demütigen (Plur.)

(20ab)

Nur G I: LOBGEBET vonseiten der Demütigen (Plur.)

21a–23a

Instruktionen (Verbote) im Sing.

23b–24b

Begründungen (‫ כי‬/ γὰρ / ‫ )ܡܛܠ‬im Sing. und unpersönlich

25a–28b

Alternativer Weg des Verstockten im Sing. mit einer Pflanzenmetapher in V. 28b G II und Syr in V. 25b: Verbot im Sing. Ms. A und Syr in V. 26b: Weg des Guten im Sing.

29a–31b

Weg des Guten mit Verheißungen im Sing.

Umrahmt wird die Demutsperikope durch die sapientialen Anreden ‫ בני‬/ τέκνον / ‫ ܒܪܝ‬in Sir 3,17 und 4,1. Eine zusätzliche, nur in Ms. C überlieferte Anrede ‫ בני‬in V. 18a wird durch Syr und G I nicht bestätigt. Anders als in den Lehrreden in Sir 2 und 3,1–16 fehlen in der Struktur von Sir 3,17–31 die Finalsätze mit ἵνα / ‫ܡܛܠ‬ „damit“, die sonst als Motivationen ein typischer Bestandteil der weisheitlichen Unterweisung sind. Dafür finden sich in der hebräischen und in der syrischen

448 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܡܟܝܟܘܬܐ‬, 194 (aramäisch). 449 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫באׁש‬, 443–444. 450 Die Verbform ‫ ܐܙܥܪ‬ist Afʿel von ‫„ ܙܥܪ‬verringern, verkleinern, vermindern, erniedrigen“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܙܥܪ‬, 119; Hanna / Bulut, ‫ܙܥܪ‬, 95 (aramäisch) und Hanna / Bulut, ‫ܐܙܥܪ‬, 8 (aramäisch). 451 In der Verbform ‫( הכאף‬Imperativ von ‫ )כפף‬dient der Buchstabe ‫ א‬wahrscheinlich als mater lectionis für „e“ in der Form ‫ה ֵכף‬. ָ Vgl. Reymond, Gibberish, 173 und Gesenius / Buhl, ‫כפף‬, 359. 452 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܐܡܟ‬, 14 (aramäisch). 453 Vgl. Smend, Griechisch-syrisch-hebräischer Index, 199 und 223.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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Textüberlieferung zwei Instruktions-Begründungs-Sequenzen in V. 17–19 und 21–24, wie in Tab. 8 gezeigt. Dabei werden die Instruktionen in V. 17–18 in der 2. Pers. Sing. und die Begründung in V. 19 im Plur. formuliert, während die Instruktionen in V. 21a–23a (Verbote mit ‫ ַאל‬/ μὴ / ‫ )ܐܠ‬und die sonstigen Begründungen in V. 23b–24b im Sing. stehen. Inhaltlich gesehen, werden in der ersten Strophe in V. 17–19 Aussagen über demütige Menschen gemacht, denen die wohlwollende Gesinnung Gottes verheißen wird. Daran schließt sich der nur in G I überlieferte V. 20b an, wonach es die Demütigen sind, die Gott verherrlichen, d. h. ihm Lobgebete bringen. Auch wenn in der darauffolgenden Strophe keine Stichwörter wie „Demut“ oder „demütig“ vorkommen, bleibt hier die Forderung nach einer demütigen Haltung aufrechterhalten. Der Autor warnt nämlich vor stolzem Streben, das die schöpfungsgemäßen Grenzen des Menschen übersteigen zu können meint. Die Demutsthematik klingt auch in der dritten Strophe der Perikope an, in welcher zwei alternative Lebenswege – der schändliche des Übermütigen und der selige des Fügsamen – gegenübergestellt werden: Zum einen ist in V. 25–28 von den Strafen für denjenigen die Rede, der den heilsamen Warnungen gegenüber verstockt bleibt. Eine solche unüberwindbare Verstocktheit wird zusätzlich mit einer Pflanzenmetapher in V.  28b veranschaulicht (vgl.  Kap.  3.3.5). Zum anderen werden in Ms.  A und Syr die Zuhörer auf einen gelungenen positiven Lebensweg bereits in V. 26b aufmerksam gemacht, der in allen Sprachvarianten aber erst ab V. 29a durchgehend beschrieben wird.454 Im Konkreten soll diese Lebensalternative vor allem in der Wohltätigkeit bestehen, die schon auf den nächsten Lehrtext in Sir 4,1–10 verweist. Jedem, der sie ausübt, wird in V. 31ab die Hilfe verheißen, was die ganze Perikope abschließt.

3.3.4 Intertextualität Wie bei den anderen bisher untersuchten Lehrtexten, sind schriftgelehrte Abhängigkeiten auch bei Sir 3,17–31 zu erwarten. So handelt es sich im Falle des zentralen Begriffs der Demut bzw. Sanftmut in V. 17a und 19b höchstwahrscheinlich um eine Anspielung auf Mose, dem Sirach eine eigene Perikope im Rahmen des Väterlobes widmet (vgl. Sir 45,4: ‫ באמונתו ובענותו‬455 „wegen seiner Treue und Demut“ / ἐν πίστει καὶ πραΰτητι „mit Treue und Milde“). Denn es war dieser Prophet, der demütig blieb, trotz seines hohen Ansehens bei den Ägyptern und beim jüdischen

454 In der Vg wird die entsprechende Stelle als V. 31 gezählt. 455 In Ms. B XIV recto.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Volk (vgl. ‫„ גדול‬groß, angesehen, mächtig“456 in Ms. C / μέγας „groß“ in V. 18a und Ex 11,3).457 Für die Demut als Merkmal, an dem Mose zu erkennen wäre, spricht außerdem der einmalige Gebrauch von ‫ ָענָ ו‬im Sing. in der hebräischen Bibel in Num 12,3458: ‫ל־ּפנֵ י ָה ֲא ָד ָמה‬ ְ ‫„ וְ ָה ִאיׁש מ ֶֹׁשה ָענָ ו ְמאֹד ִמּכֹל ָה ָא ָדם ֲא ֶׁשר ַע‬Der Mann Mose aber war sehr demütig, mehr als alle Menschen, die auf dem Erdboden waren“ / καὶ ὁ ἄνθρωπος Μωυσῆς πραῢς σφόδρα παρὰ πάντας τοὺς ἀνθρώπους τοὺς ὄντας ἐπὶ τῆς γῆς „Und der Mensch Mose war sehr sanfẗ ‫ܘܓܒܪܐ ܡܘܫܐ ܡܟܝܟ ܗܘܐ ܛܒ ܡܢ ܟܠܗܘܢ‬ mütig, mehr als alle Menschen auf der Erde“ / ‫ܒܢܝ ܐܢܫܐ‬ ‫ ܕܥܠ ܐܪܥܐ‬459 „und der Mann Mose war sehr demütig, mehr als alle Menschen auf der Erde“.

Diese Interpretation legt auch das Gnadefinden bei Gott in V. 18b in Ms. C: ‫ובעיני‬ ‫„ אלהים תמצא חן‬und du wirst in den Augen Gottes Gnade finden“, und in Ex 33,12: ‫את ֵחן ְּב ֵעינָ י‬ ָ ‫ם־מ ָצ‬ ָ ַ‫„ וְ ג‬ja, du [scil. Mose] hast Gunst gefunden in meinen [scil. des Herrn] Augen“460, nahe. In die gleiche Richtung weist die Kundgabe des göttlichen Geheimnisses in V. 19b in Ms. A,461 das möglicherweise den dem Propheten in Ex 3,14–15 und 6,2–3 geoffenbarten unaussprechlichen Gottesnamen ‫יְ הוָ ה‬ beinhaltet, im Gegensatz zu der an ganz Israel gerichteten Tora, worauf einerseits ‫„ גָ ָלה‬entblößen, offenbaren“ in V. 19b und ‫„ בנסתרות‬mit dem Verborgenen“462 in V. 22b und andererseits ‫„ ַהּנִ גְ ֹלת‬das Offenbare“463 und ‫„ ַהּנִ ְס ָּתר ֹת‬das Verborgene“ in Dtn 29,28 hinweisen könnten: ‫ד־עֹולם ַל ֲעׂשֹות‬ ָ ‫ּול ָבנֵ ינּו ַע‬ ְ ‫ֹלהינּו וְ ַהּנִ גְ ֹלת ָלנּו‬ ֵ ‫ַהּנִ ְס ָּתר ֹת ַליהוָ ה ֱא‬ ‫ּתֹורה ַהּזֹאת‬ ָ ‫ל־ּד ְב ֵרי ַה‬ ִ ‫ת־ּכ‬ ָ ‫„ ֶא‬Das Verborgene steht bei dem HERRN, unserm Gott; aber das Offenbare gilt uns und unsern Kindern für ewig, damit wir alle Worte dieses Gesetzes tun“. Die hier vorgeschlagene Relecture der Gestalt Moses kann ferner helfen, die rätselhafte Paränese in V. 21–24 besser zu verstehen. In der Forschung wird zwar die Ansicht vertreten, dass Sirach diese Mahnungen entweder gegen die zu seiner Zeit aktuelle hellenistische Philosophie und Forschungstätigkeit, die

456 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫גָ דֹול‬, ‫גדל‬, 129–130. 457 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 28. 458 In der LXX kommt das Wort πραΰς im Sing. masc. als griechisches Equivalent zu ‫ ָענָ ו‬bzw. ‫„ ָענִ י‬schwach, elend, arm, demütig, sanft“ noch in Joël 4,11: „[D]er Sanfte soll ein Kämpfer sein“; Zeph 3,12: „sanftmütiges Volk“ und Sach 9,9: „sanftmütiger König“ vor. 459 Hayman, Numbers, 40. 460 Diese Formulierung kommt auch in Ex 33,13.16–17 vor. Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 28. 461 V. 19 könnte wiederum die Quelle des Spruches in Mt 11,25.29 und Lk 10,21 sein. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 159. 462 Das Wort ‫ נִ ְס ָּתרֹות‬ist Part. Nifʿal Plur. fem. von ‫„ סתר‬verborgen sein“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫סתר‬, 553. 463 Das Wort ‫ נִ גְ ֹלת‬ist Part. Nifʿal Plur. fem. von ‫גָ ָלה‬. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫גָ ָלה‬, 139–140.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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zur „intellektuellen Hochmut“ führen konnten,464 oder gegen manche innerjüdischen Geistesströmungen richtete.465 Denn anstatt sich dem zu widmen, was Gott durch Mose in der Tora466 geoffenbart (vgl. V. 19b und 23b) und aufgetragen hat (vgl.  V.  22a), gaben sich wissbegierige Juden dem reizvollen „Verborgenen“ hin (vgl. V. 22b), wobei an düstere „Spekulationen“467 (vgl. V. 24ab) im Bereich der Kosmogonie, Kosmologie und Theosophie zu denken wäre468  – mehr lässt sich aber kaum sagen. Dafür ermutigt das bisher Gesagte zur Hypothese, dass Sirach bei der Warnung vor den Irrtümern und Gefahren seiner Zeit in V. 21–24 in schriftgelehrter Weise auf das negative Beispiel des Pharao in Ex 7,10–14.20–23 zurückgreift: „Da gingen Mose und Aaron zum Pharao hinein und machten es so, wie der HERR geboten hatte: Aaron warf seinen Stab vor dem Pharao und vor seinen Hofbeamten hin, und er wurde zur Schlange. Da rief auch der Pharao die Weisen und Zauberer; und auch sie, die Wahrsagepriester Ägyptens, machten es ebenso mit ihren Zauberkünsten, sie warfen jeder seinen Stab hin, und es wurden Schlangen daraus. Aber Aarons Stab verschlang ihre Stäbe. Doch das Herz des Pharao wurde verstockt, und er hörte nicht auf sie, wie der HERR geredet hatte. Und der HERR sprach zu Mose: Das Herz des Pharao ist verstockt. Er weigert sich, das Volk ziehen zu lassen […]. Da taten Mose und Aaron, wie der HERR geboten hatte; und er erhob den Stab und schlug vor den Augen des Pharao und vor den Augen seiner Hofbeamten auf das Wasser im Nil. Da wurde alles Wasser, das im Nil war, in Blut verwandelt. Die Fische im Nil starben, und der Nil wurde stinkend, und die Ägypter konnten das Wasser aus dem Nil nicht trinken; und das Blut war im ganzen Land Ägypten. Aber die Wahrsagepriester Ägyptens machten es ebenso mit ihren Zauberkünsten. Da blieb das Herz des Pharao verstockt, und er hörte nicht auf sie, wie der HERR geredet hatte. Da wandte sich der Pharao um, ging in sein Haus und nahm auch dies nicht zu Herzen.“

Zur Begründung dieses intertextuellen Bezugs soll hier angeführt werden, dass die in V. 26a und 27a gebrauchte Formulierung ‫„ לב כבד‬ein verstocktes Herz“ mit dem Ausdruck identisch ist, mit dem in Ex 7,14 das verhärtete Herz des Pharao bezeichnet wird.469 Eine solche stichwortartige Verbindung ist jedoch in den antiken Sirachversionen schwer zu erkennen, in denen in V. 26a und 27a σκληρός „hart, verstockt, unerbittlich“470 / ‫„ ܩܫܝܐ‬hart, streng, grausam, verhärtet“471 steht, 464 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 160–161. 465 Vgl. Ueberschaer, Weisheit, 354–355. 466 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 29 und Marböck, Jesus Sirach, 82. 467 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 79 und 82. 468 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 34 und Schreiner, Jesus Sirach, 29. 469 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 164 und Schreiner, Jesus Sirach, 30. 470 Vgl. Benseler / Kaegi, σκληρός, 811. 471 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܩܫܝܐ‬, 364 (aramäisch). Das Part. ‫ ܩܫܝܐ‬kommt von ‫„ ܩܫܐ‬hart werden, verhärten, erstarren“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܩܫܐ‬, 522 und Hanna / Bulut,‫ܩܫܐ‬, 364 (aramäisch).

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

im Unterschied zu βαρέομαι „beschwert sein“ / ‫ ܐܬܥܫܢ‬472 Ethpaʿal „verstärkt, stark, mutig werden, erstarken“473 in Ex 7,14. Der besagte Schriftbezug ist zwar auch in Sir 16,15 erkennbar: ‫ ייי הקשה את לב פרעה‬474 „JHWH verhärtete das Herz des Pharao“475 / ‫„ ܡܪܝܐ ܩܫܝ ܠܒܗ ܕܦܪܥܘܢ‬Der Herr hat das Herz des Pharao verhärtet“, aber die entsprechende Passage fehlt bezeichnenderweise in G I476 (in der griechischen Langfassung: κύριος ἐσκλήρυνε Φαραω „Der Herr verstockte den Pharao“). Ein weiterer Berührungspunkt zwischen der oben zitierten Exoduspassage und der sirazidischen Demutsperikope ist das Verb ‫„ באׁש‬verfaulen, stinken, übelriechend sein“ bzw. „böse sein“477 in V. 26a in Ms. A, das an das Verfaulen des Nils wegen verstorbener Fische in Ex 7,18.21, das Verfaulen des Landes wegen verstorbener Frösche in Ex 8,10 und das Verfaulen des Manna in Ex 16,20.24 erinnert. Dieser Querbezug ist aber in der griechischen und in der syrischenTextüberlieferung ebenso verwischt, denn im Buch Exodus kommen die Stichwörter wie ἐπόζω „verfaulen“ und ὄζω „stinken“ / ‫ܣܪܝ‬, ‫ ܣܪܐ‬478 „verfaulen, stinken“479 vor, während im Sirachbuch das Verb κακόω Pass.: „übel zugerichtet werden“480 / ‫ ܒܐܫ‬Peʿal: „sich verschlechtern, verschlimmern“481 zu finden ist. Das auffällige Fehlen der sprachlichen Bezüge in G I und Syr könnte entweder aus dem Missverständnis der großväterlichen Anspielung oder – wofür hier plädiert wird – aus der bewussten ägyptenfreundlichen Uminterpretation des Textes resultieren (vgl. Exkurs 9).482 Dazu ist das Verlangen nach verborgenem Wissen, von dem der Autor in V. 21b (nur in Ms. A) und V. 22b ausdrücklich abrät, vermutlich auf das Vertrauen des ägyptischen Königs auf die magischen Künste in Ex 7,11–13.22 zu beziehen (vgl. Kap. 4.1.4). Diesem Gedanken scheint zumindest der syrische Übersetzer in ̇ V. 25b zuzustimmen: ‫ܝܕܥܬܐ ܐܠ ܬܗܘܐ ̇ܡܠܟ ܠܡܦܣܘ‬ ‫ܕܓܗܪ ܐܢܬ ܡܢ‬ ‫„ ܘܡܐ‬und wenn du ̣ durch die Erkenntnis verblendet bist, erteile keine Ratschläge, um zu überzeu-

472 Koster, Exodus, 130. 473 Vgl. Smith / Smith, ‫ܥܫܢ‬, 430 und Hanna / Bulut, ‫ܥܫܢ‬, 305 (aramäisch). 474 In Ms. A VI verso. 475 Modifiziert nach Peters. 476 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 199. 477 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫באׁש‬, 897. 478 Koster, Exodus, 131–132 und 155. 479 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܣܪܐ‬, ‫ܣܪܝ‬, 282 (aramäisch). 480 Vgl. Benseler / Kaegi, κακόω, 447. 481 Vgl. Smith / Smith, ‫ܒܐܫ‬, 34 und Hanna / Bulut, ‫ܒܐܫ‬, 30 (aramäisch). 482 Zu verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten anhand von überlieferungsgeschichtlichen Modellen vgl. Kap. 1.4.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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gen“.483 Möglicherweise handelt es sich an hier sogar um die Zauberer und Berater des Pharao, denen die jüdische (vgl. Targum Pseudo-Jonathan) und die christliche Tradition (vgl. 2 Tim 3,8) die Namen Jannes und Jambres gab.484 Denn an die beiden Magier, die im Wettstreit mit Mose und Aaron waren und das Wunder mit dem Stab gesehen haben, könnten die Worte in V. 23b gerichtet sein: ‫כי רב ממך‬ ‫[„ הראית‬D]enn mehr als du [hast], hast du gezeigt bekommen“485 / πλείονα γὰρ συνέσεως ἀνθρώπων ὑπεδείχθη σοι „[D]enn es [ist] für den Menschenverstand ̇ ‫[„ ܡܛܠ‬D]enn mehr [bereits] zu viel, was dir gezeigt wurde“ / ‫ܕܣܓܝ ܡܢܟ ̣ܐܬܚܘܝ ܠܟ‬ als du [hast], ist dir gezeigt worden“.486 Demgegenüber empfiehlt Sirach seinem Leser, nur bei dem zu bleiben, wozu er bestellt wurde, wie es beim Pharao war, der vor allem auf das Wohl seiner Untertanen bedacht sein sollte, diesem Auftrag aber zum Schaden aller nicht nachkam (vgl. Ex 7,23). Vielmehr bagatellisierte er die spektakulären Wunder und Zeichen, die er von Mose im Auftrag Gottes gezeigt bekommen hatte (vgl. V 23b), was ihn unausweichlich zur Verstocktheit487 verleitete und immer schwerere Verluste herbeiführte, einschließlich des Untergangs seines Volkes und seines Heeres (vgl. V. 26a, 27a und 28a). Für die Untersuchung der Intertextualität ist ferner von Belang, dass V. 21a: ‫„ פלאות ממך אל תחקור‬Was dir zu wunderbar [ist], erforsche nicht“, offensichtliche Gemeinsamkeiten mit Ps 131,1 aufweist:488 ‫ּובנִ ְפ ָלאֹות ִמ ֶּמּנִ י‬ ְ ‫א־ה ַל ְכ ִּתי׀ ִּבגְ ד ֹלֹות‬ ִ ֹ ‫וְ ל‬ „Ich gehe nicht mit Dingen um, die zu groß und zu wunderbar für mich sind“. Darüber hinaus könnte es sich bei den Warnungen vor vermessenem Streben in V. 21–22 in Ms. C um einen Querbezug zur Paradieseserzählung handeln, wie es beispielsweise in Sir 15,14–17489 und 17,1–7490 sowie vermutlich in Sir 48,17b der Fall ist (vgl. Kap. 4.3.1 und 4.3.4). Dies ist zumindest nicht auszuschließen, weil der Ecclesiasticus zu dem kleineren Teil der biblischen Bücher gehört, die ein so ausgeprägtes Bewusstsein für die heilsgeschichtliche Bedeutung des ersten Menschen vermitteln, dass ihre antiken Übersetzungen das Wort ‫„ ָא ָדם‬Adam“ als Eigennamen betrachten (vgl. Αδαμ in Sir 33,10; 40,1 und 49,16 / ‫ ܐܕܡ‬in Sir 17,1; 483 Die fast gleiche Kritik wird an der irreführenden Weisheit der babylonischen Magier und Astrologen in Jes 47,9–15 geübt. 484 Vgl. Fischer / Markl, Das Buch Exodus, 103. 485 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „Denn es [ist] dir [bereits] zu viel, was du gezeigt bekommen hast“. 486 Um eine Anspielung auf Ex 7,11 kann es sich auch bei der Kritik der Mantiker und Weisen in Jes 44,25 handeln. Vgl. Berges, Jesaja, 384. 487 Zur Mehrschichtigkeit des Begriffs „Verhärtung / Verstockung des Herzens“ vgl. Fischer / Markl, Das Buch Exodus, 73–75. 488 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 159–160 und Ueberschaer, Weisheit, 356. 489 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 41. 490 Vgl. Witte, Texte, 65.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

33,10 und 49,16).491 Zwar scheint auf den ersten Blick der Sündenfall in Gen 3 mit dem Geschehen um Mose im Buch Exodus, das, wie oben gezeigt, als möglicher Referenztext angenommen wird, nur sehr wenig zu tun zu haben. Umso wichtiger ist es aber, dass auf die beiden biblischen Erzählungen mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der Unterweisung über die Demut in Sir 10,12–13 angespielt wird (vgl. Kap. 3.3.6). Dazu wurde laut den zwischentestamentlichen nichtkanonischen Schriften, dem apokryphen Jubiläenbuch (vgl. Jub 2,19492 und 3,10493) und der ursprünglich wohl auf Hebräisch verfassten „Apokalypse des Mose“,494 die Lebensgeschichte von Adam und Eva dem nämlichen Propheten am Sinai offenbart.495 Diesem Interpretationsschlüssel folgend, könnten etwa die „Werke“ (ἔργα / ̇ in V. 23a auf die prälapsalen Aufgaben Adams im Garten Eden, den vor‫)ܥ ̈ܒܕܘܗܝ‬ aussichtlichen Ackerbau in Gen 2,15 und die Benennung der Tiere in Gen 2,19–20, bezogen werden. Auch die Aufforderung zur Selbsterniedrigung in V. 18a wäre als Umkehrung jener Selbsterhebung aufzufassen, zu der die ersten Menschen durch das listige Versprechen der Schlange in Gen 3,5 verleitet wurden. Dieses Versprechen, wie Gott zu werden und Gut und Böse zu wissen, könnte sich besonders gut eignen als Motiv für die perverse Bestrebung, „über die geschöpflichen Grenzen hinausgreifen und eine ins Maßlose gesteigerte Erfahrung gewinnen zu wollen“496, was in V. 21b: ‫[„ רעים ממך אל ]תד[רוש‬W]as dir zu böse [ist], untersuche nicht!“, und V. 21a: χαλεπώτερά σου μὴ ζήτει „Nach dem, was dir zu schlimm [ist], verlange nicht!“, scharf angeprangert wird. Vor solchem Wissen, das die danach begehrenden Stammeltern zur Übertretung des göttlichen Urgebotes verführte (vgl. V. 24b: ‫„ ודמיונות רעות מתעות‬und böse Einbildungen verführen“ / καὶ ὑπόνοια πονηρὰ ὠλίσθησεν διανοίας αὐτῶν „und böser Argwohn lies ihre Gedan̈ ̈ ken ausgleiten“ / ‫ܬܐ ̈ܡܛܥܝܢ‬ ̣ ‫„ ܘܕܡܘܬܐ ܒܝܫ‬und böse Einbildungen führen irre“), wird vermutlich auch in V. 22 gewarnt:

491 In der LXX wird der Eigenname Adams insgesamt 32mal erwähnt: 26mal in Gen, jeweils einmal in Dtn  32,8 (bzw. Ode 2,8), 1  Chr  1,1 und Tob  8,6 sowie dreimal im Sirachbuch. Adam kommt auch in Sir 16,16 in G II vor, was M. Witte als Hinweis darauf sieht, dass der Autor „um die zu seiner Zeit im Judentum aufkommenden Adamspekulationen weiß“. Vgl. Witte, Texte, 70–71. 492 Vgl.  VanderKam, The Book of Jubilees, 260: καὶ ηὐλόγησεν αὐτὴν καὶ ἡγίασεν αὐτὴν καὶ ἐδήλωσε δι’ ἀγγέλου τῷ Μωυσῇ ὅτι. 493 Vgl. VanderKam, The Book of Jubilees, 261: διὰ τοῦτο προσέταξεν ὁ θεὸς διὰ Μωϋσέως ἐν τῷ Λευιτικῷ. 494 Vgl. Eißfeldt, Einleitung, 863. 495 Vgl. Weidinger, Apokalypse des Moses, 38. 496 Scheffczyk, Schöpfung, 398.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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‫„ במה שהורשית התבונן ואין לך עסק בנסתרות‬Auf das, was du in Besitz genommen hast, achte, und mit dem Verborgenen brauchst du dich nicht zu beschäftigen“ / ἃ προσετάγη σοι ταῦτα διανοοῦ οὐ γάρ ἐστίν σοι χρεία τῶν κρυπτῶν „Was dir angeordnet wurde, gedenke, denn mit dem Verborgenen brauchst du dich nicht zu beschäftigen“ / ‫ܒܡܐ ܕܐܫܠܛܘܟ ܐܣܬܟܠ ܘܠܝܬ ܠܟ‬ ̈ ‫ܟܣܝܬܐ‬ ‫„ ܬܘܟܠܢܐ ܥܠ‬Das, wozu sie dich ermächtigten, verstehe, und du hast keine Zuversicht hinsichtlich des Verborgenen“.

Nicht zuletzt könnte bei der Vermehrung des Leidens infolge sündhafter Verstocktheit des Herzens in V. 27a auf das Urteil angespielt werden, das Gott im Paradies über Eva verhängte. Dabei ist die in Ms. A zu findende stichwortartige Verbindung (vgl. ‫„ ירבו מכאביו‬seine Leiden werden sich mehren“ vs. Gen 3,16: ‫ַה ְר ָּבה ַא ְר ֶּבה‬ ‫„ ִע ְּצבֹונֵ ְך‬Ich werde sehr vermehren deine Beschwerde“) in G I zwar nicht leicht erkennbar (vgl. βαρυνθήσεται πόνοις „[es] wird mit Leiden beschwert werden“ vs. Gen 3,16: πληθύνων πληθυνῶ τὰς λύπας σου „Überaus zahlreich werde ich ̇ deine Schmerzen machen“), in Syr bleibt sie aber recht deutlich (vgl. ‫ܢܣܓܘܢ‬ ̈ ‫ ܡܣܓܝܘ ܐܣܓܐ‬497 ̈ ‫ܟܐܒܘܗ ̣ܝ‬ „seine Leiden werden sich mehren“ vs. Gen 3,16: ‫ܟܐܒܝܟܝ‬ „Ich werde deine Leiden sehr vermehren“498).499 Damit wollte Sirach natürlich noch keine Erbsündenlehre bekunden, da diese sich erst später infolge theologischer Reflexion über die Heilstat Jesu Christi entfaltet hat. Wegen einiger im Sirachbuch dargestellten Aspekte, wie etwa der Anwendung der bereits im AT beheimateten Idee der „Fortpflanzung“ des Bösen in V. 28b,500 der Feststellung in Sir 25,24, dass die todbringende Sünde mit einer Frau in die Menschenwelt kam, der Thematisierung von Erschaffung, Übermut und Verweslichkeit des Menschen (‫ )אדם‬in Sir 10,11–12 und 15,14 sowie der Erwähnung der „Söhne Adams“ (‫)בני אדם‬ im unmittelbaren Kontext der Verführung in Sir 3,24 bzw. des Todesschicksals in Sir 40,1 (vgl. Gen 3,19), ist dennoch beim Autor ein Mindestmaß an Wissen um die

497 Jansma / Peshiṭta Institute, Genesis, 6. 498 Alternative Übersetzungsmöglichkeit: „Ich werde deine Leiden zahlreich machen, ja zahlreich“. 499 Dies könnte ein zusätzlicher Hinweis darauf sein, dass Ms. A und Syr auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen (vgl. Kap. 1.4). 500 Vgl. Vg: frutex enim peccati radicabitur in illis „[D]enn der Spross der Sünde wird unter ihnen einwurzeln“. Der Stelle Sir 3,28 entspricht in der Vg Sir 3,30. Eine ähnliche Metapher kommt auch in Dtn 32,32 vor: ‫ּומ ַּׁש ְדמֹת ֲעמ ָֹרה‬ ִ ‫י־מגֶ ֶפן ְסד ֹם גַ ְפנָ ם‬ ִ ‫„ ִּכ‬Denn von dem Weinstock Sodoms ist ihr Weinstock und von den Terrassengärten Gomorras“ / ἐκ γὰρ ἀμπέλου Σοδομων ἡ ἄμπελος αὐτῶν καὶ ἡ κληματὶς αὐτῶν ἐκ Γομορρας „Ihr Weinstock (stammt) ja vom Weinstock Sodoms und ihre Rebe aus Gomorra“ / ‫„ ܡܛܠ ܕܡܢ ܓܦܬܐ ܕܣܕܘܡ ܓܦܬܗܘܢ ܘܡܢ ܫܬܠܬܐ ܕܥܡܘܪܐ‬Denn von dem Weinstock Sodoms [ist] ihr Weinstock und von der Plantage Gomorras“ (van Vliet, Deuteronomy, 92); vgl. auch Gen 9,18–29; 19,36–38; Jes 1,4; 43,27 und Weish 12,10–11.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Einheit aller Menschen in ihrem Urahn und um die (Unheils)solidarität mit ihm vorauszusetzen.501 Es bleibt jedoch die Frage offen, welches Ziel den hier vorgeschlagenen Anspielungen auf Gen 3 und das Exodusbuch im Rahmen der Unterweisung über die Demut in Sir  3,17–31 vorschwebte. Die Antwort darauf könnte sich vor dem Hintergrund der pädagogischen Absicht des Autors erschließen, der wegen der damals aktuellen Risiken des hellenistischen Denkens einen neuen Zugang zu den heiligen Schriften und zu den in ihnen enthaltenen göttlichen Willensäußerungen schaffen wollte. Möglicherweise bediente er sich dabei sowohl des paradiesischen Urgebotes, das durch die Stammeltern übertreten wurde, als auch des göttlichen Befehls, das Volk ziehen zu lassen, den der verstockte Pharao missachtete (vgl. V. 22a; auch Sir 17,11; 24,23 und 38,34). Indem Sirach auf die beiden Negativexempel mit ihren verheerenden Konsequenzen einging (vgl. V. 24b, 26a, 27a und Sir 15,15–17), gab er seinen nach Halt suchenden Zuhörern eine Art Orientierungshilfe an die Hand (vgl. Kap. 1.1).

3.3.5 Formale Analyse Die bisherigen Beobachtungen, insbesondere die in Kap. 3.3.3 vorgeschlagene dreistrophige Gliederung der Perikope, finden zum Teil ihre Bestätigung in den Ergebnissen der formalen Analyse. So werden etwa in der hebräischen und der syrischen Fassung die Begriffe, die demütiges Verhalten beschreiben: ‫ ֲענָ וָ ה‬/ ‫ ܡܟܝܟܘܬܐ‬in V. 17a und ‫ ָענָ ו‬/ ‫ ܡܟܝܟܐ‬in V. 19b, ausschließlich in der ersten Strophe gebraucht. Beim Griechen, der dafür zwei verschiedene Lexeme verwendet,502 entsteht sogar eine abwechselnde Sequenz: πραΰτης (V. 17a) – ταπεινόω (V. 18a) – πραΰς (V. 19b in G II) – ταπεινός (V. 20b). Diese Stellungsfigur bestätigt nicht nur die Zuordnung des letzten Gliedes in V. 20 zur ersten Strophe, sondern erinnert zugleich an die abwechselnde Verwendung der Synonyme δοξάζω und τιμάω in Sir 3,1–16 in G I / G II (vgl. Kap. 3.2.5). Auffällig sind ferner die beiden gleich gestalteten Kausalsätze, die das Ende der zweiten Strophe hervorheben: ‫ כי רב‬/ πλείονα γὰρ / ‫„ ܡܛܠ ܕܣܓܝ‬denn groß / viel [ist]“ in V. 23b und ‫ כי רבים‬/ πολλοὺς ̈ γὰρ / ‫ܕܣܓܝܐܝܢ‬ ‫„ ܡܛܠ‬denn groß / viele [sind]“ in V. 24a. Etwas Ähnliches kann in der dritten Strophe mit zwei Lebenswegen, einem schlechten in V. 25–28 und einem guten in V. 29–31, beobachtet werden. Weil V. 25 in G I gänzlich fehlt und 501 Dies, zusammen mit Weish 2,23–24, könnte eine wichtige alttestamentliche Grundlage sein, auf welcher der Apostel Paulus (vgl. Röm 5,12–21 und 1 Kor 15,21–22) und die kirchliche Lehrverkündigung aufbauten. Vgl. Scheffczyk, Schöpfung, 409–410. 502 Vgl. Kap. 1.4 und 3.2.5 sowie Reiterer, Urtext, 242 und Tesch, Weisheitsunterricht, 59.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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in Ms. A und Syr erst nach V. 27 steht (vgl. Kap. 3.3.1), markieren die gleichartigen Ausdrücke: ‫ לב כבד‬/ καρδία σκληρὰ „ein verstocktes Herz“ / ‫„ ܠܒܐ ܩܫܝܐ‬ein verhärtetes Herz“ in V. 26a und ‫„ לב חכם‬ein weises Herz“ / καρδία συνετοῦ „das Herz des Verständigen“ / ‫„ ܠܒܐ ܚܟܝܡܐ‬ein weises Herz“ in V. 29a, den ursprünglichen Anfang der jeweiligen Alternative. In Sir 3,17–31 werden auch semantische Figuren geschickt verwendet, wie etwa fehlendes Augenlicht in V. 25 als Sinnbild für mangelnde Erkenntnis. Während aber in Ms. A diese Metapher durch einen einfachen Parallelismus: ‫[„ יחסר אור‬es] wird Licht fehlen“ und ‫[„ תחסר חכמה‬es] wird die Weisheit fehlen“ ausgedrückt wird, erweitern sie die antiken Sirachversionen zu einem ausdrücklichen Verbot: μὴ ἐπαγγέλλου „erbiete dich als Lehrer nicht!“ (G II) / ‫„ ܐܠ ܬܗܘܐ ̇ܡܠܟ ܠܡܦܣܘ‬erteile keine Ratschläge, um zu überzeugen!“ Beachtenswert ist ferner die in Ms. A anzutreffende Ähnlichkeit zwischen den sprachlichen Bildern für die Sündenfortpflanzung in V. 28b: ‫„ כי מנטע רע נטעו‬denn von einer schlechten Pflanze [ist] seine Pflanze“, und für die Strafe in Sir 3,9b: ‫„ וקללת אם תנתש נטע‬und der Fluch der Mutter entwurzelt die Pflanzung“, was indirekt für die Ursprünglichkeit der Pflanzenmetapher – und somit der heutigen hebräischen Textfassung – gegenüber der Haussymbolik in der Elternperikope spräche (vgl. Kap. 3.2.2).503 Während beim Griechen die stichwortartige Verbindung zwischen den beiden Passagen noch teilweise erhalten ist (vgl. Sir 3,28b: φυτὸν γὰρ πονηρίας ἐρρίζωκεν ἐν αὐτῷ „denn eine schlechte Pflanze hat in ihm Wurzel gefasst“ vs. ἐκριζοῖ „sie entwurzelt“ in Sir 3,9b), ist sie jedoch in der Peschitta beinahe unkenntlich (vgl. Sir 3,28b: ‫ܡܛܠ‬ ‫„ ܕܡܢ ܢܨܒܬܐ ܒܝܫܬܐ ܢܨܒܬܗ‬denn von einer schlechten Pflanze [ist] seine Pflanze“ vs. ‫„ ܬܥܩܘܪ ܥܩ̈ܪܐ‬sie reißt die Wurzeln aus“ in Sir 3,9b). Nicht zu übersehen ist auch der fast am Ende der Perikope gebrauchte Vergleich (vgl. ‫ כן‬/ ‫„ ܗܟܢܐ‬ebenso“) zwischen den natürlichen feuerlöschenden Eigenschaften des Wassers und der sühnenden Wirkung der Wohltat bzw. der Barmherzigkeit in V. 30, der wiederum stark an den Vergleich der Wetterphänomene mit der Sündentilgung in Sir 3,15b erinnert (vgl. Kap. 3.2.1).

3.3.6 Gattungskritik Mit dem bislang Gesagten werden noch nicht alle Berührungspunkte der Demutsperikope mit Sir 3,1–16 ausgeschöpft. Denn wie die vorausgehende Elternperikope (vgl. Kap. 3.2.6), so weist auch Sir 3,17–31 einige inhaltliche und sprachliche Ähn-

503 An anderen Stellen erweist sich aber Ms. A als Zeuge für die jüngere Textfassung (H II). Vgl. Reiterer, Urtext, 12.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

lichkeiten mit den weisheitlichen Belehrungen im Buch Tobit auf, insbesondere in den Kapiteln 4 und 12. Als Beispiel möge der bereits erwähnte sündentilgende Charakter der Werke der Barmherzigkeit in Tob 12,9 (vgl. ἐλεημοσύνη /‫ ܡܪܚܡܢܘܬܐ‬504) und V. 30b (vgl. ἐλεημοσύνη / ‫ )ܙܕܩܬܐ‬dienen. Auffällig ist ferner das Motiv der Krankheit und Heilung in Tob 2,1–10; 11,1–15 und 12,14: καὶ νῦν ἀπέστειλέν με ὁ θεὸς ἰάσασθαί σε καὶ τὴν νύμφην σου Σαρραν / ‫ܠܟ ܘܠܟܠܬܐ‬ ̣ ‫ܘܗܫܐ ܫܕܪܢܝ ܐܠܗܐ ܠܡܐܣܝܘ‬ ‫ ܕܝܠܟ ܣܪܐ‬505 „Und nun sandte mich Gott, um dich und deine Schwiegertochter Sarra zu heilen“. Das gleiche Motiv kommt auch in V. 28a vor, auch wenn hier dem überheblichen Menschen mit „verstocktem Herzen“, der „Sünde auf Sünde häuft“, die Heilung grundsätzlich verweigert wird: ‫אל תרוץ לרפאות מכת לץ כי אין‬ ‫„ לה רפואה‬Möge die Wunde des Übermütigen nicht schnell heilen, denn für sie gibt es keine Heilung“ / ἐπαγωγῇ ὑπερηφάνου οὐκ ἔστιν ἴασις „Für die Not des ̇ ‫„ ܠܡܚܘܬܗ ܕܡܡܝܩܢܐ ܠܝܬ‬Für die Übermütigen gibt es keine Heilung“ / ‫ܠܗ ܐܣܝܘܬܐ‬ ̣ Wunde des Spötters gibt es keine Heilung“. Diese negative Konsequenz für die Gesundheit des Sünders (vgl. ὁ ἁμαρτωλὸς in V. 27b) entspricht durchaus dem Wahrsatz in Tob 12,10: οἱ δὲ ἁμαρτάνοντες πολέμιοί εἰσιν τῆς ἑαυτῶν ζωῆς / ‫̇ܗܢܘܢ‬ ̇ ‫ ܕܝܢ‬506 „Die aber Sünden tun, sind ihres eigenen ̈ ‫ܕܚܛܝܢ ܡܩ̈ܪܒܢܐ ܐܝܬܝܗܘܢ‬ ‫ܕܚܝܐ ܕܝܠܗܘܢ‬ ̣ Lebens Bekämpfer“. Gemeinsam für die beiden deuterokanonischen Texte sind auch die weisheitliche Anrede an den Zuhörer als „Sohn“ bzw. „Kind“ (vgl. V. 17a und Tob 4,3 usw.507) und das Motiv der Blindheit: sowohl das als allgemeine Metapher gebrauchte Fehlen der Pupillen in V. 25a als auch die konkrete Erblindung und Heilung des alten Protagonisten in Tob 2,1–10 und 11,1–15 (vgl. auch die Anmerkung in Tob 4,10: διότι ἐλεημοσύνη ἐκ θανάτου ῥύεται καὶ οὐκ ἐᾷ εἰσελθεῖν εἰς τὸ σκότος / ‫ܡܛܠ‬ ‫ܡܦܨܝܐ ܘܐܠ ܫܒܩܐ ܠܡܥܠ ܠܚܫܘܟܐ‬ ‫ ܕܡܪܚܡܢܘܬܐ ܡܢ ܡܘܬܐ‬508 „Denn Barmherzigkeit errettet ̣ vom Tode und lässt nicht in die Finsternis eingehen“). Eine wichtige inhaltliche Übereinstimmung besteht schließlich im Tadeln des Stolzes, wie in der kritischen Feststellung in V. 19a in G II (vgl. ὑψηλός „hochmütig“) und in der weisheitlichen Belehrung in Tob 4,13 (vgl. ὑπερηφανεύω / ‫ ܐܫܬܩܠ‬509 „sich erheben“). Ein anderer Lehrtext, der deutliche Gemeinsamkeiten mit Sir 3,17–31 aufweist, ist die Unterweisung in Sir 10,12–18, die auf die gleiche Kritik des Hochmuts zielt. Neben den diesem Thema zugeordneten stichwortartigen Verbindun̈ gen (vgl. ‫ ולענוים‬/ πραέσιν / ‫ܘܠܡܟܝܟܐ‬ in Sir 3,19b und ταπεινῶν in Sir 3,20b sowie 504 Vgl. Lebram, Tobit, [36]. 505 Lebram, Tobit, [37]. 506 Lebram, Tobit, [36]. 507 Vgl. Tob 4,4.5.12.13.14.19.21. 508 Lebram, Tobit, [10]. 509 Lebram, Tobit, [11].

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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̈ ̈ ‫ עניים‬/ πραεῖς / ‫ܡܟܝܟܐ‬ in Sir 10,14b und ταπεινοὺς / ‫ܡܟܝܟܐ‬ in Sir 10,15b)510 fällt hier vor allem die Pflanzenmetapher in Sir 10,15–16 auf (vgl. ‫„ שרש‬Wurzel“ in Ms. A; ῥίζαι „Wurzeln“ und φυτεύω „pflanzen“ in G I sowie ‫„ ܥܩܪܐ‬Wurzel“ und ‫„ ܥܩܪ‬entwurzeln“ in Syr), die stark an Sir 3,28b erinnert.511 Zu beachten sind auch die inhaltlichen Übereinstimmungen, bei denen es sich um die in Kap. 3.3.4 dargelegten Querbezüge zum AT handeln kann. Zum einen wird in Sir 10,12 vermutlich auf den Sündenfall des ersten Menschen (‫ )אדם‬angespielt: ‫ּומע ֵֹׂשהּו יסור מלבו‬ ֵ ‫מּועז‬ ָ ‫„ תחלת גאון אדם‬Der Anfang des Stolzes ist, wenn der Mensch mächtig wird, dann wendet sich von seinem Schöpfer sein Herz“ / ἀρχὴ ὑπερηφανίας ἀνθρώπου ἀφίστασθαι ἀπὸ κυρίου καὶ ἀπὸ τοῦ ποιήσαντος αὐτὸν ἀπέστη ἡ καρδία αὐτοῦ „Der Anfang des Hochmuts des Menschen (ist es), vom Herrn abzufallen, und von dem, der ihn gemacht ̈ ‫ܚܘܒܝܗܘܢ‬ ̈ ̇ ‫ܕܒܢܝܢܫܐ ܓܐܝܘܬܗܘܢ‬ hat, wandte sich sein Herz ab“ / ‫ܘܥ ̈ܒܕܝܗܘܢ ܡܫܛܝܢ ܠܒܗܘܢ‬ ‫ ܪܝܫ‬512 „Der Anfang der Schuld der Menschen [ist] ihr Stolz und ihre Taten betören ihr Herz“.513

Zum anderen klingt in Sir 10,13 das Echo des Exodusgeschehens nach: ‫כלה‬ ֵ ‫ על כן מלא ִלּבֹו אלה[ים] נֶ גַ עֹה ויכהּו עד‬514 „Darum sandte Gott wunderbare Plagen und zerschlug ihn gänzlich“ / διὰ τοῦτο παρεδόξασεν κύριος τὰς ἐπαγωγὰς καὶ κατέστρεψεν εἰς τέλος αὐτούς „Deswegen schickte der Herr außergewöhnliche Plagen und hat sie am Ende ̈ ‫„ ܡܛܠ ܗܢܐ ܦܪܫ ܐܠܗܐ‬Deswegen hat niedergeworfen“ / ‫ܡܟܬܫܝܗܘܢ ܘܡܚܐ ܐܢܘܢ ܡܚܘܬܐ ܓܡܝܪܬܐ‬ Gott ihre Streitmächte auseinandergehalten und hat sie mit einem totalen Schlag geschlagen“515

(vgl. ‫„ נֶ גַ ע‬Plage“ / ‫ ܡܚܘܬܐ‬516 „Schlag“ in Ex 11,1). All dies, zusammen mit der Unterweisung der Jugend als dem „Sitz im Leben“, der ebenso Tob 4 und 12 sowie Sir 10,12–18 gemeinsam ist, erlaubt eine gattungstheoretische Zuordnung von Sir 3,17–31 als weisheitliche Lehrrede.

510 Vgl. Smend, Griechisch-syrisch-hebräischer Index, 199 und 223. 511 Vgl. die ähnliche Metapher in Sir 3,9 in Kap. 3.2.2. 512 Anstelle von ‫ ܠܒܗܘܢ‬in der Polyglotte von Vattioni (7h3) steht in der Ausgabe von CalduchBenages (7a1) ‫ܠܗܘܢ‬. 513 Das Verb ‫„ ܐܫܛܝ‬betören“ ist Afʿel von ‫„ ܫܛܐ‬sich irren“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܫܛܐ‬, 573. Siehe auch die Auslegung dieser Stelle in Bezug auf den Übermut Hiskijas und der Jerusalemer in Kap. 4.3.4. 514 In Ms. A III verso und IV recto. 515 Möglicherweise bezieht sich hier Syr auf den Durchzug Israels durch das Rote Meer und den Untergang der nachsetzenden Streitmacht des Pharaos in Ex 14,19–30. Die alternative Übersetzungsmöglichkeit lautet: „Deswegen machte Gott einen Unterschied bei ihren Verwirrungen und schlug sie mit einem totalen Schlag“. 516 Vgl. Koster, Exodus, 140.

138 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

3.3.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 3,20 Wie anfangs angedeutet, enthält die untersuchte Demutsperikope in der Übersetzung des Enkels in V. 20b die dritte auf das Gebet bezogene Sirachstelle. Zugleich fällt auf, dass der vorausgehende V. 19 nicht in G I, sondern in G II überliefert ist und V. 20a zum Teil große Ähnlichkeit mit V. 19a im hebräischen und im syrischen Text aufweist (vgl. Kap. 3.3.2), was den Blick auf den unmittelbaren Kontext der besagten Gebetspassage in G I und die entsprechenden Verse in den anderen Sprachfassungen lenkt. Beim genauen Hinschauen zeigt sich, dass der Begründung ‫כי רבים‬ ̈ / ‫ܕܣܓܝܐܝܢ ܐܢܘܢ‬ ‫„ ܡܛܠ‬Denn groß [sind]“ in V. 19aα in Ms. A und Syr die gleichbedeutende Formulierung (die Kausalpartikel ὅτι „denn“ mit dem Prädikativ μεγάλη „groß“) in V. 20aα in G I entspricht (vgl. Abb. 9). Die Analogie erstreckt sich auch auf die Satzteile β der beiden Halbverse, indem es sich jeweils um eine Eigenschaft ̇ „das Erbarmen Gottes“ bzw. ἡ δυναστεία Gottes handelt: ‫ רחמי אלהים‬/ ‫̈ܪܚܡܘܗܝ ܕܐܠܗܐ‬ τοῦ κυρίου „die Macht des Herrn“. Angesicht dieser Beobachtungen ist zunächst zu untersuchen, ob dies auch für die darauffolgenden Passagen in V. 19b in Ms. A und in V. 20b in G I zutrifft. Sollte sich dies bestätigen, dann erhebt sich die Frage nach der Bedeutung dieser Übereinstimmung für die Gebetstheologie des griechischen Übersetzers und – soweit möglich – für die Einschätzung seines eigenen Beitrags. Tatsächlich wird aus der Abb. 9 ersichtlich, dass in V. 19bα in Ms. A und in V. 20bα in G I von den „Demütigen“ entweder als Dativobjekt ‫( לענוים‬vgl. G II: ̈ πραέσιν / ‫)ܠܡܟܝܟܐ‬ oder als Verursachern der Handlung in einer passivischen Konstruktion ὑπὸ τῶν ταπεινῶν gesprochen wird. Dafür enthalten V. 19bβ in Ms. A und V. 20bβ in G I jeweils einen Gottesbezug, wobei Gott entweder als Subjekt des Aktivsatzes: ‫„ יגלה סודו‬er wird sein Geheimnis offenbaren“ (vgl. G II: ἀποκαλύπτει τὰ μυστήρια αὐτοῦ „er offenbart seine Geheimnisse den Sanftmütigen“), oder als Gegenstand der Handlung bzw. Subjekt des Passivsatzes: δοξάζεται „er wird verherrlicht“ (in Syr als passivum divinum: ‫„ ̈ܪܐܙܐ ܡܬܓܠܝܢ‬die Geheimnisse werden offenbart“), auftritt.

Abb. 9: Die parallel angeordneten Satzteile in Sir 3,19 (Ms. A) und Sir 3,20 (G I).

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

 139

So erinnert V.  19b insgesamt daran, dass die demütigen Menschen (privilegierte) Adressaten der göttlichen Offenbarung sind, nicht zuletzt, weil sie das Wohlgefallen Gottes erlangt haben (vgl. V. 18b). Zugleich deutet V. 20b unmissverständlich darauf hin, dass (nur) sie, die Demütigen (ταπεινοί), zum Gotteslob fähig sind. Eine solche Situierung des Gotteslobes verweist zum einen auf die Demut (bzw. Sanftmut)517 als innere Disposition zum Gebet. Zum anderen kann aber das Lobgebet als Antwort des Demütigen auf die an ihn ergangene göttliche Offenbarung gedeutet werden518 (vgl. Abb. 10). Demut / Sanftmut

Offenbarung

Lobgebet

Abb. 10: Der Zusammenhang zwischen Demut (bzw. Sanftmut) und Gebet in Sir 3,19–20 in G II.

Hierbei sei nochmals kurz darauf hingewiesen, dass V. 20 nur in G I überliefert ist. Aus dieser Tatsache kann neben den oben skizzierten gebetstheologischen Aspekten auch auf den (möglichen) Verlauf der Textüberlieferung rückgeschlossen werden. Denn einerseits könnte es sich hier um eine Ergänzung seitens des griechischen Übersetzers handeln. In diesem Fall würde er sich als derjenige erweisen, der nicht nur die Unterweisungen seines Großvaters vollkommen begriffen und seinen geistlichen Horizont geteilt hat, sondern auch seine Gebetslehre selbständig zu vertiefen wusste, um auf die geistig-kulturelle Herausforderungen seiner Zeit adäquate Antwort zu geben. Denn die Feststellung in V. 20b, dass die Demut eine wesentliche Voraussetzung zum Lobgebet bildet, könnte in den Augen vieler junger Juden als eine echte Alternative erscheinen gegenüber der Ruhmsucht, die durch hellenistische Erziehung gefördert wurde (vgl. Kap. 2.1).519 Andererseits ist zu beachten, dass das überlieferte Ms. A, das zusammen mit Syr den analysierten Vers entbehrt, mit dem großväterlichen Ausgangstext (H I) im Ganzen nicht zu identifizieren ist (vgl. Kap. 1.4). Deshalb ist es nicht ganz auszuschließen, dass die besagte Gebetsstelle bereits in der hebräischen Vorlage des Enkels vorhanden war.

517 Dem Wort ‫„ ָענָ ו‬demütig“ in V. 19b in Ms. A entsprechen πραΰς „sanftmütig“ in G II und ‫ܡܟܝܟܐ‬ „bescheiden, demütig, niedrig“ in Syr. Vgl. Kap. 3.3.3 und 3.3.5. 518 Eine angemessene Antwort des Menschen auf den sich ihm offenbarenden Gott ist der Glaube (vgl. KKK 142), der in einer lebendigen, persönlichen Gottesbeziehung, d. h. im Gebet, münden soll (vgl. KKK 2558). 519 Vgl. Reiterer, Zwischen Jerusalem, 273.

140 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Abgesehen davon besitzt die hier getroffene Aussage bezüglich der Demut, der göttlichen Offenbarung und des (Lob)gebets eine allgemeine Gültigkeit in der Bibel, wie es beispielsweise bei der Heldin Judit (vgl. Exkurs 1), dem König David (vgl. ταπείνωσις „Erniedrigung“ in 2 Sam 16,12) und den Hauptprotagonisten des Buches Tobit zu sehen ist (vgl.  Kap.  3.2.4). Am deutlichsten trifft sie jedoch bei Mose zu (vgl. Kap. 3.3.4), welcher für die Nachwelt der demütigste aller Menschen (vgl. Num 12,3), herausragender Empfänger der Offenbarung (vgl. Sir 45,5), „der Prototyp des Betenden“520 (vgl. sein Eintreten für den Pharao in Ex 8,4521, für das Volk in Num 21,7 und für Aaron in Dtn 9,20) und nicht zuletzt inspirierter Autor von Gebetstexten ist (vgl. das erste Moselied in Ex 15,1–18 in Exkurs 3). Schließlich ist zu bemerken, dass sich ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Demut, Offenbarung und Gebet durch die ganze Heilige Schrift bis hin zu Jesus Christus nachverfolgen lässt, der die Kunde vom Vater in die Welt gebracht (vgl. ἐξηγήσατο in Joh 1,18) und seine Jünger zu beten gelehrt hat (vgl. Mt 6,5–15 und Lk 11,1–4). Dabei „machte [er] sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch befunden, erniedrigte er sich selbst (ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν) und wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,7–8). Dazu lehrte er die Bescheidenheit beim Essen (vgl. Lk 14,7–11), Beten (vgl. Lk 18,10–14) und Leiten (vgl. Lk 22,24–27) und bezeichnete sich selbst als πρᾷός „sanftmütig“ und ταπεινὸς „demütig“ (vgl. Mt 11,29).

Exkurs 3: Weitere Relecturen der Fürbetergestalt des Mose Es kann bis zu einem gewissen Grad verifiziert werden, ob der oben präsentierte, gebetstheologische Ansatz zutrifft, falls sich im Sirachbuch auch weitere gebetsbezogene Texte finden, die ähnlich wie Sir 3,17–31 „mosaische“ Züge tragen, ohne den Namen „Mose“ ausdrücklich zu erwähnen.522 Dafür scheint der zweite eigentliche Gebetstext, d. h. das mit einer direkten Anrede Gottes verbundene Gebet um Rettung in Sir 36,1–22 (vgl. Abb. 4) besonders geeignet zu sein, der auffällige Gemeinsamkeiten mit dem ersten Lied des Mose in Ex 15,1–18 aufweist, wie etwa in Sir 36,7 und Ex 15,6 sowie Sir 36,18 und Ex 15,17.523 Dabei kommt es aber nicht so sehr auf die einzelnen Parallelen an, sondern vielmehr auf den Gesamteindruck 520 Franziskus, Offener Geist, 223. 521 Vgl. Zapff, Sir 38,1–15, 364–365. 522 Die namentliche Nennung des Mose findet sich im „Lob der Weisheit“ in Sir 24,23, in der Moseperikope in Sir 45,1, in der Aaronperikope in Sir 45,15 und in der Josuaperikope in Sir 46,1.7. Vgl. Witte, Texte, 125. 523 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 421–423 und Zapff, Jesus Sirach, 237–238 und 240.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

 141

und darauf, dass mehrere Lexeme in den beiden Texten in derselben Reihenfolge auftreten (vgl. Tab. 9), was höchstwahrscheinlich für eine literarische Abhängigkeit zwischen ihnen spricht. Eine Abweichung bildet nur das Wort ‫„ ַּפ ַחד‬Schrecken“, das im Ecclesiasticus bereits am Anfang des besagten Gebetes in Sir 36,2 steht: ‫„ ו]הר[ים פחדך על כל הגוים‬und wirf deinen Schrecken auf alle Völker!“, aber im vermutlichen Referenztext erst gegen das Ende des Moseliedes in Ex 15,16 vorkommt:524 ‫ימ ָתה וָ ַפ ַחד‬ ָ ‫יהם ֵא‬ ֶ ‫„ ִּתּפֹל ֲע ֵל‬Es überfiel sie Schrecken und Furcht“. Tab. 9: Textuelle Gemeinsamkeiten zwischen Ex 15,1–18 und Sir 36,1–22. Lied des Mose in Ex 15,1–18

Gebet um Rettung in Sir 36,1–22525

Ex 15,2: ‫יׁשּועה זֶ ה ֵא ִלי‬ ָ ‫י־לי ִל‬ ִ ‫„ וַ יְ ִה‬denn er ist mir zur Rettung geworden. Er ist mein Gott“

Sir 36,1: ‫„ הושיענו אלהי הכל‬Rette uns, du Gott des Alls“

Ex 15,6: ‫יְמינְ ָך יְ הוָ ה ִּת ְר ַעץ אֹויֵב‬ ִ ‫יְמינְ ָך יְ הוָ ה נֶ ְא ָּד ִרי ַּבּכ ַֹח‬ ִ „Deine Rechte, o HERR, ist herrlich in Kraft; deine Rechte, o HERR, zerschmettert den Feind“

Sir 36,7: ‫„ האדר יד ואמץ זרוע וימין‬zeige die Macht deiner Hand und die Kraft deines rechten Armes“

Ex 15,7: ‫ּובר ֹב גְ אֹונְ ָך ַּת ֲהר ֹס ָק ֶמיָך‬ ְ „Und in der Fülle deiner Hoheit wirfst du nieder, die sich gegen dich erheben”

Sir 36,9: ‫„ והכניע ]צר[ והדוף אויב‬beuge den Gegner, wirf den Feind zu Boden“

Ex 15,7: ‫אכ ֵלמֹו ַּכ ַּקׁש‬ ְ ֹ ‫„ ְּת ַׁש ַלח ֲחר ֹנְ ָך י‬Du läßt los deine Zornesglut: sie verzehrt sie wie Strohstoppeln“ / ἀπέστειλας τὴν ὀργήν σου καὶ κατέφαγεν αὐτοὺς ὡς καλάμην „Du sandtest deinen Zorn, und er verzehrte sie wie Stroh“

Sir 36,11: ἐν ὀργῇ πυρὸς καταβρωθήτω ὁ σῳζόμενος „Wer entkommt, der werde von der Glut [deines] Zornes verzehrt“

Ex 15,15: ‫מֹואב‬ ָ ‫לּופי ֱאדֹום ֵא ֵילי‬ ֵ ‫„ ָאז נִ ְב ֲהלּו ַא‬Da wurden bestürzt die Fürsten Edoms; die Gewaltigen Moabs“ Ex 15,16: ‫רֹועָך יִ ְּדמּו ָּכ ָא ֶבן‬ ֲ ְ‫„ ִּבגְ ד ֹל ז‬vor der Größe deines Arms wurden sie stumm wie ein Stein“

Sir 36,12: ‫„ השבת ראש פאתי מואב‬Bring das Haupt der Fürsten Moabs zum Schweigen“

Ex 15,17: ‫ְּת ִב ֵאמֹו וְ ִת ָּט ֵעמֹו ְּב ַהר נַ ֲח ָל ְתָך ָמכֹון ְל ִׁש ְב ְּתָך‬ ‫„ ָּפ ַע ְל ָּת יְ הוָ ה‬Du wirst sie bringen und pflanzen auf den Berg deines Erbteils, die Stätte, die du, o HERR, zu deiner Wohnung gemacht hast”

Sir 36,18: ‫רחם על קרית קדשך ירושלם מכון שבתיך‬ „Hab Erbarmen mit deiner heiligen Stadt, mit Jerusalem, dem Ort, wo du wohnst“

Ex 15,18: ‫„ יְ הוָ ה׀ יִ ְמֹלְך ְלע ָֹלם וָ ֶעד‬Der HERR ist König auf immer und ewig!“

Sir 36,22: ‫„ כי אתה אל]הי עו]לם‬Du bist der ewige Gott“ / ὅτι κύριος εἶ ὁ θεὸς τῶν αἰώνων „dass du Herr bist, der Gott der Ewigkeiten“526

524 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 237. 525 Der hebräische Konsonantentext von Sir 36,1–22 ist der Polyglotte von Vattioni (vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 187 und 189) und der Edition von Beentjes (vgl. Beentjes, Part I–II, 62–63; Ms. B VI verso) entnommen. Seine deutsche Übersetzung folgt der EÜ 1980. 526 Nach der EÜ 2016.

142 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Bemerkenswert ist auch die Stelle Sir 36,11, die offensichtlich an Ex 15,7 erinnert. Sie fehlt zwar im hebräischen Ms. B VI verso, ist aber in G I überliefert: ἐν ὀργῇ πυρὸς καταβρωθήτω ὁ σῳζόμενος καὶ οἱ κακοῦντες τὸν λαόν σου εὕροισαν ἀπώλειαν „Im Zorn des Feuers soll verschlungen werden der Gerettete, und diejenigen, die dein Volk misshandeln, mögen Vernichtung finden“527 (nach der EÜ 1980: „Wer entkommt, der werde von der Glut [deines] Zornes verzehrt, die Peiniger deines Volkes sollen zugrunde gehen“).

Anders als vielleicht erwartet, zeigt der Vergleich dieser Passage mit ihrer Bezugsstelle weniger Gemeinsamkeiten mit dem griechischen als mit dem hebräischen Exodusbuch, sodass der Eindruck entsteht, dass der Enkel direkt aus dem letzteren übersetzt hat.528 Denn während die LXX in Ex 15,7 für ‫„ אכל‬essen, verzehren“ das Verb κατεσθίω „verzehren“ liest, enthält die griechische Sirachversion ein anderes – wenngleich synonymes – Verb καταβιβρώσκω. Dazu steht die in G I gebrauchte Formulierung ἐν ὀργῇ πυρὸς „im Zorn des Feuers“ dem Ausdruck ‫„ ֲחר ֹנְ ָך‬deine Zornesglut“ in Ex 15,7 im MT viel näher als der entsprechenden Formulierung τὴν ὀργήν σου „deinen Zorn“ in der LXX, die jeglichen Ausdruck für „Feuer“ bzw. „Glut“ entbehrt. Dieses Beispiel bestätigt zum einen die Eigenständigkeit der Übersetzung des Enkels gegenüber der LXX, die auch sonst durch zahlreiche Hapaxlegomena zutage tritt.529 Zum anderen weist es darauf hin, dass sich der griechische Übersetzer (bzw. der Tradent) der schriftgelehrten Arbeitsweise seines Großvaters bewusst war und dessen Werk dann selbst anhand des hebräischen Referenztextes ergänzte. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Sir 36,11 auch in Syr enthal̈ ‫ ܒܪܘܓܙܐ ܘܒܢܘܪܐ ܐܘܒܕ ܣܢܐܐ ܘܟܠ ̈ܪܘܪܒܢܐ‬530 „Im Zorn und im ̈ ten ist: ‫ܕܥܡܡܐ‬ ‫ܘܫܠܝܛܢܐ‬ Feuer vernichte den Feind und alle Vornehmen und Herrscher der Völker“531. Dass hier die Peschitta mit G I gegen Ms. B zeugt, könnte überlieferungsgeschichtlich entweder dadurch erklärt werden, dass sie von der griechischen Sirachversion

527 Nach der LXX.D (hier als Sir 33,11). 528 Vgl. auch die eigenständige (von der LXX unabhängige) Übersetzung der Bezeichnung der Waffe in Sir 46,2b aus dem hebräischen Text von Jos 8,18 in Kap. 4.2.2. 529 Reiterer konstatiert, dass in G I „228 Worte vorkommen, die ausgenommen bei Sira in der LXX nicht mehr belegt werden können. Daneben trifft man auf viele in der LXX selten benutzte Worte“. Reiterer, Urtext, 243–244. Beim Vergleich der Übersetzung des Enkels mit dem LXX-Text des protokanonischen AT ergibt sich ferner, dass „insgesamt 527 z. T. überhaupt nicht, z. T. in der LXX selten bezeugte Worte bei Γ [G I] anzutreffen sind. Bei einem Gesamtwortschatz von etwas über 2300 Worten macht dies ca. 23% (davon ca. 10% Hapaxlegomena), also fast ein Viertel (!), aus“. Reiterer, Urtext, 247. 530 Der Passage Sir  36,11 entspricht in der Rahlfs’schen Edition Sir  36,8, während sie in der Polyglotte von Vattioni als Sir 36,9 (für Ms. A und Syr) bzw. als Sir 33,11 (für die LXX) gezählt wird. 531 Modifiziert nach Zapff, Jesus Sirach, 238.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

 143

abhängig ist, oder dadurch, dass der Syrer, der Grieche und der Hebräer dieselbe Vorlage hatten, die sich allerdings vom bis dato erhaltenen hebräischen Text unterschied.532 Denn auch die äußere Bezeugung durch G I und Syr legt nahe,533 dass das Fehlen von Sir 36,11 in Ms. B sekundär sein könnte. Eine weitere Alternative wäre, dass die besagten Abweichungen bereits in den frühen Abschriften des hebräischen Sirachtextes vorgenommen wurden und von dort in die jeweiligen Sprachfassungen gelangt sind (vgl. Kap. 1.4).534 Die Gestalt des Mose sollen außerdem die beim Exodusgeschehen vollbrachten „Zeichen“ und „Wunder“ (vgl. ‫ אות‬und ‫ מופת‬in Sir 36,6 vs. Ex 7,3: ‫וַ ֲאנִ י‬ ‫ת־מֹופ ַתי ְּב ֶא ֶרץ ִמ ְצ ָריִ ם‬ ְ ‫את ַֹתי וְ ֶא‬ ֹ ‫יתי ֶאת־‬ ִ ‫ת־לב ַּפ ְרעֹה וְ ִה ְר ֵּב‬ ֵ ‫„ ַא ְק ֶׁשה ֶא‬Ich aber will das Herz des Pharao verhärten und meine Zeichen und Wunder im Land Ägypten zahlreich machen“)535 sowie die Bezeichnungen „Prophet“ und „Diener“ andeuten (vgl. ‫„ נביאיך‬deine Propheten“ und ‫„ עבדיך‬deine Diener“ in Sir 36,21–22 vs. Dtn 34,10: ‫א־קם נָ ִביא עֹוד ְּביִ ְׂש ָר ֵאל ְּכמ ֶֹׁשה‬ ָ ֹ ‫„ וְ ל‬Und es stand in Israel kein Prophet mehr auf wie Mose“, und Jos 1,1: ‫„ מ ֶֹׁשה ֶע ֶבד יְ הוָ ה‬Mose, Diener JHWHs“). Große Ähnlichkeit mit dem letzten Vers des Moseliedes in Ex 15,18: ‫„ יְ הוָ ה׀ יִ ְמֹלְך ְלע ָֹלם וָ ֶעד‬Der HERR ist König auf immer und ewig!“, weist auch die Phrase in Sir 36,22 auf, die das Gebet um Rettung in G I abschließt: ὅτι κύριος εἶ ὁ θεὸς τῶν αἰώνων „dass du Herr bist, der Gott der Ewigkeiten“536 (vgl. den nur schwer lesbaren Gebetsabschluss in Ms. B: ‫„ כי אתה אל]הי עו[לם‬Du bist der ewige Gott“537).538 Eine weitere Relecture des Mose stellt der Abschnitt über den Arzt in Sir 38, 1–15 dar, in dem in Sir 38,5 auf das Wunder in Ex 15,22–25 Bezug genommen wird, bei welchem das Wasser von Mara durch das Holz süß wurde.539 Daneben ist bei der Gebetsanweisung in Sir 38,9b: ‫ התפלל אל אל כי הוא ירפא‬540 „bete zu Gott, denn er wird heilen“541 / εὖξαι κυρίῳ καὶ αὐτὸς ἰάσεταί σε „bete zum Herrn, und er selbst wird dich heilen“ / ‫ܕܗܘܝܘ ܡܐܣܐ‬ ‫„ ̇ܨܐܠ ܩܕܡ ܐܠܗܐ‬bete vor Gott, er ̣

532 Vgl. ders., Gemeinsamkeiten, 235–236. 533 „Bei Verschiedenheit von H, Syr und Γ [G I] ist Γ den anderen vorzuziehen; mitunter ist auch Syr H überlegen. Γ ist auch dann vorzuziehen, wenn H und Syr dagegen sprechen“. Reiterer, Urtext, 13–14. 534 Vgl. Reiterer, Urtext, 250–251. 535 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 421–422 und Zapff, Jesus Sirach, 237. 536 Nach der EÜ 2016. 537 Nach der EÜ 1980. 538 Die Gottesprädikation in Sir  36,22 könnte auch eine Anspielung auf Gen  21,33 sein. Vgl. Witte, Texte, 76. 539 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 254. 540 In Ms. B VIII recto. 541 Zapff, Schriftgelehrte Rezeptionen, 617.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

ist der, der heilt“542, mit einer schriftgelehrten Abhängigkeit mit der Selbstcharakterisierung Gottes in Ex 15,26543: ‫[„ ִּכי ֲאנִ י יְ הוָ ה ר ְֹפ ֶאָך‬D]enn ich bin der HERR, der dich heilt“, zu rechnen. Durch diesen zweifachen intertextuellen Bezug verbindet Sirach die Verheißung der göttlichen Heilung (in Ms. B und G I) bzw. die grundsätzliche Aussage über die Alleinwirksamkeit Gottes (in Syr) mit dem Beispiel aus der Heilsgeschichte, bei dem Gott durch die Mitwirkung eines Menschen und unter Heranziehung eines „natürlichen“ Heilmittels heilt. Dementsprechend rät Sirach bei Krankheit – neben dem Gebet und der Beseitigung moralischen Fehlverhaltens – in Sir 38,12 dringend dazu, sich an den Arzt zu wenden, der ein „Handlanger Gottes“ ist.544 Gegen mögliche Vorbehalte seitens der jüdischen Tradition545 untermauert er seine Offenheit gegenüber Medizin und Ärzten in Sir 38,13 dadurch, dass auch der Arzt für den Kranken zu Gott betet, wobei es sich an dieser Stelle vermutlich um einen Querbezug zu Ex 8,4 handelt, wo Mose als Betender auftritt.546

3.3.8 Zusammenfassung Die Perikope Sir  3,17–31 ist sowohl in griechischer und syrischer Übersetzung als auch in hebräischer Sprache überliefert, wobei Ms. A, außer V. 20, fast den ganzen Abschnitt und Ms. C mit V. 17–18 und 21–22 zwei kurze, von Ms. A leicht abweichende Passagen enthalten. Allerdings ist die dritte auf das Gebet bezogene Sirachstelle in V. 20 nur in der Übersetzung des Enkels zu finden (vgl. Kap. 3.3.1). Dabei zeigt der Vergleich der Sprachfassungen, dass G I überwiegend der Kairoer Handschrift C nähersteht. Die griechische Variante deutet aber den hebräischen Text in V. 17b so um, dass es zum Perspektivenwechsel vom Geben zum Annehmen führt. Ein weiterer Unterschied liegt in V. 20a, wo G I zwar an die Formulierung in V. 19a in Ms. A und Syr erinnert, aber eher die Souveränität Gottes („die Macht des Herrn“) als seine Zuwendung („das Erbarmen Gottes“; vgl. Kap. 3.3.2) betont. Wie die vorangehenden Passagen, bezieht sich auch V. 20b auf die Demütigen. Dies bildet zugleich den Grundton des Absatzes, weil nach den Warnungen vor den stolzen Bestrebungen, die dem Menschen gemäßen Grenzen zu übersteigen, und nach den entsprechenden Begründungen in V. 21a–24b zwei Lebensalternativen 542 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 34. 543 Vgl. Zapff, Schriftgelehrte Rezeptionen, 616. 544 Vgl. ders., Jesus Sirach 25–51, 256 und ders., Schriftgelehrte Rezeptionen, 618. 545 Vgl. 2 Chr 16,12. 546 Das Gebet des Mose für den Pharao ist auch in Ex 8,5.24.25; 9,28 und 10,17 belegt. Vgl. Zapff, Sir 38,1–15, 364–365.

3.3 Demut als Merkmal der Gebetsfähigkeit in Sir 3,17–31 

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skizziert werden: einerseits der Weg der verstockt Übermutigen in V. 25a–28b und andererseits der Weg derer, die sich der göttlichen Ordnung fügen, in V. 29a–31b (vgl. Kap. 3.3.3). Die hier vom Autor propagierte Lebensführung der Demütigen spiegelt die persönlichen Züge des Mose wieder (vgl. Num 12,3), was durch einige schriftgelehrte Abhängigkeiten des hebräischen Ms. A mit dem Exodusgeschehen bestätigt wird, z. B. „ein verstocktes Herz“ in V. 26a, 27a und Ex 7,14 (vgl. Kap. 3.3.4). Ein weiterer Bezugstext, insbesondere für V. 18a, 21 (Ms. C und G I), 24ab und 27a, ist vermutlich die Erzählung über den Sündenfall in Gen 3, dessen Ursache bekanntlich der Stolz war, wie Gott werden zu wollen. In diesem Interpretationskontext erscheinen die göttlichen Befehle – sowohl das durch die Stammeltern noch im Paradies vernommene Urgebot als auch die durch Mose verkündigte Forderung an den Pharao, das Volk ziehen zu lassen  – als Konkretisierungen des geoffenbarten Willens Gottes und als ethische Orientierungshilfe für die nach Halt suchenden Zuhörer. Weil es aber nach der Übertretung der genannten göttlichen Gebote leider nicht bei einer Sünde blieb, gebraucht Sirach in V. 28b die Pflanze als Sinnbild für die Fortpflanzung des Bösen (vgl. Kap. 3.3.5). Dem steht die feuerlöschende Wirkung des Wassers entgegen als Metapher für die Vergebung der Sünden durch die Werke der Barmherzigkeit in V. 30ab. Eine sehr ähnliche Wertschätzung der Barmherzigkeit kommt im deuterokanonischen Tobitbuch vor (vgl. Tob 12,9), das nicht nur die gleichen Motive, wie etwa Blindheit und Heilung (vgl. Tob 2,1–10 und 11,1–15), sondern auch die Kritik des Hochmuts kennt (vgl.  Tob  4,13), welche das Hauptthema der untersuchten Perikope darstellt. Dies alles zusammen mit der Verwendbarkeit zur weisheitlichen Unterweisung der Jugend als „Sitz im Leben“ bestätigt die gattungstheoretische Einordnung von Sir 3,17–31 als Lehrrede (vgl. Kap. 3.3.6). Einige inhaltliche und formale Gemeinsamkeiten mit der hier untersuchten Perikope teilt außerdem die Unterweisung über die Demut in Sir  10,12–18, vor allem die Passage Sir 10,12–13, die vermutlich auch die oben genannten Querbezüge zu Gen 3 und zum Exodusgeschehen enthält. Eine solche Relecture der Ereignisse um die Gestalt Moses, des demütigsten aller Menschen, des Empfängers der Offenbarung und des prominenten Fürbeters Israels, wirft mehr Licht auf das Gebetsverständnis des Enkels des Spruchdichters (vgl.  Kap.  3.3.7). Schlüssige Erkenntnisse dazu liefert ein detaillierter Vergleich von V. 19 in Ms. A und V. 20 in G I, wonach das Lobgebet einerseits der Demut als innerer Disposition bedarf (vgl. V. 20b) und andererseits als Antwort der Demütigen auf die an sie ergangene göttliche Offenbarung aufgefasst werden kann (vgl. V. 19b). Die Legitimität der hier vorgeschlagenen „mosaischen“ Interpretation – und somit des schriftgelehrten Umgangs des Autors mit der Heiligen Schrift  – lässt sich insofern bestätigen, als dass sich auch die anderen Sirach-

146 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

texte, wie etwa der Gebetstext in Sir 36,1–22 und die Arztperikope in Sir 38,1–15 beim näheren Hinschauen als Relecture des ersten Moseliedes in Ex 15,1–18 und des Wasserwunders von Mara in Ex 15,22–26 erweisen (vgl. Exkurs 3).

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 3.4.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Die vierte auf das Gebet bezogene Sirachstelle befindet sich innerhalb der Perikope Sir 4,1–10, deren einziger vorhandener hebräischer Textzeuge Ms. A ist.547 Da die EÜ  1980 auf die Wiedergabe mancher im hebräischen und im griechischen Text enthaltenen sinngemäßen Doppelungen548 verzichtet, wird in V. 2–5 ausnahmsweise eine von ihr leicht abweichende Verszählung gewählt, die sich einerseits nach der Edition des hebräischen Textes von P. Beentjes und andererseits nach der LXX-basierten EÜ 2016 richtet (besonders für die nur in G I überlieferten V. 4b und 5a).549 Zunächst fällt auf, dass Ms. A in V. 1b von einem Armen spricht: ‫נפש עני ומר‬ ‫„ נפש‬die Seele des Armen und [einer mit] verbitterter Seele“ (analog zu Syr: ‫ܡܣܟܢܐ‬ ‫„ ܚܫܝܟܐ‬ein finsterer, verachteter Armer“550). Peters erklärt jedoch die erste ‫ ֶנ ֶפׁש‬für überflüssig und vokalisiert folgendermaßen: ‫„ ֵענֵ י ַמר נָ ֶפׁש‬die Augen des Seelenbetrübten“.551 Dabei orientiert er sich an den Wortlaut von G I: ὀφθαλμοὺς ἐπιδεεῖς „die bedürftigen Augen“, was jedoch auf der Verwechslung zwischen ‫„ ָענִ י‬arm“ und ‫( ֵעינֵ י‬selten: ‫)ענֵ י‬ ֵ „Augen“552 beruhen könnte. Mehrere textkritische Schwierigkeiten bereitet auch die Passage in V. 2a, denn es könnte sich beim Ausdruck ‫ רוֶ וח‬um das fehlerhaft geschriebene Wort 547 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 19 und 21 sowie Beentjes, Part I–II, 24 (Sir 4,1a–10b in Ms. A I recto und Sir 4,10cd in Ms. A I verso). Das Textstück Sir 4,1a–10b in Ms. A I recto kann unter: https://www.bensira.org/navigator.php?Manuscript=A&PageNum=1, abgerufen werden; letzter Abruf am 21.02.2019. 548 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 85 (auch Fußnote 339). 549 Zur unterschiedlichen Verszählung der Passage vgl. Reiterer, Zählsynopse, 98. 550 Das Adjektiv ‫„ ܚܫܝܟ‬finster, unbekannt“ ist eigentlich Part. Pass. von ‫„ ܚܫܟ‬dunkel, finster werden“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܚܫܟ‬, 162 und Hanna / Bulut, ‫ܚܫܝܟܐ‬, ‫ܚܫܟ‬, 115 (aramäisch). Es kann auch jemanden bezeichnen, der unbekannt, am Rande der Gesellschaft, verachtet lebt. Vgl. ̈ „die Niedrigen“ in Spr 22,29. ‫ ֲח ֻׁש ִּכים‬/ ‫ܚܫܝܟܐ‬ 551 Siehe dazu Ps 88,10: ‫„ ֵעינִ י ָד ֲא ָבה ִמּנִ י עֹנִ י‬Mein Auge verschmachtet vor Elend“. Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 38. 552 Das Wort ‫ ֵעינֵ י‬ist Dual constr. von ‫„ ַעיִ ן‬Auge“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫עיִ ן‬, ַ 582.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

 147

‫„ ָרוֶ ה‬reichlich benetzt, satt getränkt“553 oder ‫„ ְרוָ יָ ה‬Fülle, Überfluss an Getränk“554 handeln, sodass im behandelten Satz von „einer dürstenden Seele“ die Rede wäre, analog zur Formulierung ψυχὴν πεινῶσαν „eine hungernde Seele“ in G I.555 Sollte aber ‫ רוֶ וח‬vielmehr mit dem Wort ‫„ ֶרוַ ח‬weiter Raum, Zeitraum, Abstand“556 (vom Verb ‫„ ָרוַ ח‬sich ausweiten, sich verbreiten“557) zusammenhängen, dann wäre es lediglich eine Anmerkung des Abschreibers, der in der fortlaufend aufgezeichneten Handschrift A zwei gleiche Wörter ‫ נפש‬am Ende von V. 1 und am Anfang von V. 2 mit Hilfe eines „Zwischenraums“ auseinanderhalten wollte, wofür R. Smend und der bereits erwähnte N. Peters plädieren.558 Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass hier der Autor von der psychologischen Bedeutung von ‫רוַ ח‬,ָ i. S. v. „es wird jemandem weit, jemand fühlt sich erleichtert“559, ausgegangen ist, wie beim aramäischen Verb ‫„ ְרוַ ח‬sich erleichtert fühlen“560 und bei den Substantiven: ‫ְרוָ ָחה‬ „Erleichterung, Wohlbefinden“561 und ‫„ ܪܘܘܚܐ‬Erleichterung, Trost, Ruhe, Gemütlichkeit, Behaglichkeit, Wohlstand, Wohlfahrt, Freiheit“562. Weil das Adjektiv ‫„ ַח ִּסיר‬mangelhaft“563 bedeutet (von ‫„ חסר‬fehlen, entbehren“564, vgl. Sir 3,25ab), handelt es sich in Ms. A höchstwahrscheinlich um jemanden (‫)נפש‬, welcher der notwendigen, inneren Ruhe entbehrt. Dazu konjiziert Smend: ‫ אל תפיח‬565 „betrübe nicht!“566 (vgl. μὴ λυπήσῃς „betrübe nicht!“ in G I, vgl. Sir 3,12b) anstelle von ‫אל‬ ‫„ תפוח‬entmutige nicht!“567.568

553 Vgl. König, ‫רוֶ ה‬,ָ 435 und Gesenius / Buhl, ‫רוֶ ה‬,ָ 748. 554 Vgl. König, ‫רוָ יָ ה‬,ְ 435 und Gesenius / Buhl, ‫רוָ יָ ה‬,ְ 750. 555 Vgl. Ps 107,9. 556 Vgl. König, ‫רוַ ח‬,ֶ 435 und Dalman, ‫רוַ ח‬,ֶ 400. Das Wort bedeutet im metaphysisch-psychologischen Sinne „Befreiung“. Vgl. König, ‫רוַ ח‬,ֶ 435. 557 Vgl. Dalman, ‫רוַ ח‬,ָ 400. 558 Vgl. Smend, Die Weisheit, 2 (hebräisch); Peters, Das Buch Jesus Sirach, 38 und Tesch, Weisheitsunterricht, 85 (Fußnote 340). 559 Vgl. König, ‫רוַ ח‬,ָ 435 und Gesenius / Buhl, ‫רוח‬, 748. 560 Vgl. Dalman, ‫רוַ ח‬,ְ 400. 561 Vgl. König, ‫רוָ ָחה‬,ְ 435; Gesenius / Buhl, ‫רוָ ָחה‬,ְ 750 und Dalman, ‫רוָ ָחה‬,ְ 400. 562 Vgl. Smith / Smith, ‫ܪܘܘܚܐ‬, 533 und Hanna / Bulut, ‫ܪܘܘܚܐ‬, 370 (aramäisch). 563 Vgl. Cassel, ‫ח ִּסיר‬, ַ 105; Davidson, ‫ח ִּסיר‬, ַ CCLXVIII und Gesenius / Buhl, ‫ח ִּסיר‬, ַ 907. 564 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫חסר‬, 248. 565 Smend, Die Weisheit, 2 (hebräisch). 566 Die Hifʿilform ‫ תפיח‬bedeutet in Verbindung mit ‫נ ֶפׁש‬:ֶ „jemanden betrüben“ und stammt von ‫„ נפח‬blasen“ bzw. (in Verbindung mit ‫)נ ֶפׁש‬ ֶ „betrübt sein“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫נפח‬, 511. 567 Die Imperfektform ‫ תפוח‬kommt von ‫„ פוח‬blasen“ (vgl. Gesenius / Buhl, ‫פוח‬, 636), in Verbindung mit ‫נ ֶפׁש‬:ֶ „jemandes Seele ausblasen, d. h. entmutigen“ (vgl. Dalman, ‫ּפּוח‬, ַ 328) bzw. im metaphorisch-psychologischen Sinne: „anblasen, d. h. als eine verächtliche Größe behandeln“ (vgl. König, ‫ּפּוח‬, 359). 568 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 163 und 166.

