Überzeugung im Werden: Begründetes Fürwahrhalten im Mathematikunterricht [1. Aufl. 2020] 978-3-658-27382-8, 978-3-658-27383-5

In dieser Arbeit wird Überzeugung in Anlehnung an Kant (KrV A 820/B 848) als ein Fürwahrhalten aus subjektiv zureichende

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Überzeugung im Werden: Begründetes Fürwahrhalten im Mathematikunterricht [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-27382-8, 978-3-658-27383-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Maximilian Moll)....Pages 1-4
Mathematikdidaktische Einordnungen zum Begriff der Überzeugung (Maximilian Moll)....Pages 5-16
Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes (Maximilian Moll)....Pages 17-51
Methodologie und Methode (Maximilian Moll)....Pages 53-81
Ausgewählte Analysebeispiele (Maximilian Moll)....Pages 83-145
Zusammenfassung und Ausblick (Maximilian Moll)....Pages 147-172
Back Matter ....Pages 173-221

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Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik

Maximilian Moll

Überzeugung im Werden Begründetes Fürwahrhalten im Mathematikunterricht

Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik Reihe herausgegeben von Michael Meyer, Köln, Deutschland Benjamin Rott, Köln, Deutschland Inge Schwank, Köln, Deutschland Horst Struve, Köln, Deutschland

In dieser Reihe werden ausgewählte, hervorragende Forschungsarbeiten zum Lernen und Lehren von Mathematik publiziert. Thematisch wird sich eine breite Spanne von rekonstruktiver Grundlagenforschung bis zu konstruktiver Entwicklungsforschung ergeben. Gemeinsames Anliegen der Arbeiten ist ein tiefgreifendes Verständnis insbesondere mathematischer Lehr- und Lernprozesse, auch um diese weiterentwickeln zu können. Die Mitglieder des Institutes sind in diversen Bereichen der Erforschung und Vermittlung mathematischen Wissens tätig und sorgen entsprechend für einen weiten Gegenstandsbereich: von vorschulischen Erfahrungen bis zu Weiterbildungen nach dem Studium. Diese Reihe ist die Fortführung der „Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik und der Naturwissenschaften“.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16272

Maximilian Moll

Überzeugung im Werden Begründetes Fürwahrhalten im Mathematikunterricht Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Michael Meyer

Maximilian Moll Wuppertal, Deutschland Dissertation der Universität zu Köln, 2019

ISSN 2661-8257 ISSN 2661-8265  (electronic) Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik ISBN 978-3-658-27383-5  (eBook) ISBN 978-3-658-27382-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort Vor ca. drei Jahren kam Maximilian Moll in mein Büro, um über die Möglichkeit einer Promotion zu sprechen. Er wollte untersuchen, warum Lernende davon überzeugt sind bzw. sein können, einen Würfel zum Erhalt der Augenzahl 6 anzupusten und wie solche Überzeugungen überhaupt entstehen und/oder sich durch tragfähigere ersetzen lassen. Überzeugungen sind in einem Mathematikunterricht, der – im Gegensatz zum traditionellen Rechenunterricht – ein inhaltliches Verständnis selbständig zu erabeitender mathematischer Zusammenhänge fokussiert, von enormer Bedeutung. Denn wird bedacht, dass ein Sachverhalt ein mathematischer Zusammenhang sein kann, so wird ein wesentliches Ziel von Mathematikunterricht schnell deutlich: die Lernenden sollten nicht nur mathematische Zusammenhänge entdecken, sondern auch zu einer inhaltlich begründeten Überzeugung daher kommen, dass diese Zusammenhänge korrekt und anwendbar sind. Denn sind wir von einem Sachverhalt (zum Beispiel einem mathematischen Zusammenhang) überzeugt, so hegen wir kaum Zweifel an diesem. Sind wir hingegen nicht überzeugt, so bedarf es (zumindest idealerweise) einer weitergehenden Untersuchung dieses Sachverhaltes. Von etwas überzeugt zu sein, hängt auch vom Individuum ab. Denn vergangene Erfahrungen spielen etwa bei dem „Würfelpusten“ sicherlich eine bedeutsame Rolle zur Entstehung der Überzeugung. Betrachten wir nun einen mathematischen Zusammenhang, wie zum Beispiel das Kommutativgesetz der Addition, so wird die Situation in der Konkurrenz von beispielsweise Erfahrungen, empirischen Rechenergebnissen und verschiedenen Begründungsoptionen interessanter. Wenn sich dann der Forschungsgegenstand wie im vorliegenden Fall bei Herrn Moll als „SchülerInnen im (inklusiven) Mathematikunterricht“ beschreiben lässt, wird sich eine Überzeugung kaum als ausschließlich aus den sukzessiv einander folgenden Deduktionen eines Beweises zusammensetzend rekonstruieren lassen.

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Geleitwort

Welche Eigenschaften weist also eine (gefestigte) Überzeugung auf, welche Unterschiede lassen sich zwischen womöglich verschiedenen Typen von Überzeugungen feststellen? Die Kenntnis solcher Unterschiede würde eine konsequente Berücksichtigung dieser Thematik im Unterricht ermöglichen. Entsprechend wurde in dieser Arbeit stets darauf geachtet, inhaltliche Aspekte bei der theoretischen Betrachtung zu fokussieren. Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Überzeugungsbegriffs im Unterricht ist es umso erstaunlicher, dass das Thema Überzeugungen in der Mathematikdidaktik bisher kaum theoretisch ausgeschärft wurde. Zur Klärung des Überzeugungsbegriffs beginnt Herr Moll mit den philosophischen Überlegungen von Immanuel Kant. Um diese für die Mathematikdidaktik nutzen zu können, wurden sie modifiziert und somit der empirischen Lehr-/Lernrealität angepasst. Im Wesentlichen bezieht sich Herr Moll dabei auf den Symbolischen Interaktionismus nach H. Blumer und die Systemtheorie nach N. Luhmann. In der Verbindung der philosophischen Grundlage und den soziologischen Perspektiven, die bereits seit einiger Zeit Verwendung in der Mathmatikdidaktik finden, gelingt es Herrn Moll – durchweg überzeugend – eine theoretische Perspektive herauszuarbeiten, welche die obigen Fragen auf der Basis der Bildung eines neuen Begriffsnetzes zu beantworten verhilft. Dieses wird sogleich an der Realität des Mathematikunterrichts überprüft, nicht nur um die Theorie an sich zu prüfen, sondern auch um Facetten der inhaltlichen Orientierung aufzuzeigen. Sowohl die theoretischen wie auch die empirischen Analysen zeigen, dass ein reflektierter Überzeugungsbegriff individuelle wie auch soziale Einflüsse aufzeigt und weniger statisch oder stabil, sondern vielmehr als veränderlich betrachtet werden kann. Gleichwohl zeigen die Analysen aber auch, dass die anfängliche Frage zum Pusten so einfach nicht zu beantworten ist. Zusammenfassend bietet Maximilian Moll in der Verbindung mathematikdidaktischer, soziologischer und philosophischer Grundlagen einen wesentlichen Beitrag zur mathematikdidaktischen Grundlagenforschung. Theoretische Tiefe und empirische Anwendung bzw. Anwendbarkeit sor-

Geleitwort

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gen dafür, dass dieser Beitrag nicht nur rekonstruktiven Ansprüchen genügt, sondern auch ein enormes Potential für konstruktive Arbeiten beinhaltet.

Köln im Sommersemester 2019

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand am Institut für Mathematikdidaktik an der Universität zu Köln. Sie wurde von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Am 18.01.2019 fand die Abschlussprüfung als Disputation am Institut für Mathematikdidaktik statt. Der universitätsoffenen Prüfung wohnten neben den Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Michael Meyer und Herrn Prof. Dr. Horst Struve, außerdem die prüfungsberechtigten Mitglieder Frau Prof.’in Dr. Christiane Reiners (Vorsitzende) und Herr Dr. Stefan Heilmann (Beisitzer) bei. Ich muss ehrlich sagen, dass es für mich eine Ehre und Geschenk war und immer noch ist, diese Arbeit zu schreiben. Als ich angefangen habe zu studieren, konnte ich mir das eigentlich nicht so recht vorstellen, dass ich einmal eine Dissertation verfassen werde. So ein Buch. Ich habe zwar oft gedacht „das wäre schon cool“. Allerdings habe ich mich dafür nicht geeignet genug gehalten. Und ohne zahlreiche Leute und Gott wäre das auch nicht möglich gewesen. Auch wenn ich am Ende versichere, dies alles selbst geschrieben zu haben, so wäre es vermessen zu sagen, dass dieses Buch ganz allein das Produkt meiner eigenen Leistung gewesen wäre. Als ich Mitte 2015 nicht so genau wusste, was ich nun im Anbetracht des Endes meines Studiums der Sonderpädagogik mit den Fächern Mathematik und katholischer Religion eigentlich machen möchte, kam (Prof. Dr.) Michael (Meyer) auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht Interesse hätte, im Rahmen der Kölner Graduiertenschule der MINT Fachdidaktiken zu promovieren. Zunächst habe ich gedacht, ich hätte mich verhört oder er würde mich verwechseln. Aber es war ernst gemeint. An dieser Stelle möchte ich dir, lieber Michael sehr dafür danken, dass du mich im Anschluss an die Stochastik Vorlesung 2012 als studentische Hilfskraft und dann nochmal als Wissenschaftlicher Mitarbeiter 2015 haben wolltest. Hättest du mich damals nicht angesprochen, wäre es wohl nie soweit gekommen. Der Dank gebührt natürlich besonders für die Betreuung während der vergangenen 3,5 Jahre. Insbesondere in der Anfangszeit, als ich mit Kant und Luhmann ankam und wir teilweise über einzelne Wörter diskutiert

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Vorwort

haben und als es dann im Laufe der Zeit nochmal um die Gesamtperspektive dieser Arbeit ging. Ich gebe zu, dass manches vielleicht von meiner Seite hätte schneller laufen können, aber irgendwie habe ich es genoßen, manchmal aus dem Fenster meines Büros 2.08 im Modelbau zu schauen und über Kant, Blumer, Luhmann, Inklusion und Überzeugungen nachzudenken; die Gedanken schweifen zu lassen mich manchmal in diesen zu verlieren. Das war wirklich ein Privileg. Wo wir schon in diesem Büro mit Blick auf die Bäume und das Gras sind, möchte ich meiner langjährigen Bürokollegin Julia Rey danken. Für die zahlreichen Gespräche und guten Gedanken. Auch wenn du, Julia oft das Gefühl hattest, dass ich nicht so oft nachfragen würde, waren es auch diese Gespräche, die mich auf neue Gedanken und Ideen brachten. Im Rahmen dessen möchte ich auch der gesamten Arbeitsgruppe Meyer danken. Sowohl den aktuellen als auch den ehemaligen Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe. Für das gemeinsame Analysieren, das kritische Lesen von Texten und das Reflektieren verschiedener Vorträge. Denn auch das hat mich weitergebracht. Mein Denken erweitert hat auch mein Zweitbetreuer Prof. Dr. Horst Struve. Nicht zuletzt durch das Schenken des Buches „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ und einiger sehr guter Betreuungsgespräche, aus denen ich wirklich etwas für diese und weitere Arbeiten ziehen konnte, hast du, Horst, zu dieser Arbeit beigetragen. Ebenfalls möchte ich Prof. Dr. Jörg Voigt für Rückmeldungen im Rahmen des Köln-Münster-Kolloqiums danken. Insbesondere dafür an Kategorien festzuhalten, aber den Blick auch immer dafür offen zu halten, dass es innerhalb dieser Kategorien Wechselprozesse geben kann. Vergessen werden sollen im Rahmen des Dankes auch nicht die ehemaligen und aktuellen Mitarbeiter am Insitut für Mathematikdidaktik. Für viele lustige und auch erfahrungsreiche Begegnungen und Gespräche bei den unterschiedlichen Tagungen in Heidelberg, Potsdam, Hamburg und Paderborn möchte ich Dr. Jessica Kunsteller und Dr. Simeon Schlicht danken. Für einen wie mich, der sich anfangs immer mit neuen Leuten etwas schwertut, war es toll, dass ihr mich dabeihaben wolltet. Ein Dank gilt auch Anja Hütten für das Korrekturlesen dieser Arbeit und meiner Dusche. Denn nicht nur einmal bin ich beim (etwas zu langen Duschen) auf eine entscheidende Idee gekommen. Beispielsweise bei der

Vorwort

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Übersetzung eines objektiv zureichenden Grundes in einen als für andere als zureichend wahrgenommen Grundes. Danken möchte ich auch meinen Eltern und Geschwistern, die mich trotz aller Schwierigkeiten immer dabei unterstützt haben, überhaupt zu studieren und letztlich zu promovieren. Ohne euch wäre das so nicht möglich gewesen. Daniel Schilling gilt mein Dank als guter Freund, der mich ebenfalls in meinem Studium an zahlreichen Stellen begleitet hat. Zuletzt möchte ich meiner lieben Frau der Caro danken. Dafür, dass du meine üblen Launen ausgehalten, mich in schwierigen Zeiten ertragen oder mich teilweise stundenlang im Büro zuhause in Ruhe gelassen hast und mir manchmal einen Tee, Kakao oder Kekse brachtest. Wie schön, dass wir uns haben und füreinander da sind. Viele andere Freunde und Bekannte haben an dieser Arbeit mitgewirkt. Es wäre allerdings zu viel, diese hier zu nennen. Es bleibt noch Gott zu danken, dass er mich auf diesen Weg geführt hat, auch wenn mich natürlich letztlich selbst dazu entschieden habe, das zu tun. Danke! Nun ist das Buch fertig. Verrückt. Wer hätte das gedacht? Köln im Sommersemester 2019

Max Moll

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung......................................................................................... 1

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Mathematikdidaktische Einordnungen zum Begriff der Überzeugung ................................................................................... 5 2.1 beliefs in der Mathematikdidaktik ........................................ 5 2.2 Beweisen und Begründen in der Mathematikdidaktik ..... 11

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Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes ...... 17 3.1 Der Überzeugungsbegriff in Anlehnung an Kant ............. 17 3.2 Fürwahrhalten und zureichende Gründe ........................... 18 3.3 Modi und Kategorien des Fürwahrhaltens in Abhängigkeit der Gründe .................................................... 23 3.4 Probleme für die Lehr-Lern-Realität und Andeutung einer Lösung......................................................................... 24 3.5 Die interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes ...................................................................... 28 3.6 Die systemische Wendung ................................................. 35 3.7 beliefs und der hier verwendete Überzeugungsbegriff.... 48

4.

Methodologie und Methode ......................................................... 53 4.1 Theoretische Grundlagen: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie ........................ 54 4.2 Inklusion als Teilhabe an Kommunikation im Sinne der egalitären Differenz .............................................................. 60 4.2.1 Inklusion: Begriffliche Klärungen .................................. 61 4.2.2 Bezug des Inklusionsverständnisses zum Überzeugungsbegriff....................................................... 65 4.2.3 Das theoretische Konstrukt als Diagnoseinstrument .. 67 4.3 Fokussierung des Überzeugungsbegriffes auf inhaltliche Gründe................................................................ 68 4.4 Forschungsinteresse ........................................................... 69 4.5 Untersuchungsplan und verfahren .................................... 69 4.5.1 Der Ablauf der Interviews ............................................... 70 4.5.2 Erhebung des Datenmaterials, die Szenenauswahl und die Transkription ...................................................... 73 4.5.3 Die Interpretation einzelner Interviews.......................... 73 4.5.4 Grenzen dieser Arbeit aus methodologischer Sicht .... 78 4.5.5 Die Darstellung der Interpretationsergebnisse – Grobüberblick über die Szenen ..................................... 80

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Inhaltsverzeichnis

5.

Ausgewählte Analysebeispiele ................................................... 83 5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden ................................. 83 5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel ...................................... 101 5.3 Analyse III – Weitere Indizien zur Identifikation eines zureichenden Grundes ...................................................... 120 5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien ........... 133

6.

Zusammenfassung und Ausblick ............................................. 147 6.1 Zusammenhang zwischen Fürwahrhalten und Gründen. Wesentliche theoretische Ergebnisse ............ 148 6.2 Überzeugung und Inklusion .............................................. 152 6.3 Überzeugung im Werden ................................................... 153 6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend, Zweifel und mögliche Differenzierung der Zureichung ................................................................... 155 6.5 Offene Fragen ..................................................................... 166 6.6 Folgerungen für die Schulpraxis ...................................... 168

Literaturverzeichnis ............................................................................ 173 Anhang ................................................................................................. 183

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Einleitung

Ausgangspunkt dieser Arbeit war eine Situation im Rahmen eines Praktikums. In einer Vertretungsstunde spielten die Lernenden ein bekanntes Würfelspiel. Dabei konnte beobachtet werden, dass einige Lernende den Würfel anpusteten. Auf die Frage, was der Grund dieses Pustens sei, antwortete ein Schüler: „Dann kommt die Sechs öfter“. In den kommenden Wochen wurde in der Schule der Laplacesche Wahrscheinlichkeitsbegriff eingeführt und auch eine Klassenarbeit dazu geschrieben. Vier Wochen später wurde das oben bereits erwähnte Würfelspiel wieder gespielt. Auch hier wurden die Würfel angepustet und wieder war die Antwort auf die Frage nach dem Beweggrund: „Dann kommt die Sechs öfter“. Diese Erfahrung erweckte beim Autor dieser Arbeit die Frage, was denn eine Überzeugung sei und wie diese sich eigentlich im Unterricht entwickelt? Wann und wodurch sind Lernende so überzeugt, dass sie die Würfel möglicherweise nur noch aus Gewohnheit anpusten und nicht etwa in dem Glauben, das Würfelergebnis damit manipulieren zu können? So entstand der Wunsch, sich mit Überzeugungen mit Blick auf mathematisch Sachverhalte auseinanderzusetzen. Dabei stellte sich heraus, dass der Begriff der Überzeugung in der mathematikdidaktischen Forschung oft verwendet und selten definiert wird. Häufig wird er unter dem vielfältigen Begriffskonstrukt „beliefs“ subsumiert und bedarf in dieser Subsumierung stets einer Präzisierung und Definition, um wissenschaftliches Arbeiten zu und den Austausch über diesen Begriff der Überzeugung überhaupt zu ermöglichen. Denn was auf der einen Seite das Potenzial des Konstruktes beliefs ist, dass durch dieses Konstrukt verschiedene Erklärungsmodelle zu verschiedenen Bereichen in der mathematikdidaktischen Forschung möglich werden, ist auf der anderen Seite problematisch, da es kaum eine einheitliche Definition für beliefs gibt. In der mathematikdidaktischen Forschung wird der Begriff der Überzeugung auch mit Blick auf das Begründen und Beweisen verwendet. Beweise sollen auch Überzeugen. Allerdings bleibt im Rahmen des Beweisens und Begründens unklar, wie Überzeugung innerhalb der Mathematikdidaktik begrifflich gefasst wird. Dieses Fehlen eines theoretisch hinreichenden Be-

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Kapitel 1 Einleitung

griffes zur Überzeugung führt zu verschiedenen Problemen. Ohne ein theoretisch fundiertes Begriffsnetz kann etwa der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und dem Begründen nur unzureichend erfasst bzw. erklärt werden. Weiter ist es nur schwer möglich, Überzeugungen innerhalb eines Interaktionsgeschehens zu identifizieren und ihre Bedeutung für dieses Interaktionsgeschehen zu analysieren. Um dieser Begriffsproblematik entgegen zu treten, wird in dieser Arbeit ausgehend vom Begriff der Überzeugung nach Immanuel Kant ein interaktionistisch und systemisch gewendeter Überzeugungsbegriff theoretisch entwickelt und für die empirische Lehr-Lern-Realität nutzbar gemacht. Dieses „Nutzbarmachen“ dient der Überprüfung des Begriffsnetzes bzgl. seiner Tragfähigkeit innerhalb der Lehr-Lern-Realität. Das Ziel des theoretischen Teils ist daher die Bereitstellung eines theoretisch fundierten Begriffsnetzes, mithilfe dessen in Interaktionsgeschehen die Rekonstruktion von Überzeugungen erfolgen kann. In diesem Sinne verbleibt diese Arbeit nicht in ihrer Theorie, sondern hat auch einen Praxisbezug. Der theoretische Teil im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit stellt zunächst die Bezugspunkte des Begriffes der Überzeugung in der bisherigen mathematikdidaktischen Forschung dar und möchte so einen kurzen Überblick ermöglichen. Dies sind im Wesentlichen die Forschung über beliefs und das Begründen und Beweisen. Es folgt in Kapitel 3 die Darstellung des Begriffes der Überzeugung nach Immanuel Kant. Diesen Überzeugungsbegriff hat Kant im Wesentlichen in seiner Kritik der reinen Vernunft entwickelt. Er zeichnet sich dadurch aus, dass Überzeugung darin besteht, einen Sachverhalt für wahr zu halten. Dieses Fürwahrhalten ist abhängig von zureichenden Gründen; wobei innerhalb dieser Arbeit der Gegenstand des Fürwahrhaltens ein mathematischer Sachverhalt bzw. die Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes ist und die zureichenden Gründe sich auf inhaltliche Gründe beziehen, die innerhalb einer Interaktion ausgehandelt werden. Der Zusammenhang zwischen Fürwahrhalten und den zureichenden inhaltlichen Gründen wird in der interaktionistischen Wendung in Kapitel 3.5 dargestellt. Dazu werden Ansätze des Symbolischen Interaktionismus nach Herbert Blumer genutzt. Zudem dient diese Wendung dem Nutzbarmachen des Begriffes der Überzeugung für die Lehr-Lern-Realität, da diese Arbeit aus interaktionistischer Perspektive

Kapitel 1 Einleitung

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verfasst wurde. Die systemische Wendung (Kapitel 3.6) innerhalb des Theorieteils nutzt Ansätze aus Niklas Luhmanns Systemtheorie und ermöglicht eine Vertiefung der interaktionistischen Wendung des Überzeugungsbegriffes. In Kapitel 3 geht es vornehmlich darum den Überzeugungsbegriff darzustellen und durch eine interaktionistische und systemische Wendung für die Lehr-Lern-Realität nutzbar zu machen. Entsprechende Überlegungen zur empirischen Lehr-Lern-Realität werden im methodischen und methodologischen Teil (Kapitel 4) vertieft. Dabei wird sich zunächst mit der grundlegenden Perspektive auseinandergesetzt, mit der die empirischen Analysen durchgeführt werden. Dazu werden Theorien des Symbolischen Interaktionsmus und der Ethnomethodologie genutzt. Grundsätzlich wird in dieser Arbeit für die Analysen der interpretative Ansatz der Bielefelder Arbeitsgruppe Bauersfeld verwendet (z.B. Voigt 1984). Auch wird dargestellt, wie das theoretisch entwickelte Begriffsnetz innerhalb der Analysen verwendet wird. Dazu kommt die Darstellung des in dieser Arbeit verwendeten Inklusionsverständnis mithilfe der Perspektiven der egalitären Differenz (Prengel 1983) und Teilhabe an Kommunikation (Luhmann 1992). Zudem werden der Untersuchungsplan und das verfahren skizziert. Dieser Teil wird durch die Darstellung der Probleme und die Grenzen dieser Arbeit aus methodologischer Sicht abgeschlossen. Die empirischen Daten wurden mithilfe von halbstandardisierten Interviews erhoben. Interviewt wurden insgesamt 24 Lernende, davon vier mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf Lernen, aus sechs verschiedenen Klassen mit fünf verschiedenen Schultypen. Die Aufgaben stammten aus dem Bereich der funktionalen Zusammenhänge, der Stochastik und der Geometrie. Die Interviews wurden videografiert und transkribiert. Für die Analysen wurden insgesamt vier Szenen ausgewählt. Durch dieses 5. Kapitel werden die grundsätzlichen Perspektiven dieser Arbeit skizziert und der Zusammenhang zu dem in Kapitel 3 entwickelten Überzeugungsbegriff aufgezeigt. Diese theoretischen methodologischen und methodischen Überlegungen sind auch in die entsprechenden Analysen miteingegangen. Dabei wird in der ersten Analyse der Zusammenhang zwischen Fürwahrhalten und den inhaltlichen Gründen untersucht und aufgezeigt, dass eine Überzeugung sich innerhalb eines Interaktionsgeschehens immer im Werden befindet.

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Kapitel 1 Einleitung

Die zweite und dritte Analyse sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass diese Indizien für die Identifikation eines Grundes als zureichend rekonstruieren und den Interaktionsmoment des Zweifels darstellen. In der letzten Analyse wird ein Interview mit einer Lernenden mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf Lernen verwendet. Dabei werden an einem Einzelfall mögliche Besonderheiten skizziert. Die Analysen dienen im Wesentlichen dazu aufzuzeigen, inwieweit das theoretisch entwickelte Begriffsnetz auch in der Lehr-Lern-Realität tragfähig ist, wie eine Überzeugung sich in der Interaktion entwickelt und welche Indizien rekonstruierbar sind. Im 6. Kapitel folgt eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit. Dabei wird sich sowohl auf die theoretisch entwickelten als auch auf die im empirischen Teil gewonnen Ergebenisse bezogen. Es folgen offene Fragen dieser Arbeit und Ideen für weitere Studien im Bereich der Mathematikdidaktik, bevor sich abschließend mit möglichen Konsequenzen dieser Arbeit für die Schulpraxis auseinandergesetzt wird. Redaktionelle Anmerkungen: x In dieser Arbeit wird auf die getrennte Nennung der weiblichen und männlichen Form verzichtet. Das jeweils andere Geschlecht sei stets mitbedacht. x Alle Zitate entsprechen der Originalfassung. Dies impliziert die Kursivschreibweise in Zitaten. x Alle Namen der Lernenden wurden in der Arbeit mit Pseudonymen versehen. Die Nummerierung der Abbildungen bzw. der Tabellen orientiert sich an den jeweiligen Kapiteln und erfolgt fortlaufend numerisch.

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Mathematikdidaktische Einordnungen zum Begriff der Überzeugung

„Überzeuge dich selbst, überzeuge einen Freund, überzeuge deinen Feind – das Letztere ist das, was man beim Beweisen machen muss“ (David Tall (1989) zit. n Kuntze (2005))

Der Begriff der Überzeugung ist in der Mathematikdidaktik mit den Begriffen beliefs und Begründen verknüpft. Es scheint daher sinnvoll, sich im Rahmen der mathematikdidaktischen Grundlagen zum Begriff der Überzeugungen zunächst mit diesen beiden Begriffen und ihren Verwendungsweisen auseinanderzusetzen. 2.1

beliefs in der Mathematikdidaktik

Während die Funktion der Überzeugung, hier nicht im Sinne der Handlung des Überzeugens verstanden, in der Regel mit dem Begründen verbunden wird, wird der Begriff der Überzeugung in der mathematikdidaktischen Forschungswelt oftmals unter dem Begriff beliefs subsumiert. Die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der beliefs hat an dieser Stelle die Aufgabe, den entsprechenden mathematikdidaktischen Forschungszweig aufzuzeigen, um dann eine Abgrenzung zwischen dem Begriff beliefs zum Begriff der von mir verwendeten Überzeugung im Werden zu ermöglichen. Diese Auseinandersetzung ersetzt allerdings keine theoretische Übersichtsarbeit, die die verschiedenen Ansätze zu beliefs miteinander vergleicht und zusammenführt. Dazu sei an dieser Stelle auf die Arbeiten von Op’t Eynde et al. (2002), Furinghetti & Pehkonen (2002) und Maaß & Ege (2007) verwiesen. Um eine entsprechende Abgrenzung zum von mir entwickelten Überzeugungsbegriff zu ermöglichen, müssen zunächst die wesentlichen Kennzeichen der verschiedenen Verwendungsweisen von beliefs aufgezeigt werden. Der Begriff beliefs wird in der mathematikdidaktischen Forschung von verschiedenen Autoren in unterschiedlicher Weise genutzt, definiert, aufgegriffen, transformiert und in Bezug gesetzt. Es ist daher unabdingbar,

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Moll, Überzeugung im Werden, Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5_2

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Kapitel 2 Mathematikdidaktische Einordnungen

vor jeder Diskussion und in jedem Artikel zunächst zu klären, welcher Begriff von beliefs in der jeweiligen Diskussion verwendet wird. Dies mag mühselig erscheinen, aber nur mit einer vorgeschalteten Begriffsklärung ist es möglich, diesen Begriff wiederum in Bezug zu anderen Begriffen zu setzen und ihn in einer Interaktion zu gebrauchen. Andernfalls würde man möglicherweise aneinander vorbei agieren. Allerdings ist eine allgemeine Begriffsklärung von beliefs problematisch. Rolka (2006) hat mit Blick auf verschiedene Autoren wie Furinghetti & Pehkonen (2002) oder Thompson (1992) festgestellt, dass in der mathematikdidaktischen Literatur ein Fehlen einer einheitlichen Definition zum Begriff beliefs sichtbar wird. Mit Bezug auf Aguierre und Sperr (2000) erklärt sie, dass es sich bei beliefs um „Überzeugungen und Auffassungen über Mathematik sowie das Lehren und Lernen von Mathematik“ handelt (Rolka 2006, S. 9). Diese recht allgemeine Definition wird im Folgenden weitergehend spezifiziert. Um die Vielfalt der Verwendungsweisen von beliefs zumindest ansatzweise zu reduzieren, schlägt Törner (2002) eine Zusammenfassung von verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffes beliefs vor und listet diese wie folgt auf: x x x x x x x

beliefs zum Wesen der Mathematik allgemein und insbesondere zur Schulmathematik beliefs zum Lernen von Mathematik beliefs zu den Auswirkungen einer Beschäftigung mit Mathematik beliefs zur Rolle des Mathematiklehrers beliefs zur Rolle des Schülers beliefs zur Rolle des Mathematikers beliefs über Mathematik auch bei den Mathematikern (ebd., S. 109f.)

Wesentlich ist bei der Auflistung, dass sich beliefs im Sinne Törners (2002) konkret auf etwas beziehen. Beispielsweise als Einstellung eines Lernenden in Bezug auf das Wesen von Mathematik oder als Einstellung eines Lehrenden in Bezug auf die Rolle des Schülers. Pehkohnen und Pietilä (2003) machen in ihrem Artikel ON RELATIONS-

2.1 beliefs in der Mathematikdidaktik

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HIPS BETWEEN BELIEFS AND KNOWLEDGE IN MATHEMATICS EDUCATION die vielfältigen Schwierigkeiten bei der Definition des Konstruktes beliefs deutlich und beziehen sich dabei auf verschiedene Autoren: „There are several difficulties in defining concepts related to beliefs. Some researchers consider beliefs to be part of knowledge (e.g. Pajares, 1992; Furinghetti, 1996), some think beliefs are part of attitudes (e.g. Grigutsch, 1998), and some consider they are part of conceptions (e.g. Thompson, 1992). There can be differences also depending on the discipline. For example emotions can have different meaning in psychology than in mathematics education (e.g. McLeod, 1992). In addition it is possible that researchers use same terminology although they study different phenomena. This all makes it hard to understand studies and compare them to each other (e.g. Ruffell, Mason & Allen, 1998)” (Pehkohnen und Pietilä 2003, S. 1). Pehkohnen und Pietilä zeigen zum einen die Schwierigkeiten bei der Verwendung und Definition des Konstruktes beliefs innerhalb der Mathematikdidaktik auf. Zum anderen problematisieren sie die disziplinübergreifende Verwendung, wodurch es möglich ist, dass derselbe Begriff für die Erforschung unterschiedlicher Phänomene genutzt wird. Kritiker, die diese Schwierigkeiten von beliefs aufgreifen, beziehen sich oftmals auf einen Artikel von Pajares (1992), der den Titel „Teachers´ beliefs and Educational Reserach: Cleaning Up a Messy Construct“ (S. 307332) trägt. Sie bezeichnen beliefs in diesem Sinne als ein solches „Messy Construct“. Wobei Pajares (ebd.) am Ende seines Artikels Folgendes erklärt: “I suggest that the construct is less messy, far cleaner, and conceptually clearer than it may appear. When they are clearly conceptualized, when their key assumptions are examined, when precise meanings are consistently understood and adhered to, and when specific belief constructs are properly assessed and investigated, beliefs can be, as Fenstermacher (1979) predicted, the single most important construct in educational research.” (S. 329)

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Kapitel 2 Mathematikdidaktische Einordnungen

In diesem Artikel arbeitet Pajares zunächst anhand der Unterscheidung der Begriffe knowledge und beliefs und der jeweiligen Effekte der beiden Konstrukte (s. Pajares 1992, S. 309 f.) die beiden Begriffe knowledge und beliefs heraus. Zum Ende synthetisiert er 16 Kennzeichen von beliefs mithilfe verschiedener Autoren und reflektiert sein eigenes Vorgehen. Beispielhaft seien mit Blick auf die Stabilität von beliefs und ihren Bezug zu Wissen folgende Kennzeichen genannt: „1. beliefs are formed early and tend to self-perpetuate, persevering even against contradictions caused by reason, time, schooling, or experience (Abelson, 1979; Brown & Cooney, 1982; Eisenhart et al., 1988; Nisbett & Ross, 1980; Peterman, 1991; Posner et al., 1982; Rokeach, 1968; Van Fleet, 1979). 6. Epistemological beliefs play a key role in knowledge interpretation and cognitive monitoring (Anderson, 1985; Kitchener, 1986; Nespor, 1987; Nisbett & Ross, 1980; Peterman, 1991; Posner et al., 1982; Schommer, 1990). 10. The earlier a belief is incorporated into the belief structure, the more difficult it is to alter. Newly acquired beliefs are most vulnerable to change (Abelson, 1979; Clark, 1988; Lewis, 1990; Munby, 1982; Nespor, 1987; Nisbett & Ross, 1980; Posner et al., 1982; Rokeach, 1968).” (Pajares, 1992, S. 325) Nach dem ersten Kennzeichen sind beliefs insgesamt eher als starr und nicht veränderbar zu bezeichnen. Sie halten dem Einfluss von Erfahrungen oder Schule stand. Wobei bei neu entwickelten beliefs mit Blick auf das zehnte Kennzeichen noch am ehesten die Möglichkeit bestehen, dass diese sich verändern. Denn je länger ein belief existiert, desto schwieriger ist es, diesen zu verändern. Sie sind zudem untrennbar mit knowledge verbunden, allerdings doch vom Begriff des knowledge unterscheidbar. Insbesondere epistemologische beliefs, also beliefs über die Struktur des Wissens und darüber wie Wissen erworben wird, prägen nach dem sechsten Kennzeichen die Interpretation von Wissen.

2.1 beliefs in der Mathematikdidaktik

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Diese weite Fassung von Kennzeichen bezüglich beliefs ermöglicht es, die Vielfalt der Begriffsverwendungen im Konstrukt der beliefs zu subsumieren. Außerdem macht Rolka (s. 2006, S. 23) deutlich, dass obwohl eine einvernehmlich akzeptiertete Definition fehlt, „in der Mathematikdidaktik dennoch vielfältige und effektive Theorien zur Erforschung dieses Konstruktes“ existieren. Wie genau Effektivität an dieser Stelle aufgefasst wird, bleibt allerdings unklar. Offensichtlich wird an dieser Stelle, wie auch bei Pajares, dass es sich bei beliefs um ein Konstrukt handelt. Je nach Autor bezieht sich diese Konstruktion des Begriffes beliefs auf individuelle Vorstellungen, Annahmen, Einstellungsstrukturen, Überzeugungen, Einstellungen und Auffassungen über Mathematik und ihr Lehren und Lernen (vgl. Rolka 2006, Törner 2002, Rott, Leuders & Stahl 2014, Philipp 2007, Schoenfeld 1987). Maaß & Ege (2007, S. 56) erklären dazu, dass sich „im deutschsprachigen Raum [...] die zahlreichen Positionen grundsätzlich darin [unterscheiden, M.M.], welchen Stellenwert sie jeweils kognitiven, affektiven, handlungsrelevanten und weiteren Aspekten von beliefs zuordnen.“ Dabei werden beliefs häufig als Einstellungen verstanden: „Man ordnet ihnen [den Einstellungen, M.M.] somit kognitive, affektive und konative Komponenten zu“ (vgl. Törner 2002, S. 107; Grigutsch, Raatz & Törner 1998, S. 10; Grigutsch 1996, S. 16, zit n. Maaß & Ege 2007, S. 56). Ebenfalls eher kognitive und affektive Aspekte werden in der von Rott, Leuders und Stahl (2014, S. 1011) verwendeten Begriffsbezeichnung zu beliefs angesprochen, wenn sie diese als „Konstrukte für menschliche Kognitionen, mit denen man zu beschreiben versucht, welche (i.d.R.) stabilen subjektiven Annahmen Personen über sich und ihre Umwelt haben“, bezeichnen. Sie möchten in ihrem Artikel auch der Frage nachgehen, für wie sicher Mathematik angenommen wird, und eröffnen damit eine Debatte über die Sicherheit von Mathematik. Dabei werden grundsätzlich zwei Positionen vertreten. Die eine Position nimmt an, Mathematik sei sicher, da etwa Beweise als das sicherheitsstiftende Merkmal der Mathematik angenommenen werden. In dieser Einstellung bzgl. der Sicherheit von Mathematik wird bei Beweisen ausgehend von Axiomen das zu Zeigende gefolgert. Die Sicherheit wird also ausgehend von den Axiomen deduktiv übertragen.

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Kapitel 2 Mathematikdidaktische Einordnungen

Wenn also nach der Frage nach Sicherheit von Mathematik gefragt wird, hängt diese Frage auch von der Einstellung gegenüber der Mathematik als solche ab und ist damit individuell geprägt; wobei sich diese Einstellungen innerhalb einer bestimmten Community entwickeln und ausprägen können. Pehkohnen und Pietilä verstehen beliefs als „subjective, experiencebased, often implicit knowledge, and emotions on some matter or state of art“ (2003, S. 2). Im Rahmen ihrer Definition machen sie auch ihre Annahme deutlich, dass beliefs „under continous evaluation and change“ sind (Pehkohnen & Pietilä, 2003 S. 4). Das beliefs sich kontinuierlich und dynamisch verändern können macht auch Thompsen (1992, S. 140) deutlich: „The relationship between beliefs and practice is a dialectic, not a simple cause-and-effect relationship”. Zudem existiert ein Bezug zwischen beliefs und „subjective knowledge“, das Pehkohnen und Pietilä als „something unique which usually possessed only by the individal self, since it is based on his personal experiences and understanding“ bezeichnen (2003, S. 3). Sie folgen mit dieser Definition den von Furinghetti & Pehkonen (2002) explizierten Vorschlägen, welche Dinge beim Umgang mit beliefs zu beachten sind: “When dealing with beliefs and related terms, it is advisable • to consider two types of knowledge (objective knowledge and subjective knowledge) • to consider beliefs as belonging to subjective knowledge […] • to consider degrees of stability, and to acknowledge that beliefs are open to change […].“ In diesen Vorschlägen und damit letztlich in der von Pehkonen & Pietilä (2003) verwendeten Definition wird auch die von Pajares (1992) vorgeschlagene Unterscheidung von knowledge und beliefs und die Stabilität von beliefs aufgegriffen. Deutlich wird allerdings bereits an dieser Stelle, dass der Begriff beliefs in jeder Arbeit definiert werden muss. Unterschiede in den jeweiligen Ver-

2.1 beliefs in der Mathematikdidaktik

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wendungsweisen von beliefs sind vor allem in der Stabiltät und ihren Bezug zu inhaltlichen Gründen zu sehen. Während Pajares (1992) beispielsweise von stabilen beliefs ausgeht, sind bei Pehkohnen & Pietilä (2003) beliefs grundsätzlich einer ständigen Veränderung unterworfen. Je nachdem über welche Art von beliefs gesprochen wird, sind kognitive, emotionale oder affektive Faktoren oder nur einer dieser drei Faktoren relevant. Gemeinsam haben alle beliefs, trotz der Vielzahl an Verwendungsweisen, dass sie sich sehr grob als Vorstellungen bzw. Einstellungen (etwa bei Grigutsch, Raatz & Törner 1998) oder Auffassungen (Pehkonen 1994) zusammenfassen lassen, wobei die jeweiligen Begriffe nicht trennscharf sind und je nach Autor unterschiedliche Überschneidungen bzw. Unterscheidungen beinhalten. 2.2

Beweisen und Begründen in der Mathematikdidaktik

Wer sich in der Mathematikdidaktik mit dem Begriff des Begründens auseinandersetzt, wird diesen Begriff oftmals in Zusammenhang zum Begriff des Beweisens antreffen. Denn Beweise gehören zur Mathematik als wissenschaftliche Disziplin. Ein Beweis wird zumindest aus theoretischer Perspektive als ein Vorgang verstanden, bei dem die zu beweisende Aussage aus Axiomen bzw. bereits bewiesenen mathematischen Sätzen im Rahmen einer deduktiven Kette hergeleitet wird (vgl. Meyer 2007, Brunner 2014). Ganz allgemein kann davon gesprochen werden, dass ein mathematischer Satz dann als eine wahre Aussage ausgenommen wird, wenn er aus anderen wahren bzw. bereits bewiesenen Aussagen gefolgert wurde. Es scheint sinnvoll zunächst zu klären, welche Typen von Beweisen existieren. Nach Wittmann und Müller (1988) gibt es drei Typen von Beweisen. Formal-deduktive, experimentelle und inhaltlich anschauliche Beweise. Während bei formal-deduktiven Beweisen eine Übertragung der Sicherheit im Sinne einer Deduktionskette stattfindet, wird bei experimentellen Beweisen in der Regel auf formal-logische Schlussfolgerungen verzichtet. Anstelle dessen wird beispielsweise mithilfe von „[...] Veranschaulichun-

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Kapitel 2 Mathematikdidaktische Einordnungen

gen, Plausibilitätsbetrachtungen, empirische Verifikationen und an Beispielen“ (Wittmann und Müller 1988, S. 248) gehandelt, um einen mathematischen Sachverhalt zu prüfen. Heintz (2000) hat gezeigt, dass es auch im Rahmen der wissenschaftlichen Praxis keineswegs so ist, dass beim Diskurs über mathematische Probleme ad hoc formale Beweise produziert werden. Vielmehr werden zunächst verschiedene Begründungen (synonym zu verstehen mit dem Begriff des Arguments) ausgetauscht. Und Brunner (2014) betont, dass ein Beweis „einen Begründungszusammenhang [her, M.M.] stellt, der – wenn er sich als gültig herausstellt – allgemeine Akzeptanz erfährt.“ (S. 8) Der zweite Typ hingegen lehnt den Formalismus ab, was zu einer gewissen Beliebigkeit und Verständnisproblemen etwa mit Blick auf die Unterrichtspraxis führen kann. Als dritter Typ existiert der inhaltlich-anschauliche Beweis. Nach Blum und Kirsch wird dieser Typ wie folgt beschrieben: „In Anlehnung an Semadenis Konzept ‚prämathematischer Beweise’ wollen wir hier unter einem inhaltlich-anschaulichen Beweis eine Kette von korrekten Schlüssen verstehen, die auf nicht-formale Prämissen zurückgreifen, d.h. insbesondere auf inhaltlichanwendungsbezogene Grundideen (wie z.B. Ableitung als lokale Änderungsrate) oder auf intuitiv evidente, ‚allgemein geteilte’, ‚psychologisch offenkundige’ Aussagen. Die Schlüsse sollen in ihrer ‚psychologisch natürlichen’ Ordnungen aufeinanderfolgen. Sie müssen vom konkreten, inhaltlich-anschaulichen Fall direkt verallgemeinerbar sein, wobei diese Übertragbarkeit auf den allgemeinen Fall intuitiv erkennbar sein soll, und sie müssen bei Formalisierung der jeweiligen Prämissen korrekten formal-mathematischen Argumenten entsprechen.“ (Blum und Kirsch 1989, S. 202) Inhaltlich-anschauliche Beweise tragen also den Ansprüchen Rechnung, dass Beweise auch inhaltlich bedeutsam sein müssen, ohne den Anspruch auf Formalität zu verlieren. Denn inhaltlich-anschauliche Beweise sollen mit Blick auf das obige Zitat verallgemeinerbar sein. Es soll also möglich sein, aus einem inhaltlich-anschaulichen Beweis einen formalen Beweis zu erstellen. Zudem ermöglichen inhaltlich-anschauliche Beweise, den

2.2 Beweisen und Begründen in der Mathematikdidaktik

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Grad der Strenge den unterrichtlichen Gegebenheiten anzupassen, wie Hanna (1997) einfordert. Zudem sollen Beweise mit Blick auf ihre eklärende Funktion auch inhaltliche „Bezüge verdeutlichen und allgemeine Zusammenhänge aufzeigen.“ (Meyer 2007, S. 27) Experimentelle Beweise können dies nicht leisten (Heinze und Reiss 2002, S. 230). Beweise haben mit Blick auf De Villiers (1990) außer der erklärenden Funktion noch vier weitere Funktionen. Überzeugen, Systematisieren, Entdecken und Kommunizieren. Im Folgenden wird sich vor allem auf die überzeugende Funktion von Beweisen bezogen. Die überzeugende Funktion zielt auf „die Überzeugungskraft der dargelegten Argumente ab“ (Brunner 2014, S. 13). Meyer (2007) hat ebenfalls mit Blick auf Hersh (1993) erklärt, „dass ein Beweis nicht zwangsläufig dann als überzeugend anerkannt wird, wenn in ihm eine Aussage zwingend aus einer langen Kette diffiziler Folgerungen abgeleitet wird, sondern vielmehr dann, wenn er in der betreffenden Gemeinschaft als gültig anerkannt wird.“ (S. 26) Die Überzeugungskraft eines Beweises ist folglich mit einer soziologischen Dimension verbunden. Zudem scheint ein enger Bezug zwischen der erklärenden und der überzeugenden Funktion zu bestehen. Wer einen Beweis, eine Begründung, einen mathematischen Satz auch ohne inhaltliche Gründe oder Erklärung akzeptiert, kann im Sinne der vorliegenden Arbeit eigentlich nicht überzeugt sein, sondern ist eher überredet worden bzw. nimmt den Sachverhalt hin. Jenseits des hierarchischen Ungleichgewichts schulischen Diskurses gilt es daher (schulische) Diskurse zu ermöglichen, an denen alle Lernenden kommunikativ teilhaben können, sodass ein Beweis innerhalb einer dieser Gemeinschaft als gültig anerkannt wird. Der Begriff des Beweisens wird daher (zumindest) für die empirische LehrLern-Realität durch den Begriff des Begründens bzw. Argumentierens ergänzt bzw. erweitert. Schwarzkopf (2000) macht dies mit folgendem Zitat deutlich: „Der im Unterricht stattfindende soziale Prozess, bestehend aus dem Anzeigen eines Begründungsbedarfs und dem Versuch diesen Begründungsbedarf zu befriedigen, wird als Argumentation bezeichnet. Die in diesem Prozess hervorgebrachten Begründungsangebote werden mathematikspezifisch als Argumente analysiert.“ (S. 240)

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Kapitel 2 Mathematikdidaktische Einordnungen

Begründungsprozesse wurden über Schwarzkopf hinaus beispielsweise auch von Meyer (2007) oder Krumsdorf (2017) untersucht. Während Schwarzkopf vor allem die im Unterricht stattfindenden Argumentationen zwischen Lehrenden und Lernenden analysiert und ausgehend davon soziale Regelmäßigkeiten dieser Argumentationspresse mit Blick auf den unterschiedlichen Begründungsbedarf beschrieben hat, hat Meyer (2007) mithilfe der logischen Schlussformen der Deduktion, Induktion und Abduktion das Entdecken, Begründen, Beweisen voneinander abgegrenzt. Die Deduktion wurde dabei als zentrale Schlussform dargestellt. Die Bedeutung des Begründens und Beweisens findet sich vom Schüler aus gedacht bei Winter (1983). Winter unterscheidet zwischen einem subjektiven und objektiven Beweisbedürfnis. Das objektive Beweisbedürfnis heißt, dass der „Schüler X erkennt, daß die Aussage y eines Beweises bedarf.“ (ebd., S. 64) Diese Notwendigkeit wird dabei in der Regel vom Fach aus begründet, wie bereits oben deutlich wurde. Das subjektive Beweisbedürfnis zielt auf den Schüler „in seiner jeweiligen Individualität, seinen Neigungen, Interessen, Fähigkeiten, Stimmungen, Vorlieben, Aversionen, Ängsten“ (ebd, S. 78) ab. Damit werden auch die jeweilige Lebensituationen und der Kontext, in dem der Lernenden interagiert mitberücksichtigt. Als „Hauptaufgabe des Mathematiklehrers“ macht Winter deutlich, dass diese „die generelle Neugier“ wecken soll (ebd., S. 80). Das Begründen und Beweisen hat für die vorliegende Arbeit einen hohen Stellenwert, wie bereits oben angedeutet worden ist. Denn Übezeugung wird eng an die Aushandlung und Wahrnehmung von inhaltlichen Gründen gekoppelt, wie in Kapitel 3.2 verdeutlicht wird. Damit hat Überzeugung ebenfalls eine soziologische Dimension. Darüber hinaus existieren für das Begründen nach Meyer & Prediger (2009, S. 5) ebenso wie für das Beweisen fünf Funktionen, die mit den Funktionen des Beweisens nach de Villiers (1990) zusammenhängen. Diese fünf Funktionen des Begründens sind: Überzeugen, Erklären, Zusammenhänge herstellen, Entdecken und Kommunizieren. Wobei das Überzeugen im Sinne einer „Verifizierung, dass eine Behauptung wahr ist“ genutzt wird. Unklar bleibt, ob Verifizierung möglicherweise eine quasi-empirische Prüfung einer Behauptung

2.2 Beweisen und Begründen in der Mathematikdidaktik

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meint, wie sie bei de Villiers (1990, S. 19) angedeutet wird und die so zu einer Überzeugung führen könnte. Einen solchen Bezug zwischen Begründen und Prüfung stellt auch der Lehrplan für das Fach Mathematik des Landes Nordrhein-Westfalen für Grundschulen mit Blick auf die prozessbezogene Kompetenz des Argumentierens auf. Hier heißt es: Die Schülerinnen und Schüler x x x x

stellen Vermutungen über mathematische Zusammenhänge oder Auffälligkeiten an (vermuten) testen Vermutungen anhand von Beispielen und hinterfragen, ob ihre Vermutungen, Lösungen, Aussagen, etc. zutreffend sind (überprüfen) bestätigen oder widerlegen ihre Vermutungen anhand von Beispielen und entwickeln – ausgehend von Beispielen – ansatzweise allgemeine Überlegungen oder vollziehen diese nach (folgern) erklären Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten an Beispielen und vollziehen Begründungen anderer nach (begründen) (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein – Westfalen 2008, S. 11)

Innerhalb dieser prozessbezogenen Kompetenz werden Vermutungen überprüft bzw. begründet und möglicherweise weiterentwickelt. Auch wenn im Lehrplan das Wort überzeugen nicht fällt, lässt sich mit Blick auf die oben geschilderten Ausführungen ein Bezug zwischen Überzeugung und dieser prozessbezogenen Kompetenz herstellen. Denn allein das Begründen hat auch eine überzeugende Funktion. Darüber hinaus könnte möglicherweise die Prüfung einer Vermutung auch eine überzeugende Funktion haben, wie sie bei de Villiers (1990) im Sinne einer quasi-empirischen Prüfung angedeutet worden ist. Insgesamt wird deutlich, dass Überzeugung, auch wenn an dieser Stelle noch nicht ganz klar ist, was damit gemeint ist, beim Beweisen und Begründen in der Mathematikdidaktik einen enormen Stellenwert besitzt.

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Kapitel 2 Mathematikdidaktische Einordnungen

Dies gilt insbesondere auch für inhaltlich-anschauliche Beweise, bei denen auch inhaltliche Zusammenhänge aufgezeigt werden sollen. Zudem kann zusammengefasst werden, dass eine Fokussierung von Überzeugung in Bezug auf inhaltliche Gründe sinnvoll ist. Denn beim Beweisen und Begründen werden auch inhaltliche Gründe in den Blick genommen, sofern die erklärende und die überzeugende Funktion nicht getrennt, sondern in jeweiliger Abhängigkeit zueinander betrachtet werden. So ist eine Überzeugung auch immer an die inhaltlichen Gründe gekoppelt, die innerhalb einer fortlaufenden Interaktion ausgehandelt und möglicherweise akzeptiert werden. Damit wird auch der soziologischen Dimension von Begründungen und Beweisen Rechnung getragen. Im Folgenden wird es daher zunächst darum gehen, den Begriff Überzeugung an sich zu definieren und weitestgehend zu schärfen.

