Adornos Philosophie ist in weit größerem Maß durch die Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie geprägt als bisher
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German Pages 277 [278] Year 2025
Table of contents :
Cover
Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie
I. Zwischen Neukantianismus und Phänomenologie
II. Ein Schüler von Cornelius: Adornos frühe Husserl-Rezeption
2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford
3. Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung
4. Methode, Programm, Aufbau
Kapitel 1: Probleme des Idealismus
Einleitung: Die Krise der Philosophie
1. Der Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit
I. Idealismus
a. Marburger Neukantianismus
b. Simmels Lebensphilosophie
c. Südwestdeutscher Neukantianismus
II. Positivismus
III. Phänomenologie
a. Positivistisches Motiv
b. Idealistisches Motiv
2. Zum Begriff des Idealismus
I. prima philosophia
II. Residualtheorie der Wahrheit
III. Erkenntnistheorie als Immanenzphilosophie
a. Positivistische Immanenzphilosophie
b. Idealistische Immanenzphilosophie
c. Der Doppelcharakter der Erkenntnisformen
Abschlussreflexion: Die Aporie der Erkenntnistheorie
Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
Einleitung: Zwei Ausbruchsversuche
1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
I. Ausbruchsmotiv: ‚Zu den Sachen selbst‘
II. Scheitern des Ausbruchs: Heimkehr zum transzendentalen Idealismus
2. Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie
Zwischenbemerkung: Die Frage nach der Dialektik
I. Kategoriale Anschauung
a. Erweiterung der Anschauung
b. Paradoxe Vereinigung
II. Wesen
a. Wesen und Tatsache
b. Destruktion des Wesens
III. Transzendentale Subjektivität
a. Husserls transzendental-phänomenologischer Idealismus
b. Transzendentale Subjektivität und faktisches Subjekt
Abschlussreflexion: Die transzendentale Phänomenologie als konsequenteste Gestalt des Idealismus
Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
Einleitung: Ein vom Dogma total verschiedener Weg
1. Adornos materialistische Logik
I. Geltung und Genesis
a. Husserls Idee einer reinen Logik und Adornos Kritik des logischen Absolutismus
b. Genetische Phänomenologie: Zur Historizität der Logik
II. Erkenntnistheorie und Gesellschaft
Exkurs: Adornos Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel
a. Idealistische Synthesis und Sinnesgenesis
b. Sinnesgenesis und gesellschaftliche Genesis
2. Negative Dialektik
I. Zur Struktur negativer Dialektik
a. Innere Vermittlung und der Widerspruch als Sinnesimplikat
b. Der Vorrang des Objekts und das ‚Zu den Sachen selbst‘
II. Zum Verfahren negativer Dialektik
a. Aneignung der Wesensschau: Adornos Mikrologie
b. Von der Phänomenologie zur gesellschaftlichen Physiognomik
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Schriften von Adorno und Husserl
Theodor W. Adorno
Edmund Husserl
Weitere Literatur
Studien zur Kritischen Theorie
Till Seidemann
Überschreitung des Idealismus Adorno und Husserl
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Studien zur Kritischen Theorie Herausgegeben von Maxi Berger und Philip Hogh Band 7
Till Seidemann
Überschreitung des Idealismus Adorno und Husserl
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Darmstadt, Technische Universität, Diss., 2024 ISBN 978-3-495-99094-0 (Print) ISBN 978-3-495-99095-7 (ePDF)
Onlineversion Nomos eLibrary
1. Auflage 2025 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2025. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de
Vorwort
Dieses Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertati‐ on, die ich im September 2023 an der TU Darmstadt eingereicht und im April des Folgejahres verteidigt habe. Schon während meines Philosophiestudiums an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün‐ chen begann eine leise Ahnung zu der Überzeugung heranzureifen, dass der philosophische Kern von Adornos Denken in weit größe‐ rem Maß durch Husserls Phänomenologie geprägt ist als bisher angenommen. Diese Überzeugung hat nun die Gestalt eines Buches erlangt, von dem kleine Teile bereits an anderer Stelle erschienen sind. Abschnitte aus der Einleitung und aus Kapitel 1 sind eingegan‐ gen in den Aufsatz „Zum Doppelcharakter der Erkenntnisformen. Adorno als Schüler von Hans Cornelius“, in: Felix Brandner und Till Seidemann (Hgg.): Zwischenwelten der Kritischen Theorie. Beiträge zu Systematik und Geschichte, Baden-Baden 2024, S. 167–182. Kapitel 2 ist in einer stark gekürzten Fassung unter dem Titel „Durchbre‐ chung des Idealismus. Grundlinien der Husserl-Rezeption Theodor W. Adornos“ in der Zeitschrift für kritische Theorie, Bd. 56/57, 2023, S. 41–62, erschienen. Bekanntlich sind Projekte wie dieses kaum ohne die Unterstüt‐ zung Vieler zu bewerkstelligen und darum seien einige Worte des Dankes vorangeschickt. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Petra Gehring und Dr. habil. Marc Nicolas Sommer, die die Betreuung meiner Dissertation übernommen haben. Petra Gehring danke ich für das lebhafte Interesse, das sie meiner Arbeit von Anfang an entgegengebracht hat, für den lehrreichen und inspirierenden Aus‐ tausch sowie für die stets zeitnahe Bearbeitung sämtlicher bürokrati‐ scher Angelegenheiten, mit denen ich mich während meiner Promo‐ tion an sie gewendet habe. Marc Nicolas Sommer danke ich dafür, die Zweitbetreuung bereits zu einer Zeit übernommen zu haben, als er selbst noch mit der Anfertigung seiner Habilitationsschrift befasst war. Der inhaltliche Austausch, den wir in den letzten Jahren geführt haben, hat dieses Buch in entscheidender Hinsicht geprägt.
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Vorwort
Ohne ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung wäre die Anfertigung der Dissertation innerhalb von drei Jahren schlicht nicht möglich gewesen. Darüber hinaus hat ein großzügiger Druck‐ kostenzuschuss noch die Veröffentlichung des nun vorliegenden Buches unterstützt. Ich danke der Stiftung und insbesondere Dr. Patrick Tschirner für die umfangreiche Unterstützung, die weit über die finanzielle Förderung hinausging. Prof. Dr. Dirk Stederoth wur‐ de mir von der Hans-Böckler-Stiftung als Vertrauensdozent zur Sei‐ te gestellt. Ihm danke ich für die herzlichen Gespräche, die mich besonders in Phasen der Unsicherheit mit neuer Zuversicht erfüllt haben. Prof. Dr. Sophie Loidolt hat die Entstehung der Dissertation im Rahmen des philosophischen Kolloquiums an der TU Darmstadt und auch darüber hinaus begleitet. Ich danke ihr dafür, dass ich ihr Wissen über Husserls Phänomenologie jederzeit anzapfen durfte, obwohl sie formell nicht für meine Betreuung zuständig war. Prof. Dr. Thomas Friedrich hat meinem Projekt großes Interesse und viel Enthusiasmus entgegengebracht und mich ganz unabhängig von institutionellen Strukturen unterstützt. Ich danke ihm dafür, dass er große Teile des Buches gelesen und mit mir diskutiert hat. Prof. Dr. Gunnar Hindrichs hat mich während eines Gastdoktorats an der Universität Basel im Frühjahrsemester 2022 begleitet. Ihm danke ich für die herzliche Aufnahme an der Universität und den lehrreichen Austausch im Kolloquium, in Seminaren und in Einzelgesprächen. Prof. Dr. Philip Hogh und Prof. Dr. Maxi Berger danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe Studien zur Kritischen Theorie. Dr. Monika Mühlpfordt vom Verlag Karl Alber danke ich ganz herz‐ lich für die Betreuung der Veröffentlichung. Viele Freunde und Freundinnen haben mich während der Promo‐ tion auf ganz unterschiedliche Weise unterstützt. Luis Basler danke ich für den intensiven philosophischen Austausch während der letz‐ ten Jahre, der dieses Buch besonders geprägt hat. Felix Brandner hat mit mir während der Promotion eine Tagung an der Freien Uni‐ versität Berlin organisiert und einen Sammelband herausgegeben. Sämtliche Hürden und Herausforderungen, die sich dabei ergaben, ließen sich nur deshalb so gut meistern, weil die Zusammenarbeit eine zwischen Freunden war. Ich danke ihm für die gemeinsame Zeit und für die Lektüre großer Teile dieses Buches. Martin Galla und Leonie Wellmann danke ich für die regelmäßigen Arbeitstref‐
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Vorwort
fen, in deren Rahmen große Teile dieses Buches geschrieben wur‐ den. Martin danke ich außerdem für die Lektüre. Meinen Eltern Bernd und Ingeborg Seidemann danke ich für die lebenslange Unterstützung. Hätten sie mich in jener kleinen, erzkon‐ servativen Gemeinde in Bayern, in der ich aufgewachsen bin, nicht schon im Grundschulaltern in den Ethikunterricht geschickt, wäre dieses Buch vielleicht nie entstanden. Frankfurt am Main, im Oktober 2024
Till Seidemann
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„Philosophie ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder auch nicht.“ Theodor W. Adorno – Negative Dialektik
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie . . .
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1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie . . . I. Zwischen Neukantianismus und Phänomenologie . . II. Ein Schüler von Cornelius: Adornos frühe HusserlRezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung . .
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4. Methode, Programm, Aufbau . . . . . . . . . . . . . . .
41
Kapitel 1: Probleme des Idealismus . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Die Krise der Philosophie . . . . . . . . . . . .
51
1. Der Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit I. Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . a. Marburger Neukantianismus . . . . . b. Simmels Lebensphilosophie . . . . . . c. Südwestdeutscher Neukantianismus . . II. Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . III. Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . a. Positivistisches Motiv . . . . . . . . . b. Idealistisches Motiv . . . . . . . . . .
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56 57 57 58 60 62 66 66 71
2. Zum Begriff des Idealismus . . . . . . . . . . . . . I. prima philosophia . . . . . . . . . . . . . . . II. Residualtheorie der Wahrheit . . . . . . . . . III. Erkenntnistheorie als Immanenzphilosophie . . a. Positivistische Immanenzphilosophie . . . . b. Idealistische Immanenzphilosophie . . . . . c. Der Doppelcharakter der Erkenntnisformen .
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75 77 80 86 88 93 98
Abschlussreflexion: Die Aporie der Erkenntnistheorie . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus . . . . . . . .
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Einleitung: Zwei Ausbruchsversuche . . . . . . . . . . . . .
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus . . . . . . I. Ausbruchsmotiv: ‚Zu den Sachen selbst‘ . . . . . . . II. Scheitern des Ausbruchs: Heimkehr zum transzendentalen Idealismus . . . . . . . . . . . . .
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2. Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie . . . . . . Zwischenbemerkung: Die Frage nach der Dialektik I. Kategoriale Anschauung . . . . . . . . . . . . . . a. Erweiterung der Anschauung . . . . . . . . . . b. Paradoxe Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . II. Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Wesen und Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . b. Destruktion des Wesens . . . . . . . . . . . . . III. Transzendentale Subjektivität . . . . . . . . . . . a. Husserls transzendental-phänomenologischer Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Transzendentale Subjektivität und faktisches Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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130 132 136 136 140 145 145 150 156
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Abschlussreflexion: Die transzendentale Phänomenologie als konsequenteste Gestalt des Idealismus . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus . . . . . . . .
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Einleitung: Ein vom Dogma total verschiedener Weg . . . . .
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1. Adornos materialistische Logik . . . . . . . . . . . . . I. Geltung und Genesis . . . . . . . . . . . . . . . . a. Husserls Idee einer reinen Logik und Adornos Kritik des logischen Absolutismus . . . . . . . . b. Genetische Phänomenologie: Zur Historizität der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erkenntnistheorie und Gesellschaft . . . . . . . . Exkurs: Adornos Auseinandersetzung mit SohnRethel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Idealistische Synthesis und Sinnesgenesis . . . . b. Sinnesgenesis und gesellschaftliche Genesis . . .
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Inhaltsverzeichnis
2. Negative Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zur Struktur negativer Dialektik . . . . . . . . . . a. Innere Vermittlung und der Widerspruch als Sinnesimplikat . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Der Vorrang des Objekts und das ‚Zu den Sachen selbst‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zum Verfahren negativer Dialektik . . . . . . . . . a. Aneignung der Wesensschau: Adornos Mikrologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Von der Phänomenologie zur gesellschaftlichen Physiognomik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schriften von Adorno und Husserl . . . . . . . . . . . . . . .
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Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
Theodor W. Adorno und Edmund Husserl waren Vertreter zweier Denkschulen, die die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben.1 Und mehr als das: Diese Denkschulen, die auf die Namen Kritische Theorie und Phänomenologie lauten, werden von diesen Denkern in einem besonderen Maße repräsen‐ tiert. Bei Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, die unter der berühmt gewordenen Forderung ‚Zurück zu den Sachen selbst‘ in die philosophische Arena des beginnenden 20. Jahrhunderts trat und der deutschen Philosophie nach dem Niedergang des klassi‐ schen Idealismus einen Neuanfang zu eröffnen schien, liegt die Sa‐ che von vornherein auf der Hand. Aber auch bei Adorno, der den seine eigene Philosophie bezeichnenden Terminus ‚negative Dialek‐ tik‘ gleichbedeutend mit dem der Kritischen Theorie verstanden wissen wollte,2 spricht vieles dafür, von einem exponierten Vertre‐ ter seiner Denktradition zu sprechen, gerade was deren philosophi‐ schen Kern anbelangt.3 An eine Untersuchung, die sich mit Adorno 1 Die Zitation aus den Texten von Adorno und Husserl erfolgt mit Siglenangaben im Fließtext. Zitiert wird aus den gängigen Werkausgaben, die mit den entspre‐ chenden Siglen im Literaturverzeichnis angegeben sind. 2 Gleich zu Beginn seiner Vorlesung über Negative Dialektik konstatiert Adorno, „daß die negative Dialektik, von der ich Ihnen Elemente und Idee zu entwickeln habe, mit einer kritischen Theorie im wesentlichen dasselbe ist.“ NaS IV 16/36. 3 So bildet die mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung das ‚grand finale‘ von Martin Jays wegweisender Studie über die Geschichte der Frankfurter Schule. Vgl. Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt am Main 1976. Keinesfalls soll hier die Heterogenität der Kritischen Theorie verwischt werden und freilich war es Horkheimer, der jener Denktradition mit seinem 1937 veröf‐ fentlichten Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie ihren Namen gab und als langjähriger Leiter des Instituts für Sozialforschung eine Schulbildung allererst ermöglichte. Der schriftstellerisch wesentlich produktivere Adorno hat jedoch als das philosophische Oberhaupt des nach Deutschland zurückgekehrten In‐
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
und Husserl befasst, mag deshalb aus gutem Grund die Erwartung gestellt werden, etwas über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Phänomenologie im Allgemeinen zu sagen. Dieses Verhältnis steht keineswegs in klarem Licht. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass Klarheit noch nicht einmal darüber herrscht, ob ein Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und Phänomenologie besteht, das über Feindschaft und Ablehnung hinausgeht; ja, ob die‐ se Denkrichtungen überhaupt in irgendeiner Weise miteinander ver‐ träglich sind. Hier eine dialektische Sozialphilosophie, die stets auf die gesellschaftliche Vermittlung allen Denkens hinweist; dort eine Philosophie, die sich, zumindest in ihrer Husserlschen Gestalt, als eine aller Faktizität vorgeordnete Wissenschaft des reinen Bewusst‐ seins versteht. Mitunter herrscht das Bild von einer philosophischen Kommunikationsverweigerung,4 die ihren Ursprung darin habe, dass die berühmten Phänomenologen und Phänomenologinnen sich schlicht nicht für die Kritische Theorie interessierten,5 wohingegen diese einen Gestus der Ablehnung gegenüber der Phänomenologie kultivierte. Bisweilen wurde Adorno gar die philosophiehistorische Schuld aufgebürdet, vor allem durch seine Kritik an Heidegger, zu einer „Marginalisierung der Phänomenologie in Deutschland […] ohne Zweifel entscheidend beigetragen“6 zu haben. Einschätzungen wie diese von László Tengelyi erscheinen äußerst fragwürdig ange‐ sichts der Tatsache, dass es die Nationalsozialisten waren, die bedeu‐ stituts zu gelten. Adorno, der die Leitung des Instituts 1958 übernahm, war Ri‐ chard Klein zufolge „der politische Philosoph der zweiten deutschen Republik.“ Richard Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, in: Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm (Hgg.): Adorno-Hand‐ buch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 435–445, hier S. 435. 4 Vgl. Hermann Mörchen: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophi‐ schen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981. 5 Sinnbildlich hierfür kann eine Äußerung Martin Heideggers stehen, die aus einem Fernsehinterview stammt. Als der Interviewer Richard Wisser auf Adorno zusprechen kommt, sagt Heidegger: „Ich habe nichts von ihm gelesen. Der Her‐ mann Mörchen hat einmal versucht, mich zu bereden, ich sollte doch Adorno lesen. Ich habe es nicht getan.“ Richard Wisser: „Das Fernseh-Interview“, in: Günther Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, S. 257– 287, hier S. 283. 6 László Tengelyi: „Negative Dialektik als geistige Erfahrung? Zu Adornos Aus‐ einandersetzung mit Phänomenologie und Ontologie“, in: Phänomenologische Forschungen, 12. Jg., 2012, S. 47–65, hier S. 47.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
tende Phänomenologen und Phänomenologinnen zur Emigration zwangen und im Falle Edith Steins im KZ ermordeten. Ein derart unversöhnlicher Ton, wie wir ihn bei Tengelyi verneh‐ men, wird freilich nicht von allen angeschlagen. Thomas Bedorf zufolge sei das „Verhältnis von Husserls Phänomenologie zur Kri‐ tischen Theorie […] selbst ein kritisches“ und „in erster Linie be‐ stimmt durch kritische Distanz der kritischen Theorie gegenüber Husserl“7. Hinter dieser Grundhaltung erblickt Bedorf jedoch „viele Nähen und eine konstante Auseinandersetzung […], die bei den Gründern beider Richtungen beginnt und auch den späteren Gene‐ rationen von Phänomenolog/innen und kritischen Theoretiker/in‐ nen nicht abgeschlossen ist.“8 Gesetzt also, es gibt ein Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und Phänomenologie, das sich nicht in kritischer Distanzierung erschöpft, ja wohlmöglich durch eine gewisse Nähe gekennzeichnet ist, so kann dieses Verhältnis allein dadurch bestimmt werden, dass die Auseinandersetzung zwischen einzelnen Vertretern beider Denktraditionen genau in den Blick genommen wird, ohne dabei von vornherein die Setzung mitzuma‐ chen, es handle sich um zwei verfeindete Lager. Gegenstand dieses Buches ist Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie. Indem diese Auseinandersetzung, die Adornos gesamtes Werk durchzieht, erstmals umfassend rekonstru‐ iert wird,9 hofft das Buch auch einen Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Kritischer Theorie und Phänomenologie zu leis‐ ten. Wohlmöglich kann es als Vorstudie für das Projekt einer Ver‐ knüpfung von Kritischer Theorie und Phänomenologie angesehen werden, denn dass im Falle der Philosophie Adornos solch eine Verknüpfung vorliegt, wird die Untersuchung vor Augen führen. Sie wird zeigen, dass das Programm von Adornos Philosophie so‐ wie deren spezifische Gestalt sich im Zuge einer kontinuierlichen 7 Thomas Bedorf: „Kritische Theorie“, in: Sebastian Luft u. Maren Wehrle (Hgg.): Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 332–336, hier S. 332. 8 Ebd. 9 Die Übersicht über die Forschung wird zeigen, dass es eine überschaubare Zahl an Aufsätzen gibt, die Adornos Auseinandersetzung mit Husserl in den Blick nehmen. Nie aber hat man sich dieser Auseinandersetzung monographisch zuge‐ wendet. Siehe hierzu das Unterkapitel Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung, im vorliegenden Buch, S. 35–41.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie entwickeln. Das in Rede stehende Programm ist die Überschreitung des Idealismus. Die spezifische Gestalt von Adornos Philosophie ist die eines undog‐ matischen Materialismus, der sich als Kritische Theorie der Gesell‐ schaft wie der Vernunft begreift. Die Untersuchung schließt mit dem Nachweis, dass sich Adorno im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Husserl bestimmte phänomenologische Motive aneignet und in die eigene Philosophie integriert; ja, dass seine negative Dialektik als der Versuch anzusehen ist, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ einzulösen. Weil jedoch das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Phänomenologie im Allgemeinen kaum erforscht ist, scheint es un‐ umgänglich, dem Hauptteil des Buches zunächst eine philosophie‐ historische Landkarte vorauszuschicken und Adornos Auseinander‐ setzung mit Husserl auf dieser Karte zu verorten.
1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie Innerhalb der Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie ist Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie kein Einzelfall. Vielmehr lässt sich zeigen, dass sich von jenen Denkern, die später Mitglieder des Instituts für Sozialforschung wurden oder diesem nahestanden, ein nicht geringer Teil bereits während der akademischen Ausbildung der Phänomenologie zuwandte. Glaubt man hier vorschnell von einer Auseinandersetzung sprechen zu kön‐ nen, die zu einer kritischen Distanz gegenüber der Phänomenolo‐ gie geführt hätte, verfehlt man die Spezifik jener Zuwendung. Sie lässt sich mittels eines Begriffs einfangen, den Christian Voller in seiner Studie zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie entwickelt hat: den des ‚Heidelberger Synkretismus‘.10 Während Voller den historischen Materialismus und seine philo‐ sophische Reformulierung durch Georg Lukács und Karl Korsch als die eine Quelle der frühen Kritischen Theorie beschreibt, sei anderseits ein spezifisches intellektuelles Milieu prägend gewesen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Heidelberg existierte. Von jenen Denkern, die der Kritischen Theorie zugerechnet werden kön‐ 10 Vgl. Christian Voller: In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie, Berlin 2022, S. 153–174.
