Beruflich in Mexiko: Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte
 9783666490606, 3525490607, 9783525490600

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Handlungskompetenz im Ausland herausgegeben von Alexander Thomas, Universität Regensburg

Vandenhoeck & Ruprecht

Renate Ferres Friederike Meyer-Belitz Bettina Röhrs Alexander Thomas

Beruflich in Mexiko Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte

Vandenhoeck & Ruprecht

Die 8 Cartoons hat Jörg Plannerer gezeichnet.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-49060-7

© 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung in das Training . . . . . . . . . . Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . Entwicklung des Trainingsprogramms . . . . . Aufbau und Ablauf des Trainings . . . . . . . . Weiterführende Hinweise zum Verständnis des Trainingskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . Themenbereich 1: »Sympathieorientierung (Simpatía)« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 1: Die E-Mail . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 2: Probleme mit der Stromversorgung Beispiel 3: Die Präsentation . . . . . . . . . . . Beispiel 4: Der neugierige Rechtsanwalt . . . .

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Kulturelle Verankerung von »Sympathieorientierung (Simpatía)« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Themenbereich 2: »Gesicht wahren« . . Beispiel 5: Das Meeting nach dem Meeting Beispiel 6: Die Straßenkünstler . . . . . . . Beispiel 7: Der Kindergeburtstag . . . . . .

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Kulturelle Verankerung von »Gesicht wahren« . . . . . . . . 49 Themenbereich 3: »Kollektivismus (Colectivismo)« Beispiel 8: Die Rechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 9: Die Muchacha . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 10: Gute Absichten . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kulturelle Verankerung von »Kollektivismus (Colectivismo)« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5

Themenbereich 4: »Hierarchieorientierung« . Beispiel 11: Umbaupläne . . . . . . . . . . . . . Beispiel 12: Das Kritikgespräch . . . . . . . . . . Beispiel 13: Der kranke Maschinenführer . . . .

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Kulturelle Verankerung von »Hierarchieorientierung« . . . 78 Themenbereich 5: »Repräsentationsorientierung (Buena Presencia)« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 14: Das Konzert . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 15: Die schicke Sekretärin . . . . . . . . . . Beispiel 16: Die Einladung . . . . . . . . . . . . . . .

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Kulturelle Verankerung von »Repräsentationsorientierung (Buena Presencia)« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Themenbereich 6: »Gegenwartsorientierung« . . . . . . 93 Beispiel 17: Die Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Beispiel 18: Abend mit Freunden . . . . . . . . . . . . . . . 97 Kulturelle Verankerung von »Gegenwartsorientierung« . . 101 Themenbereich 7: »Polychrones Zeitverständnis« Beispiel 19: Die Besprechung . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 20: Späte Gäste . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 21: Die Buchung . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kulturelle Verankerung von »polychrones Zeitverständnis« 115 Themenbereich 8: »Flexibilität und Spontaneität« Beispiel 22: Die Bonifikation . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 23: Der Urlaubskalender . . . . . . . . . . . . Beispiel 24: Die neue Produktionslinie . . . . . . . . .

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Kulturelle Verankerung von »Flexibilität und Spontaneität« 130 Kurze Charakterisierung der mexikanischen Kulturstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Informationen zu Mexiko Landeskunde . . . . . . . . Geschichte . . . . . . . . . Politik und Wirtschaft . . . Leben in Mexiko . . . . . .

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Hilfreiche Adressen und weiterführende Literatur . . . 151 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6

»Wie unsere Höflichkeit anzieht, so kühlt unsere Reserviertheit ab. Die unberechenbare Heftigkeit, die unser Herz zerreißt, der krampfhafte Glanz unserer Fiestas bringen schließlich jeden Ausländer in Verwirrung. Die Sensation, die wir hervorrufen, gleicht der, welche Orientalen auslösen. Denn auch sie – Chinesen, Inder, Araber – sind verschlossen und undurchschaubar. Auch sie schleppen ›in Lumpen‹ eine immer noch lebendige Vergangenheit mit sich. Es gibt ein mexikanisches Rätsel, wie es ein chinesisches oder ein afrikanisches gibt. Der wirkliche Inhalt solcher Vorstellungen hängt immer vom Betrachter selbst ab. So ist man sich darüber einig, dass Ausländer sich ein zweideutiges, wenn nicht widersprüchliches Bild von uns machen. Wir erwecken kein Vertrauen. Unsere Antworten wie unser Schweigen sind nicht vorauszusehen und kommen unerwartet. Verrat und Treue, Verbrechen und Liebe lauern in der Tiefe unseres Blickes. Wir ziehen an und stoßen ab.«

(Octavio Paz 1998, S. 70)

Vorwort

Mexiko ist nach Angabe des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit einem Bruttosozialprodukt von 637 Milliarden US-Dollar (2002) die neuntgrößte Volkswirtschaft der Erde. In Lateinamerika liegt Mexiko damit, bezogen auf das Handelsvolumen, an erster Stelle. Die wichtigsten Industriezweige sind die Kraftfahrzeug- und Kraftfahrzeugzulieferindustrie sowie die Petrochemie, die Chemie- und Textilindustrie. Mexiko ist etwa fünfeinhalb Mal größer als Deutschland und hat 100 Millionen Einwohner. Davon leben etwa 22 Millionen Menschen in der Hauptstadt Mexiko-Stadt und der dazugehörigen metropolitanen Region (Angaben beziehen sich auf das Jahr 2002), die zu den größten urbanen Ballungsräumen der Erde zählt. Aufgrund seines Pro-Kopf-Einkommens gehört Mexiko zu den Ländern mit einem mittleren Einkommensniveau. Mexiko ist ein Schwellenland mit einzelnen regional und sektoral hoch entwickelten Industriepolen. Außerhalb der dynamischen Wachstumsregionen, insbesondere in den ländlichen Gebieten, herrscht jedoch noch immer weit verbreitete Armut; die Teilnahme an den Entwicklungsfortschritten des Landes ist dort unzureichend. Fast 38 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der statistischen Armutsgrenze. Bei der indigenen Bevölkerung wird die Armutsinzidenz auf 80 Prozent geschätzt; ihre Analphabetenrate ist mit circa 40 Prozent fast viermal so hoch wie der Landesdurchschnitt. Der Entwicklungsdualismus zeigt sich auch darin, dass Mexiko Empfänger internationaler Entwicklungshilfe ist, zugleich aber selbst Entwicklungshilfeleistungen in Zentralamerika und der Karibik erbringt. Eine weitere Begleiterscheinung der Kon9

zentration auf einzelne Wachstumspole und -regionen sind die großen Umweltprobleme. Und dennoch scheint die Lebenszufriedenheit der Menschen sehr hoch zu sein. Umfragen zum grundsätzlichen Lebensgefühl ergeben, dass sich die Mexikaner in der Mehrheit als glücklich bezeichnen (DIE ZEIT 17.12.2003). Politisch ist Mexiko mit der Ablösung der Partei der Institutionellen Revolution im Jahr 2000 in eine neue Phase des Demokratieausbaus und der Modernisierung eingetreten. Eine aktivere Politik trägt zur Bewältigung der internen und externen Herausforderungen der globalisierten Welt sowie zu einer stärkeren Einflussnahme auf internationaler Ebene bei. Zwischen Mexiko und Deutschland gibt es zahlreiche Berührungspunkte. Alexander von Humboldt steht für die traditionsreichen kultur- und bildungspolitischen Beziehungen zwischen beiden Ländern, da er es war, der in Deutschland erstmals umfassend über Mexiko berichtete. Noch heute tragen einige mexikanische Schulen und der Lehrstuhl einer Universität seinen Namen. Ein Symbol für die engen Beziehungen zwischen Deutschland und Mexiko sind auch der Staatsbesuch von Präsident Fox im Januar 2003 und die Mexikoreise des damaligen Bundespräsidenten Rau im November 2003. Am intensivsten ist die deutsch-mexikanische Kooperation im Wirtschaftsbereich. Die traditionell guten bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Mexiko und die bestehende Entwicklungszusammenarbeit erhalten im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Lateinamerika und insbesondere des seit Juli 2000 wirksamen Globalabkommens der EU mit Mexiko ihren besonderen Stellenwert. Aufgrund der Mitgliedschaft Mexikos in der OECD und im nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA, seines fortgeschrittenen Entwicklungszustands und seiner zunehmend einflussreichen Rolle auf internationaler Ebene und in den Vereinten Nationen ist Mexiko auch für den politischen Dialog ein wichtiger Partner geworden. Deutschland war im Jahr 2002 hinter den USA und Japan der drittgrößte Handelspartner Mexikos. Die wichtigsten deutschen Exportgüter sind Kraftfahrzeuge, Pkws, Wohnmobile und sonstige Maschinen. Im Gegenzug importiert Deutschland beispielsweise 10

mexikanische Kraftfahrzeuge, Fahrgestelle, Karosserien und Motorteile. Das wohl bekannteste Symbol für die guten Handelsbeziehungen in diesem Sektor ist der VW-Käfer, der in Mexiko »Vocho« genannt wird. Das Vertrauen Deutschlands und der deutschen Wirtschaft in Mexiko illustriert auch der Bau des Hauses der deutschen Wirtschaft in Santa Fe, das im Oktober 2001 vom mexikanischen Staatspräsidenten Fox und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel eingeweiht wurde. In der Deutsch-Mexikanischen Industrie- und Handelskammer (CAMEXA) sind über 800 deutsche Firmen registriert, die in Mexiko eine Vertretung haben. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank beliefen sich die deutschen Direktinvestitionen im Jahr 2001 auf fast sieben Milliarden Euro. Unter den Entwicklungsländern ist Mexiko demnach weltweit das zweitgrößte Zielland von Auslandsinvestitionen. Im Rahmen der deutsch-mexikanischen Entwicklungszusammenarbeit hat Deutschland seit 1962 über 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Hälfte dieser Mittel floss in Projekte der technischen Zusammenarbeit. Mexiko ist ein Land, das sich zunehmend der internationalen Wirtschaft öffnet und heute zu den interessantesten Märkten Lateinamerikas zählt. Durch die beschriebenen Entwicklungen und die zunehmende Globalisierung erhalten interkulturelle zwischenmenschliche Kontakte eine immer größere Bedeutung. Natürlich verlaufen die Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Kulturkreise, so auch zwischen Deutschen und Mexikanern, nicht immer ohne Probleme. Da viele Menschen ihr eigenes Verhalten für selbstverständlich und normal halten, können im Umgang mit Fremden leicht Missverständnisse und Vorurteile entstehen. Eine interkulturelle Vorbereitung auf einen Aufenthalt in Mexiko soll die deutschen Leserinnen und Leser dieses Bands sensibilisieren und ihnen dabei helfen, Stereotype zu erkennen und aufzubrechen. Gelingt es ihnen, aus dem gewohnten Blickwinkel herauszutreten und die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels zu erlernen, so werden sie die Sichtweise ihrer mexikanischen Interaktionspartner besser verstehen und sich leichter an die Gepflogenheiten des Gastlandes anpassen können.

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Einführung in das Training

Theoretischer Hintergrund In interkulturellen Begegnungen treffen mindestens zwei Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft aufeinander. Jeder von ihnen bringt in die Interaktionssituation spezifische Werte, Normen und Handlungsweisen mit ein, die er im Sozialisationsprozess internalisiert hat. Sie werden im Umgang mit Mitgliedern der eigenen Kultur akzeptiert und als bindend angesehen, jedoch nicht als handlungswirksam wahrgenommen. Diese ungeschriebenen Gesetze einer jeweiligen Kultur werden als Kulturstandards bezeichnet. Sie umfassen alle Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer Kultur als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich erachtet werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird auf der Grundlage dieser Kulturstandards beurteilt und reguliert. Kulturstandards stellen keine starren, festgeschriebenen Regeln dar, sondern Selbstverständlichkeiten, Leitlinien gesellschaftlichen und sozialen Handelns, die im Lauf der Sozialisation verinnerlicht werden (vgl. Thomas 1996, 1999). Verstehen wir Kulturstandards als Beschreibungsparameter einer Kultur, so lässt sich diese als ein Orientierungssystem auffassen, in dem wir uns mit Hilfe unserer Kulturstandards zurechtfinden. Wie stark unser Verhalten durch Kulturstandards geprägt ist, zeigt sich oft erst im Umgang mit Personen unterschiedlicher kultureller Prägung. Es entsteht eine interkulturelle Handlungssituation, in der die Unterschiede zwischen den betreffenden Kulturen deutlich werden. Dabei orientiert sich jeder Handelnde zunächst an seinen eigenen Kulturstandards. Das Verhalten des 12

Gegenübers wird den eigenen Standards gemäß wahrgenommen und beurteilt, also kulturinadäquat interpretiert. Konsequenzen sind Irritationen, Missverständnisse und negative Handlungsergebnisse (vgl. Thomas 1999). Solche belastenden Situationen können das Phänomen erzeugen, das als Kulturschock bezeichnet wird. Die fremde Kultur wird dann oftmals als merkwürdig oder rätselhaft abgewertet; häufig sind psychische und psychomotorische Reaktionen die Folge. Um solche Situationen zu minimieren bedarf es interkultureller Handlungskompetenz, also Eignungen und Befähigungen, die in der interkulturellen Handlungssituation zum Erfolg führen. Für den störungsfreien Umgang mit einem fremdkulturellen Partner sind beispielsweise die Akzeptanz kultureller Unterschiede und der Umgang mit uneindeutigen Situationen entscheidend. In der interkulturellen Psychologie wurden Trainings entwickelt, in denen diese Kompetenzen vermittelt werden können (vgl. Thomas et al. 2003a, b). Das Training in diesem Buch ist konzipiert worden, um Deutschen, die sich auf einen beruflichen Aufenthalt in Mexiko vorbereiten wollen, Hinweise für den Umgang mit Mexikanern zu geben. Es soll Sie, die Leserinnen und Leser, für Ihre eigene kulturelle Prägung sensibilisieren und Ihnen dabei helfen, ein komplexes Verständnis der mexikanischen Kultur, der Verhaltensweisen, Denkweisen und Bedürfnisse von Mexikanern zu entwickeln. Beides sind notwendige Voraussetzungen für Ihre Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit im beruflichen und privaten Feld. Wenn Sie mexikanische Denkmuster frühzeitig kennen lernen und das Verhalten der Mexikaner einschätzen, antizipieren und verstehen können, so wird Ihnen dies die Eingewöhnung im Gastland wesentlich erleichtern. Das Training vermittelt Ihnen auf kognitiver Ebene Wissen über kulturelle Unterschiede und zieht die Kulturstandards zur Erklärung der Differenzen heran. Hierdurch entwickeln Sie die Fähigkeit, das Verhalten Ihrer mexikanischen Handlungspartner auf der Grundlage deren kulturellen Orientierungssystems zu interpretieren. Das Trainingsmaterial für Mexiko entspricht in Aufbau und 13

Durchführung den anderen publizierten interkulturellen Trainings (z. B. Schmidt u. Thomas 2003; Thomas u. Schenk 2001; Martin u. Thomas 2002). Es existiert unter anderem auch ein Band zu Argentinien, das mit sechs identischen Kulturstandards eine sehr große Übereinstimmung mit Mexiko aufweist (Foellbach et al. 2002). Das Trainingsmaterial für Mexiko wurde entwickelt aus intensiven Gesprächen mit mexikoerfahrenen deutschen Führungskräften über ihre konkreten Probleme im Gastland und ihre mehr oder weniger erfolgreich eingesetzten Lösungsversuche. Experten haben die Interviews daraufhin analysiert, welche kulturspezifischen Einflussfaktoren das jeweilige Verhalten der Interaktionspartner bestimmen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in diesem Buch als situationsorientiertes Training präsentiert, mit dessen Hilfe die interkulturelle Handlungskompetenz in der Zusammenarbeit mit Mexikanern deutlich gesteigert werden kann. Die situationsorientierte Trainingsform, also das Kennenlernen einer anderen Kultur aus typischen Situationen und den aus ihnen ableitbaren Kulturstandards heraus, entspricht den modernen Erkenntnissen der Trainingsforschung. Sie hat sich in vielen Trainingsseminaren und als Selbstlernmedium bewährt und zeigt – verglichen mit anderen Verfahren – die größten Lernerfolge.

Entwicklung des Trainingsprogramms In den Interviews mit deutschen Managern und Führungskräften, die in Mexiko arbeiten und leben, kamen eine Fülle authentischer Situationen zur Sprache, in denen Deutsche erhebliche Schwierigkeiten mit ihren mexikanischen Interaktionspartnern hatten, weil sie deren Verhaltens- und Reaktionsweisen nicht verstanden. Die geschilderten Situationen wurden für das Training lediglich sprachlich überarbeitet; außerdem wurden die Namen der Beteiligten geändert, um die Anonymität der befragten Personen und Unternehmen zu sichern. Anschließend wurden Studierende, Doktoranden und Dozenten ausgewählt, die sowohl 14

mit der deutschen als auch mit der mexikanischen Kultur sehr vertraut sind (so genannte bikulturelle Experten) und die die von den Führungskräften in Mexiko erlebten Situationen kulturadäquat erklärten. Durch die Befragung von Personen, die über keinerlei Erfahrung mit der mexikanischen Kultur verfügten, wurden weniger zutreffende Interpretationen erhoben. Mit Hilfe von Methoden, die sich in der interkulturellen Forschung bewährt haben, wurden die Situationen auf Basis der Expertenkommentare zu acht Kulturstandards gruppiert, die einen guten Einblick in die mexikanische Kultur vermitteln. Die Kulturstandards werden am Ende jeder Trainingseinheit beschrieben und durch politische, geschichtliche und landeskundliche Informationen ergänzt (vgl. Thomas 1996, 1999).

Aufbau und Ablauf des Trainings Sie können das Training im Selbststudium durchführen, es aber auch im Rahmen einer Gruppenübung nutzen. Der Lernprozess im Training vollzieht sich in vier Stufen. Im ersten Schritt wird Ihnen eine Interaktionssituation zwischen einem mexikanischen und einem deutschen Partner geschildert. Sie werden unvorbereitet mit dem Verhalten des mexikanischen Interaktionspartners konfrontiert und müssen sich zunächst eigene Erklärungen für das mexikanische Verhalten überlegen. Vermutlich gehen Sie dabei von Ihrem eigenen kulturellen Orientierungssystem aus, was Ihnen später in der Auseinandersetzung mit der kulturadäquaten mexikanischen Interpretationsweise bewusst werden wird. Auf diese Art und Weise können Sie sich dafür sensibilisieren, wie Kultur ihr eigenes, als individuell und autonom empfundenes Handeln beeinflusst. Die Kenntnis eigenkultureller Standards und die Erfahrung im Umgang mit ihnen sind bedeutsame Voraussetzungen für die flexible Anwendung der zu erlernenden mexikanischen Kulturstandards, die, ebenso wie die deutschen, Spielräume für die Ausgestaltung persönlichen und situationsspezifischen Verhaltens bieten. Die zweite Stufe des Lernprozesses bietet vier alternative Deu15

tungsmuster zu der jeweils geschilderten Interaktionssituation an. Diese Deutungsmuster entstammen teils der deutschen, teils der mexikanischen Kultur und erklären das in der Situation gezeigte Verhalten unterschiedlich angemessen. Erst die Kenntnis der Gründe, Ursachen und Ziele einer Handlung schafft die Voraussetzung für eine angemessene Reaktion. Hintergrund des Anbietens von vier alternativen Erklärungen ist das Einüben des Erwägens mehrerer Alternativen vor dem vorschnellen Fällen einer Entscheidung. Ihre Aufgabe besteht also darin, sich über die Beurteilung der Antwortalternativen der sich daraus ergebenden Konsequenzen bewusst zu werden. Auf diesem Weg werden Sie die Abhängigkeit des Handelns von kulturellen Deutungsmustern erkennen. Auf der dritten Stufe des Lernprozesses werden die hinter den vorgegebenen Antwortalternativen verborgenen kulturtypischen Attributionen erklärt. Es wird für jede Antwortalternative erläutert, bis zu welchem Grad oder unter welchen Umständen sie kulturangemessen ist. An dieser Stelle des Lernprozesses erhalten Sie konkrete Informationen über die kulturellen Hintergründe des in der jeweiligen Situation geschilderten mexikanischen Verhaltens. Darüber hinaus wird das in der Beispielsituation als Einzelfall geschilderte Verhalten auf ein allgemein gültiges Niveau gehoben, um das Typische deutlich und verständlich zu machen. In der vierten Stufe können Sie Ihr neu erworbenes Wissen gedanklich ausprobieren. Hier können Sie versuchen, eine eigene Handlungsstrategie zu entwickeln, mit der der geschilderte Konflikt vermieden oder vielleicht gelöst werden kann. Das Trainingsmaterial bietet Ihnen Unterstützung an, indem es eine detaillierte Interaktionsanalyse liefert und daraus einige Schlüsse für Lösungsstrategien ableitet. Diese Lösungsstrategien stellen aber lediglich fragmentarische Anregungen und keine Rezepte dar, da die unendliche Vielzahl an Interaktionssituationen flexible Reaktionen erfordert. Schließlich wiederholt sich die dargestellte Abfolge, wodurch ein und dasselbe kulturelle Thema in verschiedenen Kontexten beschrieben wird. Durch die Darstellung des allen Situationen gemeinsamen Kulturstandards in multiplen Kontexten wird die16

ser als vielseitiges und flexibles Erklärungskonstrukt erfahrbar und Sie können den Umgang mit ihm einüben. Im Verlauf des Trainings entwickeln Sie so Verhaltenssicherheit und die Fähigkeit, das Wissen auf neue, unbekannte Situationen während Ihres beruflichen Einsatzes in Mexiko zu übertragen und anzuwenden. Am Ende eines Themenblocks wird der allen Situationen gemeinsame Kulturstandard und seine kulturhistorische Verankerung präsentiert. An dieser Stelle gilt es noch einmal zu betonen, dass Kulturstandards keine starren Regeln sind, sondern erst im Handeln der Menschen erfahrbar und begreifbar werden. Die eigentliche Arbeit im Prozess des interkulturellen Lernens vollzieht sich erst in Mexiko. Das Ziel des Trainings besteht darin, die dazu erforderliche Grundlage und optimale Lernstrategien zur Bewältigung der kommenden Aufgaben in Beruf und Alltag bereitzustellen.

Weiterführende Hinweise zum Verständnis des Trainingskonzepts Jeder Mensch ist geprägt durch die Kultur, in der er aufgewachsen ist. Der kulturelle Kontext bestimmt, was wahrgenommen wird und wie andere Menschen und deren Verhalten wahrgenommen werden, wie jemand fühlt, denkt und beurteilt. Dennoch ist stets zu berücksichtigen, dass jeder Mensch immer auch nach seinen eigenen, individuellen Maßstäben handelt, die von kulturellen Normen abweichen können. Insofern gilt es zu betonen, dass mit den Kulturstandards nicht das absolute, sondern lediglich das wahrscheinlichste Verhalten vorhergesagt wird. Die Beschreibung der mexikanischen Kultur anhand von Kulturstandards bringt zwangsläufig eine Vereinfachung mit sich. Die in diesem Training verwendeten Bezeichnungen »der Mexikaner« oder »die Mexikaner« sind Verallgemeinerungen. So gibt es individuelle, regionale und statusabhängige Unterschiede, die im Training nicht erfasst werden können. Gerade in Mexiko sind zum Beispiel die Unterschiede zwi17

schen der Stadtbevölkerung und der Landbevölkerung sehr groß. Ein weiterer Aspekt betrifft die Unternehmenskultur der Firmen, in denen die befragten Personen arbeiten. Wie in Deutschland bestehen auch in Mexiko große Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen. Bei den vorgestellten Lösungsstrategien handelt es sich um Verhaltensempfehlungen, wobei berücksichtigt werden muss, dass es kein Patentrezept gibt, nach dem Konflikte gelöst oder gar vermieden werden können. Die hier auf empirischem Weg gewonnenen Situationen beschreiben Konfliktkonstellationen, die von den befragten Führungskräften am häufigsten dargestellt wurden. Dabei soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass das Leben in Mexiko nur aus Problemen besteht. Das Ziel des Trainings ist jedoch, anhand schwieriger Situationen Unterschiede zwischen der mexikanischen und der deutschen Kultur deutlich zu machen. Neben diesen konfliktbehafteten gibt es natürlich konfliktfreie Situationen, die sicher den größten Teil des Alltagslebens in Mexiko ausmachen. Da für sie kein Trainingsbedarf besteht, finden sie in diesem Handbuch keine Erwähnung. Durch die Beschreibung der am häufigsten berichteten Unterschiede und Konfliktquellen sollen einige Orientierungspunkte vermittelt werden, die das Handeln im Gastland erleichtern und Enttäuschungen sowie Missverständnissen vorbeugen. Mit diesem Training können Sie sich auf die mexikanische Kultur und den Umgang mit ihr vorbereiten. Es wird Ihnen dabei helfen, das Verhalten Ihrer mexikanischen Partner besser zu verstehen. Nehmen Sie sich Zeit für die Bearbeitung des Materials und versuchen Sie, das Positive am Fremden, Unbekannten und vordergründig schwierig Erscheinenden zu entdecken. Wer mit Verhaltensunterschieden umgehen kann und der mexikanischen Kultur mit Verständnis, Respekt und Wertschätzung begegnet, kann sich mit größerer Sicherheit in Mexiko zurechtfinden.

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Themenbereich 1: »Sympathieorientierung (Simpatía)«

Beispiel 1: Die E-Mail Situation Sonja ist Leiterin der Human Resources in einem Pharmakonzern und noch nicht lange in Mexiko. Sie benötigt eine Information von einer mexikanischen Kollegin. Also schreibt sie ihr eine kurze E-Mail: Liebe Adriana, könntest du mir die Liste der Seminaranbieter zuschicken? Vielen Dank, Sonja. Adriana antwortet, dass sie dies tun werde, aber es folgt nichts. Warum schickt Adriana Sonja nicht die gewünschte Liste? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Die E-Mail wirkt nicht dringend. Dementsprechend lässt man sich in Mexiko mit der Antwort Zeit.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) In Mexiko erreicht man ohne ein persönliches Gespräch, ohne einen persönlichen Kontakt so gut wie nichts. Eine Bitte vor21

zubringen, ohne auf die persönliche Ebene einzugehen, wird ignoriert.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) In der E-Mail ist kein genauer Termin benannt und es ist nicht spezifiziert, was Sonja braucht.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Mexikaner präferieren die Face-to-Face-Kommunikation. In Mexiko beschafft man sich Informationen immer über den persönlichen, direkten Kontakt.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Dieser Aspekt ist in Mexiko nicht ganz unbedeutend. Mit Dringlichkeit wird hier tatsächlich anders umgegangen als in Deutschland. Mexikaner neigen dazu, Dinge, die einem Deutschen dringend erscheinen und die er deshalb umgehend erledigen würde, beiseite zu schieben und erst zu einem späteren Zeitpunkt zu bearbeiten. In diesem Beispiel geht es jedoch nicht um eine Bitte, der unbedingt sofort nachgekommen werden muss, sondern um 22

eine Aufgabe, die zeitnah erfüllt werden sollte. Die zentrale Ursache für das Verhalten der Mexikanerin ist in einer anderen Antwort zu finden. Erläuterung zu b): Die Ernsthaftigkeit der Deutschen und ihr ständiges Streben nach einer effizienten Nutzung der Zeit irritiert die Mexikanerin und vielmehr noch empfindet sie Sonjas Bitte als sehr unhöflich. Mexikaner sind immer bestrebt, im persönlichen Umgang eine harmonische Atmosphäre herzustellen. Demzufolge werden Interaktionen in Mexiko stets positiv gestaltet. In Geschäfts- und Arbeitsbeziehungen nimmt Vertrauen eine zentrale Rolle ein, und der Aufbau und die Pflege von Vertrauensverhältnissen implizieren eben eine gute persönliche Beziehung. Mexikaner, in diesem Fall Adriana, sind nicht willens, einen Arbeitsauftrag zu erfüllen oder einer Bitte nachzukommen, wenn zu der bittenden Person kein persönliches Verhältnis besteht oder sich die Person, in diesem Fall Sonja, nicht um ein persönliches Verhältnis bemüht. Mexikaner bewerten das als sehr unhöflich. Mit dieser Antwort haben Sie den Kern der Sache getroffen. Erläuterung zu c): In ihrer E-Mail hat Sonja zwar keinen konkreten Termin benannt, zu dem sie die Unterlagen haben möchte; dennoch macht sie unmissverständlich klar, dass sie die Liste der Seminaranbieter von Adriana benötigt. Mit dieser Vermutung liegen Sie also falsch. Möchte man in Mexiko eine Information zu einem bestimmten Termin erhalten, so ist zu empfehlen, den gewünschten Zeitpunkt zu nennen und den Mexikaner oder die Mexikanerin vorher ein- bis zweimal daran zu erinnern. Erläuterung zu d): Diese Erklärung klingt zunächst ganz plausibel. Tatsächlich präferieren Mexikaner die persönliche Kommunikation, die bis vor einigen Jahren auch allgemein üblich war. Mit der stark fortschreitenden Industrialisierung des Landes hat sich dies jedoch geändert. Auch in Mexiko stellt die E-Mail heute eine nicht mehr wegzudenkende Kommunikationsform dar, denn auch hier fin23

det ein Großteil der Kommunikation über weite Distanzen, etwa nach Amerika oder Europa, statt. Mexiko hat sich also, was die Kommunikation betrifft, anpassen müssen. Grundsätzlich ist es sicher nach wie vor einfacher und erfolgversprechender, mit einer Bitte oder Forderung die entsprechende Person direkt aufzusuchen. Dies ist jedoch aus Zeit- und Distanzgründen, wie hier im Fall von Sonja, nicht immer möglich. Diese Deutung trifft demnach nicht zu.