3

Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

3.1

Der Überzeugungsbegriff in Anlehnung an Kant

Als Grundlage für den Begriff der Überzeugung soll in dieser Arbeit das Begriffsverständnis von Überzeugung von Immanuel Kant dienen. Dies scheint aus drei Gründen sinnvoll. Zum einen bezieht Kant sein Begriffsverständnis auf inhaltliche Gründe, eröffnet (wenn auch möglicherweise nicht von ihm beabsichtigt) die Möglichkeit, der interaktionistischen Dimension von Überzeugung Rechnung zu tragen und ermöglicht damit eine entsprechende Grundlage zur Definition eines Überzeugungsbegriffes, der für die empirische Lehr-Lern-Realität nutzbar gemacht werden kann. Immanuel Kant, geboren 1724 und gestorben 1804 in Königsberg, hat unter anderem mit seinen Werken Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft die Philosophiegeschichte maßgeblich beeinflusst. Insbesondere die Kritik der reinen Vernunft kann mit Blick auf die Erkenntnistheorie als Meilenstein angesehen werden. In diesem Werk setzt sich Kant mit dem scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Rationalismus und Empirismus auseinander. Wobei Rationalismus stark reduziert meint, dass die Erkenntnis auf nur auf Vernunft und Einsicht beruht, während der Empirismus besagt, dass alle Erkenntnis auf der Erfahrung der Welt und der Reflexion über diese Erfahrungen basiert. Kant löst diesen scheinbaren Widerspruch dahingehend, dass er sowohl Rationalismus als auch Empirismus analysiert und mit folgendem Zitat zusammenfasst: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV A75/B75) Er betont damit, dass erst eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Erfahrungen und Verstand zur Erkenntnis führen kann. Für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Kants muss an dieser Stelle auf seine entsprechenden Werke verwiesen werden. Denn in dieser Arbeit geht es nicht um eine vollständige Rekonstruktion seines wissenschaftlichen Wirkens, sondern um das Nutzbarmachen eines Ausschnittes: Nämlich dem Begriff der Überzeugung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Moll, Überzeugung im Werden, Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5_3

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Immanuel Kant erläutert den Begriff der Überzeugung in seinen Werken explizit an zwei Stellen. Zum einen in seiner Kritik der reinen Vernunft und zum anderen in seinen Vorlesungen zur Logik, die von Gottlob Benjamin Jäsche herausgegeben worden sind. So heißt es in der Kritik der reinen Vernunft im dritten Abschnitt im Rahmen „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ zum Begriff der Überzeugung: „Wenn es für jedermann gültig ist, sofern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben objektiv hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdann Überzeugung.“ (KrV A 820/B 848) Für Kant ist Überzeugung entsprechend von einem Fürwahrhalten und der Vernunft abhängig. Dieses Fürwahrhalten hängt wiederum von hinreichenden bzw. mit Blick auf seine Logikvorlesungen von zureichenden Gründen ab. In diesem Sinne der inhaltlich vergleichbaren Wortverwendung in unterschiedlichen Quellen, können die Wörter hinreichend und zureichend im Sinne Kants synonym verwendet werden. Da das Wort „hinreichend“ in der Mathematik mit Blick auf beispielsweise „hinreichende Bedingungen“ bereits besetzt ist, wird in dieser Arbeit das Wort „zureichend“ verwendet. Wann genau ein Grund zureichend ist, bzw. als zureichend wahrgenommen wird, ist eine wesentliche Forschungsfrage, die es im empirischen Teil zu beantworten gilt. Sowohl das Fürwahrhalten als auch die zureichenden Gründe werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit immer wieder verwendet und bedürfen daher einer Präzisierung. 3.2

Fürwahrhalten und zureichende Gründe

Fürwahrhalten bezeichnet Kant als die subjektive Gültigkeit eines „Urteil[s, M.M.], wodurch etwas als wahr vorgestellt wird“ (Jäsche, 1800, S. 98) – und zwar in Abhängigkeit von subjektiv bzw. objektiv zureichenden Gründen. Subjektiv zureichende Gründe bezeichnen dabei Gründe, die für das Individuum selbst zureichend sind (Eisler 1984, S. 515). Der Begriff der Objektivität kann bei Kant in zweierlei Weise verwendet werden. Zum einen bedeutet objektiv: „a) den Dingen an sich zukommend.“ (Eisler 1984, S. 399) In diesem Sinne meint objektiv ein apriorisches Erkennen, da in den Dingen an sich bereits die Begriffe und Kategorien dieser Dinge innewohnen.

3.2 Fürwahrhalten und zureichende Gründe

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Zum anderen existiert folgende kritisch-idealistische Verwendungsweise des Begriffes objektiv: „b) für alle (menschlichen) Subjekte gleicherweise gültig und zugleich für die Objekte (s. d.) als Gegenstände möglicher Erfahrung (Erscheinungen) gültig, obzwar den Dingen an sich nicht zukommend und, als notwendig auf das (reine) erkennende Bewußtsein (s. d.) bezogen, subjektiv.“ (Eisler 1984, S. 399) Dieses Objektivitätsverständnis zielt auf die menschlichen Subjektive an sich und deren subjektives Erkennen der Objekte im Rahmen einer Erfahrung, wobei diese Erfahrung auch vom erkennenden Bewusstsein abhängig ist. Mit diesem Zusatz wird Kant auch seinem Anspruch gerecht, Verstand und Erfahrung zusammenzubringen. Denn Verstand und Erfahrung werden in diesem Objektivitätsverständnis insofern zusammengedacht, dass die Objekte zwar Gegenstände der Erfahrung sind, diese Erfahrung allerdings auch auf das Bewusstsein bezogen wird. Objektiv wird dieses Zusammenspiel von Verstand und Erfahrung, wenn es „für alle (menschlichen) Subjektive gleicherweise gültig“ (ebd.) ist. Kant sagt im Rahmen dessen auch: „Wahrheit aber beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen (consentientia uni tertio, consentiunt inter se).“ (Kant KrV A 820 / B 848) Der Satzteil „die Urteile eines jeden Verstandes“ im Rahmen dieses Objektivitätsverständnisses ist dabei so zu verstehen, dass dieses Urteil über das Objekt mit dem Verstand übereinstimmt. Zudem betont Kant, dass dieses Urteil mit dem Urteil „eines jeden Verstandes“ übereinstimmt, also dass jedes Individuum in der Ansehung dieses Objekts zum gleichen Urteil kommt. Dieses zweite Objektivitätsverständnis Kants kann wie folgt interpretiert und verändert werden, was eine zentrale Abweichung von Kant bedeutet. Die Formulierung „für alle menschlichen Subjekte gleicherweise gültig“ wird intersubjektiv gedeutet. Dies bedeutet, dass etwas für alle Subjekte gültig ist, wenn es zu einer interpretativen gemeinschaftlichen Auseinandersetzung über die jeweiligen Urteile kommt. In diesem Sinne können objektiv zureichende Gründe solche sein, die vom einzelnen Individuum als

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

für andere als zureichend wahrgenommen werden. (vgl. Jäsche, 1800, S. 99). An dieser Stelle stellt sich die Frage, was der Gegenstand des Fürwahrhaltens ist. Nach Kant kann nur das für wahr gehalten werden, was letztlich auch wahr ist. Überzeugung in Anlehnung an Kant lässt sich daher prägnant als ein Fürwahrhalten von etwas objektiv Wahrem bestimmen (Kant, KrV A 820/B 848). Das Wahre kann zum einen als die „Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstand“ (Eisler, 1984, S. 590) angesehen werden. Dies bedeutet, dass ein Urteil darüber, ob etwas wahr ist oder nicht, widerspruchsfrei den strengen Gesetzen des Denkens – also der Logik – entsprechen muss. Zum anderen erläutert er die Möglichkeit, dass die Wahrheit eines Urteils dadurch belegt werden kann, dass mehrere Individuen unabhängig voneinander dieselbe Aussage darüber treffen, ob etwas wahr sei (Kant KrV A 820/ B 848; Kant KrV A 821/ B 849). „Denn folgt ein jeder in seinem Denken den Regeln der Logik und kommt es so zu einer Übereinstimmung aller Urteile, muss dies den Grund haben, dass die Urteile auf dem Objekt selbst beruhen und so der Wahrheit entsprechen.“ Kant KrV A 820/ B 848) Allerdings bezieht sich Kant an dieser Stelle immer noch darauf, „dass die Urteile auf dem Objekt selbst beruhen.“ (Eisler, 1984, S. 590) Es handelt sich also um eine Konjunktion zwischen dem Gegenstand des Fürwahrhaltens, der objektiv wahr sein soll, und dem Fürwahrhalten an sich, dass die subjektive Gültigkeit eines Urteils bezeichnet. Kant formuliert dazu: „Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt)“ (Kant, KrV, A 822/B 850). An der Begriffsbestimmung Überzeugung als ein Fürwahrhalten von etwas objektiv Wahrem sind insbesondere die Aspekte objektiv und Wahres problematisch. Mit Blick auf das Verständnis, wie sich Objektive in der Mathematik verstehen lassen, existieren daher sehr stark verkürzt zwei Möglichkeiten und somit zwei Einstellungen, wie Mathematik an sich verstanden werden kann. 1. Mathematik als euklidische Theorie, bei der Mathematik als relativ zu den Axiomen im Sinne von Deduktionen als wahr verstanden wird. Mathematische Wissen ist in diesem Verständnis sicheres Wissen (vgl. Heintz 2000). Dies würde auch dem ersten Objektivitätsver-

3.2 Fürwahrhalten und zureichende Gründe

21

ständnis von Kant entsprechen, denn bei diesem Verständnis von Objektivität kommt es den mathematischen Objekten an sich zu, diese Objekte zu sein. 2. Mathematik als (quasi)-empirische Wissenschaft, bei der Objekte stets gedankliche Objekte sind, die maximal an empirischen Realisaten exemplifiziert werden können. Man denke beispielsweise an den Begriff „Gerade“ (Struve, 1990): Eine Gerade lässt sich als unendlich lange Linie nicht an eine Tafel zeichnen, ohne einen Idealisierungsprozess zu durchlaufen, der nicht zeichnerisch realisierbar ist (denn würde man die Tafel verlängern, so ergibt sich, wenn man die Erdkugel einmal umrundet hat, letztlich ein Kreis). Das objektiv Wahre in der Mathematik kann daher als eine normative Festsetzung verstanden werden. Diese Festsetzung geschieht in der Regel durch die bzw. in der mathematischen Community (s. Heintz 2000). In diesem Sinn ist Objektivität immer auch als eine sich empirisch bestätigende, intersubjektive Objektivität zu fassen, die sich der gesetzten Maßstäbe der Vergangenheit anpassen muss. Mathematisches Wissen kann daher nur vorläufige Gültigkeit besitzen und ist daher einem ständigen Prozess unterworfen. Mathematische Theorien werden entwickelt, Korrekturen werden vorgenommen. Sie werden angepasst und möglicherweise auch verworfen. Dabei müssen sich diese Theorien im Sinne einer intersubjektiven Objektivität im Rahmen der mathematischen Community messen lassen. In diesem Sinne ist der Gegenstand des Fürwahrhaltens nicht zwangsläufig etwas Wahres, sondern ganz allgemein ein mathematischer Sachverhalt bzw. die Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhalts in einem bestimmten Kontext. Dies ist auch deshalb sinnvoll, da in der Lehr-LernRealität Lernende Sachverhalte für wahr halten können, die nicht im Sinne Kants objektiv wahr sind; beispielsweise, wenn ein mathematischer Satz aus Sicht des Lernenden nicht anwendbar ist oder ein Lernender annimmt, dass die Innenwinkelsumme eines Dreiecks nicht 180° beträgt. Es ist innerhalb dieser Kontexte durchaus möglich, dass dieser Lernender den Sachverhalt, dass die Innenwinkelsumme eines Dreieckes 360° ist, für wahr hält, sofern er entsprechend subjektiv zureichende inhaltliche Gründe hat oder als für andere als zureichend inhaltliche Gründe wahrnimmt. Wobei es auch möglich ist, dass ein Lernender dies für wahr hält,

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

ohne entsprechende zureichende Gründe zu haben. Der Begriff Sachverhalt ist bewusst so offen gewählt, auch wenn es in einer Vielzahl von Interaktionsverläufen möglich sein könnte, diesen Sachverhalt etwa auf einen mathematischen Satz oder die Anwendbarkeit dieses Satzes zu konkretisieren. Zudem ermöglicht die Weite des Begriffes Sachverhalt eine gewisse Unvoreingenommenheit bzgl. der fürwahrgehaltenen Sachverhalte (s. dazu auch Kapitel 4 Methodologie). Es gilt zu betonen, dass die zureichenden Gründe vielfältig sein können. So könnten möglicherweise auch emotionale oder affektive Gründe für ein Fürwahrhalten verantwortlich sein. Diese werden in dieser Arbeit nicht fokussiert. Anstelle dessen werden die Gründe als inhaltliche Gründe aufgefasst. Dies hat verschiedene Ursachen, die im Rahmen des methodischen und methodologischen Teils aufgegriffen werden. Vorwegnehmend sei in Kürze gesagt: Der Gegenstandsbereich dieser Arbeit ist der Mathematikunterricht. In einem Mathematikunterricht geht es vornehmlich um inhaltliche Aspekte. Zudem sind inhaltliche Gründe zumindest aus interpretativer Sicht rekonstruierbar und lassen einen Rückschluss auf fachspezifische Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend zu (s. dazu ausführlich Kapitel 4.5). Zudem wird mit Blick auf die begriffliche Fassung von Überzeugung und seine interaktionistische und systemische Wendung deutlich werden, dass das Interaktionsgeschehen keineswegs ausgeklammert wird (vgl. Kapitel 3.5 und 3.6). Zusammenfassend wird der Begriff der Überzeugung an dieser Stelle als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes aus subjektiv zureichenden, also Gründen, die für das Individuum selbst zureichend sind, und/oder Gründen, die vom Individuum als für andere als zureichend wahrgenommen werden, gefasst. Anstelle der Konjunktion, bei der nur dann von Überzeugung gesprochen wird, wenn subjektive zureichende Gründe und Gründe, die vom Individuum als für andere als zureichend wahrgenommen werden, zusammenfallen, tritt eine Disjunktion. So ist auch dann von Überzeugung die Rede, wenn nur subjektiv zureichende Gründe für das Fürwahrhalten vorhanden sind. Der Begriff der objektiv zureichenden Gründe im Sinne einer intersubjektiven Objektivität wird an dieser Stelle zugunsten der Formulierung als für andere als zureichend wahrgenommen

3.2 Fürwahrhalten und zureichende Gründe

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ersetzt. Hauptgrund für diese sprachliche Ersetzung ist die Wendung des Objektivitätsverständnisses im Sinne einer intersubjektiven Objektivität. Weiter ist die vielfältige, teils auch unpräzise Verwendung von Objektivität und die damit einhergehende Vermeidung von Missverständnissen als Grund für die Nutzung dieser Formulierung anzuführen. Zudem macht diese Formulierung bereits deutlich, dass Überzeugung vom Individuum aus relativ zu zureichenden inhaltlichen Gründen gedacht wird. Damit wird auch klar, dass der/die Interaktionspartner des Lernenden innerhalb eines Interaktionsgeschehens nicht zwangsläufig zureichende inhaltliche Gründe besitzen muss/müssen. Es ist vielmehr relevant, ob diese Gründe sich im Rahmen des Interaktionsgeschehens bewähren und somit vom Lernenden als für andere als zureichend wahrgenommen werden. In diesem Sinne folgt die Formulierung dem bereits oben beschriebenen Objektivitätsverständnis als intersubjektive Objektivität. 3.3

Modi und Kategorien des Fürwahrhaltens in Abhängigkeit der Gründe

Wie bereits die begriffliche Fassung erahnen lässt, kann es verschiedene Kategorien des Fürwahrhaltens geben, jeweils in Abhängigkeit davon, ob subjektive Gründe bzw. Gründe, die vom Individuum als für andere als zureichend wahrgenommen, relevant sind. Kant hat diese Kategorien als Modi des Fürwahrhaltens bezeichnet und drei Modi beschrieben (s. KrV A 822/B 850). Das Meinen, das Glauben und das Wissen (s. Tabelle 3.1). Modus Meinen Glauben Wissen

Subjektiv zureichende Gründe Nein Ja Ja

als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe Nein Nein Ja

Tabelle 3.1: Modi des Fürwahrhaltens nach Kant

Diese Modi werden ebenfalls in der Kritik der reinen Vernunft und in den Logikvorlesungen von Kant behandelt. Ein Individuum befindet sich im ersten Modus, dem Meinen, wenn es sowohl keine subjektiv zureichenden

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Gründe für das Fürwahrhalten besitzt als auch keine Gründe wahrnimmt, die für andere zureichend sind. Der Modus des Glaubens ist ein Fürwahrhalten rein aus subjektiv zureichenden Gründen. Was die Gründe, die bei anderen wahrgenommen werden, betrifft, kann es in diesem Modus sein, dass das Individuum keine Gründe bei anderen wahrnimmt, oder aber, dass die möglicherweise vorhandenen Gründe vom Individuum als für unzureichend wahrgenommen werden. Die Gründe für das Fürwahrhalten gelten also lediglich für das Individuum selbst als zureichend. Letztlich gestaltet sich der Modus des Wissens als ein Fürwahrhalten aus ebenso subjektiv zureichenden Gründen wie auch als für andere als zureichend wahrgenommen Gründen (vgl. Kant KrV A 822/B 850). 3.4

Probleme für die Lehr-Lern-Realität und Andeutung einer Lösung

Im Rahmen dieser Arbeit sollen die von Kant genutzten Modi für die LehrLern-Realität nutzbar gemacht werden. Dies ist allerdings nicht nur mit Blick auf die von Kant verwendeten Begrifflichkeiten problematisch, wie bereits beim Objektivitätsverständnis deutlich wurde, das zugunsten einer intersubjektiven Objektivität interpretiert worden ist. Die Probleme äußern sich auch darin, dass insbesondere Kants Kritik der reinen Vernunft nicht als ein Beitrag zur Pädagogik, sondern wie bereits verdeutlicht wurde als ein Beitrag zur Erkenntnistheorie zu verstehen ist. Kant setzt zudem einen vernunftgebrauchenden Menschen voraus. Vernunft ist dabei für Kant die oberste Erkenntniskraft, „welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält.“ (Kant, KrV A 11) Ein vernunftgebrauchender Lernender ist in pädagogischen Kontexten allerdings nicht zwangsläufig immer der Fall (auch wenn bei der interpretativen Rekonstruktion von einem rational handelnden Lernenden ausgegangen wird). So kann es in LehrLern-Kontexten durchaus sein, dass ein Lernender den mathematischen Sachverhalt, beispielsweise das 0,1 ⋅ 0,1 = 0,01 ist, für

3.4 Probleme für die Lehr-Lern-Realität und Andeutung einer Lösung

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wahr hält, ohne dafür subjektiv zureichende Gründe, also Gründe, die für ihn selbst zureichend sind, besitzt. Ob man an dieser Stelle von einem Meinen (nach Kant) oder einem vierten Modus spricht, ist davon abhängig, ob für andere Interaktionspartner Gründe existieren, die von diesem Lernenden als zureichend wahrgenommen werden und sich damit im jeweiligen Interaktionsgeschehen bewähren. An dieser Stelle wird bereits ein weiteres Problem deutlich. Das Kantsche Begriffsnetz ist nicht interaktionistisch ausgerichtet. Bereits beim Objektivitätsverständnis war eine entsprechende Interpretation notwendig, um objektiv zureichende Gründe für die empirische Lehr-Lern-Realität nutzbar zu machen. Entsprechend wird etwa die interaktionistische Aushandlung von Gründen bei Kant nicht thematisiert. Hinzu kommt, wie bereits gezeigt wurde, die Verbindung von Überzeugung und Wahrheit. Für Kant ist Wahrheit „die Übereinstimmung des Denkens mit Gegenstand.“ (Eisler 1984, S. 590) Dies ist insofern problematisch, wie mit Blick auf die Frage nach Objektivität und Mathematik als Wissenschaft verdeutlicht wurde, dass eine solche Übereinstimmung, wenn überhaupt eine intersubjektiv festgelegte Übereinstimmung sein kann. Es scheint daher sinnvoll den strengen Wahrheitsbegriff von der Überzeugung zu entkoppeln. Auch weil Lernende mathematische Sachverhalte für wahr halten können, die im Sinne einer intersubjektiven Objektivität nicht wahr sind. Diese Probleme der interaktionistischen Aushandlung von Gründen und der Entkopplung vom Wahrheitsbegriffs werden in den Kapiteln 3.5 und 3.6 mithilfe einer interaktionistischen und systemischen Wendung gelöst. Des Weiteren sind die Begriffe Glauben und Wissen mindestens alltagsprachlich auch wissenschaftlich mehrfach belegt. Beispielsweise in der Unterscheidung von angeborenem und erworbenem Wissen durch Chomsky (1965). An dieser Stelle ließen sich noch viele weitere Verwendungsweisen des Begriffs Wissen anführen (Hume, Popper…). Eine Verwendung der Begriffe Meinen, Glauben und Wissen scheint mir daher problematisch. Denn es könnte zurecht nach einer differenzierten Verwendungsweise gefragt werden, die diese Arbeit gar nicht leisten kann bzw. möchte.

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Um zumindest einen Teil der Probleme zu lösen, werden in diesem Kapitel zwei Dinge vorgeschlagen: 1. Ein vierter Modus wird ergänzt. 2. Die Tabelle 3.1 wird mithilfe der von Kant in KrV A 820/B 848 verwendeten Begrifflichkeiten um eine Spalte ergänzt (s. Tabelle 3.3). Tabelle 3.2 zeigt auf, dass ein vierter Modus von Kant möglicherweise bewusst nicht mitaufgenommen worden ist. Der Modus, bei dem das Individuum für sein Fürwahrhalten keine subjektiv zureichenden Gründe hat, allerdings vom Individuum als für andere als zureichende Gründe wahrgenommen werden. Quasi folgender Modus: Modus

Subjektiv zureichende Gründe

?

Nein

als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe Ja

Tabelle 3.2: Der vierte Modus

Aus theoretischer und auch aus Lehr-Lern-Perspektive scheint die Ergänzung eines solches Modus sinnvoll, da sich durchaus Situationen ergeben können, in denen Lernende einen mathematischen Sachverhalt für wahr halten, ohne dafür selbst zureichende Gründe zu haben, allerdings etwa bei der lehrenden Person wahrnehmen, dass ein Grund für diese Person zureichend ist. Dieser Modus wird in dieser Arbeit als Hinnehmen bezeichnet. Wie bereits oben betont, kann die Nichtberücksichtigung des vierten Modus von Kant vermutlich daran liegen, dass er (a) keinen Beitrag zur Wissenschaft der Pädagogik leisten wollte, da seine Werke kaum Bezüge zur Pädagogik aufweisen und (b) der vierte Modus ihm möglicherweise unvernünftig erschien. Die Tabellen 3.1 und 3.2 können mithilfe der von Kant in KrV A 820/B 848 verwendeten Begrifflichkeiten um eine Spalte ergänzt werden, die die Art der Überzeugung entsprechend des Fürwahrhaltens kategorisiert (s. Tabelle 3.3). Dies geschieht insbesondere, um sich von den mindestens alltagsprachlich verwendeten und damit teils missverständlichen Begrifflichkeiten abzugrenzen.

3.4 Probleme für die Lehr-Lern-Realität und Andeutung einer Lösung

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Die Kategorisierung des Modus Meinen wird mit dem selbst gewählten Begriff des (inhaltsbezogenen) Vertrauens gefasst. Wenn wir alltagsprachlich auf etwas vertrauen, so muss dafür keine inhaltliche Einsicht für diese Handlung zu Grunde liegen. Laut Duden bezeichnet Vertrauen ein „festes Überzeugtsein von der Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit einer Person, Sache.“ (Dudenredaktion 2018) Das Glauben wird der subjektiven Überzeugung zugeordnet, da es sich hierbei um ein Fürwahrhalten aus subjektiv zureichenden Gründen handelt. Das Wissen, das nicht das Wissen im Rahmen eines objektiven Wissensbegriffs meint, wird als systemisch-interaktive Überzeugung gefasst. Der vierte ergänzte Modus, wird als Überredung bezeichnet. Daraus folgt folgende Tabelle: Modus

Subjektiv reichende Gründe

zu-

Meinen Glauben

Nein Ja

als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe Nein Nein

Wissen

Ja

Ja

Hinnehmen

Nein

Ja

Kategorie

Vertrauen subjektive Überzeugung systemisch-interaktive Überzeugung Überredung

Tabelle 3.3: Modi und Kategorien des Fürwahrhaltens

An dieser Stelle sei nochmals daran erinnert, dass es sich im Rahmen dieses Begriffsnetzes um inhaltliche Gründe handelt. Betrachtet werden inhaltliche Gründe, denn es wird das inhaltliche Verständnis von Lernenden fokussiert, um genau dieses nachträglich beispielsweise in der Dissertation nachfolgenden Projekten optimal fördern zu können. Es reicht folglich nicht innerhalb dieses Begriffsnetzes, dass ein Lernender durch seine Lehrkraft überredet wird, ohne dass dafür inhaltliche Gründe wahrgenommen, oder transparent, ausgehandelt und expliziert werden. Dann wären

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

es möglicherweise soziale Gründe, die in dieser Arbeit allerdings nicht fokussiert werden. Ein solches Überreden wird hier, wie in Tabelle 3.3 sichtbar wird, im Sinne von Hinnehmen aufgefasst. Wenn das Individuum also mindestens inhaltlich zureichende Gründe bei anderen Interaktionspartnern wahrnimmt. Hinzu kommt die Frage, wann ein Grund ein zureichender Grund ist. Die Indizien, die sich möglicherweise dazu eignen einen Grund als zureichend zu identifizieren, werden erst im empirischen Teil ausgearbeitet. Zudem muss betont werden, dass die subjektiv zureichenden Gründe und die Gründe, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, nicht zwangsläufig die gleichen Gründe sein müssen. Der Begriff der Überzeugung kann in einer Transformation des Kantschen Überzeugungsbegriffs, als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes abhängig von inhaltlich zureichenden Gründen gefasst werden. In Abhängigkeit davon, ob diese inhaltlichen Gründe subjektiv zureichend sind oder als für andere als zureichend wahrgenommen werden, sind vier Kategorien (s. Tabelle 3.3) möglich.

3.5

Die interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes

Bereits im vorherigen Kapitel klingt an, dass Überzeugung Teil eines Interaktionsgeschehens ist. Daher folgt nun zunächst die notwendige interaktionistische und in einem zweiten Schritt die systemische Wendung des ausgehend von Kants Theorie erarbeiteten Überzeugungsbegriffs. Diese beiden Wendungen werden in einem dritten Schritt zusammengeführt. Es gibt zwei Hauptgründe für die notwendige interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes. Zunächst müssen theoretische Begriffsnetze, und damit auch das hier ausgehend von Kant entwickelte Begriffsnetz zur Überzeugung an der empirischen Lehr-Lern-Realität bezüglich ihrer Tragfähigkeit und ihrer Wirksamkeit überprüft werden, sofern diese der Beschreibung von Lehr-Lern-Prozessen dienen sollen.

3.5 Die interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes

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Andernfalls bliebe dieses Begriffsnetz aus theoretischer Perspektive möglicherweise interessant, in seiner Aussagekraft bezüglich der Beschreibung von Lehr-Lern-Prozesse eher beschränkt. Unmittelbar davon abhängig ist der zweite Grund. Lehr-Lern-Prozesse geschehen in Interaktionsprozessen (vgl. Voigt 1984, Krummheuer 1992, Steinbring 2000, Meyer 2007, usw.). Ohne eine interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes wäre eine interpretative Rekonstruktion der Lehr-Lern-Prozesse mithilfe dieses Begriffsnetzes nicht möglich (s. Kapitel 4). Die interaktionistische Wendung geschieht mit Blick auf Herbert Blumer (1900-1987), der US Football Spieler, Schüler von George Herbert Mead und ebenso wie er Soziologe war. Blumer hat die Handlungstheorie bzw. -perspektive des Symbolischen Interaktionismus wesentlich entwickelt, geprägt und verbreitet. Dabei geht Blumer davon aus, dass Interaktion und Kommunikation symbolisch vermittelte Prozesse sind, aus denen die Bedeutung von Dingen hervorgeht. Als Grundlage dienen Blumer dabei Überlegungen von Mead, der den Menschen als soziales Wesen annimmt, wobei die Entwicklung des Menschen als soziales Wesen im Wesentlichen von Interaktion und Kommunikation abhängig ist. Blumers Theorie geht von drei Prämissen aus: „Die erste Prämisse besagt, dass Menschen „Dingen“ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. [...] Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.“ (Blumer, 1981, S. 81) Die Perspektive des Symbolischen Interaktionismus wurde von zahlreichen Mathematikdidaktikern aufgegriffen und nutzbar gemacht. Voigt (1984) hat in seiner Dissertation die Grundmerkmale der Interaktion im fra-

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

gend-entwickelnden Unterricht herausgearbeitet. Dazu gehören die Interaktionsmuster und Routinen im Unterricht. Dafür hat Voigt den symbolischen Interaktionismus (und die Ethnomethodologie) als grundlegende „Perspektive auf konkretes zwischenmenschliches Handeln“ (Voigt 1984, S. 5) genutzt. Aus methodologischer Hinsicht wurde der Symbolische Interaktionismus unter anderem von Schwarzkopf (2000), Meyer (2007), Krumsdorf (2017) und Kunsteller (2018) genutzt. Sie nutzen diese Sichtweise, um deutlich zu machen, „wie zwischen Menschen Intersubjektivität (und nicht notwendigerweise Objektivität) entsteht.“ (Meyer 2007, S. 99), und damit letztlich als Grundlage für die Rekonstruktion und Interpretation von Interaktionsprozessen. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Symbolische Interaktionismus als grundlegende Perspektive für die interaktionistische Wendung des in Kapitel 3 dargestellten Überzeugungsbegriffes genutzt. Damit wird zum einem darauf Bezug genommen, dass Lernprozesse in Interaktionsprozessen ablaufen. Zum anderen wird damit ermöglicht, aufzuzeigen, in welcher Weise Überzeugung in der Interaktion als eine Überzeugung im Werden zu fassen ist. Denn Voigt (1984) hat deutlich gemacht, dass Interaktion ein „sich formender Prozeß ist.“ (ebd., S. 6) Und wenn Überzeugung bzw. das Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. dessen Anwendbarkeit und die entsprechenden Gründe aus der sozialen Interaktion entstehen, dann kann eine solche Überzeugung bzw. Überzeugtsein ebenfalls nur ein sich formender Prozess sein. Beim obigen Zitat von Blumer sind drei Dinge entscheidend. Die „Dinge“, das „Handeln“ und die „Bedeutung“, die aus der sozialen Interaktion „abgeleitet ist oder aus ihr entsteht.“ (ebd.) Diese drei Prämissen lassen sich auf den Überzeugungsbegriff und das entsprechende Fürwahrhalten in Abhängigkeit von Gründen beziehen. Das Ding ist der mathematische Sachverhalt, die Handlung das Fürwahrhalten, das in unmittelbarem Bezug zu diesem mathematischen Sachverhalt gesetzt wird und die Bedeutung kann mit den entsprechenden zureichenden Gründen“ in Verbindung gesetzt werden. In einer Übersetzung könnten die drei Prämissen Blumers wie folgt in Bezug auf den Überzeugungsbegriff umformuliert und transformiert werden:

3.5 Die interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes

31

1. Personen halten einen mathematischen Sachverhalt auf der Grundlage inhaltlicher Gründe, die sie für das Fürwahrhalten relativ zu diesem mathematischen Sacherhalt besitzen bzw. wahrnehmen, für wahr. Diese inhaltlichen Gründe können subjektiv zureichend sein und/oder als für andere als zureichend wahrgenommen werden. 2. Die inhaltlichen Gründe im Bezug zum Fürwahrhalten und damit auch das Fürwahrhalten des mathematischen Sachverhaltes werden aus der sozialen Interaktion, die eine Person mit Mitmenschen eingeht, abgeleitet bzw. entstehen aus dieser Interaktion. 3. Die inhaltlichen Gründe werden in einem interpretativen Prozess, den eine Person in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Fürwahrhalten zu dem mathematischen Sachverhalt und den entsprechenden inhaltlichen Gründen eingeht, benutzt, gehandhabt und abgeändert. Überzeugung, bzw. das Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. dessen Anwendbarkeit, darf dabei in keiner Weise als ausschließlich als Produkt aus inhaltlichen Gründen verstanden werden, wie bereits mit Blick auf das Zitat von Voigt (1984) zum „sich formende[n, M.M.] Prozeß“ (S. 6) deutlich wird. Es existieren in Interaktionsprozessen und damit auch in der interaktiven Auseinandersetzung mit dem Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes relativ zu den inhaltlichen Gründen keine Automatismen, bei denen inhaltlichen Gründe unmittelbar zu Überzeugungen führen und umgekehrt. Voigt (ebd.) hat dies wie folgt formuliert: Es ist „also nicht möglich, die Interaktion in Analogie zum vorausberechenbaren physikalischen Geschehen mit bestimmten Anfangswerten zu verstehen.“ (ebd.) Es ist übertragen auf das Verhältnis von Fürwahrhalten und inhaltlichen Gründen nicht so, dass im Rahmen eines Interaktionsgeschehens nur Gründe hineingegeben werden müssen und der Lernende automatisch die Gründe als zureichend erkennen wird, um einen mathematischen Schachverhalt fürwahrzuhalten.

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Vielmehr handelt es sich um ein sich stetig aktualisierendes Interaktionsgeschehen, bei dem der Lernende Gründe zunächst überhaupt wahrnehmen und diese dann auch als zureichend anerkennen muss. Aktualisierend meint dabei, dass sich das Interaktionsgeschehen in Abhängigkeit der Interaktionen stetig verändert. Diese Veränderung kann zu einer Fortführung der Interaktion oder in gewisser Weise auch zu einem Abbruch führen, je nach Verlauf der Interaktion. In jedem Moment der Interaktion können inhaltliche Gründe entstehen bzw. aus dieser Interaktion abgeleitet werden (s. Prämissen 2 und 3), die wiederum das Fürwahrhalten bedingen. Aber auch andersherum können aus dem Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. dessen Anwendbarkeit im Rahmen einer Interaktion inhaltliche Gründe verändert oder neu entwickelt werden. So kann ein Lernender beispielsweise in einem Moment für wahr halten, dass die Innenwinkelsumme eines Dreiecks 360° ist. Im nächsten Moment der Interaktion ist es allerdings möglich, dass der Lernende beispielsweise einen Grund kreativ abduziert (s. Meyer 2007), oder den mathematischen Sachverhalt, den er subjektiv für gültig hält, empirisch prüft (s. Rey 2018). Denkbar ist auch, dass der Lernende im Rahmen der Interaktion bei seinem Interaktionspartner keine zureichenden Gründe für sein Fürwahrhalten wahrnimmt und dadurch inhaltlichen Gründe neu entwickelt oder abändert oder sein Fürwahrhalten verändert. So wäre es ebenfalls möglich, dass er beispielsweise durch die Interaktion nun für wahr hält, dass das die Innenwinkelsumme eines Dreiecks 180° beträgt. So kann aus dem Fürwahrhalten durch die Interaktion und die entsprechenden inhaltlichen Gründe ein anderes Fürwahrhalten werden oder aber es können andere bzw. neue inhaltlichen Gründe entwickelt werden, die für das bisherige Fürwahrhalten zureichend sind. Da sich diese Momente im Rahmen des Interaktionsgeschehens stetig aktualisieren, also nur für einen einzelnen Moment stabil sind, bis sie wieder zerfallen, sich ändern, entwickeln oder aus diesen Momenten wiederum neue Interaktionen abgeleitet werden, kann das Verhältnis zwischen Fürwahrhalten und inhaltlichen Gründen nur als prozesshaftes Wechselspiel verstanden werden und Überzeugung lässt sich damit ebenso nur als prozesshaftes Geschehen verstehen. Das Fürwahrhalten des mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen

3.5 Die interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes

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Sachverhaltes bedingt die inhaltlichen Gründe und umgekehrt. Auch wenn das Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes und die inhaltlichen Gründe zumindest aus methodologischer Sicht künstlich trennbar sind, so sind sie es in der empirischen Lehr-Lern-Realität nicht (s. dazu beispielsweise Kapitel 5.1). Diese gegenseitige Bindung und Bedingung wird als Kopplung bezeichnet. Mit Blick auf das prozesshafte Wechselspiel von Fürwahrhalten und inhaltlichen Gründen zur Überzeugung wird auch deutlich, dass die in Kapitel 3.3 beschriebenen Kategorien des Fürwahrhaltens ebenfalls im Rahmen eines Interaktionsprozesses in doppelter Weise eingebettet werden müssen. Zum einen ist es für die jeweiligen Einzelmomente des Interaktionsgeschehens aus theoretischer Perspektive potenziell möglich, interpretativ zu bestimmen, in welcher Kategorie des Fürwahrhaltens sich Lernende zu diesem Moment befinden könnte. Zum anderen können sich die Kategorien des Fürwahrhaltens relativ zu den inhaltlichen Gründen, die in der Interaktion in einem interpretativen Prozess ausgehandelt, benutzt, gehandhabt und abgeändert werden, verändern. Aus theoretischer Perspektive sind im Rahmen der Interaktion beispielsweise folgende Interaktionsmomente denkbar. 1. Es ist denkbar, dass sich für den Lernenden vormals subjektiv zureichenden Gründe für ein Fürwahrhalten als unzureichend erweisen. Er befand sich also in der Kategorie der subjektiven Überzeugung. Nun wären folgende Situationen aus theoretischer Perspektive möglich. a. Es entwickeln sich andere subjektiv zureichende inhaltliche Gründe, die das bisherige Fürwahrhalten aufrechterhalten. Möglicherweise kann man dem Lernenden in diesem Moment die Kategorie der subjektiven Überzeugung zuweisen. b. Anstelle des bisherigen Fürwahrhaltens tritt ein neues Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes, das von entsprechend anderen bzw. abgeänderten inhaltlichen zureichenden Gründen abhängig ist. Hierbei wäre

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

dann die Art der Gründe, also ob diese subjektiv zureichend oder als für andere als zureichend wahrgenommen sind, entscheidend in welcher Kategorie sich der Lernende befindet. c.

Der Lernende hält den mathematischen Sachverhalt trotz sowohl subjektiv unzureichender Gründe als auch als für andere als unzureichend wahrgenommen Gründen für wahr. In diesem Fall würde er sich möglicherweise in der Kategorie des Vertrauens befinden.

2. Auch ist es möglich, dass sich ein subjektiv zureichender Grund im Interaktionsgeschehen bewährt und als ein für andere zureichender Grund wahrgenommen wird. Möglicherweise könnte es hierbei von einer subjektiven Überzeugung zu einer systemisch-interaktiven Überzeugung gekommen sein. Diese Beispiele sind bei weitem nicht vollständig und sollen es auch gar nicht sein. Sie sollen nur andeuten welche Situationen aus theoretischer Perspektive möglich sind. In der empirischen Analyse gilt zu betrachten, welche Situationen rekonstruierbar sind. Eine Situation soll allerdings nochmals gesondert betrachtet werden. Es können vom Lernenden auch Dinge für falsch gehalten werden, die mindestens mit Blick auf eine intersubjektive Objektivität wahr sind; wenn ein Lernender etwa die Aussage 2+4=6 für falsch hält. Diese Situation kann im Sinne eines tertium non datur als ein Fürwahrhalten von etwas Gegenteiligem angenommen werden. Der Lernende hält also aus beispielsweise subjektiv zureichenden Gründen für wahr, dass die Aussage 2+4=6 falsch ist. In diesem Sinne wäre es möglich, sofern er die Gründe von anderen Interaktionsteilnehmern als unzureichend wahrnimmt, dass er subjektiv überzeugt ist, dass 2+4=6 eine falsche Aussage ist. Insofern muss die Situation des Fürfalschhaltens nicht gesondert betrachtet werden, sondern kann als ein Fürwahrhalten des Gegenteiligen interpretiert werden. Zusammengefasst wird mithilfe der interaktionistischen Wendung der Überzeugungsbegriff und sein Fürwahrhalten in Abhängigkeit der inhaltli-

3.5 Die interaktionistische Wendung des theoretischen Begriffsnetzes

35

chen Gründe so gewendet, dass eine Anwendung auf die Lehr-Lern-Realität zumindest aus theoretischer Perspektive ermöglicht wird. Dabei muss insbesondere beachtet werden, dass es keinen Automatismus zwischen Gründen und dem Fürwahrhalten gibt, sondern sich dieses prozesshafte Wechselspiel aus Fürwahrhalten und inhaltlichen Gründen in einer Interaktion stetig aktualisiert. Somit lässt sich Überzeugung möglicherweise in bestimmten Momenten einer Interaktion als ein Überzeugtsein auffassen, muss aber im Gesamtprozess der Interaktion als eine Überzeugung im Werden gefasst werden.

3.6

Die systemische Wendung

„Die systemische Denkweise betrachtet einzelne Teile eines kontextuellen Systems nicht für sich, in den Blickpunkt rückt vielmehr die Gesamtheit der interagierenden Komponenten.“ (Krüssel 1993, S. 94)

Die systemische Wendung versteht sich in vielen Punkte in dieser Arbeit als Ergänzung und Vertiefung der interaktionistischen Wendung. Etwa wenn es um die Frage nach dem sich aktualisierenden Interaktionsgeschehen geht oder um die Frage, inwieweit bestimmte Systeme möglicherweise das Wechselspiel aus Fürwahrhalten und inhaltlichen Gründen prägen, denn innerhalb der interaktionistischen Wendung werden keine Systeme betrachtet. Dabei muss beachtet werden, dass verschiedene Systeme potenziell gleichberechtigt sind, was die Aushandlung von neuer Bedeutung betrifft. Allerdings existieren in unterschiedlichen Systemen auch unterschiedliche Strukturen, die möglicherweise genau diese Aushandlung von Bedeutungen und Gründen prägen. So wird sich in diesem Teilkapitel ebenfalls intensiver damit auseinandergesetzt, wie sich Gründe, die vom Lernenden als für andere als zureichend wahrgenommen werden, aus theoretischer Perspektive fassen lassen. Zudem trägt die systemische Wendung dazu bei, das Fürwahrhalten vom objektiven Wahrheitsbegriff und damit dem Wahrheitsverständnisses Kants weiter zu entkoppeln. Sie bietet aber auch einen Anschlusspunkt an den im Kapitel 4.2 entwickelten Inklusionsbegriff.

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Für diese systemische Wendung werden Ansätze aus Niklas Luhmanns Systemtheorie genutzt. Niklas Luhmann (1927 – 1998) war ein Soziologe und Gesellschaftstheoretiker. Luhmann (1997) hat seine Arbeit einmal wie folgt beschrieben: "Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine." (S. 11) Sein Anspruch war es eine universalistische soziologische Theorie zu entwickeln, um diese Soziologie mit einem von ihm entwickelten Begriffsapparat zu beschreiben. Sein Hauptwerk Soziale Systeme ist erstmals 1984 erschienen und kann als ein Paradigmenwechsel hin zur Theorie autopoietischer Systeme bezeichnet werden (vgl. Kneer & Nassehi 1993, S. 12). System wird dabei von Luhmann (1991) wie folgt gefasst: „Von System im Allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde. Zuweilen wird auch die Einheit der Gesamtheit solcher Merkmale als System bezeichnet.“ (S. 15) Luhmann unterscheidet dabei zahlreiche Systeme. Unter anderem biologische, soziale und psychische Systeme und Maschinen (s. ebd.), wobei sich Luhmann ausgehend von den Überlegungen zur Allgemeinen Systemtheorie in besonderer Weise mit der Beschreibung der sozialen Systeme auseinandersetzte, um eine „für die Soziologie fachuniversale Theorie zu formulieren.“ (Kneer & Nassehi, 1993, S. 33) Sein Verhältnis zur Pädagogik kennzeichnet Luhmann wie folgt: „Man kann das auch für Erziehungssysteme thematisieren. Ich habe erheblichen Widerstand bei Pädagogen geerntet, als ich ihnen erklärte, dass sie ihre Schüler wie triviale Maschinen erziehen wollen, wenn diese auf bestimmte Fragen richtige Antworten geben müssen. Wenn die Antwort falsch ist, ist sie falsch, wenn sie richtig ist, ist sie richtig. Wenn sie falsch ist, hat die Maschine einen Fehler, wenn sie richtig ist, ist es gut. In dem System ist nicht vorgesehen, dass der Schüler zum Beispiel die Frage infrage stellt oder kreative Auswege sucht, also die mathematischen Formeln auf ihre Ästhetik hin betrachtet, wie konkrete Poesie auf dem Blatt

3.6 Die systemische Wendung

37

verteilt oder etwas macht, was sich nur erklären lässt, wenn man weiß, in welchem Zustand er sich gerade befindet.“ (Luhmann 2008, S. 98/99) Luhmann hat mit Blick auf die Pädagogik deutlich gemacht, dass Lernende „nichttriviale Maschinen“ sind, wobei er nichttriviale Maschinen wie folgt beschreibt: „Nichttriviale Maschinen hingegen schalten immer ihren eigenen Zustand und stellen zwischendurch Zwischenfragen, […] um erst dann den Output zu erzeugen. Es ist eine selbstreferentielle Schleife eingebaut.“ (Luhmann 2008, S. 98) Weiter zeigt Luhmann auf, dass „weder die Individuen noch das Interaktionssystem des Unterrichts […] Trivialmaschinen [sind, M.M.], die, wenn man den richtigen Input eingibt, die gewünschten Resultate liefern.“ (Luhmann 2002, S. 157) Steinbring (1998, 2000, 2009, 2013) hat Ansätze der Theorie Luhmanns für die mathematikdidaktische Forschung im Sinne einer mathematischen Interaktion aus Sicht der interpretativen Forschung bereits nutzbar gemacht und damit aufgezeigt, dass eine (An)Wendung der (sozialen) Systemtheorie prinzipiell möglich ist. In seinem Artikel „Mathematische Bedeutung als eine soziale Konstruktion – Grundzüge der epistemologisch orientierten mathematischen Interaktionsforschung“ nutzt Steinbring (2000) das Luhmannsche Konzept von Kommunikation, um mathematische Interaktionsprozesse in der Wechselwirkung zwischen kommunikativer und epistemologischer Dimension zu analysieren (s. ebd., S. 32). Zudem stellt Steinbring einen Zusammenhang zwischen Kommunikation und dem semiotischen Dreieck nach de Saussure her (vgl. ebd., S. 33 und Steinbring 2009). Weiter hat sich Steinbring mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich Verstehen in der Kommunikation bei mathematischen Interaktionen realisiert, und macht dabei anhand eines Transkriptausschnittes deutlich, wie die grundsätzliche Perspektive von Lernenden als „nicht triviale Maschinen“ „die interpretative Rekonstruktion ihres Verstehens in ihrem rationalen Konnex (,Netzwerk´) begrifflicher Auffassungen und Handlungen“ ermöglicht (Steinbring 2013, S. 64).

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Im Rahmen dieser Arbeit sollen vor allem drei Elemente der Systemtheorie in Verbindung mit dem Überzeugungsbegriff gebracht werden und somit dazu beitragen, diesen Begriff systemisch zu wenden. Daher gilt es zunächst diese drei Elemente zu erklären. 1. Psychische Systeme und Soziale Systeme 2. Strukturelle Kopplung 3. Kommunikation Ein System besteht nach Luhmann im Allgemeinen nicht aus seinen einzelnen Elementen, sondern aus den Beziehungen der Elemente untereinander und dem Verhältnis der Relationen zueinander (Luhmann 1991, S. 41). Ein System ist zudem immer in Differenz zu seiner Umwelt zu sehen. Dabei bedingen sich System und Umwelt gegenseitig (s. Luhmann 1991, S. 35). Als eine der wichtigsten Konsequenzen des System-Umwelt-Paradigmas bezeichnet Luhmann, dass „zwischen der Umwelt eines Systems und dem System in der Umwelt des Systems unterschieden werden muss.“ (Luhmann 1991, S. 37) Innerhalb eines Systems „kann es zur Ausdifferenzierung weiterer System-Umwelt Differenzen kommen.“ (ebd., S. 37). Also jedes System kann Teilsysteme ausdifferenzieren, die für sich ebenfalls eine Umwelt besitzen und bei denen sich jeweils System und Umwelt gegenseitig bedingen. Zudem sind unterschiedliche Systeme füreinander Umwelt. Die im Folgenden relevanten Sozialen und Psychischen Systeme gelten als autopoietische Systeme. Daher bedarf der Begriff der Autopoiesis einer Klärung: „Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Alles, was solche Systeme als Einheit verwenden, ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und sich selbst, wird durch eben solche Einheiten im System erst bestimmt. Oder anders gesagt: es gibt weder Input von Einheit in das System, noch Output von Einheit aus dem System. Das heißt nicht, daß keine Beziehungen zur Umwelt

3.6 Die systemische Wendung

39

bestehen, aber diese Beziehungen liegen auf anderen Realitätsebenen als die Autopoiesis selbst.“ (Luhmann 2005, S. 56) Autopoiesis bedeutet im Wesentlichen zwei Dinge: a) Systeme sind in sich geschlossen und damit autonom. Sie sind aber keineswegs autark, also nicht völlig unabhängig. Denn gerade diese Geschlossenheit ist als Bedingung für ihre Offenheit zu verstehen. b) Die jeweiligen Systeme sind selbstreferenziell. Dies bedeutet, dass sie sich durch ihre eigenen Operationen selbst erzeugen und erhalten. Ihre Komponenten werden in einem stetigen Prozess erzeugt und erhalten. Operationen beziehen sich dabei auf die jeweiligen spezifischen Elemente eines Systems. Psychische und Soziale Systeme sind nach Luhmann solche autopoietischen Systeme. Sie sind folglich Systeme, die in sich geschlossen, aber nicht autark sind. Sie sind also auch auf andere Systeme angewiesen, zwar nicht zu ihrer eigenen Erhaltung, aber um überhaupt zu existieren. Steinbring (1998) hat dies am Beispiel Mathematikunterricht wie folgt beschrieben: „Die Mathematikdidaktik muß beachten, daß es zwischen dem sozialen System Mathematikunterricht mit seinen Kommunikationsstrukturen und dem psychischen System Mathematiklernen der Schüler keine direkten Abhängigkeiten oder unmittelbare Einflußnahmen gibt.“ (S. 163) Allerdings würde es ohne Mathematikunterricht kein Mathematiklernen geben und umgekehrt. Weiter kann es beispielsweise kein soziales System geben, ohne dass es Menschen gibt. Zudem sind es Systeme, die sich durch ihre Operationen erzeugen und erhalten. In psychischen Systemen, die auch als Bewusstseinssysteme bezeichnet werden können (vgl. Kneer & Nassehi 1993 S. 57), sind diese Operationen Gedanken. „Gedanken oder Vorstellungen sind Ereignisse, also Elemente, die im Moment ihres Auftauchens bereits wieder verschwinden. Ein Gedanke erscheint, aber schon im nächsten Moment taucht er unter und wird durch einen neuen Gedanken ersetzt. Das Bewußtsein hat es also mit dem Dauerzerfall seiner Elemente zu tun. Es hangelt sich von Bewußtseinszustand zu Bewußtseinszustand, von Gedanke zu Gedanke. Luhmann begreift das Bewußtsein als

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

autopoietisches System, weil es damit beschäftigt ist, ständig neue Gedanken hervorzubringen“ (Kneer & Nasseh, 1993 S. 60). Psychische Systeme bestehen und erhalten sich entsprechend durch Gedanken. Ein Gedanke folgt auf einen anderen. Soziale Systeme hingegen sind dadurch gekennzeichnet, dass „sie [sich dadurch, M.M.] reproduzieren, daß sie fortlaufend Kommunikation an Kommunikationen anschließen.“ (Kneer & Nassehi 1993, S. 65) Innerhalb von sozialen Systemen schließt Kommunikation sich an Kommunikation an. Und auch wenn Luhmann betont, „Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren“ (Luhmann 1992, S. 31), so sind für Kommunikation „immer mindestens zwei Menschen und damit eine Mehrheit von organischen, neuronalen und psychischen Systemen“ notwendig (Kneer&Nassehi 1993, S. 68). Doch was ist dann damit gemeint, dass der Mensch nicht kommunizieren könne? Nach Luhmann sind psychische und soziale Systeme in sich geschlossene autopoietische Systeme. Zum einem wird damit deutlich, dass es keine direkte Verbindung zwischen zwei psychischen Systemen geben kann. Zum anderen wird aber auch klar, dass ein direkter kommunikativer Austausch über Gedanken nicht möglich ist. Denn die jeweiligen Systeme sind in sich geschlossen und damit füreinander Umwelt. Umgangssprachlich ausgedrückt kann ein Lernender nicht in den Kopf seines Interaktionspartners schauen. Er kann also nicht die Gedanken des psychischen Systems des anderen Interaktionspartners lesen und damit bezogen auf das Fürwahrhalten und die Gründe auch nicht unmittelbar wissen, ob ein inhaltlicher Grund für diesen Interaktionspartner zureichend ist. Zudem kann er auch nicht unmittelbar kommunizieren, was er denkt. Aber es ist möglich, dass der Lernende im Rahmen eines sozialen Systems bzw. Interaktionsgeschehens, das sich aus Kommunikation erzeugt und erhält, einen Grund wahrnimmt, der sich innerhalb dieses Interaktionsgeschehens als zureichend bewährt. Denn soziale und psychische Systeme sind (a) strukturell aneinander gekoppelt und (b) in Kommunikation herrscht doppelte Kontingenz. Diese Kopplung bedeutet, dass die jeweiligen Systeme zwar für sich selbst Umwelt und damit autonom, aber nicht autark sind. Sie bedingen einander. Luhmann (1992) macht dies folgendermaßen deutlich:

3.6 Die systemische Wendung

41

„So sind alle Kommunikationssysteme selbstverständlich an Bewußtseinsvorgänge gekoppelt. Ohne Bewußtsein keine Kommunikation. Aber das heißt gerade nicht, daß Bewußtseinsvorgänge [...] als solche schon Elemente eines Kommunikationsprozesses sein könnten. Das Kommunikationssystem bleibt, mit anderen Worten, ein operativ geschlossenes selbstreferentielles System. Strukturelle Kopplung bedeutet andererseits und vor allem, daß die Umweltkopplung der Kommunikationssysteme auf Bewußtseinssysteme beschränkt ist und daß es keinen direkten (nicht über Bewußtsein vermittelten) physikalischen, chemischen oder biologischen Einwirkungen ausgesetzt ist“ (S. 281). In diesem Zusammenhang müssen die Begriffe der doppelten Kontingenz und der Kommunikation nach Luhmann gefasst werden. Doppelte Kontingenz bedeutet, dass in der Kommunikation nichts notwendig und nichts unmöglich ist. Da dies in der Kommunikationssituation für beide Interaktionspartner zugleich gilt, wird von doppelter Kontingenz gesprochen. Für Kommunikation gilt nach Luhmann folgendes: „Jede Kommunikation differenziert und synthetisiert eigene Komponenten, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen“ (ebd. S. 24). Wobei die einzelnen Komponenten, jede für sich, einen Selektionsprozess darstellen. „Selektion bedeutet Auswahl aus mehreren Möglichkeiten. Jede Information ist eine Selektion aus einem Horizont von Möglichkeiten - es ist möglich, nicht diese, sondern eine andere Information zu kommunizieren. Dazu stehen mehrere Mitteilungsmöglichkeiten zur Verfügung, die Information kann schriftlich oder mündlich mitgeteilt werden, sie kann geflüstert, hinausgeschrien usw. werden. Und die mitgeteilte Information kann in der einen oder anderen Weise verstanden werden“ (Kneer & Nassehi 1993, S. 81). Kommunikation liegt nur dann vor, wenn alle drei Komponenten miteinander verknüpft sind. „Kommunikation ist deshalb ein selbstreferenzielles Geschehen, weil jede Kommunikation rekursiv auf die vorhergehende Kommunikation verweist und sich somit als Element eines selbstbezüglichen Kommunikationszusammenhanges identifiziert.“ (ebd., S. 85) Dies macht deutlich, dass Kommunikation nicht einer Person zugeordnet werden kann, sondern der Gesamtheit der Interaktion zugewiesen ist. Ein so-