148 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

An dieser Stelle sei noch kurz bemerkt, dass während das besagte Wort ‫רוֶ וח‬ ̇ in Ms. A in V. 2a am Anfang der Phrase vorkommt, der Ausdruck ‫ܪܘܚܗ‬ „ihr [scil. ̇ ̇ der Seele] Geist“ in der Peschitta am Ende steht: ‫ܠܗ ܐܠ ܬܟܐܒ ܪܘܚܗ‬ ̣ ‫ܢܦܫܐ ܕܚܣܝܪ‬ „Die Seele, der es mangelt: kränke ihren Geist nicht!“ Eine wörtliche Übersetzung von … ‫„ רוֶ וח נפש חסירה‬eine der [inneren] Ruhe entbehrende Seele …“ ins Syrische müsste jedoch die folgende Formulierung ergeben: … ‫ܪܘܘܚ ܢܦܫܐ ܚܣܝܪ‬, was auch eine an Ruhe mangelnde Person bezeichnen kann und zwar weniger naheliegend, aber zumindest dem syrischen Sprachgefühl denkbar scheint. Dafür spräche etwa, dass die Verben ‫„ ܪܘܚ‬ausbreiten, vergrößern, erweitern“ (bzw. im metaphorischen Sinn: „erleichtern“)569 und ‫„ ܢܓܪ‬lang“ bzw. „länger werden“570, die teilweise eine ähnliche Bedeutung haben, mit den Worten ‫ ܪܘܚܐ‬,‫ ܢܦܫܐ‬und ‫ܠܒܐ‬ idiomatische Ausdrücke bilden können. Als Beispiele mögen hier ‫„ ܪܘܝܚ ܠܒܐ‬großherzig“ (wörtlich: „ein weites, ausgedehntes Herz“)571 und ‫„ ܐܓܪ ܪܘܚܟ‬sei langmütig!“ in Sir 2,4b (wörtlich: „mach deinen Geist lang!“)572 angeführt werden.573 Sogar das antonyme Verb ‫„ ܟܪܐ‬kürzen, verkürzen, trauern“574 bildet mit ‫ܪܘܚܐ‬ einen festen Ausdruck in V. 9b: ‫„ ܘܐܠ ܬܬܟܪܐ ܪܘܚܟ‬und sei nicht traurig!“ (wörtlich „und dein Geist sei nicht verkürzt!“). All dies ermutigt zur Hypothese, dass der syrische Übersetzer in V. 2a die Reihenfolge der Satzglieder in der hebräischen Vorlage umgestellt haben könnte. Auffällig ist außerdem der punktierte Präpositionalausdruck ‫ ִמ ְּמ ֻד ְכ ָּד ֯ך‬in V. 2b (Vattioni liest hier ‫)מ ְּמ ֻד ְכ ָּדי‬, ִ der wahrscheinlich eine reduplizierte Partizipform von ‫דוך‬, ‫ דכא‬, ‫ דכה‬oder ‫„ דכך‬zerschlagen“ (vgl. ‫„ ַּדְך‬unterdrückt“ in V. 3a)575 darstellt, was Syr zu unterstützen scheint (vgl. ‫„ ܬܒܝܪܐ‬gebrochen“576). Schließlich ist an der verdorbenen Stelle von Ms. A in V. 3a der Vetitiv mit der Hifʿilform von ‫חמר‬ „gären“ zu ergänzen: ‫„ אל תחמיר‬lass nicht gären!“, weil dieses Verb mit ‫( ֵמ ֶעה‬Plur. constr. ‫מ ֵעי‬, ְ „Eingeweide“, übertragen: „das Innere, wo das Herz sich befindet,

569 Vgl. Smith / Smith, ‫ܪܘܚ‬, 533 und Hanna / Bulut, ‫ܪܘܚ‬, 370 (aramäisch). 570 Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܓܪ‬, 327 und Hanna / Bulut, ‫ܢܓܪ‬, 250 (aramäisch). 571 Vgl. Smith / Smith, ‫ܪܘܚ‬, 533 und Hanna / Bulut, ‫ܪܘܝܚܐ‬, 371 (aramäisch). 572 Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܓܪ‬, 328. 573 Vgl. auch ‫„ ַא ֲא ִריְך ַא ִּפי‬ich halte meinen Zorn lange an, bin langmütig“ (wörtlich: „ich mache meinen Zorn lang“) in Jes 48,9. Das Verb ‫ ֶה ֱא ִריְך‬ist Hifʿilform von ‫„ ארְך‬lang werden“ und bedeutet „lang machen“. Vgl. Edel, Hebräisch-deutsche Präparation, 118. 574 Vgl. Smith / Smith, ‫ܟܪܐ‬, 224 und Hanna / Bulut, ‫ܟܪܐ‬, 147 (aramäisch). Das Verb ‫ ܐܬܟܪܝ‬ist Ethpaʿal von ‫ܟܪܐ‬. 575 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫דוך‬, 158; Gesenius / Buhl, ‫ּדְך‬,ַ 161 sowie Gesenius / Buhl, ‫דכא‬, ‫ דכה‬und ‫דכך‬, 161–162. 576 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܬܒܝܪܐ‬, 411 (aramäisch).

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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Sitz der Gefühle“) den idiomatischen Ausdruck „Eingeweide gären“ bildet, der „heftige Seelenschmerzen empfinden“ bedeutet.577 Hebräischer Text Ms. A (1a) (1b)

‫בני אל תלעג לחיי עני‬ ‫ואל תדאיב נפש עני ומר נפש‬

(2a) (2b) (3a) (3b) (3c) (4a) (5b)

‫רוֶ וח נפש חסירה אל תפוח‬578 ‫ואל תתעלם ִמ ְּמ ֻד ְכ ָּד ֯ך נפש‬ ‫אל [תחמיר] מעי דך‬ ‫וקרב עני אל תכאיב‬ ‫אל תמנע מתן ממסכינך‬ ‫ולא תבזה שאולות דל‬ ‫ולא תתן לו מקום לקללך‬

(6a)

‫צועק מר רוח בכאב נפשו‬

(6b) (7a) (7b) (8a) (8b) (9a) (9b)

‫ובקול צעקתו ישמע צורו‬ ‫האהב לנפשך לעדה‬ ‫ולשלטון עוד הכאף ראש‬ ‫הט לעני אזנך‬ ‫והשיבהו שלום בענוה‬ ‫הושע מוצק ממציקיו‬ ‫ואל תקוץ רוחך במשפט יושר‬

(10a) (10b) (10c) (10d)

‫היה כאב ליתומים‬ ‫ותמור בעל לאלמנות‬ ‫ואל יקראך בן‬ ‫ויחנך ויצילך משחת‬

Deutsche Übersetzung Mein Sohn, spotte nicht über das Leben des Armen und lass die Seele des Armen und [einen mit] verbitterter Seele nicht verschmachten. Entmutige nicht die der [inneren] Ruhe entbehrende Seele und verbirg dich nicht vor der Seele des Zerschlagenen. [Lass] die Eingeweide des Unterdrückten nicht [gären]579 und lass das Innere des Armen nicht leiden. Verweigere die Gabe einem Elenden [neben] dir nicht. Und du sollst die Bitten des Schwachen nicht verachten und du sollst ihm keine Gelegenheit geben, dich zu verfluchen. Schreit [einer mit] verbittertem Geist im Schmerz seiner Seele, so wird sein Fels auf die Stimme seines Geschreis hören. Mach dich selbst beliebt bei der Versammlung und beuge noch mehr das Haupt vor dem Machthaber. Neige einem Armen dein Ohr zu und erwidere ihm den Friedensgruß in Demut. Rette den Bedrängten vor seinen Bedrängern und dein Geist empfinde keine Furcht vor dem gerechten Urteil. Sei den Waisen wie ein Vater und ersetze den Witwen einen Ehemann und Gott wird dich „Sohn“ nennen und er wird dir gnädig sein und dich vor dem Grab retten.

Der unten abgedruckte griechische Text der Perikope entspricht den Editionen von Rahlfs und von Ziegler sowie der Polyglotte von F. Vattioni,580 die bis auf V. 5b miteinander übereinstimmen. An der genannten Stelle liest Rahlfs – mit 577 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫חמר‬, 242 und Gesenius / Buhl, ‫מ ֶעה‬, ֵ 442–443. 578 Anstatt von ‫„ אל תפוח‬entmutige nicht!“ konjiziert R. Smend: ‫„ אל תפיח‬betrübe nicht!“. Smend, Die Weisheit, 2 (hebräisch). 579 Übertragen: „Errege nicht das Innere des Unterdrückten“. Tesch, Weisheitsunterricht, 85. Wegen der lückenhaften Textüberlieferung wird hier der vermutete idiomatische Ausdruck für „heftige Seelenschmerzen empfinden“ wortwörtlich übersetzt. Siehe die weiteren Erklärungen im Text. 580 Vgl. Ziegler, Sirach, 142–143; Vattioni, Ecclesiastico, 18 und 20 sowie Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 383.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

den Kodizes B581 und ‫א‬582 – das Substantiv ἀνθρώπῳ „dem Menschen“, während Ziegler und Vattioni das Personalpronomen αὐτῷ „ihm“ konjizieren583 (vgl. ‫ לו‬in Ms. A und ‫ ܠܗ‬in Syr). Der genannte Kodex ‫ א‬enthält außerdem einige Abweichungen, die aber den Sinn des Textes kaum verändern, wie etwa ἀπὸ προσδεομένου584 (ursprüngliche Lesart der Majuskel, S✶) statt ἀπὸ δεομένου „vom Bittenden“ in V. 5a, εἰσακούσεται statt ἐπακούσεται „er wird erhören“ in V. 6b und κρίνεσθαι „entscheiden“585 statt κρίνειν „urteilen“ in V. 9b. Eine Ausnahme bildet nur der Zusatz πρεσβυτέρῳ „[vor] dem Älteren“ vor V. 7b, der aber nicht in anderen Majuskeln,586 sondern nur in der Vg belegt ist: et presbytero humilia animam tuam et magnato humilia caput tuum „und dem Ältesten erniedrige deine Seele und dem Großen erniedrige dein Haupt!“

(1a) (1b) (2a) (3a)

Griechische Version

Deutsche Übersetzung

τέκνον τὴν ζωὴν τοῦ πτωχοῦ μὴ ἀποστερήσῃς καὶ μὴ παρελκύσῃς ὀφθαλμοὺς ἐπιδεεῖς

Kind, bringe den Armen nicht um den Lebens[unterhalt] und lass die bedürftigen Augen nicht warten. Betrübe eine hungernde Seele nicht und erzürne einen Mann in seiner Ausweglosigkeit nicht. Errege ein erzürntes Herz nicht weiter

(3c)

ψυχὴν πεινῶσαν μὴ λυπήσῃς καὶ μὴ παροργίσῃς ἄνδρα ἐν ἀπορίᾳ αὐτοῦ καρδίαν παρωργισμένην μὴ προσταράξῃς καὶ μὴ παρελκύσῃς δόσιν προσδεομένου

(4a)

ἱκέτην θλιβόμενον μὴ ἀπαναίνου

(4b)

καὶ μὴ ἀποστρέψῃς τὸ πρόσωπόν σου ἀπὸ πτωχοῦ ἀπὸ δεομένου μὴ ἀποστρέψῃς ὀφθαλμὸν

(3b)

(5a)

und lass einen Bedürftigen auf die Gabe nicht warten. Einen bedrängten Schutzflehenden weise nicht ab und wende dein Gesicht von einem Armen nicht ab. Wende das Auge von einem Bittenden nicht ab.

581 Sir  34,1a–10d im Codex Vaticanus, p. 836, kann unter: http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat. gr.1209/0840, geöffnet werden; letzter Abruf am 26.02.2019. 582 Die Perikope Sir 4,1–10 aus dem Codex Sinaiticus, Folio 161b–162, Schreiber A, kann unter folgendem Link: http://codexsinaiticus.org/de/manuscript.aspx?book=31&chapter=3&lid=de&side=r&verse=2&zoomSlider=0, eingesehen werden; letzter Abruf am 26.02.2019. 583 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 85. 584 Das Verb προσδέομαι bedeutet „noch dazu bedürfen, noch mehr begehren, erbitten, bitten“. Vgl. Benseler / Kaegi, προσδέω, 766. 585 Der Inf. Präsens κρίνεσθαι kann als Deponens Med. „entscheiden“ und als Pass. „beurteilt, entschieden werden“ bedeuten. Vgl. Benseler / Kaegi, κρίνω, 515. 586 Vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 383.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

(5b)

(7a)

καὶ μὴ δῷς τόπον ἀνθρώπῳ καταράσασθαί σε καταρωμένου γάρ σε ἐν πικρίᾳ ψυχῆς αὐτοῦ τῆς δεήσεως αὐτοῦ ἐπακούσεται ὁ ποιήσας αὐτόν προσφιλῆ συναγωγῇ σεαυτὸν ποίει

(7b)

καὶ μεγιστᾶνι ταπείνου τὴν κεφαλήν σου

(8a) (8b)

(9b)

κλῖνον587 πτωχῷ τὸ οὖς σου καὶ ἀποκρίθητι αὐτῷ εἰρηνικὰ ἐν πραΰτητι ἐξελοῦ ἀδικούμενον ἐκ χειρὸς ἀδικοῦντος καὶ μὴ ὀλιγοψυχήσῃς ἐν τῷ κρίνειν σε

(10a) (10b) (10c)

γίνου588 ὀρφανοῖς ὡς πατὴρ καὶ ἀντὶ ἀνδρὸς τῇ μητρὶ αὐτῶν καὶ ἔσῃ ὡς υἱὸς ὑψίστου

(10d)

καὶ ἀγαπήσει σε μᾶλλον ἢ μήτηρ σου

(6a) (6b)

(9a)

 151

und gib einem Menschen keine Gelegenheit, dich zu verfluchen. Denn wenn er dich in der Bitterkeit seiner Seele verflucht, dann wird auf seine Bitte hören, wer ihn gemacht hat. Mach dich selbst beliebt in der Versammlung und erniedrige dein Haupt vor einem Vornehmen. Neige einem Armen dein Ohr zu und erwidere ihm den Friedensgruß in Sanftmut. Entziehe den ungerecht Behandelten der Hand des ungerecht Handelnden und werde nicht kleinmütig in deinem Urteilen. Sei den Waisen wie ein Vater und ihrer Mutter anstatt des Mannes; und du wirst sein wie ein Sohn des Höchsten und er wird dich mehr lieben als deine Mutter.

Auch in Syr können gewisse Unterschiede zwischen den Textzeugen festgestellt werden.589 So gebraucht etwa 7a1 in V. 6b zur Bezeichnung des Genitivverhältnisses den status emphaticus mit ‫ܕ‬: ‫„ ܒܩܐܠ ܕܓܥܬܗ‬die Stimme seines Geschreis“ anstatt des gleichbedeutenden status constr. ‫ܒܩܠ ܓܥܬܗ‬. Bemerkenswert ist außerdem der Ausdruck ‫„ ܢܦܫܟ‬dich selbst“ in V. 7b, wo 7h3 ‫„ ܪܫܟ‬dein Haupt“ liest, was exakt ‫ ראש‬in Ms. A und τὴν κεφαλήν σου in G I entspricht. Dazu enthält 7a1 die Objektpartikel ‫ ܠ‬in V. 9a: ‫„ ܐܠܠܝܨܐ‬den Bedrängten“, und relativiert mithilfe der Vergleichspartikel ‫ ܐܝܟ‬in V. 10a – in Übereinstimmung mit Ms. A (‫)כאב‬ und G I (ὡς πατὴρ) – die Aufforderung, die Rolle eines Vaters für Waisenkinder zu vertreten: ‫„ ܗܘܝ ܐܝܟ ܐܒܐ‬Sei wie ein Vater!“, wogegen 7h3: ‫„ ܗܘܝ ܐܒܐ‬Sei ein Vater!“ liest. Dazu sei angemerkt, dass in der Ausgabe von N. Calduch-Benages in V. 5b fälschlicherweise ‫„ ܬܬܐ‬Feige“ statt ‫( ܬܬܠ‬von ‫„ ܢܬܠ‬geben“) abgedruckt ist.

587 Anstelle von κλῖνον liest der Kodex B κλεῖνον. 588 Statt γίνου hat der Kodex ‫ א‬γεινου. Für ‫ א‬ist die Form γεινου auch in Sir 2,5c belegt. 589 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 19 und 21 sowie Calduch-Benages, Text, 76 und 79.

152 

(1a) (1b) (2a) (2b)

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Syrische Version ̈ ̇ ‫ܒܚܝܘܗܝ ܕܡܣܟ ̣ܢܐ‬ ‫ܬܡܝܩ‬ ‫ܒܪ ̣ܝ ܐܠ‬ ‫ܘܐܠ ܬܛܪܦ ܠܡܣܟܢܐ ܚܫܝܟܐ‬ ̇ ̇ ‫ܪܘܚܗ‬ ‫ܠܗ ܐܠ ܬܟܐܒ‬ ̣ ‫ܢܦܫܐ ܕܚܣܝܪ‬ ‫ܘܐܠ ܬܛܥܐ ܪܘܚܗ ܕܐܢܫܐ ܕܬܒܝܪܐ‬

(6b)

̈ ‫ܡܥܘܗܝ ܕܐܢܫܐ ܡܣܟܢܐ ܐܠ ܬܟܐܒ‬ ̣ ‫ܘܐܠ ܬܟܐܠ ܡܘܗܒܬܐ ܡܢ ܨܪܝܟܐ‬ ‫ܒܥܘܬܗ ܕܡܣܟܢܐ ܐܠ ܬܫܒܘܩ‬ ‫ܘܐܠ ܬܬܠ ܠܗ ܐܬܪܐ ܕܢܠܘܛܟ‬ ̇ ̈ ‫ܐܠܛ ܗܘ ܓܝܪ ܡܪܝܪ‬ ‫ܚܢܟܐ ܡܢ‬ ̇ ‫ܟܠܗ ܢܦܫܗ‬ ̇ ‫ܘܒܩܐܠ ܕܓܥܬܗ ܫܡܥ ܒܪܝܗ‬

(7a) (7b)

‫ܠܟܢܘܫܬܐ‬ ‫ܐܪܚܡ ܢܦܫܟ‬ ̣ ̈ ‫ܕܡܕܝܢܬܐ ܐܡܟ ܪܫܟ‬ ‫ܘܠܫܠܝܛܢܐ‬ ̣

(3b) (3c) (4a) (5b) (6a)

(8a) (8b) (9a) (9b) (10a) (10b) (10c) (10d)

‫ܐܕܢܟ‬ ‫ܐܪܟܢ ܠܡܣܟܢܐ‬ ̣ ‫ܫܠܡܐ ܒܡܟܝܟܘܬܐ‬ ‫ܘܥܢܝܘܗܝ‬ ̣ ̈ ‫ܐܠܘܨܘܗ ̣ܝ‬ ‫ܦܪܘܩ ܐܠܠܝܨܐ ܡܢ‬ ‫ܘܐܠ ܬܬܟܪܐ ܪܘܚܟ ܒܕܝ ̣ܢܐ ܬܪܝܨܐ‬ ̈ ‫ܗܘܝ ܐܝܟ ܐܒܐ‬ ‫ܬܡܐ‬ ‫ܠܝ‬ ̣ ‫ܘܚܠܦ ܒܥܐܠ ܐܠ̈ܪܡܠܬܐ‬ ‫ܒܪܐ‬ ‫ܘܬܗܘܐ ܐܠܠܗܐ ܐܝܟ‬ ̣ ̇ ‫ܘܢܪܚܡ ܥܠܝܟ‬

Deutsche Übersetzung Mein Sohn, spotte nicht über das Leben des Armen und beunruhige einen finsteren Armen nicht. Die Seele, der es mangelt: kränke ihren Geist nicht und vergiss den Geist eines gebrochenen Menschen nicht. Kränke das Innere590 des armen Menschen nicht und entziehe die Gabe einem Bedürftigen nicht. Lass die Bitte des Armen nicht [unberücksichtigt] und gib ihm keinen Raum, dass er dich verfluche. Denn wenn einer mit bitterem Gaumen aus seiner ganzen Seele flucht, dann hört auf die Stimme seines Geschreis sein Schöpfer. Mach dich selbst beliebt bei der Versammlung und vor den Herrschern der Stadt erniedrige dein Haupt. Neige einem Armen dein Ohr zu und erwidere ihm den Friedensgruß in Demut. Rette den Bedrängten von seinen Bedrängern und sei nicht traurig beim gerechten Urteil. Sei wie ein Vater den Waisen und anstatt des Ehemanns den Witwen; und du wirst für Gott wie ein Sohn sein und er wird sich deiner erbarmen.

3.4.2 Hermeneutik der Sprachversionen Der Vergleich der oben aufgeführten antiken Textfassungen deckt einige Unterschiede auf, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird. So enthält Ms. A in V. 3b den Ausdruck ‫ק ֶרב‬, ֶ dessen Grundbedeutung „das Leibesinnere“ ist, z. B. Eingeweide, Bauch- oder Brusthöhle, Mutterleib. Weil dieser Ausdruck hier im übertragenen Sinne als „Sitz der Empfindungen und Gedanken“591 gebraucht wird, stellt er eine Dopplung zu ‫„ ֵמ ֶעה‬Eingeweide“ i. S. v. „Sitz der Gefühle“ in V. 3a dar (vgl. Kap. 3.4.1). Während die Peschitta dasselbe Lexem ‫„ ̈ܡܥܝܐ‬die Eingeweide“592 behält, wählt der Enkel an dieser Stelle das Bildwort καρδία „Herz“, das auch als Metapher für das personale Zentrum des Menschen dienen kann.593 590 Wörtlich: „die Eingeweide“. 591 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ק ֶרב‬, ֶ 726. 592 Vgl. Smith / Smith, ‫ܡܥܐ‬, 287–288 und Hanna / Bulut, ‫ܡܥܝܐ‬, 213 (aramäisch). 593 Vgl. Bauer, καρδία, 731–733.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

 153

Weil er außerdem in Sir 46,1a das hebräische Idiom ‫„ בן חיל‬ein kriegstüchtiger Mann“ (wörtlich: „Sohn der Tapferkeit“) sinngemäß mit (κραταιὸς) ἐν πολέμῳ „(mächtig) im Krieg“ wiedergibt (vgl. Kap. 4.2.2), bleibt er letzten Endes zwar nicht dem Wortlaut, wohl aber dem Sinn nach dem hebräischen Sirachtext treu.594 Auf diese Weise gelingt es ihm, „den übersetzten Text dem griechischen Sprachempfinden anzupassen“, was sonst das Ziel seiner zahlreichen Abweichungen in der Wortstellung ist.595 Eine weitere Sinnverschiebung, bei der die Peschitta allerdings nicht mit dem hebräischen Text, sondern mit der LXX übereinstimmt (vgl. Tab. 11),596 tritt in V. 6a auf. Ms. A enthält hier das Part. ‫„ צועק‬er schreit“, das mit dem Ausdruck ‫קול צעקתו‬ „die Stimme seines Geschreis (i. S. v. „lautes Geschrei“) in dem darauffolgenden ̇ V. 6b korrespondiert. Demgegenüber haben die Versionen καταρωμένου / ‫ܐܠܛ‬ ‫„ ܗܘ‬wenn er verflucht“, was eine Fortsetzung des Gedankens aus dem vorangehenden V. 5b ist. Ähnlich verhält es sich mit den Gottesbezeichnungen in V. 6b. Denn, während Ms. A ‫„ צורו‬sein Fels“ liest, beinhaltet die LXX die Formulierung ὁ ποιήσας αὐτόν „der ihn gemacht hat“, da sie offensichtlich ‫ צורו‬von ‫„ יצר‬bilden, schaffen“ ableitet.597 Die Peschitta tendiert gleichfalls dazu und liest mit G I ‫ܒܪܝܗ‬ „sein Schöpfer“. In V. 7b unterscheidet sich jedoch die syrische Version von den beiden älteren Sirachfassungen, indem die menschliche Autorität als ‫̈ܫܠܝܛܢܐ‬ ‫ܕܡܕܝܢܬܐ‬ „die Herrscher598 der Stadt“ bezeichnet wird. Dabei passte der Übersetzer ̣ (bzw. der Tradent) entweder die hebräische Vorlage an die zu seiner Zeit herrschende gesellschaftliche Situation an oder – was viel wahrscheinlicher ist – er las ‫„ ִעיר‬Stadt“ statt ‫„ עֹוד‬noch mehr“.599 Auch in V. 9b divergieren die einzelnen Sprachfassungen leicht voneinander, indem Ms. A: ‫„ ואל תקוץ רוחך‬und dein Geist empfinde keine Furcht!“, G I: καὶ μὴ ὀλιγοψυχήσῃς „und werde nicht kleinmütig!“ und Syr: ‫„ ܘܐܠ ܬܬܟܪܐ ܪܘܚܟ‬und sei nicht traurig!“ (vgl. Kap. 3.4.1) lesen. Ein theologisch gewichtigerer Unterschied zwischen den Sprachfassungen liegt in V. 10c vor, wo Ms. A denjenigen, der den Waisen und Witwen hilft, unverhüllt „Gottes Sohn“ nennt. Dieses familiäre Gottesverhältnis wird jedoch in den beiden antiken Sirachübersetzungen durch den Gebrauch der Vergleichspartikel

594 In ähnlicher Weise übersetzt die LXX in Jes 63,15 das Wort ‫ ֵמ ֶעה‬als ἔλεος „Erbarmen“ (vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 166), während die Peschitta ‫ ̈ܡܥܝܐ‬bewahrt (vgl. Brock, Isaiah, 114). 595 Vgl. Reiterer, Urtext, 60. 596 Vgl. dazu Sir 3,9 in Kap. 3.2.2, wo Syr zum Teil mit G I (V. 9a) und zum Teil mit Ms. A (V. 9b) übereinstimmt. 597 Vgl. die textkritische Bemerkung zu Sir 4,6 in: Schreiner, Jesus Sirach, 32. 598 Vgl. Smith / Smith, ‫ܫܠܝܛ‬, 580. 599 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 163 und Schreiner, Jesus Sirach, 32.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

relativiert: ὡς υἱὸς /‫„ ܐܝܟ ܒܪܐ‬wie ein Sohn“600, was vermutlich der Stärkung des transzendenten Gottesbildes dienen soll (vgl. den gleichen Unterschied zwischen 7h3 und 7a1 in V. 10a in Kap. 3.4.1). Die größere Nähe von Syr und G I ist auch im abschließenden V. 10d spürbar, bei welchem der Enkel ἀγαπήσει „er wird lieben“ ̇ „und er wird sich erbarmen“ (Paʿel von ‫„ ܪܚܡ‬lieben“)601 haben, und der Syrer ‫ܘܢܪܚܡ‬ während Ms. A an dieser Stelle ‫„ ויחנך‬und er [scil. Gott] wird dir gnädig sein“ liest. Auch wenn die hebräische und die griechische Fassung in V. 10d zusätzliche Formulierungen enthalten, die in die Peschitta-Version nicht mehr eingeflossen sind, wie etwa ‫„ ויצילך משחת‬und er wird dich vor dem Grab retten“ und μᾶλλον ἢ μήτηρ σου „mehr als deine Mutter“602, geben die meisten der hier angeführten Beobachtungen Anlass zur Hypothese, dass dem syrischen Übersetzer neben der hebräischen auch die griechische Fassung der Perikope vorlag (vgl. Tab. 11). Eine alternative Lösung wäre darin zu sehen, dass der Syrer, der Grieche und der Hebräer eine gemeinsame Vorlage hatten, von der sie jedoch auf verschiedene Weise abwichen.603 Allerdings ist nicht auszuschließen, dass die besagten Unterschiede bereits beim Abschreiben des hebräischen Textes entstanden und dass die einzelnen Sprachfassungen ihren eigenen, voneinander abweichenden Vorstufen bzw. Vorlagen gefolgt sind (vgl. Kap. 1.4).604

3.4.3 Kontextualisierung und Gliederung Die mehrmalige Erwähnung eines armen (vgl. ‫ עני‬in V. 1a, 1b, 3b und 8a; πτωχός in V. 1a, 4b und 8a; ‫ ܡܣܟܢܐ‬in V. 1a, 1b, 4a und 8a), Mangel (‫ חסירה‬/ ‫ ܚܣܝܪ‬in V. 2a) bzw. Hunger (πεινάω in V. 2a) erleidenden, unterdrückten (‫ דך‬in V. 3a), elenden (‫ מסכן‬in V. 3c), schwachen (‫ דל‬in V. 4a) oder irgendwie sonst benachteiligten Menschen verrät bereits eine hohe Sensibilität des Autors für die Armutsthematik, die er auch sonst mehrmals in seinem Buch zeigt.605 So wird die Armentheologie zum Hauptthema des hier zu untersuchenden Textabschnitts. Dabei appelliert Sirach nicht nur für die Sicherung der materiellen Lebensgrundlage der Bedürftigen in 600 Vgl. Hengel, Der Sohn Gottes, 105. 601 Vgl. Smith / Smith, ‫ܪܚܡ‬, 537. 602 Vgl.  Jes  49,15 und 66,11–13. Vgl.  Skehan  / Di Lella, The Wisdom, 167 und Marböck, Jesus Sirach, 87. 603 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 235–236. 604 Vgl. Reiterer, Urtext, 250–251. 605 Z. B. ‫„ אביון‬dürftig, arm“ in Sir 7,32; 13,20; ‫ דל‬in Sir 10,23; 13,21.22; 25,2; 35,16; ‫ מסכן‬in Sir 30,14 und ‫ עני‬in Sir 31,4; πτωχός in Sir 7,32; 10,22.23.30; 13,3.19.20.23; 18,33; 21,5; 25,2; 26,4; 30,14; 31,4; 34,25; 35,16; 38,19 sowie ‫ ܡܣܟܢܐ‬in Sir 13,21 und 29,22. Vgl. Smend, Griechisch-syrisch-hebräischer Index, 206 (zu beachten ist hier die von der EÜ 1980 abweichende Kapitel- und Verszählung).

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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V. 1a und 3c, was für seinen scharfen Realitätssinn spricht,606 sondern er zeigt auch Interesse für ihre Gefühle,607 wie etwa in V. 2a und 3ab. Mit der Aufforderung zur tätigen Armenhilfe lenkt er zwar seinen Leser auf einen neuen praktischen Aspekt der weisheitlichen Belehrung hin. Die Einladung zur Selbsterniedrigung (‫„ כפף‬beugen“608 / ‫„ ܐܡܟ‬erniedrigen“ / ταπεινόω „erniedrigen“) in V. 7b und zur Demut (‫„ ֲענָ וָ ה‬Demut“ / πραΰτης „Sanftmut“ / ‫„ ܡܟܝܟܘܬܐ‬Demut, Sanftmut, Bescheidenheit“) in V. 8b knüpft aber deutlich an die vorangehende Unterweisung in Sir 3,17–31 an (vgl. Kap. 3.3.3). Tab. 10: Die Gliederung von Sir 4,1–10. Strophe

Verse

I

1a

Anrede im Sing. (‫ בני‬/ τέκνον / ‫)ܒܪܝ‬

1a–5a

Instruktionen im Sing. (Verbote, einen armen und unterdrückten Menschen durch Tun oder Unterlassen zu benachteiligen) Ms. A: Prohibitiv mit ‫ לא‬nur in V. 4a

5b

Verbot, dem Armen den Anstoß zum Verfluchen zu geben (Sing.) Ms. A: Prohibitiv mit ‫לא‬

6ab

GESCHREI bzw. Fluch des Verbitterten und Verheißung seiner ERHÖRUNG durch Gott G I und Syr in V. 6a: Begründung (γὰρ / ‫)ܓܝܪ‬ Nur Syr in V. 6b: präsentisch

7a–9b

Instruktionen zum Verhalten gegenüber der Gemeinschaft (V. 7a), den Reichen (V. 7b) und Armen (V. 8a–9a) sowie beim Gericht (V. 9b) im Sing.; V. 9b als Verbot

II

Form und Inhalt

10ab

Aufforderung, den Waisen und Witwen zu helfen (Sing.)

10cd

Verheißung der Gottessohnschaft (Ms. A) bzw. der Nähe zu Gott (G I und Syr) für den, welcher der obigen Aufforderung nachkommt

Im Unterschied zu den bisher analysierten Lehrtexten (vgl. Kap. 3.1–3) fällt auf, dass in Sir 4,1–10 – abgesehen von einem kurzen Kausalsatz mit γὰρ / ‫ ܓܝܪ‬in V. 6a609 – weder Motivationen noch Begründungen zu finden sind. Stattdessen lassen sich die Anrede ‫ בני‬/ τέκνον / ‫ ܒܪܝ‬in V. 1a, mehrere negativ und positiv for-

606 Der Autor vergleicht etwa das Vorenthalten des Lebensunterhaltes mit dem Menschenmord in Sir 34,24–27. 607 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 86. 608 Die Verbform ‫( הכאף‬vokalisiert: ‫)ה ֵכף‬ ָ ist wahrscheinlich Imperativ von ‫כפף‬. Vgl. Reymond, Gibberish, 173. Die gleiche Formulierung findet sich in Jes 58,5: ‫„ ֲה ָלכֹף ְּכ ַאגְ מֹן רֹאׁשֹו‬Seinen Kopf zu beugen wie eine Binse“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫כפף‬, 359. 609 Vgl. Tesch, Weisheitsunterricht, 85–86.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

mulierte Instruktionen und zwei Verheißungen in V. 6b und 10cd feststellen, wie in Tab. 10 aufgezeigt. Die hierbei auffällige zweiteilige Gliederung des Abschnitts ergibt sich aus dem Folgenden: Während in der ersten Strophe in V. 1–5 die Verbote das betreffen, was sich vor allem im persönlichen Bereich abspielt, haben die überwiegend positiv formulierten Aufforderungen der zweiten Strophe in V. 6–10 einen mehr oder weniger gemeinschaftlichen Charakter, indem sie solche Größen wie Volksversammlung in V. 7a, Machthaber bzw. Stadtverwaltung in V. 7b und Gericht in V. 9b beinhalten. Dabei soll im Blick bleiben, dass das an Gott gerichtete Geschrei eines bedrängten Armen und die Verheißung seiner Erhörung610 genau in V. 6 erwähnt wird, wo Sirach von der privaten zur öffentlichen Sphäre übergeht. Diese Beobachtung, die weitreichende Folgen für das sirazidische Gebetsverständnis haben kann, wird näher im Rahmen der Einzelexegese der auf das Gebet bezogenen Passage in Kap. 3.4.7 vorgestellt. Sirach endet seinen moralischen Appell mit der konkreten Aufforderung in V. 10ab, sich der Waisen und Witwen anzunehmen, die nach seinem Verständnis unter besonderem Schutz Gottes stehen (vgl. Sir 35,16–21). Wer seinem Rat folgt, dem verheißt er in V. 10cd die Gottessohnschaft (Ms. A) bzw. eine an sie grenzende Beziehung zu Gott (G I und Syr). Hier sei noch bemerkt, dass die zu untersuchende Perikope die erste größere sirazidische Lehreinheit in Sir 2,1–4,10 abschließt, die sich zwischen den zwei ersten Weisheitsgedichten erstreckt611 (vgl. Sir 1,1–30 und 4,11–19) und kompositionell mit dem als inclusio wirkenden Erprobungsmotiv in Sir 2,1b (πειρασμόν / ̈ ̈ ‫)ܢܣܝܘܢܝܢ‬ und Sir 4,17 (‫ בנסיונות‬612 / πειράσει / ‫)ܒܢܣܝܘܢܝ‬ umrahmt wird.613 Aus diesem Grund kann der in V. 10cd hervorgehobene, theologisch profilierte Begriff der Gottessohnschaft als wichtiger Auslegungsschlüssel für die gesamte Lehreinheit und vielleicht sogar für das ganze Sirachbuch gelten. Demzufolge werden die den Eltern erwiesene Ehre und der Gehorsam ihnen gegenüber gleichsam zu Urform und Muster der Gottesfurcht, die in der Beziehung zu Gott unentbehrlich ist (vgl. Sir 3,6b–7b). Dies bedeutet im Konkreten, dass sich die Frommen den von Gott zugelassenen, oft schmerzlichen Erprobungen in Sir 2,1b so zu fügen haben, wie es die Kinder gegenüber den erzieherischen Maßnahmen ihrer Eltern tun (vgl. Sir 30,1–13). Denn es handelt sich dabei um göttliche Pädagogik, die als eine von Liebe geleitete Tat Gottes des Vaters zu verstehen ist.614

610 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 85. 611 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 33 und Marböck, Jesus Sirach, 85 und 87. 612 Das Substantiv ‫( נִ ָּסיֹון‬Plur. ‫ )נִ ְסיֹונֹות‬bedeutet „Prüfung, Versuchung“. Vgl. Dalman, ‫נִ ָּסיֹון‬, 272. 613 Zu dem als inclusio wirkenden Erprobungsmotiv in Sir  2,1–18 und 51,1–12 vgl.  Kap.  1.1 und 3.1.5. 614 Vgl. Dtn 8,5; Spr 3,11–12: ‫ּוכ ָאב‬ ְ ‫יֹוכ ַיח‬ ִ ‫הו֣ה‬ ָ ְ‫תֹוכ ְחּתֹו׃ ִּכי ֶאת ֲא ֶׁשר יֶ ֱא ַהב י‬ ַ ‫ל־ּתקֹץ ְּב‬ ָ ‫ל־ּת ְמ ָאס וְ ַא‬ ִ ‫מּוסר יְ הוָ ה ְּבנִ י ַא‬ ַ ‫ת־ּבן יִ ְר ֶצה׃‬ ֵ ‫„ ֶא‬Die Zucht des HERRN, mein Sohn, verwirf nicht und laß dich nicht verdrießen seine

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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3.4.4 Intertextualität Dass bei Sirach der rechte Umgang mit den Bedürftigen – wie oben gezeigt – zum Hauptthema der Perikope wird (vgl. Kap. 3.4.3), entspricht durchaus der armentheologischen Ausrichtung der Bibel, welche im Gesetz,615 in den sozialkritischen Passagen der Prophetie616, im Psalter617 und nicht zuletzt in der älteren Weisheitsliteratur breit bezeugt ist. So knüpfen die Formulierungen wie ‫„ אל תלעג‬spotte nicht!“ in V. 1a618 und ὁ ποιήσας αὐτόν „der ihn gemacht hat“ / ‫„ ܒܪܝܗ‬sein Schöpfer“ in V. 6b619 an Spr 17,5 an: ‫ֹלעג ָל ָרׁש ֵח ֵרף ע ֵֹׂשהּו‬ ֵ „Wer den Armen verspottet, verhöhnt den, der ihn gemacht hat“ / ὁ καταγελῶν πτωχοῦ παροξύνει τὸν ποιήσαντα αὐτόν „Wer einen Armen auslacht, erzürnt den, der ihn gemacht hat“ / ‫ܕܓܚܟ‬ ‫ ܥܠ ܡܣܟܢܐ ܡܪܓܙ ܠܒܪܝܗ‬620 „Wer den Armen auslacht, erzürnt seinen Schöpfer“ (vgl. auch Spr 14,31).621 Dazu korrelieren der nur auf Griechisch überlieferte Aufruf in V. 4b:622 μὴ ἀποστρέψῃς τὸ πρόσωπόν σου ἀπὸ πτωχοῦ „wende dein Gesicht von einem Armen nicht ab!“, und die in V. 6b verheißene Gebetserhörung durch Gott623: ‫„ ובקול צעקתו ישמע‬und er wird auf die Stimme seines Geschreis hören“ / τῆς δεήσεως αὐτοῦ ἐπακούσεται (Kodex ‫א‬: εἰσακούσεται) „er wird auf ̇ ‫„ ܘܒܩܐܠ ܕܓܥܬܗ‬und auf die Stimme seines Geschreis seine Bitte hören“ / ‫ܫܡܥ‬ hört er“, sehr gut mit Ps 22,25: ‫ּוב ַׁשּוְ עֹו ֵא ָליו ָׁש ֵמ ַע‬ ְ ‫א־ה ְס ִּתיר ָּפנָ יו ִמ ֶּמּנּו‬ ִ ֹ ‫א־בזָ ה וְ לֹא ִׁש ַּקץ ֱענּות ָענִ י וְ ל‬ ָ ֹ ‫„ ִּכי ל‬Denn er [scil. der Herr] hat nicht verachtet noch verabscheut das Elend des Elenden, noch sein Angesicht vor ihm verborgen; und als er zu ihm schrie, hörte er“ / ὅτι οὐκ ἐξουδένωσεν οὐδὲ προσώχθισεν τῇ δεήσει τοῦ πτωχοῦ οὐδὲ ἀπέστρεψεν τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἀπ᾽ ἐμοῦ καὶ ἐν τῷ κεκραγέναι με πρὸς αὐτὸν εἰσήκουσέν μου „Denn weder verachtete noch verabscheute er das Flehen des Armen noch wandte er sein Angesicht von mir ab, und wenn ich zu ihm schrie, hörte er mich an“ / ‫ܡܛܠ‬ ̈ ‫ ܕܐܠ ܫܛ ܘܐܠ ܐܣܠܝ ܓܥܬܗ ܕܡܣܟܢܐ܂ ܘܐܠ ܐܗܦܟ‬624„Denn ‫ܐܦܘܗܝ ܡܢܗ܂ ܟܕ ܓܥܐ ܠܘܬܗ ܫܡܥܗ‬ weder verachtete noch verabscheute er das Geschrei des Armen noch wandte er sein Angesicht von ihm ab. Als er zu ihm schrie, hörte er ihn“.

Mahnung! Denn wen der HERR liebt, den züchtigt er wie ein Vater den Sohn, den er gern hat“, und Hebr 12,5–6. Vgl. Corley, God, 35. 615 Z. B. Ackerbrache und Kredithilfen in Dtn 15,1–18. 616 Z. B. in Am 2,6–8 und Mi 2,1–11. Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 32. 617 Z. B. in Ps 72,2–4. Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 87. 618 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 165. 619 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 32. 620 Di Lella, Proverbs, 29. 621 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 166. 622 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 166 und Marböck, Jesus Sirach, 86. 623 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 32. 624 Walter, The Book of Psalms, 22.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Auch der nur in G I belegte V. 5a: ἀπὸ δεομένου μὴ ἀποστρέψῃς ὀφθαλμὸν „Wende das Auge von einem Bittenden nicht ab“, und der in V. 5b vorkommende Ausdruck:625 ‫ לקללך‬/ καταράσασθαί σε „dich zu verfluchen“ / ‫„ ܕܢܠܘܛܟ‬dass er [scil. der Arme] dich verfluche“, finden eine Entsprechung in Spr 28,27:626 ‫ב־מ ֵארֹות‬ ְ ‫ּומ ְע ִלים ֵעינָ יו ַר‬ ַ ‫נֹותן ָל ָרׁש ֵאין ַמ ְחסֹור‬ ֵ „Wer dem Armen gibt, wird keinen Mangel haben; wer aber seine Augen verhüllt, wird reich an Flüchen“ / ὃς δίδωσιν πτωχοῖς οὐκ ἐνδεηθήσεται ὃς δὲ ἀποστρέφει τὸν ὀφθαλμὸν αὐτοῦ ἐν πολλῇ ἀπορίᾳ ἔσται „Wer den Armen gibt, wird nichts entbehren; wer aber sein Auge abwendet, wird in großem Mangel sein“ / ‫ܕܝܗܒ ܠܡܣܟܢܐ‬ ̈ ‫ ܐܠ ܢܚܣܪ ܠܗ܂ ܘܕܡܪܟܢ‬627 „Wer dem Armen gibt, dem wird nichts ‫ܥܝܢܘܗܝ ܡܢ ܡܣܟܢܐ ܬܣܓܐ ܠܘܛܬܗ܂‬ mangeln und wer seine Augen vom Armen abwendet (wörtlich: senkt), dessen Fluch wird sich vermehren“.

Seine Aufforderung zur Armenhilfe konkretisiert und veranschaulicht Sirach am Beispiel der sozial am meisten benachteiligten Waisen und Witwen in V. 10ab, wie es auch in Sir 35,16–21 der Fall ist628 (vgl. Kap. 3.4.7). Dieses Interesse des Autors spiegelt die alttestamentliche Sensibilität gegenüber dieser Gruppe der personae miserae wider,629 die am deutlichsten in Ex 22,21–22,630 aber auch sonst im Gesetz,631 in der prophetischen Sozialkritik632 und in anderen Schriften633 zum Ausdruck kommt. Eine besondere Nähe zur untersuchten Perikope zeigt u. a. Ps 82634 mit denselben Bezeichnungen für Bedürftige, z. B. ‫ ַּדל‬/ πτωχός / ‫ܡܣܟܢܐ‬ „arm“ und ‫ יָתֹום‬/ ὀρφανός / ‫„ ܝܬܡܐ‬Waise“ in Ps 82,3 und V. 1a, 4a und 10a. Auch der Erzählort ‫ת־אל‬ ֵ ‫„ ַּב ֲע ַד‬in der Gottesversammlung“ / ἐν συναγωγῇ θεῶν „in der ̈ Versammlung der Götter“ / ‫ܕܡܐܠܟܐ‬ ‫„ ܒܟܢܫܐ‬in der Versammlung der Engel“ in Ps 82,1 und die dazu passenden Verben ‫ ׁשפט‬/ κρίνω / ‫„ ܕܢ‬richten“ und ‫ צדק‬Hifʿil „Gerechtigkeit schaffen“ / δικαιόω „Recht schaffen“ / ‫„ ܙܟܝ‬für gerecht erklären“ in Ps 82,3 finden ihre Entsprechung bei Sirach, wie etwa ‫ לעדה‬/ συναγωγῇ / ‫ܠܟܢܘܫܬܐ‬ ̣ „bei der Versammlung“ in V. 7a und ‫„ משפט יושר‬ein gerechtes Urteil“ / κρίνειν σε „dein Urteilen“ / ‫„ ܕܝ ̣ܢܐ ܬܪܝܨܐ‬ein gerechtes Urteil“ in V. 9b. Diese Tendenz wird zusätzlich verstärkt, weil durch die Erweiterung von V. 9a in G I: ἐξελοῦ ἀδικούμενον ἐκ χειρὸς ἀδικοῦντος „Entziehe den ungerecht Behandelten der

625 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 166 und Schreiner, Jesus Sirach, 32. 626 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 32. 627 Di Lella, Proverbs, 50. 628 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 167. 629 Vgl. Hossfeld, Psalm 68, 251 und Zenger, Psalm 82, 487. 630 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 167. 631 Z. B. in Dtn 10,18; 14,29; 16,11.14; 24,17.19.20.21; 26,12.13; 27,19. 632 Z. B. in Jes 1,17; Jer 7,6; Ez 22,7; Sach 7,10 und Mal 3,5. 633 Z. B. in Ijob 29,12–13. Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 32. Siehe auch Ps 94,6. 634 Zum syrischen Text von Ps 82 vgl. Walter, The Book of Psalms, 97.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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Hand des ungerecht Handelnden!“ (Ms. A und Syr haben nur: ‫הושע מוצק ממציקיו‬ ̈ ‫ܐܠܘܨܘܗ ̣ܝ‬ ‫ ܦܪܘܩ ܐܠܠܝܨܐ ܡܢ‬/ „Rette den Bedrängten vor seinen Bedrängern!“) eine schriftgelehrte Abhängigkeit von Ps 82,4 entsteht:635 ‫טּו־דל וְ ֶא ְביֹון ִמּיַ ד ְר ָׁש ִעים ַה ִּצילּו‬ ַ ‫ַּפ ְל‬ „Rettet den Geringen und den Armen, entreißt ihn der Hand der Gottlosen!“ / ἐξέλεσθε πένητα καὶ πτωχόν, ἐκ χειρὸς ἁμαρτωλοῦ ῥύσασθε „Befreit den Bedürftï ̈ gen und Armen, aus der Hand des Sünders errettet (ihn)!“ / ‫ܘܠܒܝܫܐ ܡܢ‬ ‫ܠܡܣܟܢܐ‬ ‫ܦܨܘ‬ ‫„ ܐܝܕܐ ܕ̈ܪܫܝܥܐ‬Rettet die Armen und die Armseligen aus der Hand der Frevler!“636. Die oben angedeutete intertextuelle Lektüre von Sir 4,1–10 und Ps 82 bleibt nicht ohne Folgen für das sirazidische Gottesbild. Denn es werden dadurch die richterlichen Züge Gottes deutlich hervorgehoben, der entschlossen für die Rechte der Schutzlosen einschreitet, unter denen die Waisen und Witwen einen besonderen Platz haben (vgl.  auch Ps  94,6). Gott ist aber nicht nur unparteiischer Garant für soziale Gerechtigkeit, sondern vor allem liebender Vater, wie in Ps 68,5–6: ‫ֹלהים ִּב ְמעֹון ָק ְדׁשֹו‬ ִ ‫תֹומים וְ ַדּיַ ן ַא ְל ָמנֹות ֱא‬ ִ ְ‫[„ וְ ִע ְלזּו ְל ָפנָ יו׃ ֲא ִבי י‬U]nd frohlockt vor ihm! Ein Vater der Waisen und ein Richter der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung“ / ταραχθήσονται ἀπὸ προσώπου αὐτου, τοῦ πατρὸς τῶν ὀρφανῶν καὶ κριτοῦ τῶν χηρῶν ὁ θεὸς ἐν τόπῳ ἁγίῳ αὐτοῦ „Sie sollen vor seinem Angesicht erschrecken, des Vaters der Waisen und Richters ̈ ‫ܐܬܥܫܢܘ ܩܕܡܘܗܝ܂ ܕܐܒܐ‬ der Witwen. Gott ist an seinem heiligen Ort“ / ‫ܕܝܬܡܐ܂ ܘܕܝܢܐ ܕܐ̈ܪܡܠܬܐ܂‬ ‫ ܐܠܗܐ ܒܡܥܡܪܗ ܩܕܝܫܐ܂‬637 „Seid stark vor ihm, dem Vater der Waisen und Richter der Witwen; Gott ist in seiner heiligen Wohnung“.638

Darum besteht der in V. 10ab geforderte soziale Einsatz für Waisen und Witwen im Grunde genommen in der Nachahmung Gottes, wobei der Wohltäter selbst in V. 10cd in die innere Sohn-Vater-Beziehung zu Gott tritt. Der hier anklingende Hoheitstitel „Sohn Gottes“ hat eine lange Entwicklung hinter sich: Ursprünglich als kollektive Bezeichnung für Israel (z. B. in Sir 36,17),639

635 Im MT und in der LXX mit den chiastisch angeordneten Imperativen. Vgl. Zenger, Psalm 82, 488. 636 In Syr ohne Chiasmus. 637 Walter, The Book of Psalms, 73. 638 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 167; Hossfeld, Psalm 68, 251; Marböck, Jesus Sirach, 87 und Tesch, Weisheitsunterricht, 86. Die Vorstellung Gottes als gerechter Richter und Beschützer der Witwen steht auch im Gleichnis Jesu vom gottlosen Richter und der Witwe in Lk 18,2–8 im Vordergrund. 639 In diesem Sinne kommt der Begriff „Gottessohn“ z. B. in Ex 4,22 und Hos 11,1 vor. Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 87. Als weitere Beispiele seien hier genannt: ‫ ְּבכ ִֹרי‬/ πρωτότοκός μού „mein Erstgeborener“ in Jer 31,9 sowie (als Plur.) ‫„ ָּבנָ יו‬seine Söhne“ / τέκνα „Kinder“ in Dtn 32,5 und ‫ ָּבנִ ים‬/ υἱοὶ „Söhne“ in Jes 1,2.4.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

oder für den davidischen König angewandt,640 wurde er in der zwischentestamentlichen jüdisch-hellenistischen Literatur auch für andere Personen gebraucht. So wurden z. B. der Hauptprotagonist der nichtkanonischen Schrift „Joseph und Aseneth“641 und der von den Gottlosen verfolgte Gerechte in Weish 2,18 jeweils als „Gottessohn“ bezeichnet, d. h. den Engeln gleichgestellt (vgl. Weish 5,5).642 Über die zwischentestamentliche Zeit wurde dann der Begriff der Gottessohnschaft bis ins NT hinein tradiert, wo er etwa zum Inhalt der Seligpreisungen der Bergpredigt in Mt 5,9 gehört: ὅτι αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ κληθήσονται „[D]enn sie werden Söhne Gottes genannt werden“643. In einem Streitgespräch in Joh 10,34 wird nicht zuletzt mit dem Hinweis auf den bereits erwähnten Ps 82 der göttliche Anspruch Jesu als schriftgemäß erwiesen, indem die jüdischen Gesprächspartner Jesu ausdrücklich mit den „Göttern“ (vgl. Ps 82,6a) und er selbst mit dem „Gottessohn“ (vgl. Ps 82,6b) identifiziert werden. Gerade vor diesem Hintergrund und angesichts der Auferweckung des Jünglings von Naïn in Lk 7,11–17 zeigt sich deutlich, welch hohe Würde bei Sirach einem jeden zukommt, der den Waisen und Witwen hilft.644 Bevor auf das dazugehörende Vaterbild Gottes, seine paradigmatische Funktion für das gesamte Sirachbuch und seine wesensmäßige Verwandtschaft mit dem NT in Exkurs 4 näher eingegangen werden, sei noch auf die Gestalten aus der Heilsgeschichte Israels verwiesen, die als Vorbilder für die in Sir 4,1–10 vorgetragene Lehre gelten könnten. Dabei ist für die hier getroffene Auswahl der alttestamentlichen Texte entscheidend, dass sich ihre Protagonisten als gerechte Richter und Helfer der Bedrängten erweisen und deshalb wegen einer besonders nahen Gottesbeziehung gewürdigt werden. Die oben erwähnte Gerichtsthematik lenkt zunächst die Aufmerksamkeit auf die auf Griechisch überlieferte, ursprünglich wohl hebräische645 Erzählung von Susanna (= Dan Sus). Dieser deuterokanonische Text ist nach der Edition von Rahlfs dem Danielbuch vorangestellt,646 sodass er als „Kindheitsgeschichte“ Daniels gelten kann,647 während ihn die Vg648 und damit auch die EÜ als Dan 13 einordnen. Die Bedrängnis der Titelhel640 Vgl. Hengel, Der Sohn Gottes, 105. 641 Datiert zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. Vgl. Bellia, From Tobit, 13. 642 Vgl. Hengel, Der Sohn Gottes, 106. 643 Nach der EÜ 1980. Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 88. 644 Vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 33. Dabei ist allerdings zu unterscheiden zwischen der Gottessohnschaft Jesu, die der Natur nach ist, und der aller Getauften, die durch die Gnade zustande kommt. 645 Vgl. Engel, Danielschriften, 3010 und Marx, The Prayer, 221 (Fußnote 4). 646 Vgl. den griechischen Text der Susannaerzählung in der LXX- und „Theodotion“-Fassung in: Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 864–870. 647 Vgl. Engel, Danielschriften, 3009. 648 Vgl. Weber / Gryson, Biblia sacra, 1368–1371.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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din dieser Erzählung wird dadurch gesteigert, dass die zwei Ältesten, die ihr mit Vergewaltigung gedroht haben, zusätzlich ihr richterliches Amt missbrauchen, um das Opfer einzuschüchtern. Falls sich Susanna ihnen nicht ergebe, würden sie sie fälschlich des Ehebruches mit einem jungen Mann anklagen, wofür die Todesstrafe droht (vgl. V. 1a). In ein solch auswegloses Dilemma verwickelt, riskiert sie lieber ihr Leben als die eheliche Treue zu brechen und wird dann von den beiden korrumpierten Richtern in der Versammlung (συναγωγή, vgl. Dan Sus 41649 und V. 7a)650 verleumdet und zum Tod verurteilt. Sie schreit aber zu Gott (vgl. ἀναβοάω „aufschreien, laut schreien“651 in Dan Sus 42652 und ‫„ צעק‬schreien“ in V. 6a) und wird erhört (vgl. V. 6b). Denn Gott schenkt Daniel die notwendige Einsicht (vgl. πνεῦμα συνέσεως in Dan Sus 44–45653), damit er – seinem hebräischen Namen ‫„ ָּדנִ ּיֵ אל‬Gott [ist] mein Richter“654 entsprechend – nach dem göttlichen Gesetz richtet655 (vgl. Ex 23,7): Er entlarvt die verbrecherischen Richter, die gottesfürchtige Frau erklärt er dagegen für unschuldig (vgl. Dan Sus 45–62), was genau der Ermutigung zum gerechten Urteilen in V. 9 entspricht. Da nach V. 10d mit einem solchen altruistischen Verhalten die besondere Gunst Gottes einhergeht, soll es nicht verwundern, dass sich in Dan 9,23 der gleichen Gunst auch Daniel erfreut (vgl. ‫„ ֲחמּודֹות ָא ָּתה‬du bist ein Vielgeliebter“; wörtlich: „von begehrenswerten [Dingen]“ / ἐλεεινὸς εἶ656 „du bist liebenswert“ bzw. ἀνὴρ ἐπιθυμιῶν σὺ ει657 „ein viel begehrter Mann bist du“; wörtlich: „ein Mann von begehrten [Dingen]“ / ‫ ܪܓܝܓ ܐܢܬ‬658 „du [bist] begehrenswert“; vgl. die privilegierte Position Daniels vor Gott in Dan 10,11.19).659 Dieser Schriftbezug wird schließlich dadurch bekräftigt, dass Daniel von Gott aus der Löwengrube (vgl. ‫ גֹב ַא ְריָ וָ ָתא‬/ λάκκος τῶν λεόντων in Dan 6,8) gerettet wird, was insofern an V. 10d erinnert: ‫„ ויצילך משחת‬und er [scil. Gott] wird dich vor dem Grab retten“, als das von Sirach gebrauchte Wort ‫„ ַׁש ַחת‬Grab, Unterwelt, Scheol“ auch „Fallgrube,

649 Sowohl in der LXX-Fassung als auch in der erweiterten „Theodotion“-Fassung. 650 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 86. 651 Vgl. Benseler / Kaegi, ἀναβοάω, 50. 652 In der „Theodotion“-Fassung der Susannaerzählung. Vgl. Marx, The Prayer, 228 und 231. In Dan Sus 35 in der LXX-Fassung betet Susanna weinend zu Gott. 653 In der LXX-Fassung. 654 Vgl. Meister, Daniel, 92 und Haag, Daniel, 96. 655 Vgl. Dan Sus 53 in den beiden Versionen der Susannaerzählung. Zur richterlichen Funktion Daniels vgl. auch Marx, The Prayer, 223. 656 In der LXX-Fassung. 657 In der „Theodotion“-Fassung. 658 Sprey / Peshiṭta Institute, Daniel, 35. 659 Vgl. Neef, Daniel, 3035.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

um Wild und reißende Tiere darin zu fangen“ bedeutet (vgl. Ps 35,7).660 Dazu ist allerdings zu bemerken, dass die geschilderten Ähnlichkeiten zwischen der Perikope Sir 4,1–10 und dem Danielbuch, das als Ganzes in der Forschung in die erste Hälfte des 2. Jh. v. Chr. datiert wird,661 nicht notwendig auf eine fassbare literarische Abhängigkeit der beiden Texte hinweisen müssen. Denn, wie es bereits bei den Büchern Judit (vgl. Exkurs 1) und Tobit (vgl. Kap. 3.2.4) der Fall war, könnte es sich hier um die Intertextualität handeln, die sowohl auf der kanonischen Schriftlektüre als auch auf der Verwurzelung in der gemeinsamen biblischen Tradition beruht. Als weiteres Vorbild käme der König Salomo in Frage, der durch seine kluge Entscheidung in 1 Kön 3,16–28 einen Knaben rettet und ihn seiner alleinerziehenden Mutter zurückgibt, weshalb er sozusagen die Stelle ihres Ehemanns einnimmt, wie es in V. 10b der Fall ist: καὶ ἀντὶ ἀνδρὸς τῇ μητρὶ αὐτῶν „und [sei] ihrer Mutter anstatt des Mannes!“ Er ist auch derjenige, für den die Verheißung der Gottessohnschaft in V. 10c in Ms. A: ‫„ ואל יקראך בן‬Gott aber wird dich ‚Sohn‘ nennen“, in besonderer Weise gilt, auch wenn in G I und Syr dieser Sachverhalt durch den Gebrauch der Vergleichspartikel ὡς / ‫„ ܐܝܟ‬wie“ relativiert wird (vgl. Kap. 3.4.2). Denn auf Salomo bezieht sich in erster Linie die Prophezeiung in 2 Sam 7,14: ‫ה־לי ְל ֵבן‬ ִ ֶ‫„ ֲאנִ י ֶא ְהיֶ ה־לֹו ְל ָאב וְ הּוא יִ ְהי‬Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein“ / ἐγὼ ἔσομαι αὐτῷ εἰς πατέρα καὶ αὐτὸς ἔσται μοι εἰς υἱόν / ‫ܐܢܐ‬ ‫ ܐܗܘܐ ܠܗ ܐܠܒܐ ܘܗܘ ܢܗܘܐ ܠܝ ܠܒܪܐ‬662 „Ich werde ihm zum Vater werden, und er wird mir zum Sohn werden“.663 Weil der Enkel in V. 10d: καὶ ἀγαπήσει σε μᾶλλον ἢ μήτηρ σου „und er [scil. Gott] wird dich mehr lieben als deine Mutter“, liest, wird die vorgeschlagene Anspielung auf den besagten König durch einen zusätzlichen Querbezug zu 2 Sam 12,24: ‫ וַ יהוָ ה ֲא ֵהבֹו‬/ καὶ κύριος ἠγάπησεν αὐτόν „Und der Herr liebte ihn [scil. Salomo]“ noch deutlicher.

Exkurs 4: Die Vateranrede Gottes als Brücke zum Neuen Testament Die oben angesprochene, von Gott verheißene Sohnschaft für jene, die Barmherzigkeit üben, setzt notwendigerweise die Eigenschaft Gottes als Vater voraus. Trotz der gleichlautenden Vateranrede im Zeushymnus des Kleanthes664 und 660 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ׁש ַחת‬, ַ 821. 661 Vgl. Niehr, Das Buch Daniel, 512. 662 de Boer, Samuel, 94. 663 Siehe auch die Adoptionsformel in Ps 2,7 (vgl. Schreiner, Jesus Sirach, 33 und Marböck, Jesus Sirach, 87) und die zweiseitige Bundeserklärung in Ps 89,27–28 (vgl. Hossfeld, Psalm 89, 593). 664 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 54.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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großer Ähnlichkeit mit der planenden Fürsorge Gottes für Welt und Mensch (πρόνοια),665 unterscheidet sich jedoch die Weltanschauung Sirachs grundsätzlich von der zeitgenössischen Vorstellung eines unpersönlichen Gottes in der Stoa, da für ihn nicht das unabwendbare Schicksal (vgl. εἱμαρμένη in Kap. 2.1),666 sondern der Einzelne zählt. Vielmehr ist sein strikt personales Gottesbild primär biblischer Provenienz, da der auf Gott bezogene Titel ‫ ָאב‬/ πατὴρ „Vater“ bereits in der alttestamentlichen Überlieferung vorkommt, z. B. im zweiten Moselied in Dtn 32,6 und in der Bundesformel in 2 Sam 7,14.667 Angesicht der Tatsache aber, dass in den protokanonischen biblischen Büchern der Vatername als Gebetsanrede an Gott gänzlich fehlt, da die Zurufungen in Ps 89,27 und Jer 3,4 nur als Gottesrede zitiert werden, stellte der frühchristliche Kirchenschriftsteller Origenes (gest. etwa 253) in Kap. 22 seiner Schrift Περὶ εὐχῆς (De oratione „Über das Gebet“)668 Folgendes fest: „Es wäre der Mühe wert, das sogenannte Alte Testament sorgfältiger daraufhin zu betrachten, ob sich wohl in ihm irgendwo ein Gebet finden läßt, in dem der Betende Gott als ‚Vater‘ bezeichnet; denn für jetzt haben wir nach Kräften danach gesucht, aber keines gefunden. Allerdings behaupten wir nicht, dass Gott (dort überhaupt) nicht ‚Vater‘ genannt werde, oder dass diejenigen, welche für Gott-Gläubige gelten, nicht ‚Söhne Gottes‘ genannt worden seien, sondern dass wir die von dem Heiland verkündete Freiheit, Gott ‚Vater‘ zu nennen, in einem Gebete (dort) noch nicht gefunden haben“ (or. 22,1).669

Weil der Alexandriner am Kanon der hebräischen Bibel festhielt, berücksichtigte er weder die Gottesanrede πάτερ im Gebet des Priesters Eleasar in 3 Makk 6,3.8 noch die gleiche Bezeichnung in Weish  14,3. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass solche Anrufungen im AT selten erwähnt werden. Sollten sie im deuterokanonischen Ecclesiasticus belegt sein, würde dies seine besondere Nähe zum NT hervorheben (vgl. Kap. 1.1), wo Gott in den Gebeten Jesu z. B. in Mt 6,9; Lk 10,21; 11,2 und Joh 11,41 unverhüllt als „Vater“ angesprochen wird. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es sich bei der familiären Nennung Gottes innerhalb der zwei eigentlichen Gebetstexte in Sir 23,1.4 und 51,10 um ursprüng-

665 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 26, 31 und 56. 666 Vgl. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz, 84. 667 Siehe auch 1 Chr 17,13; 22,10; 28,6; Tob 13,4; Ps 68,6; 89,27; Weish 2,16; 14,3; Jes 63,16 (zweimal); 64,7; Jer 3,4.19; 31,9 und Mal 1,6; 2,10. Vgl. dazu den Vaternamen mit der Vergleichspartikel „wie“ in Ps 103,13; Spr 3,12 und Weish 11,10 sowie die „elterliche“ Liebe Gottes in Hos 11,1.3–4. Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 168. 668 Vgl. Vogt, Origenes, 528 und 531. 669 Die deutsche Übersetzung folgt der BKV-Ausgabe: Origenes, or. (Vom Gebet), 72. Zum griechischen Text vgl. ders., or. (Περὶ εὐχῆς), 346.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

lich direkte Anrufungen handelt.670 Die erste dieser beiden Textgrößen, das Gebet um Selbstbeherrschung in Sir 22,27–23,6, fehlt leider in den bekannten hebräischen Sirachhandschriften, sodass die Forschung vor allem auf die antiken Übersetzungen angewiesen ist.671 Erhalten ist zwar auch die prosodische Version von Sir 22,22–23,9 (vgl. Ms. Adler 3053 = ENA 3053.3 in Exkurs 2)672 mit der hebräischen Paraphrase ‫ אל אבי‬in V. 17, die jedoch an der Echtheit der Gottesanrede κύριε πάτερ „Herr, Vater!“ in G I in Sir 23,1.4 zweifeln lässt. Weil aber diese Paraphrase doppeldeutig ist, kann sie nicht nur als „Gott meines Vaters!“ (status constr. wie etwa bei ‫ אלהי אבי‬in Sir 51,1), sondern auch als Reihung der Gottestitel „Gott, mein Vater!“ übersetzt werden.673 Die letztere Lesart wird nämlich sowohl durch die syrische Variante ‫„ ܐܠܗܐ ܐܒܝ‬Gott, mein Vater!“ in Sir 23,1.4 als auch dadurch begünstigt, dass aufgrund des Vergleichs mit Sir 4,10c (vgl. Kap. 3.4.2) und 51,10 (siehe unten) die Intensität der väterlichen Beziehung Gottes zu den Menschen im verschollenen hebräischen Textabschnitt Sir 22,27–23,6 viel deutlicher als in der erhaltenen Übersetzung des Enkels erscheinen müsste.674 Die Passage mit der dritten und letzten Vateranrede Gottes in Sir 51,10,675 die diesmal nicht in G I, sondern im hebräischen Ms. B im Rahmen des Danklieds in Sir 51,1–12 überliefert ist, lautet: ‫ וארומם ייי אבי אתה‬676 „Und ich pries Jahwe: ‚Mein Vater bist du’“, wobei es sich vermutlich um eine Paraphrase von Ps 89,27 handelt, in welchem über die spirituelle Adoption davidischer Könige durch Gott ausgesagt wird:677 ‫ׁשּוע ִתי‬ ָ ְ‫„ הּוא יִ ְק ָר ֵאנִ י ָא ִבי ָא ָּתה ֵא ִלי וְ צּור י‬Er [scil. David] wird mich [scil. Gott] anrufen: Mein Vater bist du, mein Gott und der Fels meines Heils!“ ̇ „und ich habe Während Syr die Authentizität dieser Lesart bestätigt: ‫ܘܩܪܝܬ ܐܠܒܝ‬ zu meinem Vater gerufen“, schwächt G I tendenziell die Vertrautheit mit Gott ab:678 ἐπεκαλεσάμην κύριον πατέρα κυρίου μου „Ich rief den Herrn, den Vater meines Herrn“.679 Zusammenfassend lässt sich über die drei genannten Anrufungen Gottes als „Vater“ festhalten, dass sie in der jüdischen Tradition verankert

670 Bejaht wird diese Frage bei Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 59 und 83 sowie Corley, God, 35–36. Das Gebet in Sir 36,1–22 enthält die Vateranrede nicht. 671 Vgl. Calduch-Benages, Emotions, 147. Zum griechischen und syrischen Text von Sir 22,27–23,6 vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 116–119 und Calduch-Benages, Text, 154–155. 672 Vgl. Marcus, A Prosodic Version, 26–27 und Beentjes, The Prayer, 24 und 26. 673 Vgl. Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 71–72 und Böhmisch, Die Vorlage, 226 und 229. 674 Vgl. Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 73. 675 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 48. 676 In Ms. B XX verso. 677 Vgl. Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 87 und 89. 678 Vgl. Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 73 und 83 sowie Corley, God, 35. 679 Indem der Syrer den Anfang des Satzes in Sir 51,10 als indirekte Rede formuliert, folgt er der Übersetzung des Enkels.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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sind und dort einen ausgesprochen bekenntnishaften Charakter haben. Denn sie besagen, dass der in Israel verehrte, einzig wahre Gott auch direkt über das persönliche Leben des jeweiligen Beters bestimmt, was immer – auch wenn unter Züchtigungen (vgl. 2 Sam 7,14 und Ps 89,33) und Erprobungen (vgl. Sir 2,1 und 4,17) – zu seinem Besten geschieht680 (vgl. Gottes väterliche Pädagogik als Auslegungsschlüssel in Kap. 3.4.3).

3.4.5 Formale Analyse Die bisherigen inhaltlichen Beobachtungen zu Sir 4,1–10 – vor allem die Teilung der Perikope in zwei Strophen in V. 1a–5b und 6a–10d – werden auch durch die formale Analyse bestätigt. Denn während die Aufforderungen der zweiten Strophe stets (bis auf V. 9b) positiv formuliert werden, enthält die erste Strophe ausschließlich Verbote, wobei sich in Ms. A an eine Reihe von sieben Vetitiven681 zwei Prohibitive682 in V. 4a und 5b anschließen. Demgegenüber werden in G I die Verbote ausnahmslos mit μὴ wiedergegeben.683 Auffallend ist ferner, dass jedes Kolon innerhalb der ersten Strophe mindestens eine Bezeichnung für bedürftige Menschen beinhaltet, sei es eine einfache (z. B. ‫„ דל‬ein Schwacher“ in V. 4a) oder eine mehrwortige (z. B. ἀνήρ ἐν ἀπορίᾳ αὐτοῦ „ein Mann in seiner Ausweglosigkeit“ in V. 3a; ‫„ ܡܣܟܢܐ ܚܫܝܟܐ‬ein finsterer Armer“ in V. 1b), was die Aufmerksamkeit der Leser auf die Armenproblematik als den Hauptgedanken der Perikope lenkt. Dabei wirkt der gesamte Text dank der zahlreichen stichwortartigen Verbindungen zwischen den einzelnen Passagen einheitlich. Neben synonymen Ausdrücken wie ‫„ ֵמ ֶעה‬Eingeweide“ in V. 3a und ‫„ ֶק ֶרב‬Leibesinneres“ in V. 3b, kommen in Ms. A mehrere verwandte Wörter vor, wie z. B. ‫„ צעק‬schreien“ in V. 6a und ‫„ צעקה‬Geschrei“ in V. 6b, ‫„ אל תכאיב‬lass nicht leiden!“ in V. 3b und ‫„ בכאב‬im Schmerz“ in V. 6a sowie ‫[„ מר נפש‬einer mit] verbitterter Seele“684 in V. 1b und ‫מר‬ ‫[„ רוח‬einer mit] verbittertem Geist“ in V. 6a. Auch der Enkel wiederholt die Formulierung μὴ παρελκύσῃς „lass nicht warten!“ in V. 1b und 3c und verwendet verschiedene Verbformen von παροργίζω „erzürnen“ in V. 3a und b. Dazu gebrau-

680 Vgl. Strotmann, Die Vaterschaft Gottes, 75 und 79. 681 Vetitive sind punktuelle Verbote mit der Negationspartikel ‫אל‬, ַ mehr i. S. v. Rat geben. 682 Prohibitive sind dauerhafte, formale Verbote mit der Negationspartikel ‫לֹא‬, i. S. v. „du sollst nicht“. 683 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 85. 684 Wörtlich: „Bitterkeit der Seele“. Vgl. Cassel, ‫מר‬, ַ 194; Cassel, ‫נ ֶפׁש‬,ֶ 219 und Holladay / Köhler, ‫מר‬, ַ 213.

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 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

chen die beiden antiken Versionen in V. 5b und 6a die gleichbedeutenden Lexeme καταράομαι685 / ‫„ ܠܘܛ‬verfluchen“. Die Perikope enthält außerdem einige Stilmittel, darunter semantische Figuren und Stellungsfiguren. Zur ersten Kategorie gehören sowohl die bereits angedeutete Erwähnung der anatomischen Körperteile ‫ ֵמ ֶעה‬und ‫ ֶק ֶרב‬/ καρδία / ‫ ̈ܡܥܝܐ‬in V. 3ab, die im übertragenen Sinne „das Innere des Menschen“ meinen (vgl. Kap. 3.4.1–2), als auch zwei Vergleiche: mit dem Vater (vgl. ‫ כאב‬/ ὡς πατὴρ / ‫ )ܐܝܟ ܐܒܐ‬in V. 10a und mit dem (Gottes)sohn in V. 10c, wenngleich im letzteren Fall die Vergleichspartikel in der hebräischen Fassung fehlt (vgl. Kap. 3.4.2 und 3.4.4). Zur zweiten Gruppe der Stilmittel gehört nicht nur der synonyme Parallelismus mit den beiden Prohibitiven in V. 4b und 5a,686 sondern auch die parallel gestaltete Figur in V. 10ab, da der Tod ein und desselben Mannes seine Kinder zu Waisen und seine Ehefrau zur Witwe macht.687

Abb. 11: Die chiastisch-parallel angeordneten Satzteile in Sir 4,10a–d in G I.

Dies bemerkte offensichtlich der Enkel Sirachs, der in seiner Übersetzung in V. 10b das Wort ‫„ ַא ְל ָמנָ ה‬Witwe“ mit der in diesem Fall synonymen Verwandtschaftsbezeichnung μήτηρ „Mutter [der Waisen]“ ersetzte. Außerdem erwähnte er μήτηρ in V. 10d, wo die Erhabenheit der Gottesbeziehung über alles Irdische – sogar über die liebevolle Mutter-Kind-Beziehung688 – zur Sprache kommt. Dadurch führte er ein zusätzliches rhythmisches Element ein und dehnte somit die im hebräischen Text bestehende rhetorische Figur auf zwei Distichen in V. 10a–d aus, analog zu Sir 39,5–6 (vgl. Kap. 4.1.7). Der neue Parallelismus unterstreicht gleichzeitig eine Synonymität in V. 10a und c zwischen ὀρφανός „Waise“ und υἱὸς „Sohn“ in den Satzgliedern β sowie zwischen πατὴρ „Vater“ und ὕψιστος in den Satzgliedern

685 Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 84. 686 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 166. 687 Vgl. Ps 109,9. 688 Vgl. Jes 49,15 und Ps 27,10.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

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γ, wobei mit dem letzten Ausdruck der „höchste“ Gott gemeint ist (vgl. Abb. 11). Denn Gott kümmert sich um jedes Waisenkind, so wie (ὡς) es ein Vater für seinen Sohn tun würde.689 Ebendieser Vergleich, der mithilfe der in G I erweiterten Stellungsfigur deutlicher geworden ist, gibt nicht nur wichtige Impulse für die armentheologische Ausrichtung des Lehrtextes, sondern liefert zugleich – neben der stärkeren Transzendierung des Gottesbildes (vgl. Kap. 3.4.2) – eine weitere, kompositionell bedingte Erklärung für die Einfügung der Vergleichspartikel ὡς in V. 10c (vgl. den Parallelismus: ὡς πατὴρ – ὡς υἱὸς). Dies alles zeigt den Enkel Sirachs als eigenständigen und wortgewandten Übersetzer,690 der die weisheitlichen Ideen seines Großvaters tief erfasst und sie durch die Verfeinerung der Stellungsfiguren einer breiten griechischsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht hat. Weil der Syrer einerseits die dem griechischen ὡς entsprechende Vergleichspartikel ‫ ܐܝܟ‬in V. 10ac gebraucht und andererseits das Lexem ‫„ ܐ̈ܪܡܠܬܐ‬Witwen“ in V. 10b analog zu ‫ אלמנות‬im hebräischen Ms. A behält, scheint er die beiden Sprachfassungen gekannt zu haben, was bereits bei V. 6 in Kap. 3.4.2 vorgeschlagen wurde (vgl. Tab. 11). Die Alternative wäre, dass der Syrer, der Grieche und der Hebräer dieselbe (womöglich großväterliche) Vorlage hatten, von der sie jedoch bei der Übertragung auf verschiedene Weise abwichen. Denkbar wäre allerdings auch, dass die besagten Unterschiede noch in der Frühphase der Textüberlieferung fixiert wurden und dass die einzelnen Sprachfassungen ihren eigenen, bereits voneinander abweichenden, hebräischen Vorlagen folgten (vgl. Kap. 1.4).691 Tab. 11: Die Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Sprachfassungen von Sir 4,6.10. Ms. A

Syr

(6a)

‫צועק‬

„[wenn] er schreit“

(6b)

‫ובקול‬ ‫צעקתו‬

„und auf die Stimme seines Geschreis“

. ‫ܐܠ ܛ‬

‫ܘܒܩܐܠ‬ ‫ܕܓܥܬܗ‬

G I „er verflucht“

καταρωμέ νου

„wenn er verflucht“

„und auf die Stimme seines Geschreis“

τῆς δεήσεως αὐτοῦ

„seine Bitte“

689 Vgl. Ps 103,13 und Spr 3,12. 690 Die übersetzerische Eigenständigkeit des Enkels bestätigen auch zahlreiche Wörter, die sonst in der LXX nicht belegt werden, darunter viele Hapaxlegomena. Vgl. Reiterer, Urtext, 81, 243 und 247. 691 Als Beispiel mögen hier die Unterschiede zwischen G I und Syr in Sir 22,27–23,6 dienen, bezüglich derer Reiterer konstatiert: „Da man wohl nicht davon ausgehen kann, dass die Übersetzer im Laufe der Übertragung neue poetische Strukturen gebildet haben, zeigt sich, dass Γ [G I] und Syr markant voneinander abweichende Vorlagen besessen haben“. Reiterer, Gott, 165.