Lösungsstrategie Mexikaner wundert es, wenn Deutsche beim Vorbringen einer Bitte oder beim Erteilen eines Arbeitsauftrags nur um das Geschäftliche kreisen. Das ist in Mexiko absolut unüblich und wird zudem als unhöflich empfunden. Ein Großteil der Mexikaner weiß zwar um die in Deutschland übliche Effizienz bei der Arbeit, kann dies aber nur schwer verstehen und im eigenen Land akzeptieren. In Mexiko ist der Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten anders als in Deutschland. Hier nimmt man sich die Zeit, um Kollegen besser kennen zu lernen, um ein »Schwätzchen« zu halten. Das ist besonders wichtig. Mexikaner legen großen Wert darauf, die Menschen kennen zu lernen, mit denen sie zusammenarbeiten. Ein Deutscher, der nur sein Anliegen vorträgt, fällt sofort unangenehm auf. In die gleiche Richtung weist auch die Erklärung für den hohen Arbeitseinsatz und die Flexibilität der Mexikaner: Die Motivation entspringt der persönlichen Bindung, die man zu seinem Geschäftsfreund oder Chef aufgebaut hat. Sehr ähnlich kann die Situation in einem Meeting sein. Auch hier kann es passieren, dass die deutschen Teilnehmer mit der Erwartung in die für eine Stunde angesetzte Besprechung gehen, ein bestimmtes Problem zu lösen oder in einer schwierigen Lage weiterzukommen, das Meeting jedoch ohne Ergebnis verlassen, weil die mexikanischen Partner den Großteil der Zeit persönliche Erlebnisse austauschen. Auch hier hinterlässt ein deutscher Manager, der sofort mit der Tür ins Haus fällt, in den Augen von Mexikanern einen schlechten Eindruck. Wer in Mexiko erfolg24

reich verhandeln möchte, sollte also die eigene Persönlichkeit mit einbringen und gleichzeitig aufgeschlossen sein für die Persönlichkeit des Partners. So ist davor zu warnen, zur ersten Verhandlungsrunde mit einem mexikanischen Partner gleich den Rechtsanwalt hinzuzunehmen, da der mexikanische Geschäftsmann zunächst daran interessiert ist, die Persönlichkeit seines Gegenübers kennen zu lernen. In der geschilderten Situation hätte Adriana Sonja sicher sofort den Gefallen getan und ihr die Liste der Seminaranbieter geschickt, wenn Sonja ein bisschen mit ihr geplaudert hätte. Gewiss fehlt hier zumindest eine Frage wie »Cómo estás?« (»Wie geht es dir?«). Sofern es möglich gewesen wäre, hätte Sonja auch noch einmal persönlich auf Adriana zugehen können. Aber eine kurze E-Mail, die lediglich die Bitte enthält, wird in Mexiko schlichtweg ignoriert. So berichtet eine deutsche Führungskraft, dass sie bei einem Anliegen stets versucht, den Ansprechpartner oder die Ansprechpartnerin persönlich aufzusuchen und – gerade auch, wenn das direkte Gespräch nicht möglich ist – mit Fragen wie »Wie geht es Ihnen?«, »Wie geht es Ihrer Familie?« oder »Was haben Sie am Wochenende unternommen?« auf die persönliche Ebene einzugehen.

Beispiel 2: Probleme mit der Stromversorgung Situation Jochen ist Produktionsleiter in einem Pharmakonzern. Sein Unternehmen liegt in einem recht alten Industriegebiet, in dem die Stromversorgung äußerst mangelhaft ist. Die Kapazität, die seine Firma benötigt, ist relativ hoch. Von der Elektrizitätsgesellschaft bekommt er maximal 1500 Kilowattstunden zur Verfügung gestellt. Jochen braucht mehr, also schreibt er Anträge und setzt alle möglichen Ämter in Bewegung. Es bringt nichts. Einige Wochen später lernt Jochen bei einer Geschäftseinladung zufällig einen Manager dieser Elektrizitätsgesellschaft kennen. Er geht einmal mit ihm zum Essen. Jetzt hat Jochen keine Probleme mehr mit der Stromversorgung. 25

Wie kann man die Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Jochen lädt den Manager der Elektrizitätsgesellschaft zum Essen ein und im Gegenzug sichert dieser die Stromversorgung von Jochens Unternehmen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Der Staat und die Verwaltung sind in Mexiko ineffizient und oftmals korrupt. Über den offiziellen Weg erreicht man in Mexiko gar nichts.

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c) Mexikaner leben ihre persönlichen Machtfaktoren gern aus, lassen andere diese spüren und stellen sich gern als wichtige Person dar.

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d) Über persönliche Kontakte kann man schneller etwas erreichen als über offizielle, unpersönliche Anträge an die Verwaltung. sehr zutreffend

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– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Diese Erklärung verweist auf die Korruption, die in Mexiko gewiss ein Thema ist. So kann man in Mexiko durchaus einmal über eine rote Ampel fahren und dem Polizisten ein paar Pesos in die Hand drücken, um eine Anzeige oder härtere Strafe zu vermeiden. Einige Historiker betrachten die Korruption als eine Konstante in der Geschichte des Landes. Demnach wurden bereits die präkolumbianischen Kulturen von ihr geprägt; von den Conquistadores (spanischen Eroberern) wurde sie fortgeführt und nach der Revolution von der staatstragenden Partei verfeinert und weiterentwickelt. In dem geschilderten Fall kann man wegen einer Einladung zum Essen sicher nicht von Korruption sprechen. Außerdem wird hier gar nicht explizit gesagt, wer wen zum Essen eingeladen hat. Erläuterung zu b): Diese Erklärung ist nicht gleich als unzutreffend einzustufen, da es in Mexiko im Allgemeinen schwierig ist, über den offiziellen Weg etwas zu erreichen. Jedoch darf man das nicht ausschließlich auf den Staat oder die Verwaltung zurückführen. Vielmehr liegt das in der Persönlichkeit der Mexikaner begründet: Wie schon erwähnt, ist das mexikanische Geschäftsleben in hohem Maß auf persönlichen Beziehungen aufgebaut. Die vorliegende Situation wird durch diese Antwortalternative nicht ausreichend erläutert. Erläuterung zu c): Mexikaner zeigen durchaus gern, wenn sie im Besitz von Macht oder Status sind. So berichtet ein deutscher Manager, dass er in 27

einem Stadtteil von Mexiko-Stadt im Sommer, wenn das Wasser knapp ist und nachmittags meist ausgeht, von einem mexikanischen Nachbar angesprochen wurde, dass er sein Auto doch in einer anderen Nachbarschaft abstellen solle, wenn er es nicht regelmäßig wasche. Es fällt schwer, diese Antwort zu verneinen, da diese Aussage die Situation aus einer anderen Perspektive erhellt. Diese Erklärung ist jedoch als eher unzutreffend einzustufen, da dieser Punkt in dieser Situation zwar eine mögliche Erläuterung darstellt, für die Erklärung dieser Situation jedoch eine untergeordnete Rolle spielt. Erläuterung zu d): Ein Mexikaner tut jemandem, den er kennt und sympathisch findet, immer gern einen Gefallen. Und mehr noch: Nur wenn er persönlich involviert ist, kümmert er sich um die anderen. Wenn er dagegen vor Akten und Anträgen sitzt und die Person, die etwas von ihm will, nicht kennt, ist er wenig flexibel. Aus diesem Grund waren Jochens Anträge zunächst nicht erfolgreich. Lösungsstrategie Wenn Sie längere Zeit in Mexiko leben und arbeiten, werden Sie feststellen, dass der offizielle Weg zumeist ins Nichts führt. In Mexiko ist es wichtig, persönliche Kontakte aufzubauen, denn diese helfen Ihnen mehr, wenn Sie etwas erreichen wollen. Natürlich müssen Sie sie auch pflegen. Jochen hat sich richtig verhalten, indem er den persönlichen Kontakt ausgebaut hat. Oftmals können solche Kontakte auch die zeitnahe Lösung eines Problems maßgeblich beeinflussen. Eine deutsche Führungskraft berichtet von der raschen Verlegung einer neuen Telefonanlage in ihrer Firma durch eine große mexikanische Telefongesellschaft, die sie sich dadurch erklärt, dass sie und der zuständige Manager der Telefongesellschaft demselben Sportverein angehören. Einerseits sollten Sie also lernen, persönliche Wege zu beschreiten, um Unterstützung durch andere zu erfahren. Mexikaner betrachten die Probleme von ihnen nahe stehenden Men28

schen als ihre eigenen und sind stets bemüht, bei ihrer Lösung zu helfen. Andererseits müssen Sie in Mexiko damit rechnen, dass auch an Sie Anliegen herangetragen werden, die an offiziellen Wegen vorbeilaufen. In solch einer Situation erwartet ein Mexikaner dann ebenso Ihre Hilfe. Da er die direkte Konfrontation stets vermeidet, würde er es vermutlich unkommentiert lassen, wenn Sie ihm nicht entgegenkommen, aber er wäre enttäuscht. Mexikaner helfen demnach auch deshalb, weil sie davon ausgehen, dass sie sich auch eines Tages einmal in einer Situation befinden können, in der sie Hilfe benötigen.

Beispiel 3: Die Präsentation Situation In der Firma, in der Joachim arbeitet, trifft sich alle zwei bis drei Monate der Führungskreis. In dieser Runde soll seine Kollegin Ruth die anderen über die Märkte informieren. Während ihrer Präsentation bemerkt Joachim mehrere Fehler, zum Beispiel sind Prozentzahlen nicht konsistent. Joachim erwartet, dass Ruth dafür in dem Meeting kritisiert wird, doch lediglich der Vorgesetzte deutet an, dass bestimmte Dinge noch einmal überarbeitet werden müssen. Wie kann man die Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Ruth hat sich nicht gut vorbereitet. Infolgedessen bittet sie der Vorgesetzte, bestimmte Teile der Präsentation noch einmal zu überarbeiten. 29

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b) Es gibt in Mexiko keine direkte Konfrontation. Stattdessen wird versucht, Probleme indirekt anzusprechen und zu lösen. Kritik wird stets vermieden und ein Bloßstellen vor der Gruppe gibt es nicht.

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c) Sachliche Kritik unterscheidet sich grundsätzlich von persönlicher. Letztere wird nicht öffentlich geübt, allenfalls angedeutet.

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d) In Mexiko wird unterschieden, ob eine Frau oder ein Mann einen Fehler gemacht hat. Frauen werden im Gegensatz zu Männern nicht kritisiert.

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– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Es besteht kein Zweifel daran, dass Ruth schlecht vorbereitet war. Hätte sie die Präsentation gründlich geplant, wären ihr solche 30

Fehler nicht unterlaufen. Diese Antwort trifft nicht den Kern der Situation. Erläuterung zu b): Jemanden vor anderen zu kritisieren, ist in Mexiko ein absolutes Tabu. Das Äußern von Kritik empfinden Mexikaner als unhöflich. Der Kritisierte würde sein Gesicht verlieren und sehr gekränkt sein. Aus diesem Grund formuliert der Vorgesetzte seine Kritik auch nur indirekt; direkt würde er Ruths Fehler vor versammelter Mannschaft nie ansprechen. Es wäre allenfalls denkbar, dass er sie später noch einmal zu sich ruft, um sie zu rügen. Aber selbst in der indirekten Form hat sich der Vorgesetzte für mexikanische Verhältnisse recht deutlich geäußert. So kann es in vergleichbaren Situationen auch vorkommen, dass der Chef über den Fehler schlicht hinweggeht. Diese Antwort entspricht den kulturellen Regeln in Mexiko am meisten. Erläuterung zu c): Direkt auf Fehler oder wie in diesem Fall auf eine schlechte Vorbereitung der Präsentation hinzuweisen, ist in Mexiko absolut unüblich. Jede Kritik, ob persönlich oder sachlich, muss entsprechend verpackt werden, um das Gegenüber nicht zu beleidigen. In dieser Situation geht es um sachliche Kritik, da Ruth aufgrund ihrer mangelhaften Vorbereitung Fehler macht. Die Erläuterung c) ist insofern nicht stimmig, als dass es nicht um persönliche Kritik geht und in Mexiko zudem beide Formen der Kritik nicht oder lediglich indirekt geäußert werden. Erläuterung zu d): Diese Antwort erklärt die dargestellte Situation nicht, spricht aber dennoch einen wichtigen Aspekt an: Mexikaner sind sehr diplomatisch, ganz besonders im Umgang mit Frauen. Jedoch differenziert man in Mexiko keinesfalls zwischen Männern und Frauen, wenn es um das Äußern von Kritik geht. Sie wird sowohl Frauen als auch Männern gegenüber vermieden oder allenfalls indirekt ausgesprochen.

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Lösungsstrategie Sie sollten wissen, dass in Mexiko gegenüber Kritik eine andere Haltung besteht als in Deutschland und diese akzeptieren. Mexikaner lehnen es ab, sich in der Öffentlichkeit zu kritisieren. Gerade als Deutscher oder Deutsche gilt es aufzupassen, dass Sie durch Äußerungen, etwa über die Arbeitsqualität eines Mexikaners, die Gefühle des anderen nicht verletzen. Für Mexikaner ist es einfach, Komplimente zu verteilen, nicht aber Kritik, denn sie legen Wert darauf, in der Begegnung mit anderen ein gutes Gefühl zu haben und auch zu vermitteln. Somit erwarten Mexikaner von Ihnen, dass Sie sich ebenfalls um einen harmonischen Umgang bemühen. Sollten Sie in die Situation geraten, einen mexikanischen Mitarbeiter auf einen Fehler hinweisen zu müssen, damit dieser eventuell korrigiert werden kann, sollten Sie unbedingt das Gespräch unter vier Augen suchen. Ein Ansprechen vor anderen Mitarbeitern empfindet der Mexikaner als Bloßstellung und es ist möglich, dass die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter durch den empfundenen Gesichtsverlust einen dauerhaften Schaden nimmt. Wenn also Kritik ausgesprochen werden muss, ist darauf zu achten, sie sehr vorsichtig und indirekt zu formulieren. So berichtet eine deutsche Führungskraft, dass sie das persönliche Gespräch mit einem Mitarbeiter stets mit einem Lob eröffnet und erst allmählich zu den Punkten kommt, die ihr missfallen. Joachim verhält sich in der geschilderten Situation absolut richtig, indem er die Fehler nicht in der Runde anspricht. Hätte er die unterlassene Kritik an Ruth thematisiert, wäre er in ein großes Fettnäpfchen getreten.

Beispiel 4: Der neugierige Rechtsanwalt Situation Fabian muss von seiner Firma aus regelmäßig mit dem Anwalt Miguel verhandeln. Miguel ist Fabian durchaus sympathisch, 32

aber er wundert sich über dessen Neugier. Miguel scheint oftmals weniger an den Aufträgen der Firma interessiert als vielmehr an Fabians Familie und seinem Privatleben. Ausführlich fragt er ihn immer erst nach seinen Kindern, welche Schule sie besuchen, dem Wohlergehen seiner Frau und so weiter, während er die geschäftlichen Dinge danach recht knapp abhandelt. Wie lässt sich Miguels Verhalten erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Bevor Geschäftliches besprochen wird, muss in Mexiko erst ein ausführlicher Smalltalk geführt werden.

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b) Die beiden sind gute Freunde. Deshalb nutzt Miguel die Gelegenheit, Fabian nach seiner Familie zu fragen. sehr zutreffend

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c) Der Anwalt Miguel erkundigt sich nach all diesen Dingen, weil er sehr neugierig ist. sehr zutreffend

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d) Miguel möchte mit seinen zahlreichen Fragen zu Fabians Privatleben davon ablenken, dass er sich auf den Termin nicht ausreichend vorbereitet hat. 33

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– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): In Mexiko ist es generell üblich, alles Geschäftliche mit einem ausführlichen Smalltalk einzuleiten. Er kann alltägliche Themen wie Familie, Hobbys, Weltpolitik, Sport und auch die allgemeine berufliche Situation beider Gesprächspartner mit einbeziehen. Mit diesem Gespräch wird das Ziel verfolgt, eine persönliche Beziehung aufzubauen, auf der die geschäftliche Zusammenarbeit gründet. Diese Antwort beschreibt den Grund für Miguels Verhalten am zutreffendsten. Erläuterung zu b): In Mexiko bespricht man familiäre Themen nicht nur mit engen Freunden, sie sind auch bei geschäftlichen Meetings selbstverständlicher Gesprächsstoff. Miguels Fragen nach Fabians Privatleben sind also nicht auf eine enge Freundschaft zwischen den beiden zurückzuführen. Erläuterung zu c): Diese Erklärung ist nicht richtig. Miguel fragt nicht aus Neugierde, sondern aus echtem Interesse an Fabians Person. Erläuterung zu d): Das Interesse an Fabians Privatleben ist Ausdruck von Miguels Wertschätzung. Es ist also kein Hinweis darauf, dass Miguel nicht ausreichend vorbereitet ist. 34

Lösungsstrategie Da Vertrauen in Mexiko die Grundlage jeder geschäftlichen Beziehung ist, ist es sehr wichtig, ein persönliches Verhältnis zu seinen Geschäftspartnern und Kollegen aufzubauen. Dazu gehört auch das Interesse am Privatleben und nicht nur an Arbeitsleistung und professionellen Fähigkeiten. Aus diesem Grund sollte sich Fabian auf diese Art der Gesprächsführung einlassen. Der Smalltalk ist ein Ausdruck der Wertschätzung für die andere Person und verbessert in jeglicher Hinsicht die Zusammenarbeit.

Kulturelle Verankerung von »Sympathieorientierung (Simpatía)« Dieser Kulturstandard bezeichnet das Streben nach einer angenehmen Atmosphäre im persönlichen Umgang miteinander und die Tatsache, dass dem Gegenüber großes Interesse entgegengebracht wird. Im Geschäftsleben wie im Privatleben ist man bemüht, das Positive in Begegnungen zu betonen und Negatives zu vermeiden. Dies steht insbesondere im Arbeitsleben im Gegensatz zu der in Deutschland üblichen Denkweise, möglichst sachlich zu bleiben. Der Kulturstandard Simpatía beschreibt die zentrale Position und Wertschätzung von Personen und beinhaltet den hohen Stellenwert einer persönlichen Beziehung zwischen Interaktionspartnern sowie den Aufbau und die Pflege von Vertrauensverhältnissen. Simpatía bedeutet, dass es für eine Person wichtig ist, von anderen als amable, das heißt liebenswürdig, beliebt und attraktiv wahrgenommen zu werden. Eine Person, die simpátíco (sympathisch, liebenswert) ist, zeigt ein gewisses Maß an Konformität sowie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Der Kommunikationsstil ist durch eine sehr vorsichtige Sprache geprägt. Charakteristisch ist eine indirekte Ausdrucksweise, aufgrund derer sehr viel aus dem Kontext erschlossen werden muss. Mexikaner legen großen Wert darauf, in der Begegnung mit anderen ein gutes Gefühl zu haben. Sie erfreuen sich am zwi35

schenmenschlichen Kontakt und möchten dazu beitragen, dass auch ihr Gegenüber die Beziehung als angenehm empfindet. Gleichzeitig erwarten sie von ihm, dass es dieses Bedürfnis erkennt und versucht, ihm durch einen freundlichen und warmherzigen Umgang zu entsprechen. Im Zusammenhang mit diesem Kulturstandard steht die offene und herzliche Art der Mexikaner, die gern und viel lachen. Deutsche wirken auf sie in dieser Hinsicht oftmals ernst, steif, humorlos und sogar unhöflich. In Mexiko ist es durchaus üblich, einen engeren Körperkontakt zu haben als in Deutschland. Das Bedürfnis nach einem gewissen persönlichen Schutzraum ist in Mexiko im Vergleich zu nordeuropäischen Ländern oder den USA nicht sehr ausgeprägt. So kann es vorkommen, dass ein mexikanischer Geschäftspartner seinem Gegenüber dicht auf den Leib rückt. Hier sollten Sie es vermeiden, einen Schritt zurückzuweichen, denn das symbolisiert Ablehnung und könnte als Affront aufgefasst werden. In Mexiko werden gute persönliche Beziehungen aufgrund ihrer Nützlichkeit in vielen Angelegenheiten als Palancas (Hebel) bezeichnet. Anzeichen für das Bedürfnis nach einem Vertrauensverhältnis ist beispielsweise die Verwendung des Tú (Du) anstelle des förmlichen, distanzierten Usted (Sie). Es führt keinesfalls zu einem Autoritätsverlust, sondern signalisiert Offenheit, Verbundenheit und Nähe. Ein weiteres wichtiges Element zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ist, dass jedes geschäftliche Gespräch zunächst mit einem Austausch über persönliche Themen beginnt. Außerdem kann eine persönliche Beziehung durch häufige Kontakte und kleine Gefälligkeiten gefestigt werden. Über Palancas erreicht man in Mexiko sehr viel. Sie helfen sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld, beispielsweise bei der Stellensuche, beim beruflichen Aufstieg oder im Umgang mit Behörden. Ein Grund, warum in Mexiko Vertrauen in geschäftlichen Beziehungen eine so bedeutende Rolle spielt, sind sicherlich die mangelnde Rechtssicherheit und das Fehlen verlässlicher gesetzlicher Regelungen. Folglich ist es wichtig, dass Geschäfte nur mit vertrauenswürdigen Partnern abgeschlossen werden. Während 36

in Deutschland Vertrauen auf der Grundlage von Fachkompetenz, Regelkonformität und Pünktlichkeit aufgebaut wird, sind in Mexiko Sympathie und eine persönliche Beziehung von zentraler Bedeutung.

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Themenbereich 2: »Gesicht wahren«

Beispiel 5: Das Meeting nach dem Meeting Situation Henning beruft ein Krisentreffen ein, weil wiederholt Liefertermine nicht eingehalten wurden. In dem Meeting spricht er das Thema an, erhält von seinen Mitarbeitern aber keine befriedigende Antwort. Im Anschluss bittet ein Mitarbeiter, Hector, Henning um ein kurzes Gespräch unter vier Augen, in dem er ihm mitteilt, dass ein bestimmter Kollege unrealistische Terminzusagen macht, wenn der Druck vom Kunden zu groß wird. Wie kann man das Verhalten von Hector erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Bei großem Druck beispielsweise seitens der Kunden werden häufig unrealistische Zusagen gegeben. Es herrscht deshalb allgemeines Verständnis dafür, wenn eine Zusage nicht eingehalten werden kann. sehr zutreffend

eher zutreffend

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b) Die Freundschaft zu dem Kollegen ist den anderen wichtiger, als den Konflikt zu klären. sehr zutreffend

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c) Es gibt Uneinigkeiten zwischen den Kollegen. Hector möchte diese Situation ausnutzen und sich bei Henning beliebt machen.

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eher zutreffend

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d) Offene Konfrontationen werden vermieden. Man lässt dem anderen die Möglichkeit sein Gesicht zu wahren.

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eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Richtig an dieser Antwort ist, dass Zusagen manchmal aufgrund von großem Druck gemacht werden. Es stimmt auch, dass in Mexiko bezüglich zeitlicher Vereinbarungen größere Toleranzgrenzen herrschen als in Deutschland. Dennoch ist das nicht die beste Erklärung für diese Situation. Erläuterung zu b): Es ist zwar richtig, dass das Verhältnis zu den Mitmenschen in 40

Mexiko einen sehr hohen Stellenwert besitzt und häufig wichtiger ist als die Lösung von Konflikten. Diese Situation enthält jedoch noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Schauen Sie sich die anderen Deutungen noch einmal an. Erläuterung zu c): Es wäre durchaus möglich, dass ein Mitarbeiter sich bei seinem Vorgesetzten beliebt machen will. Darauf weist jedoch in diesem Beispiel nichts hin und somit ist dies nicht die richtige Erklärung für die Situation. Erläuterung zu d): Anders als in Deutschland oder beispielsweise den USA werden Kritik und Missstände niemals in allgemeinen Besprechungen thematisiert. Es wird als sehr unangenehm empfunden, wenn Kritik im Beisein Dritter geäußert wird, sowohl für die kritisierte Person als auch für diejenigen, die unfreiwillig Zeuge der Kritik werden. Die meisten Mexikaner vermeiden es, offen über ihre Schwächen und Fehler zu sprechen. Teilweise wird sogar die Lösung von Problemen auf Eis gelegt, um es den betreffenden Personen zu ermöglichen, ihre Würde und ihr Gesicht vor den anderen zu bewahren. Als falsch wird in einem Fall wie der geschilderten Situation immer das Verhalten der Person gewertet, die die Kritik geäußert hat. Dass Hector das Gespräch mit Henning gesucht hat, lässt vermuten, dass er mit der deutschen oder amerikanischen Weise, mit Kritik und Missständen umzugehen, bereits vertraut ist. Dies lässt sich immer häufiger in Mexiko finden, ist aber nicht der Regelfall.

Lösungsstrategie Das Allerwichtigste im Fall von Kritik ist ein äußerst behutsames Vorgehen. Möchten Sie der mexikanischen Denkweise entsprechend handeln, gilt es immer darauf zu achten, dass Ihr Gegenüber sein Gesicht wahren kann und Sie die andere Person nicht bloßstellen. Henning könnte versuchen, das Problem der ver41

passten Liefertermine in Einzelgesprächen mit seinen Mitarbeitern zu lösen. Vorsichtig angebahnte informelle Gespräche können Aufschluss über die Lösung eines Problems geben. Je mehr Vertrauen Ihre Mitarbeiter oder Kollegen zu Ihnen haben, desto eher ist es Ihnen auch möglich, auf indirekte Weise schwierige Dinge anzusprechen. Auch hier wird wieder deutlich, wie wichtig ein persönliches Verhältnis ist. Henning könnte versuchen eine Atmosphäre zu schaffen, die es erlaubt, Fehler zu machen. Er sollte seinen Mitarbeitern die Möglichkeit bieten, zu erfahren, dass das Eingestehen von Fehlern keine großen Konsequenzen hat und wesentlich besser ist, als Fehler zu verschweigen und damit eine Lösung hinauszuzögern.