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

ziales System erhält sich also dadurch, dass Kommunikation an Kommunikation anschließt. Wobei nur dann von Kommunikation die Rede ist, wenn Information, Mitteilung und Verstehen zusammenkommen. Zudem sind soziale Systeme darauf angewiesen, dass „mindestens zwei psychische Systeme“ in ihrer Umwelt sind (Kneer&Nassehi 1993, S. 81). Es gilt allerdings nochmals zu betonen, dass Kommunikation nicht den Austausch von Gedanken, also den Austausch zwischen diesen mindestens zwei Systemen, meint. Dies wäre sonst ein Widerspruch dazu, dass direkt Gedanken ausgetauscht werden könnten. Allerdings existiert eine strukturelle Kopplung zwischen psychischen und sozialen Systemen. Zudem „besitzen psychische Systeme […] die privilegierte Möglichkeit, Kommunikation zu reizen und zu irritieren“ (Kneer&Nassehi 1993, S. 81), und es „ist nicht ausgeschlossen, daß die Kommunikation Bewußtseinssysteme […] thematisiert.“ (ebd. S. 86) Also, dass die Kommunikation sich auf beispielsweise die Gedanken eines psychischen Systemes bezieht. Zuletzt soll betont werden, dass sich Kommunikation selbst im Rahmen von sozialen Systemen „als Mitteilungshandlung auffaßt.“ (ebd. S. 88) Dies ist ist allerdings mit Blick auf Kommunikation als dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen, eine Reduzierung auf eine dieser Selektionen. Allerdings wird dadurch ermöglicht, dass „Kommunikation als Mitteilungshandlung einzelnen Personen zugerechnet“ wird (ebd.). Dies ist sowohl aus theoretischer Perspektive als auch aus methodologischer Sicht zur Rekonstruktion der Interaktion sinnvoll (vgl. Kap 4.7.3). Damit wird allerdings auch deutlich, dass aus einer solchen theoretischen Perspektive der Begriff einer objektiven Wahrheit für die Kommunikation und Interaktion nicht entscheidend ist. Anders als bei den Prämissen Blumers und der Transformation derer kann mithilfe einer systemischen Wendung der Begriff des objektiv Wahren, sofern dieser im Sinne einer ontologischen Wahrheit verwendet wird, aus der Interaktion entkoppelt werden. Es kommt darauf an, was sich im Rahmen der Kommunikation und Interaktion innerhalb eines sozialen Systems bewährt und dabei auch vom einzelnen Lernenden im Rahmen einer Mitteilungshandlung als zureichend wahrgenommen oder anerkannt wird. Es wird das fürwahrgehalten, was sich letztlich aus subjektiv zureichenden Gründen oder Gründen, die als für andere wahrgenommen werden, innerhalb bestimmter Systeme bewährt. Für das

3.6 Die systemische Wendung

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objektiv Wahre bestätigt sich damit, dass es sich innerhalb von Interaktionsprozessen nur um eine intersubjektive Objektivität handeln kann, die sich im Rahmen des jeweiligen Interaktionsgeschehens bewährt. Was bedeutet dies nun für das Wechselspiel aus Fürwahrhalten und zureichenden inhaltlichen Gründen und damit für die systemische Wendung des Überzeugungsbegriffes? Beispielsweise lässt sich mit Blick auf die methodischen Überlegungen die Interaktion und damit verbundene Kommunikation zwischen Interviewer und Lernendem oder zwischen einem Lernenden und der Klassengemeinschaft jeweils als soziales System auffassen. Die Gedanken der Lehrer, Schüler oder Interviewer lassen sich jeweils als psychische Systeme auffassen. Somit ist gewährleistet, dass ein soziales System überhaupt möglich ist, da, wie bereits beschrieben, mindestens zwei psychische Systeme vorhanden sein müssen. Diese psychischen Systeme bestehen aus den jeweiligen Gedanken der Interaktionsteilnehmer. Diese beiden Systemarten, soziale Systeme und psychische Systeme, sind selbstreferenziell und autopoetisch. Dies bedeutet, dass sie sich durch ihre eigenen erzeugen und erhalten. Sie sind in diesem Sinne zwar autonom, allerdings nicht autark, sondern über eine „strukturelle Kopplung“ (Luhmann 1991, S. 299) miteinander verbunden. Konkret heißt dies, dass beispielsweise zwischen dem sozialen System Unterricht und den psychischen Systemen Lehrer oder Schüler keine direkten Abhängigkeiten existieren, diese aber dennoch aufeinander angewiesen sind. Denn wären diese nicht da, würde es keinen Unterricht geben und umgekehrt. Subjektiv zureichende Gründe lassen sich dann als abhängig von der Bewährung dieser Gründe in den jeweiligen psychischen Systemen und den dort vorhandenen Gedanken betrachten. Gründe, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, können in Anlehnung an Luhmann als Gründe bezeichnet werden, die sich in der Kommunikation und damit in diesen sozialen Systemen bewähren (Luhmann, 2002, S. 19). Wenn sich der Grund im Rahmen der Interaktion und Kommunikation bewährt, beispielsweise dadurch, dass auf die Kommunikation eine weitere Kommunikation folgt, die den Erwartungen der jeweiligen Person entspricht, bedeutet dies, dass innerhalb des

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

sozialen Systems eine dreistellige Synthese passiert ist und auf das Verstehen eine weitere Kommunikation folgt. Erwartungen sind dabei ebenfalls für die Kommunikation notwendig. In sozialen Systemen herrscht wie bereits beschrieben doppelte Kontingenz. Damit ist nichts notwendig und nichts unmöglich. Damit sind diese sozialen Systeme komplex. Diese Komplexität wird dadurch reduziert, dass Erwartungen existieren. Und weiter sogenannte „Erwartungserwartungen“ (Luhmann 1991, S. 413), die Erwartungen meinen, die sich auf die Erwartungen eines Gegenübers beziehen. Wenn Erwartungen über die Erwartungen eines Gegenübers existieren, also man alltagsprachlich gesprochen ungefähr abschätzen kann, was der andere sagt oder wie er handelt, dann wird Kommunikation ermöglicht und das soziale System ist stabil, da Kommunikation an Kommunikation anschließen kann. Erwartungserwartungen und doppelte Kontingenz erklären damit, warum Kommunikation und damit letztlich Interaktion überhaupt möglich ist. Dies ist ebenfalls ein Vorteil der Systemtheorie im Vergleich zum Symbolischen Interaktionismus, der darauf nur bedingt eine Antwort hat, in dem Blumer betont, dass das „Zusammenleben in Gruppen […] notwendigerweise Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern voraus[setzt, M.M.].“ (Blumer 1981, S. 86) An dieser Stelle wird zudem deutlich, warum die Kategorisierung eines Fürwahrhaltens, bei dem subjektiv zureichende Gründe und Gründe, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, als systemisch-interaktive Überzeugung und damit aus einer systemisch-interaktiven Sicht gefasst wird (s. Tabelle 3.3). So könnte etwa aus einem subjektiv zureichenden Grund, dass die Innenwinkelsumme eines Dreiecks 180° beträgt, durch die Bestätigung dieses Grundes durch den Interviewenden als Mathematikexperten innerhalb des sozialen Systems Interview, in dem mindestens zwei psychische Systeme beteiligt sind, etwa Lernende und Interviewer, ein Grund werden, der vom Lernenden als für den Interviewer zureichend wahrgenommen wird und der möglicherweise so den Erwartungserwartungen des Lernenden entspricht. Dieser Grund hat sich also im Rahmen der Kommunikation im sozialen System Interview bewährt. Weiterhin heißt dies, dass in einem anderen sozialen System beispielsweise der Unterrichtsstunde Mathematik

3.6 Die systemische Wendung

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der Schulklasse 3a die Schülerin Jasmin ein psychisches System ist, das an das soziale System Klasse strukturell gekoppelt ist. Gleiches gilt für alle weiteren Interaktionsteilnehmer innerhalb dieses sozialen Systems, die auch als psychische Systeme aufgefasst werden können, etwa Mitlernende oder der Lehrende. Dieses System besteht durch die Relationen der einzelnen Elemente zueinander, diese Elemente können beispielsweise die Lernenden sein. Ob und wie Jasmin nun handelt und beispielsweise Dinge fürwahrhält, ist dann in besonderer Weise von der Kommunikation und Erwartungen innerhalb des sozialen Systems abhängig. So kann es durchaus sein, dass in diesem sozialen System alle anderen Lernenden (also die anderen psychischen Systeme) einen anderen Standpunkt vertreten als Jasmin. Es ist daher notwendig im Rahmen eines selbstreferenziellen Akts, sich dieser Relationen und damit der Gründe, die möglicherweise für andere zureichend sind, bewusst zu werden. So lassen sich möglicherweise auch subjektiv zureichende Gründe mithilfe von selbstreferenziellen Prozessen identifizieren. Gründe, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, bilden ebenso einen selbstreferenziellen Akt, bei dem das Subjekt wahrnimmt, welche Gründe sich in dem sozialen System und damit in der Kommunikation innerhalb des jeweiligen Interaktionsgeschehens bewähren. Wie bereits oben beschrieben schließt sich an Kommunikation als dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen, weitere Kommunikation an. Der eine Moment der Kommunikation zerfällt, wird verändert, aufgegriffen, transformiert und möglicherweise in der weiteren Kommunikation ergänzt oder auch fallen gelassen. So kann Überzeugung als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines Sachverhaltes aus entsprechenden zureichenden Gründen auch, wie bereits bei der interaktionistischen Wendung beschrieben, nur im Rahmen einer Momentaufnahme als ein Überzeugtsein aufgefasst werden. Denn wenn sich Kommunikation an Kommunikation und Gedanken an Gedanken anschließen, dann verändern sich auch möglicherweise das Fürwahrhalten und die Gründe innerhalb des Interaktionsgeschehens fortlaufend und damit ist die Überzeugung nicht, sondern sie wird.

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Als letzter Punkt wird darauf eingegangen, dass verschiedene soziale Systeme zwar potenziell gleichberechtigt bezüglich der Aushandlung von inhaltlichen Gründen sein können. Allerdings ergeben sich in unterschiedlichen sozialen Systemen, beispielsweise Mathematikunterricht, Interview, Nachhilfe usw. auch unterschiedliche Strukturen. Diese Unterschiede werden in der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus nicht mitberücksichtigt. Aus den unterschiedlichen Strukturen von sozialen Systemen könnten sich zumindest aus theoretischer Sicht systembedingte Merkmale, Handlungsmuster oder Routinen ergeben. Solche Muster und Routinen hat Voigt (1984) etwa für den fragend-entwickelnden Unterricht herausgestellt. Aus Sicht der sozialen Systemtheorie in Verbindung mit der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus scheint es daher lohnenswert, verschiedene soziale Systeme zu differenzieren und entsprechend zu analysieren. Diese systembedingten Unterschiede konnten im Rahmen dieser Arbeit (bedauerlicherweise) nicht fokussiert werden, da es zunächst um die Rekonstruktion einer Überzeugung im Werden und entsprechender Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend ging. Dies könnte allerdings ein lohnenswertes Thema für zukünftige Arbeiten sein. Um die bisherigen theoretischen Überlegungen zu verdeutlichen und auf die einzelnen Kategorien zu beziehen, sollen vier Beispiele anhand derer die vier Kategorien des Fürwahrhaltens aufgezeigt werden, helfen. Bei einem normalen Würfel ist die Wahrscheinlichkeit bei einem Wurf eine Sechs zu würfeln 1/6. Nun kann eine fiktive Lernende, nennen wir sie Jasmin, Mitglied einer fiktiven Klasse 6a, diesen Sachverhalt auch selbst fürwahrhalten. Und zwar aus verschiedenen Gründen: 1. Die inhaltlichen Gründe für ihr Fürwahrhalten sind weder subjektiv zureichend noch nimmt Jasmin bei ihrem Interaktionspartner zureichende Gründe wahr. Es gibt also für sie selbst keine zureichenden Gründe es für wahr zu halten, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Sechs 1/6 ist. Und auch die gesamte Klasse, das Jasmin umgebende soziale System, ist der Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Sechs nicht unbedingt 1/6 sei. Wenn ein soziales System betrachtet wird, werden in Anlehnung an Luhmann alle Elemente ohne Jasmin und die Relationen der Ele-

3.6 Die systemische Wendung

47

mente untereinander betrachtet, wobei Jasmin ebenfalls in Relation zu diesen Elementen steht (s. Luhmann 1991, S. 41). In diesem Fall beispielsweise das soziale System Unterrichtsstunde der Klassengemeinschaft, in dem sich Jasmin befindet und das aus den Kommunikationen besteht, die möglicherweise auf Personen bezogen werden können. Wenn nun aus Sicht Jasmins in diesem sozialen System keine zureichenden Gründe vorhanden sind, oder es keine inhaltlichen Gründe gibt, die sich innerhalb dieses sozialen Systems Unterrichtsstunde der Klassengemeinschaft in der Kommunikation bewähren, und Jasmin ebenfalls keine zureichenden Gründe für diese Annahme hat, diese aber dennoch fürwahrhält, so lässt sich von einem im Sinne der oben entwickelten Kategorien von Vertrauen sprechen. Umgangssprachlich gesprochen vertraut Jasmin also auf den mathematischen Sachverhalt (bzw. dessen Wahrheit). 2. Jasmin hat für sich inhaltliche Gründe (wir müssen im Rahmen der empirischen Analyse klären, was Indizien für Identifikation von subjektiven Gründen als zureichend sein könnten), dass der Sachverhalt stimmt. Allerdings nimmt sie wahr, dass die Gründe in dem Interaktions- und dem Kommunikationsgeschehen und damit dem sozialen System, in dem sie sich befindet, etwa in der Unterrichtsstunde der Klassengemeinschaft unzureichend sind. Nach Kant und mit Blick auf die interaktionistische und systemische Wendung lässt sich sagen, dass Jasmin eine subjektive Überzeugung hat. So kann sie beispielsweise schon von dem Zugang zur Wahrscheinlichkeitsrechnung nach Laplace gehört haben und die gleichwahrscheinlichen Ergebnisse eines Wurfes mit diesem Würfel voraussetzend die Wahrscheinlichkeit für eine „6“ errechnet haben. 3. Die dritte Kategorie ist die scheinbar einfachste. Hier sind die inhaltlichen Gründe für Jasmins Fürwahrhalten sowohl für sie selbst als auch die Gründe, die sich in dem entsprechenden System bewähren und die sie wahrnimmt, zureichend. Es lässt sich von einer systemisch-interaktiven Überzeugung sprechen. In der konkreten

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

Situation könnte dies bedeuten, dass sich Jasmin über die Gleichwahrscheinlichkeit eines jeden Würfelergebnisses im Klaren ist und dies auch in der Interaktion durch einen anderen Interaktionspartner geäußert bzw. zumindest angedeutet und von Jasmin als entsprechend zureichend wahrgenommen worden ist. 4. Die letzte Kategorie geht nun davon aus, dass Jasmins inhaltlichen Gründe subjektiv unzureichend sind und sie als für andere als zureichende inhaltliche Gründe wahrnimmt. Während beispielsweise im Rahmen des sozialen Systems Unterrichtsstunde der Klassengemeinschaft der Lehrende und etwa die gesamte Klasse 3a die Wahrscheinlichkeit für das Würfelergebnis Sechs als 1/6 als notwendig wahr bezeichnen, sind die Gründe für Jasmins Fürwahrhalten nicht subjektiv zureichend. Die inhaltlichen Gründe bewähren sich also in der Kommunikation im Interaktionsgeschehen. Jasmin selbst hat für sich keine oder nur unzureichende Gründe. Allerdings hält Jasmin den mathematischen Sachverhalt dennoch für wahr. Hier lässt sich von einer Überredung sprechen. Möglicherweise wird in der Kommunikation sogar geäußert: „Wenn ihr das so begründet, muss das halt stimmen“. 3.7

beliefs und der hier verwendete Überzeugungsbegriff

In diesem Kapitel sollen ein kurzer Rückblick auf den Begriff beliefs und der Zusammenhang zum in dieser entwickelten Arbeit Überzeugungsbegriffs aufgezeigt werden. Denn trotz der geschilderten Herausforderungen, die der Begriff beliefs mit sich bringt (s. Kapitel 2.1), existieren Anknüpfungspunkte. Der in dieser Arbeit entwickelte Begriff der Überzeugung als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit des Sachverhaltes in einem bestimmten Kontext aus subjektiv zureichenden Gründen, und Gründen, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, ist an die Forschung über die beliefs anknüpfbar, wenn man etwa

3.7 beliefs und der hier verwendete Überzeugungsbegriff

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die Verwendungsweise von Pehkohnen und Pietilä (2003) nutzt. Diese bezeichnen beliefs als „subjective, experience-based, often implicit knowledge, and emotions on some matter or state of art.“ (ebd., S. 2) Im Rahmen ihrer Definition machen sie auch ihre Annahme deutlich, dass beliefs „under continous evaluation and change“ sind (ebd., S. 4). Wie aus der interaktionistischen und systemischen Wendung deutlich wurde, sind Überzeugungen aus theoretischer Perspektive als Überzeugungen im Werden zu verstehen, bei denen sich das Fürwahrhalten und die (zureichenden) Gründen stetig verändern und aktualisieren. Insbesondere mit Blick auf die systemische Wendung und den selbstreferenziellen Prozessen innerhalb beispielsweise sozialer Systeme lässt sich ein Zusammenhang zur „continous evaluation“ (ebd., S. 4) herstellen. Denn selbstreferenzielle Prozesse innerhalb von sozialen Systemen evaluieren etwa kontinuierlich die innerhalb des sozialen Systems eingebrachten und ausgehandelten Gründe bzw. die Zureichung dieser Gründe in Abhängigkeit des jeweiligen Fürwahrhaltens. Lernende reflektieren bewusst und auch unbewusst innerhalb eines solchen Interaktionsgeschehens die Gründe ihres Fürwahrhaltens. Der Bezug zu beliefs wird auch dadurch deutlich, dass die beiden Autoren schreiben: „A person compares his beliefs with new experiences and with other individuals’ beliefs.“ (ebd., S. 4) Die eigene Überzeugung ist also auch davon abhängig, inwieweit als für andere als zureichende Gründe wahrgenommen werden. Der zweite Bezug zum in dieser Arbeit verwendeten Überzeugungsbegriff lässt sich mithilfe des Zusammenhangs beliefs und knowledge aufzeigen. Nach Pehkohnen und Pietilä existiert ein solcher Zusammenhang zwischen „subjective knowledge” und beliefs, wobei die beiden Autoren knowledge wie folgt begrifflich fassen: „An individual’s subjective knowledge is something unique which is usually possessed only by the individual self, since it is based on his personal experiences and understanding. According to our definition, beliefs belong to subjective knowledge.“ Auch in dieser Arbeit wird ein inhaltlicher Bezug fokussiert. Es geht um das Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes in Abhängigkeit von inhaltlich zureichenden Gründen. Und ein weiterer Referenzpunkt zum vom Pehkohnen und Pietilä verwendeten Begriff beliefs wird deutlich: Beliefs

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Kapitel 3 Theoretische Grundlegung eines Überzeugungsbegriffes

werden an die individuelle Person in Abhängigkeit eines wie auch immer gearteten Interaktionsgeschehens gekoppelt. Auch in dieser wird der Lernende und sein Fürwahrhalten in Abhängigkeit der jeweiligen Interaktion fokussiert. Deutlich wird aber auch, dass der in dieser Arbeit verwendete Überzeugungsbegriff nicht mit Einstellungen, Emotionen oder anderen affektiven Momenten verwendet wird und damit einigen Verwendungsweisen des Begriffs beliefs nicht entspricht (vgl. u.a. Törner 2002, Rolka 2006, Rott, Leuders & Stahl 2014.) Zudem ist der hier entwickelte Überzeugungsbegriff nicht mit den Definitionen und Verwendungsweisen von beliefs kompatibel, die eine Stabiltät und Unveränderbarkeit dieser beliefs annehmen (vgl. Pajares 1992 oder Philipp 2007). Ebenfalls handelt es sich beliefs in der Regel um beliefs über etwas. Dies ist allerdings nicht das Anliegen dieser Arbeit. Es geht nicht darum, die beliefs von Forschern, Lehrenden oder Lernenden bezüglich des Wesens von Mathematik, oder wie die Rolle der Lernenden in der Mathematik oder wie Mathematik gelernt wird (s. Törner 2002) zu beleuchten. Der in dieser Arbeit entwickelte Überzeugungsbegriff wird als inhaltsfokussierendes Konstrukt gefasst, das eine Rekonstruktion von mathematisch-inhaltlichen Überzeugungen zu bestimmten Momenten einer Interaktion und eine Darstellung einer Überzeugung im Werden im Rückblick auf die gesamte Interaktion ermöglichen möchte. Dabei können Einstellungen, sofern diese inhaltlich relevant sind ebenfalls rekonstruiert werden. Diese werden allerdings, wie noch gezeigt wird, eher in den inhaltlichen Gründen rekonstruiert. Eine inhaltliche Fokussierung scheint zudem mit Blick auf das Beweisen und Begründen in der Mathematikdidaktik (Kapitel 2.2) sinnvoll, da das Überzeugen hierbei eine wesentliche Funktion besitzt. Zusammenfassend wird der Begriff der Überzeugung in dieser Arbeit als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes aus subjektiv zureichenden, also Gründen, die für das Individuum selbst zureichend sind, oder Gründen, die vom Individuum als für andere als zureichend wahrgenommen werden, gefasst. Dabei wurde deutlich, dass in Abhängigkeit der Art der zureichenden Gründe eine eine Einteilung in die vier Kategorien Vertrauen, subjektive Überzeugung, systemisch-interaktive Überzeugung

3.7 beliefs und der hier verwendete Überzeugungsbegriff

51

und Überredung möglich ist. Im Rahmen der interaktionistischen und der systemischen Wendung wurde gezeigt, dass es sich aus theoretischer Perspektive um eine Überzeugung im Werden handelt, die im Rahmen einer Interaktion entsteht. Denn in dieser Interaktion können Gründe ausgehandelt und diese Gründe vom Lernenden als subjektiv zureichend oder als für andere als zureichend wahrgenommen werden. Für die jeweilige Zureichung der Gründe gilt es im empirischen Teil dieser Arbeit Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend zu rekonstruieren. Zudem wurde deutlich, dass eine inhaltliche Fokussierung des Überzeugungsbegriffes vorgenommen wird, die es noch weiter zu begründen gilt. Zuletzt existieren Bezüge zwischen dem in dieser Arbeit entwickelten Überzeugungsbegriffes und dem Begriff beliefs sowie zum Begründen und Beweisen in der Mathematikdidaktik hinsichtlich der Stabilität und dem Bezug von beliefs zu knowledge und der erklärenden sowie überzeugenden Funktion von Begründungen und Beweisen.

4.

Methodologie und Methode

Nachdem in den vorhergegangenen Kapiteln die theoretischen Grundlagen für den Überzeugungsbegriff gelegt wurden und dieser Begriff mithilfe des symbolischen Interaktionismus und der sozialen Systemtheorie gewendet worden ist, folgt nun der empirische Teil. Wie bereits in 2.5 aufgeworfen wurde, müssen theoretische Begriffsnetze an der empirischen Lehr-Lern-Realität bezüglich ihrer Tragfähigkeit und ihrer Wirksamkeit überprüft werden, sofern diese der Beschreibung von Lehr-Lern-Prozessen dienen sollen und damit ihre Sinnhaftigkeit zeigen. Daher soll überprüft werden, wie weit und unter welchen Bedingungen das theoretische Begriffsnetz geeignet ist, Überzeugungen anhand von inhaltlichen Gründen in einem sich stetig aktualisierenden Interaktionsgeschehen zu identifizieren. Dies impliziert die Prüfung des Zusammenhangs zwischen dem Fürwahrhalten von mathematischen Sachverhalten bzw. der Anwendung eines Sachverhaltes und den inhaltlichen Gründen und ihrer Indizien, die zur Identifizierung von Gründen als zureichend rekonstruiert werden könnten. Es wird zudem darauf eingegangen, warum auf inhaltliche Gründe fokussiert wird, und warum dies mindestens aus rekonstruktiver Sicht sinnvoll scheint. Ziel ist es weiterhin Momente in der Interaktion zu rekonstruieren. Etwa wenn ein Zweifel in der Interaktion dazu führt, dass sich ein für den Lernenden zureichender Grund zu einem unzureichenden Grund entwickelt und sich somit die Überzeugung im Laufe des Interaktionsgeschehens verändert. Zuletzt soll es vor allem darum gehen, eine Überzeugung im Werden zu rekonstruieren. Besonders zu betonen gilt an dieser Stelle, dass eine Trennung von Theorie und Empirie in der Forschungsrealität natürlich nicht aufrechtzuerhalten war. Ergebnisse aus den empirischen Analysen sind in die theoretischen Grundlegungen miteingeflossen und die Analysen waren theoriegeleitet. Für diese empirischen Analysen müssen zunächst einige Grundlagen geschaffen werden, auf welche Weise methodisch vorgegangen ist. Da der Forschungsgegenstand zudem inklusiv ausgerichtet ist, wird der Begriff Inklusion in dieser Arbeit entsprechend eingeordnet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Moll, Überzeugung im Werden, Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5_4

54

4.1

Kapitel 4 Methodologie und Methode

Theoretische Grundlagen: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie

Ganz grundsätzlich ordnet sich diese Arbeit der rekonstruktiven Forschung der Mathematikdidaktik zu. Es geht daher nicht darum, Arbeitsmaterialien, Handreichungen oder ähnliches zu entwickeln, wie Überzeugungen zu bestimmten mathematischen Sachverhalten möglichst ökonomisch verändert werden können. Gleichwohl könnten die theoretischen und empirischen Ergebnisse dieser Arbeit die Grundlage und Ausgangspunkt für eine solche Entwicklung von Materialien oder die Veränderung von Überzeugung (vgl. offene Fragen im Kapitel 6.5) genutzt werden. Diese Arbeit verortet sich im Ansatz der interpretativen Unterrichtsforschung, wie er in der Bielefelder Arbeitsgruppe Bauersfeld genutzt wurde (vgl. Voigt 1984, Jungwirth 2001). Eine solche Verortung scheint zutiefst sinnvoll. Denn mithilfe der theoretischen Grundlagen und Perspektiven des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie kann beschrieben werden, wie innerhalb der Lehr-Lern-Realität Intersubjektivtät zwischen Menschen entstehen kann. Dies ist in dieser Arbeit folgerichtig, da bereits im theoretischen Teil aufgezeigt worden ist, dass Objektivität in der Unterrichtsrealität nur als Intersubjektivität rekonstruiert werden kann (siehe dazu auch Kapitel 3.2). Zudem wurde im Theorieteil das Verhältnis von subjektiv zureichenden Gründen und Gründen, die von einem Lernenden als für andere als zureichend wahrgenommen werden, beschrieben, das mithilfe der interaktionistischen Wendung für die Lehr-Lern-Realität nutzbar gemacht worden ist. Und da diese Wendung mithilfe des Symbolischen Interaktionismus geschehen ist, bietet der Ansatz der interpretativen Unterrichtsforschung einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt. Der Symbolische Interaktionismus basiert auf den drei bereits in Kapitel 3.5 gezeigten Prämissen. Dabei geht Blumer (1981) davon aus, dass Personen basierend auf ihren Erfahrungen mit Dingen handeln und Situationen vor diesem Hintergrund entsprechend von ihnen gedeutet werden. Diese individuellen Deutungen entwickeln sich aus der sozialen Interaktion, und sind damit von der Interaktion mit anderen abhängig und können sich durch diese Interaktion auch verändern. Folgendes Zitat von Blumer

4.1 Theoretische Grundlagen

55

(1981) verdeutlicht diese prozesshafte Veränderung von Bedeutung im sich stetig aktualisierenden Interaktionsgeschehen: „In Abhängigkeit von der Situation, in die er gestellt ist, sowie der Ausrichtung seiner Handlung sucht der Handelnde die Bedeutungen aus, prüft sie, stellt sie zurück, ordnet sie neu und formt sie um. Demgemäss sollte die Interpretation nicht als eine rein automatische Anwendung bestehender Bedeutungen betrachtet werden, sondern als ein formender Prozess, in dessen Verlauf Bedeutungen als Mittel für die Steuerung und den Aufbau von Handlung gebraucht und abgeändert werden.“ (ebd. S. 84) Mithilfe dieser Überlegungen wird deutlich, wie beispielsweise einzelne Lernende Dingen Bedeutungen zuschreiben und wie sich diese Bedeutungen aus der sozialen Interaktion ergeben. Wie bereits in Kapitel 3.5 deutlich wurde, kann ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Symbolischen Interaktionismus und dem Begriffsnetz von Überzeugung als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. die Anwendung des Sachverhaltes aus inhaltlich zureichenden Gründen hergestellt werden. Allerdings wurde auch gezeigt, dass das Fürwahrhalten ein interaktiver Prozess ist, der auch von sogenannten „Bedeutungsaushandlungen“ geprägt wird. Denn auch inhaltlich zureichende Gründe, seien sie nun subjektiv zureichend oder vom Lernenden als für andere als zureichend wahrgenommen, können als Produkte einer solchen Bedeutungsaushandlung rekonstruiert werden, wie bereits mit Blick die Wendung mithilfe des symbolischen Interaktionsmus deutlich wurde (s. Kapitel 3.5). Der Begriff der Bedeutungsaushandlung bezieht sich auf ein „wechselseitiges Abstimmen der jeweiligen Situationsdefinitionen“ (Krummheuer 1992, S. 28) und meint dabei, dass „der einzelne Interaktionsteilnehmer […] in seinem Handeln auch [bedenkt M.M.], was das Hintergrundverständnis und die Erwartung der Gesprächsteilnehmer sein können und welche Wirkung seine Handlung haben könne. Die anderen Gesprächsteilnehmer machen sich die Handlungen des Akteurs auch dadurch sinnhaft, indem sie dem Akteur ein Hintergrundverständnis und Absichten unterstellen, die von den eigenen abweichen können. Die folgenden Handlungen

56

Kapitel 4 Methodologie und Methode

der Gesprächsteilnehmer werden vom ersten Akteur wiederum interpretiert als Hinweis auf ein Einverständnis oder einem Dissens im Gesprächsthema. Er kann sich veranlasst sehen, sein Denken zu ändern, und so fort.“ (Voigt 1994, S. 87f) In einem sich stetig aktualisierenden Interaktionsgeschehen kann dies auch mit Blick auf Luhmanns Kommunikationstheorie und dem Grundgedanken, dass sich an Kommunikation als dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen weitere Kommunikation anschließt. Der eine Moment der Kommunikation zerfällt, wird verändert, aufgegriffen, transformiert und möglicherweise in der weiteren Kommunikation ergänzt oder auch fallen gelassen. Eine Ursache warum Kommunikation und damit auch eine Bedeutungsaushandlung überhaupt stattfindet und zudem nicht direkt zusammenbricht, besteht nach Luhmann aus sogenannten „Erwartungserwartungen“ (Luhmann 1991, S. 413). Diese Erwartungserwartungen meinen Erwartungen, die sich auf die Erwartungen eines Gegenübers beziehen. Sie können dazu führen, dass ein soziales System stabil bleibt und sich Kommunikation an Kommunikation anschließen kann. In der Bedeutungsaushandlung innerhalb des Unterrichts bedeutet dies, dass ein Lernender von seinem Gegenüber bestimmte Erwartungen erwartet, und daran seine Kommunikation anpasst. Diese Erwartungserwartungen können in der Kommunikation bei allen Interaktionsteilnehmern vorhanden sein. Sie können somit als wechselseitig gefasst werden, weil in jedem Interaktionsgeschehen jeder Interaktionsteilnehmer solche Erwartungen an die Erwartungen seines Gegenübers haben kann. Weiter kann diese Art von Kommunikation auf den Begriff des „Arbeitsinterims“ (Krummheuer 1983, S. 23ff) bezogen werden. Arbeitsinterim meint dabei, dass durch das Angleichen der Handlungen „koordiniertes Handeln“ (Schwarzkopf 2000, S. 187) möglich wird. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Erwartungen, die man seinem Interaktionspartner unterstellt, tatsächlich den Erwartungen entsprechen, die dieser hat. Auch können die Deutungen, die man anderen unterstellt, mit den tatsächlichen Deutungen des anderen differieren. Die Interaktionspartner „[…] machen bzw. sagen […] das gleiche, ohne dabei dasselbe denken zu müssen.“ (Krummheuer & Voigt 1991, S. 17) Dies deutet mit Blick auf Luhmann (1991) ebenfalls daraufhin, dass Gedanken als Teil der psychischen Systeme und Kommunikation als Teil

4.1 Theoretische Grundlagen

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des sozialen Systems zwar aufeinander angewiesen sind, denn andernfalls würde Kommunikation im Sinne eines Arbeitsinterims gar nicht stattfinden. Allerdings sind Gedanken und Kommunikation nicht unmittelbar miteinander verbunden. Als zugespitzte Folgerung lässt sich sagen, dass es nicht möglich ist, in den Kopf seines Interaktionspartners zu schauen und umgekehrt. Dennoch ist es möglich, dass in solchen Interaktionsgeschehen Deutungen, die als geteilt geltend angenommen werden (Voigt 1994), rekonstruiert werden können, sofern die Kommunikation nicht abbricht. Es ist zum Beispiel bezogen auf das Begriffsnetz der Überzeugung möglich, dass sich ein Grund innerhalb eines Interaktionsgeschehens in der Bedeutungsaushandlung bewährt und somit vom Lernenden als subjektiv zureichend angenommen oder als für andere als zureichend wahrgenommen wird. In der Perspektive der Ethnomethodologie geht es vornehmlich um die Rekonstruktion der sozialen Konstituierung von Wissen. Dieser Wissenschaftszweig wurde im Wesentlichen von Garfinkel (1967) geprägt und „stellt keine Theorie eines Systems theoretischer Sätze“ (Voigt 1984, S. 12), sondern einen Theorierahmen bereit, mithilfe dessen entsprechende Handlungen beschrieben werden können. Die Ethnomethodologie dient in dieser Arbeit vor allem zur Beschreibung, Analyse und Rekonstruktion von Überzeugungen als Fürwahrhalten von mathematischen Sachverhalten bzw. der Anwendung eines mathematischen Sachverhaltes aus zureichenden Gründen. Der Untersuchungsgegenstand der Ethnomethodologie im Allgemeinen „sind alltägliche Methoden, mit Hilfe derer Interaktionsteilnehmer das Wissen, überprüfen, mit ihm umgehen, es weitergeben usw.’ […].“ (Voigt 1984, S. 12; Zitat im Zitat Garfinkel 1973, S. 189) Nach Garfinkel (1967) geht die Perspektive der Ethnomethodologie davon aus, dass Äußerungen in Interaktionsgeschehen indexikal sind: „Als ,Indexikalität’ bezeichnet Garfinkel die räumlich-zeitlich-personelle Situationsabhängigkeit der Äußerung. Die Leistung, die die Interaktionsteilnehmer im Vollzug der Alltagspraxis erbringen müssen, liegt dann in der ,Entindexikalisierung’, d.h. in der Herstellung der Substitution indexikaler durch ,objektive’ Ausdrücke (,remedying of indexical expressions’).“ (Voigt 1984, S. 18)

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Kapitel 4 Methodologie und Methode

Folgender Transkriptausschnitt aus einem Spiel, bei dem der Lernende vor Beginn der Spielrunde auf ein bestimmtes Tier eine Süßigkeit setzen muss, verdeutlicht diese Indexikalität. Die jeweiligen Tiere haben einen eigenen Würfel, der jeweils andere Augen hat. ok .. also für den Ersten würde ich jetzt zum Beispiel die Gummibärchen nehmen und dann würde ich die da hinlegen und dann würde ich- (Nimmt sich eine Packung) Gummibärchen)

1

M

2

I

ja.

3

M

dann setze ich auf den Koala, das ist das Lieblingstier meiner Mutter

4

I

ok

Zunächst setzt der Lernende Martin eine Packung Gummibärchen auf den Sieg des Koalas. In Turn 3 nennt er zudem möglicherweise einen Grund. Der Koala sei das Lieblingstier seiner Mutter. Auch wenn es sich an dieser Stelle nicht um einen mathematisch-inhaltlichen Grund handelt, kann dies dennoch möglicherweise als vorläufiger inhaltlicher Grund interpretiert werden, der sich im Laufe der Interaktion als zureichend bewähren könnte, da dieser Grund als externer Grund für die Entscheidung des Setzens auf den Koala gedeutet werden kann. Anders formuliert: Der Grund ergibt sich zunächst als nicht-mathematischer inhaltlicher Grund. Darüber hinaus könnte die Nennung dieses Grundes auch darauf hindeuten, dass der Lernende davon ausgeht, dass die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten wie bei einem klassischen Würfel ein Sechstel für jede Seite sind, da keine andere mathematisch gehaltvolle Begründung für den Lernenden zur Auswahl zu stehen scheint. Dies bleibt allerdings an dieser Stelle offen. Da allerdings die Interviewerin Turn 4 diesem Grund für das Setzen nicht widerspricht, sondern durch ein betontes „ok“ möglicherweise bestätigt, könnte Sebastian wahrnehmen und interpretieren, dass sein Grund für die Interviewerin zureichend ist.

4.1 Theoretische Grundlagen

59

In Interaktionsgeschehen müssen Äußerungen daher auch entindexikalisiert werden. Damit dies geschieht, muss ein entsprechender Bezug zum Kontext der Äußerung hergestellt werden, den Voigt mit Blick auf Garfinkel (1967) als Reflexivität bezeichnet (vgl. Voigt 1984, S. 19f.). Zudem werden aus der ethnomethodologischen Perspektive Regeln beschrieben, die es Interaktionsteilnehmern ermöglichen, ihre Handlungen auszurichten, ähnlich wie es Erwartungserwartungen bzw. die Herstellung eines Arbeitsinterims ermöglichen. Beispielsweise existiert nach Cicourel (1981, S. 177f) die et-cetera-Regel. Diese besagt, dass der „Sprecher unterstellt, dass der Hörer auch über die nicht explizierten, aber gemeinten Bedeutungen und Handlungen Entscheidungen trifft, indem er einen umfassenderen Zusammenhang dem Sprecher unterstellt und diesen ,ausfüllt’, sozusagen zwischen den Zeilen liest. Außerdem unterstellt der Hörer, dass der Sprecher zu einem späteren Zeitpunkt mehrdeutige Ausdrücke, denen vorläufig bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden, klären wird.“ (Voigt 1984, S. 23f) Teilnehmer in Interaktionsgeschehen gehen laut Cicourel (1981) quasi von einem „sozial verteilten Wissen“ (ebd., S. 177f) aus. Es existieren also Erwartungen bzw. Deutungen, die ein Hörer dem Sprecher implizit unterstellt. Andernfalls wäre Kommunikation im Sinne Luhmanns auch gar nicht möglich. Wenn wie im obigen Beispiel Sebastian auf das Lieblingstier seiner Mutter setzt, geht er möglicherweise davon aus, dass die Interviewerin entsprechende Laplace Würfel mit den Augen eins bis sechs mitgebracht hat. Und möglicherweise geht auch die Interviewerin, die angewiesen war, so wenig wie möglich einzugreifen, davon aus, dass sich hinter dem Lieblingstiergrund auch eine mathematisch gehaltvolle Aussage verbirgt. Andernfalls hätte Sie auch nachfragen können. Ob dieser Grund nun zureichend ist oder nicht, muss anhand unterschiedlicher Indizien rekonstruiert werden, auch wenn die Zureichung eines Grundes an sich oft implizit bleibt. Die ethnomethodologische Perspektive fordert einen unvoreingenommenen Blick des Forschenden ein. Die in dieser Arbeit zur Rekonstruktion von Überzeugungen entwickelten Kategorien (vgl. Tabelle 3.3) und auch die

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Kapitel 4 Methodologie und Methode

Ansätze aus Luhmanns Systemtheorie widersprechen dabei diesem unvoreingenommenen Blick. Es gilt daher zu betonen, dass die ethnomethodologische Perspektive vor allem als Grundorientierung im ersten Schritt der Interpretation dient. Die theoretische Setzung des Zusammenhangs von zureichenden Gründen und Überzeugung soll durch die empirischen Analysen erst überprüft werden. Umso wichtiger ist es, bei den empirischen Analysen zunächst unvoreingenommen zu interpretieren. Daher wird in den Analysen der ethnomethodologischen Perspektive folgend zunächst eine Vielzahl von Hypothesen aufgestellt und rekonstruiert und erst im letzten Schritt dieser Analysen werden die theoretischen Grundlegungen genutzt. Zudem ermöglichen es die entwickelten Kategorien, (inhaltlich zureichende) Gründe bereits in ihrer absoluten Anfanghaftigkeit zu rekonstruieren. Weitergehend werden entsprechende Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend erst noch rekonstruiert. Es besteht also für diese Indizien ein weitestgehender unvoreingenommer Blick. Der Nutzen der ethnomethodologischen Perspektive ist auch mit Blick auf Luhmanns Auffassung, dass Lernende „nichttriviale Maschinen“ sind, sinnvoll (s. Kapitel 3.6). Andernfalls würden wir bei einem bestimmten Input, etwa einer bestimmten Aufgabe, einen entsprechenden Output des Lernenden erwarten. Nichttriviale Maschinen handeln allerdings nicht nach diesem Input-Output-Schema, sondern können durch eine sogenannte „selbstreferenzielle Schleife“ auch kreative und unerwartbare Outputs generieren. Insofern ist ein unvoreingenommer Blick auf die empirische Lehr-Lern-Realität und die Hinterfragung der eigenen Erwartungserwartungen notwendig.

4.2

Inklusion als Teilhabe an Kommunikation im Sinne der egalitären Differenz

Diese Arbeit ist im Rahmen der Graduiertenschule KoM der MINT-Fachdidaktiken entstanden. Dieses hat die beiden Schwerpunkte theoriegeleitete Diagnose und individuelle Förderung. Diese Arbeit verortet sich im ersten Schwerpunkt der theoriegeleiteten Diagnose und möchte es auch ermöglichen, ausgehend vom entwickelten Überzeugungsbegriff und den vier Kategorien des Fürwahrhaltens, anhand der zureichenden inhaltlichen

4.2 Inklusion als Teilhabe an Kommunikation

61

Gründe zu diagnostizieren, welche Kategorie des Fürwahrhaltens zu einem bestimmten Interaktionsmoment vorliegt. Da in den Interviews auch mit Lernenden mit dem sonderpädagogischem Förderbedarf Lernen zusammengearbeitet wurde, ist es notwendig, diesen Begriff zu klären.

4.2.1 Inklusion: Begriffliche Klärungen Der Begriff Inklusion ist vielschichtig, wird allerdings gelegentlich auf die UN-Behindertenrechtskonvention verkürzt. Dies ist allerdings besonders im Hinblick darauf problematisch, dass die UN-BRK kein theoretisches Grundlagengerüst darstellt, sondern insbesondere mit Blick auf §24 UNBRK ein Bildungsprogramm und somit eine normative Setzung ist. Normative Setzungen eigenen sich jedoch nicht als theoretisches Fundament, da sie selbst eines Solchen bedürfen. Daher wird innerhalb dieser Arbeit eine andere Perspektive auf Inklusion eingenommen und versucht, diese in Verbindung mit dem entwickelten Überzeugungsbegriff und dem Wechselspiel aus Fürwahrhalten und inhaltlichen Gründen zu bringen. Als Grundlage dafür sollen zwei Ideen dienen: Zum einen die Idee der „egalitären Differenz“ (Prengel 1993) und zum anderen soll Luhmanns Gedanke der „Teilhabe an Kommunikation“ (Luhmann 1990, S. 346) auf den schulischen Inklusionsbegriff bezogen werden, wobei Kommunikation im Luhmannschen Sinne als dreistellige Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen verstanden wird (s. Kap 3.6). Eine sehr weite und unspezifische Definition des Begriffes Inklusion findet sich beispielsweise bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (2011, S. 18): „Inklusion heißt, Menschen willkommen zu heißen. Niemand wird ausgeschlossen, alle gehören dazu: zu unserer Gesellschaft, unserer Kommune, zu jeder kleinen oder großen Gemeinschaft. Alle werden anerkannt und alle können etwas beitragen. Unsere Gesellschaft wird reicher durch die Vielfalt aller Menschen, die in ihr leben.“

62

Kapitel 4 Methodologie und Methode

Eine andere Verwendung des Begriffes Inklusion nutzt Biewer (2009): „Inklusive Pädagogik bezeichnet Theorien zur Bildung, Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf eine strukturelle Veränderung der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden.“ (S. 193) Dabei bezeichnet Biewer Inklusive Pädagogik zunächst allgemein als Sammelbegriff für Theorien. Im Rahmen von Biewers Definition wird zudem deutlich, dass diese Theorien bestimmte Voraussetzungen besitzen. Bei Biewer sind dies die Rechte ausgegrenzter und vulnerabler Menschen. Auch in dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Theorien inklusiver Pädagogik auf bestimmten Voraussetzungen beruhen. Und zwar wird sich dabei auf eine Perspektive in Form einer Leitidee bezogen. Der von Annedore Prengel geprägte Begriff der egalitären Differenz versteht sich als normative Leitidee einer „Pädagogik der Vielfalt“ (vgl. beispielsweise Prengel 1993, 2001, 2015). Er bezeichnet keine Gleichmacherei, sondern macht die Dialektik von Gleichwertigkeit und Unterschiedlichkeit deutlich. In diesem Spannungsfeld zeichnen sich besonders auch inklusive Bildungsprozesse durch ihre Multiperspektivität und Heterogenität aus. Prengel (2001, S. 93) stellt dieses Spannungsfeld wie folgt dar: „Egalität und Differenz werden nicht als gegensätzlich, sondern als einander wechselseitig bedingend verstanden“. In inklusiven Settings sollen nach Annedore Prengel jegliche Perspektiven, Präferenzen und Handlungsoptionen, also nicht nur die Handlungen selbst, sondern bereits der Vorgriff auf diese Handlungen mit den individuellen Einstellungen und den zusammenhängenden Handlungen, als gleichwertig angesehen werden. Diese Gleichwertigkeit, die sich auf die Dialektik zwischen Gleichheit und Verschiedenheit bezieht, macht Prengel (2010) mit folgenden Worten deutlich:

4.2 Inklusion als Teilhabe an Kommunikation

63

„Die Prinzipien von Gleichheit und Verschiedenheit sind unauflöslich miteinander verbunden, beide bedingen einander. Gleichheit ohne Differenz wäre Gleichschaltung, und Differenz ohne Gleichheit wäre Hierarchie. So einsichtig dieser Zusammenhang ist, so schwierig ist es doch, gedanklich seine Komplexität aufrechtzuerhalten und diese nicht einseitig aufzulösen.“ (S. 6) Die Aufrechterhaltung dieser Komplexität ist deshalb notwendig, da nur so gewährleistet ist, dass etwa die Gründe innerhalb eines Interaktionsgeschehens als gleichwertig, aber nicht beliebig, sondern differenziert in Bezug zum jeweiligen Lernprozess des einzelnen Lernenden gesetzt und anerkannt werden. In ihrem Artikel „Pädagogik der Vielfalt: Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung“ (Prengel 2015) versteht sie die Begriffe der Pädagogik der Vielfalt und der Inklusiven Pädagogik als bedeutungsgleich. Sie macht deutlich, dass die Pädagogik der Vielfalt von den „menschenrechtlichen Maximen der Gleichheit, Freiheit und Solidarität“ (ebd., S. 158) geprägt sein muss und betont dabei, dass das „Streben nach Anerkennung als gleich, im Sinne von gleichberechtigt, […] ein unhintergehbares Kennzeichen heterogenitätsbewusster inklusiver Strömungen“ (ebd. S. 158) bildet. Zudem entsteht Vielfalt „aus in Anspruch genommener Freiheit“ (ebd., S. 159) und Solidarität beinhaltet, dass die Menschen wechselseitig für ihre Gleichheit und Freiheit einstehen.“ (ebd., S. 159) Bezogen auf diese Pädagogik der Vielfalt, die wie bereits deutlich gemacht wurde, von Prengel als inklusive Pädagogik verstanden wird, wird deutlich, dass egalitäre Differenz, die Gleichwertigkeit des Ungleichen und die Anerkennung der Heterogenität, die aus Freiheit entsteht, für Prengel notwendige Voraussetzungen für inklusive Pädagogik sind. Sie macht dies nochmals mit folgenden Worten deutlich: „Gleichheitsvorstellungen ohne Ausgrenzungen implizieren die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen und gehen damit über die Gleichheitsvorstellungen, die nur für Gleichartiges gelten und Abweichendes ausgrenzen, qualitativ hinaus. Gleichheit als Gleichwertigkeit des Differenten stellt damit erst die Einlösung der mit

64

Kapitel 4 Methodologie und Methode

dem universell formulierten, aber nur reduziert gemeinten Gleichheitsbegriff verbundenen Versprechungen dar“ (Prengel 1995, S. 47). Während Prengels Perspektive eher auf Spannungsfelder, die sich in inklusiven Settings zwangsläufig ergeben, zielt, wird mit Luhmanns Inklusionsbegriff im Folgenden deutlich, was Inklusion mit Blick auf ein soziales System konkret ausmachen kann (vgl. Luhmann 1981). Dieser aus soziologischer Perspektive entwickelte Begriff ist nicht neu, sondern wurde von Luhmann bereits eingeführt, als bildungspolitische Inklusion noch kein Thema war. Wobei Luhmamnn Inklusion als „Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen“ (Luhmann 1997, S. 620) beschreibt. Nach Luhmann bedeutet Inklusion „Teilhabe an Kommunikation“ (Luhmann 1991), wobei Kommunikation, wie bereits beschrieben, die dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen bezeichnet und eine selbstreferenzielle Operation sogenannter sozialer Systeme ist, die in struktureller Kopplung zu psychischen Systemen stehen (s. dazu Kapitel 2.3). In diesen sozialen Systemen, etwa in inklusiven Settings, die durch Heterogenität geprägt sind, bedeutet Inklusion, dass die jeweiligen psychischen Systeme, die an soziale Systeme strukturell gekoppelt sind, in so vielen Momenten wie möglich an der dreistelligen Operation aus „Information, Mitteilung und Verstehen“, also Kommunikation, teilhaben sollen. Die beiden Ausgangpunkte Teilhabe an Kommunikation und egalitäre Differenz lassen sich wie folgt zusammenführen: Wenn Teilhabe an Kommunikation ermöglicht und gleichzeitig eine Gleichwertigkeit des Ungleichen als Voraussetzung angenommen wird, führt dies gerade in heterogen geprägten Systemen zu einem Mehrwert. Denn in solchen Systemen wird in besonderer Weise ernst genommen, dass Lernende nichttriviale Maschinen sind und es in der Kommunikation zu Widersprüchen, Uneinigkeit, Bedeutungsaushandlungen usw. kommen kann. Eine solche Vielfalt kann dazu beitragen, dass das soziale System bestehen bleibt, die Kommunikation nicht zusammenbricht und durch das sich stetig aktualisierende Interaktionsgeschehen Überzeugungen als Überzeugungen im Werden gefasst werden können. Zugespitzt formuliert, wo Einigkeit, letztlich nur Ega-

4.2 Inklusion als Teilhabe an Kommunikation

65

lität existiert, muss auch nicht mehr kommuniziert werden und Überzeugungen müssten nicht mehr ausgehandelt, hinterfragt, o.Ä. werden. In einem solchem Fall würde der Prozess der Kommunikation als Interaktion zusammenbrechen und eine Teilhabe an Kommunikation wäre nicht möglich. Denn wo keine Kommunikation ermöglicht wird oder stattfindet, kann auch keine Teilhabe an dieser vorhanden sein. Daher lässt sich sagen, dass egalitäre Differenz zwar keine Voraussetzung für die Teilhabe an Kommunikation ist, allerdings begünstigt diese Grundsatzhaltung die Teilhabe an Kommunikation, insofern die jeweilige Vielfalt der Information, der Mitteilung und des Verstehens im Sinne einer egalitären Differenz als gleichwertig anerkannt und in der Kommunikation zugelassen wird. 4.2.2 Bezug des Inklusionsverständnisses zum Überzeugungsbegriff Die jeweiligen zureichenden Gründe, die in diesen jeweiligen sozialen Systemen, sei es in Partner-, Gruppen- oder Klassenplenumssituationen aufkommen können, können im Sinne einer egalitären Differenz als gleichwertig anerkannt und produktiv genutzt werden (Meyer & Schlicht 2018). Denn gerade in inklusiven Settings können aus theoretischer Perspektive wegen der Heterogenität mehr und auch unterschiedliche inhaltliche Gründe für das Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhalts bzw. der Anwendung des Sachverhaltes aufkommen. Auch indem im Hinblick auf eine Rekonstruktion der Blick auf die inhaltlichen Gründe gerichtet wird, die sich im Sinne einer intersubjektiven Objektivität als im sozialen System bewährend und die Synthese von Kommunikation aus Information, Mitteilung und Verstehen wahrgenommen werden, können die jeweiligen Elemente von Kommunikation im Sinne der Gleichwertigkeit des Ungleichen auf diese Gründe bezogen werden. Denn auch Gründe lassen sich innerhalb der Operation der Kommunikation verorten, indem diese im Rahmen der Kommunikation als ein dreistelliger Prozess betrachtet werden (vgl. Kapitel 3.6). Weiterhin kann aus theoretischer Perspektive ermöglicht werden, dass sich ein mögliches Potenzial einer Kommunikation, das dem einzelnen Lernenden, sogar, wenn er eine Äußerung tätigt, möglicher-

66

Kapitel 4 Methodologie und Methode

weise gar nicht bewusst ist, durch die Aushandlung innerhalb eines sozialen Systems realisiert (Meyer & Schlicht 2018). Dieser Moment, den Meyer & Schlicht (2018) ausgehend von einem Beispiel aus theoretischer Perspektive als „Potenzial teilhabeorientierten inklusiven Unterrichts“ beschreiben, kann im Sinne Luhmanns als Teilhabe an Kommunikation verstanden werden. Denn aus einer Auswahl an Information, an Mitteilung und letztlich einer Auswahl an Verstehensmöglichkeiten, können Lernende innerhalb eines Interaktionsprozesses dazu beitragen, dass sich eine Kommunikation an eine weitere Kommunikation anschließt und damit der Prozess der Kommunikation als Interaktion nicht zerfällt. Allein dadurch, dass eine Auswahl aus Informationen geschieht, die in einer bestimmten Form mitgeteilt werden und dann in einer gewissen Weise von einer Person verstanden werden, indem sie als Mitteilungshandlung aufgefasst werden, kann eine Teilhabe an Kommunikation und damit eine Teilhabe innerhalb eines sozialen Systems ermöglicht werden. In Bezug auf eine Überzeugung im Werden wird damit deutlich, dass sich die Anerkennung eines Kommunikationsgeschehens durch die Vielzahl der Gründe und insbesondere deren produktive Nutzung und der Teilhabe an dieser Kommunikation zumindest aus theoretischer Perspektive bewähren könnte.