168 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Tab. 11 (fortgesetzt) Ms. A (6b)

‫צורו‬

(10a) (10b)

Syr „sein Fels“ —

‫לאלמנות‬

„den Witwen“

G I ‫ܒܪܝܗ‬

„sein Schöpfer“

ὁ ποιήσας αὐτόν

„wer ihn gemacht hat“

‫ܐܝܟ‬

„wie“

ὡς

„wie“

„den Witwen“

τῇ μητρὶ αὐτῶν

„ihrer Mutter“

‫ܐܠ̈ܪܡܠܬܐ‬

3.4.6 Gattungskritik Wie bereits bei der Gattungskritik von Sir 3,1–16 und 3,17–31 gezeigt (vgl. Kap. 3.2.6 und 3.3.6), werden mehrere inhaltliche und formale Übereinstimmungen zwischen dem Ecclesiasticus und dem in Form einer weisheitlichen Lehrerzählung verfassten Tobitbuch festgestellt, was deutlich für eine gemeinsame literarische Gattung der beiden deuterokanonischen Bücher spricht. Diese allgemeine Beobachtung trifft auch für die hier untersuchte, der Armenhilfe gewidmeten Perikope Sir  4,1–10 zu und insbesondere für die Formulierung in V.  4b in G  I: μὴ ἀποστρέψῃς τὸ πρόσωπόν σου ἀπὸ παντὸς πτωχοῦ „und wende dein Gesicht von einem Armen nicht ab“, die eine wörtliche Entsprechung in Tob 4,7 findet:692 μὴ ἀποστρέψῃς τὸ πρόσωπόν σου ἀπὸ παντὸς πτωχοῦ καὶ ἀπὸ σοῦ οὐ μὴ ἀποστραφῇ τὸ πρόσωπον τοῦ θεοῦ „Und wende dein Antlitz nicht ab von irgendeinem Armen, dann wird sich das Antlitz Gottes nicht von dir wenden“. Die armentheologische Akzentuierung des Tobitbuches zeigt sich ferner – ähnlich wie in Sir 4,10 – bei der Erwähnung der Waisen und Witwen im biografischen Rückblick des Hauptprotagonisten (vgl. Tob 1,8 in der griechischen Langfassung: καὶ ἐδίδουν αὐτὰ τοῖς ὀρφανοῖς καὶ ταῖς χήραις καὶ προσηλύτοις τοῖς προσκειμένοις τοῖς υἱοῖς Ισραηλ εἰσέφερον καὶ ἐδίδουν αὐτοῖς ἐν τῷ τρίτῳ ἔτει καὶ ἠσθίομεν αὐτὰ κατὰ τὸ πρόσταγμα τὸ προστεταγμένον περὶ αὐτῶν ἐν τῷ νόμῳ Μωσῆ καὶ κατὰ τὰς ἐντολάς ἃς ἐνετείλατο Δεββωρα ἡ μήτηρ Ανανιηλ τοῦ πατρὸς ἡμῶν ὅτι ὀρφανὸν κατέλιπέν με ὁ πατὴρ καὶ ἀπέθανεν „Und ich gab ihn [scil. den Zehnten] den Waisen und den Witwen und den Proselyten, die sich den Kindern Israel angeschlossen hatten; ich brachte (ihn) herbei und gab (ihn) ihnen im dritten Jahr, und wir verzehrten ihn nach der Anordnung, die darüber im Gesetz des Moses angeordnet ist, und nach den Geboten, die (mir) Debbora, die Mutter unseres Vaters Hananiel, geboten hatte. Denn als Waise hatte mich der Vater zurückgelassen und war gestorben“).

692 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 166 und Marböck, Jesus Sirach, 85.

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

 169

Gemeinsam ist den beiden Texten außerdem die Verheißung der Rettung für diejenigen, die den Bedürftigen nicht im Stich gelassen haben, wie etwa in Tob 4,10: διότι ἐλεημοσύνη ἐκ θανάτου ῥύεται „Denn Almosen errettet vom Tode“, und V. 10d in Ms A: ‫„ ויחנך ויצילך משחת‬und er [scil. Gott] wird dir gnädig sein und dich vor dem Grab retten“. Ein weiterer Text, der die ungerecht behandelten Bedürftigen, Witwen und Waisen in Schutz nimmt, ist Sir 35,15–21. Weil sich dieser Abschnitt der sirazidischen Lehre – genauso wie Sir 4,6 – vordergründig dem Bittgebet der genannten Personen widmet, wird er im Folgenden zur Erläuterung der Gebetstheologie des Autors angeführt.

3.4.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 4,6 Die auf das Gebet bezogene Stelle in V. 6 lautet in verschiedenen Sprachfassungen folgendermaßen: ‫„ צועק מר רוח בכאב נפשו ובקול צעקתו ישמע צורו‬Schreit [einer mit] verbittertem Geist im Schmerz seiner Seele, so wird sein Fels auf die Stimme seines Geschreis hören“ / καταρωμένου γάρ σε ἐν πικρίᾳ ψυχῆς αὐτοῦ τῆς δεήσεως αὐτοῦ ἐπακούσεται ὁ ποιήσας αὐτόν „Denn wenn er dich in der Bitterkeit seiner Seele verflucht, dann wird auf seine Bitte hören, wer ihn ̇ ̇ ̈ ̇ ‫ܟܠܗ ܢܦܫܗ ܘܒܩܐܠ ܕܓܥܬܗ‬ gemacht hat“ / ‫ܫܡܥ ܒܪܝܗ‬ ‫ܚܢܟܐ ܡܢ‬ ‫ܐܠܛ ܗܘ ܓܝܪ ܡܪܝܪ‬ „Denn wenn einer mit bitterem Gaumen aus seiner ganzen Seele flucht, dann hört auf die Stimme seines Geschreis sein Schöpfer“.

Im Unterschied zu den bisher analysierten Gebetsstellen des Sirachbuches wird hier als Lexem der Gottesanrufung nicht ‫ קרא‬/ ἐπικαλέω / ‫ ܩܪܐ‬bzw. ‫ܨܠܝ‬, sondern ‫„ צעק‬schreien“ gebraucht (vgl. das Part. ‫„ צועק‬er schreit“ in V. 6a und das Substantiv ‫„ ְצ ָע ָקה‬Schrei, Geschrei, Hilferuf“ im Ausdruck ‫„ קול צעקתו‬die Stimme seines Geschreis“ bzw. „lautes Geschrei“ in V. 6b), was dem Sprechakt etwas Dringliches und damit Aufmerksamkeit verleiht.693 Dasselbe Gebetsvokabular begegnet an mehreren Stellen in der Bibel, wie etwa in Ex 22,21–22: ‫ם־צעֹק יִ ְצ ַעק ֵא ַלי ָׁשמ ַֹע ֶא ְׁש ַמע ַצ ֲע ָקתֹו‬ ָ ‫ם־עּנֵ ה ְת ַעּנֶ ה אֹתֹו ִּכי ִא‬ ַ ‫ל־א ְל ָמנָ ה וְ יָתֹום לֹא ְת ַעּנּון׃ ִא‬ ַ ‫„ ָּכ‬Keine Witwe oder Waise dürft ihr bedrücken. Falls du sie in irgendeiner Weise bedrückst, dann werde ich, wenn sie wirklich zu mir schreien muß, ihr Geschrei gewiß erhören“ / πᾶσαν χήραν καὶ ὀρφανὸν οὐ κακώσετε· ἐὰν δὲ κακίᾳ κακώσητε αὐτοὺς καὶ κεκράξαντες καταβοήσωσι πρός με ἀκοῇ εἰσακούσομαι τῆς φωνῆς αὐτῶν „Und ihr sollt keine Witwe und Waise schlecht

693 Auch der restliche Wortschatz in V. 6a: ‫„ צועק מר רוח בכאב נפשו‬Schreit [einer mit] verbittertem Geist im Schmerz seiner Seele“, ähnelt der dramatischen Formulierung in Jes 65,14: ‫וְ ַא ֶּתם‬ ‫רּוח ְּתיֵ ִלילּו‬ ַ ‫ּומ ֵּׁש ֶבר‬ ִ ‫[„ ִּת ְצ ֲעקּו ִמ ְּכ ֵאב ֵלב‬I]hr aber werdet schreien vor Herzeleid und heulen vor Verzweiflung“ (wörtlich: „Bruch des Geistes“, vgl. Edel, Hebräisch-deutsche Präparation, 150).

170 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

behandeln. Wenn ihr ihnen aber Schlechtes antut und sie schreien und rufen zu mir um Hilfe, will ich gewiss ihre Stimme erhören“694 (vgl. auch 1 Sam 7,9: „Und Samuel schrie (‫ וּיִ זְ ַעק‬/ ἐβόησεν) zu dem HERRN“695; Ps 22,25 und Dan Sus 42: „Susanna aber schrie auf (ἀνεβόησεν) mit lauter Stimme“696).

Grundlegend für das Verständnis dieser Stellen ist, dass der biblische Beter an Gott als „höhere“ Instanz appelliert und somit sowohl sich selbst als auch sein unmittelbares Umfeld (z. B. seine Bedrücker) transzendiert. Auch Sirach macht dies deutlich, indem er das Schreien zu Gott am Anfang der zweiten Strophe in V. 6 erwähnt, d. h. genau an der Stelle, die den kompositionellen Übergang zwischen dem privaten und dem gemeinschaftlichen Lebensbereich markiert (vgl. Kap. 3.4.3). Dieser öffentliche bzw. rechtliche Aspekt des Gebets kommt etwa dadurch zum Ausdruck, dass das, was in Ms. A noch als ‫„ צעקה‬Geschrei“ des Armen gilt, in G I und Syr bereits als καταράομαι / ‫„ ܠܘܛ‬verfluchen“ bezeichnet wird, wobei vermutlich an eine im AT bekannte Verteidigungsmaßnahme zu denken ist, die von Bedrängten in großer Not gebraucht wurde (vgl. Ri 17,2 in Kap. 3.2.4). Die besondere Wirksamkeit eines solchen „Rechtserzwingungsmittels“ im Falle der personae miserae wird ausdrücklich in Sir 21,5 und in der unten abgedruckten Gebetslehre in Sir 35,16–21 genannt,697 wo auch das Lexem ‫ צעקה‬/ δέησις / ‫ ܨܠܘܬܐ‬vorkommt. Zur besseren kontextuellen Einordnung dieses Textstücks sei hier nur kurz bemerkt, dass es dem eigentlichen Gebet um Rettung in Sir 36,1–22 vorausgeht (vgl. Abb. 4), das in der Forschung manchmal mit jenem erfolglosen Anschlag in Verbindung gebracht wird, den laut 2 Makk 3 der seleukidische Kanzler Heliodor um 175 v. Chr. auf den von Witwen und Waisen hinterlegten Jerusalemer Tempelschatz verübte (vgl. Kap. 1.3).698 Die besagte Gebetslehre ist im hebräischen Ms. B überliefert und lautet folgendermaßen:

̈ 694 Syr hingegen liest: ‫ܘܝܬܡܐ ܐܠ ܬܗܪܘܢ܂ ܘܐܢ ܡܗܪܝܢ ܐܢܬܘܢ ܠܗܘܢ ܘܡܨܠܝܢ ܩܕܡܝ܂ ܡܫܡܥ‬ ‫ܘܟܠ ܐ̈ܪܡܠܬܐ‬ ‫„ ܐܫܡܥ ܨܠܘܬܗܘܢ‬Und ihr sollt keine Witwe und Waise bedrücken. Und wenn ihr sie bedrückt und sie beten zu mir, dann werde ich gewiss ihr Gebet erhören“. Die Heilige Bibel, 59 (AT, hier ‫ ܡܗ̈ܪܝܢ‬ohne Pluralpunkte). 695 Syr hingegen liest: ‫„ ܨܠܝ‬er hat gebetet“. Vgl. Kap. 3.2.7. 696 In der „Theodotion“-Fassung der Susannaerzählung nach Rahlfs (vgl. Kap. 3.4.4). 697 Der Passage Sir 35,16–17.20–21 entsprechen: Sir 35,13–14.16–17 in der Rahlfs’schen Edition des LXX-Textes und Sir 35,14–17 im syrischen Text der Polyglotte von Vattioni. 698 Vgl. Gilbert, Prayer, 120–122 und Palmisano, Salvaci, 310–312. Die sirazidische Verfasserschaft des Gebets ist jedoch umstritten. Vgl. Gilbert, Prayer, 118; Palmisano, Salvaci, 25 und 49 sowie Zapff, Jesus Sirach, 236. Der Versuch der Spätdatierung des Sirachbuches um 175 v. Chr. wird nur der Vollständigkeit halber auch von Witte erwähnt. Vgl.  Witte, Key Aspects, 29–30 (Fußnote 86).

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

 171

‫כי אלהי משפט הוא ואין עמו משוא פנים׃ לא ישא ֯פנים אל דל ותחנוני מצוק ישמע׃ לא יטש צעקת יתום‬ ‫ואלמנה כי תרבה שיח׃ הלא דמעה על לחי תרד ואנחה על מרודיה׃ תמרורי רצון הנחה וצעקה ענן חשתה׃‬ ‫„ שועת דל ענן חל עם ועד תגיע לא תנוח׃ לא תמוש עד יפקוד אל ושופט צדק יעשה משפט׃‬Denn der Gott des Rechtes ist er, und bei ihm gibt es keine Parteilichkeit. Er nimmt nicht Partei gegen die Armen, und Flehen aus Not erhört er; Er weist das Rufen der Waise nicht zurück, noch die Witwe, wenn sie mit vielen Worten klagt. Rinnt die Träne über die Wange nicht, und (klagt) das Seufzen (nicht) den an, der sie fließen läßt? Die Klage des Bedrückten (bringt) Ruhe, und das Rufen eilt zu den Wolken. Das Geschrei des Armen dringt durch die Wolken, und bis es anlangt, ruht es nicht. Es weicht nicht, bis der Allerhöchste herschaut und gerecht richtend Recht schafft.“699

Dem zitierten Text zufolge ist die Unterdrückung der Armen, Witwen und Waisen – analog zu der früher angeführten Entziehung des verdienten Tagelohnes (vgl. Kap. 3.1.4) – klar als himmelschreiende Sünde eingestuft (vgl. Ex 22,20– 22).700 Dabei dient die Klage als ein wirksames, geistiges „Appellationsmittel“, das durch die Wolken zu dringen vermag, um die Sache des ungerecht behandelten Beters vor Gott zu bringen, damit er seine Bedrücker unausweichlich bestraft (vgl.  Sir  35,21). Denn Gott ist ein unbestechlicher Richter, der auf das Ansehen der Person nicht achtet (vgl.  Sir  35,15–16), sondern das Gebet des zu Unrecht Bedrängten erhört und ihn aus seiner Not rettet. Ein solches, für das Gebetsverständnis Sirachs grundlegendes Klage-Erhörungs-Paradigma begegnet mehrfach im Väterlob, wie es im nächsten Kapitel gezeigt werden soll.

3.4.8 Zusammenfassung Die vierte auf das Gebet bezogene Stelle des Ecclesiasticus liegt innerhalb der Perikope Sir 4,1–10, die in der hebräischen, der griechischen und der syrischen Fassung überliefert ist. In Ms. A fällt zunächst der für die Textkritik wichtige idiomatische hebräische Ausdruck „Eingeweide gären“ in V. 3a auf, der die heftigen Gefühle des Armen bezeichnet, dem seitens seines reichen Nächsten nicht nur nicht geholfen wird, sondern der von ihm sogar verachtet und beleidigt wird (vgl. Kap. 3.4.1–2). Während der Syrer an dieser Stelle dem Wortlaut des hebräischen Textes nahe bleibt, gelingt es dem Enkel das eigentümliche Sinnbild ins Griechische zu übertragen und dadurch die armentheologischen Ideen seines

699 Der hebräische Konsonantentext von Sir 35,15–21 entstammt der Polyglotte von Vattioni (vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 185) und der Edition von Beentjes (Ms. B VI recto; nur anstatt ‫מרודיה‬ liest Beentjes ‫ ;מרודית‬vgl. Beentjes, Part I–II, 61). Die deutsche Übersetzung folgt Peters. 700 Vgl. KKK 1867.

172 

 3 Aspekte der sirazidischen Gebetslehre

Großvaters, die das Hauptthema des Absatzes bilden, der breiten griechischsprachigen Hörerschaft zugänglich zu machen. Inhaltlich gesehen unterscheidet sich der erste Teil des Lehrtextes mit mehreren Verboten, die größtenteils im inneren Lebensbereich gelten (V. 1a–5b), von seinem zweiten Teil mit den Aufforderungen zur Armenhilfe, die sich mehr in der Öffentlichkeit abspielen (V. 7a–9b; vgl. Kap. 3.4.3). Dazwischen wird die Gottesanrufung seitens eines verbitterten und bedrängten Menschen thematisiert, die in V. 6a in Ms. A noch als „lautes Geschrei“, in G I und Syr aber bereits als „Verfluchung“ umschrieben wird (vgl. Kap. 3.4.2). Dabei wird der Adressat dieses Klagegebets beim Hebräer als „Fels“ bezeichnet, während ihn der Grieche und der Syrer kurz als Schöpfergott schildern. Der Verfasser rundet seinen moralischen Appell mit einer konkreten Mahnung in V. 10ab ab, sich der Waisen und Witwen anzunehmen. Als Anerkennung dafür wird in V. 10c in Ms. A die Würde der göttlichen Sohnschaft versprochen, was jedoch die Peschitta  – zusammen mit der LXX – durch eine Vergleichspartikel („wie ein Sohn“) relativiert. Dies ist wiederum ein Indiz dafür, dass entweder der syrische Übersetzer neben der hebräischen auch die griechische Textfassung kannte, oder dass der Hebräer, der Grieche und der Syrer dieselbe hebräische Vorlage hatten, von der sie aber bei der Wiedergabe abwichen. Nicht auszuschließen ist allerdings auch, dass diese Abweichungen bereits in den jeweiligen Vorlagen vorgenommen wurden, woraus sie in die Sprachversionen übergingen. Da es sich aber bei V.  10 nicht nur um den Abschluss der untersuchten Perikope, sondern gleichsam des gesamten Textkomplexes Sir 2,1–4,10 handelt, ist diese, an die Sohnschaft grenzende Beziehung zu Gott als hermeneutischer Schlüssel zu der größeren Lehreinheit zu verstehen (vgl.  Kap.  3.4.3). Damit geht einher, dass die schmerzlichen Erprobungen am Anfang des Textkomplexes in Sir 2,1b nichts anderes als väterliche Erziehungsmittel sind, die Gott denjenigen schickt, die er wie ein Vater aufzieht. Zugleich können einige intertextuelle Bezüge zum AT aufgedeckt werden, welche die Zuwendung zu den Armen (vgl. Ps 22,25 und Spr 28,27), Witwen und Waisen (vgl.  Ps  82,4) betreffen, wobei die genannten Parallelen in der griechischen Version stärker zum Vorschein kommen als in der Peschitta (vgl. Kap. 3.4.4). Für die Theologie Sirachs ist besonders wichtig, dass in den analysierten Bezugstexten Gott nicht nur als gerechter Richter (vgl. Ps 82,1), sondern auch als liebender Vater für die Ärmsten sorgt (vgl.  Ps  68,6). Demzufolge ist die Waisen- und Witwenhilfe eine Art der „Nachahmung“ Gottes des Vaters, was zutiefst mit der oben erwähnten Gottessohnschaft korreliert. Die intertextuelle Lektüre von Sir 4,9–10 macht nämlich deutlich, dass demjenigen, der wie der König Salomo in 1 Kön 3,16–28 bereit ist, den Bedrängten zu retten und einen gerechten richterlichen Spruch zu erteilen, genauso wie dem Nachkommen Davids in 2 Sam 7,14 der Hoheitstitel „Gottessohn“ verheißen wird. Dass es sich dabei um keine isolierte

3.4 Gebet als wirksames Appellationsmittel des Bedrängten in Sir 4,1–10 

 173

Beobachtung im Sirachbuch handelt, zeigt u. a. die Erwähnung des Vaternamens als Anrede an Gott in den Gebetstexten Sir  22,27–23,6 und 51,1–12 (vgl.  Exkurs 4). Die formale Analyse der griechischen Textfassung lässt ferner erkennen, dass die Einmaligkeit der Beziehung zwischen Gott (als Vater) und Mensch (als Sohn) durch den Zusatz in V. 10d „und er [scil. Gott] wird dich mehr lieben als deine Mutter“ noch stärker als in den anderen Sirachfassungen ausgedrückt wird (vgl. Kap. 3.4.5). Dabei wird der nur in einem Distichon bestehende Parallelismus in V. 10ab in Ms. A durch die Ersetzung der Bezeichnung „Witwe“ durch „Mutter [der Waisen]“ in G I auf zwei Distichen in V. 10a–d ausgedehnt. Falls sich eine solche poetische Struktur nicht bereits in der Vorlage befand, erweist dies den Enkel des Verfassers als Sprachkünstler. Neben den oben zitierten älteren biblischen Passagen, die Sirach vermutlich in schriftgelehrter Weise aufgegriffen und verarbeitet hat, gibt es auch spätjüdische Texte, die zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Sir 4,1–10 aufweisen. Zu ihnen gehören etwa die Belehrungen des Tobit für seinen Sohn Tobias und insbesondere die Warnung vor der Gleichgültigkeit gegenüber den Armen in Tob  4,7, die mit Sir 4,4b in G I wörtlich übereinstimmt und somit eine gattungstheoretische Zuordnung von Sir 4,1–10 als weisheitliche Lehrrede begünstigt (vgl. Kap. 3.4.6). Auch Sir 35,15–21 weist deutliche Berührungspunkte mit der untersuchten Perikope auf (vgl. Kap. 3.4.7), wobei vor allem der an Gott gerichtete Hilfeschrei der zu Unrecht bedrängten, sozial schwachen Menschen gemeinsam ist (vgl. Sir 4,6a). Ein solches Bittgebet, das als vorrangiges geistliches Appellationsmittel wirkt, erreicht eilig den Himmel und vermag Gott selbst zu bewegen. Denn er bestraft unausweichlich die Bedrücker und schafft den Bedrückten ihr Recht (vgl. Sir 4,6b), wie es oft an anderen Stellen des Ecclesiasticus der Fall ist, wo das Klage-Erhörungs-Paradigma im Blickpunkt steht.

4 Vorbilder des Gebets bei Sirach 4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 4.1.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Neben verschiedenartigen Gebetseinweisungen, von denen bis jetzt die Rede war, enthält das Sirachbuch auch einige große Vorbilder des Gebets. Als ersten von diesen präsentiert der Autor einen Schriftgelehrten in der Perikope Sir 38,34c–39,11b, die einen allgemein programmatischen Charakter hat und deshalb als Überleitung zwischen den Gebetslehren in den ersten zwei Buchteilen und den Betergestalten im Väterlob dienen kann. Weil der entsprechende hebräische Text in keinem der bis dato überlieferten Manuskripte zu finden ist,1 soll im Folgenden auf G I und Syr rekurriert werden. Bei dem unten abgedruckten griechischen Text (Editionen von Rahlfs2 und von Ziegler3) fällt als erstes auf, dass anstatt der präsentischen Partizipialform ἐπιδιδόντος „wer hingibt“ die Majuskelkodizes B4 und S in V. 34c das Part. Aorist ἐπιδόντος haben, was die Vorzeitigkeit ausdrückt: „wer hingegeben hat“. Diese Abweichung wird jedoch durch die präsentisch zu übersetzende ̇ ‫„ ̇ܗܘ‬wer hingibt“ in Syr nicht bestätigt. Demgegenüber wird Formulierung ‫ܕܝܗܒ‬ die in V. 1a abgedruckte Form ἀρχαίων „Vorfahren, die Alten“ durch die syrische ̈ „die Früheren“ gegen die ursprünglichere Leseart des Codex SinaitiVariante ‫ܩܕܡܝܐ‬ cus ἀρχόντων „Vorsteher“ unterstützt. Auch die in V. 4b gebrauchte Formulierung ἔναντι ἡγουμένων „vor den Fürsten“ – anstelle der singularischen Form ἡγουμένου ̇ ‫ܒܝܢܬ ̈ܡ‬ in den Majuskeln B und A – findet eine Entsprechung beim Syrer: ‫ܠܟܐ ܘ̈ܪܘܪܒܢܐ‬ „unter Königen und Vornehmen“. Allerdings kann die Begründungspartikel γάρ „denn“ nicht durch Syr, sondern nur durch die Vg (enim) belegt werden.5 Dafür entspricht das passivum divinum ἐμπλησθήσεται „er [scil. der Schriftgelehrte] wird erfüllt werden“ in V. 6b der Ethpaʿalform ‫„ ܢܬܚܟܡ‬er wird weise werden“6, während in den Kodizes A und Sc die aktivische Konstruktion ἐμπλησ(ε)ι αὐτον „er [scil. der

1 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 205 und 207; Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, 180 und Beentjes, Part I–II, 67. 2 Vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 444–445. 3 Vgl.  Ziegler, Sirach, 305–307. Auch die Polyglotte von Vattioni übernimmt den griechischen Text Zieglers textkritischer Edition. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 204, 206 und 208. 4 Die zu untersuchende Perikope Sir  38,34c–39,11b im Codex Vaticanus, p. 876–877, kann unter: http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.gr.1209/0880 und http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat. gr.1209/0881 abgerufen und konsultiert werden; zuletzt am 09.07.2019. 5 Der Stelle Sir 39,4d entspricht in der Vg Sir 39,5b. 6 Vgl. Smith / Smith, ‫ܚܟܡ‬, 141. https://doi.org/10.1515/9783110784923-004

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 175

Herr] wird ihn erfüllen“ gebraucht wird. Schließlich ist die pluralische Wendung διηγήσονται ἔθνη „die Völker werden erzählen“ in V. 10a der Lesart des Vaticanus: διηγήσεται (Bc) ἔθνει (B✶) „er wird dem Volk erzählen“, vorzuziehen, da auch Syr ̈ ‫ܟܢܘܫܬܐ‬ ‫„ ̈ܢܬܢܝܢ‬die Gemeinden werden erzählen“ hat. Griechische Version

Deutsche Übersetzung

(34c) πλὴν τοῦ ἐπιδιδόντος τὴν ψυχὴν αὐτοῦ (34d) καὶ διανοουμένου ἐν νόμῳ ὑψίστου (1a) (1b) (2a) (2b) (3a) (3b) (4a) (4b) (4c) (4d) (5a) (5b) (5c) (5d) (5e) (6a) (6b) (6c) (6d) (7a) (7b)

Nur wer seine Seele hingibt und wer über das Gesetz des Höchsten nachsinnt, σοφίαν πάντων ἀρχαίων ἐκζητήσει der wird die Weisheit aller Vorfahren erforschen καὶ ἐν προφητείαις ἀσχοληθήσεται und mit Prophezeiungen wird er sich beschäftigen. διήγησιν ἀνδρῶν ὀνομαστῶν συντηρήσει Die Erörterung namhafter Männer wird er bewahren καὶ ἐν στροφαῖς παραβολῶν und in die Wendungen der Denksprüche wird συνεισελεύσεται er eindringen. ἀπόκρυφα παροιμιῶν ἐκζητήσει Das Verborgene der Sprüche wird er erforschen καὶ ἐν αἰνίγμασι παραβολῶν und über den Rätseln der Denksprüche wird ἀναστραφήσεται er verweilen. ἀνὰ μέσον μεγιστάνων ὑπηρετήσει Inmitten der Vornehmen wird er dienen καὶ ἔναντι ἡγουμένων ὀφθήσεται und vor Fürsten wird er erscheinen; ἐν γῇ ἀλλοτρίων ἐθνῶν διελεύσεται das Land fremder Völker wird er durchziehen, ἀγαθὰ γὰρ καὶ κακὰ ἐν ἀνθρώποις denn Gutes und Böses erprobte er bei ἐπείρασεν Menschen. τὴν καρδίαν αὐτοῦ ἐπιδώσει ὀρθρίσαι Sein Herz wird er hingeben, früh zu wachen, πρὸς κύριον τὸν ποιήσαντα αὐτὸν hin zum Herrn, der ihn gemacht hat; καὶ ἔναντι ὑψίστου δεηθήσεται und vor dem Höchsten wird er bitten καὶ ἀνοίξει στόμα αὐτοῦ ἐν προσευχῇ und er wird seinen Mund im Gebet öffnen καὶ περὶ τῶν ἁμαρτιῶν αὐτοῦ δεηθήσεται und wegen seiner Sünden wird er bitten. ἐὰν κύριος ὁ μέγας θελήσῃ Wenn der Herr, der Große, es will, πνεύματι συνέσεως ἐμπλησθήσεται wird er mit dem Geist des Verstandes erfüllt werden; αὐτὸς ἀνομβρήσει ῥήματα σοφίας αὐτοῦ er selbst wird die Worte seiner Weisheit hervorquellen καὶ ἐν προσευχῇ ἐξομολογήσεται κυρίῳ und im Gebet wird er den Herrn bekennen. αὐτὸς κατευθυνεῖ βουλὴν αὐτοῦ καὶ Er selbst wird seinen Rat und die Erkenntnis ἐπιστήμην lenken καὶ ἐν τοῖς ἀποκρύφοις αὐτοῦ und über seine verborgenen [Dinge]7 wird er διανοηθήσεται nachsinnen.

7 Alternative Übersetzungsmöglichkeit: „die ihm verborgenen [Dinge]“.

176  (8a) (8b) (9a) (9b) (9c) (9d) (10a) (10b) (11a)

(11b)

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

αὐτὸς ἐκφανεῖ παιδείαν διδασκαλίας αὐτοῦ καὶ ἐν νόμῳ διαθήκης κυρίου καυχήσεται

Er selbst wird die Bildung seiner Lehre zeigen und im Bundesgesetz des Herrn wird er sich rühmen. αἰνέσουσιν τὴν σύνεσιν αὐτοῦ πολλοί Viele werden seinen Verstand preisen καὶ ἕως τοῦ αἰῶνος οὐκ ἐξαλειφθήσεται und bis in Ewigkeit wird er nicht ausgelöscht werden; οὐκ ἀποστήσεται τὸ μνημόσυνον αὐτοῦ Sein Andenken wird nicht schwinden καὶ τὸ ὄνομα αὐτοῦ ζήσεται εἰς γενεὰς und sein Name wird leben von Geschlecht γενεῶν zu Geschlecht. τὴν σοφίαν αὐτοῦ διηγήσονται ἔθνη Seine Weisheit werden die Völker erzählen καὶ τὸν ἔπαινον αὐτοῦ ἐξαγγελεῖ ἐκκλησία und sein Lob wird die Gemeinde [laut] verkünden. ἐὰν ἐμμείνῃ ὄνομα καταλείψει ἢ χίλιοι Wenn er [lange am Leben] bleibt, wird er einen [größeren] Namen hinterlassen als Tausende8 καὶ ἐὰν ἀναπαύσηται ἐκποιεῖ αὐτῷ und wenn er sich zur Ruhe begibt, vollendet er ihn.

Anders wie bei G I enthalten die Textzeugen 7a1 und 7h3 nur wenige textkritische Abweichungen von dem hier abgebildeten syrischen Text.9 Abgesehen von der ̈ Auslassung der Präposition ‫ ܒ‬in V. 2b im Ambrosianus (vgl. ‫ܘܒܕܥܡܝܩܢ‬ im Londoner Kodex) bildet V. 4d die erste Stelle der Perikope, die ein besonderes Augenmerk verdient. Während hier 7h3 ‫„ ܢܢܣܐ‬er wird erproben, prüfen, erfahren“10 hat (vgl. ἐπείρασεν „er erprobte, prüfte, erfuhr“; vgl. Kap. 4.1.2), liest 7a1 ‫„ ܢܟܣܐ‬er wird bedecken, verbergen, verheimlichen“11, was aber in dem vorliegenden Kontext wenig Sinn ergibt. Außerdem unterscheiden sich die beiden Handschriften im Gebrauch des enklitischen Possessivpronomens, da 7a1 in V. 6d ‫„ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗܘܢ‬in ihren Gedanken“ anstatt ‫„ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗ‬in seinen Gedanken“ hat, worauf im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird. Schließlich fehlen die Präposition ‫ ܒ‬in ̈ in 7a1) und die Pluralpunkte (Seyame) bei dem feminiV. 7a in 7h3 (dafür ‫ܒܡܬܐܠ‬ nen Substantiv ‫„ ܟܢܘܫܬܐ‬Gemeinde, Versammlung“ in V. 10a in 7a1. Die letzteren sind aber wegen der Kongruenz in Numerus und Genus mit der vorangehenden Verbform ‫„ ̈ܢܬܢܝܢ‬sie (3. Pers. Plur. fem.) werden erzählen, wiederholen, berichten“12 vorauszusetzen.

8 Andere Lesart: „[…] wird er einen Namen hinterlassen, [der mehr ist] als tausend [andere Namen]“. 9 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 205, 207 und 209 sowie Calduch-Benages, Text, 222 und 224–225. 10 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܢܣܐ‬, ‫ܢܣܝ‬, 258 (aramäisch). 11 Vgl. Smith / Smith, ‫ܟܣܐ‬, 220 und Hanna / Bulut, ‫ܟܣܐ‬, 146 (aramäisch). 12 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܬܢܐ‬, 420 (aramäisch).

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

Syrische Version (34c) (34d) (1a) (1b) (2a) (2b)

̇ ‫ܒܪܡ ̇ܗܘ‬ ‫ܕܝܗܒ ܢܦܫܗ ܠܡܕܚܠ ܐܠܠܗܐ‬ ̈ ‫ܘܠܡܣܬܟܠܘ ܢܡܘܣܐ ܕܚܝܐ‬ ̈ ‫ܐܝܟ ܚܟܡܬܐ ܕܟܠܗܘܢ‬ ‫ܩܕܡܝܐ ܢܒܥܐ‬ ̈ ‫ܢܒܝܐ‬ ̈ ‫ܘܠܘܬ‬ ‫ܩܕܡܝܐ ܢܬܦܢܐ‬ ̈ ‫ܘܫܘܥܝܬܐ ܕܟܠ ܐܢܫܐ ܕܥܠܡܐ ܢܐܠܦ‬ ̈ ̇ ‫ܘܕܥܡܝܩܢ ܢܬܚܫܒ‬

(3a) (3b)

̈ ‫ܚܟܡܬܐ‬ ‫ܕܡܬܐܠ ܢܐܠܦ‬ ‫ܘܒܟܠ ܣܬܝ̈ܪܬܐ ܢܣܬܟܠ‬

(4a) (4b) (4c) (4d) (5a) (5c) (5d) (5e) (6b)

̈ ‫ܘܒܝܢܬ‬ ‫ܫܠܝܛܢܐ ܢܗܠܟ‬ ‫ܘܒܝܢܬ ̈ܡܠܟܐ ܘ̈ܪܘܪܒܢܐ ܢܫܡܫ‬ ̈ ‫ܒܡܕܝܢܬܐ ܕܥܠܡܐ ܢܗܠܟ‬ ‫ܛܒ ܘܒܝܫ ܒܐܢܫܐ ܢܢܣܐ‬ ̇ ‫ܠܡܨܠܝܘ‬ ‫ܘܒܠܒܗ ܢܣܝܡ‬ ̣ ‫ܘܡܢ ܩܕܡ ܐܠܗܐ ܢܒܥܐ ̈ܪܚܡܐ‬ ‫ܒܨܠܘܬܗ‬ ‫ܘܢܦܬܚ ܦܘܡܗ‬ ̣ ̈ ‫ܚܛܗܘܗܝ ܢܒܥܐ ̇ܛܒܬܐ‬ ‫ܘܥܠ‬ ‫ܘܒܪܘܚܐ ܕܣܟܘܠܬܢܘܬܐ ܢܬܚܟܡ‬

(6c)

‫ܘܗܘ ܢܦܩ ̈ܡܬܐܠ ܚܕ ܬܪܝܢ‬ ̣

(6d) (7a)

‫ܠܗ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗܘܢ‬ ̣ ‫ܘܢܘܕܘܢ‬18 ̈ ̈ ‫̣ܗܘ ܢܣܬܟܠ ܒܡܬܐܠ ܕܚܟܝܡܐ‬

(7b)

‫ܘܒܣܬܝ̈ܪܬܐ ܢܣܬܟܠ‬

(8a) (8b)

‫̣ܗܘ ܢܦܩ ܝܘܠܦܢܐ ܕܚܟܡܬܐ‬ ̈ ‫ܘܒܢܡܘܣܐ‬ ‫ܕܚܝܐ ܢܫܬܒܚ‬

 177

Deutsche Übersetzung Wer aber sich hingibt, um Gott zu fürchten und das Gesetz des Lebens zu verstehen, der wird ebenso die Weisheit aller Früheren suchen und zu den früheren Propheten wird er sich wenden. Und die Erzählungen jedes Weltmanns wird er lernen und über das, was tiefsinnig [ist], wird er nachdenken. Die Weisheit der Sprüche wird er lernen und in allen verborgenen [Dingen] wird er verständig sein.13 Und unter Herrschern wird er wandeln und unter Königen und Vornehmen wird er dienen; in den Städten der Welt wird er einhergehen, Gutes und Böses bei den Menschen wird er erproben. Und er wird sich zu Herzen nehmen,14 zu beten, und von Gott wird er Erbarmen erbitten und er wird seinen Mund im Gebet15 öffnen und wegen seiner Sünden wird er das Gute erbitten. Und durch den Geist des Verstandes wird er weise werden16 und er selbst wird die Sprüche hervorbringen, doppelt17 [so viel], und sie werden ihn in ihren Gedanken loben. Er selbst wird in den Sprüchen der Weisen verständig sein19 und in den verborgenen [Dingen] wird er verständig sein.20 Er selbst wird die Weisheitslehre hervorbringen und durch das Gesetz des Lebens wird er verherrlicht werden.

13 Alternativer Übersetzungsvorschlag: „und durch alle verborgenen [Dinge] wird er [es] verstehen“. 14 Wörtlich: „Und er wird in sein Herz [den Gedanken] legen“. Die Formulierung ‫ܒܠܒܗ ܢܣܝܡ‬ ist ̣ ein idiomatischer Ausdruck. Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܘܡ‬, 366. 15 Wörtlich: „in seinem Gebet“. 16 Andere Übersetzung: „Und im Geiste des Verstandes wird er weise werden“. 17 Die Formulierung ‫ ܚܕ ܬܪܝܢ‬bedeutet wörtlich: „eins zwei“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܬܪܝܢ‬, 620. 18 7h3 liest hier: ‫„ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗ‬in seinen Gedanken“. 19 Alternative Übersetzungsmöglichkeit: „Er selbst wird [es] durch die Sprüche der Weisen verstehen“. 20 Ebenfalls mögliche Übersetzung: „und durch die verborgenen [Dinge] wird er [es] verstehen“.

178 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

(9a) (9b)

̈ ‫ܚܟܡܬܗ‬ ‫ܣܓܝܐܐ ܡܢ‬ ‫ܘܢܐܠܦܘܢ‬ ̣ ‫ܘܒܥܠܡܐ ܐܠ ܢܬܛܥܐ ܫܡܗ‬

(9c)

‫ܕܘܟܪܢܗ ܥܕܡܐ ܠܥܠܡ‬ ‫ܘܐܠ ܢܒܛܠ‬ ̣

(9d)

‫ܘܫܡܗ ܐܠ ܢܬܛܥܐ ܡܢ ܕܪ ܠܕܪ‬ ̣

(10a) (10b) (11a) (11b)

̈ ‫ܟܢܘܫܬܐ‬ ‫ܚܟܡܬܗ ̈ܢܬܢܝܢ‬ ̣ ̈ ‫ܚܬܗ ܢܐܡܪ ܥܡܐ‬ ‫ܘܬܫܒ‬ ̣ ‫ܐܢ ܢܨܒܐ ܒܐܠܦ ܢܫܬܒܚ‬ ‫ܘܐܢ ܢܫܬܘܩ ܒܥܡܐ ܙܥܘܪܐ‬

Und viele werden von seiner Weisheit lernen und in der Welt21 wird sein Name nicht vergessen werden; und sein Gedächtnis wird nicht aufhören bis in Ewigkeit und sein Name wird nicht vergessen werden von Generation zu Generation. Seine Weisheit werden die Gemeinden erzählen und seine Lobpreisungen wird das Volk sprechen. Wenn er will, wird er durch tausend gelobt werden und wenn er schweigt: durch ein kleines Volk.

4.1.2 Hermeneutik der Sprachversionen Beim Abgleich des LXX-Textes der zu untersuchenden Perikope mit Syr können einige Abweichungen festgestellt werden, die für die Hermeneutik der beiden Sprachversionen von Bedeutung sind. Es fällt zunächst auf, dass die Peschitta – im Unterschied zur Übersetzung des Enkels – in V. 34c22 die Gottesfurcht thematisiert.23 Dass es sich beim öfteren Gebrauch dieses theologischen Begriffs beim Syrer wohl um eine Tendenz handeln könnte, zeigen auch die übrigen Gottesfurchtstellen des Buches.24 Dafür aber werden Gottesbezeichnungen in der griechischen Variante öfters erwähnt als in der syrischen, indem etwa in V. 34d von νόμος ὑψίστου „Gesetz des Höchsten“ und in V. 8b von νόμος διαθήκης κυρίου ̈ ‫„ ܢܡܘܣܐ‬Gesetz des Lebens“ die Rede „Bundesgesetz des Herrn“ anstelle von ‫ܕܚܝܐ‬ 25 ist. Der genannte Unterschied tritt am deutlichsten in V. 5b und 6a zutage, wo die entsprechenden Passagen mit dem Gottesbezug in der syrischen Variante fehlen.26 In dieselbe Richtung weist auch V. 6d, wo G I Gott ausdrücklich als Objekt des Lobes hat: καὶ ἐν προσευχῇ ἐξομολογήσεται κυρίῳ „und im Gebet wird er [scil. der Schriftgelehrte] den Herrn bekennen“ (vgl. Vg: et in oratione confitebi-

21 In der gleichen Bedeutung wird das Präpositionalgefüge ‫ ܒܥܠܡܐ‬auch in Sir 3,18a (vgl. Kap. 3.3.1) und Sir 48,25a (vgl. Kap. 4.3.1–2) verwendet. Alternative Lesart: „in Ewigkeit“. Vgl. V. 9c. 22 Der Stelle Sir 38,34 (Verszählung gemäß der EÜ) entspricht in Syr in der Polyglotte von Vattioni und in der Ausgabe von Calduch-Benages Sir 39,1. 23 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 247. 24 Vgl. Sir 1,10; 6,37; 16,4; 26,28 und 32,12 in Syr in Kap. 3.1.2. Siehe auch die tabellarische Übersicht der Gottesfurchtstellen bei Haspecker. Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 48–50. Im Gegensatz zu dieser Tendenz ist die Gottesfurchtpassage in Sir 3,7a nur in G II überliefert. ̈ ‫ ܢܡܘܣܐ‬kommt auch in Sir 17,11 und 45,5 vor. Vgl. Ueberschaer, Weis25 Die Formulierung ‫ܕܚܝܐ‬ heit, 311 (Fußnote 49). 26 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 247.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 179

tur Domino „und im Gebet wird er sich zum Herrn bekennen“27). Die Perspektive dreht sich jedoch in 7a1 so um, dass der Beifall nunmehr zum Schriftgelehrten gelenkt wird: ‫ܠܗ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗܘܢ‬ ̣ ‫„ ܘܢܘܕܘܢ‬und sie werden ihn [scil. den Schriftgelehrten] in ihren Gedanken loben“ (7h3 hat lediglich ‫„ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗ‬in seinen Gedanken“, d. h. „seiner Meinung nach“). Auf diese Weise betont der Syrer das menschliche Tun des Schriftgelehrten viel stärker als der Grieche.28 Weil aber, wie bereits gesagt, die ganze Perikope in den bis dato überlieferten hebräischen Handschriften fehlt, kann nicht mehr eingeschätzt werden, wie groß der eigene Interpretationsbeitrag des Peschitta-Übersetzers ist. Außerdem liest Syr in V. 7b ‫„ ܒܣܬܝ̈ܪܬܐ‬in den verborgenen [Dingen]“, während G I die syntaktisch doppeldeutige Formulierung ἐν τοῖς ἀποκρύφοις αὐτοῦ „in seinen verborgenen [Dingen]“ hat. Dabei könnte das maskuline Possessivpronomen auf den Schriftgelehrten als einen tiefgründigen Betrachter der göttlichen Geheimnisse bezogen werden (i. S. v. „in den ihm [scil. dem Schriftgelehrten] verborgenen [Dingen]“29), wie es auch bei ῥήματα σοφίας αὐτοῦ „die Worte seiner Weisheit“ in V. 6c, βουλὴν αὐτοῦ „seinen Rat“ in V. 7a und παιδείαν διδασκαλίας αὐτοῦ „die Bildung seiner Lehre“ in V. 8a der Fall ist.30 Die starke Theozentrik des griechischen Textes suggeriert allerdings, dass es sich hier um den in V. 6d erwähnten Gott (vgl. Kap. 4.1.4) als Urheber der Geheimnisse handeln kann.31 Ein weiterer Unterschied liegt innerhalb der auf das Gebet bezogenen Stelle in V. 5a vor, wo der Enkel den Inf. ὀρθρίσαι „früh auf sein, wachen“, der Syrer aber ̇ den Inf. ‫ܠܡܨܠܝܘ‬ „beten“ gebraucht. Da der großväterliche Text dieser Perikope abhandengekommen ist, fällt es schwer, mit Sicherheit festzustellen, welche der beiden Lesarten ursprünglicher ist. Als Hilfe bietet sich aber Sir 4,12 an, wo G I dasselbe Lexem als Part. Aktiv anführt: καὶ οἱ ὀρθρίζοντες πρὸς αὐτὴν „und die frühmorgens sich ihr [scil. der Weisheit] zuwenden“, während Ms. A und Syr über ̇ ‫ܘܕܒܥܝܢ‬ ̇ „und die, die sie [scil. die Weisheit] die Tageszeit schweigen: ‫ומבקשיה‬32 / ‫ܠܗ‬ 33 suchen“. Diese Abweichung erklärt Peters dadurch, dass ὀρθρίζοντες für das Wort ‫יה‬ ָ ‫( ְמ ַׁש ֲח ֶר‬von ‫[„ ׁשחר‬frühe ausgehen und] suchen“34) im großväterlichen Text steht, das ursprünglicher sein sollte als ‫יה‬ ָ ‫מ ַב ְּק ֶׁש‬. ְ 35 Analog dazu könnte der Inf.

27 Der untersuchten Stelle Sir 39,6d entspricht in der Vg Sir 39,9b. 28 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 249. 29 Vgl. Benseler / Kaegi, ἀπόκρυφος, 98. 30 Vgl. Ueberschaer, Weisheit, 313 und Zapff, Gemeinsamkeiten, 245. 31 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 448 und Zapff, Jesus Sirach, 266. 32 In Ms. A I verso. 33 Vgl. Spr 8,35. 34 Von ‫ ׁשחר‬kommt auch ‫„ ַׁש ַחר‬Morgenrot“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ׁשחר‬, ‫ׁש ַחר‬, ַ 819–820. 35 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 43.

180 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

ὀρθρίσαι in V. 5a das Wort ‫ ַׁש ֵחר‬in der verschollenen hebräischen Vorlage wiedergeben.36 Dabei ist allerdings zu beachten, dass im AT als Zeitpunkt für die Akte der Anbetung Gottes, wie etwa das Gebet (vgl. Ex 34,4; 1 Sam 1,19; Ijob 8,5; Ps 62,2 LXX37; 118,148 LXX) oder das Opfer (vgl. Gen 28,18; Ex 24,4; Ri 21,4; 2 Chr 29,20; 1 Makk 4,52; Ijob 1,5), nicht selten die Frühe galt. Demzufolge ist in G I in V. 5a eventuell mit einer tendenziellen interpretatorischen Abweichung zu rechnen (vgl. Kap. 1.4), ohne notwendigerweise auf die von Peters vorgeschlagene Konjektur zurückgreifen zu müssen. Denn eine solche Präzisierung durch die Angabe der Gebetszeit entspräche der Zielsetzung des griechischen Sirachbuches, das unzureichende Wissen all jener seiner Leser zu ergänzen, die sich in der Fremde vorgenommen haben, gesetzestreu zu leben (vgl. Sir Prolog 34–36). Aufmerksamkeit verdient ferner der Gebrauch der Tempora in den beiden Versionen der Perikope, wobei im griechischen Text die meisten Verben im Futur stehen, was im Syrischen dem Imperfekt entspricht. Eine Ausnahme bildet beim Enkel die Aoristform ἐπείρασεν „er erprobte, erfuhr“ in V. 4d, während in der Peschitta-Version – wie zu erwarten – eine imperfektische Verbform ‫ܢܢܣܐ‬ „er wird erproben, erfahren“ steht. Sollte es sich in diesem Fall in G I weder um den futurischen noch um den präsentisch zu übersetzenden gnomischen Aorist38 handeln, dann könnte diese Vergangenheitsform auf persönliche, sowohl angenehme als auch harte Reiseerfahrungen des Großvaters verweisen, der sich selbst in Sir 34,12–13 als vielgereisten, in allen Lebenslagen erprobten Schriftgelehrten darstellte.39 Es wäre durchaus denkbar, dass die hier vorgeschlagene autobiographische Notiz Sirachs dem syrischen Übersetzer entgangen ist und dass er diese sprachliche Unregelmäßigkeit im Duktus der Perikope getilgt hat.40 Anders als bei der abweichenden Reihenfolge und Wortstellung in V. 3–4 (vgl. ἀπόκρυφα „die verborgenen [Dinge]“ in V. 3a / ‫„ ܣܬܝ̈ܪܬܐ‬die verborgenen [Dinge]“ in V. 3b und ὑπηρετήσει „er wird dienen“ in V. 4a / ‫„ ܢܫܡܫ‬er wird dienen“ in V. 4b), ist vermutlich der Singular-Plural-Wechsel: ἔθνη „die Völker, Heiden“ in V. 10a / ‫„ ܥܡܐ‬das Volk“ in V. 10b und ἐκκλησία „die Gemeinde“ in V. 10b / ̈ ‫ܟܢܘܫܬܐ‬ „die Gemeinden“ in V. 10a für die Gesamtaussage von Sir 38,34c–39,11b von Belang. Denn es könnte sich hier entweder um die vom Enkel Sirachs vorgenommene Ausweitung des Ruhmes des Schriftgelehrten auf projüdische Sym-

36 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 325–326. 37 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 243. 38 Während der futurische Aorist vorwegnimmt, was künftig passieren wird, wird der gnomische Aorist bei allgemeinen Erfahrungstatsachen und Sprichwörtern gebraucht. 39 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 218 und 230–231. Zur Analyse von Sir 34,1–20 vgl. Kap. 3.1.6. 40 Somit wäre die schwierigere Lesart von G  I als die wahrscheinlichere zu beurteilen (lectio difficilior probabilior).

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 181

pathisanten im heidnischen Umfeld Alexandriens (vgl. ἔθνη) oder um christliche Einflüsse auf die Peschitta handeln, wobei zum einen an die einzelnen Ortskir̈ chen (‫)ܟܢܘܫܬܐ‬ und zum anderen an das gesamte Christenvolk (‫ )ܥܡܐ‬zu denken 41 wäre. Die Frage, welche der beiden Erklärungen hier besser zutrifft, muss angesichts der mangelnden Überlieferung des hebräischen Textes offen bleiben. Die unterschiedliche Hermeneutik der Sprachversionen ist auch am Schluss der Perikope in V. 11 zu sehen. Denn einerseits arbeitet hier der Enkel mit der Gegenüberstellung: ἐμμένω „[am Leben] bleiben“ (übertragen: „ausharren“42) – ἀναπαύω „ausruhen, sich erholen“ (poetisch: „enden“; Med.: „sich zur Ruhe begeben, sich niederlegen“)43. Darunter ist sowohl die Beliebtheit des Weisheitslehrers noch zu seinen Lebzeiten als auch sein wachsender Nachruhm zu verstehen:44 „Wenn er lange am Leben bleibt, hinterläßt er beim Tode mehr Ruhm, als tausend gewöhnliche Leute“45. Andererseits liest die Peschitta ‫„ ܢܫܬܒܚ‬er wird gelobt werden“ anstelle von ὄνομα καταλείψει „er wird einen Namen hinterlassen“46. Dazu lässt sie die postume Berühmtheit des Spruchdichters ganz außer Acht und hebt nur das Ausmaß seiner Hörerschaft hervor, indem sie zwei Extreme antithetisch nebeneinander bestehen lässt: Entweder wird er durch χίλιοι „Tausende“ / ‫„ ܐܠܦ‬tausend“ in V. 11a gelobt oder – wenn er aus (falscher) Scham schweigt – lediglich durch ‫„ ܥܡܐ ܙܥܘܪܐ‬ein kleines Volk“ in V. 11b. Ferner entspricht die Formulierung: ‫„ ܐܢ ܢܨܒܐ‬Wenn er [scil. der Schriftgelehrte] will“ in V. 11a der Phrase in G I in V. 6a mit dem Unterschied, dass die letztere einen klaren Gottesbezug enthält: ἐὰν κύριος ὁ μέγας θελήσῃ „Wenn der Herr, der Große, es will“. Dies bestätigt, dass die griechische Fassung deutlicher die religiöse und gnadenhafte Dimension der Wissens- und Weisheitsvermittlung hervorhebt, während die Peschitta mehr Aufmerksamkeit dem herkömmlichmenschlichen Aspekt der Tätigkeit des Schriftgelehrten schenkt. Dies könnte – unter den bereits genannten überlieferungsgeschichtlichen Vorbehalten – auf die Eigenständigkeit der syrischen Übersetzung deuten (vgl. Kap. 4.1.5).47 Hierzu 41 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 250. 42 Vgl. Benseler / Kaegi, ἐμμένω, 266. 43 Vgl. Benseler / Kaegi, ἀναπαύω, 58. 44 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 267. 45 Peters, Das Buch Jesus Sirach, 326. Vgl.  auch EÜ 1980: „Solange er lebt, wird er mehr gelobt als tausend andere“. Die Zahl 1.000 kann sich allerdings auch auf die „Namen“ beziehen. Vgl. EÜ 2016: „Wenn er lange lebt, hinterlässt er einen Namen, der mehr ist als tausend andere“. 46 Vgl Jes 65,15: ‫בּועה‬ ָ ‫„ וְ ִהּנַ ְח ֶּתם ִׁש ְמ ֶכם ִל ְׁש‬Und ihr werdet euren Namen zum Fluchwort hinterlassen“ / καταλείψετε γὰρ τὸ ὄνομα ὑμῶν εἰς πλησμονὴν „Denn ihr werdet euren Namen zum Ekel hinterlassen“. 47 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 249–250. Es ist nicht auszuschließen, dass die Unterschiede zwischen G I und Syr bereits in ihren (veränderten) Vorlagen vorhanden waren (vgl. Kap. 1.4).

182 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

sei aber angemerkt, dass sich die besagte Abweichung vor allem auf die explizite Inspiration in V. 6 bezieht, da die göttliche Einwirkung in den beiden Versionen auch sonst indirekt erfolgt: Sie gründet zum einen im Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift, die der fromme Weisheitslehrer mit Fleiß erforscht, und zum anderen in den Lebenserfahrungen, die Gott ihn machen lässt,48 wie im Weiteren gezeigt werden soll.

4.1.3 Kontextualisierung und Gliederung Inhaltlich gesehen besteht der zu untersuchende Textabschnitt aus den Aussagen in V. 34d–3b und 7a–8b über den inneren Umgang des Schriftgelehrten mit der Weisheit, als deren Inbegriff nicht nur die Heilige Schrift,49 sondern auch Sprüche profaner Autoren sowie seine eigene Weisheitsdichtung und spekulatives Denken betrachtet werden. Darauf folgen abwechselnd die Bemerkungen über seine Tätigkeit im äußeren Bereich, sowohl im politischen Dienst in V. 4 als auch als intensiv rezipierter Weisheitslehrer in V.  9–11.50 Diese gedankliche Sequenz wird aber unterbrochen durch das Gebet des Hauptakteurs und die ihm danach von Gott zukommende Geistesgabe in V. 5–6, sodass sich innerhalb der Perikope zwei Strophen über den herkömmlich-regulären (V. 34c–5e) und den inspirierten (V. 6a–11b) Schriftgelehrten herausbilden51 (vgl. Tab. 12). Dabei fällt auf, dass der Protagonist im vorderen Teil der besagten Sequenz noch als jemand erscheint, der selbst nach der Weisheit sucht, indem er neben dem persönlichen Studium der schriftlich oder mündlich überlieferten Quellen auch weite, lehrreiche Reisen unternimmt (vgl. auch Sir 34,9–13). Kurz nach seinem Gebet, das als Wendepunkt erscheint (vgl. Kap. 4.1.7), wird er jedoch als erfolgreicher Lehrer geschildert, der über das Gelernte hinaus selbst die Weisheitssprüche hervorbringt (V. 6c). Weil aber jede Textinterpretation mehr oder weniger kontextabhängig ist, folgt hier im Anschluss an die Gliederung von Sir 38,34c–39,11b ein Blick auf die größeren Zusammenhänge dieser Perikope. Hierbei ist zu berücksichtigen,

48 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 20, 41–42: „Die Weisheit, die alle, auch in Zukunft, in seiner [scil. Sirachs] Schrift finden können, ist die Frucht seines Studiums des Gesetzes und dessen, was ihn Gott durch die Prüfungen seines Lebens gelehrt hat […]. Der Erwerb der Weisheit als Frucht des Studiums wird als Geschenk Gottes anerkannt und führt zum Lobpreis Gottes. Alles vollzieht sich in einer ständigen und lebendigen Einheit mit Gott.“ 49 Die Weisheit in V. 1a bildet zusammen mit dem Gesetz in V. 34d und den Propheten in V. 1b die drei Teile des zur Zeit Sirachs entstehenden biblischen Kanons (vgl. Kap. 1.2). 50 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 241 und Zapff, Gemeinsamkeiten, 240. 51 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 221 und 232.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 183

dass ihr Hauptakteur ‫ סופר‬/ γραμματεύς52 / ‫„ ܣܦܪܐ‬der Schriftgelehrte“ bereits im Wahrsatz in Sir 38,24 erwähnt wird, woran sich unmittelbar in Sir 38,25a–34b ein Lehrtext über verschiedene weltliche Berufe wie Bauer, Handwerker, Gebrauchskünstler, Schmied und Töpfer anschließt. Tab. 12: Die Gliederung des Textkomplexes Sir 38,24–39,11. Durch Fettdruck und Schattierung hervorgehoben sind die der Weisheit gewidmeten Passagen. Strophe I

II

III

Inhalt

Verse

Form und Inhalt

Schriftgelehrter

24ab

Wahrsatz über die Weisheit des Schriftgelehrten

Weltliche Berufe

25a–30d

Beschreibung einzelner Berufe: Bauer (V. 25–26), Handwerker und Gebrauchskünstler (V. 27), Schmied (V. 28) und Töpfer (V. 29–30)

31a–32b

Würdigung der weltlichen Berufe: positiv (V. 31) und ex negativo (V. 32)

33a–34b

Unterlegenheit der weltlichen Berufe (ἀλλά / ‫)ܒܪܡ‬ ex negativo

34c–1b

Weisheitliches Summarium: V. 34c Abgrenzung zu den weltlichen Berufen (πλὴν / ‫ )ܒܪܡ‬und Gottesfurcht V. 34d–1b Studium von Gesetz, Weisheit und Propheten

2a–3b

Meditation allgemeiner weisheitlicher Zitate

4a–d

Äußere Tätigkeit des Schriftgelehrten: Reisen, Hofdienst

5a–e

Ausrichtung des Schriftgelehrten auf Gott, GEBET

6a–d

Göttliche Inspiration des Schriftgelehrten Nur G I: zusätzlicher Gottesbezug in V. 5a und 6a sowie GEBET in V. 6d

7a–8b

Innere Erkenntnis von Weisheit und Gesetz

9a–11b

Unvergänglicher und weitverbreiteter Ruhm des Schriftgelehrten

Herkömmlichregulärer Schriftgelehrter

Inspirierter Schriftgelehrter

Laut Sirach sind all diese emsigen Arbeiter für das harmonische Leben einer Gemeinschaft unentbehrlich und er gesteht ihnen sogar eine gewisse praktische Lebensweisheit zu (vgl. Sir 38,31b–32a).53 Sie können jedoch keine leitende 52 Die Bezeichnung γραμματεύς kommt im Sirachbuch sonst noch in Sir 10,5 vor, wo sie dem Ausdruck ‫„ מחוקק‬Führer“ in Ms. A III verso entspricht. 53 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 450 und Ueberschaer, Weisheit, 380.

184 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Funktion, z. B. eines Staatsmannes oder Richters, übernehmen, weil ihnen die dazu nötige Bildung fehlt (vgl. Sir 38,33)54 oder mit anderen Worten: weil sie sich nicht der eigentlichen Weisheit widmen können (vgl. Sir 38,24b–25a), womit das Studium der älteren Weisheitsliteratur Israels gemeint ist (vgl. Sir 39,1a). Diese beruflich bedingte Bildungsunterlegenheit wird zusätzlich durch die Konjunktion ἀλλά / ‫„ ܒܪܡ‬aber“55 in Sir 38,33a und das Wort πλὴν „nur, jedoch, außer“56 / ‫ ܒܪܡ‬in Sir 38,34c verstärkt, welches die hier zu exegetisierende Perikope einleitet. Aus dem bisher Gesagten – vor allem aus der Voranstellung des Wahrsatzes in Sir 38,24 und dem Vorführen von Negativexempeln57 – wird ersichtlich, dass die Abschnitte Sir 38,25a–34b und 38,34c–39,11b eine zusammenhängende Lehreinheit über die Rolle des Schriftgelehrtenberufs bilden.58 Die Zugehörigkeit der beiden Texte zueinander wird auch dadurch unterstützt, dass in Sir 38,30c und 39,5a dieselbe Formulierung: καρδίαν (αὐτοῦ) ἐπιδίδωμι „(sein) Herz hingeben“ (vgl. καρδίαν αὐτοῦ δίδωμι in Sir 38,26a.27e.28g)59 / ‫ ܠܒܗ ܣܝܡ‬bzw. ‫ܒܠܒܗ ܣܝܡ‬ „sich ̣ zu Herzen nehmen, seinen Sinn auf etwas richten, sich entschließen, sich um etwas bemühen, überlegen“60, gebraucht wird. Dazu wird der profilierte weisheitliche Begriff παιδεία / ‫„ ܝܘܠܦܢܐ‬Bildung“ in Sir 38,33e (ex negativo) und Sir 39,8a erwähnt und es ergibt sich in G I eine zusätzliche stichwortartige Verbindung zwischen dem Substantiv δέησις „Bitte, Gebet“ (hier jedoch als „Sinnen“61) in Sir 38,34b und dem Verb δέομαι „bitten, beten“ in Sir 39,5c.e. Außerdem wird die Verknüpfung der zu untersuchenden Perikope mit dem Anfang des Väterlobes sowohl durch den Ausdruck ἄνδρες ὀνομαστοὶ „namhafte Männer“ in V. 2a (vgl. Sir 44,3) als auch durch die Phrase in V. 10: καὶ τὸν ἔπαινον αὐτοῦ ἐξαγγελεῖ ἐκκλησία καὶ τὸν ἔπαινον αὐτοῦ ἐξαγγελεῖ ἐκκλησία „Seine Weisheit werden die Völker erzählen und sein Lob wird die Gemeinde [laut] verkünden“, gewährleistet (vgl. Sir 44,15: σοφίαν αὐτῶν διηγήσονται λαοί καὶ τὸν ἔπαινον ἐξαγγέλλει

54 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 451. 55 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܒܪܡ‬, 49 (aramäisch). 56 Vgl. Benseler / Kaegi, πλὴν, 722. 57 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 260. 58 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 217. 59 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 260 und ders., Gemeinsamkeiten, 243. 60 Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܘܡ‬, 366 und Calduch-Benages, Text, 224: „and he will make up his mind“. Im Syrischen handelt es sich hier um ein Idiom (wörtlich: „Und er wird in sein Herz [den Gedanken] legen“), wie etwa in Jes 41,22. Das Wort ‫ܠܒܗ‬ „sein Herz“ kommt außerdem noch in ̣ Sir 38,26a vor, jedoch in Verbindung mit dem Verb ‫„ ܪܢܐ‬denken, überlegen, beabsichtigen“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܪܢܐ‬, 378 (aramäisch). 61 Vgl. EÜ 1980. Syr hat dafür ‫„ ܪܢܝܐ‬Plan, Entwurf, Gedanke, Konzept“. Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܪܢܝܐ‬, 378 (aramäisch).

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 185

ἐκκλησία „[I]hre Weisheit werden Völker erzählen, und ihr Lob wird die Versammlung verkünden“).62 Tab. 13: Weisheitliche Summarien mit ihren zentralen Begriffen im Sirachbuch. Nr. Stelle63

Weisheit64

Gottesfurcht

Gesetz

Bildung

Gebote65

1

1,26–27

σοφία

φόβος κυρίου



παιδεία

ἐντολαί

2

6,36–37

‫ יבין‬/ συνετός / ‫ܚܟܝܡ‬ ‫ יחכמך‬/ σοφία / –

‫ יראת עליון‬/ –/ ‫ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬





‫ מצות‬/ ἐντολαί / ̈ ‫ܦܘܩܕܢܐ‬

3

17,7–11

ἐπιστήμη / ‫ܚܟܡܬܐ‬

φόβος αὐτοῦ / ‫ܕܚܠܬܗ‬

νόμος / ‫ܢܡܘܣܐ‬

–/ ‫ܐܠܦ‬



4

19,18– 2066

σοφία / ‫ܚܟܡܬܐ‬

φόβος κυρίου / νόμος / – παιδεία / – ἐντολαί / ‫ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬ –

5

23,27– 24,1

σοφία / ‫ܚܟܡܬܐ‬

φόβος κυρίου / – ‫ܕܚܠܬܗ ܕܐܠܗܐ‬



ἐντολαί / ̈ ‫ܦܘܩܕܢܐ‬

6

24,23–27 σοφία / ‫ܚܟܡܬܐ‬



νόμος / ‫ܢܡܘܣܐ‬

παιδεία / ‫ܝܘܠܦܢܐ‬

ἐνετείλατο / ‫ܦܩܕܢ‬

7

32,14–16 ‫ יבין‬/ εὑρήσουσιν / ‫ܢܬܚܟܡܘܢ‬

‫ ירא ייי‬/ οἱ φοβούμενοι κύριον / ̈ ‫ܕܚܠܘܗܝ ܕܐܠܗܐ‬

‫ תורה‬/ ‫ מוסר‬/ νόμος / – παιδεία / ‫ܝܘܠܦܢܐ‬

‫ משפט‬/ κρίμα / ‫̈ܕܝܢܐ‬

8

32,23– 33,2

‫ יחכם‬/ σοφὸς / –

‫ ירא ייי‬/ ὁ φοβούμενος ̇ κύριον / ‫ܕܕܚܠ‬ ‫ܐܠܠܗܐ‬

‫ תורה‬/ – νόμος / –

–/ ἐντολαί / ‫ܦܘܩܕܢܐ‬

9

38,33– 39,1

σοφία / ‫ܚܟܡܬܐ‬

–/ ‫ܡܕܚܠ ܐܠܠܗܐ‬

νόμος / ‫ܢܡܘܣܐ‬

κρίμα / ‫̈ܕܝܢܐ‬

10

50,27–29 ‫ תבונות‬/ σοφία / – ‫ יראת ייי‬/ – ‫ יחכם‬/ φόβος κυρίου / σοφισθήσεται / ‫ܕܚܠܬܗ ܕܡܪܝܐ ܢܚܟܡ‬

παιδεία / ‫ܝܘܠܦܢܐ‬

‫ מוסר‬/ – παιδεία / –

62 Vgl. Ueberschaer, Weisheit, 381 und Zapff, Gemeinsamkeiten, 241–242. 63 Die auf Hebräisch nicht überlieferte Stelle Sir 34,8 wird hier nicht berücksichtigt, da sie von den zentralen weisheitlichen Begriffen in der LXX lediglich σοφία und νόμος und in Syr nur ‫ ܚܟܡܬܐ‬anführt. 64 In wenigen Summarien werden statt „Weisheit“ die Verbformen ‫ יבין‬/ εὑρήσουσιν / ‫ܢܬܚܟܡܘܢ‬ gebraucht. 65 Statt der göttlichen „Gebote“ kommen in wenigen Summarien die „Gerichtsurteile“ (‫ משפט‬/ ̈ vor. κρίμα / ‫)ܕܝܢܐ‬ 66 Die Passage Sir 19,18–19 mit den Begriffen ἐντολαί und παιδεία ist nur in G II überliefert.

186 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Die weiteren inhaltlichen Parallelen, welche die Schriftgelehrtenperikope mit dem Duktus des gesamten Sirachbuches verbinden, betreffen das Ideal des Weisen, wobei sowohl an die Anerkennung seitens der Vornehmen in V. 4ab und Sir 11,1; 20,27; 38,3 als auch an die Fernreisen in V. 4c und Sir 34,9–11 zu denken ist.67 Von nicht geringer Bedeutung für die hier vorgenommene Kontextualisierung ist auch die Tatsache, dass in Sir 38,34c–39,1b ein inhaltliches Gliederungsmerkmal begegnet, welches, da es bisher nicht erwähnt wurde, einer kurzen Beschreibung bedarf. Seine Besonderheit besteht darin, dass es die drei für den Autor zentralen Begriffe ‫„ ܡܕܚܠ ܐܠܠܗܐ‬Gottesfurcht“ in V. 34c (allerdings nur in Syr, vgl. Kap. 4.1.2), νόμος / ‫„ ܢܡܘܣܐ‬Gesetz“ in V. 34d und σοφία / ‫„ ܚܟܡܬܐ‬Weisheit“ in V. 1a beinhaltet. Deshalb kann es als ein kleines Summarium fungieren, das die sirazidische Weisheitslehre zu einer kurzen Formel verdichtet.68 Es handelt sich dabei aber um kein vereinzeltes Phänomen, sondern es ist vielmehr ein buchübergreifendes Strukturelement.69 Ähnliche summarische Passagen, deren Zahl insgesamt bei zehn liegt, finden sich verstreut im ganzen Sirachbuch, gelegentlich ergänzt durch die Erwähnung der zwei weiteren weisheitlichen ̈ Schlüsselbegriffe ‫ מצות‬/ ἐντολαί / ‫ܦܘܩܕܢܐ‬ „Gebote“ und ‫ מוסר‬/ παιδεία70 / ‫ܝܘܠܦܢܐ‬ „Bildung“ (vgl. Tab. 13).

Exkurs 5: Auf der Spur einer durchdachten Buchkomposition? Die zehn oben genannten weisheitlichen Summarien folgen nicht selten auf eines der insgesamt sieben Weisheitsgedichte, die in der Forschung bereits als anerkannte Gliederungselemente des Sirachbuches fungieren (vgl.  Kap.  1.1 und die Buchstaben a–g in Abb. 12). So wird etwa das erste Weisheitsgedicht in Sir 1,1–30 (a) mit dem ersten Summarium Sir 1,26–27 und das dritte Weisheitsgedicht in Sir 6,18–37 (c) mit dem zweiten Summarium Sir 6,36–37 abgeschlossen. Die summarischen Passagen können aber auch ein Weisheitsgedicht flankieren, wie es im Falle von Sir  23,27–24,1 und 24,23–27 und dem fünften Weisheitsge67 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 242. 68 Auch H. Stadelmann sieht in Sir 38,34cd „eine Art Definition“ des Schriftgelehrtenstandes. Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 220. 69 Die Begriffe ‫מ ְׁש ָּפט‬, ִ ‫ ָח ְכ ָמה‬und ‫ יִ ְר ַאת יְ הוָ ה‬kommen auch in Jes 33,5–6 vor. 70 Die Wichtigkeit des Begriffs παιδεία für Sirach bestätigt auch die Wortstatistik, wonach sich ein Drittel aller biblischen Belege für ihn im Buch Ecclesiasticus befindet (34malige Nennung, dreimal im Prolog). Das Wort begegnet insgesamt 100mal im katholischen Kanon: 94mal im AT (darunter 26mal in Spr) und sechsmal im NT (in Eph 6,4; 2 Tim 3,16 und viermal in Hebr); außerdem kommt es 15mal in alttestamentlichen Apokryphen vor (dreimal in 4 Makk, einmal in den Oden und elfmal in den Psalmen Salomos).

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 187

dicht in Sir 24,1–22 (e) geschieht. In dem letztgenannten Lehrtext, der den Übergang zwischen den zwei ersten Hauptteilen des Sirachbuches markiert, werden bemerkenswerterweise neben dem Selbstlob der Weisheit auch die Schöpfung und die heilsgeschichtliche Erwählung Israels thematisiert. Diese Beobachtung, die mehr Licht auf die kompositionelle Absicht des Autors wirft, scheint einen allgemeinen Charakter zu haben. Denn auch das dritte Summarium Sir  17,7–11 liegt innerhalb des Textkomplexes Sir 15,14–18,14, der einerseits der Schöpfung und Heilsgeschichte gewidmet ist und dem andererseits das vierte Weisheitsgedicht in Sir 14,20–15,10 (d) vorangeht. Das Gleiche betrifft ferner die Summarien Sir 32,14–16 und 32,23–33,2, denen die schöpfungstheologische Unterweisung in Sir 33,7–18 folgt, mit der zusammen sie das sechste Weisheisgedicht in Sir 32,14– 33,18 (f) bilden. Dem vermuteten kompositionellen Verfahren des Autors entspricht nicht zuletzt das neunte Summarium Sir 38,33–39,1, das mitten in dem bereits analysierten Textkomplex Sir  38,24–39,11 vorkommt, der als das siebte Weisheitsgedicht des Sirachbuches (g) gilt. Ihm folgt wiederum eine neue Reihe von Lehrgedichten,71 von denen das erste, die Einladung zum Gotteslob in Sir  39,12–35, explizit der Schöpfungsthematik gewidmet ist. Dieser Text enthält die im Ecclesiasticus seltene pluralische Anrede υἱοὶ „ihr Söhne!“ in Sir 39,13, deren Gebrauch darauf hindeuten könnte, dass Sirach bzw. sein Enkel hier ursprünglich einen Neueinsatz plante.72 Nur der Vollständigkeit halber sei deshalb darauf hingewiesen, dass dieser als „Schöpfungspsalm“73 bezeichnete Lehrtext ein „Präludium“ zu einem umfangreichen Lobpreis Gottes in Natur und Geschichte in Sir 42,15– 50,2474 darstellt,75 der gleichsam den dritten Hauptteil des Sirachbuches bildet, aber erst nach den Einschüben in Sir  40,1–42,14 über das Übel, das Gute, den Tod und die Familie (vgl. die schraffierte Fläche in Abb. 12) beginnen kann. Mit ihm verbindet Sir 39,12–35 neben demselben Inhalt noch ein weiteres buchstrukturierendes Element, die „Ich“-Rede des Autors in Sir 39,12.13.32; 42,15 und 44,1 (vgl. Kap. 1.1).76

71 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 217 und Zapff, Jesus Sirach, 260. 72 Die Stelle in Sir 39,13 ist auf Hebräisch nicht überliefert, im Syrischen fehlt die Anrede. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 209 und Calduch-Benages, Text, 227. Die sonstigen pluralischen Anreden ̈ in Sir 3,1 (vgl. Kap. 3.2.1); τέκνα / ‫ܒܢܝܐ‬ ̈ in Sir 23,7 (fehlt im Hebräischen) und ‫בנים‬ sind: τέκνα / ‫ܒܢܝܐ‬ / τέκνα in Sir 41,16 (in Ms. B als Sir 41,14 gezählt; fehlt im Syrischen). 73 Vgl. van Oorschot, Strukturen, 33. 74 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 36 und 45. 75 Vgl. etwa die große Nähe zwischen dem schöpfungstheologisch orientierten Lehrgedicht in Sir 43,1–12 und der heilsgeschichtlichen Perikope in Sir 46,1–6 in Kap. 4.2.6. 76 Vgl. Ueberschaer, Weisheit, 315.

188 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Prolog a 1

Epilog b c 2

d

3 4

e 5 6

I. Teil Sir 1

f 78

g 9

10

II. Teil Sir 24

III. Teil Sir 42

Sir 51

Abb. 12: Die Verteilung der Weisheitsgedichte (a–g) und der weisheitlichen Summarien (1–10) im Sirachbuch.

Es ist schließlich zu ergänzen, dass, ähnlich wie die beiden vorausgehenden Buchteile, auch der oben genannte Lobpreis mit einer summarischen Passage endet. Dabei handelt sich um das zehnte, als „Buchunterschrift“ benannte Summarium Sir 50,27–29, das die Furcht des Herrn als den „tiefsten Inhalt“ des gesamten Werkes würdigt.77 Diese Passage knüpft wiederum – durch die Erwähnung von ‫ מוסר‬/ παιδεία „Bildung“ – an die allererste summarische Notiz Sir 1,27 an und bildet somit eine das ganze Buch umfassende inclusio. So erweist sich das hier vorgestellte weisheitliche Summarium als ein hilfreiches Gliederungsmerkmal, das nicht nur die Einbindung der hier zu untersuchenden Schriftgelehrtenperikope in den Gesamtduktus des Ecclesiasticus erleichtert, sondern auch eine gewisse Vorstellung von der wohlüberlegten Komposition78 des gesamten Buches vermittelt, im Gegensatz zu den nur mechanistisch und ohne innere Ordnung miteinander verbundenen Themen79 (vgl. Kap. 1.1).

4.1.4 Intertextualität Im Hinblick auf die Arbeitsweise Sirachs wird in der Forschung neben der oben geschilderten kompositionellen Absicht auch seine Schriftgelehrsamkeit immer mehr anerkannt (vgl. Kap. 1.2). Aus ebendiesem Grund soll Sir 38,34c–39,11b im Folgenden gezielt auf das Vorhandensein potenzieller intertextueller Bezüge hin untersucht werden. Denn, auch wenn explizite Verweise auf die beispielhaften Betergestalten aus der Heilsgeschichte, wie es im Väterlob der Fall ist (vgl. Kap. 4.2.3–4 und 4.3.4), fehlen, ist hier zumindest mit subtilen Anspielungen auf die anderen biblischen Bücher zu rechnen. So erinnern etwa der Dienst

77 Vgl. Haspecker, Gottesfurcht, 87–89. 78 Vgl. Marböck, Das Buch Jesus Sirach, 409. 79 Vgl. Reiterer, Review, 38–39.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 189

bei den Vornehmen und Fürsten80 in V. 4ab und die Kenntnis der Geheimnisse Gottes81 in V. 7b an den biblischen Patriarchen Josef, der den Dienst bei Potifar (vgl. Gen 39,1–18) und Pharao (vgl. Gen 41,37–57) versah und geheimnisvolle Träume prophetisch zu deuten wusste (vgl. Gen 40,5–41,36).82 Zu den wesentlichen Merkmalen des Weisen gehören ferner die Tugend der Gottesfurcht in V. 34c in Syr (vgl. Gen 42,18) und eine lange Reise mit guten und bösen Erfahrungen in V. 4cd, wie es auch beim Verkauf des besagten Patriarchen als Sklave (vgl. Gen 37,28) und bei seinem unverschuldeten Aufenthalt im Gefängnis (vgl. Gen 39,20–40,23) der Fall war. Dem ägyptischen Josef, der als Vorbild weisen Verhaltens, der Sittlichkeit und der Treue für die Jugend gilt, fehlte lediglich die in V. 34d hervorgehobene Meditation des göttlichen Gesetzes,83 das erst drei Generationen später offenbart werden sollte.84 Allenfalls posthum könnte ihn noch mit den mosaischen Gesetzestafeln die Notiz in Sir 49,15 verbinden, bei der die gesamte Josefsüberlieferung auf den sorgsamen Umgang mit seinen Gebeinen verdichtet wird.85 Denn diese Gebeine, die in einem Sarg gelegen hatten, der genauso wie die Bundeslade ‫ ֲארֹון‬hieß (vgl. Gen 50,26), wurden in der Nacht des Auszugs aus Ägypten mitgenommen (vgl. Ex 13,19). Deshalb war in „der jüdischen Tradition von den beiden Laden Israels, der einen, mit den Gebeinen eines Toten, der anderen, mit dem Gesetz des Ewiglebenden“86, die Rede. Diese Bemerkung lenkt den Blick auf den Vermittler des Gesetzes, Mose, der zunächst am Hof des Pharao als Prinz aufwuchs und dort eine weisheitliche Ausbildung durchlief (vgl. Ex 2,1–14; Apg 7,22 und Hebr 11,24–26), sich später aber nach Midian flüchtete (vgl. Ex 2,15–22), um danach das Volk Israel durch die Wüste zu führen und ihm die Weisungen Gottes mitzuteilen (vgl. Ex 18,16), was in V. 7a als genuine Beschäftigung eines geistbegabten Weisen zählt.87 Ferner fällt in Bezug auf die „verborgenen Dinge“ auf, dass sie in V. 7b (vgl. ἀπόκρυφα / ‫ )ܣܬܝ̈ܪܬܐ‬ein begehrtes Objekt des Nachsinnens darstellen, während in Sir 3,22b ̈ (vgl. ‫ בנסתרות‬/ τὰ κρυπτά / ‫)ܟܣܝܬܐ‬ von ihrer eigenmächtigen Erforschung streng 80 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 242. 81 Vgl. ders., Jesus Sirach 25–51, 266. 82 Auch Stadelmann setzt Sir 38,34c–39,11b in Verbindung mit Josef, dem von Gott die Weisheit und die Gabe der Traumdeutung geschenkt wurde. Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 236. 83 Vgl. Ps 1,2 im Proömium des Psalters. Vgl. Zenger, Stuttgarter Psalter, 13. 84 Laut Ex 6,16–20 waren Aaron und Mose die Urenkel des Patriarchen Levi. Vgl. Witte, Texte, 183. 85 Vgl. Witte, Texte, 172–173. 86 Witte, Texte, 184. 87 Der Gedanke, dass der Weisheitslehrer an die Stelle des Mose trete, um das Gesetz für das Volk auszulegen, bleibt für die gesamte biblische Tradition relevant und hinterlässt seine Spuren noch in Mt 23,2.