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1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie
nen, verbrachten Erich Fromm, Leo Löwenthal, Alfred Sohn-Rethel und der bereits 1924 verstorbene Alfred Seidel mindestens einen Teil ihrer Studienjahre in Heidelberg. Sie standen wiederum im Aus‐ tausch mit dem Frankfurter Umfeld um Adorno, Horkheimer, Sieg‐ fried Kracauer und Walter Benjamin – letzterer nahm zeitweise am Heidelberger Universitätsleben teil, auch wenn er kein eingeschrie‐ bener Student war. Wie Voller zeigt, bildete dieser Personenkreis ein „informelles Netzwerk, das neben der Marxistischen Arbeitswoche einen zweiten Nukleus Kritischer Theoriebildung am Anfang der 1920er-Jahre darstellt“11. Der Begriff des Heidelberger Synkretismus hat freilich eine rein heuristische Funktion und soll keinesfalls eine philosophische Strö‐ mung heraufbeschwören, die es nie gegeben hat.12 Nach Voller habe man es mit einer „ausgesprochen vielschichtigen, durchaus noch unsortiert und chaotisch anmutenden diskursiven Formation zu tun“, die „(noch) keine einheitliche Tendenz des Gedankengangs“13 erkennen lässt. Löwenthal – an seinen Ausführungen ist der Be‐ griff gebildet – spricht bezugnehmend auf seine Heidelberger Zeit von einer „mystischen, radikalen, synkretistischen Stimmung, die gemischt war aus revolutionärem Radikalismus, jüdischem Messia‐ nismus, Vergaffung in eine ontologisch aufgefasste Phänomenologie, Bekanntschaft mit der Psychoanalyse“14. Was jene diffuse, je nach Denker verschieden zusammengesetzte Melange aus unterschiedli‐ chen Denktraditionen auch über Heidelberg hinaus verbindet, ist ein gemeinsamer Feind innerhalb der akademischen Philosophie so‐ wie die affirmative Bezugnahme auf eine philosophische Strömung, die als Alternative erscheint. Dieser Feind ist der Neukantianismus, die Alternative die Phänomenologie.
11 Ebd., S. 156. 12 Gegen den Begriff ließe sich kritisch einwenden, dass angesichts der mehrschrit‐ tigen Studienwege der besagten Personen eine Zentrierung auf Heidelberg nur bedingt möglich ist. 13 Ebd., S. 167. 14 Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt am Main 1980, S. 54.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
I. Zwischen Neukantianismus und Phänomenologie
Der Neukantianismus war die philosophische Hauptströmung, mit der sich die frühen Vertreter der Kritischen Theorie nicht nur in Heidelberg konfrontiert sahen und die zur damaligen Zeit im aka‐ demischen Betrieb tonangebend war. Heidelberg galt als Zentrum der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, die allen voran durch Wilhelm Windelband und seinen Schüler Heinrich Rickert vertreten wurde. Rickert hatte zunächst eine Professur in Freiburg inne und übernahm anschließend die seines Lehrers in Heidelberg. Löwenthal, der anfänglich „große Sympathie mit der Marburger Philosophie“15 hegte, also der durch Hermann Cohen, Paul Natorp und Ernst Cassirer vertretenen Marburger Schule des Neukantianis‐ mus, erinnert sich im Gespräch mit Helmut Dubiel an ein RickertSeminar in Heidelberg, das für ihn „besonders wichtig“16 war. Dort wurde Husserls Werk Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie17 diskutiert: „[A]ls ein damals noch sehr rigoros kantianisch-orientierter Student, habe ich mich schwer entschließen können, die Husserlschen Begriff überhaupt zu verstehen oder gar zu akzeptieren. Auf der anderen Sei‐ te glaubte ich eine Intention zu erkennen, den bloßen Formalismus der Kantianer zu überwinden in Richtung auf eine Metaphysik, die vielleicht auch für die Art von philosophischem, revolutionärem Radi‐ kalismus brauchbar war, zu dem ich mich […] damals bekannte.“18
Während der Neukantianismus – so jedenfalls ein gängiger Vorwurf – die Philosophie auf einen erkenntnistheoretischen Formalismus re‐ duziert, für den die Dinge nur so weit in Betracht kommen, wie sie sich dem formalisierten Erkenntnissubjekt fügen,19 scheint Husserls Phä‐ 15 16 17 18 19
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Ebd., S. 58. Ebd., S. 56. Im weiteren Fließtext wird die gängige Kurzform Ideen verwendet. Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie, S. 56. Einer gängigen philosophiehistorischen Darstellung zufolge ist der Neukantia‐ nismus als Versuch anzusehen, die Philosophie nach dem Niedergang des deut‐ schen Idealismus zu rehabilitieren. So lesen wir bei Herbert Schnädelbach: „Der Neukantianismus in seinen zahlreichen Spielarten […] rehabilitiert insgesamt die Philosophie dadurch als Erkenntnistheorie, daß er dieser Disziplin eine Ba‐ sisfunktion für Philosophie und Wissenschaft zuweist.“ Später ertönt dann häu‐ fig der Vorwurf, „der Neukantianismus habe die Philosophie auf Erkenntnis‐
1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie
nomenologie die Möglichkeit zu eröffnen, diese Erkenntnisgrenzen zu überwinden, um ‚zu den Sachen selbst‘ vorzudringen. Gerade diese gegen den Idealismus gerichtete Wendung vom Subjekt zum Objekt der Erkenntnis war das ausschlaggebende Motiv für die Bildung von Husserls Göttinger Schülerschaft.20 Wie die Husserl-Schülerin Edith Stein berichtet, hatten Husserls Logische Untersuchungen „vor allem dadurch Eindruck gemacht, dass sie als eine radikale Abkehr vom kritischen Idealismus kantischer und neukantischer Prägung erschie‐ nen.“21 Bei Husserl galt Erkenntnis wieder als ein „Empfangen, das von den Dingen sein Gesetz erhielt, nicht – wie im Kritizismus – ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigte.“22 Es wäre freilich vermessen, zu behaupten, dass die Rezeption der Phänomenologie bei den jungen Denkern der späteren Kritischen Theorie zu einer Schul‐ bildung geführt hätte. Allerdings lassen sich in ihren frühen Schriften – und häufig auch darüber hinaus – phänomenologische Tendenzen erkennen, die nicht selten mit einer Ablehnung des neukantianischen Idealismus einhergehen. Natürlich verläuft die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie sowie die Aneignung phänomenologischer Motive bei den einzelnen Autoren keineswegs einheitlich, weshalb hier einige Hinweise genügen müssen. Benjamin, der nach seiner akademischen Begegnung mit Rickert in Freiburg ein Seminar des Husserl-Schülers Moritz Geiger in Mün‐ chen besuchte, entwickelt in seiner frühen erkenntnistheoretischen Schrift Über das Programm der kommenden Philosophie von 1917 einen Erfahrungsbegriff, der darauf zielt, die bei Kant und den Neu‐ kantianern noch vorherrschende „Subjekt-Natur des erkennenden Bewußtseins zu eliminieren“23. Benjamin geht es darum, „für die
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theorie reduziert“. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt am Main 1983, S. 135. Zu ihr zählten u.a. Alexandre Koyré, Hedwig Conrad-Martius, Helmuth Pless‐ ner, Roman Ingarden, Wilhelm Schapp, Fritz Kaufmann, Hans Lipps und Edith Stein. Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend, Edith Steins Werke, Bd. 7, hg. von Lucy Gelber u. Roma‐ eus Leuven, Louvain/Freiburg 1965, S. 174. Ebd. Walter Benjamin: „Über das Programm der kommenden Philosophie“, Gesam‐ melte Schriften, Bd. II.1, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäu‐ ser, Frankfurt am Main 1991, S. 157–171, hier S. 161.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
Erkenntnis die Sphäre totaler Neutralität in Bezug auf die Begriffe Subjekt und Objekt zu finden“; dies sei „der logische Ort vieler Probleme die die Phänomenologie neuerdings wieder aufgeworfen hat.“24 Kracauer, der zeitweise in engem Austausch mit Max Scheler stand, versuchte die Phänomenologie für die wissenschaftliche Fun‐ dierung der Soziologie fruchtbar zu machen. In seinem 1922 veröf‐ fentlichten Werk Soziologie als Wissenschaft fordert er, „die Fülle der soziologischen Erkenntnisse in den Intuitionen der reinen Phä‐ nomenologie zu fundieren“25. Offenbar hat Husserl Kracauers Werk gekannt und geschätzt. Kracauer jedenfalls schreibt an Adorno, dass Husserl „mir noch kurz vor seinem Tod nach Paris schrieb, daß ich in meiner ‚Soziologie als Wissenschaft‘ Gedanken entwickelt hätte, die sich in seinem Nachlaß fänden“.26 Horkheimer studierte in den Jahren 1920–1921 auf Empfehlung seines Lehrers Hans Cornelius bei Husserl in Freiburg und beschäftigte sich auch in den Folgejahren mit der Phänomenologie.27 Wenn Horkheimer später auch die Diffe‐ renzen zwischen Kritischer Theorie und Phänomenologie betont,28 hegte er große Achtung vor Husserls Werk und bezeichnete ihn als den „letzten wirklichen Erkenntnistheoretiker“29. Herbert Marcuse schließlich ist jener Vertreter der Kritischen Theorie, dessen Biogra‐ 24 Ebd., S. 163. Uwe Steiner ist dem Einfluss der Phänomenologie auf den frühen Benjamin nachgegangen. Vgl. Uwe Steiner: „Phänomenologie der Moderne. Benjamin und Husserl“, in: Daniel Weidner u. Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin Studien, Bd. 1, München 2008, S. 107–126. 25 Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Un‐ tersuchung, Werke, Bd. 1, hg. von Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, Frankfurt am Main 2006, S. 8–101, hier S. 10. 26 Brief Kracauers an Adorno vom 13.4.1939. Theodor W. Adorno u. Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1969, hg. von Wolfgang Schopf, Briefe und Brief‐ wechsel, Bd. 7, Frankfurt am Main 2008, S. 424. 27 Zeugnis von dieser Auseinandersetzung gibt Horkheimers Habilitations-Probe‐ vortrag aus dem Jahr 1925. Vgl. Max Horkheimer: „Husserls erkenntnistheore‐ tische Fundierung der Wesensschau. Habilitations-Probevortrag“, Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987, S. 80–99. 28 Vgl. Max Horkheimer: „Traditionelle und kritische Theorie“, Gesammelte Schrif‐ ten, Bd. 4, hg. von Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1988, S. 162–216, hier S. 164. 29 Max Horkheimer: „Der neueste Angriff auf die Metaphysik“, Gesammelte Schrif‐ ten, Bd. 4, hg. von Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1988, S. 108–161, hier S. 122.
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1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie
phie zweifelsohne den unmittelbarsten Bezug zur phänomenologi‐ schen Tradition aufweist. Bekanntlich studierte Marcuse in Freiburg bei Husserl und Heidegger und gehörte zeitweise zu Heideggers engem Schülerkreis. In seinem 1936 in der Zeitschrift für Sozialfor‐ schung erschienen Aufsatz Zum Begriff des Wesens wendet sich Mar‐ cuse dem Denken seiner Lehrer aus der Perspektive der Kritischen Theorie zu und versucht den phänomenologischen Wesensbegriffs gesellschaftstheoretisch zu deuten.30
II. Ein Schüler von Cornelius: Adornos frühe Husserl-Rezeption
Den Kontext, in dem Adornos frühe Auseinandersetzung mit Hus‐ serls Phänomenologie ihren Ausgang nimmt, gilt es genauer zu be‐ trachten. Wie bei Horkheimer ist auch hier der akademische Lehrer Cornelius31 als Bindeglied anzusehen; zumindest, was den Kontakt mit Husserls Werk anbelangt, denn persönlich kennengelernt haben sich Adorno und Husserl nie. Als Cornelius im Sommersemester 1921 an der Frankfurter Goethe-Universität ein vierstündiges Semi‐ nar über Erkenntnistheorie abhielt, befand sich der gerade erst im‐ matrikulierte Adorno unter den Zuhörenden.32 Es ist anzunehmen, dass er hier erstmals nähere Bekanntschaft mit Husserls Phänome‐ nologie machte. 1922 gab Cornelius dann ein Husserl-Seminar, in dem Adorno erstmals mit Horkheimer ins Gespräch kam.33 Adornos Lehrer befasste sich jedoch nicht nur in Seminaren mit Husserl. Er 30 Vgl. Herbert Marcuse: „Zum Begriff des Wesens“, in: Zeitschrift für Sozialfor‐ schung, Jhg. 5, 1936, S. 1–39. Einen Einblick in Marcuses frühen Versuch, Phä‐ nomenologie und Marxismus zu verbinden, gibt Jordi Magnet Colomer. Vgl. Jordi Magnet Colomer: „Dialektische Phänomenologie und konkrete Philoso‐ phie beim frühen Marcuse“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Bd. 52/53, 2021, S. 144–169. 31 Zu Cornelius’ Einfluss auf Adorno, der sich insbesondere auch in dessen KantKritik niederschlägt, vgl. Till Seidemann: „Zum Doppelcharakter der Erkennt‐ nisformen. Adorno als Schüler von Hans Cornelius“, in: Felix Brandner und Till Seidemann (Hgg.): Zwischenwelten der Kritischen Theorie. Beiträge zu Systema‐ tik und Geschichte, Baden-Baden 2024, S. 167–182. 32 Vgl. Stefan Müller-Dohm: Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, S. 105. 33 Adorno erinnert sich in seinem Offenen Brief an Max Horkheimer: „In einem anderen Seminar lasest Du ein wahrhaft glanzvolles Referat vor, ich glaube über
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
führte einen inhaltlichen Austausch mit dem Begründer der Phäno‐ menologie, der bezeugt, dass Cornelius, dessen geistesgeschichtliche Wirkung gering blieb, in der akademischen Philosophie des begin‐ nenden 20. Jahrhundert keineswegs die Rolle eines Solitärs innehat‐ te. Wenn Husserl Cornelius in den Logischen Untersuchungen auch allerorts mit dem zu bekämpfenden Psychologismus in Verbindung bringt,34 scheint er sein Werk geschätzt zu haben. Wie aus dem Entwurf eines Briefes an Cornelius vom 28. September 1906 hervor‐ geht, hatte Cornelius Husserl angesichts der Kritik in den Logischen Untersuchungen darauf hingewiesen, dass beide doch „im wesentli‐ chen auf demselben Boden stehen“ (Hua 24/245). Darauf antwortet Husserl, „das erneute und genaue Studium Ihres wertvollen und von mir wahrhaftig nicht gering geschätzten Werkes begonnen“ (Hua 24/246) zu haben. In seinem philosophischen Hauptwerk, der erstmals 1916 veröf‐ fentlichten Transcendentalen Systematik, charakterisiert Cornelius seine eigene Position dann auch als transzendentale Phänomenolo‐ gie35 und in der Tat weist diese Position eine gewisse Nähe zur Phä‐ nomenologie Husserls auf. Wie Husserls berühmtem ‚Prinzip aller Prinzipien‘ zufolge „jede originär gebende Anschauung eine Rechts‐ quelle der Erkenntnis sei“ (Hua 3.1/51), bestimmt auch Cornelius das unmittelbar Gegebene als den unhintergehbaren Ausgangsgrund der Erkenntnistheorie. Zum unmittelbar Gegebenen gehöre, „was man herkömmlicherweise als unsere bewußten Erlebnisse oder als die Erscheinungen unseres Bewußtseinsverlaufes bezeichnet“.36 Diese positivistische Grundhaltung verschränkt sich wiederum – ähnlich wie bei Husserl – mit transzendentalphilosophischen Motiven, denn Cornelius geht es darum, im Gebiet des unmittelbar Gegebenen „all‐
Husserl, bei dem Du ein paar Semester studiert hattest. Spontan ging ich zu Dir und stellte mich Dir vor. Seitdem waren wir zusammen.“ GS 20.1/156. 34 Schon im ersten Band der Logischen Untersuchungen bemerkt Husserl, dass bei Cornelius deutlich werde, dass der Immanenzpositivismus von Richard Avenarius und Ernst Mach in den Psychologismus führe. Vgl. Hua 18/196. Im zweiten Band wird Cornelius dann zur exponierten Angriffsfläche von Husserls Kritik an einer Reihe nominalistischer Abstraktionstheorien. Vgl. Hua 19/212. 35 Vgl. Hans Cornelius: Grundlagen der Erkenntnistheorie. Transcendentale Syste‐ matik, München 1926, S. 50–154. 36 Ebd., S. 21.
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1. Zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie
gemein gültige, ‚transcendentale‘ Gesetzmäßigkeiten“37 freizulegen. Rolf Tiedemann charakterisiert dieses Vorhaben treffend als eine Radikalisierung des „kantischen Apriorismus“, insofern Cornelius „noch die kategorialen Mechanismen, die Kant aus der Einheit des Bewußtseins deduzierte, allein aus der Analyse des unmittelbar Ge‐ gebenen gewinnen wollte“; dadurch habe er „Idealismus und Empi‐ rismus paradox ineinander übergeführt.“38 Adorno selbst bemerkt in einer Vorlesung, dass Cornelius „eine mittlere Position einnimmt zwischen dem Neukantianismus, wie er vor und auch unmittelbar nach dem Kriege in Deutschland verbreitet war, und einem gemä‐ ßigten Positivismus mit gewissen phänomenologischen Elementen“ (NaS IV 11/280).39 Die Differenz, die Cornelius zu Husserls Phäno‐ menologie und der von ihr vollzogenen Wendung zum Objekt sieht, besteht nun vor allem darin, dass er den Standpunkt einer radikalen Immanenzphilosophie vertritt, der zufolge die „Außenwelt wie die Innenwelt […] etwas [ist], was nur als Gegenstand unseres Erken‐ nens besteht.“40 Diese Differenz ist der Gegenstand von Adornos Dissertation Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phäno‐ menologie, mit der der damals Zwanzigjährige im Sommersemester 1924 bei Cornelius promoviert wurde. Gleich im Vorwort macht Adorno deutlich, dass seine Argumentation unmittelbar an die Transcendentale Systematik von Cornelius anknüpft (vgl. GS 1/11). Ausgehend vom „Standpunkt einer reinen Immanenzphilosophie“ (GS 1/11) versucht Adorno einen Widerspruch in Husserls Dingtheo‐ rie der Ideen nachzuweisen, der auf eine unrechtmäßige Setzung dinglicher Transzendenz zurückzuführen sei. In den Ideen, die Husserls häufig so bezeichnete idealistische Wende einleiten, wird das Bewusstsein zwar als „Seinssphäre absoluter Ursprünge“ (Hua 3.1/121) bestimmt; in Adornos Augen verlässt Husserl jedoch den 37 Ebd., S. 43. 38 Rolf Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 1)“, in: Theodor W. Adorno: Philosophische Frühschriften, GS 1, S. 379–384, hier S. 382. 39 Hier zeigt sich, dass die wiederholt anzutreffende Einordnung von Corneli‐ us’ Philosophie unter die Strömung des Neukantianismus mindestens erweite‐ rungsbedürftig ist und die Spezifik seines Denkens zu verdecken droht. Diese Einordnung findet sich u.a. bei Müller-Dohm und Voller. Vgl. Müller-Dohm: Adorno, S. 108. Voller: In der Dämmerung, S. 205. 40 Cornelius: Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 260.
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Boden der Bewusstseinsimmanenz, indem er Dinge, wie es in den Ideen heißt, als „prinzipielle Transzendenzen“ (Hua 3.1/87) auffasst. Damit stelle er dem Bewusstsein von Anbeginn eine transzendente Welt gegenüber, „die zwar nur in ihrer Bezogenheit auf das Bewußt‐ sein erkenntnistheoretisch legitimiert werden könne, deren Existenz aber nicht durch den Zusammenhang des Bewußtseins konstituiert werde“ (GS 1/17). Ganz im Sinne seines Lehrers hält Adorno dem entgegen, dass Dinge „dem Zusammenhang des Bewußtseins durch‐ aus und im strengen Sinne immanent“ (GS 1/34) seien. Wir sehen, dass der frühe Adorno Husserls Wendung zum Objekt der Erkenntnis als eine unrechtmäßige Verletzung immanenzphilo‐ sophischer Prinzipien ansieht und keineswegs als einen Befreiungs‐ schlag gegen überkommene Spielarten des Idealismus, wie dies bei anderen Autoren der Kritischen Theorie zu Beginn der zwanziger Jahre längst der Fall ist. Die Dissertation kann, Tiedemann folgend, als „Schulphilosophie“ charakterisiert werden, insofern sich Adorno hier noch „vorbehaltlos auf den Standpunkt der Cornelius’schen Version des transzendentalen Idealismus“41 stellt. Dies sollte jedoch nicht dazu veranlassen, den Blick vorschnell von Adornos Früh‐ schrift abzuwenden. Gerade weil sich die Positionierung zu Husserls Phänomenologie einige Jahre später ins genaue Gegenteil verkehrt, ist die Dissertation ein lehrreiches Dokument, um die innere Syste‐ matik von Adornos Husserl-Rezeption und den Weg seines Denkens nachzuvollziehen. Sie bildet, wie Sabine Wilke feststellt, „die refle‐ xionstheoretische Folie“42 für die Position, die Adorno in seinen späteren Husserl-Arbeiten einnimmt. Erstes Zeugnis dieser veränderten Position ist Adornos Antritts‐ vorlesung Die Aktualität der Philosophie aus dem Jahr 1931. Wie Adorno hier betont, sei es die „eigentliche produktive Entdeckung Husserls, daß er den Begriff der unableitbaren Gegebenheit […] in seiner Bedeutung für das Fundamentalproblem des Verhältnis‐ ses von Vernunft und Wirklichkeit erkannte und fruchtbar mach‐ te“ (GS 1/327). Ganz im Sinne des Heidelberger Synkretismus ist Adorno nun dazu übergegangen, Husserls Überzeugung von der 41 Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 1)“, S. 382. 42 Sabine Wilke: „Adornos und Derridas Husserllektüre: ein Annäherungsver‐ such“, in: Husserl Studies, Bd. 5.1, 1988, S. 41–68, hier S. 45. Wilkes Auseinander‐ setzung mit Adornos Dissertation im ersten Teil des Aufsatzes kann als Solitär innerhalb der Forschungslandschaft angesehen werden.