Beispiel 6: Die Straßenkünstler Situation Im Rahmen einer großen Werbekampagne zur Einführung eines mexikanischen Produkts auf dem deutschen Markt hatte Boris die Idee, im Werbefilm auch Szenen aus dem mexikanischen Alltag zu zeigen. Besonders interessant dafür fand er die Straßenkünstler, die auf jeder Straßenkreuzung ihre Kunststückchen vorführen. Als der Film fertig gestellt ist und zum ersten Mal vorgeführt wird, stellt Boris jedoch fest, dass die Werbung gerade durch die Szenen mit den Jongleuren und Feuerschluckern bei den mexikanischen Mitarbeitern auf große Ablehnung stößt. Welche Hintergründe könnte es für ihre ablehnende Haltung geben? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 42

Deutungen a) Die Straßenkünstler werden im Alltag als sehr lästig empfunden. Deshalb können sich die Mexikaner nicht vorstellen, dass das Produkt auf diese Weise gut verkauft wird.

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eher zutreffend

eher nicht zutreffend

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b) Wenn für ein mexikanisches Produkt geworben werden soll, erwarten die Mexikaner, dass in dem Film ihre Arbeit und die Firma gezeigt werden. sehr zutreffend

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nicht zutreffend

c) Die Mexikaner empfinden die Feuerschlucker und Jongleure nicht als Künstler. Sie sind sehr stolz auf ihre großen Künstler wie Frida Kahlo oder Octavio Paz und würden lieber durch sie repräsentiert werden.

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d) Für die Mexikaner sind die Straßenkünstler ein Zeichen von Armut. Sie fürchten, auf diese Weise als »Dritte-Welt-Land« eingeschätzt zu werden.

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eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. 43

Bedeutungen Erläuterung zu a): Tatsächlich sind die Mexikaner sehr genervt von den Straßenkünstlern, Scheibenwäschern und »Krimskrams«-Verkäufern an jeder Kreuzung. In vielen Gesprächen ist Unverständnis spürbar, dass junge, gesunde Männer nicht einer wirklichen Arbeit nachgehen, sondern auf diese Art und Weise Geld verdienen. Sie könnten auch einen der unzähligen Jobs in Fabriken annehmen, für die man keine Qualifikation benötigt. Deshalb ist diese Deutung der Situation teilweise richtig. Der eigentliche Grund für die ablehnende Haltung ist allerdings ein anderer. Erläuterung zu b): Die Mexikaner arbeiten zwar sehr zuverlässig, allerdings definieren sie sich nicht so sehr über ihre Arbeit, dass sie in dem Werbefilm dargestellt werden wollen. Eine andere Antwort erklärt die Situation besser. Erläuterung zu c): Dieser Aspekt ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Beispielsweise Frida Kahlo und Octavio Paz haben mexikanische Kultur und Kunst auch außerhalb der Landesgrenzen berühmt gemacht und somit viel zum mexikanischen Selbstbewusstsein beigetragen. Für diese Situation gibt es jedoch eine noch treffendere Antwort. Erläuterung zu d): Für die Mexikaner ist es wichtig, im Ausland nicht als Entwicklungsland gesehen zu werden. Sie orientieren sich stark an den großen Wirtschaftsnationen und möchten mit ihnen mithalten können. Die Mexikaner selbst betrachten Mexiko als ein Land, das im Vergleich zu anderen mittel- und südamerikanischen Ländern relativ weit entwickelt ist, entsprechend wollen sie es auch im Ausland gezeigt wissen. Deshalb reagieren sie empfindlich, wenn sie ausgerechnet durch Angehörige der unteren Gesellschaftsschichten repräsentiert werden sollen. Diese Antwort erklärt die Situation am besten. 44

Lösungsstrategie In dem Werbefilm wurde mit einer für das deutsche Publikum vielleicht kuriosen Szene aus dem mexikanischen Alltag gearbeitet. Hierbei ist aber sehr wichtig, die Mexikaner nicht vor den Kopf zu stoßen und ihr nationales Selbstbewusstsein nicht durch das Bemühen alter Klischees anzugreifen. Boris sollte mehr Sensibilität auch für die Lebenssituation der ärmeren Mitglieder der mexikanischen Gesellschaft aufbringen. Auch in Deutschland würde es niemandem gefallen, wenn Armut romantisiert wird. Es wäre besser, in dem Film typische Seiten Mexikos zu zeigen, die auch von Mexikanern akzeptiert sind. Der große Wunsch nach »westlicher« Anerkennung ist auch im täglichen Umgang mit Mexikanern festzustellen. Insbesondere für Europäer hat das zur Folge, dass sie in Mexiko auf eine sehr positive Einstellung und neugieriges Interesse stoßen, das ihnen das Einleben deutlich erleichtert. Sie werden häufig nach Ihren Eindrücken von Mexiko gefragt werden. Hier sollten Sie nicht unbedingt Ihre ehrliche Meinung äußern, sondern insbesondere die positiven Seiten hervorheben. Kritik an Land und Leuten oder der Politik sollten Sie auf jeden Fall vermeiden. Die Mexikaner wissen sehr genau selbst, an welchen Stellen es mangelt und was nicht richtig läuft. Kritik wird als grobe und fast unverzeihliche Unhöflichkeit angesehen.

Beispiel 7: Der Kindergeburtstag Situation Die kleine Laura wird vier Jahre alt. Ihre Mutter Melanie möchte deswegen einen Kindergeburtstag feiern, zu dem sie die anderen Kinder aus dem Kindergarten eingeladen hat. Damit möglichst viele Leute Zeit finden, hat sie ihnen rechtzeitig zwei Wochen im Voraus Bescheid gegeben. Gerade erst in Mexiko eingetroffen, erhofft sich Melanie, ein paar sympathische Frauen kennen zu lernen. Fast alle Mütter reagieren erfreut auf die Einladung und sa45

gen spontan zu. Melanie rechnet mit etwa 30 Gästen und bereitet alles vor. Am Tag des Festes erscheinen allerdings nur drei von 20 Kindern aus dem Kindergarten und einige Kinder aus der Nachbarschaft. Besonders erstaunt ist Melanie darüber, dass alle Mütter sie am nächsten Tag wie immer herzlich begrüßen, den Kindergeburtstag jedoch mit keinem Wort erwähnen. Wie kann man das Verhalten der Frauen erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Die Mütter hatten an dem Tag wahrscheinlich etwas anderes zu tun und haben es nicht geschafft, zu dem Fest zu kommen. Zusagen einzuhalten ist in Mexiko nicht so wichtig.

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b) Die Verbindlichkeit einer Verabredung hängt vom Bekanntheitsgrad der Personen ab. sehr zutreffend

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c) Zusagen sind nicht unbedingt verbindlich und es gibt keine direkten Absagen. sehr zutreffend

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d) Melanie hat die Einladung zu Lauras Geburtstag zu weit im Voraus ausgesprochen. Die anderen Mütter haben die Feier vergessen. 46

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– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Mexikaner sind zwar sehr spontan und entscheiden von Moment zu Moment, was sie tun werden, dies würde aber nicht unbedingt dazu führen, nicht zu dem Kindergeburtstag zu kommen. Viel eher könnte dies ein verspätetes Erscheinen zur Folge haben, oder dass noch andere Kinder und Freunde mitgebracht werden, die zufällig gerade da waren. Eine andere Deutung erklärt die Situation treffender. Erläuterung zu b): Die Verbindlichkeit einer Zusage steigt, je näher man eine Person kennt. Insofern ist der Aspekt in dieser Situation nicht unwichtig, schließlich ist Melanie erst seit kurzem in Mexiko. Dennoch gibt es eine treffendere Erklärung für diese Situation. Erläuterung zu c): Diese Antwort trifft genau zu. In Mexiko werden Sie fast nie eine direkte Absage erhalten. Absagen gelten als grob unhöflich und werden als Ablehnung der eigenen Person gewertet. Aus Deutschland sind Sie sehr direkte Absprachen und demzufolge auch Absagen gewöhnt. Deshalb wird es Ihnen insbesondere am Anfang schwer fallen, scheinbare Zusagen von wirklichen Zusagen zu unterscheiden. Ein Ja zu einer Einladung kann zum Beispiel gewertet werden 47

als »ja, ich habe grundsätzlich Interesse, zu dir zu kommen«. Dies gilt allgemein bei Angeboten und Anfragen, beispielsweise auch in Arbeitszusammenhängen, wenn Sie jemanden fragen, ob er etwas für Sie erledigen könnte. Ein Ja heißt dann vielleicht »ja, ich kann das« und nicht wie in Deutschland »ja, ich mache das«. Erläuterung zu d): Der Umgang mit Zeit ist zwar in Mexiko anders als in Deutschland. Sie werden es nicht unbedingt erleben, dass private Verabredungen mit gezücktem Kalender getroffen werden. Eine Einladung zwei Wochen im Voraus auszusprechen, ist jedoch auch in Mexiko nicht zu früh. Wenn die Mütter den Geburtstag vergessen hatten, dann nicht aus diesem Grund. Diese Antwort trifft also eher nicht zu.

Lösungsstrategie Der Verbindlichkeitsgrad einer Zusage steigt, je detaillierter sie ist. Erst wenn eine Zusage sehr genau ist, wenn die Eingeladenen diese häufig bekräftigt haben und sich nach Uhrzeit und Ort des Festes erkundigen, kann man mit ihrem Erscheinen rechnen. Das gilt nicht nur bei Einladungen, sondern auch in vielen anderen Alltagssituationen. Sollten Sie beispielsweise einen Mexikaner nach dem Weg fragen, so werden Sie auf jeden Fall eine Antwort erhalten. Sein Stolz und seine Höflichkeit verbieten es ihm zuzugeben, dass er den Weg unter Umständen gar nicht kennt. Hier müssen Sie besonders auf die Wortwahl achten und genauer nachfragen, wenn unbestimmte Angaben über die Anzahl der Häuserblöcke oder Ähnliches gemacht werden. Möglicherweise sollten Sie noch eine andere Person um Rat fragen. Haben Sie Gäste eingeladen, so sollten Sie auf deren Anzahl spontan und flexibel reagieren. Je vertrauter man mit einem Personenkreis ist, desto wahrscheinlicher kommen viele Gäste. Eventuell bringen Ihre Gäste sogar noch ihren eigenen Besuch oder beispielsweise ihre Mitfahrgelegenheit mit. In solch einer Situation müssen Sie gegebenenfalls noch schnell zum Super48

markt fahren. Die Fähigkeit zur Improvisation ist wichtig, da es passieren kann, dass Sie spontan auf eine viel größere Gästezahl reagieren müssen als erwartet. Im Arbeitsbereich gilt, dass allgemeine Zusagen eines ständigen Dialogs bedürfen. Man muss immer wieder darüber kommunizieren, wie weit denn die jeweilige Angelegenheit ist und auf welche Schwierigkeiten vielleicht gestoßen wurde. Eine einmalige Absprache in Mexiko ist nicht gleichzusetzen mit einer solchen in Deutschland, denn es wird nie direkt abgelehnt oder Nein gesagt. Man möchte den Fragenden nicht bloßstellen.

Kulturelle Verankerung von »Gesicht wahren« Dieser Kulturstandard beschreibt das für Mexiko typische Harmoniestreben im zwischenmenschlichen Umgang, die daraus resultierende Höflichkeit der Mexikaner sowie ihr Bedürfnis nicht bloßgestellt zu werden – also das eigene Gesicht und das der anderen zu wahren. Zwischen den Kulturstandards »Gesicht wahren« und »Sympathieorientierung« besteht eine enge Verbindung. Wie im Abschnitt »Sympathieorientierung« beschrieben, neigen Mexikaner dazu, positives Verhalten in Situationen zu betonen, während negative Aspekte eher vermieden werden. Konflikten und Problemen wird ausgewichen oder sie werden ignoriert, da der Versuch einer sachlichen Auseinandersetzung häufig als persönlicher Angriff empfunden wird. Offene Konflikte gibt es selten, da Mexikaner es stets vermeiden, andere Personen anzugreifen und ihnen ihre Fehler oder Schwächen vorzuhalten. Für den Umgang unter Kollegen kann das bedeuten, dass Probleme – wenn überhaupt – auf indirektem Weg gelöst werden, weil man dem anderen ermöglichen will, seine Würde und sein Gesicht zu wahren – sogar auf Kosten einer sachlich richtigen Lösung. Mexikaner reagieren sensibel auf Kritik und Beurteilungen. Im mexikanischen Spanisch gibt es den Ausdruck »muy sentido« (»los mexicanos son muy sentidos«). Er ist nicht direkt ins Deutsche übertragbar, am ehesten kann man ihn wohl mit »leicht ein49

geschnappt« übersetzen. Sagt man etwas Falsches, so nehmen Mexikaner einem das leicht übel. Sie sind zwar nicht wirklich sauer, aber erwarten doch eine Art Entschuldigung oder Wiedergutmachung. Während es hierzulande üblich ist, Meinung und Gegenmeinung klar zu äußern und im Anschluss an eine Diskussion wieder freundschaftlich miteinander zu Mittag zu essen, müsste in Mexiko erst wieder das persönliche Verhältnis in Ordnung gebracht werden. Für Mexikaner käme ein öffentlicher Angriff dem Ende einer Freundschaft gleich. Aufgrund dessen hat Höflichkeit in Mexiko sowohl in Geschäftsbeziehungen als auch in Freundschaften einen sehr hohen Stellenwert. Wenn Sie neu in Mexiko sind, fällt Ihnen sicherlich das sehr höfliche mexikanische Spanisch auf. Die Mexikaner gebrauchen ein für Menschen, die Castillano (das »spanische« Spanisch) gewöhnt sind, veraltet klingendes, aber sehr höflich gemeintes Spanisch mit Redewendungen wie »Pase adelante« (treten Sie vor), »con permiso« (gestatten Sie) oder »Mande«, was so viel heißt wie »Was befehlen Sie mir?«. Höflichkeit öffnet Türen und Herzen, vieles geht viel leichter, schneller und unkomplizierter. In Smalltalksituationen ist es für Ausländer sehr wichtig darauf zu achten, den Nationalstolz der Mexikaner nicht zu verletzen. Das bedeutet, Kritik an Land und Leuten zu vermeiden. Wenn Mexiko in einer Unterhaltung Thema ist, ist es empfehlenswert, positive Seiten herauszustellen und die Dinge zu erwähnen, die bisher beeindruckend waren und Gefallen hervorgerufen haben. In Mexiko verlangt es die Höflichkeit, in vielen Situationen den indirekten Weg der Kommunikation zu wählen. So wäre es beispielsweise extrem unhöflich, eine Einladung ohne Umschweife abzulehnen. Folglich erhält man als Antwort auf eine Einladung auch niemals ein Nein, sondern immer ein Ja. Mexikaner sind in der Lage, zwischen einem allgemeinen Ja und einem »ja, ich komme tatsächlich« zu differenzieren. Sie kommunizieren diese Unterschiede über para- und nonverbale Elemente wie Betonung, Lautstärke, Gestik und Kontextwissen. Ein mexikanischer Gesprächsteilnehmer versteht diese zusätzlichen Informa50

tionen und weiß, dass der Sprecher zwar die Etikette einhält, tatsächlich aber etwas anderes mitteilen möchte, während Deutsche das erst erlernen müssen. Diese stark ausgeprägte, aus deutscher Sicht, fast schon devote Höflichkeit könnte mit der Eroberung des Landes und der jahrelangen Unterdrückung des mexikanischen Volks durch die Spanier zusammenhängen.

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Themenbereich 3: »Kollektivismus (Colectivismo)«

Beispiel 8: Die Rechnung Situation Boris geht abends mit einer Gruppe mexikanischer Arbeitskollegen zum Essen. Es ist eine nette Runde. Irgendwann beschließt er nach Hause zu gehen und möchte seinen Teil der Rechnung bezahlen. Seine mexikanischen Kollegen sagen Boris, dass sie das später im Büro regeln würden. Ein Kollege kommt am nächsten Tag mit der Rechnung zu ihm und nennt ihm den zu zahlenden Betrag. Boris wundert sich, dass es so viel ist, und schaut auf die Rechnung. Sehr schnell sieht er, dass seine Kollegen den Endbetrag durch die Anzahl der anwesenden Personen geteilt haben, und er sieht auch, dass sich wohl einige Kollegen nach seinem Verschwinden fünf oder sechs sehr teure Gläser Tequila bestellt haben. Boris versteht nicht, warum er das mittragen soll. Wie kann man das Verhalten der Mitarbeiter erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Für Mexikaner spielt Geld eine untergeordnete Rolle. 53

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die mexikanischen Kollegen hegen die Absicht Boris einzuladen. Das ist der Grund, warum sie seinen Anteil an diesem Abend nicht annehmen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Mexikaner möchten auf keinen Fall als nicht großzügig oder gar geizig dastehen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Mexikaner sind in der Regel nicht so kleinlich wie die meisten Deutschen mit dem Auseinanderrechnen von Rechnungen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist tatsächlich so, dass für Mexikaner die Gruppe und nicht das Geld zählt. Sie setzen den Akzent auf die gemeinsame Unterhaltung und nicht auf das akribische Auseinanderdividieren der Rechnung. Mexikaner erfreuen sich am Beisammensein. Wie in dem beschriebenen Fall ist es oftmals einfacher, die Rechnung 54

durch alle zu teilen, als genau hinzuschauen, wer was getrunken und gegessen hat. Erläuterung zu b): Würden die mexikanischen Kollegen Boris einladen wollen, dann würden sie das auch direkt kommunizieren. Es gibt keinerlei Grund, die Absicht einer Einladung in Mexiko nicht klar auszusprechen. Mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. Erläuterung zu c): In dieser Antwort liegt zweifelsohne ein Körnchen Wahrheit. In Mexiko ist jeder großzügig und erwartet es auch vom anderen. Gerade die Außenwirkung, die Frage danach, wie ich auf andere wirke, hat in Mexiko eine sehr viel größere Bedeutung als in Deutschland. Dennoch ist dies nicht die richtige Erklärung für das Verhalten der Mitarbeiter. Erläuterung zu d): In Mexiko gilt die feste Regel, dass die Rechnung, wenn man zusammen ausgeht, immer durch die Anzahl der anwesenden Personen geteilt wird. Jeder zahlt den gleichen Anteil, auch wenn das hin und wieder ungerecht für den Einzelnen ist. Im Großen und Ganzen geht man davon aus, dass es so in Ordnung ist. Hat man dieses Mal etwas zu viel bezahlt, da man selber etwas Günstiges hatte, so ist man vielleicht beim nächsten Mal derjenige, der etwas Teures bestellt hat. Würde Boris darauf bestehen, nur seinen Teil der Rechnung zu bezahlen, wäre das grob unhöflich und würde alle Regeln des guten Miteinanders verletzen. Diese Antwort entspricht genau den kulturellen Regeln Mexikos.

Lösungsstrategie In Mexiko findet man eine kollektivistische Gesellschaft vor, die sich mehr auf Solidarität als auf Gerechtigkeit gründet. In kollektivistischen Gesellschaften ist nicht das Wohl des Einzelnen entscheidend, sondern es steht immer das Wohl der Gruppe im Vor55

dergrund. Als Expatriate müssen Sie die Unterschiede zwischen individualistischen und kollektivistischen Gesellschaften kennen. Das aus deutscher Sicht vollkommen normale Handeln von Boris und seine Absicht, seinen Teil der Rechnung zu tragen, sind in Mexiko absolut unüblich. Es ist sehr unhöflich, wenn Sie ganz explizit darauf bestehen, Ihr Essen und Ihre Getränke zu zahlen. Fatal wäre es in der beschriebenen Situation, den Tequila nicht mittragen zu wollen. In Mexiko legt man nicht wie in Deutschland das Geld für die eigenen Bestellungen auf den Tisch, wenn man das Lokal vorzeitig verlässt. Boris verhält sich richtig, als er das Geld ohne ein Wort zu sagen am nächsten Tag auf den Tisch legt, auch wenn er sich im Stillen ärgert. Es ist sehr empfehlenswert, in einer solchen oder ähnlichen Situation die kulturellen Gegebenheiten des Landes zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen.

Beispiel 9: Die Muchacha Situation Nicole und Martin haben seit zwei Jahren ein Hausmädchen. Letitia wohnt auch bei ihnen, mit Ausnahme der Wochenenden, an denen sie immer frei hat. Nicole und die ganze Familie sind sehr zufrieden mit Leti, sie arbeitet zuverlässig und die Kinder verstehen sich sehr gut mit ihr. An einem Freitag packt sie wie immer ihre Sachen und fährt ins Wochenende, kommt aber am Montag nicht zurück. Nicole und Martin machen sich Sorgen und Martin versucht, sie unter der Telefonnummer zu erreichen, die Leti ihm einmal gegeben hat. Dort bekommt er allerdings immer nur die Auskunft »Señorita Letitia ist nicht mehr da«. Was mag der Grund dafür sein, dass Letitia ohne ein Wort zu sagen verschwindet? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darun56

ter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Letitia wollte mehr Geld verdienen. Da sie das bei Nicole und Martin nicht konnte, hat sie beschlossen, diese Familie zu verlassen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Letitia wollte den Hausmädchen-Posten gar nicht aufgeben. Sie entschied sich erst dafür nicht mehr zu kommen, als Martin ihr so häufig hinterhertelefonierte. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Es gab einen Krankheitsfall in ihrer Familie, sodass Letitia nun die Pflege übernehmen muss. Deshalb ist sie nicht mehr zurückgekommen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) In Mexiko erteilt man keine Absagen. In einer derartigen Situation schweigt man und verlässt das Feld, ohne ein Wort der Erklärung. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. 57

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist durchaus denkbar, dass Letitia gern mehr Geld verdient hätte, jedoch kann das nicht der alleinige Grund für ihr Fortbleiben sein. Geld oder das Gehalt ist durchaus etwas, worüber man in Mexiko sprechen kann. So berichtet eine deutsche Führungskraft von einem mexikanischen Mitarbeiter, der umgehend ein besseres Gehalt verlangte, zu einem Zeitpunkt, zu dem keine Gehaltssteigerungen möglich waren. Schließlich verließ der Mitarbeiter das Unternehmen, da ihm kein höheres Einkommen zugebilligt wurde. Lesen Sie die Situation noch einmal und suchen Sie eine passendere Antwortalternative aus. Erläuterung zu b): Natürlich kann man nur darüber spekulieren, wann Letitia die Entscheidung getroffen hat, nicht mehr für Martins Familie zu arbeiten. Jedoch sind Martins Versuche, mit Letitia zu sprechen, definitiv nicht der Grund für das Verlassen der Arbeitsstelle, da er erst angerufen hat, nachdem sie nicht wiederkam. Auch sonst würde dieses Verhalten eher als Besorgnis erkannt und nicht sanktioniert werden. Mit dieser Vermutung liegen Sie also falsch. Erläuterung zu c): Die Familie hat in Mexiko allerhöchste Priorität. Wenn Letitia also in der Familie dringend gebraucht wird, ist es völlig selbstverständlich, dass sie ihre Arbeitsstelle aufgibt, auch wenn sie dort sehr zufrieden war. Eine der großen Sorgen vieler mexikanischer Señoras der gehobenen Schicht ist, dass ihr Personal nach der Weihnachtspause nicht mehr zurückkehrt. Die meisten Muchachas, insbesondere wenn ihre Familien weiter entfernt wohnen und sie in den großen Städten arbeiten, fahren für etwa zwei Wochen nach Hause. In dieser Zeit kommt es unter Umständen auch vor, dass sie sich entschließen zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Häufig wird das der Arbeitgeber-Familie nicht mitgeteilt. Ein Hausmädchen, das sich entscheidet, nicht mehr für eine Familie zu arbeiten, kündigt das nicht unbedingt 58

an – sie verschwindet einfach, ohne ein Wort zu sagen. Sie denkt auch nicht darüber nach, dass sich ihre Arbeitgeber Sorgen machen könnten. Mit dieser Antwort haben Sie den Kern der Situation getroffen. Erläuterung zu d): Diese Erklärung ist nicht gleich als unzutreffend einzustufen, da dieses Verhalten mit einer allgemeinen Konfliktvermeidungstendenz einhergeht, mit dem Wunsch, von anderen stets als attraktiv und beliebt wahrgenommen zu werden. Allerdings wird dieser Aspekt in dem Kulturstandard »Gesicht wahren« thematisiert und stellt in dieser Situation nicht das entscheidende Moment dar.

Lösungsstrategie Wenn Sie in Mexiko ein Hausmädchen, eine Muchacha, beschäftigen, seien Sie stets darauf vorbereitet, dass sie von einem Tag auf den anderen verschwinden kann. Das passiert in Mexiko sehr häufig und Sie müssen es einfach akzeptieren. Wenn Probleme in der Familie bestehen, dann wird es auch nicht helfen, zu versuchen, auf die Person zuzugehen und eine andere Lösung zu finden, denn die familiären Pflichten sind in jedem Fall wichtiger als das Geldverdienen oder andere Verpflichtungen. Diese Ansicht ist allgemein verbreitet, wird von allen verstanden und muss deshalb auch nicht mitgeteilt werden. Es würde nicht verstanden werden, wenn trotz familiärer Probleme das Festhalten an der Arbeit angestrebt wird. Generell müssen Sie sich darauf einstellen, dass ein Hausmädchen niemals auf Sie zugehen und zu Ihnen sagen wird »Es tut mir leid, aber ich werde nicht mehr weiter für Sie arbeiten«. Natürlich können Sie, um sich zu vergewissern, ihr hinterhertelefonieren, wie Martin das getan hat, aber mit großer Wahrscheinlichkeit werden Sie dabei nicht erfolgreich sein. Und dann sollten Sie dieses Verhalten hinnehmen und sich auf die Suche nach einer neuen Muchacha begeben, mit der Ihnen einige Zeit später vielleicht das Gleiche passieren wird. 59

Sie werden während Ihres Aufenthalts in Mexiko nicht in der Lage sein, diese Tatsachen zu ändern. Deshalb bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als zu versuchen, die mexikanische Sichtweise zu verstehen. Aufgrund der geringen sozialen Absicherungen ist die Familie das wichtigste Auffangnetz, wenn es einer Person nicht gut geht oder sie in arge Schwierigkeiten gerät. Viele Mexikaner haben keine Versicherung. Je nach Arbeitsverhältnis sind sie in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen, deren Leistungen jedoch nur das Notwendigste abdecken. Nur wohlhabendere Personen leisten sich private Versicherungen. Eine Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe oder Ähnliches gibt es in Mexiko nicht. Die Familie, die sich auch nicht nur auf die Kernfamilie beschränkt, wie man das aus Deutschland kennt, muss also in schwierigen Situationen einspringen und die Versorgung der Kranken übernehmen. Familiäre Bande greifen insgesamt viel weiter, als man das aus individualistischen Gesellschaften wie der deutschen kennt. So werden zur Lösung sämtlicher Probleme, wie etwa Arbeits- oder Wohnungssuche, immer erst familiäre Verbindungen in Anspruch genommen. In vielen traditionellen mexikanischen Unternehmen ist beispielsweise feststellbar, dass alle wichtigen Posten mit engen Verwandten des Firmeninhabers besetzt sind.