190 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

abgeraten wird. Dies verrät wiederum den gotteswidrigen Charakter der letzteren und bestätigt die frühere Vermutung, dass Sirach darunter die geheimen Künste der ägyptischen Weisen versteht (vgl. Kap. 3.3.4), im Unterschied zu den begehrenswerten göttlichen Geheimnissen (‫ סודו‬/ τὰ μυστήρια / ‫)̈ܪܐܙܐ‬, die laut Sir 3,19b nur denjenigen offenbart werden, die voller Demut sind. Ebendiese Tugend, die Mose am meisten charakterisierte, ist auch bei der Bitte um die Vergebung der eigenen Sünden in V. 5e vorauszusetzen. Es ist als höchstwahrscheinlich anzunehmen, dass der von Sirach geschilderte Schriftgelehrte einer der den Hofdienst versehenden Männer war,88 wenngleich in Syr in V. 4 das mehrdeutige Verb ‫„ ܫܡܫ‬dienen, verwalten, leiten, führen“89 gebraucht wird, das sich auch auf den Inhaber eines hohen Amtes beziehen kann (vgl. ὑπηρετέω „Dienste leisten, (be)dienen, beistehen, dienstwillig sein, helfen, gehorchen“90 / ministrare „zur Hand gehen“91). Dementsprechend trägt der Hauptprotagonist einige Züge, die ihn in die Nähe des Königs David rücken. Bezeichnend ist vor allem das Gebet wegen der eigenen Sünden in V. 5e, wobei an die inbrünstige Reue des Königs nach seinem Vergehen mit Batseba in 2 Kön 12,13–17 zu denken ist, wovon auch in der Davidperikope in Sir 47,11 und in Ps 51,2 die Rede ist.92 Zu den Berührungspunkten zwischen der sirazidischen Perikope und dem Bußpsalm Davids zählen ferner die positiven Folgen der Bekehrung: die Geistesgabe in V. 6b (vgl. Ps 51,12.14), die Unterweisung Anderer in V. 9a (vgl. Ps 51,15) sowie der Lobpreis Gottes in V. 6d (vgl. Sir 47,8 und Ps 51,17).93 Der letzte Schriftbezug wird allerdings in Syr verwischt, weil in V. 6d anstatt: καὶ ἐν προσευχῇ ἐξομολογήσεται κυρίῳ „und im Gebet wird er [scil. der Schriftgelehrte] den Herrn bekennen“, der folgende Satz steht: ‫ܠܗ ܒܬ̈ܪܥܝܬܗܘܢ‬ ̣ ‫„ ܘܢܘܕܘܢ‬und sie [scil. die Rezipienten der Lehre] werden ihn [scil. den Schriftgelehrten] in ihren Gedanken loben“ (vgl. Kap. 4.1.2). Auch Ps 62,2 LXX: ὁ θεὸς ὁ θεός μου πρὸς σὲ ὀρθρίζω „Gott, mein Gott, (schon) morgens suche ich nach dir“, verbindet den Schriftgelehrten (vgl. V. 5a) mit David, der in der Tradition als der inspirierte Autor mehrerer Psalmen gilt, wiewohl dieser Schriftbezug in Syr fast unkenntlich gemacht wird94 (vgl. Kap. 4.1.2). Außerdem erinnert die wachsende Berühmtheit des Weisheitslehrers in V. 9–10 (insbesondere in G I) an die internationale Anerkennung

88 Vgl. Ueberschaer, Weisheit, 390. 89 Vgl. Smith / Smith, ‫ܫܡܫ‬, 585 und Hanna / Bulut, ‫ܫܡܫ‬, 401 (aramäisch). 90 Vgl. Benseler / Kaegi, ὑπηρετέω, 919. 91 Im Mittellatein bedeutet das Verb ministrare „[in der Kirche] Dienst tun“. 92 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 244. 93 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 244–245. 94 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 248

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 191

der Weisheit Salomos, wie es der Besuch der Königin von Saba in 1 Kön 10,1–13 zeigt.95 Wird bei der Suche nach einem passenden Vorbild für Sir 38,34c–39,11b stärker die Weisheit berücksichtigt, die dem Schriftgelehrten als Folge der Geistbegabung in V. 6bc geschenkt wird, dann kommt neben Josef in Gen 41,38, Mose in Num 11,17.25 und Josua in Dtn 34,9 auch der verheißene Messias in Jes 11,296 in Betracht. Als potenzieller Kandidat erscheint außerdem der Prophet Daniel (vgl. Dan 13,45) mit seinen drei Gefährten. So könnte es sich beim Erlernen der Erörterungen jedes Weltmanns in V. 2a und beim Dienst bei den Fürsten in V. 4ab um die dreijährige Ausbildung der exilierten judäischen Jünglinge am königlï chen Hof in Babel in Dan 1,4 handeln. Dazu erinnern das Tiefsinnige (‫)ܥܡܝܩܢ‬ in V. 2b und das Verborgene (ἀπόκρυφα / ‫ )ܣܬܝ̈ܪܬܐ‬in V. 3a/3b und 7b an die Träume Nabuchodonosors in Dan 2,1–49 und 3,98–4,34, das Gastmahl Baltasars in Dan 5 sowie die Offenbarungen in Dan 7–12 (vgl. insbesondere ‫ּומ ַס ְּת ָר ָתא‬ ְ ‫ ַע ִּמ ָיק ָתא‬/ βαθέα ̈  98 ̈ καὶ ἀπόκρυφα97 / ‫ܘܟܣܝܬܐ‬ ‫ܥܡܝܩܬܐ‬ „das Tiefsinnige und das Verborgene“ in Dan 2,22). Selbst der in V. 4d genannte, überaus lehrreiche Wechsel von Glück und Unglück wird Daniel und seinen Gefährten nicht erspart, was die Episode mit dem Feuerofen in Dan 3 und der zweimalige Aufenthalt in der Löwengrube in Dan 6,2–29 und 14,23–42 deutlich zeigen. Die Ähnlichkeit zwischen dem sirazidischen Schriftgelehrten in V. 5 und den Hauptakteuren des Danielbuches besteht nicht zuletzt darin, dass sie beten (vgl. Dan 6,11), vor allem wegen der Sünden, indem sie ein kollektives Sündenbekenntnis vor Gott ablegen (vgl. διὰ τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν „wegen unserer Sünden“ in Dan 3,28; ἡμάρτομεν „wir sündigten“ in Dan 3,29 und 9,5). Selbst das Öffnen des Mundes zum Gebet in V. 5d und das Bekenntnis in V. 6d findet eine wörtliche Entsprechung beim Gebet Asarjas in der LXX in Dan 3,25: καὶ ἀνοίξας τὸ στόμα αὐτοῦ ἐξωμολογεῖτο τῷ κυρίῳ „[U]nd er öffnete seinen Mund und bekannte den Herrn“.99 Trotz der genannten Anspielungen100 wird aber Daniel im Sirachbuch namentlich nicht erwähnt.101 Stattdessen erscheint in Sir 49,13 der Name des nachexilischen Statthalters Nehemia, der mit seinem Zeitgenossen, dem Pries-

95 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 241. 96 Vgl. Feichtinger / Schaaf / Hieronymus, Iesus Sirach, 1186. 97 Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 876 (in der „Theodotion“-Fassung). Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 236 und 244–245. 98 Die Heilige Bibel, 692 (AT). 99 Vgl. Urbanz, Gebet, 116. 100 Vgl. weitere intertextuelle Bezüge sowohl zwischen Dan 3,19–97 und Sir 2,5b in Exkurs 1 als auch zwischen Dan 13 und Sir 4,1–10 in Kap. 3.4.4. 101 Vgl. Witte, Texte, 71.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

ter und Schriftgelehrten Esra (allerdings auch ohne Erwähnung im Rahmen des Väterlobes)102, eventuell ein weiterer Kandidat für einen idealen Weisen sein könnte. Dafür spricht nicht nur, dass nach den Büchern Esra und Nehemia die Gottesfurcht zu beachten (vgl. Neh 5,15) und das Gesetz genau zu erforschen ist (vgl. Esra 7,6), wovon in V. 34cd die Rede ist, sondern dass dies – wie bei Sirach – in der Herzmitte der Person geschehen soll (vgl. τὴν καρδίαν αὐτοῦ ἐπιδώσει / ‫ܘܒܠܒܗ ܢܣܝܡ‬ in V. 5a und Esra 7,10103: ̣ ‫ּומ ְׁש ָּפט‬ ִ ‫ּול ַל ֵּמד ְּביִ ְׂש ָר ֵאל חֹק‬ ְ ‫ת־ּתֹורת יְ הוָ ה וְ ַל ֲעׂש ֹת‬ ַ ‫„ ִּכי ֶעזְ ָרא ֵה ִכין ְל ָבבֹו ִל ְדרֹוׁש ֶא‬Denn Esra hatte sein Herz darauf gerichtet, das Gesetz des HERRN zu erforschen und zu tun und in Israel die Ordnung und das Recht des HERRN zu lehren“ / ὅτι Εσδρας ἔδωκεν ἐν καρδίᾳ αὐτοῦ ζητῆσαι τὸν νόμον καὶ ποιεῖν καὶ διδάσκειν ἐν Ισραηλ προστάγματα καὶ κρίματα „Denn Esdras hatte sich in seinem Herzen fest dazu entschlossen, das Gesetz zu erforschen und nach ihm zu handeln und (dessen) Satzungen und Entscheidungen in Israel zu lehren“ / ‫ܡܛܠ ܕܥܙܪܐ ܐܬܩܢ‬ ̈ ̈ ‫ܢܡܘܣܐ‬ ‫ܘܕܝܢܐ܂‬ ‫ ܠܒܗ ܠܡܥܒܕ ܢܡܘܣܗ ܕܡܪܝܐ ܘܠܡܥܒܕ ܘܠܡܠܦܘ ܒܐܝܣܪܐܝܠ‬104 „Denn Esra hatte sein Herz fest darauf gerichtet, das Gesetz des Herrn zu tun und [dessen] Satzungen und Gerichtsurteile105 in Israel zu tun und zu lehren“).

Die beiden Protagonisten versäumten ferner nicht, zu Gott wegen der Sünden zu beten (vgl.  Esra  9,5–15 und Neh  1,4–11), was auch der Autor  in V.  5e empfiehlt. Dazu mussten sie oft mit den Widerwärtigkeiten und Übeln ringen (vgl.  ständige Störungen beim Wiederaufbau des Tempels und der Mauer), was nach V. 4d gleichfalls zur Lebenserfahrung eines Weisen gehört. Dagegen kann jedoch eingewandt werden, dass gelehrte jüdische Priester in der Perserzeit hauptsächlich die biblischen Schriften studierten, während das Bildungsideal Sirachs (um 190–175 v. Chr.) in V. 2–3 durchaus auch allgemeine Weisheitstraditionen umfasste.106 Außerdem fällt ins Auge, dass es fast bei keinem der oben vorgeschlagenen Vorbilder darauf ankommt, sich am Morgen aufzumachen, um mit Gott Kontakt zu finden (vgl. Kap. 4.1.2). Diesem in G I in V. 5a ausdrücklich erwähnten Charakteristikum eines wahren Weisheitslehrers entsprechen lediglich Mose (vgl. ‫ׁשכם‬ „früh aufstehen“ / ὀρθρίζω „früh aufstehen“ / ‫ܩܕܡ‬107 Paʿel: „früh aufstehen“108

102 Witte, Texte, 71. 103 Auf Esra 7,10 verweisen Feichtinger und Schaaf, allerdings nicht bei Sir 39,5a, sondern bereits am Anfang der Perikope in Sir 38,34cd. Vgl. Feichtinger / Schaaf / Hieronymus, Iesus Sirach, 1186. 104 Die Heilige Bibel, 496 (AT). ̈ kommen auch im Summarium in Sir 32,14–16 in 105 Die „Gerichtsurteile“ (‫ משפט‬/ κρίμα / ‫)ܕܝܢܐ‬ Kap. 4.1.3 vor. 106 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 224–225. 107 Vgl. Koster, Exodus, 199. 108 Vgl. Smith / Smith, ‫ܩܕܡ‬, 490.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

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bzw. ‫ܩܘܡ‬109 „aufstehen“110 in Ex 34,4) und David (vgl. ὀρθρίζω in Ps 62,2 LXX111). Im Ecclesiasticus hingegen wird der Frühaufsteher mehrmals gelobt, wie etwa in Sir 4,12: ‫ומבקשיה יפיקו רצון מייי‬112 „[U]nd die sie suchen, finden Gnade bei Jahwe“ / καὶ οἱ ὀρθρίζοντες πρὸς αὐτὴν ἐμπλησθήσονται εὐφροσύνης „[U]nd die frühmoṙ ‫ܘܕܒܥܝܢ‬ ̇ gens sich ihr zuwenden, werden mit Fröhlichkeit erfüllt“ / ‫ܠܗ ܢܩܒܠܘܢ ܨܒܝܢܐ‬ ‫„ ܡܢ ܡܪܝܐ‬Und diejenigen, die sie suchen, werden Wohlgefallen vom Herrn erlangen“; Sir 6,36: ‫ראה מה יבין ושחריהו‬113 „Siehe zu, wer Einsicht hat, und suche ihn [früh] auf“ / ἐὰν ἴδῃς συνετόν ὄρθριζε πρὸς αὐτόν „Wenn du einen Verständigen siehst, geh frühmorgens zu ihm“ / ‫ܡܢܘ ܚܟ ̣ܝܡ ܘܒܥܝܘܗܝ‬ ̣ ‫ ܚܙܝ‬114 „Siehe, wer weise [ist], und suche ihn auf“ und Sir 32,14: ‫דורש אל יקח מוסר ומשחרהו ישיג מענה‬115 „Wer Gott sucht, erhält Belehrung, und wer an ihn sich [früh] wendet, findet Erhörung“ / ὁ φοβούμενος κύριον ἐκδέξεται παιδείαν καὶ οἱ ὀρθρίζοντες εὑρήσουσιν εὐδοκίαν „Wer den Herrn fürchtet, wird Erziehung annehmen, und ̇ ̇ ‫ܕܒܥܐ ܦܘܠܚܢܐ ܕܐܠܗܐ ܢܩܒܠ ܝܘܠܦܢܐ ܘܟܕ‬ die Frühaufsteher werden Wohlgefallen finden“ / ‫ܡܨܐܠ‬ 116 ‫ „  ܩܕܡܘܗܝ ܢܥܢܝܘܗܝ‬Wer den Dienst Gottes sucht, wird Bildung empfangen und wenn er vor ihm betet, wird er ihm antworten“.

In die gleiche Richtung weist der Hagiograph in Weish 6,14: ὁ ὀρθρίσας πρὸς αὐτὴν οὐ κοπιάσει πάρεδρον γὰρ εὑρήσει τῶν πυλῶν αὐτοῦ „Wer früh aufgestanden ist, um sie [scil. Weisheit] zu suchen,117 wird keine Mühe haben: Er wird sie nämlich neben seiner Türe sitzend finden“ (vgl. Weish 16,28).118 Diese starke weisheitliche Prägung zeigt, dass es sich hier vermutlich um einen idealen Schriftgelehrten handelt (vgl. Kap. 4.1.6), der die Tugenden mehrerer Helden der Vorzeit verkörpert, indem er sich mit dem Studium der Heiligen Schrift eifrig abmüht, zugleich aber betet und von Gott reichlich mit Einsicht beschenkt wird.

109 Vgl. Koster, Exodus, 199 (Anmerkung zu Ex 34,4). 110 Vgl. Smith / Smith, ‫ܩܘܡ‬, 494 und Hanna / Bulut, ‫ܩܘܡ‬, 346 (aramäisch). 111 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 243. 112 In Ms. A I verso. 113 In Ms. A II verso. 114 In der Polyglotte von Vattioni wird die Passage als Sir 6,35 gezählt. 115 In Ms. B V verso. 116 Die Stelle Sir 32,14 wird in der Polyglotte von Vattioni als Sir 32,13cd und bei CalduchBenages als Sir 32,18 gezählt. 117 Wörtlich: „auf sie hin“. 118 Dieses Merkmal des Weisen findet Beachtung auch in Mk 1,35.

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4.1.5 Formale Analyse Nach der Skizzierung des Inhalts, des literarischen Zusammenhangs und der potenziellen intertextuellen Bezüge der Schriftgelehrtenperikope wird im Folgenden das Augenmerk auf ihre sprachliche Dimension gelegt, um später ihre gattungstheoretische Einordnung vorzunehmen. Dabei fällt auf, dass die sprachliche Analyse gut mit den vor allem in Kap. 4.1.3 und Exkurs 5 formulierten Beobachtungen korrespondiert. So wird etwa die Zuordnung des Textkomplexes Sir 38,24–39,11 als das siebte Weisheitsgedicht des Sirachbuches durch den öfteren Gebrauch des Weisheitsbegriffs in V. 1a, 3a (in Syr), 6c (in G I), 8a (in Syr), 9a (in Syr) und 10a bestätigt. Auch das als Gliederungselement eingestufte weisheitliche Summarium Sir 38,34cd hebt sich deutlich vom Rest der Perikope ab, indem ̇ „der Hingebende“ und διανοουμένου „der hier Partizipial- (vgl. ἐπιδιδόντος / ‫ܝܗܒ‬ Nachsinnende“)119 bzw. Infinitivkonstruktionen (vgl. ‫„ ܠܡܕܚܠ‬zu fürchten“ und ‫„ ܠܡܣܬܟܠܘ‬zu verstehen“) statt finiter Verbformen gebraucht werden. Die Ergebnisse der formalen Analyse entsprechen ferner dem wohldurchdachten Gedankengang in Sir 38,34c–39,11b, bei welchem die innere und die äußere Tätigkeit des Schriftgelehrten durch sein Gebet in V. 5 und die göttliche Inspiration in V. 6 voneinander getrennt werden. Denn beim genauen Hinschauen zeigt sich, dass der Übergang vom herkömmlichen zum geistbegabten Weisen durch einen kunstvollen Parallelismus markiert wird, der die Perikope gleichsam in zwei Strophen teilt (vgl. V. 34c–5e und 6a–11b). Weil diese rhetorische Figur zugleich bestimmte Inhalte unterstreicht, die für die Gebetstheologie Sirachs relevant sind, wird sie im Rahmen der Einzelexegese in Kap. 4.1.7 ausführlicher dargestellt. Dass aber trotzdem die beiden Strophen der Schriftgelehrtenperikope zueinander gehören, bestätigt etwa die im syrischen Text wiederkehrende Sequenz dreier Lexeme: ‫( ܣܟܠ‬vgl. ‫„ ܠܡܣܬܟܠܘ‬um zu verstehen“ in V. 34d; ‫„ ܢܣܬܟܠ‬er wird verstehen, verständig sein“ in V. 3b und 7ab sowie ‫„ ܣܟܘܠܬܢܘܬܐ‬Verstand“ in V. 6b) – ‫( ܚܟܡ‬vgl. ‫„ ܚܟܡܬܐ‬Weisheit“ in V. 1a, 3a, 8a und 9a; ‫„ ܢܬܚܟܡ‬er ̈ „die Weisen“ in V. 7a) – ‫„( ̈ܡܬܐܠ‬Sprüche“ in V. 3a, wird weise“ in V. 6b und ‫ܚܟܝܡܐ‬ 120 6c und V. 7a). Für die Einheit der untersuchten Perikope spricht außerdem die Verteilung derselben Stichwörter in den beiden Strophen, z. B. διανοέομαι „nachdenken“ / ‫„ ܐܣܬܟܠ‬verstehen“ in V. 34d und 7b, νόμος / ‫„ ܢܡܘܣܐ‬Gesetz“ in V. 34d und 8b sowie ἀπόκρυφα / ‫„ ܣܬܝ̈ܪܬܐ‬die verborgenen [Dinge]“ in V. 3a/3b und 7b. Keine

119 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 218 und 221. 120 Falls nicht bereits in der Vorlage vorgefunden, kann es sich bei diesem Parallelismus um den eigenen Beitrag des Syrers handeln (vgl. Kap. 1.4).

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

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Entsprechung in der ersten Strophe findet allerdings die Dreiergruppe mit αὐτὸς / ‫„ ̣ܗܘ‬er selbst“ in V. 6c, 7a und 8a, welche die Person des Weisheitslehrers nach seinem Gebet hervorhebt, was seine überaus erfolgreiche Tätigkeit vor allem als Frucht der Geistesgabe erweist. Der damit verbundene Aufschwung der Kreativität wird in G I in V. 6c durch das Hervorsprudeln des Wassers versinnbildlicht (vgl. ἀνομβρέω „hervorquellen“ / ‫ ܐܦܩ‬Afʿel: „hervorbringen“121): eine treffende Metapher, mit der die inspirierte Produktion neuen Weisheitsmaterials sonst in Sir 18,29; 24,25–27 und 50,27 angedeutet wird.122

Abb. 13: Der parallele Satzbau in Syr in Sir 38,34c–39,11b, der den ähnlichen Wandel des Weisen vor (V. 3ab), bei (V. 6bc) und nach der Inspiration (V. 7ab) signalisiert.

Demgegenüber fällt in Syr auf, dass die Passagen über den Weisen vor (V. 3) und nach der Inspiration (V. 7) sehr ähnlich aufgebaut sind (vgl. Abb. 13). Dabei ̈ ‫„ ܚܟܡܬܐ‬die Weisbilden die beiden vorderen Vershälften einen Chiasmus: ‫ܕܡܬܐܠ‬ ̈ ̈ heit der Sprüche“ in V. 3a vs. ‫„ ܒܡܬܐܠ ܕܚܟܝܡܐ‬in den Sprüchen der Weisen“ in V. 7a, während die beiden hinteren Vershälften eine beinahe identische Formulierung enthalten: ‫[„ ܘܒܟܠ ܣܬܝ̈ܪܬܐ ܢܣܬܟܠ‬U]nd in allen verborgenen [Dingen] wird er verständig sein“ in V. 3b und ‫[„ ܘܒܣܬܝ̈ܪܬܐ ܢܣܬܟܠ‬U]nd in den verborgenen [Dingen] wird er verständig sein“ in V. 7b. Diese Parallelität weist auf eine gewisse Gleichwertung der (noch) regulären und der (bereits) inspirierten Tätigkeit des Schriftgelehrten hin und bestätigt die bereits angestellte Beobachtung, dass in Syr den persönlichen Anstrengungen des Protagonisten etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als in der griechischen Übersetzung (vgl. Kap. 4.1.2). Eine Entsprechung zwischen der eigenen Aktivität des Schriftgelehrten in V. 3 und 7 und der göttlichen Geistesgabe in V. 6bc ist ferner an der Verwendung derselben drei Lexeme ‫( ܣܟܠ‬vgl. ‫)ܣܟܘܠܬܢܘܬܐ‬, ‫( ܚܟܡ‬vgl. ‫ )ܢܬܚܟܡ‬und ‫ ̈ܡܬܐܠ‬zu erkennen. Dazu stößt noch ein Parallelismus zwischen V. 3b, 6b und 7b, der nicht nur auf der Synonymität der Ethpaʿalformen ‫„ ܢܣܬܟܠ‬er wird verständig sein“123 und ‫„ ܢܬܚܟܡ‬er

121 Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܦܩ‬, 346. 122 Vgl. Zapff, Gemeinsamkeiten, 244. Vgl. auch die Quellmetapher in Jes 58,11 und Joh 7,38–39. 123 Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܟܠ‬, 377.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

wird weise werden“124, sondern auch auf dem Gebrauch des Präpositionalgefüges mit ‫ ܒ‬beruht, wie im Folgenden gezeigt wird. Der Vollständigkeit halber ist hier anzumerken, dass beim Enkel in V. 3b und 7b die entsprechende Präposition ἐν mit der lokal-direktionalen Bedeutung vorkommt: καὶ ἐν αἰνίγμασι παραβολῶν ἀναστραφήσεται „[U]nd über den Rätseln der Denksprüche wird er verweilen“ (wörtlich: „Und in die Rätsel der Denksprüche wird er fliehen“)125, während in V. 6b ein dativus instrumentalis mit dem „Geist“ als Mittel oder Werkzeug gebraucht wird. Dafür ist in Syr ein und dieselbe Präposition ‫ ܒ‬in V. 3b, 6b und 7b126 sowohl lokal-direktional („in“) als auch modalinstrumental („mit, durch“) aufzufassen. Aufgrund dieser sprachlichen Parallelisierung werden auch die Inhalte der beiden Formulierungen ‫„ ܘܒܟܠ ܣܬܝ̈ܪܬܐ‬und in allen / durch alle verborgenen [Dinge(n)]“ und ‫„ ܘܒܪܘܚܐ ܕܣܟܘܠܬܢܘܬܐ‬und im / durch den Geist des Verstandes“ einander gegenübergestellt, wobei im ersten Fall eher der notwendige Aufwand bei der Erforschung der Weisheitsüberlieferung, die nicht ohne Weiteres als leicht zu bezeichnen ist, und im zweiten Fall die übernatürliche Wirkung des göttlichen Geistes gefragt werden. Auf diese Weise werden die menschliche und die göttliche Ursache des Erkenntniswachstums in Verbindung gebracht, was wiederum den hohen Wert menschlichen Bemühens im Kontext der gnadenhaften Zuwendung Gottes unterstreicht. Eine ähnliche Tendenz wurde bereits in Sir 2,8b (vgl. Kap. 3.1.4) und Sir 3,6b angedeutet (vgl. Kap. 3.2.2), wo die Handlungen der Menschen Gott wirklich angehen und die Frommen ihm beinahe „abverlangen“ können, für ihre Wohltaten gerecht belohnt zu werden, was nicht ohne Folgen für das in Syr vermittelte Gottesbild bleibt.

4.1.6 Gattungskritik Der oben betonte zweifache natürlich-gnadenhafte Charakter der Weisheit wird auch in Spr 2,1–10 thematisiert.127 Denn zum einen wird der junge Adept der Weisheit dazu aufgefordert, die Weisheit mit dem Herzen (vgl. Spr 2,2 und Sir 39,5a) und auf sonstige Weise aktiv zu suchen (vgl. ‫ בקׁש‬/ ζητέω / ‫ ܒܥܐ‬in Spr 2,4 und ἐκζητέω / ‫ ܒܥܐ‬in Sir 39,1a). Zum anderen wird in Spr 2,6 deutlich darauf verwiesen, dass es allein der Herr ist, der die Weisheit gibt (vgl. Sir 39,6ab). Im Unterschied 124 Vgl. Smith / Smith, ‫ܚܟܡ‬, 141. 125 Vgl. Benseler / Kaegi, ἀναστρέφω, 60. 126 Auch in V. 7a in 7a1 (vgl. Kap. 4.1.1). 127 Der hier zitierte syrische Text folgt der Ausgabe des Peshiṭta Institute Leiden. Vgl. Di Lella, Proverbs, 3.

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zu Sir 39,5, wo die Lexeme δέομαι / ‫„ ܨܠܝ‬beten“ und προσευχή / ‫„ ܨܠܘܬܐ‬Gebet“ vorkommen, fehlt hier allerdings das spezifische Gebetsvokabular. Denn in der Formulierung ‫„ ܬܨܐܠ ܐܕܢܟ‬neige dein Ohr!“ in Spr 2,2 wird das Verb ‫ ܨܐܠ‬in seiner Grundbedeutung „neigen“ gebraucht und nicht als Paʿel „beten“.128 Neben der inhaltlichen Nähe zu Sir 38,34c–39,11b verdienen auch die sprachlichen Gemeinsamkeiten Beachtung, denn außer „Bildung“ und „Gesetz“ enthält Spr 2 genau dieselben Begriffe wie die meisten weisheitlichen Summarien des ̈ Sirachbuches (vgl. Tab. 13): ‫ ִמ ְצֹות‬/ ἐντολή / ‫ܦܘܩܕܢܐ‬ „Gebote“ in Spr 2,1, ‫ָח ְכ ָמה‬ / σοφία / ‫„ ܚܟܡܬܐ‬Weisheit“ in Spr 2,2, ‫ יִ ְר ַאת יְ הוָ ה‬/ φόβος κυρίου / ‫ܕܚܠܬܗ ܕܡܪܝܐ‬ „Gottesfurcht“ in Spr 2,5 und ‫ משפט‬/ κρίμα / ‫„ ܕܝܢܐ‬Recht“ in Spr 2,9. Eine weitere formale Ähnlichkeit mit der sirazidischen Schriftgelehrtenperikope besteht darin, dass in Spr 2 im MT unter den Verbformen Imperfekt (vgl. Kap. 4.1.2) und in der LXX meistens Futur129 und Konjunktiv Aorist vorkommen, im Unterschied zu den Vergangenheitsformen des Indikativs des Aorists, welche in den heilsgeschichtlich orientierten Abschnitten des Väterlobes überwiegen (vgl. Kap. 4.2.1). Schließlich haben die beiden Texte denselben Sitz im Leben, da sie offensichtlich zur weisheitlichen Belehrung der Jugend gedacht sind. Wegen all dieser Gemeinsamkeiten mit der Lehrrede in Spr 2 erweist sich Sir 38,34c–39,11b als ein programmatischer Lehrtext, mit dessen Hilfe den Lesern weniger eine konkrete biblische Gestalt als vielmehr ein idealer Weisheitslehrer gezeigt werden soll, damit er ihnen als Vorbild diene (vgl. Kap. 4.1.4).

4.1.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 39,5–6 Nachdem die wichtigsten Arbeitsschritte der Textauslegung von Sir 38,34c–39,11b durchlaufen sind, sollten nun die auf das Gebet bezogenen V. 5–6 genauer exegetisiert werden. Wie bereits erwähnt, enthält V. 5 einen parallelismus membrorum, ̇ der in der Peschitta-Version durch die Reihenfolge der Gebetsvokabeln ‫ܠܡܨܠܝܘ‬

„zu beten“ – ‫„ ܢܒܥܐ‬er wird erflehen“ – ‫„ ܒܨܠܘܬܗ‬in seinem Gebet“ – ‫ ܢܒܥܐ‬entsteht (vgl. Abb. 14). Etwas weniger deutlich ausgeprägt zeigt sich diese rhetorische Figur in der Übersetzung des Enkels, bei welcher der zweimal gebrauchten Verbform δεηθήσεται „er wird bitten“ in den Kola c und e nur eine direkte Nennung 128 Vgl. Smith / Smith, ‫ܨܐܠ‬, 478; Hanna / Bulut, ‫ܨܐܠ‬, 335 (aramäisch) und Hanna / Bulut, ‫ܨܠܝ‬, 336 (aramäisch). 129 Vgl. auch die finiten futurischen Formen in der oben erwähnten Passage in Weish 6,14: ὁ ὀρθρίσας πρὸς αὐτὴν οὐ κοπιάσει πάρεδρον γὰρ εὑρήσει τῶν πυλῶν αὐτοῦ „Wer früh aufgestanden ist, um sie zu suchen, wird keine Mühe haben: Er wird sie nämlich neben seiner Türe sitzend finden“.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

des Gebets in Kolon d entspricht: καὶ ἀνοίξει στόμα αὐτοῦ ἐν προσευχῇ „[U]nd er wird seinen Mund im Gebet öffnen“, weshalb der Parallelismus unvollständig zu sein scheint. Diese Formulierung korrespondiert allerdings mit der Phrase: τὴν καρδίαν αὐτοῦ ἐπιδώσει ὀρθρίσαι πρὸς κύριον „Sein Herz wird er hingeben, früh zu wachen, hin zum Herrn“ in den Kola a und b, weil sich das Lexem ὀρθρίζω „früh auf sein“ – wie bereits gezeigt – nach dem biblischen Sprachgebrauch auf einen Akt der Gottesverehrung wie z. B. Gebet oder Opfer beziehen kann (vgl. Kap. 4.1.2). Durch das zweite Präpositionalgefüge ἐν προσευχῇ in V. 6d schafft der Enkel eine neue Sequenz: κύριος in V. 5b – προσευχή in V. 5d – κύριος in V. 6a – προσευχή in V. 6d – κύριος in V. 6d und somit dehnt er die oben geschilderte Stellungsfigur auf V. 6 aus, in einer für ihn fast typischen Manier (vgl. dazu Sir 4,10a–d in Kap. 3.4.5). Zugleich verstärkt er den Gottesbezug in V. 5c (vgl. ὕψιστος „Höchster“ / ‫„ ܐܠܗܐ‬Gott“) durch die dreimalige Erwähnung des Gottestitels κύριος in V. 5b (als Apposition mit τὸν ποιήσαντα αὐτὸν „der ihn gemacht Habende“), V. 6a (als Apposition mit ὁ μέγας „der Große“) und V. 6d. Deswegen wirken die V. 5–6 als eine zusammenhängende Einheit und als Gliederungselement bzw. Bindeglied zwischen den beiden Strophen der Schriftgelehrtenperikope. Dafür, dass es sich dabei eventuell um die späteren Erweiterungen des Sirachtextes handelt, könnte etwa das Fehlen der Satzteile in V. 5b und 6a in der Peschitta (vgl. Kap. 4.1.2) und des Gottestitels in V. 6d in der ursprünglichen Lesart des Codex Sinaiticus sprechen. Dennoch erscheint der griechische Präpositionalausdruck πρὸς κύριον in V. 5b als eine logische Ergänzung zu ὀρθρίσαι, die diesem Infinitiv erst seine eindeutig religiöse Färbung verleiht. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass die besagten Abweichungen bereits in den jeweiligen Vorlagen vorhanden waren (vgl. Kap. 1.4). Solange der hebräische Text der Perikope nicht vorhanden ist, bleibt deshalb die Frage nach der ursprünglicheren Textfassung nur Spekulation.

Abb. 14: Die parallel angeordneten Satzteile in Sir 39,5a–e in G I und Syr.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

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Wie bereits angedeutet, markieren die auf das Gebet bezogenen V. 5–6 den Wechsel vom rezeptiv-reproduzierenden Forschen des Schriftkundigen130 in V. 34c–4d zu seinem inspirierten Redeerguss und zur Produktion seines eigenen Weisheitsmaterials131 in V. 6c–8b (vgl. Kap. 4.1.3). Angesicht der Tatsache, dass dieser Übergang ohne die Geistesgabe des Verstandes unerklärlich, wenn nicht sogar ganz undenkbar wäre, scheint das Gebet, das offensichtlich die Verleihung dieser Gabe durch Gott begleitet, ihre unmittelbare Ursache zu sein. Gegen eine solche, vielleicht nicht gerade mechanistische, aber doch auf die Betonung menschlichen Handelns zielende Bewertung des Gebets in V. 5–6 wehrt sich jedoch H. Stadelmann,132 welche die Weisheitsgabe als ein bereits in der Schöpfung angelegtes und jedem Menschen eigenes Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse anerkennt (vgl. Sir 1,9 und 17,6–7). Sie erklärt nämlich das Fehlen einer expliziten Bitte um Weisheit in V. 5e als den formalen Einwand gegen die kausale Wirkung des Gebets und hält den „konditionalen Vorbehalt“ in V. 6a: ἐὰν κύριος ὁ μέγας θελήσῃ „Wenn der Herr, der Große, es will“, als starkes Indiz für den Neueinsatz.133 Einerseits ist dazu zu erwidern, dass, auch wenn der Schriftgelehrte in V. 5e in G I nur die Vergebung seiner Sünden (in Syr: das Erbarmen) von Gott erfleht, die aktive Suche nach Weisheit in V. 1a den Tenor des gesamten ersten Teils der Perikope angibt (vgl. Kap. 4.1.5). Darum sei der Empfang des Geistes des Verstandes in V. 6b mit all seinen segensreichen Folgerungen im zweiten Teil zumindest nicht als unvorbereitet abzuweisen. Nicht zuletzt sieht Stadelmann selbst ein, dass die Komposition der Gebete und Hymnen durch einen inspirierten Weisen mit seiner integren Lebensführung zusammenhängt (vgl. Sir 15,7–10) und gesteht ein, dass eben deshalb nicht alle Menschen die Gabe der Weisheit erlangen, weil es ihnen an Gottesfurcht oder Gesetzesbeachtung mangelt (vgl. Spr 2,1–10).134 Außerdem liegt die Schwierigkeit der angeführten Argumentation darin, dass der „konditionale Vorbehalt“ – wie oben angedeutet – nur in der griechischen Sirachversion vorkommt, wenn auch damit noch keine Aussage bezüglich seiner Ursprünglichkeit gemacht werden soll. Andererseits ist die von Stadelmann betonte Tatsache,

130 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 232. 131 Die Eigenständigkeit wird durch die Dreiergruppe mit αὐτὸς / ‫ ̣ܗܘ‬in Sir 39,6c.7a.8a betont. Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 241. 132 Stadelmann führt zwar mehrere Bitte-Erhörungs-Beispiele aus der Weisheitsliteratur an, übersieht dabei aber andere Sirachstellen (außer Sir 51,13–14). Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 233. 133 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 233. 134 Vgl. Magrassi, Lectio divina, 1060; Stadelmann, Ben Sira, 233–236 und Ueberschaer, Weisheit, 277.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

dass der Schriftgelehrte in V. 5e nicht (direkt) die Weisheitsgabe, sondern die Vergebung seiner eigenen Sünden erbetet, nicht so leicht von der Hand zu weisen. Zur Lösung dieser Kontroverse sollte ein kurzer Überblick der bisher erarbeiteten Aspekte der Gebetstheologie Sirachs helfen. Es sei zunächst daran erinnert, dass die erlangte Verzeihung der Sünden die unentbehrliche Vorbedingung aller Gebetserhörung darstellt (vgl.  Sir  3,3.5 in Kap.  3.2.7). Ohne sie wäre sogar die totale Ausrichtung des Lebens auf die Suche nach der Weisheit, die in V. 1c und 5a jeweils mit der Seelen- und Herzenshingabe signalisiert wird, vor Gott nichtig (vgl. Spr 15,29). Dabei gilt die Demut, die für das in V. 5e vorauszusetzende Sündengeständnis absolut notwendig ist, im Sirachbuch als wesentliches Merkmal derer, denen göttliche Geheimnisse offenbart werden (vgl. Sir 3,19b in Kap. 3.3.7) und zu denen laut V.  7b auch der inspirierte Weise gezählt wird. Unter diesen beiden Aspekten erweisen sich die herkömmlichen Bemühungen des Schriftgelehrten (vgl.  Kap.  4.1.5), einschließlich des Bitt- und Bußgebets in V.  5a–e, als sinnvoll und unerlässlich. Auch wenn die Inspiration ein freies Geschenk Gottes bleibt, sodass der in V.  6a hervorgehobene Primat des göttlichen Heilshandelns weiterhin erhalten bleibt,135 besteht deshalb die vordringliche Aufgabe eines jeden Adepten der Weisheit in der Sorge um den gottesfürchtigen (vgl.  Sir  1,14 und V.  34c in Syr), untadeligen Lebenswandel, der für den Empfang dieser Geistesgabe notwendig ist (vgl. Sir 1,26 in G I). Um solche moralische Integrität haben sich nämlich sowohl der Hagiograph in Sir 22,27–23,6 (vgl. Exkurs 2) als auch das vermutete biblische Vorbild, der reuige König David (vgl.  Kap.  4.1.4), ernsthaft bemüht. Somit bewahrheitet sich der Satz Stadelmanns: „Der jüdische Schriftgelehrte ist kein autonomer Intellektueller und auch kein theoretischer Ethiker: Sein weisheitliches Forschen macht ihn sensibel für Sünde – auch für die eigene! – und so fleht er um Vergebung“.136 Dies zeigt wiederum das Gebet als wirksames Hilfsmittel nicht nur bei der äußeren Bedrängnis, worauf im weiteren Teil dieser Arbeit Bezug genommen wird (vgl. Kap. 4.2–3), sondern auch beim inneren Ringen mit persönlichen Schwächen und Sünden, das die Suche nach Weisheit ständig begleiten soll (vgl. Sir 17,25–26; 21,1 und 38,9–10137).

135 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 235. 136 Stadelmann, Ben Sira, 231. 137 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 232.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

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Exkurs 6: Der Lebenswandel des Schriftgelehrten als Muster der lectio divina Bevor die wichtigsten Ergebnisse der vorgelegten Analyse zusammengefasst werden, ist es angebracht, auf das Anwendungspotenzial und die damit zusammenhängende Rezeption von Sir  38,34c–39,11b hinzuweisen. Zu diesem Zweck bietet es sich an, die drei inhaltlichen Gemeinsamkeiten zu betrachten, die diese Perikope die mit der Toraverlesung beim Laubhüttenfest in Dtn  31,9–13, der Gesetzesunterweisung und dem Bußgottesdienst in Neh  8–9138, dem Auftreten Jesu in der Synagoge zu Nazaret in Lk 4,16–22 und seiner Auslegung der alttestamentlichen Prophezeiungen in Lk 24,25–32.44–50139 sowie der Unterweisung des Äthiopiers durch Philippus in Apg 8,26–40 teilt. Erstens ist die Thematisierung von Lektüre (bzw. Vortrag) der Heiligen Schrift zu nennen.140 Auch wenn in der oben untersuchten Schriftgelehrtenperikope das Lesen (bzw. Hören) durch den Protagonisten nicht explizit erwähnt wird, ist es dennoch vom geschichtlichen Kontext her vorauszusetzen (vgl. ἀνάγνωσις „Lesung“ in Sir Prolog 10). Zweitens ist auf die Bemühung um das Verständnis des Gelesenen zu achten, was drittens im Rahmen einer Gebetshandlung dargestellt wird.141 E.  Bianchi erklärt diese dreifache Besonderheit der biblisch-jüdischen Art der Schriftlesung folgendermaßen: „Die Rabbinen lehrten, daß die Tora, das Wort, die Anwesenheit Gottes in der Schöpfung ist, und daß der Mensch diese

138 Vgl. Masini, La lectio divina, 266. 139 Vgl. Masini, La lectio divina, 290. 140 Vgl. ‫ּתֹורה‬ ָ ‫ת־ה‬ ַ ‫„ ִּת ְק ָרא ֶא‬du sollst dieses Gesetz ausrufen lassen“ in Dtn 31,11; ‫„ וַ ּיִ ְק ָרא־בֹו‬und er [scil. Esra] las daraus [scil. aus dem Gesetz] vor“ in Neh 8,3; καὶ ἀνέστη ἀναγνῶναι „und er [scil. Jesus] stand auf, um vorzulesen“ in Lk 4,16 und καὶ ἀνεγίνωσκεν τὸν προφήτην Ἠσαΐαν „und [der Äthiopier] las den Propheten Jesaja“ in Apg 8,28. 141 Vgl. ‫ּתֹורה‬ ָ ‫ת־ה ָעם ַל‬ ָ ‫„ וְ ַה ְלוִ ּיִ ם ְמ ִבינִ ים ֶא‬die Leviten belehrten das Volk über das Gesetz“ in Neh 8,7; ‫ֹלהים ְמפ ָֹרׁש וְ ׂשֹום ֶׂש ֶכל וַ ִּיָבינּו ַּב ִּמ ְק ָרא‬ ִ ‫תֹורת ָה ֱא‬ ַ ‫„ וַ ּיִ ְק ְראּו ַב ֵּס ֶפר ְּב‬Und sie lasen aus dem Buch, aus dem Gesetz Gottes, abschnittsweise vor, und gaben den Sinn an, so daß man das Vorgelesene verstehen konnte“ / καὶ ἀνέγνωσαν ἐν βιβλίῳ νόμου τοῦ θεοῦ καὶ ἐδίδασκεν Εσδρας καὶ διέστελλεν ἐν ἐπιστήμῃ κυρίου καὶ συνῆκεν ὁ λαὸς ἐν τῇ ἀναγνώσει „Und sie lasen vor aus dem Buche des Gottesgesetzes und Esdras lehrte und erläuterte es genau aus seiner Kenntnis des Herrn, und das Volk war voll Verständnis bei der Lesung“ in Neh 8,8 (in der LXX als 2 Esra 18,8); ἤρξατο δὲ λέγειν πρὸς αὐτοὺς ὅτι σήμερον πεπλήρωται ἡ γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑμῶν „Er [scil. Jesus] fing aber an, zu ihnen zu sagen: Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt“ in Lk 4,21; καὶ ἀρξάμενος ἀπὸ τῆς γραφῆς ταύτης εὐηγγελίσατο αὐτῷ τὸν Ἰησοῦν „und [Philippus] fing mit dieser Schrift an und verkündigte ihm [scil. dem Äthiopier] das Evangelium von Jesus“ in Apg 8,35. Zu Neh 8–9 und Lk 4,16–22 vgl. Bianchi, Lectio Divina, 25–26. Die Auslegungen des Gesetzes in Mt 12,5 und Lk 10,26 (vgl. Masini, La lectio divina, 267) und die Anweisung in 1 Tim 4,13 werden hier nicht berücksichtigt, da die Lektüre und die Erklärung der Schrift an diesen Stellen ohne einen direkten Gebetskontext erwähnt werden.

202 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Anwesenheit durch Lesung, Meditation und Gebet für sich selbst verwirklicht“142. Diese Ansicht wird auch im Ecclesiasticus vertreten, wo einerseits Schöpfung, Heilsgeschichte und Tora JHWHs in Sir 17,1–14 und 24,1–23 geschickt miteinander in Verbindung gebracht werden (vgl. Kap. 1.1 und Exkurs 5) und andererseits die drei genannten Schritte zur Aneignung der Heiligen Schrift, die Lesung, die Meditation und das Gebet, ihre Entsprechung in Sir 38,34c–39,11b finden (vgl. Tab. 12 und 14). An dieser Stelle kann zwar eingewendet werden, dass bei der Meditation allgemeiner (profaner) weisheitlicher Zitate durch den schriftkundigen Weisen in V. 2–3 es sich um eine Anspielung auf die in den hellenistischen Philosophien (z. B. Stoa) bekannte Methodik der Seelenführung handeln könnte.143 Diese bestand u. a. in der Betrachtung sittlicher Sprüche der berühmten Dichter und Denker144 und war ein in Form der scalae „Treppenleiter“ fest geregeltes System von Hilfen, die wiederum eine stufenweise Erreichung eines hohen geistigen Ziels ermöglichten.145 Bei aller Parallelität des paganen Exerzitienwesens mit dem von Sirach geförderten Stil der Weisheitssuche darf aber der wurzelhafte Unterschied nicht vergessen werden. Denn das Besondere des jüdischen Schriftgelehrten bestand in erster Linie im steten Bewusstsein um seine Angewiesenheit auf Gottes Hilfe, was in G I in V. 6a klar zum Ausdruck gebracht wird. Das bezeichnende Fehlen jeglicher religiösen Autarkie146 im Sirachbuch gründet in der tiefen Verwurzelung seines Autors im Glauben an den personalen Gott (vgl. Kap. 2.1 und Exkurs 4). Die im Frühjudentum praktizierte meditierend-betende Leseweise der Heiligen Schrift sollte später vom Christentum, sowohl im Osten (z. B. Origenes, Johannes Chrysostomus) als auch im Westen (z. B. Ambrosius, Hieronymus, Benedikt von Nursia, Gregor der Große), übernommen und als lectio divina147 weiterentwickelt werden, bis sie dann um 1150 vom Kartäuserprior Guigo II. schriftlich festgehalten wurde.148 Die skizzierte geistliche Kontinuität wird in der Scala claustralium „Trep-

142 Bianchi, Lectio Divina, 34. Zu den drei Elementen der synagogalen Liturgie: der Schriftlesung, der homiletischen Interpretation und dem Gebet vgl. Masini, La lectio divina, 266. 143 Vgl. Rabbow, Seelenführung, 16–17. 144 Vgl. Rabbow, Seelenführung, 215–217. 145 Vgl. Rabbow, Seelenführung, 20. 146 Vgl. Rabbow, Seelenführung, 157. 147 Wörtlich: „göttliche Lesung“. 148 Vgl. Magrassi, Lectio divina, 1059; Rousse, Lectio divina, 471–473, 481 und 485–486; Masini, La lectio divina, 263 sowie Bianchi, Lectio Divina, 32 und 35–36.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 203

penleiter der Mönche“ durch zwei deutliche Anspielungen auf Sir 6,31149 und 18,30150 und ein direktes Zitat aus dem lateinischen Text von Sir 31,9: quis est hic et laudabimus eum „Wer ist dieser, und wir werden ihn preisen!“151, greifbar. Vor allem diese literarische Abhängigkeit macht plausibel, warum das Werk Guigos mit seinen vier geistlichen Stufen: lectio – meditatio – oratio – contemplatio so stark an die oben geschilderte innere Dynamik im Leben des Schriftgelehrten erinnert (vgl. Tab. 14). Tab. 14: Die Analogie zwischen der Handlungsweise des Schriftgelehrten in Sir 38,34c–11b und den Grundvollzügen der lectio divina in der Scala claustralium des Guigo. Verse

Geistliche Schritte bei Sirach

Phasen bei Guigo

34c–1b

Studium von Gesetz, Weisheit und Propheten

Schriftlektüre (lectio)

2a–3b

Meditation weisheitlicher Zitate

Meditation (meditatio)

4a–d

Äußere Tätigkeiten: diplomatische Reisen, Hofdienst



5a–e

GEBET

GEBET (oratio)

6a–8b

Göttliche Inspiration, Geistesgabe des Verstandes, Innere Erkenntnis von Weisheit und Gesetz

Betrachtung (contemplatio)

9a–11b

Ruhm zu Lebzeiten und bei der Nachwelt



Dabei ist zu beachten, dass die vorgeschlagene Analogie nicht nur die Auswahl der einzelnen Schritte des herkömmlich-regulären und des inspirierten Weisen in Sir 38,34c–11b umfasst, sondern auch deren Reihenfolge: „Gleichsam als Fundament kommt als erstes die Lesung. Die liefert den Stoff, der zur Meditation führt. Die Meditation prüft sorgfältig, was sie angreifen soll, gräbt gleichsam, findet einen Schatz und zeigt auf ihn. Da sie ihn aber nicht selbst heben kann, führt sie uns zum Gebet. Durch das Gebet, bei dem sie sich mit allen Kräften zum Herrn erhebt, erlangt sie den ersehnten Schatz, die Wonne der Kontemplation. Wenn dies geschieht, wird die Seele für die Mühe der vorangegangenen drei Stufen entschädigt und mit dem Tau himmlischer Süßigkeit trunken gemacht. Die Lesung ist also eine äußerliche Übung, die Meditation eine innere Tätigkeit des Verstandes. Das Gebet ist Verlangen. Die Kontemplation übersteigt alle

149 Vgl. Sir 6,32 in der Vg: stolam gloriae indues eam et coronam gratulationis superpones tibi „Als Mantel des Ruhms wirst du sie anlegen und die Krone des Jubels wirst du dir aufsetzen“, und in der Scala 88–90: et non habentem speciem qua vestivit eum mater sua, sed stola immortalitatis indutum et coronatum diademate quo coronavit eum pater suus. Der zitierte lateinische Text und die Verszählung der Scala folgen der kritischen Ausgabe in den Sources chrétiennes. Vgl. Guigo, Epistola, 90. 150 Vgl. den Vg-Text: Post concupiscentias tuas non eas „Gehe deinen Begierden nicht nach“, und Scala 421: et ambulasti post concupiscentias tuas. Guigo, Epistola, 118. 151 Vgl. Scala 400–401: Sed quis est qui hunc vivendi tramitem teneat, quis est hic et laudabimus eum? Guigo, Epistola, 116.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Sinne. Die erste Stufe ist die der Anfänger, die zweite die der Fortgeschrittenen, die dritte die der Getreuen und die vierte die der Seligen.“152

Das bei Guigo auffällige Fehlen solch wichtiger Elemente sirazidischer Darstellung wie Reisen, Hofdienst und Ruhm, die sich auf den äußeren Bereich des Lebens beziehen, ist vielleicht aus der für das Mönchtum typischen Neigung zur Zurückgezogenheit zu erklären. Diese Begründung wäre aber unzureichend, wenn die genannte Tätigkeit des Weisen und vor allem seine Reisen in V. 4c, nicht etwa als luxuriöse Erholung interpretiert würden, sondern als eine nicht selten mit Risikos (vgl.  V.  4d und Sir  34,13) verbundene Pflicht, die ein priesterlicher Gelehrter in der hierokratischen Gesellschaftsordnung im vormakkabäisch-hellenistischen Israel (vgl. Sir 50,1–4) zu erfüllen hatte.153 Denn in diesem Fall wären jene diplomatischen Reisen in ihrer Bedeutung auf eine Stufe mit der klösterlichen Arbeit zu stellen: Tatsächlich findet sich eine solche eingehende Würdigung der Arbeit, die – wie im Ecclesiasticus – in Verbindung mit Schriftlesung und Gebet gebracht wird, in der Benediktsregel: „Müßiggang ist der Seele Feind. Deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit heiliger Lesung beschäftigt sein“154. Demgegenüber wird dieser Aspekt des Mönchslebens – abgesehen von der Nennung einiger entschuldbarer Gründe für die Unterbrechung der Schriftlektüre wie „unvermeidliche Notwendigkeit“ oder „Nutzen eines ehrenhaftes Werkes“155 – in den Ausführungen des Kartäusers nur spärlich thematisiert. Zu Guigos besonderen Verdiensten zählt dennoch, dass er mehr Licht auf die Bedeutung der beiden letzten Stufen der lectio divina wirft, was auch der in Kap.  4.1.7 angedeuteten Diskussion um die Rolle des Gebets in V.  5 angesichts des Geschenkcharakters der göttlichen Inspiration in V. 6a: ἐὰν κύριος ὁ μέγας θελήσῃ „Wenn der Herr, der Große, es will“, neue Impulse geben kann. Denn einerseits ermutigt er in seiner Abhandlung die Person des Betrachters bei ihren Mühen mit den Worten: „Der Herr […] wartet nicht, bis sie ihr Gebet beendet hat, sondern unterbricht es und läuft der verlangenden Seele, vom Tau der himmlischen Süßigkeit umflossen und mit feinstem Öl gesalbt, eilends entgegen“.156 Andererseits erklärt er den Sinn der für den Betrachter unverfügbaren Seligkeit der kontemplativen Phase, die letztendlich nicht der Natur, sondern der göttlichen Gnade zuzuschreiben ist: „Für kurze Zeit lässt er [scil. Gott] uns kosten, wie 152 Guigo, Scala, 43 und 45. Diese deutsche Übersetzung von D. Tibi folgt noch der lateinischen Vorlage der Migne-Ausgabe (PL 184,475–484) anstatt des heute gültigen Texts in den Sources chrétiennes (vgl. Guigo, Epistola, 82–123). 153 Vgl. Stadelmann, Ben Sira, 26. 154 Tibi, Vorwort, 10. 155 Guigo, Scala, 51. 156 Guigo, Scala, 37.

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 205

lieblich er ist, und entzieht sich uns wieder, bevor wir seine Lieblichkeit voll auskosten konnten. So fliegt er gleichsam mit ausgespannten Flügeln über uns und fordert auch uns zum Fliegen auf“157. Gerade dieser Aspekt, der wegen der Betonung des freien Willens Gottes in V. 6a in der Übersetzung des Enkels stärker als beim Syrer zum Vorschein kommt, verweist darauf, dass es sich bei der recht verstandenen lectio divina nicht primär um eine ausgeklügelte, selbstwirkende geistliche Methode handelt, sondern vielmehr um eine persönliche Begegnung, um den Dialog mit Gott.158 Nachdem diese Form der Schriftlesung seit dem Spätmittelalter weitgehend in Vergessenheit geraten und nur im Mönchtum praktiziert worden war, forderte das Zweite Vatikanum dazu auf, das in ihr steckende Potential wieder zu entfalten,159 sodass sie heutzutage glücklicherweise auch den Christen außerhalb der monastischen Klöster zugänglich ist.160 In diesem Kontext kann eine aufmerksame Betrachtung des Lebenswandels des Schriftgelehrten in Sir 38,34c–39,11b, der als Muster der lectio divina gilt, die der Offenbarung inhärenten Kriterien für den fruchtbaren Umgang mit der Bibel verdeutlichen und sowohl den berufsmäßigen Exegeten als auch den unprofessionellen Lesern damit ein hilfreiches Mittel an die Hand geben, um die gewünschte Vertiefung der Spiritualität zu unterstützen.

4.1.8 Zusammenfassung Die programmatische Perikope über den Schriftgelehrten in Sir 38,34c–39,11b eröffnet die Reihe der Vorbilder des Gebets im Buch Ecclesiasticus. Der Abschnitt ist zwar auf Griechisch und Syrisch erhalten, aber nicht auf Hebräisch (vgl. Kap. 4.1.1). Textkritisch interessant ist vor allem die Passage über die Erprobung des Hauptak-

157 Guigo, Scala, 41. 158 Vgl. Magrassi, Lectio divina, 1059–1060 und Schneider, Theologie, 286. 159 Vgl. DV 25 (DH 4232): „Deswegen müssen sich alle Kleriker, besonders Christi Priester und die anderen, die sich als Diakone oder Katecheten rechtmäßig dem Dienst des Wortes widmen, in beständiger heiliger Lesung und gründlichem Studium mit der Schrift befassen, damit keiner von ihnen zu ‚einem hohlen Prediger des Wortes Gottes nach außen‘ werde, ‚ohne dessen innerer Hörer zu sein‘, während er doch die reichsten Schätze des göttlichen Wortes, insbesondere in der heiligen Liturgie, den ihm anvertrauten Gläubigen mitteilen soll. Ebenso ermahnt das Heilige Konzil alle Christgläubigen, zumal die Glieder religiöser Gemeinschaften, besonders eindringlich, durch häufige Lesung der göttlichen Schriften die ‚überragende Erkenntnis Jesu Christi‘ [Phil 3,8] zu erlangen […]. Sie sollen aber daran denken, daß Gebet die Lesung der heiligen Schrift begleiten muß, damit sie zu einem Gespräch zwischen Gott und Mensch werde; denn ‚ihn reden wir an, wenn wir beten; ihn hören wir, wenn wir die göttlichen Aussagen lesen‘“. 160 Vgl. Bianchi, Lectio Divina, 70.

206 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

teurs während der Reisen in V. 4d, wo das Verb in der Übersetzung des Enkels ausnahmsweise in der Vergangenheitsform steht, was die persönlichen, sowohl angenehmen als auch harten Reiseerfahrungen des Autors in Sir 34,13 widerspiegeln kann. Dazu weichen die beiden Sprachversionen voneinander insofern ab, dass die Peschitta in V. 34c zwar die Gottesfurcht erwähnt, dafür aber den Gottesbezug in V. 5b, 6a und 6d entbehrt (vgl. Kap. 4.1.2). Durch die Feststellung in V. 11a, dass die Berühmtheit des Schriftgelehrten von seinem eigenen Willen abhänge, kommt ferner beim Syrer viel stärker das menschliche Tun zum Ausdruck, während G I der religiösen Dimension der Weisheitsvermittlung mehr Aufmerksamkeit schenkt. Ein weiterer Unterschied liegt in V. 5a vor, wo in Syr ausdrücklich vom Gebet die Rede ist, während G  I „Wachen in der Früh zum Herrn“ liest. Weil eine solche Formulierung in der griechischen Bibel öfters in Verbindung mit den Akten der Gottesverehrung gebraucht wird, könnte es sich hier um eine interpretatorische Abweichung des Enkels handeln, die auf die Präzisierung der Gebetszeit für die in der Diaspora lebenden Juden ausgerichtet war. Eine kleine Sinnverschiebung kommt außerdem in V.  11 vor, wo laut der Peschitta-Version die Beliebtheit des Weisheitslehrers zu seinen Lebzeiten von ihm selbst abhängt, während es für die griechische Variante wichtig ist, dass sein Ruhm auch nach seinem Tod nicht verblasst. Sollte der Lebenswandel des Hauptprotagonisten näher in Betracht gezogen werden, dann fällt ein großartiger Wechsel auf: von einem herkömmlich-regulären Schriftgelehrten einerseits, der die Weisheit durch Studium (V.  34c–1b), Meditation (V. 2a–3b) und äußere Tätigkeit wie etwa Fernreisen (V. 4a–d) sucht, zu einem inspirierten Lehrer und geschätzten Autor der weisheitlichen Gedichte andererseits (V. 7a–11b; vgl. Kap. 4.1.3). Diesen Übergang markieren sowohl die Ausrichtung des Schriftkundigen im Gebet auf Gott in V. 5 als auch die göttliche Gabe des Geistes des Verstandes in V. 6. Zur Komposition und Kontextualisierung der hier untersuchten Perikope ist noch zu bemerken, dass ihr noch der Wahrsatz über den Schriftgelehrten in Sir 38,24 und das Textstück über weltliche Berufe in Sir  38,25a–34b vorangehen, deren Vertretern als Negativexempeln die weisheitliche Bildung fehlt. Somit erweist sich der gesamte Textkomplex Sir 38,24– 39,11, der zugleich das siebte Weisheitsgedicht des Ecclesiasticus bildet, als eine zusammenhängende Lehreinheit über den Schriftgelehrtenberuf. In ihrer Mitte in Sir 38,33–39,1 liegt ein weisheitliches Summarium, bei dem es sich um ein bisher wenig untersuchtes Strukturelement des Sirachbuches handelt (vgl.  Exkurs 5), das durch die Erwähnung sapientialer Schlüsselbegriffe wie Weisheit, Gottesfurcht, Gesetz, Bildung und Gebote die gesamte Lehre des Autors zu einer kurzen Formel verdichtet. Als mögliche alttestamentliche Vorbilder für den Schriftgelehrten kommen jene Personen ins Spiel, die – wie der Patriarch Josef, der Gesetzesvermittler Mose

4.1 Der ideale Schriftgelehrte in Sir 38,34c–39,11b 

 207

oder der Prophet Daniel – den Hofdienst verrichtet (V. 4ab), in der Ferne verweilt (V. 4c), dort Gutes und Böses erfahren (V. 4d), zu Gott gebetet (V. 5) und von ihm die Erkenntnis der tiefsten Geheimnisse erlangt haben (V. 6; vgl. Kap. 4.1.4). Für die Ähnlichkeit des sirazidischen Weisen mit dem König David, den die Tradition für den inspirierten Autor des Bußpsalms 51 hält, sprechen aber das Flehen zu Gott wegen der eigenen Sünden (V. 5e), die Geistesgabe (V. 6b), die Unterweisung Anderer (V. 9a) und der Lobpreis Gottes (V. 6d). Das zuletzt angeführte Merkmal wird allerdings in der syrischen Sirachübersetzung verwischt, genauso wie die wahrscheinlich auf Ps 62,2 LXX verweisende Formulierung „Wachen in der Früh zum Herrn“. Der Text der Perikope enthält auch einige potenzielle Anspielungen auf den nachexilischen Schriftgelehrten Esra, der sich dem Studium des Gesetzes mit ganzem Herzen widmete (V. 34cd und 5a), auch wenn ihm noch das für die spätere hellenistische Zeit charakteristische Interesse an den allgemeinen Weisheitstraditionen (vgl. V. 2–3) fehlte. Weitere inhaltliche und sprachliche Gemeinsamkeiten mit weisheitlichen Texten wie Spr  2,1–10 oder Weish  6,14 zeigen allerdings, dass es sich bei Sirach nicht so sehr um eine Darstellung konkreter Persönlichkeiten aus der Geschichte Israels als vielmehr um einen weisheitlichen Lehrtext mit dem Idealbild eines Weisheitslehrers handelt (vgl. Kap. 4.1.6). Ein genauerer Blick auf die Zeilen, in denen sich der oben angedeutete, grundsätzliche Wechsel vom Lernen zum Lehren abspielt, erweist dort kunstvolle rhetorische Figuren, die das Gebet des Schriftkundigen und die göttliche Geistesgabe des Verstandes hervorheben (vgl. Kap. 4.1.5). Bemerkenswert ist vor allem der symmetrische Parallelismus in V. 5 in Syr, der beim Enkel zunächst weniger deutlich auszufallen scheint, dann aber doch wegen der bereits erwähnten Synonymität zwischen „beten“ und „früh aufstehen“ in V. 5a von seiner Beherrschung der biblischen Tradition zeugt (vgl. Kap. 4.1.7). Weil der griechische Übersetzer zusätzlich die vergleichbaren appositionell erweiterten Gottesbezeichnungen in V.  5b und 6a bietet und das Gebet des Schriftgelehrten auch in V.  6d erwähnt, dehnt er die in der Peschitta bestehende Stellungsfigur auf V.  6 aus. Dies erinnert wiederum an Sir 4,10a–d und es gibt vermutlich seine genuine Handschrift wieder – falls vom Enkel nicht bereits vorgefunden. Die sich an dieser Stelle ergebende Frage, ob die Erlangung theologischer Erkenntnis durch den Hauptprotagonisten seiner in V.  5e ausgerichteten Bitte um Vergebung der Sünden zu verdanken ist, lässt sich differenziert beantworten. Denn zum einen ist das geoffenbarte Verständnis göttlicher Geheimnisse, das auch dem inspirierten Weisen in V. 7b zuteilwird, ohne Demut nicht möglich (vgl. Sir 3,19b in Kap. 3.3.7). Gerade diese Tugend bildet aber eine wichtige Disposition für ein ehrliches Bußgebet, wie es bei der Relecture der Davidgestalt gezeigt wurde. Gleichermaßen korreliert die von Gott geschenkte Erkenntnis mit den vorausgehenden Bemühungen des herkömmlichen Schriftgelehrten, worun-

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

ter die eifrige Erforschung der Heiligen Schrift in V. 34d–1b und der allgemeinen Weisheitstraditionen in V.  2–3 zu verstehen ist. Zum anderen ist die Erfüllung des Gelehrten mit dem Geist des Verstandes in V. 6b, woraus die kontemplative Erkenntnis und die Produktion des eigenen Weisheitsmaterials in V. 6c–8b resultieren, ein unverdientes und unverdienbares Geschenk Gottes an ihn, was der Enkel in V. 6a eigens hervorhebt. Auf die genannte doppelte Problematik, die sowohl die notwendige mühsame Vorbereitung des Lesers durch Meditation und Gebet als auch die unverfügbare Fruchtbarkeit der Kontemplation des Gelesenen betrifft, geht der Kartäusermönch Guigo II. ein (vgl. Exkurs 6). In seinem um 1150 entstandenen Werk Scala claustralium fasst er den seit der Antike überlieferten Umgang mit der Heiligen Schrift, dessen Wurzel ebendort liegt (vgl. Neh 8–9), in vier Phasen zusammen, deren Auswahl und Reihenfolge wiederum an die in Sir  38,34c–39,11b geschilderten geistlichen Schritte erinnern: die Schriftlektüre (lectio), die Meditation (meditatio, vgl.  V.  34c–3b), das Gebet (oratio, vgl.  V.  5) und die vom göttlichen Geist inspirierte Betrachtung (contemplatio, vgl. V. 6–8). Eine solche, zumindest in ihren Grundzügen bereits im Sirachbuch vorhandene und in ihrer entfalteten Form als lectio divina bekannte Art der geistlichen Schriftlesung stellt ein hervorragendes Mittel dar, das auch heutzutage zur persönlichen Begegnung mit dem Wort Gottes und zur nachhaltigen Vertiefung der biblischen Spiritualität führen kann.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 4.2.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Das zweite Beispiel eines vornehmen Beters wird innerhalb der prägnanten Zusammenfassung der militärischen Verdienste Josuas in Sir 46,1–6 präsentiert. Im Vordergrund dieser Perikope, in der auch die erste Anrufung Gottes im ganzen Väterlob erwähnt wird,161 steht das mehrmals angeführte Klage-ErhörungsParadigma (vgl. Tab. 3). Der Abschnitt wird sowohl in der griechischen und in der syrischen Sirachversion als auch – wenn auch nicht vollständig – in der hebräischen Handschrift B überliefert (V. 1–6d in Ms. B XV verso, wobei V. 3b–6e lückenhaft sind,162 und V. 6e in Ms. B XVI recto), sodass der unten abgedruckte, 161 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 337. 162 Das Fragment Sir 46,1–6d im hebräischen Ms. B XV verso mit der stichometrischen Schreibweise kann unter: https://www.bensira.org/navigator.php?Manuscript=B&PageNum=30, eingesehen werden; letzter Abruf am 17.08.2017.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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der Edition von Beentjes entnommene hebräische Konsonantentext nach Vattioni aufgefüllt werden kann.163 Zum Teil stammen diese Ergänzungen aus den anderen alttestamentlichen Büchern, wie es bei [‫ באבני ]ברד ואבני א]ל[גביש‬164 „mit Steinen [des Hagels und Schloßen165]“ in V. 5d der Fall ist (vgl. ‫„ ְּב ַא ְבנֵ י ַה ָּב ָרד‬durch die Hagelsteine“ in Jos 10,11 und ‫„ ַא ְבנֵ י ֶא ְלגָ ִביׁש‬Hagelsteine“ in Ez 13,11).166 Beim näheren Hinschauen zeigen sich jedoch mehrere textkritische Schwierigkeiten. So identifiziert Th. Elßner die unvokalisierten Wörter: ‫נוצר‬, ‫ נהדר‬und ‫ מלא‬als Partizipien.167 Bei ‫ נוצר‬in V. 1c kann es sich allerdings statt des Partizips ‫נֹוצר‬ ָ „derjenige, der gebildet ist“ um das finite Verb ‫נֹוצר‬ ַ „er wurde gebildet“168 handeln, was die Formulierung ἐγένετο μέγας „er wurde groß“ in G I unterstützt.169 Außerdem wäre hier das Part. ‫נֹוצר‬ ֵ „derjenige, der bewahrt“170 denkbar, was wiederum durch die Lesart von Syr: ‫„ ܐܬܢܛܪ‬er (bzw. es) ist bewahrt worden“171 bezeugt wird (vgl. Kap. 4.2.2). Auch bei der Nifʿalform ‫נהדר‬172 in V. 2a ist entweder mit dem präsentisch zu übersetzenden Partizip „derjenige, der herrlich ist“ oder mit dem Perf. der 3. Pers. Sing. masc. „er war herrlich“ zu rechnen.173 Die erste Möglichkeit wird in Syr durch den entsprechenden Partizipialausdruck ‫ܝܐܐ ܠܗ‬ „es ziemt ihm“ und die darauffolgenden Partizipien ‫„ ܡܪܝܡ‬er erhebt“ und ‫ܡܢܝܦ‬ „er schwingt“ (anstelle der Infinitivkonstruktionen in Ms. B und G I), die zweite durch die Aoristform ἐδοξάσθη „er wurde verherrlicht“ in G I begünstigt. Das Wort ‫ מלא‬in V. 6e ist aber höchstwahrscheinlich nicht als Part. Qal ‫מ ֵלא‬, ָ sondern

163 Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 249 und 251; Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, 16 und Beentjes, Part I–II, 81–82. 164 Smend schlägt hier eine kürzere Ergänzung vor: ‫„ באבני ב[רד וא]ל[גבי]ש‬mit Hagelsteinen und Schlossen“. Smend, Die Weisheit, 52/83 (hebräisch/deutsch). Für das Hendiadyoin ‫ָּב ָרד וְ ֶא ְלגָ ִביׁש‬ plädiert auch Peters. Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 395. 165 Wörtlich: „und Gottessteinen aus Eis“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫א ְלגָ ִביׁש‬, ֶ 38 und Gesenius / Buhl, ‫גָ ִביׁש‬, 126. 166 Ansonsten werden bei Vattioni entweder andere auf Hebräisch erhaltene Sirachstellen (z. B. Sir 46,16) oder die Rückübersetzung derselben Passagen aus den antiken Versionen herangezogen, wie etwa in V. 5b (aus G I) und V. 6ac (aus Syr). 167 Vgl. Elßner, Josua, 37 (Fußnote 112). 168 Das Verb ‫נֹוצר‬ ַ ist Nifʿal 3. Pers. masc. von ‫„ יצר‬bilden“. 169 Vgl. ‫א־נֹוצר ֵאל‬ ַ ֹ ‫„ ְל ָפנַ י ל‬Vor mir wurde kein Gott gebildet“ / ἔμπροσθέν μου οὐκ ἐγένετο ἄλλος θεὸς „[V]or mir war kein anderer Gott“ in Jes 43,10. 170 Das Wort ‫נֹוצר‬ ֵ ist Part. Aktiv von ‫„ נצר‬beobachten, bewahren“. 171 Vgl. ‫ּתֹורה‬ ָ ‫נֹוצר‬ ֵ in Spr 28,7 in der Übersetzung M. Luthers von 1545 (vgl. Luther, Die Bibel): „Wer das Gesetz bewahret“ / φυλάσσει νόμον wörtlich: „Er bewahrt das Gesetz“. Die Elberfelder Bibel übersetzt hier mit: „Wer das Gesetz befolgt“. 172 Die Form ‫ נהדר‬ist Nifʿal von ‫„ הדר‬geehrt werden, herrlich sein“. Vgl. Smend, Die Weisheit, 66 (Wörterverzeichnis). 173 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 99 und 252 (Verba primae gutturalis).

210 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

vielmehr als Piʿel 3. Pers. Sing. masc. ‫„ ִמ ֵלא‬er hing vollkommen an, folgte völlig nach“ zu lesen,174 wie es etwa im Bezugstext in Num 32,12 der Fall ist: ‫ִּכי ִמ ְלאּו ַא ֲח ֵרי‬ ‫הוה‬ ֽ ָ ְ‫[„ י‬D]enn sie [scil. Kaleb und Josua] sind dem HERRN treu nachgefolgt“ und Dtn 1,36: ‫„ יַ ַען ֲא ֶׁשר ִמ ֵלא ַא ֲח ֵרי יְ הוָ ה‬dafür, daß er [scil. Kaleb] ganz und gar hinter dem HERRN stand“. Für die letzte Lösung sprechen auch die finiten Vergangenheitsformen ἐπηκολούθησεν „er folgte nach“ in G I und ‫„ ܫܠܡ‬er hat nachgefolgt“ in Syr. Dazu erlaubt die fehlende Vokalisierung des hebräischen Textes die zwei folgenden Lesarten der Phrase ]‫ כי מלחמות יי]י] נל[חם‬in V. 3b: „Denn die Kriege JHWHs [führte er [scil. Josua]]“, oder: „Denn JHWH [führte] Kriege“. Beim Plur. fem. ‫ מלחמות‬kann es sich nämlich entweder um den mit Qameṣ vokalisierten status absolutus (‫)מ ְל ָחמֹות‬ ִ oder um den mit Ḥaṭef-Pataḥ vokalisierten status constr. (‫)מ ְל ֲחמֹות‬ ִ handeln, wobei der letztere in den meisten deutschen Übersetzungen bevorzugt wird.175 Hier ist jedoch anzumerken, dass die constructus-Form, die Josua als grammatikalisches Subjekt der Handlung voraussetzt, sich nicht wie erwartet im Bezugstext des Josuabuches findet, sondern erst in 1 Sam 18,17176: ‫[„ וְ ִה ָל ֵחם ִמ ְל ֲחמֹות יְ הוָ ה‬U]nd führe die Kriege des HERRN!“177 Um näher am hebräischen Wortlaut von Jos 10,14b: ‫[„ ִּכי יְ הוָ ה נִ ְל ָחם ְליִ ְׂש ָר ֵאל‬D]enn der HERR kämpfte für Israel“178, zu bleiben, sollte es sich bei der genannten Sirachstelle vielmehr um eine absolutus-Form handeln, die Gott als Subjekt voraussetzt. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die hier angeführte Josuastelle im Griechischen eine kleine Abweichung aufweist: ὅτι κύριος συνεπολέμησεν τῷ Ισραηλ „[D]enn der Herr führte Krieg gemeinsam mit Israel“, was wahrscheinlich mit einer vom hebräischen Text unterschiedlichen Hermeneutik der LXX zusammenhängt, die das Gottesbild stärker transzendiert. Dass die beiden Lesarten von V. 3b prinzipiell auch in G I möglich sind, wird im Folgenden näher erörtert. Ferner ist der beschädigte V. 5b: … ‫ כאכפה ל‬zu erwähnen, der bereits mehrmals rekonstruiert worden ist. Dabei gehen die herkömmlichen Rückübersetzungen von Smend: ]‫כאכפה ל[ו איביו מס]ב[יב‬179 und Vattioni: [‫ כאכפה ל]ו צרים מסביב‬in die gleiche Richtung, indem ‫„ צרים‬Feinde, Bedrücker“ bzw. ‫„ איביו‬seine Feinde“ hinzugefügt werden, wohl aufgrund des griechischen Textes von V. 5b (ἐν τῷ θλῖψαι 174 Vgl. König, ‫מ ֵלא‬, ָ 224 und Elßner, Josua, 48: „Denn vollkommen folgte er Gott nach“. 175 Vgl. Sir 46,3b nach der EÜ 2016: „Denn er selbst hat die Kriege des Herrn geführt“; EÜ 1980: „[W]enn er die Kriege des Herrn führte“; LXX.D: „Denn die Kriege des Herrn hat er selbst geführt“ und Ryssel (Übers.), Die Sprüche Jesus’, 457: „Denn die Kriege Jahwes führte er“. 176 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 337 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 43. 177 Vgl. dieselbe etymologische Figur in der LXX: καὶ πολέμει τοὺς πολέμους κυρίου, wörtlich: „und kämpfe die Kämpfe des Herrn“. 178 Vgl. auch Ex 14,14: ‫ יְ הוָ ה יִ ָל ֵחם ָל ֶכם‬/ κύριος πολεμήσει περὶ ὑμῶν „Der Herr wird für euch kämpfen“. 179 Smend, Die Weisheit, 52 (hebräisch).

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 211

αὐτὸν ἐχθροὺς) und der entsprechenden hebräischen Passagen in Jos 10,13 (‫)א ָֹיְביו‬, Jos 23,1 (‫יהם ִמ ָּס ִביב‬ ֶ ‫„ א ֵֹיְב‬ihre Feinde ringsumher“) und Sir 46,16b (‫)…ביו מסביב‬.180 Der noch erhaltene Ausdruck ‫ כאכפה‬am Anfang des Kolons könnte entweder als Substantiv im Sing.181 oder – viel wahrscheinlicher – als temporale Konstruktion mit dem Inf. constr. von ‫(„ אכפ‬be)drängen“182 (Hapaxlegomenon im MT in Spr 16,26) und der proklitischen Präposition ‫ ְּכ‬183 aufgefasst werden. Für die zweite Deutung i. S. v. „beim Bedrängen, während des Bedrängens“184 sprächen zumindest die ähnlichen Präpositionalausdrücke mit ‫ב‬: ְ ‫„ בנטותו‬bei seinem Ausstrecken“ (d. h. „wenn er ausstreckt“) in V. 2a und ‫„ בהניפו‬bei seinem Schwingen“ (d. h. „wenn er schwingt“) in V. 2b. Außerdem kann es sich beim letzten Buchstaben des Infinitivs ‫ אכפה‬um eine Femininendung handeln, wie etwa bei ‫( ַא ֲה ָבה‬von ‫„ אהב‬lieben“)185 oder ‫( ֵל ָדה‬von ‫„ ילד‬gebären“)186. Demzufolge wird der darauffolgende, als nota obiecti verstandene Buchstabe ‫ ְל‬187 mit einem enklitischen Personalpronomen ‫( ו‬3. Pers. Sing. masc.) versehen,188 wie es dem nachbiblischen Sprachgebrauch entspricht.189 Daher wird V. 5b üblicherweise wie folgt übersetzt: „[A]ls seine Feinde ihn [scil. den Feldherrn Josua] rings bedrängten“190 bzw. „[A]ls er in Not war, umringt von seinen Feinden“191, in Anlehnung an die Vg:192 invocavit Altissimum potentem in obpugnando inimicos undique „Er hat den Höchsten, den Mächtigen beim Angriff von allen Seiten gegen die Feinde angerufen“.193

180 Vgl. Barthélemy / Rickenbacher, Konkordanz, 22; Ryssel (Bearb.), Die Sprüche Jesus’, 457 und Reymond, Reflections, 239–240. 181 Vgl. Reymond, Reflections, 241. Das mit dem Verb ‫ אכפ‬verwandte Substantiv ‫„ ֶא ֶכף‬Druck, Last“ in Ijob 33,7 ist Hapaxlegomenon im MT. Vgl. Reymond, Reflections, 239. 182 Vgl. Smend, Die Weisheit, 63 (Wörterverzeichnis). 183 Vgl. Barthélemy / Rickenbacher, Konkordanz, 22. 184 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 90. 185 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 106. 186 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 127. 187 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 199. 188 Vgl. Elßner, Josua, 42. 189 Vgl. Ryssel (Bearb.), Die Sprüche Jesus’, 457: „Die Konstruktion entspricht dem nachbiblischen Sprachgebrauche […], nur daß ‫ ִא ְכ ָּפה לֹו‬später mehr in der übertragenen Bedeutung ‚es macht ihm Sorge‘ verwendet wurde.“ 190 Smend, Die Weisheit, 82 (deutsch). Vgl.  auch Ryssel (Übers.), Die Sprüche Jesus’, 457; EÜ 1980; LXX.D; EÜ 2016. 191 Nach der EÜ 1980. 192 Vgl.  Reymond, Reflections, 239. Der untersuchten Stelle Sir  46,5ab entspricht in der Vg Sir 46,6a. 193 Vgl. dazu den lateinischen Text von Sir 46,16 in Exkurs 8.