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2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford
Unableitbarkeit der Gegebenheit aus dem Denken als ein progres‐ sives Element der Phänomenologie anzusehen. Zugleich hegt er keine Zweifel daran, dass die Phänomenologie trotz ihrer frühen antiidealistischen Intention dem Idealismus verhaftet bleibe. So las‐ se sich nicht verkennen, dass Husserls Analysen „allesamt auf ein unausdrückliches System des transzendentalen Idealismus bezogen bleiben“ (GS 1/327f.). Adornos Feststellung bedeutet jedoch keinen Abbruch seiner Husserl-Rezeption. Bereits in der Antrittsvorlesung findet sich ein geschichtsphilosophischer Gedanke, der für die wei‐ tere Auseinandersetzung mit Husserl bestimmend bleibt: Die trans‐ zendentale Phänomenologie sei der Idealismus in seiner konsequen‐ testen Gestalt und bilde einen Kulminationspunkt in der Geschichte der modernen Philosophie. Husserl habe „den Idealismus von jedem spekulativen Zuviel gereinigt und ihn auf das Maß der höchsten ihm erreichbaren Realität gebracht. Aber er hat ihn nicht gesprengt“ (GS 1/328). Die Sprengung des Idealismus wird sich Adorno im Oxforder Exil zur eigenen Aufgabe machen.
2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford Der Entschluss zur Emigration fiel Adorno nicht leicht und die Briefwechsel zeigen, dass er sich nur sehr zögerlich eingestehen konnte, was die durch die Nationalsozialisten geschaffene neue deut‐ sche Realität für einen Linksintellektuellen jüdischer Abstammung bedeuten würde.43 Noch nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 empfiehlt er seinem bereits nach Paris geflohenen Freund Kracauer nach Deutschland zurückzukehren: „Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung; ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren“44. Nachdem Adorno noch im gleichen Jahr die Lehrbefugnis entzogen wird, begibt er sich im Frühjahr 1934 nach Großbritannien, mit dem Vorhaben, seine beruflichen Möglichkeiten innerhalb des dortigen akademischen Betriebs zu eruieren. In Großbritannien angekom‐ 43 Diese Phase der Unentschiedenheit hat Müller-Dohm anschaulich dargestellt. Vgl. Müller-Dohm: Adorno, S. 262–276. 44 Brief Adornos an Kracauer vom 15.4.1933. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923–1969, S. 308.
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men, glaubt er immer noch, dass sich die Nationalsozialisten nicht allzu lange an der Macht halten werden. Wie er Benjamin mitteilt, „beginnen sich doch die Anzeichen des Verfalls derart zu häufen, daß man sie nicht mehr zu übersehen braucht aus Angst vorm Wunsch als Vater des Gedankens.“45 Adorno wird bis Februar 1938 in Großbritannien bleiben,46 dann in die USA übersiedeln und erst 1953 endgültig nach Deutschland zurückkehren. Später wird er seine anfängliche Fehleinschätzung der politischen Ereignisse öffentlich einräumen.47 Die Ankunft im Exil zieht für Adorno die ernüchternde Erkennt‐ nis nach sich, dass ihm seine bereits erworbenen Qualifikationen nicht zu einer akademischen Position verhelfen würden, die der an der Universität Frankfurt entsprochen hätte. In einem Brief an Benjamin vom 6. November 1934 berichtet Adorno von seinen ers‐ ten Monaten am Merton College in Oxford, wo er als advanced student aufgenommen wurde, und bemerkt, dass ihm die „Anforde‐ rungen der Assimilierung […] hier freilich aufs unnachsichtigste be‐ gegnen“48 und er gezwungen sei, „das Leben eines mittelalterlichen Studenten […] zu führen“49. Adorno fasst den Entschluss zur Assi‐ milation an den akademischen Betrieb und dies bedeutet für ihn, trotz der bereits in Deutschland erlangten Habilitation,50 erneut zu promovieren. Am 24. November 1934 spricht er erstmals gegenüber Horkheimer von seinem Vorhaben, „eine große und ganz prinzipiel‐
45 Brief Adornos an Benjamin vom 21.4.1934. Theodor W. Adorno u. Walter Benja‐ min: Briefwechsel 1928–1940, hg. von Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1994, S. 64. 46 Der Exilperiode in Großbritannien haben Andreas Kramer und Evelyn Wilcock eine ausführliche Studie gewidmet. Vgl. Andreas Kramer u. Evelyn Wilcock: „‚A preserve for professional philosophers‘. Adornos Husserl-Dissertation 1934–37 und ihr Oxforder Kontext“, in: Deutsche Vierteljahrszeitschrift für Literaturwis‐ senschaft und Geistesgeschichte, Bd. 73/1, 1999, S. 115–161. 47 Dies ist in einem offenen Brief erfolgt, der im Januar 1963 in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus veröffentlicht wurde. Vgl. Rolf Tiedemann: „Editori‐ sches Nachwort (GS 19)“, in: Theodor W. Adorno: Musikalische Schriften VI, GS 19, S. 633–654, hier S. 637–639. 48 Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 72. 49 Ebd., S. 76. 50 Adorno hat sich mit der Arbeit Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen im Jahr 1931 bei Paul Tillich habilitiert.
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2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford
le Arbeit über Husserl“51 anzufertigen, um den britischen Dr. phil. zu erlangen. Als Betreuer wird ihm der Philosoph Gilbert Ryle zugeteilt – zur damaligen Zeit einer der wenigen Husserl-Kenner in Großbri‐ tannien.52 Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es Adorno im Oxforder Universitätsleben Fuß zu fassen53 und so tritt Husserls Phänomenologie in den folgenden Jahren ins Zentrum seiner philo‐ sophischen Auseinandersetzung. Gegenüber Benjamin bezeichnet er die neue Husserl-Dissertation als seine „Hauptarbeit“54; an Horkhei‐ mer schreibt er, dass diese Arbeit ihn „psychologisch heute allein aufrecht hält“55. Adorno geht es jedoch nicht nur um die Erwerbung eines akademischen Titels. Schon 1934 zeichnet sich ab, dass sich die Husserl-Arbeit „wohl zu einem ziemlich umfangreichen Buch auswächst“56. Die Dissertation soll sich daraus als eine Art Neben‐ produkt ergeben: „Einen Teil daraus, die Analyse der kategorialen Anschauung, hoffe ich als englische Dissertation zu verwenden.“57 Von Anfang an ist die Husserl-Arbeit also als ein eigenständiges Werk konzipiert, mit dem sich Adorno, der im Kontext des Instituts für Sozialforschung bisher eher als Musikexperte in Erscheinung getreten war, einen Namen als Fachphilosoph zu machen hofft. 51 Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, hg. von Chris‐ toph Gödde u. Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.1, Frankfurt am Main 2003, S. 40. 52 Die Archivarbeit von Kramer und Wilcock hat gezeigt, dass Adorno und Ryle „gut miteinander auskamen und daß Ryle von der Qualität von Adornos Hus‐ serlstudien überzeugt war.“ Kramer u. Wilcock: „‚A preserve for professional philosophers‘“, S. 130. Auch Adornos eigene Aussagen deuten auf ein von gegen‐ seitiger Wertschätzung getragenes Betreuungsverhältnis hin. An Horkheimer schreibt er am 30. Oktober 1936, dass das Hauptkapitel seiner Husserl-Arbeit derzeit seinem Supervisor zur Begutachtung vorliegt und dieser „sehr angetan ist.“ Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 208. 53 Nicht ohne Stolz teilt Adorno Kracauer mit, „daß sie mich zum Mitglied der höchst exklusiven Oxford philosophical society gewählt haben.« Brief Adornos an Kracauer vom 5.7.1935. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923–1969, S. 316. 54 Brief Adornos an Benjamin vom 28.5.1936. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 179. 55 Brief Adornos an Horkheimer vom 25.2.1935. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 56. 56 Brief Adornos an Horkheimer vom 24.11.1934. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 40. 57 Brief Adornos an Kracauer vom 5.7.1935. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923–1969, S. 316.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
Wie der während der Oxforder Emigration geführte Briefwechsel mit Horkheimer dokumentiert, informiert Adorno den Leiter des In‐ stituts sehr genau über den inhaltlichen Fortschritt seiner Arbeit und versucht in diesem Zuge Interesse an der Publikation eines von ihm verfassten Husserl-Aufsatzes in der Zeitschrift für Sozialforschung zu wecken. Dies gelingt zunächst und so sendet Adorno am 3. August 1937 ein Manuskript an Horkheimer, das er zuvor mit Benjamin diskutiert und überarbeitet hatte.58 Bezugnehmend auf dieses Manu‐ skript weist er Horkheimer mit Nachdruck darauf hin, dass „ich nie‐ mals an irgendeiner Sache mit größerem Anteil gearbeitet habe: ich betrachte sie in allem Ernst als meine erste philosophische, will sa‐ gen als die erste, die ich einigermaßen verantworten kann.“59 Welche Wichtigkeit die Husserl-Arbeit für Adorno hat, wird weiter dadurch deutlich, dass er Benjamin mehrfach bittet, gegenüber Horkheimer als Fürsprecher des eingereichten Aufsatzes aufzutreten: „[W]ürden Sie ihm [Horkheimer; T. S.] wohl ein freundliches Wort über den Husserl sagen? Noch nie hat mir das Schicksal einer Arbeit so sehr am Herzen gelegen wie diesmal.“60 Doch finden diese enthusiastischen Worte nicht den Widerhall, den Adorno sich erhofft hatte. Solange die Antwort auf das einge‐ reichte Manuskript auf sich warten lässt, so schnell kommt Hork‐ heimer in dieser Antwort zum Punkt: „Der Einwand gegen eine Publikation, in dem ich mich allen andern hier anschließen muss, ist der, dass Sie bei der äusserst raschen Niederschrift dieses Aufsat‐ zes offenbar zu wenig Distanz von der Arbeit am Buch gewonnen
58 Das Manuskript trägt eine Widmung auf dem Titelblatt: „Für Max Horkhei‐ mer / meine erste philosophische Arbeit / als Prolegomenon zur gemeinsa‐ men. / Paris, August 1937“. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 387. 59 Ebd., S. 388. 60 Brief Adornos an Benjamin vom 13.9.1937. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 274. Kaum mehr als eine Woche später schreibt Adorno erneut an Benjamin: „Eine Bitte heute: ich habe, vaguement und daher gewiß um so zuverlässiger, den Eindruck, daß es in New York von Löwenthal aus Wider‐ stände gegen den Husserl gibt; Max hat ihn noch nicht gelesen. Darf ich Sie, sehr herzlich, bitten, ohne diese Widerstände zu nennen, dem Aufsatz ein guter Fürsprecher zu sein und deren Zerstreuung so viel wie möglich beizutragen?“ Brief Adornos an Benjamin vom 22.9.1937. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 278.
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2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford
hatten.“61 Für das Durchschnittspublikum der Zeitschrift sei der Text zu voraussetzungsvoll und selbst Marcuse und Horkheimer „müssen an nicht wenigen Stellen unsere völlige Inkompetenz zuge‐ stehen.“62 Doch die Einwände betreffen keineswegs nur Form und Stil. Vielmehr wird deutlich, dass Horkheimer den grundlegenden Thesen Adornos widerspricht: „Die Husserlsche Philosophie ist eben nicht das, wofür sie von Ihnen scheinbar ausgegeben wird – der Idealismus in seiner konsequentesten Gestalt.“63 Gerade weil die Diskussion eine derart dramatische Zuspitzung erfährt, treten die Grundlinien von Adornos Auseinandersetzung mit Husserl in den folgenden Briefen umso deutlicher hervor und deshalb sind diese Briefe eine so ergiebige Quelle, um die Etappen von Adornos Hus‐ serl-Rezeption nachzuvollziehen. Freilich ist Adorno bemüht, die Veröffentlichung seines Aufsatzes zu retten,64 jedoch beharrt er auf der These von der „exemplarischen Bedeutung der Husserl-analyse [sic] für das gesamte Problem des Idealismus“65. Und mehr als das: Die Fortentwicklung der Philosophie mache deutlich, „daß man es heute im Idealismus nicht mehr mit Hegel, sondern mit Husserl zu tun hat“66. Horkheimer bleibt bei seinem Wort. Trotz langer und mühsamer Diskussion wird Adornos Aufsatz nicht in der Zeitschrift für Sozialforschung erscheinen. Neben dem intellektuellen Austausch mit Horkheimer ist der mit Sohn-Rethel von zentraler Bedeutung für Adornos Auseinander‐ setzung mit Husserls Phänomenologie. Wie die Briefwechsel offenle‐ gen, fällt die entscheidende Phase dieses Austauschs in die Oxforder Emigrationsjahre 1936–1938. Während dieser Zeit liest Adorno, der seit 1925 mit Sohn-Rethel bekannt ist, dessen Luzerner Exposé so‐ wie einen nachgereichten Brief, den so genannten Nottingham-Brief, 61 Brief Horkheimers an Adorno vom 13.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 423. 62 Ebd., S. 424. 63 Ebd., S. 427. 64 So versucht er in einem Brief vom 28. Oktober 1937 die Überlegenheit seines Husserl-Aufsatzes gegenüber Marcuses Aufsatz Zum Begriff des Wesens heraus‐ zustellen, der ein Jahr zuvor in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen war. Vgl. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 456–458. 65 Brief Adornos an Horkheimer vom 23.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 451. 66 Ebd.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
in dem die zentralen Gedanken des Exposés noch einmal gebün‐ delt dargestellt werden.67 Wie Sohn-Rethel rückblickend bemerkt, galt seine theoretische Arbeit seit Anfang der zwanziger Jahre der „Klärung oder Enträtselung einer halbintuitiven Einsicht“, die in der „Entdeckung des Transzendentalsubjekts in der Warenform“68 besteht. Auch wenn hier noch nicht der Ort ist, um auf Sohn-Rethels Versuch einer Rückführung der idealistischen Erkenntnistheorie auf die Warenform einzugehen,69 gilt es darauf hinzuweisen, dass Ador‐ no in seiner Husserl-Arbeit eine ähnliche Intention verfolgt. Nach einem Treffen mit Sohn-Rethel am 22. November 1936 in Oxford schreibt er an Horkheimer, dass es sich bei Sohn-Rethels Arbeit „um eine hochbedeutende – ich wage zu sagen: eine genialische In‐ tention handelt.“70 Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte – SohnRethel arbeitet sich nicht an Husserl sondern an Kant und dem Neukantianismus ab – sei das Anliegen der Arbeit „identisch mit dem meiner eigenen gegenwärtigen […]: den Idealismus von innen, auf Grund seiner eigenen Voraussetzungen zu sprengen.“71 Ähnlich spricht Adorno gegenüber Sohn-Rethel von dem gemeinsamen Ver‐ such einer „kritisch-immanenten Überführung […] des Idealismus in dialektischen Materialismus“.72 Der Materialismus soll dabei nicht durch die Abstrakte Negation des Idealismus erreicht werden, son‐ dern durch immanente Kritik, die die inneren Widersprüche des 67 Sohn-Rethel charakterisiert das von ihm so bezeichnete Luzerner Exposé, das den Titel Entwurf einer soziologischen Theorie der Erkenntnis trägt, als den „erste[n] Versuch einer Gesamtdarstellung.“ Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit, Schriften, Bd. 4.1, hg. von Carl Freytag, Oliver Schlaudt u. Françoise Willmann, Freiburg/Wien 2018, S. 185–419, hier S. 187. Mit der Arbeit hoffte er eine Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialforschung zu erwirken, was von Horkheimer, der Sohn-Rethels Projekt von Anfang an kritisch gegenüberstand, schließlich abgelehnt wurde. Eine ausführliche Kritik Horkheimers findet sich in einem Brief an Adorno vom 8. Dezember 1936. Vgl. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 248–252. 68 Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit, S. 187. 69 Siehe hierzu den Exkurs Adornos Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel, im vor‐ liegenden Buch, S. 197–205. 70 Brief Adornos an Horkheimer vom 23.11.1936. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 226. 71 Ebd. 72 Brief Adornos an Sohn-Rethel vom 17. November 1936. Theodor W. Adorno u. Alfred Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969, hg. von Christoph Gödde, Mün‐ chen 1991, S. 32.
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2. Eine große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl: Adorno in Oxford
Idealismus derart hervorkehrt, dass sich der Materialismus als des‐ sen notwendige Konsequenz erweist. In seiner Auseinandersetzung mit Husserl verfolgt Adorno also ein philosophisches Programm, das bis in sein Spätwerk bestimmend bleibt. Noch 1967 spricht er gegen‐ über Gershom Scholem von seinem „vom Dogma total verschiede‐ ne[n] Weg zum Materialismus“73, dem auch die Negative Dialektik verpflichtet sei. Die seit 1937 geplante und im Februar 1938 in die Tat umge‐ setzte Übersiedelung nach New York durchkreuzt die Beendigung der englischen Dissertation und auch die Husserl-Arbeit muss hinter neue, vornehmlich soziologische Aufgaben zurücktreten, die Adornos Anstellung am Institut für Sozialforschung mit sich bringt. Trotzdem bedeutet das Ende der Oxforder Emigration keinen Abbruch der Auseinandersetzung mit Husserl. Im Mai 1939 hält Adorno am Philosophy Department der Columbia University einen Vortrag über Husserl – wie er selbst berichtet, „mit sehr großem Erfolg“74 –, der ein Jahr später unter dem Titel Husserl and the Problem of Idealism in der New Yorker Zeitschrift The Journal of Philosophie erscheint.75 Auch das 440 Seiten umfassende Forschungsmanuskript, das Adorno in Oxford angefertigt hatte, verschwindet nicht einfach in der Schublade. Jener Husserl-Auf‐ satz, dessen Veröffentlichung Horkheimer abgelehnt hatte, er‐ scheint in einer überarbeiteten Fassung im Jahr 1949 in der west‐ deutschen Zeitschrift Archiv für Philosophie. Er trägt den Titel Zur Philosophie Husserls.76 In der gleichen Zeitschrift werden Anfang der fünfziger Jahre die Aufsätze Kritik des logischen Absolutismus 73 Brief Adornos an Scholem vom 14.3.1967. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem: Briefwechsel 1939–1969, hg. von Asaf Angermann, Briefe und Brief‐ wechsel, Bd. 8, Berlin 2015. S. 414. 74 Brief Adornos an Benjamin vom 15.7.1939. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 409. 75 Der Aufsatz findet sich in Band 20.1 der Gesammelten Schriften. Vgl. GS 20.1/119–134. Hier scheint Adorno den Anspruch zu verfolgen, sich in einen phi‐ losophischen Fachdiskurs einzugliedern, ohne dabei seine materialistische Deu‐ tung der Phänomenologie offenzulegen. 76 Bei dem Text, der sich unter dem Titel Zur Philosophie Husserls in Band 20.1 der Gesammelten Schriften findet (vgl. GS 20.1/46–118), handelt es sich jedoch um jene Fassung, die Adorno 1937 an Horkheimer versandte. Vgl. Kramer u. Wil‐ cock: „‚A preserve for professional philosophers‘. Adornos Husserl-Dissertation 1934–37 und ihr Oxforder Kontext«, S. 118.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
und Spezies und Intention veröffentlicht (vgl. GS 5/10f.). 1956 erscheint schließlich das Buch Zur Metakritik der Erkenntnistheo‐ rie. Husserl und die phänomenologischen Antinomien, in dem Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie ihren avanciertesten Ausdruck findet.77 Wie Adorno in der Vorrede der Metakritik schreibt, umfasst das Buch die bereits veröffentlichten deutschsprachigen Aufsätze, wobei das letzte Kapitel Das Wesen und das reine Ich eine stark veränderte Fassung von Zur Philoso‐ phie Husserls darstellt (vgl. GS 5/10f.). Ergänzt werden diese Texte um das Kapitel Zur Dialektik der erkenntnistheoretischen Begriffe sowie eine Einleitung; beides verfasst in den Jahren 1955/56.78 Mit der Metakritik erhält jene ‚große und ganz prinzipielle Arbeit über Husserl‘, von der Adorno erstmals 1934 spricht, doch noch eine abschlusshafte Gestalt. Begonnen im Jahr der Emigration nach Großbritannien und vollendet einige Jahre nach der Rückkehr nach Deutschland, erstreckt sich der Entstehungszeitraum von Adornos Husserl-Arbeit über mehr als zwanzig Jahre und geht damit weit über den eines jeden anderen Werks hinaus. Die Bedeutung, die Adorno seiner Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie bis zuletzt beigemessen hat, wird deutlich, wenn er die Metakritik gegenüber Tiedemann noch 1968 als „das ihm selbst nächst der ‚Negativen Dialektik‘ wichtigste seiner Bücher“79 bezeichnet. Wie Tiedemann bemerkt, wies Adorno zudem regelmäßig daraufhin, dass die Einleitung der Metakritik jene seiner Arbeiten sei, „die neben dem Aufsatz ‚Der Essay als Form‘ aus den ‚Noten zur Literatur I‘ noch am ehesten ein Programm seiner Philosophie enthalte.“80 Seit jeher stand diese Selbsteinschätzung Adornos in einem eigen‐ tümlichen Missverhältnis zur Forschungslage.