Beispiel 10: Gute Absichten Situation Gisa ist sehr zufrieden mit ihrer mexikanischen Mitarbeiterin Rosa, die im Kundenservice ihres Unternehmens arbeitet. In ihren Augen hat Rosa gute Anlagen, lernt schnell und fügt sich sehr gut ein. Gisa möchte sie fördern, damit sie in naher Zukunft einen gehobenen Posten bekleiden kann, schließlich ist Rosa noch jung und hat bisher keine familiären Verpflichtungen, die sie ablenken könnten. Gisa gibt sich viel Mühe und bittet sie oft zu sich, um ihr Verbesserungsvorschläge an die Hand zu geben und ihr ihre Einschätzung der Vorgänge im Kundenservice mitzuteilen. Rosa reagiert darauf gereizt: »Warum kritisierst du mich immer, 60

warum immer mich, warum winkst du mich immer rein? Warum sagst du mir jeden Fehler? Warum sagst du das nicht den anderen?« Gisa erklärt Rosa, dass sie das positiv sehen müsse, denn sie würde dadurch ihr Interesse zeigen, Rosa wegen ihrer guten Anlagen zu fördern. Ihr sei daran gelegen, dass Rosa wachse, dass sie lerne, wie Dinge verbessert werden können. Kurze Zeit später kündigt die mexikanische Mitarbeiterin, sehr zu Gisas Verwunderung. Wie kann man das Verhalten von Rosa erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Rosa ist sich plötzlich ihrer Fähigkeiten bewusst geworden und hat nun eine besser bezahlte Stelle in einem anderen Unternehmen gefunden. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Rosa ist der Meinung, dass sich diese Förderung für sie als Frau gar nicht lohnen würde, möchte Gisa das aber nicht direkt sagen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Rosa fühlt sich benachteiligt, weil Gisa immer nur sie beobachtet. Sie möchte behandelt werden wie die anderen und nicht herausstechen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

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d) Rosa fühlt sich persönlich angegriffen, weil Gisa sie immer kritisiert und ihr alle Fehler mitteilt.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Rosa hat durch Gisas Bemühungen sicher nicht ihre eigenen Potenziale entdeckt, sondern sieht – ganz im Gegenteil zu Gisas Absichten – ihr Können in Frage gestellt. Ebenso ist anzuzweifeln, dass Rosa so schnell eine neue Arbeit gefunden hat. Diese Antwort kann ihr Verhalten nicht erklären. Erläuterung zu b): Frauen werden in Mexiko tatsächlich häufig nicht gut ausgebildet, da sie oftmals nach der Heirat aufhören zu arbeiten und der Mann zum einzigen Ernährer der Familie wird. Rosas Kündigung ist jedoch auf andere Dinge zurückzuführen und bestimmt nicht darauf, dass sie wirklich denkt, als Frau eine gute Ausbildung und Förderung nicht verdient zu haben. Außerdem gäbe es für Rosa keinen Grund, Gisa dies nicht direkt zu sagen und stattdessen die Arbeit ganz aufzugeben. Erläuterung zu c): Tatsächlich ist es den meisten Mexikanern tendenziell unangenehm, aufzufallen. Sie streben eher an, ein gleichberechtigter Teil der Gruppe zu sein. Für Rosa ist Gisas Verhalten unverständlich und sie erlebt es offensichtlich als sehr unangenehm und provo62

zierend. Auch nach der Erklärung kann Rosa nicht die wirklichen Absichten von Gisa erkennen und kündigt demnach aufgrund der dauernden Belästigungen, die sie nicht länger ertragen will. Diese Antwort beschreibt den Grund für Rosas Verhalten am besten. Erläuterung zu d): Aufgrund Ihrer Kenntnisse zum Kulturstandard »Gesicht wahren« haben Sie bestimmt gemerkt, dass auch diese Deutung für die dargestellte Situation nicht unerheblich ist. Für Rosa stellt Gisas Verhalten einen persönlichen Angriff dar, weil in Mexiko selten zwischen der persönlichen und der professionellen Ebene differenziert wird. Rosa zieht daraus die Konsequenz, nicht mehr mit Gisa zusammenarbeiten zu wollen. Für Mexikaner ist eine positive persönliche Beziehung auch zu Arbeitskollegen sehr wichtig.

Lösungsstrategie Rosa interpretiert Gisas Verhalten völlig anders, als dies von Gisa beabsichtigt war. Auch im persönlichen Gespräch ist Gisa nicht in der Lage, Rosa von ihren guten Absichten und ihrer positiven Meinung von Rosas Arbeit und Fähigkeiten zu überzeugen. Während es in Deutschland in der Regel als positiv erlebt wird, wenn die Vorgesetzten ihre Mitarbeiter fordern und dadurch eine Entwicklung fördern möchten, so wird dies in Mexiko eher als Kritik an der eigenen Person und der Arbeitsleistung aufgenommen. Die mexikanische Gesellschaft ist eine kollektivistische Gesellschaft, in der die Mitglieder sich sehr viel wohler fühlen, wenn sie einen Teil der Gruppe darstellen, und selten Anstrengungen unternehmen, um sich durch herausragende Leistungen vom Rest der Gruppe abzuheben. Es wäre in dieser Situation sinnvoller, Rosa nicht zu sehr zu fordern, sondern sie weiterhin zu beobachten und als ersten Schritt bei einer guten Gelegenheit in einem ruhigen Gespräch die persönlichen Absichten offen zu legen. Dann kann Rosa sich 63

unbelasteter auf die Forderungen einlassen, als wenn sie sich schon seit längerem ungerecht behandelt und überfordert fühlt. In der geschilderten Situation wurde dieses Gespräch zu spät geführt, zu einem Zeitpunkt, zu dem Rosa ihre Arbeitssituation schon als sehr belastend und unbefriedigend erlebte. Es ist sehr wichtig, dass Rosa sich vor allem als Person wertgeschätzt fühlt und ein gutes Verhältnis zu ihrer Chefin aufbaut. Um als deutscher Expatriate erfolgreich zu sein und solche schwerwiegenden Missverständnisse zu vermeiden, ist es sehr wichtig, sich immer der Unterschiede zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften bewusst zu sein.

Kulturelle Verankerung von »Kollektivismus (Colectivismo)« Dieser Kulturstandard beschreibt die Ausrichtung der Gesellschaft an der Gruppe. In kollektivistischen Gesellschaften wie der mexikanischen ist der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität von ihm verlangen. Individuelle Ziele sind den Gruppenzielen untergeordnet. Das Verhalten von Personen lässt sich am besten über Normen, wahrgenommene Pflichten und Obligationen vorhersagen. Für Kollektivisten haben persönliche Beziehungen höchste Priorität und werden auch aufrechterhalten, wenn die Kosten den Nutzen übersteigen. So ist beispielsweise in Mexiko die Ingroup definiert über die erweiterte Kernfamilie. Die Großfamilie ist das Fundament und die wichtigste Institution der mexikanischen Gesellschaft und der Mittelpunkt des sozialen Lebens. Gleichzeitig hat sie auch einen sehr viel höheren Stellenwert im Leben eines Mexikaners als die Arbeit, die eigentlich nur Mittel ist, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Familie bildet ein soziales Netzwerk, das in jeder Lebenslage wirtschaftliche und emotionale Funktionen erfüllt und soziale Not ausgleicht. Wird ein Familienangehöriger krank oder 64

arbeitslos, so kann er sich auf die Versorgung und Hilfe durch andere (in der Regel weibliche) Familienangehörige verlassen. Das hat zur Folge, dass in Mexiko auch alte Menschen und Kinder selbstverständlich überall mit einbezogen werden. In Mexiko werden häufig »Compadrazgos« (Patenschaften) genutzt, um verwandtschaftsähnliche Verhältnisse zu Personen außerhalb der eigenen Familie herzustellen. Ein Freund der Familie oder manchmal sogar ein Vorgesetzter übernimmt als Comadre oder Compadre die Patenschaft für ein Neugeborenes und damit quasi die elterlichen Obhutspflichten. Ein »Compadrazgo« ist sehr verbindlich und dient der Erweiterung der familiären Kreise. In früheren Zeiten wurden solche Patenschaften häufig eingegangen, um daraus persönlichen Nutzen zu ziehen. Die mexikanische Großfamilie an sich ist recht selbstgenügsam und deckt eigentlich alle sozialen Bedürfnisse ab. Deshalb ist es für Fremde oftmals schwierig, enge Freundschaftsbeziehungen zu Mexikanern aufzubauen. Die Funktionen, die in Deutschland beispielsweise Freundschaften übernehmen, werden in Mexiko von der Familie wahrgenommen. Der Freundeskreis setzt sich aus Schul- oder Studienkollegen zusammen und es besteht selten das Bedürfnis, diesen auszuweiten. So gibt es auch feste Wochentage für bestimmte Unternehmungen: Freitags nach der Arbeit wird etwas mit den Arbeitskollegen oder im Freundeskreis unternommen, während der Sonntag häufig für familiäre Aktivitäten genutzt wird. Viele Deutsche berichten deshalb von großen Problemen, wirkliche freundschaftliche Kontakte zu Mexikanern aufzubauen. In der Regel beschränken sich diese auf Mexikaner, deren Familien in einer anderen Stadt leben. Dies ist jedoch keineswegs als Unwille der Mexikaner zu interpretieren, sondern eine Folge der unterschiedlichen kulturellen Prägungen in kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften.

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Themenbereich 4: »Hierarchieorientierung«

Beispiel 11: Umbaupläne Situation Herbert arbeitet in einem Pharmaunternehmen, das seine Produktionsanlagen umbauen möchte. Herberts Abteilung entwickelt einen Vorschlag, wie die Verpackungsmaschinen aufgestellt werden müssen, und stimmt das mit Deutschland ab, weil die Personen, die dort arbeiten, erfahren sind in der richtigen Gestaltung eines Workflows in der Pharmaindustrie. Aus Deutschland kommt ein anderer Vorschlag, der in Herberts Augen für den Standort Mexiko nicht vernünftig ist. Also erwartet Herbert, dass seine mexikanischen Mitarbeiter sich gegen diesen Vorschlag wehren. Stattdessen akzeptieren sie ihn ohne Widerworte. Was mag der Grund dafür sein, dass die mexikanischen Mitarbeiter keine Einwände vorbringen? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Mexikaner widersprechen nicht gern, auch wenn sie wissen, dass sie im Recht sind. Sie verhalten sich derart, um sich keine Probleme zu machen. Das Leben ist leichter so. 67

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Mexikaner sind in dieser Situation nicht kritisch. Sie gehen davon aus, dass sich die beiden Vorschläge nicht stark voneinander unterscheiden. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Deutschland wird in Bezug auf Technik als hierarchisch höher stehend eingestuft und so wird der Vorschlag vorbehaltlos angenommen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Mexikaner geben gern die Verantwortung für Aufgaben ab.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es stimmt wirklich – Mexikaner vermeiden Diskussionen und Konflikte. Oft akzeptieren sie Regeln ohne Widerspruch, die sie vielleicht selbst für absurd halten. Jedoch hat das nur wenig damit zu tun, dass sie sich das Leben leichter machen wollen, sondern vielmehr mit ihrer sehr ausgeprägten Art, Konflikte und Kon68

frontationen zu vermeiden. Dieser Punkt wurde im Zusammenhang mit dem Kulturstandard »Sympathieorientierung« ausführlich erläutert und spielt für diese Situation nur eine untergeordnete Rolle. Erläuterung zu b): Dieser Deutung liegt ein gängiges Vorurteil zugrunde – das Bild des unter einem riesigen Sombrero im Schatten eines Kaktusses schlafenden Mexikaners. An dieser Stelle ist zu betonen, dass dieses Bild in Mexiko höchstens noch auf dem Land zur Mittagszeit vorzufinden ist, keinesfalls aber für die industrialisierten Regionen Mexikos aussagekräftig ist. Der mexikanische Geschäftsmann zeigt im Gegenteil einen hohen Arbeitseinsatz und Flexibilität. Die Annahme, er würde Sachverhalte nicht kritisch prüfen, ist nicht haltbar. Mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. Erläuterung zu c): In Mexiko herrscht noch immer ein stark ausgeprägtes Hierarchiedenken. Die Machtgefälle sind sehr viel größer, als wir das aus Deutschland kennen. So werden Entscheidungen in Mexiko grundsätzlich nur von Vorgesetzten getroffen, auch die Verantwortung bleibt bei ihnen. Mitarbeiter führen lediglich die ihnen übertragenen Aufgaben aus. Dementsprechend sind mexikanische Arbeiter oder Angestellte selbstständiges Denken und Handeln gar nicht gewohnt; sie kennen es nicht, weil es von ihnen auch nicht gefordert wird. Also ist nachvollziehbar, dass sie in dieser Situation den Vorschlag aus Deutschland akzeptieren, auch wenn sie im Grunde gar nicht mit der Idee einverstanden sind. Insbesondere da Deutschland im Hinblick auf Industrie und Technik einen sehr guten Ruf in Mexiko genießt, werden Vorgaben aus Deutschland als hierarchisch höher stehend betrachtet. Die Deutschen sind in den Augen der Mexikaner die »Chefs«. Das deutsche Unternehmen wird als bestimmende, lenkende Instanz wahrgenommen. Und in Mexiko ist es absolut undenkbar, dem hierarchisch Höhergestellten zu widersprechen. In dieser Situation denken die Mexikaner vermutlich: »Das Stammhaus in Deutschland hat diesen Vorschlag gemacht, also führen wir ihn nach dessen Vorstellungen aus.« 69

Außerdem deutet diese Situation das mangelnde Selbstbewusstsein der Mexikaner an, die ein bisschen dazu neigen, die Leistungen anderer (Länder) überzubewerten und ihre eigene Leistung kleiner zu machen, als sie eigentlich ist. Dieses Minderwertigkeitsgefühl hat seine Ursprünge in der jahrhundertelangen Unterdrückung durch die Spanier. Mit dieser Erklärung haben Sie den Grund für das in der Situation beschriebene Verhalten genau erfasst. Erläuterung zu d): Diese Deutung spiegelt einen häufigen Fehler von Deutschen im Verständnis der mexikanischen Kultur wider. Mexikaner geben nicht gern die Verantwortung für Aufgaben an andere ab, vielmehr haben es mexikanische Mitarbeiter nicht gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Denn in Mexiko herrscht ein großes Hierarchiegefälle, das vorsieht, dass der Vorgesetzte zwar Aufgaben verteilt, aber für deren Erledigung die volle Verantwortung trägt. Diese Antwort trifft also nicht zu.

Lösungsstrategie »Ihr werdet hier nicht fürs Denken bezahlt, sondern fürs Arbeiten.« (»No les pagamos por pensar sino por trabajar.«) Dieses Sprichwort charakterisiert am treffendsten das Hierarchiedenken, das im heutigen Mexiko vorherrschend ist. Mexikaner sind daran gewöhnt, Aufgaben zugeteilt zu bekommen, die sie auszuführen haben. Eigene Vorschläge und Ideen einbringen zu dürfen oder zu sollen ist ihnen unbekannt. In Mexiko trifft allein der Vorgesetzte Entscheidungen. So berichtet eine deutsche Führungskraft, dass sie einmal ein Meeting anberaumt hat, um Vorschläge für die Optimierung des Verkaufs von altem Vorratsvermögen zu sammeln. Von ihren mexikanischen Kollegen kam jedoch nicht ein einziger Vorschlag. Auch zu ihren Ideen kam weder ein kritischer Einwand noch ein Signal des Einverständnisses. Während Ihres beruflichen Aufenthalts in Mexiko müssen Sie 70

damit rechnen, dass Sie auf diese Hierarchieorientierung stoßen. Ausgehend von dieser Situation sehen Sie, dass Sie Geduld und Verständnis dafür aufbringen müssen. Zurück zur Situation: Wenn Herbert mit dem Vorschlag aus Deutschland selbst nicht einverstanden ist, sollte er seine Mitarbeiter zusammenrufen. Zunächst ist es wichtig, sie zu loben, ihre Kompetenz und ihre Erfahrung herauszustellen. Anschließend kann er versuchen, ihre Meinung über den Vorschlag aus Deutschland einzuholen. Sie werden sicher keine direkte Kritik üben, aber wenn Herbert gut zuhört, kann er womöglich »zwischen den Zeilen« hören, was sie denken und wie sie vorgehen möchten. Wenn er seine Mitarbeiter nicht fragt, kann es sein, dass sie zwar den Vorschlag ohne Widerworte annehmen, aber ihre Arbeitsmotivation verloren geht. Generell ist in ähnlichen Situationen zu empfehlen, bei den Mexikanern stets noch einmal nachzuhaken, ob sie dieses oder jenes wirklich als sinnvoll ansehen. Gegebenenfalls können Sie den jeweiligen Mexikaner auch bitten, die Vorgehensweise kritisch zu hinterfragen. In derartigen Situationen gilt es, die Mexikaner zu motivieren, ihre Meinung zu äußern, indem man ihnen ein Bewusstsein darüber ermöglicht, was sie mit ihrer Meinungsäußerung gewinnen können und dass diese keine negativen Konsequenzen hat.

Beispiel 12: Das Kritikgespräch Situation Lothar ist unzufrieden mit seinem Mitarbeiter Gerardo, weil dieser versäumt hat, einen Bericht fertig zu stellen, der nach Deutschland an das Stammhaus geschickt werden muss. Also bittet Lothar Gerardo zu sich und spricht ihn auf sein Verschulden an. Gerardo versucht eine Ausrede zu finden, er hätte noch etwas anderes zu tun gehabt. Lothar meint, man hätte ihn informieren müssen, dass der Bericht wegen einer anderen Angelegenheit nicht fertig gestellt werden konnte. Er bittet Gerardo, diesen Be71

richt erneut zu bearbeiten. Jetzt bekommt er das Ergebnis sehr schnell, ist aber unzufrieden damit: Es hat nicht die Qualität, die er erwartet. Erneut bittet er Gerardo zu sich und sagt ihm, dass der Bericht unsorgfältig, falsch und schlecht gemacht sei. Daraufhin sagt Gerardo, er habe das Beste gemacht und er wolle immer nur das Beste machen, er habe doch so viel anderes gut gemacht. In den folgenden Wochen bemerkt Lothar, dass Gerardo unmotiviert ist und ihre Vertrauensbeziehung belastet ist. Können Sie sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Gerardo ist mit der Erstellung des Berichts überfordert.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Gerardo hat sehr viel zu tun und ist verärgert darüber, dass sein Chef das nicht erkennt.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Das Verhältnis von Gerardo und seinem Chef war schon vorher belastet, sodass Gerardo seine Aufgaben nur halbherzig erledigt.

sehr zutreffend

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eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Gerardo versteht nicht, was er falsch gemacht hat. Er ist brüskiert über die Kritik, die an ihn herangetragen wird.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): In Mexiko ist es tatsächlich so, dass man versucht, es zu vertuschen, wenn man etwas nicht beherrscht oder weiß. So ist Gerardo vielleicht mit der Erstellung des Berichts überfordert und versucht, diese Aufgabe hinauszuschieben. Sein Unvermögen mag er aber keinesfalls preisgeben. Als der Druck schließlich sehr hoch ist, erledigt er die Arbeit schnell und oberflächlich, anstatt sich zu bemühen. Diese Antwort macht zwar auf einen nicht unbedeutenden Aspekt aufmerksam, liefert jedoch keine Erklärung dafür, dass die Vertrauensbeziehung zwischen Lothar und Gerardo beschädigt ist. Erläuterung zu b): Es könnte sein, dass Gerardo eine Vielzahl an Aufgaben zu erledigen hat, eventuell auch solche, die Priorität gegenüber dem Bericht haben. Gerardo geht hier davon aus, dass sein Chef einen Überblick über die Aufgaben seiner Mitarbeiter hat. Das ist in Mexiko üblich. Gerardo versteht wahrscheinlich gar nicht, was er falsch gemacht hat. Schließlich hat er nicht nur diesen einen Bericht zu schreiben, und das müsste sein Chef doch wissen. Er kommt gar nicht auf die Idee, ihm das mitzuteilen, weil ein Mitarbeiter in Mexiko nie bei seinem Vorgesetzten nachfragt. Vielmehr ist ein 73

Mitarbeiter in Mexiko wegen der hierarchischen Ordnung immer davon überzeugt, dass sein Chef alles unter Kontrolle hat, für alle Probleme eine Lösung kennt und über alles informiert ist. Nebenbei bemerkt gibt es in Mexiko das Sprichwort: »Was möchtest du? Schnelligkeit oder Qualität?«. Der Deutsche wollte aus Gerardos Sicht Schnelligkeit. Gerardo hat sehr viel zu tun und in seinen Augen kann von ihm nicht verlangt werden, dass er dann alles perfekt macht. Auch dieser Aspekt ist durchaus maßgeblich, dennoch erklärt eine andere Antwort Gerardos Reaktion noch treffender. Erläuterung zu c): Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Beziehung zwischen Gerardo und Lothar schon vorher belastet war. Dabei handelt es sich lediglich um eine Vermutung. Diese Alternative ist als nicht zutreffend einzustufen. Erläuterung zu d): Das Äußern von Kritik ist in Mexiko nicht gut angesehen und kann sogar eine Vertrauensbeziehung zerstören. Beim direkten Ansprechen fühlen sich Mexikaner nicht wohl und mehr noch: Sie sind brüskiert. Gerardo hat aus seiner Sicht das Beste getan. Er kann nicht begreifen, warum Lothar ihm derart begegnet, da er doch vieles andere so gut gemacht hat. Die Kritik von Lothar verletzt Gerardo zutiefst und führt bei ihm zum Motivationsverlust. Es kommt zu einem Bruch im persönlichen Verhältnis zwischen ihm und seinem Chef. Das Kernproblem liegt darin, dass Gerardo zwei Mal Kritik erntet. Als er nach der ersten Rüge den Bericht schnell fertig stellt, weil es anscheinend eilt, ist er enttäuscht, dass er statt einem Lob für die zügige Bearbeitung nun noch einmal kritisiert wird. Überdies wollen Mexikaner primär als Menschen und nicht als Mitarbeiter behandelt werden. Zeigt der Deutsche kein Interesse an den Gefühlen des Mexikaners oder an den Gründen, warum der Arbeitsauftrag nicht ordnungsgemäß erfüllt worden ist, verliert er den Respekt und die Bereitschaft des Mexikaners, sich für eine Aufgabe einzusetzen. Diese Antwort erklärt die Situation am besten. 74

Lösungsstrategie Der in Deutschland üblichen Direktheit steht eine stark ausgeprägte Indirektheit der Kommunikation in Mexiko gegenüber, besonders im Umgang mit Autoritäten. Gerade wenn negative Kritik geäußert wird, ist man sehr zurückhaltend und erwartet diese Zurückhaltung gleichermaßen vom Gegenüber. Generell sollte man in Mexiko vermeiden, negative Kritik zu üben. Wenn es aber notwendig ist, wie etwa in diesem Fall, sollte sie stets sehr vorsichtig geäußert werden. Ein wichtiges Prinzip ist dabei, vor einer Kritik zunächst einmal die guten Ergebnisse und das Positive hervorzuheben. So hätte Lothar Gerardo zwar kritisieren können, aber er hätte ihn vorher für die anderen Aufgaben, die er ordentlich erledigt hat, loben müssen. Er hätte beispielsweise sagen können: »Das war alles schon sehr gut, aber wenn du jetzt noch dieses und jenes machen würdest, wäre es perfekt.« Das Lob spielt eine zentrale Rolle im mexikanischen Hierarchieverhältnis. Loben Sie Ihre Mitarbeiter! Lob ist in jedem Land wichtig – in Mexiko hat es jedoch einen besonders hohen Stellenwert, da alle Prozesse nach streng patriarchalischem Muster ablaufen. Idealerweise hätte Lothar Gerardo genau nach dessen anderen Aufgaben fragen sollen und eventuell diese Arbeit an andere Mitarbeiter delegieren sollen, um Freiraum für den Bericht zu schaffen. Und was in Mexiko sehr bedeutsam ist: Lothar hätte Gerardo bei der Erteilung des Arbeitsauftrags fragen sollen, ob er weiß, wie der Bericht anzufertigen ist.

Beispiel 13: Der kranke Maschinenführer Situation Stefan ist sehr verärgert, als er eines Nachmittags in die Fabrikhalle kommt und feststellt, dass die Arbeiter an einer bestimmten Maschine den ganzen Tag lang noch nichts getan haben. Mit der Anschuldigung konfrontiert, rechtfertigen sie sich damit, dass der Maschinenführer krank sei. 75

Was mag der Grund für das Verhalten der mexikanischen Arbeiter sein? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Mexikaner sind es gewohnt, bei der Arbeit sehr eng geführt, angeleitet und kontrolliert zu werden. Ohne den Maschinenführer wussten sie nicht, was sie tun sollen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Arbeiter wurden von niemandem zur Arbeit aufgefordert, selbstständiges Arbeiten ist mit der Übernahme von Verantwortung verbunden. Also nutzten sie die Gelegenheit, um zu reden, anstatt zu arbeiten. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Der Maschinenführer ist der Einzige, der die Maschine kennt und mit ihr umzugehen weiß. Vielleicht hat nur er Zugang zu Schlüsseln oder anderen Dingen, die benötigt werden, um die Maschine zu starten. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Hierarchien und Zuständigkeiten sind in Mexiko etwas chaotischer. Deshalb ist vorher nie aufgefallen, dass dem Maschinenführer keine Vertretung zugeteilt ist. sehr zutreffend

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eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Insbesondere Menschen auf unteren Hierarchieebenen sind es in Mexiko gewohnt, eng geführt und angeleitet zu werden. Im Krankheitsfall des Maschinenführers warten die Arbeiter darauf, dass das von einer Person höheren Ranges bemerkt wird und sie von dieser Arbeitsanweisungen bekommen. Mit dieser Antwort haben Sie den Hauptgrund getroffen. Erläuterung zu b): Diese Antwort ist nicht gleich von der Hand zu weisen, da hier ein wichtiger Aspekt angesprochen wird. Tatsächlich ist das Ausbildungsniveau niedriger und auch das selbstständige Arbeiten in Mexiko geringer ausgeprägt als in Deutschland. Selbstständiges Arbeiten ist immer mit einem Risiko verbunden, da es Verantwortung für mögliche Fehler mit sich bringt. Erläuterung zu c): Es ist recht unwahrscheinlich, dass wirklich niemand weiß, wie man mit der Maschine umgeht, da alle tagtäglich mit ihr arbeiten. Diese Deutung erklärt die Situation nicht. Erläuterung zu d): Auch wenn vielleicht in diesem Fall die Vertretung für den Maschinenführer nicht geregelt war, sind Hierarchien in Mexiko im Allgemeinen sehr klar festgelegt. Diese Antwort trifft nicht zu.

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Lösungsstrategie Wenn Sie in Mexiko arbeiten, sollten Sie in jedem Fall enge Kontakte zu Ihren Mitarbeitern aufbauen und pflegen, damit Sie schnell informiert werden, wenn etwas nicht reibungslos verläuft oder wenn Abläufe gestört sind. Dadurch könnte einer solchen oder ähnlichen Situation vorgebeugt werden. Eine weitere Überlegung, die für diese spezifische Situation angeführt werden könnte, wäre eine weitere Hierarchieebene einzurichten, die stellvertretende Zuständigkeiten regelt. Über die sehr stark ausgeprägten Hierarchieverhältnisse in Mexiko müssen Sie sich jederzeit bewusst sein. Sie müssen stets bedenken, dass in Mexiko klare Anweisungen von oben nach unten gegeben werden und mexikanische Mitarbeiter das auch von ihrem Vorgesetzten erwarten. Sie vermeiden es in der Regel, bei plötzlichen Änderungen, die vielleicht eine gewisse Flexibilität in der Hierarchie erfordern, Verantwortung zu übernehmen. Im Gegenzug wird von den Mitarbeitern bedingungslose Loyalität erwartet.

Kulturelle Verankerung von »Hierarchieorientierung« Dieser Kulturstandard beschreibt den Umgang mit Autoritäten. Mexikaner akzeptieren ein großes Machtgefälle. Entscheidungen verlaufen nach patriarchalischem Muster. Der Chef verteilt die Aufgaben und trägt die volle Verantwortung, wenn Fehler auftreten. Aufgaben werden in Mexiko von oben nach unten delegiert und die von oben gegebenen Anweisungen werden von untergeordneten Mitarbeitern nicht nur akzeptiert, sondern auch erwartet. Das hängt auch damit zusammen, dass die Mitarbeiter oft mangelhaft ausgebildet sind. So kann man schon einmal von einem mexikanischen Vorgesetzten hören: »Ihr werdet hier nicht fürs Denken bezahlt, sondern fürs Arbeiten.« Ansonsten ist das Verhältnis von Vorgesetztem und Mitarbeiter durch lockere Höflichkeit geprägt. Das kann von Deutschen 78

leicht falsch interpretiert werden, die einen oftmals kühlen, respektvollen und distanzierten Umgang mit dem Chef gewöhnt sind, der ein offensichtlich bestehendes Hierarchiegefälle leichter erkennen lässt. Auch bei geschäftlichen Verhandlungen ist das stark ausgeprägte Hierarchiedenken der Mexikaner zu berücksichtigen. Verhandlungen mit einem nicht entscheidungsbefugten Angestellten zu führen, ist reine Zeitverschwendung. Das Verhandlungsgespräch muss in Mexiko immer mit dem Entscheidungsträger selbst geführt werden, während es in Deutschland durchaus üblich ist, dass Entscheidungen auf Basis eines schriftlichen oder mündlichen Berichts des Mitarbeiters getroffen werden. Eine ausgeprägte Machtstruktur lässt sich auch in der mexikanischen Familie finden. Mexikaner lernen bereits im Kindesalter, sich nach anderen zu richten und in ihren Entscheidungen die Familie zu berücksichtigen. Zudem hat die Familie immer ein Oberhaupt, gegenüber dem sie Loyalität zeigt, das sie gegen äußere Einflüsse schützt und ihr Überleben sichert. Die Akzeptanz von Macht-, Autoritäts- und Hierarchiegefälle sowie der patriarchalische Führungsstil lassen einen historischen Ursprung vermuten. Schon zur Zeit der indigenen Hochkulturen war die Machtfülle der Oberen sehr groß; der Rang in der Gesellschaftshierarchie und das Ausmaß an Macht wurden immer gezeigt. Bei den Azteken gab es Gesetze, die beispielsweise das Tragen von Schmuckstücken für jede Gesellschaftsschicht regelten. Auch die Haciendas während der spanischen Kolonialzeit wiesen sehr patriarchalische Strukturen auf.