4.2. Inklusion als Teilhabe an Kommunikation

67

4.2.3 Das theoretische Konstrukt als Diagnoseinstrument Aus theoretischer Perspektive bietet das theoretische Begriffsnetz das Potenzial einer theoriegeleiteten Diagnose, insofern eine theoretisch fundierte Feststellung der jeweiligen spezifischen Fähigkeiten und Defizite von Lernenden als Grundlage für Entscheidungen im Bezug auf weitere Lernprozesse getroffen werden könnte. Dies ist nicht durch durch (Lehr)Erfahrung, sondern insbesondere deshalb möglich, da sich möglicherweise Hürden im Lernprozess vorausahnen und identifizieren lassen, die sich in Bezug auf die Entwicklung des Fachinhaltes im Rahmen eines Interaktionsgeschehens ergeben. Konkret heißt dies, dass die Rekonstruktion von inhaltlich zureichenden Gründen und damit die Identifizierung der jeweiligen Kategorie der Überzeugung (s. Tabelle 3.3) dazu beitragen kann, die Hürden, die bei einer Überzeugung im Werden entstehen, zu identifizieren und damit möglicherweise zu überwinden. Es gilt allerdings zu betonen, dass diese Arbeit zum Bereich der rekonstruktiven Forschung zählt und damit in Abgrenzung zur konstruktiven Forschung keine Lernumgebungen entwickelt. Sie bietet vielmehr die Grundlage dafür, wie möglicherweise in weiteren Arbeiten eine bestehende Überzeugung möglichst ökonomisch verändert werden kann. In einem ersten Schritt können die Kategorien der Überzeugung in Abhängigkeit der jeweiligen inhaltlichen Gründe dazu beitragen, verhältnismäßig einfach zu bestimmen, in welcher Kategorie der Überzeugung sich ein Lernender zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lernprozess befindet. Dies könnte darüber diagnostiziert werden, welche inhaltlichen Gründe zu dem jeweiligen Zeitpunkt des Lernprozesses möglicherweise für den Lernenden subjektiv zureichend sein könnten bzw. welche inhaltlichen Gründe er bei anderen als zureichend wahrnehmen könnte. Da die Gründe innerhalb eines Interaktionsgeschehens als egalitär, also gleichwertig, anerkannt und gleichzeitig differenziert, also in Bezug zum jeweils individuellen Lernenden gesetzt werden, kann anhand dieser und der im empirischen Teil herausgearbeiteten Indizien für die Zureichung von inhaltlichen Gründen, die jeweilige situative Überzeugung des Lernenden diagnostiziert werden.

68

4.3

Kapitel 4 Methodologie und Methode

Fokussierung des Überzeugungsbegriffes auf inhaltliche Gründe

Für die Fokussierung auf inhaltliche Gründe existieren zwei Ursachen. Zunächst die theoretische Grundlegung mithilfe des Überzeugungsbegriffes von Kant. Kant geht wie bereits in Kapitel 3.1 gezeigt, von einem rational handelnden Individuum aus. Mit Blick auf diese Rationalität erscheint eine inhaltliche Fokussierung sinnvoll. Zum anderen bezieht sich diese Arbeit auf Mathematik. Dabei gilt zu betonen, dass gerade der Mathematikunterricht und Mathematiklernen inhaltlich geprägt ist. Im Mathematikunterricht geht es vornehmlich um inhaltliche Aspekte der Mathematik, wie mit Bezug auf Kapitel 2 aufgezeigt worden ist. Daher ist eine Fokussierung auf inhaltliche Gründe sinnvoll. Aus pragmatischer Sicht können im Rahmen einer solchen Arbeit nicht alle Faktoren, die eine Überzeugung als ein Fürwahrhalten aus zureichenden Gründen bedingen, berücksichtigt werden. Dies wurde bereits in der systemischen Wendung deutlich, da in dieser Arbeit nur das soziale System Interview betrachtet wird. Gleiches gilt für die Fokussierung auf inhaltliche Gründe, auch wenn es etwa affektiv oder emotional zureichende Gründe geben kann. Beispielsweise hat Tautz (2015) für Argumentation im Fach Religion verdeutlicht, dass Emotionalität Argumentationen entscheidend prägt. Diese inhaltliche Fokussierung kann aber auch mit den Funktionen des Begründens und Beweisens erklärt werden. Mindestens bei der erklärenden Funktion von mathematischen Beweisen und Begründen geht es auch immer darum, inhaltliche Bezüge zu verdeutlichen, wie es beispielsweise inhaltlich-anschauliche Beweise ermöglichen. Und insofern die erklärende und überzeugende Funktion von Beweisen nicht trennbar ist, sondern sich gegenseitig bedingen, scheint eine inhaltliche Fokussierung von Gründen im Bezug zum Fürwahrhalten mindestens möglich, wenn nicht sogar sinnvoll. Zuletzt sei betont, dass gerade inhaltliche Gründe im Vergleich zu affektiven oder emotionalen Gründen verhältnismäßig einfach veränderbar sein könnten. Dies ist bezogen auf die Veränderung von Überzeugungen beispielsweise mit Blick auf eine individuelle Förderung bedeutsam, wobei

4.4. Forschungsinteresse

69

diese Förderung innerhalb dieser Arbeit nicht berücksichtigt wird, und somit Raum für weiterführende Forschungsarbeiten bietet. 4.4

Forschungsinteresse

Das grundlegende Forschungsinteresse dieser Arbeit besteht darin, zu untersuchen, wieweit und unter welchen Bedingungen das theoretisch entwickelte Begriffsnetz zu Überzeugungen sich in der empirischen Lehr-LernRealität als tragfähig erweist. Es geht also darum zu klären, inwieweit sich der in Kapitel 3 ausgearbeitete Überzeugungsbegriff mit den vier Kategorien des Fürwahrhaltens rekonstruieren lässt. Dabei ist von besonderem Interesse zu untersuchen, in welcher Art und Weise Überzeugungen sich in Interaktionsprozessen entwickeln und sich innerhalb dieser Interaktionen auch verändern. Denn Überzeugung ist aus theoretischer Perspektive nur als eine Überzeugung im Werden zu fassen. Somit ist die Frage inwieweit sich eine Überzeugung im Werden auch in der empirischen Lehr-LernRealität rekonstruieren lässt. Entscheidend bei dieser Überzeugung im Werden ist der Bezug des Fürwahrhaltens zu inhaltlich zureichenden Gründen. Mit den in dieser Arbeit theoretisch entwickelten Kategorien des Fürwahrhaltens in Abhängigkeit des Überzeugungsbegriffes wird dabei ein Instrument zur Verfügung gestellt, das sich geeignet erweisen könnte. Zusätzlich sollen Indizien für die Identifikation von inhaltlichen Gründen als zureichend rekonstruiert werden. Zudem stellt sich auch die Frage mit Blick auf die inklusionstheoretischen Überlegungen, ob das theoretische Begriffsnetz für die Diagnose von Überzeugungen geeignet ist und obmöglicherweise Unterschiede bei Indizien für die Identifikation von zureichenden Gründen zwischen Lernenden mit und ohne Förderbedarf rekonstruiert werden können. Somit zeigt diese Arbeit einen weiteren Anwendungsbereich für die interpretative Forschung auf. 4.5

Untersuchungsplan und -verfahren

Nachdem die theoretischen und methodologischen Grundlagen und das Forschungsinteresse dargestellt worden sind, wird nun aufgezeigt, in welcher Weise die empirischen Daten erhoben und interpretiert worden sind.

70

4.5.1

Kapitel 4 Methodologie und Methode

Der Ablauf der Interviews

Um entsprechende Rekonstruktionen zu Überzeugungen im Sinne eines Fürwahrhaltens aus inhaltlich zureichenden Gründen zu ermöglichen, wurden Aufgaben entwickelt, die entsprechende inhaltliche Gründe zu bestimmten mathematischen Sachverhalten bzw. deren Anwendung und eine Entscheidung für oder gegen diese Sachverhalte einforderten. Dabei waren die Aufgaben so gewählt, dass zunächst seitens der Aufgaben und der Interviewer keine bestimmten Erwartungen bezüglich der Überzeugungen der Lernenden intendiert worden sind. Im Rahmen der Aufgaben wurden zumeist zum Ende der jeweiligen Interviews fiktive Schülerargumente eingesetzt, um die Überzeugung zu prüfen. Im Wesentlichen sollten die Aufgaben dazu dienen, die Überzeugungen und die davon abhängenden inhaltlichen Gründe für das Fürwahrhalten zu rekonstruieren. Die Aufgaben dienen daher in erster Linie dazu, die Frage zu klären, inwieweit sich Überzeugung als Fürwahrhalten rekonstruieren lassen. Sie sind kein Beispiel für gute Unterrichtsfragen und sollten auch nicht jenseits dieses Forschungsrahmens verwendet werden. Die Theorie war bei der Entwicklung der Aufgaben und der Durchführung der Interviews in ihren Grundzügen bereits entwickelt. Allerdings hat die Empirie diese Theorie in einigen Bereichen noch ausgeschärft.

4.5. Untersuchungsplan- und verfahren

Klassenstufe 4

Klassen

8

4a (Vorstudie) 8a, 8b

8

8a,8a

4

4b

Schulart

Grundschule Gymnasium Gesamtschule

Grundschule

Anzahl der Interviews Jeweils sechs halb-standardisierte Interviews

71

Mathematische Inhalte

Bildungsvorschriften von Folgen, funktionale Zusammenhänge Stochastik, Würfelspiel Kongruenzsätze im Dreieck

Problemlösen, Transportspiel

Tabelle 4: Übersicht der Erhebung des empirischen Datenmaterials

Die halbstandardisierten qualitativen Interviews wurden mit insgesamt 24 Lernenden, davon vier mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf Lernen, aus sechs verschiedenen Klassen mit fünf verschiedenen Schultypen durchgeführt. Dabei wurden für jede Aufgabe ein Interviewleitfaden erstellt und die Interviews mithilfe von Video- und Audioaufnahmen festgehalten. Zeitlich fanden die Interviews zwischen März 2016 und April 2018 im Wesentlichen in Schulen einer Großstadt statt. Im Laufe eines Interviews wurden zwei Aufgaben bearbeitet. In den Interviews haben sich bestimmte Aufgaben als ungeeignet erwiesen, beispielsweise war ein Arbeitsblatt für die Lernenden so durchschaubar, dass für die Lernenden kein Anlass zum Austausch inhaltlicher Gründe bestand. Um eine möglichst große Bandbreite an mathematischen Inhalten abzudecken, wurden verschiedene Inhalte bei den Interviews betrachtet. Dabei zeigte sich in der Vorstudie, dass es sinnvoll ist, die Lernenden mit Süßigkeiten aufzufordern, auf bestimmte Ausgänge beispielsweise beim Würfelspiel oder Argumente etwa beispielsweise bei der Aufgabe zu funktionalen Zusammenhängen zu setzen. Dieses Setzen etwa.

72

Kapitel 4 Methodologie und Methode

auf ein bestimmtes Tier beim Würfelspiel wurde als Anlass genutzt, dass sich der Lernende explizit und öffentlich mit seinen Gründen auseinandersetzt. Die in der Studie eingesetzten Arbeitsblätter wurden themenspezifisch entwickelt. Zudem ermöglichten es die Aufgaben den Lernenden sowohl an ihrem Vorwissen anzuknüpfen als auch sich mit neuen Inhalten auseinanderzusetzen. Entsprechendes Vorwissen wurde in den Interviews abgefragt. Die Videoaufzeichnung von Unterricht bzw. von Lehr-Lern-Realitäten im Allgemeinen ist in der interpretativen Mathematikdidaktik eine gängige Vorgehensweise, um Daten zur Forschung und Interpretation zu erheben (vgl. Jungwirth, 2003, S. 190 f.). Für die Rekonstruktion von Überzeugungen eignen sich Einzelinterviews ebenfalls. Denn dabei liegt der Fokus beim Interaktionsgeschehen zwischen Interviewendem und Interviewten, wodurch es möglicherweise leichter sein kann, Überzeugungen bzw. die Gründe und Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend zu erfragen und anschließend zu analysieren. Für das halbstandardisierte Interview wurde vorab ein Leitfaden erstellt, in dem die theoretischen Hintergründe sowie die Forschungsfrage bzw. die Ziele der Studie kurz umrissen wurden. Auch wurde ein beispielhafter Ablauf eines Interviews dargestellt. Die darin und weiterhin im Leitfaden enthaltenen Aufgaben, Fragestellungen, möglichen Probleme der Lernenden sowie verschiedene Lösungsmöglichkeiten sollten mit Blick auf die klar formulierte Fragestellung der Studie bei den jeweiligen Interviews als Rahmen dienen. Dennoch bietet dieser Rahmen Platz für situationsspezifische Änderungen im Ablauf etwa durch veränderte oder zusätzliche Fragestellungen. Dies ist notwendig, da die möglichen Überzeugungen bzw. Gründe der Befragten zunächst unbekannt und ganz individuell sein können. Demnach kann auch das Vorgehen, um diese sichtbar zu machen, nicht pauschalisiert werden. Im Rahmen der Interaktion innerhalb des Interviews sollte versucht werden, inhaltliche Gründe für Überzeugungen an verschiedenen Stellen sichtbar zu machen, um anschließend diese Überzeugungen anhand der in diesen Interviews genannten Gründen sowie der vier Kategorien des Fürwahrhaltens rekonstruieren zu können. Daher wurde während und nach

4.5 Untersuchungsplan und -verfahren

73

dem Bearbeitungsprozess der Aufgaben immer wieder nachgefragt, warum die Lernenden die Aufgaben auf bestimmte Art und Weise lösen, warum sie gewisse Regeln anwendeten haben, welche Schlüsse sie warum daraus gezogen haben etc. Die Interviewer waren angehalten, sich weitestgehend zurückzunehmen und mit Blick auf Selter und Spiegel (1997) „sparsam, aber gezielt [zu intervenieren, M.M.], indem sie durch situationsadäquate Fragen oder Impulse ihr offenkundiges Interesse an den Denkund Handlungsweisen der Kinder deutlich zum Ausdruck [bringen, M.M.].“ (S. 101) 4.5.2

Erhebung des Datenmaterials, die Szenenauswahl und die Transkription

Die Interviews wurden mit einer Videokamera und einem Mikrofon dokumentiert. Dazu wurde die Videokamera so ausgerichtet, dass diese die Mimik und Gestik und die Arbeitsblätter sowie die Notizen der Lernenden aufzeichnete und den Interviewer ebenfalls im Blick hatte. Nachdem die Interviews geführt worden waren, wurden diese gesichtet und die für die vorliegende Arbeit besonders relevanten Sequenzen ausgewählt, die auf den ersten Blick im Bezug auf die Forschungsfragen sinnvoll erschienen, etwa bezogen darauf, ob inhaltliche Gründe verbalisiert worden sind. Eine Grundlage für die interpretative Forschung bilden stets Texte, da in diesen „der überdauernde, im System der Sprache grundgelegte Sinngehalt eines Sprechers festgehalten ist.“ (Jungwirth 2003, S. 191) Eben jenen überdauernden Sinngehalt gilt es interpretativ zu rekonstruieren. Da die erhobenen Daten – wie im Falle der Interviews – nicht in Textform vorliegen, werden sie transkribiert (vgl. Jungwirth 2003, S. 193). Dadurch erhält man eine möglichst detailgetreue Dokumentation der Interviews und kann letztere so zur Interpretation bzw. Rekonstruktion zugänglich machen. Daher wurden die ausgewählten Szenen mit den nachfolgenden Regeln nach Meyer (2007, S. 118f; s. auch Voigt 1984, S. 106-109) transkribiert.

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Kapitel 4 Methodologie und Methode

1. Linguistische Zeichen 1.1. Identifizierung des Sprechers L Lehrperson Jakob, Anja, ... Pseudonym des Lernenden der Klasse S1, S2 Kennzeichnung der Lernenden durch Zahlenindex, zur Unterscheidung der Lernenden, die nicht-identifiziert werden konnten Ss Mehrere Lernende zugleich 1.2 Charakterisierung der Äußerungsfolge a) Ein Strich vor mehreren Äußerungen: Untereinander Geschriebenes wurde jeweils gleichzeitig gesagt, z.B.: Lehrerin warum ist das Ergebnis immer gleich weil die Zahlen vertauscht S1 wurden b) Eine Zeile beginnt genau nach dem letzten Wort aus der vorherigen Äußerung: Auffällig schneller Anschluss, z.B.: Lehrerin warum ist das Ergebnis immer gleich weil die Zahlen ver-

S1 tauscht wurden

2. Paralinguistische Zeichen , kurzes Absetzen innerhalb einer Äußerung, max. eine Sekunde .. kurze Pause, max. zwei Sekunden ... mittlere Pause, max. drei Sekunden (4 sec) Sprechpause, Länge in Sekunden gleich. Senken der Stimme am Ende eines Wortes oder einer Äußerung vielleichtStimme in der Schwebe am Ende eines Wortes oder einer Äußerung wie bitte’ Heben der Stimme, Angabe am Ende des entsprechenden Wortes Tauschaufgabe auffällige Betonung Zahl gedehnte Aussprache

4.5 Untersuchungsplan und -verfahren

75

3. Weitere Charakterisierungen (lauter), (leiser), Charakterisierung von Tonfall und Sprechweise u.ä. (zeigen), u.ä. Charakterisierung von Mimik und Gestik (Gemurmel), Charakterisierung von atmosphärischen Antei(Ruhe), u.ä. len Die Charakterisierung steht vor der entsprechenden Stelle und gilt bis zum Äußerungsende oder zu einer neuen Charakterisierung. (..?), (...?), undeutliche Äußerung von zwei, drei oder mehr (unverständlich, Sekunden 4 sec) (plus?) undeutliche, aber vermutete Äußerung In der ersten Spalte wurden die Turns nummeriert, die mit dem jeweiligen Beginn der Interviews einsetzten. Die zweite Spalte stellt die verbalen und non-verbalen Aktivitäten dar. In dieser Arbeit wurden nur Transkriptausschnitte genutzt, bei denen vor bzw. während der einzelnen Szenen Inhalte kurz zusammengefasst dargestellt werden. 4.5.3

Die Interpretation einzelner Interviews

Das Interpretieren stellt stets auch eine Rekonstruktion dar, denn niemand kann in die Köpfe der Lernenden schauen, wie mit Blick auf die Darstellung von psychischen und sozialen Systemen und der damit verbundenen nicht unmittelbaren Verbindung von Gedanken und Kommunikation festgehalten werden muss. Denn ein Lernender kann nicht unmittelbar kommunizieren, was er denkt. Gedanken haben höchstens die privilegierte Funktion haben, Kommunikation zu irritieren. Dies muss auch in der Interpretation mitbedacht werden. Da zudem mithilfe der ethnomethodologischen Perspektive aufgezeigt worden ist, dass Interaktionsteilnehmer innerhalb eines bestimmten sozialen Systems, also auch Lernende und Interviewer etwa im sozialen System Interview die Äußerungen ihres Gegenübers entindexikalisieren müssen, gilt gleiches auch für den Forscher. Lernender und Interviewer zeigen sich innerhalb des Interaktionsgeschehens ihre Deutungen an und dadurch werden diese Deutungen auch dem Forscher angezeigt, wodurch

76

Kapitel 4 Methodologie und Methode

eine Interpretation durch den Forscher überhaupt erst ermöglicht wird. Oder anders formuliert, indem innerhalb des Interaktionsgeschehens Erwartungserwartungen durch Handlungen, die auf diesen Erwartungen basieren angezeigt werden, werden diese Erwartungserwartungen auch dem Forscher angezeigt. Voigt (1984) hat dies wie folgt formuliert: „Die Äußerungen und Handlungen sind indexikaler Natur, d. h. prinzipiell vage und mehrdeutig [...]. Der Beobachter/Interpret interpretiert sie nach der gleichen Methode wie die Beteiligten, nach der dokumentarischen Methode der Interpretation: Er faßt bestimmte Ausdrücke als Dokumente eines dahinterliegenden Musters [hier: einer Überzeugung, M.M.] auf, bezieht sich dabei auf den situativen Kontext, in dem die Ausdrücke eingebettet sind.“ (S. 81) Damit sind Interpretation des Forschers immer „Interpretationen von immer schon interpretierten Wirklichkeiten.“ (Voigt 1984, S. 81) Man kann lediglich versuchen, anhand von Interaktionsprozessen bestimmte Dinge – z. B. hier Überzeugungen und die inhaltlich zureichenden Gründe dafür – zu rekonstruieren, was in Anlehnung an die objektive Hermeneutik geschehen kann (Oevermann et al. 1979). Dazu hat Voigt (1984) mehrere Schritte der Interpretation formuliert (vgl. Jungwirth 2003, S. 193). Der erste Schritt besteht darin, einen Textabschnitt bzw. eine Sequenz des Transkripts zu finden, mit der die Analyse beginnen soll (ebd.). Dann folgt als zweiter Schritt, das Interpretieren der ersten „Sprechhandlung“ dieser Sequenz – und zwar extensiv (ebd.). Dies bedeutet den Versuch, sowohl die subjektiven als auch die objektiven Sinnzusammenhänge zu rekonstruieren. Während sich Ersteres auf die Bedeutung dieser Sprechhandlung für das jeweilige Individuum bezieht (vgl. Jungwirth 2003, S. 191), geht es bei Letzterem um die Frage, welcher objektive Sinn den Aussagen zusätzlich dazu auch zukommen kann (vgl. Jungwirth, 2003, S. 194). Daraus können für die erste Sprechhandlung mehrere potenzielle Deutungshypothesen resultieren. An der Stelle weicht Voigt (1984) von der Forderung der objektiven Hermeneutik, eine eindeutige und bestimmte Deutungshypothese zu finden, ab, indem er das Auffinden möglichst vieler verschiedener Vermutungen über die Bedeutung der Sprechhandlung als Ziel des Interpretierens formuliert (vgl. Jungwirth 2003, S. 194). Dabei wird der ethnomethodologischen Perspektive Rechnung getragen, indem die Äußerung mit den „Augen eines

4.5 Untersuchungsplan und -verfahren

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Fremden“ (Voigt 1984, S. 112) betrachtet wird. Im Anschluss werden mehrere Hypothesen für diese erste Sprachhandlung aufgestellt. Im zweiten Schritt wird die darauffolgende Äußerung miteinbezogen. Anhand dieser können die Bedeutung der ersten Aussage rückwirkend erschlossen und die Deutungshypothesen diesbezüglich überprüft und eingeschränkt oder auch ergänzt werden. Anschließend wird diese Folgeäußerung selbst wiederum interpretiert bzw. rekonstruiert. Der zweite und dritte Schritt wird dann solange wiederholt, bis der gesamte Textabschnitt bzw. die ganze Sequenz interpretiert worden ist (vgl. Jungwirth 2003, S. 194). Dann werden die anderen Sequenzen der Transkripte ebenfalls auf dieselbe Weise interpretiert, wobei immer wieder ein Rückbezug zu den vorherigen stattfindet. Am Ende der Interpretation stehen dann mehrere mögliche Deutungshypothesen zur Auswahl. Nach Voigt (1984) kann man daraus letztlich diejenige Hypothese auswählen, die besonders gut verständlich ist und mit Blick auf die Forschungsfrage eine möglichst große Erkenntnis liefert (vgl. Jungwirth, 2003, S. 194). Letztlich bleibt noch zu erwähnen, dass eine solche Interpretation bzw. Rekonstruktion stets ein subjektiver Prozess ist und die Interpretierenden diesem daher selbstreflektierend begegnen sollten (vgl. Jungwirth, 2003, S. 193). Im letzten Schritt wird versucht ausgehend von der Deutungshypothese, Überzeugungen bzw. die zureichenden inhaltlichen Gründe für das Fürwahrhalten mithilfe des obigen Vorgehens interpretativ zu rekonstruieren und in die Kategorien einzuordnen. Dabei muss allerdings festgehalten werden, dass Überzeugtsein und Überzeugtwerden in der Lehr-Lern-Realität nur künstlich getrennt werden können. Mithilfe der vier Kategorien des Fürwahrhaltens lässt sich zu bestimmten Momenten einer Interaktion Überzeugung als ein Überzeugtsein auffassen. Beispielsweise kann in einem bestimmten Turn ein inhaltlich zureichender Grund, die Anbahnung oder Bewährung eines solchen Grundes rekonstruiert werden. Wichtig ist hierbei, dass entsprechende Indizien für Identifikation von Gründen als zureichend rekonstruiert werden. Diese Momentaufnahme muss aber, wie die Rekonstruktionen der Lehr-Lern-Realität gezeigt haben, im Gesamtprozess der Interaktion als eine Überzeugung im Werden gefasst werden. Dazu wird versucht, in einem ersten Schritt zu verschiedenen Momenten des Interviews in Abhängigkeit der je-

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Kapitel 4 Methodologie und Methode

weils aufkommenden Gründe die Kategorie des entsprechenden Fürwahrhaltens zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt können dann in einer anschließenden zusammenfassenden Rückbetrachtung des gesamten Interaktionsverlaufs mithilfe der ausgewählten Deutungshypothese diese Momente zumindest theoretisch als Prozess betrachtet werden und ermöglichen somit die Rekonstruktion einer Überzeugung im Werden. 4.5.4

Grenzen dieser Arbeit aus methodologischer Sicht

Zunächst sind interpretative Rekonstruktionen wie bereits betont „Interpretationen von interpretierten Wirklichkeiten.“ (Voigt 1984, S. 81) Dies führt bei der Rekonstruktion der Gründe, die vom Lernenden als für als andere zureichend wahrgenommen werden, zu einer weiteren Interpretationsebene. Es wird versucht, die Interpretation, die der Lernende innerhalb des interpretierten Interaktionsgeschehens mit Bezug zu den Gründen, die er in diesem Fall für den Interviewenden als zureichend wahrnimmt, zu interpretieren. Dies könnte sich aufgrund der Tiefe des hypothetischen Eingreifens als problematisch erweisen. Zudem existiert keine unmittelbare Verbindung zwischen Gedanken und Kommunikation, wie bereits weiter oben verdeutlicht wurde. Damit wird auch klar, dass diese Arbeit nicht den Anspruch erhebt bzw. erheben kann, eine tatsächlich intendierte Aussage zu rekonstruieren. Denn bei der Rekonstruktion von Lehr-Lern-Prozessen ist es letztlich irrelevant ob Hannes, Michael oder Sebastian eine bestimmte Aussage getroffen haben und ob diese tatsächlich so gemeint ist. Es geht vielmehr darum, mithilfe der Interpretation entsprechende neue Perspektiven auf Lernprozesse relativ zu Überzeugungen zu rekonstruieren. Diese theoretischen Erkenntnisse gelten dann im Allgemeinen für alle Lernenden und nicht für Hannes oder Peter. Denn im Rahmen eines sich stetig aktualisierenden Interaktionsgeschehens kann zum Beispiel eine Aussage von Peter ein interaktives Potenzial (s. Meyer & Schlicht 2018) realisieren, das von Peter gar nicht mitbedacht worden ist. Peter kann nicht nur im weiteren Verlauf möglicherweise etwas Anderes denken.

4.5 Untersuchungsplan und -verfahren

79

Im Rahmen dieser Rekonstruktionen muss zudem folgendes bedacht werden: Bei den Rekonstruktionen wird meist angenommen, „dass die an einer Interaktion Beteiligten die Rationalität ihres Handelns stets mitkonstituieren.“ (Meyer 2007, S. 127) Das Handeln wird also als rational angenommen. Entsprechend werden auch Äußerungen als rational gedeutet, ohne zu wissen, ob diese in der (empirischen) Realität tatsächlich einen rationalen Gehalt hatten. Dass dies in der Realität des Mathematikunterrichts bei Weitem nicht immer so sein muss, wurde bereits mit Blick auf Kant und dem vernunftgebrauchenden Menschen deutlich. Lernende handeln und äußern sich nicht immer rational und können auch mathematische Sachverhalte nicht für wahr halten, obwohl diese im Sinne einer intersubjektiven Objektivität wahr sind. So muss der Forscher bei mehrdeutigen Äußerungen entscheiden, ob er diese optimistisch oder pessimistisch interpretiert. Im Rahmen dieser Arbeit wird bei der Interpretation und Rekonstruktion grundsätzlich auf Kosten einer möglichen Beschönigung davon ausgegangen, dass Lernende in Interaktionsgeschehen rational handeln. Dies hat den Vorteil für die Didaktik, dass sich das „argumentative Potential des Unterrichts“ (Meyer 2007, S. 126) zeigt. Nochmals, dies heißt nicht, dass Lernende stets rational handeln. Die letzte Grenze betrifft die prinzipielle empirische Unschärfe von Begriffen (vgl. Bauersfeld 2013). Im Rahmen des Theorieteils wurde der Begriff der Überzeugung auf Grundlage von Kants Verständnis des Begriffes Überzeugung ausgeschärft und interaktionistisch sowie systemisch gewendet. Diese theoretische Fassung des Begriffs der Überzeugung als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendung des Sachverhaltes aus zureichenden inhaltlichen Gründen ist zunächst einmal scharf. Mithilfe dieser Fassung kann der Begriff gegenüber anderen mehr oder weniger scharfen Fassungen des Begriffes Überzeugung abgegrenzt werden. Allerdings ist dieser in der empirischen Realität letztlich doch unscharf. Denn dieser Begriff ist eine Konstruktion, die beispielsweise durch den Lesenden mit seinen je eigenen Erfahrungen, Gedanken und Einstellungen interpretativ rekonstruiert werden muss. Interpretatio-

80

Kapitel 4 Methodologie und Methode

nen bedingen wiederum Hypothesen (s.o.). Zugespitzt formuliert: Dem Begriff Überzeugung an sich liegt es nicht nahe, Überzeugung zu sein. Der Forscher hat trotz des entsprechenden Theorieteils möglicherweise einen anderen Überzeugungsbegriff als der Lesende. Über Kommunikation und die interpretative Aushandlung kann diese Unschärfe reduziert werden. Aber auch wenn etwa ein Arbeitsinterim etwa bezüglich des Begriffs der Überzeugung zwischen Leser und dem Forscher entsteht, so kann dies dennoch bedeuten, dass diese „[…] [das gleiche, M.M] machen bzw. sagen […], ohne dabei dasselbe denken zu müssen.“ (Krummheuer & Voigt 1991, S. 17) 4.5.5

Die Darstellung der Interpretationsergebnisse – Grobüberblick über die Szenen

In dieser Arbeit können nur die Rekonstruktionen berücksichtigt werden, die für eine Überzeugung als ein Fürwahrhalten aus zureichenden inhaltlichen Gründen relevant sind. Weitere potenziell interessante Interpretationen müssen unberücksichtigt bleiben. Bei der nun folgenden Analyse wurden nicht alle Interviews behandelt. Die Szenen wurden hinsichtlich ihres theoretischen und empirischen Gehaltes ausgewählt, um die theoretisch entwickelten Begriffe und Kategorien aufzuzeigen und eine Rekonstruktion von Indizien für Identifizierung von Gründen als zureichend zu ermöglichen. Auf Basis der Transkripte wurden vier Szenen ausgewählt. Die erste Szene verdeutlicht eine Überzeugung im Werden. In dieser wird ausgehend vom sich stetig aktualisierendem Interaktionsgeschehen in einzelnen Momentaufnahmen ein Überzeugtsein rekonstruiert, das in einer zusammenfassenden Rückschau als eine Überzeugung im Werden interpretiert wird. Die zweite und dritte Szene sind darauf ausgerichtet, Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend und den Interaktionsmoment des Zweifels zu rekonstruieren. Die vierte Szene bezieht sich auf einen Lernenden mit dem Förderschwerpunkt Lernen und soll zum einen die selbstentwickelte Kategorie des Vertrauens aufzeigen und zum anderen einen Vergleich zwischen Lernenden mit und ohne Förderbedarf bezüglich der Indizien für die Identifikation von

4.5 Untersuchungsplan und -verfahren

81

Gründen als zureichend und der Entwicklung einer Überzeugung aufzeigen. Zusätzlich wird, wenn auch nicht in der Ausführlichkeit der ersten Szene, eine Überzeugung im Werden aufgezeigt.

5.

Ausgewählte Analysebeispiele

5.1

Analyse I – Überzeugung im Werden1

Die hier in dieser Analyse verwendete Aufgabe heißt Der Wettkönig und ist ein Würfelspiel (in abgeänderter Variante nach Hußmann et al. 2014). Bei der hier eingesetzten Variante treten in insgesamt vier Spielrunde drei Tiere – Kaninchen, Koala und Igel – mit jeweils eigens von der Interviewerin manipulierten Würfeln gegeneinander an und müssen fünfzehn Felder bis zum Ziel überwinden. Die Augenzahl des zugehörigen Würfels bestimmt die Anzahl der Felder, um die die Spielfigur vorgerückt wird. Man muss dabei nicht passend im Ziel ankommen. Vor jeder Spielrunde entscheidet sich der Lernende für ein Tier und setzt dabei Süßigkeiten auf dieses Tier. Der Lernende spielt dabei gegen sich selbst. Gewinnt das Tier, wird der Einsatz des Lernenden verdoppelt. Kommen in einer Runde zwei Tiere gleichzeitig ins Ziel, gewinnt das Tier, was in dieser Würfelrunde die höhere Zahl hatte. In den ersten drei Runden weist dabei der Würfel des Kaninchens deutlich bessere Gewinnchancen auf. Vor der vierten Runde erhalten die Lernenden neue Würfel, sodass sich die Gewinnchancen zwar annähern, aber der Igel dennoch voraussichtlich gewinnen wird. Der genaue Aufbau der Holzwürfel ist der folgenden Tabelle zu entnehmen: Igel (gelb)

Kaninchen (grün)

Koala (rot)

Runde 1-3

{1;1;2;2;2;3}

{4;5;5;5;6;6}

{2;3;3;3;4;4}

Runde 4

{3;4;4;4;5;5}

{2;2;2;3;3;4}

{2;3;3;4;4;5}

Tabelle 5.1.1: Augenzahlen der einzelnen Würfel

Das Spielfeld hat fünfzehn Felder, da sich bei deutlich weniger Feldern die 1

Die Analyse ist bereits im Rahmen der Teilpublikation „Überzeugung im Werden. Vom Hinnehmen zum Wissen – Überzeugung als argumentativer Prozess“ (2019) verwendet worden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Moll, Überzeugung im Werden, Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5_5

84

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Würfel nur schwer so manipulieren lassen, dass die Auswirkungen auch durch rein empirisches Probieren leicht beobachtet werden kann. Deutlich mehr Schritte „ins Haus“ würden hingegen das Spiel zeitlich sehr in die Länge ziehen, auch wenn die Differenz der Würfel noch deutlicher zum Vorschein kommen würde.

Abbildung 5.1.1: Das Spielfeld

Die Spielbeschreibung der Aufgabe war wie folgt: In dieser Aufgabe treten Igel, Kaninchen und Koala gegeneinander an. Gewonnen hat, wer als erstes am Ziel ist. Der gelbe Würfel ist für den Igel, der grüne Würfel für das

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

85

Kaninchen und der rote Würfel für den Koala. Entsprechend sind auch die einzelnen Spalten farbig: links gelb, mitte grün, rechts rot. Jeder hat auch seine eigene passende Spielfigur. In jeder Wurfrunde müssen alle drei Würfel gewürfelt werden. Vor jeder Spielrunde muss eine Süßigkeit auf ein Tier gesetzt werden. Die Aufgabe wurde in einer 8. Klasse eines Gymnasiums durchgeführt. Inhaltlich wird in dieser Aufgabe der Laplacesche Wahrscheinlichkeitsbegriff thematisch. Wobei eine explizite Benennung oder Abfrage dieses Begriffs nicht Ziel dieser Aufgabe war. Durch den Austausch der Würfel und Fragen der Interviewerin während des gesamten Spiels werden Momente erzeugt, die die Lernenden animieren sollen, ihre Überlegungen, Gründe und Bedeutungen öffentlich zu machen. Gerade in Runde 4 sollte die Annäherung der einzelnen Wahrscheinlichkeiten dazu führen, dass die Gründe für die Entscheidung explizit angegeben werden müssen, da die Entscheidung bzgl. des Sieges zwischen Igel und Koala nicht eindeutig ist. Es gilt zu betonen, dass der Einsatz dieser Aufgabe forschungslogisch bedingt ist und nicht notwendig als eine Empfehlung für guten Unterricht anzusehen ist. Dies wäre insbesondere mit Blick auf die fingierte Alltäglichkeit problematisch. Nachdem sich Interviewerin und Martin begrüßt und gegenseitig vorgestellt haben und der Ablauf und die Intention des Interviews erklärt wurde, hat Martin (8. Klasse, Gymnasium) die Materialien der Aufgabe erhalten. Das Transkript beginnt nach dem Lesen der Aufgabenstellung und der Aufforderung, den Wetteinsatz auszusuchen, und setzt bei 02:35 min ein. 1

M

2

I

3

M

ok .. also für den Ersten würde ich jetzt zum Beispiel die Gummibärchen nehmen und dann würde ich die da hinlegen und dann würde ich- (Nimmt sich eine Packung Gummibärchen) ja. dann setze ich auf den Koala, das ist das Lieblingstier meiner Mutter

86

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

4

I

ok

Martin setzt zunächst eine Packung Gummibärchen auf den Koala. In Turn 3 nennt er zudem möglicherweise einen Grund. Der Koala sei das Lieblingstier seiner Mutter. Auch wenn es sich an dieser Stelle nicht um einen mathematisch-inhaltlichen Grund handelt, kann dies dennoch möglicherweise als vorläufiger inhaltlicher Grund interpretiert werden, der sich im Laufe der Interaktion als zureichend bewähren könnte, da dieser Grund als externer Grund für die Entscheidung des Setzens auf den Koala gedeutet werden kann. Anders formuliert: Der Grund ergibt sich zunächst als nichtmathematischer inhaltlicher Grund. Darüber hinaus könnte die Nennung dieses Grundes auch darauf hindeuten, dass der Lernende davon ausgeht, dass die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten wie bei einem klassischen Würfel ein Sechstel für jede Seite sind, da keine andere mathematisch gehaltvolle Begründung für den Lernenden zur Auswahl zu stehen scheint. Dies bleibt allerdings an dieser Stelle offen und könnte nur mit Blick auf Turn 16 f. in dieser Weise interpretiert werden. Nachdem in den Turns 5-13 die Aushandlung der Spielregeln im Mittelpunkt steht, werden in Turn 13 diese Spielregeln durch die Aussagen der Interviewerin festgelegt, sodass zunächst eine ganze Spielrunde gespielt wird, bevor von Martin erneut eine Süßigkeit gesetzt werden kann.

14

M

15

I

ok. (Wurfrunde I: Würfelt: Grüner Würfel vier, roter Würfel drei, gelber Würfel zwei) (leiser) Vier Drei Zwei (Rückt die Spielfiguren entsprechend der gewürfelten Augenzahlen vor) (12sec) mhm-

16

M

sind da irgendwelche Gewichte drin‘ (Greift und schaut sich kurz den grünen Würfel an)

Turn 14 zeigt, dass Martin die Spielregeln akzeptiert, da er nun mit dem Spiel fortfährt. Anschließend (Turn 16) fragt er unmittelbar nach dem Vorrücken der Spielfiguren, ob die Würfel durch Gewichte manipuliert seien und blickt für weniger als eine Sekunde auf den grünen Würfel. Zusammen

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

87

mit Blick auf Turn 3 kann dies als ein Indiz für einen ersten Zweifel bezüglich der Annahme handeln, dass es sich um klassische Würfel mit der Ergebniswahrscheinlichkeit ein Sechstel handelt. Der Grund dieses Zweifels könnte mit dem Würfelwurf zusammenhängen, der nicht den Erwartungen von Martin entspricht. Des Weiteren könnte an dieser Stelle rekonstruiert werden, dass der in Turn 3 genannte inhaltliche Grund, der mit der Gleichwahrscheinlichkeitsannahme zusammenhängen könnte, bis mindestens Turn 16 ein subjektiv zureichender Grund für Martin ist. Der Lernende befindet sich dieser Hypothese folgend bis zu Turn 16 in der Kategorie der subjektiven Überzeugung, da erst ab diesem Moment der bis dahin für die subjektive Überzeugung tragende Grund durch das Zweifeln an diesem Grund für Martin möglicherweise nicht mehr vollkommen zureichend ist. Dies gilt unter der Annahme, dass man bis hierhin den in Turn 3 genannten Grund als subjektiv zureichenden Grund annimmt. nö sind ganz normale Holzwürfel aber, (leiser) kannst du dir trotzdem genau angucken

17

I

18

M

(Wurfrunde II: Würfelt: Kaninichen fünf, Igel zwei, Koala vier, und hält inne. Rückt anschließend die Figuren vor und guckt sich dann die Würfel genau an) (23sec) ja (Schnalzlaut) ja (Schnalzlaut)

19

I

(Lachen) was hast du entdeckt‘

20

M

(Hält den grünen Würfel in der Hand) der hat nur Fünfen und Sechsen, Vier, der hat nur Vier Fünf und Sechs (nimmt den roten Würfel) und der hat, Drei Vier und Zwei (nimmt den gelben Würfel) und der nur Eins bis Drei, ja

21

I

ok spiel noch die Runde zu Ende

22

M

(Wurfrunde III: Würfelt: Kaninchen fünf, Koala drei, Igel zwei) fünf (Rückt die Figuren vor) (8sec) ja

88

23

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

I

also Kaninchen ist Erster geworden, Koala Zweiter, Igel Dritter .. dann ist der Einsatz leider weg

24

M

hätte man voraussehen können (lehnt sich zurück)

In Turn 17 greift die Interviewerin die Frage des Schülers nach den Gewichten auf und betont, dass es sich um normale Holzwürfel handelt, er sich die Würfel allerdings genauer anschauen kann. Da Martin im Anschluss nochmals würfelt, kann die Reaktion von Martin auf die Aussage der Interviewerin so interpretiert werden, dass er trotz seines Zweifels an seinem anfänglichen Grund und der Annahme, dass die Würfelseiten jeweils ein Sechstel wahrscheinlich sind, festhält und diesen weiterhin als zureichend annimmt. Dies ändert sich im Anschluss an das Würfeln in Turn 18. Martin beschreibt den Aufbau der einzelnen Spielwürfel. An dieser Stelle entwickelt sich nun ein anderer inhaltlicher Grund, der in der Interaktion bereits im Zweifel in Turn 16 angebahnt wurde. Die Interviewerin fordert im Anschluss den Lernenden auf, diese Runde noch zu Ende spielen, bei der das Kaninchen (grüner Würfel) gewinnt, der Koala (roter Würfel) Zweiter und der Igel (gelber Würfel) Dritter wird. Daraufhin sagt Martin, dass dies voraussehbar gewesen sei. Diese Aussage lässt sich mit Blick auf Turn 16, 18 und 20 so deuten, dass der in Turn 3 rekonstruierbare Grund spätestens an dieser Stelle nicht mehr zureichend ist und die bis dahin von diesem zureichenden Grund getragene subjektive Überzeugung, dass der Koala die gleichen Chancen auf den Sieg wie die beiden anderen Tiere besitzt, da die einzelnen Würfelergebnisse der einzelnen Würfel von Martin als gleichwahrscheinlich angenommen worden sind, ebenfalls nicht mehr trägt. An die Stelle dieser vermuteten subjektiven Überzeugung bahnt sich in Turn 16 über die folgenden Turns die subjektive Überzeugung an, bei der Martin fürwahrhält, dass die Wahrscheinlichkeiten für den Sieg der verschiedenen Tiere unterschiedlich sind, da die Würfelseiten nicht denen eines klassischen Würfels entsprechen. aber, alles geht wieder auf Start .. warum sagst du hätte 25 I man das voraussehen können´

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

26

M

89

ja weil das .. der muss höher sein als der, (Zeigt erst auf den grünen Würfel und dann auf den gelben Würfel) der kann, und wenn der am niedrigsten ist, ist der mindestens genauso gut wie der (Zeigt erst auf den grünen Würfel und dann auf den roten Würfel) und deshalb .. (Hält den grünen Würfel in der Hand) weil, ja das niedrigste ist hier ne Vier, (Hält den roten Würfel in der Hand) und da ist das höchste ne Vier, das heißt der muss gewinnen-

In Turn 26 wird der von Martin in den vorherigen Turns genannte Grund weiter ausgearbeitet. Nachdem zunächst die einzelnen Seiten der Spielwürfel beschrieben worden sind, die Spielrunde verloren wurde und erkannt worden ist, dass man den Verlust des Wetteinsatzes hätte voraussehen können (Turn 24), verweist er nun indirekt darauf, dass die Würfel unterschiedliche hohe Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Augenzahlen besitzen. So vergleicht er zunächst den grünen und den gelben Würfel und erkennt in diesem Vergleich, dass der gelbe Würfel „der am niedrigste ist“ (Turn 26). Im Anschluss vergleicht er den grünen und roten Würfel und erklärt damit möglicherweise, dass der grüne Würfel „mindestens genauso gut“ wie der rote Würfel ist. Dann sagt Martin, dass die „niedrigste“ Zahl des grünen Würfels eine Vier ist und dass dies gleichzeitig die höchste Zahl des roten Würfels sei. Daraus folgert er zunächst, dass der grüne Würfel gewinnen muss. An dieser Stelle ist durchaus bemerkenswert, dass die Tiere nicht erwähnt werden und somit für den Grund nicht relevant sind. 27 28

I M

ok (Zeigt dabei mehrmals auf die Würfel) wenn da nicht immer eine Vier kommt, und da auch, und das ist ziemlich unwahrscheinlich glaube ich

dann setze ich

90

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

29

I

dann darfst du dir jetzt für die zweite Runde wieder deinen Einsatz aussuchen

30

M

och dann nehme ich die ganze Tüte.

In Turn 28 vervollständigt der Lernende seinen Grund, der in den vorhergehenden Turns entwickelt wurde (16, 18, 20, 24, 26), mit einer Ausnahmebedingung und macht deutlich, dass es „ziemlich unwahrscheinlich“ (Turn 28) ist, dass in jeder Spielrunde sowohl beim roten als auch beim grünen Würfel eine Vier gewürfelt wird. Damit kann dieser Grund an dieser Stelle als ein subjektiv zureichender Grund gedeutet werden und somit befände sich Martin in der Kategorie der subjektiven Überzeugung. Diese Deutung wird auch durch Turn 30 gestützt, in dem er als Wetteinsatz die gesamte Tüte setzen möchte. 31

I

32

M

(I und S lachen) nein das geht nicht. (S nimmt sich ein Schokoladenbonbon und setzt ihn auf das Kaninchen) (4sec) ok diesmal auf das Kaninchen mit der Begründung, der hat, die höchsten Zahlen ja

Dieser Wetteinsatz wird allerdings von der Interviewerin unterbunden, was ebenfalls wie bereits in Turn 5f. als eine Aushandlung der Spielregeln verstanden werden könnte. Die Aussage der Interviewerin in Turn 31, dass die Begründung für den Wetteinsatz auf den „höchsten Zahlen“ liegt, lässt sich mit Blick auf den bis in Turn 30 entwickelten vollständigen subjektiv zureichenden Grund als eine Bestätigung des von Martin entwickelten Grundes deuten. In diesem Sinne wäre der subjektiv zureichende Grund mit Hinzunahme von Turn 32, in dem der Lernende der Aussage der Interviewerin zustimmt, für Martin auch ein Grund, der von ihm als für andere zureichend wahrgenommen wird. In diesem Sinne könnte an dieser Stelle

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

91

davon gesprochen werden, dass er sich in diesem Moment des Interaktionsgeschehens in der Kategorie der systemisch-interaktiv gefestigten Überzeugung befindet. In den nun folgenden Turns (Turn 33 – 38) spielt Martin das Spiel eine erneute Runde und hat dabei einen Schokoladenbonbon auf das Kaninchen gesetzt, was letztlich auch gewinnt. Den zweiten Platz hat der Koala und den dritten Platz der Igel erreicht. Im Anschluss folgt die dritte Runde, die die Interviewerin mit einer Frage beginnt. 39

I

ok, wir gehen zurück auf Start.. macht es denn einen Unterschied wenn du in der nächsten Runde die Würfel nicht zusammen sondern einzeln würfelst‘, du hast jetzt gerade immer zusammen geworfen‘

40

M

das würde keinen Unterschied machen

41

I

warum‘

42

M

43

I

weil sich ja jeder Würfel einzeln dreht, also, die Zahlen bleiben ja, (Nimmt den grünen Würfel) da steht ja immer noch äh da stehen ja immer noch die höchsten Zahlen drauf, (Zeigt auf den roten Würfel) und da die niedrigeren und (Zeigt auf den gelben Würfel) da die niedrigsten ok, wenn du also jetzt einzeln würfelst, setzt du dann immer noch auf das Kaninchen‘

44

M

ja.

Auf die Frage, ob es einen Unterschied mache, gleichzeitig oder einzeln nacheinander zu würfeln, (Turn 39) antwortet der Lernende, dass dies keinen Unterschied mache und begründet diese Aussage in Turn 42 damit, dass sich die Würfelaugen durch die Art des Würfelns nicht verändern und jeder Würfel sich „einzeln dreht“ (Turn 42). Zudem führt er in Ansätzen den von ihm in bis Turn 26 entwickelten subjektiv zureichenden Grund an. Die Verwendung des Grundes im Kontext der Frage der Interviewerin könnte als weitere Festigung des subjektiv zureichenden Grundes angesehen

92

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

werden. Dass dieser Grund zureichend ist, könnte sich auch an der Interaktion in Turn 43 und 44 zeigen, da Martin auf das Kaninchen, also den grünen Würfel setzt. Insofern kann mit Blick auf die Frage des Unterschieds der Art des Würfelverfahrens gesagt werden, dass sich Martin in der Kategorie der subjektiven Überzeugung befindet. Eine Bestätigung dieses Grundes oder ein anderes Kriterium, das von Martin als eine Zureichung dieses Grundes für die Interviewerin wahrgenommen werden könnte, bleibt aus. Womöglich vor dem Hintergrund der Aushandlung der Spielregeln des Setzens in den Turns 30 und 31 wettet Martin auch in der dritten Spielrunde (Turn 45 - 48) einen Schokoladenbonbon und wird von der Interviewerin ermutigt, doch mehr zu setzen, was er dann mit dem Setzen zweier Schokoladenbonbons auch bestätigt. Im Folgenden spielt er die dritte Runde und die dritte Spielrunde endet direkt als das Kaninchen gewinnt.

49

I

50

M

51

I

ja, würfel noch zu Ende, wer wird wieder Zweiter wer wird Dritter‘ der Koala wird wieder Zweiter, das ist ganz sicher. (Spielt die Runde zu Ende: Koala drei, Kaninchen eins, und im Anschluss: Koala drei) (10 sec) (sehr leise) genau, (lauter) ja, gleiche Reihenfolge wie eben, (langsam) Kaninchen, Koala .. Igel

52

M

das hätte man sich auch an den Tieren denken können oder‘

53

I

54

M

warum hätte man sich das an den Tieren denken können‘ ich glaube dass ein Kaninchen schneller ist als ein Koala und ein Koala schneller ist als ein Igel

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

55

I

93

ja in der Natur wahrscheinlich schon ja (Lachen), ok dann darfst du hier natürlich auch wieder zwei dazu kriegen … (Gibt ihm die Bonbons) dann ist das schon mal dein sicherer Sieg (Lachen) so, jetzt gehen wir auf Start zurück, (Setzt Figuren auf das Startfeld) aber jetzt für die letzte finale Runde kriegst du neue Würfel die kommen also weg- (Nimmt die alten Würfel weg und gibt ihm neue Würfel) … und du bekommst für jeden einen neuen (6sec) wer ist jetzt dein Favorit und warum‘, denk bitte wieder laut für mich .. was guckst du dir da an‘

Auf die Frage und Ermutigung hin, das Spiel zu Ende zu spielen, um den zweiten und dritten Platz auszumachen, spielt Martin zunächst nicht zu Ende, sondern gibt die Antwort vorab (Turn 50). Insbesondere die Äußerung „das ist ganz sicher“ (Turn 50) deutet darauf hin, dass sich der Lernende möglicherweise mit Blick auf den bisherigen Interaktionsverlauf und die von ihm wahrgenommene Erwartungshaltung der Interviewerin in Turn 49 in der Kategorie der systemisch-interaktiven Überzeugung befindet, mindestens jedoch befindet er sich in der subjektiven Überzeugung. Durch das Beenden des Spiels mit den entsprechenden Wurfrunden wird der Grund in Turn 50 geprüft und könnte somit auch aus dieser Perspektive als mathematisch zureichend angenommen werden. Dagegen erscheint Turn 52 auf den ersten Blick wie eine Reduktion der bisherigen Gründe, wenn man die in der Äußerung intendierten Inhalte nicht im Sinne dessen interpretiert, dass die Interviewerin die Würfel bewusst zu den Tieren zugeordnet hat. Für eine solche Deutung spricht zum einen das weitere Interaktionsgeschehen, in dem der Lernende sagt, dass er glaubt, dass ein „Kaninchen schneller ist als ein Koala und ein Koala schneller als ein Igel“ (Turn 54). In diesem Sinne könnte der Grund in Turn 52 als zusätzliche Stützung zum vorhergegangenen entwickelten Grund interpretiert werden. Zudem wäre es auch möglich, dass diese Aussage an dieser Stelle vom

94

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Lernenden eingebracht wurde, um zu prüfen, ob der bereits vorher entwickelte Grund sich auch im Interaktionsgeschehen bewährt. In diesem Sinne wäre Turn 52 möglicherweise als Provokation des Lernenden zu verstehen, um eine Bestätigung zu seinem bisherigen Grund zu erhalten und so von einer subjektiven Überzeugung zu einer systemisch-interaktiv gefestigten Überzeugung zu gelangen. Nämlich dann, wenn der in Turn 52 genannte Grund in Zusammenhang mit den bisherigen Gründen gelesen wird und von der Interviewerin bestätigt wird. Dafür spricht, dass im gesamten Interaktionsgeschehen bisher nur in Turn 31 eine zumindest interpretierbare Bestätigung seitens der Interviewerin erfolgt. In der nun folgenden letzten Spielrunde werden die Würfel für jedes Tier ausgetauscht. Die Siegwahrscheinlichkeiten von Koala und Igel werden angenähert. Das Kaninchen liegt mit Blick auf die Wahrscheinlichkeiten und dem Erwartungswert dahinter. Bevor das Spiel beginnt, fordert die Interviewerin den Lernenden auf, zu sagen, wer nun sein Favorit sei. Daraufhin beginnt der Lernende, die Würfel zu betrachten.