77 Der Titel des Buches, das im Folgenden schlicht Metakritik genannt wird, stellt laut Tiedemann ein Zugeständnis Adornos an den Stuttgarter Verlag W. Kohl‐ hammer dar. Ursprünglich sollte das Buch den Titel Die phänomenologischen Antinomien tragen. Vgl. Rolf Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 5)«, in: Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel, GS 5, S. 383–386, hier S. 386. 78 Vgl. ebd. 79 Ebd. 80 Ebd.
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3. Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung
3. Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung Obwohl die Auseinandersetzung mit Husserl Adornos gesamtes Werk durchzieht, hat man ihr seitens der Forschung kaum mehr als Desinteresse entgegengebracht. Wie Marc Nicolas Sommer feststellt, kann die Rezeption der Metakritik „getrost als praktisch inexistent beschrieben werden“81 und auch Petra Gehring merkt an, dass das Werk weder „als Zugang zu Husserl noch als philosophischer Wurf Adornos […] in der Literatur eine größere Resonanz“82 nach sich zog. Die Tatsache, dass die ohnehin sehr überschaubaren Beiträge, in denen jene Auseinandersetzung in den Blick genommen wird, vornehmlich dem phänomenologischen Lager entstammen, zeugt von der ungebrochenen Wirkmacht der Adorno-Kritik von Jürgen Habermas. Innerhalb der akademischen Rezeption der Kritischen Theorie setzte diese Kritik Dynamiken in Gang, die einer Erfor‐ schung der erkenntnistheoretischen Motive in Adornos Philosophie nicht gerade zuträglich waren.83 Folgt man der Kritik von Habermas, erscheint eine Rekonstruktion dieser Motive obsolet: Adornos Phi‐ losophie nehme die „Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis“84 willentlich in Kauf und münde in einen praxisfernen Irrationalis‐ mus, dem nurmehr die „Abtrennung der Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst“85 offenstehe. Klein bemerkt, dass Habermas zu dieser verengten Lesart nur kommen konnte, weil für ihn „der ‚Vorrang des Objekts‘ in der Erfahrung, die Gegenstandsbindung der Theorie, Adornos materiale Analysen und Interpretationen kein theoretisch oder philosophisch relevantes Thema sind.“86 Nun haben wir bereits 81 Marc Nicolas Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel, Tübingen 2016, S. 184. 82 Petra Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, in: Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 354–364, hier S. 354. 83 Sommer hat in seinem Überblick über die Rezeptionsgeschichte der Negativen Dialektik den verdienstvollen Nachweis erbracht, dass die Adorno-Kritik von Habermas von einer ganzen Generation an Philosophinnen und Philosophen übernommen wurde und als Topos in deren Denken einwanderte. Vgl. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 3–19. 84 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt am Main 1981, S. 516. 85 Ebd., S. 514. 86 Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Relevanz“, S. 438.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
gesehen, dass es eben solche Motive sind, die die frühen Denker der Kritischen Theorie der Phänomenologie entnahmen, um sie für die eigene Programmatik nutzbar zu machen. Insbesondere für Adorno gilt, dass die von Klein angeführten Motive sich im Zuge einer inten‐ siven Beschäftigung mit Husserls Phänomenologie entwickeln. Diese wird in der Metakritik als „konkretes Modell“ gewählt, an dem „die Frage nach Möglichkeit und Wahrheit von Erkenntnistheorie prinzi‐ piell aufgerollt werden“ (GS 5/9) soll. Es ist somit wenig verwunder‐ lich, dass infolge der durch Habermas eingeleiteten Abwendung von den erkenntnistheoretischen Dimensionen der Philosophie Adornos auch die Auseinandersetzung mit Husserl keine Rolle mehr spielt. Angesichts des Desinteresses gegenüber Adornos Husserl-Rezepti‐ on, das sich in der Adorno-Forschung beobachten lässt,87 scheint eine Beschäftigung mit der phänomenologisch geprägten Forschung zunächst ergiebiger. Zuallererst wird dabei jedoch die Ablehnung deutlich, die Adornos Husserl-Rezeption von Anbeginn erfahren hat und die einer sachlichen Rekonstruktion nicht immer dienlich war. Dabei können mindestens zwei Lesarten nachgewiesen wer‐ den, die sich jedoch in dem Urteil treffen, Adornos Auseinander‐ setzung habe keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht, die der Phänomenologie auf irgendeine Weise nutzbar gemacht werden könnten.88 Auf der einen Seite finden sich Autoren, die Adorno 87 Eine Ausnahme aus der jüngeren Zeit bildet Sebastian Tränkles Studie über Adorno und Blumenberg, in der Ähnlichkeiten im Denken beider Autoren mit‐ unter auf deren Auseinandersetzung mit Husserl zurückgeführt werden. Einen Beitrag für die Rekonstruktion von Adornos Husserl-Rezeption leistet das Buch aber letztlich nicht, denn die gelegentlich hergestellten Bezüge zwischen Ador‐ no und Husserl sind nicht systematisch ausgearbeitet. Vgl. Sebastian Tränkle: Nichtidentität und Unbegrifflichkeit. Philosophische Sprachkritik nach Adorno und Blumenberg, Frankfurt am Main 2022. 88 Auch hier gibt es Ausnahmen, auf die ich noch weiter eingehen werde. Lothar Eley hat einige Motive aus Adornos Metakritik aufgenommen und systematisch weiterentwickelt. Vgl. Lothar Eley: „Zum Begriff des Transzendentalen. Eine kritische Studie zu Th. W. Adorno: ‚Zur Metakritik der Erkenntnistheorie – Husserl und die phänomenologischen Antinomien“‘, in: Zeitschrift für philoso‐ phische Forschung, Bd. 13, 1959, S. 351–357. „Konstruktive Phänomenologie und kritische Theorie. Adornos Kritik der transzendentalen Phänomenologie Hus‐ serls“, in: Jürgen Naeher (Hg.): Die Negative Dialektik Adornos, Opladen 1984, S. 59–89. Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, Den Haag 1962. Ähnliches gilt für Käte Meyer-Drawe: „Der Leib – ‚ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding“‘, in: Christoph Jamme u.
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3. Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung
vorwerfen aufgrund eklatanter Fehlinterpretationen den Blick auf Husserls Philosophie derart verstellt zu haben, dass eine inhaltliche Anknüpfung kaum lohnend erscheint. So schließt Franz Kaufmann in seiner bereits 1940 erschienen Rezension zu Adornos Aufsatz Husserl and the Problem of Idealism mit den Worten: „there is not much hope for light from so much darkness.“89 Ähnlich drastisch fällt das Urteil Tengelyis aus, der überzeugt ist, „dass sich die sachli‐ chen Einwände, die Adorno gegen Phänomenologie und Ontologie erhebt, ausnahmslos – oder beinahe ausnahmslos – entkräften las‐ sen.“90 Tengelyi gelangt zu dem Schluss, dass man sich „von einer Detailanalyse der kritischen Überlegungen, durch die Adorno sein geschichtsphilosophisches Urteil über das vermeintliche Fiasko die‐ ser Grundansätze zu untermauern sucht, heute nicht mehr beson‐ ders viel versprechen“91 dürfe. Kaufmann und Tengelyi teilen die Auffassung, Adorno habe nicht, oder zumindest unzureichend, zwi‐ schen phänomenologischer und eidetischer Reduktion unterschie‐ den und damit methodologische Grundlagen der Husserlschen Phä‐ nomenologie missverstanden. „Conesequently Adorno neglects Hus‐ serl’s transcendental reduction in favor of the eidetic“,92 heißt es bei Kaufmann. Tengelyi schreibt wiederum, dass „Adornos Verständnis von Phänomenologie und Ontologie von vornherein an einer Ver‐ wechslung oder Vermengung der phänomenologischen Reduktion mit der eidetischen“93 kranke. Hier gilt es darauf hinzuweisen, dass Adorno sehr wohl um den Unterschied der beiden Reduktionen wusste. Wie er in der Metakritik deutlich macht, ziele die eidetische Reduktion „auf die Wesen, […] frei von allem faktischen Dasein“ (GS 5/221), die phänomenologische Reduktion hingegen „auf das ‚absolute Bewußtsein‘“ (GS 5/187). Andere Autorinnen und Autoren sind in ihrer Kritik weniger schonungslos, betonen jedoch, Husserl selbst habe mit der Ausarbei‐ tung der genetischen Phänomenologie Lösungen für jene Probleme
89 90 91 92 93
Otto Pöggeler (Hgg.): Phänomenologie im Widerstreit, Frankfurt am Main 1989, S. 291–306. Franz Kaufmann: „‚Husserl and the Problem of Idealism by Th. W. Adorno“, in: Philosophy and Phenomenological Research, 1/1, 1940, S. 123–125, hier S. 125. Tengelyi: „Negative Dialektik als geistige Erfahrung?“, S. 48. Ebd., S. 57. Kaufmann: „‚Husserl and the Problem of Idealism by Th. W. Adorno“, S. 124. Tengelyi: „Negative Dialektik als geistige Erfahrung?“, S. 49.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
bereitgestellt, die Adorno an der statischen Phänomenologie der Logischen Untersuchungen und der Ideen kritisch hervorhebt. Dabei liegt die Annahme zugrunde, Adorno habe Husserls genetische Phä‐ nomenologie, vor allem deren Konzeption in Die Krisis der europä‐ ischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie94 von 1936, nicht mehr hinreichend rezipiert. So fragt Bedorf, inwiefern „Adornos Platonismus-Vorwurf gegenüber einer statischen Phäno‐ menologie nicht mit der Hinwendung Husserls zur genetischen Phä‐ nomenologie aufgeweicht oder gar hinfällig wird.“95 Inga Römer attestiert der Auffassung Adornos, Husserl postuliere eine statische Wesensstruktur der Phänomene, die in der Anschauung unmittelbar zugänglich sei, eine gewisse Rechtmäßigkeit, wenn sie darauf hin‐ weist, dass Husserls Theorie der kategorialen Anschauung nahelegt, „es könne der in einem Urteil intendierte Sachverhalt in unmittelba‐ rer Selbstgegebenheit angeschaut und damit das Urteil erfüllt und als vernünftig ausgewiesen werden.“96 Ebenso tendiere Husserl „in dem Begriff der Wesensschau zu der Meinung, ein eidetisches Wesen könne unmittelbar erschaut werden.“97 Jedoch werde „[s]pätestens in der Krisis, eigentlich jedoch bereits seit dem Beginn der genetischen Phänomenologie in den Bernauer Manuskripten von 1917/18, […] deutlich, dass die phänomenologische Vernunft keine statische Ver‐ nunft ist, die zeitlose Wesen postuliert und ein für alle Mal anschau‐ lich ausweist.“98 Letztlich arbeite Husserl „in seine Phänomenologie jenes kritische Element ein, das Adorno vermisst, wenn er die Kri‐ se der europäischen Wissenschaften durch eine Rückfrage in die Lebenswelt zu beheben sucht.“99 Ebenso fragt Gehring, ob Adorno wohl „klar gewesen ist, wie nahe das, was er gegen die Phänomeno‐ logie vorträgt, Husserls späten wissensgeschichtlichen Überlegungen zur Krisis der europäischen Wissenschaften […] kommt?“100
94 Husserls Werk wird im Folgenden Krisis-Schrift genannt. 95 Bedorf: „Kritische Theorie“, S. 333. 96 Inga Römer: „Gibt es eine ‚geistige Erfahrung‘ in der Phänomenologie? Zu Adornos Kritik an Husserl und Heidegger“, in: Phänomenologische Forschun‐ gen, 12. Jg., 2012, S. 67–85, hier S. 77. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 363.
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3. Adorno und Husserl: Eine Leerstelle in der Forschung
Inwieweit Adorno Husserls Krisis-Schrift rezipiert hat, lässt sich nicht entscheiden. Horkheimer erwähnt in einem Brief an Adorno Husserls kürzlich erschienenes Spätwerk und bittet darum, eine von ihm formulierte Anmerkung in den geplanten Husserl-Aufsatz ein‐ fließen zu lassen.101 Adorno versichert Horkheimer, dass die „Bezie‐ hung auf Ihre Husserlnotiz […] ausdrücklich hergestellt [wird]“,102 ohne näher auf deren Inhalt einzugehen. Weder in Adornos HusserlAufsatz noch in der Metakritik finden sich dann aber Erwähnungen der Krisis-Schrift. Zwar spricht Adorno gelegentlich vom ‚späten Husserl‘, von seiner ‚späten Phase‘ und den ‚späten Schriften‘, bezieht sich dabei jedoch auf die Formale und transzendentale Logik und die Cartesianischen Meditationen oder bleibt in seinen Aussagen derart vage, dass die Zuordnung zu einem bestimmten Werk nicht möglich ist.103 Gleiches gilt für die Negative Dialektik (vgl. GS 6/64, 77). Einzig in der Dialektik der Aufklärung findet sich ein Zitat aus der Krisis-Schrift – wohlgemerkt im ersten Kapitel, das von Horkheimer verfasst wurde.104 In Anbetracht dieser Sachlage lässt 101 Vgl. Brief Horkheimers an Adorno vom 6.4.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 334f. Durchaus zustimmend bezieht sich Horkheimer in seiner Anmerkung auf Husserls Kritik am naturwissenschaftlichen Objekti‐ vismus und der durch ihn beförderten Ablösung der Wissenschaft von der Lebenswelt. Vgl. ebd., S. 334. 102 Brief Adornos an Horkheimer vom 23. April 1937. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 341. 103 Vgl. GS 5/123, 138, 140, 163, 193, 196, 204, 227. 104 Vgl. Gunzlin Schmid Noerr: „Nachwort des Herausgebers“, in: Max Horkhei‐ mer: ‚Dialektik der Aufklärung‘ und Schriften 1940–1950, Gesammelte Schrif‐ ten, Bd. 5, hg. von Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987, S. 423–452, hier S. 427–430. Horkheimer scheint in Husserls Aus‐ führungen zu Galileis Mathematisierung der Natur eine präzise Beschreibung der Verdinglichung des Denkens zu erblicken, die mit dem Prozess der Auf‐ klärung einhergehe. Vgl. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 11–290, hier S. 47f. Gerhard Schweppenhäuser hat mir berichtet, dass sein Vater Hermann Schweppenhäu‐ ser, seit 1949 Schüler von Horkheimer und Adorno, in den 1980er Jahren mehrfach die Hochachtung und Hochschätzung erwähnt hat, mit der Hork‐ heimer in den 1950ern von Husserls Krisis-Schrift zu sprechen pflegte. Der für Horkheimer entscheidende Aspekt des Werkes habe darin bestanden, dass ein akademischer Philosoph im Angesicht des Nationalsozialismus über die Grenzen seiner eigenen Vorstellung von Fachlichkeit hinausgelangt sei bzw. diese kritisch reflektiert habe. Ich danke Gerhard Schweppenhäuser dafür, diese mündliche Überlieferung hier erwähnen zu dürfen.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
sich aus meiner Sicht allein die Vermutung anstellen, dass Adorno die Krisis-Schrift zumindest ausschnitthaft gelesen hat.105 Versucht man die Frage zu klären, ob und inwieweit diese Lektüre Einfluss auf seine Husserl-Rezeption genommen hat und weshalb sich in seinen Schriften keine Erwähnungen von Husserls einflussreichem Spätwerk finden, begibt man sich in den Bereich der Spekulation. Eine Einschätzung wie die von Tränkle, Adornos Philosophie würde „mehr oder minder direkt an Husserls Krisis-Schrift“106 anknüpfen, hält der Überprüfung jedenfalls nicht Stand. Außer Frage steht hingegen, dass sich Adorno, anders als häufig in der Forschung dargestellt, schon in den dreißiger Jahren mit Husserls genetischer Phänomenologie auseinandersetzt; insbesonde‐ re mit deren Ausarbeitung in der Formalen und transzendentalen Logik von 1929. Und mehr als das: Offensichtlich erblickt Adorno in Husserls genetischen Konstitutionsanalysen einen geradezu revolu‐ tionären Umschlagspunkt in der Entwicklung der Phänomenologie. In einem Brief an Horkheimer berichtet er von seiner Lektüre der Formalen und transzendentalen Logik und bezeichnet das Werk als „das Interessanteste, was H. geschrieben hat und vielleicht auch das Bedeutendste.“107 Die Lektüre findet sodann Einschlag in Zur Philosophie Husserls, wo Adorno deutlich darauf hinweist, dass das Werk, ebenso wie die Cartesianischen Meditationen, „der statischen [Phänomenologie; T. S.] ausdrücklich die genetische als die sie kon‐ stituierende hinzu[fügt]“ (GS 20.1/93). Noch in einer Vorlesung aus dem Jahr 1960 bezeichnet Adorno die genetischen Analysen aus Formale und transzendentale Logik als das „größte Verdienst von Edmund Husserl“ (NaS IV 6/273). Schon hier deutet sich an, was diese Untersuchung noch zeigen wird: dass Adorno der genetischen Phänomenologie entscheidende Bedeutung beimisst und diese nicht bloß, wie Gehring meint, als „späte Marginalie [wertet]“108.
105 Im Gegensatz zu den anderen zu Lebzeiten veröffentlichten Werken Husserls findet sich die Krisis-Schrift in Adornos Nachlassbibliothek im Frankfurter Institut für Sozialforschung allerdings nicht. Für ausführliche Informationen zum Bestand der Bibliothek danke ich Maischa Gelhard. 106 Tränkle: Nichtidentität und Unbegrifflichkeit, S. 482. 107 Brief Adornos vom 12.11.1935. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 93. 108 Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 360.
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4. Methode, Programm, Aufbau
Es zeigt sich, dass Adornos Auseinandersetzung mit Husserl ins‐ gesamt unterbelichtet ist und seine Beschäftigung mit der geneti‐ schen Phänomenologie einen blinden Fleck in der ohnehin sehr überschaubaren Forschungslandschaft darstellt. Zugleich lässt sich seit kurzem eine gewisse Tendenz beobachten, die auf ein steigendes Interesse sowohl am Verhältnis von Kritischer Theorie und Phäno‐ menologie im Allgemeinen als auch an Adornos Husserl-Rezeption im Besonderen hindeutet. Für das Jahr 2026 und damit erst nach Abfassung dieses Buches ist die Veröffentlichung eines Sammelban‐ des mit dem Titel Phänomenologie und Kritische Theorie angekün‐ digt.109 Auch die Monographie Critical Theory and Phenomenology von Christian Ferencz-Flatz konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden.110 Ferencz-Flatz hat allerdings bereits in zwei Aufsätzen aus dem Jahr 2019 auf Adornos Aneignung phänomenologischer Motive aufmerksam gemacht – freilich, ohne dabei eine Rekonstruktion von Adornos Husserl-Rezeption leisten zu können.111 Solch eine Rekon‐ struktion wird sich an dem philosophischen Programm zu orientie‐ ren haben, das Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie einzulösen versucht.
4. Methode, Programm, Aufbau Wer das Ziel verfolgt, Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie zu rekonstruieren, hat darzulegen, unter welchen Gesichtspunkten die Bezugnahme auf Husserls Werk erfolgt. Hier‐ in besteht eine zentrale, wie sich zeigen wird, mehrschichtige He‐ rausforderung dieser Untersuchung. Husserls Werk zeugt von einer außergewöhnlichen denkerischen wie schriftstellerischen Leistung, die eine kontinuierliche Erneuerung des phänomenologischen An‐ 109 Vgl. Alexis Gros, Jochen Dreher u. Hartmut Rosa (Hgg.): Phänomenologie und Kritische Theorie, Berlin 2026. 110 Vgl. Christian Ferencz-Flatz: Critical Theory and Phenomenology. Polemics, Appropriations, Perspectives, Wiesbaden 2023. 111 Vgl. Christian Ferencz-Flatz: „Eidetic intuition as physiognomics. rethinking Adorno’s phenomenological heritage“, in: Continental Philosophy Review, Bd. 52/4, 2019, S. 335–359. „Zur Funktion des Vortheoretischen bei Adorno. Der Erfahrungsbegriff der Kritischen Theorie und die Phänomenologie“, in: Deut‐ sche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 67/6, 2019, S. 930–951.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
satzes und seiner zentralen Theoreme mit sich brachte, ohne je eine abgeschlossene Form zu erreichen. Diese Offenheit des Husserl‐ schen Denkens hat Adorno registriert und so ist in der Metakritik mitunter von einem „antisystematischen [Motiv]“ der Phänomeno‐ logie, ihrem „Hang zum Fragment“ sowie von Husserls „antisyste‐ matische[r] Haltung“ (GS 5/217) die Rede. Husserl habe versucht, aus einem seinerzeit vorherrschenden „Begriffsfetischismus auszu‐ brechen“ (GS 5/196). Er „stellt ‚Untersuchungen‘, ausgeführte Analy‐ sen nebeneinander, ohne sie billig zu vereinheitlichen, ja ohne auch nur Inkonsistenzen auszugleichen, die sich aus den singulären Studi‐ en ergeben“ (GS 5/217). Auf diesen Work-in-Progress-Charakter der Phänomenologie hat auch der Husserl-Schüler Ludwig Landgrebe hingewiesen: „Es ist bekannt, wie viele [Termini; T. S.] er aus der Tradition aufge‐ nommen und in seinem Sinne umgebildet hat, ohne daß es ihm selbst immer deutlich bewußt geworden wäre, daß es sich um eine Umbildung handelt. Vielfach stößt man auch beim Studium seiner Werke auf die Tatsache, daß Termini gar nicht durchwegs in der einmal fixierten Bedeutung festgehalten werden, sondern daß sich die Bedeutung unver‐ merkt verschiebt“.112
Würde es hier darum gehen, solchen Bedeutungsverschiebungen in Husserls Terminologie minutiös nachzugehen, um zu klären, ob Adornos Interpretationen stets rechtmäßig sind, wäre es nötig gewe‐ sen ein zweites Buch zu schreiben und dieser Untersuchung voran‐ zustellen. Nicht nur wäre solch ein Unterfangen hier nicht zu leisten gewesen; es sähe sich kaum überwindbaren Schwierigkeiten ausge‐ setzt, denn die postume Veröffentlichung von Husserls Gesamtwerk, von dem die zu Lebzeiten publizierten Schriften lediglich einen Bruchteil ausmachen, ist längst nicht abgeschlossen. Solche Schwie‐ rigkeiten, die die Husserl-Forschung im Allgemeinen zu einem of‐ fenen Projekt machen, hat Dan Zahavi auf den Punkt gebracht: Zum einen sei es „unwahrscheinlich […], dass jemals eine einzige Person alles, was er schrieb, gelesen oder gar in eine systematische Interpretation einbezogen haben sollte.“113 Zum anderen könne man 112 Ludwig Landgrebe: „Ist Husserls Phänomenologie eine Transzendentalphilo‐ sophie?“, in: Hermann Noack (Hg.): Husserl, Darmstadt 1973, S. 316–324, hier S. 317. 113 Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie, Tübingen 2009, S. 2.