212 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Allerdings ist bei manchen hebräischen Verben, die ihr Objekt mit einer Präposition konstruieren (z. B. mit ‫ ַעל‬im Falle von ‫)אכפ‬194, eine direkte Anfügung des Personalpronomens als Suffix genauso möglich, obwohl dies anstatt einer Konstruktion mit ‫ ְל‬nur sehr selten geschieht.195 So kann etwa das zu ‫ אכפ‬synonyme Verb ‫„ רדפ‬nachsetzen, verfolgen“, das normalerweise der Präposition ‫ַא ֲה ֵרי‬ bedarf, entweder Pronominalsuffixe annehmen (z. B. ‫„ וַ ּיִ ְר ְּד ֵפם‬und er jagte ihnen nach“196 in Gen 14,15; ‫„ וְ ָר ְד ֵפהּו‬und jage ihm nach!“ in Ps 34,15 und ‫„ ָר ְדפֹו‬er hat ihm nachgejagt“ in Am 1,11) oder Konstruktionen mit ‫ ְל‬bilden (z. B. ‫ַמה־ּנִ ְר ָּדף־לֹו‬ „Wie wollen wir ihm nachjagen“ in Ijob 19,28).197 Folglich ist auch bei dem an den Infinitiv angehängten ‫ ה‬in V. 5b hochwahrscheinlich mit dem maskulinen Suffix der 3. Pers. Sing. zu rechnen,198 das sonst im Sirachbuch als Merkmal hebräischer Poesie199 schlechthin gilt, wie etwa ‫ נגעה‬in Sir 10,13 in Ms. A, ‫ לבנה‬in Sir 43,18 in Ms. B (anstelle von ‫ לבנו‬in Mas) sowie ‫ וגדלה‬in Sir 44,2 in Mas (anstelle von ‫וגדלו‬ in Ms. B).200 In diesem Fall wäre jedoch die Ergänzung von …‫ ל‬in V. 5b mit dem zusätzlichen Personalpronomen (‫ )ו‬redundant, um nicht zu sagen: falsch.201 Dennoch ist dieses textkritische Problem nicht so leicht von der Hand zu weisen, da hier einerseits der Gebrauch des antizipatorischen Personalsuffixes ‫ )ܗ( ה‬zur Vorwegnahme des mit ‫ )ܠ( ל‬angeleiteten Objekts nicht auszuschließen ist.202 Die Spuren einer solchen aramaisierenden syntaktischen Besonderheit finden sich nämlich im antiochenischen (lukianischen) Text der LXX und sogar im NT.203 Andererseits wird das Problem dadurch komplexer, dass das vermutliche, an den Inf. constr. ‫„ כאכפה‬während seines Bedrängens“ als Suffix angehängte Personalpronomen der 3. Pers. Sing. masc. (‫ )ה‬entweder ein akkusativisch-objektives Verhältnis (wie beim Verb): „als man ihn bedrängte“, oder ein

194 Vgl. Spr 16,26: ‫י־א ַכף ָע ָליו ִּפיהּו‬ ָ ‫„ ִּכ‬denn sein Mund spornt ihn an“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫אכפ‬, 35. 195 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 109. 196 Nach Luther (1545): „und [er] jagte sie“. 197 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫רדפ‬, 746–747. 198 Als Vokalbuchstabe (ursprünglich: ‫)הֹו‬, wie bei ‫„ ִעיר ֹה‬sein Eselsfüllen“ und ‫„ סּותֹה‬sein Gewand“ in Gen 49,11. Vgl. Gesenius, Hebräische Grammatik, 38 und 266. 199 Vgl. Reymond, Reflections, 227. 200 Vgl. Reymond, Reflections, 234 und 236–238. 201 Vgl. Reymond, Reflections, 240. 202 Vgl. Thackston, Introduction, 21 und 36. 203 Vgl. 1 Kön 22,26: ‫יכיְ הּו‬ ָ ‫ת־מ‬ ִ ‫„ ַקח ֶא‬Nimm Micha!“ / Rahlfs: λάβετε τὸν Μιχαιαν „Nehmt Michaias!“, und antiochenisch: συλλάβετε αὐτὸν τὸν Μιχαίαν „Ergreift ihn, den Michaias!“ / ‫ܕܘܒܪܘܗܝ‬ ‫„ ܠܡܝܟܐ‬Führt ihn, den Micha!“ (Gottlieb / Hammershaimb / Peshiṭta Institute, Kings, 80); Offb 14,7: προσκυνήσατε τῷ ποιήσαντι τὸν οὐρανὸν „betet den an, der den Himmel gemacht hat“, alternative Lesart: προσκυνήσατε αὐτῷ τῷ ποιήσαντι τὸν οὐρανὸν „betet ihn an, den, der den Himmel gemacht hat“. Vgl. Muraoka, Alleged Septuagintisms, 417.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 213

genitivisch-subjektives Verhältnis (wie beim Nomen): „als er bedrängte“, ausdrücken kann.204 Bei einem Inf. constr., der gleichzeitig ein Subjekt und ein Objekt der dargestellten Handlung bei sich hat, folgt aber meist das Subjekt unmittelbar auf den Infinitiv,205 wie etwa in Dtn 11,4: ‫יכם‬ ֶ ‫„ ְּב ָר ְד ָפם ַא ֲח ֵר‬als sie euch nachjagten“, 2 Sam 21,2: ‫„ ְּב ַקּנֹאתֹו ִל ְבנֵ י־יִ ְׂש ָר ֵאל‬in seinem Eifer für die Söhne Israel“ und Sir 45,23c: ‫לאלוה]י[ כל‬ ֵ ‫בקנאו‬206 „Weil er eiferte für den Gott des Alls“. Dies trifft umso mehr zu, insofern in den zwei zuletzt genannten Beispielen auf den Inf. constr. jeweils ein enklitisches Personalpronomen der 3. Pers. Sing. masc. als Subjekt der Infinitivhandlung („Weil er eiferte“; wörtlich: „in seinem Eifern“) und ein ‫ ְל‬mit der Angabe des Objekts (d. h. der Person(en), für die man eifert) folgen. Diese Satzstruktur wird in der griechischen Version von Sir 45,23c nur zum Teil bewahrt, indem ‫ בקנאו‬mit ἐν τῷ ζηλῶσαι αὐτὸν „in seinem Eifern“ wiedergegeben wird.207 Die ganze hebräische Konstruktion findet aber eine genaue Entsprechung in der LXX-Fassung von 2 Sam 21,2, wo ein Infinitiv mit doppeltem Akkusativ gebraucht wird: ἐν τῷ ζηλῶσαι αὐτὸν τοὺς υἱοὺς Ισραηλ „als er [scil. Saul] für die Söhne Israels eiferte“.208 Weil hier der erste Akkusativ für das Subjekt und der zweite für das Objekt steht (vgl. Kap. 4.2.7), wäre auch in V. 5b eine Konstellation denkbar, in der Josua als „Bedränger“ und seine Feinde als „Bedrängte“ agieren (vgl. Kap. 4.2.4). Hebräischer Text (1a)

‫גבור בן חיל יהושע בן נון‬

(1b) (1c) (1d) (1e) (1 f )

‫משרת משה בנבואה‬ ‫אשר נוצר להיות בימיו‬ ‫תשועה גדלה לבחיריו‬ ‫להנקם נקמי אויב‬ ‫ולהנחיל את ישראל‬

Deutsche Übersetzung Ein Krieger, ein tapferer Mann210 [war] Josua, der Sohn Nuns, ein Diener des Mose in der Prophezeiung, der gebildet wurde, um in seinen Tagen eine große Rettung für seine Auserwählten zu sein211, um sich am Feind zu rächen212 und um Israel erben zu lassen.

204 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 114. 205 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 216 und Gesenius, Hebräische Grammatik, 368–369. 206 In Ms. B XV verso. 207 Für den Rest des Kolons in Sir 45,23c in G I: ἐν φόβῳ κυρίου „in der Furcht des Herrn“, gibt es keine Vorlage in Ms. B. Vgl. Reiterer, Urtext, 30 und 217. 208 Die LXX.D hat hier nur: „in seinem Eifer um Israel“. 209 Vgl. Jones, The Jerusalem Bible, 960: „He called on God the Most High, as he pressed the enemy on every side“. 210 Wortwörtlich: „ein tapferer Sohn“ (Elßner, Josua, 27) bzw. „Sohn der Tapferkeit“. 211 Der Inf. constr. ‫„ להיות‬um zu sein“ gehört in der hebräischen Vorlage zu V. 1c. 212 Die wörtlichere deutsche Übersetzung von Th. Elßner ahmt die etymologische Figur des hebräischen Textes nach: „damit die vom Feind geübte Rache gerächt werde“. Elßner, Josua, 27.

214  (2a) (2b) (3a) (3b) (4a) (4b) (5a) (5b) (5c) (5d) (6a) (6b) (6c) (6d) (6e)

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

‫מה נהדר בנטותו יד‬ ‫בהניפו כידון על עיר‬ ‫מי הוא לפניו יתיצב‬ ]‫כי מלחמות יי[י] נל[חם‬ ‫הלא בידו עמד השמש‬ ]‫יום אחד [היה לשנים‬214 ‫כי קרא אל אל עליון‬ ... ‫כאכפה ל‬215 ‫ויענהו אל עליון‬ ]‫באבני ]ברד ואבני א[ ל]גביש‬216 ...‫ל‬... 217 ‫וב‬...218 ‫למען ]דע[ת כל גוי חרם‬ ‫כי צופה י]יי[ מלחמתם‬ ‫]וגם[ כי מלא אחרי אל‬

Wie herrlich ist er, wenn er [seine] Hand ausstreckt, wenn er ein Krummschwert gegen eine Stadt schwingt. Wer [ist] dieser, der vor ihm standhalten wird? Denn die Kriege JHWHs [führte er]. Ist nicht durch ihn213 die Sonne stehen geblieben? Ein Tag [wurde zu zweien]. Denn er rief zu Gott, dem Höchsten, während seines Bedrängens… und Gott, der Höchste, antwortete ihm mit Steinen [des Hagels und Schloßen]. … und… damit jedes dem Bann [verfallene] Volk [erkenne], dass [JHWH] auf ihre Kriege achtet. Denn [auch] er folgte Gott völlig nach.

Mit der Frage, wer das Subjekt des untersuchten Satzes ist, beschäftigte sich auch E. Reymond, der die beschädigte Stelle in V. 5b in der Kairoer Handschrift B erneut überprüfte. Laut ihm sollte nach ‫ ל‬nicht der Buchstabe ‫ו‬, sondern ‫ פ‬gestanden haben. Dieser neu rekonstruierte Text: [‫לפנ֯ ]י איביו‬ ֯ ‫ כאכפה‬kann allerdings auf zwei unterschiedliche Weisen übersetzt werden: „als er [scil. Josua] vor dem Angesicht seiner Feinde drängte“ oder „als er vor dem Angesicht seiner Feinde gedrängt wurde“. Im zweiten Fall wird der Präpositionalausdruck ‫ כאכפה‬offensichtlich vom passivischen Inf. Nifʿal mit dem weggefallenen präformativen ‫ ה‬abgeleitet, wie es manchmal bei Verben primae gutturalis vorkommt, wenn sie mit einer Präposition verknüpft werden.219 Um das Subjekt der Infinitivhandlung (Josua bzw. seine Feinde) eindeutig zu ermitteln, soll deshalb im Folgenden – angesichts des fragmentarisch überlieferten hebräischen Konsonantentextes – auch G I als die

213 Vgl. Elßner, Josua, 39: „Stand nicht auf seine Hand(bewegung) (hin) die Sonne still?“ 214 Anstelle von ‫ היה לשנים‬schlägt Smend ‫ כשנים היה‬vor. Vgl. Smend, Die Weisheit, 51 (hebräisch). 215 Siehe die herkömmlichen und die alternativen Ergänzungen dieser Passage in Kap. 4.2.1. 216 Smend ergänzt hier: ‫„ ב[רד וא]ל[גבי]ש‬mit Hagelsteinen und Schlossen“. Smend, Die Weisheit, 52/83 (hebräisch/deutsch). 217 Die Rückübersetzung nach Vattioni: [‫„ ]וישליכם ע]ל [עם שונא‬Und er [scil. Gott] warf sie [scil. Hagelsteine] auf ein feindliches Volk“. Nach Smend wird V. 6a wie folgt ergänzt: ‫]חבטם ע]ל ]עם‬ ‫„ אוי]ב‬Er schmetterte sie auf das feindliche Volk“. Vgl. Smend, Die Weisheit, 52/83 (hebräisch/ deutsch). 218 Die Rückübersetzung nach Vattioni: [‫„ וב]מורד אבד קמים‬und am Abhang vernichtete er [scil. Gott] Aufständische“. Smend ergänzt V. 6b zum Teil anders: ‫„ וב[מורד האביד כנ]ען‬und im Passe vertilgte er |Kanaan|“. Smend, Die Weisheit, 52/83 (hebräisch/deutsch). 219 Vgl. Reymond, Reflections, 241: „As he [scil. Joshua] pressed before his enemies“, bzw. „as he was pressed bevor his enemies“.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 215

älteste vollständig überlieferte Textvariante von Sir 46,1–6 herangezogen werden (Editionen von Rahlfs220 und von Ziegler221). Griechische Version

Deutsche Übersetzung

(1a) (1b)

κραταιὸς ἐν πολέμῳ Ἰησοῦς Ναυη καὶ διάδοχος Μωυσῆ ἐν προφητείαις

(1c) (1d)

ὃς ἐγένετο κατὰ τὸ ὄνομα αὐτοῦ μέγας ἐπὶ σωτηρίᾳ ἐκλεκτῶν αὐτοῦ

Mächtig im Krieg [war] Jesus Nave und Nachfolger des Mose in Prophezeiungen, der gemäß seinem Namen groß wurde222 zur223 Rettung seiner Auserwählten,

(1e)

ἐκδικῆσαι ἐπεγειρομένους ἐχθρούς

(1 f ) (2a)

ὅπως κατακληρονομήσῃ τὸν Ισραηλ ὡς ἐδοξάσθη ἐν τῷ ἐπᾶραι χεῖρας αὐτοῦ

(2b)

καὶ ἐν τῷ ἐκτεῖναι ῥομφαίαν ἐπὶ πόλεις

(3a) (3b) (4a)

τίς πρότερος αὐτοῦ οὕτως ἔστη ; τοὺς γὰρ πολέμους κυρίου αὐτὸς ἐπήγαγεν οὐχὶ ἐν χειρὶ αὐτοῦ ἐνεποδίσθη ὁ ἥλιος

(4b) (5a) (5b) (5c) (5d)

καὶ μία ἡμέρα ἐγενήθη πρὸς δύο ; ἐπεκαλέσατο τὸν ὕψιστον δυνάστην ἐν τῷ θλῖψαι αὐτὸν ἐχθροὺς κυκλόθεν καὶ ἐπήκουσεν αὐτοῦ μέγας κύριος ἐν λίθοις χαλάζης δυνάμεως κραταιᾶς

(6a) (6b)

κατέρραξεν ἐπ᾽ ἔθνος πόλεμον καὶ ἐν καταβάσει ἀπώλεσεν ἀνθεστηκότας

(6c)

ἵνα γνῶσιν ἔθνη πανοπλίαν αὐτοῦ

um Feinden, die sich erhoben hatten, zu vergelten, damit er Israel zum Erben mache. Wie wurde er verherrlicht, als er seine Hände erhob und als er ein Schwert gegen Städte ausstreckte. Wer vor224 ihm stand derart fest? Denn die Kriege des Herrn führte er. Wurde nicht durch seine Hand die Sonne gehindert und [wurde nicht] ein Tag zu zweien? Er rief den Höchsten, den Starken, an, als er Feinde von allen Seiten bedrängte, und es erhörte ihn der große Herr, mit Steinen des Hagels von mächtiger Stärke. Er warf Krieg auf ein Volk hin und auf einem Abstieg vernichtete er Widersetzliche, damit Völker seine volle Rüstung erkennen,

220 Vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 459. 221 Vgl. Ziegler, Sirach, 341–342. Auch die Polyglotte von Vattioni übernimmt den griechischen Text Zieglers textkritischer Edition. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 248 und 250 (siehe auch die einleitende Bemerkung des Herausgebers in: Vattioni, Introduzione, LIV). Ziegler stimmt mit Rahlfs überein, außer der Lesart Ἰησοῦς υἱὸς Ναυη in Sir 46,1a. 222 Das Verb ἐγένετο „er wurde“ gehört im griechischen Text zu V. 1c. 223 Die EÜ 2016 misst der Präposition ἐπὶ kausale Bedeutung (i. S. v. „aufgrund“) bei. Die nachfolgenden V. 1e–f in G I sowie die anderen Sprachfassungen der Josuaperikope weisen jedoch darauf hin, dass sie final (i. S. v. „um zu“) zu verstehen ist. Vgl. Bauer, ἐπὶ, 519–520. 224 Andere Übersetzungsmöglichkeiten: „früher“ oder „überlegen“.

216  (6d) (6e)

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

ὅτι ἐναντίον κυρίου ὁ πόλεμος αὐτοῦ225 καὶ γὰρ ἐπηκολούθησεν ὀπίσω δυνάστου227

dass sein Krieg vor226 dem Herrn [geht]; denn auch er folgte dem Starken nach.

Um die Textkritik der zu untersuchenden Perikope ansatzweise anzudeuten, sollen nun einige Wortlautabweichungen der Majuskel Codex Vaticanus Graecus 1209228 von dem oben abgedruckten griechischen Text kurz vorgestellt werden. Der erste Unterschied besteht darin, dass diese Majuskel in V. 1a ἐν πολέμοις „in Kriegen“ statt ἐν πολέμῳ „im Krieg“ liest. Zwar stimmt es, dass der Gebrauch der Pluralform vom Enkel des Verfassers öfters bevorzugt wird,229 hier könnte es sich jedoch um eine sekundäre Angleichung an den parallelen Ausdruck ἐν προφητείαις „in Prophezeiungen“ im darauffolgenden V. 1b handeln (vgl. dagegen die Singularform ‫„ בנבואה‬in der Prophezeiung“ bzw. „im Prophetentum“ in Ms. B und ‫„ ܒܢܒܝܘܬܐ‬in, gemäß der Prophezeiung“ in Syr).230 Die Ursprünglichkeit der singularischen Wendung ἐν πολέμῳ wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass sie im größeren Maße als die Pluralform πολέμους in V. 3b einer grundsätzlichen Einschätzung Josuas dient.231 Zu seinem in V. 1a erwähnten Namen, der in Kap. 4.2.2 und Exkurs 7 eigens thematisiert wird, sei hier nur angemerkt, dass während ihn die Rahlfs’sche Edition – mit dem Codex Vaticanus – kurz als Ἰησοῦς Ναυη „Jesus Nave“ wiedergibt (vgl. Vg: Iesus Nave), bevorzugt Zieglers Edition die längere Form: Ἰησοῦς υἱὸς Ναυη „Josua, Sohn des Nave“ (vgl. Ms. A: ‫ יהושע בן נון‬/ Syr: ‫„ ܝܫܘܥ ܒܪܢܘܢ‬Josua, der Sohn Nuns“ und die Nova Vulgata: Iesus filius Nave232). Der genannte Majuskelkodex liest alsdann in V. 1 f κληρονομήσῃ statt κατακληρονομήσῃ.233 Die innere Kritik (hier: lectio difficilior probabilior) spricht allerdings dafür, dass die letzte Variante ursprünglich und die Lesart des Kodex B vermutlich Ergebnis einer späteren Entwicklung ist.

225 Alternative Lesart: αὐτῶν. 226 Andere Übersetzungsmöglichkeiten: „gegen“ oder „gegenüber“. 227 Manche Ausgaben (vgl. Ziegler, Vattioni und LXX.D) ordnen den Satz dem V. 6 zu, während ihn die Rahlfs’sche Edition bereits als V. 7 zählt. 228 Sir  46,1–6 im Codex Vaticanus, p. 886, kann unter: http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat. gr.1209/0890, geöffnet werden; zuletzt am 17.08.2017. 229 Vgl. Reiterer, Urtext, 61. ̈ „die Propheten“ in Sir 39,1 (der hebräi230 Vgl. ἐν προφητείαις „mit Prophezeiungen“ / ‫ܢܒܝܐ‬ sche Text fehlt) und ‫„ בנבואתם‬in ihrer Prophezeiung“ / ἐν προφητείαις „mit Prophezeiungen“ / ‫„ ܒܢܒܝܘܬܗܘܢ‬in ihrer Prophezeiung“ in Sir 44,3. 231 Vgl. Elßner, Josua, 28. 232 Es handelt sich hier nicht um einen relevanten Textzeugen, sondern um die offiziell-kirchliche Vulgataübersetzung, die nach dem modernen Stand der Textkritik überarbeitet wurde. 233 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 394.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 217

Außerdem verwendet der Vaticanus in V. 3a das rein temporale neutrale Adjektiv πρότερον (oft als Adverb:234 „früher, in früheren Zeiten“),235 was sowohl durch die kirchenslawische Sirachversion (преже236) als auch einige aktuelle Übersetzungen der LXX unterstützt wird.237 Dagegen bevorzugen Rahlfs’ und Zieglers Editionen – mit den Kodizes ‫ א‬und A – das mehrdeutige maskuline Adjektiv πρότερος, das je nach dem Kontext entweder zeitlich („früher“238, hier: i. S. eines Dienstvorgängers), räumlich („vor“239, hier: i. S. eines Gegners) oder als Vorrang („überlegen“240) zu verstehen ist.241 Die letzte Bedeutungsnuance bevorzugt beispielsweise die LXX.D: „Wer war ihm überlegen, wie er dastand?“, auch wenn sie nebenbei auf die temporale Bedeutung von πρότερος i. S. v. „ersterer, früherer, vorangehender“ verweist. Aufgrund der vom Enkel Sirachs gewählten Wortstellung wäre aber das Adjektiv in erster Linie temporal zu verstehen, was zusammen mit dem Adverb οὕτως „so, derart“242, die Unbesiegbarkeit Josuas unterstreicht, die in der Geschichte Israels keinesgleichen findet (vgl. Jos 1,5–7; 10,8). Die oben genannte dreifache Bedeutung bewahrt nicht nur die Präposition ante243 in der lateinischen Version der analysierten Sirachstelle (quis ante illum sic restitit244 „Wer vor ihm hat so Widerstand geleistet?“245), sondern auch der Präpositionalausdruck ‫ ִל ְפנֵ י‬246 im erhaltenen hebräischen Text: ‫„ מי הוא לפניו יתיצב‬Wer [ist] dieser, der vor ihm standhalten wird?“, wenngleich dem letzteren wegen des militärischen Kontextes (vgl. Jos 7,12) und der Verbindung mit dem Verb ‫ יצב‬Hithpaʿel „standhalten“ (vgl. Jos 1,5:247 ‫יְמי ַחּיֶ יָך‬ ֵ ‫„ לֹא־יִ ְתיַ ֵּצב ִאיׁש ְל ָפנֶ יָך ּכֹל‬Es soll niemand vor dir standhalten können, alle Tage deines Lebens“) eher eine räumliche Bedeutung beizumessen 234 Vgl. Liddell, πρότερος IV, πρότερον, 1535. 235 Vgl. Lust (Bd. 2), πρότερον, 407. Vgl. Gen 26,1. 236 Vgl. Turkonyak, Ostroher Bibel, 1100: кто преже е҆го си́ це ста̀ „Wer vor ihm stand derart?“. 237 Z. B. die Übersetzung der LXX ins Ukrainische: „Хто перед ним так став?“ „Wer vor ihm stand derart?“ (Turkonyak, Ostroher Bibel, 1100), ins Polnische: „Kto przed nim był mu podobny?“ „Wer vor ihm war ihm gleich?“ (Brzegowy, Mądrość Syracydesa, 1632), und ins Italienische: „Chi prima di lui era stato così saldo?“ „Wer vor ihm war so standhaft?“ (Filippi, Siracide, 1649). 238 Vgl. Sir 1,4. 239 Vgl. Ex 33,19. 240 Vgl. Weish 7,29. 241 Vgl. Lust (Bd. 2), πρότερος, 407 und Menge, πρότερος, 602. 242 Vgl. Bauer, οὕτω / οὕτως, 1087. 243 Vgl. Menge / Güthling, ante, 52. 244 Die Nova Vulgata lässt das Wort sic weg: Quis ante illum restitit? Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen relevanten Textzeugen, sondern nur um eine moderne textkritische Meinung. 245 Der Stelle Sir 46,3a entspricht in der Vg Sir 46,4a. 246 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ל ְפנֵ י‬, ִ 647–648. 247 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫יצב‬, 311–312.

218 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

wäre. Analog dazu kann auch die in der syrischen Version gebrauchte Präposition ‫„ ܩܕܡ‬vor, bevor“ zeitlich oder – hier wahrscheinlicher – räumlich aufgefasst werden:248 ‫„ ܡܢܘ ܡܫܟܚ ܠܡܩܡ ܩܕܡܘܗܝ‬Wer kann vor ihm standhalten?“ i. S. v. „Wer kann sich ihm widersetzen?“ Noch gewichtiger für die Theologie des Textes scheint der von Rahlfs und Ziegler abweichende Wortlaut von V. 3b im Codex Vaticanus: τοὺς γὰρ πολεμίους κύριος αὐτὸς ἐπήγαγεν zu sein. Da hier der Titel κύριος im Nominativ statt des Genitivs (vgl. κυρίου im Codex Alexandrinus) gebraucht wird, wird nicht der Nachfolger des Mose, sondern Gott zum Subjekt des Satzes: „Denn die Kriege hat der Herr selbst geführt“. Dies unterstützen auch die bereits erwähnte alternative Lesart des Hebräers: „Denn JHWH [führte] Kriege (‫“)מ ְל ָחמֹות‬ ִ und der Textbefund der Vg: nam hostes ipse Dominus perduxit249 „Die Feinde hat nämlich der Herr selbst hingeführt“. Für die persönliche Kriegsführung durch Josua sprechen allerdings die Nova Vulgata: Nam bella Domini ipse perduxit „Denn die Kriege des Herrn hat er selbst geführt“ und die von Rahlfs bevorzugte Lesart des Vaticanus in V. 6d: ὁ πόλεμος αὐτοῦ „sein [scil. Josuas] Krieg“, obwohl Ziegler und Vattioni an dieser Stelle den Vorrang der pluralischen Formulierung ὁ πόλεμος αὐτῶν „ihr Krieg“ geben, was wiederum an die possessivpronominale Fügung des hebräischen Textes ‫מלחמתם‬ „ihre Kriege“ (d. h. die durch Feinde gegen Israel geführte Kriege250) erinnert. Auf Josua als das grammatikalische Subjekt des Satzes und somit den erfolgreichen Heerführer verweisen ferner der status emphaticus mit folgendem ‫ܕ‬: ‫ܩܪܒܗ ܕܡܪܝܐ‬ „der Krieg des Herrn“, der in V. 3b im Syrischen als Ausdruck des Genitivverhältnisses gebraucht wird, sowie der gesamte Kontext von Sir 46,1–6. Diese bemerkenswerten Schwankungen bezüglich der Frage, wer der eigentliche Feldherr Israels sei, können durchaus einen theologischen Hintergrund haben. Weil sich nämlich Josua bedingungslos in den Dienst JHWHs stellte und getreu nach dem göttlichen Heilsplan vorging (vgl.  V.  6e), war es letztendlich Gott, der den Krieg mit den Feinden lenkte.251 Denn auch wenn der Sohn Nuns das unmittelbare Kommando über das israelitische Heer hatte, konnte ein dauernder Sieg über die Feinde weder durch seine kluge Kampftaktik noch durch seine Tapferkeit, sondern erst durch außerordentliche Wetterphänomene, das Sonnenwunder in V.  4 und das Hagelunwetter in V.  5d, herbeigeführt werden, die laut V. 5a von Gott erbeten wurden. Dass es schließlich mehr Widerständler waren, „die durch die Hagelsteine umkamen, als die, welche die Söhne Israel mit dem Schwert 248 Vgl. Smith / Smith, ‫ܩܕܡ‬, 490. 249 Laut Peters kommt die lateinische Übersetzung durch den Textfehler des Kodex B zustande, der fälschlicherweise πολεμίους statt πολέμους liest. Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 395. 250 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 395. 251 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 337.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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umbrachten“ (Jos 10,11), zeigt deutlich, dass die erste Ursache der „Rettung seiner Auserwählten“ in V. 1d Gott selbst war, was die Bibel immer wieder bezeugt.252 Im Unterschied zu den geschilderten textkritischen Schwierigkeiten bei der Analyse der hebräischen und der griechischen Fassung der Josuaperikope werden in der Peschitta-Version nur wenige unbedeutende Abweichungen zwischen den vorhandenen Textzeugen festgestellt.253 Zu nennen ist etwa die einleitende appositionelle Fügung in V. 1a, wo der Codex Ambrosianus (7a1) ‫„ ܓܢܒܪ ܚܝܐܠ‬Kämpfer, Held“254, der Londoner Kodex (7h3) aber ‫ ܒܪ ܚܝܐܠ‬liest, wohl in Anlehnung an ‫בן חיל‬ in Ms. A. Während jedoch der hebräische idiomatische Ausdruck ‫ן־חיִ ל‬ ַ ‫( ֶּב‬wörtlich: 255 256 „ein tapferer Sohn“ bzw. „Sohn der Tapferkeit“ ) als „ein kriegstüchtiger, tapferer Mann“257 übersetzt werden kann, bedeutet ‫ ܒܪ ܚܝܐܠ‬im Syrischen „Soldat“258. Diese Beobachtung zeigt, dass 7h3 zwar der Form nach, 7a1 aber dem Sinn nach dem hebräischen Text nähersteht. Darüber hinaus unterscheiden sich die beiden syrischen Handschriften dadurch, dass 7a1 in V. 2b die Singularform ‫ܡܕܝܢܬܐ‬ ̈ „Stadt“ (vgl. ‫ עיר‬in Ms. B) anstelle von ‫ܡܕܝܢܬܐ‬ „Städte“ (vgl. πόλεις in G I), in V. 4a ̈ jedoch die Pluralform ‫„ ܒܐܝܕܘܗܝ‬durch seine Hände“ anstelle von ‫„ ܒܐܝܕܗ‬durch seine Hand“ hat (vgl. Sing. ‫ בידו‬in Ms. B und ἐν χειρὶ in G I), wobei die beiden letzten Formen i. S. v. „durch ihn, mit seiner Hilfe“ austauschbar sind.259 Syrische Version (1a) (1bc) (1d)

‫ܓܒܪܐ ܓܢܒܪ ܚܝܐܠ ܝܫܘܥ ܒܪܢܘܢ‬ ‫ܒܢܒܝܘܬܐ ܐܬܢܛܪ ܠܡܗܘܐ ܐܝܟ‬ ‫ܡܘܫܐ ܪܒܐ‬ ‫ܠܡܝܬܝܘ ܒܐܝܕܗ ܦܘܪܩܢܐ ܠ̈ܪܚܡܘܗܝ‬

Deutsche Übersetzung Ein Mann, ein Kämpfer [war] Josua, der Sohn Nuns. Gemäß der Prophezeiung ist er bewahrt worden, um wie der große Mose zu sein,260 um durch seine Hand261 die Erlösung für seine Freunde zu bringen,

252 Vgl. Ps 20,8: „Diese denken an Wagen und jene an Rosse, wir aber denken an den Namen des HERRN, unseres Gottes“. 253 Zum syrischen Text von Sir 46,1–6 vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 249 und 251 (7h3) sowie Calduch-Benages, Text, 248–249 und 251 (7a1). 254 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ ܓܢܒܪ ܚܝܐܠ‬, 61 (aramäisch). 255 Elßner, Josua, 27. 256 Vgl. Meister, Ben-Hail, 71. Das Wort ‫„ ֵּבן‬Sohn“ in Verbindung mit einer Eigenschaft bezeichnet denjenigen, der sie besitzt. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ּבן‬, ֵ 103–104. 257 Vgl. 1 Sam 14,52: ‫ן־חיִ ל‬ ַ ‫ל־ּב‬ ֶ ‫ל־איׁש גִ ּבֹור וְ ָכ‬ ִ ‫„ וְ ָר ָאה ָׁשאּול ָּכ‬Wenn Saul irgendeinen tapferen und kampffähigen Mann sah“. 258 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ ܒܪ ܚܝܐܠ‬, 47 (aramäisch). 259 Vgl. Smith / Smith, ‫ܝܕ‬, 186. 260 Alternative Lesart: „In der Prophezeiung ist es bewahrt worden, dass er wie der große Mose werde“. 261 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „durch ihn“. Vgl. auch V. 4a und 5b.

220  (1e) (1 f )

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

̈ ‫ܘܠܡܬܦܪܥܘ ܡܢ ܓܒ̈ܪܐ‬ ‫ܣܢܐܐ‬ ̈ ‫ܘܠܡܘܪܬܘ‬ ‫ܠܒܢܝ ܐܝܣܪܝܠ ܐܪܥܐ‬

(2b) (3a) (3b) (4a) (4b) (5a)

‫ܕܡܘܠܟܢܐ‬ ‫ܡܐ ܝܐܐ ܠܗ ܟܕ ܡܪܝܡ ܒܢܝܙܟܐ‬ ‫ܕܒܐܝܕܗ‬ ‫ܘܟܕ ܡܢܝܦ ܥܠ ܡܕܝܢܬܐ‬ ‫ܡܢܘ ܡܫܟܚ ܠܡܩܡ ܩܕܡܘܗܝ‬ ‫ܡܛܠ ܕܩܪܒܗ ܕܡܪܝܐ ܗܘ ܥܒܕ‬ ‫ܡܛܠ ܕܒܐܝܕܗ ܩܡ ܫܡܫܐ‬ ̈ ‫ܘܗܘܐ ܝܘܡܐ ܚܕ ܬ̈ܪܝܢ‬ ‫ܝܘܡܝܢ‬ ‫ܡܛܠ ܕܨܠܝ ܩܕܡ ܡܪܝܐ ܘܥܢܝܗܝ‬

(5b) (5c) (5d) (6a) (6b) (6c)

‫ܘܝܗܒ ܒܐܝܕܗ ܬܘܩܦܐ‬ ̈ ‫ܒܟܐܦܐ ܕܒܪܕܐ‬ ‫ܘܥܢܝܗܝ‬ ‫ܘܟܒܪܝܬܐ ܡܢ ܫܡܝܐ ܐܚܬ‬ ‫ܘܚܒܛ ܥܠ ܥܡܐ ܣܢܐܐ‬ ‫ܘܐܘܒܕ ܠܟܠܗܘܢ‬ ̈ ‫ܥܡܡܐ ܚ̈ܪܡܐ‬ ‫ܘܝܕܥܘ ܟܠܗܘܢ‬

(6d) (6e)

‫ܕܐܠܗܐ ܗܘ ܐܩܪܒ ܥܡܗܘܢ‬ ‫ܘܐܦ ܗܘ ܫܠܡ ܒܬܪ ܐܠܗܐ‬

(2a)

und um den feindlichen Männern zu vergelten und um die Söhne Israels das Land der Verheißung erben zu lassen. Wie ziemt es ihm, wenn er den Dolch erhebt, der in seiner Hand [ist], und wenn er [ihn] gegen eine Stadt schwingt. Wer kann vor ihm standhalten?262 Denn den Krieg des Herrn hat er selbst geführt. Denn durch ihn263 ist die Sonne stehen geblieben und ein Tag wurde zu zwei Tagen. Denn er hat vor dem Herrn gebetet und er hat ihm geantwortet und er hat in seine Hand die Macht gegeben und er hat ihm mit Hagelsteinen geantwortet und er hat Schwefel vom Himmel herabfallen lassen. Und er hat das feindliche Volk geschlagen und er hat sie alle vernichtet und alle dem Bann [verfallenen] Völker haben [es] erkannt, dass Gott selbst mit ihnen gekämpft hatte, und auch er ist Gott nachgefolgt.

4.2.2 Hermeneutik der Sprachversionen Obwohl die antiken Fassungen der Josuaperikope eine relativ hohe inhaltliche Übereinstimmung aufweisen, lässt ihr Vergleich einige Abweichungen erkennen und entsprechende hermeneutische Beobachtungen anstellen. Der erste Unterschied kommt bereits in V. 1a vor, wo der Grieche das oben erwähnte hebräische Idiom ‫„ בן חיל‬ein kriegstüchtiger, tapferer Mann“ sinngemäß mit (κραταιὸς) ἐν πολέμῳ „(mächtig) im Krieg“ wiedergibt, was ihm dann ermöglicht, zwei parallele Sequenzen mit der Kampfterminologie zu bilden (vgl. Kap. 4.2.5). Ferner stehen in V. 1bc in Ms. A und G I zwei Satzteile, während der Syrer nur ein Kolon hat, wobei es sich vermutlich um eine Tendenz der Peschitta handelt (vgl. Kap. 3.1.1).264 Dazu fällt auf, dass sich das Adjektiv „groß“, das im hebräischen Text in V. 1d die Rettung beschreibt (‫)תשועה גדלה‬, beim Enkel in V. 1d auf Josua (ὃς ἐγένετο μέγας) und in Syr in V. 1bc auf Mose bezieht (‫)ܡܘܫܐ ܪܒܐ‬. Die zuletzt genannte Stelle

262 Alternativer Übersetzungsvorschlag: „Wer kann sich ihm widersetzen?“. 263 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „durch seine Hand“. Vgl. auch V. 5b. 264 Die Peschitta-Version bietet oftmals einen kürzeren Text. Vgl. Reiterer, Urtext, 34–49 und 238.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 221

enthält außerdem das Verb ‫„ ܐܬܢܛܪ‬er [scil. Josua] ist bewahrt, verschont worden“ anstatt von ‫„ נוצר‬er wurde gebildet“265 (passivum divinum), wodurch ein neuer Querbezug zu Sir 46,8; Num 14,30 und Dtn 1,35–39 entsteht (vgl. Kap. 4.2.4). Dabei bleibt offen, ob es sich hier um den eigenen Beitrag des syrischen Übersetzers oder eine Übernahme der bereits modifizierten Vorlage handelt. Ein weiteres Beispiel der hermeneutischen Eigenart der Versionen stellt die von Sirachs Enkel in V. 1c hinzugefügte Erklärung zum theophoren Namen „Josua“ (‫הֹוׁש ַ ע‬ ֻ ְ‫ י‬bzw. ‫„ יֵ ׁשּו ַ ע‬JHWH [ist] Hilfe“266; vgl. ‫ׁשּועה‬ ָ ְ‫„ י‬Hilfe, Heil, Glück“267) dar, der den Lesern in der alexandrinischen Diaspora nur noch als befremdlich erschienen sein müsste: Statt ‫„ אשר נוצר להיות בימיו‬der gebildet wurde, um in seinen Tagen“ liest die LXX: ὃς ἐγένετο κατὰ τὸ ὄνομα αὐτοῦ „der gemäß seinem Namen wurde“, damit das allein im Hebräischen verständliche Wortspiel zwischen dem inhaltsreichen Vornamen des Hauptakteurs in V. 1a und der in V. 1d angegebenen Bestimmung seines Trägers, Israels „Rettung“ (‫ׁשּועה‬ ָ ‫ ְּת‬/ σωτηρία)268 269 270 zu sein, auch von den griechischsprachigen Adressaten dieses Textes nachvollzogen werden konnte. Obwohl die genannte Etymologie auch dem Syrischen fremd ist, fügte die Peschitta dem in V. 1d für ‫ תשועה‬stehenden Wort ‫„ ܦܘܪܩܢܐ‬Erlösung, Rettung“ keine weiteren Erklärungen hinzu. Dies war wahrscheinlich für die christlichen Leser überflüssig, weil sie die Bedeutung des Namens „Jesus“ (‫ )ܝܫܘܥ‬bereits aus dem NT kannten271 (vgl. Exkurs 7).

265 Das Wort kann auch als Part. gelesen werden: „er ist gebildet“. Vgl. Elßner, Josua, 37 (Fußnote 112). 266 Vgl. Meister, Josua, 198 und Görg, Josua, 8. 267 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ יֵ ׁשּו ַ ע‬/ ‫ׁשּועה‬ ָ ְ‫י‬, 324. Das feminine Substantiv ‫ׁשּועה‬ ָ ְ‫ י‬mit der bedeutungslosen Endung â kommt vom Verb ‫ יׁשע‬Hifʿil: „retten, befreien, helfen“. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫יׁשע‬, 325. 268 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ׁשּועה‬ ָ ‫ּת‬, ְ 891 und Barthélemy / Rickenbacher, Konkordanz, 431. 269 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 394. 270 Vgl. Wright, Translation Greek, 86 und 94. 271 Vgl. Lk 2,11: ὅτι ἐτέχθη ὑμῖν σήμερον σωτὴρ ὅς ἐστιν χριστὸς κύριος ἐν πόλει Δαυίδ „Denn euch ist heute ein Retter geboren, der ist Christus, der Herr, in Davids Stadt“ / ‫ܝܠܕ ݂ܠܟܘܢ ݁ܓܝܪ‬ ݂ ݂ ‫ܐܬ‬ ‫ܘܝܕ‬ ݂ ‫„ ܝܘܡܢܐ ݁ܦܪܘܩܐ ݁ܕ‬Denn euch ist heute ein Erlöser geboren, der ist ݂ ‫ܡܕܝ ݈ܢ ݁ܬܗ ݁ܕ ݂ܕ‬ ݂ ‫ܘܗܝ ܡܪܝܐ ܡܫܝܚܐ ݁ܒ‬ ݈ ‫ܐܝܬ‬ der Herr, Messias, in der Stadt Davids“ (Die Heilige Bibel, 74 (NT)), und Mt 1,21: τέξεται δὲ υἱόν, καὶ καλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἰησοῦν· αὐτὸς γὰρ σώσει τὸν λαὸν αὐτοῦ ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν αὐτῶν „Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein ̈ Volk erretten von seinen Sünden“ / ‫ܚܛܗܝܗܘܢ‬ ‫ܘܬܩܪܐ ܫܡܗ ܝܫܘܥ ܗܘ ݁ܓܝܪ ܢܚܝܘܗܝ ܠܥܡܗ ܡܢ‬ ݂ ‫ܐܠܕ ݁ܕܝܢ ݁ܒܪܐ‬ ݂ ‫݁ܬ‬ „Sie wird aber einen Sohn gebären und seinen Namen Jesus rufen, denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten“ (Die Heilige Bibel, 1 (NT)). Im Syrischen wird hier das Verb ‫ ܚܝܐ‬Afʿel „beleben, am Leben erhalten“ gebraucht i. S. v. „er wird sein Volk aus ihren Sünden ins Leben zurückholen“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܚܝܐ‬, 139.

222 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Kleinere Abweichungen treten außerdem in V. 1e auf, wo in der griechischen Version der Ausdruck „Feinde“ durch das Partizip ἐπεγειρομένους „die sich erhoben hatten“272 erweitert wurde, und im gesamten Aufbau von V. 1c–f. Denn während hier G I drei unterschiedliche grammatikalische Formulierungen, nämlich den Präpositionalausdruck ἐπὶ σωτηρίᾳ „zur Rettung“ in V. 1d, den Inf. Aorist ἐκδικῆσαι „zu vergelten“ in V. 1e und die finite Verbform κατακληρονομήσῃ (Konjunktiv Aorist) „er mache zum Erben“ in V. 1 f enthält, gebrauchen Ms. A und Syr mehrmals den Inf. constr. Dazu unterscheiden sich die einzelnen Sirachfassungen bezüglich des von Josua in V. 2a erhobenen Objekts: In Ms. A handelt es sich um seine Hand, in G I um die beiden Hände und in Syr um eine Waffe, deren Name in V. 2b variiert. So bezeichnet der Hebräer diese Bewaffnung als ‫ּכידֹון‬, ִ was gewöhnlich mit „Speer“273 oder „(Wurf)spieß“274 wiedergegeben wird, während sie der Enkel als ῥομφαία „Schwert“ und der Syrer als ‫„ ܢܝܙܟܐ‬Dolch“ bzw. „Lanze, Speer“275 benennen.276 Diese Diskrepanz lässt sich teilweise durch die Beschreibung von ‫ ִּכידֹון‬in der Kriegsrolle von Qumran (vgl. 1QM 5,11–14) erklären, wo diese Waffe als eine Art Schwert geschildert wird.277 Allerdings wird ‫ ִּכידֹון‬/ ‫ ܢܝܙܟܐ‬in der Darstellung des Kampfes zwischen David und Goliat in 1 Sam 17,45 eigens neben ‫ ֶח ֶרב‬/ ῥομφαία / ‫ܣܝܦܐ‬278 „Schwert“279 aufgezählt, sodass es sich hier eher um ein „Sichelschwert“ bzw. „Krummschwert“ handelt.280 Hierzu ist zu erwähnen, dass die in V. 2b gebrauchte Bezeichnung ‫ ִּכידֹון‬/ ‫ܢܝܙܟܐ‬281 bereits im Bezugstext über den Kampf gegen die Stadt Ai in Jos 8,18 vorkommt. An der entsprechenden Stelle in der LXX hält aber der Protagonist in seiner Hand einen γαῖσος „Speer“, anstatt von ῥομφαία. Dies zeigt, dass der Enkel hier nicht, wie vielleicht erwartet, dem griechischen Josuatext folgt, sondern er übersetzt höchstwahrscheinlich direkt aus dem Hebräischen, wie es vermutlich auch in Sir 36,11 der Fall ist (vgl. Exkurs 3). Ein hermeneutischer Unterschied besteht ferner darin, dass die Peschitta in V. 5a ein zusätzliches Verb ‫„ ܥܢܐ‬erhören, antworten“ neben ‫ ענה‬/ ἐπακούω / ‫ ܥܢܐ‬in 272 Vgl. Bauer, ἐπεγείρω, 513. 273 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 394–395. 274 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ּכידֹון‬, ִ 343. 275 Vgl. Smith / Smith, ‫ܢܝܙܟܐ‬, 338 und Hanna / Bulut, ‫ܢܝܙܟܐ‬, 255 (aramäisch). 276 Vgl. die gleichen Schwankungen in den kirchenslawischen Bibelausgaben: копїе „Lanze“ in der Ostroher Bibel von 1580/1581 (vgl. Turkonyak, Ostroher Bibel, 1100) und мечь „Schwert“ in der Elisabeth-Bibel von 1751 (vgl. Elisabeth-Bibel, 1164; hier allerdings als V. 3). Zur Definition der beiden kirchenslawischen Lexeme vgl. Zweite Abteilung, Копіе, 201 und Мечъ, 302. 277 Vgl. Molin, What is a kidon, 334. 278 Die Heilige Bibel, 245 (AT). 279 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܣܝܦܐ‬, 274 (aramäisch). 280 Vgl. Elßner, Josua, 35 und Zapff, Jesus Sirach, 337. 281 Vgl. Erbes, Joshua, 19.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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V. 5c enthält. Dadurch wird das Klage-Erhörungs-Paradigma deutlich verstärkt, was wiederum an ‫ ܥܢܐ‬in Sir 2,10d und ‫„ ܫܡܥ‬hören“ (zweimal) in Sir 2,11bc erinnert (vgl. Kap. 3.1.7). Dazu wird neben dem Hagel zusätzlich ‫„ ܟܒܪܝܬܐ‬Schwefel“ in V. 5d als Strafe für die Feinde Israels genannt, wobei es sich um eine Anspielung auf Gen 19,24 handeln kann.282 Weil diese Passage auf Hebräisch nicht vorhanden ist, kann leider nicht eingeschätzt werden, wie groß der eigene Interpretationsbeitrag des syrischen Übersetzers war. Der Vergleich mit dem hebräischen Text entfällt auch bei ἀνθεστηκότας „Widersetzliche“283 in V. 6b, wo die Peschitta nur ‫„ ܠܟܠܗܘܢ‬sie alle“ hat. Dazu fällt auf, dass der Bann in V. 6c in Ms. B und Syr, dem ̈ die heidnischen Völker verfallen waren (‫ גוי חרם‬/ ‫)ܥܡܡܐ ܚ̈ܪܡܐ‬, durch den Enkel offensichtlich ausgelassen wurde (vgl. dagegen ‫ גוי חרם‬/ ἔθνος ἀπωλείας / ‫ܥܡܐ‬ ‫ ܚܪܡܐ‬in Sir 16,9). Dies zeigt, dass der Übersetzer, der in der jüdischen Diaspora in Unterägypten wirkte, bisweilen auch Rücksicht auf die zeitgenössische politische Situation nahm (vgl. Exkurs 9). Die letzte Abweichung zwischen den einzelnen Sprachfassungen, auf die hier noch einzugehen ist, betrifft den Grad der Beteiligung Gottes am Krieg in V. 6d. Während der Syrer eine direkte göttliche Ingerenz bei den militärischen Angelegenheiten der Israeliten voraussetzt: ‫„ ܕܐܠܗܐ ܗܘ ܐܩܪܒ ܥܡܗܘܢ‬dass Gott selbst mit ihnen [scil. mit den dem Bann verfallenen Völkern] gekämpft hatte“, sind Ms. A und G I zurückhaltender, indem sie Gott beinahe als einen mehr oder weniger neutralen Schiedsrichter schildern: ‫„ כי צופה י]יי[ מלחמתם‬dass [JHWH] auf ihre Kriege achtet“ / ὅτι ἐναντίον κυρίου ὁ πόλεμος αὐτοῦ284 „dass sein Krieg vor dem Herrn [geht]“. Die Lösung dieser Spannung scheint einerseits rein formaler Natur zu sein, und zwar dergestalt, dass die griechische Präposition ἐναντίον sowohl „gegen“ (i. S. v. „dass ihr Krieg gegen den Herrn geht“285) als auch „gegenüber“286 bzw. „vor“287 bedeuten kann,288 sodass das Präpositionalgefüge „ἐναντίον τοῦ θεοῦ“ als „vor Gott“ zu verstehen ist.289 Eine solche Lesart von V. 6d bevorzugt beispielsweise die kirchenslawische Sirachversion: ꙗ҆́ко преⷣ гм҃ ъ бра́нь [е҆го]290 „dass [sein] Krieg vor dem Herrn [geht]“.291 Andererseits ent282 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 395. 283 Das Wort ἀνθεστηκότας ist Part. Perf. Aktiv von ἀνθίστημι. Vgl. Bauer, ἀνθίστημι, 122. 284 Vgl. die alternative Lesart αὐτῶν in Kap. 4.2.1. 285 Vgl. Smend, Die Weisheit, 83 (deutsch): „dass der Herr ein Auge hatte auf den Krieg gegen sie“. Vgl. auch Num 14,27. 286 Vgl. Ez 33,31. 287 Vgl. Gen 6,8. 288 Vgl. Lust (Bd. 1), ἐναντίον, 149. 289 Vgl. Bauer, ἐναντίον, 473. 290 Turkonyak, Ostroher Bibel, 1100. 291 Vgl. Sir 17,15: αἱ ὁδοὶ αὐτῶν ἐναντίον αὐτοῦ „Ihre Wege (liegen) vor ihm“.

224 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

spricht die unterschiedliche Hermeneutik der einzelnen Sprachfassungen der theologischen Überlegung, dass die Kriegsführung zwar dem Kriegshelden Josua anvertraut wurde, aber es letztendlich Gott selbst war, der über das Ergebnis kriegerischer Maßnahmen entschied, wie es bereits anlässlich der Textkritik von V. 3b angedeutet wurde (vgl. Kap. 4.2.1). Es bleibt allerdings offen, ob die oben genannte Abweichung zwischen Ms. A und Syr bereits von den hebräischen Tradenten oder erst vom syrischen Übersetzer vorgenommen wurde (vgl. Kap. 1.4).

Exkurs 7: Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Namens Josua (Jesus) Die bisherige Analyse der Josuaperikope zeigt, dass ihr Hauptakteur vor allem mit den Kriegen während der Wüstenwanderung und der Landgabe assoziiert wird, was ihn von den anderen Gestalten des Väterlobes unterscheidet. Zur vollen Identifizierung seiner Person bedarf es jedoch der Hinzufügung des Beinamens ‫ בן נון‬/ ‫„ ܒܪܢܘܢ‬der Sohn Nuns“ bzw. Ναυη „Nave“ in V. 1a. Denn im Sirachbuch wird der theophore Name ‫הֹוׁש ַ ע‬ ֻ ְ‫( י‬Yǝhošuaʿ) bzw. ‫( יֵ ׁשּו ַ ע‬Yešuaʿ) / Ἰησοῦς (Jesus) / ‫( ܝܫܘܥ‬ostsyrisch: Išoʿ / westsyrisch: Yešuʿ) / Iesus nicht nur von dem tapferen Nachfolger des Mose getragen, sondern auch vom Sohn des Jozadak, dem Hohepriester und Wiedererrichter des Jerusalemer Tempels in Sir 49,12292: Ἰησοῦς υἱὸς Ιωσεδεκ / ‫ ܝܫܘܥ ܒܪ ܝܘܙܕܩ‬/ Iesus Iosedec,293 und nicht zuletzt vom Autor selbst in Sir Prolog 7; Sir 50,27 und 51,30 (vgl. Kap. 1.3).294 Wissend um die besondere heilsgeschichtliche Rolle der Namensvetter seines Großvaters, lenkte der Enkel die Aufmerksamkeit seiner griechischsprachigen Leser auf den semantischen Inhalt des Vornamens des großen israelitischen Feldherrn in V. 1c: ὃς ἐγένετο κατὰ τὸ ὄνομα αὐτοῦ „der gemäß seinem Namen wurde“ und entschlüsselte ihn dann in V. 1d – wie bereits erwähnt – als „Rettung“ (‫ׁשּועה‬ ָ ‫ ְּת‬/ σωτηρία295). Dabei handelte er ganz im Sinne der jüdischen Tradition, welche um die Bedeutungskraft dieses Namens wusste und die Erinnerung an die nachträgliche Namensänderung bei

292 Die fehlende Passage im hebräischen Ms. B XVIII verso (vgl. Beentjes, Part I–II, 88) wird nach Vattioni mit ‫ יהושע בן יוצדק‬ergänzt. Der Stelle Sir 49,12 entspricht in der Vg Sir 49,14. 293 Vgl. ‫ֹוצ ָדק‬ ָ ֽ‫ יֵ ׁשּו ַ ע ֶּבן־י‬in Esra 2,2; 3,2.8–9; 4,3; 5,2; 10,18; Neh 7,7; 12,1.7.10.26 und ‫הֹוׁש ַ ע‬ ֻ ְ‫ י‬in Sach 3,1.3.6.8.9. Die Prophezeiung in Sach 3,1–10 musste dem Siraziden bekannt sein, da er in Sir 49,10–12 die Zwölf Propheten im gleichen Atemzug mit Serubbabel und Jeschua erwähnt. 294 Im AT werden auch andere Männer mit dem Namen Jeschua  / Jesus erwähnt, sowohl Laien (vgl. Esra 2,6; Neh  3,19; 7,11) als auch Priester bzw. Leviten (vgl.  1  Chr  24,11; 2  Chr  31,15; Esra 2,36.40; Neh 7,39.43; 8,7; 9,4.5; 10,10; 12,8.24). 295 Einmaliger Wortgebrauch im griechischen Sirachbuch. Vgl.  Barthélemy / Rickenbacher, Konkordanz, 431.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 225

Josua aufbewahrte (vgl. Num 13,16: ‫הֹוׁש ַ ע‬ ֻ ְ‫הֹוׁש ַ ע ִּבן־נּון י‬ ֵ ‫„ וַ ּיִ ְק ָרא מ ֶֹׁשה ְל‬Und Mose nannte 296 Hoschea, den Sohn des Nun, Josua“). Für die besagte Namensätiologie lässt sich eine Parallele auch im NT in Mt 1,21 finden: τέξεται δὲ υἱόν, καὶ καλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἰησοῦν· αὐτὸς γὰρ σώσει τὸν λαὸν αὐτοῦ ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν αὐτῶν „Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden“.297 Diese Analogie, verstärkt durch die Namensgleichheit von Josua, Jeschua und Jesus (auf Griechisch heißen sie alle Ἰησοῦς), gibt Anlass zur allegorisch-typologischen298 Interpretation des unbesiegbaren Kriegers Josua299 und des Tempelerbauers Jeschua300 im Hinblick auf Jesus Christus. Eine solche theologische Absicht verrät beispielsweise die Erzählung über die Berufung der Apostel in Joh 1,29–51, die nach der Taufe Jesu und seinem 40-tägigen Fasten in der Wüste erfolgte, wobei einerseits an die zwölf Gedenksteine und die zwölf Männer beim Übergang über den Jordan in Jos 3,12 und 4,1–9301 und andererseits an den 40-tägigen Aufenthalt von Mose und Josua am Sinai in Ex 24,13–17 zu denken ist. Die Ähnlichkeit zwischen dem israelitischen Feldherrn und Jesus aus Nazaret spiegelt sich nicht zuletzt auch darin wider, dass sowohl das Zwiegespräch zwischen Josua und Gott in V. 5a und c als auch die Notiz über Christus in Hebr 5,7–8 nach demselben Klage-Erhörungs-Schema aufgebaut sind: „Der hat in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten (δεήσεις) als auch Flehen mit starkem Geschrei (κραυγῆς) und Tränen dem dargebracht, der ihn aus dem Tod erretten kann, und ist um seiner Gottesfurcht (εὐλαβείας) willen erhört worden (εἰσακουσθεὶς) und lernte, obwohl er Sohn (υἱός) war, an dem, was er litt (ἔπαθεν), den Gehorsam“.

Dieses Paradigma verwebt sich hier zusätzlich mit den wichtigsten Themen und Motiven der Weisheitslehre Sirachs, wie etwa dem versuchenden Leiden in Sir 2,1, der Gottesfurcht in Sir  2,7–9.15–17 (vgl.  Kap.  3.1.5) und der Gottessohnschaft in

296 Vgl. auch die Änderung des Vornamens und seine Bedeutung bei Abraham in Gen 17,5 und Jakob in Gen 32,29. 297 Vgl. Apg 4,12 und Phil 2,9–10. 298 Wie etwa im Kommentar zu Sir 46,1 von Rabanus Maurus (gest. 856). Zur lateinischen Vorlage der Migne-Ausgabe vgl. Rabanus, Comment. in Ecclesiasticum (hier: PL 109,1090–1091). Zur englischen Übersetzung dieses Kommentars vgl. ders., On Ecclesiasticus, 392. 299 Vgl.  ῥομφαία „Schwert“ in V.  2b sowie μάχαιρα „Schwert“ in Mt  10,34 und ῥομφαία in Offb 19,15. 300 Vgl. Joh 2,19: „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten“. 301 Origenes parallelisiert den Durchzug durch den Jordan mit dem Tod Christi und dem Taufsakrament. Vgl. Origenes, hom. in Jos. 4, 32–35. Vgl. auch die auf die Apostel bezogene Steinmetapher in Offb 21,12–14.

226 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Sir  4,10 (vgl.  Kap.  3.4.3), zu dem heilsgeschichtlich einzigartigen Geflecht, das versucht, das Leben Jesu zusammenzufassen.

4.2.3 Kontextualisierung und Gliederung Was den Kontext von Sir 46,1–6 angeht, so liegt dieses Textstück über Josua, den Heerführer und Nachfolger des Mose, innerhalb der chronologischen Abfolge der Helden Israels zwischen dem Hohepriester Pinchas in Sir 45,23–26 und dem Sohn Jephunnes Kaleb in Sir 46,7–10. Die Abgrenzung nach vorne lässt sich problemlos erkennen, weil neben der Erwähnung des Namens des Hauptakteurs in V.  1a die vorausgehende, in sich konsistente Pinchasperikope zusätzlich durch das Stichwort δόξα in Sir  45,23.26 flankiert wird. Die unterschiedliche Zuordnung von V.  6e302 zeigt hingegen den diffusen Übergang zum nachfolgenden Bericht über den Kundschafter Kaleb, der zusammen mit Josua das verheißene Land betreten durfte, als einziger aus dem Volk, das aus Ägypten ausgezogen war (vgl. Sir 46,8).303 Bei der Abgrenzung der zu untersuchenden Perikope nach hinten kann allerdings die Erwähnung des Mose in V. 1b und Sir 46,7a hilfreich sein.304 Inhaltlich gesehen lassen sich hier einige, mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf Jos  1, 8, 10, 11 und 14 erkennen, wovon im nächsten Absatz weiter die Rede sein soll. Hier sei nur im Voraus bemerkt, dass auf zwei Geschehen aus der Zeit der Landnahme besonders deutlich hingewiesen wird: die Eroberung des kanaanitischen Stadtstaates Ai (vgl.  Jos  8,1–29) und das spektakuläre Sonnenwunder auf Josuas Geheiß mit dem Sieg bei Gibeon (vgl. Jos 10,1–14).305 Die im besagten Bezugstext geschilderte Chronologie wird allerdings im Sirachbuch ein wenig umgestellt, indem hier das Sonnenwunder noch vor dem verheerenden Hagelschlag thematisiert wird.306 Dabei werden die erwähnten Ereignisse in die folgende konzentrische Struktur eingebettet: (A) der Konsekutivsatz in V. 1 f; (B) die Vernichtung von Ai in V. 2ab; (C) die erste rhetorische Frage in V. 3a; (D) die allgemeine Notiz (Summarium) über die siegreichen Kriege in V.  3b;307 (C’)  die zweite rhetorische Frage in V.  4ab; (B’) die Vernichtung der Feinde bei Gibeon

302 Das in der textkritischen Edition von Ziegler, der Polyglotte von Vattioni, der Textausgabe von Beentjes und der LXX.D als V. 6e eingeordnete Kolon zählt in Rahlfs’ Edition bereits als V. 7a. 303 Vgl. Elßner, Josua, 26. 304 Vgl. auch die formalen Gliederungsmerkmale in Kap. 4.2.5. 305 Vgl. Görg, Josua, 37–41 und 47–51 sowie Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 43–44. 306 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 395. 307 Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 43.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 227

in V. 5a–6b; (A’) der Konsekutivsatz in V. 6c. Umrahmt wird diese Kernstruktur zusätzlich durch die Vorstellung Josuas in V.  1a–e und die Begründung seiner militärischen Erfolge (im Syrischen jedoch ohne Kausalpartikel) durch die Fügsamkeit Gott gegenüber in V. 6e, was eine Gliederung wie in Tab. 15 zur Folge hat. Tab. 15: Die konzentrische Gliederung von Sir 46,1–6 mit den Bezugsstellen im Buch Josua. Verse

Form und Inhalt

Alttestamentliche Bezugstexte

1ab

Vorstellung Josuas

Jos 1,1; 1 Sam 14,52; Syr: Num 14,30; Dtn 1,35–39

1c–f

(A) Ziel / Bestimmung Josuas (‫ ל‬/ ὅπως / ‫)ܠ‬

Jos 10,13a; 1,6; 11,23

2ab

(B) Vernichtung von Ai

Jos 8,1–29, besonders V. 18308

3a

(C) Rhetorische Frage

Jos 1,5; 10,8

3b

(D) Kriege JHWHs / Josuas (Summarium)

Jos 10,14; 1 Sam 18,17

4ab

(C’) Rhetorische Frage / Sonnenwunder

Jos 10,12b–13

5a–6b

(B’) Vernichtung der Amoriter bei Gibeon als GEBETSERHÖRUNG Josuas

Jos 10,1–12a

6cd

(A’) Ziel der Machterweise JHWHs (‫ למען‬/ ἵνα) Syr: Feststellung

Jos 8,26; 10,1; 10,14b

6e

Begründung (‫ כי‬/ γὰρ) Syr: Konjunktion mit ‫ܘ‬

Jos 14,8–9.14 (Kaleb)

4.2.4 Intertextualität Neben den oben angedeuteten Anspielungen auf das Buch Josua enthält die Peschitta-Version der untersuchten Perikope einen weiteren Querbezug zum AT. Denn die Formulierung ‫„ ܒܢܒܝܘܬܐ ܐܬܢܛܪ‬Gemäß der Prophezeiung ist er [scil. Josua] bewahrt worden“ in V. 1b rekurriert auf die göttliche Verheißung in Num 14,30 und Dtn 1,35–39, die auch in Sir 46,8 thematisiert wird (vgl. Kap. 4.2.2). Demzufolge war Josua (zusammen mit Kaleb) der Einzige der über zwanzigjährigen Israeliten, der die beschwerliche Wüstenwanderung überlebt und das Verheißene Land betreten hatte. Dieses Merkmal, das gleichsam die Belohnung für seine Glaubenstreue in V. 6e war, prädisponierte ihn dazu, auf Gottes Geheiß die Kriegsführung während der Periode der Landnahme zu übernehmen, wie es in V. 3b heißt: τοὺς γὰρ πολέμους κυρίου αὐτὸς ἐπήγαγεν „Denn die Kriege des Herrn führte er [scil. Josua]“.

308 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 337.

228 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Diese Notiz, die in der Mitte der oben geschilderten Ringkomposition liegt und bereits den Anlass zu den Überlegungen über die Beteiligung Gottes an der Kriegsführung in Kap. 4.2.1 gegeben hat, knüpft vermutlich an Ex 15,3 an: ‫יְ הוָ ה‬ ‫„ ִאיׁש ִמ ְל ָח ָמה‬Der HERR ist ein Kriegsheld“ (wörtlich: „JHWH ist ein Mann des Krieges“) / κύριος συντρίβων πολέμους „Der Herr (ist jemand), der die Kriege zerܿ schlägt“ / ‫ܓܢܒܪܐ ܘܩܪܒܬܢܐ‬ ‫„ ܡܪܝܐ‬Der Herr [ist] Held und Kämpfer“. Das Echo dieser Aussage hallt außerdem in Ps 24,8: ‫„ יְ הוָ ה ִעּזּוז וְ גִ ּבֹור יְ הוָ ה גִ ּבֹור ִמ ְל ָח ָמה‬Der HERR, stark und mächtig! Der HERR, mächtig im Kampf!“ / κύριος κραταιὸς καὶ δυνατός κύριος δυνατὸς ἐν πολέμῳ „Der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Krieg“ / ‫ܡܪܝܐ ܥܫܝܢܐ ܘܓܢܒܪܐ܂ ܡܪܝܐ ܓܢܒܪܐ ܘܩܪܒܬܢܐ‬309 „Der Herr, der Mächtige und Held, der Herr, Held und Kämpfer“ und Jes 42,13 wider: ‫„ יְ הוָ ה ַּכגִ ּבֹור יֵ ֵצא ְּכ ִאיׁש ִמ ְל ָחמֹות יָ ִעיר ִקנְ ָאה יָ ִרי ַ ע ַאף־יַ ְצ ִר ַיח ַעל־א ָֹיְביו יִ ְתגַ ָּבר‬Der HERR zieht aus wie ein Held, wie ein Kriegsmann weckt er den Eifer. Er erhebt einen Schlachtruf, ja, ein gellendes Feldgeschrei, er beweist sich als Held gegen seine Feinde“ / κύριος ὁ θεὸς τῶν δυνάμεων ἐξελεύσεται καὶ συντρίψει πόλεμον, ἐπεγερεῖ ζῆλον καὶ βοήσεται ἐπὶ τοὺς ἐχθροὺς αὐτοῦ μετὰ ἰσχύος „Der Herr, der Gott der Mächte, wird ausziehen und den Krieg zerschmettern, er wird Eifer erwecken und das (Kriegs)geschrei erheben gegen seine Feinde mit Kraft“ / ̈ ‫ ܡܪܝܐ ܐܝܟ ܓܢܒܪܐ ܢܦܘܩ܂ ܘܐܝܟ ܓܒܪܐ ܩܪܒܬܢܐ ܢܓܪܓ ܛܢܢܐ܂ ܢܩܥܐ ܘܢܬܓܢܒܪ ܘܢܩܛܘܠ‬310 „Der ‫ܠܒܥܠܕܒܒܘܗܝ‬ Herr wird wie ein Held ausgehen und wie ein kämpferischer Mann den Eifer erregen. Er wird rufen und sich als Held beweisen und seine Feinde töten“.311

Besondere Aufmerksamkeit gilt ferner dem Gebet des Protagonisten in V.  5a, dessen adäquates Verständnis eng mit der Chronologie der Landnahme zusammenhängt, die bereits anlässlich der Gliederung der Perikope angedeutet wurde (vgl. Tab. 15). Zur Erinnerung sei angemerkt, dass den Kontext des hier erwähnten Gebets die Schlacht der Israeliten mit den Kanaanäern (hier: Amoritern) bei Gibeon bildet.312 Als unmittelbare Ursache dieser militärischen Auseinandersetzung wird in Jos 10,5 der dramatische Hilferuf der Gibeoniter genannt, die sich zuvor mit den Israeliten verbündet hatten (vgl.  Jos  9,3–27) und deshalb durch die fünf benachbarten Stadtstaaten belagert wurden, worauf Josua seinerseits Bündnispflicht leistete und die gemeinsamen Feinde besiegte.313 Im Unterschied zum alttestamentlichen Bezugstext in Jos 10,10–13 erwähnt Sirach allerdings die Vernichtung der feindlichen Kanaaniter in V. 6, d. h. erst nach dem Sonnenwunder.314 Dies wirft folglich eine Frage nach den genauen Umständen des Gebetes 309 Walter, The Book of Psalms, 24. 310 Brock, Isaiah, 75. 311 Vgl. Bar-Asher, The Clause, 10. Vgl. auch Gott als Krieger in Weish 5,17–20 und Jes 59,17. 312 Vgl. Reymond, Reflections, 239. 313 Vgl. Hertzberg, Die Bücher, 73. 314 Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 395.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 229

Josuas in V. 5ab auf, das einen so großen Einfluss auf den positiven Ausgang der Schlacht in V. 5c–6b hatte. Es ist nämlich nicht ohne Bedeutung, ob der Feldherr vor einer schwierigen Etappe der Landnahme als der Bedränger seiner Feinde oder in der äußersten Lebensgefahr als der von seinen Feinden Bedrängte zu Gott um Hilfe rief. Damit wird die bei der Textkritik von Sir  46,1–6 begonnene und bis jetzt unentschieden gebliebene Diskussion aufgenommen, wer eigentlich das Subjekt der Infinitivhandlung „Bedrängen“ in V. 5b ist (vgl. Kap. 4.2.1), wobei die Lösung dieses Problems mit Rückgriff auf die entsprechenden Passagen im Josuabuch, sowohl im MT als auch in der LXX, versucht wird. Tab. 16: Die Gliederung von Jos 8–10. Die drei potenziellen Ansatzpunkte für das Gebet Josuas in Sir 46,5ab sind fett markiert. Stelle in Jos

Inhalt

8,1–29

Vernichtung von Ai

8,30–35 (9,2a–f)315

Bau des Altars und Verkündigung des Gesetzes

9,1–2

Allianz der fünf amoritischen Stadtstaaten

9,3–27

List der Gibeoniter

10,1–27

Krieg mit den fünf Amoriter-Königen

10,1–6

Rachezug der Amoriter Belagerung und Gesandtschaft der Gibeoniter

10,7–10

Feldzug Josuas und Zusage JHWHs Kampf Josuas gegen die Amoriter

10,11

Hagel-Unwetter

10,12

Josuas Gebet und Befehl an die Sonne, stehen zu bleiben

10,13–14

Sonnenwunder

10,15–27

Ende der fünf Kanaaniter-Könige

Die Vorlage des Josuabuches enthält zumindest drei Stellen, die als potenzielle Ansatzpunkte für die Gottesanrufung in V. 5b in Betracht kämen (vgl. Tab. 16).316 Zunächst ist es Jos 8,30–35 mit der Errichtung des Altares, der Opferdarbringung für JHWH und der Verkündigung des Gesetzes, was gemäß dem MT nach der Vernichtung von Ai (vgl. Jos 8,1–29) und noch vor der Allianz der fünf amoritischen

315 In der LXX. 316 Das Gebet Josuas wird im Wortlaut nur anlässlich des Diebstahls Achans in Jos 7,6–9 zitiert. Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 44. Wegen seines unmittelbaren Kontextes ist es jedoch als potenzieller Bezugstext für Sir 46,5 auszuschließen.

230 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Stadtstaaten (vgl.  Jos  9,1–2) stattfand. In diesem Fall geschähe die Gottesanrufung zur Zeit der militärischen Überlegenheit des israelitischen Heeres, was die alternative Lesart von V. 5b: „als er [scil. Josua] Feinde bedrängte“, unterstützen würde. Sollte jedoch die etwas abweichende Abfolge der LXX berücksichtigt werden, bei welcher der potenzielle Bezugstext erst nach dem Bündnis der Kanaanäerstadtstaaten in Jos 9,2 steht,317 dann würde das Gebet Josuas angesichts des befürchteten Anrückens der feindlichen Heere eher der gewöhnlichen Leseart der genannten Sirachstelle entsprechen: „als ihn Feinde von allen Seiten bedrängten“.318 Von einer direkten Anrufung Gottes ist jedoch hier im Josuabuch nicht explizit die Rede. Eine weitere Möglichkeit, einen Querbezug für das besagte Gebet zu sichern, bietet die göttliche Zusage des Sieges in Jos  10,8, die der israelitische Feldherr hörte, nachdem ihn die beunruhigende Nachricht über den amoritischen Rachezug gegen die Gibeoniter und ihre anschließende Umzingelung in Jos 10,5 erreicht hatte. Wird dazu berücksichtigt, dass es unmittelbar nach der erwähnten göttlichen Verheißung und dem ganznächtlichen Marsch in Jos 10,9 in der Tat zu einer für die Israeliten siegreichen Schlacht bei Gibeon kam, dann wird die alternative Leseart von V.  5b mit Josua als dem Subjekt des Satzes begünstigt: „als er Feinde von allen Seiten bedrängte“. Dagegen muss jedoch eingewendet werden, dass auch an dieser Stelle des Bezugstextes von keinem Gebet des Kriegshelden berichtet wird, das der Darstellung Sirachs in V. 5a gerecht würde. Die dritte – und von den bisher erwähnten überzeugendste – Möglichkeit, die Gottesanrufung Josuas im Krieg mit den fünf Kanaaniter-Königen zu verorten, liefert Jos 10,12.319 Denn gemäß dem Duktus des Josuabuches wird das explizite Gebet des Hauptprotagonisten bereits nach dem Hagelschlag (vgl. Jos 10,11), der maßgeblich zum Sieg über die Amoriter verhalf, und noch vor dem spektakulären Sonnenwunder (vgl. Jos 10,13) verortet. Eine solche Reihenfolge der Ereignisse unterstützt zwar die Lesart von V. 5ab mit Josua als Subjekt: „Er rief den Höchsten, den Starken, an, als er Feinde von allen Seiten bedrängte“, aber widerspricht zugleich der in V. 4–6 präsentierten Ereignisdarstellung: zunächst das Sonnenwunder auf das Gebet Josuas und dann die Niederlage der Feinde hauptsächlich wegen des Hagelunwetters.320 Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich allerdings lösen, wenn das Ergehen des Befehls des Josua, welcher den Stillstand der Sonne bewirkte, nicht erst nach der Niederlage der Amoriter, sondern am Tag 317 Jos  8,30–35 wird in der Rahlfs’schen Edition des LXX-Textes als Jos  9,2a–f gezählt. Vgl. Rahlfs, Septuaginta, Vol. 1, 367–368. 318 Vgl. Elßner, Josua, 41–42. 319 Vgl. Elßner, Josua, 41 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 44–45. 320 Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 44.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 231

dieser Niederlage angesetzt wird, wie es in Jos 10,12 heißt: ‫הֹוׁש ַ ע ַליהוָ ה ְּביֹום‬ ֻ ְ‫ָאז יְ ַד ֵּבר י‬ ‫אמר׀ ְל ֵעינֵ י יִ ְׂש ָר ֵאל ֶׁש ֶמׁש ְּבגִ ְבעֹון ּדֹום וְ יָ ֵר ַח ְּב ֵע ֶמק ַאּיָ לֹון‬ ֶ ֹ ‫ת־ה ֱאמ ִֹרי ִל ְפנֵ י ְּבנֵ י יִ ְׂש ָר ֵאל וַ ּי‬ ָ ‫ֵּתת יְ הוָ ה ֶא‬ „Damals redete Josua zum HERRN, und zwar an dem Tag, als der HERR die Amoriter vor den Söhnen Israel dahingab, und sagte vor den Augen Israels: Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon!“. Diese Passage ist in der LXX etwas länger als im MT: τότε ἐλάλησεν Ἰησοῦς πρὸς κύριον ᾗ ἡμέρᾳ παρέδωκεν ὁ θεὸς τὸν Αμορραῖον ὑποχείριον Ισραηλ ἡνίκα συνέτριψεν αὐτοὺς ἐν Γαβαων καὶ συνετρίβησαν ἀπὸ προσώπου υἱῶν Ισραηλ καὶ εἶπεν Ἰησοῦς στήτω ὁ ἥλιος κατὰ Γαβαων καὶ ἡ σελήνη κατὰ φάραγγα Αιλων „Damals sprach Josua zu(m) Herrn, an dem Tag, als Gott den Amorräer in die Hand Israels übergab, zur Zeit, als er sie in Gibeon aufrieb und sie vor dem Angesicht der Israeliten aufgerieben wurden, da sagte Josua: Die Sonne soll stehen bleiben im Bereich von Gibeon und der Mond im Bereich der Schlucht von Ailon“.

Es ist ferner zu bedenken, dass gemäß Jos 10,13 die Sonne um die Mittagszeit angehalten wurde: ‫א־אץ ָלבֹוא ְּכיֹום ָּת ִמים‬ ָ ֹ ‫„ וַ ּיַ ֲעמֹד ַה ֶּׁש ֶמׁש ַּב ֲח ִצי ַה ָּׁש ַמיִ ם וְ ל‬Die Sonne blieb stehen mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen, ungefähr einen ganzen Tag lang“. Währenddessen jagten die Israeliten ihren Feinden in Richtung des Abhangs von Bet-Horon bis nach Aseka und Makkeda nach und fügten ihnen laut Jos 10,10 eine schwere Niederlage zu. Zwischen Bet-Horon und Aseka, d. h. in der letzten Phase der Schlacht, fielen zusätzlich große Hagelsteine vom Himmel, was die Vernichtung des feindlichen Heeres in Jos 10,11 besiegelte. Dieser nach der inneren Chronologie rekonstruierte Ablauf jenes Tages, der die Darstellung sowohl des Ecclesiasticus (das Sonnenwunder vor dem Hagelschlag) als auch des Josuabuches (die Gottesanrufung vor dem Sonnenwunder) berücksichtigt, veranschaulicht zugleich die anfangs angedeutete schriftgelehrte Arbeitsweise Sirachs. Diese bestand darin, dass die älteren biblischen Texte mit gewisser Selbständigkeit kompositionell angeordnet wurden (vgl. Kap. 1.2), ohne dabei ihre zentrale theologische Aussage einzubüßen.