56

M

Öh ja, welche Ziffern die haben also welche Zahlen da drauf stehen und äh, (nimmt den grünen Würfel) der wird der letzte sein, weil der nur Drei und Zwei hat .. (nimmt den gelben Würfel in die Hand) der wird für mich der höchste sein weil der Vier Drei und Fünf hat .. (nimmt den roten Würfel) der hat auch Fünf Drei und Vier, aber der hat auch noch eine Zwei dabei .. und deshalb wird der (legt den gelben Würfel zu seiner Spalte) als erstes ins Ziel gehen, der (legt den roten Würfel zu seiner Spalte) als zweiter und der (legt den grünen zu seiner Spalte) wird diesmal der letzte sein

Die Antwort von Martin in Turn 56 bezieht sich wie auch im Argument in Turn 26 und 28 nicht auf die Tiere, sondern auf die konkreten Würfelseiten und ihren Augen. In diesem Sinne kann Turn 52 auch eher als zusätzlicher Grund zu den vorher genannten Gründen interpretiert werden. Andernfalls wäre womöglich in Turn 56 auch mit Tieren argumentiert worden. In Turn

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

95

56 sagt er, dass der grüne Würfel (also das Kaninchen) Letzter werden wird und begründet dies damit, dass dieser Würfel nur „Drei und Zwei hat“. Zudem beschreibt er den Unterschied zwischen dem roten und den gelben Würfel daran, dass der rote Würfel „auch noch eine Zwei dabei“ hat. Damit greift Martin wiederum den Grund in Turn 26 und 28 auf und aktualisiert diesen für die neue Situation. Dies kann ebenfalls als ein Indiz dafür angenommen werden, dass dieser Grund ein subjektiv zureichender Grund ist. Wobei sich dieser Grund auch als vorläufiger Grund interpretieren ließe, der sich erst im weiteren Interaktionsverlauf bewähren müsste oder eben nicht. Dafür spricht, dass der Grund in Turn 56 eher wie eine Beschreibung der einzelnen Würfelseiten anmutet.

57

I

58

M

ok dann such dir doch für die letzte, Runde deinen Einsatz aus- (4sec) (S nimmt ein Schokoladenbonbon und legt diesen auf die gelbe Spalte) auf den Igel (leiser) genau

59

I

dann los.

60

M

61

I

(Würfelt alle Würfel gleichzeitig: 1. Wurfrunde: Igel fünf, Kaninchen drei, Koala drei und rückt entsprechend die Spielfiguren vor) (leiser) ja das geht ja gut los (Lachen) (S spielt das Spiel, würfelt und rückt entsprechend die Spielfiguren vor: 2. Wurfrunde: Kanincen zwei, Koala fünf, Igel fünf, 3. Wurfrunde: Koala fünf, Kaninchen zwei, Igel vier, 4. Wurfrunde: Koala drei, Igel zwei, Kaninchen vier) (36sec) Mhm

Innerhalb dieses Teils des Interviews setzt Martin ein Schokoladenbonbon auf die gelbe Spalte des Igels. Da er durchaus auch mehr hätte setzen können, ist diese Handlung entweder als Relativierung der Zureichung des Grundes und somit im Sinne eines sich zu bewährenden vorläufigen Grundes in Turn 56 zu betrachten oder möglicherweise so interpretierbar, dass der Lernende davon überzeugt ist, dass es auch durchaus möglich ist, dass der Koala gewinnen könnte und es daher nicht sicher ist, dass der

96

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Igel, auf den Martin gesetzt hat, gewinnt. Möglich wäre es auch, dass Martin mit Blick auf die vorherige Aushandlung der Spielregeln annimmt, dass er nur ein Schokoladenbonbon setzen darf. Diese vorläufige Annahme würde sich dann ebenfalls durch das Spielgeschehen bestätigen, da der Igel und der Koala sich vor der vierten Wurfrunde nur mit einem Feld Unterschied auf dem Spielfeld befinden und nun in der letzten Wurfrunde zeitgleich ins Zielfeld kämen.

62

M

63

I

(Igel und Koala kommen in derselben Runde ins Ziel) (S deutet auf das gelbe Feld) ja der wäre erster gewesen genau. der Igel kommt hier mit der höheren Zahl rein

64

M

65 66

I M

67

I

68

M

ja hat noch mehr Felder, also ja hat der gewonnen, aber es war ein Kopf an Kopf Rennen ja

Bevor die Interviewerin nun entscheiden könnte, dass die Spielrunde unentschieden ausgeht, da Igel und Koala in der selbst Spielrunde ins Ziel kommen, eröffnet der Lernende dieses Interaktionsgeschehen mit einer erneuten Regelaushandlung, indem er sagt und nonverbal darauf hinweist, dass der Igel „erster gewesen“ wäre (Turn 62). Daraufhin bestätigt die Interviewerin diese Aussage und stützt dies mit dem Spielverlauf, der in den folgenden Turns durch die Interviewerin ausdifferenziert und vom Lernenden mit einem unmittelbar folgenden „ja“ bestätigt wird (Turn 63 - 68).

69

I

(Macht sich Notizen) woran liegt das denn‘ , hätte auch der Koala gewinnen können‘

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

97

70

M

äh … ja mit Glück

71

I

72

M

warum‘ (Hält den roten Würfel in der Hand) äh wäre beim Koala immer die Fünf gekommen, oder immer die Vier, und bei (Hält den gelben Würfel in der Hand) .. dem, immer die Drei, oder die Vier hätte der Koala gewonnen, (Hält den roten Würfel in der Hand) aber dadurch dass der Koala auch noch eine Zwei drin hat,

73

I

74

M

75

I

(Macht sich Notizen und nickt zustimmend) mhm-

76

M

so kann man sich das dann bestimmt insofern auch denken.

mhmund … mehr, (Hält erst den grünen und dann den gelben Würfel in der Hand) ich glaube der hat hier zwei Fünfen .. ja, der hat auch zwei Fünfen, ist die Wahrscheinlichkeit (Legt den gelben Würfel nach vorne) hier höher, ähm dass da auch ne höhere Zahl rauskommt bei .. ich würde sagen wenn man auch (Zeigt auf den roten Würfel) die alle addiert und (Zeigt auf den gelben Würfel) die alle addiert, und (Zeigt auf den grünen Würfel) die alle addiert hat der (Zeigt auf den Igel) die Höchste dann kommt der (Zeigt auf den Koala) und dann kommt der. (Zeigt auf das Kaninchen)

Im nun abschließenden Teil dieses Transkriptausschnittes eröffnet die Interviewerin das Interaktionsgeschehen mit der Frage, ob „auch der Koala gewinnen könn[te, M.M.]“ (Turn 70). An dieser Stelle antwortet Martin zunächst, dass der Koala auch mit Glück hätte gewinnen können. Im weiteren Verlauf (Turn 72) argumentiert der Lernende mit den jeweiligen Würfelseiten, etwa wenn er sagt „wäre beim Koala immer die Fünf gekommen oder immer die Vier“ und diese Aussage in unmittelbaren Zusammenhang

98

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

mit den Seiten des gelben Würfels stellt. Dies würde zur Hypothese passen, dass der Lernende bereits in Turn 56 und 57 diese Unsicherheit bezüglich des Gewinns des Igels mitbedacht hätte. Er könnte also nur ein Schokoladenbonbon gesetzt haben, weil er entsprechend vorsichtig war. Dafür spricht auch, dass Martin in Turn 72 wiederum ergänzt, dass der rote Würfel „eine Zwei drin hat“. In Turn 74 führt er den Grund dafür, dass der Igel die höchste Siegeswahrscheinlichkeit hat, weiter aus, indem er zunächst die zwei Fünfen als Grund anführt. Im unmittelbaren Anschluss ergänzt der Lernende dann, dass „wenn man die auch alle addiert“, also die gesamten Augen addiert, die Augensumme des roten Würfels größer als die Summe der Augen des gelben Würfels sein müsste und die Augensumme des gelben Würfels größer als die des grünen Würfels wäre. An dieser Stelle ist allerdings bemerkenswert, dass Martin die jeweiligen Summen nicht berechnet. Dies könnte möglicherweise ein Hinweis darauf sein, dass er so überzeugt von seinem Grund ist, dass er es für sich selbst nicht auszurechnen braucht. Dies würde wiederum dafürsprechen, dass der Grund in Turn 56 ein mindestens subjektiv zureichender Grund ist. Mit Blick auf Turn 76 könnte der in Turn 74 genannte Grund zudem ebenfalls als zusätzlicher Grund interpretiert werden. Somit würde sich der Lernende in dieser Momentaufnahme des Interaktionsgeschehens in jedem Falle in der Kategorie der subjektiven Überzeugung befinden. Möglicherweise könnte auch von einer systemisch-interaktiven Überzeugung gesprochen werden. Dafür spricht, dass eine Intervention der Interviewerin im Sinne einer Korrektur ausbleibt und es somit keine Ursachen für Zweifel gibt. Andersherum könnte angenommen werden, dass die von Martin genannten und entwickelten Gründe von ihm selbst als für andere – in diesem Falle die Interviewerin - zureichend wahrgenommen werden, weil eine entsprechende Intervention von ihr ausbleibt. Dass Martin im Nachgang zum Würfelwurf in Turn 55 weiterhin inhaltlich argumentiert und dabei seinen bereits zuvor entwickelten Grund transformiert und validiert, spräche ebenfalls für eine systemisch-interaktiv gefestigte Überzeugung. Zusammenfassung Im Analysebeispiel konnte gezeigt werden, dass das theoretisch entwickelte Begriffsnetz und damit auch die interaktionistische sowie systemi-

5.1 Analyse I – Überzeugung im Werden

99

sche Wendung empirisch tragfähig sind. Zum einen konnten die Kategorien des Fürwahrhaltens, insbesondere die Kategorien der subjektiven Überzeugung und der systemisch-interaktiv gefestigten Überzeugung, rekonstruiert werden. Eine subjektive Überzeugung konnte in den Turns 16, 28, 44, 49, 76 analysiert werden. Was die systemisch-interaktive Überzeugung betrifft, so zeigte sich für die Rekonstruktion dieser, dass diese in jedem Falle von der Interaktion abhängig ist. Martin könnte sich in den Turns 32, 49, 52, 76 in der Kategorie der systemisch-interatktiven Überzeugung befinden. Wie deutlich wird, tauchen die Turns 49 und 76 doppelt auf. Hier sind beide Rekonstruktionen möglich und die jeweilige Interpretation vom Kontext abhängig. In dieser Analyse zeigte sich, wie das für diese Kategorien notwendige Verhältnis von Fürwahrhalten von inhaltlichen Gründen im Rahmen eines Interaktionsgeschehens zu fassen ist. Das Fürwahrhalten und die davon abhängigen inhaltlichen Gründe sowie die entsprechenden Konsequenzen sind dabei nicht in einem statischen Sinne zu verstehen, sondern können sich mit Blick auf Blumer im Rahmen eines sich stetig aktualisierenden Interaktionsgeschehens fortlaufend ändern und aktualisieren, insofern die Bedeutungen und inhaltlichen Gründe von der Interaktion abhängig sind. In der sich fortlaufend aktualisierenden Interaktion kann ein Subjekt bewusst die Bedeutungen der Handlungen und damit auch die inhaltlichen Gründe, die diesem Handeln zugrunde liegen, reflektieren und so für sich selbst entscheiden, ob diese Gründe für einen selbst zureichend sind. So kann auch aus einem zunächst subjektiv unzureichendem, aber als für andere als zureichend wahrgenommenen Grund durch die sich fortlaufend aktualisierende Interaktion ein Grund werden, der für einen selbst zureichend ist. Auf der anderen Seite kann es sein, dass sich der Lernende dazu entscheidet, dass die Gründe für sich selbst nicht, aber dennoch für andere zureichend sein könnten. Dies geschieht ebenfalls in einem Interaktionsprozess, in dem die unterschiedlichen Bedeutungen angezeigt und hervorgebracht werden. Es zeigte sich zudem, dass verschiedene Indizien für Identifikation eines Grundes als zureichend rekonstruierbar waren. Ein Indiz für einen subjektiv zureichenden Grund kann die Verwendung eines Grundes in weiteren Kontexten und dessen Anpassung sein. Etwa

100

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

wenn es möglich ist, eine Ausnahmebedingung für diesen Grund zu benennen (Turn 28), oder wenn der Grund für eine neue Situation angepasst wird und sich für diese Situation als tragfähig erweist (Turn 52). Ein Grund kann auch dann für den Lernenden zureichend sein, wenn dieser positiv validiert wird. (Turn 50, 61-62). Ob ein Grund subjektiv zureichend ist, kann möglicherweise auch anhand der Handlung rekonstruiert werden; in dem Analysebeispiel etwa daran, wie viele Süßigkeiten der Lernende setzt (Turn 30). Indizien für die Identifikation von Gründen, die vom Lernenden als für den Interaktionspartner als zureichend wahrgenommen werden, können beispielsweise das Ausbleiben von Interventionen (Turn 72-74) oder die Bestätigung eines Grundes vonseiten der Interviewerin (Turn 31) sein. Als wesentliches Ergebnis dieser Analyse kann festgehalten werden, dass das entwickelte Begriffsnetz auch empirisch tragfähig ist. Zudem zeigt sich, dass eine Entkopplung von Überzeugtsein und Überzeugtwerden nur künstlich hergestellt werden kann. Denn Überzeugung ist ein dynamischer Prozess, der sich in einem entsprechenden Interaktionsgeschehen entwickelt. In diesem Sinne ist von einer Überzeugung im Werden zu sprechen, die abhängig von einem Fürwahrhalten ist. Dieses lässt sich zwar zu bestimmten Momenten als eine solche Momentaufnahme, also ein Überzeugtsein, rekonstruieren, ist aber letztlich von dem jeweiligen sich aktualisierendem Interaktionsgeschehen abhängig. Denn bereits im nächsten Moment des Interaktionsablaufs zerfällt der vorherige Moment und aktualisiert sich neu und es kann zu einer Veränderung und Validierung der bisherigen inhaltlichen Gründe kommen. Daher aktualisiert sich auch das Fürwahrhalten in Abhängigkeit der in diesem Interaktionsgeschehen vorgebrachten Gründe ständig, wie auch der Wechsel zwischen den Kategorien subjektive Überzeugung und systemisch-interaktive Überzeugung in den Turns 16, 28, 32 44, 49, 52, 76 zeigt. Davon sind auch die subjektiv als (nicht) zureichend empfundenen oder als für andere (nicht) zureichend wahrgenommenen Gründe nicht ausgenommen. Während also bestimmte Momente einer Interaktion im Sinne der entwickelten Kategorien als ein Überzeugtsein interpretiert werden können, so muss letztlich in einer Gesamtbetrachtung dieser Einzelmomente von einer Überzeugung im Werden gesprochen werden.

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

5.2

101

Analyse II – Indizien und Zweifel

Im Folgenden wird ein Interview analysiert, in dem die Lernende Caro die zweite Aufgabe „Wie lang soll der Pfad werden?“ bearbeitet hat. In dieser Aufgabe liegt der Fokus auf dem Kongruenzsatz SsW und darauf, dass dieser nur dann gilt, wenn der Winkel der längeren Seite gegenüberliegt. Die Aufgabenstellung dazu lautet wie folgt: „Der Ammersee ist der drittgrößte See in Bayern und ein beliebtes Reiseziel. Daher möchten die Gemeinden Dießen und Herrsching gemeinsam einen Touristenpfad in Form eines Dreiecks bauen. Dieser soll nicht nur am Ufer entlangführen, sondern als besonderes Erlebnis direkt über den See und die beiden Gemeinden so miteinander verbinden. Der Pfad soll in Herrsching beginnen und das Stück über den See nach Dießen 4 km lang sein. Von dort aus soll er 6,5 km am Ufer verlaufen und anschließend in einem Winkel von 60° zurück nach Herrsching führen, Wie lang soll der Pfad insgesamt werden?“ Diese Aufgabe wurde bewusst so konzipiert, dass sie nicht eindeutig lösbar ist. Für diese Konzeption wurde eine fingierte Realitätsnähe hergestellt. Denn es ist natürlich nicht immer zwangsläufig der Fall, dass ein Touristenpfad in Form eines Dreiecks angelegt werden soll. Es gilt zu betonen, dass diese Aufgabe nicht notwendig als Empfehlung für guten Unterricht anzusehen ist, sondern aus forschungsmethodischen Gesichtspunkten entwickelt worden ist. Im Wesentlichen stand dabei die Frage im Mittelpunkt, inwieweit und mit Blick auf welche inhaltlichen Gründe die Anwendbarkeit des Kongruenzsatzes SsW fürwahrgehalten wird. Zur Konstruktion dieses Dreiecks kann der Kongruenzsatz SsW angewendet werden. Der entsprechende Winkel von 60° liegt hier jedoch der kürzeren Seite – den 4 km – gegenüber, sodass das Dreieck nicht konstruierbar ist. Diese Aufgabe bietet also eine nähere Beschäftigung mit den Bedingungen dafür, wann der Satz SsW anwendbar ist und welche Indizien für die Zureichung von Gründen existieren. Das Problem der Unlösbarkeit kann zum einen auf

102

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

der enaktiven bzw. visuellen Ebene durch den Versuch, eine maßstabsgetreue Konstruktion anzufertigen, erkannt werden. Zum anderen kann direkt auf symbolischer Ebene formuliert werden, dass die Bedingungen für den Kongruenzsatz SsW nicht erfüllt sind und das Dreieck entsprechend nicht eindeutig konstruierbar ist. Im Anschluss an diese Feststellung könnte eine Variation der Aufgabe erfolgen, indem die beiden Seiten – 4 km und 6,5 km – vertauscht werden. Dadurch wäre SsW anwendbar und das Dreieck konstruierbar. Zu Beginn der Aufgabe (Turn 1-8) hat Caro versucht in der Karte, die der Aufgabenstellung beigefügt war, einen möglichen Verlauf des Seewegs zu skizzieren, welcher die folgende Form hatte:

Abbildung 5.2.1: Skizze für den Touristenpfad von Caro

Das Transkript setzt an dieser Stelle (07:11 min) ein. 9

I

(nickt, blickt zu Caro, dann auf die Skizze) ja ok und warum hast, du dich jetzt dafür entschieden die Verbindung zwischen,

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

103

ähm den beiden Gemeinden-, nich- (formt mit den Händen eine Spitze) direkt zu gehen‘ also einfach (wedelt mit der rechten Hand, blickt zu Caro dann wieder auf die Skizze) mit ner graden Linie‘ sondern, (blickt zu Caro) (blickt auf ihre Skizze, lehnt sich zurück, legt den Stift weg, blickt dann zu I) ja man möchte ja auch, (lehnt sich wieder vor) so viel wie möglich am Ufer gehen und wenn man jetz.. (zeigt etwas rechts in ihrer Skizze) hier erstmal bis da was macht und dann wenn hier Wald is dann (blickt zu I, dann wieder auf ihre Skizze) bringt eim da der See, Weg nix also der Uferweg- weils kein Uferweg

10

C

11

I

mhm (nickt)

12

C

13

I

mehr wäre‘ (blickt zu I, dann auf ihre Skizze, legt den Stift ab) und ja ja ok

Zunächst ist zu beobachten, dass Caro den Weg nicht in Form eines Dreiecks skizziert hat, sondern in einer von ihr selbst gewählten Form (vgl. Abb. 1). Die Interviewerin geht in Turn 9 auf diese Lösung ein, spricht hier aber noch nicht explizit an, dass der Weg auch die Form eines Dreiecks haben könnte. Sie weist durch ihre Frage darauf hin, dass auch „direkte Verbindungen“ und „gerade Linien“ möglich wären (Turn 9). An dieser Stelle könnte Caro die Frage so wahrnehmen, dass die von ihr konstruierte Lösung nicht den Erwartungen der Interviewerin entspräche. Somit könnte sie wahrnehmen, dass es keine zureichenden Gründe für die Interviewerin in Bezug auf ihre Lösung gibt. Möglich wäre allerdings auch, dass die Lernende diesen möglichen Einspruch nicht wahrnimmt. Da sie in den Turns 10 und 12 zwei Gründe für ihre Lösung nennt, sind beide Deutungsmöglichkeiten von Turn 9 möglich. Denn die Nennung des Grundes, „soviel wie möglich am Ufer gehen“ (Turn 10) und dass der Weg ein Uferweg sein soll, kann sowohl als Reaktion auf eine wahrgenommene Nichtzureichung, quasi als Gesichtswahrung als auch als entsprechende Antwort auf die Warumfrage der Interviewenden interpretiert werden. Die von Caro genannten Gründe könnten in einer ersten Reaktion als nicht zureichende

104

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Gründe interpretiert werden, da diese scheinbar rein subjektiv und mathematisch nicht thematisch sind. Zudem wird von der Lernenden in der Aufgabenstellung möglicherweise überlesen, dass der Touristenpfad die Form eines Dreiecks haben soll. Allerdings ist auch eine positive Interpretation mit Blick auf die „inszenierte Alltäglichkeit“ (Voigt 1984) dieser Aufgabe möglich. Denn möglicherweise hat die Lernende realisiert, dass der Kongruenzsatz SsW an dieser Stelle nicht anwendbar ist, obwohl alle relevanten Größen, also zwei Seiten (4 km bzw. 6,5 km) und ein Winkel (60°), der einer der Seiten gegenüberliegt, genannt werden. Mit Blick auf diesen Widerspruch und der Alltäglichkeit würde Caro eigene inhaltliche Kriterien für die Gestaltung des Pfades konstruieren. Wenn der Interpretation, dass Caro den Einspruch nicht erkannt hat, gefolgt wird, könnten die in Turn 10 und 12 genannten inhaltlichen Gründe durchaus als subjektiv zureichend interpretiert werden. Indizien für die subjektive Zureichung dieser Gründe könnten an dieser Stelle der hergestellte Bezug zur Aufgabenstellung und die von ihr vorgenommene Bestätigung der im vorherigen Verlauf konstruierten Skizze sein. In diesem Sinne wäre ein Indiz für die Identifikation eines subjektiven Grundes als zureichend die von der Lernenden positive Bestätigung ihrer eigenen Skizze. Zudem lässt sich im Bezug auf diese Gründe in diesem Interaktionsmoment von einer subjektiv zureichenden Überzeugung sprechen. Das Fürwahrhalten von Caro bezieht sich an dieser Stelle auf die Nicht-Anwendbarkeit des SsW. Als Indizien für die Identifikation für die Zureichung von Gründen könnten die Passung zur Aufgabe und die Argumentation über die Aufgabe hinaus rekonstruiert werden. Auf der anderen Seite könnte an dieser Stelle vermutet werden, dass Caro mit Blick auf die Aufgaben für die Form eines Dreiecks bzw. den Kongruenzsatz SsW weder subjektiv zureichende inhaltliche Gründe hat noch Gründe wahrnimmt, die als für die Interviewerin als zureichend gelten könnten. Andererseits liegen hier noch keine in der Interaktion als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe vor, da die Interviewerin nicht explizit auf einen möglichen Verlauf des Pfades in Dreiecksform eingegangen ist (Turn 9). Die Überzeugung von Caro hinsichtlich der Anwendbarkeit des Kongruenzsatzes SsW und dessen Relevanz für diese

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

105

Aufgabe entspricht somit höchstens einem Vertrauen, während man in Bezug auf ihre eigene Skizze und die interpretierte Alltäglichkeit von einer subjektiven Überzeugung sprechen könnte. Im weiteren Verlauf des Interviews legt die Interviewerin Caro leere Dreiecke als Hilfestellung bzw. als expliziten Hinweis auf Dreiecke und die damit einhergehenden Kongruenzsätze vor. Diese leeren Dreiecke werden von Caro so angeordnet, dass sie ungefähr ihrer skizzierten Form des Pfades (vgl. Abb. 2) entsprechen. Daraufhin spricht die Interviewerin zum ersten Mal explizit die Möglichkeit an, dass der Pfad auch die Form eines Dreiecks haben könnte. Um dies zu untermauern, fertigt sie selbst eine entsprechende Skizze an, die wie folgt aussieht:

Abbildung 5.2.2: Skizze der Interviewerin zu Aufgabe 2

Danach kommt folgende Interaktion zustande: 20

I

(blickt zu Caro) was findest du denn plausibler (tippt mit dem Bleistift auf die Skizze von I) also dass man so so in der Form von nem Dreieck macht‘ oder dass man das so, (leiser) mh, ähm (bewegt beide Hände) macht wie dus gemacht hast

106

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

21

C

22

I

(lehnt sich zurück) also ich fänds jetz schöner wenn das so .. (wedelt mit der rechten Hand hin und her, blickt zu I, die ihr heruntergefallenes Blatt wieder aufhebt, blickt wieder auf ihre Skizze) weil man, (wedelt mit der rechten Hand) wenn man ja so grade runter geht- dann, (blickt auf, wedelt mit der rechten Hand) (leiser) dann hat man ja keine Kurve oder so (blickt auf ihre Skizze) (lauter) und ich find halt mein Weg n bisschen schöner aber (wedelt mit beiden Händen, blickt zu I) mhm, (nickt) ok, ja

23

C

wenns die Gemeinde so möchte- (blickt auf ihre Skizze)

24

I

ja genau (lacht) .. (leise) ok (lauter) könntest du denn ähm versuchen dieses Dreieck mal zu zeichnen‘

25

C

(laut) ja

In Turn 20 fordert die Interviewerin Caro auf, ihre eigene Lösung mit der eines Dreiecks hinsichtlich einer Plausibilität zu beschreiben. Möglich wäre es an dieser Stelle, dass Caro diese Aufforderung als expliziten Hinweis versteht, dass die von ihr genannten Gründe von der Interviewerin als nicht zureichend interpretiert werden und von Seiten der Interviewerin erwartet wird, dass Caro entsprechend ihre eigenen Gründe und damit ihre Lösung hinsichtlich einer inhaltlichen Plausibilität prüft. In Turn 21 bezieht sich die Lernende auf die von ihr in den Turns 10 und 12 konstruierten Kriterien und umgeht daher zunächst die von der Interviewerin eingeforderte inhaltlich-mathematische Plausibilität. Sie beharrt auf ihren Gründen, indem sie sagt, dass sie ihren Weg „schöner“ (Turn 21) findet. Auf die Schönheit des von ihr gewählten Weges bezieht sie sich in diesem Turn zweimal. Diese Beharrlichkeit kann zum einen als Gesichtswahrung zum anderen als ein weiteres Indiz für die Zureichung eines Grundes interpretiert werden. Insbesondere auch, weil in den vorherigen Turns 14-19 ein Dreieck von der Interviewerin skizziert wird. Dieser Widerspruch gegen die Autorität der Interviewin könnte ebenfalls als ein Indiz rekonstruiert werden. Die Aussage in Turn 21 endet mit einem „aber“. Dieses „aber“ kann mit Blick auf die nun

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

107

folgenden Turns 22-25 wie folgt interpretiert werden. Die bisherigen zureichenden Gründe bleiben möglicherweise weiterhin zureichend. Allerdings hat Caro möglicherweise anfanghaft wahrgenommen, dass diese Gründe für die Interviewerin und möglicherweise auch für die Aufgabe an sich nicht zureichend sind. Diese Anfanghaftigkeit wird eventuelle dadurch sichtbar, dass sie am Ende von Turn 21 mit den Händen wedelt und zur Interviewerin blickt, was als eine Suche nach Bestätigung interpretiert werden könnte. Das Nicken und „mhm, ok, ja“ (Turn 22) könnte von Caro als eine solche Bestätigung wahrgenommen werden. Dies würde bedeuten, dass Caro wahrnimmt, dass die Konstruktion eines Dreiecks an dieser Stelle eher ein zureichender Grund wäre, als die bis hierhin von ihr genannten Kriterien. Insofern können als Indizien für die Identifikation von Gründen als für andere als zureichend wahrgenommen, das Explizitmachen dieser Gründe etwa durch eine Skizze (Turn 20) oder die Bestätigung (Turn 22) angenommen werden. Der Interaktionsverlauf in den Turns 23 bis 25, bei der die Interviewerin Caro auffordert „dieses Dreieck mal zu zeichnen“, kann ebenso als ein als für andere als zureichend wahrgenommener Grund für die Anwendbarkeit des SsW interpretiert werden. Damit würde sich Caro, da sie an dieser Stelle möglicherweise nur Gründe wahrnimmt, die als für andere als zureichend von ihr interpretiert werden könnten, zu diesem Zeitpunkt des Interaktionsverlaufs in der Kategorie der Überredung befinden. Dabei wurde sie durch die Aufgabenstellung an sich „wenns die Gemeinde so möchte“ (Turn 23) und im Rahmen des Interaktionsverlaufs (Turn 20-25) von der Interviewerin überredet. (setzt sich auf, blickt auf ihre Zeichnung) s soll ja n Rundweg sein ne‘

26

C

27

I Mhm (nickt)

28 29 30 31

(leise) ok (nimmt das Geodreieck, blickt auf ihre Zeichnung) (7 C sec) die vier Zentimeter müssen auch, da- (tippt mit dem Bleistift auf ihre Zeichnung, blickt kurz zu I).. (leise) über den See I (nickt) C ok (stützt den Kopf auf den Arm) I mhm (nickt)

108

32

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

C

dann-.. (leise) schauen wa mal (misst etwas in ihrer Zeichnung) (27 sec)

Im Folgenden versucht Caro, ein den Angaben in der Aufgabenstellung entsprechendes Dreieck selbst zu konstruieren. Es kann entsprechend mit Blick auf die Turns 20-25 davon ausgegangen werden, dass sie im Laufe der Interaktion Gründe als zureichend wahrgenommen hat, dass der Touristenpfad die Form eines Dreiecks haben soll. Dennoch ist zu beachten, dass sich diese Wahrnehmung als für andere als zureichend sich möglicherweise ausschließlich darauf bezieht, den Touristenpfad in Form eines Dreiecks anzulegen. Ob an dieser Stelle der Kongruenzsatz SsW anwendbar ist, bleibt auch für Caro wahrscheinlich offen, da dafür weder subjektiv zureichende noch als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe im Laufe des Interaktionsgeschehens interpretierbar sind. Bei dem Versuch das entsprechende Dreieck für den Touristenpfad maßstabsgetreu zu konstruieren, was jedoch nicht funktioniert, da der Kongruenzsatz SsW nicht gilt, sucht Caro mehrfach die Bestätigung von I für die in ihrer Konstruktion verwendeten Seiten und Winkel und erhält diese auch. Somit könnte dies mit Blick auf ein Fürwahrhalten bezüglich der grundsätzlichen Konstruierbarkeit des Dreiecks folgendermaßen interpretiert werden. Caro hält es für wahr, dass das Dreieck konstruierbar ist. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Caros Fürwahrhalten sich nicht (mehr) konkret auf die Anwendbarkeit des SsW bezieht. Die Gründe für das Fürwahrhalten bzgl. der Konstruierbarkeit des Dreiecks sind an dieser Stelle mindestens als für andere als zureichend von ihr wahrgenommen, wie mit Blick auf die Turns 20-25 deutlich wird und ebenfalls mit Bezug auf die Turns 26-32 interpretierbar ist. Denn zum einen fordert die Interviewerin die Lernende auf, das Dreieck zu konstruieren, zum anderen wird von der Interviewerin mehrfach bestätigt, dass die von ihr verwendeten Seiten und Winkel stimmen. Allerdings kann an dieser Stelle nicht angenommen werden, dass Caro subjektiv zureichende Gründe besitzt, was der Kategorie der Überredung entsprechen würde.

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

109

An dieser Stelle ist zudem von einem sich anbahnenden Zweifel auszugehen. Der Begriff des Zweifels wird an dieser Stelle für Interaktionsmomente genutzt, bei denen mindestens zwei zureichende Gründe für einen Interaktionspartner vorhanden sind, die mit jeweils zwei unterschiedlichen Sachverhalten bzw. Anwendbarkeiten eines Sachverhaltes verbunden sind. Konkret verhält es sich an dieser Stelle so, dass Caro durch ihr Scheitern bei der Konstruktion des Dreiecks für sich selbst zureichende Gründe entwickelt, die der Konstruierbarkeit und damit der Realisierung des Dreiecks wiedersprechen. Allerdings hat sie zeitgleich als für andere als zureichende Gründe wahrgenommen, die aus ihrer Sicht dafürsprechen könnten, dass das Dreieck konstruierbar ist. Es bleibt an dieser Stelle des Interaktionsverlaufs offen, ob Caro die Konstruierbarkeit oder Nicht-Konstruierbarkeit fürwahrhalt. Dieser Zweifel besteht auch im folgenden Interaktionsgeschehen fort und erhärtet sich.

33

I

mh was is, (wedelt mit den Händen) dein Problem woran überlegst du‘

34

C

(hebt die Arme, wedelt mit den Händen, blickt zu I) ja, die vier Zentimeter passen nich so- also (blickt dann wieder auf ihre Zeichnung)

35

I

mhm. was meinst du mit die passen nich‘

36

C

also .. (tippt mit dem Bleistift auf den Punkt A ihrer Zeichnung) hier solls ja anfangn-

37

I

Ja

38

C

und hier solls ja enden- (Punkt C ihrer Zeichnung)

39

I

40

C

41

I

mhm nur, wenn ich jetz von da nach da vier Zentimeter zeichnen möchte‘, (blickt kurz zu I) dann endet es hier oder da (irgendwo zwischen den Punkten A und C) (lehnt sich nach hinten, blickt auf ihre Zeichnung) hm

42

C

.. (leise) also nochmal

110

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

43

I

44

C

45

I

woran könnte das denn liegen´ das wir sechs zentimeter brauchen bis dahin .. ok, neuer Versuch (atmet hörbar aus) (C misst mit dem Geodreick 36 sec) so würde das passen jaa- (C betrachtet die Skizze)

Der in den Turns 26-32 angebahnte Zweifel wird von der Interviewerin in Turn 33 aufgegriffen und mit einer Frage verbunden. So wird Caro aufgefordert ein „Problem“ für die Konstruktion des Dreiecks zu nennen (Turn 33). Daraufhin beschreibt Caro in Turn 34, dass die Seite mit 4 cm zu kurz ist, um das gesuchte Dreieck zu vervollständigen. Dabei blickt sie zudem die Interviewerin an. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Caro schon unmittelbar vor dieser Szene zweimal nachgefragt hat, ob sie auch die richtigen Größen verwendet hat, lässt sich dies als eine erneute Einforderung einer Bestätigung verstehen. Dies könnte so interpretiert werden, dass die Lernende möchte, dass der von ihr angebahnte Zweifel und damit der anfanghafte zureichende Grund, dass das Dreieck nicht konstruierbar ist, von ihr bei der Interviewerin als ein für die Interviewerin ebenfalls zureichender Grund wahrgenommen werden soll. Damit wären an dieser Stellen Indizien für die zumindest anfanghafte Zureichung subjektiver Gründe die Prüfung der Anwendbarkeit. Allerdings liefert die Interviewerin an dieser Stelle weder eine Bestätigung noch einen Hinweis darauf, warum die Dreieckskonstruktion nicht möglich ist (Turn 35). Daraufhin beschreibt Caro das Problem differenzierter: Anfangs- und Endpunkt der Strecke sind zwar bekannt, die 4 cm sind allerdings nicht lang genug, um diese beiden Punkte zu verbinden (Turn 36 - 40). Nachdem sie keine Bestätigung seitens der Interviewerin erhält (Turn 41), entschließt sie sich aufgrund dieser fehlenden Bestätigung dazu, die Konstruktion noch einmal zu wiederholen (Turn 42 und 44). Diese Wiederholung der Konstruktion könnte als Indiz für die Identifikation eines subjektiven Grundes als nicht zureichend interpretiert werden. Somit wäre der Zweifel an dieser Stelle zugunsten eines Fürwahrhaltens der Konstruierbarkeit des

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

111

Dreiecks aufgelöst worden. Denn Caro hätte eigentlich mindestens subjektive Gründe anzunehmen, dass das Dreieck nicht konstruierbar ist. Sie bemerkt, dass die vier Zentimeter der einen Seite zu kurz sind und dass die Interviewerin ihr im Laufe des Interaktionsgeschehens mehrfach bestätigt hat, die richtigen Größen verwendet zu haben.

(nimmt den Zirkel aus der Verpackung 20 sec) vielleicht ja mit 46 C nem Zirkel (zieht die Mundwinkel nach unten, runzelt die Stirn, hält den Zirkel vor sich hoch, blickt darauf) 47 I (nickt) vielleicht 48 C (stellt im Zirkel einen bestimmten Radius ein) (19 sec) 49 I was hast du jetzt fürn- Radius genommn´ 50 C vier Zentimeter (blickt zu I) 51 I okay (zeichnet etwas mit dem Zirkel) (8 sec) (leise) (okay?) (radiert et52 C was) (leise) mhm (lauter) warum ähm, zeichnest du jetzt nich zu Ende 53 I den Kreis (blickt auf ihre Zeichnung) weil das nicht aufgeht- (murmelt etwas, zeichnet weiter) (10 sec) das geht schon eher (radiert wie54 C der etwas, zeichnet dann wieder etwas) (19 sec) und was is wenn das jetzt einfach so bleibt´ (wedelt mit der rechten Hand, blickt auf ihre Zeichnung) 55 I (lacht) 56 C (öffnet die Hände) ja doch

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Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

In den Turns 46 - 56 nimmt Caro einen Zirkel zur Hand und konstruiert damit eine Art Dreieck, das jedoch statt einer 4 cm langen Strecke (AC in Abb 3.) als Seite eine kreisbogenförmige und daher längere Seite hat (vgl. Abb. 3), als Zielfigur. Diese Figur wird als „Bogendreieck“ bezeichnet. Die entsprechende Zeichnung sieht wie folgt aus (die Beschriftung wurde nachträglich von I hinzugefügt, um in den Transkripten und der Analyse leichter auf die jeweiligen Punkte bzw. Seiten Bezug nehmen zu können):

Abbildung 5.2.3: Lösung von Caro zu Aufgabe 2

Dieser Interaktionsverlauf könnte im Nachhinein bestätigen, dass Caro sich bezüglich der Nicht-Konstruierbarkeit des Dreiecks in der Kategorie der subjektiven Überzeugung befindet. Somit wäre der Zweifel in Richtung eines Fürwahrhaltens der Nicht-Konstruierbarkeit des Dreiecks aufgelöst. Als subjektiv zureichender Grund kann hierbei ihr Scheitern bei der Konstruktion eines Dreiecks und zusätzlich die kreative Lösung dieses Problems mithilfe einer kreisbogenförmigen Seite angenommen werden. Zudem möchte sie die Aufgabe beenden, indem „das [Dreieck , M.M.] einfach so bleibt“ und sie so die Nicht-Konstruierbarkeit verdeutlicht. Dagegen spricht allerdings weiterhin, dass Caro dieses Dreieck überhaupt konstruieren will, obwohl sie deutlich macht, dass „das nicht aufgeht“ (Turn 54). Daraufhin setzt die folgende Sequenz ein:

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

113

mhm ok, (beugt sich vor, zeigt auf die Aufzeichnungen) ähm, aber wenn du jetz zum Beispiel, äh den Zirkel hier unten (zeigt auf den Punkt B in der Zeichnung von C) einstichst‘ (blickt zu Caro) .. (lehnt sich zurück, gestikuliert) und dann den Kreis mit vier Zentimeter Radius machst, wäre denn dann deine .. der Pfad unten immer noch sechs Komma fünf Kilometer lang?

57

I

58

(blickt auf die Aufzeichnungen) … das das das-, (lehnt sich zuC rück, blickt zu I, spielt an dem Zirkel, stützt die Ellenbogen auf den Tisch) keine Ahnung, also eigentlich ja schon.

59

I

61

ja(blickt zu I) weil man sticht ja einfach nur- rein aber (blickt auf C ihre Aufzeichnungen, spielt mit dem Zirkel) I mhm (nickt)

62

C (nickt) doch, doch ich würd sagen ja

63 64

I C (nickt)

60

ja‘

In diesem Interaktionsverlauf bleibt weiter unklar, ob Caro ihr Gesicht wahren möchte, oder ob sie eine grundsätzliche Konstruktion des Dreiecks fürwahrhält. Caro bejaht die Frage der Interviewerin in Turn 57 in gewisser Weise richtig (Turn 58 und Turn 62), obwohl es sich um ein Missverständnis bezüglich der Wahl des Kreismittelpunktes und der Länge der Seite handelt. Zudem ist es möglich, dass sich die Aussagen von Caro in Turns 58 und 62 nicht nur auf diese Seite, sondern auf ihre gesamte Konstruktion beziehen und sie die Konstruierbarkeit des Dreiecks mit den Größen fürwahrhält. Als subjektiv zureichende Gründe könnten in diesem Fall interpretiert werden, dass der Zirkel auf 4 cm eingestellt ist und der Kreisbogen den Rundweg ermöglicht. In Turn 63 und möglicherweise bereits in Turn 59 erhält Caro eine Bestätigung ihrer Aussage seitens der Interviewerin. Als Indizien für die Identifikation der subjektiven Gründe als zureichend gelten hierbei die entsprechende Konstruktion und damit Prüfung des „Bogendreiecks“, bei dem es zudem zu einer einer Übereinstimmung mit den Werten aus der Aufgabenstellung kommt. Eine solche Übereinstimmung

114

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

kann in diesem Kontext ebenfalls als Indiz für die Zureichung eines subjektiven Grundes angenommen werden. Weiterhin gibt es für die Aussage „doch, doch ich würd sagen ja“ von Caro in Turn 62 zwei mögliche Hypothesen, worauf diese sich beziehen könnte. Zum einen könnte sie sich wieder auf die von der Interviewerin in Turn 57 gestellte Frage beziehen. Dann könnte man diesbezüglich die bereits skizzierten Gründe annehmen, dass Caro die Fragestellung der Interviewerin in ihrer eigenen Weise interpretiert und mit ihrer Aussage möglicherweise alles relativiert. Nämlich, dass die Seite c um 2,5 cm verkürzt würde, wenn man B als den Mittelpunkt eines Kreises mit dem Radius 4 cm wählt. Zum anderen kann sich Caro auf ihren Begründungsansatz in Turn 60 beziehen, was auch die diesbezüglich rekonstruierten subjektiv zureichenden inhaltlichen Gründe stützen würde. Die zweite Hypothese könnte mit Blick auf die zeitliche Abfolge des Interaktionsverlaufs wahrscheinlicher sein. Zudem bestätigt die Interviewerin die oben rekonstruierten subjektiv zureichenden inhaltlichen Gründe von Caro (Turn 63), sodass sich diese im Interaktionsgeschehen bestätigen. Insofern kann die Bestätigung eines Grundes seitens des Interaktionspartners wieder als ein Indiz für die Zureichung eines Grundes, der als für andere als zureichend wahrgenommen wird interpretiert werden. Weiterhin sind solche Momente der Bestätigung dazu in der Lage, einen subjektiv zureichenden Grund auch zu einem Grund, der als für andere als zureichend wahrgenommen wird, zu erweitern. Insgesamt könnte an dieser Stelle rekonstruiert werden, dass sich Caro in der Kategorie der systemisch-interaktiven Überzeugung befindet. Ihr Fürwahrhalten bezieht sich dabei auf die grundsätzliche Konstruierbarkeit des Dreiecks. In den folgenden drei Minuten gibt die Interviewerin insgesamt fünf Aussagen mit Vorschlägen hinein, wie die Nicht-Konstruierbarkeit hinsichtlich einer Konstruierbarkeit des Dreiecks gelöst werden kann, und bittet Caro, Süßigkeiten auf eine oder mehrere Aussagen zu setzen. Interessant ist dabei, dass die Interviewerin damit bestätigen könnte, dass das Dreieck nicht konstruierbar ist. Somit könnte auch davon ausgegangen werden, dass Caro eine Nicht-Konstruierbarkeit des Dreiecks fürwahrhält.

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

115

Die Aussagen waren: 1. Du musst den Winkel auf 40° verändern, dann funktioniert das. 2. Halbiere einfach die 6,5 km und schon klappt die Aufgabe. 3. Die 4 cm müssen um 2 cm verlängert werden und dann musst du den Schnittpunkt nehmen. 4. Wenn man die beiden Seiten vertauscht, dann kann man das Dreieck zeichnen. 5. Die Aufgabe ist lösbar, wenn man bei Dießen einen Winkel von 53° einzeichnet Nachdem Sie die Aussagen erhält, setzt Caro eine Tüte Gummibärchen auf die vierte Aussage, die besagt, dass die Seiten mit 4 cm bzw. 6,5 cm jeweils vertauscht werden sollen. Damit würde der SsW gelten. Dieses Setzen könnten möglicherweise so interpretiert werden, dass Caro doch eine Überzeugung bezüglich der Anwendbarkeit des Kongruenzsatzes SsW hatte, auch wenn diese nicht wahrnehmbar und rekonstruierbar war. Wahrscheinlicher ist aber eine andere Interpretation. Denn hätte sie Überzeugungen zur Anwendbarkeit des Kongruenzsatzes SsW, dann hätte sie diesen schon vorher anwenden können, z.B. zur Erklärung der Nicht-Konstruierbarkeit des Dreiecks. Im Folgenden erkennt Caro zunächst nicht, dass sie auf die richtige Antwort gesetzt hat. Sie führt aber das Vertauschen der entsprechenden Seiten gedanklich aus. Im Anschluss setzt folgendes Gespräch ein:

70

C

71

I

72

C

73

I

74

C

eh das kann klappn, (stützt den Kopf auf die Hand, blickt auf ihre Zeichnung) (blickt zu Caro) mhm aber, das Seestück-‘, (blickt zu I) soll ja vier Zent- vier Kilometer habn. (blickt nach unten) (blickt zu Caro) mhm .. (lehnt sich zurück) aber vielleicht würd ja dann die Gemeinde hergehen und sagen ok wir ham uns vertan‘, das funktioniert nich‘ ja kann gut sein- (fährt sich durch die Haare)

116

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

75

I

76

C

wir machen jetz das Seestück einfach länger‘ und das Landstück einfach kürzer. das kann gut sein (fährt sich durch die Haare, blickt auf ihre Zeichnung)

Caro kommt schließlich zu der Annahme, dass die vierte Aussage richtig sein kann (Turn 70). Zwar lehnt sie in Turn 72 zunächst ihre Vermutung mit Blick auf die Aufgabenstellung wieder ab. Doch nachdem die Interviewerin einen guten Grund gegen diesen Einwand von Caro anführt, übernimmt sie diesen. Dieses Fürwahrhalten ist jedoch nicht eindeutig als systemisch-interaktive Überzeugung zu kategorisieren, da keine als für andere als zureichend wahrgenommenen Gründe für die Korrektheit der vierten Aussage, sondern lediglich gegen den Einwand von Caro interpretierbar sind. Nach weiteren Überlegungen dazu wird anhand der letzten Sequenz deutlich, wie zureichend der subjektive Grund sein könnte.

78 79

mhm (nickt) okay alles klar, und das ist dir eine- eine Tüte Gummibärchen wert. C ja I ok aber nich alle drei Sachen‘

80

C nein (schüttelt mit dem Kopf)

81

I

ok warum, dann doch nich alle drei‘

82

C

(blickt auf ihre Zeichnung) weil das ein zu großes Risiko is (blickt zu I)

77

I

Caro hat subjektiv zureichende Gründe dafür, dass die vierte Aussage richtig ist evtl. sogar dafür, dass der SsW anwendbar ist. Hinzu kommt, dass ihre Einwände von Seiten der Interviewerin entkräftigt worden sind. Dennoch ist dieser Grund nicht so zureichend, dass sie bereit ist, alle Süßigkeiten auf diese eine Aussage zu setzen. An dieser Stelle wird sichtbar, dass es Abstufungen in der Zureichung geben könnte. Damit würde deutlich werden, dass zwischen der Zureichung und der Nicht-Zureichung eines Grundes noch Abstufungen liegen. Mit Blick auf die empirische LehrLern-Realität ist dies auch sinnvoll, denn diese ist nicht trennscharf. Ein

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

117

Indiz für Identifikation einer solchen Abstufung könnte die Art und die Quantität beim Setzen sein. Zusammenfassung Mit Blick auf den gesamten Interaktionsverlauf zeigt sich zunächst, dass die Kategorien der Überredung, der subjektiven Überzeugung und der systemisch-interaktiven Überzeugung rekonstruierbar sind. Zudem konnte eine Überzeugung im Werden gezeigt werden. Denn aus der Überredung (Turn 25, 32 und 44), dass das Dreieck überhaupt konstruierbar ist, wird im weiteren Verlauf eine subjektive Überzeugung (Turn 52), dass das Dreieck in der von ihr gewählten Weise konstruierbar ist und schließlich durch Caros Interpretation der Bestätigung im Rahmen der Turns 57-64 eine systemisch-interaktive Überzeugung. Entscheidend könnten im Rahmen dieser Interaktion und der Überzeugung im Werden möglicherweise zwei Momente sein. Zunächst der Zweifel in den Turns 26 bis 32. In diesen Momenten des Zweifels konkurrieren die subjektiv zureichenden Gründe, dass das Dreieck nicht konstruierbar ist, und der von Caro als für andere als zureichend wahrgenommene Grund für die Konstruierbarkeit des Dreiecks. Diese Veränderung des Fürwahrhaltens hin zu einer systemisch-interaktiven Überzeugung bezüglich der Konstruierbarkeit wird beim zweiten Moment deutlich, als Caro im Rahmen des Turns 44 daran festhält, dass Dreieck konstruieren zu wollen. Sie wiederholt nochmals ihre Konstruktion und könnte anhand ihres Scheiterns bei der Konstruktion ihres Dreiecks fürwahrhalten, dass dieses Dreieck nicht konstruierbar ist. Obwohl sie zudem in den Turns 32 bis 45 auch anhand der Seiten argumentiert, dass das Dreieck nicht konstruierbar ist, scheint der in vorhergehenden Turns entwickelte Zweifel dazu zu führen, dass sie das „Bogendreieck“ konstruiert und der subjektiv zureichende Grund nicht (mehr) zureichend für sie ist. Anhand dieser kreativen Lösung könnte Caro fürwahrhalten, dass das Dreieck konstruierbar ist. Im letzten Abschnitt (Turn 70-82) wurde zudem deutlich, dass Abstufungen bzgl. der Zureichung von Gründen existieren. Wesentliche Erkenntnisse dieser Analyse sind daher zum einen, dass eine Überzeugung im Werden auch für die Anwendung eines mathematischen

118

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Sachverhaltes rekonstruierbar ist und sich das theoretische Begriffsnetz somit an dieser Stelle weiterhin als tragfähig erwiesen hat. Zum anderen kann der Begriff des Zweifels mithilfe der empirischen LehrLern-Realität entwickelt werden. Ein Zweifel besteht aus zwei konkurrierenden zureichenden Gründen, bei dem es letztlich im Rahmen des Interaktionsverlaufs zu einer Auflösung hinsichtlich eines mit dem jeweiligen Grund verbundenen Fürwahrhaltens kommen kann. Somit kann es zu einer Festigung des bisherigen Fürwahrhaltens oder zu einer Veränderung desselben kommen. Weiter konnten in dieser Analyse verschiedene Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend rekonstruiert werden. Für subjektiv zureichende Gründe sind dies: x

x x x x

Erzeugung einer Lösung mittels einer Lösung, durch das Herstellen von Bezügen zwischen dem mathematischen Sachverhalt bzw. der Anwendung des Sachverhaltes und Aufgabenstellung (Turn 58-64) Anpassung der inszenierten Alltäglichkeit (Turn 10 und 12) Wiederholung eines Grundes (Turn 21) Widerspruch gegen die Autorität (Turns 14-21) Validierung des Grundes und Prüfung der Anwendbarkeit etwa mithilfe der Aufgabenstellung oder dem Anfertigen einer Konstruktion (Turns 26-32, 46-56)

Für Identifikation von Gründen, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, konnten folgende Indizien rekonstruiert werden: x x

Explikation eines latent vorhandenen Grundes seitens des Interaktionspartners (Turn 20) Bestätigung des eigenen Grundes seitens einer anderen Person (Turns 22, 59, 63)

5.2 Analyse II – Indizien und Zweifel

x

119

Aufforderung zur Handlung durch einen anderen Interaktionspartner (Turns 23-25)

Letzte Erkenntnis dieser Analyse ist, dass in der empirischen Lehr-LernRealität auch Abstufungen bzgl. der Zureichung eines Grundes existieren können. Für diese Abstufungen gibt es zwei Hinweise. Zum einen die Auseinandersetzung mit den Schülergründen in den Turns 77-82 bei der die Lernende nicht alle drei Süßigkeiten auf den von ihr gewählten Schülergrund setzen möchte. Hinzu kommt, dass sich die Zureichung eines Grundes in Anbetracht eines Zweifels ebenfalls als mehr oder weniger zureichend zeigen könnte. Diese Abstufungen werden in dieser Arbeit nicht weiter differenziert, werden in Analyse III allerdings nochmals aufgegriffen. Um eine genauere Differenzierung zu ermöglichen, müssten weitere Aufgabenformate entwickelt werden, die eine solche Differenzierung erlauben. Dies erscheint mit Blick auf zukünftige Arbeiten sicherlich sinnvoll. Es kann nur festgehalten werden, dass Abstufungen sich möglicherweise im Rahmen von Wetteinsätzen (s. Analyse I) und in den Momenten des Zweifels rekonstruieren lassen könnten.

120

5.3

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Analyse III – Weitere Indizien zur Identifikation eines zureichenden Grundes

In der dritten Analyse steht wie in der zweiten Analyse die Rekonstruktion von Indizien für Identifikation von Gründen als zureichend im Fokus. Bei dem ausgewählten Transkriptausschnitt handelt es sich um das zweite Interview mit Felix, einem Schüler der vierten Klasse einer Grundschule. In den vorhergehenden 15 Minuten füllt er die Tabellen des Arbeitsblattes aus. Das Arbeitsblatt ist im Wesentlichen aus Meyer 2007 entnommen.