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Themenbereich 5: »Repräsentationsorientierung (Buena Presencia)«

Beispiel 14: Das Konzert Situation In Guadalajara findet anlässlich der jährlichen Buchmesse ein Konzert der sehr berühmten kubanischen Musikergruppe Buena Vista Social Club statt. Christina möchte gern mit ihren mexikanischen Freundinnen dieses Konzert besuchen, das auf einem öffentlichen Platz stattfindet und kostenlos ist. Ihre Freundinnen willigen ein, denn sie möchten die Gruppe auch sehen. Sie bestehen jedoch darauf, zu der Vorstellung in einem angesehenen Gebäude zu gehen, für die man einen sehr hohen Eintrittspreis zahlen muss. Wie kann man diesen Wunsch der mexikanischen Freundinnen erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) In Mexiko ist die Kriminalitätsrate sehr hoch. Da bei solchen Festen Menschen der verschiedensten gesellschaftlichen Klassen auf sehr engem Raum zusammenkommen, ist die Gefahr, 81

überfallen zu werden, dort sehr groß. Deshalb möchten die Freundinnen die öffentliche Vorstellung meiden.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Es ist für Christinas Freundinnen sehr wichtig, sich von denen abzugrenzen, die nicht für das Konzert bezahlen können.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die Freundinnen wollen nicht nur das Konzert sehen, sondern auch selbst gesehen werden.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Das Konzert ist von einer sehr berühmten Gruppe. Christinas Freundinnen können nicht zum ersten Termin kommen und möchten deshalb unbedingt das zweite Konzert besuchen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Richtig ist, dass die Kriminalitätsrate in Mexiko sehr hoch ist. Insbesondere in den großen Städten werden Angehörige der oberen 82

Gesellschaftsschichten und westliche Ausländer immer wieder Opfer von Überfällen. Dennoch ist nicht anzunehmen, dass die Freundinnen aus diesem Grund auf eine wichtige Veranstaltung verzichten. Erläuterung zu b): Das Hierarchiedenken, auch in Bezug auf gesellschaftliche Klassen, ist stark ausgeprägt in der mexikanischen Gesellschaft. Es findet eine starke Abschottung der verschiedenen Schichten statt. Ein wichtiger Aspekt zur Beantwortung der Frage fehlt jedoch in dieser Antwort. Erläuterung zu c): Es ist nicht nur wichtig, welcher sozialen Klasse man angehört, sondern fast noch wichtiger, dies nach außen zu repräsentieren. Der Status wird durch bestimmte Statussymbole und Privilegien öffentlich gezeigt. Wichtig ist in diesem Beispiel demnach nicht nur, das Konzert zu sehen, sondern selbst gesehen zu werden, indem man an wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen teilnimmt. Wer sich die Preise für die teure Vorstellung leisten kann, möchte den Abend auch unter seinesgleichen genießen. Trotz des durchschnittlich deutlich niedrigeren Lebensstandards florieren in Mexiko Cafés und Restaurants, die sich an Europa und Nordamerika orientieren. Das Preisniveau in solchen Lokalitäten entspricht in etwa dem deutschen, was auch ein Hinweis darauf ist, dass die wohlhabendere Oberschicht sich gern dort aufhält. Das Gleiche gilt beispielsweise für Luxuskinos. Selbst bei der Corrida de toros, dem Stierkampf, der ein absolutes Volksereignis ist, haben die Reichen ihre eigenen Ränge, die nur sie sich leisten können. Diese Deutung erklärt die Situation am besten. Erläuterung zu d): Es ist nicht anzunehmen, dass die Freundinnen aus Zeitmangel nicht zu dem ersten Konzert gehen möchten. In der Regel ist die Zeiteinteilung in Mexiko viel flexibler, als das bei Deutschen der Fall ist. 83

Lösungsstrategie Die Trennung der Gesellschaftsschichten und das deutliche Zeigen der Unterschiede werden Sie als Ausländer nicht aufbrechen können, deshalb gilt es, diese nicht nur zu akzeptieren, sondern auch kennen und verstehen zu lernen. Als Europäer werden Sie in der Regel wesentlich mehr Berührungspunkte mit den besser gestellten Schichten haben, denn diese schicken ihre Kinder zum Beispiel auf ausländische Schulen und bekleiden in den Unternehmen die gehobenen Positionen. Damit umzugehen bedeutet, den Wünschen der Mexikaner in diesen Punkten nachzukommen, also im Fall von Christina, sich auch eine Karte für die kostenpflichtige Vorstellung zu kaufen, wenn sie das Konzert in Gesellschaft ihrer Freundinnen besuchen möchte.

Beispiel 15: Die schicke Sekretärin Situation Anja macht ein Praktikum im Chefsekretariat der mexikanischen Filiale eines deutschen Automobil-Unternehmens. Ihr fällt auf, dass ihre mexikanischen Kolleginnen sehr formell und schick gekleidet sind. In einer E-Mail an einen Freund in Deutschland bringt sie dies folgendermaßen zum Ausdruck: »Ich musste mein gesamtes erstes Monatsgehalt in Bürokleidung investieren, um nicht mehr von meinen Kolleginnen abfällig betrachtet zu werden. Obwohl sie im Vergleich zu mir viel weniger verdienen, sind sie immer makellos gekleidet.« Wie kann man das Kleidungsverhalten der mexikanischen Kolleginnen erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darun84

ter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) In der mexikanischen Gesellschaft wird sehr viel Wert auf das äußere Erscheinungsbild gelegt. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Mexikaner haben Angst, dass man sofort erkennt, aus welcher Schicht sie kommen. Deshalb investieren sie einen Großteil ihres Gehalts in Kleider. Sie möchten mehr darstellen, als sie eigentlich sind. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die mexikanischen Mitarbeiterinnen befürchten, ihre Arbeit an eine deutsche Sekretärin zu verlieren.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Mitarbeiter europäischer Unternehmen gehören in Mexiko einer höheren Gesellschaftsschicht an. Dies muss Anja nach Meinung ihrer mexikanischen Kolleginnen auch in ihrem Kleidungsstil berücksichtigen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative 85

durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): In Mexiko wird der eigene Status, beispielsweise durch die entsprechende Kleidung, nach außen sichtbar gemacht. Anja muss jedoch nicht befürchten, dass sie wegen ihres Kleidungsstils von den anderen nicht gemocht wird. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich selbst schlecht angezogen fühlte, eben weil in Mexiko viel mehr Wert auf die Kleidung gelegt wird als in Deutschland. Mit der Kleidung wird häufig die eigene Position repräsentiert. Sobald Personen eine Führungsposition besetzen, tragen die meisten zumindest eine Krawatte, wenn nicht sogar einen kompletten Anzug. Frauen tragen häufig Kostüme oder Röcke und Blusen. Jeans und T-Shirts werden Sie in beruflichen Zusammenhängen so gut wie nie finden. Auch auf Abendgesellschaften und in Diskotheken ist feststellbar, dass Mexikaner wesentlich mehr Wert auf Kleidung legen, als das in Deutschland üblich ist. Insbesondere Frauen der oberen Gesellschaftsschichten machen sich auch über Figurprobleme deutlich mehr Gedanken. Erläuterung zu b): Es ist sehr wichtig, repräsentativ aufzutreten, allerdings wird nicht unbedingt versucht, den anderen durch den Kleidungsstil zu suggerieren, man komme aus einer höheren Gesellschaftsschicht, als das tatsächlich der Fall ist. Erläuterung zu c): Die Arbeitsplätze sind zwar in Mexiko weniger abgesichert als beispielsweise in Deutschland. Dies ist jedoch in der geschilderten Situation nicht der Grund für das Verhalten der Mitarbeiterinnen. Mexikaner sind in der Regel ausgesprochen gastfreundlich und bringen Deutschen ein großes Interesse entgegen. 86

Erläuterung zu d): Es stimmt, dass der eigene Status nach außen repräsentiert wird. Anja gehört jedoch nicht aufgrund ihrer Tätigkeit bei diesem Unternehmen automatisch einer höheren sozialen Schicht an. Außerdem ist anzunehmen, dass Anja auch bisher einen Kleidungsstil hatte, der ihrer Stellung durchaus angemessen war. Diese Antwort ist eher nicht zutreffend.

Lösungsstrategie Für Anja wäre es am besten, ihren Kleidungsstil dem der Kolleginnen anzupassen. Wichtig ist, ordentlich und formell gekleidet zu sein, das muss aber nicht zwangsläufig teuer sein. Mexikaner kleiden sich normalerweise sehr gut und ziehen selten zwei Tage hintereinander dasselbe an. Sie kennen sich aber auch gut aus und wissen, wo sie ihre Kleidung zu relativ günstigen Preisen erhalten können. Anja sollte sich nach preiswerten Geschäften oder einem Straßenmarkt, einem so genannten Tianguis, erkundigen und dort schauen, ob sie sich entsprechend einkleiden kann.

Beispiel 16: Die Einladung Situation Andrea versucht, außer zu den Frauen der deutschen Kollegen ihres Mannes, noch zu anderen Frauen Kontakte aufzubauen. Aus diesem Grund lädt sie mehrmals die Mütter der Kinder aus dem Kindergarten ihres Sohnes zu sich nach Hause ein. Nach einiger Zeit ist sie jedoch entmutigt: Obwohl die Frauen ihre Einladungen zu genießen scheinen und immer wieder betonen, dass Andrea sie auch einmal besuchen müsse, hat sie noch nie eine Gegeneinladung bekommen. Warum laden die Frauen Andrea nicht ein? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. 87

– Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) In Mexiko ist es üblich, Bekannten einfach einen spontanen Besuch abzustatten und für private Besuche nicht unbedingt vorher einen Termin auszumachen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Häuser ausländischer Familien sind in der Regel luxuriöser und besser ausgestattet. Die Frauen befürchten, Andreas Ansprüche nicht erfüllen zu können. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die Frauen gehen davon aus, dass Andrea von sich aus ansprechen würde, wenn sie eine der Frauen zu Hause besuchen wollte. Freundschaften außerhalb des familiären Umfelds sind in Mexiko eher unüblich.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Man trifft sich in Mexiko selten zu Hause, sondern eher an öffentlichen Orten, beispielsweise in Cafés. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. 88

– Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es wäre aus mexikanischer Sicht grob unhöflich, ohne vorherige Einladung oder Anmeldung in die Privatsphäre der Familie einzudringen. Dies ist in Mexiko guten Freunden und Familienmitgliedern vorbehalten. Es gibt jedoch eine bessere Deutung für diese Situation. Erläuterung zu b): Ausländer leben in der Regel in wohlhabenden Wohngegenden und besitzen einen höheren Lebensstandard als die meisten Mexikaner, mit denen sie im Alltag zu tun haben. Deswegen ist durchaus davon auszugehen, dass die Frauen den Vergleich der jeweiligen Wohn- und Lebenssituation scheuen, da sie vermeiden wollen, Einblick in ihre weniger guten Wohnverhältnisse zu geben. Sich mit Leuten zu umgeben, die den eigenen Verhältnissen entsprechen, ist sehr wichtig. Deshalb wird Statussymbolen wie beispielsweise der Wohngegend oder der Einrichtung des Hauses ein sehr großer Wert beigemessen. In vielen mexikanischen Haushalten kann man einen Bereich finden, der eigens zu Repräsentationszwecken eingerichtet ist, eine Art Empfangsbereich für Gäste. Der Alltag der Familien spielt sich an anderer Stelle ab. Der Empfangsbereich ist sehr formell eingerichtet und ist der einzige zugängliche Teil des Hauses, wenn man nicht zum engen Freundeskreis oder zur Familie gehört. Erläuterung zu c): Andrea könnte versuchen, bei einem Treffen mit nur einer Frau vorsichtig nachzufragen, ob sie sie einmal besuchen dürfe und welche Gründe es dafür gäbe, dass man sie nie einlade. Von einer direkten Nachfrage ist jedoch abzuraten, da die Frauen sich über89

rumpelt fühlen könnten und dies als sehr unhöflich empfinden würden. Diese Antwort ist eher nicht zutreffend. Erläuterung zu d): In Mexiko ist es üblich, sich zunächst, bis eine engere Freundschaft entstanden ist, an öffentlichen Orten zu treffen. Nach Hause laden Mexikaner meist nur gute Freunde ein, da sie befürchten, dass persönliche und familiäre Probleme dort ersichtlich werden. Wenn ein Paar beispielsweise Eheprobleme hat, kann das bei einem Treffen in der Öffentlichkeit besser verschwiegen werden.

Lösungsstrategie Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass der Weg, neue Freundschaften aufzubauen, in Mexiko nicht unbedingt über Einladungen in das eigene Zuhause führt, sondern dass diese im öffentlichen Raum bei gemeinsamen Unternehmungen oder Cafébesuchen wachsen können. Andrea könnte Vorschläge für Ausflüge machen, wenn sie nicht die Einzige sein will, die zu sich einlädt. Wichtig ist immer, die Privatsphäre der anderen zu akzeptieren und nicht unbedingt darauf zu bestehen, nach Hause eingeladen zu werden. In Mexiko wird wesentlich klarer als in Deutschland getrennt zwischen einem öffentlichen und einem privaten, sehr zurückgezogenen Bereich, der nur engsten Vertrauten zugänglich gemacht wird. Das Aufbauen von Freundschaften bedarf viel Geduld und Feingefühl. Freundeskreise haben in Mexiko nicht die gleiche Bedeutung wie in Deutschland. Das soziale Leben außerhalb der Arbeit findet hauptsächlich in der Familie statt.

Kulturelle Verankerung von »Repräsentationsorientierung (Buena Presencia)« Dieser Kulturstandard beschreibt, dass in Mexiko großer Wert auf das äußere Erscheinungsbild und das Auftreten in der Öffentlichkeit gelegt wird. Sowohl das eigene Aussehen als auch die Wir90

kung auf andere müssen dem eigenen Status entsprechen. Anhand seines Auftretens kann das Gegenüber eingeschätzt werden, und es erwartet auch, standesgemäß behandelt zu werden. Das Bedürfnis, die eigene Schichtzugehörigkeit zu repräsentieren, äußert sich beispielsweise im Kleidungsverhalten der Mexikaner. Sie sind deutlich formeller und schicker gekleidet, als man das aus Deutschland kennt. In Arbeitszusammenhängen ist der Status auch an den Büros und ihrer Einrichtung zu erkennen. Des Weiteren spielen Privilegien und Statussymbole eine wichtige Rolle, zum Beispiel Schmuck, Uhren und Autos. Wer es sich leisten kann, fährt etwa einen Geländewagen; auch sind die Autos stets sauber und poliert. Mexikaner fahren selbst sehr kurze Strecken mit dem Auto, damit niemand davon ausgeht, dass sie sich keines leisten können. Auch die Wohnverhältnisse müssen dem eigenen Status entsprechen. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob man in einem Viertel lebt, das von einem Pförtner und einer Mauer vor Kriminalität geschützt wird, oder ob dies lediglich durch regelmäßig patrouillierende Wachdienste passiert. Die Beschäftigung von Hauspersonal und dessen Anzahl repräsentiert die eigene Stellung in der Gesellschaft; so ist das Engagieren einer Muchacha, also eines Hausmädchens, weit verbreitet. Gut situierte Familien schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen, zum Beispiel ausländische Gymnasien. Fremdsprachenkenntnisse sind häufig ein Hinweis auf die Zugehörigkeit zu gehobeneren Schichten. Die Schichtzugehörigkeit setzt sich zusammen aus ethnischer Abstammung, Bildungsniveau und Reichtum. Je europäischer die Vorfahren waren, desto besser gestellt sind die jeweiligen Personen.

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Themenbereich 6: »Gegenwartsorientierung«

Beispiel 17: Die Reise Situation Mark ist schon seit einem Jahr sehr gut mit dem selbstständigen Anwalt Raúl befreundet. In den letzten Monaten hatte Raúl große Probleme bei seiner Arbeit und dadurch auch erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Ab und zu war er deswegen sogar auf die Hilfe von anderen angewiesen. Eines Tages erzählt Raúl freudig, dass ein wichtiger Kunde, der sehr lange Zeit schon säumig war, ihn nun endlich ausgezahlt hätte und sich somit auch seine finanziellen Schwierigkeiten gelöst hätten. Gleich darauf berichtet er, dass er von diesem Geld eine Reise nach Acapulco finanzieren will. Marc freut sich für seinen Freund, versteht jedoch nicht, warum dieser aus den Schwierigkeiten nicht gelernt hat und das Geld nicht für zukünftige Engpässe spart. Als er das anspricht, reagiert Raúl verständnislos. Er hat schließlich lange auf das Geld gewartet und sich die Reise also wirklich verdient. Er geht nicht weiter auf Marks Einwände ein, sondern leitet zu einem anderen Thema über. Wie kann man Raúls Verhalten erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

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Deutungen a) Eine Reise ist eine Art Statussymbol, anhand dessen Raúl den anderen demonstrieren möchte, dass es ihm jetzt wieder besser geht.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Für Raúl ist der Gedanke, das Geld zu sparen, abwegig und es erscheint ihm wichtiger, nach den Sorgen nun eine angenehme Zeit zu verbringen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Raúl erwartet wahrscheinlich noch andere wichtige Zahlungen, durch die er seine Kosten in der nächsten Zeit decken kann. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) In Mexiko bilden Freunde und Familie ein soziales Netzwerk: Wenn jemand in Not gerät, helfen alle zusammen. Deshalb braucht Raúl sich keine Sorgen um seine Zukunft zu machen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

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Bedeutungen Erläuterung zu a): Eine Reise nach Acapulco kann sich tatsächlich nicht jede mexikanische Familie leisten. Dennoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass Raúl die Reise mit der Absicht plant, andere zu beeindrucken. Wollte er wirklich imponieren, dann würde er sich ein sichtbares Statussymbol zulegen, beispielsweise ein Auto. Diese Antwort kann das Verhalten von Raúl nicht ausreichend erklären. Erläuterung zu b): Raúl hat sehr lange auf das Geld gewartet. Jetzt, da er es endlich hat, will er sich nicht weiter sorgen, sondern lieber die Zeit genießen. Er ist der Meinung, sich die Reise verdient zu haben. Anders als in Deutschland ist das Leben in Mexiko sehr viel stärker auf die Gegenwart und die aktuellen Gefühle ausgerichtet. Dieses Verhalten wird vor allem im Umgang mit Geld deutlich. Im Gegensatz zu Deutschland ist in der mexikanischen Gesellschaft fast keine Sparmentalität vorhanden. Wenn Geld verfügbar ist, wird es lieber ausgegeben. Das ist größtenteils auf die zeitweise sehr instabile wirtschaftliche Lage zurückzuführen, durch die die Menschen bis 1999 eine stetige Abwertung ihres Geldes erfahren haben. Demnach erscheint es ihnen sinnvoller, das Geld direkt auszugeben, als zu warten, bis es an Wert verliert. Trotz gelegentlicher Wertschwankungen ist der mexikanische Peso mittlerweile einigermaßen stabil, was jedoch nicht zu einer Änderung des Sparverhaltens geführt hat. Der allgemein lockere und unbedachte Umgang mit Geld ist auch der Grund dafür, dass die Gehälter fast immer 14-tägig ausgezahlt werden; an die unteren Arbeiterschichten teilweise sogar wöchentlich. Diese Antwort beschreibt das Verhalten von Raúl am besten. Erläuterung zu c): Es ist möglich, dass Raúl tatsächlich noch weitere säumige Kunden hat, deren Zahlungen er in nächster Zeit erwartet. Da er jedoch auch auf die letzte Zahlung sehr lange warten musste, ist es unwahrscheinlich, dass er den Eingang des Geldes so genau ein95

planen kann. Er ist selbst Mexikaner und wird einschätzen können, ob eine Zusage wirklich ernst gemeint ist oder eher als Ausrede benutzt wird, um einen weiteren Aufschub zu erreichen. Diese Antwort ist zu vage und nicht geeignet, um das Verhalten von Raúl zu erklären. Erläuterung zu d): In Mexiko gibt es keine sichere Unterstützung oder sonstige Hilfeleistungen von Seiten des Staates, die in Anspruch genommen werden können, wenn Menschen in Not geraten. Aus diesem Grund sind persönliche soziale Netzwerke – die Familie, der Freundeskreis und familiäre Bande, die durch Patenschaften geknüpft werden (Compadrazgo) – sehr wichtig und werden sehr gepflegt. Sie sind jedoch bei weitem nicht sicher genug, als dass Raúl es sich erlauben könnte, eine Notlage zu provozieren. Tatsächlich macht sich Raúl keine Sorgen um seine Zukunft und handelt eher unbedacht.

Lösungsstrategie Das Leben der Mexikaner findet in der Gegenwart statt und eine Ausrichtung auf die Zukunft, so wie wir es aus Deutschland kennen, ist kaum vorzufinden. Wenn man die Geschichte Mexikos näher betrachtet, kann man feststellen, dass in den präkolumbianischen Gesellschaften der Azteken und Mayas der Lauf und das Weiterbestehen der Welt fast gänzlich von göttlichen Fügungen abhängig schienen und die Menschen sich selbst nur sehr eingeschränkte Einflussmöglichkeiten auf ihre Zukunft zuschrieben. Im 20. Jahrhundert erschütterten zahlreiche Wirtschaftskrisen und politische Unruhen das Land. Lange Zeit prägten erhebliche soziale und vor allem finanzielle Unsicherheiten das Leben in Mexiko. Die Folgen davon lassen sich bis heute in vielen Denkund Verhaltensweisen beobachten. Um die geschilderte Situation zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass Mark einen Sozialstaat gewöhnt ist und ein starkes Sicherheitsbedürfnis entwickelt hat, das sich unter anderem darin äußert, dass er finanziell 96

für seine Zukunft vorsorgt. Solche Gedanken sind für Raúl keineswegs normal. Für ihn ist es wichtiger, das Leben zu genießen, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt, denn es ist nicht absehbar, ob sie morgen noch immer besteht. Deshalb ist die Reise nach Acapulco nach einer so langen Zeit finanzieller Schwierigkeiten für einen Mexikaner nur natürlich und verdient. Während es der deutschen Mentalität entspricht, sich für den nächsten Engpass vorzubereiten und ihn als wahrscheinlich anzusehen, herrscht in Mexiko eine sehr viel optimistischere Denkweise vor, in der keineswegs die nächste Katastrophe antizipiert wird, sondern das Glück des Augenblicks zählt.

Beispiel 18: Abend mit Freunden Situation Jakob trifft sich mit seinen Kollegen, um gemeinsam eine »Noche de Amigos«, einen Abend mit Freunden, zu verbringen. Seine Kollegen treffen sich dafür regelmäßig freitagabends, gehen zusammen essen und trinken und ziehen anschließend durch die Bars des Viertels. Der Abend beginnt wie immer mit einem ausführlichen Abendessen in einem angesagten Restaurant. Jakob bemerkt, dass es ein recht teures Restaurant ist und das Geld, das er bei sich hat, dafür nicht ausreichen wird. Er müsste zuerst zur Bank, hat aber seine Kreditkarte zu Hause gelassen. Er fragt daraufhin seinen Nachbarn, ob er ihm etwas Geld leihen kann. Im Gespräch stellt sich heraus, dass die meisten Anwesenden nicht genügend Geld dabei haben und keine oder in diesem Restaurant nicht gültige Karten bei sich tragen. Jakob schlägt vor, das Restaurant zu wechseln und lieber an einen billigeren Ort zu gehen oder irgendwie zu versuchen, Geld abzuheben. Seine Kollegen sind jedoch längst wieder mit anderen Themen beschäftigt und reagieren auch nicht auf seine wiederholten Einwände. Stattdessen bestellen sie die erste Runde Tequila und lassen es sich gut gehen. Warum kümmern sich die Kollegen nicht um Jakobs Einwände? 97

– Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Jakobs Kollegen kennen den Besitzer und es ist kein Problem, erst am nächsten Tag zu bezahlen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Kollegen möchten sich mit diesem Problem nicht auseinander setzen. Dafür wird Zeit sein, wenn sie tatsächlich zahlen müssen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die Kollegen wollen den Abend genießen und ihn sich nicht von solch einer Kleinigkeit verderben lassen. Für sie ist es wichtig, sich gut zu verstehen und eine gute Zeit miteinander zu verbringen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Die anderen Kollegen wissen, dass jemand Geburtstag hatte und sie alle einladen möchte. Deswegen machen sie sich keine Sorgen, sondern genießen den Abend.

sehr zutreffend

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eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Wenn sich die Kollegen schon häufiger in diesem Lokal getroffen haben, um ihre »Noche de Amigos« zu begehen, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch einen lockeren freundschaftlichen Kontakt zu dem Besitzer geknüpft haben. Es ist in Mexiko üblich, dass Bekanntschaften immer wieder durch einen freundlichen Plausch gestärkt werden. Dies gilt als Zeichen gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung. Mexikaner fühlen sich wohl, wenn sie einen großen Bekanntenkreis haben, vor allem, da sich solche Bekanntschaften zu einem anderen Zeitpunkt sicherlich als hilfreich erweisen werden. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Besitzer trotz allem darauf bestehen wird, dass die Gäste ihre Rechnung noch in dieser Nacht begleichen, und sich nicht darauf verlassen wird, dass dies am nächsten Tag geschieht. Wenn einer der Mitarbeiter so eng mit dem Besitzer befreundet wäre, dass dieser sich darauf einlässt, dann hätten sie Jakob sicher beruhigt. Diese Antwortalternative kann das Verhalten der Kollegen nicht ausreichend erklären. Erläuterung zu b): Die Arbeitskollegen sehen zwei Möglichkeiten: entweder einen schönen Abend zu verbringen oder sich diesen aufgrund des fehlenden Geldes entgehen zu lassen. Ähnliche Situationen, in denen Probleme erst einmal möglichst lange ignoriert werden und abgewartet wird, ob sie sich nicht irgendwie von allein lösen, werden Sie in Mexiko häufiger erleben. Erst wenn es wirklich akut 99

ist, lohnt es sich, sich damit auseinander zu setzen. Vorher bleibt man optimistisch und lebt den Augenblick. Erläuterung zu c): Die Tatsache, dass niemand genügend Geld dabei hat, um die Rechnung am Ende zu begleichen, scheint niemanden wirklich zu stören. Jakob ist der Einzige, der lieber sofort den Ort wechseln würde, um später keine Probleme zu bekommen. Für ihn ist es unverständlich, wie die anderen das Essen genießen und teuren Tequila bestellen können, ohne an die Probleme zu denken, die das fehlende Geld verursachen wird. Für Jakobs Mitarbeiter ist jedoch das Wichtigste, gemeinsam eine schöne Nacht zu verbringen und persönliche Bande zu vertiefen. Dass niemand genügend Geld dabei hat, um das Essen zu bezahlen, ist zwar ärgerlich, aber kein Grund, um sich die Laune verderben zu lassen. Auch hier zeigt sich deutlich die Gegenwartsbezogenheit der Mexikaner: Die zukünftigen Probleme werden so lange einfach vergessen, bis sie wirklich konkret sind. Erst wenn bezahlt werden muss, werden sich die Kollegen damit beschäftigen, aber jetzt ist Zeit zum Feiern und Ausgelassensein. Diese Antwort erklärt das Verhalten der Kollegen am besten. Erläuterung zu d): Wenn einer der Anwesenden tatsächlich die Rechnung übernehmen wollte, dann hätte Jakob dies auf seine Einwände hin mitgeteilt bekommen. Diese Antwort trifft nicht zu.