Exkurs 8: Gebet in der Bedrängnis durch die Feinde Um die bereits mehrmals erwähnte Gottesanrufung Josuas in V. 5a angemessen einzuschätzen, bedarf es neben den oben skizzierten intertextuellen Bezügen auch des Einblicks in das dem gesamten Sirachbuch innewohnende Gebetsverständnis. Es muss deshalb betont werden, dass im Ecclesiasticus das Bittgebet konsequent als wirksames Appellationsmittel der Bedrängten und nicht der Bedrängenden aufgefasst wird. Dies bezeugen etwa die Erklärungen des Autors über die Gebetserhörung „am Tag der Not“ in Sir 3,15a (vgl. Kap. 3.2.7), das zum Himmel dringende

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Geschrei der personae miserae in Sir 4,6b (vgl. Kap. 3.4.7), das Gebet um Rettung in Sir 36,1–22 (vgl. Exkurs 3) und nicht zuletzt das Beispiel Samuels in Sir 46,16. Im letzten Fall handelt es sich um die zweite auf das Gebet bezogene Stelle im Väterlob, die wegen der lückenhaften Überlieferung321 von Vattioni folgendermaßen aufgefüllt wurde: [‫וגם ה]וא קרא א[ל ]א[ל ]כאכפה לו אוי[ביו מסביב בעלתו ]טלה חלב‬322 „Und auch [er rief] zu Gott, [als ihn] seine [Feinde] von allen Seiten [bedrängten], als er [das Milchlamm] opferte“323. Die Rekonstruktion erfolgte wohl in Anlehnung an den hebräischen Konsonantentext von Sir 46,5 (vgl. Kap. 4.2.1) und an die antiken Versionen von Sir 46,16, auch wenn hier die Peschitta kein explizites Gebetsvokabular verwendet: καὶ ἐπεκαλέσατο τὸν κύριον δυνάστην ἐν τῷ θλῖψαι ἐχθροὺς αὐτοῦ κυκλόθεν ἐν προσφορᾷ ἀρνὸς γαλαθηνοῦ „Und er [scil. Samuel] rief den Herrn an, den Herrscher, als seine Feinde [ihn] von allen Seiten bedrängten, mit der Opfergabe eines Milchlammes“324 / ‫ܬܒܪ‬ ̣ ‫ܘܐܦ ̣ܗܘ‬ ̈ ‫ܒܡܣܩܗ ܐܡܪܐ ܕܚܠܒܐ‬ ‫ܐܐ ܡܢ ܟܠܗܘܢ ܚܕ̈ܪܘܗ ̣ܝ‬ ̣ ̣ ‫„ ܣܢ‬Und auch er hat die Feinde aus seiner ganzen Umgebung bei325 der Opferung eines Milchlamms zerschlagen“ / Et invocavit Deum potentem in obpugnando hostes circumstantes undique in oblatione viri inviolati „Und er rief Gott an, den Mächtigen beim Kampf gegen die Feinde, die auf allen Seiten um sie herum standen, bei der Opfergabe eines unversehrten Mannes“.326

Das Gebet Samuels ist umso wichtiger, als dieser Gottesmann in der jüdischen Tradition als vornehme Fürbetergestalt gilt327 und unübersehbare Gemeinsamkeiten mit Josua aufweist, wie etwa die Teilnahme am Prophetenamt in Sir 46,1b.13.15.328 Ähnlich wie der siegreiche Feldherr, der gemäß Sir 46,6e untadelig dem Willen Gottes folgte, lebte auch der letzte Richter Israels laut Sir 46,19 moralisch einwandfrei. Diese unanfechtbare Integrität Samuels,329 von der im großen Maße die Erhörung seines Gebets abhing,330 ist der Grund, warum ihn die Vg als inviolatus „unversehrt“ bezeichnet. Allerdings lassen sich auch Unterschiede zwischen den

321 Vgl. Beentjes, Part I–II, 83 (Ms. B XVI recto). 322 E. Reymond dagegen bezeichnet eine solche Rekonstruktion für unhaltbar, weil die Lücke für die Infinitivkonstruktion ‫ כאכפה‬zu klein sei. Vgl. Reymond, Reflections, 241. Zu Sir 46,16a–17b vgl. auch Palmisano, Salvaci, 342. 323 Modifiziert nach Peters. 324 Modifiziert nach der LXX.D. 325 Neben der temporalen Bedeutung („bei, während“) kann die Präposition ‫ ܒ‬auch modalinstrumental („mit, durch“) verstanden werden (vgl. Kap. 4.1.5). 326 Der Stelle Sir 46,16 entspricht in der Vg Sir 46,19. 327 Vgl. Ps 99,6. 328 Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 42 und 45–46. 329 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 343–344. 330 Vgl. das Gebet der Gerechten in Spr 15,29 und Jak 5,16.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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beiden Fürbetern feststellen, z. B. die Opfergabe des Milchlamms in Sir 46,16 als ein wichtiger begleitender Umstand. Auffällig in Sir 46,16 sind außerdem die von der Josuaperikope abweichende Wortstellung innerhalb der Infinitivkonstruktion in G I: ἐν τῷ θλῖψαι ἐχθροὺς αὐτοῦ „als seine [scil. Samuels] Feinde [ihn] bedrängten“ (statt: ἐν τῷ θλῖψαι αὐτὸν ἐχθροὺς „als er [scil. Josua] Feinde bedrängte“ in Sir 46,5b; vgl. Kap. 4.2.1 und 4.2.7), und die Notiz über die einschließende Stellung der Feinde: ‫ ]אוי[ביו מסביב‬/ ἐχθροὺς αὐτοῦ κυκλόθεν / hostes circumstantes undique, die auf die äußerste Lebensgefahr der um Hilfe rufenden Israeliten schließen lässt.331 Demgegenüber klingt die Peschitta-Version dieser Stelle überraschend positiv (siehe oben), was aber vermutlich nicht auf den Moment des Gebetes, sondern auf den glücklichen Ausgang der Schlacht gegen die Philister zu beziehen ist.332 Dafür sprächen zumindest der Gebrauch von ‫ܬܒܪ‬ ̣ „er [scil. Samuel] hat zerschlagen“ in Sir 46,16.18 und der Bezugstext in 1 Sam 7,7–10, laut dem Samuel – im Unterschied zu Josua – betete und opferte, als die in Mizpa versammelten Israeliten noch durch ihre Feinde bedrängt wurden333 (vgl. Abb. 15).

Angriff der Philister

Bitte ums Gebet an Samuel

Samuels Opfer und Gebet

Erhörung durch Gott

Sieg über die Philister

Abb. 15: Das typische Klage-Erhörungs-Paradigma in 1 Sam 7,7–10 und Sir 46,16–18.

Trotz allen Abweichungen beruht das Gebet Samuels auf demselben dialogischen Prinzip wie die Gottesanrufung Josuas in Sir 46,5 (vgl. Abb. 16 und 17), da in beiden Fällen die rettende Antwort Gottes mit Hilfe außergewöhnlicher Naturphänomene erfolgte (vgl. das Sonnenwunder samt dem Hagelunwetter in Sir 46,4ab.5cd und den starken Donner in Sir 46,17).334 So kam die eigentliche Rettung vom Himmel, während den Israeliten nichts anderes blieb, als hinter den von Gott geschlagenen Feinden herzugehen (vgl. Jos 10,10–11 und 1 Sam 7,10–11).335 Der Klärung bedarf lediglich die Frage, inwiefern die militärisch günstige Situation bei der Gottes-

331 Vgl. Ps 118,10–12. 332 Alternativ wäre auch denkbar, dass der Syrer hier eine Lesart von Sir 46,16 bevorzugt, wonach Samuel als Subjekt und seine Feinde als Objekte des „Bedrängens“ agieren, wie es bereits bei Josua in Sir 46,5 der Fall war (vgl. Kap. 4.2.1). 333 Vgl. Reymond, Reflections, 241 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 47. 334 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 343 und Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 51. 335 Vgl. Hertzberg, Die Samuelbücher, 52.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

anrufung durch Josua mit der Klage als wesentlichem Element des biblischen Klage-Erhörungs-Schemas zu vereinbaren ist. Bevor aber eine Antwort darauf im Rahmen der Einzelexegese von Sir 46,5 (vgl. Kap. 4.2.7) gewagt werden soll, sei noch kurz auf die formale Analyse und die Gattungskritik der Josuaperikope eingegangen.

4.2.5 Formale Analyse Wie dies bereits bei anderen Perikopen der Fall war, bestätigt die formale Analyse von Sir 46,1–6 die bei der Kontextualisierung vorgenommene Abgrenzung nach hinten (vgl. Kap. 4.2.3). Dafür spricht etwa das Vorkommen von ‫ ִמ ְל ָח ָמה‬/ πόλεμος / ‫„ ܩܪܒܐ‬Krieg“ bzw. ‫„ ܐܩܪܒ‬kämpfen“336 in der Mitte der Ringkomposition in V. 3b und an ihrem Ende in 6d sowie die zusätzliche Erwähnung von πόλεμος in G I in V. 1a und 6a.337 Als weiteres Gliederungsmerkmal dient der Gebrauch der parallelen Formulierungen mit ‫ אחרי‬/ ὀπίσω jeweils am Ende der Abschnitte über Josua in V. 6e: ‫„ כי מלא אחרי אל‬Denn er [scil. Josua] folgte Gott völlig nach“ / ἐπηκολούθησεν ὀπίσω δυνάστου „er folgte dem Starken nach“ / ‫ܘܐܦ ܗܘ ܫܠܡ ܒܬܪ‬ ‫„ ܐܠܗܐ‬und auch er ist Gott nachgefolgt“ und über Kaleb in Sir 46,10b: ‫כי טוב‬ ‫„ למלא אחרי ייי‬dass es gut [ist], JHWH [vollständig] nachzufolgen“ / ὅτι καλὸν τὸ πορεύεσθαι ὀπίσω κυρίου „dass es schön ist, hinter dem Herrn zu wandeln“ / Syr ̈ hat dagegen: ‫ܘܕܝܢܘܗܝ‬ ‫ܕܫܠܡ ܢܡܘܣܗ ܕܐܠܗܐ‬338 „dass er das Gesetz Gottes und seine Gerichtsurteile erfüllt hat“. Dies betrifft ferner die Positionierung der Konsekutiv- und Inhaltsätze in V. 6cd (‫ למען‬/ ἵνα339 und ‫ כי‬/ ὅτι / ‫ )ܕ‬und Sir 46,10ab (‫ למען‬/ ὅπως / ‫ ܡܛܠ ܕ‬und ‫ כי‬/ ὅτι / ‫)ܕ‬. Auch die Hervorhebung der summarischen Notiz in V. 3b als „Symmetrieachse“ der Josuaperikope (vgl. Tab. 15) lässt sich durch einige formale Beobachtungen bekräftigen, wie z. B. die Verteilung der Gottesbezeichnungen ausschließlich in der zweiten Hälfte des untersuchten Textes (vgl. Ms. B: ‫ ייי‬in V. 3b und 6d; ‫ אל‬in V. 5a, 5c und 6e / G I: κύριος in V. 3b, 5c und 6d; ὕψιστος in V. 5a; δυνάστης in V. 5a und 6e / Syr: ‫ ܡܪܝܐ‬in V. 3b und 5a; ‫ ܐܠܗܐ‬in V. 6de), wo sich in

336 Das Verb ‫ ܐܩܪܒ‬ist Afʿel von ‫„ ܩܪܒ‬sich nähern“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܩܪܒ‬, 517; Hanna / Bulut, ‫ܐܩܪܒ‬, 21 (aramäisch) und Hanna / Bulut, ‫ܩܪܒ‬, 360 (aramäisch). 337 Außer der Josuaperikope wird πόλεμος im griechischen Sirachbuch auch in Sir 37,5 (Hilfe des Freundes angesichts des Krieges); Sir 37,11 (keine Beratung mit dem Feigling bezüglich des Krieges); Sir 40,6 (Träume) und Sir 47,5 (David und Goliat) erwähnt. 338 Nach 7h3. In der Ausgabe von Calduch-Benages fehlen die Pluralpunkte (Seyame). 339 In Syr ohne Konsekutivpartikel.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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V. 5a ebenfalls die erste Anrufung Gottes im Rahmen des Väterlobes befindet.340 Dazu enthält V. 3b in G I den bereits genannten Begriff πόλεμος „Krieg“, der mit den Ausdrücken für militärische Stärke und feindliche Macht sogar zwei parallele Sequenzen bildet: κραταιὸς (V. 1a) – πόλεμος (V. 1a) – ἐχθρούς (V. 1e) – πόλεμος (V. 3b) – ἐχθρούς (V. 5b); κραταιὸς (V. 5d) – πόλεμος (V. 6a) – ἀνθεστηκότας (V. 6b) – πόλεμος (V. 6d), was vornehmlich der Schilderung Josuas als unbesiegbaren Heerführer dienen soll (vgl. Kap. 4.2.1 und Exkurs 7). Weil sich aber die beiden antiken Versionen bei der Wortwahl unterscheiden, wäre wohl anzunehmen, dass es sich hier um den eigenen Beitrag des Enkels handelt, wie es bereits anhand der abwechselnden Sequenz von δοξάζω und τιμάω in Sir 3,1–16 gezeigt wurde (vgl. Kap. 3.2.5).341 Für seine übersetzerische Eigenständigkeit sprächen außerdem die verfeinerten Stellungsfiguren, wie etwa die Ringkomposition in Sir 3,1–8 (vgl. Kap. 3.2.3), der Parallelismus in Sir 4,10a–d (vgl. Kap. 3.4.5) und die chiastisch-parallel angeordnete Struktur in Sir 39,5–6 (vgl. Kap. 4.1.7), wenngleich auch denkbar wäre, dass manche der Abweichungen zwischen den Sprachfassungen bereits in ihren modifizierten Vorlagen bzw. Vorstufen vorhanden waren (vgl. Kap. 1.4).

4.2.6 Gattungskritik Ein weiteres sprachliches Merkmal, das für die Gattungskritik der Josuaperikope von Belang ist, sind die Partizipien ‫)מ ָׁש ֵרת( משרת‬ ְ „Diener“ in V. 1b und ‫צופה‬ (‫)צֹופה‬ ֶ „er achtet“ in V. 6d (und möglicherweise auch ‫ נוצר‬in V. 1c, ‫ נהדר‬in V. 2a und ‫ מלא‬in V. 6e; vgl. Kap. 4.2.1). Ihr Gebrauch anstelle der finiten Vergangenheitsformen verrät bereits, dass es sich hier nicht um einen narrativen, sondern um einen poetischen Text handelt.342 Diese Beobachtung wird durch zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Sir 46,1–6 und dem Gedicht über den Lobpreis Gottes in der kosmischen Ordnung in Sir 43,1–12343 bestätigt. So findet beispielsweise die oben erwähnte auf Josua bezogene Formulierung κατὰ τὸ ὄνομα αὐτοῦ in Sir 46,1c eine genaue Entsprechung in Sir 43,8a: μὴν κατὰ τὸ ὄνομα αὐτῆς ἐστιν „Der Neumond verhält sich entsprechend seinem (des Mondes) Namen“, wobei es sich im Hebräischen in Sir 43,6.8 um eine Konnotation zwischen „Mond“ (‫)יָ ֵר ַח‬ 340 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 337. 341 Neben den abweichenden Wiedergaben sind in der griechischen Sirachversion auch viele Hapaxlegomena zu verzeichnen. Vgl. Reiterer, Urtext, 81, 242–243 und 247. 342 Vgl. Elßner, Josua, 37 (Fußnote 112). 343 Der hebräische, der griechische und der syrische Text von Sir 43,1–12 entstammen der Polyglotte von Vattioni. Vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 230–233.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

bzw. „Neumond“ (‫ )ח ֶֹדׁש‬und „Monat“ (‫ יֶ ַרח‬/ ‫ )ח ֶֹדׁש‬handelt.344 Dazu gibt es mehrere stichwortartige Verbindungen zwischen den beiden Textabschnitten, wie etwa ‫„ עמד‬stillstehen, stehen bleiben“345 / ‫„ ܩܡ‬aufstehen, stehen bleiben“ in Bezug sowohl auf die Sterne in Sir 43,10 als auch auf die Sonne in Sir 46,4a, während G I entsprechend: ἵστημι transitiv Med. „stehen“ und ἐμποδίζω Pass. „angehalten werden“ liest. Als weitere Beispiele mögen hier ‫ יד‬/ χείρ „Hand“ in Sir 43,12 (fehlt in Syr) und Sir 46,4a (in Syr: ‫ )ܐܝܕܐ‬sowie – nur in G I – κύκλωσις „Umringen, Umzingelung, Einschließung“346 in Sir 43,12 (einmalig in der LXX) und κυκλόθεν „ringsum, von allen Seiten“ in Sir 46,5b dienen. Die beiden Absätze enthalten außerdem den Gottesnamen bzw. seine Umschreibung: ‫( ייי‬JHWH) in Sir 43,2.5 und 46,3b.6d / κύριος „Herr“ in Sir 43,5.9 und 46,3b.5c.6d / ‫„ ܡܪܝܐ‬Herr“ in Sir 43,5 und 46,3b.5a; ‫„ אל‬Gott“ in Sir 43,9.10.12 und 46,5a.5c.6e; ὕψιστος „Höchster“ in Sir 43,2.12 und 46,5a.347 Zu den stilistischen Gemeinsamkeiten zählen auch die rhetorischen Fragen in Sir 43,3b: ‫„ לפני חרבו מי יתכלכל‬Vor ihrer [scil. der Sonne] Hitze – wer kann es aushalten?“348 / ἐναντίον καύματος αὐτοῦ τίς ὑποστήσεται ; „[A]ngesichts ihrer Hitze – wer wird bestehen?“ / ‫ܚܘܡܗ ܡ ̣ܢܘ ܡܫܟܚ ܠܡܩܡ‬ ‫„ ܘܩܕܡ‬Und vor ihrer Hitze – wer ̣ kann standhalten?“, und Sir 46,3a: ‫„ מי הוא לפניו יתיצב‬Wer [ist] dieser, der vor ihm [scil. Josua] standhalten wird?“ / τίς πρότερος αὐτοῦ οὕτως ἔστη ; „Wer vor ihm stand derart fest?“ / ‫„ ܡܢܘ ܡܫܟܚ ܠܡܩܡ ܩܕܡܘܗܝ‬Wer kann vor ihm standhalten?“ In den beiden Texten sind ferner inhaltliche Übereinstimmungen zu verzeichnen, wie etwa die Erwähnung der Sonne (‫ שמש‬/ ἥλιος / ‫ )ܫܡܫܐ‬in Sir 43,2 und 46,4a sowie astronomischer Zeitrechnung in Sir 43,6 und 46,4b. Dabei entsprechen die Umschwünge von Sonne und Mond in Sir 43,1–12 der verdoppelten Länge des Tages beim Sonnenwunder in Sir 46,4 und Jos 10,12–14a, was wiederum auf eine profunde theologische Analogie schließen lässt. Die letztere besteht zwischen dem mächtigen Wort des Schöpfers in Gen 1,14–15 und Sir 43,5.10,349 das den Himmelskörpern befiehlt, sich auf ihren himmlischen Kreisen zu bewegen, einerseits und dem Befehl des Nachfolgers des Mose, der den Stillstand der Sonne auslöste, andererseits. Durch diese Entsprechung wird den Worten Josuas eine so 344 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ח ֶֹדׁש‬, 216 und Gesenius / Buhl, ‫ יָ ֵר ַח‬/ ‫יֶ ַרח‬, 318–319. Vgl. auch Filippi, Siracide, 1642 (Fußnote zu Sir 43,8a). 345 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫עמד‬, 598. 346 Vgl. Benseler / Kaegi, κύκλωσις, 522. 347 Vgl. dazu die Gottesbezeichnungen ohne genaue Entsprechung in den beiden Perikopen: ‫„ ܐܠܗܐ‬Gott“ in Sir 46,6de; ‫„ ܡܪܝܡܐ‬Höchster“ in Sir 43,2; ἅγιος „Heiliger“ in Sir 43,10 / ‫„ ܩܕܝܫܐ‬Heiliger“ in Sir 43,5.10 und δυνάστης „Starker“ in Sir 46,5a.6e. 348 Modifiziert nach Peters. 349 Vgl. den Rückwärtsgang der Sonne und die Verlängerung des Tages auf das Wort Jesajas in Sir 48,23 und 2 Kön 20,9–11.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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ungeheure Kraft zugesprochen, dass sie sogar die urewigen Anordnungen Gottes (z. B. in Ps 104,19) beeinflussen konnten, was unmissverständlich in Jos 10,14a auf den Punkt gebracht wird: „Und es war kein Tag wie dieser, weder vorher noch danach, daß der HERR so auf die Stimme eines Menschen gehört hätte“. All diese Ähnlichkeiten mit Sir  43,1–12 erlauben eine gattungstheoretische Zuordnung von Sir 46,1–6 als „heldenliedartiger“ Hymnus über den israelitischen Feldherrn und Nachfolger des Mose.350 Weil aber eine solche Art der literarischen Darstellung prinzipiell keine Unterlegenheit des Hauptprotagonisten zulässt, die Ursache seiner persönlichen Klage sein könnte, scheint dies die bereits angedeutete Interpretation der Gebetsstelle in V.  5ab mit Josua als dem siegreichen „Bedränger“ zu begünstigen (vgl.  Kap.  4.2.1 und 4.2.4). Dies kommt wiederum dem überlieferten Bild des Nachfolgers des Mose als unbesiegbaren Kriegshelden in Jos 1,5 sehr entgegen.

4.2.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 46,5 Wie aus dem bisher Gesagten zu entnehmen ist, handelt es sich beim Gebet Josuas in V. 5a um die erste Anrufung Gottes innerhalb des gesamten Väterlobes. Der Hauptprotagonist betete, „als seine Feinde ihn rings bedrängten“ – so die übliche Übersetzung von V. 5b. Bereits die eingangs erörterte Textkritik des unvollständig überlieferten hebräischen Fragments erlaubt aber die Überlegung, ob Josua etwa nicht das Subjekt des zitierten Nebensatzes sein könnte: „als er seine Feinde bedrängte“ (vgl. Kap. 4.2.1). Mehr noch erweisen die kontextuellen Beobachtungen des Bezugstextes in Jos 8–10 diese alternative Lesart von V. 5b als sinnvoller (vgl. Kap. 4.2.4). Die größte Schwierigkeit, die dabei zu bedenken ist, kennzeichnet sich jedoch dadurch, dass das Zwiegespräch zwischen Josua und Gott vom Siraziden nach dem Klage-Erhörungs-Schema aufgebaut wird, worauf unmissverständlich die Verben ‫ קרא‬/ ἐπικαλέω „anrufen“ / ‫„ ܨܠܝ‬beten“ in V. 5a und ‫ ענה‬/ ἐπακούω / ‫„ ܥܢܐ‬erhören“ in V. 5c verweisen (vgl. Kap. 2.2). Denn ein solches Strukturelement impliziert in der Bibel normalerweise die äußerste Not des Bittstellers (vgl. Exkurs 8), was jedoch der Lage des siegreichen Feldherrn in Jos 10 offensichtlich nicht entspricht. Das oben genannte Schema wird in Ms. B zusätzlich durch einen Parallelismus unterstrichen, bei dem Gott sowohl als Objekt der Anrufung als auch als Subjekt der Antwort in derselben Weise als ‫„ אל עליון‬Gott, der Höchste“ bezeichnet wird: …‫„ כי קרא אל אל עליון כאכפה ל… ויענהו אל עליון באבני …ל‬Denn er rief zu Gott,

350 Vgl. Elßner, Josua, 24.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

dem Höchsten, während seines Bedrängens … und Gott, der Höchste, antwortete ihm mit Steinen … “. Demgegenüber stellt ‫„ ܡܪܝܐ‬Herr“ die einzige Gottesbezeichnung in V. 5 in Syr dar, während die Übersetzung des Enkels in den Kola a und c unterschiedliche Gottesbezeichnungen enthält: ὕψιστος δυνάστης „Höchster Starker“ und μέγας κύριος „großer Herr“.351 Die parallele Anordnung der Satzglieder wird aber in G I dadurch verstärkt, dass sich die vorderen Satzteile (a und c) ausschließlich auf Gott beziehen, während der Rest (b und d) von einer destruktiven Kraft der Feinde bzw. des Hagelschlags spricht. Diese Stellungsfigur wird zusätzlich verfeinert, indem sowohl das Personalpronomen αὐτός in den Kola b und c als auch die verwandten Substantive δυνάστης „Starker“ und δύναμις „Stärke“ in den Kola a und d chiastisch gebraucht werden (vgl. Abb. 16).

Abb. 16: Die chiastisch-parallel angeordneten Satzteile a–d in Sir 46,5 in G I.

Der Vergleich der Sprachfassungen zeigt ferner, dass V. 5b in G I anstelle des Inf. constr. im hebräischen Ms.  B den sogenannten accusativus cum infinitivo (AcI) enthält. Diese Konstruktion mit dem Subjekt der Infinitivhandlung im Akkusativ, der Präposition ἐν (wohl ein Hebraismus) und dem zum Inf. Aorist θλῖψαι „bedrängen“352 gehörenden Artikel τό drückt die Gleichzeitigkeit von Gebet (V. 5a) und Bedrängnis (V. 5b) aus.353 Wegen des Gebrauchs des doppelten Akkusativs ist hier jedoch eine eindeutige Zuordnung des Subjekts und des Objekts erschwert, da die Formulierung ἐν τῷ θλῖψαι αὐτὸν ἐχθροὺς in V.  5b in zweifacher Weise gelesen werden kann: „als er Feinde bedrängte“ oder „als ihn Feinde bedrängten“.354 Diese Unsicherheit beruht darauf, dass in der LXX ein Akkusativ des AcI ἐν τῷ θλῖψαι … einmal das Objekt, wie in Lev 26,26: ἐν τῷ θλῖψαι ὑμᾶς σιτοδείᾳ ἄρτων „Wenn (ich) euch durch Nahrungsmangel in Bedrängnis bringe“, und ein andermal das Subjekt bezeichnet, wie in Sir 46,16: ἐν τῷ θλῖψαι ἐχθροὺς αὐτοῦ

351 Vgl. die variierende Übersetzung von ‫„ כבד‬ehren“ mithilfe von δοξάζω und τιμάω in Sir 3,1–16 in Kap. 3.2.5. 352 Vgl. Bauer, θλίβω, 655–656. 353 Vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, 382. 354 Vgl. Elßner, Josua, 41–42.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

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κυκλόθεν „als seine Feinde [ihn, scil. Samuel] von allen Seiten bedrängten“. Als Hilfe könnte allerdings der eindeutige Gebrauch des AcI mit doppeltem Akkusativ in Lk 2,27 herangezogen werden: καὶ ἐν τῷ εἰσαγαγεῖν τοὺς γονεῖς τὸ παιδίον Ἰησοῦν „Und als die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten“, wo der erste Akkusativ für das Subjekt („die Eltern“) und der zweite für das Objekt der Infinitivhandlung („das Kind Jesus“) steht.355 Dieses Beispiel aus dem NT erlaubt die Annahme, dass unter dem Akkusativpronomen αὐτὸν der Feldherr Josua als Subjekt der Infinitivhandlung in V. 5b zu verstehen ist, der seine Feinde bedrängte. Diese Interpretation bestätigen vier weitere Stellen im griechischen Sirachbuch, wo an den mit ἐν τῷ eingeleiteten AcI ein weiterer Akkusativ angehängt wird, sodass sich die folgende Konstruktion ergibt: ἐν τῷ + Infinitiv + Akkusativ1 + Akkusativ2. In Analogie zum hebräischen Inf. constr., der gleichzeitig ein Subjekt und ein Objekt der dargestellten Handlung bei sich hat (vgl. Kap. 4.2.1),356 bezeichnet in G I der erste Akkusativ immer das Subjekt und der zweite das direkte Objekt der Infinitivhandlung; vgl. Sir 21,27: ἐν τῷ καταρᾶσθαι ἀσεβῆ357 τὸν σατανᾶν „Wenn ein Gottloser den Satan verflucht“,358 Sir 40,14: ἐν τῷ ἀνοῖξαι αὐτὸν χεῖρας „Wenn er die Hände öffnet“ (in Ms. B X recto: ‫עם שאתו כפים‬359 „Wenn er die Hände erhebt“),360 Sir 47,10: ἐν τῷ αἰνεῖν αὐτοὺς τὸ ἅγιον ὄνομα αὐτοῦ „Indem sie seinen heiligen Namen lobten“ (in Ms. B XVI verso steht das Subjekt im Sing.: ‫„ בהל]לו א[ת שם קדשו‬Wenn er [scil. David] seinen [scil. Gottes] heiligen ̈ Namen lobte“ / ‫ܬܫܒܚܬܐ ̈ܪܘܪܒܬܐ‬ ‫ܝܗܒ‬ ݂ „Er gab große Lobpreisungen“), und Sir 50,11: ἐν τῷ ἀναλαμβάνειν αὐτὸν στολὴν δόξης „Indem er sich das Gewand der Herrlichkeit umlegt“ (in Ms. B XIX verso: ‫„ בעטותו בגדי כבוד‬Wenn er sich in die Gewänder ̈ ‫ܒܡܠܒܫܗ‬ der Herrlichkeit hüllte“ / ‫ܡܐܢܐ ܕܩܘܕܫܐ‬ „Wenn er die Gewänder der Heilig݂ 361 keit anzog“). All diese syntaktischen Beobachtungen unterstützen die Lesart von V.  5b, bei welcher der betende Josua als erfolgreicher Heerführer erscheint, der sogar seinen Feinden nachjagt. Die Anrufung Gottes unter solchen Umständen müsste, wie oben angemerkt, als Ausnahme angesehen werden, da das Bittgebet gewöhn355 Vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, 383. 356 Vgl. Grether, Hebräische Grammatik, 216 und Gesenius, Hebräische Grammatik, 368–369. 357 Das Wort ἀσεβῆ ist Akkusativform von ἀσεβής „Gottloser“. 358 Während Sir 21,27 auf Hebräisch nicht (mehr) vorhanden ist (vgl. Beentjes, The Book of Ben ̇ ‫„ ܟܕ‬Wenn ̇ ‫ܐܠܛ ܣܟܐܠ‬ Sira in Hebrew, 180), liefert Syr einen zum Teil anderen Text: ‫ܠܡܢ ܕܐܠ ݂ܚܛܐ ܠܗ‬ ein Törichter jemanden verflucht, der nicht gegen ihn gesündigt hat“. 359 Auch die Handschrift Mas II enthält ein Fragment des Satzes: …‫עם שאתו כפ‬. Beentjes, Part I–II, 159. 360 Syr enthält in Sir 40,14 einen anderen Text: ‫ܓܠܝܙܝܢ‬ ‫„ ܟܕ ܗܢ݂ ܘܢ‬Wenn diese [Güter] entzogen ݂ sind“. 361 Vgl. Reymond, Reflections, 239–240 (Fußnote 47).

240 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

lich in Zeiten der drückenden Not an Gott gerichtet wird. Wird aber der gesamte Kontext von Jos  10 berücksichtigt, dann kann das Klage-Erhörungs-Paradigma als Grundmotiv auch beim Gebet in V. 5a aufrechterhalten werden. In diesem Fall ist allerdings zu beachten, dass sich die rettende Intervention Gottes bei Gibeon nicht nur auf Josua und sein Gefolge beschränkte, sondern auch die mit ihm verbündeten Heiden umfasste. Denn es waren die umzingelten Gibeoniter, die Josua den Anstoß zum Kampf gegeben hatten, bevor er zu Gott betete und sie von der drohenden Lebensgefahr befreite (vgl. Abb. 17).

Bedrohung durch die Kanaanäer

Bitte der Gibeoniter

Fürbittgebet des Josua

Erhörung durch Gott

Sieg durch das Sonnen-und Hagelwunder

Abb. 17: Das Modell: Not – Klage – Erhörung – Rettung in Jos 10,5–14 und Sir 46,1–6.

Daraus folgt, dass der besagte Feldherr das Bittgebet (in gewissem Sinne) stellvertretend für die Nicht-Israeliten verrichtete, denen es zuvor durch eine List gelungen war, dem sonst unabwendbaren Untergang zu entkommen (vgl. Jos 9,26 und 11,19). Dieser Zusammenhang wirft ein neues Licht auf den universalen Heilsplan Gottes, in dem ein Platz auch für die Heiden zu finden wäre, falls sie sich nur unterwürfen und die Kraft JHWHs ernst nähmen (vgl. Jos 9,24). Trotz der harten Aussagen in Sir 50,25–26 ist eine ähnliche Anschauung vereinzelt in den älteren Büchern des AT,362 in der zwischentestamentlichen Weisheitsliteratur363 und natürlich im NT vorhanden.364 Mit hoher Wahrscheinlichkeit war dies für den unter den ägyptischen Diasporajuden wirkenden Enkel Sirachs sehr wichtig, da er die heidenkritische Formulierung in V. 6c wegließ (vgl. Kap. 4.2.2 und Exkurs 9). Demzufolge könnten die Gibeoniter sogar mit jenem, ursprünglich dem Bann ver̈ fallenen Volk (‫ ;גוי חרם‬in Syr im Plur.: ‫;ܥܡܡܐ ܚ̈ܪܡܐ‬ in G I einfach: ἔθνη „Völker“) in V. 6c gemeint sein, dem die Bestimmung göttlicher Machterweise in V. 6cd letztendlich galt: Als die mit Israel Verbündeten sollen sie das Sonnenwunder in V. 4 und das Hagelunwetter in V. 5cd als Antwort Gottes erkennen,365 der laut V. 5a (in Syr) und V. 5c (in allen Sprachfassungen) auf das gläubige Gebet hört.

362 Vgl. Gen 12,3; 18,18; Jes 2,2–3; 19,18–25; 56,3.6–7 und 66,18–24. 363 Vgl. Weish 11,23–12,10.18–20. 364 Vgl. Mk 11,17; Gal 3,8; Eph 3,6; 1 Tim 2,1–4 und Offb 7,9. 365 Vgl. Ex 9,18; Weish 5,22 und Offb 16,21.

4.2 Der Kriegsheld Josua in Sir 46,1–6 

 241

4.2.8 Zusammenfassung Als die zweite vorbildliche Betergestalt im ganzen Buch wird in Sir 46,1–6 Josua, der Sohn Nuns, geschildert. Weil die V.  3b–6e in Ms.  B nicht vollständig überliefert sind, sind die fehlenden hebräischen Passagen aus dem Bezugstext des Josuabuches, aus anderen Stellen des hebräischen Sirachbuches (vornehmlich Sir  46,16) sowie aus der erhaltenen griechischen und der syrischen Sirachversion zu ergänzen (vgl. Kap. 4.2.1). Textkritisch relevant sind vor allem zwei Passagen, von denen die erste eine summarische Notiz über die Kriege in V. 3b ist. Aufgrund der fehlenden Vokalisation des hebräischen Konsonantentextes an dieser Stelle und der Unterschiede zwischen den einzelnen griechischen Textzeugen stellt sich die Frage, ob der eigentliche Feldherr Israels Gott oder Josua war. Zwar lassen die Peschitta-Version der besagten Passage, die intertextuellen Bezüge zu Jos 10 und der Mikrokontext von V. 1–6 unmissverständlich erkennen, dass die unmittelbare Kriegsführung dem Sohn Nuns oblag. Mit der Betonung des Gebets in V. 5a sowie der göttlichen Intervention durch das Sonnenwunder in V. 4 und die riesigen Hagelbrocken in V. 5cd, die wesentlich zum Sieg beitrugen, erfährt die in den anderen Sprachfassungen schwankende Aussage über die Lenkung des Krieges eine neue Vertiefung. Denn erst durch die Zusammenwirkung der menschlichen und der göttlichen Ursache wurde der positive Ausgang der Schlacht ermöglicht. Von Bedeutung für die Textkritik ist außerdem die erste im Väterlob auf das Gebet bezogene Stelle in V. 5b, die in Ms. B die doppeldeutige Infinitivkonstruktion „während seines Bedrängens“ enthält. Gewöhnlich wird Josua zwar als Objekt der besagten Infinitivhandlung angenommen, d. h. als derjenige, der durch seine Feinde bedrängt wird. Weil jedoch bei einem Inf. constr., der gleichzeitig ein Subjekt und ein Objekt bei sich hat, meist das Subjekt unmittelbar auf den Infinitiv folgt, ist hier auch die umgekehrte Konstellation mit Josua (Subjekt) als Bedränger seiner Feinde denkbar. Bezüglich der hermeneutischen Eigenart der Sirachversionen lässt sich beobachten, dass die Peschitta  – falls nicht bereits in ihrer Vorlage vorgefunden  – anstatt der knappen Notiz über den Hauptprotagonisten als „Diener des Mose in der Prophezeiung“ in V.  1bc einen neuen Querbezug zu Sir 46,8; Num  14,30 und Dtn  1,35–39 enthält (vgl.  Kap.  4.2.2). Dabei hatte der Syrer vermutlich im Blick, dass allein Josua (zusammen mit Kaleb) die wahre Kunde über das gelobte Land gab und deshalb die 40‐jährige Wanderung in der Wüste überlebte. Dies prädisponierte ihn gleichsam dazu, die Israeliten nach Kanaan hineinzuführen, ihre Kriege während der Landnahme erfolgreich zu führen und so ihre Rettung zu werden, mit der sein Vorname gleichlautend war. Um ebendiese Namensetymologie auch den griechischen Lesern deutlich zu machen, fügte der Enkel eine entsprechende Notiz in V. 1c ein. Ein vergleichbarer Kommentar fehlt jedoch in

242 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

der Peschitta, deren christliche Leser höchstwahrscheinlich um den programmatisch-soteriologischen Inhalt des Namens Josua / Jesus wussten (vgl. Mt 1,21). Die Ähnlichkeit zwischen dem Sohn Nuns und Christus, die denselben Vornamen trugen, besteht ferner in der stellvertretenden Gottesanrufung und der anschließenden Erhörung durch Gott in V. 5ac und Hebr 5,7–8 (vgl. Exkurs 7). Die Gliederung und die formale Analyse der Perikope lassen ferner erkennen, dass Sir  46,1–6 konzentrisch gestaltet ist, wobei das bereits erwähnte Summarium über die Kriege in V. 3b in der Mitte steht (vgl. Kap. 4.2.3 und 4.2.5), umrahmt durch die Erinnerungen an zwei biblische Ereignisse aus der Zeit der Landnahme: die Vernichtung von Ai (vgl. Jos 8,1–29) und die außerordentlichen Wetterphänomene während der Schlacht bei Gibeon (vgl.  Jos  10,1–14). Die sirazidische Reihenfolge der einzelnen Ereignisse, bei welcher das Sonnenwunder, das durch Josuas Gebet ausgelöst wird, dem Hagelschlag vorangestellt wird, unterscheidet sich zwar vom äußeren Duktus des Josuabuches, entspricht aber seiner inneren Chronologie (vgl. Kap. 4.2.4). Demzufolge betete der israelitische Feldherr zu Gott nicht zur Zeit der Bedrängnis durch seine Feinde, sondern höchstwahrscheinlich als er auf dem besten Weg war, sie zu bezwingen, d. h. während er selbst die Rolle des Bedrängers ausübte. Diese ungewöhnliche Aussage, die zwar den Ergebnissen der Textkritik und den intertextuellen Bezügen entspricht, stünde aber im Widerspruch zum typischen Klage-Erhörungs-Paradigma, das die Notlage des Bittstellers voraussetzt und an dem Sirach konsequent festhält, wie etwa beim Gebet Samuels in Sir 46,16 (vgl. Exkurs 8). Das gekennzeichnete Problem erfährt eine interessante Beleuchtung in zweifacher Hinsicht: Zum einen erweist sich Sir  46,1–6 durch mehrere Gemeinsamkeiten mit Sir 43,1–12 als ein heldenliedartiger Hymnus, was jegliche persönliche Unterlegenheit des Hauptprotagonisten, über die er klagen müsste, unmöglich macht (vgl. Kap. 4.2.6). Dies korreliert sehr gut mit den Ergebnissen der Einzelexegese von V. 5, wonach Josua in G I nicht als Objekt, sondern als Subjekt des Bedrängens erscheint: „Er rief den Höchsten, den Starken, an, als er Feinde von allen Seiten bedrängte“ (vgl. Kap. 4.2.7). Zum anderen wird die äußerste Not des Bittstellers, die in der Regel durch das biblische Klage-Erhörungs-Schema impliziert wird, mit der göttlich verbürgten Unbezwingbarkeit Josuas (vgl. V. 3a und Jos 1,5) in Einklang gebracht. Dies geschieht, indem sein Bittgebet in V. 5a nicht als auf sich bezogen, sondern als stellvertretend für die mit ihm verbündeten und stark bedrängten Nicht-Israeliten verstanden wird (vgl. Jos 10,1–6). Es ist ferner denkbar, dass eine solche heidenfreundliche Auffassung des Fürbittgebets umso wichtiger in der jüdischen Diaspora in Alexandrien war, als dass der dort wirkende Enkel Sirachs die für heidnische Ohren hart klingende Formulierung in V.  6c vermied. Bei alledem knüpft das vom Autor präsentierte Beispiel Josuas an den überlieferten biblischen Glauben an, wobei es verstärkt darauf hinweist,

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 243

dass nicht nur der glorreiche militärische Sieg in V. 6b, sondern auch das Zustandekommen der zu diesem Sieg führenden kosmischen Spektakel in V. 4 und 5cd letztendlich als Erhörung des gläubigen Gebets durch Gott zu deuten ist.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 4.3.1 Textkritik und deutsche Übersetzungen Die letzte im Rahmen dieser Arbeit zu behandelnde Sirachstelle mit dem Vorbild des Gebets, Sir 48,20,366 liegt innerhalb der Perikope über den König Hiskija und den Propheten Jesaja in Sir 48,17–25. Der genannte Abschnitt ist nicht nur in G I und Syr, sondern auch im hebräischen Ms.  B enthalten, allerdings fragmentarisch.367 Die fehlenden V. 22c–23b werden deshalb nach Vattioni durch die Rückübersetzung aus dem Griechischen vervollständigt. Hebräischer Text (17a)

‫יחזקיהו חזק עירו‬

(17b)

‫בהטות אל תוכה מים‬

(17c) (17d) (18a) (18b) (18c) (18d) (19a) (19b) (20a) (20b) (20c) (20d) (21a) (21b)

‫ויחצב כנחשת צורים‬ ‫ויחסום הרים מקוה‬ ‫בימיו עלה סנחריב‬ ‫וישלח את רב שקה‬ ‫ויט ידו על ציון‬ ‫ויגדף אל בגאונו‬ ‫[אז נ]מוגו בגאון לבם‬ ‫ויחילו כיולדה‬ ‫[ויקר]או אל אל עליון‬ ‫ויפרשו אליו כפים‬ ‫[וישמע ב]קול תפלתם‬ ‫ויושיעם ביד ישעיהו‬ ‫[ויך במ]חנה אשור‬ ‫ויהמם במגפה‬

Deutsche Übersetzung Hiskija hat seine Stadt befestigt durch das Leiten des Wassers in ihre Mitte; und er grub mit Bronze368 die Felsen durch und er dämmte mit [Schutt]bergen einen Teich ein. In seinen Tagen ist Sanherib hinaufgezogen und er entsandte den Rabschake; und er streckte seine Hand gegen Zion aus und er lästerte Gott in seinem Übermut. [Da] sind sie im Übermut ihres Herzens erbebt und sie wandten sich wie eine Gebärende. [Und sie riefen] zu Gott, dem Höchsten, und sie breiteten die Hände nach ihm aus; [und er hörte auf] die Stimme ihres Gebets und er rettete sie durch Jesaja. [Und er schlug] das Heerlager Assurs und er verwirrte sie durch eine Plage.

366 Vgl. Reitemeyer, Weisheitslehre, 67; Palmisano, Salvaci, 341–343 und Urbanz, Die Gebetsschule, 34 und 41. 367 Zum hebräischen Text der Perikope vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 263 und 265 sowie Beentjes, Part I–II, 86–87 (V. 17a–22b in Ms. B XVIII recto, V. 24–25 in Ms. B XVIII verso). Ein Scan des Fragments Sir  48,17a–22b in Ms. B XVIII recto kann unter: https://www.bensira.org/images/Manuscripts/B/B_XVIII_Recto.jpg, eingesehen werden; letzter Abruf am 14.11.2019. 368 Metonymisch: „mit ehernen [Meißeln bzw. Hacken]“.

244 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

(22a)

]‫[כי עשה יחז] קיהו את הטו[ב‬

(22b) (24a) (24b) (25a)

‫[ו]יחזק בדרכי דוד‬ ‫ברוח גבורה חזה אחרית‬ ‫וינחם אבלי ציון‬ ‫עד עולם הגיד נהיות‬

(25b)

‫ונסתרות לפני בואן‬

[Denn] Hiskija [hatte] das Gute [getan] [und] er war fest auf den Wegen Davids geblieben. Im Geist der Stärke hat er die Endzeit geschaut und er tröstete die Trauernden Zions. Bis in369 Ewigkeit370 hat er das verkündigt, was geschieht,371 und das Verborgene vor [seinem] Eintreffen.

Textkritische Probleme tauchen auch bei den LXX-Zeugen, die an einigen Stellen von dem hier zitierten Text (Editionen von Rahlfs und von Ziegler) abweichen.372 Interessant für die Textkritik ist etwa der Ausdruck ὕδωρ „Wasser“ in V. 17b, der durch den Kodex A, die Handschrift 248 und andere Minuskelhandschriften ̈ in Syr und nicht zuletzt den Bezugstext in 2 Kön 20,20 sowie ‫ מים‬in Ms. B und ‫ܡܝܐ‬ belegt ist: ‫ת־ה ַּמיִ ם ָה ִע ָירה‬ ַ ‫ת־ה ְּת ָע ָלה וַ ֵּיָבא ֶא‬ ַ ‫ת־ה ְּב ֵר ָכה וְ ֶא‬ ַ ‫„ וַ ֲא ֶׁשר ָע ָׂשה ֶא‬und wie er [scil. Hiskija] den Teich und die Wasserleitung gemacht und das Wasser in die Stadt geleitet hat“ / καὶ ὅσα ἐποίησεν τὴν κρήνην καὶ τὸν ὑδραγωγὸν καὶ εἰσήνεγκεν τὸ ὕδωρ εἰς τὴν πόλιν „und den Teich und die Wasserleitung, die er gemacht und womit er das Wasser in die Stadt hineingebracht hat“.

Dafür haben manche Majuskeln τὸν γὼγ (B†) bzw. τον ηωγ (S✶),373 wobei es sich bei diesen ursprünglichen Lesarten um eine Präzisierung durch die lautliche Wiedergabe des Namens der Jerusalemer Gihonquelle handeln kann, wie etwa in 1 Kön 1,33.38 und 2 Chr 32,30: ‫ה־ּמ ְע ָר ָבה ְל ִעיר ָּדוִ יד‬ ַ ‫יּׁש ֵרם ְל ַמ ָּט‬ ְ ַ‫ימי גִ יחֹון ָה ֶע ְליֹון וַ ּי‬ ֵ ‫ת־מֹוצא ֵמ‬ ָ ‫„ וְ הּוא יְ ִחזְ ִקּיָ הּו ָס ַתם ֶא‬Und er, Hiskia, verstopfte den oberen Abfluß der Wasser des Gihon und leitete sie unterirdisch nach Westen in die Stadt Davids“ / αὐτὸς Εζεκιας ἐνέφραξεν τὴν ἔξοδον τοῦ ὕδατος Γιων τὸ ἄνω καὶ κατηύθυνεν αὐτὰ κάτω πρὸς λίβα τῆς πόλεως Δαυιδ „Ezekias selbst verschloss den oberen Abfluss des Wassers Gion374 und leitete es hinab zum Südwesten der Stadt Davids“.

369 Vgl. die eschatologischen Weissagungen in Jes 25,8 und 66,24. Alternative Übersetzung: „bis zur“. 370 Vgl. Kap. 4.3.2. Ebenfalls mögliche Übersetzungen: „für immer“, „für fernste Zeit“ (nach der EÜ 1980). 371 Alternative Übersetzungsvorschläge: „[zukünftige] Geschehnisse“, „Werdendes“. 372 Vgl. Ziegler, Sirach, 352–354; Vattioni, Ecclesiastico, 262 und 264 sowie Rahlfs, Septuaginta, Vol. 2, 464–465. 373 Sir 48,17 kann im Codex Vaticanus, p. 889, unter: http://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.gr.1209/ 0893 (zuletzt am 02.11.2019) und im Codex Sinaiticus, Folio 183b, Schreiber A, unter: http:// codexsinaiticus.org/de/manuscript.aspx?book=31&chapter=48&lid=de&side=r&verse=17&zoom Slider=0 (zuletzt am 06.11.2019), eingesehen und konsultiert werden. 374 Die LXX.D hat hier: „des Gihon-Wassers Gion“.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 245

Es ist umso mehr anzunehmen, als die Überlieferung der richtigen Form dieses Wortes in den griechischen Textzeugen gefährdet war (vgl. γειων, γιων, γηων in 1 Kön 1,33.38.45).375 Weil sich hinter dem besagten Hydronym ebenfalls der zweite der vier Ströme des Paradieses in Gen 2,13 (vgl. ‫ גִ יחֹון‬/ Γηων) und Sir 24,27 (vgl. Γηων) verbirgt, handelt es sich hier vermutlich um eine Anspielung auf die Schöpfungserzählung, genauso wie in V. 17d, worauf in Kap. 4.3.4 näher eingegangen wird. Die in ‫ א‬vorgenommenen Korrekturen (Sc) bezeugen hingegen, dass die Formulierung τον αγωγον, womit ὑδραγωγός bzw. ἀγωγός ὕδατος „Aquädukt, Wasserleitung“376 gemeint sein könnte377 (vgl. καὶ ὡς ὑδραγωγὸς ἐξῆλθον εἰς παράδεισον „und wie ein Aquädukt bin ich herausgegangen in den Garten (Eden)“ in Sir 24,30). Griechische Version

Deutsche Übersetzung

(17a) (17b) (17c) (17d) (18a) (18b)

Εζεκίας ὠχύρωσεν τὴν πόλιν αὐτοῦ καὶ εἰσήγαγεν εἰς μέσον αὐτῆς ὕδωρ ὤρυξεν σιδήρῳ378 ἀκρότομον καὶ ᾠκοδόμησεν κρήνας εἰς ὕδατα ἐν ἡμέραις αὐτοῦ ἀνέβη Σενναχηριμ καὶ ἀπέστειλεν Ῥαψάκην καὶ ἀπῆρεν

(18c) (18d)

καὶ ἐπῆρεν χεῖρα αὐτοῦ ἐπὶ Σιων καὶ ἐμεγαλαύχησεν ἐν ὑπερηφανίᾳ αὐτοῦ τότε ἐσαλεύθησαν καρδίαι καὶ χεῖρες αὐτῶν καὶ ὠδίνησαν ὡς αἱ τίκτουσαι καὶ ἐπεκαλέσαντο τὸν κύριον τὸν ἐλεήμονα ἐκπετάσαντες τὰς χεῖρας αὐτῶν πρὸς αὐτόν καὶ ὁ ἅγιος ἐξ οὐρανοῦ ταχὺ ἐπήκουσεν αὐτῶν καὶ ἐλυτρώσατο αὐτοὺς ἐν χειρὶ Ησαίου ἐπάταξεν τὴν παρεμβολὴν τῶν Ἀσσυρίων καὶ ἐξέτριψεν αὐτοὺς ὁ ἄγγελος αὐτοῦ ἐποίησεν γὰρ Εζεκίας τὸ ἀρεστὸν κυρίῳ

Hiskija befestigte seine Stadt und er leitete Wasser in sie hinein; er grub mit Eisen den Steilfelsen durch und er baute Brunnen für Wasser. In seinen Tagen zog Sanherib hinauf und er entsandte den Rabschake und er brach auf; und er erhob seine Hand gegen Sion und er prahlte in seinem Übermut.

(19a) (19b) (20a) (20b) (20c) (20d) (21a) (21b) (22a)

375 Vgl. Ziegler, Einleitung, 78–80. 376 Vgl. Liddell, ἀγωγός, 18. 377 Vgl. Ziegler, Einleitung, 80. 378 Ziegler liest hier ἐν σιδήρῳ. 379 Alternativer Übersetzungsvorschlag: „Bote“.

Damals wurden ihre Herzen und Hände erschüttert und sie hatten Wehen wie die Gebärenden. Und sie riefen den barmherzigen Herrn an, indem sie ihre Hände zu ihm ausbreiteten; und der Heilige aus dem Himmel erhörte sie schnell und er erlöste sie durch Jesajas Hand. Und er schlug das Lager der Assyrer und sein Engel379 zerrieb sie. Denn Hiskija hatte das dem Herrn Wohlgefällige getan

246 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

(22b)

καὶ ἐνίσχυσεν ἐν ὁδοῖς Δαυιδ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ ἃς ἐνετείλατο Ησαίας ὁ προφήτης ὁ μέγας καὶ πιστὸς ἐν ὁράσει αὐτοῦ ἐν ταῖς ἡμέραις αὐτοῦ ἀνεπόδισεν ὁ ἥλιος καὶ προσέθηκεν ζωὴν βασιλεῖ πνεύματι μεγάλῳ εἶδεν τὰ ἔσχατα

(22c) (22d) (23a) (23b) (24a) (24b) (25a) (25b)

καὶ παρεκάλεσεν τοὺς πενθοῦντας ἐν Σιων ἕως τοῦ αἰῶνος ὑπέδειξεν τὰ ἐσόμενα καὶ τὰ ἀπόκρυφα πρὶν ἢ παραγενέσθαι αὐτά

und er war erstarkt auf den Wegen Davids, seines Vaters, die der Prophet Jesaja geboten hatte, der Große und Treue in seiner Vision. In seinen Tagen ging die Sonne zurück und er verlängerte dem König das Leben. Mit großem Geist schaute er die letzten [Dinge] und er tröstete die Trauernden in Sion. Bis in380 Ewigkeit zeigte er das Kommende und das Verborgene vor seinem Eintreffen.

Außerdem lassen die Kodizes B und ‫ א‬erkennen, dass der jüdische König Hiskija in V. 17b das Wasser εἰς μέσον αὐτῶν (3. Pers. Plur.) anstatt αὐτῆς (3. Pers. Sing. fem.) hineinleitete, was jedoch weder durch ‫( תוכה‬vermutlich: ‫)ּתֹוכּה‬ ָ „in ihre [scil. ̇ der Stadt] Mitte“ im hebräischen Text noch durch ‫ܠܓܘܗ‬ „in sie [scil. die Stadt] hinein“ in der syrischen Variante unterstützt wird.381 Zu den Abweichungen des Codex Sinaiticus zählt ferner die in V. 18b anstelle von ἀπέστειλεν „er entsandte“ verwendete Form ἀπέτρεψεν „er wandte ab, brachte ab, verhinderte, hielt ab“382, die jedoch weniger Sinn ergibt und weder von den anderen Majuskeln noch von Ms. B oder Syr unterstützt wird. Dazu lesen B, ‫ א‬und der Codex Venetus in V. 18c das Verb ἐπῆρεν intransitiv: ἐπῆρεν ἡ χείρ αὐτοῦ „seine Hand erhob sich“ im Gegensatz zum transitiven Gebrauch sowohl in der Majuskel A: ἐπῆρεν χεῖρα αὐτοῦ „er erhob seine Hand“,383 als auch in Ms. B und Syr, wo den maskulinen Verbformen ‫„ ויט‬und er streckte aus“ und ‫„ ܘܐܪܝܡ‬und er hat erhoben“ eindeutig der assyrische Beamte Rabschake als Subjekt zugeordnet werden kann. Auffällig sind schließlich die vermutlich sekundäre Ersetzung des Eigennamens „Jesaja“ (‫ ישעיהו‬/ Ησαιου / ‫ )ܐܫܥܝܐ‬durch „Jesus“ (Ιησου) im Codex Sinaiticus und im Codex Venetus in V. 20d sowie das Fehlen von κυρίῳ in V. 22a und Δαυιδ in V. 22b in der ursprünglichen Lesart von ‫א‬.

380 Nach der EÜ 2016. Vgl. Jes 25,8 und 66,24. Andere Übersetzungsmöglichkeit: „bis zur Ewigkeit“. 381 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫ּתוֶ ְך‬, ָ 872 und Hanna / Bulut, ‫ܠܓܘ‬, 160 (aramäisch). 382 Vgl. Benseler / Kaegi, ἀποτρέπω, 106 und Liddell, ἀποτρέπω, 224. 383 Vgl. Ziegler, Sirach, 353.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 247

Wie es dem unten abgedruckten Text von Sir 48,17–25 zu entnehmen ist, fehlen in Syr V. 17cd und 19a–20a,384 was die Beobachtung Reiterers bestätigt, wonach „Syr einen um vieles kürzeren Text bietet, als dies in H geschieht“385. Im Unterschied zu G I sind aber die Abweichungen zwischen den untersuchten Peschitta-Handschriften nur marginal. So wird in V. 21a zur Bezeichnung des Genitivverhältnisses der im Syrischen typische status emphaticus mit ‫ ܕ‬gebraucht.386 Während in 7h3 zur Vorwegnahme des mit ‫ ܕ‬angeleiteten Ethnonyms im Sing. das antizipatorische Personalsuffix ‫ ܗ‬verwendet wird: ‫„ ܡܫܪܝܬܗ ܕܐܬܘܪܝܐ‬das [Heer] lager des Assyrers“ (vgl. ‫„ ]מ[חנה אשור‬das Heerlager Assurs“387 in Ms. B), steht das besagte Ethnonym in 7a1 im Plur., wenngleich das ihm entsprechende antizipatorische Personalsuffix ‫ ܗܘܢ‬fehlt: ‫„ ܡܫܪܝܬܐ ܕܐܬܘ̈ܪܝܐ‬das [Heer]lager der Assyrer“ (vgl. τὴν παρεμβολὴν τῶν Ἀσσυρίων in G I388). Zu den sonstigen orthographischen Besonderheiten von 7h3 gehören die Kausalpartikel ‫„ ܡܛܘܠ‬denn“ statt der üblicheren Form ‫ ܡܛܠ‬in V. 23a und die fehlerhafte Schreibvariante ‫ ܘܐܬܘܣܦܘ‬statt der Ettafʿalform ‫„ ܘܐܬܬܘܣܦܘ‬sie wurden hinzugefügt“389 in V. 23b. Schließlich fällt auf, dass in 7h3 anstelle des finiten Verbs ‫„ ܗܘܐ‬er war“ die Kurzform des Personalpronomens der 3. Pers. Sing. masc. ‫ ܗܘ‬als Kopula „er [ist]“ bzw. „er [war]“390 gebraucht wird.

(17a) (17b) (18a) (18b) (18c) (18d)

Syrische Version ‫ܚܙܩܝܐ ̇ܒܢܝ ܡܕܝܢܬܐ‬ ̇ ‫ܠܓܘܗ ̈ܡܝܐ‬ ‫ܘܐܥܠ‬ ̈ ‫ܣܠܩ ܥܠܝܗܘܢ ܣܢܚܪܝܒ‬ ̣ ‫ܒܝܘܡܘܗܝ‬ ̇ ̈ ‫ܘܫܕܪ ܥܠܝܗܘܢ ܠܪܒ‬ ‫ܫܩܐ‬ ‫ܘܐܪܝܡ ܐܝܕܗ ܥܠ ܨܗܝܘܢ‬ ‫ܘܓܕܦ ܒܡܪܚܘܬܐ ܥܠ ܐܠܗܐ‬

Deutsche Übersetzung Hiskija hat die Stadt (wieder) aufgebaut und er hat Wasser in sie hineingeleitet. In seinen Tagen ist Sanherib gegen sie gezogen und er hat Rabschake gegen sie gesandt; und er hat seine Hand gegen Sion erhoben und er hat mit Frechheit Gott gelästert.

384 Zum syrischen Text der Perikope vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 263 und 265 sowie CalduchBenages, Text, 258 und 261. 385 Reiterer, Urtext, 238. In seiner Studie zu Sir 44,16–45,26 konstatiert Reiterer das Fehlen der folgenden Passagen in der Peschitta: Sir 44,16ab; 45,3a.8c–14b.17cd.21a.23e. Vgl. Reiterer, Urtext, 34–49. Auch die Stellen Sir 6,9–10; 20,10–11 u. a. werden in Syr nicht überliefert, während andere Passagen, wie Sir 14,16cd, über G I hinausgehen. Vgl. ders., Zählsynopse, 26. 386 Vgl. Thackston, Introduction, 20. 387 Das Wort ‫ ַאּׁשּור‬kann sowohl „[das Land] Assyrien“ als auch „[das Volk der] Assyrer“ bezeichnen. Vgl. Gesenius / Buhl, ‫אּׁשּור‬, ַ 70–71. 388 Vgl. das „Assyrerlager“ bei Josephus Flavius. Vgl. Dalman, Jerusalem, 68. 389 Vgl. Smith / Smith, ‫ܝܣܦ‬, 194. 390 Es handelt sich um eine Entsprechung für das deutsche Hilfsverb „sein“. Vgl. Thackston, Introduction, 28.

248 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

(20b)

̈ ‫ܐܝܕܘܗܝ‬ ‫ܘܦܪܣ ܚܙܩܝܐ ܩܕܡ ܡܪܝܐ‬ ̣

(20c)

‫ܫܡܥ‬ ̣ ‫ܘܐܦ ܐܠܗܐ ܒܥܓܠ‬ ‫ܨܠܘܬܗ‬ ‫ܘܦܪܩ ܐܢܘܢ ܒܝܕ ܐܫܥܝܐ ܢܒܝܐ‬ ̣ ‫ܘܬܒܪ ܡܫܪܝܬܐ ܕܐܬܘ̈ܪܝܐ‬ ‫ܘܡܚܐ ܐܢܘܢ ܡܚܘܬܐ ܪܒܬܐ‬ ‫ܕܥܒܕ ܚܙܩܝܐ ܕܛܒ‬ ̣ ‫ܡܛܠ‬ ̇ ‫ܘܗܠܟ ܒܐܘ̈ܪܚܬܗ ܕܕܘܝܕ‬ ‫ܕܦܩܕܗ ܐܫܥܝܐ ܢܒܝܐ‬ ̈ ‫ܡܫܒܚܐ‬ ‫ܕܢܒܝܐ‬ ‫ܡܛܠ ܕܒܐܝܕܗ ܩܡ ܫܡܫܐ‬ ̈ ‫ܘܐܬܬܘܣܦܘ ܥܠ‬ ‫ܚܝܘܗܝ ܕܡܠܟܐ‬

(20d) (21a) (21b) (22a) (22b) (22c) (22d) (23a) (23b) (24a) (24b) (25a) (25b)

‫ܘܒܪܘܚܐ ܕܓܢܒܪܘܬܐ ܚܙܐ‬ ‫ܐܚ̈ܪܝܬܐ‬ ̈ ̇ ‫ܐܠܒܝܐܠ ܕܨܗܝܘܢ‬ ‫ܘܢܚܡ‬ ‫ܗܘܐ‬ ‫ܘܟܕ ܒܥܠܡܐ‬ ̣ ̈ ̈ ‫ܘܢܣܝܘܢܐ ܥܕ ܐܠ‬ ‫ܐܬܘܬܐ‬ ‫̣ܚܙܐ‬ ‫ܢܐܬܘܢ‬

Und Hiskija hat vor dem Herrn seine Hände ausgebreitet und auch Gott hat schnell sein Gebet gehört und er hat sie durch den Propheten Jesaja erlöst. Und er hat das [Heer]lager der Assyrer zerschlagen und er hat ihnen einen großen Schlag versetzt. Denn Hiskija hatte Gutes getan und er war auf den Wegen Davids gewandelt, was ihm der Prophet Jesaja geboten hatte, der glorreiche [unter] den Propheten. Denn durch ihn391 ist die Sonne stehen geblieben und es wurden dem Leben des Königs [Jahre] hinzugefügt. Und im Geist der Heldenhaftigkeit hat er die letzten [Dinge] geschaut und er hat die Trauernden Sions erweckt. Und während er in der Welt war, hat er Zeichen und Versuchungen geschaut, [als] sie noch nicht eingetroffen waren.

4.3.2 Hermeneutik der Sprachversionen Durch den Vergleich der einzelnen Sprachfassungen lassen sich mehrere Abweichungen feststellen. Beispielsweise hat Ms. B in V. 17a das Verb ‫„ חזק‬stark sein“, Piʿel „(be)festigen“, das ein Wortspiel mit dem vorangehenden Eigennahmen (Je)hiskija (‫ ִחזְ ִקּיָ הּו‬bzw. ‫„ יְ ִחזְ ִקּיָ הּו‬Stärke JHWHs“ bzw. „Meine Stärke [ist] JHWH“)392 bildet: „Die Stärke JHWHs hat die Stadt gestärkt“ (vgl. auch V. 22ab).393 Eine entsprechende Erklärung für die Leser, die des Hebräischen nicht mächtig sind, wie es beim Namen „Josua“ in G I in Sir 46,1 der Fall war (vgl. Kap. 4.2.2),394 fehlt jedoch in den antiken Übersetzungen. Denn der Enkel hat hier das gleichbedeutende Verb ὠχύρωσεν „er befestigte“, Syr liest ‫„ ܒܢܝ‬er hat wiederhergestellt, (wieder) aufgebaut“395 und die Vg übersetzt: Ezechias munivit civitatem suam

391 Andere Übersetzungsmöglichkeit: „durch seine Hand“. 392 Vgl. Meister, Hiskia, 157 und Meister, Jehiskia, 179. Vgl. 2 Chr 28,12. 393 Vgl. van Wieringen, Sirach, 197. 394 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 362. 395 Die Form ‫ ܒܢܝ‬ist Paʿel von ‫„ ܒܢܐ‬bauen“. Vgl. Smith / Smith, ‫ܒܢܐ‬, 48. Dasselbe Verb kommt in ܿ Jos 6,26 vor: ‫ܘܢܒܢܝܗ ܠܡܕܝܢܬܐ ܗܕܐ ܐܝܪܝܚܘ‬ ‫„ ܠܝܛ ܗܘ ܓܒܪܐ ܩܕܡ ܡܪܝܐ܂ ܕܢܩܘܡ‬Verflucht [sei] der Mann vor dem Herrn, der aufsteht und diese Stadt Jericho (wieder) aufbaut“. Erbes, Joshua, 14.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

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„Hiskija befestigte seine Stadt“396, ohne dabei explizit auf das hebräische Wortspiel einzugehen. Eine kleine Sinnverschiebung enthält auch V. 17c mit dem unterirdischen Wassertunnel, bei dessen Bau laut Ms. B Werkzeuge aus ‫„ נְ ח ֶֹׁשת‬Bronze, Erz, Kupfer“ verwendet wurden, wobei es sich um metallenes Material handelt, das im Griechischen als χαλκός bezeichnet wird.397 Überraschend steht aber in G I σίδηρος „Eisen“, als dessen hebräisches Gegenstück gewöhnlich ‫ ַּב ְרזֶ ל‬angegeben wird398 (vgl. Jes 60,17). Das auf solche Weise auf Hiskijas Befehl durchbrochene Gestein (vgl. ‫„ צורים‬die Felsen“) wird im griechischen Text etwas präziser als „Steilabfall, Steilhang, Felshang“ beschrieben (vgl. ἀκρότομος „oben abgeschnitten, abgerissen, steil abfallend“399). Dafür wird aber in V. 17d in Ms. B angedeutet, auf welche Weise das künstliche Wasserreservoir entstanden ist (V. 17cd fehlt in Syr). Ferner drückt die Peschitta die feindlichen Absichten des assyrischen Königs Sanherib gegenüber den Judäern deutlicher aus, als dies die anderen Sprachfassungen tun, indem sie in V. 18a das Verb ‫ܣܠܩ‬ ̣ „er ist hinaufgezogen“ durch die Präposition ‫„ ܥܠ‬gegen“ versieht.400 Demgegenüber fügt G I in V. 18b das Verb ἀπῆρεν „er [scil. der Rabschake] brach auf“ hinzu und ergänzt den hebräischen Text in V. 19a mit dem Substantiv χεῖρες „Hände“. Obwohl der Enkel in V. 18d mit Ms. B übereinstimmt, indem er ‫ בגאונו‬mit ἐν ὑπερηφανίᾳ αὐτοῦ „in seinem Übermut“401 wörtlich übersetzt, lässt er den gleichen Präpositionalausdruck ‫„ בגאון‬im Übermut“402 in V. 19a unberücksichtigt: τότε ἐσαλεύθησαν καρδίαι καὶ χεῖρες αὐτῶν „Damals wurden ihre Herzen und Hände erschüttert“. Dadurch verwischt er die intertextuellen Bezüge, von denen in Kap. 4.3.4 die Rede sein wird. Der Grund dafür könnte etwa darin liegen, dass der Übersetzer im Unterschied zu seinem Großvater nicht in Jerusalem lebte (vgl. Sir Prolog 27–28 und Sir 50,27 in G I) und sich deshalb nicht für alle örtlichen Traditionen mit ihren biblisch-theologischen Implikationen interessierte. Es ist aber nicht auszuschließen, dass diese Abweichung – wie bereits öfters angedeutet (vgl. Kap. 1.4) – auf die bereits veränderte Vorlage des Enkels zurückgeht. In Anbetracht der Tatsache, dass die bis dato überlieferten hebräischen Handschrif396 Der Stelle Sir 48,17a entspricht in der Vg Sir 48,19a. 397 Vgl. Gesenius / Buhl, ‫נְ ח ֶֹׁשת‬, 499. 398 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 537. 399 Vgl.  Rehkopf, ἀκρότομος, 11 und Liddell, ἀκρότομος, 57. Das Wort kommt vom Verb ἀκροτομέω „oben abschneiden“. Vgl. Benseler / Kaegi, ἀκροτομέω, 30. 400 Vgl. Smith / Smith, ‫ܣܠܩ‬, 379. 401 Das Wort ὑπερηφανία bedeutet „Stolz, Hochmut, Übermut“. Vgl.  Benseler  / Kaegi, ὑπερηφανία, 916. 402 Das Wort ‫ גָ אֹון‬bedeutet „Hoheit, Herrlichkeit, Stolz, Übermut, Hoffart“ Vgl. Gesenius / Buhl, ‫גָ אֹון‬, 123.

250 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

ten mit dem großväterlichen Ausgangstext (H I) im Ganzen nicht zu identifizieren sind, wäre es eventuell auch möglich, dass die Lesart von Ms. B sekundär ist. Dass aber der Vergleich mit der Peschitta in V. 19a entfällt, hängt höchstwahrscheinlich mit einer Tendenz dieser Sprachversion zusammen, in der außerdem V. 17cd und 19b–20a fehlen. Bemerkenswert ist auch, dass die in V. 20a gebrauchte Gottesbezeichnung zwischen ‫„ אל עליון‬der höchste Gott“ in Ms. B und κύριος ὁ ἐλεήμων „der barmherzige Herr“ in G I variiert. Ein weiterer, theologisch relevanter Unterschied betrifft die Darstellung der Niederlage der Assyrer in V. 21b: ‫„ ויהמם במגפה‬und er [scil. Gott] verwirrte sie durch eine Plage“ / ‫„ ܘܡܚܐ ܐܢܘܢ ܡܚܘܬܐ ܪܒܬܐ‬und er hat ihnen einen großen Schlag versetzt“, die nach N. Matty einen historischen Kern gehabt haben soll.403 Im Unterschied zu Ms. B und Syr wird diese Plage in G I auf eine explizit übernatürliche Weise erklärt,404 indem der Vollzug der Strafe durch engelische Vermittlung geschah: καὶ ἐξέτριψεν αὐτοὺς ὁ ἄγγελος αὐτοῦ „und sein Engel405 zerrieb sie“, wobei deutlich Bezug auf 2 Kön 19,35 genommen wird: ‫„ וַ יְ ִהי ַּב ַליְ ָלה ַההּוא וַ ּיֵ ֵצא׀ ַמ ְל ַאְך יְ הוָ ה וַ ּיַ ְך ְּב ַמ ֲחנֵ ה ַאּׁשּור ֵמ ָאה ְׁשמֹונִ ים וַ ֲח ִמ ָּׁשה ָא ֶלף‬Und es geschah in dieser Nacht, da zog ein Engel des HERRN aus und schlug im Lager von Assur 185000 Mann“ / καὶ ἐγένετο ἕως νυκτὸς καὶ ἐξῆλθεν ἄγγελος κυρίου καὶ ἐπάταξεν ἐν τῇ παρεμβολῇ τῶν Ἀσσυρίων ἑκατὸν ὀγδοήκοντα πέντε χιλιάδας „Und es geschah in der Nacht, da ging der Engel des Herrn hinaus und erschlug aus dem Lager der Assyrer 185000 Mann“ / ‫ܘܗܘܐ ܒܠܠܝܐ‬ ̈ ‫„ ܗܘ܂ ܘܢܦܩ ܡܐܠܟܗ ܕܡܪܝܐ ܘܩܛܠ ܒܡܫܪܝܬܗ ܕܐܬܘܪܝܐ܂ ܡܐܐ ܘܬܡܢܐܝܢ ܘܚܡܫܐ‬Und es geschah in 406 ‫ܐܠܦܝܢ‬ jener Nacht und es ging der Engel des Herrn hinaus und er tötete im [Heer]lager des Assyrers 185000 [Mann]“ (vgl. 2 Chr 32,21 und Jes 37,36).407

Diese Einschaltung des Engels erinnert an die Darstellungen der Plage in Ex  12,29408, 2  Sam  24,15–17 und 1  Chr  21,15 und dient vermutlich der stärkeren Betonung der Transzendenz Gottes, obwohl andere Erklärungen nicht ganz 403 Vgl. Matty, Sennacherib’s Campaign, 183–185 und 193. Dass die Blokade Jerusalems durch die Truppen Sanheribs, die während der Eroberung anderer judäischer Städte 701 v. Chr. stattfand, nicht erfolgreich war und die Hauptstadt nicht eingenommen wurde, folgt zumindest daraus, dass der Tribut nach Ninive gesandt und nicht in Jerusalem oder in Juda bezahlt wurde. Vgl. Matty, Sennacherib’s Campaign, 110 und 114–116. 404 Im Unterschied zu Jes 10,16 und 31,8. 405 Das Wort ἄγγελος bedeutet „Bote“ bzw. „Engel“, d. h. „Gottesbote“. Vgl. Benseler / Kaegi, ἄγγελος, 4. 406 Gottlieb / Hammershaimb / Peshiṭta Institute, Kings, 143. 407 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 537 und van Wieringen, Sirach, 199. 408 Bei der zehnten ägyptischen Plage ist im Buch Exodus noch nicht ausdrücklich vom Würgeengel die Rede. Vgl. ὁ παντοδύναμός σου λόγος „dein [scil. Gottes] allmächtiges Wort“ in Weish 18,15. Auf engelische Vermittlung verweist erst der Ausdruck ὁ ὀλοθρεύων „der Verderber“ in Hebr 11,28.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 251

ausgeschlossen sind. Weil nämlich, aufgrund der äußeren Bezeugung, die griechische Übersetzung manchmal „auch dann vorzuziehen [ist], wenn H und Syr dagegen sprechen“409, könnte sich der Engel in V. 21b bereits in der Vorlage des Enkels gefunden haben. Auffallend in G I sind außerdem die nähere Bestimmung des Königs David in V. 22b durch die Hinzufügung der Formulierung τοῦ πατρὸς αὐτοῦ „seines Vaters“. Darüber hinaus charakterisiert der Grieche die Gestalt des Propheten Jesaja durch die Erwähnung von ὅρασις „die Vision“ in V. 22d, während die Peschitta allgemeiner wirkt, indem sie unterstreicht, dass der zuletzt genannte Gottesmann ‫ܡܫܒܚܐ‬ ̈ „der glorreiche [unter] den Propheten“ war. Dazu wird das nur in den Ver‫ܕܢܒܝܐ‬ sionen überlieferte Sonnenwunder, das laut 2 Kön 20,8–11 und Jes 38,7–8 auf das Gebet Jesajas erfolgte und die Heilung des Königs Hiskija begleitete, unterschiedlich geschildert. Denn während der Enkel in V. 23a vom Rückgang der Sonne spricht, erwähnt die Peschitta lediglich den Sonnenstillstand, was wiederum an Sir 46,4a und Jos 10,12–13 erinnert (vgl. Kap. 4.3.4 und 4.3.6). Schließlich übernimmt der Syrer in V. 25a das hebräische Lexem ‫„ עולם‬unabsehbarer Zeitraum, dunkle Vergangenheit, unbestimmte Zukunft“ bzw. „Ewigkeit“410 (vgl. αἰών „Zeitdauer, lange Zeit, Ewigkeit“411), wenngleich er es (‫ )ܥܠܡܐ‬nicht temporal, wie in Sir 3,1b; 39,9c und 44,2, sondern räumlich als „Welt“ versteht (vgl. Sir 3,18a und 39,9b),412 und ersetzt in V. 25b das Wort ‫ נסתרות‬/ τὰ ἀπόκρυφα „das Verborgene“ (vgl. ‫ נסתרות‬in Sir 3,22b und ἀπόκρυφα in Sir 39,3a.7b) mit dem theologisch profï ̈ lierteren Ausdruck ‫ܘܢܣܝܘܢܐ‬ ‫ܐܬܘܬܐ‬ „Zeichen und Versuchungen“.

4.3.3 Kontextualisierung und Gliederung Für die Kontextualisierung von Sir  48,17–25 ist wesentlich, dass diese Perikope innerhalb des Textkomplexes liegt, welcher der Geschichte des geteilten Reiches gewidmet ist (gleich nach Elija und Elischa). Ihm gehen die Texte über die Patriarchen (Henoch, Noach, Abraham, Isaak und Jakob in Sir 44), das Exodusgeschehen (Mose, Aaron und Pinhas in Sir 45), die Richterzeit (Josua, Kaleb, Richter und Samuel in Sir 46) sowie das ungeteilte Reich von David und Salomo (vgl. Sir 47) voraus. Danach folgen die Abschnitte über die späteren Helden Israels von der Zeit des Untergangs des Reiches über den Wiederaufbau des Tempels (vgl. Sir 49) 409 Reiterer, Urtext, 14. 410 Vgl. König, ‫עֹולם‬, ָ 318. Die Übersetzung „Ewigkeit“ ist jedoch nicht unproblematisch, weil die „Ewigkeit“ genaugenommen zeitlos ist. 411 Vgl. Benseler / Kaegi, αἰών, 24. 412 Vgl. Smith / Smith, ‫ ܥܠܡܐ‬, 415 und Hanna / Bulut, ‫ ܥܠܡܐ‬, 296 (aramäisch).

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

bis hin zum Hohepriester Simeon II. (vgl. Sir 50), der die gesamte Geschichtsdarstellung Sirachs abschließt. Durch eine solche Platzierung im Väterlob werden die beiden Protagonisten, Hiskija und Jesaja, in die Reihe der Helden Israels aufgenommen. Als formale Abgrenzung des zu untersuchenden Textes nach vorne und nach hinten fungieren die zusammenfassenden Notizen über die Herrscher in Sir 48,16413 und 49,4 sowie die Passage über den gotttreuen König Joschija in Sir 49,1–3.414 Mit dem letzteren wird Hiskija als einer der wenigsten Könige gepriesen, die das Rechte getan haben (vgl. ‫„ יושר‬das Gebührende“ in Sir 48,16 bzw. ‫„ הטוב‬das Gute“ in Sir 48,22a; τὸ ἀρεστὸν „das Wohlgefällige“ in Sir 48,16.22a; ‫„ ܬܝܒܘܬܐ‬die Buße“415 in Sir 48,16 bzw. ‫„ ܛܒ‬Gutes“ in Sir 48,22a und ex negativo in Sir 49,4). Der Einbindung von Sir 48,17–25 in den Kontext des Sirachbuches dienen hingegen die Erwähnung Davids in Sir 48,16.22b und 49,4 sowie das Motiv der ausgestreckten Hand, das entweder als Gestus des Drohens in Sir 46,2a (Josua gegen die Stadt Ai) und Sir 48,18c (Rabschake gegen Sion) oder als Gebetsgebärde in Sir 48,20b zu verstehen ist. Auf einige weitere Verbindungen mit der Josuaperikope in Sir 46,1–6 wird im Nachfolgenden eingegangen. Bereits ein grober Überblick über die Perikope lässt ihre dreigliedrige Struktur erkennen (vgl. Tab. 17). Im ersten Teil, der eine Art Exposition bildet, werden die von Hiskijas eingeleiteten Vorbereitungen auf die befürchtete Belagerung Jerusalems, wie etwa der Bau von Wasserleitung und -speicher in V. 17, geschildert. In den zwei weiteren Teilen werden entsprechend die Ereignisse um den Feldzug Sanheribs, vor allem das Gebet und die Rettung der Juden durch die Vermittlung Jesajas in V. 18–22, sowie die weiteren Taten des genannten Propheten in V. 23–25 dargestellt. Diese Gliederung wird in G I dadurch unterstützt, dass V. 18a und 23a jeweils mit dem Präpositionalausdruck ἐν (ταῖς) ἡμέραις αὐτοῦ „in seinen Tagen“ ̈ in V. 18a), während V. 23a in Syr mit ‫„ ܡܛܠ ܕ‬denn“ beginnen (vgl. ‫ בימיו‬und ‫ܒܝܘܡܘܗܝ‬ angeleitet wird (in Ms. B XVIII recto fehlt die ganze Stelle). Gleichzeitig ist der gesamte Abschnitt von einer fortschreitenden Dynamik durchzogen, mittels der die Gestalt des im Auftrag Gottes handelnden Jesaja hervorgehoben wird, was besonders deutlich durch das in V. 22d an ihn gerichtete Lob zum Ausdruck kommt. Demgegenüber agiert der König Hiskija in V. 17 zwar aktiv, indem er die Mauern Jerusalems befestigen und einen langen Wassertunnel durch den Felsen des Berges Ophel mit metallenen Hacken schlagen lässt, um so mit großer Mühe das Wasserelement zu beherrschen. Schließlich bleibt er aber, 413 Peters zählt Sir 48,15–16 der Hiskija-Jesaja-Perikope zu. Vgl. Peters, Das Buch Jesus Sirach, 414–415. 414 Vgl. van Wieringen, Sirach, 195. 415 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܬܝܒܘܬܐ‬, 417 (aramäisch).