Pfeil 1

Pfeil 2

Abbildung 5.3.1: Arbeitsblatt

Pfeil 3

Pfeil 4

5.3 Analyse III – Weitere Indizien

121

In dieser Aufgabe wird implizit der Funktionsbegriff thematisch. Implizit deshalb, weil Lernende der vierten Klasse diesen noch nicht explizit kennen. Dies ist auch eine Begründung für den Einsatz dieser Aufgabe. Denn Wissen aus dem Schulunterricht kann bei dieser Aufgabe nicht angewendet werden, was auch so beabsichtigt war. Denn die Aufgaben sollen kein Wissen abfragen, sondern sind forschungslogisch bedingt entwickelt worden. Sie dienen dazu, dass Gründe für das jeweilige Fürwahrhalten angegeben werden müssen. Dies wird durch die Aufgabe ausführlicher als in Unterrichtssituationen üblich eingefordert. Denn insbesondere die Pfeile 1 und 3 sind schwierig zu unterschieden und können aus mathematischer Sicht nicht eindeutig einer Reihe zugeordnet werden. Diese Uneindeutigkeit führt dazu, dass eine Begründung für die Zuordnung eingefordert werden kann. Hinzu kommt, dass im weiteren Verlauf des Interviews Felix fiktive Schülergründe präsentiert werden, zu denen er Stellung beziehen soll. Es gilt auch hier zu betonen, dass der Einsatz dieser Aufgabe nicht notwendig als eine Empfehlung für guten Unterricht anzusehen ist. Die in diesem Interview relevanten Gründe waren: Schülergrund D „Die Reihe Sebastian bekommt den ersten Pfeil. Seine Werte werden immer größer. Würde man genauso viele Bauklötze übereinander bauen und sie nebeneinander stellen würde diese Mauer genauso nach oben gehen wie der erste Pfeil.“ Schülergrund C „Die Reihe Katja ist einfach. Sie bekommt den zweiten Pfeil. Denn ihre Werte werden immer kleiner.“ Schülergrund H „Man kann die Pfeile nicht genau zuordnen, weil es keinen Maßstab gibt. Deswegen weiß man nicht, wie steil z.B. ein Pfeil sein muss.“

122

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Schülergrund B „Der vierte Pfeil gehört zu Reihe Luca. Seine Reihe macht so unregelmäßige Sprünge von einer Zahl zur nächsten und wird am Ende noch größer als Sebastians.“ Felix hat die Tabelle im Laufe der ersten Arbeitsphase wie folgt ausgefüllt:

Abbildung 5.3.2: Die von Felix ausgefüllte Tabelle

Der Ausschnitt setzt an der Stelle (15:30 min) ein, als Felix die einzelnen Reihen den vier Pfeilen zuordnen soll. Dazu hat die Interviewerin die Namen der Reihen2 und die Pfeile jeweils auf DIN-A4-Blättern ausgedruckt mitgebracht. 98 99 100

2

I F I

okay, gut, dann geb ich dir jetzt mal, vier Pfeile mhm die leg ich hier mal … auf den Tisch (verteilt die vier Pfeil auf dem Tisch, 4 sec) die Reihe ist noch aktuell die leg ich hier oben drüber‘ (legt die Tabelle oberhalb der Pfeile auf den Tisch) (verteilt die vier Pfeil auf dem Tisch, 2 sec) so, wir haben vier Pfeile aber nur drei Reihen, jetzt möchte ich dass du .. ähm jeder Reihe .. einen Pfeil zuordnest, also damit

Es wird an dieser Stelle von Reihen gesprochen, die mit den jeweiligen Namen innerhalb der Tabelle verbunden sind. Eigentlich handelt sich dabei um eine Folge von Zahlen.

5.3 Analyse III – Weitere Indizien

101

F

123

ist gemeint- wie könnte denn die Reihe irgendwie bildlich durch diese Pfeile dargestellt werden´ (legt die Namensschilder neben die Pfeile) mh (nimmt die Tabelle zu sich, notiert „-1“ neben die Reihe Katja, flüstert etwas unverständliches, 11 sec) (flüstert) minus eins .. mh (schaut sich die Tabelle und die Pfeile an, 4 sec) (legt das Namensschild „Katja“ auf Pfeil 2, 5 sec) (schaut sich die Tabelle und die Pfeile an und legt das Namensschild „Sebastian“ auf Pfeil 3, 5 sec) (schaut sich die Tabelle und die Pfeile an und legt das Namensschild „Luca“ auf Pfeil 4, 11 sec)

Abbildung 5.3.3: Die Zuordnung der Pfeile von Felix

Auf Aufforderung der Interviewerin ordnet Felix die Namen den Pfeilen zu. Dabei nennt er möglicherweise nur bei der „Reihe“ von Katja einen Grund, indem er in Turn 101 „minus eins“ sagt. Diese kurze Aussage könnte als anfanghafter Grund interpretiert werden, da Felix ansonsten nichts Weiteres sagt und die „-1“ kurz zuvor neben die Reihe von Katja schreibt. Dies könnte darauf hindeuten, dass Felix einen Zusammenhang zwischen Pfeil 2 und der von ihm festgestellten Abnahme in der Reihe von Katja herstellt. Für die anderen Zuordnungen werden von Felix zunächst keine Gründe benannt.

124

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

102 103

I F

104 105

I F

106 107

I F

108

I

109

F

110

I

111

F

wie kommst du da drauf‘ also weil Katja, die geht ja als einzige runter .. also von den Zahlen nach unten (fährt Pfeil 2 entlang) mhm … luca geht ja äh davor, Sebastian geht ja nicht so nach oben (malt mit dem Finger einen diagonalen Pfeil von einer Ecke des Papiers zur anderen Ecke neben Pfeil 3) also, er geht ja nicht so eins zwei drei er macht ja so wirklich schon, steile Schritte fünfzehn dreizig und so mhm und Luca (fährt schrittweise Pfeil 4 nach) der ist halt erst mal so, und dann so, und dann wird er immer steiler, also so von der Pluszahl halt, sozusagen von der es wird ja immer größer wie meinst du (5 sec) was meinst du mit von der Pluszahl her‘ also der .. (zeigt auf seine Randnotiz neben der Tabelle) Su, Summand (lacht), ähm (zeigt neben Pfeil 4 einen linearen Verlauf des Graphen) der wird ja nich der bleibt ja nicht immer gleich, (fährt Pfeil 4 mit dem Finger 2x nach) der verändert sich ja auch und deshalb ist das ja kein so richtig, grader Strich sondern so einen nach oben mhm (5 sec) okay so gewölbt

In Turn 102 werden seitens der Interviewerin von Felix Begründungen für seine Zuordnungen eingefordert. Felix nennt dann als einen für sich subjektiv zureichenden Grund, dass die Zuordnung von Pfeil 2 zur „Reihe“ von Katja damit zusammenhängt, dass „die geht ja als einzige runter .. also von den Zahlen nach unten“ (Turn 103). Da er zeitgleich mit seinem Finger Pfeil 2 entlangfährt ist zu vermuten, dass der bereits in Turn 101 anfanghafte Zusammenhang zwischen der Abnahme der Zahlen in der Reihe von Katja und dem nach unten gerichteten Pfeil 2 konkretisiert wird. In Turn 105 geht Felix auf die Reihe von Sebastian ein und beschreibt, dass diese

5.3 Analyse III – Weitere Indizien

125

Reihe durch „steile Schritte fünfzehn, dreißig und so“ (Turn 105) und nicht durch kleinere Schritte der Form „eins, zwei drei“ (ebd.) geprägt ist. Dies könnte mit Blick auf den Unterschied zwischen Pfeil 1 und Pfeil 3 so interpretiert werden, dass Felix für diese Zuordnung einen subjektiv zureichenden Grund besitzt, der im Rahmen dieses Interaktionsgeschehen nur für sich selbst gültig ist. Ein Indiz für die Identifikation des Grundes als zureichend könnte sein, dass Felix sich bei der Zuordnung der Reihe Sebastian zwischen Pfeil 1 und Pfeil 3 entscheiden musste. Anders formuliert musste Felix sich an dieser Stelle entscheiden, was er fürwahrhält. Da er sich für die Zuordnung der Reihe Sebastian zu Pfeil 3 entscheidet, kann davon ausgegangen werden, dass der von Felix in Turn 105 genannte Grund mit Blick auf dieses Fürwahrhalten für ihn subjektiv zureichend ist. Denn er hätte sich an dieser Stelle auch fürwahrhalten können, dass Pfeil 1 zur Reihe von Sebastian zugeordnet werden sollte. Im Anschluss geht Felix dann auf die Reihe von Luca zu Pfeil 4 ein und sagt dazu: „und dann wird er immer steiler, also so von der Pluszahl halt, sozusagen von der es wird ja immer größer“ (Turn 107). An dieser Stelle ist ebenfalls zu vermuten, dass Felix einen subjektiv zureichenden Grund für das Fürwahrhalten dieser Zuordnung besitzt. Die Beschreibung, dass es „von der Pluszahl halt“ (ebd.) „immer größer“ (ebd.) wird, könnte darauf hindeuten, dass Felix mindestens wahrgenommen hat, dass die Reihe nicht nur linear wächst, auch wenn er möglicherweise die genaue Zuordnungsvorschrift nicht realisiert. Darauf deutet auch Turn 109 hin. In diesem sagt er sinngemäß, dass sich der Summand verändert und nicht gleichbleibt. Zudem stellt er in diesem Turn einen expliziten Bezug zu Pfeil 4 her, da dieser „kein so richtig, gerader Strich“ sei, sondern „gewölbt“ (Turn 111) ist. Wie auch bei den anderen Zuordnungen könnte für Felix als Grund für die Zuordnung zwischen der Reihe Luca und Pfeil 4 eine Kombination aus der Form der Pfeile und die Veränderungen innerhalb der einzelnen Reihen angenommen werden. Dieser Grund wird allerdings von der Interviewerin nicht aufgegriffen, sodass dieser nur als subjektiv zureichender Grund rekonstruiert werden könnte. Daher lässt sich festhalten, dass sich Felix Fürwahrhalten als eine subjektive Überzeugung kategorisieren lässt. Indizien für die Identifikation der Gründe als zureichend könnten sein, dass Felix den Grund bestehend aus Form des Pfeils und Veränderung innerhalb der einzelnen

126

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Reihen für jede seiner Zuordnungen nutzt und diesen daher für den jeweiligen Kontext transformiert. Nach dieser Zuordnung der Pfeile zu den einzelnen Reihen werden von der Interviewerin zunächst fünf fiktive Schülergründe hineingegeben. Zu diesen soll Felix auch mit Blick auf seine eigenen Zuordnungen Stellung beziehen. Zunächst betrachtet er folgenden fiktiven Schülergrund: Schülergrund D „Die Reihe Sebastian bekommt den ersten Pfeil. Seine Werte werden immer größer. Würde man genauso viele Bauklötze übereinander bauen und sie nebeneinander stellen würde diese Mauer genauso nach oben gehen wie der erste Pfeil.“ 112

I

113 114

F I

115

F

gute Ideen .. ich hab dir hier wieder ein paar Meinungen mitgebracht (breitet die Zettel links neben den Pfeilen aus) mhm ma schaun, ob du immer noch dabei bleibst, oder- was du zu denen zu sagen hast (liest die Argumente, schaut sich ab und zu die Pfeile an, 44 sec) mh .. also sie sagen ja es sind eher so mit Sebas es ist eher so mit Sebastian (zeigt auf Pfeil 1) aber ich finde- wie hoch müsste es dann wie hoch ist es dann hier (zeigt auf Pfeil 3) .. also ist das dann fünfundzwanzig, oder, es müsste ja dann schon wirklich (fährt mit dem Namensschild nochmal den Pfeil nach) steil nach so

Dieser von Felix gewählte Grund widerspricht seiner Zuordnung und somit möglicherweise seinem subjektiv zureichenden Grund. Denn in diesem Schülergrund wird eine Zuordnung der Reihe Sebastian zu Pfeil 1 vorgenommen. Felix hat allerdings Pfeil 3 der Reihe Sebastian zugeordnet. Felix nimmt also zunächst einen anderen Grund wahr. Es bleibt an dieser Stelle offen, ob von Felix wahrgenommen wird, dass dieser Grund als für andere als zureichend interpretiert wird, was prinzipiell möglich wäre und daher einen Zweifel erzeugen würde.

5.3 Analyse III – Weitere Indizien

127

Im Rahmen von Turn 115 bezieht sich Felix auf seinen in Turn 105 genannten Grund zurück, indem er die Reihe von Sebastian nochmals mit der Steigung des Pfeils 3 vergleicht. Diese Wiederholung und die Anwendung des Grundes im Kontext von anderen Gründen könnten als Indiz für einen zureichenden Grund rekonstruiert werden. Worauf sich die 25 beziehen bleibt an dieser Stelle allerdings unklar. Insgesamt könnte daher mit Blick auf Turn 115 interpretiert werden, dass der fiktive Schülergrund von Felix als nicht zureichend wahrgenommen wird, da er mithilfe des Rückbezugs auf seinen vorhergenannten Grund seine Zuordnung der Reihe Sebastian zu Pfeil 3 weiterhin fürwahrhält. 116 117

worauf beziehst du dich gerade‘

I F

auf die ähm .. (zeigt zur Tabelle) bei hier immer plus fünfzehn, der Summan also der Summand ist ja ziemlich .. also groß

Die Frage der Interviewerin in Turn 116 könnte auf zwei Weisen gedeutet werden: Entweder ist der Bezug unmittelbar zur Reihe von Sebastian gemeint oder sie deutet darauf hin, dass die Interviewerin nicht weiß, auf welchen Grund sich Felix bezieht. Der Lernende macht mit Blick auf die Turns 105 und 115 zunächst nochmals deutlich, dass „der Summand […] ja ziemlich .. also groß“ (Turn 117) ist und nutzt damit seinen subjektiv zureichenden Grund aus Turn 105 auch in diesem Interaktionsmoment, bevor er der Interviewerin zeigt, auf welchen Schülergrund er sich bezieht. In den Turns 119 bis 125 wird zunächst nochmals geklärt, welchen Schülergrund Felix meint. 126

F

127 128

I F

ja (3 sec) weil es sind halt sind, er sagt es ist eher der (zeigt auf Pfeil 1), ja aber ich finde weil der Pfeil drei ist es weil er hat eine große Zahl und deshalb geht sie hier auch immer steiler nach oben (zeigt bei Pfeil 3 schrittweise nach oben) … eh

128

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

mhm … okay also das fliegt schon mal raus (legt Schülergrund D zur Seite) 130 F ja Nach dieser Klärung macht Felix nochmals deutlich, dass der Schülergrund eher die Zuordnung von Pfeil 1 zur Reihe Sebastian fürwahrhält. Daraufhin nutzt Felix in Turn 128 seinen bereits entwickelten subjektiv zureichenden Grund (s. auch Turn 105, 115, 117) und wird in Turn 129 möglicherweise von der Interviewerin implizit bestätigt, wodurch er nun auch einen als für anderen zureichenden Grund wahrnehmen könnte, der für das Fürwahrhalten der Zuordnung von Pfeil 3 zur Reihe Sebastian spricht. Darauf deutet hin, dass der Turn 128 möglicherweise noch nicht ganz beendet ist und die Interviewerin entsprechend den Schülergrund als unzureichenden Grund annimmt, was auch durch die Handlung des Weglegens nochmals bekräftigt wird. Dass Felix in Turn 130 zudem dieser Handlung nicht widerspricht, könnte ebenfalls darauf hindeuten, dass Felix sich in diesem Moment im Bezug auf das Fürwahrhalten der Zuordnung des Pfeils 3 zur Reihe von Sebastian in der Kategorie der systemisch-interaktiven Überzeugung befindet, da er sowohl subjektiv zureichende Gründe hat, als auch eine Zureichung eines Grundes für die Interviewerin wahrnimmt. Auch wenn dieser Grund von der Interviewerin nicht expliziert wird, sondern möglicherweise nur von ihm in Form einer Bestätigung seines subjektiv zureichenden Grundes wahrgenommen wird. Als Indiz für die Identifikation von subjektiven Gründen als zureichend könnte an dieser die Wiederholung eines Grundes rekonstruiert werden. Da dieser Grund im Rahmen dieses Interaktionsgeschehens mehrfach von Felix wiederholt wird, könnte angenommen werden, dass dies eine deutlichere Zureichung ist. Dass eine Abstufung hinsichtlich der Zureichung möglich sein könnte, wurde bereits in Analyse II sichtbar. Als ein Indiz für die Identifikation eines Grundes, der als für andere als zureichend wahrgenommen wird, könnte hier die Bestätigung seitens der Expertin in Turn 129 angenommen werden. Zudem könnte in dieser Sequenz mit Blick auf den möglicherweise durch den Schülergrund D in Turn 115 aufgeworfenen Zweifel festgehalten werden, dass ein Zweifel ein Interaktionsmoment ist, bei dem zwei zunächst 129

I

5.3 Analyse III – Weitere Indizien

129

zureichende nicht äquivalente Gründe, die sich auf den gleichen mathematischen Sachverhalt beziehen, miteinander konkurrieren. Solche Momente ermöglichen ein Hinterfragen der eigenen Überzeugung und den damit verbundenen inhaltlichen Gründen. Ein solcher Moment des Zweifels kann entweder zu einer Veränderung des eigenen Fürwahrhaltens oder zu einer Festigung derselben führen. (vgl. dazu Analyse II). In der folgenden Interaktion bezieht sich Felix auf Schülergrund C. Schülergrund C „Die Reihe Katja ist einfach. Sie bekommt den zweiten Pfeil. Denn ihre Werte werden immer kleiner.“ 131 132

I F

133

I

was sagst du zu den andern‘ die Reihe Katja hat (nimmt Schülergrund C in die Hand und reicht ihn I), ist ja auch der gleichen Meinung okay, weg damit (nimmt Schülergrund C entgegen)

In diesem Grund sieht Felix eine Bestätigung seines eigenen subjektiv zureichenden Grundes. Damit könnte an dieser Stelle ebenfalls eine systemisch-interaktive Überzeugung rekonstruiert werden, da zu den subjektiv zureichenden Gründen auch als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe kommen. Als Indiz für die Identifikation eines Grundes, der als für andere als zureichend wahrgenommen wird, könnte rekonstruiert werden, dass Felix den Grund in Turn 132 auf einer Metaebene nicht den konkreten Inhalt des Grundes thematisiert, sondern nur die womöglich als offensichtlich unterstellte Passung zum eigenen Fürwahrhalten. Im weiteren Interaktionsverlauf setzt sich Felix nun mit Schülergrund E auseinander. Schülergrund E „Die Reihe Luca bekommt den dritten Pfeil. Seine Werte sind noch größer als Sebastians. Also ist der Turm auch höher; also auch der Pfeil steiler.“

130

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

134

F

135 136 137

I F I

(nimmt Schülergrund E in die Hand, 2 sec) ähm .. die sagt … da bezieht sie sich nicht auf den ähm, (zeigt in die Tabelle) plus hier sondern auf, das Ergebnis, und ich bezieh mich eher auf da plus und minus Sachen (reicht I den Zettel E) mhm das war also .. bezieht sich darauf (..) weil der Pfeil steiler ist okay, mhm

In Turn 134 wird der von Sebastian in den Turns 109 und 111 entwickelte Grund für die Zuordnung von Pfeil 4 zur Reihe von Luca erweitert. Eine ähnliche Wiederholung und Erweiterung des eignen Grundes konnte bereits bei der Auseinandersetzung mit dem Schülergrund D in den Turns 115 bis 130 rekonstruiert werden, was damit die Interpretation einer Wiederholung und Transformation eines Grundes als Indiz für die Identifikation eines subjektiven Grunds als zureichend stützt. Felix verdeutlicht, dass seine Zuordnung sich nicht ausschließlich das Ergebnis beziehe, sondern auf die Veränderung zwischen den einzelnen Werten. Auch wenn Felix es nicht expliziert, so könnte man an dieser Stelle vermuten, dass er sich auf die Steigung eines möglicherweise implizit vorhandenen Graphen und die Veränderung zwischen zwei Punkten dieses Graphen bezieht. Auch an dieser Stelle wird wie bereits in Turn 115 deutlich, dass der Schülergrund seinem eigenen Grund widerspricht und somit ein Zweifel entsteht. Mit Blick auf diesen Zweifel könnte auch rekonstruiert werden, wie zureichend ein Grund ist, was mit Blick auf mögliche Abstufungen der Zureichung von Gründen sinnvoll wäre. Schülergrund H „Man kann die Pfeile nicht genau zuordnen, weil es keinen Maßstab gibt. Deswegen weiß man nicht, wie steil z.B. ein Pfeil sein muss.“ Schülergrund B „Der vierte Pfeil gehört zu Reihe Luca. Seine Reihe macht so unregelmäßige Sprünge von einer Zahl zur nächsten und wird am Ende noch größer als Sebastians.“

5.3 Analyse III – Weitere Indizien

138

F

139 140

I F

141

I

142

F

131

(liest Schülergrund H, 6 sec) (lacht) der sagt ja überhaupt nichts, so richtig dazu .. er findet es geht gar nicht so richtig (reicht Zettel H an I) ja- ... (nimmt sich Schülergrund B) ja und er ist der, Meinung auch wie ich, Pfeil vier (zeigt auf Pfeil 4) ... ja, es ist ja, wenn man so ge sich genauso anguckt es geht ja am Ende sogar hier sogar (zeigt auf Pfeil 4) stei, ler nach oben als hier (zeigt auf Pfeil 3), also es ist, denk ich auch schon die vier, bei Luca mhm (4 sec) okay, das war der .. und wegen der unregelmäßiger Sprünge … okay ja

In den folgenden Turns 138 - 142 sortiert Felix zum einen den Schülergrund H, der besagt, dass eine Zuordnung der Pfeile zu den Reihen aufgrund des fehlenden Maßstabs nicht möglich sei, als Grund aus. Zum anderen sieht er sich mit Blick auf Schülergrund B in seiner Zuordnung der Reihe Luca zu Pfeil 4 bestätigt. Durch diese Bestätigung eines als für anderen als zureichend wahrgenommenen Grundes, könnte sich Felix zu diesem Zeitpunkt auch mit Blick auf diese Zuordnung in der Kategorie der systemisch-interaktiven Überzeugung befinden. Zudem fügt er in Turn 141 einen weiteren Grund für diese Zuordnung ein, indem er Pfeil 3 und Pfeil 4 miteinander vergleicht, und für sich feststellt, dass Pfeil 4 „sogar steiler nach oben“ (ebd.) verläuft. Diese Steigung setzt er möglicherweise in direkten Bezug zur in Schülerargument B genutzten Formulierung „noch größer als Sebastians“ und gleichzeitig in Bezug auf seine Zuordnung von Pfeil 3 zur Reihe Sebastian, was letztlich zu einer Bestätigung beider Zuordnungen führt. In Turn 141 greift die Interviewerin die „unregelmäßigen Sprünge“ auf und bestätigt damit möglicherweise das Schülerargument. Dies könnte zusätzlich dazu führen, dass dieser Grund von Felix nun als für die Interviewerin als zureichender Grund wahrgenommen wird. Dies würde nochmals die Kategorisierung einer systemisch-interaktiven Überzeugung in diesem Moment stützen.

132

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Zusammenfassung Zunächst konnten im Rahmen dieser Analyse verschiedene Indizien für die Identifikation eines subjektiven Grundes als zureichend und Indizien für Identifikation eines Grundes, der als für andere als zureichend wahrgenommen wird, rekonstruiert werden. Diese decken sich in Teilen bereits mit den in den Analysen I und II rekonstruieren Indizien, es konnten allerdings auch weitere Indizien herausgearbeitet werden. Für subjektiv zureichende Gründe waren diese Indizien folgende: x Entscheidung für ein Fürwahrhalten in Anbetracht verschiedener Alternativen (Turn 105) x Wiederholung eines Grundes (Turn 115, 128, 134) x Anpassung eines Grundes (Turn 103, 105, 109, 111, 134). Als Indizien für die Identifikation eines Grundes, der als für andere als zureichend wahrgenommen, wurden rekonstruiert: x x

Bestätigung des eigenen Grundes durch eine andere Person (Turn 129) Passung eines Grundes für das eigene Fürwahrhalten (Turn 132, 140)

Zudem konnte in dieser Analyse wie in Analyse II der Zweifel als ein Interaktionsmoment rekonstruiert werden, bei dem zwei nicht äquivalente Gründe miteinander konkurrieren. Dieser Zweifel kann ein Hinterfragen der eigenen Überzeugung und den damit verbundenen inhaltlichen Gründen ermöglichen. Ein solcher Moment des Zweifels kann sich im Rahmen des Interaktionsgeschehens auflösen und entweder zu einer Veränderung des eigenen Fürwahrhaltens oder zu einer Festigung desselben führen (vgl. dazu Analyse II). Die Frage danach wie mit dem Zweifel innerhalb des Interaktionsgeschehens umgegangen wird kann zudem auch ein Hinweis darauf sein, wie zureichend die Gründe sind. Denn wenn es zu einer Veränderung des Fürwahrhaltens kommt, könnte angenommen werden, dass die Gründe nicht so zureichend waren. Andersherum könnte eine Bewährung der Gründe in Anbetracht der Zweifel ein Hinweis dafür sein, dass die Gründe deutlicher zureichend sind. Dies erscheint auch mit Blick auf diese

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

133

Analyse sinnvoll, denn es zeigte sich in den Momenten des Zweifels (Turn 115-130), dass es zu einem Rückbezug und einer Wiederholung der eigenen Gründe kam. Diese mehrfache Wiederholung weist womöglich ebenfalls auf die Zureichung eines Grundes hin. 5.4

Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

Pfeil 1

Pfeil 2

Abbildung 5.4.1: Arbeitsblatt

Pfeil 3

Pfeil 4

134

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

In dieser Analyse wird die bereits aus Analyse III verwendete Aufgabe genutzt.3 Bei dem ausgewählten Transkriptausschnitt handelt es sich um das zweite Interview mit Amalia, einer Schülerin der vierten Klasse einer Grundschule mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen. In den vorhergehenden 18 Minuten füllt sie die Tabellen des Arbeitsblattes aus Dabei hat sie als 20. Werte in der „Reihe Sebastian“ 300, in der „Reihe Katja“ 80 und in der Reihe Luca 329 eigentragen. Zudem hat sie neben der „Reihe Katja“ „-1“, neben der „Reihe Luca“ „+2 als zuvor“ und neben der „Reihe Sebastian“ „+15“ notiert.

Abbildung 5.4.2: Amalias Zuordnung zu den Pfeilen

Der Ausschnitt setzt an der Stelle ein, als Amalia die einzelnen Reihen den jeweiligen Pfeilen zuordnet. Dabei hat Amalia der „Reihe Katja“ Pfeil 2 zugeordnet. Die „Reihe Luca“ wurde von ihr zu Pfeil 3 zugeordnet und die „Reihe Sebastian“ zu Pfeil 1. Wie auch in Analyse III werden im Rahmen des Interviews fiktive Schülerargumente genutzt. 102

3

A

ähm (schaut sich die Namensschilder, Pfeile und die Tabelle an, 13 sec) der gehört zu dem (zeigt erst auf das Namensschild „Sebastian“, dann auf Pfeil 1)

Auch hier sei wie bei Analyse III darauf hingewiesen, dass der Begriff Reihe in Verbindung mit dem Namen sich auf die jeweilige Tabellenreihe bezieht.

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

103

I

104

A

105 106

I A

107 108 109 110 111 112 113 114

I A I A I A I A

135

nimm ruhig den, das Namenszettelchen und legs dazu (zeigt auf das Namensschild „Sebastian“ und auf Pfeil 1) (legt das Namensschild „Sebastian“ auf Peil 1, 2 sec) weil er .. wird ja .. langsam immer weiter (macht mit ihrer Hand eine Bewegung, als liefe sie mit ihr Stufen nach oben) also immer ne größere Zahl deswegen immer hoch Ja .. dann, ist Luca, der Pfeil (legt das Namensschild Luca auf Pfeil 3) mhm weil er wird ja immer schnell .. weil er ja immer dazu tut okay jo und dann ist Katja .. der Pfeil nach unten (zeigt auf Pfeil 2) warum‘ weil die ja immer langsam eins weniger nimmt okay also immer nur eins weniger, und nicht zwei oder drei

Im Rahmen der Turns 104-114 ist interessant zu beobachten, dass Amalia ihre Zuordnungen ohne Aufforderung der Interviewerin begründet. Die Reihe Sebastian wird von ihr zu Pfeil 1 zugeordnet, da dieser „langsam immer weiter“ (Turn 104) wird. Es bleibt an dieser Stelle offen, ob sie sich dabei auf den Pfeil oder die Reihe bezieht. Mit Blick auf Turn 108 könnte die Reihe gemeint sein. In diesem begründet Amalia ihre Zuordnung von Pfeil 3 zur Reihe Luca daran, dass „er ja immer dazu tut“ (Turn 108). Damit könnte gemeint sein, dass Luca immer eine größere Zahl „dazu tut“ bezogen auf die Entwicklung seiner Folgen von Zahlen. Dies könnte auch deshalb interpretierbar sein, da in Turn 104 und Turn 108 Amalia die Folgen von Zahlen in der Tabelle möglicherweise miteinander vergleicht und diese daher in dieser Weise den Pfeilen zuordnet. Die Zuordnung von „Reihe Katja“ zu Pfeil 2 wird damit begründet, „weil die ja immer langsam eins weniger nimmt“ (Turn 112). Spätestens dieser Turn ermöglicht es, die Aussagen in den Turns 104 und 108 in Bezug auf die Folgen von Zahlen zu interpretieren, da Amalia davon spricht, dass „die [Katja, M.M.] immer langsam eins weniger nimmt“ (Turn 112). Dieser Grund für die Zuordnung der

136

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Reihe Katja zu Pfeil 2 wird in Turn 114 von Amalia erweitert, indem sie deutlich macht, dass es „immer nur eins weniger [wird], und nicht zwei oder drei“. Insgesamt kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Amalia sich zu diesem Interaktionsmoment in der Kategorie der subjektiven Überzeugung befindet. Sie hat für sich selbst subjektiv zureichende Gründe, um die jeweiligen Zuordnungen von Reihen und Pfeilen fürwahrzuhalten. Indizien für die Identifikation dieser Gründe als zureichend, sind zum einen die Anpassung des Grundes in Turn 114, und die Entscheidung für die die jeweiligen Zuordnungen in Anbetracht verschiedener Alternativen im Verlauf der Turns 102 bis 114. Denn es wäre durchaus möglich gewesen, dass Amalia auch eine andere Zuordnung hätte vornehmen können. Im folgenden Verlauf (Turn 115 – 117) gibt die Interviewerin die fiktiven Schülerargumente hinein. Amalia betrachtet zunächst die Schülergründe C und D und wird im Anschluss von der Interviewerin aufgefordert zu den Gründen Stellung beziehen, woraufhin sie sich zunächst auf Schülergrund C bezieht. Schülergrund C „Die Reihe Katja ist einfach. Sie bekommt den zweiten Pfeil. Denn ihre Werte werden immer kleiner.“ Schülergrund D „Die Reihe Sebastian bekommt den ersten Pfeil. Seine Werte werden immer größer. Würde man genauso viele Bauklötze übereinander bauen und sie nebeneinander stellen würde diese Mauer genauso nach oben gehen wie der erste Pfeil.“ 118

A

119

I

also .. das ist ja eig, ich glaub das ist richtig weil, also hier auch immer, weil der ihre Werte werden immer kleiner, das ist ja der einzige der immer kleiner wird mhm also, das Kind sagt .. die Reihe Katja ist einfach sie bekommt den zweiten Pfeil okay, weil es immer kleiner wird, gut

Turn 118 könnte in der Weise interpretiert werden, dass es zu einer Übereinstimmung mit dem von ihr in den Turns 112 und 114 genannten Grund kommt. Zusammen mit der Tatsache, dass von außen hineingegeben wird

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

137

besteht die Möglichkeit, dass dieser fiktive Schülergrund von Amalia als für andere als zureichend wahrgenommen werden. Zureichend ist dieser, da es zu einer Übereinstimmung mit ihrem subjektiv zureichenden Grund und damit in gewisser Weise zu einer Bestätigung ihres subjektiven Grundes kommt. Insofern kann mit Blick auf das Fürwahrhalten für die Zuordnung der Reihe Katja zu Pfeil 2 von einer systemisch-interaktiven Überzeugung gesprochen werden. In den Turns 120 – 127 macht Amalia zunächst deutlich, dass sie den Schülergrund D nicht versteht. Daraufhin versucht die Interviewerin ihr anhand eines Beispiels, diesen Grund zu erklären und zeigt zunächst auf, dass dieser Grund der Reihe Sebastian den Pfeil 1 zuordnet. Im Anschluss fordert die Interviewerin Amalia auf, ihre Meinung zu diesem Grund zu nennen. 128 129 130

A I A

131 132

I A

133 134

I A

135 136 137 138

I A I A

ich glaub das stimmt das stimmt‘ also der ist ja immer so, wie bei ner Treppe sind ja immer so Kanten mhm ist das mitgezählt oder einfach nur immer über .. über die einzelnen Kantenwenn du jetzt n Lineal da drauflegen würdest oder ein Blatt ach okay dann dadrüber ja ja das glaub ich das glaubst du´ (nickt)

Amalia sagt zunächst, dass der Schülergrund D stimmt. Turn 130 könnte daher so interpretiert werden, dass sie die Werte der Reihe Sebastian „wie bei ner Treppe“ wahrnimmt. Denn in dieser Reihe wird von Wert zu Wert plus 15 addiert. Worauf sie sich in Turn 132 bezieht, lässt sich möglicherweise mit Blick auf Turn 133 rekonstruieren. Denn Amalia könnte in Turn 132 nach der Passung zwischen Pfeil 1 und der Vorstellung von Treppen

138

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

fragen und eventuell mit dem Satz „über die einzelnen Kanten“ (Turn 132) eine mögliche Lösung ansprechen, die dann von der Interviewerin in Turn 133 aufgegriffen wird. In diesem schlägt sie vor die Kanten mithilfe eines Lineals oder Blattes zu verbinden, worauf Amalia mit „ach okay dann dadrüber“ entgegnet. Worauf sich das „glaub ich“ in Turn 136 bezieht bleibt offen. Insgesamt kann in dieser kurzen Sequenz interpretiert werden, dass Amalia in ihrem Fürwahrhalten, dass die Reihe Sebastian zu Pfeil 1 zugeordnet werden kann, in doppelter Weise bestätigt wird. Zum einem wird der fiktive Schülergrund D von ihr als zureichend wahrgenommen. Diese Wahrnehmung wird dadurch interpretiert, dass sie möglicherweise erkennt, dass dieser fiktive Schülergrund auch für die Interviewerin als zureichend gilt. Es kommt also zu einer Bestätigung des fiktiven Schülergrundes seitens der Interviewerin, etwa durch die erfolgreiche Prüfung dieses Grundes in Turn 133 mithilfe eines Beispiels. Als Indiz für die Identifikation dieses Grundes als für andere als zureichend wahrgenommen, könnten hierbei folgende beiden Indizien festgehalten werden. Zum einen bestätigt der fiktive Schülergrund D ihren subjektiv zureichenden Grund. Hinzu kommt, dass dieser fiktive Schülergrund von Amalia als für die Interviewerin als zureichend wahrgenommen werden könnte. Diese Wahrnehmung könnte dazu führen, dass Amalia den fiktiven Schülergrund ebenfalls als für diesen fiktiven Schüler zureichend wahrnehmen könnte. Kurz gefasst kommt es zu einer Bestätigung des fiktiven Schülergrundes seitens der Interviewerin, was von der Lernenden als Zureichung für diesen Grund aufgefasst werden könnte. Zu einer doppelten Bestätigung wird dieser Grund dadurch, dass er den subjektiv zureichenden Grund von Amalia zur Zuordnung der Reihe Sebastian zu Pfeil 1 ebenfalls bestätigt. Möglich wäre an dieser Stelle zu dem, dass dieser Grund von Amalia deshalb als für andere als zureichend wahrgenommen wird, weil er ihrem eigenen Fürwahrhalten entspricht. Im Folgenden wird Amalia seitens der Interviewerin auf Schülergrund B verwiesen. Schülergrund B „Der vierte Pfeil gehört zu Reihe Luca. Seine Reihe macht so unregelmäßige Sprünge von einer Zahl zur nächsten und wird am Ende noch größer als Sebastians.“

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

139

I

140

A

141 142 143

I A I

144

A

145 146

I A

147 148 149

I A I

150 151

A I

152 153 154

A I A

139

okay, dann machen wir mit dem weiter (zeigt auf Schülergrund B) ... (lesend) der vierte Peil gehört zu- (liest den Schülergrund B, 14 sec) (schaut auf die Pfeile, schaut zu I, kratzt sich am Hals, 5 sec) hast du anders zugeordnet ne (nickt) hier wird gesagt dass der Pfeil vier zu Luca gehört .. was sagst du dazu (schaut auf die Pfeile, 5 sec) irgendwie stimmts ja auch dass er so unregelmäßig ist, aber ganz unregelmäßig ist es ja doch nicht, es hat ja trotzdem seine Ordnung da haste Recht sonst hätt ichs ja gar nicht erkennen können jawie er immer, rechnet mh .. du bleibst bei deinem Pfeil oder bist du doch eher für Pfeil vier‘ ich weiß nicht .. da musst du ein bisschen überlegen ne, was was überzeugt dich mehr (7 sec) die Argumentation dass es unregelmäßig ist oder du sagst naja es gibt ja doch ne Regel … ich bleib bei dem bleibst du da‘ ja‘ okay .. (nickt) (nickt)

An dieser Stelle kommt es mit Blick zu einem Zweifel. Denn Schülergrund B sagt, dass der Reihe Luca Pfeil 4 zugeordnet wird. Dies widerspricht der Zuordnung von Amalia, die der Reihe Luca Pfeil 3 zugeordnet hat. Bemerkenswert ist, dass dieser Zweifel zu insgesamt 24 Sekunden Sprechpause im Interaktionsverlauf führt. Wie bereits in Analyse II festgehalten wurde, ist ein Zweifel ein Interaktionsmoment, bei dem zwei zureichende nicht

140

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

äquivalente Gründe miteinander konkurrieren. Denn Amalia hat in Turn 108 vermutlich einen subjektiven zureichenden Grund für ihre Zuordnung. Im Verlauf des Turns 144 könnte Schülergrund B als für Amalia als zureichend wahrgenommen interpretiert werden. Sie orientiert sich dabei daran, dass „er so unregelmäßig ist“ (Turn 144). Wobei unmittelbar daran noch im selben Turn und im Verlauf der Turns 146 und 148 deutlich macht, „trotzdem seine Ordnung“ (Turn 144) hat. Andernfalls könnte Amalia „nicht erkennen“ (Turn 146), wie die Folge von Zahlen vervollständigt wird (s. Turn 148). Damit könnte sie versuchen, ihren in Turn 108 entwickelten subjektiv zureichenden Grund zu stützen. Hinzu kommt, dass die Interviewerin zumindest die Aussage über die Ordnung in Turn 145 explizit bestätigt. Mit Blick auf die Turns 146 und 148 kann zudem interpretiert werden, dass sich Amalia in Turn 144 auf die Reihe Luca bezieht, was ebenfalls als Stützung des vorherigen subjektiv zureichenden Grundes (Turn 108) angenommen werden könnte. Denn auch in diesem bezieht sie sich auf die Reihe. Die Tuns sind 152-154 sind kritisch zu betrachten, da sie eine starke Lenkung seitens der Interviewerin beinhalten, die mindestens mathematisch problematisch sind. Denn die Folgen der Zahlen in den jeweiligen Reihen besitzen alle eine Regelmäßigkeit. Daher kann nur mit größter Vorsicht interpretiert werden, dass in den Turns 151-154 der Zweifel insofern aufgelöst, dass Amalia ihre Zuordnung der Reihe Luca zu Pfeil 3 weiterhin fürwahrhält. Als Indizien für die Identifikation von subjektiven Gründen als zureichend könnte hier festgehalten werden, dass Amalia trotz des Gegenargumentes und dem damit resultierenden Zweifel an ihrem Fürwahrhalten festhält und ihren zuvor genannten Grund aus Turn 108 in einem anderen Kontext weiterentwickelt. Es könnte also eine Anpassung des Grundes und eine Bewährung eines Grundes im Zweifel rekonstruiert werden. Insofern könnte von einer subjektiven Überzeugung ausgegangen werden. Da der Grund in 145 und möglicherweise auch in 147 von der Interviewerin bestätigt wird, könnte auch eine systemisch-interaktive Überzeugung angenommen werden.

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

141

Der weitere Verlauf des Interviews ist davon geprägt, dass ein erneuter Zweifel für die Zuordnung von Reihe Luca zu Pfeil 3 aufgeworfen wird, indem sich mit Schülergrund A auseinandergesetzt wird. Schülergrund A „Der dritte Pfeil gehört auf jeden Fall zur Reihe Sebastian. Denn der Pfeil geht sehr steil nach oben. Die 20. Zahl ist ja 300 und das ist eine sehr große Zahl. Insbesondere im Vergleich zu den ersten Zahlen 0 und 15.“ 159 160 161

I A I

162 163

A I

164

A

165 166 167

I A I

168

A

169 170

I A

171 172 173 174

I A I A

(6 sec) glaubst du das stimmt‘ (4 sec) ich weiß es nicht (lacht) überleg mal warum was dein was du dir überlegt hast, was hier steht, was trifft denn eher für dich zu‘ (8 sec) ich glaub nicht dass der Pfeil zu Sebastian gehört nee‘ warum denn‘ also .. Luca geht ja irgendwie noch schneller (macht eine schnelle Bewegung mit der Hand) .. kommt ja noch schneller, voran .. find ich achso. ja- mhm und deswegen glaub ich dass eher .. der Pfeil ist wie unterscheiden sich die beiden Pfeile denn‘ .. bei dem eher (zeigt auf Pfeil 3) .. also der (zeigt auf Pfeil 1) geht, langsam nach oben (macht eine Bewegung mit der Hand, die flacherer Bewegung von links unten nach rechts oben geht) ja und der geht .. (macht mehrmals eine Bewegung mit der Hand, die mit steiler Bewegung von ihrem Körper aus nach vorne) fast schon gerade okay, steiler sagt man steiler genau, (bejahend) mhm, okay also bleibst du dabei ja

142

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Der Zweifel innerhalb dieses Interaktionsverlaufs wird auch daran sichtbar, dass Amalia in Turn 160 nach einer Sprechpause von vier Sekunden zunächst „ich weiß es nicht“ sagt. Nach der Aufforderung der Interviewerin sich nochmals mit dem Schülergrund A auseinanderzusetzen sagt Amalia in Turn 162, dass sie „nicht [glaubt, M.M.], dass der Pfeil zu Sebastian gehört“ und widerspricht damit dem Schülergrund A. Diesen Widerspruch erklärt sie in den Turns 164, 166, 168, 170 und 172 anhand des Vergleichs der Pfeile 1 und 3 im Bezug auf die Reihen von Sebastian und Luca. Insgesamt könnte interpretiert werden, dass Amalia davon ausgeht, dass der steilere der beiden Pfeile, also Pfeil 3 zur Reihe Luca gehört, weil diese im Vergleich zur Reihe Sebastian „ja irgendwie noch schneller“ (Turn 164) geht. Der Vergleich zwischen Pfeilen wird von Amalia auf Aufforderung der Interviewerin hergestellt. Dabei könnte sie feststellen, dass Pfeil 3 steiler als Pfeil 1 ist (s. Turn 168 – 172). Turn 174 könnte daher so interpretiert werden, dass der Zweifel wieder mit Blick auf ihr bisheriges Fürwahrhalten aufgelöst wird, indem Amalia weitere subjektiv zureichende Gründe für dieses Fürwahrhalten entwickelt und sich auf ihren bisherigen Grund aus Turn 104 zurückbezieht. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass eine Zuordnung von Pfeil 4 zur Reihe von Luca ebenfalls aus guten Gründen möglich gewesen wäre. Dennoch hält sie ihre Zuordnung für wahr und widerspricht in diesen Zweifeln den fiktiven Schülergründen B und A, indem sie sich in den Turns 168 und 170 letztlich auf die Begründung ihrer Zuordnung in den Turns 104 und 108 zurückbezieht. Insofern ist davon auszugehen, dass die die Wiederholung eines Grundes in weiteren Kontexten ein Indiz für die Identifikation eines subjektiven Grundes als zureichend ist. Im letzten Teil dieses Transkripts setzt sich Amalia mit dem fiktiven Schülergrund H auseinander. Schülergrund H „Man kann die Pfeile nicht genau zuordnen, weil es keinen Maßstab gibt. Deswegen weiß man nicht, wie steil z.B. ein Pfeil sein muss.“ Nachdem zunächst geklärt wird, ob Amalia der Begriff Maßstab bekannt ist, und sie dieses bejaht, setzt folgender Interaktionsverlauf ein.

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

188 189

I A

190 191

I A

192 193 194

I A I

195

A

196 197 198 199

I A I A

143

glaubst du das kann man so machen‘ ich glaub das kann man da gibts schon ne Ordnung für wie man die ja‘ also vielleicht ist das jetzt auch nicht direkt die Ordnung die ich mir überlegt habe aber ich glaub schon dass es eine gibt und warum kann man das sagen‘ ... (lacht, zuckt mit den Schultern, 2 sec) hast du ein Bild vor Augen und dann ist das das ist das der Pfeil oder(nickt, streicht sich die Haare hinter die Ohren, zuckt mit den Schultern, 2 sec) wie machst du das‘ so ähnlich so ähnlich, ja‘ (nickt)

Zunächst sagt Amalia, dass eine Zuordnung gibt, auch wenn diese nicht zwangsläufig mit ihrer eigenen Ordnung übereinstimmen muss (Turns 189-191). Damit widerspricht sie zunächst dem Schülergrund H, der eine solche Zuordnung ausschließt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle allerdings, dass sie betont, dass die Zuordnung nicht ihrer eigenen entsprechen muss. Zudem kann Amalia auf die Frage der Interviewerin in Turn 192, „warum kann man das sagen“, keine eindeutige Antwort geben (Turn 193-199). Diese Aussage ermöglicht es, den gesamten vorherigen Interaktionsverlauf unter folgender Perspektive zu interpretieren. Möglicherweise hält Amalia ihre Zuordnung der Reihen zu den Pfeilen fürwahr und hat für diese Zuordnung auch subjektive Gründe. Es bleibt allerdings offen, wie zureichend diese Gründe für sie oder andere sind. Wobei diese mit Blick auf Wiederholung und dem auf ihre Gründe in den Turns 104 und 108 dem jeweiligen Widerspruch gegen die Schülergründe B und A im Rahmen des Zweifels durchaus als zureichend interpretiert werden könnten. Denn diese bewähren sich in den Interaktionsmomenten des Zweifels. Mit Blick auf mögliche andere Zuordnungen könnte nun interpretiert werden, dass

144

Kapitel 5 Ausgewählte Analysebeispiele

Amalia entweder sehr zureichende Gründe oder nicht so sehr zureichende Gründe für ihr Fürwahrhalten besitzt. Denn entweder hält sie für wahr, dass neben ihrer Zuordnung noch weitere gleichberechtigte Zuordnungen existieren, ihre eigene aber in jedem Falle auch gültig ist oder aber sie relativiert ihre eigene Zuordnung und möchte aufzeigen, dass es möglicherweise eine bessere Zuordnung als ihre eigene gibt. Dafür würde sprechen, dass sie sagt, dass „es nicht direkt die Ordnung, die ich mir überlegt habe“ (Turn 191) sein müsse. Allerdings scheint es mit Blick auf den gesamten Interaktionsverlauf, der Bewährung der subjektiv zureichenden Gründe in Anbetracht der Zweifel, der Wiederholung und Erweiterung ihrer subjektiv zureichenden Gründe, ebenso möglich, dass sie Ihre Zuordnung als gleichberechtigt neben anderen ansieht. Zusammenfassung Zunächst zeigte sich in dieser Analyse, dass zumindest in diesem Einzelfall sich das theoretisch entwickelte Begriffsnetz auch für die empirische Lehr-Lern-Realität von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf als tragfähig erwies. Zudem konnte aufgezeigt werden, dass Amalia dazu neigte, an einem bestimmten Fürwahrhalten festzuhalten. Und zwar unabhängig davon, ob dieses Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes aus einer Perspektive der intersubjektiven Objektivität tatsächlich als wahr gilt. Konkret war es in dieser Analyse so, dass die Lernende an dem Fürwahrhalten festhielt, dass diese Reihe Luca zu Pfeil 3 zugeordnet werden kann. Dies ist aus mathematischer Perspektive mindestens problematisch, denn es gäbe auch gute Gründe eine Zuordnung der Reihe Luca zu Pfeil 4 und nicht zu Pfeil 3 fürwahrzuhalten. Ihr Fürwahrhalten bewährte sich auch in Anbetracht von Zweifeln, wie sich etwa in den Turns 159-174 und mit Abstrichen auch in den Turns 139-154 zeigte. Zudem zeigte sich eine Beharrlichkeit, da in diesen Zweifeln immer wieder die Gründe in den Turns 104 und 108 verwiesen worden ist. Dieses Widerholen bzw. Anpassen eines Grundes in den Turns 114, 144, 146, 168 und 170 ließ sich in dieser Analyse als Indiz für die Identifikation eines subjektiven Grundes als zureichend rekonstruieren. Hinzu kommt die Bewährung im Zweifel in den Turns 159-174 als ein weiteres Indiz für die Zureichung eines subjektiven

5.4 Analyse IV – Beharrlichkeit und weitere Indizien

145

Grundes, insbesondere da trotz diesem Zweifel den fiktiven Schülergründen widersprochen wird. Als Indizien für die Identifikation eines Grundes als für andere als zureichend wahrgenommen konnten in dieser Analyse vor allem die erfolgreiche Prüfung eines Grundes seitens des Interaktionspartners in den Turns 128-138 und die damit verbundene „doppelte Bestätigung“ rekonstruiert werden.

6.

Zusammenfassung und Ausblick

In dieser Arbeit wurde ausgehend von der Philosophie Immanuel Kants und mithilfe einer interaktionistischen und systemischen Wendung ein Überzeugungsbegriff theoretisch entwickelt und zur Rekonstruktion der empirischen Lehr-Lern-Realität nutzbar gemacht. Dieser Überzeugungsbegriff wird als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes aus subjektiv zureichenden Gründen oder Gründen, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, gefasst (s. Kapitel 3). Im Rahmen dieser theoretischen Grundlegung wurden insgesamt vier Kategorien des Fürwahrhaltens beschrieben. Das Vertrauen, die subjektive Überzeugung, die systemisch-interaktive Überzeugung und die Überredung. Diese Kategorien sind jeweils davon abhängig, inwieweit innerhalb eines Interaktionsgeschehens subjektiv zureichende und/oder als für andere als zureichende Gründe auftreten. Zudem wurde im theoretischen, methodologischen und schließlich auch im empirischen Teil deutlich, dass in dieser Arbeit mathematisch-inhaltliche Gründe fokussiert werden. Dies erfolgte vor dem Hintergrund einer für spätere Förderprozesse zielgerichteten inhaltlichen Förderung. Für die qualitativen Analysen wurde der interpretative Ansatz im Sinne der Bielefelder Arbeitsgruppe (s. Voigt 1984) verwendet. Die Kategorien, die Gründe und die Indizien zur Identifikation eines Grundes als zureichend konnten in diesen Analysen im empirischen Teil dieser Arbeit anhand von vier Analysebeispielen rekonstruiert werden. Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit dargestellt. Dabei wird ausgehend vom theoretisch gefassten Überzeugungsbegriff der Zusammenhang zwischen Überzeugung und zureichenden inhaltlichen Gründen innerhalb eines Interaktionsgeschehens und eine Überzeugung im Werden aufgezeigt. Es folgt die Darstellung und Reflexion der Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend, der möglichen Differenzierung der Zureichung inhaltlicher Gründe und die Rekonstruktion der Rolle von Zweifeln. Im Anschluss wird auf das Thema „Inklusion und Überzeugung“ eingegangen. Zuletzt werden offene Fragen, die möglicherweise mittels weiterer Forschung gelöst werden könnten, und die Konsequenzen für die Schulpraxis aufgezeigt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Moll, Überzeugung im Werden, Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5_6

148

6.1

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenhang zwischen Fürwahrhalten und Gründen. Wesentliche theoretische Ergebnisse

Überzeugung wurde in dieser Arbeit als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit des Sachverhaltes in einem bestimmten Kontext aus subjektiv zureichenden inhaltlichen Gründen, und inhaltlichen Gründen, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, gefasst. Diese Begriffsfassung hat zwei wesentliche Momente. Zum einen stellt sie einen Zusammenhang zwischen dem Fürwahrhalten und den inhaltlichen Gründen her. Gründe können dabei subjektiv zureichende Gründe sein, also Gründe, die für einen selbst zureichend sind. Möglich sind auch Gründe, die von einem Lernenden als für andere als zureichend wahrgenommen werden. Ein Beispiel für einen solchen als für andere als zureichend wahrgenommen Grund wäre folgende Situation. Die Interviewerin sagt im Laufe eines Interaktionsgeschehens einen Grund. Dieser Grund könnte vom Lernenden etwa aufgrund der Beharrlichkeit der Interviewerin als für diese als zureichend wahrgenommen werden. Anders formuliert. Der Lernende geht davon aus, dass der Grund für die Interviewerin zureichend ist. Das sagt allerdings nichts darüber aus, ob dieser Grund für die Interviewerin tatsächlich zureichend war. Zum anderen wird in dieser Begriffsfassung der Gegenstand des Fürwahrhaltens als mathematischer Sachverhalt bzw. die Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes festgelegt. Abhängig davon ob diese inhaltlichen Gründe zureichend oder unzureichend sind, lassen sich die in der folgenden Tabelle 6.1 dargestellten Modi und Kategorien des Fürwahrhaltens zusammenfassen:

6.1 Zusammenhang zwischen Fürwahrhalten und Gründen

Modus

Subjektiv reichende Gründe

zu-

Meinen Glauben

Nein Ja

als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe Nein Nein

Wissen

Ja

Ja

Hinnehmen

Nein

Ja

149

Kategorie

Vertrauen subjektive Überzeugung systemisch-interaktive Überzeugung Überredung

Tabelle 6.1: Modi und Kategorien des Fürwahrhaltens

Bei der Zusammenstellung der Kategorien wurde festgestellt, dass nur die ersten drei Kategorien von Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft berücksichtigt worden sind (KrV A 820/B 848). Die vierte Kategorie wurde in dieser Arbeit mit Blick auf die empirische Lehr-Lern-Realität hinzugefügt und konnte auch im Rahmen der empirischen Analysen rekonstruiert werden. Für konkrete Beispiele zu den einzelnen Kategorien sei an dieser Stelle auf Kapitel 3.6 verwiesen. Mithilfe der interaktionistischen und systemischen Wendung wurde dieser Überzeugungsbegriff für die empirische Lehr-Lern-Realität nutzbar gemacht. Für die interaktionistische Wendung wurde der Symbolische Interaktionismus genutzt. Die drei Prämissen dieser Theorieperspektive von Blumer (1981) können mit Blick auf den verwendeten Überzeugungsbegriff dabei in folgender Weise transformiert werden: 1. Personen halten einen mathematischen Sachverhalt auf der Grundlage inhaltlicher Gründe, die sie für das Fürwahrhalten relativ zu diesem mathematischen Sacherhalt besitzen bzw. wahrnehmen, für wahr. Diese inhaltlichen Gründe können subjektiv zureichend sein und/oder als für andere als zureichend wahrgenommen werden.