Lösungsstrategie Auch in dieser Situation steht die unterschiedliche zeitliche Orientierung in der deutschen und der mexikanischen Kultur im Vordergrund. Während Jakob sich Sorgen macht über das, was am Ende des Abends passieren wird, genießen seine Kollegen völlig unbekümmert den Augenblick und die momentane Ausgelassenheit. Sie werden sich erst Gedanken um das Geld machen, wenn es wirklich Zeit ist zu zahlen. In dieser Situation wäre es sehr unhöflich von Jakob, auf einer 100

sofortigen Lösung des Problems zu bestehen. Anstatt Unruhe zu stiften, ist es empfehlenswert, die Sache auf sich beruhen zu lassen und abzuwarten, was geschehen wird. Jakob sollte den Abend mit seinen Kollegen genießen, denn das ist der Sinn einer »Noche de Amigos«. Er kann darauf vertrauen, dass seine Kollegen eine für alle akzeptable Lösung des Problems finden werden, ohne viel Aufsehen zu erregen. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, ist es für die Mitarbeiter von Interesse, die Angelegenheit ruhig und höflich zu regeln, so dass niemand sein Gesicht verliert. Die gute Beziehung zueinander ist für alle von großem Interesse. Häufig kann man in solchen Situationen ein außerordentliches diplomatisches Geschick und viel Einfallsreichtum bei der Problembehebung beobachten.

Kulturelle Verankerung von »Gegenwartsorientierung« Dieser Kulturstandard beschreibt das Dominieren der momentanen Gefühle. Mexikaner leben im Hier und Jetzt und sehen von einer langfristigen Planung der Zukunft weitgehend ab. Da sie die Zukunft als sehr vage und unvorhersehbar ansehen, streben sie vor allem zeitlich nahe liegende Ziele an. Es ist wichtiger die Gegenwart zu genießen, als sich über das Morgen den Kopf zu zerbrechen. Dies ist an der Verwendung des mexikanischen Begriffs »Mañana« (Morgen) zu erkennen, der nur sehr selten wirklich »morgen« bedeutet, sondern sich in der Regel auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft bezieht. Auch das mexikanische Sprichwort »hoy por hoy« (heute für heute) spiegelt diese Denkweise wider. In Mexiko lautet die Devise: schnelle Gewinne zu machen und das Gewonnene schnell auszugeben. Im Gegensatz dazu wird in Deutschland das Erreichen von zukünftigen Zielen sehr hoch eingeschätzt und langfristig geplant. Es besteht die Überzeugung, dass jeder selbst für sein Leben und somit auch für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich ist und dass der Einzelne auf die Zukunft sehr wohl gestaltend Einfluss neh101

men kann. Deutsche sind stets bemüht, Kontrolle über die Dinge zu haben und Unsicherheit und Ungewissheit auf ein Minimum zu reduzieren. Zweckgebundene und rationale Gedanken sind wichtiger als das momentane Gefühl. Mexikaner hingegen sehen ihre Kontroll- und Einflussmöglichkeiten als sehr begrenzt an. Sie haben sich an die Ungewissheit der Zukunft angepasst und lassen die Dinge auf sich zukommen. Während Mexikaner den Deutschen nachlässig oder gar fatalistisch erscheinen, so wirkt das Verhalten der Deutschen auf die Mexikaner überbesorgt und pessimistisch. Die Einstellung der Mexikaner ist aus der Unvorhersehbarkeit der ökonomischen und politischen Situation heraus zu erklären. Historische Erfahrungen mit wirtschaftlicher Instabilität – beispielsweise die Ölkrise und die stetige Inflation bis 1999 – prägten die Einstellung zum Sparen. Außerdem ist ein Großteil der Bevölkerung nur in sehr begrenztem Ausmaß in der Lage, Ersparnisse zu bilden. Im Vordergrund steht die tägliche Sicherstellung des zum Leben Notwendigen. Zudem sind gerade die armen Bevölkerungsschichten Mexikos in starkem Ausmaß von Naturgewalten wie beispielsweise Unwettern und Erdbeben betroffen. Die beschriebenen Verhaltensweisen der Mexikaner lassen sich auch aus der Geschichte des Landes heraus erklären. Die Azteken pflegten ein zyklisches und apokalyptisches Weltbild, in dem die Welt analog zur Natur ständig neu geboren wird, wächst, ihre Blütezeit erreicht, welkt und letztendlich stirbt. Aus dem Glauben an die allgegenwärtige Macht der Götter, die über den Lauf der Welt und das Fortbestehen des Lebens entschieden, entwickelte sich in der Bevölkerung Fatalismus, Resignation und Abhängigkeit, ein Gefühl von Ohnmacht, das eigene Leben nicht selbst gestalten und Verantwortung übernehmen zu können. Die gleichen Strömungen sind auch in der Kultur der Maya zu finden, die ihr Schicksal von mythischen Sternen und rätselhaften Planeten bestimmt sahen. Der Mensch war Spielball von Glück und Pech, aber niemals in der Lage, sein Schicksal zu beeinflussen. Auch in der Kolonialzeit wurde der mexikanischen Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung weitestgehend abgesprochen und ihre Zukunft von den Besatzern abhängig gemacht. 102

Heutzutage findet in der mexikanischen Gesellschaft ein Wandel statt: Vor allem in den gehobenen Bildungsschichten werden langfristige Planungen und Ziele zunehmend wichtiger und es wird auch finanzielle Vorsorge getroffen. Diese Strömungen beziehen sich jedoch nur auf relativ kleine Gesellschaftsgruppen, während die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin ein sehr geringes Planungsverhalten zeigt.

103

Themenbereich 7: »Polychrones Zeitverständnis«

Beispiel 19: Die Besprechung Situation Christof hat um 14 Uhr eine Besprechung mit einem mexikanischen Geschäftspartner. Der Treffpunkt liegt mit dem Auto etwa eine viertel Stunde von seinem Büro entfernt. Er fährt früh los, merkt aber bald, dass er nicht rechtzeitig ankommen wird, weil der Verkehr so chaotisch ist. Er wird nervös und fühlt sich richtig unwohl, weil er nicht pünktlich eintreffen wird. Schließlich kommt er um 14.15 Uhr an und ist zu seiner Überraschung der Erste. Sein Geschäftspartner trifft um kurz vor drei ein, ohne auch nur ein Wort der Entschuldigung hervorzubringen. Können Sie erklären, warum sich der Geschäftspartner nicht entschuldigt? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Mexikaner rechnen automatisch mit Verspätungen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

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b) Terminabsprachen sind in Mexiko nur Vorschläge und gelten nicht als verbindlich.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Mit seiner Verspätung möchte der Geschäftspartner verhindern, dass bei Christof der Eindruck entsteht, er hätte in seinem Job nicht viel zu tun. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Es ist in Mexiko absolut unüblich, sich für etwas zu entschuldigen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): In Mexiko-Stadt verbringt man sehr viel Zeit im Auto. Der Verkehr in dieser Stadt ist absolut chaotisch und Zeit raubend. Diese Erfahrung werden Sie selbst machen, wenn Sie einmal dort sind. So verhindern die mexikanischen Verkehrsverhältnisse oftmals das pünktliche Erscheinen an einem bestimmten Ort. Trotzdem gibt es noch eine andere Antwortalternative, die das Verhalten des Geschäftspartners besser erklärt. 106

Erläuterung zu b): Pünktlichkeit wird in Mexiko sehr klein geschrieben, es gibt sie praktisch nicht. Eine Verspätung von einer Stunde liegt durchaus im Rahmen des Akzeptablen und bedarf keiner besonderen Entschuldigung oder Erklärung. Da man in Mexiko fast immer später als abgesprochen zu Terminen erscheint, ist man es nicht gewöhnt, sich jedes Mal dafür zu entschuldigen. Vielmehr ist es sehr ungewöhnlich, immer auf die Minute pünktlich zu sein. Ist Pünktlichkeit erwünscht, so wird das ausdrücklich angesprochen. Auf schriftlichen Einladungen findet man in diesem Fall den Zusatz »en punto« (pünktlich). So wie Deutsche die Unpünktlichkeit der Mexikaner nicht begreifen können, so ist Pünktlichkeit im deutschen Sinn für Mexikaner unverständlich. Unpünktliches Erscheinen wird nicht, wie etwa in Deutschland, als Respektlosigkeit oder Desinteresse empfunden. Das Zeitverständnis in Mexiko ist ein vollkommen anderes als in Deutschland: Mexikaner lehnen eine »Sklave-der-Uhr-Haltung« ab und betrachten Zeit stattdessen als fluide und flexibel. Erläuterung zu c): Zwar kommt es tatsächlich häufig vor, dass die eigene Position in der Hierarchie durch bestimmte Verhaltensweisen hervorgehoben werden soll; es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das der Grund für die fehlende Entschuldigung des Geschäftspartners in der geschilderten Situation ist. Diese Antwort ist nicht zutreffend. Erläuterung zu d): Diese Antwort trifft nicht zu. Entschuldigungen sind ein fester Bestandteil der mexikanischen Kultur. Bei Ihrem Aufenthalt werden Sie häufig erleben, dass Mexikaner sich für sehr viel mehr Dinge entschuldigen, als das nach deutschem Empfinden notwendig wäre. Sich absichtlich nicht zu entschuldigen, würde auch nicht mit der sehr stark ausgeprägten Höflichkeit im zwischenmenschlichen Umgang in diesem Land in Einklang stehen.

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Lösungsstrategie Deutsche müssen bei Terminen, auch wenn es sich um geschäftliche Verabredungen handelt, immer bedenken, dass die vereinbarte Zeit keine große Verpflichtung für Mexikaner darstellt. Um unnötige Wartezeiten zu verhindern oder zu minimieren, ist es empfehlenswert, eine möglichst genaue Absprache zu treffen und mehrmals auf den Termin hinzuweisen. Außerdem ist es ratsam, für den betreffenden Tag keine weiteren wichtigen Termine zu vereinbaren, um Zeitdruck gar nicht erst entstehen zu lassen. Sinnvoll ist eine offene Kommunikation darüber, ob man sich nach deutscher oder mexikanischer Zeit trifft. Doch selbst das garantiert nicht das pünktliche Erscheinen der Mexikaner. Christof verhält sich richtig, wenn er seinen Geschäftspartner nicht auf die Verspätung anspricht. Es wäre nutzlos, in Mexiko auf absolute Pünktlichkeit zu bestehen, da dies nur Druck und eine schlechte, gespannte Atmosphäre im zwischenmenschlichen Umgang zur Folge hätte, die Wahrscheinlichkeit, damit die Verhaltensweisen der Mexikaner zu ändern, jedoch sehr gering ist. In Mexiko sollten Sie ein lockeres Verständnis von Zeit anstreben, Termine nicht so genau nehmen und vor allem nicht sauer werden, wenn jemand zu spät kommt. Sonst machen Sie sich das Leben nur unnötig schwer.

Beispiel 20: Späte Gäste Situation Henrik lädt seine mexikanischen Arbeitskollegen zum Abendessen zu sich nach Hause ein. Das Essen soll um 20.30 Uhr beginnen. Henrik bereitet alles vor, kocht, so dass das Essen rechtzeitig fertig sein wird. Um 20.30 Uhr ist jedoch keiner der Gäste anwesend. Die Ersten treffen um neun Uhr ein, die Letzten um halb elf. Henrik ist sauer und enttäuscht, weil er den Kollegen doch gesagt hat, dass es ein Abendessen geben wird. Er beschließt, die zuletzt Eingetroffenen darauf anzusprechen. Sie reagieren er108

staunt und erklären ihm, dass sie noch auf das Kindermädchen hätten warten müssen. Wie kann man das Verhalten von Henriks Gästen erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) In Mexiko wird keine Pünktlichkeit erwartet.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Es ist in Mexiko üblich, bei einer Einladung vorher zu Hause zu essen, da man sonst den Eindruck vermitteln würde, sich nicht genügend Essen leisten zu können.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die Kollegen von Henrik sind verunsichert, weil eine Einladung nach Hause für Mexikaner schon recht intim ist. Deshalb kommen sie lieber etwas später, wenn schon mehrere Gäste da sind. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Es gilt in Mexiko als unhöflich, pünktlich zu einem Termin zu erscheinen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

109

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen Erläuterung zu a): Mexikaner haben ein anderes Verhältnis zur Zeit: Sie gehen tatsächlich nur äußerst selten davon aus, dass ein festgelegter Zeitpunkt strikt eingehalten werden muss. Mit dieser Antwort liegen Sie also nicht ganz falsch. In der vorliegenden Situation ist jedoch ein weiterer wichtiger Aspekt zu beachten, der in einer anderen Antwortalternative enthalten ist. Erläuterung zu b): Mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. Bei privaten Einladungen, in denen ein Essen inbegriffen ist, muss man sich deswegen keine Sorgen machen. Im Gegenteil wird es sogar eher als unhöflich angesehen, wenn man nicht hungrig ist und nur wenig isst. In öffentlichen Lokalen hingegen ist es durchaus üblich, einen kleinen Rest auf dem Teller zurückzulassen. Erläuterung zu c): Es ist tatsächlich etwas ungewöhnlich, Arbeitskollegen zu sich nach Hause einzuladen. Mexikaner sind da etwas zurückhaltender und würden sich eher in öffentlichen Lokalen treffen. Wenn sie allerdings von Henrik eingeladen werden, dann werden sie sich darüber freuen und gern kommen. Die Verspätung ist demnach kein Hinweis darauf, dass es den Kollegen peinlich ist, Henrik zu Hause zu besuchen. Diese Deutung trifft nicht zu. Erläuterung zu d): Bei privaten Einladungen in Mexiko gilt selten die Uhrzeit, die in der Einladung angegeben wird, sondern man rechnet ungefähr 110

eine halbe bis eine Stunde hinzu. Viele Deutsche berichten von unangenehmen Erlebnissen, in denen sie pünktlich zu einer Einladung erschienen und die Gastgeber in Verlegenheit brachten, die noch mitten in Vorbereitungen steckten. Um solche Situationen zu vermeiden, ist es empfehlenswert, sich an die ortsüblichen ungeschriebenen Regeln zu halten und später einzutreffen. Mit dieser Antwort liegen Sie richtig.

Lösungsstrategie Lädt man in Mexiko Freunde oder Kollegen zum Abendessen ein, so ist es ratsam, entweder mit dem Kochen erst zu beginnen, wenn die Ersten eintreffen, oder das Essen schnell noch einmal aufzuwärmen. Die später eintreffenden Gäste sind normalerweise nicht sauer, wenn man mit dem Essen schon begonnen hat. Schließlich geht es den Mexikanern weder um das Essen noch um Pünktlichkeit, sondern um das Zusammensein (siehe Kulturstandard Kollektivismus). Auch hier besteht die Möglichkeit, beim Einladen der Mexikaner Metakommunikation zu betreiben. So könnte Henrik etwa auf humorvolle Weise seinen Kollegen sagen »Um 21.30 Uhr deutsche Zeit bei mir«. Zudem ist es in Mexiko üblich, dass man sich nicht sofort an den Tisch setzt, sondern erst einmal ein paar Antojitos (kleine Speisen und Knabbersachen) und einen Aperitif im Wohnzimmer oder an der Bar zu sich nimmt. Das ist sehr informell und in dieser Zeit (etwa eine Stunde) trifft auch der Großteil der Gäste ein. Erst dann setzt man sich gemeinsam zum Essen. Henrik hätte seine Gäste in dieser Situation lieber nicht auf ihr spätes Eintreffen ansprechen sollen. Auf seine direkte Frage, die auf Mexikaner sehr unhöflich und fast wie ein persönlicher Angriff wirkt, gebietet es ihre Höflichkeit, eine kleine Ausrede zu erfinden. Stattdessen sollte sich Henrik daran gewöhnen, dass es immer Gäste gibt, die zu spät kommen, und lieber die Zeit mit den schon anwesenden Personen genießen. Auch wenn Henrik eingeladen wird, sollte er immer etwas später kommen, um den Gastgeber nicht in Verlegenheit zu bringen. 111

Um ganz sicherzugehen, könnte sich Henrik auch vorher mit mexikanischen Freunden verabreden, die ebenfalls eingeladen sind, da diese ein Gespür für den optimalen Zeitpunkt haben.

Beispiel 21: Die Buchung Situation Sebastian ist stellvertretender Finanzleiter eines Logistikunternehmens. Er gibt seiner mexikanischen Mitarbeiterin Blanca den Auftrag, eine bestimmte Buchung noch am selben Tag zu erledigen, weil es der Tag vor Monatsabschluss ist und diese Buchung vorher gebucht sein muss. Sebastian betont die Dringlichkeit der Aufgabe mehrfach. Am Ende des Tages, als Blanca bereits gegangen ist, kontrolliert er die Angelegenheit und stellt fest, dass die Buchung nicht vollzogen ist. Er erledigt die Arbeit schließlich selbst. Warum hat Blanca den Auftrag ihres Chefs nicht ausgeführt? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Blanca findet Sebastian nicht sympathisch und ist deshalb nicht sehr motiviert, sich um die Buchung zu kümmern. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Pünktlichkeit und die Einhaltung von Terminen und Fristen spielen in Mexiko eine untergeordnete Rolle. Blanca geht davon aus, die Buchung auch zu einem späteren Zeitpunkt durchführen zu können. 112

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Blanca weiß nicht, wie eine Buchung funktioniert. Sie beschließt, lieber gar nichts zu tun, als einen Fehler zu machen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Blanca schafft es nicht mehr, diese Buchung zu machen. Sie muss an diesem Tag pünktlich das Büro verlassen, da ihre Mutter Geburtstag hat. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): In dieser Antwort kann durchaus ein Körnchen Wahrheit stecken. Für Mexikaner ist es von Bedeutung, zu Personen, für die sie einen Auftrag erledigen müssen, eine persönliche Beziehung zu haben. Dies macht eine pünktliche Erledigung der Arbeit sehr viel wahrscheinlicher. Es wäre jedoch unangemessen, die nicht vorgenommene Buchung mit fehlender persönlicher Wertschätzung für Sebastian zu erklären. Lesen Sie die Situation noch einmal und suchen Sie eine zutreffendere Erklärung für das Verhalten von Blanca. Erläuterung zu b): Mexikaner haben ein lockeres Verhältnis zur Zeit. Eine penible 113

Einhaltung von Fristen nimmt nicht so einen hohen Stellenwert ein wie in Deutschland. Es besteht die Tendenz, Dinge auf den nächsten oder die nächsten Tage zu verschieben. Zeit wird im Fluss gesehen, so dass sich die Mexikaner weniger an einem konkreten Zeitpunkt orientieren. Mit dieser Antwort haben Sie den Kern der Sache getroffen. Erläuterung zu c): Dieser Aspekt ist in Mexiko nicht ganz unbedeutend. Oftmals wird lieber geschwiegen und abgewartet, wie sich die Situation entwickelt, als zugegeben, dass man eine Sache nicht beherrscht. Dennoch ist hier nicht davon auszugehen, dass Blanca nicht weiß, wie sie die Buchung ausführen muss. Erläuterung zu d): Wenn Blanca wirklich keine Zeit gehabt hätte und früher hätte gehen wollen, dann hätte sie dies Sebastian gegenüber erwähnt, als er ihr den Auftrag erteilte. Diese Antwortalternative stimmt also nicht.

Lösungsstrategie Wenn Sie als deutscher Vorgesetzter in Mexiko sichergehen wollen, dass eine Frist oder ein Termin eingehalten oder eine Aufgabe zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt wird, dann ist es ratsam, bei Ihren mexikanischen Mitarbeitern immer wieder nachzuhaken und auf den Termin hinzuweisen. Auch Kontrollen, wie weit die Arbeit fortgeschritten ist und was noch fehlt, sind sehr sinnvoll und verdeutlichen dem Mitarbeiter die Wichtigkeit der Aufgabe. Sie müssen in Mexiko immer damit rechnen, dass Aufgaben nicht sofort erledigt werden, egal wie sehr Sie bei Ihren Mitarbeitern vorher die Dringlichkeit betont haben. Mexikaner neigen dazu, Dinge auf morgen zu verschieben und Prioritäten sehr schnell zu ändern, wenn eine andere Person bei einer Aufgabe stärker insistiert.

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Kulturelle Verankerung von »polychrones Zeitverständnis« Dieser Kulturstandard beschreibt das Zeitverständnis der Mexikaner, die Zeitorganisation, ihr Verständnis von Pünktlichkeit und die Wertschätzung von Zeit an sich. In Mexiko herrscht ein polychrones Zeitverständnis. Das bedeutet, dass verschiedene Dinge zur selben Zeit erledigt werden und bestehende Zeitpläne flexibel den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Dabei hat die genaue Einhaltung von zeitlichen Vereinbarungen einen geringeren Stellenwert als in Deutschland. Verabredungen und Termine werden als weniger verbindlich und verpflichtend wahrgenommen. Es spielt in Mexiko eine untergeordnete Rolle, wie viel Zeit bestimmte Dinge in Anspruch nehmen und wann sie fertig gestellt werden. Die Einhaltung von Zeitplänen ist dem zwischenmenschlichen Umgang und sozialen Ereignissen untergeordnet. Insbesondere die Interaktion mit nahe stehenden Personen hat Vorrang vor anderen zeitlichen Verpflichtungen. Im Gegensatz zum polychronen Zeitverständnis steht die monochrone Auffassung von Zeit, wie sie beispielsweise in Deutschland üblich ist. Nach dem monochronen Zeitverständnis konzentriert man sich zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur auf eine Sache und erledigt verschiedene Dinge nacheinander. Die Zeit wird als linear wahrgenommen und in aufeinander folgende Abschnitte eingeteilt und verplant. Sie ist ein Ordnungssystem für die Organisation des täglichen Lebens. Die Einhaltung von Terminplänen und Pünktlichkeit spielen eine große Rolle. Die beiden Zeitauffassungen unterscheiden sich hinsichtlich der Einschätzung der Wichtigkeit von Zeit und der damit verbundenen Bewertung bestimmter Verhaltensweisen. So wäre es fatal, eine polychrone Kultur nach monochronen Standards zu beurteilen. In monochronen Kulturen ist Zeit eine knappe und deshalb wertvolle Ressource. Effektivität wird stets als erbrachte Leistung im Verhältnis zur aufgewendeten Zeit betrachtet. In Deutschland beispielsweise würde es einen Mangel an Respekt bedeuten, jemanden warten zu lassen. Hier wird eine Entschuldigung oder 115

Begründung erwartet. Mexikaner halten eine Entschuldigung hingegen nicht für notwendig. Menschen mit polychronem Zeitverständnis erscheint die monochrone Zeitorganisation kalt und unmenschlich, da Zeitpläne Vorrang vor Bedürfnissen haben. Auf sie wirken die Deutschen wie Sklaven der Uhr – unflexibel, wenig spontan und permanent unter Druck stehend. Das Zeitverständnis geht in Mexiko sogar so weit, dass Menschen, die sich allzu genau nach der Uhr richten, ein echtes Ärgernis darstellen. Wenn man beispielsweise zu einer Party eingeladen ist, ist es völlig klar, dass man nicht »en punto« (pünktlich) erscheint, weil man dann den Gastgebern im Weg ist, die vielleicht noch in Vorbereitungen stecken oder sich für den Abend herrichten. Auch wenn man zu geschäftlichen Terminen pünktlich erscheint, wird oftmals gefrotzelt »Llegaste a barrer?«. Dieser Ausdruck bedeutet »Bist du zum Putzen gekommen?«. Eine Hilfestellung bietet vielleicht die Klärung, ob mit der vereinbarten Zeit die »hora mexicana« (mexikanische Zeit) oder die »hora alemana« (deutsche Zeit) gemeint ist. Des Weiteren ist es möglich, auf sprachliche Details zu achten. Das Wort »ahora« (jetzt) beispielsweise kann eine sehr große Zeitspanne umfassen. Dafür gibt es die beiden Wörter »ahorita« und »ahoritita«; sie sind die »Steigerungen« von »jetzt« und grenzen die mögliche Zeitspanne ein. Außerdem hat auch die ökonomische Situation Mexikos einen entscheidenden Einfluss auf das Zeitsystem. Die sich erst in den letzten Jahren entwickelnde Industrialisierung erfordert keine exakte Einhaltung von Zeitplänen und Terminen. Zudem spielt in Mexiko, besonders in Mexiko-Stadt, der enorme Verkehr eine große Rolle, der ein pünktliches Erscheinen zumeist unmöglich macht. Einen weiteren Aspekt des Kulturstandards beschreibt die Tendenz, Dinge auf morgen zu verschieben. Warum heute das tun, was bis morgen warten kann? Mexikaner haben auch ein anderes Dringlichkeitsverständnis als beispielsweise Deutsche. So kann es schon einmal passieren, dass ein dringender Arbeitsauftrag in Mexiko erst am nächsten oder übernächsten Tag bearbeitet wird. Das kann zu Missverständnissen führen. Wenn auf eine 116

Frage hin »Mañana« erwidert wird, so heißt das oftmals »Bitte haben Sie noch etwas Geduld, es kann noch einen, zwei oder viele Tage dauern«. »Mañana« beschreibt oftmals einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft. Auch der Kulturstandard »Simpatía« spielt hier eine Rolle. Mexikaner betrachten Aufgaben, die ihnen nicht persönlich aufgetragen worden sind, nicht als dringend. Deutschen Führungskräften ist zu empfehlen, bei Aufträgen und Bitten die jeweiligen Personen immer persönlich anzusprechen und die Ausführung erteilter Arbeitsaufträge noch einmal zu kontrollieren. Wichtig ist in Mexiko der Begriff »paciencia« (Geduld). Um Geduld wird man oft gebeten und man benötigt sie in vielen Situationen, wenn man auf eine Sache länger warten muss. In Mexiko wird auch häufig die eigene Macht und Stellung dadurch gezeigt, dass man andere warten lässt.