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4. Methode, Programm, Aufbau
nie wissen, „ob nicht plötzlich ein Manuskript auftaucht, das die eigene Interpretation untergräbt“114. Nun kann sich die zeitgenössische Husserl-Forschung immerhin auf über vierzig bisher erschienene Bände der Gesamtausgabe be‐ ziehen, die einen schärferen Blick auf Husserls Klassiker und die Entwicklung seiner Phänomenologie ermöglichen. Diese Möglich‐ keit hatte Adorno nicht. Die Schriften, auf die er sich in seiner Auseinandersetzung bezieht, sind die beiden Bände der Logischen Untersuchungen, die Ideen, die Formale und transzendentale Logik und die Cartesianischen Meditationen in der frühen französischen sowie der später erschienen deutschen Ausgabe. Dabei nimmt Ador‐ no eine Gewichtung vor und erteilt den „eigentlich phänomenologi‐ schen Schriften, auf denen die Restauration der Ontologie aufbaute, den Vorrang vor den späteren“ (GS 5/10). Allein aufgrund dieser rezeptionsgeschichtlichen Ausgangslage wäre der Versuch, Adornos Auseinandersetzung über den Weg eines systematischen Abgleichs mit Husserls Texten zu erschließen, wenig ergiebig. Es ist bekannt, dass Husserls zu Lebzeiten veröffentlichte Schriften berühmte Miss‐ verständnisse befördert haben, von denen sich einige auch bei Adorno finden. Zu nennen wäre die Annahme, Husserl hätte mit kategorialer Anschauung und Wesensschau die Möglichkeit einer Art intellektuellen Anschauung postuliert, durch die man geistiger Sachverhalte „in der gleichen Unmittelbarkeit und Untrüglichkeit sich sollte versichern können wie nach herkömmlicher Auffassung der sinnlichen Data“ (GS 5/203).115 Dabei kann nicht in Abrede gestellt werden, dass Husserls Terminologie teilweise zu solchen An‐ nahmen verleitet, worauf in der Husserl-Forschung auch wiederholt hingewiesen wurde.116 Vor allem die VI. Untersuchung des zweiten 114 Ebd., S. 3. 115 Diese Annahme findet sich an vielen weiteren Stellen in Adornos Werk. Vgl. GS 5/205, GS 20.1/68, GS 20.1/130, GS 6/170, NaS IV 7/93, 264–266. Wohlge‐ merkt macht Adorno deutlich, dass Husserl auf „die Fichtesche und Schelling‐ sche intellektuelle Anschauung […] allerdings niemals sich bezogen hat“ (GS 5/203). Leonard Nelson hat Husserls kategoriale Anschauung bereits 1908 als eine intellektuelle Anschauung charakterisiert. Vgl. Leonard Nelson: „Über das sogenannte Erkenntnisproblem“, Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Paul Bernays et al., Hamburg 1973, S. 59–393, hier S. 172f. 116 Ernst Tugendhat hat bemerkt, dass das, was Husserl mit dem Begriff der kate‐ gorialen Anschauung meint, „etwas ganz anderes ist als was man sich darunter
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
Bandes der Logischen Untersuchungen offenbart Husserls kategoriale Anschauung jedoch als einen vielschichtigen synthetischen Vollzug, der nicht im Sinne eines bloß passiven Hinnehmens aufgefasst wer‐ den kann.117 Darüber hinaus ist es Adornos eigenwillige Darstellung der Hus‐ serlschen Philosophie, die einem um Systematik bemühten For‐ schungsansatz immer wieder Steine in den Weg legt. Wie Adorno in der Vorrede der Metakritik deutlich macht, sei Husserls Phäno‐ menologie „Anlaß, nicht Ziel“ (GS 5/9). Weder gehe es darum, diese „erst geschlossen darzustellen und dann eine sogenannte Auseinan‐ dersetzung zu führen“, noch erhebe das Werk „philologischen oder hermeneutischen Anspruch“ (GS 5/9). „Nirgends ward Vollständig‐ keit angestrebt. Die Aufmerksamkeit gilt mehr den ausgeführten Analysen Husserls, an die er selbst seine Energie wandte, als dem totalen Gefüge“ (GS 5/10). Zwar wurde versucht, „das Gedachte um Brennpunkte zu ordnen“ (GS 5/9), doch letztendlich finden sich die zentralen Elemente der Phänomenologie, an denen Adorno sich abarbeitet, im gesamten Werk verstreut. Mit Recht bemerkt Gehring, dass „Spannungsbogen und Sprengpunkte von Adornos Husserl-In‐ terpretation […] nicht leicht auszumachen“ sind und die Metakritik „durch hohe Verdichtung, thematische Sprünge, Redundanzen und einen schwankenden Duktus geprägt“118 ist. Im Vergleich zu dem in den dreißiger Jahren entstandenen Text Zur Philosophie Husserls „bietet gleichwohl die zwei Jahrzehnte später erschienene Metakri‐ tik die weniger klare Linienführung.“119 Aus diesem Grund wird sich diese Untersuchung in zentralen Abschnitten an der Argumen‐ tationsstruktur von Zur Philosophie Husserls orientieren, wobei die vorzustellen pflegt: ein schlichtes, nicht-sinnliches Schauen.“ Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 126f. Nach Die‐ ter Lohmar sei Husserls Begriff der Wesensschau ein „terminologischer Fehl‐ griff“. Dieter Lohmar: „Kategoriale Anschauung (VI. Logische Untersuchung, §§ 40–66)“, in: Verena Meyer (Hg.): Logische Untersuchungen, Berlin 2008, S. 209–237, hier S. 218. 117 Zu diesem Ergebnis kommt auch Tugendhat, wenn er bemerkt, dass die ka‐ tegoriale Anschauung „vielmehr in dem ‚aktuellen‘, in sinnlichen Anschauun‐ gen fundierten ‚Vollzug‘ einer bestimmten Synthesis“ besteht. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 127. 118 Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 360. 119 Ebd., S. 364.
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4. Methode, Programm, Aufbau
Materialfülle der Metakritik herangezogen wird, um die Auseinan‐ dersetzung zu vertiefen.120 Schließlich legen Adornos Ausführungen über seinen Umgang mit Husserls Texten nahe, dass für die Rekonstruktion seiner Hus‐ serl-Rezeption gelten dürfte, was Sommer in Hinblick auf die HegelKritik in der Negativen Dialektik festhält: „Beschränkt man sich nämlich auf die Beurteilung der Frage, ob Adornos Hegelkritik diesen auch trifft, so trifft man mit dem Urteil, das überwiegend negativ ausfallen dürfte, eine Vogelscheuche.“121 Adornos eigenwillige Bezugnahme auf die philosophische Tradition ist bekannt und Bele‐ ge dafür zu erbringen, dass Adorno Husserl missverstanden habe, wäre legitim, würde jedoch nichts über den philosophischen Kern seiner Auseinandersetzung aussagen. Um diesen Kern in den Blick zu bekommen, gilt es sich das Programm zu vergegenwärtigen, das Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie verfolgt. Dieses Programm – man könnte es als das eigentliche Pro‐ gramm der Philosophie Adornos bezeichnen – ist die Überschrei‐ tung des Idealismus hin zu einem undogmatischen Materialismus. Innere Logik und Durchführung dieses Programms gilt es zu rekon‐ struieren und im Dienste dieses Vorhabens wird die Bezugnahme auf Husserls Werk stehen. Die Eigenheit der „kritisch-immanenten Überführung […] des Idealismus in dialektischen Materialismus“, die Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Husserl verfolgt, besteht darin, „den Idea‐ lismus zu sprengen nicht durch die ‚abstrakte‘ Antithesis von Pra‐ xis (wie noch Marx) sondern aus der eigenen Antinomik des Idealismus.“122 Der Materialismus soll dem Idealismus nicht als ver‐ meintlich überlegene Position gegenübergestellt werden, wie dies in Adornos Augen im orthodoxen Marxismus der Fall ist.123 Stattdes‐ sen bildet die ‚Antinomik des Idealismus‘ den Ausgangspunkt der 120 Dies betrifft insbesondere Kapitel 2. Durchbrechung des Idealismus, im vorlie‐ genden Buch, S. 111–173. 121 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 29. 122 Brief Adornos an Sohn-Rethel vom 17. November 1936. Adorno u. Sohn-Re‐ thel: Briefwechsel 1936–1969, S. 32. 123 Gegenüber dem Materialismus Lenins äußert Adorno wiederholt den Vorwurf des Dogmatismus. Dieser Dogmatismus bestehe darin, dass Lenin dem Idealis‐ mus „stur nur immer wieder die These vom Primat des Seins übers Bewußt‐ sein entgegenhält«. NaS IV 9/354.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
Auseinandersetzung. Diese Antinomik ließe sich in einer gewissen Vorläufigkeit als der Widerspruch zwischen Geist und Faktizität bestimmen, wobei Faktizität hier als kontingente empirische Wirk‐ lichkeit zu verstehen ist.124 Nach Adorno zeigt die Geschichte der Philosophie, dass sämtliche Versuche, diesen Widerspruch aufzulö‐ sen, indem einer der Pole auf den jeweils anderen reduziert wird, zum Scheitern verurteilt sind. Weil Husserls Phänomenologie sich aufgrund ihrer spezifischen Konzeption einer einseitigen Auflösung verwehre, komme es in ihr zu einer Entfaltung der Widersprüche, die das unumgängliche Scheitern des Idealismus in einer nie zuvor erreichten Drastik bezeugt. Wie es in Zur Philosophie Husserls heißt, „überbietet Husserl allen traditionellen Idealismus; er weist die Ab‐ hängigkeit vom kontingenten Faktum in dessen eigener Konzeption vom Ich nach“ (GS 20.1/100). Dadurch habe er „präzise den Hebel‐ punkt des Idealismus bestimmt“ und zugleich zutage gefördert, dass die immanenten Wiedersprüche des Idealismus „als Ausdruck eben der realen gesellschaftlichen Bewegung zu verstehen sind, die der idealistische Grundansatz ausschließt“ (GS 20.1/100). Der Übergang in den Materialismus erweise sich damit als die notwendige Konse‐ quenz aus dem Scheitern des Idealismus. Aus der Skizzierung von Adornos Programm einer Überschrei‐ tung des Idealismus ergibt sich der dreistufige Aufbau dieses Buches. Nachdem die von Adorno beschriebenen Probleme des Idealismus aus einer philosophiegeschichtlichen wie systematischen Perspekti‐ ve erörtert werden (Kapitel 1), soll gezeigt werden, wie Adorno den Idealismus in seiner Auseinandersetzung mit Husserls Phäno‐ menologie zu durchbrechen versucht (Kapitel 2), um schließlich den Übergang in einen undogmatischen Materialismus nachzuvoll‐ ziehen und die phänomenologischen Motive herauszuarbeiten, die sich Adorno in diesem Zuge aneignet (Kapitel 3). Diese drei Kapitel weisen inhaltliche Brüche auf, die unvermeidbar waren. Das hat verschiedene Ursachen: Die Auseinandersetzung mit Husserls Phä‐ 124 Dass Adorno keine einheitliche Terminologie verwendet, um diesen Wider‐ spruch zu beschreiben, wird in einer Passage der Metakritik deutlich. Vor dem Hintergrund des Streits zwischen Rationalismus und Empirismus spricht Adorno dort zunächst ganz allgemein von Subjekt und Objekt und führt wenig später, fast unbemerkt, die Gegensätze Geist/Gegebenheit, Geist/Faktizität, Bewusstsein/Sein ein. Vgl. GS 5/31–33.
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nomenologie durchzieht Adornos gesamtes Werk – begonnen mit der 1924 eingereichten Dissertation bis hin zur 1966 veröffentlichten Negativen Dialektik. Wenig überraschend weist die Entwicklung von Adornos Philosophie in diesem Zeitraum Brüche auf, von denen ich nur einige wenige nennen möchte: die Abkehr vom transzenden‐ talen Idealismus, wie er von Cornelius vertreten wurde; die allmäh‐ liche Distanzierung von Sohn-Rethels Versuch einer Ableitung der Erkenntnisformen aus der Gesellschaft, der in der Metakritik noch eine gewisse Rolle spielt, in der Negativen Dialektik aber verworfen wird; schließlich die intensive Auseinandersetzung mit der Dialektik Hegels, die erst in den Schriften der sechziger Jahre zu ihrem vollen Ausdruck gelangt. So sagt Adorno rückblickend, dass Teile der Meta‐ kritik „noch zu einseitig-kritisch, nicht dialektisch genug“125 seien. Dem ist es geschuldet, dass die Frage nach der Dialektik in Adornos Auseinandersetzung mit Husserl schon in Kapitel 2 aufgeworfen wird, aber erst am Ende der Untersuchung beantwortet werden kann.126 Eine weitere Ursache für Brüche in der Gesamtdarstellung liegt in der Methode dieser Untersuchung. Sie orientiert sich stärker an der werkgeschichtlichen Interpretation, die ich zu plausibilisieren versuche, als an Adornos eigenem Vorgehen. So lassen sich die Kritik am Idealismus und der Übergang in den Materialismus in Adornos Darstellung nicht voneinander trennen. Materialismus, so schreibt Adorno in der Negativen Dialektik, sei geradezu der „Inbegriff der Kritik am Idealismus“ (GS 6/197). Die methodische Isolierung der genannten Operationen bringt es wiederum mit sich, dass die Bezugnahme auf Husserls Werk keineswegs chronologisch erfolgt. Die in Kapitel 2 beschriebene Durchbrechung des Idealismus kulmi‐ niert in der Kritik an Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivität, wie sie in den erstmals 1931 erschienen Cartesianischen Meditationen entworfen wird. Obwohl Husserls genetische Phäno‐ menologie zu diesem Zeitpunkt bereits ausgearbeitet ist, spielt sie in Adornos Argumentation keine Rolle. Adornos Übergang in den Materialismus, den ich im darauffolgenden Kapitel rekonstruiere, beginnt mit einer Kritik an Husserls Idee einer reinen Logik, die in den Prolegomena zur reinen Logik von 1900 entwickelt wird. Von 125 Brief Adornos an Kracauer vom 28.9.1966. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923–1966, S. 716. 126 Siehe hierzu Zwischenbemerkung: Die Frage nach der Dialektik, im vorliegen‐ den Buch, S. 132–136.
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Einleitung: Kritische Theorie und Phänomenologie
dort aus schreitet Adorno fort zu einer Auseinandersetzung mit der genetischen Phänomenologie in der Formalen und transzendentalen Logik von 1929. In der Negativen Dialektik steht wiederum die We‐ senslehre der Ideen von 1913 im Vordergrund. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Anmerkungen zum Aufbau des Buches gilt es das Vorgehen in den drei Kapiteln kurz zu skizzieren. Kapitel 1 beginnt mit einer an Adornos Antrittsvorlesung orien‐ tierten Darstellung des philosophiegeschichtlichen Kontextes, in dem sich Husserls Phänomenologie entwickelt. Die Darstellung ver‐ folgt das Ziel, die Verbindung positivistischer und idealistischer Mo‐ tive in Husserls Phänomenologie einsichtig zu machen, denn nach Adorno besteht deren Spezifik in ebendieser Verbindung (1). Das folgende Unterkapitel über Adornos Begriff des Idealismus stellt den Widerspruch zwischen Geist und Faktizität als systematisches Prob‐ lem der modernen Erkenntnistheorie heraus, in dem nach Adorno eine grundlegende erkenntnistheoretische Aporie zum Ausdruck kommt (2). Zu Beginn von Kapitel 2 rekonstruiere ich den von Adorno beschriebenen Versuch Husserls, unter der Parole ‚Zu den Sachen selbst‘ aus dem Idealismus auszubrechen. Zwar werde das Scheitern dieses Ausbruchsversuchs mit Husserls idealistischer Wen‐ de offenkundig (1). Aufgrund ihres spezifischen Charakters komme es in der Entwicklung der Phänomenologie jedoch zu einer Entfal‐ tung jener erkenntnistheoretischen Aporie, die die Unmöglichkeit einer idealistischen Begründung der Erkenntnistheorie in einer nie zuvor erreichten Drastik bezeugt. Indem Adorno diesen Prozess zur Darstellung bringt, beansprucht er den Idealismus immanent zu durchbrechen (2). In Kapitel 3 wird Adornos Übergang in den Mate‐ rialismus rekonstruiert. Im Zentrum steht zunächst das von Husserl in den Prolegomena zur reinen Logik aufgeworfene erkenntnistheo‐ retische Problem, wie das Verhältnis von Geltung und Genesis der logischen Gesetze zu bestimmen sei. Mit seiner Konzeption einer materialistischen Logik versucht Adorno dieses Problem zu über‐ winden, indem er sich einerseits vom logischen Psychologismus ab‐ grenzt und anderseits nachzuweisen versucht, dass die Logik ihrem eigenen Sinn nach auf eine gesellschaftliche Genesis verweist. Mit diesem Nachweis, der sich Husserls genetische Analyse des logischen Urteils in der Formalen und transzendentalen Logik zunutze macht, beansprucht Adorno den Übergang in den Materialismus zu vollzie‐ hen (1). In der Negativen Dialektik gelangt dieser Materialismus zur
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4. Methode, Programm, Aufbau
Entfaltung. Ich werde schließlich zeigen, dass phänomenologische Motive in die Struktur und das Verfahren negativer Dialektik ein‐ wandern und Adorno in seinem philosophischen Hauptwerk die Intention verfolgt, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ einzu‐ lösen (2).
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Kapitel 1: Probleme des Idealismus
Einleitung: Die Krise der Philosophie Die am 8. Mai 1931 gehaltene Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie ist Adornos erste Abhandlung zur Philosophiegeschich‐ te. Nach Adornos eigenem Bekunden hat sie unter den Zuhören‐ den vor allem Missmut und Ablehnung hervorgerufen: „Wertheimer bekam vor Wut und Aufregung einen Weinkrampf, Tillich fand die Form anstößig wegen ihres bestimmten Tones; Mannheimer schimpfte und Horkheimer […] war es nicht marxistisch genug.“127 Ungeachtet dieser Schilderung über die Befindlichkeiten des Publi‐ kums ist die Antrittsvorlesung für uns aus einem inhaltlichen Grund von besonderem Interesse. Adorno unternimmt in ihr erstmals eine philosophiehistorische Verortung der Phänomenologie, die für seine Husserl-Rezeption von Bedeutung bleibt: Mit Husserl erreiche der Idealismus seine konsequenteste Gestalt und treibe in einen Prozess der Selbstzerstörung. Aus welchen innerphilosophischen Entwick‐ lungen sich diese Verortung ergibt, werde ich in diesem Kapitel zeigen. Zunächst gilt es in einem noch ganz allgemeinen Sinne den Ausgangspunkt der Antrittsvorlesung zu erläutern. In aller Prägnanz gesprochen ist dieser Ausgangspunkt eine von Adorno konstatierte Krise der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhun‐ derts, die sich bei genauerem Hinsehen als Folgeerscheinung der Krise des deutschen Idealismus entpuppt. Diese Zeitdiagnose ist weder ungewöhnlich noch neu. Schon Windelband bemerkt im erstmals 1880 veröffentlichten zweiten Band seiner Geschichte der neueren Philoso‐ 127 Brief Adornos an Kracauer vom 29.5.1931. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923– 1966, S. 274f. Adorno spricht weiter von einem „Gefühl der völligen geistigen Isolation“ und glaubt, nicht in den akademischen Betrieb hineinzupassen: „[I]ch will keine Wissenschaft machen und auch keine Weltanschauung, sondern eben etwas prinzipiell anderes, was zu den akademischen Kategorien ganz disparat steht und was die Leute erbittert, die im Grunde doch immer noch aristotelisch oder hegelianisch nach dem Sinn von Sein fragen möchten.“ Ebd.