150

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

2. Die inhaltlichen Gründe im Bezug zum Fürwahrhalten und damit auch das Fürwahrhalten des mathematischen Sachverhaltes werden aus der sozialen Interaktion, die eine Person mit Mitmenschen eingeht, abgeleitet bzw. entstehen aus dieser Interaktion. 3. Die inhaltlichen Gründe werden in einem interpretativen Prozess, den eine Person in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Fürwahrhalten zu dem mathematischen Sachverhalt und den entsprechenden inhaltlichen Gründen eingeht, benutzt, gehandhabt und abgeändert. Diese drei Aussagen betonen das Verhältnis von inhaltlichen Gründen und dem Fürwahrhalten. Insbesondere verweisen diese auf eine grundsätzliche Veränderbarkeit von Überzeugungen, was auch mit Blick auf die Schulpraxis relevant ist. Dabei darf der Überzeugungsbegriff in dieser Arbeit in keiner Weise ausschließlich als Produkt von inhaltlichen Gründen und ihrer Zureichung verstanden werden. Es reicht beispielsweise nicht, in ein bestimmtes Interaktionsgeschehen inhaltliche Gründe hineinzugeben und schon wird der Lernende sich in der Kategorie der systemisch-interaktiven Überzeugung befinden. Denn Interaktion ist ein „sich formender Prozeß.“ (Voigt 1984, S. 6) Und wie bereits Luhmann deutlich gemacht hat, sind Lernende keine trivialen Maschinen (Luhmann 2002), bei denen ein bestimmter Input einen entsprechenden Output erzeugt. Innerhalb eines Interaktionsgeschehens sind Gründe und ihre Zureichung einer ständigen Aktualisierung und Aushandlung unterworfen, wie auch die in Anlehnung an Blumer entwickelten Aussagen zeigen. Lernende oder allgemeiner Personen müssen zunächst Gründe innerhalb eines Interaktionsgeschehens an sich wahrnehmen und diese dann zusätzlich als zureichend anerkennen. Dass nicht nur die Gründe, sondern auch die Zureichung dieser Gründe einer ständigen Veränderung im Interaktionsgeschehen unterliegen, wurde etwa in Analysebeispiel II deutlich. Hier konnte in der letzten Sequenz rekonstruiert werden, dass die Zureichung eines Grundes ausgehandelt wird. Die systemische Wendung nutzte Ansätze aus Niklas Luhmanns Systemtheorie, um die interaktionistische Wendung zu ergänzen und das ak-

6.1 Zusammenhang zwischen Fürwahrhalten und Gründen

151

tualisierende Interaktionsgeschehen mithilfe Luhmanns Begriff der Kommunikation näher zu fassen. Nach Luhmann schließt sich in sozialen Systemen, etwa dem sozialen System Interview oder dem sozialen System Unterricht, Kommunikation an Kommunikation an. Kommunikation meint dabei die dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen. Durch diese Anschlussfähigkeit von Kommunikation wird das jeweilige soziale System erhalten und bricht nicht zusammen. Sobald allerdings keine Kommunikation angeschlossen wird, kann das System zusammenbrechen. Da sich die Kommunikation fortlaufend aktualisiert, kann nur zu bestimmten Momenten in dieser Interaktion eine Stabilität von Kommunikation angenommen werden. Da Gründe Teil dieser Kommunikation sind, können auch diese nur zu bestimmten Momenten einer Interaktion als stabil angenommen werden. Sie werden hinterfragt, wiederholt, transformiert, vom Interaktionspartner in anderer Weise weitergenutzt; inhaltliche Gründe und ihre Zureichung werden in der sozialen Interaktion ständig ausgehandelt, verändert oder weiterentwickelt. Insofern das Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes von diesen Gründen abhängig ist, unterliegt auch das Fürwahrhalten und damit die Überzeugung einer ständigen Veränderung. Es können in jedem Moment der Interaktion inhaltliche Gründe entstehen bzw. aus dieser Interaktion abgeleitet werden (s. Prämissen 2 und 3), die wiederum das Fürwahrhalten bedingen. Auch andersherum können aus dem Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes bzw. dessen Anwendbarkeit im Rahmen einer Interaktion inhaltliche Gründe verändert oder neu entwickelt werden. Das Fürwahrhalten des mathematischen Sachverhaltes bzw. der Anwendbarkeit eines mathematischen Sachverhaltes bedingt die inhaltlichen Gründe für dieses Fürwahrhalten und umgekehrt. Das Fürwahrhalten und die Gründe sind gekoppelt. Überzeugung kann folglich nur für bestimmte Interaktionsmomente, beispielspielsweise zu einem bestimmten Turn als ein momentanes Überzeugtsein angenommen werden. Dieses Überzeugtsein zu einem bestimmten Turn in Abhängigkeit der bis dahin rekonstruierten inhaltlichen Gründe konnte in den Analysen auch gezeigt werden (s. Analysebeispiel I, Kapitel 5.1).

152

6.2

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Überzeugung und Inklusion

Inklusion wurde in dieser Arbeit im Wesentlichen aus zwei Perspektiven beachtet (s. Kapitel 4.2). Zum einen im Sinne einer „egalitären Differenz“ (Prengel 1983, 1997, 2001). Der von Annedore Prengel geprägte Begriff der egalitären Differenz bezeichnet eine Gleichwertigkeit des Ungleichen und ist eine Grundhaltung im Umgang mit Inklusion. Die zweite Perspektive ist Inklusion als Teilhabe an Kommunikation (vgl. Luhmann 1981). Inklusion wird aus dieser Perspektive als Teilhabe verstanden, die im Rahmen eines sozialen Systems und dessen grundlegender Operation der Kommunikation als dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen geschieht. Inklusion ist im Sinne Luhmanns immer dort vorhanden, wo eine Teilhabe an der Kommunikation innerhalb eines bestimmten sozialen Systems ermöglicht wird. Dies könnte beispielsweise im sozialen System Mathematikunterricht sein, wenn die Lernenden durch die Strukturierung des Klassengesprächs die Möglichkeit haben, an diesem Gespräch zu partizipieren. Eine solche Partizipation kann etwa durch verschiedene Mitteilungsformen erreicht werden oder wenn ein vielfältiges Verstehen gestattet ist. Dies ist auch der Mehrwert dieser beiden Perspektiven mit Blick auf Überzeugung. In inklusiven Settings, die durch Heterogenität geprägt sind, können andere und vielfältigere Gründe für diese Überzeugung auftreten. Gerade wenn diese Gründe bereits in ihrer Anfanghaftigkeit und ihrem Potenzial ernst genommen werden, dann kann sich eine solche Teilhabe realisieren. Ein solches „Potenzial teilhabeorientierten inklusiven Unterrichts“ haben bereits Meyer und Schlicht (2018) beschrieben. Die Anlage dieser Studie wollte allerdings keine allgemein-empirischen Aussagen zum Lernen von Inklusionsschülern ermöglichen. Es konnte lediglich im Einzelfall im Rahmen von Analyse IV aufgezeigt werden, dass die Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf Lernen möglicherweise dazu neigte, an einem bestimmten Fürwahrhalten festzuhalten. Und zwar unabhängig davon, ob dieses Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes aus einer Perspektive der intersubjektiven Objektivität tatsächlich als wahr gilt. Konkret war es in Analyse IV so, dass die Lernende

6.3 Überzeugung im Werden

153

Amalia an einem Fürwahrhalten festhielt, dass aus mathematischer Perspektive mindestens problematisch war. Dabei bewährte sich ihr Fürwahrhalten auch in Anbetracht mehrerer Zweifel. Zudem zeigte sich eine gewisse Beharrlichkeit, da letztlich immer wieder auf einen bestimmten Grund verwiesen worden ist. Aus empirischer Perspektive kann vorrangig festgehalten werden, dass sich die Verwendung der Kategorien des Fürwahrhaltens in Abhängigkeit von zureichenden inhaltlichen Gründen für Lernende mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gleichermaßen eigneten. Die festgestellten Unterschiede zwischen den Lernenden könnten jedoch nicht auf die Förderbedarfe zurückgeführt werden. 6.3

Überzeugung im Werden

In den Analysen wurde in besonderer Weise deutlich, dass die bereits im theoretischen und auch im methodologischen Teil gemachte Annahme, Überzeugung als prozesshaftes Geschehen anzunehmen, rekonstruierbar war. Dazu wurde zunächst anhand der einzelnen Momente des Interaktionsgeschehens Interview das Überzeugtsein zu einem bestimmten Moment interpretiert. Im Anschluss wurden diese Einzelmomente des Überzeugtseins in Abhängigkeit von den jeweiligen zureichenden inhaltlichen Gründen in einer Gesamtschau betrachtet. In Analysebeispiel I kommt es innerhalb des Interaktionsgeschehens zu einem ständigen Wechsel zwischen einer subjektiven und einer systemisch-interaktiven Überzeugung. In Analyse I, einem Interview mithilfe eines Brettspiels, befindet sich der Lernende Martin zunächst in der Kategorie der subjektiven Überzeugung, da zunächst nur ein subjektiv zureichender Grund rekonstruierbar war. Dabei hält Martin fürwahr, dass die Würfelseiten gleichwahrscheinlich sind. Dieses Fürwahrhalten verändert sich im Laufe der Interaktion zunächst dahingehend, dass Martin die Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Würfelseiten als unterschiedlich fürwahrhält. Für dieses Fürwahrhalten hat der Lernende ebenfalls subjektiv zureichende, jedoch neue Gründe (Analyse I, Turn 27-30). Im weiteren Verlauf des Interviews kommen zu diesen sub-

154

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

jektiv zureichenden Gründen auch Gründe hinzu, die Martin als für die Interviewerin als zureichend wahrnimmt. Zusammengenommen könnte an dieser Stelle davon ausgegangen werden, dass Martin sich in der Kategorie der systemisch-interaktiven Überzeugung befindet (Analyse I, Turn 32). Und zwar abhängig davon, wie sich die Gründe innerhalb dieses Interaktionsgeschehens verändern. Es kommt im Interaktionsverlauf nochmals zu einer subjektiven Überzeugung (Analyse I, Turn 56), die mit Blick auf die sich in der Interaktion bewährenden Gründe als eine systemisch-interaktive Überzeugung interpretiert werden könnte (Turn 57-76). Dabei wurde zudem deutlich, dass ein Fluss innerhalb des Überzeugungsbegriffes und damit dem Fürwahrhalten existiert. Zum einen ist die Grenze zwischen der Zureichung und der Nichtzureichung fließend. Zum anderen können sich die Gründe selbst im Interaktionsgeschehen verändern oder es können ganz neue Gründe für das jeweilige Fürwahrhalten auftreten, entwickelt oder ausgehandelt werden. Es zeigte sich daher in den empirischen Analysen, dass das Fürwahrhalten und die davon abhängigen inhaltlichen Gründe und deren Zureichung sowie die entsprechenden Konsequenzen nicht in einem statischen Sinne verstanden werden können. Mit Blick auf die in Anlehnung an Blumer entwickelten Aussagen können sich diese inhaltlichen Gründe, ihre Zureichung und damit das Fürwahrhalten im Rahmen eines sich stetig aktualisierenden Interaktionsgeschehens ständig ändern. Daher muss von einer Überzeugung im Werden gesprochen werden. Eine vermeintliche Perspektive von Überzeugung als eine Art festes Überzeugungskonstrukt muss einer sich potenziellen Veränderungen unterworfenen Perspektive weichen. So mag man zwar auch im Fall einer Überzeugung gute Gründe zu einem bestimmten Interaktionsmoment haben, welche einer Änderung des Fürwahrhaltens erschweren, diese sind jedoch auch dann nicht fix.

6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen

6.4

155

Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend, Zweifel und mögliche Differenzierung der Zureichung

In den empirischen Analysen konnten Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend rekonstruiert werden. Im Rahmen dieser Arbeit wurde von Indizien gesprochen, um deutlich zu machen, dass diese in keiner Weise als Kriterienkatalog zu verstehen sind. Diese und weitere Indizien sollten immer im gesamten Interaktionsverlauf betrachtet werden und können nur mit Blick auf diesen als Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend genutzt werden. Diese Indizien sind daher auch immer kontextgebunden. Denn nur, weil ein bestimmtes Indiz sichtbar wird, bedeutet dies nicht automatisch, dass der Grund ein zureichender Grund ist. Beispielsweise weist eine stetige Wiederholung eines Grundes seitens des Lernenden nicht automatisch darauf hin, dass dieser Grund für den Lernenden subjektiv zureichend sein muss. Es kann auch sein, dass es sich um Gesichtswahrung handelt und der Lernende keinen anderen Grund weiß. Es kommt darauf an, in welchem Kontext er diesen Grund nutzt, ob sich dieser im Interaktionsverlauf bewährt oder sogar verändert. Im Folgenden werden die Indizien einzeln dargestellt. Es wird mit den Indizien für die Identifikation eines Grundes als subjektiv zureichend begonnen, bevor sich im Anschluss den Indizien für die Identifikation eines Grundes als für andere als zureichend wahrgenommen gewidmet wird. Dabei wird jeweils zunächst versucht, diese Indizien zu operationalisieren und an einem Beispiel festzumachen. In einem zweiten Schritt wird dann die Plausibilität aufgezeigt. Also erklärt, warum das Indiz als solches überhaupt für die Identifikation eines Grundes als zureichend plausibel ist. Als Indizien für Identifikation eines subjektiven Grundes als zureichend konnten rekonstruiert werden: x x x x x

Wiederholung eines Grundes Anpassung eines Grundes Validierung eines Grundes Bewährung eines Grundes im Zweifel Erzeugung einer Lösung mittels des Grundes

156

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

x x x

Anpassung der inszenierten Alltäglichkeit Widerspruch gegen die Autorität Entscheidung für ein Fürwahrhalten in Anbetracht verschiedener Alternativen

Die Wiederholung eines Grundes konnte in beinahe jeder Analyse als Indiz rekonstruiert werden. Gleichzeitig ist dieses Indiz mithin das problematischste. Denn die Wiederholung eines Grundes im Interaktionsverlauf muss nicht auf die subjektive Zureichung eines Grundes hinweisen. Es könnte auch wie bereits beschrieben sein, dass der Lernende keinen anderen Grund weiß und diesen wiederholt, ohne dass dieser Grund inhaltlich für das jeweilige Fürwahrhalten relevant ist. Daher gilt es bei diesem Indiz in besonderer Weise auf den jeweiligen Kontext zu achten. Die Wiederholung eines Grundes als Indiz meint, dass mindestens ein Teil eines Grundes im weiteren Interaktionsverlauf im Sinne eines inhaltlichen Grundes mindestens ein weiteres Mal verwendet wird. Wiederholt werden können einzelne Bedingungen des Grundes oder komplette Bestandteile im Sinne einer sprachlichen Variation. Es gilt dabei insbesondere darauf zu achten, dass der Grund in den Interaktionsverlauf eingebunden ist. Ein Beispiel für die Wiederholung zeigen diese vier Turns aus Analyse III. 105

F

115

F

Luca geht ja äh davor, Sebastian geht ja nicht so nach oben (malt mit dem Finger einen diagonalen Pfeil von einer Ecke des Papiers zur anderen Ecke neben Pfeil 3) also, er geht ja nicht so eins zwei drei er macht ja so wirklich schon, steile Schritte fünfzehn dreizig und so (liest die Argumente, schaut sich ab und zu die Pfeile an, 44 sec) mh .. also sie sagen ja es sind eher so mit Sebas es ist eher so mit Sebastian (zeigt auf Pfeil 1) aber ich finde- wie hoch müsste es dann wie hoch ist es dann hier (zeigt auf Pfeil 3) .. also ist das dann fünfundzwanzig, oder, es müsste ja dann schon wirklich (fährt mit dem Namensschild nochmal den Pfeil nach) steil nach so

6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen

117

F

128

F

157

auf die ähm .. (zeigt zur Tabelle) bei hier immer plus fünfzehn, der Summan also der Summand ist ja ziemlich .. also groß aber ich finde weil der Pfeil drei ist es weil er hat eine große Zahl und deshalb geht sie hier auch immer steiler nach oben (zeigt bei Pfeil 3 schrittweise nach oben) … eh

In diesen Turns nutzt Felix als Grund für die Zuordnung der „Reihe Sebastian“ zu Pfeil 3, dass in der Folge von Zahlen „steile Schritte“ (Turn 105) genutzt werden. Dies bringt er mit Steilheit von Pfeil 3 zusammen. In Turns 115, 117 und 128 verweist er auf diese steilen Schritte und diese Steilheit und nutzt diesen Grund daher mehrfach, um sein Fürwahrhalten der Zuordnung der „Reihe“ Sebastian zu Pfeil 3 zu begründen. Diese Verwendung dieses Indizes ist plausibel, da die wiederholende Verwendung des Grundes den Anschluss von Kommunikation an Kommunikation innerhalb des Interviews ermöglicht. Würde die Interaktion an diesen Stellen abbrechen, wäre dies möglicherweise ein Hinweis darauf, dass der Grund inhaltsleer genutzt wird. Hinzu kommt, dass die wiederholende Verwendung eines Grundes innerhalb einer Interaktion auf eine gewisse Beharrlichkeit hinweist. Wenn ein Grund im Moment eines Zweifels oder oder als Widerspruch gegen die Autorität wiederholt wird, ist die Interpretation dieser Wiederholung als Indiz für die Zureichung eines Grundes als subjektiv zureichend möglich. Die Anpassung eines Grundes bezieht sich auf die Situation, wenn der Lernende sich auf einen zuvor genannten Grund zurückbezieht und diesen für die aktuelle Situation verändert oder erweitert. Dies kann etwa bei Analogien (s. dazu Kunsteller 2018) geschehen oder wenn beispielsweise für einen Grund weitere Bestandteile ergänzt werden, wie beispielsweise in den Turns 26 und 28 aus Analyse I.

158

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

26

M

28

M

ja weil das .. der muss höher sein als der, (Zeigt erst auf den grünen Würfel und dann auf den gelben Würfel) der kann, und wenn der am niedrigsten ist, ist der mindestens genauso gut wie der (Zeigt erst auf den grünen Würfel und dann auf den roten Würfel) und deshalb .. (Hält den grünen Würfel in der Hand) weil, ja das niedrigste ist hier ne Vier, (Hält den roten Würfel in der Hand) und da ist das höchste ne Vier, das heißt der muss gewinnen(Zeigt dabei mehrmals auf die Würfel) wenn da nicht immer eine Vier kommt, und da auch, und das ist ziemlich unwahrscheinlich glaube ich

In diesem Beispiel ergänzt Martin in Turn 28 eine Ausnahmebedingung für den bis zu Turn 26 entwickelten Grund dafür, dass ein bestimmtes Tier innerhalb des Spiels gewinnen müsste. In diesem Sinne weist dieses Indiz auf die Bewährung eines Grunds im Interaktionsverlauf hin, insbesondere wenn diese Veränderung auf Aufforderung des Interaktionspartners geschieht. Die Plausibilität dieses Indizes kann dadurch erhöht werden, wenn der Grund zuvor bereits korrekt war, wie in dieser Szene aus Analyse I (s. dazu Turns 10-26). Auf eine solche Bewährung und damit subjektive Zureichung weist auch das Indiz der positiven Validierung eines Grundes hin. Bei einer solchen Validierung prüft der Lernende seinen Grund anhand dessen Anwendbarkeit, mithilfe der Aufgabenstellung oder durch das Anfertigen einer Konstruktion. Wenn sich dieser Grund in dieser Validierung und damit in der Interaktion bewährt, kann dieser als ein Indiz für die Identifikation eines Grundes als zureichend wahrgenommen werden. Dabei könnte es sein, dass eine sich wiederholende positive Validierung auf eine stärkere Zureichung eines Grundes hinweist.

6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen

50

M

159

der Koala wird wieder Zweiter, das ist ganz sicher. (Spielt die Runde zu Ende: 4. Wurfrunde: Rot drei, Gelb eins, 5. Wurfrunde: Rot drei) (10 sec)

In diesem Beispiel aus Analyse I prüft Martin seine Aussage, dass „der Koala […] wieder zweiter“ (Turn 50) wird, indem er die Spielrunde zu Ende spielt und der Koala als zweites in Ziel kommt. In Verbindung mit dem von ihm in den vorhergehenden Turns entwickelten Grund, mithilfe dessen Martin die Reihenfolge der Tiere vorausgesagt hat, ist diese Validierung als ein Indiz für die Zureichung eines subjektiven Grundes anzunehmen. Eine solche Validierung kann innerhalb eines Interaktionsverlaufs auch eine Bestätigung eines Grundes und kann gleichzeitig auch dem jeweiligen Interaktionspartner deutlich machen, dass der subjektive Grund zureichend ist. In diesem Sinne ist dieses Indiz als plausibel anzunehmen. Bewährung im Zweifel bedeutet, dass der Lernende im Interaktionsmoment des Zweifels (siehe unten) an seinem Grund in Anbetracht eines diesem Grund nicht äquivalenten anderen Grundes festhält. Beispiele dafür konnten in Analyse II, III und IV rekonstruiert werden. Da diese Bewährung im Zweifel über mehrere Turns verläuft, sei an dieser Stelle auf diese die Analysen im empirischen Teil der Arbeit verwiesen. Es kann allerdings festgehalten werden, dass auch dieses Indiz als plausibel angenommen werden kann. Denn wenn eine Überzeugung sich innerhalb eines Interaktionsverlaufs in Abhängigkeit von den jeweiligen Gründen verändert, kann davon ausgegangen werden, dass die Bewährung eines Grundes im Interaktionsmoment des Zweifels auf diese Zureichung des Grundes hinweist. Das Indiz Erzeugung einer Lösung mittels eines Grundes bezieht sicht auf das Herstellen von Bezügen zwischen dem mathematischen Sachverhalt bzw. der Anwendung des Sachverhaltes und der Aufgabenstellung. Dabei muss beachtet werden, dass Mathematik als deduktives Gebilde verstanden wird. Eine Lösung, die den Vorgaben, beispielsweise den mathematischen Werten in einer Aufgabenstellung, entspricht, wird in der Regel vom Lernenden (aus normativer Sicht) als tragfähig angenommen. So könnte

160

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

der Grund, der in Abhängigkeit zu dieser Lösung steht, als zureichend angenommen werden. Hinzu kommt die soziale Perspektive, dass Lernende eine solche Tragfähigkeit aufgrund einer richtigen Lösung durch den Mathematikunterricht lernen. Beispielhaft ist dies in Analyse II in den Turns 58 bis 64 rekonstruierbar gewesen. In diesen kommt es zu einer Übereinstimmung der Lösung und damit des Fürwahrhaltens und des damit verbundenen Grundes mit den von der Aufgabenstellung vorgegebenen Werten zur Konstruktion eines Dreiecks. Dies kann ein Indiz für die Identifikation eines Grundes als subjektiv zureichend angenommen werden, da die Lösung, die mit den Werten oder den Anforderungen der Aufgabenstellung übereinstimmt für den Lernenden bereits als Grund für ein bestimmtes Fürwahrhalten wahrgenommen werden könnte. Wenn nun der eigene Grund mit diesen Werten oder Anforderungen übereinstimmt, kann dieser vom Lernenden als zureichend angenommen werden. Das Indiz Anpassung der inszenierten Alltäglichkeit bezieht sich darauf, dass der Lernende seinen Grund auf diese fingierte Alltäglichkeit einer Aufgabe bezieht und diese fingierte Alltäglichkeit nutzt, um seinen Grund zu stützen.

10

(blickt auf ihre Skizze, lehnt sich zurück, legt den Stift weg, blickt dann zu I) ja man möchte ja auch, (lehnt sich wieder vor) so viel wie möglich am Ufer gehen und wenn man jetz.. (zeigt etwas C rechts in ihrer Skizze) hier erstmal bis da was macht und dann wenn hier Wald is dann (blickt zu I, dann wieder auf ihre Skizze) bringt eim da der See, Weg nix also der Uferweg- weils kein Uferweg

In diesem Turn aus Analyse II bezieht sich Caro auf die Aufgabe „inszenierte Alltäglichkeit“ (Voigt 1984) und fingiert hierzu weitere Bedingungen, indem sie darauf hinweist, dass man „so viel möglich am Ufer gehen“ möchte (Turn 10). Zudem macht sie deutlich, dass ein Uferweg am See entlanggehen muss. Mit dieser von Caro vorgenommenen individuellen

6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen

161

Anpassung der inszenierten Alltäglichkeit an die von ihr für die Aufgabenstellung konstruierte Skizze kann angenommen werden, dass sie subjektiv zureichende Gründe hat, anzunehmen, dass der Kongruenzsatz SsW in dieser Aufgabe nicht anwendbar ist (s. Analyse II). Bei diesem Indiz gilt es in besonderer Weise darauf zu achten, ob es sich um ein Indiz für einen zureichenden subjektiven Grund oder um ein Indiz für eine Gesichtswahrung handelt. Ein weiteres Indiz stellt der Widerspruch gegen die Autorität dar. Dieses Indiz kann dann vorliegen, wenn der Lernende einem von der Autorität der genannten konträren bzw. teilweise konträren Grund erfährt. Beispielsweise, wenn ein Lernender von der Interviewerin eine Aufforderung erhält und dieser Aufforderung widerspricht und dabei an seinem Grund festhält. In Analyse II beharrt Caro in Turn 21 zunächst auf ihre selbst gewählte Lösung, obwohl die Autorität in diesem Fall die Interviewerin in den Turn 14-20 eine alternative Lösung mithilfe eines Dreiecks skizziert. Dieses Indiz ist insofern plausibel, als dass ein Widerspruch gegen die Autorität eine gewisse Zureichung des eigenen Grundes voraussetzt. Zuletzt konnte die Entscheidung für ein Fürwahrhalten in Anbetracht verschiedener Alternativen als ein Indiz rekonstruiert werden. Damit ist Folgendes gemeint: Ein Lernender muss sich in einer Situation entscheiden, welchen Sachverhalt er fürwahrhält und hat dabei verschiedene Möglichkeiten, wobei er sich für einen Sachverhalt mit einem bestimmten Grund entscheidet. In Analyse III hat Martin bei der Zuordnung einer Folge von Zahlen die Möglichkeit zwischen zwei Pfeilen. Da er sich zwischen diesen Pfeilen entscheiden muss und dafür auch einen Grund nennt, der sich inhaltlich auf die Pfeile und die Folge von Zahlen bezieht, kann diese Entscheidung als ein Indiz für die Zureichung eines subjektiven Grundes rekonstruiert werden. Plausibel ist dies allerdings wieder nur in einer Gesamtbetrachtung des Interaktionsverlaufes. Denn es könnte auch sein, dass er sich beliebig entscheidet. Erst die Kombination aus Grund, Entscheidung und Kontext kann dieses Indiz plausibilisieren.

162

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Für die Identifikation von Gründen als für andere als zureichend wahrgenommen konnten folgende Indizien rekonstruiert werden: x x x

Bestätigung des eigenen Grundes durch eine andere Person Ausbleiben einer Intervention Aufforderung zur Handlung durch einen anderen Interaktionspartner Explikation eines latent vorhandenen Grundes seitens des Interaktionspartners Erfolgreiche Prüfung des Grundes seitens Interaktionspartner Passung eines Grundes für das eigene Fürwahrhalten

x x x

Zunächst gilt zu betonen, dass es bei diesen Indizien in Anbetracht der Gründe, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, darauf ankommt, ob beispielsweise eine Lernende in einer bestimmten Situation bei seinem Interaktionspartner einen Grund als für diesen Interaktionspartner als zureichend wahrnimmt. Es geht also explizit nicht darum, ob dieser Grund tatsächlich für den Interaktionspartner zureichend ist. Ein mögliches Indiz für die Identifikation eines solchen Grundes als zureichend ist die Bestätigung des eigenen Grundes durch eine andere Person. Dies heißt, dass ein Interaktionspartner einen subjektiv zureichenden Grund des Lernenden bestätigt; wobei es dabei darauf ankommt, ob der Lernende diese Bestätigung des Interaktionspartners als eine Zureichung für den Interaktionspartner wahrnimmt. Als Beispiel kann hier die Interaktion in den Turns 144 bis 146 aus Analyse IV angeführt werden. 144

A

145 146

I A

147

I

(schaut auf die Pfeile, 5 sec) irgendwie stimmts ja auch dass er so unregelmäßig ist, aber ganz unregelmäßig ist es ja doch nicht, es hat ja trotzdem seine Ordnung da haste Recht sonst hätt ichs ja gar nicht erkennen können ja-

6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen

163

Amalia führt in diesen Turns an, dass die Reihe Luca mit seiner Folge von Zahlen nicht „ganz unregelmäßig ist“ und es „trotzdem seine Ordnung“ hat (Turn 144). Dieser subjektiv zureichende Grund (für die Rekonstruktion des Grundes als zureichend wird an dieser Stelle auf Analyse IV, Kapitel 5.4 verwiesen) wird in Turn 145 explizit durch die Interviewerin bestätigt. Die Äußerung in Turn 146 kann so interpretiert werden, dass Amalia diese Bestätigung wahrgenommen hat und diese Wahrnehmung wird in Turn 147 nochmals durch die Interviewerin bestätigt. Auch hier gilt zu betonen, dass die alleinige Interpretation einer Aussage als Bestätigung nicht zwangsläufig darauf hinweist, dass diese Bestätigung ein Indiz für die Identifikation eines Grundes als für andere als zureichend wahrgenommen ist. Insbesondere dann, wenn eine Bestätigung von unterschiedlichen Personen identisch vorgenommen wird. Ähnliches gilt auch für das Ausbleiben einer Intervention. Denn das Ausbleiben einer Intervention kann nur in Situationen als Indiz interpretiert werden, in denen davon ausgegangen werden kann, dass der Interaktionspartner gut gesinnt ist und zuhört. Wenn er nicht zuhört und die Intervention bleibt aus, macht dies keine Aussage darüber, ob ein Grund als für andere als zureichend interpretiert werden kann. Möglich ist allerdings auch, dass der Lernende einen subjektiv zureichenden Grund in die Interaktion einbringt, der Interaktionspartner zuhört und dennoch im Rahmen des Interaktionsverlaufs nicht interveniert. Dann könnte ein vom Lernenden eingebrachter Grund als ein für den Interaktionspartner zureichender Grund wahrgenommen werden. Eine solche Situation wird beispielhaft in den Turns 69 bis 76 von Analyse I sichtbar. Hier bleibt in Anbetracht des von Martin genannten Grundes die Intervention seitens der Interviewerin aus. Als Indiz für als für andere als zureichend wahrgenommene Gründe kann dies allerdings nur im gesamten Interaktionsverlauf gelten. Nur dann, wenn die Voraussetzungen, das Zuhören und die Einstellung gegenüber dem Lernendem weitgehend offensichtlich sind, kann ein Ausbleiben einer Intervention als ein solches Indiz interpretiert werden. Denn dann ist es möglich, dass der vom Lernenden eingebrachte Grund sich innerhalb des Interaktionsgeschehens bewährt und vom Lernenden als ein solch bewährter Grund wahrgenommen wird.

164

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Die Aufforderung zur Handlung auf der Grundlage eines Grundes, der nicht eigene sein muss, durch einen anderen Interaktionspartner meint beispielsweise folgende Situation aus Analyse II. Die Lernende Caro wird von der Interviewerin aufgefordert, den Kongruenzsatz SsW anzuwenden. Sie könnte diese Aufforderung als einen für die Interviewerin zureichenden Grund dafür wahrnehmen, dass der Kongruenzsatz in dieser bestimmten Situation anwendbar ist (siehe Analyse II Turns 23-25). Eine solche Aufforderung kann im Gegensatz oder im Einklang mit dem Fürwahrhalten der Lernenden stehen und ist mit einer entsprechenden Handlungsanweisung verbunden. Als ein Indiz für die Identifikation eines Grundes als für andere als zureichend wahrgenommen kann diese Aufforderung dann sein, wenn der Interaktionspartner den Lernenden nicht fehlleiten möchte. Zudem kann mit Blick auf den Symbolischen Interaktionismus festgehalten werden, dass Personen auf der Grundlage einer Bedeutung handeln. In diesem Fall könnte die Lernende also vom Interaktionspartner zur Handlung aufgefordert werden auf der Grundlage des Fürwahrhaltens des Interaktionspartners. Wenn ein bereits latent vorhandener Grund seitens des Interaktionspartners explizit gemacht wird, kann dies ebenfalls als Indiz für die Identifikation eines Grundes als für andere als zureichend wahrgenommen, angenommen werden. Bei dieser Explikation des Grundes wird der in der Interaktion bereits latent vorhandene Grund öffentlich gemacht. Diese Explikation kann über eine Skizze (siehe dazu Turn 20 in Analyse II) oder auch sprachlich seitens des Interaktionspartners geschehen. Dieses Indiz ist insofern plausibel, als dass durch diese Explikation der bereits in der Interaktion latent vorhandene und zum Gegenstand dieser Interaktion hervorgehobene Grund wiederholt wird. Das Indiz erfolgreiche Prüfung eines Grundes seitens des Interaktionspartners bezieht sich auf folgende Situation. Ein in die Interaktion eingebrachter Grund wird vonseiten des Interaktionspartners geprüft. Diese Prüfung kann beispielsweise über eine Skizze, oder eine Argumentation oder ähnliches geschehen. So war es in Analyse IV so, dass ein fiktives Schülerargument durch die Interviewerin in die Interaktion eingebracht und direkt

6.4 Indizien für die Identifikation von Gründen

165

geprüft wurde, sodass die Lernende diesen fiktiven Schülergrund als für die Interviewerin als zureichend wahrgenommen hat (s. Analyse IV Turns 128-138). Die Plausibilität ist ähnlich wie beim Indiz Bestätigung eines subjektiv zureichenden Grundes vom Kontext abhängig. Natürlich muss selbst eine erfolgreiche Prüfung eines Grundes seitens des Interaktionspartners nicht zwangsläufig als ein für andere als zureichender Grund vom Lernenden wahrgenommenen werden. Das letzte Indiz der Passung eines Grundes für das eigene Fürwahrhalten bewegt sich in gewisser Weise auf einer Metaebene. Damit ist gemeint, dass der Lernende einen Grund nicht auf seine inhaltliche Zureichung interpretiert, sondern diesen nur deshalb als zureichend wahrnimmt, weil dieser mit seinem bisherigen Fürwahrhalten übereinstimmt. Dies lässt sich beispielhaft an diesem Turn aus Analyse III interpretieren. 132

F

die Reihe Katja hat (nimmt Schülergrund C in die Hand und reicht ihn I), ist ja auch der gleichen Meinung

Felix hat den fiktiven Schülergrund C gelesen und mit den Worten „ist ja auch der gleichen Meinung“ als für sein eigenes Fürwahrhalten übereinstimmend interpretiert. Insofern Felix nicht auf den Inhalt des fiktiven Grundes, sondern nur auf dessen Konsequenz eingeht, ist die von Felix wahrgenommene Zureichung dieses Grundes nicht von den Bestandteilen des Grundes abhängig, sondern könnte allein davon abhängen, dass dieser seinem Fürwahrhalten entspricht. Auch dieses Indiz gilt es mit Vorsicht zu betrachten, denn es ist nur dann plausibel, wenn das Fürwahrhalten tatsächlich als übereinstimmend interpretierbar ist und angenommen werden kann, dass die Konsequenz verstanden wird. Dies entspricht auch einer Kommunikation im Luhmannschen Sinne bei der Information, Mitteilung und Verstehen zusammenfallen müssen. Zudem konnte in den Analysen II und III aufgezeigt werden, dass sich zwischen zureichenden und nicht zureichenden Gründen sich in der LehrLern-Realität noch Abstufungen befinden können. Damit hängt unmittelbar die Frage zusammen, wie zureichend beispielsweise ein Grund für einen

166

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Lernenden ist. Denn wenn es im Laufe des Zweifels als Interaktionsmoment, bei dem zwei nicht äquivalente Gründe miteinander konkurrieren, zu einer Veränderung des Fürwahrhaltens kommt, könnte angenommen werden, dass etwa die bis dahin subjektiv zureichenden Gründe nicht so zureichend waren. Auf der anderen Seite könnte ein Festhalten an dem bisherigen Fürwahrhalten dafürsprechen, dass die Gründe deutlicher zureichend sind. Weitere Hinweise für die Frage wie zureichend ein Grund ist, könnte auch das Indiz des mehrfachen Wiederholens eines Grundes liefern. Wenn ein Grund mehrmals wiederholt wird, könnte dies darauf hinweisen, dass dieser deutlicher zureichend ist. Auch zeigte sich im Rahmen von Wetteinsätzen etwa in Analyse II, dass Gründe als mehr oder weniger zureichend rekonstruierbar waren. Zuletzt konnte insbesondere in den Analysen II und III der Zweifel als ein Interaktionsmoment rekonstruiert werden, bei dem zwei nicht äquivalente Gründe miteinander konkurrieren. Aus diesem Zweifel heraus kann es zu einem Hinterfragen der eigenen Überzeugung und den damit verbundenen inhaltlichen Gründen kommen. Zudem kann ein solcher Moment des Zweifels im Rahmen des Interaktionsgeschehens gelöst werden. Indem beispielsweise der Lernende sich dazu entscheidet, seine bisherigen Gründe als zureichender anzunehmen und damit an seinem Fürwahrhalten festzuhalten. Möglich ist allerdings auch, dass es im Rahmen der Auflösung des Zweifels zu einer Veränderung des eigenen Fürwahrhaltens kommt, indem der nicht äquivalente Grund möglicherweise als zureichender angenommen wird. 6.5

Offene Fragen

In dieser Arbeit wurden wie bei Steinbring (1998, 2000, 2009, 2013) Ansätze der Systemtheorie Luhmanns für die mathematikdidaktische Forschung nutzbar gemacht. Es zeigte sich, dass die systemische Wendung geeignet war, das Problem des Wahrheitsbegriffes im Sinne einer ontologischen Wahrheit in gewisser Weise aus der Interaktion zu entkoppeln. Denn in Anlehnung an Luhmann kann Wahrheit nur im Sinne einer intersubjektiven Objektivität realisiert werden, und zwar, dort wo sich diese

6.5 Offene Fragen

167

Wahrheit in der Kommunikation und damit innerhalb eines sozialen Systems bewährt. Die systemische Wendung eignete sich zudem dafür, wie bereits oben beschreiben, das sich stetig aktualisierende Interaktionsgeschehen näher zu fassen. In solchen Interaktionsgeschehen, als soziale Systeme, schließt sich Kommunikation an Kommunikation an. Zudem ermöglicht es die systemische Wendung, verschiedene soziale Systeme zu betrachten. Dies war allerdings nicht Ziel dieser Arbeit. Aus theoretischer Perspektive könnten verschiedene soziale Systeme zwar potenziell gleichberechtigt bezüglich der Aushandlung von inhaltlichen Gründen sein. Allerdings könnten sich in den jeweiligen sozialen Systemen unterschiedliche Merkmale, Muster, Strukturen und Routinen ergeben, die etwa bestimmte Gründe begünstigen oder vorformatieren. Dass solche Muster und Routinen existieren, hat Voigt (1984) beispielsweise für den fragendentwickelnden Unterricht herausgestellt. Es erscheint daher lohnenswert, in zukünftigen Arbeiten systembedingte Unterschiede hinsichtlich einer Überzeugung im Werden und den jeweiligen zureichenden inhaltlichen Gründen zu betrachten. Denn im Unterrichtsgespräch ergeben sich möglicherweise ganz andere Gründe oder es sind andere Indizien für die Identifikation von Gründen als zureichend rekonstruierbar. Weiter wurde in dieser Arbeit gezeigt, dass grundsätzlich eine Differenzierung der Zureichung inhaltlicher Gründe in der empirischen Lehr-Lern-Realität vorhanden ist. Es konnte rekonstruiert werden, dass zwischen zureichend und nicht-zureichend noch verschiedene Abstufungen existieren. Konkret ist damit die Frage verbunden, wie zureichend ein Grund für einen Lernenden ist. In den Analysebeispielen II und III wurde dargestellt, dass diese Abstufungen der Zureichung etwa in Interaktionsmomenten des Zweifels oder wenn der Lernende beispielsweise Süßigkeiten auf eine bestimmte Aussage setzen sollte, sichtbar wurden. In weiteren Studien wäre es sinnvoll, sich diesen Abstufungen konkreter zu widmen, indem etwa Maßnahmen in den Blick genommen werden, die die Zureichung verstärken könnten. Zuletzt eröffnet diese Arbeit, die Überzeugungen als ein Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes aus subjektiv zureichenden Gründen

168

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

oder Gründen, die als für andere als zureichend wahrgenommen werden, die Frage, wie diese Überzeugungen verändert bzw. gefestigt werden könnten. Die hier vorliegende Arbeit eignet sich daher als Ausgangspunkt für diese Frage nach Veränderbarkeit und Festigung. Bezüglich der Festigung könnte der Aufsatz „Die Festigung der Überzeugung“ von Charles Sanders Peirce (1877) einen weiteren theoretischen Ansatzpunkt liefern, in dem unter anderem vier Methoden zur Festigung der Überzeugung beschrieben werden. Diese vier Methoden sind die Methode der Beharrlichkeit (CP 5.377), die Methode der Autorität (CP 5.379), die Apriori-Methode (CP 5.382) und die Methode der Wissenschaft (CP 5.384). Inwieweit die Apriori-Methode und die Methode der Wissenschaft in einem Zusammenhang mit dem in dieser Arbeit genutzten Überzeugungsbegriff gebracht werden kann, ist zu klären. In jedem Fall könnte die Methode der Beharrlichkeit etwa mit Analyse IV oder mit der Rekonstruktion des Indizes Wiederholung eines Grundes in Ansätzen in Verbindung gebracht werden. Denn auch in diesen Rekonstruktionen war Beharrlichkeit ein entscheidendes Moment. Die Methode der Autorität spielt möglicherweise beim Indiz Widerspruch gegen die Autorität oder bei den Indizien für die Identifikation eines Grundes als für andere als zureichend eine Rolle. Denn bei diesen Indizien könnte die Rolle des Interaktionspartners relevant sein. 6.6

Folgerungen für die Schulpraxis

In erster Linie dient diese Arbeit dem Bereitstellen einer theoretischen Perspektive zum Verstehen von Lernprozessen. Natürlich lassen sich aus der theoretischen Fassung und der empirischen Rekonstruktion des Überzeugungsbegriffes auch einige Folgerungen für die Schulpraxis ableiten. Aus theoretischer Perspektive wurde aufgezeigt, dass Inklusion als Teilhabe an Kommunikation die Schulpraxis auffordert, in allen Äußerungen beispielsweise innerhalb eines Unterrichtsgespräches ein mögliches Potenzial zu sehen. Denn Gründe und die Zureichung dieser Gründe entwickeln sich in der Interaktion und somit auch die Überzeugungen anhand dieser Gründe. Inklusiver Unterricht bietet dabei das Potenzial, dass andere und vielfältigere Gründe in der Interaktion entstehen und ermöglicht es so, dass im Sinne einer Teilhabe an Kommunikation (Luhmann 1981)

6.6 Folgerungen für die Schulpraxis

169

jeder Lernende seine je eigenen Mitteilungs- und Verstehensmöglichkeiten einbringt. Konkret ist ein solches Verständnis, bei dem die egalitäre Differenz (Prengel 1983), also die die Gleichwertigkeit des Ungleichen ernst genommen wird, etwa mit Blick auf Kernthemen (Feuser 1995) möglich. Im Sinne dieser Kernthemen könnten alle Kinder kooperativ an einem gemeinsamen Gegenstand lernen. So könnte sich, trotz der vielfältigen Heterogenität, über Gründe ausgetauscht werden und sich somit möglicherweise ein Potenzial teilhabeorientierten inklusiven Unterrichts realisieren (Meyer & Schlicht 2018). Wie bereits angedeutet wurde, könnten etwa die Methoden zur Festigung von Überzeugungen eine Rolle im Schulalltag spielen. Denn auch in der Lehr-Lern-Realität kommen Situationen des Beharrens vor, etwa bei Lernenden, die trotz allen Unterrichts auf ihr Fürwahrhalten beharren. Möglicherweise könnten sie für dieses Fürwahrhalten keine subjektiv zureichenden Gründe besitzen und auch keine Gründe, die sie als für andere als zureichend wahrnehmen, sodass im Rahmen dieser Arbeit von einem Vertrauen gesprochen würde. Zudem kann die Lehrkraft je nach Interaktionsverlauf durchaus auch von einem Lernenden als Autorität wahrgenommen werden. Aufgrund dieser Autorität könnte ein Lernender die Gründe der Lehrkraft als für diese zureichend wahrnehmen und deshalb einen bestimmten mathematischen Sachverhalt fürwahrhalten. Auch dies wäre kritisch zu betrachten, denn im Sinne dieser Arbeit könnte es bei der Methode der Autorität zu einer Überredung kommen, bei der der Lernende keine subjektiv zureichenden Gründe für sein Fürwahrhalten besitzt. Kurz formuliert: Wenn ein Lernender aufgrund der Autorität zu einem bestimmten Fürwahrhalten überredet wird, dann kann es passieren, dass dieses Fürwahrhalten nicht aus inhaltlichen Gründen existiert. Diese Arbeit kann aufzeigen, wie seitens des Lehrenden möglicherweise effizient eine Einordnung der Überzeugung eines Lernenden in die jeweiligen Kategorien erfolgen kann, indem die Frage gestellt wird, wie zureichend ein inhaltlicher Grund ist. Dabei gilt zu betonen, dass die Kategorien nicht nur im Sinne einer Hierarchie zu verstehen sind. Eine subjektive Überzeugung ist nicht notwendig besser als eine systemisch-interaktive

170

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Überzeugung. Die Kategorien dienen zunächst einer Einordnung des jeweiligen Fürwahrhaltens in Anbetracht der zureichenden bzw. nicht-zureichenden inhaltlichen Gründen. Allerdings könnten diese Kategorien auch als erstes Diagnoseinstrument fungieren. Nämlich bei der Frage, inwieweit die Inhalte des Unterrichts tatsächlich inhaltlich überzeugend waren, oder ob diese nur im Sinne eines Input-Outputs von den Lernenden aufgenommen worden sind. Dies könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn der Lernende sich in der Kategorie der Überredung befindet, und keine subjektiv zureichenden inhaltlichen Gründe für sein Fürwahrhalten besitzt. In diesem Sinne bietet die Arbeit ein einfaches Schema zur Einordnung von Überzeugungen. Um die bisherigen Überlegungen zu verdeutlichen, wird nochmals auf das Beispiel aus der Einleitung zurückgekommen. Das Anpusten eines Würfels bei einem Würfelspiel kann mit subjektiv zureichenden Gründen verbunden sein. In diesem Falle würde der Lernende sich in der Kategorie der subjektiven Überzeugung befinden. Nun stellt sich die Frage, inwieweit eine solche subjektive Überzeugung verändert werden könnte. Mit Blick auf diese Arbeit bieten sich zwei Ansatzpunkte. Zum einen können inhaltliche Gründe in den Unterricht eingebracht werden und sich so die bisherigen Gründe für das Fürwahrhalten verändern. Zum anderen könnte an der der Zureichung eines Grundes gearbeitet werden. Möglich wäre diese beispielsweise durch die Einführung der Laplace Wahrscheinlichkeit durch die Lehrkraft mithilfe nicht äquivalenter Gründe Zweifel erzeugt und etwa produktive Irritationen (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2015) stattfinden. Allerdings könnte eine Einführung mithilfe einer direktiven Methode dazu führen, dass der Lernende zwar ggf. sogar als für andere als zureichende Gründe für diesen Wahrscheinlichkeitsbegriff erkennt, aber es zu keiner Veränderung im Sinne eines Wechsels seiner (subjektiv zureichenden) Gründe für das Anpusten kommt. In diesem Falle könnte der Lernende sich in der Kategorie der Überredung befinden. Das würde dazu führen, dass der Lernende, wie in der Einleitung, weiterhin den Würfel anpustet. Erst wenn der Lernende auch für sich zureichende inhaltliche Gründe findet, könnte er das Pusten entsprechend unterlassen. Diese kurze Beispielsituation verdeutlicht auch die Vorteile, Überzeugung als solch inhaltsfokussierendes Konzept zu fassen, dass den jeweiligen

6.6 Folgerungen für die Schulpraxis

171

Lernenden in Blick nimmt. Dies macht diese Arbeit auch dadurch deutlich, dass Überzeugungen und die jeweiligen inhaltlichen Gründe des Lernenden miteinander zusammenhängen (s. Kapitel 3) und sich gegenseitig bedingen. Die Änderung eines Grundes kann zur Änderung oder auch Festigung einer Überzeugung führen und umgekehrt. Zum anderen ist es möglich die Zureichung eines Grundes im Interaktionsverlauf auszuarbeiten und damit eine Änderung oder aber Festigung der Überzeugung zu ermöglichen. Insofern ist dies ein Plädoyer dafür, im Schulalltag stets zu versuchen, Begründungen für das jeweilige Fürwahrhalten eines mathematischen Sachverhaltes einzufordern. Dieser reflexive Akt des Begründens eines mathematischen Satzes, einer mathematischen Aussage oder ganz allgemein eines mathematischen Sachverhaltes, könnte es ermöglichen, das eigene Fürwahrhalten in den Blick zu nehmen; sei es im Unterrichtsgespräch, durch ein Lerntagebuch oder mithilfe anderer Formate. Zum anderen ermöglicht es dieser in der Arbeit verwendete Überzeugungsbegriff, eine weitere Ebene in den Blick zu nehmen, warum das Begründen und Beweisen im Mathematikunterricht berücksichtigt werden sollte, ähnlich wie Winter (1983) es mit seinem subjektiven Beweisbedürfnis aufgezeigt hat. Bisher wurde zumeist vom Fach her begründet, warum Argumentieren und Beweisen ein notwendiger Bestandteil des Unterrichts sein sollte. Mithilfe dieses Überzeugungsbegriffes wird deutlich, dass das Argumentieren und das Beweisen notwendige Bestandteile sind, um eine subjektiv oder systemisch-interaktive Überzeugung zu erreichen. Ohne sich inhaltlich mit den jeweiligen mathematischen Sachverhalten auseinanderzusetzen und für sich zureichende Gründe zu entwickeln, könnte der jeweilige Sachverhalt vom Lernenden im Sinne eines Vertrauens oder Überredung fürwahrgehalten werden. Weiterhin bietet dieser Überzeugungsbegriff eine weitere Begründung für das entdeckende Lernen. Denn aus der Pespektive der Lernenden gedacht, könnte das entdeckende Lernen dazu beitragen, dass entsprechende zureichende Gründe für mathematische Sachverhalten entwickelt werden. Beispielsweise kann durch das Entdecken eines Zusammenhangs und der daraus folgenden Entdeckung einer Begründung ein zureichender Grund entstehen.

172

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick

Aus diesen praktischen Überlegungen ergibt sich nochmals die weiterführende Forschungsfrage, wie eine Überzeugung konkret verändert werden könnte. Diese Forschungsfrage ist auch für die Praxis durchaus relevant. Erster Ansatzpunkt einer solchen Änderung kann die Zureichung an sich sein. Denn für die Zureichung existieren auch Gründe. Zum anderen kann an den Gründen angesetzt werden, indem ein Grund beispielsweise in der Interaktion als nicht mehr zureichend aufgezeigt wird oder der Grund an sich widerlegt wird. Dies gilt es in weiteren Forschungen zu klären und zu differenzieren. Zuletzt möchte diese Arbeit auch ein Appell sein. Nämlich dahingehend, insofern auch empirisch gezeigt wurde, dass Lernende keine trivialen Maschinen sind (Kapitel 3.6). Es gibt kein Input-Output-System, aus dem Überzeugung erzeugt werden kann. Überzeugung entsteht aus der Interaktion und ist somit immer eine Überzeugung im Werden.

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Anhang Transkripte Transkript zu Analyse I 1

M

2

I

ok .. also für den Ersten würde ich jetzt zum Beispiel die Gummibärchen nehmen und dann würde ich die da hinlegen und dann würde ich- (Nimmt sich eine Packung Gummibärchen) ja.

3

M

dann setze ich auf den Koala, das ist das Lieblingstier meiner

4

I

Mutter. ok

5

M

soll ich alle nehmen oder (..)

6

I

dann legen wir das am besten hier hin sodass man sieht du legst auf den Koala-

7

M

(Würfelt) (ne?) .. soll ich die jetzt so weit vorrücken‘

8

I

genau .. den Gelben um eins, den Grünen um vier, den Roten

9

I

um drei. (Macht sich Notizen) (M greift in die Gummibärchentüte) ne, bis der im Ziel ist natürlich.

10

M

ok.

11

I

noch hat ja keiner gewonnen.

12

M

soll ich denn jetzt nochmal was wetten oder‘

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Moll, Überzeugung im Werden, Kölner Beiträge zur Didaktik der Mathematik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27383-5

184

Anhang

nee erst nach, also wir spielen jetzt komplett einmal durch, und dann machen wir eine neue Runde und dann darfst du dir was Neues aussuchen.

13

I

14

M

15

I

ok. (Würfelt: Grüner Würfel vier, roter Würfel drei, gelber Würfel zwei) (leiser) Vier Drei Zwei (Rückt die Spielfiguren entsprechend der gewürfelten Augenzahlen vor) (12sec) mhm-

16

M

sind da irgendwelche Gewichte drin‘ (Greift und schaut sich kurz den grünen Würfel an)

17

I

nö sind ganz normale Holzwürfel aber, (leiser) kannst du dir trotzdem genau angucken

18

M

(Würfelt: Grün fünf, gelb zwei, rot vier, und hält inne. Rückt anschließend die Figuren vor und guckt sich dann die Würfel genau an) (23sec) ja (Schnalzlaut) ja (Schnalzlaut)

19

I

(Lachen) was hast du entdeckt‘

20

M

(Hält den grünen Würfel in der Hand) der hat nur Fünfen und Sechsen, Vier, der hat nur Vier Fünf und Sechs (nimmt den roten Würfel) und der hat, Drei Vier und Zwei (nimmt den gelben Würfel) und der nur Eins bis Drei, ja

21

I

ok spiel noch die Runde zu Ende

22

M

(Würfelt: Grün fünf, rot drei, gelb zwei) fünf (Rückt die Figuren vor) (8sec) ja

Anhang

185

23

I

24

M

25

I

26

M

27

I

28

M

also Kaninchen ist Erster geworden, Koala Zweiter, Igel Dritter .. dann ist der Einsatz leider weg hätte man voraussehen können (lehnt sich zurück) aber, alles geht wieder auf Start .. Warum sagst du hätte man das voraussehen können. ja weil das .. der muss höher sein als der, (Zeigt erst auf den grünen Würfel und dann auf den gelben Würfel) Der kann, und wenn der am niedrigsten ist, ist der mindestens genauso gut wie der (Zeigt erst auf den grünen Würfel und dann auf den roten Würfel) und deshalb .. (Hält den grünen Würfel in der Hand) weil, ja das niedrigste ist hier ne Vier, (Hält den roten Würfel in der Hand) und da ist das höchste ne Vier, das heißt der muss gewinnenok (Zeigt dabei mehrmals auf die Würfel) wenn da nicht immer eine Vier kommt, und da auch, und das ist ziemlich unwahrscheinlich glaube ich.