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Themenbereich 8: »Flexibilität und Spontaneität«

Beispiel 22: Die Bonifikation Situation Heinrich arbeitet in einem großen Automobilkonzern. Im Zuge einer Aktualisierung der Datenbank ist er an den Kundendaten interessiert. Er hat eine entsprechende Software bei allen Händlern installieren lassen, damit sie die Kundendaten für ihn verwalten. Außerdem hat er eine Bonifikation ausgeschrieben für diejenigen, die die Software benutzen. Als Heinrich einige Zeit später bei Alberto, einem seiner Händler, nach den Kundendaten fragt, bekommt er diese handschriftlich auf Papier mit der Forderung, nun im Gegenzug den Bonus zu gewähren. Heinrich ist verwundert, denn er ist der Meinung, deutlich gemacht zu haben, dass nicht nur die Sammlung der Kundendaten, sondern auch das Benutzen der Software Voraussetzung für eine Bonifikation ist. Wie kann man das Verhalten des Händlers erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

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Deutungen a) Der Händler hat seiner Meinung nach die Voraussetzungen für die Bonifikation erfüllt, indem er Heinrich die Kundendaten zukommen ließ. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Der Händler möchte die Bonifikation mit möglichst wenig Aufwand erhalten und versucht, Heinrich herunterzuhandeln.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Dem Händler erscheint die genaue Einhaltung aller Anforderungen für den Erhalt einer Bonifikation nicht bedeutend. Einzelne Regeln können durchaus vernachlässigt werden, wenn das Ergebnis trotzdem erbracht wird. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Der Händler hat die Software nicht verstanden, will dies Heinrich gegenüber jedoch nicht zugeben. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

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Bedeutungen Erläuterung zu a): Diese Antwortalternative betrifft die unterschiedliche Prioritätensetzung der beiden Personen: Der Händler hat Heinrich die gewünschten Kundendaten übergeben und somit den ihm wichtig erscheinenden Teil der Abmachung erfüllt, gleich ob er die Software benutzt hat oder nicht. Dafür erwartet er die versprochene Bonifikation. Für Heinrich hingegen stellt die Benutzung der Software eine wesentliche Voraussetzung für die Bonifikation dar, da sich so die gesammelten Daten später besser verwalten lassen. Diese Antwortalternative thematisiert ein wichtiges Problem zwischen dem Händler und Heinrich. Dennoch gibt es eine weitere Deutung, die die geschilderte Situation noch umfassender erklärt. Erläuterung zu b): Es kann in jedem Land vorkommen, dass Geschäftspartner versuchen, mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel für sich herauszuschlagen. Man kann jedoch in keinem Fall davon ausgehen, dass dies in Mexiko üblich wäre. Erläuterung zu c): Während für Heinrich die Sammlung der Daten und die Benutzung der Software gleichbedeutend sind, ist für den Händler der Inhalt sehr viel wichtiger als die Form, in der er diesen präsentiert. Somit ist seines Erachtens sein Teil der Abmachung mit der Übergabe der Daten erfüllt. Diese Antwortalternative beinhaltet jedoch noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Für Heinrich stellt die Nutzung der Software eine feste Regel dar, die eingehalten werden muss, um die Bonifikation zu erlangen. Der Händler hingegen hält diese Regel nicht für unbedingt notwendig. Die Aufgabe kann seiner Meinung nach auch ohne die strikte Einhaltung aller Bestandteile der Abmachung erfüllt werden. In Mexiko wird häufig sehr locker und flexibel mit Regelungen umgegangen; sie haben keine so große Bedeutung wie in Deutschland und können durchaus umgangen werden. Diese Antwort erklärt das Verhalten des Händlers am besten. 121

Erläuterung zu d): Der Händler hat unter Umständen tatsächlich keine Erfahrung im Umgang mit Computern oder spezieller Software. Würde er dies jedoch Heinrich gegenüber zugeben, so würde er vielleicht als dumm dastehen und käme sich minderwertig vor. Deshalb scheint es besser zu sein, die Daten einfach handschriftlich abzugeben und die Software zu ignorieren. Diese Antwortalternative bezieht sich auf den Kulturstandard »Gesicht wahren« und kann eine mögliche Erklärung für die geschilderte Situation sein; wahrscheinlicher ist jedoch die Deutung c).

Lösungsstrategie Um diese und ähnliche Situationen zu vermeiden, müssen Sie sich bei Ihrer Tätigkeit in Mexiko bewusst sein, dass Regeln meist nicht so ernst genommen werden, wie Sie es aus Deutschland gewohnt sind. In der mexikanischen Gesellschaft werden viele Regeln eher als »Kann-Regeln« gesehen, die man nicht unbedingt befolgen muss. Gerade in der geschilderten Situation kann es leicht passieren, dass die Software als eine Hilfe zur Sammlung der Daten erkannt wird, die man aber auch umgehen kann, wenn es bequemer ist. Heinrich hätte deshalb von Beginn an den Händler sehr eindringlich darauf hinweisen sollen, dass sowohl die gesammelten Daten als auch die Nutzung der Software notwendig sind, um die Bonifikation zu erhalten. Er hat dies zwar getan, jedoch ist es in Mexiko ratsam, auf Anliegen, die einem wichtig sind, öfters hinzuweisen, damit der andere merkt, wo die Prioritäten liegen. In Deutschland würde ein solches Verhalten in vielen Situationen als penetrant gelten, in Mexiko hilft es hingegen, Missverständnisse zu vermeiden. Ein zusätzliches Schriftstück, in dem die Bedingungen aufgelistet sind, kann dabei sehr hilfreich sein. Darüber hinaus ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass der Händler ein sehr viel geringeres Bildungsniveau hat und die Kenntnis von Statistik und Computerprogrammen bei ihm nicht 122

vorausgesetzt werden kann. Wie im Kulturstandard »Gesicht wahren« beschrieben, wird der Händler dies wahrscheinlich nicht freiwillig zugeben, sondern sich denken, dass er das schon irgendwie regeln wird. Es ist sinnvoll und letztendlich Zeit sparend, die Software bei ihrer Einführung eingehend zu erklären.

Beispiel 23: Der Urlaubskalender Situation Jens ist seit einem halben Jahr als Abteilungsleiter in einer mexikanischen Niederlassung seiner Firma tätig. Bisher hat es des Öfteren unerwartete Engpässe gegeben, weil kurzfristig Urlaubsanträge gestellt wurden oder Mitarbeiter ihre Dienstreisen nicht vorher mitgeteilt hatten. Aufgrund dessen beschließt er, einen Urlaubskalender einzuführen, in den alle Mitarbeiter ihren Urlaub und ihre Dienstreisen eintragen müssen. Da dieses System neu ist, beschließt Jens, in der Anfangsphase nur einen Zeitraum von jeweils drei Monaten zu planen und erst später zu einer längerfristigen Planung überzugehen. Schon nach kurzer Zeit muss er jedoch feststellen, dass seine Mitarbeiter auch nach mehrmaligen Hinweisen nicht bereit sind, den Kalender anzunehmen und ihm ihre Urlaubswünsche mitzuteilen. Warum nehmen die Mitarbeiter den Urlaubskalender nicht an? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Die mexikanischen Arbeitskollegen empfinden eine vorherige Planung ihres Urlaubs als zu starke Kontrolle, die sie nicht akzeptieren wollen. 123

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) In der mexikanischen Kultur haben mündliche Absprachen eine sehr viel höhere Verbindlichkeit als schriftlich Festgehaltenes. Deshalb können die Mitarbeiter Jens’ Wunsch nicht nachvollziehen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die mexikanischen Arbeitskollegen wissen nicht, wann sie Urlaub nehmen oder Dienstreisen durchführen werden.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Mexikaner haben relativ wenige Urlaubstage und nutzen diese in der Regel nicht für größere Unternehmungen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): In Mexiko herrscht ein sehr viel ausgeprägteres Hierarchiedenken als in Deutschland. Sollte ein deutscher Vorgesetzter den Versuch machen, einen Urlaubskalender einzuführen, so würden seine Mitarbeiter durchaus versuchen, seinen Wünschen zu ent124

sprechen. Selbst wenn die mexikanischen Mitarbeiter die Änderung als Kontrolle erleben würden, ist festzustellen, dass Kontrolle in Mexiko längst nicht als so negativ erlebt wird, wie das in Deutschland der Fall wäre. Diese Antwort kann die geschilderte Situation nicht erklären. Erläuterung zu b): Es ist festzustellen, dass in Mexiko tatsächlich häufiger mündliche Absprachen getroffen werden und in sehr viel größerem Ausmaß informelle Kommunikation und Informationsaustausch stattfinden, als dies in Deutschland der Fall ist. Diese Absprachen sind jedoch nicht automatisch verbindlicher als schriftliche Vereinbarungen. Die Schwierigkeiten bei der Einführung des Urlaubskalenders beruhen nicht auf der unterschiedlichen Verbindlichkeit der gewählten Kommunikationsform, sondern auf einem anderen kulturellen Unterschied. Erläuterung zu c): Mexikaner leben sehr gegenwartsbezogen und planen nur kurzfristig. Dies lässt sich teilweise durch die unsichere Lebenssituation erklären. Auf eine langfristige Planung wird eher verzichtet, um spontan und flexibel auf die aktuellen Geschehnisse reagieren zu können. Die Mitarbeiter wissen demnach wirklich nicht, wann sie ihren Urlaub nehmen werden, da sie normalerweise nicht drei Monate im Voraus planen. Da es in Mexiko viel weniger offizielle Urlaubstage gibt als in Deutschland, nutzen sie diese lieber, um im Bedarfsfall spontan einen Tag freinehmen zu können. Diese Antwort erklärt die Situation sehr gut. Erläuterung zu d): Tatsächlich haben Mexikaner im Vergleich zu Deutschen relativ wenige Urlaubstage. Diese werden in der Regel nicht verplant, sondern für Notfälle »aufgehoben«. Ansonsten werden sie gemeinsam mit der Familie verbracht, wobei weitere Reisen oder Ausflüge eher spontan stattfinden und selten lange im Voraus geplant werden. Diese Antwort erklärt die geschilderte Situation teilweise. 125

Lösungsstrategie Auch wenn die Urlaubsplanung in der geschilderten Situation für deutsche Verhältnisse schon recht kurzfristig stattfindet, sollten Sie sich in Mexiko in ähnlichen Situationen bewusst sein, dass das Planungsverhalten in vielen Bereichen dort weit weniger ausgeprägt ist, als Sie es gewohnt sind. Die kurzfristige Planung hat zur Folge, dass Änderungen und unerwartete Ereignisse sehr viel weniger in Stress ausarten, als das in Deutschland der Fall wäre, sondern mit viel Improvisationstalent gemeistert werden. Es wird eine große Kreativität eingesetzt, um akute Probleme zu lösen, anstatt zu versuchen, sie durch konkrete Planung zu vermeiden. In der geschilderten Situation ist es notwendig, den Urlaubskalender einzuführen. Deshalb wäre es sinnvoll, die Mitarbeiter anhand von kürzeren Planungsphasen langsam an das neue System heranzuführen und die Planungszeiträume schrittweise zu verlängern. Langfristig wird von Jens’ Seite jedoch eine größere Flexibilität notwendig sein, um diese regelmäßig auftretenden Situationen zu bewältigen. Die Kombination einer kreativen und flexiblen Einstellung und regelmäßiger, geduldiger und beharrlicher Hinweise auf die Notwendigkeit der Planungen wird ihm einerseits helfen, sein Anliegen durchzusetzen, und ihm andererseits den Umgang mit der mexikanischen Lebensart erheblich erleichtern.

Beispiel 24: Die neue Produktionslinie Situation Walter ist schon seit längerer Zeit mit der Einführung einer neuen Produktionslinie im Werk beschäftigt. Ein wichtiger US-amerikanischer Kunde hat seinen Besuch angekündigt, der als Entscheidungsgrundlage für ein großes Auftragsvolumen gilt. Am Tag vor dem Besuch stellt Walter entsetzt fest, dass die Produktionslinie bisher noch nicht läuft. Angesichts der noch verbleibenden Zeit scheint es ihm unrealistisch, sie rechtzeitig 126

fertig zu stellen und präsentieren zu können. Während er in Panik gerät, beruhigen ihn seine Mitarbeiter, er solle nicht besorgt sein, sie würden das schon irgendwie »hinbiegen«. Selbst am nächsten Morgen läuft die Linie noch nicht. Nach dem Eintreffen der Delegation beginnt Walter mit der Führung und tatsächlich gelingt es den Mitarbeitern, die Linie rechtzeitig zu starten. Nachdem der Besuch gegangen ist, bricht sie jedoch sofort wieder zusammen. Wie kann man das Verhalten der Mitarbeiter erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Die Mitarbeiter bleiben ruhig und versuchen alles ihnen Mögliche, um ihrem Vorgesetzten zu helfen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Das erste Ziel der Mitarbeiter ist es nicht, die Produktionslinie in Gang zu bringen, sondern ihrem Vorgesetzten aus einer misslichen Lage herauszuhelfen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Mexikaner sind sehr risikofreudig und wenig organisiert. Deshalb liegt ihnen nicht viel daran, die Produktionslinie weit im Voraus fertig zu stellen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

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d) Die Mexikaner vertrauen darauf, dass alles schon irgendwie funktionieren wird. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Für die mexikanischen Mitarbeiter stellt die Situation eine Herausforderung dar. Die Aufregung ihres Vorgesetzten können sie nicht nachvollziehen, schließlich arbeiten sie daran, dass die Produktionslinie gestartet werden kann. Sie bleiben ruhig und nutzen ihr großes Improvisationstalent, um ihrem Vorgesetzten aus der misslichen Lage herauszuhelfen. Dafür nehmen sie auch in Kauf, mehr arbeiten zu müssen, um die Linie fertig zu stellen. Diese Antwort ist sehr zutreffend. Erläuterung zu b): Diese Antwortalternative erklärt die Situation teilweise. Wie im Kulturstandard »Hierarchieorientierung« beschrieben, sind hierarchische Strukturen in der mexikanischen Arbeitswelt stark ausgeprägt. Die Mitarbeiter fühlen sich deshalb in jedem Fall ihrem Vorgesetzten verpflichtet und sorgen dafür, dass er die Produktionslinie präsentieren kann. Ihr Anliegen ist es, das konkrete Problem zu lösen und so ihrem Chef zu helfen. Dass die Linie direkt nach dem Besuch wieder zusammenbricht, spielt dabei keine Rolle. Erläuterung zu c): Es stimmt, dass die mexikanischen Mitarbeiter es, im Gegensatz 128

zu den Deutschen, für wenig erstrebenswert halten, eine Aufgabe möglichst schon zwei Tage vor dem Termin erledigt zu haben. Dies ist jedoch nicht auf Risikofreude zurückzuführen, sondern lässt sich eher durch den starken Gegenwartsbezug in der mexikanischen Kultur erklären (vgl. Kulturstandard »Gegenwartsorientierung«). Erläuterung zu d): Diese Antwort erklärt die Situation teilweise. Die mexikanischen Mitarbeiter vertrauen tatsächlich darauf, dass im Endeffekt alles funktionieren wird. Sie bauen darauf, dass sie das Problem mit Kreativität und Improvisationstalent lösen, anstatt nach einer Lösung zu suchen, die ein dauerhaft gutes Ergebnis verspricht. Ein gewisses »Gottvertrauen« in der mexikanischen Gesellschaft sorgt dafür, dass auch in schwierigen Situationen die Ruhe bewahrt wird. Was machbar ist, werden die Mexikaner tun, und mehr ist eben nicht möglich. So versuchen sie, aus der konkreten Situation das Beste zu machen und die momentanen Probleme in kurzer Zeit – wenn auch nur provisorisch – zu lösen. Lösungsstrategie Eine langfristige Planung ist in Mexiko nicht üblich. Es wird eher nach der schnellen Lösung von Problemen und dem schnellen Erfolg gesucht, ungeachtet der Folgen für die Zukunft. Als deutscher Expatriate müssen Sie in vielen Fällen versuchen umzudenken und sich vor allem bei privaten Angelegenheiten eher den lokalen Gegebenheiten anpassen, als auf eine systematische und genaue Planung zu bestehen. Im Arbeitsumfeld ist es jedoch häufig sinnvoll, die Vorteile beider Mentalitäten zu verbinden. Von Beginn an sollten Sie durch häufiges Nachfragen Ihr Interesse bekunden und Ihren Mitarbeitern Aufmerksamkeit schenken. So können Sie ihnen die Dringlichkeit eines Auftrags vermitteln und ihre Prioritätensetzung beeinflussen. Gleichzeitig werden Sie auch die Vorteile des großen Improvisationstalents und der Kreativität Ihrer mexikanischen Mitarbeiter kennen und schätzen lernen. 129

Kulturelle Verankerung von »Flexibilität und Spontaneität« Der Kulturstandard beschreibt das Planungsverhalten und den flexiblen Umgang mit Vorschriften und Vereinbarungen. Besonders in der Freizeit wird kurzfristig entschieden, ob man zu einer Einladung geht oder nicht. In beruflichen Meetings weicht die geplante Tagesordnung häufig den tagesaktuell als wichtig empfundenen Themen. Spontaneität und Improvisationsvermögen sind notwendig, um die geringe Planung und oftmals auch ihre Unverbindlichkeit auszugleichen. Deutschen fällt es häufig schwer, sich daran zu gewöhnen, da sie eine sehr genaue und verbindliche Planung gewohnt sind. Wenn mexikanische Bekannte eine Verabredung mal wieder nicht einhalten, obwohl diese schon längere Zeit vereinbart war, dann wird wohl etwas dazwischen gekommen sein, und sie haben ihre Pläne spontan der geänderten Situation angepasst. Das geringe und kurzfristige Planungsverhalten ist vor allem auf die unsichere Lebenslage der meisten Mexikaner zurückzuführen. Ein geringes Einkommen und wenig soziale Absicherung führen dazu, dass häufig erst gar nicht versucht wird, Zukunft zu planen; es kommt sowieso meistens anders, als man denkt. Der Kulturstandard »Flexibilität und Spontaneität« ist demnach sehr eng mit dem der »Gegenwartsorientierung« verbunden. Er betont stark die positiven Aspekte, die sich aus dem Planungsverhalten der Mexikaner ergeben: die Improvisation und die Kreativität. Für den beruflichen Einsatz in Mexiko und auch für das Privatleben ist es wichtig, die Vorteile dieser Eigenschaften zu erkennen und nutzen zu lernen. Wer hier zu stark an seinen eigenen Vorstellungen festhält, wird es in Mexiko häufig sehr schwer haben und enttäuscht werden. Ein weiterer Aspekt der Flexibilität betrifft den lockeren Umgang mit Regeln und Vorschriften. Diese werden meist nicht als feststehend angesehen, sondern können durchaus umgangen oder verändert werden, wenn es notwendig erscheint. In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens lässt sich das beobachten, zum Beispiel im Straßenverkehr oder bei Behördenangelegenheiten. 130

Ein Grund für dieses Verhalten könnte in dem mangelnden Vertrauen der Mexikaner in die Politik ihres Landes liegen. In den Präsidentschaftswahlen 2000 wechselte nach über 70 Jahren zum ersten Mal die Regierungspartei, woraufhin viele rechtliche Schritte und Maßnahmen zur Verfolgung der Korruption im Land eingeführt wurden. Das Vertrauen in Politik, Polizei und andere öffentliche Ämter ist jedoch immer noch sehr gering. Mexikaner verlassen sich nicht darauf, in Notlagen Hilfe von staatlicher Seite zu bekommen. Deswegen erscheint es ihnen häufig einfacher, andere Mittel und Wege zu nutzen, um ein Ziel zu erreichen, als die, die vorgeschrieben sind.

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Kurze Charakterisierung der mexikanischen Kulturstandards

»Sympathieorientierung (Simpatía)« – stark ausgeprägtes Bedürfnis, sympathisch und liebenswert aufzutreten – zwischenmenschliche Beziehungen werden angenehm und positiv für alle Beteiligten gestaltet – Vertrauensverhältnisse sind wichtig und bilden die Grundlage von geschäftlichen Beziehungen »Gesicht wahren« – Harmoniestreben prägt das Verhalten – Probleme, Konflikte und Kritik werden vermieden – Höflichkeit hat einen zentralen Stellenwert »Kollektivismus (Colectivismo)« – starke, geschlossene Wir-Gruppen – Ziele der Gemeinschaft stehen über individuellen Zielen – Familie dient als soziales Netzwerk »Hierarchieorientierung« – sehr stark ausgeprägtes Machtgefälle – starkes Hierarchiedenken bei gleichzeitig sehr herzlichem Umgang miteinander – Entscheidungen verlaufen nach patriarchalischem Muster »Repräsentationsorientierung (Buena Presencia)« – repräsentatives Auftreten in der Öffentlichkeit ist sehr wichtig – es wird großer Wert gelegt auf ordentliche und dem Anlass gemäße Kleidung und Statussymbole wie Wohngegend, Auto und Hauspersonal – strikte Trennung zwischen öffentlichem Leben und Privatleben 132

»Gegenwartsorientierung« – Dominanz momentaner Gefühle – positives Erleben der Gegenwart ist wichtig – selten langfristige Planung »Polychrones Zeitverständnis« – verschiedene Dinge werden zur selben Zeit erledigt und bestehende Zeitpläne flexibel angepasst – Einhaltung von zeitlichen Vereinbarungen hat geringe Bedeutung und wird immer der Interaktion mit nahe stehenden Personen untergeordnet »Flexibilität und Spontaneität« – flexibler Umgang mit Vorschriften und Vereinbarungen – spontanes Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse – stark ausgeprägtes Improvisationstalent

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Informationen zu Mexiko

Landeskunde Geografie Mexiko (offizieller Name: Vereinigte Mexikanische Staaten/Estados Unidos Mexicanos) hat eine Gesamtfläche von 1,97 Mio. km² und ist somit mehr als fünfmal so groß wie Deutschland. Mit über 105 Mio. Einwohnern ist es zudem die größte spanischsprachige Nation der Erde. Geografisch gehört Mexiko überwiegend zu Nordamerika und im südlichen Teil des Landes zu Mittelamerika. Es grenzt im Norden an die USA, im Süden an Belize und Guatemala. Während westlich 7.335 km Pazifikküste und östlich 2.800 km Küste am Golf von Mexiko und von der Karibik das Land begrenzen, wird das nördliche und zentrale mexikanische Hochland durch die beiden Gebirgszüge Sierra Madre Oriental im Osten und Sierra Madre Occidental im Westen eingerahmt. Mexiko hat sehr viele unterschiedliche Landschaftsformen zu bieten, wie zum Beispiel Stein-, Sand- und Kaktuswüsten, Gebirge und Schluchten, eine Anzahl aktiver und toter Vulkane, Hochebenen sowie Regenwälder, Strände und Buchten. Dementsprechend groß ist auch die Anzahl der Tier- und Pflanzenarten; unter ihnen sind auch viele endemische Arten. Zurzeit stehen ungefähr neun Prozent der Gesamtfläche Mexikos unter Naturschutz, wobei in den letzten Jahren die Bedeutsamkeit von Naturschutzprojekten erheblich zugenommen hat.

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Klima Am nördlichen Rand der Tropen gelegen, teilt sich Mexiko in insgesamt drei Klimazonen: Die tierra caliente (heiße Zone) reicht von den Küsten bis zu einer Höhe von 800 Metern und weist Temperaturen von 16 bis weit über 40 Grad Celsius auf. Die tierra templada (gemäßigte Zone) reicht bis auf 1.700 Meter Höhe und darüber liegt die tierra fría (kühle Zone). Da die Höhenunterschiede teilweise sehr groß sind, kann man innerhalb weniger Kilometer mehrere Klimazonen und rasch wechselnde Vegetationen erleben. Der Norden zeichnet sich durch extreme Hitze und Trockenheit im Sommer sowie Kälte und Feuchtigkeit im Winter aus, während in den meisten Küstenregionen und im Süden des Landes Hitze und Feuchtigkeit herrschen. Die Jahreszeiten lassen sich in Mexiko folgendermaßen unterteilen: Die Regenzeit dauert von Mai bis Oktober an. In der Hauptzeit von Juni bis September können täglich sehr starke Regenfälle und oftmals auch tropische Stürme, Zyklone oder Hurrikans entstehen, vor allem an der Karibikküste. Jedoch scheint in Mexiko fast jeden Tag die Sonne, auch in der Regenzeit. Es schließt sich der Winter an, eine etwas kühlere Phase, die von November bis Ende Januar dauert. In dieser Zeit können die Temperaturen auf den Hochebenen bis auf 0 °C sinken, im Norden sogar bis auf –8 °C. Auch wenn die Sonne fast jeden Tag scheint und die Luft schnell erwärmt, ist es wichtig zu wissen, dass es auch in den kühlen Regionen in der Regel keine Heizung gibt, Kältephasen also mit Kleidung ausgeglichen werden müssen. Der Februar ist der Frühlingsmonat und im März beginnt der heiße Sommer mit Temperaturen bis weit über 30 °C.

Land und Leute Die mexikanische Bevölkerung besteht zu circa 70–80 Prozent aus Mestizen, zu 10–20 Prozent aus indigener Bevölkerung und zu etwa 5–10 Prozent aus »Weißen« europäischer Abstammung. Vor allem in den Küstenregionen fand auch eine Mischung der 135

schwarzen Sklaven mit den Spaniern und den Einheimischen statt, aus der die Mulatten (Spanier und Afrikaner) und die Zambos (Afrikaner und Einheimische) hervorgingen. Dieser afrikanische Einfluss auf die mexikanische Mentalität wird in der gängigen Literatur meist vernachlässigt. Er lässt sich in der Fröhlichkeit und Ausgelassenheit der Mexikaner, vor allem der Küstenbewohner in der Region von Veracruz und dem dortigen Karneval, beobachten. Die offiziellen Angaben über die Größe der jeweiligen Bevölkerungsanteile schwanken stark. Es steht jedoch fest, dass Mexiko das Land mit dem größten Anteil gemischtrassiger Bevölkerung in Lateinamerika ist. Die indigene Bevölkerung setzt sich aus 62 verschiedenen Völkern und Stämmen zusammen, von denen die Azteken, die Olmeken und die Maya wohl die bekanntesten sind. Im Bergland von Oaxaca und den Mayagebieten in Chiapas haben sich die indigenen Gruppen und ihre Bräuche am besten erhalten. Dies ist vor allem der extremen Abgeschiedenheit dieser ländlichen Gebiete zu verdanken. In Mexiko ist eine dunklere Hautfarbe meist auch ein Zeichen für eine niedrigere soziale Schicht. Das Geschehen in Wirtschaft und Politik wird fast gänzlich von Mestizen und Weißen bestimmt.

Sprache Die Landessprache in Mexiko ist Spanisch. Daneben existieren verschiedene indianische Sprachen, vor allem das Náhuatl und zahlreiche Maya-Sprachen. Die Alphabetisierungsquote liegt in Mexiko bei 90 Prozent, wobei die Quote der Männer geringfügig höher ist als die der Frauen. Die Schulzeit beschränkt sich gerade in den ärmeren Bevölkerungsschichten häufig auf wenige Jahre, da Schulbildung teuer ist und die Kinder oft schon sehr früh Geld verdienen müssen. Vor allem auf dem Land kann man deshalb durchaus Angehörige der indigenen Bevölkerung antreffen, die kein oder nur sehr wenig Spanisch sprechen.

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Landflucht Ein großes Problem in Mexiko ist die anhaltende Landflucht, die zu einer Explosion der Einwohnerzahlen in den großen Städten führte. Wohnungen wurden teilweise in nicht genehmigten Gebieten gebaut. Diese so genannten informellen Siedlungen befinden sich beispielsweise auf den Hängen der beiden Vulkane Popcatépetl und Itzacíhuatl in Mexiko-Stadt. Über zwei Drittel der mexikanischen Bevölkerung leben mittlerweile in Städten. Die größte ist mit fast 22 Mio. Einwohnern die Hauptstadt MexikoStadt; sie ist zugleich Regierungssitz. Es folgen Guadalajara mit circa 4 Mio. und Monterrey mit etwa 3 Mio. Einwohnern.

Religion Die mexikanische Bevölkerung ist hauptsächlich römisch-katholisch, nur etwa sechs Prozent der Menschen sind andersgläubig. Hierbei handelt es sich vor allem um protestantische Sekten aus den USA und um eine im nördlichen Teil Mexikos lebende Minderheit von evangelischen Mennoniten, die im 17. Jahrhundert nach Mexiko kam. Im Gebiet von Mexiko-Stadt konzentriert sich eine jüdische Gemeinde mit circa 60.000 Mitgliedern. Religion spielt im mexikanischen Alltag eine sehr wichtige Rolle und wird von einem Großteil der Bevölkerung aktiv gelebt. Die Mexikaner könnten anstatt als römisch-katholisch auch als »Guadalupeños« bezeichnet werden. Dieser Begriff bezieht sich auf einen sehr stark ausgeprägten Marienkult: die Anbetung der »Virgen de Guadalupe« (Jungfrau von Guadeloupe). Sie ist für die Mexikaner die zentrale religiöse Figur, deshalb ist in fast jedem Haushalt oder Fahrzeug ein Abbild der »Virgen« zu finden. Zusätzlich hat jeder Ort einen eigenen Schutzpatron. Bei Feierlichkeiten lässt sich häufig eine Vermischung der katholischen Religion mit Ritualen aus den ursprünglichen Religionen erkennen. Da die christlichen Feiertage in Mexiko einen sehr hohen Stellenwert haben und von der gesamten Bevölkerung bunt und phantasievoll begangen werden, wurden sie in vielen 137

Gebieten zu besonderen Attraktionen für Fremde. Ein Beispiel hierfür ist der »día de los muertos« (Allerseelen, 2. November), an dem überall bunte Zuckertotenköpfe verschenkt und angezogene Skelette verkauft werden.