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Kapitel 1: Probleme des Idealismus
phie, dass nach dem Ende des Idealismus „über die deutsche Philoso‐ phie Herbst und Winter hereingebrochen“128 waren. „Die schöpferi‐ sche Überkraft, aus der System auf System quoll, war versiegt, und auf den Rausch der Spekulation folgte Ernüchterung.“129 Windelband beklagt den Verlust eines Weltbegriffs der Philosophie, der im Ausgang von Kant die Ausbildung der idealistischen Systemphilosophien ent‐ scheidend beeinflusst hatte.130 So sei „die Verbindung des philosophi‐ schen Gedankens mit der universalistischen Bildung verloren gegan‐ gen, die das Geheimnis jener Blüthezeit ausmachte.“131 Zwar sei „dem Gesamtwissen jener Zeit das der Gegenwart weit überlegen: aber dafür zersplittert es sich jetzt in die einzelnen Köpfe und Thätigkeiten“132. In diesen Formulierungen wird die Krise deutlich, in die die Philosophie aufgrund der bahnbrechenden Erfolge der empirischen Wissenschaf‐ ten im 19. Jahrhundert geraten war. Die Erfahrung, innerhalb der Wissenschaft nicht länger konkurrieren zu können, führt in doppelter Hinsicht in eine Identitätskrise der Philosophie. Zum einen scheint die Philosophie ihren Status als Begründungsinstanz der Wissenschaft zu verlieren und sich nur auf Biegen und Brechen als Sonderwissenschaft am Leben erhalten zu können. Zum anderen führen die verschiedenen Versuche, die Philosophie zu rehabilitieren, zu einer innerphilosophi‐ schen Zersplitterung, wodurch es immer schwieriger wird, so etwas wie einen Wesenskern der Philosophie zu bestimmen.133
128 Wilhelm Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusam‐ menhange mit der allgemeinen Kultur und den Besonderen Wissenschaften dar‐ gestellt, Bd. 2, Leipzig 1919, S. 428. 129 Ebd. 130 Kant spricht in der Kritik der reinen Vernunft in besonders prominenter Weise von einem Weltbegriff der Philosophie: „In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“; im Unterschied dazu ziele der Schulbegriff der Philosophie auf ein „System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben.“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, B 866f. 131 Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 2, S. 428. 132 Ebd. 133 Schnädelbach hat diese Identitätskrise sowie die daraus resultierenden philo‐ sophischen Bewältigungsstrategien eindrücklich dargestellt. Vgl. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933.
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Einleitung: Die Krise der Philosophie
Adornos Antrittsvorlesung ist vor dem Hintergrund dieses phi‐ losophiehistorischen Kontextes zu lesen. In ihr entfaltet Adorno das Narrativ der Philosophiegeschichte als „Problemgeschichte“ (GS 1/327). Diese Problemgeschichte drohe auf nichts geringeres als die „Liquidation der Philosophie selber“ (GS 1/332) hinauszulaufen. Dabei liegt die Überzeugung zugrunde, dass die philosophische Ide‐ engeschichte nicht autonom verläuft und die in ihr auftretenden systematischen Probleme nur in ihrer Wechselwirkung mit der ge‐ schichtlichen Wirklichkeit zu verstehen sind. Auch diese Auffassung ist keineswegs neu. Innerhalb der marxistischen Tradition hatte ins‐ besondere Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein zu zeigen versucht, dass die Antinomien der klassischen deutschen Philoso‐ phie den „gedanklichen Ausdruck jener Antinomien bedeuten, die dem Sein der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegen“134. Auch Horkheimer betont in seiner 1927 gehaltenen Vorlesung Einführung in die Geschichte der neueren Philosophie, „daß die in der Historie aufgetretenen philosophischen Anschauungen und Systeme erklär‐ bar sind aus der wirklichen Geschichte der Menschheit“.135 Adornos Antrittsvorlesung folgt dieser Auffassung. So müsse bei der Klärung philosophischer Probleme berücksichtigt werden, „daß die Funkti‐ on, die die herkömmliche philosophische Frage von übergeschicht‐ lichen, symbolisch bedeutenden Ideen erwartet, von innergeschicht‐ lich konstituierten und unsymbolischen geleistet wird“ (GS 1/337). Adorno liefert zwei Erklärungen, um den schweren Stand der Philosophie verständlich zu machen, von denen ich die eine – in einem heuristischen Sinne – als exoterisch, die andere als esoterisch bezeichnen möchte. Die exoterische Erklärung bezieht sich auf den bereits angesprochenen Siegeszug der Wissenschaft, mit dem eine Degradierung der Philosophie einhergeht. „Die Liquidation der Phi‐ losophie ist mit kaum je dagewesenem Ernst von der Wissenschaft, zumal der logischen und mathematischen, in Angriff genommen“ (GS 1/331). Aus der entstandenen Legitimationsnot erwachsen Be‐ strebungen, die Philosophie der Wissenschaft anzugleichen – Ador‐ 134 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, Werke, Bd. 2, Darm‐ stadt/Neuwied 1968, S. 331. 135 Max Horkheimer: „1. Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie“, Gesammelte Schriften, Bd. 9, hg. von Alfred Schmid u. Gunzlin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987, S. 17f.
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Kapitel 1: Probleme des Idealismus
no sieht sie prototypisch im logischen Empirismus des Wiener Krei‐ ses verwirklicht. Dadurch werde die Philosophie „allein zur Ord‐ nungs- und Kontrollinstanz der Einzelwissenschaften“ herabgestuft, „ohne aus Eigenem den einzelwissenschaftlichen Befunden Wesent‐ liches hinzufügen zu dürfen“ (GS 1/332). Schnädelbach bemerkt tref‐ fend, dass diese Bewältigungsstrategie dem nahe kommt, „was man mit Freud die ‚Identifikation mit dem Angreifer‘ nennen könnte: die Philosophie läuft zu der Instanz über, die ihre Identität bedroht – zur Wissenschaft.“136 Demgegenüber bezieht sich die esoterische Erklärung auf einen Bedeutungsverlust der philosophischen Begriffe. Im Zentrum von Adornos Darstellung steht dabei der Begriff der Totalität. Gleich zu Beginn der Antrittsvorlesung konstatiert er, dass die Philosophie ihrem historischen Stand nach „von Anbeginn auf die Illusion ver‐ zichten [muss], mit der früher die philosophischen Entwürfe ein‐ setzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen“ (GS 1/325). Es sei die Grundthese aller idealistischen Philosophie, dass das Denken fähig sei, „den Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu ent‐ wickeln“ (GS 1/326). Sie besagt implizit, dass die Wirklichkeit ver‐ nünftig strukturiert sei, denn nur unter dieser Voraussetzung könn‐ te sie sich dem Denken gegenüber als restlos erkennbar erweisen. Adorno sieht diese idealistische Grundthese durch die Wirklichkeit selbst widerlegt. „Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt“ (GS 1/325). Dadurch sei der Anspruch der Philosophie „auf die Totalität des Wirklichen im Ursprung getroffen. […] Die Krise des Idealismus kommt einer Krise des philosophischen Totalitätsanspruches gleich.“ (GS 1/326). Philosophie, die weiterhin glaube, diesem Anspruch gerecht werden zu können, „dient zu nichts anderem, als die Wirklichkeit zu verhül‐ len und ihren gegenwärtigen Zustand zu verewigen“ (GS 1/325).137 136 Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 123. 137 Wirft man einen Blick in Adornos spätere Schriften, in denen der Kategorie der Totalität in erkenntnis- wie gesellschaftstheoretischer Hinsicht eine zentra‐ le Funktion zugewiesen wird, klingt es befremdlich, wenn Adorno in der An‐ trittsvorlesung schließlich dafür plädiert, „auf die Totalitätsfrage zu verzichten“. GS 1/326. Hier ist darum deutlich zu machen, dass Adorno den Begriff der To‐ talität Anfang der dreißiger Jahre noch als ontologische, nicht als dialektische
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Einleitung: Die Krise der Philosophie
Das philosophische Problem, das im Zentrum der Antrittsvorlesung steht, ließe sich somit als ein Bruch zwischen Denken und Wirklich‐ keit – oder in anderen Worten: zwischen Geist und Faktizität – fassen, der nach dem Niedergang der idealistischen Systemphiloso‐ phien unabweisbar wird. Nachdem sich deren Anspruch, die gesam‐ te Wirklichkeit kraft des Denkens zu erschließen, als uneinlösbar erwiesen habe, sehe sich die Philosophie mit der Aufgabe konfron‐ tiert, den Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit auf neue Weise zu überbrücken. Zunächst gilt es Adornos Darstellung der Philosophiegeschichte in der Antrittsvorlesung in den Blick zu nehmen. Der Anspruch dieser Darstellung besteht darin, zu zeigen, dass die behandelten philosophischen Strömungen an der Überbrückung des Bruchs zwi‐ schen Denken und Wirklichkeit scheitern, weil sie nach wie vor auf idealistischen Voraussetzungen beruhen. Einer philosophischen Konzeption weist Adorno dabei jedoch eine Sonderstellung zu: Hus‐ serls Phänomenologie. Die Antrittsvorlesung lässt bereits erkennen, dass der Grundcharakter der Phänomenologie in Adornos Augen in einer Verschränkung von Positivismus und Idealismus besteht (1). Es folgt eine Abhandlung über Adornos Begriff des Idealismus, in der die systematischen Probleme herausgestellt werden, die sich Ador‐ nos zufolge aus dem Anspruch ergeben, die Wirklichkeitskonstituti‐ on aus einem ersten Prinzip zu erklären. Um die Jahrhundertwen‐ de lassen sich im Bereich der Erkenntnistheorie zwei Strömungen beobachten, die diesen Anspruch auf je gegensätzliche Weise einzu‐ lösen versuchen: die von Richard Avenarius und Ernst Mach vertre‐ tene positivistische Immanenzphilosophie und die idealistische Im‐ manenzphilosophie der Neukantianer. Beide Strömungen verfolgen nach Adorno den Anspruch, die Erkenntnistheorie als prima philo‐ sophia zu begründen, indem sie entweder die Faktizität oder das Denken als ein erstes Prinzip setzen. Im Scheitern beider Ansätze drückt sich nach Adorno eine grundlegende erkenntnistheoretische Aporie aus, die auf die Verschränkung empirischer und kategorialer Momente in den Erkenntnisformen zurückzuführen sei. Aus diesem Kategorie denkt. Als solche wäre Totalität, paradox gesprochen, nicht total, weil das durch sie vermittelte Einzelne in ihrem Begriff nicht aufgeht und die Totalität begrenzt. Eine umfassende Rekonstruktion des Begriffs der Totalität in Adornos negativer Dialektik findet sich bei Sommer. Vgl. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 64–85.
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Kapitel 1: Probleme des Idealismus
Grund sei es unmöglich, einen der beiden Pole auf den jeweils andere zu reduzieren (2). Adornos These von einer Aporie der Erkenntnistheorie bildet dann den systematischen Ausgangspunkt für Kapitel 2, in dem ich die Grundlinien von Adornos Auseinander‐ setzung mit Husserls Phänomenologie rekonstruieren werde.
1. Der Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit Die Philosophiehistoriographie, die Adorno im ersten Teil der An‐ trittsvorlesung entwickelt, wurde von der Forschung bisher kaum beachtet.138 Sie verfolgt weniger ein ideengeschichtliches Interesse, sondern ist wesentlich Philosophiekritik im Sinne einer „radikale[n] Kritik des herrschenden philosophischen Denkens“ (GS 1/339).139 Diese Kritik vollzieht sich in zwei Schritten: Zunächst stellt Adorno die Berechtigung der jeweiligen philosophischen Konzeption heraus, die sich aus der philosophiegeschichtlichen Situation ergibt. Dar‐ aufhin zeigt er, wie diese Konzeption an ihrem eigenen Anspruch scheitert. Die Dringlichkeit neuer philosophischer Konzeptionen erwächst Adorno zufolge aus dem Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit, der nach dem Niedergang des deutschen Idealismus offenhervor‐ tritt. Der Anspruch der Philosophie müsse nun darin bestehen, diesen Bruch zu überbrücken. Somit lässt sich die Problemstellung, von der Adornos Philosophiehistoriographie ihren Ausgang nimmt, Wussow folgend, „als die Frage nach der Angemessenheit des Den‐ kens an die geschichtliche Wirklichkeit“140 präzisieren. Die „großen Lösungsversuche der idealistischen Philosophie“ (GS 1/326), auf die Adorno in der Antrittsvorlesung eingeht, sind der Marburger Neu‐ 138 Eine Ausnahme bildet Philipp von Wussows Buch Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie. Ich werde mich in diesem Unterkapitel immer wieder auf Wussows zu Unrecht vernachlässigte Studie beziehen, der ich den Begriff der Philosophiehistoriographie entnommen habe. Vgl. Philipp von Wussow: Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg 2007, S. 261–264. 139 Kracauer hat diese Philosophiekritik ausdrücklich gewürdigt: „ich finde den ersten kritischen Teil ausgezeichnet. Er enthält in zusammengedrängter Form eine Kritik der gegenwärtigen Philosophie, wie sie nicht leicht prägnanter und treffender geübt werden könnte.“ Brief Kracauers an Adorno vom 7.6.1931. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923–1966, S. 280. 140 Wussow: Logik der Deutung, S. 262.
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1. Der Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit
kantianismus, die Lebensphilosophie Georg Simmels und der Süd‐ westdeutsche Neukantianismus (I). Abseits davon entwickeln sich die positivistischen Philosophien, die den Begriff der empirischen Gegebenheit ins Zentrum ihrer Analyse rücken (II). Schließlich er‐ weist sich Husserls Phänomenologie als eine Verschränkung von Po‐ sitivismus und Idealismus (III). Die genannten Strömungen bringt Adorno in eine eigensinnige philosophiehistorische Konstellation, die ich im Folgenden nachzeichnen werde. I. Idealismus
a. Marburger Neukantianismus Der Antrittsvorlesung zufolge versucht der Neukantianismus der Marburger Schule den Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit zu überbrücken, indem er „aus logischen Kategorien den Gehalt der Wirklichkeit zu gewinnen“ (GS 1/326) trachtet. Weil er das Denken als Ausgangspunkt wählt, habe er „zwar seine systemati‐ sche Geschlossenheit gewahrt, dafür aber jeden Rechts über die Wirklichkeit sich begeben und sieht sich in eine formale Region verwiesen, in der jede inhaltliche Bestimmung zum virtuellen End‐ punkt eines unendlichen Prozesses sich verflüchtigt“ (GS 1/326). Adornos Hinweis auf einen unendlichen Prozess des Denkens legt nahe, dass er sich an dieser Stelle auf Hermann Cohen bezieht. Das philosophische Programm, das Cohen in seiner erstmals 1902 veröffentlichten Logik der reinen Erkenntnis entfaltete, besteht we‐ sentlich darin, den Akt der Wirklichkeitskonstitution aus einem im Denken liegenden logischen Ursprung herzuleiten. Organon dieser Herleitung ist die Infinitesimal-Mathematik, in der Cohen „die un‐ eingeschränkte, schöpferische Selbständigkeit des reinen Denkens“141 erblickt. Deshalb sei „die praecise Frage und die erlösende Antwort auf eine unerläßliche und unersetzliche Bedeutung des Denkens, als Erzeugung, […] aus der Analyse des Unendlichen zu gewinnen.“142 Im Gegensatz zu Kant lehnt Cohen es ab, „der Logik eine Lehre 141 Hermann Cohen: System der Philosophie. Erster Theil. Logik der reinen Er‐ kenntniss, Berlin 1902, S. 32. 142 Ebd.
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von der Sinnlichkeit voraufgehen zu lassen. […] Das Denken darf keinen Ursprung haben, außerhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muss.“143 Cohen ver‐ tritt somit eine am Ideal der mathesis universalis orientierte, streng antipsychologistische Variante des transzendentalen Idealismus, die den Anspruch erhebt, Kants Dualismus von Anschauung und Begriff im reinen Denken aufzulösen. Der Versuch, die Wirklichkeitskonsti‐ tution allein durch das Denkens zu erklären, führt in Adornos Augen jedoch in einen Prozess der Formalisierung, in dem der Wirklich‐ keitsgehalt aus der Philosophie entschwindet. Weil Cohen die Denk‐ formen hypostasiere, vermag seine Philosophie die Faktizität nicht mehr zu erreichen.144 b. Simmels Lebensphilosophie Die Gegenposition zum Marburger Neukantianismus bildet die „psychologistisch und irrationalistisch orientiert[e]“ (GS 1/326) Le‐ bensphilosophie Simmels. Zwar habe sie „den Kontakt mit der Wirk‐ lichkeit behalten, die sie behandelt, aber dafür jedes sinngebende 143 Ebd., S. 11f. 144 Von dieser Darstellung ist Adorno auch später nicht abgewichen. Noch in der Vorlesung Fragen der Dialektik aus den Jahren 1963/64 wird das Programm der Marburger Schule als der Versuch charakterisiert, „mit Hilfe des konse‐ quent angewandten Infinitesimalproblems den unaufhebbaren Bruch zwischen dem Totalitätsanspruch des Systems und dem im Begriff nicht aufgehenden Seienden zu überbrücken.“ NaS IV 11/195. Über Adornos Auslegung des Mar‐ burger Neukantianismus soll hier nicht geurteilt werden. In der Forschung finden sich freilich widerstreitende Einschätzungen. Durchaus in Übereinstim‐ mung mit Adorno sieht Schnädelbach im Marburger Neukantianismus eine „echte Renaissance des absoluten Idealismus […]. Wenn der Marburger Neu‐ kantianismus aus der Tatsache, daß alles, was ist, nur durch das Denken ist, schließt, daß dann – strenggenommen – auch nur Denken sei, dann ist dieser ‚logische Idealismus‘ näher bei Fichte als bei Kant“. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 242. Dem widerspricht Geert Edel: „Von einem metaphysisch-ontologischen Idealismus der Marburger Schule, sei es Fichtescher oder auch Hegelscher Provenienz, kann inhaltlich schon von der internen Logik der ‚Schuldoktrin‘ her gesehen gar keine Rede sein.“ Geert Edel: „Fichte – Marburger Neukantianismus (insbesondere Natorp) und die philosophische Methode“, in: Detlev Pätzold u. Christian Krijnen (Hgg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 2002, S. 35–48, hier S. 37.
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Recht über die andrängende Empirie verloren“ (GS 1/326). In seiner späten lebensphilosophischen Schrift Lebensanschauung aus dem Jahre 1918 beschreibt Simmel einen „Dualismus von kontinuierlicher Lebensströmung und individuell geschlossener Form“145, der sich im Sinne von Adornos Motiv des Bruchs zwischen Wirklichkeit und Denken verstehen lässt. Simmel versucht diesen Dualismus in einem „absoluten Begriff des Lebens“146 aufzulösen, der ein Transzendieren des Lebens in die Sphäre des Geistigen beschreibt – „in die Ebene der Sachgehalte, des logisch autonomen, nicht mehr vitalen Sinnes, das Mehr-als-Leben, das von ihm völlig unabtrennbar ist, das Wesen des geistigen Lebens selbst.“147 Adornos Darstellung zufolge wählt Simmel das Leben und damit die Faktizität als Ausgangspunkt der Philosophie und versucht so zu den Grundformen des Denkens zu gelangen. Doch in Adornos Augen scheitert auch dieser Überbrückungsversuch. Letztendlich habe Simmels Lebensphilosophie „im blinden und unerhellten Na‐ turbegriff des Lebendigen resigniert, den sie vergebens zur unklaren, scheinhaften Transzendenz des Mehr-als-Lebens zu steigern such‐ te“ (GS 1/326). Indem sie den Begriff des Lebens verabsolutiere, überhöhe sie die Wirklichkeit und scheitere an der Synthetisierung des empirischen Materials im Denken.148 Dass Adorno die Philoso‐ phie Simmels „im Umkreis des Idealismus“ (GS 1/326) verortet, obwohl sie keineswegs den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit aus 145 Georg Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Gesamtausga‐ be, Bd. 16, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1999, S. 209–425, hier S. 228. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 232. 148 An dieser Stelle ist ein Hinweis auf Heinrich Rickerts Buch Die Philosophie des Lebens unerlässlich, auf das sich Adorno in einer Vorlesung bezieht. Vgl. NaS IV 9/161. In diesem Buch nimmt Simmel eine Schlüsselrolle ein, denn, so Rickert, ein „noch radikalerer Versuch, das Leben zum Herrscher über alles zu machen, liegt bisher nicht vor.“ Heinrich Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tü‐ bingen 1920, S. 64f. Adornos These, dass Simmels Philosophie den absoluten Begriff des Lebens im Denken nicht mehr einzuholen vermag, findet sich in ähnlicher Form bei Rickert. So sei es unmöglich, Simmels „Gedanken logisch zu Ende zu denken und so mit dem Leben allein das Problem des Lebens zu lösen.“ Ebd., S. 70. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Adorno Rickerts Buch bereits zur Zeit der Antrittsvorlesung kannte und Simmel deshalb als wichtigs‐ ten Vertreter und zugleich als Endpunkt der Lebensphilosophie stilisiert.