Dann setze ich dann darfst du dir jetzt für die zweite Runde wieder deinen 29

I Einsatz aussuchen.

30

M

31

I

och dann nehme ich die ganze Tüte. (Lachen) nein das geht nicht. (M nimmt sich ein Schokobon und setzt es auf das Kaninchen) (4sec) Ok diesmal auf das Kaninchen mit der Begründung, der hat, die höchsten Zahlen.

186

Anhang

32

M

ja

33

I

ok.

34

M

(Würfelt und rückt Spielfiguren um die entsprechende Zahl nach

35

I

36

M

zweiter wird der Koala. (Würfelt und rückt Koala ins Ziel) (6sec) Und letzter ist gelb.

37

I

genau .. Ja dann darfst du dir, einen zweiten Schokobon dazu nehmen. Das ist dein sicherer Gewinn schon mal (M und I grinsen) (leiser) Kannst du dir, schon mal, dahin legen

38

M

39

I

ok, wir gehen zurück auf Start .. Macht es denn einen Unterschied wenn du in der nächsten Runde die Würfel nicht zusammen sondern einzeln würfelst‘, du hast jetzt gerade immer zusammen geworfen‘

40

M

das würde keinen Unterschied machen.

41

I

warum‘

42

M

vorne bis das Kaninchen im Ziel ist) (25 sec) ja (leiser) die anderen beiden noch … Spiel die anderen beiden am besten noch zu Ende, wer wird Zweiter, wer wird Dritter-

ok

weil sich ja jeder Würfel einzeln dreht, also, die Zahlen bleiben ja, (Nimmt den grünen Würfel) da steht ja immer noch äh da stehen ja immer noch die höchsten Zahlen drauf, (Zeigt auf den roten) und da die niedrigeren und (Zeigt auf den gelben) da die niedrigsten.

Anhang

187

43

I

ok, wenn du also jetzt einzeln würfelst, setzt du dann immer noch auf das Kaninchen‘

44

M

ja.

45

I

ja dann such dir doch deinen Einsatz aus. (M nimmt sich ein Bonbon) davon darfst du ruhig auch mehrere nehmen, da sind ja so viele drin.

46

M

(sehr leise) gut (Setzt die Bonbons auf das Kaninchen)

47

I

ok ja dann los.

48

M

(Würfelt einzeln die Würfel und rückt die Figuren vor) (37 sec)

49

I

ja ja, würfel noch zu Ende, wer wird wieder Zweiter wer wird Dritter‘

50

M

51

I

52

M

das hätte man sich auch an den Tieren denken können oder‘

53

I

warum hätte man sich das an den Tieren denken können‘

54

M

ich glaube dass ein Kaninchen schneller ist als ein Koala und ein Koala schneller ist als ein Igel.

der Koala wird wieder Zweiter, das ist ganz sicher. (Spielt die Runde zu Ende: 4. Wurfrunde: Rot drei, Gelb eins, 5. Wurfrunde: Rot drei) (10 sec) (sehr leise) genau, (lauter) ja, gleiche Reihenfolge wie eben, (langsam) Kaninchen, Koala .. Igel

188

Anhang

55

I

ja in der Natur wahrscheinlich schon ja (Lachen), ok dann darfst du hier natürlich auch wieder zwei dazu kriegen … (Gibt ihm die Bonbons) dann ist das schon mal dein sicherer Sieg. (Lachen) So, jetzt gehen wir auf Start zurück-, (Setzt Figuren auf das Startfeld) aber jetzt für die letzte finale Runde kriegst du neue Würfel. Die kommen also weg- (Nimmt die alten Würfel weg und gibt ihm neue Würfel) … und du bekommst für jeden einen neuen. (6sec) Wer ist jetzt dein Favorit und warum‘, denk bitte wieder laut für mich .. was guckst du dir da an‘ öh ja, welche Ziffern die haben also welche Zahlen da drauf stehen und äh, (Nimmt den grünen Würfel) der wird der letzte sein, weil der nur Drei und Zwei hat .. (Nimmt den gelben Würfel in die Hand) der wird für mich der höchste sein weil der Vier Drei und Fünf hat .. (Nimmt den roten Würfel) der hat auch Fünf Drei und Vier, aber der hat auch noch eine Zwei dabei .. und deshalb wird der (Legt den gelben Würfel zu seiner Spalte) als erstes ins Ziel gehen, der (Legt den roten Würfel zu seiner Spalte) als zweiter und der (Legt den grünen zu seiner Spalte) wird diesmal der letzte sein.

56

M

57

I

58

M

ok dann such dir doch für die letzte, Runde deinen Einsatz aus- (4sec) (S nimmt ein Schokoladenbonbon und legt diesen auf die gelbe Spalte) auf den Igel (leiser) genau

59

I

dann los.

60

M

61

I

(Würfelt alle Würfel gleichzeitig: Gelb fünf, Grün drei, Rot drei und rückt entsprechend die Spielfiguren vor) (leiser) ja das geht ja gut los (Lachen) (S spielt das Spiel, würfelt und rückt entsprechend die Spielfiguren vor: 2. Wurfrunde: Grün zwei, Rot fünf, Gelb fünf, 3. Wurfrunde: Rot fünf, Grün zwei, Gelb

Anhang

189

vier, 4. Wurfrunde: Rot drei, Gelb zwei, Grün vier) (36sec) Mhm (Igel und Koala kommen in derselben Runde ins Ziel) ja der 62

M wäre erster gewesen. genau.

63

I Der Igel kommt hier mit der höheren Zahl rein

64

M

ja

65 66

I M

67 68

I M

69

I

(Macht sich Notizen) woran liegt das denn‘ , hätte auch der Koala gewinnen können‘

70

M

äh … ja mit Glück.

71

I

warum‘

72

M

(Hält den roten Würfel in der Hand) äh wäre beim Koala immer die Fünf gekommen, oder immer die Vier, und bei (Hält den gelben Würfel in der Hand) .. dem, immer die Drei, oder die Vier hätte der Koala gewonnen, (Hält den roten Würfel in der Hand) aber dadurch dass der Koala auch noch eine Zwei drin hat,

73

I

74

M

Hat noch mehr Felder, also .. ja hat der gewonnen, aber es war ein Kopf an Kopf Rennen ja

mhmund … mehr, (Hält erst den grünen und dann den gelben Würfel in der Hand) ich glaube der hat hier zwei Fünfen

190

Anhang

.. ja, der hat auch zwei Fünfen, ist die Wahrscheinlichkeit (Legt den gelben Würfel nach vorne) hier höher, ähm dass da auch ne höhere Zahl rauskommt bei. Ich würde sagen wenn man auch (Zeigt auf den roten Würfel) die alle addiert und (Zeigt auf den gelben Würfel) die alle addiert, und (Zeigt auf den grünen Würfel) die alle addiert hat der (Zeigt auf den Igel) die Höchste dann kommt der (Zeigt auf den Koala) und dann kommt der. (Zeigt auf das Kaninchen) (Macht sich Notizen und nickt zustimmend) mhm-

75

I

76

M

77

I

78

M

nein.

79

I

hast du hier, Mathematik aus dem Unterricht verwendet.

80

M

nein.

81

I

(Lachen) sondern‘

82

M

83

I

hm .. das was ich wusste also das was ich mir gedacht habe. Also ich meine wir hatten Wahrscheinlichkeitsrechnung aber, das hat ja nicht, viel mit äh irgendwelchen Formeln zu tun- .. Ich glaube das hätte ich auch schon in der Fünften gekonnt, bevor ich das gehabt habe. mhm- ok

so kann man sich das dann bestimmt insofern auch denken. (Nicken) sehr gut, ja dann kriegst du natürlich noch deinen Gewinn-.. (Reicht dem Schüler die Süßigkeiten) noch eins dazu. Alles klar .. das war das erste Spiel (Räumt die Materialien weg) … ist dir hier was schwergefallen.

Anhang

191

Transkript zur Analyse II Turns 1-8 Vorstellung und Erstellung der ersten Skizze von Caro. 9

I

10

C

(nickt, blickt zu Caro, dann auf die Skizze) ja ok und warum hast, du dich jetzt dafür entschieden die Verbindung zwischen, ähm den beiden Gemeinden-, nich- (formt mit den Händen eine Spitze) direkt zu gehen‘ also einfach (wedelt mit der rechten Hand, blickt zu Caro dann wieder auf die Skizze) mit ner graden Linie‘ sondern, (blickt zu Caro) (blickt auf ihre Skizze, lehnt sich zurück, legt den Stift weg, blickt dann zu I) ja man möchte ja auch, (lehnt sich wieder vor) so viel wie möglich am Ufer gehen und wenn man jetz.. (zeigt etwas rechts in ihrer Skizze) hier erstmal bis da was macht und dann wenn hier Wald is dann (blickt zu I, dann wieder auf ihre Skizze) bringt eim da der See, Weg nix also der Uferweg- weils kein Uferweg

11

I

mhm (nickt)

12

C

13

I

mehr wäre‘ (blickt zu I, dann auf ihre Skizze, legt den Stift ab) und ja ja ok

In den Turns 14-19 des Interviews legt die Interviewerin Caro leere Dreiecke als Hilfestellung bzw. als expliziten Hinweis auf Dreiecke und die damit einhergehenden Kongruenzsätze vor. Diese leeren Dreiecke werden von Caro so angeordnet, dass sie ungefähr ihrer skizzierten Form des Pfades (vgl. Abb. 2) entsprechen. 20

I

(blickt zu Caro) was findest du denn plausibler (tippt mit dem Bleistift auf die Skizze von I) also dass man so so in der Form von nem Dreieck macht‘ oder dass man das so, (leiser) mh, ähm (bewegt beide Hände) macht wie dus gemacht hast

192

Anhang

21

C

22

I

(lehnt sich zurück) also ich fänds jetz schöner wenn das so .. (wedelt mit der rechten Hand hin und her, blickt zu I, die ihr heruntergefallenes Blatt wieder aufhebt, blickt wieder auf ihre Skizze) weil man, (wedelt mit der rechten Hand) wenn man ja so grade runter geht- dann, (blickt auf, wedelt mit der rechten Hand) (leiser) dann hat man ja keine Kurve oder so (blickt auf ihre Skizze) (lauter) und ich find halt mein Weg n bisschen schöner aber (wedelt mit beiden Händen, blickt zu I) mhm, (nickt) ok, ja

23

C

wenns die Gemeinde so möchte- (blickt auf ihre Skizze)

24

I

ja genau (lacht) .. (leise) ok (lauter) könntest du denn ähm versuchen dieses Dreieck mal zu zeichnen‘

25

C (laut) ja C (setzt sich auf, blickt auf ihre Zeichnung) s soll ja n Rundweg sein ne‘ I Mhm (nickt) C (leise) ok (nimmt das Geodreieck, blickt auf ihre Zeichnung) (7 sec) die vier Zentimeter müssen auch, da- (tippt mit dem Bleistift auf ihre Zeichnung, blickt kurz zu I).. (leise) über den See I (nickt) C ok (stützt den Kopf auf den Arm) I mhm (nickt) dann-.. (leise) schauen wa mal (misst etwas in ihrer Zeichnung) C (27 sec) I mh was is, (wedelt mit den Händen) dein Problem woran überlegst du‘ C (hebt die Arme, wedelt mit den Händen, blickt zu I) ja, die vier Zentimeter passen nich so- also (blickt dann wieder auf ihre Zeichnung)

26 27 28

29 30 31 32 33 34

35

I

mhm. was meinst du mit die passen nich‘

Anhang

193

36

C

also .. (tippt mit dem Bleistift auf den Punkt A ihrer Zeichnung) hier solls ja anfangn-

37 38

I C

Ja und hier solls ja enden- (Punkt C ihrer Zeichnung)

39 40

I C

41

I

mhm nur, wenn ich jetz von da nach da vier Zentimeter zeichnen möchte‘, (blickt kurz zu I) dann endet es hier oder da (irgendwo zwischen den Punkten A und C) (lehnt sich nach hinten, blickt auf ihre Zeichnung) hm

42

C

.. (leise) also nochmal

43

I

woran könnte das denn liegen´

44

C

45

I

das wir sechs zentimeter brauchen bis dahin .. ok, neuer Versuch (atmet hörbar aus) (C misst mit dem Geodreick 36 sec) so würde das passen jaa- (C betrachtet die Skizze)

46

C

47 48

I C

(nimmt den Zirkel aus der Verpackung 20 sec) vielleicht ja mit nem Zirkel (zieht die Mundwinkel nach unten, runzelt die Stirn, hält den Zirkel vor sich hoch, blickt darauf) (nickt) vielleicht (stellt im Zirkel einen bestimmten Radius ein) (19 sec)

49

I

was hast du jetzt fürn- Radius genommn´

50 51 52

C I C

53

I

vier Zentimeter (blickt zu I) okay (zeichnet etwas mit dem Zirkel) (8 sec) (leise) (okay?) (radiert etwas) (leise) mhm (lauter) warum ähm, zeichnest du jetzt nich zu Ende den Kreis

194

Anhang

54

C

(blickt auf ihre Zeichnung) weil das nicht aufgeht- (murmelt etwas, zeichnet weiter) (10 sec) das geht schon eher (radiert wieder etwas, zeichnet dann wieder etwas) (19 sec) und was is wenn das jetzt einfach so bleibt´ (wedelt mit der rechten Hand, blickt auf ihre Zeichnung) (lacht) (öffnet die Hände) ja doch mhm ok, (beugt sich vor, zeigt auf die Aufzeichnungen) ähm, aber wenn du jetz zum Beispiel, äh den Zirkel hier unten (zeigt auf den Punkt B in der Zeichnung von C) einstichst‘ (blickt zu C) .. (lehnt sich zurück, gestikuliert) und dann den Kreis mit vier Zentimeter Radius machst, wäre denn dann deine .. der Pfad unten immer noch sechs Komma fünf Kilometer lang?

55 56 57

I C I

58

C

(blickt auf die Aufzeichnungen) … das das das-, (lehnt sich zurück, blickt zu I, spielt an dem Zirkel, stützt die Ellenbogen auf den Tisch) keine Ahnung, also eigentlich ja schon.

59 60

I C

61 62

I C

ja(blickt zu I) weil man sticht ja einfach nur- rein aber (blickt auf ihre Aufzeichnungen, spielt mit dem Zirkel) mhm (nickt) (nickt) doch, doch ich würd sagen ja

63

I

64

C

ja‘ (nickt)

In den folgenden Turns 65-79 gibt die Interviewerin insgesamt fünf Aussagen mit Vorschlägen hinein, wie die Nicht-Konstruierbarkeit hinsichtlich einer Konstruierbarkeit des Dreiecks gelöst werden kann, herein und bittet Caro, Süßigkeiten auf eine oder mehrere Aussagen zu setzen. Nachdem Sie die Aussagen erhält, setzt Caro eine Tüte Gummibärchen auf die vierte

Anhang

195

Aussage, die besagt, dass die Seiten mit 4 cm bzw. 6,5 cm jeweils vertauscht werden sollen. 70

C

71 72

I C

73

I

74

C

75

wir machen jetz das Seestück einfach länger‘ und das Landstück einfach kürzer. C das kann gut sein (fährt sich durch die Haare, blickt auf ihre Zeichnung) I mhm (nickt) okay alles klar, und das ist dir eine- eine Tüte Gummibärchen wert. C ja I ok aber nich alle drei Sachen‘ C nein (schüttelt mit dem Kopf)

76 77 78 79 80

eh das kann klappn, (stützt den Kopf auf die Hand, blickt auf ihre Zeichnung) (blickt zu Caro) mhm aber, das Seestück-‘, (blickt zu I) soll ja vier Zent- vier Kilometer habn. (blickt nach unten) (blickt zu Caro) mhm .. (lehnt sich zurück) aber vielleicht würd ja dann die Gemeinde hergehen und sagen ok wir ham uns vertan‘, das funktioniert nich‘ ja kann gut sein- (fährt sich durch die Haare)

I

ok warum, dann doch nich alle drei‘

81

I

82

C (blickt auf ihre Zeichnung) weil das ein zu großes Risiko is (blickt zu I)

196

Anhang

Transkript zur Analyse III 1

I

2

F I

3

4

F

5

I

6

F

7

I F

aufgabe zwei mhm hier hast du .. (legt das Aufgabeblatt II mit der Tabelle auf den Tisch) eine Tabelle .. (zeigt zur Aufgabenstellung) du kannst da oben die Aufgabenstellung durchlesen und dann .. loslegen (liest die Aufgabenstellung, 18 sec) mhm, soll ich die jetzt einfach so weiter ausfüllen‘ ja, fang ruhig an also das ist ihr (deutet mit dem Stift auf die erste ? Spalte) Startkapital, sozusagen genau

9

I

10

F

(füllt die Tabellen aus, beginnt mit Reihe Katja, macht weiter mit Reihe Sebastian, lässt den 20. Wert frei, 46 sec) (schaut sich Reihe Luca genauer an, 34 sec) ah (lächelt und schaut I an) (schaut sich Reihe Luca an, 28 sec) (füllt Reihe Luca aus, lässt den 20. Wert frei, 10 sec) kannst du mir auch sagen, wie der zwanzigste Wert aussieht‘, in jeder Reihe‘ … oh

11

I

wie gesagt wie haben auch Schmierblätter.

8

12

F

wer hat, (tippt auf die Tabelle in Höhe der einzelnen Reihen) eins null null, also wer- also das ist ja ganz einfach, minus zwanzig sozusagen, mh (5 sec) (schreibt als 20. Wert in Reihe Katja „79“, 6 sec) (16 sec) (stöhnt, nimmt sich ein Schmierblatt, 5 sec)

Anhang

197

13

I

(notiert sich Nebenrechnungen zu Reihe Sebastian auf dem Schmierblatt, 40 sec) (notiert noch etwas auf dem Arbeitsblatt in der obersten Zeile, 7 sec) also ich mit einer einfacheren Möglichkeit hätte ich das anders machen können wie denn‘

14

F

ich habe hier den Wert zwei (zeigt auf das Arbeitsblatt)

15

I

ja

F

also hätte ich (zeigt oberhalb der Tabelle an den Anfang und das Ende) eine Null sozusagen dranhängen können weil dann wäre ich ja auch sozusagen beim Wert zwanzig gewesen das ist aber eine gute Überlegung.

16

17

I F

19

I

mh (9 sec) und hier (zeigt mit dem Stift auf die Tabelle) ist das auch ziemlich einfach weil, es ist ähm (7 sec) (notiert etwas auf dem Schmierblatt, 3 sec) .. weil ähm der Fünferwert ist fünfundzwanzig also noch mal der Fünferwert dann haben wir zehn also fünfzig, nochmal, haben wir ähm fünfundsiebzig und dann hundert und dann haben wir zwanzig hier mhm ..

20

F

(notiert als 20. Wert der Reihe Luca „100“, 3 sec)

21

I

gut dann sag mir mal der Reihe nach wie du gerechnet hast.

22

F

23

I

also hier (zeigt auf Reihe Sebastian) habe ich ähm, äh … was hab ich nochmal hier‘ (lacht) (lacht)

18

F 24

äh hier hätte ich mit der (zeigt auf die Tabelle) dreißig rechnen können, aber ich habe mich dafür entschieden mh (4 sec) fünfzehn mal zwanzig zu rechnen, weil ähm, hier (zeigt

198

Anhang

26

F

auf verschiedene Stellen in der Tabelle) immer fünfzehn dazukommt (zeigt auf die Reihe Sebastian) aha immer fünfzehn dazu, schreib das mal mir daneben dran (zeigt auf die freie Fläche links der Tabelle) dass du immer fünfzehn dazu genommen hast (notiert „15+“, 2 sec)

27

I

super, dann weiß ich das

28

F

29

I

hier, (zeigt auf die Reihe Luca) habe ich ähm (zeigt unbestimmt auf eine Tabellenspalte) die Fünfer genommen, ja

I 25

F

32

F

33

I

34

F

und ähm halt immer wieder verdoppelt (tippt mit dem Stift in Bögen auf den Tisch, zeigt danach mehrmals in die Tabelle) bis ich auf die fünf zu der zwanzig wurde, dann kam ich auf hundert mh, also bei der Reihe Sebastian hast du immer plus fünfzehn gerechnet von einem Wert zum nächsten. mh und kannst du mir sagen wie du beim Luca draufgekommen bist‘ was du da gemacht hast‘ ich habe fünfundzwanzig genommen und- (zeigt in die Tabelle) und wenn wir beim ersten Wert anfangen oder beim Startwert‘ beim Startwert ähm plus, also immer die ungeraden Zahlen

35

I

okay‘, das heißt‘

36

F

drei fünf sieben und so

I

und was rechnest du dann plus drei oder fünf oder sieben oder, was denn

F

immer plus, ähm die die ungerade Zahl die, wenn ich vorher (stellt die Fingerspitzen kreisförmig auf den Tisch) die sieben hatte

30

I 31

37

38

Anhang

199

39

I

mhm

40

F

41

I

dann fang ich also mit der nächsten (verrückt die Hand in einem Bogen nach rechts) ungeraden Zahl die kommt was wäre die‘

42

F

äh neun

43

I

44

F

45

I

okay .. dann, wie kannst du das denn kurz daneben schreiben‘, wie du gerechnet hast mh, ungrade .. plus ungrade‘ (lacht) .. oder ungrade plus (schreibt neben die Tabelle „ungrade +“, 6 sec) nein (lacht) ich werds lesen können (lacht)

46

F

oh nein

47

I

49

I

und ähm, okay dann bist du auf die hundert gekommen beim zwanzigsten bei (zeigt immer wieder in die Tabelle) Katja hab ich, also bei ja Katja habe ich ähm .. hier weil immer plus minus eins, muss es ja von hier minus einfach minus zwanzig gerechnet werden mhm von wo aus‘

50

F

von eins (zeigt zum Zeilenanfang in der Zeile von Katja)

51

I

was ist denn der Startwert‘

52

F

hundert (zeigt nochmal zum Zeilenanfang von Katja)

53

I

mhm

54

F

55

I

.. also ist es eigentlich minus achtzig, also ist es nein .. ich muss noch mal überlegen überleg mal

56

F

F 48

kann (5 sec) also ich würd jetzt doch eher sagen dass der Start ich von Startwert zwanzig wegnehme

200

57

Anhang

I

, das heißt‘

F

ähm .. wer hier (deutet mit dem Stift der untersten Zeile entlang) wird ja immer minus eins gerechnet und deshalb wieder zwanzig wegnehmen mhm

58 59

I F

61

I

ich hatte erst gedacht, weil weil da weil (deutet mit dem Stift die Spalte der Startwerte entlang) der Startwert war ja für mich so keine Zahl, aber die eins muss ich natürlich auch so mitzählen sozusagen also muss ich doch vom Startwert anfangen mhm

62

F

kann ich das durchstreichen‘

63

I

64

F

(streicht „79“ durch und schreibt darunter „80“, 4 sec)

65

I

okay, bei Reihe Luca wollt ich dich noch mal fragen

66

F

67

I

68

F

69

I

70

F

mh meinste du könntest mir alle Zahlen oder alle Werte von sieben bis neunzehn auch aufschreiben‘ sieben bis neunzehn‘

71

I

genau da sind ja nur die Punkte dazwischen

72

F

hier‘ (nimmt sich das Schmierblatt)

73

I

mhm

74

F

mh (6 sec) (kann ich die?) … (seufzt)

60

kannste machen

mhm da biste ja direkt vom fünften Wert auf den zwanzigsten Wert gekommen ja

Anhang

201

75

I

76

F

77

I F

78

79

I F

80

(schaut sich die Tabelle an, 12 sec) (beginnt etwas auf das Schmierblatt zu schreiben, 3 sec) du kannst auch ganz rechts starten dann seh ich das besser hier rechts‘ (zeigt an den äußersten rechten Rand des Schmierblattes) ja oder hier (zeigt in die Mitte des Blattes) mach hier mal son Strich runter ... genau mhm .. mh (macht sich Notizen, 29 sec) un, ordentlich, welche ist das jetzt‘ eins also das ist sechs .. sieben … Moment ah .. ah mach ichs andersrum .. (murmelnd) sechs sieben acht neun zehn elf zwölf … soll ich hier jetzt diese Werte (zeigt auf sein Schmierblatt, auf dem alle ungeraden Zahlen der Reihe nach von 11 bis 27 stehen) aufschreiben oder auch das (zeigt auf die Tabelle).. das da oder (zeigt auf die Tabelle) das da .. das ist mein Ziel ja .. ehm dann mach ich das gleich, ehm (komplettiert seine Liste mit ungeraden Zahlen, 28 sec) hm (5 sec) ah, ich hab da Fehler gemacht (zeigt auf die Tabelle) das heißt‘

81

I

82

F

83

I

ich habe die fünfundzwanzig bleibt ja nicht immer die fünfundzwanzig mhm, was warum bleibt die nicht immer die fünfundzwanzig‘

84

F

weil es ja immer mehr wird

85

I

okay

F

das hab ich nicht beachtet (5 sec) (notiert die restlichen ungeraden Zahlen, 18 sec) (6 sec)

86

202

Anhang

(notiert die Werte von 7 bis 19 neben die ungeraden Zahlen,19 sec) ja, das ist jetzt ne vier (deutet auf eine von ihm geschriebene Zahl) 87 88 89

I F

I F

90 91

I

92

F

93

I

okay (notiert die Werte von 7 bis 19 neben die ungeraden Zahlen, 153 sec) ist das jetzt das Ergebnis okay (4 sec) du kannst das ruhig durchstreichen (streicht „100“ durch und schreibt daneben“425“, in der Tabelle sind nun als 20. Werte eingetragen: Reihe Sebastian: 300, Reihe Luca: 425, Reihe Katja: 80). das war jetzt ein bisschen höher hm‘ ein bisschen höher als eben ne‘

94

F

ja

Unterbrechung aufgrund einer Lehrkraft, die reinkommt. 98

I

99

F

100

I

okay, gut, dann geb ich dir jetzt mal, vier Pfeile mhm die leg ich hier mal … auf den Tisch (verteilt die vier Pfeil auf dem Tisch, 4 sec) die Reihe ist noch aktuell die leg ich hier oben drüber‘ (legt die Tabelle oberhalb der Pfeile auf den Tisch) (verteilt die vier Pfeil auf dem Tisch, 2 sec) so, wir haben vier Pfeile aber nur drei Reihen, jetzt möchte ich dass du .. ähm jeder Reihe .. einen Pfeil zuordnest, also

Anhang

203

damit ist gemeint wie könnte denn die Reihe irgendwie bildlich durch diese Pfeile dargestellt werden (legt die Namensschilder neben die Pfeile) 101

F

102

I

103

F

104

I

105

F

106

I

107

F

108

I

109

F

mh (nimmt die Tabelle zu sich, notiert „-1“ neben die Reihe Katja, flüstert etwas unverständliches, 11 sec) (flüstert) minus eins .. mh (schaut sich die Tabelle und die Pfeile an, 4 sec) (legt das Namensschild „Katja“ auf Pfeil 2, 5 sec) (schaut sich die Tabelle und die Pfeile an und legt das Namensschild „Sebastian“ auf Pfeil 3, 5 sec) (schaut sich die Tabelle und die Pfeile an und legt das Namensschild „Luca“ auf Pfeil 4, 11 sec) wie kommst du da drauf‘ also weil Katja, die geht ja als einzige runter .. also von den Zahlen nach unten (fährt Pfeil 2 entlang) mhm .. Luca geht ja äh davor, Sebastian geht ja nicht so nach oben (malt mit dem Finger einen diagonalen Pfeil von einer Ecke des Papiers zur anderen Ecke neben Pfeil 3) also, er geht ja nicht so eins zwei drei er macht ja so wirklich schon, steile Schritte fünfzehn dreizig und so mhm und Luca (fährt schrittweise Pfeil 4 nach) der ist halt erst mal so, und dann so, und dann wird er immer steiler, also so von der Pluszahl halt, sozusagen von der es wird ja immer größer wie meinst du (5 sec) was meinst du mit von der Pluszahl her‘ also der .. (zeigt auf seine Randnotiz neben der Tabelle) Su, Summand (lacht), ähm (zeigt neben Pfeil 4 einen linearen Verlauf des Graphen) der wird ja nich der bleibt ja nicht immer gleich, (fährt Pfeil 4 mit dem Finger 2x nach) der verändert

204

Anhang

110

I

sich ja auch und deshalb ist das ja kein so richtig, grader Strich sondern so einen nach oben mhm (5 sec)okay

111

F

so gewölbt

112

I

113

F

gute Ideen .. ich hab dir hier wieder ein paar Meinungen mitgebracht (breitet die Zettel links neben den Pfeilen aus) mhm

114

I

115

F

116

I

117

F

118

I

auf die ahm .. (zeigt zur Tabelle) bei hier immer plus fünfzehn, der Summan also der Summand ist ja ziemlich .. also groß bei denen (zeigt auf die einzelnen Zettel mit den Argumenten)

119

F

achso bei dem‘ (zeigt auf den untersten Zettel)

120

I

121

F

bei dem- ach bei dem meinst du‘ (zeigt auf den untersten Zettel) nein nein bei dem‘ (zeigt auf den mittleren Zettel)

122

I

123

F

ma schaun, ob du immer noch dabei bleibst, oder- was du zu denen zu sagen hast (liest die Argumente, schaut sich ab und zu die Pfeile an, 44 sec) mh .. also sie sagen ja es sind eher so mit Sebas es ist eher so mit Sebastian (zeigt auf Pfeil 1) aber ich finde- wie hoch müsste es dann wie hoch ist es dann hier (zeigt auf Pfeil 3) .. also ist das dann fünfundzwanzig, oder, es müsste ja dann schon wirklich (fährt mit dem Namensschild nochmal den Pfeil nach) steil nach o so worauf beziehst du dich gerade‘

bei dem bist du okay .. ähm

Anhang

205

124

I

mit den Bauklötzen .. okay .. ja‘

125

F

126

I

ja (3 sec) weil es sind halt sind, er sagt es ist eher der (zeigt auf Pfeil 1), ja

127

F

128

I

129

F

130

I

131

F

132

I

133

F

134

I

135

F

136

I

137

F

138

I

aber ich finde weil der Pfeil drei ist es weil er hat eine große Zahl und deshalb geht sie hier auch immer steiler nach oben (zeigt bei Pfeil 3 schrittweise nach oben) … eh b mhm … okay also das fliegt schon mal raus (legt Zettel D zur Seite) ja was sagst du zu den andern‘ die Reihe Katja hat (nimmt Zettel C in die Hand und reicht ihn I), ist ja auch der gleichen Meinung okay, weg damit (nimmt Zettel C entgegen) (nimmt Zettel E in die Hand, 2 sec) ähm .. die sagt … da bezieht sie sich nicht auf den ähm, (zeigt in die Tabelle) plus hier sondern auf, das Ergebnis, und ich bezieh mich eher auf da plus und minus Sachen (reicht I den Zettel E) mhm das war also .. bezieht sich darauf (..) weil der Pfeil steiler ist okay, mhm ja (liest Zettel H, 6 sec) (lacht) der sagt ja überhaupt nichts, so richtig dazu .. er findet es geht gar nicht so richtig (reicht Zettel H an I) ja-

206

Anhang

139

F

140

I

141

F

142

I

143

F

144

I

145

F

146

I

147

F

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I

... (nimmt sich Zettel B) ja und er ist der, Meinung auch wie ich, Pfeil vier (zeigt auf Pfeil 4) ... ja, es ist ja, wenn man so ge sich genauso anguckt es geht ja am Ende sogar hier sogar (zeigt auf Pfeil 4) stei, ler nach oben als hier (zeigt auf Pfeil 3), also es ist, denk ich auch schon die vier, bei Luca mhm (4 sec) okay, das war der .. und wegen der unregelmäßiger Sprünge … okay ja guck mal, wir haben ja noch ein bisschen Zeit da gebe ich noch mal drei weitere, mal gucken was du zu denen sagst (legt 3 neue Zettel links neben die Pfeile) mhm (nimmt Zettel G in die Hand, liest Zettel G, legt ihn wieder zur Seite, 20 sec) (nimmt Zettel A in die Hand, liest Zettel A , nickt, legt ihn wieder zur Seite, 19 sec) (nimmt Zettel F in die Hand, liest Zettel F , legt ihn wieder zur Seite, 9 sec) (nimmt Zettel G in die Hand) fangen wir bei dem hier an .. der guckt sich das an und .. ähm, verlegt sich nich so richtig find ich, also er überlegt sich nicht richtig, warum (tippt mit dem Zettel auf die Pfeilspitze von Pfeil 3) ist das so mhm er schreibt einfach (lesend) das sieht man doch (legt Zettel G zur Seite) okay, stimmst auch nicht (legt Zettel G an den Rand des Tisches) (nimmt Zettel in die Hand, 2 sec) .. der bekräftigt auch noch mal meine Sach, e Sache was ich zu der (deutet zu Pfeil 3) drei sage, also, joa (legt den Zettel wieder zur Seite) mhm (4 sec) was sagt der denn‘

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dass die dreihundert (zeigt in die Tabelle), auch sehr weit entfernt ist von der, Start Startwert auch null und Wert so mhm also, ja, da wurde noch mal ,eine Theorie (setzte mit der rechten Hand Anführungszeichen in die Lust) bekräftigt (legt den Zettel A zur Seite) okay lassen wir liegen mhm (nimmt Zettel F in die Hand, 2 sec) ja und die sagt ja wieder (legt Zettel F zur Seite), dass Katja (fährt mit dem Finger entlang des Pfeils 2) wieder kleiner wird, immer wird mit dem Turm ne‘ ja okay super

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Transkript zur Analyse IV 1

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also hier ist die Aufgabe zwei, die kannst du schon mal durchlesen (liest die Aufgabenstellung, 19 sec) (schaut im Wechsel I an und auf die Aufgabenstellung, dehnt scheinbar ihren Arm, 3 sec) hast du Fragen‘ (nickt) ich versteh es nicht, was denn´ ich weiß nicht worum es geht okay ja, also da ist hier Reihe Sebastian, Reihe Luca und Reihe Katja (zeigt auf die entsprechenden Reihen) das heißt die haben sich, ein Spiel überlegt (fährt mit dem Finger die Reihe Sebastian entlang) die haben gesagt okay fangen wir mal, bei Sebastian mit der Null (zeigt auf Sebastians Startwert) an, und als ersten Wert wähle ich dann die fünfzehn (zeigt auf Sebastians 1. Wert), mein zweiter Wert ist die dreißig (zeigt auf Sebastians 2. Wert), der dritte Wert die fünfundvierzig (zeigt auf Sebastians 3. Wert) okay Jetzt musst du dir überlegen, wie ist er denn auf die Zahlen gekommen das hat ja irgend ne Regelmäßigkeit (nickt) (nickt) und bei den Reihen Luca und Katja ist genau das gleiche (dehnt scheinbar ihren Arm, 3 sec) die haben nur alle unterschiedliche Regeln .. und dann möchte ich dass du hier die Felder ausfüllst und du mir am Ende auch den zwanzigsten Wert sagst

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okay (greift zum Stift, schaut auf die Tabelle, 11 sec) (füllt die Tabelle aus, beginnend bei Reihe Sebastian, lässt den 20. Wert aus, 26 sec) soll ich erst mal bei den andern alles noch ausfüllen‘ wie du möchtest, kannst du dir selbst überlegen okay (notiert „19“ als fünften Wert in Reihe Luca, stockt danach, 18 sec) nein (schaut I an) … hm‘ (schaut auf die Tabelle) (4 sec) nein das stimmt nicht (lächelt, schaut I an) kannst ruhig durchstreichen (streicht „19“ durch, 3 sec) Also .. von der eins bis zur vier sind ja drei, aber von der vier bis zur neun sinds ja wieder mehr (unverständlich, 1 sec)… fünf mhm… immer, zwei mehr als beim letzten Mal probiers aus, stimmt das denn auch beim vierten Wert‘ und dann warns ja hier fünf (zeigt auf den 3. Wert in Lucas Reihe), und fünf dazu (9 sec) mehr (schaut zu I) dann füll das mal du aus wie du denkst sechs sieben (tippt auf den fünften Wert) .. neun dann sinds hier neun mehr … dann sinds hier fünfundzwanzig (schaut zu I) schreibs ruhig auf (notiert „25“ für den fünften Wert in Reihe Luca, 4 sec) (7 sec)

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mh, sind, das hier neun, und wieder zwei dazu sind, elf dazu .. und elf plus fünfundzwanzig, sechsunddreißig (notiert „36“ als sechsten Wert in Lucas Reihe, 5sec) Reihe Katja (zeigt auf die Bezeichnung der Reihe Katja), ähm (zeigt auf die einzelnen Werte, 4 sec) okay (5 sec) (notiert den vierten Wert in Reihe Katja, 12 sec) (flüsternd) sind sechsundneunzig (hustet, 1 sec) … (notiert den fünften Wert in Reihe Katja, 2 sec) fünfundneunzig… vierundneunzig (notiert den sechsten Wert in Reihe Katja) mhm sind alle fertig (8 sec) dann ist hier immer, weiter plus fünfzehn … dann wär ich beim siebten Wert bei (9sec) hundertfünf (schaut zu I, 2 sec) mhm und dann … bei hundertzwanzig beim achten Wert (schaut zu I, 2 sec) du darfst das auch ruhig aufschreiben falls du dir das nicht behalten kannst okay (nimmt sich ein Schmierblatt, 3 sec) dann mach ich einfach Striche bei welchem Wert ich bin ja (beginnt mit einer Strichliste, 2 sec) vier fünf .. dann sechs sieben, acht beim achten Wert warns, hunderzwanzig dann, beim, neunten Wert (hustet, 1 sec) (4 sec) mal .. hundertfünf … hundertfünfundvierzig

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(8sec) häh .. (flüsternd) hunderfünfundzwanzig … hundertzwanzig … ja .. nee (lacht, schaut zu I, 2 sec) schreib dir die hundertzwanzig mal auf, du hast die auf jeden Fall aus dem Sinn .. genau (notiert „120“) hundertzwanzig, und plus fünfzehn … hundertfünfunddreißig .. dann das sind dann hunderfünfunddreißig, und hundertfünfunddreißig wieder plus fünfzehn sind .. (hustet, 1 sec) .. hundert .. fünfzig (4 sec) das war jetzt zehn (führt die Strichliste bis 10 weiter) .. hundertfünfzig, und das dann eigentlich nur mal zwei (macht eine schnelle Kopfbewegung in Richtung I) .. warum wie kommst du da drauf‘ weil der zehnte Wert ist ja die Hälfte vom zwanzigsten Wert aha und weils ja immer, gleichmäßig durchgeht kann man ja einfach mal zwei rechnen guter Gedanke also hundertfünfzig mal zwei oder zwei mal hundertfünfzig (notiert ihre Rechnung „2∙150“, 11 sec) also sind es .. dreihundert (notiert ihr Ergebnis „300“) .. gut, dann schreib das mal zum zwanzigsten Wert dazu (notiert „300“ in der Reihe Sebastian als 20. Wert, 3 sec) (streicht ihre Nebenrechnung durch, 2 sec) .. und dann (4 sec) (hustet, 1 sec) hier wars ja dann plus elf (zeigt auf den 6. Wert in Reihe Luca, 2 sec) und dann sinds beim siebten Wert ja (macht sich eine Strichliste bis 7, 5 sec) .. plus (hustet, 1 sec) dreizehn, und dann … sechsunddreißig plus dreizehn .. sind (hustet, 1 sec) .. neunundvierzig (notiert den 8. Strich, 4 sec)

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der achte Wert ist dann .. wieder plus fünf, also .. fünfzehn dazu, neunundvierzig plus fünfzehn sind .. vierundsechszig (notiert den 9. Strich, 4 sec) der neunte Wert .. ist dann (8 sec) sechszig plus fünfzehn (10 sec) neunundsiebzig … sechzig plus fünfzehn‘ .. oder was hast du grad gerechnet‘ vierundsechzig vierundsechzig okay fünfzehn, ja neunundsiebzig, dann der zehnte Wert (notiert in der Strichliste den 10. Strich) (4sec) mhm sind plus siebzehn .. sind .. sechsundachtzig … aber jetzt kann ich ja nicht (mal zwei?) mmh (stimmt zu Beginn hoch und wird zum Ende hin immer tiefer) .. warum kannst du das jetzt nicht‘ weil das ist ja .. das geht ja immer, hier sind ja von der Eins (zeigt auf den 1. Wert) bis zur Drei (zeigt auf den 3. Wert) .. und hier sinds dann schon wieder, viel mehr mhm das wo man (unverständlich) muss .. das ist ja nicht … das ist zwar eine, Reihe halt immer kommt zwei dazu ja aber, es wird ja immer mehr ja das stimmt das ist ein bisschen doof ne, kannst dus nicht einfach, so rechnen .. also sechsundachtzig .. der elfte Wert dann (notiert den 11. Strich in der Strichliste) (hustet, 1 sec) (5 sec) sechsundachtzig plus neunzehn‘ (11 sec) hundertfünf .. und dann .. der zwölfte Wert (notiert den 12. Strich in der Strichliste)

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hundertfünf plus einundzwanzig .. sind sechsundzwanzig .. (schaut zu I) ja sechsundzwanzig (notiert den 13. Strich in der Strichliste) also hundertsechsundzwanzig mhm (notiert „126“, 3 sec) ähm der dreizehnte Wert (hustet, 1 sec) … ist … hundertsechsundzwanzig plus (hustet, 2 sec) dreiundzwanzig (notiert „23“ unter „126“, 2 sec) sind (rechnet die Addition aus, notiert das Ergebnis, 5 sec) hundertneunundvierzig (schaut zu I, notiert den vierzehnten Strich in der Strichliste 1 sec) (4 sec) dann jetzt plus fünfundzwanzig .. (notiert ihre Nebenrechnung, 7 sec) dreiundzwanzig .. dann sind das .. (hustet, 1 sec) .. ein, ein mal (lacht, 2 sec) neunund-, also hier vier, dann hier eine dazu sind, sieben- (4 sec) und hier wieder hundertvierundsiebzig … (notiert den 14. Strich in der Strichliste, 1 sec) und dann plus … plus .. (notiert „+“ unter ihrer Nebenrechnung, 1 sec) .. (notiert unter ihre Nebenrechnung „27“, 2 sec) vier plus sieben sind, elf .. also eins eins hier .. nee die eins hier hin, dann, sieben plus drei, sind zehn .. also zweihundertundeins (notiert entsprechend zu dem, was sie sagt, ihre (Zwischen-) Ergebnisse) … zweihundertundeins plus (notiert „+“ unter der Nebenrechnung) acht- nein neunundzwanzig, sind zweihundertdreißig (notiert ihre Rechnung samt Ergebnis, 7 sec) und dann zweihundertdreißig (4 sec) plus einunddreißig … sind zweihunderteinundsechzig .. (zeigt mit dem Stift auf die Strichliste, sieht zu I, lacht, 2 sec) hm der wievielte war das jetzt‘ hm ..

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(räuspert sich) ja da musst du noch zwei Striche dazu machen so (ergänzt zwei Striche in ihrer Strichliste) dann ist das der … (hustet, 1 sec) der, siebzehnte .. und jetzt machst du den achtzehnten ja, plus ein, unddreißig (notiert Gesagtes) sind zweihundert, einundsechzig (notiert Gesagtes) mhm das war jetzt der achtzehnte (ergänzt einen Strich in ihrer Strichliste) .. und dann, noch zweihunderteinundsechzig .. plus dreiunddreißig .. (notiert „+33“, 2 sec) sind dann vier .. (hustet, 1 sec) (notiert das Ergebnis der Nebenrechnung, 2 sec) zweihundertvierundneunzig .. und das plus fünfundzwanzig .. (ergänzt einen Strich in ihrer Strichliste, 1 sec) das neunze- (hustet, 1 sec) neunzehnte Wert, und dann das noch fünfundzwanzig, nein fünfunddreißig (notiert „+35“ in ihrer Nebenrechnung, 5 sec) Fünfunddreißig (setzt einen waagerechten Strich unter ihre Nebenrechnung, 2 sec) vier und fünf sind neun- .. neun und, (hustet, 1 sec) drei sind dann zwei hier hin, eins da, dreihundertneunundzwanzig (notiert das Ergebnis ihrer Nebenrechnung) (schließt den Deckel des Stiftes, 2 sec) dann schreib das mal in die Tabelle (notiert „329“ als 20. Wert in Reihe Luca, 4 sec) und dann hier immer minus eins mhm … kannst du den zwanzigsten Wert direkt sagen‘ (7 sec) wenn nicht ist nicht schlimm .. ja eigentlich schon ja‘ wie denn‘ minus zehn oder nein minus, vierzehn okay was minus vierzehn‘

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wenn immer, eins weniger wird, also immer wird hier eins weggezogen, jetzt fehlen hier noch vierzehn, Werte Mhm .. also was rechnest du minus vierzehn‘ vierundneunzig mhm (hustet, 1 sec) sind achtzig … schreibs auf (notiert „80“ als 20. Wert in Reihe Katja, 5 sec) Kannst du mir daneben schreiben (zeigt auf die freie Fläche auf der linken Seite der Tabelle) wie du immer gerechnet hast oder wie die Reihe aufgebaut ist‘, also hier hast du immer gesagt immer was‘ (zeigt auf Reihe Katja) .. plus oder minus oder malminus eins super dann schreib hier mal minus eins hin okay (notiert neben der Tabelle auf Höhe der Reihe Katja „-1“, 3 sec) eins weißt du noch wie es bei Luca war‘ immer .. plus .. zwei dazu als man davor, als man davor schon dazu hatte Okay plus zwei .. als zuvor okay … plus .. zwei .. als … zu, vor (notiert „+ 2 als zuvor“) super, weißt du noch wies bei Sebastian war‘ ja, plus fünfzehn okay (notiert „+25“, 4 sec) super .. jetzt geb ich dir mal so vier Pfeile auf den Tisch .. Pfeil eins zwei drei vier .. und die symbolisieren, quasi, eine, der Reihen .. ein Pfeil bleibt am Ende übrig ne wir haben ja nur drei verschiedene Reihen (verteilt die vier Pfeile auf dem Tisch),

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ich leg dir diesen Zettel noch mal zu dir dann kannst du noch mal vergleichen (legt die Tabelle neben A) und jetzt möcht ich dass du hier die .. Namen von den Kindern die die Reihen gebaut haben .. auf die Pfeile legst, oder zuordnest mhm ich schau mal obs auf dem Bild ist (geht hinter die Kamera, setzt sich wieder, 7 sec) ähm (schaut sich die Namensschilder, Pfeile und die Tabelle an, 13 sec) der gehört zu dem (zeigt erst auf das Namensschild „Sebastian“, dann auf Pfeil 1) Nimm ruhig den, das Namenszettelchen und legs dazu (zeigt auf das Namensschild „Sebastian“ und auf Pfeil 1) (legt das Namensschild „Sebastian“ auf Peil 1, 2 sec) Weil er .. wird ja .. langsam immer weiter (macht mit ihrer Hand eine Bewegung, als liefe sie mit ihr Stufen nach oben) also immer ne größere Zahl deswegen immer hoch ja .. dann, ist Luca, der Pfeil (legt das Namensschild Luca auf Pfeil 3) mhm weil er wird ja immer schnell .. weil er ja immer dazu tut okay jo und dann ist Katja .. der Pfeil nach unten (zeigt auf Pfeil 2) warum‘ weil die ja immer langsam eins weniger nimmt okay also immer nur eins weniger, und nicht zwei oder drei ich hab dir noch ein paar Meinungen mitgebracht .. die liest du jetzt auch am besten noch mal durch und sagst mir was du davon hältst (legt die Zettel mit den Argumenten auf den Tisch)

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.. die kannst du auch ruhig in die Hand nehmen und etwas näher nehmen wies du am besten lesen kannst (nimmt Argument C, legt es vor sich, liest es, legt es wieder zur Seite, nimmt Argument D in die Hand, 11 sec) sag mir direkt was du davon hältst (zeigt auf Argument C) also .. das ist ja eig, ich glaub das ist richtig weil, also hier auch immer, weil der ihre Werte werden immer kleiner, das ist ja der einzige der immer kleiner wird mhm also, das Kind sagt .. die Reihe Katja ist einfach sie bekommt den zweiten Pfeil okay, weil es immer kleiner wird, gut Ja .. (lesend) die Reihe Sebastian bekommt den ersten Pfeil weil seine Werte- .. (hustet, 1 sec) (liest, schaut zu I, 28 sec) was sagst du dazu‘ also den Text versteh ich nicht okay also hier wird gesagt Reihe Sebastian bekommt Pfeil Nummer eins (zeigt auf Pfeil 1) wie du auch gesagt hast ja (lesend) seine Werte werden immer größer, hast du auch gesagt, (lesend) würde man genauso viele Bauklötze übereinander bauen und sie nebeneinanderstellen würde diese Mauer genauso nach oben gehen wie in der, der erste Pfeil .. damit ist gemeint- ähm wo haben wir diesen Reihenzettel‘ .. ähm .. achso den hab ich eingepackt ähm wenn man sich jetzt die Werte anschaut .. dann ist ja der allererste Wert die Null, da hast du null Bauklötze stehen, bei dem zwei ersten Wert (legt die Tabelle vor A) da hast du fünfzehn Bauklötze übereinander (stellt mit den Händen die gestapelten Bauklötze dar) also null Bauklötze (legt beiden Hände auf den Tisch) fünfzehn Bauklötze (hebt die recht

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Hand, Handfläche zeigt auf den Tisch), dann der zweite Wert (zeigt auf die Tabelle) sind dreißig Bauklötze, dann stellst du neben die fünfzehn dreißig Bauklötze (hebt die rechte Hand erst ein wenig an, danach etwas höher), vierter Wert äh dritter Wert (zeigt auf die Tabelle), fünfundvierzig, baust du daneben noch mal fünfundvierzig (hebt die rechte Hand noch etwas mehr an) und dann wenn du jetzt so mit dem Finger über die Bauklötzachso dann würde es genau so gehen wie der Pfeil genau .. richtig, das ist damit gemeint .. was sagst du dazu‘ ich glaub das stimmt das stimmt‘ also der ist ja immer so, wie bei ner Treppe sind ja immer so Kanten mhm ist das mitgezählt oder einfach nur immer über ma über die einzelnen Kantenwenn du jetzt n Lineal da drauflegen würdest oder ein Blatt ach okay dann dadrüber ja ja das glaub ich das glaubst du (nickt) okay, dann machen wir mit dem weiter (zeigt auf Argument B) … (lesend) der vierte Peil gehört zu- (liest das Argument, 14 sec) (schaut auf die Pfeile, schaut zu I, kratzt sich am Hals, 5 sec) hast du anders zugeordnet ne (nickt)

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hier wird gesagt dass der Pfeil viert zu Luca gehört .. was sagst du dazu (schaut auf die Pfeile, 4 sec) irgendwie stimmts ja auch dass er so unregelmäßig ist, aber ganz unregelmäßig ist es ja doch nicht, es hat ja trotzdem seine Ordnung da haste Recht sonst hätt ichs ja gar nicht erkennen können jawie er immer, rechnet (bejahend) hmh .. du bleibst bei deinem Pfeil oder bist du doch eher für Pfeil vier‘ ich weiß nicht .. da musst du ein bisschen überlegen ne, was was überzeugt dich mehr (7 sec) die Argumentation dass es unregelmäßig ist oder du sagst naja es gibt ja doch ne Regel … ich bleib bei dem bleibst du da‘ ja‘ okay .. (nickt) dann mach ich dir das mal weg (nimmt Argument B und legt es zur Seite) bleiben noch zwei (lesend) der dritte Pfeil gehört auf jeden Fall- (liest das Argument A, schaut zwischendurch auf die Pfeile, 21 sec) hm .. was meinst du dazu‘ … hier wird gesagt Sebastian bekommt Pfeil drei, richtig‘ (nickt) ja (6 sec) glaubst du das stimmt‘ (4 sec) ich weiß es nicht (lacht) überleg mal warum was dein was du dir überlegt hast, was hier steht, was trifft denn eher für dich zu‘ (8 sec) ich glaub nicht dass der Pfeil zu Sebastian gehört nee‘ warum denn‘

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also .. Luca geht ja irgendwie noch schneller (macht eine schnelle Bewegung mit der Hand) .. kommt ja noch schneller, voran .. find ich achso. ja- mhm und deswegen glaub ich dass eher .. der Pfeil ist wie unterscheiden sich die beiden Pfeile denn‘ .. bei dem eher (zeigt auf Pfeil 3) .. also der (zeigt auf Pfeil 1) geht, langsam nach oben (macht eine Bewegung mit der Hand, die mit geringer Steigung von links unten nach rechts oben geht) Ja und der geht .. (macht mehrmals eine Bewegung mit der Hand, die mit hoher Steigung von ihrem Körper aus nach vorne) fast schon gerade okay, steiler sagt man steiler genau, (bejahend) mhm, okay also bleibst du dabei ja dann kommt das weg (legt Argument A zur Seite), letztes (schiebt Argument näher zu Amalia, 2 sec) (unverständlich, 1 sec) (liest Argument H, 13 sec) (schaut zu I, lacht, 3 sec) verstehst du das‘, was da steht‘ ja (nickt) okay was meinst du dazu‘ (lacht, schaut zur Seite, schaut zu I, schaut auf Argument H und Pfeile, lacht, zuckt mit der Schulter, 15 sec) weißt nicht so recht‘ da kann ich nicht so was zu sagen weißt du was ein Maßstab ist‘ ja…

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denn du hast ja was zugeordnet ohne den Maßstab genau zu kennen ja meinst du es war jetzt falsch dass du was zugeordnet hast‘ .. und das Kind hat Recht oder(verneinend) mhm (schüttelt den Kopf) glaubst du das kann man so machen‘ ich glaub das kann man da gibts schon ne Ordnung für wie man die ja‘ Also vielleicht ist das jetzt auch nicht direkt die Ordnung die ich mir überlegt habe aber ich glaub schon dass es eine gibt und warum kann man das sagen‘ … (lacht, zuckt mit den Schultern, 2 sec) hast du ein Bild vor Augen und dann ist das das ist das der Pfeil oder(nickt, streicht sich die Haare hinter die Ohren, zuckt mit den Schultern, 2 sec) wie machst du das‘ so ähnlich so ähnlich, ja‘ (nickt) okay also stimmt das auch nicht (legt Argument H zur Seite),also du stimmst zu dass es heißt .. ähm dass der Sebastian Reihe Pfeil erst eins bekommt wie du es hier auch hast (zeigt auf Pfeil 1) ja das wurde mit den Bauklötzen begründet und hier dass Reihe Katja .. den Pfeil zwei bekommt weil es immer weniger wird ja okay, dann bist du erlöst