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 253

von tödlicher Krankheit geschwächt, gänzlich auf Jesajas (in G I) bzw. göttliche Hilfe angewiesen (vgl.  die Verlängerung des Lebens in V.  23b in Syr als passivum divinum). Im Unterschied dazu gehorcht dem Propheten selbst die Sonne in V. 23a, wobei diesem Wunder unmittelbar keine Anstrengung vorausgeht. Tab. 17: Die Gliederung von Sir 48,17–25. Teil

Inhalt

I

Exposition

17

II

Feldzug der Assyrer und Errettung Jerusalems

18

III

Sonstige Tätigkeit Jesajas

Verse

Form und Inhalt Befestigung Jerusalems und Bau der Wasserleitung und des Teiches durch Hiskija ̈ Zäsur mit ‫ בימיו‬/ ἐν ἡμέραις αὐτοῦ / ‫ܒܝܘܡܘܗܝ‬ Übermütige Gesandtschaft Sanheribs

19

Ängstliche Reaktion der Judäer LXX: Zäsur mit dem Adverb τότε

20

GEBET und ERHÖRUNG durch Jesajas Vermittlung Nur Syr: allein Hiskija als Fürbeter

21

Wunderbare Vernichtung des assyrischen Heeres

22

Begründung (γὰρ / ‫)ܡܛܠ‬ mit dem Wandel Hiskijas in der Nachfolge Davids und seinem Hinhören auf die Weisungen Jesajas

23

Sonnenwunder und Heilung Hiskijas durch Jesaja LXX: Zäsur mit ἐν ταῖς ἡμέραις αὐτοῦ Syr: Begründung (‫)ܡܛܠ‬

24–25

Prophezeiungen Jesajas

Die Sonderstellung des Propheten kommt außerdem in der Begründung der rettenden Intervention Gottes während des Kriegszugs gegen Jerusalem zum Ausdruck. Denn obwohl die Wirksamkeit der Fürbitte in V. 20a, die in der Niederlage der Assyrer in V. 21ab besteht, durch das rechte Verhalten des judäischen Königs in V. 22ab bedingt ist,416 bleibt es letztlich der im göttlichen Auftrag handelnde Jesaja, auf dessen Weisungen der König laut V. 22c hört. Ansonsten verweist Sirach in V. 24–25 auf die Weissagungen des Jesajabuches, indem er in V. 24a beim „Geist der Stärke“ höchstwahrscheinlich die Ankündigung des Messias in Jes 11,2 und beim „Sehen des Künftigen“ (‫ )חזה אחרית‬die prophetischen Visionen z. B. in Jes 1,1; 2,1 und 13,1 im Blick hält,417 die nicht von den heidnischen Göttern (vgl. Jes 41,22), sondern nur von JHWH kommen können (vgl. Jes 46,10). Schließ-

416 Dabei erinnert die Hervorhebung des gottgefälligen Wandels Hiskijas stark an die Begründung des militärischen Erfolgs Josuas in Sir 46,6e (vgl. Kap. 4.2.3). 417 Vgl. van Wieringen, Sirach, 201.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

lich ist in V. 24b bei der Tröstung bzw. Erweckung der „Trauernden Zions“ sowohl an die Verheißung der Heimkehr in Jes 40,1 und 57,18 als auch an die frohe Botschaft in Jes 61,3 und 66,10–13 zu denken.418 Die bisher geschilderte, unbestreitbare Überlegenheit Jesajas gegenüber jeglicher weltlichen Obrigkeit fügt ihn in die Reihe der prophetischen Gestalten des Väterlobes ein, die zunächst im ungeteilten Reich (Samuel und Natan) und später im Nordreich (Elija und Elischa) und im Südreich (Jesaja und Jeremia) wirkten. Besonders deutlich ist die Verbindung zu Elija, mit welchem der große Seher die Macht über Naturereignisse teilt (vgl.  Sir  46,4 und 48,23).419 Bemerkenswert ist auch der Verweis auf David in Sir 48,22b, welcher dem König Hiskija, der wiederum auf Jesajas Rat hört, als Vorbild dient. Denn dadurch liegt die Anspielung auf Natan nahe, der laut Sir 47,1 vor David mutig hintrat, um ihn zur Umkehr zu bewegen.420 Im Hintergrund all dieser Schriftbezüge steht die sirazidische Prophetentheologie, welche die Propheten als Begleiter der Geschichte Israels versteht, die nur dann gelingt, wenn ihrer Botschaft Gehör geschenkt wird.421

4.3.4 Intertextualität Als Teil des Väterlobes ist die Perikope in Sir 48,17–25 als Relecture und Auslegung der biblischen Geschichte Hiskijas und Jesajas zu betrachten, die in 2 Kön 18–20; 2  Chr  32 und Jes  36–39 in drei aufeinanderfolgenden Erzählungen entfaltet wird: Die erste Erzählung über die zwei assyrischen Gesandtschaften liegt in 2 Kön 18,13–19,37; 2 Chr 32,1–22 und Jes 36,1–37,38 vor, die zweite über die Krankheit Hiskijas in 2 Kön 20,1–11 und Jes 38,1–22 und die dritte über die Gesandtschaft aus Babel in 2 Kön 20,12–21 und Jes 39,1–8,422 während sich in 2 Chr 32,23–33 die beiden Berichte über die Krankheit des Königs und über den Besuch aus Babel abwechseln. Die einzelnen Elemente dieser Erzählungen wurden von Sirach aufgenommen und neu interpretiert, wie im Folgenden gezeigt wird. So handelt es sich bei den Befestigungen Jerusalems in V. 17a höchstwahrscheinlich um den in 2 Chr 32,5 bezeugten Ausbau der Stadtmauer durch den judäischen König Hiskija. Mit ihm in Verbindung steht auch der in V. 17bc erwähnte, mit ehernen (vgl. Ms. B) bzw. eisernen (vgl. G I) Hacken ausgehauene Tunnel, der angesichts der drohenden assyrischen Belagerung der Hauptstadt 418 Vgl. van Wieringen, Sirach, 191–192 und 201. 419 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 357. 420 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 345 und 365. 421 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 356. 422 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 9.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

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die Versorgung der Bevölkerung mit frischem Trink- und Nutzwasser sicherstellen sollte.423 Zu diesem Zweck wurde laut 2 Chr 32,3–4.30 die Gihonquelle verstopft, die anfänglich am Ostfuß der Davidstadt im Kidrontal außerhalb der damaligen Stadt entsprungen war. Dabei wurde das Quellwasser anstelle der früheren „Wasserleitung des oberen Teiches“ (vgl. 2 Kön 18,17; Jes 7,3; 36,2), die zur Bewässerung des Königsgartens (vgl. Neh 3,15) gedient hatte, durch den besagten, 533 Meter langen Tunnel direkt in den innerhalb der Stadtmauern gelegenen Schiloahteich (vgl. 2 Kön 20,20; Joh 9,1–7) am Südwesthügel hineingeleitet.424 Dazu befahl Hiskija laut V. 17d die Anlegung eines künstlichen Teiches: ‫„ ויחסום הרים מקוה‬Und er dämmte mit [Schutt]bergen einen Teich ein“, was zusammen mit seinen anderen Bauprojekten in 2 Kön 20,20 neutral bis positiv eingeschätzt wird. Dies geht einher mit seiner Treue zu JHWH während der zwei Gesandtschaften Sanheribs (vgl. 2 Kön 18,13–19,13; 2 Chr 32,9–20; Jes 36,1–37,20), von denen Sirach nur die erste darstellt, wie es an den Begleitumständen zu erkennen ist (vgl. die Drohgeste und die anmaßenden Worte des Rabschake in V. 18cd sowie die Metapher der Schmerzen der Gebärenden in V. 19b). Bei solcher Würdigung scheint aber die auf den judäischen Monarchen und die Verteidiger Jerusalems bezogene, nur in Ms. B in V. 19a überlieferte kritische Bemerkung: ‫[„ ]אז נ[מוגו בגאון לבם‬Da] sind sie im Übermut ihres Herzens erbebt“, wenig verständlich zu sein. Denn aufgrund des äußeren Erzählduktus wirkt dieses Zitat bei Sirach so, als ob es die Fehlerhaftigkeit der genannten Personen unmittelbar nach den Lästerungen des assyrischen Gesandten in V. 18d beträfe. Weil das problematische Wort ‫ גָ אֹון‬auch sonst in der prophetischen Literatur, nicht nur bei der Kritik Babels (vgl. Jes 13,11.19), Moabs (vgl. Jes 16,6 und Jer 48,29) und Tyrus’ (vgl. Jes 23,9),425 sondern auch in Bezug auf Jerusalem, vorkommt (vgl. Ez 16,56), würde es nämlich eine ernstzunehmende Kritik seiner Bewohner inmitten der assyrischen Kampagne involvieren. Diese auffällige Notiz lässt deshalb die Frage nach einer inneren Chronologie der Ereignisse aus der Regierung Hiskijas aufkommen (vgl. Tab. 18), die dem Autor als Erzählstoff der hier zu exegetisierenden Perikope dienten. Besonders aufschlussreich wäre hierbei, den Zeitpunkt der Heilung des todkranken Hiskija in V. 23b zu klären. Denn die oben genannte problematische Formulierung in V. 19a könnte eine Anspielung auf

423 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 363. 424 Von der letzten Phase dieses Bauprojektes wird in der althebräischen Hiskija-Inschrift berichtet, die im Ausgang der besagten unterirdischen Wasserleitung im Jahre 1880 gefunden wurde. Vgl. Dalman, Jerusalem, 171 und Fürst / Geiger, Im Land des Herrn, 527. 425 Vgl. van Wieringen, Sirach, 204.

256 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

2 Chr 32,25–26 sein, wo von Undankbarkeit und Hochmut Hiskijas im Anschluss an seine wunderbare Genesung die Rede ist: ‫ירּוׁש ָלםִ וַ ּיִ ָּכנַ ע יְ ִחזְ ִקּיָ הּו ְּבג ַֹבּה ִלּבֹו הּוא וְ י ְֹׁש ֵבי‬ ָ ִ‫הּודה ו‬ ָ ְ‫א־כגְ ֻמל ָע ָליו ֵה ִׁשיב יְ ִחזְ ִקּיָ הּו ִּכי גָ ַבּה ִלּבֹו וַ יְ ִהי ָע ָליו ֶק ֶצף וְ ַעל־י‬ ִ ֹ ‫וְ ל‬ ‫ימי יְ ִחזְ ִקּיָ הּו‬ ֵ ‫יהם ֶק ֶצף יְ הוָ ה ִּב‬ ֶ ‫א־בא ֲע ֵל‬ ָ ֹ ‫רּוׁש ָלםִ וְ ל‬ ָ ְ‫„ י‬Aber Hiskia vergalt nicht die Wohltat, die an ihm erwiesen worden war, denn sein Herz wurde hochmütig. Und es kam ein Zorn Gottes über ihn und über Juda und Jerusalem. Da demütigte sich Hiskia wegen des Hochmutes seines Herzens, er und die Bewohner von Jerusalem; und der Zorn des HERRN kam nicht über sie in den Tagen Hiskias“.

Weil jedoch laut Jes 38,9–20 der jüdäische König unmittelbar nach seiner Heilung ein Danklied sang, wäre sein Fehlverhalten eventuell auf den Stolz zu beziehen, mit dem er der babylonischen Gesandtschaft begegnete. Dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass das letzte Ereignis vom Chronisten getrennt berichtet und eigens kommentiert wird.426 In Bezug auf die innere chronologische Abfolge der besagten Ereignisse lässt sich feststellen, dass die in 2 Kön 20,6 und Jes 38,1–8 verheißene Rettung Jerusalems aus der Gewalt Sanheribs, des Königs von Assyrien, endgültig erst später bei seinem Tod in Ninive in 2 Chr 32,22 geschah. Weil aber diese Verheißung mit der Vorankündigung der Heilung des judäischen Königs zusammenhing, müsste sie noch während seiner Krankheit erklungen sein. Umso mehr müsste die in der zweiten Erzählung des Hiskija-Jesaja-Zyklus erwähnte Krankheit vor dem Tod Sanheribs stattgefunden haben, auch wenn es dem äußeren Duktus der Bücher der Könige, der Chronik und Jesaja widerspricht. Auch die in der darauffolgenden Erzählung erwähnte babylonische Delegation müsste in Jerusalem angetroffen sein, noch bevor das assyrische Heer die Stadt belagerte.427 Demzufolge wäre die Zeitbestimmung ‫ ַּבּיָ ִמים ָה ֵהם‬/ ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις „in jenen Tagen“ in 2 Kön 20,1; 2 Chr 32,24 und Jes 38,1428, die das Heilungswunder einleitet, nicht konsekutiv, sondern gleichzeitig429 zu lesen, d. h. im Sinne einer Explikation der vorausgehenden Erzählung über den Kriegszug Sanheribs. Dasselbe betrifft auch den darauf rekurrierenden Ausdruck in V. 23a: ἐν ταῖς ἡμέραις αὐτοῦ „in seinen Tagen“, der in der Übersetzung des Enkels den dritten Teil der Perikope einleitet (vgl. Tab. 17), an dessen Stelle allerdings in Syr die kausale Satzverbindung mit ‫„ ܡܛܠ ܕ‬denn“ tritt.

426 Vgl. Japhet / Mach, 2 Chronik, 435. 427 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 29. 428 Hier liest die LXX: ἐν τῷ καιρῷ ἐκείνῳ „in jener Zeit“. 429 Vgl. Japhet / Mach, 2 Chronik, 434–435.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 257

Tab. 18: Die Chronologie der Regierungszeit Hiskijas. Die kursiv markierten Ereignisse: die Zerstörung Samarias, die Gesandtschaft aus Babel und der Tod Hiskijas werden von Sirach nicht erwähnt. Äußerer Erzählduktus in 2 Kön

Innere Chronologie in Sir

Zerstörung Samarias (18,10)

Zerstörung Samarias (um 722 v. Chr.)

Zwei Gesandtschaften Sanheribs und Blockade Jerusalems durch die Assyrer (18,13–19,13)

Bauprojekte Hiskijas (im Rahmen der Vorbereitungen auf die Belagerung Jerusalems)

GEBET Hiskijas und Niederlage der Feinde wegen der Seuche (19,14–37)

Krankheit Hiskijas (als Strafe für den Übermut), Gebet Hiskijas, Verheißung der Genesung Hiskijas, Rettung der Stadt und Heilung Hiskijas durch Jesaja (um 713 v. Chr.)

Krankheit und Gebet Hiskijas, Verheißung der Genesung Hiskijas, Rettung der Stadt und Heilung Hiskijas durch Jesaja (20,1–11)

Delegation aus Babel

Delegation aus Babel (20,12–19)

Zwei Gesandtschaften Sanheribs und Blockade Jerusalems durch die Assyrer (um 701 v. Chr.)

Bauprojekte Hiskijas (20,20)

GEBET Hiskijas und Niederlage der Feinde wegen der Seuche

Tod Hiskijas (20,21)

Tod Hiskijas (um 698 v. Chr.)

Einen weiteren hilfreichen Hinweis dazu liefert die Notiz des Historiographen, dass Hiskija in Antwort auf die beiden assyrischen Gesandtschaften jeweils zum JHWH-Tempel ging (vgl. 2 Kön 19,1.14), sodass eine schwere Krankheitsepisode keineswegs auf diese Zeit (vgl.  Jes  38,22), sondern entweder zwischen der Vernichtung des feindlichen Heerlagers bei Jerusalem und dem Tod Sanheribs im Jahre 681 v. Chr.430 (vgl. 2 Kön 19,35–37 und Jes 37,36–38) oder – viel wahrscheinlicher – vor der assyrischen Blockade im Jahre 701 v. Chr.431 zu beziehen ist. Für den Ablauf der Krankheit noch vor diesem Datum spricht nämlich die aus 2 Kön 20,6 und Jes 38,5 zu entnehmende Tatsache, dass sich die Heilung Hiskijas 15 Jahre vor seinem Tod ereignen sollte. Weil der König wahrscheinlich um 698 v. Chr. starb,432 nachdem er 29 Jahre lang über Juda geherrscht hatte (vgl. 2 Kön 18,2), ist seine Erkrankung im vierzehnten Regierungsjahr vermutlich in das Jahr 713 v. Chr. zu datieren. Sollte es sich dabei um eine Art Strafe handeln (vgl. 2 Chr 32,25–26

430 Vgl. Kalimi, Zur Geschichtsschreibung, 33. 431 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 36. 432 Die Herrschaft Hiskijas wird zwischen 727 und 698 v. Chr. oder zwischen 716/715 und 687/686 v. Chr. angesetzt. Vgl. Japhet / Mach, 2 Chronik, 422 und Brzegowy, Pismo Święte, 1736.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

und Jes 38,10433), dann wäre vom Bestehen einer entsprechenden Schuld in der Zeit davor, d. h. noch im Laufe der Vorbereitungen auf den befürchteten Kriegszug gegen Jerusalem auszugehen. Ins Spiel kommt hier vor allem der Zeitraum von acht Jahren: zwischen dem sechsten Regierungsjahr (Eroberung Samarias 722 v. Chr.434 in 2 Kön 18,10) und dem vierzehnten Regierungsjahr Hiskijas (kurz nach der Einnahme der befestigten Städte Judas in 2  Kön  18,13), wie in Tab.  18 aufgezeigt. Die oben erwähnte kritische Bemerkung ‫„ בגאון לבם‬im Stolz“ bzw. „im Übermut ihres Herzens“ in V. 19a, die an die Adresse der judäischen Oberschicht gerichtet wird, könnte sich im Konkreten auf den Bau des Wasserreservoirs (‫ מקוה‬/ κρήνη) in V. 17d beziehen. Dieses Unternehmen wird auch in Jes 22,11 als Zeichen der Selbstgefälligkeit angeprangert, da sich dabei Hiskija – widersprüchlich zu seinem theophoren Namen435 – und die Bewohner Jerusalems mehr auf ihre eigenen Kräfte verließen als auf Gott, den allmächtigen Schöpfer und wahren Garanten ihrer Sicherheit:436 ‫יה וְ י ְֹצ ָרּה ֵמ ָרחֹוק‬ ָ ‫יתם ֵּבין ַהחֹמ ַֹתיִם ְל ֵמי ַה ְּב ֵר ָכה ַהיְ ָׁשנָ ה וְ לֹא ִה ַּב ְט ֶּתם ֶאל־ע ֶֹׂש‬ ֶ ‫ּומ ְקוָ ה׀ ֲע ִׂש‬ ִ ‫יתם‬ ֶ ‫„ לֹא ְר ִא‬Und ihr macht ein Sammelbecken zwischen den beiden Mauern für die Wasser des alten Teiches. Aber ihr blickt nicht auf den, der es getan, und seht den nicht an, der es lange vorher gebildet hat“.437 Analog dazu wird in Jes 37,25.26 das selbstgefällige Verhalten des assyrischen Königs Sanherib, der nach Wasser graben ließ und es trank, der schaffenden (‫ ָע ָׂשה‬und ‫ )יָ ַצר‬Vorsehung Gottes gegenübergestellt und massiv kritisiert. Ferner fällt auf, dass das Motiv des Teiches auch in Sir 10,12–13 in Verbindung sowohl mit dem Übermut als auch mit dem Schöpfergott vorkommt: ‫ומקור ֹה יביע זמה‬ ְ ‫ּומע ֵֹׂשהּו יסור מלבו כי מקוה זדון חטא‬ ֵ ‫מּועז‬ ָ ‫תחלת גאון אדם‬438 „Der Anfang des Stolzes ist, wenn der Mensch mächtig wird, dann wendet sich von seinem Schöpfer sein Herz. Denn das Sammelbecken des Übermuts ist die Sünde, und ihre Quelle läßt Frevel hervorsprudeln“.

433 J. Biesenthal und der bereits erwänte R.-F. Edel übersetzen die Stelle Jes 38,10 wie folgt: „Ich bin gestraft (‫)ּפ ַּק ְד ִּתי‬ ֻ um den Rest meiner Jahre“. Vgl. Biesenthal, Hebräisches und chaldäisches Schulwörterbuch, 481 und Edel, Hebräisch-deutsche Präparation, 94. 434 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 21 (Fußnote 32). 435 Sein Name bedeutet „Stärke JHWHs“ (vgl. Kap. 4.3.2). 436 Vgl. Brzegowy, Pismo Święte, 1698. Ganz davon zu schweigen, dass die Judäer Zuflucht bei ihren Verbündeten suchten, vor allem bei den Ägyptern, wie etwa in Jes 30,1–7. Vgl. Huber, Jahwe, 94. Zwar kommt dieser Vorwurf auch in der Ansprache des Rabschake in 2 Kön 18,21 vor, er wird aber nicht erwidert. 437 Ein wichtiger Beleg für die Wirkungskraft dieses Gedankens ergibt sich daraus, dass die Vorstellung Gottes als Bildner seiner Stadt noch in Hebr 11,10 fortlebt: ἐξεδέχετο γὰρ τὴν τοὺς θεμελίους ἔχουσαν πόλιν ἧς τεχνίτης καὶ δημιουργὸς ὁ θεός „denn er erwartete die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“. 438 In Ms. A III verso und IV recto.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 259

Aus diesem Grund könnte die von Sirach angeführte Errichtung des neuen Wasserspeichers als Versuch gedeutet werden, den dritten Tag der Schöpfungswoche in Gen 1,9–10 zu klischieren, an dem Gott das Wasser zusammenströmen ließ, sodass eine „Versammlung“ (‫ ִמ ְקוֶ ה‬/ τὰ συστήματα) des Wassers entstand.439 Auch die von Hiskija angeordnete Leitung des Wassers in die Stadt könnte als Abklatsch der Schöpfung Gottes in Ps 104,10 verstanden werden: „Du, der Quellen entsendet in die Täler: Zwischen den Bergen fließen sie dahin“, weil die als Damm fungierenden „Berge“ (‫)ה ִרים‬ ָ auch in V. 17d in Ms. B direkt erwähnt werden. Bei der Durchbohrung des schroffen Felsen (‫ צורים‬/ ἀκρότομος) in V. 17c wäre außerdem eine Anspielung auf das Wunder des Wassers aus dem Felsen in Ex 17,1–7 denkbar (vgl. Dtn 8,15: ‫ּמֹוציא ְלָך ַמיִ ם ִמּצּור ַה ַח ָל ִמיׁש‬ ִ ‫[„ ַה‬der Herr,] der dir Wasser aus dem Kieselfelsen hervorbrachte“ / τοῦ ἐξαγαγόντος σοι ἐκ πέτρας ἀκροτόμου πηγὴν ὕδατος „der dir aus einem schroffen440 Felsen eine Wasserquelle hervorbrachte“; Ps 114,8: ‫נֹו־מיִ ם‬ ָ ְ‫ם־מיִ ם ַח ָל ִמיׁש ְל ַמ ְעי‬ ָ ַ‫[„ ַהה ְֹפ ִכי ַהּצּור ֲאג‬der Herr,] der den Felsen verwandelte in einen Wasserteich, den Kieselfelsen in einen Wasserquell“ / τοῦ στρέψαντος τὴν πέτραν εἰς λίμνας ὑδάτων καὶ τὴν ἀκρότομον εἰς πηγὰς ὑδάτων „der den Felsen in Wasserteiche verwandelte und das schroffe Gestein in Wasserquellen“; Ps 135,16 LXX: τῷ ἐξαγαγόντι ὕδωρ ἐκ πέτρας ἀκροτόμου „[der Herr,] der Wasser aus einem schroffen Fels hervorkommen ließ“ und Weish 11,4: καὶ ἐδόθη αὐτοῖς ἐκ πέτρας ἀκροτόμου ὕδωρ καὶ ἴαμα δίψης ἐκ λίθου σκληροῦ „und ihnen wurde aus steilwandigem Fels Wasser gegeben und ein Heilmittel gegen den Durst aus hartem Stein“). Hierbei sei daran erinnert, dass Jerusalem und vor allem der Berg Zion im Judentum als axis mundi galt, d. h. als der Ort, an dem sich der Himmel und die Erde berühren.441 Eine solche Deutung wird bereits durch die Namensgleichheit

439 Gemäß der ersten Schöpfungserzählung nannte Gott die Versammlung des Wassers ‫יַּמים‬ ִ ̈ „Meer“. An ein solches Urmeer, den himm(als amplikativer Plur. von ‫ )יָ ם‬/ αἱ θάλασσαι / ‫ܝܡܡܐ‬ lischen bzw. den unterirdischen Ozean, kann ferner das eherne Wasserbecken in 1 Kön 7,23–26 und 2 Chr 4,2–6.10 anknüpfen, das auch als ‫ יָ ם‬/ θάλασσα / ‫„ ܝܡܐ‬Meer“ bezeichnet wurde und zu rituellen Waschungen der Priester diente. Vgl. Würthwein, Die Bücher der Könige, 79. Vgl. auch ‫ ַה ִּכּיֹור נְ ח ֶֹׁשת‬/ τὸν λουτῆρα χαλκοῦν „das bronzene (Wasch)becken“ in Ex 38,8. Auf ebendiese Ausstattung des Heiligtums könnte vielleicht auch der Sirazide beim Wasserspeicher in V. 17d rekurrieren, weil er im vorausgehenden V. 17c ‫„ נחשת‬Bronze“ erwähnt. Die eigenmächtige Anlegung des neuen Bassins durch Hiskija wäre deshalb zusätzlich als Anmaßung priesterlicher Dienste zu verstehen. Weil aber in V. 17c in G I als Material der Werkzeuge, mit denen der Wassertunnel ausgehauen wurde, statt der Bronze das Eisen genannt wird (vgl. Kap. 4.3.2), ist hier die vermutliche Anspielung kaum zu erkennen. 440 Wörtlich: „scharfkantigen“. Vgl. LXX.D. 441 Vgl. Stager, Jerusalem, 37. Hier wurden auch – gemäß der jüdischen Tradition – die Stammeltern, Adam und Eva, begraben. Vgl. Stager, Jerusalem, 37. Bereits zur Zeit des Zweiten Tempels

260 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

der nie versiegenden Quelle der Davidstadt mit einem der vier paradiesischen Ströme in Gen 2,13 signalisiert, was auch die vermutliche Wiedergabe von „Gihon“ in V. 17b in den griechischen Majuskelkodizes Vaticanus und Sinaiticus nahelegt (vgl. Kap. 4.3.1). Die Verbindung der Gihonquelle mit dem paradiesischen Garten bleibt auch in Sir 24442 und im NT, vor allem in den johannäischen Schriften, nicht unbekannt.443 Eine solche Identifikation der judäischen Hauptstadt als irdischer Garten Eden wird außerdem durch die Lokalisation des mit dem Gihonwasser bewässerten Königsgartens im Kidrontal unterstützt, was wiederum an die antiken königlichen Gärten in Mari und Babel am Euphrat sowie in Assur und Ninive am Tigris als „kleine Paradiese auf Erden“ denken lässt444 (vgl.  Gen  2,10–14). Demselben Ziel dienten wahrscheinlich auch die Blumen, Bäume und Cherubim, die das „Haus des Herrn“ schmückten (vgl. 1 Kön 6–7; Ps 52,10; 92,13–14).445 An dieser Stelle ist hinzufügen, dass das Jerusalemer Quellwasser vornehmlich mit dem Tempel in Verbindung gebracht wird. Denn, bevor es im Kidrontal entspringt, fließt es – wie es anlässlich eines Unfalls 2002 entdeckt wurde – durch den karstigen Untergrund des Tempels hindurch,446 was mehrmals im AT thematisiert wird (vgl. die Tempelquelle in Ps 36,9–10; Ez 47,1–12 und Joël 4,18).447 In diesem spezifischen Kontext könnten die von Hiskija unternommenen Bauarbeiten am Wassertunnel und -speicher sogar als Anmaßung priesterlicher Dienste verstanden werden, da er auf diese Weise die Grenzen seiner Aufgaben überschritten und bereits in den sakralen Bereich hinübergegriffen hätte. Ein solcher Übergriff geschah tatsächlich, als er Gold und Silber vom Tempel nahm und damit den Assyrern den Tribut als Zeichen der Unterwerfung bezahlte (vgl.  2  Kön  18,13–16), um dem bitteren Los von Damaskus und Samaria vorzubeugen.448 Für diese Interpretation spräche zumindest die überraschend positive

galt Jerusalem als Ort der Erschaffung und des Begräbnisses Adams. Vgl. Gafni, Jews, 82 (dazu Fußnote 16). 442 Neben der Erwähnung der Stadt Jerusalem in Sir  24,11 und der vier Paradieseströme in Sir 24,25–27 vergleicht der Autor, der selbst aus Jerusalem stammte (vgl. Sir 50,27 in G I), seine Weisheitslehre in Sir 24,30–34 mit einem Bewässerungskanal, der einen Garten tränkt. 443 Vgl. lebendiges Wasser am Laubhüttenfest in Joh 7,37–38 sowie Speichelteig und Waschung des Blindgeborenen mit dem Wasser des von Gihon gespeisten Schiloahteichs in Joh 9,1–12 als Anspielung auf die Erschaffung des Menschen in Gen  2,7. Vgl.  Berger, Kommentar, 368. Dazu kommt noch der paradiesische Strom im himmlischen Jerusalem in Offb 22,1.17, was dem anagogischen Sinn der Stadt Jerusalem nach Cassian entspricht. Vgl. KKK 117. 444 Vgl. Stager, Jerusalem, 38 und 41. 445 Vgl. Stager, Jerusalem, 37, 43–44 und 47. 446 Vgl. Fürst / Geiger, Im Land des Herrn, 525. 447 Vgl. Stager, Jerusalem, 39–41. 448 Vgl. Matty, Sennacherib’s Campaign, 116 und 187.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 261

Schilderung des Hohepriester Simeons II. im Väterlob (vgl. Kap. 1.3), obwohl er die gleichen Bauarbeiten am Tempelkomplex – vor allem am Teich in Sir 50,3 – wie Hiskija durchführen ließ:449 ‫אשר בדורו נכרה מקוה אשיח בם בהמונו‬450 „In dessen [scil. Simeons] Zeit der Teich hergestellt ward, ein Behälter wie das Meer in seinem Brausen“ / ἐν ἡμέραις αὐτοῦ ἐλατομήθη ἀποδοχεῖον ὑδάτων λάκκος ὡσεὶ θαλάσσης τὸ περίμετρον „[I]n seinen Tagen wurde ein Becken für Wasser aus dem Felsen geschlagen, eine Zisterne gleichsam wie der Umfang des Meeres“.451

Eine weitere Erklärung der problematischen Aussage über den „Übermut“ der Jerusalemer in Ms. B könnte der darauffolgende Satz in V. 19b liefern: ‫ויחילו כיולדה‬ „und sie wandten sich wie eine Gebärende“ / καὶ ὠδίνησαν ὡς αἱ τίκτουσαι „und sie hatten Wehen wie die Gebärenden“, der die äußerste Hilflosigkeit der Umzingelten ausdrückt und an die an Jesaja gerichtete Botschaft in 2 Kön 19,3 und Jes 37,3 anknüpft (vgl. Kap. 4.3.5). Dabei ist zu beachten, dass in den genannten Bezugstexten als Boten einige Personen aus dem Umkreis Hiskijas erwähnt werden, wie unter anderen der Staatsschreiber Schebna. Der letztere hatte bis dahin das höchste Amt des Palastvorstehers inne, wurde aber abgesetzt infolge seines stolzen Verhaltens, das in Jes 22,16 folgendermaßen kritisiert wird: ‫ה־לָך‬ ְ ‫ַמ‬ ‫י־ח ַצ ְב ָּת ְלָך ּפֹה ָק ֶבר ח ְֹצ ִבי ָמרֹום ִק ְברֹו ח ְֹק ִקי ַב ֶּס ַלע ִמ ְׁש ָּכן לֹו‬ ָ ‫ּומי ְלָך פֹה ִּכ‬ ִ ‫„ פֹה‬Was hast du hier, und wen hast du hier, daß du dir hier ein Grab aushaust? – du, der sein Grab aushaut hier auf der Höhe, sich eine Wohnung in den Felsen meißelt?“ Sowohl bei diesem übermütigen Beamten als auch beim König Hiskija, der in V. 17c den unterirdischen Wassertunnel aushauen (‫ )חצב‬und in V. 17d den Teich errichten ließ, handelt es sich um anmaßende Bauprojekte. In beiden Fällen wäre deshalb die assyrische Bedrohung der Hauptstadt mit Recht als Gericht über ihre sündhaften Bewohner zu deuten, gemäß den Gerichtsworten in Jes 33,14: ‫ָּפ ֲחדּו ְב ִצּיֹון ַח ָּט ִאים‬ ‫„ ָא ֲחזָ ה ְר ָע ָדה ֲחנֵ ִפים‬Die Sünder in Zion sind erschrocken, Zittern hat die Gottlosen gepackt“, die wiederum an die kritische Aussage des hebräischen Textes in V. 19a erinnern: ‫[„ ]אז נ[מוגו בגאון לבם‬Da] sind sie im Übermut ihres Herzens erbebt“. Weil aber der Ausdruck „Übermut“ an dieser Stelle in G I ausbleibt und V. 19a–20a in Syr fehlen (vgl. Kap. 4.3.2), bietet Ms. B – dank der Aufnahme der jesajanischen Kritik an Jerusalem – einen tieferen Blick auf die relevanten biblischen Ereignisse als die antiken Versionen. Insgesamt lässt sich sagen, dass Sir 48,17–25 den Raum für eine chronologische Erfassung der Heilsgeschichte offenhält (Krankheit Hiskijas – Gesandt-

449 Vgl. Mulder, Simon, 110–111, 119 und 329–330. 450 In Ms. B XIX recto. Die Stelle Sir 50,3 wird in der Edition von Beentjes als Sir 50,2 gezählt. 451 Syr liest nur: ‫ܘܚܦܪ ܡܒܘܥܐ‬ ̣ „Und er hat eine Quelle ausgegraben“.

262 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

schaft aus Babel – Blockade Jerusalems), die dem Erzählverlauf von 2 Kön 18–20, 2 Chr 32 und Jes 36–39 scheinbar widerspricht. Gerade dadurch zeigt sich die Analogie mit der Josuaperikope in Sir 46,1–6, deren innere Chronologie der Landnahme (Gottesanrufung – Sonnenwunder – Hagelschlag) auch dem äußeren Duktus des Bezugstextes in Jos 10,11–14a nicht folgt (vgl. Kap. 4.2.4). Für die Stichhaltigkeit der letzten Beobachtung spricht außerdem die ähnliche Art und Weise, wie die beiden Perikopen in der griechischen und in der syrischen Übersetzung das jeweilige Sonnenwunder schildern. Denn es ist bemerkenswert, dass in G I in Sir 48,23a nicht vom Schatten (vgl. 2 Kön 20,9–11 und Jes 38,8), sondern von der Sonne die Rede ist: ἐν ταῖς ἡμέραις αὐτοῦ ἀνεπόδισεν ὁ ἥλιος „In seinen [scil. Jesajas] Tagen ging die Sonne zurück“452 und in Sir 46,4a sogar ein Verb mit dem gleichen Stamm verwendet wird (ἐμποδίζω statt ἀναποδίζω): οὐχὶ ἐν χειρὶ αὐτοῦ ἐνεποδίσθη ὁ ἥλιος „Wurde nicht durch seine [scil. Josuas] Hand die Sonne gehindert“. Der Peschitta-Übersetzer geht noch weiter, indem er in Sir 48,23a vom Sonnenstillstand spricht: ‫„ ܡܛܠ ܕܒܐܝܕܗ ܩܡ ܫܡܫܐ‬Denn durch ihn [scil. Jesaja] ist die Sonne stehen geblieben“ und dabei die identische Formulierung gebraucht wie in Sir 46,4a: ‫„ ܡܛܠ ܕܒܐܝܕܗ ܩܡ ܫܡܫܐ‬Denn durch ihn [scil. Josua] ist die Sonne stehen geblieben“ (vgl. Jos 10,12–13).453 Indem Sirach die Lebensgeschichte Hiskijas nur bis zu seiner Heilung in V. 23ab in den Blick nimmt, bleibt die Episode mit der Gesandtschaft aus Babel, die sonst als bedenkliches Anzeichen des künftigen Exils wirken würde, unerwähnt. Dadurch erscheint der betroffene Monarch in viel besserem Licht als in 2 Kön 20,12–19 und Jes 39,1–8, was zum Teil an die bereits thematisierte pauschale Schilderung Davids im Ecclesiasticus erinnert (vgl. Kap. 3.1.4) und zugleich den schriftgelehrten Umgang des Autors mit den heiligen Schriften veranschaulicht. Dieser Umgang äußert sich im Allgemeinen dadurch, dass die älteren biblischen Texte neu aufgegriffen und mit gewisser Selbständigkeit kompositionell angeordnet sind, um eine gewisse theologische Perspektive zu vermitteln. Im Konkreten besteht die Arbeitsweise Sirachs darin, dass er die zusammenfassende Notiz über die Bauprojekte Hiskijas gemäß der inneren Chronologie der hiskijanischen Regierungszeit an den Anfang der Perikope in V. 17 setzt und in V. 19a die jesajanische Kritik der Jerusalemer übernimmt (nur in Ms. B). Gleichzeitig lässt er in V. 23 das Fehlverhalten Hiskijas gegenüber den Besuchern aus Babel außer Acht, wodurch ein kunstvolles Bild des allmählichen inneren Wandels des Königs von der Selbstüberschätzung zur Fügsamkeit entsteht. Dieser Gedanke findet seinen Ausdruck insbesondere in der Würdigung der Person Hiskijas in V.  22ab und

452 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 365. 453 Falls nicht bereits in der Vorlage vorgefunden (vgl. Kap. 1.4).

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 263

Sir 49,4. Auf diese Weise zeigt sich schließlich, dass der griechische Übersetzer, der – wie bereits gesagt – die kritische Aussage in V. 19a höchstwahrscheinlich weggelassen hat, diesem positiven Bild des Königs mehr verpflichtet bleibt als sein Großvater.

Exkurs 9: Schriftrelecture als Antwort auf die Herausforderungen der Zeit Die genannte Favorisierung mancher Königsgestalten durch den Verfasser und seinen Enkel lässt vermuten, dass ihnen bestimmte gesellschaftliche Intentionen vorschwebten.454 Dies scheinen auch andere Passagen des Sirachbuches zu bestätigen, in denen sich die politischen Hintergründe der hellenistischen Zeit spiegeln können. So spielt zwar der Autor in Sir 3,17–31 höchstwahrscheinlich auf den Mose und das Exodusgeschehen an, aber er erwähnt die Verstocktheit des Pharaos und die ägyptischen Plagen nicht direkt wie in Sir  16,15,455 sondern in verhüllter Weise, sodass die Demutsperikope ägyptenfreundlicher wirkt als die Bezugstexte im Pentateuch. Der Enkel geht noch weiter, indem er teilweise diesen Schriftbezug verwischt und sogar Sir 16,15 weglässt (vgl. Kap. 3.3.4).456 Mit dieser positiven Wertung der sirazidischen Relecture soll allerdings die lautere Absicht der früheren biblischen Bücher keineswegs in Abrede gestellt werden, weil die dort geforderte Abgrenzung des Volkes Israel gegenüber den Heiden nicht mit der Fremdenfeindlichkeit, sondern mit dem Absolutheitsanspruch der JHWH-Religion zu tun hat.457 Dies bezeugen etwa das im Grunde genommen stellvertretende Gebet Josuas für die heidnischen Gibeoniter und

454 „Dazu ist einmal festzuhalten, daß er [scil. Sirach] offensichtlich die Ahnherren als Typen hinstellt, um auf die brennenden Fragen seiner Zeit durch ihre Qualifikation Antwort zu geben“. Reiterer, Urtext, 237. Zur Intentionalität der Schriftbezüge bei Sirach vgl.  ders., The Influence, 115–116. 455 Vgl. Witte, Texte, 125. 456 Nicht auszuschließen ist jedoch, dass bereits die einzelnen Vorlagen voneinander abwichen (vgl. Kap. 1.4). 457 Den gleichen Grund mag die Abgrenzung gegen die Nachbarn Israels in Sir 50,25–26 haben. Vgl.  Marttila, Foreign Nations, 213: „If Ben Sira’s outburst against the Samaritans can be understood from his concept of priesthood, we should also be able to find some way to explain his harsh words towards Edom and the Philistines. Probably, the answer once again lies in the cultic issues. Both the Idumeans and the Hellenistic citizens of the seacoast had their own cult with their own deities. For the ,Jerusalem-centered’ Ben Sira such things were difficult to tolerate. It was easier for Ben Sira to accept the influences of Hellenistic wisdom and civilisation and understand the value of other nations on a general level, but obviously the three neighbours posed the greatest threat concerning the practice of religion“.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

ihre Rettung infolge der Vernichtung der gemeinsamen Feinde in Jos 9–10 und Sir 46,1–6 (vgl. Kap. 4.2.7). Zu beachten ist auch der spätere Dienst der Gibeoniter am Jerusalemer Tempel in Jos 9,27, wofür Entsprechungen in der Völkerwahlfahrt in Jes  2,2–5 und an anderen Stellen des Jesajabuches gegeben sind,458 dessen Gedankengut vom Siraziden auch sonst geschätzt459 und aufgenommen wurde.460 Diese völkerfreundliche Linie wird später von dem im ptolemäischen Alexandrien wirkenden Enkel fortgesetzt sowohl durch die vermutliche Ausweitung des Ruhmes des Schriftgelehrten auf projüdische Sympathisanten im heidnischen Umfeld in Sir 39,10 (vgl. Kap. 4.1.2) als auch durch die Auslassung der Notiz über den Bann in Sir 46,6c (vgl. Kap. 4.2.2). Damit fügt sich seine Übersetzung in den Kontext der jüdisch-hellenistischen Literatur, die eine größere Offenheit bezeugt, gut ein.461 Ein anderes Bild wird dem Leser hingegen in V. 21 präsentiert, wo der alte Erzfeind in allen Sprachfassungen unverhüllt ‫„ אשור‬Assur“ / Ἀσσύριοι / ‫ܐܬܘ̈ܪܝܐ‬ „Assyrer“ genannt und skrupellos kritisiert wird. Ob sich hier eine originäre Interpretation im Sinne der Rezeptionsästhetik (vgl. Exkurs 1) oder vielmehr die wirklichen Erfahrungen des Autors und die zeitgenössische politische Situation der Juden widerspiegeln, wird im Folgenden erwogen. Vorerst ist anzumerken, dass als Sirach sein Werk um 180 v. Chr. verfasste, das feindliche Assyrerreich seit langem nicht mehr existierte. Das politische und gesellschaftliche Leben bestimmten damals die Seleukiden, die seit dem Sieg über die Ptolemäer 198 v. Chr. über Judäa herrschten (vgl. Kap. 1.3). Dazu kamen innerjüdische Auseinandersetzungen zwischen zwei Familien, die seit der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. um die regionale Vorherrschaft rivalisierten:462 den gesetzestreuen Oniaden, deren angesehenster Vertreter Simeon II. war, einerseits und den einflussreichen Tobiaden, deren Hellenisierungspolitik auf die Annäherung an die griechische Elite zielte, andererseits.463 Dank der Umsichtigkeit des Hohepriesters Simeon II. erneuerte zwar der seleukidische König Antiochus III. nach 198 v. Chr. die Privilegien für Jerusalem und gestattete den Juden, ihr Leben nach der Tora zu gestalten.464 Vom abermaligen politischen Kurswechsel zeugt jedoch der Anschlag auf den Jerusalemer Tempelschatz, der im Jahr 175 v. Chr. vom seleukidischen Kanzler Heliodor verübt wurde und dessen Echo das Gebet um Rettung in Sir 36,1–22 sein könnte

458 Vgl. Jes 19,18–25; 56,3.6–7 und 66,18–24. 459 Vgl. Sir 48,22d. 460 Vgl. die Kritik des Hochmuts in Jes 22,11; Sir 10,12–13 und 48,19a (vgl. Kap. 4.3.4). 461 Als Beispiel möge hier der Aristeasbrief angeführt werden. Vgl. Marböck, Jesus Sirach, 169. 462 Vgl. Fabry, Jesus Sirach, 277. 463 Vgl. Gußmann, Das Priesterverständnis, 46. 464 Vgl. Fabry, Jesus Sirach, 277 und Zapff, Jesus Sirach, 375.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

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(vgl. Kap. 3.4.7). Durch die Intrigen der Tobiaden gelang es sogar dem Seleukidenherrscher Antiochus IV. den konservativen Sohn Simeons II., Onias III., zu verdrängen, indem er das hohepriesterliche Amt 175 v. Chr. an den hellenisierten Oniaden Jason und 172 v. Chr. an den Nichtzadokiden und nichtpriesterlichen Menelaos verkaufte, was später zu verschärften Hellenisierungsmaßnahmen und blutigen Judenverfolgungen führen sollte.465 Vor dem skizzierten Hintergrund wäre eine antiseleukidische Haltung des Autors durchaus verständlich. Um seinen Intentionen literarischen Ausdruck zu verleihen, könnte er in V. 21a das Ethnonym „Assyrer“ als Decknamen für das seleukidische Reich gebraucht haben, das sich immer stärker in die politischen Verhältnisse in Judäa einschaltete.466 Denn obwohl historisch gesehen zwischen der Bedrohung der Existenz Jerusalems durch das neuassyrische Reich im Jahr 701 v. Chr. (vgl. Kap. 4.3.4) und den Machtkämpfen unter der Seleukidenherrschaft fünf Jahrhunderte lagen, ist es nicht auszuschließen, dass sie Sirach in theologischer Perspektive miteinander verbinden wollte. Dafür spräche jedenfalls die gleiche Schilderung der Bauprojekte (vgl. ‫„ חזק‬befestigen“ in Sir 48,17a und 50,1 sowie ‫„ מקוה‬Teich“ in Sir 48,17d und 50,3; vgl. Kap. 4.3.4) und der Gebetsgesten des Königs Hiskija und des Hohepriesters Simeon II. (vgl. die Ausbreitung der Hände in Sir 48,20b und die Erhebung der Hände in Sir 50,20). Durch die Hervorhebung der Verdienste des letzteren und der überzeitlichen Bedeutung Aarons als des Ahnherrn des Priestergeschlechts in Sir 45,6–22467 scheint der Autor den oben angedeuteten Gefahren für die aaronitisch-zadokidische Nachfolge des Hohepriesteramtes gegensteuern zu wollen, von denen manche bereits um 180 v. Chr. zu spüren waren. Allerdings kann es sich hier genauso gut um eine Auslegung im Rahmen der (vom Verfasser in Sir 2,10 intendierten) kanonischen Schriftlesung handeln, wozu dem Leser bereits das Jesajabuch Anlass und Anregung böte. So wird etwa in Jes 14 neben dem König von Babel auf die in Kap. 4.3.4 geschilderten Ereignisse um den Feldzug Sanheribs eingegangen, wobei gewisse Parallelen zwischen den Assyrern und den Babyloniern, welche die Nachfolge des assyrischen Reiches antreten sollten, zu verzeichnen sind, z. B. ‫ ָׁש ַבר‬/ ‫„ ܬܒܪ‬zerbrechen“ in Jes 14,5.25468

465 Vgl. Gußmann, Das Priesterverständnis, 46–47. 466 Auch O. Kaiser und K. Berthelot verstehen das besagte Ethnonym als Tarnwort für die Seleukiden. Vgl. Kaiser, Der Prophet Jesaja, 6 und 42 sowie Berthelot, Hellenization, 75. 467 Bei Sir 45,6–22 handelt es sich um den umfangreichsten Abschnitt des Väterlobes. Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 327 und Schmidt, Wisdom, 384. 468 Vgl. Die Heilige Bibel, 522–523 (AT).

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

(vgl. ‫ ܬܒܪ‬in Sir 48,21a469) und ‫„ ּבוס‬zertreten“ in Jes 14,19.25.470 Dabei ist zu bemerken, dass in Jes 39,1–8 die Gesandtschaft aus Babel als bedenkliches Anzeichen der künftigen Verbannung erwähnt wird, während Sirach diese Episode tendenziell außer Acht lässt (vgl. Kap. 4.3.4). Weil auch in Sir 49,10–11 die zu erwartende Notiz über das babylonische Exil fehlt, verschmilzt dieses Ereignis – zumindest in der leserorientierten Perspektive – mit der assyrischen Gefangenschaft.471 Außerdem wäre die Verwendung von „Assur“ als Tarnwort für die Seleukiden ganz im Sinne der alttestamentlichen Erinnerungskultur, wie die Bezeichnung des babylonischen Herrschers Nebukadnezzar als „König der Assyrer“ in Jdt 1,1 deutlich zeigt.472 Die besagte Juditerzählung weist ferner darauf hin, dass die Einmischungen auswärtiger Feinde in die innerjüdischen Angelegenheiten, wie bei der Wahl des Hohepriesters 175 v. Chr., nicht nur politischer Natur waren. Denn wie jede Anmaßung, sich über die von JHWH gewollte Ordnung hinwegzusetzen, waren sie oft mit einem Akt religiöser Überheblichkeit verbunden. So geschah es zumindest bei dem „assyrischen“ Oberbefehlshaber Holofernes in Jdt 6,2, der genauso wie der assyrische Gesandte Rabschake (vgl. 2 Kön 18,30–35; Jes 36,15–20 und Sir 48,18b–d) und Nikanor, der Freund des Seleukiden Antiochus  IV. (vgl.  2  Makk  14,33 und 15,3–5), als Vertreter der gottfeindlichen Weltmacht JHWH und sein Volk lästerte.473 Bezeichnend für diesen Zusammenhang sind deshalb die Erwähnung von ὑπερηφανία „Übermut“ in Jdt  6,19 (assyrische Heerführer); 2  Makk  5,21 (Antiochus IV. Epiphanes)474 und Sir 48,18d (Rabschake) sowie das gemeinsame Motiv

469 Die Stelle ist lückenhaft in Ms. B (vgl. Kap. 4.3.1). 470 Vgl. Beuken, Jesaja, 101–102. W. Beuken interpretiert „Assur“ in Jes 14,25 als Bezeichnung für Babylonier und Perser. Vgl. Beuken, Jesaja, 102: „Assur ist zu einer Konstruktion der Vergangenheit geworden, die Teil des Bildes ist, das sich die Redaktion und ihre Leser von der eigenen Zukunft machen. Diese Art theologischer Teleskopie, die zwei bzw. drei aufeinanderfolgende Weltreiche unter einem einzigen Namen zusammenfasst, legt den Grundstein für die Auffassung, dass die Weltgeschichte nichts anderes ist als ein fortwährender Kampf zwischen Gott und den widergöttlichen Weltmächten, den JHWH letztlich für sich entscheiden wird“. 471 Vgl. van Wieringen, Sirach, 203–204. „The only presence of the exile, therefore, is the introductory text in Sir 48:15–16, in which the Sirach-text merges the Babylonian exile into the Assyrian exile.“ van Wieringen, Sirach, 204. 472 Vgl. Brzegowy, Pismo Święte, 953 und Berthelot, Hellenization, 75. Auf derselben Linie liegt auch die Deutung von Rom als „Babel“ im NT (z. B. in 1 Petr 5,13 und Offb 14,8). Vgl. Brzegowy, Pismo Święte, 2885. 473 Auch in Jes  52,4–5 wird die Unterdrückung durch die Assyrer mit der Gotteslästerung in Verbindung gebracht. 474 In Bezug auf Nikanor wird in 2  Makk  15,6 das synonyme Wort ἀλαζονεία „Prahlerei“ gebraucht. Vgl. Benseler / Kaegi, ἀλαζονεία, 31.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

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der im Drohgestus erhobenen Hand in 2  Makk  14,33 (Nikanor) und Sir  48,18c (Rabschake). Die angeführten negativen Beispiele aus der Heilsgeschichte bestätigen zusätzlich, dass kein Gotteslästerer unbestraft bleibt:475 In Jdt  13,8 wurde dem Holofernes der Kopf abgeschlagen, in 2 Makk 15,32–33 wurden dem Nikanor der Kopf, der Arm und die Zunge abgeschnitten und in Sir 48,21a wurde das Assyrerlager völlig zerschlagen.476 Die diesen Erzählungen innewohnende Gewissheit, dass die Gerechtigkeit Gottes am Ende triumphieren wird, könnte um 180 v. Chr., in einer Zeit wachsender Verunsicherung bezüglich der Zukunft der jüdischen Religion und Identität, als ermutigender Zuspruch empfunden worden sein (vgl. die Tröstung der Trauernden Zions in Sir 48,24b). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die ersehnte göttliche Rettung des Gottesvolkes jeweils erst durch das „erinnerungsgesättigte“, gläubige Gebet herbeigeführt wurde (vgl.  die programmatische Botschaft aus Sir 2,10 in Exkurs 1), das die beste Antwort auf alle sozialen und politischen Umwälzungen ist. Dies war etwa bei Judit in Jdt 9,1–14 und 13,4–7, bei Judas Makkabäer und seinem Gefolge in 2 Makk 15,21–29 und nicht zuletzt bei Hiskija und Jesaja in 2 Chr 32,20477 und Sir 48,20 der Fall, wovon in Kap. 4.3.7 weiter die Rede sein soll. Als Zwischenfazit lässt sich jedoch bereits folgendes formulieren: Sollte die in Sir  48,17–25 vorgenommene Relecture des Hiskija-Jesaja-Zyklus tatsächlich durch die aktuellen politischen Spannungen ausgelöst worden sein und nicht nur das Ergebnis der rezeptionsästhetischen Textanalyse darstellen, dann würde dies den Siraziden als produktiven Schriftgelehrten, bedeutenden Theologen und vor allem als wachsamen Glaubenslehrer zeigen. Als solcher wüsste er nämlich die Gedanken seiner nach Orientierung suchenden Leser auf die wesentlichen Momente der Heilsgeschichte zu lenken, damit sie eine geeignete Antwort auf die Herausforderungen ihrer Zeit finden.

4.3.5 Formale Analyse Nach den abschweifenden Ausführungen über die Intentionalität der Schriftbezüge in Sir 48,17–25 kann hier die festgelegte Reihenfolge der exegetischen Schritte wieder aufgegriffen werden. Zunächst wird auf die formale Analyse eingegangen, welche die anfangs vorgeschlagene Gliederung der sirazidischen His475 Vgl. Ex 20,7 und 22,27. 476 Vgl. den Sieg Davids über den Philister Goliat, der laut 1 Sam 17,10.26 die Schlachtreihen des Herrn und laut 1 Sam 17,45 den Herrn selbst verhöhnt hat. 477 Vgl. auch 2 Kön 19,15–19; 20,2–3; Jes 37,16–20 und 38,3.10–20.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

kija-Jesaja-Perikope, insbesondere den Übergang zwischen ihrem zweiten und dem dritten Teil in V. 22/23, bestätigt (vgl. Kap. 4.3.3). Denn obwohl das untersuchte Textstück durch den Gebrauch von ‫„ חזק‬befestigen“ in V. 17a und 22b sowie ‫ ציון‬/ Σιων / ‫„ ܨܗܝܘܢ‬Zion“ in V. 18c und 24b einheitlich wirkt, kommen die Bezeichnungen für „Hand“ ausschließlich in V. 18–22, d. h. im zweiten Teil, vor: in V. 18c als Gestus des Drohens (in Sing. ‫ יד‬/ χείρ / ‫)ܐܝܕܐ‬, in V. 19a als Zeichen der Ratlosigkeit (nur in G I: in Plur. χεῖρες), in V. 20b als Gestus des Gebets (im Plur. ̈ ‫ כפים‬/ χεῖρες / ‫)ܐܝܕܐ‬ und schließlich in V. 20d als Modus der Rettung (im Sing. mit Präposition ‫ ביד‬/ ἐν χειρὶ / ‫ܒܝܕ‬478 „durch, mit Hilfe von“). Anhand dieser beinahe chiastischen Struktur (Sing. – Plur. – Plur. – Sing.) lässt sich „mit Hand und Fuß“ die innere Dynamik des biblischen Geschehens nachvollziehen, die sehr stark vom Klage-Erhörungs-Paradigma geprägt ist:479 von den Furcht einflößenden  Gotteslästerungen des Rabschake in V. 18c–19b über das inbrünstige Gebet der umzingelten Jerusalemer in V. 20ab bis hin zu seiner spektakulären Erhörung durch die Vermittlung des wortmächtigen Propheten in V. 20c–21b. In diese zentrale Ereigniskette wird in V. 20d das Wortspiel mit dem theophoren Namen „Jesaja“ (‫„ יְ ַׁש ְעיָ הּו‬Heil JHWHs“480 bzw. „JHWH ist Rettung“) eingeflochten: ‫„ ויושיעם ביד ישעיהו‬und er [scil. Gott] rettete sie durch die Rettung JHWHs“,481 das sowohl an das gleiche rhetorische Stilmittel mit dem Namen „Hiskija“ in V. 17a und 22ab (vgl. Kap. 4.3.2) als auch an die wortspielhafte Interpretation des Namens „Josua“ in Sir 46,1 erinnert482 (vgl. Kap. 4.2.2 und Exkurs 7). Auch wenn diese knappe, kunstvolle hebräische Stilfigur in den antiken Übersetzungen nicht erläutert wird (vgl. λυτρόω „gegen Lösegeld freigeben, erlösen“483 in G I und ‫ܦܪܩ‬ „erlösen, retten, befreien“484 in Syr; auch die Vg liest: purgavit illos in manu Esaiae sancti prophetae „[E]r [scil. Gott] reinigte sie durch die Hand Jesajas, des heiligen Propheten“485), soll sie daran erinnern, dass im Mittelpunkt der Geschichte nicht so sehr das menschliche Handeln als vielmehr das providentielle Heilswirken Gottes steht, das hier konkret als Befreiung des Volkes aus der Feindesnot zu erfahren ist. Vor diesem göttlichen Heilsplan muss sich auch der assyrische König

478 Vgl. Smith / Smith, ‫ܝܕ‬, 186. 479 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 364. 480 Vgl. Meister, Jesaja, 184. 481 Vgl. van Wieringen, Sirach, 198. 482 Vgl. Zapff, Jesus Sirach, 364. 483 Vgl. Benseler / Kaegi, λυτρόω, 552. 484 Vgl. Hanna / Bulut, ‫ܦܪܩ‬, 327 (aramäisch). 485 Der Stelle Sir 48,20d entspricht in der Vg Sir 48,23c.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

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Sanherib beugen, der sich anfangs durch die frechen Reden seines Gesandten Rabschake als Konkurrent Gottes aufzuspielen versucht.486 Neben dem auffälligen Gegensatz zwischen dem Propheten Jesaja, der als „Sprachrohr JHWHs“ auftritt,487 und dem Gesandten Sanheribs, der wegen seiner gegen Sion gerichteten Drohgeste in V. 18c und seiner anmaßenden Worte in V. 18d Sirachs vollen Tadel verdient, wird hier auch ein Kontrast zwischen dem letzteren und den bedrängten Verteidigern Jerusalems aufgebaut. Diesem klaren kompositionellen Vorhaben des Autors widerspricht auf den ersten Blick die Wiederholung von ‫„ גאון‬Übermut“ in V. 18d und 19a in Ms. B als kritischer Bezeichnung, die sich nicht nur gegen das besagte Verhalten des Rabschake, sondern auch gegen das der Jerusalemer richtet. Beim näheren Hinschauen zeigt sich jedoch, dass die Kritik Sirachs berechtigt war, weil der scheinbar nützliche Bau des Wassertunnels und -reservoirs in der Hauptstadt im Misstrauen dem Schöpfer gegenüber wurzelte (vgl. Kap. 4.3.4). Nachdem sich aber die Jerusalemer ihrer Schuld durch die Demut entledigt (vgl. 2 Chr 32,26) und in V. 20ab Gott angerufen haben, wird ihre moralische Rehabilitation mit der gleichzeitigen Niederlage des Heeres Sanheribs als unterschiedlich entfalteter Tun-Ergehen-Zusammenhang ermöglicht: Während die Feinde in V. 21ab untergehen, wird dem König von Juda in V. 23b das Leben verlängert. Bemerkenswert ist schließlich die Metapher der Gebärenden in V.  19b, die in Anspielung auf die Worte der Hofleute des Hiskija an den Propheten Jesaja in 2 Kön 19,3 und Jes 37,2–4 gebraucht wird, um die äußerste Hilflosigkeit der umzingelten Bewohner Jerusalems auszudrücken.488 Dies hängt damit zusammen, dass die Geburt im AT nicht nur mit Leben, sondern auch mit seinen Gefahren assoziiert wird,489 wie etwa dem Tod der Mutter (vgl. Gen 35,16–19; 1 Sam 4,19–22), der Fehlgeburt (vgl. Ex 21,22; Ijob 3,16), der Totgeburt (vgl. Num 12,12; Jer 20,17) oder der Verzögerung der Geburt (vgl. Jes 37,3 und Hos 13,13).490 Die besagte semantische Figur, die gelegentlich in der prophetischen Literatur vorkommt,491 erfährt in Jes 26,16–19 eine weitere Vertiefung,492 die für die theologische Interpretation der assyrischen Invasion zur Zeit Hiskijas sehr hilfreich sein kann: Da die „Geburtswehen“ eine erzieherische Maßnahme Gottes darstellen, die durch die Sünden

486 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 27. 487 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 21. 488 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 25. 489 Vgl. Dieckmann / Erbele-Küster, Zur Einführung, 7–8. 490 Vgl. Rienecker / Maier, Geburt, 523–524. 491 Z. B. in Jes 13,8; 21,3; 42,14; 66,7–9; Hos 13,13–14; Mi 4,9–10 und 5,2. Vgl. auch Ps 48,7; Joh 3,3–4; 16,21 und Offb 12,2.5. 492 Vgl. van Wieringen, Sirach, 205.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

hervorgerufen ist (vgl. Jes 26,16–17), müssen alle Bemühungen, die Erlösung nur aus eigener Kraft herbeizubringen, fruchtlos bleiben (vgl. Jes 26,18), während die ersehnte Rettung von Gott kommt (vgl. Jes 26,19).

4.3.6 Gattungskritik Aufgrund des bisher Gesagten lässt sich zwischen der Hiskija-Jesaja-Perikope und dem zuvor exegetisierten Abschnitt über Josua eine große inhaltliche und stilistische Nähe feststellen, wobei vor allem an die identische Formulierung bei der Erwähnung des Sonnenwunders in Sir 46,4a und 48,23a in Syr: ‫ܡܛܠ ܕܒܐܝܕܗ‬ ‫„ ܩܡ ܫܡܫܐ‬Denn durch ihn ist die Sonne stehen geblieben“ in Kap. 4.3.4, zu erinnern sei. Auffällig sind ferner die Begründung des Erfolgs des jeweiligen Hauptprotagonisten durch seine Fügsamkeit gegenüber den göttlichen Weisungen in Sir 46,6e und 48,22a–c in Kap. 4.3.3, das Motiv der ausgestreckten Hand als Gestus des Drohens: seitens Josua gegen Ai in Sir 46,2a und seitens Rabschake gegen Sion in Sir 48,18c in Kap. 4.3.3, sowie das Wortspiel zwischen dem hebräischen Wort für „Rettung“ (‫ׁשּועה‬ ָ ‫)ּת‬ ְ und den Eigennamen „Josua“ in Sir 46,1ad und „Jesaja“ in Sir 48,20d in Kap. 4.3.5. Dazu kommen noch einige Ähnlichkeiten zwischen der hier untersuchten Perikope und dem Loblied auf Simeon II. in Sir 50,1–21 (vgl. Exkurs 9), mit dem sie und Sir 46,1–6 die heilsgeschichtliche Unterweisung als gemeinsamen „Sitz im Leben“ teilen. All dies rechtfertigt die gattungstheoretische Zuordnung von Sir 48,17–25 als heldenliedartiger Hymnus über den König Hiskija und den Propheten Jesaja, was wiederum nicht ohne Einfluss auf die Gebetstheologie in Sir 48,20 bleiben kann.

4.3.7 Einzelexegese und Gebetstheologie von Sir 48,20 Wie bereits angemerkt, ist Sir 48,17–25 als Relecture des alttestamentlichen Hiskija-Jesaja-Zyklus zu verstehen. Sirach setzt allerdings seine eigenen Akzente, insbesondere im mittleren Teil der Perikope, der nach dem typischen Klage-Erhörungs-Paradigma gestaltet ist (vgl. Tab. 17 in Kap. 4.3.3). Maßgebend in dieser Hinsicht sind V. 20ab mit der Erwähnung des Gebets und V. 20cd mit der göttlichen Antwort darauf (vgl. Kap. 4.3.5). Im Unterschied zu den Büchern der Könige und zum Jesajabuch, wo das Bittgebet des Königs Hiskija sowohl angesichts der assyrischen Gesandtschaft als auch im Kontext seiner Krankheit vorkommt, erwähnt Sirach an dieser Stelle das Bittgebet nur einmal. Dabei zeigt der Vergleich der einzelnen Sprachfassungen eine Abweichung an, die für die Vermittlung seines Gebetsverständnisses sehr wichtig ist. Denn während im hebräischen

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

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und im griechischen Text in V. 20ab mehrere Personen Gott anrufen, indem sie ihre Hände ausbreiten, tut dies nach der Peschitta-Version von V. 20b allein der ̈ König von Juda: ‫ܐܝܕܘܗܝ‬ ‫ܘܦܪܣ ܚܙܩܝܐ ܩܕܡ ܡܪܝܐ‬ ̣ „Und Hiskija hat vor dem Herrn seine Hände ausgebreitet“.493 Eine solche Schilderung des betenden Monarchen verstärkt die intertextuellen Bezüge zu David, der in 2 Sam 15,30–31 weinte, betete und später erhört werden sollte und dessen Nachfolge gemäß V. 22b Hiskija antrat. Weil der letztere laut V. 22c sein ganzes Wohlergehen im Grunde genommen dem Rat des Propheten Jesaja verdankte, kann es sich hier zugleich um ein religionsdidaktisches Handlungsparadigma handeln, wonach sich die Leser an die Inhalte des Jesajabuches halten und darauf vertrauen sollen, um genauso wie Hiskija gerettet werden zu können. Der Vergleich der Sprachversionen wirft ferner die Frage auf, ob unter den in Ms. B und G I in V. 20a namentlich unbekannten Betern neben dem nämlichen König auch die gesamte Besatzung Jerusalems (Zions), die einzelnen judäischen Hofleute oder nur der Prophet Jesaja gedacht sind. Für die erste Möglichkeit sprechen etwa die pluralischen Formen im vorausgehenden V. 19,494 wo mit dem Hinweis auf den „Übermut“ in Ms. B vermutlich die in Jes 22,11 geäußerte Kritik der selbstgefälligen Jerusalemer aufgenommen wird (vgl. Kap. 4.3.4).495 Sollte es sich an dieser Stelle wirklich um die gesamte Bevölkerung oder zumindest die Oberschicht der von den Assyrern blockierten Hauptstadt handeln, dann wäre es das einzige – neben der Bußliturgie am Jom Kippur in Sir 50,17–19.21496 (vgl. Tab. 3) – im Väterlob angeführte Beispiel eines kollektiven Bittgebets,497 dessen hohe Kraft zum Teil in der Mehrzahl der Beter liegt.498 Auf die alternative Möglichkeit, dass lediglich eine überschaubare Personengruppe aus dem Umkreis Hiskijas das Satzsubjekt in V. 20ab bildet, weist allerdings die unmittelbar davor eingebundene Gebärendenmetapher hin. Dieser bereits in Kap. 4.3.5 angesprochene Ausdruck äußerster Hilflosigkeit paraphrasiert nämlich jene Worte, die in 2 Kön 19,3 von den Hofleuten Hiskijas, Eljakim und Schebna sowie den Ältesten der Priester an Jesaja gerichtet wurden. Dass direkt danach noch eine Bitte folgt, für den übriggebliebenen Rest zu beten,499 hebt die Rolle des besagten Propheten als vorbildlicher Fürbetergestalt deutlich hervor.

493 V. 20a wird in Syr nicht überliefert. 494 Vgl. van Wieringen, Sirach, 204. 495 Vgl. 2 Chr 32,26. 496 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 41–42. 497 Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 47. 498 Vgl. Mt 18,20. 499 Vgl. Panov, Hiskijas Geschick, 26.

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

In der Tat wird in den alttestamentlichen Bezugstexten neben dem frommen Hiskija500 nur Jesaja als Beter erwähnt.501 Die stellvertretende Fürsprache der beiden Männer für das bedrängte Jerusalem bezeugt 2 Chr 32,20: ‫ן־אמֹוץ ַהּנָ ִביא ַעל־זֹאת וַ ּיִ זְ ֲעקּו ַה ָּׁש ָמיִ ם‬ ָ ‫יׁש ְעיָ הּו ֶב‬ ַ ִ‫„ וַ ּיִ ְת ַּפ ֵלל יְ ִחזְ ִקּיָ הּו ַה ֶּמ ֶלְך ו‬Und es betete[n] der König Hiskia und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz, deswegen und schrieen zum Himmel um Hilfe“ / καὶ προσηύξατο Εζεκιας ὁ βασιλεὺς καὶ Ησαιας υἱὸς Αμως ὁ προφήτης περὶ τούτων καὶ ἐβόησαν εἰς τὸν οὐρανόν „Da betete[n] der König Ezekias und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amos, angesichts dieser Worte und riefen zum Himmel“502.

Es ist umso wichtiger, als die syrische Version dieser Passage zusätzlich vom Erfolg der eingelegten Fürbitte spricht: ‫ܘܨܠܝ ܚܙܩܝܐ ܘܐܫܥܝܐ ܒܪ ܐܡܘܨ ܢܒܝܐ ܡܛܠ ܗܕܐ܂‬ ‫ܘܫܡܥ ܡܪܝܐ ܒܩܐܠ ܕܨܠܘܬܗܘܢ܂‬503 „Und es hatte[n] Hiskija und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz, deswegen gebetet; und es hat der Herr auf die Stimme ihres Gebets gehört“, was sehr stark an V. 20c in Ms. B erinnert: ‫]וישמע ב]קול תפלתם‬ „[und er [scil. Gott] hörte auf] die Stimme ihres Gebets“. Auf diese Weise ordnet sich die Hiskija-Jesaja-Perikope mit ihrer auf das Gebet bezogenen Stelle in V. 20a–d gut in den heilsgeschichtlichen Duktus des Väterlobes ein, laut dem es zu allen Zeiten hervorragende Mittler-Persönlichkeiten gab, auf deren Stimme Gott hörte.504 So wird die Ähnlichkeit zwischen den beiden Protagonisten der hier untersuchten Perikope und Josua noch deutlicher. Denn genauso wie jener, der laut Sir 46,1b Mose im Prophetenamt folgte, war der Prophet Jesaja im Stande, mit seinem mächtigen Wort die ewigen Naturgesetze zu bändigen und den Stillstand der Sonne in V. 23a auszulösen (vgl. Sir 46,4a in Kap. 4.3.6). Nicht zuletzt kam es auch bei dem König Hiskija, der wie Josua als oberster Feldherr diente, auf die gottgefällige Lebensführung in V. 22a an, von der das Ergebnis seiner Fürbitte

500 Vgl. die Bittgebete in 2 Kön 19,15–19; 20,2–3; Jes 37,16–20; 38,3 und das Dankgebet in Jes 38,10–20. 501 Vgl. Calduch-Benages, Ben Sira’s Teaching, 47. 502 Die Elberfelder Übersetzung und die LXX.D haben die 3. Pers. Plur. „sie beteten“. 503 Gordon / Peshiṭta Institute, Chronicles, 145. Die Bibelausgabe der United Bible Societies liest allerdings die letzten vier Wörter in der Reihenfolge: ‫ܘܫܡܥ ܒܩܐܠ ܕܨܠܘܬܗܘܢ ܡܪܝܐ‬. Die Heilige Bibel, 387 (AT). 504 Eine solche Mittlerschaft, als deren Beispiele im AT das stellvertretende Bittgebet des Kriegshelden Josua in Sir 46,5a in Kap. 4.2.7 und die Bußliturgie unter Leitung des Hohepriesters Simeon II. in Sir 50,5–21 zu nennen sind, hat Gültigkeit bis heute behalten. Denn neben Christus, dem menschgewordenen Sohn Gottes und einzigen vollkommenen Mittler zwischen Gott und Menschen, kennt die Kirche eine sekundäre, ihm untergeordnete Mittlerschaft Mariens (vgl. Exkurs 2) und der anderen erlösten und geheiligten Glieder des Gottesreiches, „sei es auf Erden oder im Fegfeuer oder im Himmel“ (Gemeinschaft der Heiligen). Vgl. Ott, Grundriß, 308–309 und 440.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 273

abhing.505 Diese Wirksamkeit, die laut V. 20d durch Jesaja zustande kam, erfuhr nicht nur der judäische König durch seine wunderbare Heilung in V. 23b, sondern auch das ganze Volk durch die Rettung Jerusalems in V. 20c–21b (vgl. Abb. 18).

Bedrohung und Bitte der Jerusalemer

(Für)bittgebet Hiskijas (und Jesajas)

Erhörung durch Gott

Rettung durch Jesaja

Niederlage der Feinde und Heilung Hiskijas

Abb. 18: Das Modell der stellvertretenden Mittlerschaft in Sir 48,17–25.

Das gläubige Gebet der Bedrängten und seine Erhörung durch Gott, wofür in der Hiskija-Jesaja-Perikope ein anschauliches Beispiel gegeben ist, durchziehen zwar das ganze Sirachbuch (vgl. Tab. 3). Ein vollständiges Anrufung-ErhörungsSchema, das die Lexeme des Rufens und des Hörens enthält, kommt jedoch in diesem Werk nur siebenmal vor (vgl. Tab. 19), beginnend mit dem programmatischen Aufruf in Sir 2,10. Tab. 19: Die Verbreitung des Anrufung-Erhörungs-Schemas in den untersuchten Sirachpassagen mit ihrem unmittelbaren Kontext. Die Erklärung der Zeichen: „?“ eine beschädigte Handschrift; „—“ fehlende Passagen oder Gebetsvokabeln in einer intakten Handschrift bzw. Sinnverschiebungen. Nr.

Sirachstelle

Lexeme des Rufens

Lexeme des (Er)hörens

Unmittelbarer Kontext

1

2,10

? / ‫ ܩܪܐ‬/ ἐπικαλέω

? / ‫ܥܢܐ‬, ‫ ܫܡܥ‬/ —

Aufruf zur Anamnese früherer Gebetserhörungen

2

4,6

‫ צעקה צעק‬/ ‫ܓܥܬܐ‬ „Geschrei“ / δέησις

‫ שמע‬/ ‫ ܫܡܥ‬/ ἐπακούω

Armentheologie / Gebetslehre

3

35,16–17. 20–21506

‫ צעקה‬/ ‫ ܨܠܘܬܐ‬/ δέησις

‫ שמע‬/ ‫ ܫܡܥ‬/ εἰσακούω

505 Vgl. auch die gottbezogenen Begründungen des Erfolgs bei Josua in Sir 46,6e sowie die Fürbitte und den Lebenswandel Samuels in Sir 46,16.19. 506 Der Passage Sir 35,16–17.20–21 entsprechen: Sir 35,13–14.16–17 in der Rahlfs’schen Edition des LXX-Textes und Sir 35,14–17 im syrischen Text der Polyglotte von Vattioni.

274 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Tab. 19 (fortgesetzt) Nr.

Sirachstelle

Lexeme des Rufens

Lexeme des (Er)hörens

Unmittelbarer Kontext

4

46,5

‫ קרא‬/ ‫ ܨܠܝ‬/ ἐπικαλέω

‫ ענה‬/ ‫ ܥܢܐ‬/ ἐπακούω

Heilsgeschichte Israels / Väterlob

5

46,16–17

‫ קרא‬/ — / ἐπικαλέω

‫ נשמע קולו‬/ ‫ܐܫܡܥ ܩܠܗ‬ / ἀκουστὴν ἐποίησεν τὴν φωνὴν αὐτου

6

48,20

‫ ]קר[א‬/ — / ἐπικαλέω

? / ‫ ܫܡܥ‬/ ἐπακούω

7

51,10–11

‫ רומ‬Pilʿel: „preisen“ / ‫ ܩܪܐ‬/ ἐπικαλέω

‫ שמע‬/ ‫ ܫܡܥ‬/ εἰσακούω

Danksagung für die Gebetserhörung

Die dort formulierte rhetorische Frage: ἢ τίς ἐπεκαλέσατο αὐτόν καὶ ὑπερεῖδεν αὐτόν ; „Oder wer rief ihn an und er übersah ihn?“ / ‫„ ܐܘ ܡܢ݂ ܘ ܩܪܝܗܝ ܘܐܠ ܥܢܝܗܝ‬Oder wer hat ihn angerufen, und er hat ihm nicht geantwortet?“, klingt beinahe nach einer Wette, bei der es sich um nichts Geringeres handelt als um das offenbarungsgemäße Bild des personalen Gottes, den die Not der Menschen wirklich angeht und der ihr Flehen hört (vgl. Kap. 3.1.3). Um diese Wette zu gewinnen und den Glauben an die Gebetserhörung bei seinen Lesern zu stärken, erinnert der Autor zum einen an die Wirksamkeit der Hilferufe der Armen, Witwen und Waisen, die zu seiner Zeit die sozial am meisten benachteiligte Gruppe der Bevölkerung bildeten. Zu diesem Zweck benutzt er in Sir 4,6 und 35,16–21 das vollständige KlageErhörungs-Schema mit ‫„ צעקה‬Geschrei“ als Lexem des Rufens (Kap. 3.4.7). Weil selbst das Gesetz in Ex 22,22 die Erhörung der genannten Gruppe der personae miserae verbürgt, zählt ihre Rettung ohne die geringste Übertreibung als „Ehrenangelegenheit“ Gottes. Zum anderen taucht dieses Schema bei der Erwähnung der erfolgreichen Beter auf: Josua in Sir  46,5, Samuel in 46,16–17 sowie Hiskija und Jesaja in Sir 48,20, wobei die angezielten Gebetserhörungen nicht zufällig gewählt sind, sondern in den entscheidenden Momenten der Heilsgeschichte stattfinden. So gilt der zur Zeit der Landnahme erbetete Sieg über die fünf Kanaanäerstadtstaaten nicht nur dem tapferen Josua und seinem Gefolge, sondern auch ihren heidnischen Verbündeten (vgl.  Kap.  4.2.7). Denn eine eventuelle Missachtung des Hilfeschreis, den die Gibeoniter an Josua gerichtet haben, würde die Verletzung der in Jos 9,15 unter Eid eingegangenen Bündnispflicht bedeuten. Dies wäre wiederum mit der schwersten Rufschädigung des Gottesvolkes und nicht zuletzt mit

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 275

der Verunehrung des Namens Gottes gleichzusetzen.507 Die besagte Gebetserhörung verfolgt noch zwei weitere theologische Ziele, wonach einerseits der göttlich verbürgten Unbesiegbarkeit Josuas Rechnung getragen wird (vgl. Sir 46,3a und Jos  1,5) und andererseits die Heiden anhand der Machterweise Gottes erfassen sollen, dass den Israeliten sein besonderer Schutz gilt (vgl. Sir 46,6cd).508 Ein ähnlicher Argumentationsstrang kann bei dem von Samuel erbeteten Sieg über die Philister gelten (vgl. Exkurs 8). Sollten nämlich die Israeliten, die sich auf die Einladung des letzten Richters in 1 Sam 7,5 zum Bußgebet in Mizpa versammelt haben, von ihren Feinden überrascht und besiegt werden, dann hätten sie sicherlich die Schuld dafür auf ihn gewälzt, um nicht zu sagen: auf Gott.509 Die tatsächlich erlebte Rettungstat in Sir 46,17–18 stärkte dagegen die Überzeugung, dass das Flehen eines Gerechten (vgl. die Bezeichnung Samuels in der Vg in Sir 46,16 als inviolatus „unversehrt“) von Gott nicht verschmäht wird.510 Auch die Anmaßung des assyrischen Gesandten Rabschake, das Gebet der Bedrängten und die darauffolgende Ausrottung der Feinde vor den Mauern Jerusalems zur Zeit des Königs Hiskija können als heilsgeschichtliche Unterweisung betrachtet werden, die zeigt, dass Gott um seine Ehre eifert.511 Denn jeder, der ihn und den von ihm geliebten Zion (vgl. Sir 24,11) lästert, muss letztendlich dafür büßen (vgl. Exkurs 9). Hier ist zu beachten, dass gemäß der inneren Chronologie, die der Darstellung Sirachs innewohnt, die assyrische Niederlage des Jahres 701 v. Chr. dem König Hiskija noch vor seiner Genesung um 713 v. Chr. vorausgesagt worden sein müsste (vgl. Kap. 4.3.4), sodass die Rettung Jerusalems als Erfüllung der göttlichen Verheißung zu betrachten ist. Die breite biblische Bezeugung dieser Ereignisse (vgl. 2 Kön 18–20, 2 Chr 32 und Jes 36–39), die den Stoff für Sir 48,17–25 geliefert haben, unterstreicht zusätzlich ihre Wichtigkeit und Modellhaftigkeit für die gesamte Heilige Schrift.

507 Vgl. Lev 19,12: „Und ihr sollt bei meinem Namen nicht falsch schwören, daß du den Namen deines Gottes entweihen würdest“. Vgl. auch Ex 20,7 und Num 30,3. 508 Die Verinnerlichung dieser Erkenntnis bei den Völkern ist in Ms. B und G I als Ziel (‫ למען‬/ ἵνα), in Syr jedoch als Feststellung formuliert (vgl. Tab. 15 in Kap. 4.2.3). 509 Vgl. die Worte des Mose nach dem Bundesbruch am Sinai in Ex 32,12–14.25. 510 Vgl. Spr 15,29 und Jak 5,16. 511 Vgl. 1 Kön 20,23–30 und Jes 42,8.

276 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Zum letzten Mal werden das Gebet und dessen Erhörung in Sir  51,1–12512 thematisiert, wobei sich der Autor selbst als Beispiel für seine Leser hinstellt,513 indem er Gott für die empfangene Gnade und die Errettung aus einer Gefahr inbrünstig dankt (vgl. Sir 51,10–11: ‫וארומם ייי אבי אתה כי אתה גבור ישעי׃ אל תרפני ביום צרה ביום שואה ומשואה׃ אהללה שמך תמיד‬ ‫„ ואזכרך בתפלה׃ אז שמע קולי ייי‬Und ich pries Jahwe: ‚Mein Vater bist du, ja du bist ein Held zu meinem Heile! Verlaß mich nicht am Tage der Not, am Tage der Verwüstung und Wüstenei. Loben will ich deinen Namen allezeit und dein gedenken im Gebete!‘ Da hörte Jahwe meine Stimme“ / ἐπεκαλεσάμην κύριον πατέρα κυρίου μου μή με ἐγκαταλιπεῖν ἐν ἡμέραις θλίψεως, ἐν καιρῷ ὑπερηφανιῶν ἀβοηθησίας∙ αἰνέσω τὸ ὄνομά σου ἐνδελεχῶς καὶ ὑμνήσω ἐν ἐξομολογήσει. καὶ εἰσηκούσθη ἡ δέησίς μου „Ich rief den Herrn, den Vater meines Herrn, an, mich nicht zu verlassen in den Tagen der Bedrängnis, zum Zeitpunkt der Hilflosigkeit der Stolzen. Ich will deinen Namen dauerhaft loben und lobsingen in Danksagung. Und meine Bitte wurde erhört“ / ‫ܘܩܪܝܬ ܐܠܒܝ ܡܢ ܡܪܘܡܐ܂ ܡܪܝܐ ܓܢܒܪܐ ܘܦܪܘܩܐ܂ ܐܠ ܬܫܒܘܩܝܢܝ ܒܝܘܡܐ‬ ̈ ‫ܒܬܫܒܚܬܐ܂ ̇ܗܝܕܝܢ ܫܡܥ ܡܪܝܐ ܒܩܠܝ܂‬ ‫„ ܕܥܩܬܐ ܕܡܥܝܩܐ܂ ܐܫܒܚ ܫܡܟ ܒܟܠܙܒܢ܂ ܘܐܬܕܟܪܟ‬Und ich habe zu meinem Vater von der Höhe gerufen: ‚Herr, Held und Erlöser, verlasse mich nicht am Tag der Not, die bedrängt. Ich werde deinen Namen allezeit preisen und ich werde deiner in Lobpreisungen gedenken‘. Da hat der Herr auf meine Stimme gehört“).