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dem Denken abzuleiten, ermöglicht uns einen Vorblick auf Adornos Idealismusbegriff. Idealistisch ist Simmels Philosophie, weil sie einen abstrakten Begriff, nämlich den des Lebens, als ein erstes Prinzip setzt, aus dem alles Weitere folgen soll. Wussow folgend besteht die Pointe von Adornos Philosophiehis‐ toriographie an dieser Stelle darin, dass der Marburger Neukantia‐ nismus und Simmels Lebensphilosophie „dem Zwang unterliegen, sich entweder für das Denken oder für die Wirklichkeit als Aus‐ gangspunkt zu entscheiden, nachdem beides auseinandergefallen ist, und dass sie das jeweils andere nicht mehr erreichen.“149 Während in Cohens Philosophie der Anspruch auf formallogische Allgemein‐ heit gewahrt bleibt, entweicht ihr der konkrete Wirklichkeitsgehalt. Dementgegen behält Simmels Philosophie den Kontakt mit der Wirklichkeit, vermag jedoch keine verbindlichen Aussagen über sie zu treffen. Und mehr als das: Der Versuch, den Bruch zu überrü‐ cken, indem entweder das Denken oder die Wirklichkeit als Aus‐ gangspunkt gewählt wird, führt in beiden Fällen zur Hypostasierung des jeweiligen Prinzips. c. Südwestdeutscher Neukantianismus In dieser Situation sieht Adorno im Südwestdeutschen Neukantia‐ nismus einen neu einsetzenden Vermittlungsversuch „zwischen den Extremen“ (GS 1/326). Die Philosophie Rickerts, „meint in den Wer‐ ten über konkretere und handlichere philosophische Maßstäbe zu verfügen, als die Marburger in ihren Ideen sie besitzen, und hat eine Methode ausgebildet, die zu jenen Werten die Empirie in eine wie immer auch fragliche Beziehung setzt“ (GS 1/326). Wie Rickert in seinem 1910 veröffentlichten Aufsatz Vom Begriff der Philosophie deutlich macht, ist der Begriff des Werts, der ein Zentrum seiner Philosophie bildet, streng von der Faktizität zu trennen. Weder darf er als Eigenschaft der Objekte aufgefasst werden, noch fällt er mit dem psychischen Akt des Wertens zusammen. „[K]ommt der Wert als Wert in Betracht, so ist die Frage nach seiner Existenz
149 Wussow: Logik der Deutung, S. 262.
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sinnlos. Man kann dann nur fragen, ob er ‚gilt‘ oder nicht“.150 Die Werte bilden somit ein der Wirklichkeit gegenübertretendes „Reich für sich, das jenseits von Subjekt und Objekt liegt“151 und transzen‐ dentalen Charakter hat. Rickert geht es im Folgenden darum, der Philosophie wieder einen konkreten Gegenstand zuzuweisen, nach‐ dem ihr die Einzelwissenschaften die Aufgabe der objektivierenden Welterklärung entzogen haben. Was die Philosophie von den Einzel‐ wissenschaften unterscheide, sei, „daß sie Weltanschauung geben, d.h. den Sinn des Lebens deuten soll.“152 Daraus erwächst die beson‐ dere Aufgabe, „nach einem dritten Reich zu suchen, das die beiden bisher absichtlich gesondert betrachteten Gebiete miteinander ver‐ knüpft.“153 Dieses dritte Reich ist das des Sinnes und die Methode, die Wirklichkeit und Werte darin vereinigen soll, bezeichnet Rickert als Sinnesdeutung. Aufgabe der Philosophie sei es, „die beiden ge‐ trennten Reiche so miteinander zu verbinden, daß sie den dem wirklichen Leben innewohnenden Sinn deutet.“154 Adorno fasst den Gegensatz zwischen Wert und Wirklichkeit wiederum im Sinne des Motivs des Bruchs und versteht Rickerts Sinnesdeutung als Vermittlungsversuch zwischen Denken und Wirk‐ lichkeit. Dieser Vermittlungsversuch scheitert in Adornos Augen je‐ doch aus mindestens zwei Gründen. Zum einen gelinge es Rickert nicht, Ort und Ursprung der Werte klar zu bestimmen: „[Z]wischen logischer Notwendigkeit und psychologischer Mannigfaltigkeit lie‐ gen sie irgendwo; unverbindlich im Wirklichen, undurchsichtig im 150 Heinrich Rickert: „Vom Begriff der Philosophie“, in: Ders.: Philosophische Auf‐ sätze, hg. von Rainer A. Bast, Tübingen 1999, S. 3–36, hier S. 14. Der eigentliche Beginn einer geltungs- bzw. werttheoretischen Konzeption der Philosophie ist aufs Engste mit Rickerts Lehrer Windelband verknüpft. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen quid juris und quid facti, auf deren Grundlage Kant die transzendentale Deduktion der Kategorien streng von einer nur unzurei‐ chenden empirischen Deduktion abgegrenzt hatte, betont Windelband den Geltungscharakter der logischen Gesetze. Die Geltung dieser Gesetze kann nicht empirisch abgeleitet, sondern nur ausgewiesen werden, wodurch Win‐ delband sich streng vom Psychologismus seiner Zeit abgrenzt. Vgl. Wilhelm Windelband: „Kritische oder genetische Methode?“, in: Ders.: Präludien. Auf‐ sätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, hg. von Jörn Bohr u. Sebastian Luft, Hamburg 2021, S. 351–382, hier S. 358f. 151 Rickert: „Vom Begriff der Philosophie“, S. 14. 152 Ebd., S. 21. 153 Ebd. 154 Ebd., S. 35.
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Geistigen; eine Scheinontologie, die die Frage des Woher-Geltens so wenig zu tragen vermag wie die des Wofür-Geltens“ (GS 1/326). Zum anderen – diese Erklärung findet sich erst in einem späteren Teil der Antrittsvorlesung – verfalle die Sinnesdeutung dem idealisti‐ schen Trug, dass es möglich sei, einen „Sinn als positiv gegeben, die Wirklichkeit als ‚sinnvoll‘ darzutun und zu rechtfertigen“ (GS 1/334). Nachdem Denken und Wirklichkeit auseinandergefallen sind, sei jedoch „[j]ede solche Rechtfertigung des Seienden […] durch die Brüchigkeit im Sein selbst verwehrt“ (GS 1/334). Die ungewöhnliche philosophiegeschichtliche Konstellation, die Adorno bis zu diesem Punkt der Antrittsvorlesung entfaltet, fasst Wussow prägnant zusammen: „Der Marburger Neukantianismus und Simmel stehen antithetisch innerhalb des Idealismus; der süd‐ westdeutsche Neukantianismus erscheint als Versuch einer Vermitt‐ lung zwischen Cohen und Simmel.“155 Allerdings übergeht Wussow die Ausführungen zur positivistischen Philosophie in der Antritts‐ vorlesung, die für Adornos Darstellung der Husserlschen Phänome‐ nologie konstitutiv sind. II. Positivismus
Die Ausführungen zum Positivismus in Adornos Antrittsvorlesung sind allerdings unpräzise, weshalb es einiger Exegese bedarf, um ihren Bedeutungsgehalt zu erschließen. Zunächst spricht Adorno von den „wissenschaftlichen Philosophien“, die „[a]bseits der gro‐ ßen Lösungsversuche der idealistischen Philosophie arbeiten“ (GS 1/326). Sie bilden eine Gegenbewegung zum Idealismus, insofern sie „auf die idealistische Grundfrage nach der Konstitution des Wirkli‐ chen verzichten […] und dafür meinen, in den Gegebenheiten, sei es des Bewußtseinszusammenhanges, sei es der einzelwissenschaftli‐ chen Forschung, sicheren Grund zu besitzen“ (GS 1/326f.). Wenig später erklärt Adorno, der Begriff der Gegebenheit sei von den „po‐ sitivistischen Richtungen ausgebildet“ (GS 1/327) worden. Adorno bezieht sich auf den im 19. Jahrhundert entstandenen Positivismus von Richard Avenarius und Ernst Mach, der auch als Empiriokriti‐ zismus bezeichnet wird. 155 Wussow: Logik der Deutung, S. 263.
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Der Empiriokritizismus kann als Gegenbewegung zum Idealismus in seiner metaphysisch-spekulativen wie in seiner neukantianischen Gestalt verstanden werden, da dieser sich in reinen Begriffsbildun‐ gen erschöpft und dadurch den Kontakt mit der einzelwissenschaft‐ lichen Forschung verloren habe. Solche Begriffsbildungen versucht der Empiriokritizismus aufzulösen, indem er das empirisch Gegebe‐ ne zum alleinigen Fundament wissenschaftlicher Forschung erklärt. Wie es in Kritik der reinen Erfahrung, dem 1888 erschienen Haupt‐ werk von Avenarius heißt, dürfe die Philosophie „nicht von dem ‚Bewußtsein‘ oder dem ‚Denken‘ als dem ‚unmittelbar Gegebenen‘ oder ‚unmittelbar Gewissen‘“ ausgehen, denn dies hieße, „beim Ende Anfangen!“156 Stattdessen entwickelt Avenarius einen „Begriff reiner Erfahrung: als einer Erfahrung, welcher nichts beigemischt ist, was nicht selber wieder Erfahrung wäre – welche mithin in sich selbst nichts anderes als Erfahrung ist.“157 Auch Mach betont in Erkenntnis und Irrtum aus dem Jahre 1905, man habe es zur eigenen „Befrie‐ digung nicht nötig […], über das empirisch Gegebene hinauszuge‐ hen.“158 In seinen bereits 1886 erschienenen Beiträgen zur Analyse der Empfindungen erklärt Mach: „Die Welt besteht also für uns nicht aus rätselhaften Wesen, welche durch Wechselwirkung mit einem anderen ebenso rätselhaften Wesen, dem Ich, die allein zugänglichen Empfindungen erzeugen. Die Farben, Töne, Räume, Zeiten … sind für uns die letzten Elemente, deren gegebe‐ nen Zusammenhang wir zu erforschen haben.“159
Adornos Kritik an solchen positivistischen Programmen bleibt zu‐ nächst wenig aussagekräftig. Diese hätten vergessen, „daß ihre ei‐ genen Feststellungen in jeder Voraussetzung mit den historischen Problemen und Problemgeschichte unauflöslich verknüpft sind und unabhängig von ihnen sich nicht lösen lassen“ (GS 1/327). Erst an späterer Stelle wird die Kritik erweitert und der Empiriokriti‐ zismus explizit beim Namen genannt. Adorno merkt zunächst an, dass die „Thesis der prinzipiellen Auflösbarkeit aller philosophischen Fragestellungen in einzelwissenschaftliche auch heute keineswegs 156 Richard Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung, Bd. 1, Leipzig 1888, S. VIII. 157 Ebd., S. 5. 158 Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig 1906, S. 19. 159 Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1986, S. 21.
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zweifelsfrei sichergestellt, vor allem, daß sie selber philosophisch keineswegs so voraussetzungslos ist, wie sie sich gibt“ (GS 1/332). Seine Kritik zielt im Folgenden auf die Rolle des Erkenntnissubjekts, dem das empirische Material gegeben ist: „[D]as Subjekt von Gegebenheit ist kein geschichtslos identisches, transzendentales, sondern nimmt mit Geschichte wechselnde und ge‐ schichtlich einsichtige Gestalt an. Dies Problem ist im Rahmen des Empiriokritizismus, auch des modernsten, überhaupt nicht gestellt wor‐ den, sondern er hat an dieser Stelle den Kantischen Ausgangspunkt naiv übernommen.“ (GS 1/333)
In der Tat besteht zunächst eine gewisse Einigkeit zwischen Kant und Mach, was den ontologischen Status des Erkenntnissubjekts anbelangt. Beide lehnen die Auffassung ab, das Ich sei ein dem Denken zugrundeliegendes reelles Substrat. Bei Kant hat das ‚Ich denke‘, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss, eine rein intellektuelle Funktion, die in der Synthesis des Mannigfaltigen besteht: „Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontanität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden.“160 Auch Machs Analysen führen zu dem Ergebnis, dass das Ich lediglich als eine „ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit“161 aufgefasst werden könne. Der Unterschied zwischen Kant und Macht besteht jedoch darin – und dies macht Adornos These erläuterungsbedürftig – dass, das ‚Ich denke‘ bei Kant einen logischen Vorrang gegenüber dem empirisch Gegebenen hat; es ist die transzendentale Bedingung eines jeden Gegenstandsbezugs. Hingegen betont Mach: „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich.“162 Seine berühmte These lautet schließlich: „Das Ich ist unrettbar.“163 Adornos 1957/58 gehaltene Vorlesung Erkenntnistheorie, in der er sich kritisch mit Machs These auseinandersetzt, kann hier Auf‐ schluss geben. Angenommen, die These träfe zu, dann wäre nach Adorno „nicht vorzustellen, wie man das leisten soll, was Mach 160 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 132. 161 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 21. 162 Ebd., S. 17. Manfred Sommer charakterisiert den positivistischen Ansatz Machs treffend als einen Empfindungsmonismus. Vgl. Manfred Sommer: Husserl und der frühe Positivismus, Frankfurt am Main 1985, S. 76–90. 163 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 18.
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mit dem Ausdruck der ‚Analyse der Empfindungen‘ bezeichnet hat, denn diese Empfindungen sind ja schließlich immer die Empfindun‐ gen eines Ichs und haben nur in diesem Ich überhaupt ihr Band“ (NaS IV 1/185). Worauf die in der Antrittsvorlesung formulierte Kri‐ tik also zielt, ist die ausbleibende Reflexion auf die Erkenntnisakte, durch die das empirische Material gegeben ist. Diese Reflexion wer‐ de bei Mach und Avenarius nicht vollzogen, weil der Empiriokriti‐ zismus die Rolle des Subjekts innerhalb des Erkenntnisprozesses von Anbeginn vernachlässige. In der Vorlesung Erkenntnistheorie heißt es an anderer Stelle, dass der Positivismus in einem „besonderen Sinn reflexionslos sei, das heißt, daß er nicht etwa die Erkenntnis‐ akte in sich, ihren Ursprung, ihre Dignität reflektiert, sondern daß er sie als ein bereits Gültiges, als ein gewissermaßen Vorentschiede‐ nes hinnimmt“ (NaS IV 1/32). In diesem ganz spezifischen Sinne, das heißt in Folge des Ausbleibens dieser Reflexion, habe der Empi‐ riokritizismus den kantischen Ausgangspunkt ‚naiv‘ – oder besser gesagt: unbemerkt – übernommen. Schließlich würde die Reflexion auf die Erkenntnisakte aber deren historische Bedingtheit freilegen, denn das Erkenntnissubjekt selbst ist nach Adorno geschichtlich und kein für alle Zeit Identisches. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Empfindungen, von denen Mach spricht, nichts Ursprüngliches, nichts unmittelbar Gegebenes sind. Sie sind jedenfalls nicht als „Wel‐ telemente“164 anzusehen. Bis zu diesem Punkt der Antrittsvorlesung lässt sich Adornos Philosophiehistoriographie folgendermaßen zusammenfassen: Während der Idealismus das Denken selbst (Cohen), oder aber einen abstrakten Begriff, wie den des absoluten Lebens (Simmel), hypostasiert und darum den Bruch zwischen Denken und Wirk‐ lichkeit nicht zu überbrücken vermag, irrt der Positivismus in der Annahme, das empirisch Gegebene sei unmittelbar, das heißt ohne alle geistige Vermittlung, zugänglich. Der Versuch, die philosophi‐ schen Fragestellungen und die ihnen zugrundeliegenden Begriffs‐ bildungen durch einen radikal erfahrungswissenschaftlichen An‐ satz aufzulösen, scheitert. Schließlich sieht Adorno im logischen Empirismus des Wiener Kreises die Fortführung des empiriokri‐ tizistischen Forschungsprogramms. So werde auch „die Lehre der Wiener Schule in eben jene philosophische Kontinuität hereinge‐ 164 Ebd., S. 23.
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zogen“ (GS 1/333). In der freilich erst 1969 veröffentlichten Einlei‐ tung zum ‚Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‘ bezeichnet Adorno Carnap auch als „Endglied der Kette Hume-Mach-Schlick“ (GS 8/285). Bei Carnap „liegt der Zusammenhang mit dem älte‐ ren subjektiven Positivismus noch zutage durch seine sensualisti‐ sche Interpretation der Protokollsätze“ (GS 8/285). Der Terminus Positivismus fungiert bei Adorno somit als Ordnungsbegriff, der den Empiriokritizismus, den logischen Empirismus und bekannt‐ lich auch den kritischen Rationalismus umfasst. Für den Fortgang dieser Untersuchung gilt es deshalb deutlich zu machen: Wenn Adorno im Zusammenhang mit Husserls Phänomenologie von Positivismus spricht, ist damit in aller Regel der Empiriokritizis‐ mus von Avenarius und Mach gemeint. III. Phänomenologie
Die Darstellung der Phänomenologie in der Antrittsvorlesung lässt trotz ihrer Kürze einen Gedanken deutlich werden, der für Ador‐ nos Husserl-Rezeption bestimmend bleiben wird: Adorno sieht in Husserls Phänomenologie eine Verschränkung von Positivismus und Idealismus. In der Tat hatte die positivistische Grundhaltung des Empiriokritizismus entscheidenden Einfluss auf die Ausbil‐ dung der phänomenologischen Methode und deshalb lässt sich die Phänomenologie nicht allein aus der Entwicklungsgeschichte des Idealismus verstehen,165 auch wenn Adorno Husserls transzenden‐ tale Phänomenologie schließlich als Endpunkt des Idealismus an‐ sieht. a. Positivistisches Motiv Adorno zufolge sei es „die eigentliche produktive Entdeckung Hus‐ serls“ gewesen, „daß er den Begriff der unableitbaren Gegebenheit, 165 Darauf hat auch Marcuse hingewiesen: „Die Phänomenologie hat allerdings nicht als Transzendentalphilosophie begonnen. Das Pathos rein deskriptiver Wissenschaftlichkeit, von dem die ‚Logischen Untersuchungen‘ getragen sind, weist auf eine innere Verbindung mit dem Positivismus, auch dort wo dieser angegriffen wird.“ Marcuse: „Zum Begriff des Wesens“, S. 11.
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wie ihn die positivistischen Richtungen ausgebildet hatten, in seiner Bedeutung für das Fundamentalproblem des Verhältnisses von Ver‐ nunft und Wirklichkeit erkannte und fruchtbar machte“ (GS 1/327). Für die hier durchzuführende Rekonstruktion bietet es sich somit an, das Verhältnis von Positivismus und Phänomenologie anhand der jeweiligen Verwendung des Begriffs der Gegebenheit zu bestim‐ men. Zunächst gilt es in einem ganz allgemeinen Sinne zu zeigen, dass die empiriokritizistische Grundhaltung, die es ermöglichen soll, das empirisch Gegebene unmittelbar zu erfassen, eine entscheidende methodologische Voraussetzung für die Gegebenheitsanalysen Hus‐ serls bildet. Die von Adorno konstatierte Hinwendung Husserls zum unmittel‐ bar Gegebenen drückt sich bereits in der phänomenologischen For‐ derung ‚Zu den Sachen selbst‘166 aus und findet eine Reformulierung im ‚Prinzip aller Prinzipien‘ in den Ideen: „Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ‚In‐ tuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.“ (Hua 3.1/51)
Husserl zufolge sind die originären Gegebenheiten Ursprung al‐ ler Wahrheit und darum unumgänglicher Ausgangsgrund für die Grundlegung einer jeden Theorie. Der Phänomenologie muss es folglich darum gehen, „solchen Gegebenheiten durch bloße Expli‐ kation und genau sich anmessende Bedeutungen Ausdruck zu ver‐ leihen“ (Hua 3.1/51), das heißt um ein Verfahren der Deskription, das von allen anderen Wissenschaften prinzipiell unabhängig ist. Gelingt ihr dies, seien die aus den Gegebenheitsanalysen gewonne‐ nen Aussagen „ein absoluter Anfang, im echten Sinne zur Grundle‐ gung berufen, principium“ (Hua 3.1/51). Indem die Phänomenologie in ihrer Begriffsbildung nicht konstruierend verfährt und sich den 166 Diese Forderung wird am Anfang des zweiten Bandes der Logischen Untersu‐ chungen formuliert: „Wir wollen uns schlechterdings nicht mit ‚bloßen Worten‘, das ist mit einem bloß symbolischen Wortverständnis, zufrieden geben […]. Bedeutungen, die nur von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen An‐ schauungen – wenn überhaupt von irgendwelchen – belebt sind, können uns nicht genug tun. Wir wollen auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“. Hua 19/10.
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originären Gegebenheiten ohne jede vorläufige Theoretisierung zu‐ wendet, richtet sie sich, darin einig mit dem Empiriokritizismus, gegen die idealistische Ableitung der Wirklichkeit aus dem Denken. Dem Idealismus hält Husserl deshalb entgegen, er würde „von oben her Theorien […] machen“ (Hua 3.1/46). Husserls Ausführungen verweisen deutlich und schon in ihrer Wortwahl auf die Grundhal‐ tung, die Avenarius zu Beginn der Kritik der reinen Erfahrung offen‐ legt. Diese Grundhaltung verlange es, so Avenarius, „statt auf diesen oder jenen Philosophen – einfach auf den natürlichen Ausgangs‐ punkt selbst ‚zurückzugehen‘, und […] unmittelbar an die Sachen ‚anzuknüpfen‘.“167 Hinsichtlich der Darstellung sei deshalb „versucht worden, nur die Sache walten zu lassen; diese aber möglichst so zu nehmen, wie sie sich gab“, um schließlich „eine Stellung über den Parteien zu gewinnen“.168 Husserl wendet sich jedoch in entscheiden‐ der Hinsicht gegen den Empiriokritizismus. Bereits im ersten Band der Logischen Untersuchungen setzt sich Husserl ausführlich mit Avenarius und Mach auseinander. Dort steht die Kritik am Empiriokritizismus in Zusammenhang mit der Kritik an psychologistischen Begründungsversuchen der Logik und Erkennt‐ nistheorie. Der Irrtum der empiriokritizistischen Strömung bestehe darin, „daß das Erkenntnisinteresse ihrer Vertreter – wie der Psycho‐ logisten überhaupt – an der empirischen Seite der Wissenschaft hängen bleibt“ (Hua 18/212). Die Geltung der logischen Gesetze könne auf empirischem Weg jedoch nicht erklärt und ebenso wenig auf empirische Elemente zurückgeführt werden. Vielmehr „geht die reine Logik aller Denkökonomik vorher, und es bleibt Widersinn, jene auf diese zu gründen“ (Hua 18/211). Husserl sieht somit eine Beschränkt‐ heit in der empiriokritizistischen Methode, weil diese lediglich im Stande sei, das Gebiet des Realen, nicht jedoch das ideale Gebiet der
167 Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung, Bd. 1, S. X. 168 Ebd., S. XVI. Zurecht bezeichnet Emanuele Soldinger Avenarius’ Grundhal‐ tung als eine „Vorform des phänomenologischen ‚Zu den Sachen selbst‘ bzw. des ‚Prinzips aller Prinzipien‘“. Emanuele Soldinger: „Husserls Auseinander‐ setzung mit Avenarius und Mach und ihr Verhältnis zur Lebensweltproblema‐ tik“, in: Philippe Merz, Andrea Staiti und Frank Steffen (Hgg.): Geist – Person – Gemeinschaft. Freiburger Beiträge zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, S. 189–217, hier S. 196.