Kunst, Musik und Literatur Kulturell hat Mexiko viel zu bieten. Dazu gehören zahlreiche Sehenswürdigkeiten des prä- und postkolonialen Kulturerbes. Insgesamt sind 22 Stätten von der UNESCO als Weltkulturerbe registriert. Mexiko hat viele berühmte Persönlichkeiten hervorgebracht. Weltweit bekannt sind vor allem die Muralisten Rivera, Orozco und Siqueiros. Die Entstehung dieser Kunstrichtung wurde ursprünglich von dem mexikanischen Bildungsminister José Vasconcelos angeregt, um in der Gesellschaft ein Bewusstsein für die mexikanische Geschichte und Kultur sowie die Notwendigkeit von technologischem und sozialem Wandel zu schaffen. Sehr bekannt sind außerdem Künstler wie Frida Kahlo, José Luis Cuevas und Francisco Goitia. Live-Musik kann man in Mexiko überall hören: auf öffentlichen Plätzen, in Bussen und Bars. Die wohl bekannteste traditionelle mexikanische Musikrichtung ist die Mariachi-Musik, die ursprünglich aus Guadalajara, Jalisco stammt, jedoch im ganzen Land gespielt wird. Es handelt sich dabei um größere Gruppen mit Violinen, Gitarren, Trompeten und Gesang, die in cowboyähnliche Kostüme gekleidet sind. Als weitere Musikarten existieren an der Karibikküste und im Süden die Marimba, ein xylophonähnliches Instrument, das von vier Personen gespielt wird, und im Norden des Landes die Ranchero-Musik, eine Art Blasmusik. Auch in der Populärmusik ist Mexiko mit Gruppen wie Maná und Café Tacuba weltweit ein Begriff. In der Literatur sind Schriftsteller wie Carlos Fuentes (Terra nostra), Juan Rulfo (Pedro Páramo) und Laura Esquivel (Bittersüße Schokolade) besonders berühmt. Eine der wohl bekanntesten Analysen des mexikanischen Charakters und seiner Mythen 138

stellt »Das Labyrinth der Einsamkeit« des Nobelpreisträgers Octavio Paz dar.

Geschichte Die mexikanischen Hochkulturen Lange Zeit bevor Mexiko von den Europäern entdeckt und erobert wurde, gab es dort bedeutende Hochkulturen. Zu den mesoamerikanischen Hochkulturen zählen beispielsweise: – die Olmeken im 1. Jahrtausend v. Chr., die sich im mittleren Südosten Mexikos angesiedelt hatten, – die Mayas, 900 v. Chr. bis etwa 900 n. Chr. im Südosten Mexikos, – die Tolteken, circa 720 n. Chr. im nördlichen Teil des mexikanischen Hochlandes, – und die Azteken seit etwa 1300 n. Chr. in dem Gebiet um Mexiko-Stadt. Diese Hochkulturen waren schon vor der Ankunft der Spanier hoch entwickelte Zivilisationen mit eigenen Schrift- und differenzierten Kalendersystemen sowie großen Leistungen auf dem Gebiet der Architektur und der bildenden Künste. Die Azteken errichteten ihre Hauptstadt Tenochtitlán auf den Inseln des Texcoco-Sees und sind Erbauer der heute noch bei Mexiko-Stadt zu besichtigenden Pyramiden. Zur Zeit der Ankunft der spanischen Konquistadoren gab es in Mexiko Gesellschaften mit differenzierten Strukturen. Hohes Ansehen genossen neben den Herrscherdynastien Angehörige der Priester-, Krieger- und Händlerschichten. Die Priester waren die Vermittler zwischen der Götterwelt und der irdischen Welt und Hüter der durch das komplizierte Kalendersystem festgelegten Rituale. Mittels ihres mächtigen Heeres hatten die Azteken ihr Herrschaftsgebiet über tributpflichtige Nachbarstämme in der Gegend um die Seengebiete erheblich ausweiten können und wurden so zur wichtigsten Macht in Mittelamerika. In diesen ausgetrockneten Seengebieten liegt heute Mexiko-Stadt. Die verschiedenen 139

Volksstämme waren trotz kriegerischer Auseinandersetzungen verbunden durch einen regen Handel. Wichtige Handelswaren stellten Luxusgüter wie Gold und Jade, Nahrungsmittel, Baumaterialien und Sklaven dar. Die Götterwelt der Azteken bestand aus verschiedenen Wesen, die häufig Gestirne repräsentieren oder wichtige Aufgabengebiete hatten. Ihre Abbildungen sind in Stein gehauen und teilweise bis heute erhalten. Die Götter waren leicht erzürnbare Gestalten, die durch richtiges Verhalten und Opfergaben zufrieden gestellt und günstig gestimmt werden mussten. Die wichtigsten Gottheiten waren der Priestergott Quetzalcòatl, der Kriegsgott Huitzilopochtli, der Regengott Tlaloc, der Sonnengott Tonatiuh sowie die Mondgöttin Coyolxauhqui.

Die Ankunft der Spanier und die Kolonialisierung Mexikos 1519 landete Hernando Cortés an der Ostküste Mexikos bei Vera Cruz. Die indianische Mythologie sagte die Ankunft der weißen Priestergottheit Quetzalcòatl (Gott der Winde, der Medizin und der Künste) voraus, der in der Gestalt einer gefiederten Schlange von Osten über das Meer kommend in Mexiko erwartet wurde. Die Azteken hielten die ersten spanischen Schiffe für diese Gottheit. Aufgrund dieser Tatsache und der überlegenen Waffentechnologie war die Eroberung des Aztekenreichs trotz einer weit unterlegenen Kriegerzahl für die spanische Krone möglich. Das Reich Moctezumas wurde zerstört und der Aztekenkönig von seinen eigenen Leuten ermordet. Daraufhin wurde die 300 Jahre lang bestehende Kolonie »Nueva España« gegründet. Anders als die englischen Kolonialherren in Nordamerika, liquidierten die Konquistadoren die ursprünglichen Bewohner des Landes nicht vollkommen, sondern hispanisierten und christianisierten sie. Die Macht der katholischen Kirche wurde demonstriert, indem alte Kultstätten zerstört und christliche Kultstätten darauf errichtet wurden und die Spanier Riten, wie Menschenopfer und Tänze, untersagten. 140

In Mexiko entstand unter der spanischen Herrschaft eine feudalistische Gesellschaft. Machtinhaber waren hellhäutige Spanier der Oberschicht, die von der Krone für besondere Verdienste mit Grund und Boden belohnt wurden. Bis heute ist dadurch die mexikanische Gesellschaftsstruktur geprägt, in der so genannte »Indígenas«, also Menschen mit indigener Abstammung, weniger Einfluss haben als Personen mit europäischen Wurzeln.

Die Unabhängigkeit Mexikos Als Ursprung der mexikanischen Unabhängigkeitskämpfe gilt der »grito« (Unabhängigkeitsruf), den der Pfarrer Hidalgo um 1810 formulierte. Bis heute wird er am Nationalfeiertag verlesen. 1821 endete die Herrschaft des spanischen Vizekönigs und Mexiko wurde kurzzeitig zu einem unabhängigen Kaiserreich. Anders als in Nordamerika, erfolgte also keine Demokratisierung. Die einflussreiche Kraft war nach wie vor die konservative, reformfeindliche, spanischstämmige Oberschicht. Die nächsten Jahrzehnte waren geprägt durch häufige Machtwechsel und kriegerische Unruhen. Im Grenzkrieg mit den USA (1845–1848) verlor Mexiko große Gebiete, wie beispielsweise Kalifornien, Arizona, Nevada, New Mexiko, Colorado, Florida und Texas, an seinen nördlichen Nachbarn – eine Niederlage, die bis heute das nachbarschaftliche Verhältnis belastet. Napoleon III versuchte, mittels einer bewaffneten Intervention fällige Auslandsschulden einzutreiben, und setzte ein Mitglied der Habsburgischen Dynastie als Kaiser ein, der jedoch schon 1867 erschossen wurde. Erst unter der Diktatur Porfirio Díaz’ von 1877 bis 1911 erlebte Mexiko wieder eine friedlichere Epoche. Mit seiner Herrschaft begann die Industrialisierung des Landes. Durch viele ausländische Investitionen fällt in diese Ära jedoch auch der Anfang der ökonomischen Abhängigkeit Mexikos von den USA. Díaz’ Herrschaft mündete in einen Bürgerkrieg und schließlich in eine demokratische und soziale Revolution, die von Bauern, Arbeitern und progressiven bürgerlichen Kräften ausging. 141

Zentrale Figuren und spätere Volkshelden in diesen Machtkämpfen sind beispielsweise Zapata und Pancho Villa. 1917 wurde die bis heute gültige Verfassung verabschiedet.

Das Jahrhundert der PRI 1929 ist das Gründungsjahr der mexikanischen Staatspartei PRI (»Partido Revolucionario Institucional«, Partei der Institutionellen Revolution), die die wichtigsten politischen Kräfte in einer Partei zusammenfasste und bis Ende des 20. Jahrhunderts in Mexiko an der Macht blieb. Ein wichtiges Ereignis der anschließenden Jahre war die Verstaatlichung der Bodenschätze 1938. Es folgte eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und politischer Stabilität, die ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren hatte, als Mexiko zur Ölmacht avancierte. Eine schwere Wirtschaftskrise Anfang der 1980er Jahre, die eine starke Inflation zur Folge hatte, ließ die gesellschaftliche Mittelschicht fast gänzlich verschwinden. Kennzeichnend für Mexiko ist eine starke Trennung der einzelnen Gesellschaftsschichten. Während sich eine kleine, aber einflussreiche Oberschicht einen gehobenen Lebensstandard leisten kann, müssen viele Angehörige der Unterschicht in sehr ärmlichen Verhältnissen leben (10 Prozent verfügen etwa 60 Prozent der Einkommen).

Politik und Wirtschaft Staatsform und Parteien Mexiko setzt sich aus insgesamt 31 Staaten und einem Bundesdistrikt zusammen. Seit 1867 ist Mexiko eine repräsentative Bundesrepublik mit Präsidialdemokratie. Der mexikanische Kongress setzt sich zusammen aus Senat und Abgeordnetenkammer und besitzt legislative Aufgaben. Die 128 Senatsmitglieder haben ein sechsjähriges Mandat. In die Abgeordnetenkammer werden 142

300 Mandatsträger für drei Jahre direkt in ihrem Wahlkreis gewählt, weitere 200 Abgeordnete werden in fünf Großwahlbezirken über Listenwahl ermittelt. Der Präsident (aktuell: Vicente Fox Quesada) ist das Staatsoberhaupt sowie Oberbefehlshaber der Armee, er ernennt das Kabinett und den Kabinettschef. Er wird vom Volk direkt für eine sechsjährige Amtszeit gewählt; es besteht keine Möglichkeit der Wiederwahl nach Ablauf der Regierungsperiode. Die einzelnen Bundesstaaten werden ebenfalls sechs Jahre lang durch Gouverneure regiert. Wahlrecht besitzt jeder Mexikaner mit Erreichen des 18. Lebensjahrs. Die Parteienlandschaft Mexikos wird hauptsächlich durch die PRI geprägt, die lange Zeit die Regierung Mexikos stellte und in vielen Bundesstaaten bei den Wahlen immer noch die Mehrheit hat. Zweitstärkste politische Kraft ist die konservativ-katholische PAN (»Partido Acción Nacional«, Nationale Aktionspartei) als Regierungspartei, die weiterhin an Einfluss gewinnt. Schließlich gibt es noch die links orientierte PRD und die relativ kleine grüne Partei PVEM. Die mexikanische Gesellschaft ist stark geprägt durch die katholische Kirche. Trotzdem besteht eine strikte Trennung von Staat und Kirche, diplomatische Beziehungen zum Vatikan wurden erst 1992 aufgenommen. Es folgten insgesamt fünf Besuche des Papstes. Die politische Öffnung des Landes hat die Kirche seitdem auch verstärkt für Äußerungen zu sozialen und politischen Fragen genutzt.

Aktuelle politische Entwicklungen In den letzten Jahren sind starke Veränderungen in der mexikanischen Politik und in der Gesellschaft zu beobachten. Den bisherigen Höhepunkt erreichten sie in der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000, in der die PRI nach über 70 Jahren Alleinherrschaft von der konservativen Oppositionspartei PAN abgelöst wurde. Wahlintentionen des neuen Präsidenten Vincente Fox sind umfassende demokratische, rechtsstaatliche und Menschenrechtsre143

formen sowie die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen, Korruption und Drogenhandel.

Allgemeine Wirtschaftsdaten Mexiko ist mit einem BIP von 614 Mrd. US-Dollar (BIP je Einwohner: 5.893 US-Dollar) im Jahr 2003 die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas und die wichtigste Exportnation Lateinamerikas. Dies ist sowohl auf die großen Vorkommen an Bodenschätzen (Kohle, Erdöl und Erdgas) als auch auf eine zum Großteil wettbewerbsfähige Industrie zurückzuführen. Zurzeit befindet sich die mexikanische Volkswirtschaft in einer leichten Wachstumsphase, nachdem 1995 die so genannte Tequilakrise durch ein entschlossenes Gegensteuern der mexikanischen Politik und mit Hilfe internationaler Unterstützung überwunden werden konnte. Aufgrund der anhaltenden Privatisierungspolitik wurden in den letzten Jahren Banken-, Telekommunikations- und Verkehrswesen (Häfen, Flughäfen und Eisenbahn) privatisiert. Andere Gebiete, wie beispielsweise der Energiesektor, sollen in den nächsten Jahren reformiert werden.

Die internationale Stellung Mexikos Außenpolitisch verfolgt Mexiko mit dem Ausbau internationaler Wirtschaftsbeziehungen das Ziel, vom so genannten Schwellenland zur Industrienation aufzusteigen. Aufgrund seiner geografischen Lage ist Mexiko ein Bindeglied zwischen Nord- und Südamerika. Dies spiegelt sich in zahlreichen internationalen politischen und wirtschaftlichen Bündnissen wider. Einerseits konnte Mexiko durch den Abschluss des Freihandelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) die wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA und zu Kanada intensivieren. Andererseits bietet das Land durch zahlreiche bilaterale Bündnisse mit anderen lateinamerikanischen Ländern den Zugang zu südamerikanischen Märkten. Aktuell finden Verhandlungen mit 144

dem südamerikanischen Wirtschaftsraum (MERCOSUR) über ein weiteres Freihandelsabkommen statt. Die Schlüsselposition Mexikos wird verstärkt durch das im Jahr 2000 abgeschlossene Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union.

Das deutsch-mexikanische Verhältnis Schon Humboldts Reiseberichte aus dem frühen 19. Jahrhundert weckten das Interesse der Deutschen für das Land der Azteken und Maya. Bis heute ist die Faszination für diese Kultur mit ihren präkolumbianischen und kolonialen Wurzeln sowie für die abwechslungsreichen Landschaften und die Menschen Mexikos geblieben. Innerhalb der EU stellt Deutschland neben Spanien den bedeutendsten Partner in der wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit für Mexiko dar. Mexiko ist seinerseits nach Brasilien der stärkste lateinamerikanische Handelspartner Deutschlands. Der »Vocho«, so der mexikanische Name des VW-Käfers, ist das Symbol einer langjährigen, erfolgreichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Mexiko. In Mexiko sind circa 800 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung ansässig, ein Großteil davon ist in der deutsch-mexikanischen Handelskammer CAMEXA vertreten. Hauptsächlich verteilen sich diese Unternehmen auf die Branchen Automobilproduktion, Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik, Chemie und Pharmazeutik. In den Jahren 1994 bis 2002 wurden deutsche Direktinvestitionen in Höhe von insgesamt drei Mrd. US-Dollar in Mexiko getätigt; allein im Jahr 2003 waren es 263,7 Mio. US-Dollar. Nach Angaben des Auswärtigen Amts betrugen die deutschen Exporte nach Mexiko im Jahr 2003 circa 6,22 Mrd. US-Dollar und die Importe etwa 1,75 Mrd. US-Dollar. Deutschland und Mexiko kooperieren in vielfältiger Weise miteinander. Die Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich in erster Linie auf die technische Zusammenarbeit, den Umweltschutz, erneuerbare Energien und Wasserbewirtschaftung. Deutsche Kulturinstitute und Schulen leisten wichtige Beiträge 145

zur kultur- und bildungspolitischen Diskussion. Auch der akademische und wissenschaftliche Austausch wurde in den vergangenen Jahren intensiviert. Gegenseitiges Interesse an der jeweiligen Landeskultur spiegelt sich beispielsweise in den hohen Besucherzahlen der Aztekenausstellung in den Jahren 2003 und 2004 in Deutschland und der Humboldtausstellung in Mexiko wider. Als Mitglieder der OECD und der UNO vertreten Deutschland und Mexiko auf außenpolitischer Ebene ähnliche Positionen, beispielsweise zu Themen wie der Todesstrafe oder dem Irak-Krieg. Die politische Verbundenheit der beiden Länder zeigt sich seit den 1960er Jahren in zahlreichen Staatsbesuchen auf höchster Ebene. Im Jahr 2003 besuchte sowohl der mexikanische Präsident Vicente Fox Deutschland (Januar 2003) als auch Bundespräsident Johannes Rau Mexiko (November 2003). Die vielfältigen Kooperationen zwischen Deutschland und Mexiko in den Bereichen Wirtschaft, Entwicklung, Bildung, Kultur und Politik führen zu einem regen bikulturellen Kontakt. Nach Angaben der mexikanischen Botschaft leben aktuell 20.000 Deutsche in Mexiko. Sowohl beruflich Entsandte als auch Praktikanten, Austauschschüler und Studierende wechseln für eine begrenzte Zeit in das jeweils andere Land.

Leben in Mexiko Abgesehen von den Mentalitätsunterschieden gibt es noch einige wichtige Dinge, auf die Sie sich vorbereiten sollten, bevor Sie nach Mexiko reisen. Die Geschlechterrollen in Mexiko sind sehr viel traditioneller, als die meisten Europäer dies gewohnt sind. So wird Frauen, erst recht, wenn sie als Europäerinnen erkannt werden, verbales Anmachen und häufiges Nachpfeifen nicht erspart bleiben. Um zu vermeiden, dass sie im Gedränge der Straßenbahn oder U-Bahn in Mexiko-Stadt ungewollt angefasst werden, gibt es für Frauen häufig separate Abteile. Die unterschiedliche Stellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft wird besonders deutlich im Sprachgebrauch. Die 146

schlimmsten Schimpfwörter beziehen sich auf die Person der Mutter, wohingegen Wörter, die sich auf den Vater beziehen, durchweg positive Dinge bezeichnen. Andererseits werden Frauen und vor allem Mütter in Mexiko äußerst höflich und mit viel Respekt behandelt. So wird ihnen zum Beispiel die Tür aufgehalten, der Stuhl zurechtgerückt, für sie gezahlt und Ähnliches. Korruption ist in der mexikanischen Gesellschaft leider ein geschichtlich gewachsenes Phänomen. Auf der einen Seite existiert eine regierende Schicht, die oftmals durch mehr oder weniger illegale Mittel an die Macht kommt. Auf der anderen Seite existiert eine Gesellschaft, in der dem Gesetz oftmals kein großer Wert beigemessen wird, eine Gesellschaft, die über viele Jahre hinweg unterworfen wurde und die sich daran gewöhnt hat, dass das eigene Gesetz der Behörden sehr anders aussehen kann als das geschriebene Gesetz. So fühlen sich in Mexiko beispielsweise Polizisten oder andere Autoritätspersonen oftmals dazu befähigt, von anderen Personen Geld zu verlangen, da es Systeme gibt, die ihnen den Rücken stärken und die Korruption verdecken. Die Bevölkerung ist es gewohnt zu gehorchen und organisiert sich nur sehr selten, um gegen die Missstände im Land oder für die Einhaltung der Gesetze zu protestieren. Korruption wird als normal beziehungsweise als eine Form angesehen, verschiedenste Angelegenheiten zu regeln. In der jüngsten Geschichte Mexikos haben sich jedoch immer mehr demokratische Räume geöffnet, die eine Verfolgung und Ächtung der Korruption ermöglichen. Im Alltag heißen die mehr oder weniger großen Geldsummen, durch die Vorgänge beschleunigt, verlangsamt, verhindert oder ermöglicht werden, »mordidas« (kleiner Biss). Als Ausländer sollten Sie (schon aufgrund der bestehenden staatlichen Programme zur Verfolgung der Korruption) auf keinen Fall solche »mordidas« anbieten. Geben Sie nur Geld, wenn es absolut notwendig ist und sie ausdrücklich dazu aufgefordert werden. Da die Kriminalität in Mexiko in den letzten Jahren stark zugenommen hat, sollten Sie sich vor Ihrem Reiseantritt auf den Internetseiten des Auswärtigen Amts über die aktuelle Lage erkundigen und sich während Ihres Aufenthalts nach den in diesem Abschnitt erläuterten Verhaltensregeln richten. 147

Die Gründe für die steigende Kriminalität sind vielfältig: Ein Faktor ist in Mexiko immer noch der Drogenhandel. Um die eigene Sicherheit zu gewährleisten, reichen einfache Vorsichtsmaßnahmen aus, wie zum Beispiel das Meiden von bestimmten Strecken an der Küste und im Süden des Landes und von Überlandfahrten bei Nacht. Weitaus häufiger sind jedoch andere Motive für Kriminalität vorzufinden: In fast keinem anderen Land ist der Unterschied zwischen der reichen und der armen Bevölkerungsschicht so groß wie in Mexiko. Kriminalität dient häufig der Lösung ökonomischer Probleme und geschieht seltener aus politischen Motiven. Aufgrund der extremen Einkommensunterschiede geht es bei Überfällen und Entführungen in Mexiko in der Regel um sehr viel mehr Geld als in anderen ärmeren lateinamerikanischen Ländern. Deshalb entwickeln sich hier auch zunehmend kriminelle Organisationen, die ihre Forderungen sehr viel radikaler durchsetzen als Einzeltäter. Für Ausländer ist die Gefahr eher gering, dass sie Opfer einer kriminellen Organisation werden. Eher vorsehen müssen sie sich vor Überfällen von Privatpersonen, meist zwei oder drei Personen, die zusammenarbeiten. Das Einhalten der im Weiteren genannten Sicherheitsvorkehrungen kann die Gefahr eines Überfalls stark mindern. Um Diebstahl zu vermeiden, achten Sie stets auf Ihr Handgepäck, vor allem in großen Menschenansammlungen. Bewahren Sie zur Sicherheit Kopien Ihrer wichtigen Dokumente an einem sicheren Ort auf; sie können auch bei der Botschaft hinterlegt werden. Wertsachen sollten Sie grundsätzlich gut verschlossen halten. Tragen Sie keine teuren Uhren, Anzüge, Aktentaschen, Fotoausrüstung oder Ähnliches, was darauf schließen lässt, dass Sie Tourist sind und (verhältnismäßig) viel Geld besitzen. Taxis sollten Sie vor allem in Mexiko-Stadt nur an den offiziellen Taxiständen nutzen und nie auf offener Straße anhalten. Achten Sie auf die Plakette, lassen Sie sich vor Fahrtantritt den Ausweis des Fahrers zeigen und vergleichen Sie das Foto mit seinem Gesicht. Bei Fahrten mit dem eigenen Wagen sollten auf keinen Fall Anhalter mitgenommen werden, die in Mexiko nicht üblich sind. 148

Halten Sie nie auf offener Strecke an, auch nicht bei einem Unfall. Benachrichtigen Sie lieber die nächste Tankstelle, denn häufig werden Unfälle gestellt, um Autos auszurauben oder zu stehlen. Die Gefahr, bei Überlandfahrten überfallen zu werden, ist in den südlichen Staaten Oaxaca, Chiapas und Guerrero am größten. Nachts ist die Gefahr größer als am Tag, aber nicht nur deswegen, sondern auch wegen der schlechten Straßenverhältnisse ist es sicherer, tagsüber zu fahren. Im Falle eines Unfalls sollten Sie wissen, dass fast 90 Prozent aller mexikanischen Autos nicht haftpflichtversichert sind. Bei Autofahrten wird generell dazu geraten, die Türen von innen zu verriegeln. Busreisen sollten in den oben genannten Gebieten ebenfalls am besten tagsüber vorgenommen werden. In den Gebieten, in denen sich Überfälle häufen, sollte lieber nur in der ersten Klasse gereist werden. Wenn Sie sichergehen wollen, dann behalten Sie das Gepäck stets in Ihrer Nähe und verstauen Sie es nicht im Gepäckfach des Busses. Nach zehn Uhr abends sollten Sie kein Geld am Geldautomaten abheben und sich zu jeder Tageszeit erst einmal umsehen, ob keine verdächtige Person zu nahe kommt. Ebenfalls sollten Sie nach zehn Uhr in Mexiko-Stadt nicht mehr allein unterwegs sein, auch nicht für eine kurze Besorgung (und auch nicht als Mann). Sollten Sie überfallen werden, leisten Sie keinen Widerstand, da sonst schnell von Waffen Gebrauch gemacht wird. Suchen Sie so schnell wie möglich Ihr Hotel oder einen anderen sicheren Ort auf und suchen Sie keine Hilfe bei der örtlichen Polizei, da diese häufig mit in die kriminellen Aktivitäten verwickelt ist. Durch ein unauffälliges Verhalten und die Einhaltung der genannten Verhaltensempfehlungen kann die Gefahr, Opfer einer kriminellen Handlung zu werden, erheblich gesenkt werden. Fremdsprachenkenntnisse sind bei Mexikanern nicht sehr ausgebildet. Zwar sprechen Mexikaner mit akademischer Ausbildung mindestens Englisch, sie stellen aber in der gesamten Bevölkerung eher eine Minderheit dar. Auch wenn Sie vielleicht das Glück haben, in Arbeitszusammenhängen in einem internationalen Unternehmen ohne Spanischkenntnisse auszukommen, werden Sie spätestens beim ersten Einkauf auf Grenzen stoßen. Es ist 149

also dringend zu empfehlen, sich schon vor der Reise oder spätestens nach der Ankunft in Mexiko Grundkenntnisse anzueignen. Dies erleichtert nicht nur alles Organisatorische ungemein, sondern auch das Kennenlernen neuer Freunde. Mexikaner sind zudem sehr hilfsbereit gegenüber Sprachanfängern. Selbst mit gebrochenem Spanisch können Sie wesentlich mehr erreichen als mit fließendem Englisch. Das mexikanische Spanisch wird verhältnismäßig langsam gesprochen, ohne Unterscheidung der Buchstaben c, s und z. Eine grammatikalische Besonderheit ist das Benutzen von »ustedes« für »ihr«, im Gegensatz zum spanischen »vosotros«. In Mexiko gibt es eine Vielzahl informeller Ausdrücke, die sehr häufig benutzt werden. Als Ausländer ist es jedoch besser, darauf zu verzichten, da sie häufig zweideutig sind und sehr leicht falsch verstanden werden können. Auch der Ausdruck »Indio« für die indigene Bevölkerung sollte vermieden werden, da er sehr abwertend ist. Angemessen ist stattdessen der respektvolle Begriff »Indígeno« (Person mit indigener Abstammung).

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Hilfreiche Adressen und weiterführende Literatur

Internetseiten Offizielle Seiten Mexikanische Botschaft: http://www.embamex.de/ Deutsche Botschaft in Mexiko: http://www.embajada-alemana.org.mx/ Auswärtiges Amt: http://www.auswaertiges-amt.de/ Deutsch-mexikanische Handelskammer: http://www.camexa.com.mx/ Sekretariat für Auslandsbeziehungen in Mexiko: http://www.sre.gob.mx

Information über Wirtschaft in Mexiko http://www.businessculture.com/

Umfangreiche allgemeine Information über Mexiko http://www.mexiko-mexico.de/ http://www.mexico-info.de/ http://www.mexonline.com/ http://www.mexconnect.com/ http://www.lonelyplanet.com/destinations/north_america/mexico/ 151

Informationsseite für Expatriates http://www.expatexchange.com/

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Literatur

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