Da dieser Text bis jetzt hauptsächlich in Bezug auf die Anrede Gottes als „Vater“ analysiert wurde (vgl. Exkurs 4),514 empfiehlt es sich, kurz auf seine weiteren gebetstheologischen Aspekte einzugehen. Die hier zu untersuchende autobiographische Notiz des Autors, die seinen bis dahin zurückgelegten spirituellen Lebensweg aufzeigt, enthält mehrere stichwortartige Verbindungen mit dem Gebet um Selbstbeherrschung in Sir 22,27–23,6515, wie ἐπὶ στόμα μου „vor meinen Mund“ / ‫„ ܥܠ ܦܘܡܝ‬über meinen Mund“ und ἐπὶ τῶν χειλέων μου „vor meine ̈ Lippen“ / ‫ܣܦܘܬܝ‬ ‫„ ܥܠ‬über meine Lippen“ in Sir 22,27 vs. ‫„ משפת‬vor der Lippe“ / ἀπὸ χειλέων „von (den) Lippen“ in Sir 51,2516 und ‫„ משפתי זמה‬vor unzüchtigen 512 Zum hebräischen, griechischen und syrischen Text von Sir 51,1–12 vgl. Vattioni, Ecclesiastico, 276–279; Calduch-Benages, Text, 266 und 268–269 sowie Beentjes, Part I–II, 91–92 (Ms. B XX recto und verso). Die deutsche Übersetzung des hebräischen Textes folgt Peters. Im Unterschied zur Polyglotte von Vattioni liest die diplomatische Sirachübersetzung von Calduch-Benages: ‫ܡܢ‬ (statt ‫ )ܘܡܢ‬in V. 2; ‫( ܠܟܠ‬statt ‫ )ܠܟܘܠ‬in V. 8; ‫( ܘܐܪܝܡܬ ܡܢ ܐܪܥܐ ܩܠܝ‬statt ‫ )ܘܐܪܝܡܬ ܩܠܝ ܡܢ ܐܪܥܐ‬in V. 9; ‫( ܬܫܒܘܩܝܢܝ‬statt ‫ )ܬܫܒܩܢܝ‬in V. 10; ‫( ܩܠܝ ܘܨܬ ܠܬܢܚܬܝ‬statt ‫ )ܒܩܠܝ ܘܨܬ ܠܬܚܢܢܬܝ‬in V. 11 sowie ‫( ܫܡܗ‬statt ‫)ܫܡܟ‬ in V. 12. 513 Vgl. Urbanz, Die Gebetsschule, 41. 514 Außerdem wurde in Kap. 3.1.5 kurz auf das Erprobungsmotiv in Sir 51,1–12 eingegangen. 515 Der griechische Text des Gebets wurde bereits in Exkurs 2 abgedruckt. Seine syrische Variante folgt: Vattioni, Ecclesiastico, 117 und 119 sowie Calduch-Benages, Text, 154–155. Bei ‫ܒܚܙܐ‬ in Sir 23,4 (anstelle von ‫„ ܦܚܙܐ‬Wollust“, vgl. Hanna / Bulut, ‫ܦܚܙܐ‬, 313 (aramäisch)) handelt es sich in der Ausgabe von Calduch-Benages um einen Schreibfehler. 516 Die entsprechende Passage ist in der syrischen Variante von Sir 51,2 nicht überliefert.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 277

Lippen“ / ἀπὸ γλώσσης ἀκαθάρτου „von unreiner Zunge“ in Sir 51,5517; ἔναντι τῶν ὑπεναντίων „angesichts der Widersacher“ / ‫„ ܩܕܡ ܒܥܠܕܒܒܐ‬vor dem Widersacher“ in Sir 23,3 vs. ‫„ נגד קמי‬angesichts meiner Feinde“ / ἔναντι τῶν παρεστηκότων „angesichts der Widersacher“ in Sir 51,2 sowie die bereits erwähnte Vateranrede Gottes in Sir 23,1.4 und 51,10. Die genannten Berührungspunkte zwischen beiden Textstücken sind deutlich genug, um in dem übergreifenden Zusammenhang der Endgestalt des Sirachbuches518 das abschließende Kapitel 51 als Danksagung des Verfassers für die Erhörung zu deuten, die seine Bitte um Selbstbeherrschung gefunden hat.519 Die Bitte wäre in diesem Fall mit dem Gebet (‫תפלה‬520 in Sir 51,16 / προσευχή in Sir 51,13 / ‫ ܨܠܘܬܐ‬in Sir 51,16) zu identifizieren, das er noch in seinen jungen Jahren521 während der Suche nach Weisheit verrichtete. Dementsprechend würden sich die in Sir 51,1–12 gemiedenen Gefahren nicht primär auf äußere Bedrängnisse beziehen, aus denen der Autor in Sir 34,13 von Gott gerettet wurde ̇ 522 „und ich wurde gerettet“).523 Vielmehr handelt (vgl. καὶ διεσώθην / ‫ܘܐܬܦܨܝܬ‬ es sich hier um das innere Ringen mit persönlichen Schwächen, Leidenschaften und Sünden,524 wie in Sir 51,4: ‫„ מכבות אש לאין פחה‬Aus den Gluten des Feuers, des nicht entfachten“ / ἐκ μέσου πυρός οὗ οὐκ ἐξέκαυσα „aus der Mitte des Feuers, in dem ich nicht verbrannte“,525 das laut Sir 38,34c–39,11b zum Leben eines jeden Schriftgelehrten gehört – auch dem des Siraziden (vgl. Kap. 4.1.7). Das, was er in

517 Die Stelle Sir 51,5 ist in der Peschitta nicht überliefert. 518 Die sirazidische Verfasserschaft von Sir 51 ist in der Forschung umstritten. Vgl. Wagner, Die Septuaginta-Hapaxlegomena, 56 und Zapff, Jesus Sirach, 388. 519 Die Frage, ob es sich bei Sir 22,27–23,6 um eine persönliche Bitte Sirachs oder ein universelles Gebet handelt, wird in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Vgl. Calduch-Benages, Emotions, 149. 520 In Ms. B XXI recto. 521 Für das junge Alter des Beters spräche auch die körperliche Züchtigung zur Disziplinierung und Bestrafung in Sir 22,27–23,6 (vgl. παιδεία σοφίας „Zucht der Weisheit“ / ‫„ ܫܒܛܐ ܕܝܘܠܦܢܐ‬Rute der Zucht“ in Sir 23,2), analog zu Spr 22,15 und zum Lehrtext über die Kinder- und Jugenderziehung in Sir 30,12. 522 Diese Stelle wird in der Peschitta-Version in der Polyglotte von Vattioni als Sir 34,12 gezählt. 523 Die Formulierung in Sir 34,13 beinhaltet das passivum divinum und meint die Errettung durch Gott. Vgl. Vg: et liberatus sum gratia Dei „und [ich] wurde befreit durch die Gnade Gottes“. 524 Laut Gilbert formulierte der syrische Übersetzer Sir 51,1–12 so um, dass jede Bezugnahme auf die falsche Anschuldigung gegenüber Sirach – dies war der eigentliche Auslöser des Gebets in der hebräischen Fassung – getilgt wurde und der Text nun als Danksagung für die Rettung aus einer völlig unbestimmten Todesgefahr aufgefasst werden kann. Vgl. Gilbert, Methodological and Hermeneutical Trends, 6. 525 Die Peschitta liest hier dagegen: ‫„ ܘܡܢ ܫܠܗܒܝܬܐ ܕܢܘܪܐ ܕܚܕܪܬܢܝ‬Und von der Flamme des Feuers, das mich umringt hat“.

278 

 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

Sir 51,17 zunächst nur von seinem Lehrer kannte und was sich später durch das Selbsterlebte bestätigt hat, will er – wie in Sir 24,34 – den Anderen nicht vorenthalten, indem er seine heilsame Erfahrung in Form der „Ich“-Rede formuliert, die seine eigene Autorität als Lehrer betonen soll.526 Auf diese Weise legt er den Lesern ans Herz, dass die Gebetserhörungen früherer Generationen, von denen in seinem Werk so viel die Rede ist, auch persönlich erlebt werden können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Sirachbuch das Bild eines Gottes vermittelt, der die Gebete der bedrängten Frommen, sowohl der Einzelnen und als auch des ganzen Volkes, erhört, indem er in die Menschheitsgeschichte immer wieder eingreift, im Unterschied zum „Gott“ der Stoa, der nur ein apersonales Weltprinzip ist (vgl. Kap. 2.1 und 3.1.7). Die daraus zu entnehmende Botschaft, dass nur der Gott Israels ein hörender und rettender Gott ist, was an manche Formulierungen des Jesajabuches erinnert,527 bildet den Kern der gesamten Gebetsweisheit Sirachs. Was Gott in der Geschichte des Gottesvolkes durch die Vermittlung auserwählter Personen getan hat und was dank der Anamnese früherer Heilserfahrungen wieder präsent wird, das tut er auch im Leben eines jeden Menschen (auch des „finsteren Armen“528), der sich mit Vertrauen an ihn wendet. Dabei gilt jede Gebetserhörung als Ehrensache Gottes, der seinen Verheißungen ausnahmslos treu bleibt – eine frohe Botschaft für die nach Orientierung suchenden Leser, sowohl in der umbruchsvollen Zeit des Hellenismus als auch heute.

4.3.8 Zusammenfassung Abgeschlossen wird die Reihe der im Rahmen dieser Arbeit exegetisierten Perikopen durch den Absatz über Hiskija und Jesaja in Sir 48,17–25, der zum allergrößten Teil auf Hebräisch vorliegt. Die im Ms. B fehlenden V. 22c–23b sind aus den Textzeugen für G I bzw. aus den herangezogenen Peschitta-Handschriften 7a1 und 7h3 zu ergänzen, wobei die letzteren V. 17cd und 19a–20a entbehren (vgl. Kap. 4.3.1). Als eine theologisch relevante, textkritische Abweichung möge der vermutliche 526 Vgl. Skehan / Di Lella, The Wisdom, 28: „The autobiographical narrative or confessional statement occurs in Wisdom literature when the sage appeals to his own experience or authority in order to make a point that is applicable to all his students or readers.“ Vgl. auch Müller, Formgeschichte, 89. 527 Vgl. Jes 45,21: ‫זּול ִתי‬ ָ ‫ּומֹוׁשי ַ ע ַאיִ ן‬ ִ ‫ל־צ ִּדיק‬ ַ ‫„ ֵא‬Einen gerechten und rettenden Gott gibt es außer mir nicht!“; Jes 46,7: ‫יעּנּו‬ ֶ ‫יֹוׁש‬ ִ ‫„ ַאף־יִ ְצ ַעק ֵא ָליו וְ לֹא יַ ֲענֶ ה ִמ ָּצ ָרתֹו לֹא‬Auch schreit man zu ihm [scil. einem Götzen], aber er antwortet nicht, hilft ihm nicht aus seiner Not“, und Jes 65,24: ‫וְ ָהיָ ה ֶט ֶרם־יִ ְק ָראּו וַ ֲאנִ י‬ ‫„ ֶא ֱענֶ ה עֹוד ֵהם ְמ ַד ְּב ִרים וַ ֲאנִ י ֶא ְׁש ָמע‬Und es wird geschehen: ehe sie rufen, werde ich antworten; während sie noch reden, werde ich hören“. 528 Vgl. Sir 4,1b in Syr.

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 279

Versuch mancher griechischen Majuskeln genannt werden, das von Sirach in V. 17b erwähnte Gewässer durch eine lautliche Wiedergabe des Hydronyms „Gihon“ zu präzisieren. Deshalb kann es sich hier um einen Querbezug zu Gen 2,13 handeln, wonach die Davidstadt mit dem Paradies in Verbindung gebracht wird. Der Vergleich der antiken Sprachvarianten zeigt auch weitere Unterschiede, die für die Hermeneutik der untersuchten Perikope wichtig sind. So wird etwa das nur im Hebräischen verständliche Wortspiel mit dem Namen des Königs Hiskija („Stärke JHWHs“) in V. 17a, der seine Hauptstadt befestigen ließ, in G I – anders als bezüglich des Namens „Josua“ in Sir  46,1d  – nicht erklärt (vgl.  Kap.  4.3.2). Ferner spricht der Enkel explizit davon, dass die Vernichtung der Feinde in V. 21b durch einen Engel geschah, entsprechend den Bezugstexten in 2 Kön 19,35; 2 Chr 32,21 und Jes 37,36, was dem transzendenten Gottesbild dient. Außerdem wird das kosmische Wunder in V. 23a, das in G I als Rückgang der Sonne bezeichnet wird, in der Peschitta lediglich als Sonnenstillstand gedeutet, was wiederum stark an Sir 46,4a und Jos 10,12–13 erinnert. Durch die Lokalisation der Perikope im Väterlob zwischen den Summarien über die Herrscher in Sir  48,16 und 49,4 wird die Stellung der beiden Hauptprotagonisten, des Königs Hiskija und des ihn begleitenden Propheten Jesaja, gegenüber den anderen Helden Israels gestärkt (vgl.  Kap.  4.3.3). Doch obwohl der König in V. 17 noch aktiv die Vorbereitungen vor der befürchteten Belagerung Jerusalems leitet, begrenzt sich seine Rolle während des Kriegszugs der Assyrer in V. 18–19 lediglich auf die Bitte an Gott um Rettung in V. 20b (Syr), bis er schließlich, todkrank und auf göttliche Hilfe angewiesen, die wunderbare Heilung in V. 23b erfahren darf. Im Unterschied dazu tritt ab V. 20d der Seher Jesaja auf den Plan, durch den die Rettung Jerusalems kommt und dem auch Hiskija alle seine Verdienste vor Gott (V. 22a–c) und sogar sein Leben verdankt (V. 23b). Der besagte Prophet wird außerdem in V.  23a wegen des Sonnenwunders und in V.  24–25 wegen seiner großartigen Visionen gerühmt. Bei der Analyse der intertextuellen Bezüge erweist sich die Perikope Sir 48,17– 25 als Relecture des Hiskija-Jesaja-Zyklus in 2 Kön 18–20, 2 Chr 32 und Jes 36–39 (vgl.  Kap.  4.3.4). Zunächst einmal bleibt der äußere Duktus der sirazidischen Darstellung der in den Bezugstexten vorgefundenen Abfolge der Ereignisse verpflichtet, mit der Ausnahme der Bauprojekte Hiskijas, die in V. 17 als Exposition gelten, und der bedenklichen Gesandtschaft aus Babel. Durch die Auslassung der letzten Episode, die als Vorankündigung des künftigen Exils dienen könnte, erscheint der judäische König Hiskija im Ecclesiasticus in viel besserem Licht als in den Büchern der Könige und Jesaja, was zugleich als Beweis für die selbstständige, schriftgelehrte Arbeitsweise des Autors dient. Überraschend in diesem Zusammenhang wirkt deshalb die kritische Notiz über den „Übermut“ der Verteidiger Jerusalems in V. 19a in Ms. B, wo vielmehr das Lob für die Treue zu JHWH

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 4 Vorbilder des Gebets bei Sirach

zu erwarten wäre. Diese Beobachtung spornt zur folgenden Rekonstruktion der inneren Chronologie der Regierung Hiskijas an: seine Krankheit und Heilung, die Gesandtschaft aus Babel sowie die Blockade und Befreiung Jerusalems. Dieser revidierten Chronologie zufolge wäre der oben genannte „Übermut“ auf die Errichtung eines neuen Teiches im Laufe der mühsamen Vorbereitung auf die Belagerung der Hauptstadt zu beziehen, die Sirach am Anfang der Perikope schildert. Wegen der vermutlichen Erwähnung der Gihonquelle in V. 17b könnte hier – wie in Sir 10,12 und Jes 22,11 – eine Anspielung auf Gen 1,9–10 vorliegen, sodass die von Hiskija unternommenen Bauarbeiten am Wassertunnel und -speicher sogar als Klischee der göttlichen Schöpfung zu verstehen wären. Außerdem könnte sich der „Übermut“ auf das anmaßende Bauprojekt des königlichen Beamten Schebna in Jes  22,16 beziehen, weshalb die in V.  18a–d geschilderte Feindesnot als allgemeines Gericht über das sündige Jerusalem zu deuten wäre. Weil in G I die kritische Notiz in V. 19a fehlt, rückt die Gestalt Hiskijas in ein noch besseres Licht, als es in Ms. B der Fall ist, wo Hiskija allmählich von der Selbstüberschätzung zur Fügsamkeit erzogen wird. Dadurch scheint die griechische Übersetzung der summarischen Würdigung der jüdischen Könige in Sir 49,4 noch mehr verpflichtet zu bleiben als der Hebräer. Die Darstellung Hiskijas verrät außerdem gewisse Gemeinsamkeiten mit der Schilderung der Verdienste Simeons in Sir 50,1–3, was Anlass dazu gibt, das Ethnonym „Assur“ in V. 21a als Decknamen für das Seleukidenreich zu deuten (vgl.  Exkurs 9). Vermutlich wollte Sirach auf diese Weise wichtige Impulse für seine schriftkündigen Adressaten geben, damit sie für die Herausforderungen ihrer umbruchsvollen Zeit besser gewappnet seien. Zum einen könnte die Erinnerung an den verunglückten Feldzug Sanheribs gegen Jerusalem ein Hinweis sein, dass die gesetzeswidrige Gefährdung der aaronitisch-zadokidischen Nachfolge des Hohepriesteramtes seitens der Seleukiden, die zu der Zeit Sirachs hochaktuell gewesen sein müsste, früher oder später von Gott bestraft wird. Zum anderen würden die Leser zum Vertrauen und Gebet ermutigt, wobei das letztere – wie es die Erfahrung der früheren Generationen lehrt – immer die beste Option angesichts der unsicheren Zukunft darstellt. Die formale Analyse von Sir  48,17–25 lässt neben dem oben angedeuteten Wortspiel mit dem Namen des Königs Hiskija in V. 17a und 22ab das gleiche rhetorische Stilmittel mit dem Namen des Propheten Jesaja („JHWH ist Rettung“) in V. 20d erkennen (vgl. Kap. 4.3.5), die am Ende einer Stellungsfigur steht. Gemeint ist hier die Sequenz mit dem Wort „Hand“ in V. 18c, 19a, 20b und d, die das biblische Klage-Erhörungs-Paradigma widerspiegelt und somit die Rettung Jerusalems als Antwort Gottes auf das Gebet der Bedrängten und als Ausdruck seines Heilsplans hervorhebt. Dazu unterstreicht der Vergleich der in V. 19b gebrauchten Metapher der Gebärenden mit derselben semantischen Figur in Jes 26,16–19

4.3 Der König Hiskija und der Prophet Jesaja in Sir 48,17–25 

 281

nicht nur die Hilflosigkeit der umzingelten Jerusalemer, sondern macht auch ihre schwierige Lage in ihrem inneren Zusammenhang besser verständlich. Dieser besteht darin, die Bedrängnis der Jerusalemer durch die Feinde als erzieherische Strafe Gottes für ihre Sünden anzusehen, sodass eventuelle Bemühungen, die Erlösung aus eigener Kraft herbeizubringen, ohne Erfolg bleiben müssten. Ferner hat die Fügsamkeit Hiskijas gegenüber den göttlichen Weisungen in V. 22a–c sein Wohlergehen zur Folge, was wiederum an die gottbezogene Begründung in der Josuaperikope in Sir  46,6e erinnert (vgl.  Kap.  4.3.6). Die weiteren inhaltlichen und formalen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Textabschnitten erlauben die genauere Bestimmung der literarischen Gattung von Sir  48,17–25 als heldenliedartiger Hymnus über den König Hiskija und den Propheten Jesaja. Während aber in der Peschitta-Version der Perikope nur vom stellvertretenden Gebet des nämlichen Königs die Rede ist, was deutlich den Schriftbezug zur Fürbetergestalt Davids verstärkt, erwähnen die hebräische und die griechische Fassung in V. 20ab das einzige Mal im Väterlob – neben Sir 50,17–19.21 – ein kollektives Bittgebet (vgl. Kap. 4.3.7). So können unter den in Ms. B namentlich unbekannten Betern neben Hiskija auch die Bewohner bzw. die Oberschicht Jerusalems verstanden werden, die sich in der Zeit vor der drohenden Belagerung der Stadt mehr auf die in V. 17 erwähnten Befestigungen als auf Gott verließen und deshalb dem in V. 19a und Jes 22,11 kritisierten Übermut verfielen. Insbesondere wäre hier an die Hofleute Hiskijas und die Ältesten der Priester in 2 Kön 19,3–4 zu denken, die dem Propheten Jesaja die äußerste Not der Jerusalemer mit Hilfe der oben erwähnten Gebärendenmetapher schilderten und ihm eine Bitte um Gebet für sie überbrachten. Dieser legte gemäß 2 Chr 32,20 Fürbitte ein und wurde erhört, indem Gott in V. 20d–21b die bedrohte Stadt durch seine Hand rettete und den König in V. 23b heilte. Das stellvertretende Gebet Jesajas vermochte sogar in V. 23a die Kräfte der Natur zu bändigen. Schließlich ist zu bemerken, dass  – neben den sechs weiteren Sirachstellen: dem programmatischen Aufruf zur Anamnese früherer Gebetserhörungen in Sir 2,10, den zwei armentheologischen Unterweisungen in Sir 4,1–10 und 35,16–21 sowie der Josua- und der Samuelperikope des Väterlobes und dem Danklied in Sir 51,1–12 – nur Sir 48,17–25 ein Beispiel eines vollständigen Klage-Erhörungs-Schemas darstellt (vgl.  Kap.  4.3.7). Gemeinsam für diese Passagen ist nämlich, dass Gott die Gebete der bedrängten Frommen hört und sie aus ihren Nöten erlöst, was der Kern der Gebetsweisheit Sirachs ist. Dies geschieht jedoch nicht allein um der Beter willen, sondern – wie bei der Rettung Jerusalems aus der Hand Sanheribs – auch um des Namens Gottes willen. Nicht selten geht seinem machtvollen Einschreiten noch eine Verheißung voraus, sodass die Gebetserhörung einer „Ehrenangelegenheit“ Gottes gleicht, der seinem Wort immer treu bleibt.

5 Exegetischer und theologischer Ertrag 5.1 Intertextualität zwischen dem Sirachbuch und dem Alten Testament Das Lebenswerk Sirachs ist ein Beispiel der gelungenen Schriftrelecture, worauf bereits im Prolog hingewiesen wird (vgl. Kap. 1.2). Dies zeigt sich dadurch, dass der Autor verschiedene Texte aus dem Gesetz, den Propheten und andern biblischen Büchern aufgreift (vgl. Sir Prolog 1–2; 8–10; 24–25 und Sir 38,34d–39,1b), um seinen Zuhörern einen neuen Zugang zu altüberlieferten Glaubensinhalten in der umbruchsvollen Zeit des Hellenismus zu ermöglichen. Einerseits konkretisiert und veranschaulicht er die zu vermittelnden Lehrinhalte anhand der Beispiele aus der Heilsgeschichte, was aber in schriftgelehrter Weise geschieht, die den wissbegierigen Adressaten nicht unterfordern soll. Andererseits ermutigt er seine Leser in Sir 2,10 direkt zur Suche hiernach, die sich im schöpferischen SichErinnern an Heilserfahrungen früherer Generationen vollzieht (vgl. Exkurs 1). Um diese katechetisch-pädagogische Absicht des Autors zu ergründen und dadurch den Sirachtext besser zu verstehen, wurden im Laufe dieser Arbeit zahlreiche (potenzielle) alttestamentliche Anspielungen, Verweise und Zitate identifiziert, von denen sich die anschaulichsten im Väterlob befinden (vgl. Tab. 20). Der für Sirach charakteristische Umgang mit der Heiligen Schrift besteht in erster Linie darin, die ältere Weisheit Israels mit der Tora zu verbinden. Dies kommt beispielsweise in Sir 3,1–16 vor, wo die einzelnen, in der Weisheitsliteratur in Spr  17,6 und im Dekalog überlieferten Aspekte der Elternehrung zusammen reflektiert werden (vgl.  Kap.  3.2.4). Durch eine zusätzliche Gottesfurchtpassage in Sir  3,7a in der griechischen Langfassung (G  II) wird ferner das Elterngebot von Ex 20,12 bzw. Dtn 5,16 mit der Grundforderung des Gesetzes in Dtn 6,2–3 verknüpft. Es ist bezeichnend, dass die beiden letztgenannten Deuteronomiumstellen auch im zeitgenössischen Papyrus Nash nebeneinander angeführt werden, was die oben angedeutete Absicht und den intertextuellen Charakter des Sirachbuches in die theologischen Strömungen des Frühjudentums einordnet. Gleiches betrifft auch die biblischen Erzählungen über den Sündenfall und über das Exodusgeschehen, die als Bezugstexte für die Unterweisung über die Demut in Sir 3,17–31 vorgeschlagen werden, und dies umso mehr, als sie auch in den frühjüdischen Schriften wie dem apokryphen Jubiläenbuch (vgl. Jub 2,19 und 3,10) und der „Apokalypse des Mose“ miteinander in Berührung kommen (vgl. Kap. 3.3.4 und 3.3.6). Dass es sich bei dieser Relecture der Mosegestalt um ein für Sirach typisches Sujet handeln könnte, legen neben den Anspielungen auf Ex 15,1–18 im Gebet um Rettung in Sir 36,1–22 auch die Hinweise auf das Wunder in Ex 15,22–25 https://doi.org/10.1515/9783110784923-005

5.1 Intertextualität zwischen dem Sirachbuch und dem Alten Testament 

 283

und auf die Selbstcharakterisierung Gottes in Ex 15,26 innerhalb der Arztperikope in Sir 38,1–15 nahe (vgl. Exkurs 3). Tab. 20: Die schriftgelehrte Arbeitsweise Sirachs und die intertextuellen Bezüge in seinem Werk. Potenzielle Bezugstexte im AT Genesis Schöpfungs- und Paradieseserzählung: Meer in Gen 1,9–10; Paradiesfluss in Gen 2,13;

Sündenfall, insbesondere die Strafe für Eva in Gen 3,16; Noacherzählung in Gen 9,18–29 Abrahamerzählung Exodus Mose und Exodusgeschehen;

Erstes Moselied in Ex 15,1–18; Unterdrückung der Witwen und Waisen als himmelschreiende Sünde in Ex 22,20–22 Leviticus Verbot der Zurückhaltung des Tagelohns in Lev 19,13; Todesrechtssätze in Lev 24,16 Deuteronomium Elterngebot in Dtn 5,16 und Gottesfurcht in Dtn 6,2–3 Gottes väterliche Erziehungsstrategie in Dtn 8,5;

Rezeptionen und Relecturen bei Sirach Schöpfung in Sir 15,14–17 und 17,1–7 (vgl. Kap. 3.3.4); Wasserspeicher in Sir 48,17d (vgl. Kap. 4.3.4); vermutliche Erwähnung der Jerusalemer Gihonquelle in Sir 48,17b in den Majuskeln B und S (vgl. Kap. 4.3.1 und 4.3.4); Vermehrung der Leiden in Sir 3,27a in Ms. A und Syr (vgl. Kap. 3.3.4); Sündenfall in Sir 10,12–13 (vgl. Kap. 3.3.6); Ehrung des Vaters in Sir 3,10.13, Segen und Fluch in Sir 3,9 (vgl. Kap. 3.2.4); Anspielungen auf Abraham in Sir 2,1–3 (vgl. Exkurs 1) Anspielungen auf Mose in Sir 3,18–20 (vgl. Kap. 3.3.4) und Sir 38,34c–39,11b (vgl. Kap. 4.1.4); verstocktes Herz des Pharaos in Sir 3,26a.27a und 16,15 (vgl. Kap. 3.3.4); ägyptische Plagen und Durchzug durch das Rote Meer in Sir 10,13 (vgl. Kap. 3.3.6); Gebet um Rettung in Sir 36,1–22 (vgl. Exkurs 3); Erhörung der bedrängten personae miserae in Sir 4,6 und 35,16–21 (vgl. Kap. 3.4.7) Verheißung des Lohnes in Sir 2,8b (vgl. Kap. 3.1.4); Anprangerung unterlassener Ehrung der Eltern in Sir 3,16 (vgl. Kap. 3.2.4) Elternehrung im Allgemeinen in Sir 3,6a.8a und als Konkretion der Gottesfurcht in Sir 3,7a (vgl. Kap. 3.2.4); Erprobung als Erziehungsmaßnahme Gottes in Sir 2,1.5 (vgl. Exkurs 1); Sir 4,17 (vgl. Kap. 3.4.3) und Sir 51,1–12 (vgl. Kap. 3.1.5);

284 

 5 Exegetischer und theologischer Ertrag

Tab. 20 (fortgesetzt) Potenzielle Bezugstexte im AT

Rezeptionen und Relecturen bei Sirach

Gott als Vater in Dtn 32,6

Gottessohnschaft in Sir 4,10c (vgl. Kap. 3.4.4); Vateranrede Gottes in Sir 23,1.4 und 51,10 (vgl. Exkurs 4)

Josua Vorstellung Josuas in Jos 1,1.5 und seine Kämpfe in Jos 8,1–10,14 Richter Michaerzählung in Ri 17,1–4 Samuelbücher Erwiesene und unterlassene Elternehrung in 1 Sam 1–3 und Gebetserhörung in 1 Sam 7;

Salomo als geliebter Sohn Gottes in 2 Sam 7,14 und 12,24; Spruch Davids in 2 Sam 24,14 Königsbücher Hiskija-Jesaja-Zyklus in 2 Kön 18–20 Tobit Sorge Saras um ihren Vater in Tob 3,10; Unterweisung für Tobias in Tob 4,3; Barmherzigkeit in Tob 4,7–11 und 14,11; Schätzesammeln in Tob 4,9; Sündentilgung durch Barmherzigkeit in Tob 12,9; Schnelle Erhörung der Gebete von Tobit und Sara in Tob 3,1.7.11.16; 4,1; Erblindung des Tobit in Tob 2,10 und seine Heilung in Tob 11,11–14 und 12,14 Kritik des Hochmuts in Tob 4,13; Sorge um die Waisen und Witwen in Tob 1,8 in der griechischen Langfassung; Armenhilfe in Tob 4,7

Josuaperikope in Sir 46,1–6 (vgl. Kap. 4.2.3–4)

Mütterlicher Fluch in Sir 3,9b (vgl. Kap. 3.2.4) Elternehrung in Sir 3,1–16 (vgl. Kap. 3.2.4 und 3.2.7); Samuelperikope in Sir 46,13–20: Gebetserhörung in der Feindesnot in Sir 46,16 (vgl. Exkurs 8); Gottessohnschaft in Sir 4,10c (vgl. Kap. 3.4.4); Gottvertrauen in Sir 2,18a–d in G I als Paraphrase von 2 Sam 24,14 (vgl. Kap. 3.1.4) Hiskija-Jesaja-Perikope in Sir 48,17–25 (vgl. Kap. 4.3) Elternehrung in Sir 3,11 (vgl. Kap. 3.2.4); Elternehrung in Sir 3,12 (vgl. Kap. 3.2.4 und 3.2.6); Wohltat / Barmherzigkeit in Sir 3,14a (vgl. Kap. 3.2.4); Schätzesammeln in Sir 3,4 (vgl. Kap. 3.2.4); Sündentilgende Wirkung der Wohltat / Barmherzigkeit in Sir 3,14b.15b (vgl. Kap. 3.2.6); Schnelle Gebetserhörung in Sir 3,5b (vgl. Kap. 3.2.7); Fehlen von Pupillen in Sir 3,25a und Verweigerung der Heilung in Sir 3,28a (vgl. Kap. 3.3.6); Kritik des Hochmuts in Sir 3,19a in G II (vgl. Kap. 3.3.6); Hilfe für die Waisen und Witwen in Sir 4,10 (vgl. Kap. 3.4.6); Armenhilfe in Sir 4,4b in G I als wörtliche Entsprechung zu Tob 4,7 (vgl. Kap. 3.4.6)

5.1 Intertextualität zwischen dem Sirachbuch und dem Alten Testament 

 285

Tab. 20 (fortgesetzt) Potenzielle Bezugstexte im AT

Rezeptionen und Relecturen bei Sirach

Psalmen und Sprichwörter

Zahlreiche Anspielungen

Jesaja Kritik an Jerusalem in Jes 22,11; Weissagungen in Jes 11,2; 40,1; 61,3 etc. Daniel Drei Jünglinge in Babel in Dan 3,19–97; Daniel als ausgebildeter (vgl. Dan 1,4), um die Geheimnisse wissender (vgl. Dan 2,22), betender (vgl. Dan 6,11) und erprobter Staatsmann (vgl. Dan 6,2–29 und 14,23–42) und geistbegabter Richter (vgl. Dan 13,45–62); Gebetsgeschrei Susannas in Dan 13,42 in der „Theodotion“-Fassung

Übermut in Sir 48,19a in Ms. B (vgl. Kap. 4.3.4); Weissagungen Jesajas in Sir 48,24–25 (vgl. Kap. 4.3.3) Erprobung im Schmelzofen in Sir 2,5b (vgl. Exkurs 1); Erprobter, betender und geistbegabter Schriftgelehrter in Sir 38,34c–39,11b (vgl. Kap. 4.1.4); gerechtes Richten in Sir 4,9 (vgl. Kap. 3.4.4); Zum Himmel dringendes Geschrei des Bedrängten in Sir 4,6 (vgl. Kap. 3.4.4)

Es ist ferner zu bedenken, dass, wenn der Hagiograph die Passagen aus anderen biblischen Büchern heranzieht, nicht selten mit ihrer kreativen Neuinterpretation zu rechnen ist. So kann zum einen der kontextuelle Rahmen der zitierten Stelle weggelassen werden, wie etwa die peinliche Volkszählung in 2 Sam 24 (bzw. 1 Chr 21,1–17) bei den Worten des Königs David in Sir 2,18a–d, was zu einer viel positiveren Beurteilung der betroffenen Person in Sir  49,4 führt (vgl.  Kap.  3.1.4). Zum anderen werden auch die älteren Texte der Heiligen Schrift mit gewisser Selbständigkeit kompositionell angeordnet, um ihrer inneren Chronologie statt des äußeren Duktus des Bezugstextes den Vorzug zu geben, wie etwa in der Josuaperikope in Sir 46,1–6 (vgl. Kap. 4.2.4). Diese beiden Vorgehensweisen werden in Sir 48,17–25 angewandt, wo Sirach – im Unterschied zum Erzählduktus in 2 Kön 18–20 – die Bautätigkeit des judäischen Königs Hiskija dem Auftritt des assyrischen Gesandten Rabschake voranstellt, zugleich aber die Episode mit der Gesandtschaft aus Babel auslässt und mit Hilfe der Formulierung „im Übermut ihres Herzens“ in Sir 48,19a die jesajanische Kritik an Jerusalem aufnimmt (vgl. Kap. 4.3.4). Damit greift er nicht nur die Erzählstruktur der Königsbücher auf, sondern auch die prophetische Tradition aus Jes 22,11, indem er in schriftgelehrter Weise die beiden Perspektiven verbindet und sie zu einer neuen Heilsansage verarbeitet. Das Neuartige einer solchen Relecture besteht in der theologischen Konzeption der Heilsgeschichte, wonach der König Hiskija in einem besseren Licht erscheint als im Bezugstext. Zugleich wird dem

286 

 5 Exegetischer und theologischer Ertrag

Leser die Möglichkeit eingeräumt, den allmählichen inneren Wandel Hiskijas von übermütiger Selbstüberschätzung zur Fügsamkeit zu betrachten, an dessen Ende das demütige Gebet und seine Erhörung stehen (vgl. Kap. 4.3.3–4). An dieser Stelle ist noch kurz auf den intentionalen Charakter von Intertextualität zu verweisen. Die Wiederaufnahme des verunglückten Kriegszugs Sanheribs gegen Jerusalem kann nämlich als verschleierter Hinweis auf die Einmischung der Seleukiden bei der Besetzung des Hohepriesteramtes gedeutet werden, wobei sich hinter dem Ethnonym „Assyrer“ nur ein Tarnwort für das seleukidische oder überhaupt jedes gottfeindliche Weltreich verbirgt, wie es etwa im Juditbuch der Fall ist (Exkurs 9). Die sich daraus ergebende Geschichtslektion belehrt darüber, dass jegliche politische Macht, die sich anmaßt, sich über die von JHWH gewollte Ordnung hinwegzusetzen, früher oder später bestraft wird. Darum werden die Leser zum Vertrauen auf Gott und zum „erinnerungsgesättigten“ Gebet ermutigt, welches stets die richtige Antwort auf die Herausforderungen der umbruchsvollen Zeit ist. Allerdings ist zu beachten, dass sowohl in Sir 48,17–25 als auch bei den anderen im Laufe dieser Arbeit exegetisierten Sirachtexten nicht alle entdeckten intertextuellen Bezüge zum AT auf der literarischen Abhängigkeit beruhen müssen. Denn es kann sich bisweilen um die Verwurzelung in der gemeinsamen biblischen Tradition handeln, wie es bei der Gebetserhörung der bedrängten Frommen und dem gerechten Urteil in Sir 4,1–10 und in der deuterokanonischen Susannaerzählung zu vermuten ist (vgl. Kap. 3.4.4). Dabei ist die Grenze zwischen der verfasserorientierten Produktionsästhetik und der leserorientierten Rezeptionsästhetik, die im Rahmen der vom Autor intendierten kanonischen Schriftlesung geschieht, oftmals fließend, wie etwa bei dem eingangs erwähnten anamnetischen Rückblick in Sir 2,10 und der Juditschrift (vgl. Exkurs 1). Andersherum hilft die intertextuelle Lektüre mehrere inhaltliche und formale Entsprechungen zwischen Sir 3,1–16 und dem deuterokanonischen Tobitbuch festzustellen, wie z. B. die Wertschätzung der Barmherzigkeit, ihre sündentilgende Wirkung und die Deutung des Elterngebotes als ihrer Konkretion (vgl. Kap. 3.2.6). Die Richtigkeit dieser Feststellung wird durch eine wörtliche Parallele zwischen Tob 4,7 und Sir 4,4b in G I bestätigt, die zusammen mit der gleichen armentheologischen Akzentuierung für eine gemeinsame literarische Gattung der betroffenen Texte spricht (vgl. Kap. 3.4.6). Den beiden Büchern gemeinsam ist schließlich der Zusammenhang zwischen der Elternehrung und der Erfüllung der an Gott gerichteten Bitten der Kinder, was wiederum den Ecclesiasticus in die Tradition der zwischentestamentlichen Literatur stellt, welche die damalige Verbreitung der Gebete bezeugt (vgl. Kap. 3.2.7). Mit der Gebetserhörung noch „am selben Tag“ in der griechischen Version kommt allerdings die Intertextualität zwischen Sir 3,5b und dem Tobitbuch viel deutlicher zum Ausdruck als in den anderen Sirachfassungen.

5.2 Hermeneutische Eigenart antiker Sprachversionen 

 287

5.2 Hermeneutische Eigenart antiker Sprachversionen Wie oben angedeutet, hängen die im Sirachbuch anzutreffenden intertextuellen Bezüge zum Alten Testament oftmals eng mit der Hermeneutik der einzelnen Sprachfassungen zusammen. Wegen der mangelhaften Textüberlieferung auf Hebräisch kann jedoch der eigene Beitrag der antiken Übersetzer oft nicht mehr eingeschätzt werden. Denn es wäre einerseits möglich, dass sie voneinander und vom überlieferten hebräischen Text abweichende Vorlagen hatten, die sie ziemlich wörtlich wiedergaben (vgl. Kap. 1.4). Andererseits – solange die entsprechenden hebräischen Zeugen solcher Textentwicklung nicht greifbar sind – könnte es sich bei anzutreffenden Abweichungen, sei es in der griechischen Übersetzung des Enkels (G I) als Bestandteil der LXX oder sei es in der Peschitta-Version (Syr), um Übersetzungstendenzen im eigentlichen Sinn handeln. Aber auch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren ist nicht ganz von der Hand zu weisen und diese prinzipielle Offenheit ist auch dann zu bedenken, wenn dem einen oder anderen überlieferungsgeschichtlichen Modell ein gewisser Vorrang eingeräumt wird. Dass G I als die älteste antike Sirachversion meistens die Hauptintention des Verfassers bewahrt, ist nicht verwunderlich. Oft scheint der Grieche selbstständig weiterzuarbeiten, indem er die bekannten Aspekte der biblischen Weisheitslehre mit den Hauptthemen des Buches, wie etwa mit der Gottesfurcht (vgl. Sir 50,29), auf innovative Weise verbindet. Als konkretes Beispiel möge hier der Zusammenhang von Sündenvergebung in Sir 2,11b und Erhörung des gottesfürchtigen Bittstellers in Sir 2,10cd dienen (vgl. Kap. 3.1.3). Außerdem wird in G I – anders als in Ms.  A  – die Verbindung zwischen der Elternehrung und der Gottesfurcht in Sir  7,27–29 ersichtlich (vgl.  Kap.  3.2.2). Dank eines zusätzlichen Bezugs auf die Gottesfurcht in der griechischen Langfassung (G  II) trifft dies auch in Sir  3,7a zu. Nicht zuletzt verknüpft die LXX in Sir 3,20b das Lobgebet mit der Demut als neuem Aspekt der Gebetslehre (vgl. Kap. 3.3.7). Dazu verstärkt der Enkel die Schriftbezüge zu 1 Sam 2,31–32.35, indem er in Sir  3,9ab.14b statt der Pflanzenmetapher das Sinnbild des Hauses gebraucht (vgl. Kap. 3.2.2 und 3.2.4). Ferner setzt er die schriftgelehrte Arbeitsweise seines Großvaters, der das Gebet um Rettung in Sir  36,1–22 als Relecture des ersten Moseliedes in Ex  15,1–18 gestaltet hat, insofern fort, dass er Sir  36,11 höchstwahrscheinlich direkt aus dem hebräischen Text von Ex  15,7 vervollständigt (vgl.  Exkurs 3). Es ist aber nicht auszuschließen, dass er diesen Zusatz bereits aus seiner modifizierten Vorlage übernimmt, oder dass das Fehlen der besagten Stelle in Ms.  B sekundär ist. Als weitere Beispiele für die Ergänzung des Sirachtextes durch den Griechen lassen sich die Erwähnung des Pestengels in Sir 48,21b gemäß der Vorlage in 2 Kön 19,35 (vgl. Kap. 4.3.2) und die Anspielung auf einen der vier Paradiesflüsse in Gen 2,13 durch die vermutliche Präzisierung

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 5 Exegetischer und theologischer Ertrag

des Gewässers in Jerusalem als Gihon in den Majuskelkodizes B und S aufführen (vgl. Kap. 4.3.1). Ein andermal schränkt er jedoch die Querbezüge zur Verstocktheit des Pharaos in Ex 7,14, zu den ägyptischen Plagen in Ex 7,18.21; 8,10 und zur Wüstenwanderung in Ex  16,20.24 ein, wobei er in Sir  3,26a.27a eine vom Buch Exodus abweichende Wortwahl trifft und die Passage über den Pharao in Sir 16,15 unübersetzt lässt (vgl. Kap. 3.3.4). Er tilgt auch die Anspielung auf die Kritik der Jerusalemer aus Jes 22,11.16 durch die Auslassung des „Übermuts“ in Sir 48,19a (vgl.  Kap.  4.3.2 und 4.3.4). Falls es sich nicht um die Eingriffe der hebräischen Tradenten handelt, können diese Verwischungen der Schriftbezüge etwa daraus resultieren, dass der im ptolemäischen Alexandrien statt in Jerusalem lebende Übersetzer (vgl. Sir Prolog 27–28 und Sir 50,27 in G I) entweder nicht alle dortigen Traditionen im Blick gehabt hat oder bei der Relecture des Exodusgeschehens den Text bewusst ägyptenfreundlich uminterpretiert hat (vgl. Exkurs 9). Was die Übersetzungstechnik des Enkels betrifft, werden mitunter dieselben hebräischen Lexeme unterschiedlich wiedergegeben, bei denen im syrischen Text immer dasselbe Wort steht (vgl. Kap. 1.4). Dabei können die bedeutungsähnlichen griechischen Vokabeln abwechselnd gebraucht werden, wie z. B. die zwei Synonyme für das Verb „ehren“ in Sir 3,1–16 (vgl. Kap. 3.2.5), das Wortpaar „sanftmütig“ / „demütig“ in Sir 3,17–31 (vgl. Kap. 3.3.5) sowie die Gottesbezeichnungen „Höchster Starker“ und „großer Herr“ im Rahmen des Parallelismus in Sir 46,5ac, wo der Hebräer zweimal denselben Titel „Gott der Höchste“ hat (vgl. Kap. 4.2.7). Dagegen wird in G I in Sir 2,7a.18d das Substantiv „Erbarmen“ verwendet, wo im Syrischen entweder „Seligpreisung“ oder „Erbarmen“ steht (vgl. Kap. 3.1.5). Bei einigen Anspielungen auf die alttestamentlichen Texte hält sich der Enkel nicht wie erwartet an die LXX, sondern scheint eigenständig aus dem Hebräischen zu übersetzen, wie etwa im bereits erwähnten Gebet um Rettung in Sir  36,11 (vgl. Ex 15,7 in Exkurs 3) und in der Josuaperikope in Sir 46,2b (vgl. Jos 8,18 in Kap.  4.2.2). Ferner verwendet er in Sir  4,3 das dem griechischsprachigen Leser geläufigere Sprachbild des „Herzens“ statt des semitischen Ausdrucks „Eingeweide“ (vgl.  Kap.  3.4.2) und übersetzt in Sir  46,1 das hebräische Idiom „Sohn der Tapferkeit“ (i. S. v. „ein kriegstüchtiger, tapferer Mann“) mit der semantisch durchschaubaren Formulierung „(mächtig) im Krieg“ (vgl. Kap. 4.2.2). Nicht selten ist in der griechischen Textüberlieferung die Verfeinerung der rhetorischen Figuren der Wortstellung anzutreffen. So kommt durch einen zusätzlichen Gottesbezug in Sir 3,7a (G II) und das Fehlen des zweiten Aufmerksamkeitsrufs in Sir 3,8a eine Ringkomposition in Sir 3,1a–8b zum Vorschein (vgl. Kap. 3.2.3). Dazu gebraucht der Enkel des Spruchdichters (oder bereits seine Vorlage) eine komplexe chiastisch-parallel angeordnete Struktur in Sir 3,12a–13b anstelle des einfachen Parallelismus in Ms. A und Syr (vgl. Kap. 3.2.5) und ein zusätzliches rhythmisches Element durch die Erwähnung der Mutter in Sir 4,10bd, sodass der

5.2 Hermeneutische Eigenart antiker Sprachversionen 

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im hebräischen Ms.  A vorhandene Parallelismus in G  I auf Sir  4,10a–d ausgedehnt wird (vgl.  Kap.  3.4.5). Außerdem thematisiert der Grieche das Gebet des Schriftgelehrten in Sir  39,6d und verwendet die appositionell erweiterten Gottesbezeichnungen in Sir 39,5b.6a, sodass anstelle des in der Peschitta in Sir 39,5 bestehenden, einfachen Parallelismus die chiastisch-parallel angeordnete Struktur in Sir 39,5–6 tritt (vgl. Kap. 4.1.7). Dazu fällt in G I eine doppelte Sequenz mit der Kampfterminologie in Sir  46,1–6 auf (vgl.  Kap.  4.2.5). Trotz dieser vielfach bezeugten Tendenz ist der syrische Übersetzer – falls nicht in seiner Vorlage vorgefunden  – an einigen Stellen mehr um die sprachliche Gestaltung des Textes bemüht als der Grieche, wie an der wiederkehrenden Sequenz dreier weisheitlicher Vokabeln in der Schriftgelehrtenperikope in Sir 38,34c–39,11b zu sehen ist (vgl. Kap. 4.1.5). Weitere Unterschiede betreffen den Umgang des Enkels mit seinen Lesern, die des Hebräischen nicht (mehr) mächtig sind bzw. ein unzureichendes Wissen haben, um in der Fremde nach dem Gesetz zu leben. Dieses Ziel, den Zugang zur biblischen Weisheit für die Lernbegierigen zu eröffnen, das der Übersetzung des gesamten Buches ins Griechische vorschwebt und bereits im programmatischen Vorwort in Sir Prolog 34–36 formuliert wird (vgl. Kap. 1.2), wird wohl im Laufe des Buches auf verschiedene Weise umgesetzt: Während der an einer ländlich-bäuerlichen Bilder- und Erlebniswelt orientierte Hebräer noch das Sprachbild der jungen Pflanze in Sir 3,9ab.14b verwendet, bedient sich der Grieche an dieser Stelle einer Hausmetapher, die seinen städtisch geprägten Adressaten in Alexandrien wahrscheinlich geläufiger ist (vgl.  Kap.  3.2.2; ein anderer Grund dafür wäre die bereits erwähnte Verstärkung der Schriftbezüge). Als weitere Beispiele könnten hier die Präzisierung durch die Angabe der Gebetszeit in Sir 39,5a (vgl. Kap. 4.1.2) und die Erklärung der Bedeutung des hebräischen Namens Josua / Jesus („JHWH ist Hilfe“) in Sir 46,1cd angeführt werden (vgl. Kap. 4.2.2). Dagegen fehlt die Erklärung der nur im Hebräischen verständlichen ätiologischen Wortspiele mit den theophoren Namen Hiskija („Meine Stärke ist JHWH“) in Sir 48,17a (vgl. Kap. 4.3.2) und Jesaja („JHWH ist Rettung“) in Sir 48,20d (vgl. Kap. 4.3.5). Vermutlich wegen der Berücksichtigung des religionspolitischen Umfeldes der jüdischen Adressaten in Ägypten wird auch das pluralische Wort „Völker, Heiden“ in Sir 39,10a gebraucht (vgl. Kap. 4.1.2) und die heidenkritische Formulierung „dem Bann verfallenes Volk“ in Sir 46,6c weggelassen (vgl. Kap. 4.2.2). Auch die Peschitta-Version zeigt ihre hermeneutische Eigenart, indem sie etwa Schriftbezüge verstärkt bzw. schafft. Wie oft angedeutet, handelt es sich dabei entweder um den eigenen Beitrag des Übersetzers oder um die Modifikationen, die er aus seiner Vorlage übernommen hat. Bemerkenswert sind z. B. die Entlohnung der Gottesfürchtigen in Sir 2,8b, die wahrscheinlich auf die sofortige Auszahlung des Tagelohns in Lev 19,13 und Dtn 24,14–15 verweist (vgl. Kap. 3.1.4), und

290 

 5 Exegetischer und theologischer Ertrag

die Bewahrung Josuas in Sir 46,1bc, bei der mit einer Anspielung auf Num 14,30 und Dtn 1,35–39 zu rechnen ist (vgl. Kap. 4.2.2 und 4.2.4). Durch die identische Notiz über den „Sonnenstillstand“ in Sir  46,4a und 48,23a wird außerdem das Sonnenwunder aus Jos 10,12–13 mit der Verlängerung des Tages in 2 Kön 20,11 in Verbindung gebracht (vgl. Kap. 4.3.4). Manchmal jedoch verfehlt Syr die Intention des Autors, indem die Querbezüge verwischt werden, wie etwa bei den Worten Davids aus 2 Sam 24,14 in Sir 2,18 (vgl. Kap. 3.1.4). Denn, indem die Aufforderung zum Vertrauen auf Gott in Sir 2,18ab allein in G I überliefert wird, ist der besagte Schriftbezug beim Syrer kaum zu erkennen. Weil er auch sonst an anderen Stellen einen kürzeren Text bietet, handelt es sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Tendenz (vgl. Kap. 3.1.1 und 4.2.2). Dank ihrem hebraisierenden Charakter kann die Peschitta-Version (gegenüber den späteren, der LXX angepassten Textfassungen: der syro-palästinischen und der syro-hexaplarischen Übersetzung) dabei helfen, die verschollenen hebräischen Sirachtexte zu rekonstruieren. Wegen ihrer sprachlichen Verwandtschaft ist ohnehin sie der Vorlage treuer im Wortlaut als der Grieche, indem sie z. B. das in Ms. A in Sir 4,3 vorhandene Sprachbild der „Eingeweide“ behält (vgl. Kap. 3.4.2). Auch in der Komposition bleibt sie dem Hebräer näher, was besonders deutlich an der dreigliedrigen Struktur in Sir 3,1–16 zu sehen ist, die durch den dreimal wiederkehrenden Ausdruck „seine Mutter“ in Sir 3,6b.11b.16b entsteht (vgl. Kap. 3.2.3). Des Weiteren bewahrt sie die in Ms. A in Sir 3,27a erwähnte Vermehrung des Leidens, die aus sündhafter Verstocktheit des Herzens resultiert und eine Anspielung sowohl auf die Worte Gottes zu Eva in Gen 3,16 als auch auf das oben angeführte folgenschwere Verhalten des Pharaos im Buch Exodus sein könnte (vgl. Kap. 3.3.4). All diese Beispiele scheinen die in der Sirachforschung vertretene These zu bestätigen, wonach Syr mit Ms. A textuell stark verwandt ist (vgl. Kap. 1.4 und 3.2.2). Obwohl als Vorlage der Peschitta vornehmlich der hebräische Sirachtext diente, der oft gegen G I steht, wie etwa an der Pflanzenmetapher in Sir 10,15–16 zu erkennen ist (vgl. Kap. 3.2.2), gleicht sie an manchen Stellen eher der griechischen Version. Als Beispiel ist hier der markante Wechsel von der Pflanzen- zur Haussymbolik in Sir 3,9a zu nennen, der vermutlich den Schriftbezug zu 1 Sam 2,31–32 verstärken sollte (vgl. Kap. 3.2.4). Dazu enthalten Syr und G I die Passagen Sir 7,27–28 (vgl. Kap. 3.2.2) und Sir 36,11 (vgl. Exkurs 3), die in den hebräischen Handschriften fehlen. Außerdem bezeichnen die beiden antiken Übersetzungen – im Gegensatz zu Ms. A – die Klage des verbitterten Menschen in Sir 4,6a als „Verfluchung“, beschreiben den göttlichen Adressaten des Gebets in Sir 4,6b als „Schöpfer“ und gebrauchen die Vergleichspartikel „wie“ in Sir 4,10c, was die familiäre Gottesbeziehung des hebräischen Textes relativiert (vgl. Kap. 3.4.2 und 3.4.5). Im Unterschied dazu gebraucht Syr  – in Anlehnung an Ms.  A, aber gegen G I – die Wörter wie „Geschrei“ in Sir 4,6b und „Witwe“ in Sir 4,10b. Die gleiche

5.2 Hermeneutische Eigenart antiker Sprachversionen 

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Tendenz zeigt auch die Tatsache, dass sich G I in Sir 39,11 auf die Berühmtheit des Spruchdichters zu Lebzeiten wie postum bezieht, während die Peschitta-Version nur am Ausmaß seiner Hörerschaft interessiert ist (vgl.  Kap.  4.1.2). Wegen der mangelhaften Überlieferung dieser Stelle auf Hebräisch kann nicht mehr eingeschätzt werden, wie groß der eigene Interpretationsbeitrag des Syrers war. Insgesamt lässt sich aber aus dem bisher Gesagten vermuten, dass er sowohl den griechischen als auch den heutigen oder einen ihm sehr ähnlichen hebräischen Sirachtext kannte, für dessen Ursprünglichkeit  – zumindest in den untersuchten Abschnitten – die Verwendung der gleichen Pflanzenmetapher in Sir 3,9 und 3,28b spräche (vgl. Kap. 3.2.2 und 3.3.5). Die alternative Möglichkeit setzt voraus, dass der Hebräer, der Grieche und der Syrer eine gemeinsame Vorlage hatten, bei ihrer Wiedergabe jedoch davon abwichen. Nicht auszuschließen ist allerdings auch, dass diese Abweichungen bereits im hebräischen Text von seinen Tradenten vorgenommen wurden, während die antiken Übersetzer ihren modifizierten Vorlagen folgten. Die einzelnen Sprachfassungen unterscheiden sich nicht zuletzt bezüglich des vermittelten Gottes- und Menschenbildes. Beispielsweise betont die Peschitta stärker als der Hebräer und der Grieche die göttliche Teilnahme am Kampf in Sir  46,6d (vgl.  Kap.  4.2.2). Zwar vermeidet sie grundsätzlich anthropomorphe Formulierungen über Gott wie „Auge“ in Sir  11,12 oder „Zorn“ in Sir  47,20 und 48,10 (vgl.  Kap.  1.4), aber auch hier wird er gelegentlich mit Merkmalen des menschlichen Körpers beschrieben. Dies geschieht etwa – zusammen mit G I – in der Passage Sir 34,19a, die auf Hebräisch nicht überliefert ist (vgl. Kap. 3.1.6). Ferner legen die Semantik der syrischen Verben und die intertextuellen Bezüge von Sir 2,8b und 3,6b, bei denen die entsprechende hebräische Bezeugung ebenfalls fehlt, die überraschende Schlussfolgerung nahe, dass die Belohnung der Menschen für die von ihnen erwiesenen Wohltaten Gott „abverlangt“ werden kann (vgl.  Kap.  3.1.2, 3.1.4 und 3.2.2). Somit berücksichtigt die Peschitta-Version viel stärker als der Grieche den Wert bzw. den verdienstlichen Charakter menschlicher Handlungen, wie es auch anhand der Schriftgelehrtenperikope in Sir  38,34c–39,11b gezeigt wurde (vgl.  Kap.  4.1.2 und 4.1.5). Ähnliches betrifft Sir 2,16a, wo das semantische Spektrum des syrischen Verbs die Lesart zulässt, dass die Frommen den Willen Gottes „befriedigen“ (vgl. Kap. 3.1.2). Weil aber die zuletzt genannten Stellen in keiner der bis dato überlieferten hebräischen Handschriften zu finden sind, kann leider nicht mehr eingeschätzt werden wie groß dabei der eigene Interpretationsbeitrag des syrischen Übersetzers war. Eine weitere anthropomorphisierende Vorstellung, wonach der frevlerische Sohn seinen Schöpfer „kränkt“, tritt zwar in Sir 3,16b im hebräischen Ms. A auf, wird aber von den anderen Textzeugen nicht unterstützt (vgl. Kap. 3.2.2). Ebenso verhält es sich mit der bereits erwähnten Gottessohnschaft in Ms. A in Sir 4,10c,

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 5 Exegetischer und theologischer Ertrag

die in G  I und Syr durch den Gebrauch der Vergleichspartikel relativiert wird (vgl. Kap. 3.4.2). Dazu schwächt der Enkel in Sir 51,10 die Vertrautheit mit Gott ab, indem er die in Ms. B überlieferte Anrede Gottes: „Mein Vater!“ durch die zurückhaltendere Formulierung „den Herrn, den Vater meines Herrn“ ersetzt, während Syr die Authentizität der hebräischen Lesart bestätigt (vgl. Exkurs 4). Auch das Auftreten des Engels in G I in Sir 48,21b kann die Transzendenz des in der Geschichte wirkenden Gottes hervorheben (vgl. Kap. 4.3.2). Angesichts einer solch vielfältigen Eigenart der einzelnen Sprachfassungen wird deutlich, wie problematisch das Unterfangen ist, einen Mischtext durch die bedenkenlose Rückübersetzung der fehlenden Teile des hebräischen Sirachtextes aus seiner griechischen bzw. syrischen Version zu erstellen (vgl. Kap. 1.4 und 3.3.2). Weil es sich bei den antiken Übersetzungen nicht nur um die getreue Wiedergabe der Vorlage, sondern manchmal auch um Auslegungen handelt, ist die Beachtung der Aussagegestalt und Hermeneutik der jeweiligen Textfassung für die Kommentare des Sirachbuches unverzichtbar. Dies betrifft ganz besonders das Materialobjekt der vorliegenden Arbeit, weil nur G I das Gebet in Sir 3,20b (vgl. Kap. 3.3.1) und Sir 39,6d erwähnt (vgl. Kap. 4.1.2).

5.3 Zusammenfassung der Grundzüge der sirazidischen Gebetsweisheit Dass es sich beim Gebet um eines der zentralen Themen des Sirachbuches handelt, bezeugen beinahe 30 darauf bezogene Stellen mit jeweils einer oder mehreren Gebetsvokabeln, denen verschiedene Gebetsarten, wie Bitte (Klage) und Buße sowie Lob und Dank, zuzuordnen sind (vgl. Tab. 3). Nach der exegetischen Analyse von sieben ausgewählten Perikopen: Sir 2,1–18 (Bitte); Sir 3,1–16 (Bitte); Sir 3,17–31 (Lob in G I); Sir 4,1–10 (Klage); Sir 38,34c–39,11b (Bitte und Buße in G I und Syr, dazu Lob in G I); Sir 46,1–6 (Bitte) und Sir 48,17–25 (Bitte) in Kap. 3 und 4 dieser Arbeit soll nunmehr eine straffere Systematik der Gebetsweisheit Sirachs erfolgen. Der Vergleich mit dem zeitgenössischen hellenistischen Umfeld in Kap.  2.1 zeigt, dass das Gebet Israels – im Unterschied zum „philosophischen“ Beten der Stoiker – die historische Dimension kaum entbehren kann (vgl. Kap. 3.1.7), was u. a. daran erkennbar ist, dass im Sirachbuch, vor allem im Väterlob, mehrere Beispiele der erfolgreichen biblischen Betergestalten angeführt werden. Der Grund dafür liegt darin, dass JHWH, an den sich das Gebet wendet, seinen Heilswillen innerhalb der Geschichte seines Volkes bekundet hat. Dabei ist zu bemerken, dass die Anamnese jener vergangenen Heilstaten Gottes, die mit der Bitte um seine Zuwendung im Hier und Heute das Konstitutivum eines jeden schriftgemäßen Gebets bildet, grundsätzlich des Glaubens an die göttliche Präsenz bedarf, was wiederum

5.3 Zusammenfassung der Grundzüge der sirazidischen Gebetsweisheit 

 293

das Gebet zum höchsten Ausdruck der Gottesfurcht macht (vgl.  Kap.  3.1.3). Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass das Herzstück der sirazidischen Gebetsweisheit und überhaupt aller Spiritualität im AT in der lebendigen Überzeugung liegt, dass es einen personalen Gott gibt, den das Leben und Handeln der Menschen wirklich angehen (vgl. Sir 16,17–23 und 17,19–20 in Kap. 2.1) und der ihre Bitten erhören und sie aus ihren Nöten erretten kann (vgl. Sir 34,13 und 51,11–12) – mehr noch: der dies als seine Ehrensache betrachtet (vgl. Kap. 4.3.7). Eine solche Überzeugung begegnet dem Leser zum ersten Mal im Aufruf zur Anamnese früherer Gebetserhörungen in Sir  2,10 und wird durch die Wiederholung des Verbs „hören“ in Sir  2,11bc in Syr verstärkt (vgl.  Kap.  3.1.7). Dieser programmatische Appell lässt zugleich erkennen, dass das Gebetsgeschehen dialogal verfasst ist, indem auf die Anrufung seitens des Menschen die göttliche Antwort folgt, was seinen Ausdruck in Form des Klage-Erhörungs-Paradigmas findet (vgl. Kap. 2.2). Was die Anzahl der daran Beteiligten anbelangt, wird das kollektive Bittgebet nur sporadisch thematisiert (vgl. Sir 36,1–22 in Exkurs 3, Sir 48,20 in Ms. B und G I sowie Sir 50,17–19.21 in Kap. 4.3.7). Meistens werden einzelne Personen geschildert – darunter auch stellvertretende Mittler, z. B. Hiskija in Sir 48,20b in Syr –, denen überwiegend eine schwere Notlage den Anlass zum Beten gibt: sei es ein innerer Grund, der aus den persönlichen Schwächen und Sünden resultiert (vgl.  das Gebet um Selbstbeherrschung in Sir  22,27–23,6 in Exkurs 2 und die Schriftgelehrtenperikope in Sir 38,34c–39,11b in Kap. 4.1.7) oder ein äußerer. Im letzteren Fall wird das Bittgebet als Appellationsmittel gebraucht, dessen besondere Wirksamkeit das zum Himmel dringende Geschrei der sozial am meisten Benachteiligten in Sir  4,6b und 35,15–21 (vgl.  Kap.  3.4.7) und die erfolgreiche Intervention Samuels bei Gott während des Angriffs der Feinde in Sir  46,16–18 (vgl.  Exkurs 8) illustrieren. Ergänzend sei dazu angemerkt, dass die Feindesnot eine erzieherische Strafe Gottes für die begangenen Sünden sein kann, sodass jegliche Bemühungen, die Erlösung aus eigener Kraft herbeizuführen, fruchtlos bleiben müssen, worauf etwa die Metapher der Gebärenden in Sir 48,19b und Jes 26,16–19 schließen lässt (vgl. Kap. 4.3.5). Allerdings muss das von Sirach gebrauchte Anrufung-Erhörungs-Schema nicht immer eine persönliche Bedrängnis des Beters implizieren, sofern der unbesiegbare Josua in Sir 46,5a nicht für sich selbst, sondern für die umzingelten Gibeoniter eintrat, die seine Verbündeten im Krieg waren (vgl. Kap. 4.2.7). Diese Fürbitte war stark genug, um urewige Naturgesetze zu bändigen und ein kosmisches Spektakel in Sir 46,4a auszulösen: „Denn durch ihn ist die Sonne stehen geblieben“, was die Waagschale des Sieges zugunsten der Israeliten senken sollte (vgl.  Kap.  4.2.6). Durch die identische Formulierung bezüglich eines anderen Sonnenwunders in Sir 48,23a in der syrischen Version wird zudem die Perikope über Josua, der Gott völlig nachfolgte, mit dem Absatz über den frommen König

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 5 Exegetischer und theologischer Ertrag

Hiskija in Verbindung gebracht (vgl.  Kap.  4.3.6). Dieser formalen Beobachtung entspricht ein tiefer Zusammenhang zwischen dem gottgefälligen Lebenswandel der beiden Männer und ihrer Erhörung durch Gott (vgl. Kap. 4.3.3 und 4.3.7), der auch an weiteren Stellen des Sirachbuches, z. B. in der Elternperikope in Sir 3,5, vorausgesetzt wird (vgl. Kap. 3.2.7). Angesichts allgemeiner menschlicher Sündhaftigkeit ist deshalb eine entsprechende innere Disposition, die jeder Mensch mitbringen muss, um von Gott schnell erhört zu werden, durch die Sühnung der Sünden zu erlangen. Dabei helfen neben der Erfüllung des Elterngebotes in Sir 3,14–15 auch andere Werke der Barmherzigkeit in Sir 3,30–31 (vgl. Kap. 3.3.5), deren hohe Bedeutung ex negativo bereits dadurch zu erkennen ist, dass das unbarmherzige Verhalten eines Menschen gegenüber seinem armen Nächsten in Sir 4,1–10 und 35,15–21 zur Klage des Letzteren und zur Strafe des Ersteren führen kann (vgl. himmelschreiende Sünde in Kap. 3.4.7). Um die Notwendigkeit der moralischen Integrität weiß der Schriftgelehrte auch in Sir 39,5, wo er vor dem Empfang der von ihm ersehnten Geistesgabe um die Vergebung der eigenen Sünden betet (vgl.  Kap.  4.1.7). Eine solche Bußfertigkeit bedarf sicherlich der Demut, die in Sir 3,20b in G I explizit als Voraussetzung für das Lobgebet genannt wird (vgl. Kap. 3.3.7). Dazu können den Demütigen in Sir 3,19b (vgl. Kap. 3.3.4 und 3.3.7) und den Bußfertigen in Sir  39,5–6 göttliche Geheimnisse enthüllt werden (vgl. Kap. 4.1.7), sodass sich das Lobgebet als Antwort des Menschen auf die göttliche Offenbarung erweist, was am Beispiel des inspirierten Schriftgelehrten in Sir 39,6d in G I ersichtlich wird (vgl. Abb. 19). Demut

Bußgebet

Offenbarung

Lobgebet

Abb. 19: Der Zusammenhang zwischen der Bußfertigkeit des Beters, der göttlichen Offenbarung und den einzelnen Gebetsarten in Sir 3,19–20 und 39,5–6 im griechischen Sirachbuch.

Die Anwendbarkeit und Zweckmäßigkeit der im Ecclesiasticus dargebotenen Ausführungen zum Thema Gebet werden in besonderer Weise durch die spätere Rezeption des sirazidischen Gedankenguts, sowohl im NT als auch in der Kirche, bestätigt. Dazu zählt etwa die gedankliche Nähe zum Vaterunser, vor allem der Vatername in der Anrede an Gott in Sir 23,1.4; 51,10 und Mt 6,9 (vgl. Exkurs 4) sowie die Bereitschaft, dem Nächsten das Unrecht zu vergeben, was in Sir 28,2 und Mt  6,12.14 die Bedingung göttlicher Vergebung darstellt (vgl.  Exkurs 2). Als zwischentestamentliches Bindeglied beinhaltet das Werk Sirachs auch bestimmte Motive wie Erprobung in Sir 2,1, Gottesfurcht in Sir 2,7–9.15–17 und Gottessohnschaft in Sir 4,10 sowie prominente Gebetsvorbilder, wie z. B. Josua in Sir 46,1–6, die Anlass zur typologischen Interpretation im Hinblick auf Jesus

5.3 Zusammenfassung der Grundzüge der sirazidischen Gebetsweisheit 

 295

Christus geben (vgl.  Exkurs 7). Bemerkenswert ist schließlich die vielfache kirchliche Rezeption des Sirachbuches, sowohl seiner einzelnen Passagen, wie es bei manchen Kirchenväterzitaten und Gebeten der Kirche in Ost und West der Fall ist (vgl. Exkurs 2), als auch der darin empfohlenen Haltungen. Besonders deutlich ist dies beim betenden Schriftgelehrten in Sir  38,34c–39,11b zu sehen, der als Muster der lectio divina gilt, die bis heute von höchster pastoraler Brisanz bleibt (vgl. Exkurs 6).

Abkürzungsverzeichnis AT constr. DH DV EÜ 1980 EÜ 2016 fem. G I G II gest. H I H II Inf. Kap. KKK LXX LXX.D masc. Med. Ms(s). MT NT Part. Pass. Perf. Pers. Plur. Sing. Syr V. Vg

Altes Testament constructus Kompendium (Enchiridion) von H. Denzinger und P. Hünermann Dei verbum, die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung von 1965 Einheitsübersetzung von 1980 Einheitsübersetzung von 2016 feminin Kurzfassung der griechischen Sirachversion Langfassung der griechischen Sirachversion gestorben Kurzfassung des hebräischen Sirachtextes Langfassung des hebräischen Sirachtextes Infinitiv Kapitel Katechismus der Katholischen Kirche Septuaginta, die nach den 70 Übersetzern benannte griechische Version des AT Septuaginta Deutsch, die deutsche Übersetzung der LXX, Hrsg. M. Karrer und W. Kraus maskulin Medium Manuskript(e) Masoretischer Text, der vokalisierte Text der hebräischen Bibel Neues Testament Partizip Passiv Perfekt Person Plural Singular syrische Sirachversion als Teil der Peschitta, der ältesten vollständigen syrischen Bibel Vers(e) Vulgata, die lateinische Version der Bibel

https://doi.org/10.1515/9783110784923-006

Quellen- und Literaturverzeichnis Wissenschaftliche Reihen, Zeitschriften, Lexika usw. wurden abgekürzt nach dem Muster von Schwertner, Siegfried M.: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. 3. überarb. und erw. Aufl. Berlin [u. a.] 2014. Die griechische patristische Literatur wurde nach Döpp, Siegmar [u. a.] (Hrsg./Bearb.), Lexikon der antiken christlichen Literatur. 3., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Freiburg [u. a.] 2002 (im Weiteren: LACL3), abgekürzt.

Quellen / Textausgaben Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit herangezogenen hebräischen Sirachhandschriften aus der Kairoer Geniza (Mss. A, B und C) sind unter folgendem Link einsehbar: https://www. bensira.org/navigator.php (zuletzt am 14.11.2019), während der Codex Vaticanus Graecus 1209 (Kodex B) unter: https://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.gr.1209 (Biblioteca Apostolica Vaticana, zuletzt am 06.11.2019), und der Codex Sinaiticus (Kodex ‫א‬, S) unter: https:// codexsinaiticus.org/de/manuscript.aspx (Codex Sinaiticus-Projekt, zuletzt am 06.11.2019), abgerufen und konsultiert werden können. Beentjes, Pancratius C. (Bearb.): Part I–II. In: ders. (Hrsg.): The Book of Ben Sira in Hebrew. A Text Edition of All Extant Hebrew Manuscripts and a Synopsis of All Parallel Hebrew Ben Sira Texts (VT.S, 68). Atlanta 2006, 23–178. Beriger, Andreas (Übers.): Ps 18–41. In: ders. [u. a.] (Hrsg.) / Hieronymus: Biblia sacra vulgata. Lateinisch-deutsch. Bd. 3. Psalmi – Proverbia – Ecclesiastes – Canticum canticorum – Sapientia – Iesus Sirach (Sammlung Tusculum). Berlin 2018, 98–227. Brock, S[ebastian] P. (Bearb.) / Peshiṭta Institute (Hrsg.): Isaiah (OTSy, 3/1). Leiden 1987. Brzegowy, Tadeusz [u. a.] (Hrsg.): Mądrość Syracydesa. In: ders. [u. a.] (Hrsg.): Pismo Święte Starego i Nowego Testamentu. Najnowszy przekład z języków oryginalnych z komentarzem. Częstochowa 2008, 1549–1643. Calduch-Benages, Núria [u. a.] (Bearb./Übers.): Text and Translations. In: dies. [u. a.] (Hrsg.): La sabiduría del escriba. Edición diplomática de la versión siriaca del libro de Ben Sira según el Códice Ambrosiano, con traducción española e inglesa = Wisdom of the Scribe. Diplomatic Edition of the Syriac Version of the Book of Ben Sira according to Codex Ambrosianus, with Translations in Spanish and English (Biblioteca Midrásica, 26). Estella (Navarra) 2003, 65–271. de Boer, P[ieter] A. H. (Bearb.): Samuel. In: Peshiṭta Institute (Hrsg.): Judges, Samuel (OTSy, 2/2). Leiden 1978. Denzinger, Heinrich / Hünermann, Peter (Hrsg./Bearb.): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen = Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. 45. Aufl. Freiburg [u. a.] 2017. Di Lella, A[lexander] A. [u. a.] (Bearb.): Proverbs. In: Peshiṭta Institute (Hrsg.): Proverbs, Wisdom of Solomon, Ecclesiasts, Song of Songs (OTSy, 2/5). Leiden 1979. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands [u. a.]. Stuttgart 1980. https://doi.org/10.1515/9783110784923-007

300 

 Quellen- und Literaturverzeichnis

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Monographien / Aufsätze / Lexikonartikel 

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Bibelstellen Genesis – 1,9–10 259 – 2,13 245, 260 – 2,24 84 – 3,5 132 – 3,16 133 – 9,18–29 100 – 22,1 55 Exodus – 7,10–23 129–130 – 15,1–18.  Siehe Exkurs 3 – 15,3 228 – 15,22–26 143 – 20,12 99 – 22,21–22 158, 169, 274 – 33,12 128 Leviticus – 19,13 59 Numeri – 12,3 128 – 13,16 225 – 14,30 221, 227 – 32,12 210 Deuteronomium – 1,35–39 221, 227 – 5,16 und 6,2–3 99 – 24,14–15 59 Josua – 1,5 217 – 8,18 222 – 8–10. Siehe Kap. 4.2.4 – 10,11–14a 236, 262 – 10,14b 210 Richter – 17,1–13 104, 106, 170 1 Samuel – 2,11–35 101 – 3,16 101, 113 – 7,5 275 – 7,7–10 101, 113, 233 https://doi.org/10.1515/9783110784923-008

– 17,45 222 – 18,17 210 2 Samuel – 7,14 162–163 – 12,24 162 – 21,2 213 – 24,10.14 60 2 Könige – 18–20. Siehe Kap. 4.3.4 – 19,35 250 – 20,20 244 2 Chronik – 32. Siehe Kap. 4.3.4 – 32,30 244 Esra – 7,10 192 Tobit – 1,8 168 – 3,7–4,1 112 – 3,10 102 – 4,3 102, 110–111, 136 – 4,7–11 103, 136, 168, 169 – 12,9 110, 136 – 12,10 136 Judit – 1,1 266 – 8,25–27 56, 58 – 9,1–14 58, 267 – 16,15–17 58 Psalmen – 104,10 259 – 114,8 259 – 131,1 131 – 22,25 157 – 24,8 228 – 62,2 LXX 190 – 68,5–6 159 – 82,1–4 158 – 82,6 160 – 89,27 164

316 

 Bibelstellen

Sprüche – 2,1–10 196 – 17,5 157 – 17,6 98 – 20,20 104 – 24,3 102 – 28,27 158 Weisheit – 2,18 160 – 6,14 193 – 11,4 259 Jesus Sirach – Prolog 22 8 – Prolog 27 10 – Prolog 7 7, 224 – 2,1–18. Siehe Kap. 3.1.1–8 – 2,1b 156 – 2,3b 124 – 2,8b 91, 196 – 2,10 274. Siehe Exkurs 2 – 3,1–16. Siehe Kap. 3.2.1–8 – 3,6b 60, 196 – 3,17–31. Siehe Kap. 3.3.1–8 – 4,1–10. Siehe Kap. 3.4.1–8 – 4,12 179, 193 – 6,36 193 – 7,26–31 92 – 10,12–13 132–133, 258 – 10,12–18 136 – 19,20 54 – 22,27–23,6 16, 36, 164, 200, 276. Siehe Exkurs 2 – 23,24–26 103 – 24,23 3 – 25,12 65 – 28,2 77 – 32,14 193 – 32,20 272 – 34,1–20. Siehe Kap. 3.1.6 – 35,16–21 29, 156, 158, 170, 274 – 36,1–22 9, 36, 170. Siehe Exkurs 3

– 36,17 26 – 37,15 29 – 38,1–5 143 – 38,34c–39,11b. Siehe Kap. 4.1.1–8 – 43,1–12. Siehe Kap. 4.2.6 – 46,1 268 – 46,1–6. Siehe Kap. 4.2.1–8 – 46,4a 251 – 46,10 234 – 46,16 238 – 46,16–19 101, 113, 275. Siehe Exkurs 8 – 47,18 26 – 49,4 61, 252 – 50,3 261 – 50,27–29 4, 7, 47, 188 – 51,1–12 36, 63, 164, 276–277 – 51,16–17 277 – 51,30 8 Jesaja – 14,5.19.25 265 – 22,11 258, 271 – 22,16 261 – 26,16–19 269 – 36–39. Siehe Kap. 4.3.4 – 42,13 228 Daniel – 2,22 191 – 9,23 161 – 13,41–45 160 – 13,42 170 – 13,45 191 Matthäus – 1,21 225 – 6,9 163 – 6,12.14 77 – 11,29 140 Lukas – 11,4 77 Hebräer – 5,7–8 225

Sachregister Alexandrien/Diasporajuden 7, 12, 93, 181, 221, 223, 240, 264 Anamnese 24, 53, 55, 69, 76, 278 Anthropomorphismus 62, 68, 91 Armentheologie 154, 157, 168, 274 Barmherzigkeit 103, 110, 126 Christliche Interpretamente 19, 60, 91, 181 Erziehung/Bildung 4, 22, 110, 186 Gebet 21, 23, 25, 27–28, 54, 70–71, 73, 111, 139, 170, 180, 200–201, 231, 240, 267, 270 Gesetz/Tora 3, 60, 68, 98, 186, 192 Gottesbild 21, 159, 163, 196, 228, 274 Gottesfurcht 4, 47, 54, 71, 92, 96 Gottessohnschaft 156, 160, 162, 225 Heilsgeschichte 2, 69, 187, 274 Hellenismus 9, 22, 48, 128, 134 Himmelschreiende Sünde 59, 171 Innere Chronologie 231, 255, 262, 275

https://doi.org/10.1515/9783110784923-009

Kanon/kanonische Lektüre 7, 57, 102, 162 Klage-Erhörungs-Paradigma 27, 72, 114, 171, 223, 225, 234, 237, 240, 270, 273 Moralische Integrität 72, 199, 200, 232, 275 Produktions-/Rezeptionsästhetik 6, 55, 107 Prophetentum 216, 232, 254, 272 Relecture 6, 20, 61, 98, 107, 128, 140, 143, 267 Schriftgelehrsamkeit 5, 55, 60, 98, 127, 142, 144, 159, 182, 188, 195, 231, 262 Seleukiden 9, 22, 264, 266 Stoa 2, 23, 163, 278 Sündenvergebung/-tilgung 48, 54, 83, 111 Theophorer Name 221, 224–225, 248, 268 Verdienstlichkeit 60, 91, 98, 126 Versuchung/Erprobung 5, 58, 63, 67, 180 Weisheit 3, 98, 184, 187, 196