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reinen Logik zu erforschen.169 In den Ideen findet sich eine Fortfüh‐ rung dieser Kritik, die nun auf den Empirismus insgesamt ausgeweitet wird und schließlich die Besonderheit der phänomenologischen Me‐ thode vor Augen führt. Husserl schreibt: „Die Sachlage, die uns den Streit aufzwingt, ist die, daß ‚Ideen‘, ‚Wesen‘, ‚Wesenserkenntnisse‘ vom Empirismus geleugnet werden“ (Hua 3.1/40). Dessen prinzipieller Fehler sei es – hier wird der Bezug auf Avenarius deutlich –, „daß die Grundforderung eines Rückgangs auf die ‚Sachen selbst‘ mit der Forderung aller Erkenntnisbegründung durch Erfahrung identifiziert, bzw. verwechselt wird“ (Hua 3.1/42). Husserl stellt nicht in Abrede, dass es Urteile gibt, die Erfahrungsbegründung erfordern, jedoch dürfe diese Frage, nimmt man das wissenschaftliche Ideal echter Vorurteilslosigkeit ernst, nicht einseitig vorentschieden werden. Denn die empirische Erfahrung beziehe sich nur auf die reale Wirklichkeit und ermögliche keine Erkenntnis des Allgemeinen170 – keine Wesens‐ erkenntnis, wie es bei Husserl heißt. Indem Husserl den empiristischen Erfahrungsbegriff durch einen spezifischen Anschauungsbegriff ersetzt, der nicht mehr nur die sinn‐ liche Anschauung umfasst, versucht er ein erweitertes Gebiet von Gegebenheiten zu erschließen – die Sphäre idealer Gegenstände und allgemeiner Wesensstrukturen.171 Das Wesen, das in der Anschauung erfasst werden soll, bezeichnet Husserl als einen „neuartige[n] Gegen‐ stand. So wie das Gegebene der individuellen oder erfahrenden An‐ 169 Manfred Sommer hat Husserls Auseinandersetzung mit Avenarius und Mach umfassend rekonstruiert. Vgl. Manfred Sommer: Husserl und der frühe Positi‐ vismus. 170 Husserl nennt hier beispielhaft die logischen Schlussregeln, die nie in der Wei‐ se sinnlicher Wahrnehmung erfahrbar sind. Vgl. Hua 3.1/44. 171 Im ersten Fall spricht Husserl von kategorialer Anschauung, im zweiten Fall von ideierender Abstraktion oder Wesensschau als einer besonderen Variante der kategorialen Anschauung. Ohne die Begriffe an dieser Stelle bereits expli‐ zieren zu können, ist es wichtig hervorzuheben, dass Husserl in der Anschau‐ ung eine Rechtsquelle der Erkenntnis des Allgemeinen sieht. In der VI. Logi‐ schen Untersuchung macht er dies deutlich: In der ideierenden Abstraktion „ist uns das Allgemeine selbst gegeben; wir denken es nicht in bloß signifikati‐ ver Weise, wie im Falle des bloßen Verständnisses allgemeiner Namen, sondern wir erfassen es, wir erschauen es. Gewiß ist hier also die Rede von der An‐ schauung, näher, von der Wahrnehmung des Allgemeinen eine wohlberechtig‐ te.“ Hua 19/691. In Kapitel 2 werde ich die Theorie der kategorialen Anschau‐ ung genauer in den Blick nehmen. Siehe hierzu das Unterkapitel Kategoriale Anschauung, in diesem Buch, S. 137–145.
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schauung ein individueller Gegenstand ist, so ist das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen“ (Hua 3.1/14). Hier wird deut‐ lich, dass der Begriff der Gegebenheit bei Husserl nicht mehr nur das empirisch Gegebene umfasst. Vielmehr wird in der originär gebenden Anschauung das Wesen selbst als idealer Gegenstand erfassbar. Die Phänomenologie lasse sich im Gegensatz zum Positivismus nicht davon abhalten, so Husserl, „ganze Klassen von echten Gegebenheiten in Betracht zu ziehen“ (Hua 3.1/45), auch wenn es Anstoß erregen mag, „daß wir als ‚platonisierende Realisten‘ Ideen oder Wesen als Gegen‐ stände hinstellen und ihnen, wie anderen Gegenständen, wirkliches (wahrhaftes) Sein zusprechen“ (Hua 3.1/47). Husserls Verwendung des Anschauungsbegriffs als modus operan‐ di der Phänomenologie birgt weitreichende Implikationen, denen wir nachgehen wollen. Zum einen bezeichnet Anschauung einen unmittelbaren Zugang zur Sache. Das in der Anschauung Gegebene zeigt sich ohne jede zwischengeschaltete theoretische Vermittlung in seiner schlichten Unmittelbarkeit. Zum anderen ist Anschauung rezeptiv, das heißt sie verweist auf ein Gegebenes, hinter das nicht weiter zurückgegangen werden kann und das darum fundierenden Charakter hat. So sei das der Anschauung eigentümliche „unmittel‐ bare ‚Sehen‘“ die „letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptun‐ gen“ (Hua 3.1/43). Husserls Anschauungsbegriff macht deutlich: Un‐ geachtet der Kritik am Empiriokritizismus und der Ausweitung des Gebiets der Gegebenheiten in die Sphäre idealer Gegenstände bleibt eine positivistische Grundtendenz in der Phänomenologie erhalten. Freilich in polemischer Absicht heißt es in den Ideen: Sagt der ‚Positivismus‘ soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung aller Wissenschaften auf das ‚Positive‘ d.i. originär zu Erfassende, dann sind wir die echten Positivisten. Wir lassen uns in der Tat durch keine Auto‐ rität das Recht verkümmern, alle Anschauungsarten als gleichwertige Rechtsquelle der Erkenntnis anzuerkennen. (Hua 3.1/45)
In methodologischer Hinsicht kann die Phänomenologie somit als ein radikalisierter Positivismus verstanden werden.172 Oder in den Worten Adornos: „[I]n Husserls Sinne ist der […] Antipositivismus 172 Vittorio de Palma argumentiert, dass Husserls Phänomenologie aufgrund ihrer positivistisch motivierten Methode im Grunde keine Transzendentalphiloso‐ phie sei – zumindest nicht im kantischen Sinne. „Es wäre also sinnvoller, die Phänomenologie als eidetischen Empirismus zu bezeichnen.“ Vittorio de
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nichts als das Resultat einer lediglich insistenteren positivistischen ‚Forschung‘“ (GS 20.1/56). Mit dieser insistenteren positivistischen Forschung, die den Anspruch erhebt, über das bloß empirisch Gege‐ bene hinauszugehen und apriorische Wesensstrukturen freizulegen, steht Husserl in Adornos Augen von Anbeginn mit einem Bein im Idealismus.173 b. Idealistisches Motiv An dieser Stelle kehren wir zurück zu Adornos Antrittsvorlesung von 1931. Adorno zufolge habe Husserl „in der Ausbildung der deskripti‐ ven Methode der Philosophie eine Zuverlässigkeit der begrenzten Analyse zurückgewonnen, die sie längst an die Einzelwissenschaften verloren hatte“ (GS 1/327). Trotz ihrer positivistischen Ausrichtung bleibe die Phänomenologie jedoch mit dem Idealismus verschränkt. So lasse „sich nicht verkennen […], daß die Husserlschen Gegeben‐ heitsanalysen allesamt auf ein unausdrückliches System des trans‐ zendentalen Idealismus bezogen bleiben“ (GS 1/327f.). Dessen Idee sieht Adorno im vierten Abschnitt der Ideen, Vernunft und Wirklich‐ keit, formuliert, in dem Husserl eine Phänomenologie der Vernunft entwirft. Husserls Analysen führen in dem genannten Abschnitt auf das Problem der rechtmäßigen Beziehung des Bewusstseins auf seinen Gegenstand und damit auf das Problem der Vernunft. Die in Adornos Philosophiehistoriographie behandelte Frage, wie das Verhältnis von Denken und Wirklichkeit nach dem Scheitern des deutschen Idealismus neu zu bestimmen sei, ist somit auch für Hus‐ serl von Bedeutung. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, gilt es ein grundlegendes Anliegen der Phänomenologie vor Augen zu füh‐ ren: die Analyse der Intentionalität des Bewusstseins. Husserls tiefe Überzeugung ist es, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist und diese Art der notwendigen Bezogenheit des Bewusstseins auf Palma: „Eine peinliche Verwechslung. Zu Husserls Transzendentalismus“, in: Metodo. On the Transcendental, Special Issue 1.1, 2015, S. 13–45, hier S. 63. 173 Diese Einschätzung findet sich auch bei Marcuse: „Aber wo die Wesenslehre ins Zentrum der Husserlschen Philosophie tritt, da zwingt ihre Ausarbeitung die Phänomenologie immer radikaler auf den Boden des transzendentalen Apriorismus.“ Marcuse: „Zum Begriff des Wesens“, S. 11.
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einen Gegenstand wird in der Phänomenologie selbst thematisch.174 Hinsichtlich der Funktion der Vernunft bedeutet dies, dass auch die vernünftige Bezugnahme auf einen Gegenstand, d.i. ein gültiges Urteil, im Bewusstsein wesensmäßig vorgezeichnet sein muss und darum selbst zum Gegenstand der phänomenologischen Forschung werden kann. Im vierten Abschnitt der Ideen macht Husserl dies deutlich: „Das Bewußtsein, bzw. Bewußtseinssubjekt selbst, urteilt über Wirklich‐ keit, fragt nach ihr, vermutet, bezweifelt sie, entscheidet den Zweifel und vollzieht dabei ‚Rechtsprechung der Vernunft‘. Muß sich nicht im Wesenszusammenhang des transzendentalen Bewußtseins, also rein phänomenologisch, das Wesen dieses Rechts und korrelativ das Wesen der ‚Wirklichkeit‘ […] zur Klarheit bringen lassen?“ (Hua 3.1/312)
Husserl zufolge besteht eine wesensmäßige Korrelation zwischen der originären Gegebenheit eines Gegenstandes und der Möglichkeit seiner vernünftigen Ausweisung. Die vernünftige Setzung, wie sie in einem gültigen Urteil vollzogen wird, ist mit dem originären Erscheinen des Gegenstands „eigenartig eins, sie ist durch es ‚moti‐ viert‘, und doch wieder nicht bloß überhaupt, sondern ‚vernünftig motiviert‘. Dasselbe besagt: Die Setzung hat in der originären Ge‐ gebenheit ihren ursprünglichen Rechtsgrund“ (Hua 3.1/316). Wenn Husserl also von originär gebender Anschauung spricht, in der das Wesen eines Gegenstandes erfasst wird, setzt dies bereits ein Wirken der Vernunft voraus. Die Vernunft richtet sich nicht in einem zwei‐ ten Schritt auf den bereits originär gegebenen Gegenstand, sondern sie ist in ihrer Grundform das „originär gebende ‚Sehen‘“ (Hua 3.1/314) selbst. Vernünftige Setzung ist einsehende Setzung. Diese Form der vernünftigen Einsicht bezeichnet Husserl als Evidenz: „die Einheit einer Vernunftsetzung mit dem sie wesensmäßig Motivieren‐ den“ (Hua 3.1/316). Freilich gibt es Gegenstände – die transzenden‐ ten Gegenstände der äußeren Wirklichkeit –, die dem Bewusstsein 174 Husserl entwickelt den Begriff der Intentionalität vor allem in der V. Logi‐ schen Untersuchung. Dort legt er die Bedeutung der eigenen Terminologie folgendermaßen fest: „Wir werden also den Ausdruck psychisches Phänomen ganz vermeiden, und wo immer Genauigkeit erforderlich ist, von intentionalen Erlebnissen sprechen. […] Das determinierende Beiwort intentional nennt den gemeinsamen Wesenscharakter der abzugrenzenden Erlebnisklasse, die Eigen‐ heit der Intention, das sich in der Weise der Vorstellung oder in einer irgend analogen Weise auf ein Gegenständliches Beziehen“. Hua 19/391f.
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niemals in vollkommener Anschaulichkeit gegeben sein können. Husserl geht jedoch davon aus, dass die vollkommene Gegebenheit als eine Idee im kantischen Sinne im Bewusstsein vorgezeichnet ist – „als ein in seinem Wesenstypus absolut bestimmtes System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens, bzw. als Feld dieser Prozesse ein a priori bestimmtes Kontinuum von Erscheinungen mit verschiedenen aber bestimmten Dimensionen, durchherrscht von fester Wesensgesetzlichkeit“ (Hua 3.1/331). Verfolgt man diese Linien weiter, stößt man schließlich auf eine ‚Urvernunft‘ als Wesensstruk‐ tur des Bewusstseins und auf deren ursprüngliches Korrelat, die Wahrheit (vgl. Hua 3.1/322f.). Der Darstellung in der Antrittsvorlesung zufolge ist Husserl in Adornos Augen im Hafen des Idealismus angelangt. Zwar hüte er sich vor dem idealistischen Trugschluss, die empirische Wirklichkeit könnte aus dem Denken abgeleitet werden; weil für Husserl jedoch „die ‚Rechtsprechung der Vernunft‘ die letzte Instanz für das Ver‐ hältnis von Vernunft und Wirklichkeit“ (GS 1/328) bleibe, sei die Phänomenologie idealistisch. Freilich hat Husserl die Spezifik seiner transzendentalen Phänomenologie gegenüber anderen Idealismen und auch gegenüber der Transzendentalphilosophie Kants immer wieder betont175 und auch die Husserl-Forschung hat gezeigt, dass die Subsumtion der Phänomenologie unter den Begriff des Idealis‐ mus keineswegs so unproblematisch ist, wie Adornos Ausführungen 175 Die Cartesianischen Meditationen, die auf zwei Vorträge zurückgehen, die Husserl 1929 in Paris hielt, liefern sicherlich den stärksten Beleg für die Auffassung, die transzendentale Phänomenologie sei ein Idealismus. Dort bestimmt Husserl die Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie als die Selbstauslegung der transzendentalen Subjektivität und ihrer konstituierenden Leistungen. Dabei offenbare sich reales wie ideales Seiendes als ein Gebilde dieser Subjektivität: „In dieser systematischen Konkretion durchgeführt ist die Phänomenologie eo ipso ‚transzendentaler Idealismus‘, ob schon in einem grundwesentlich neuen Sinne; nicht in dem eines psychologischen Idealismus, nicht eines Idealismus, der aus sinnlosen sensuellen Daten eine sinnvolle Welt ableiten will. Nicht ist es ein Kantianischer Idealismus, der mindestens als Grenzbegriff die Möglichkeit einer Welt von Dingen an sich glaubt offenhalten zu können – sondern ein Idealismus, der nichts weiter ist als in Form syste‐ matisch egologischer Wissenschaft konsequent durchgeführte Selbstauslegung meines Ego als Subjekts jeder möglichen Erkenntnis, und zwar in Hinsicht auf jeden Sinn von Seiendem, mit dem es für mich, das Ego, eben soll Sinn haben können“. Hua 1/118.
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nahelegen.176 Um diese Subsumtion in systematischer Hinsicht ver‐ ständlich zu machen, wird es noch nötig sein, Adornos Idealismus‐ begriff genauer zu bestimmen. Der philosophiehistoriographischen Ausrichtung der Antrittsvorlesung folgend, gilt es zunächst, die phi‐ losophiegeschichtliche Schlüsselrolle zu verdeutlichen, die Adorno der Phänomenologie bereits 1931 zuschreibt: „Husserl hat den Idealismus von jedem spekulativen Zuviel gereinigt und ihn auf das Maß der höchsten ihm erreichbaren Realität gebracht. Aber er hat ihn nicht gesprengt. In seinem Bereich herrscht wie bei Cohen und Natorp der autonome Geist; nur hat er dem Anspruch der produktiven Kraft des Geistes, der Kantischen und Fichteschen Spontanität entsagt und bescheidet sich, wie nur Kant selber noch sich beschied, die Sphäre dessen in Besitz zu nehmen, was ihm adäquat erreichbar ist.“ (GS 1/328)
Wir sehen: Adornos These über das Verhältnis der Phänomenologie zum Idealismus verschärft sich. Husserls Phänomenologie sei kein Idealismus unter anderen, sondern geradezu die konsequenteste Ge‐ stalt des Idealismus. Diesen Gedanken gilt es in seiner Prägnanz festzuhalten, denn er bleibt für Adornos Husserl-Rezeption von sys‐ tematischer Wichtigkeit und erklärt zugleich, weshalb Adorno der Phänomenologie solch große Aufmerksamkeit schenkte. So wird im letzten Abschnitt der Metakritik schließlich von der „Aufhebung des Idealismus, die am Ende von Husserls Philosophie sich anzeigt“ (GS 5/234), die Rede sein. Diese sich andeutende Aufhebung des Idealismus resultiert Ador‐ no zufolge aus dem Grundcharakter der Phänomenologie – aus der Verschränkung von Positivismus und Idealismus. Wir erinnern uns: Husserls Intention ist es, die Strukturen der Wirklichkeit zu erschlie‐ ßen, indem sich die Phänomenologie nach den Sachen selbst, nach den originären Gegebenheiten richtet, und nicht umgekehrt vom theoretisierenden Denken ausgeht – das ist das positivistische Mo‐ tiv. Dabei erblickt Husserl in der intentionalen Gerichtetheit des Be‐ wusstseins auf diese Wirklichkeit invariante Wesensstrukturen, die 176 Sophie Loidolt bezeichnet die Frage, ob und in welchem Sinne Husserls transzendentale Phänomenologie idealistisch sei, geradezu als die phänomeno‐ logische Gretchenfrage. Vgl. Sophie Loidolt: „Transzendentalphilosophie und Idealismus in der Phänomenologie. Überlegungen zur phänomenologischen ‚Gretchenfrage“‘, in: Metodo. On the Transcendental, Special Issue 1.1, 2015, S. 103–135, hier S. 104f.
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wiederum in Korrelation mit einer Vernunft stehen, die prinzipiell im Stande ist, die Idealität dieser Strukturen zu erfassen und zur Evi‐ denz zu bringen – das ist das idealistische Motiv. Die Verschränkung dieser beiden Motive wird in Adornos Metakritik folgendermaßen beschrieben: „Gerade der Anspruch der Frische und theoretischen Unvoreingenom‐ menheit, das Feldgeschrei ‚Zu den Sachen‘, stammt von einer erkennt‐ nistheoretischen Norm her: der positivistischen, die Denken aufs gleichsam technische Verfahren der Abkürzung einschränkt und die Substanz der Erkenntnis einzig dem zuschreibt, was ohne die Zutat des Denkens da sein soll, und was freilich auf die dünnsten, abstraktesten Befunde hinausliefe. Dies positivistische Kriterion hat sich in Husserl, vermöge der selbst zunächst gleichermaßen positivistischen Forderung reiner Bewußtseinsimmanenz, mit dem subjektividealistischen verbun‐ den und dadurch die These vom geistigen Ansichsein, den Wesenheiten als einer Gegebenheit sui generis auskristallisiert: die Phänomenologie ließe sich als der paradoxe Versuch einer theoriefreien Theorie definie‐ ren.“ (GS 5/131)
Die tiefgreifende Paradoxie, die in der beschriebenen Verschränkung liegt, wird von Adorno immer wieder betonen und gar zum Movens der systematischen Weiterbildung der Phänomenologie erklärt. Im Zuge dieser Weiterbildung gerate der Idealismus in einen Prozess der Selbstzerstörung. Um die innere Systematik dieses Prozesses nachvollziehen zu können, wird es zunächst nötig sein, Adornos Idealismusbegriff näher zu bestimmen.
2. Zum Begriff des Idealismus Adornos Begriff des Idealismus mag Schwierigkeiten bereiten, nicht weil unklar bliebe, was Adorno unter Idealismus versteht, sondern weil er den einmal entwickelten Begriff auf die verschiedensten phi‐ losophischen Strömungen überträgt, mögen ihre Differenzen noch so unüberwindbar erscheinen. Die Rigorosität, mit der Adorno da‐ bei gelegentlich vorgeht, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Wir erinnern uns an die Antrittsvorlesung, in der Adorno den Po‐ sitivismus aufgrund seiner empiristischen und antimetaphysischen Ausrichtung zu einem Gegenspieler des Idealismus erklärt hatte. In der freilich erst 1969 veröffentlichten Einleitung zum ‚Positivismus‐
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streit in der deutschen Soziologie‘ unterstellt Adorno dem Positivis‐ mus177 nun, auf idealistischen Voraussetzungen zu beruhen: „Die sich als Sieger über den Idealismus fühlen, sind diesem weit näher als die kritische Theorie: sie hypostasieren das erkennende Subjekt, nicht länger zwar als erzeugendes, absolutes, doch als den topos noe‐ tikos aller Geltung, der wissenschaftlichen Kontrolle“ (GS 8/285). Ich werde im Folgenden zeigen, weshalb nach Adorno auch der Po‐ sitivismus dem Idealismus, zumindest in gewisser Hinsicht, verhaftet bleibt. Zunächst liefert uns die zitierte Passage Auskunft über ein Motiv, das Adorno zufolge aller idealistischen Philosophie zugrunde liegt: die Hypostasierung des Subjekts. Das Problem, das sich daraus für Adorno ergibt, ist uns bereits aus der Antrittsvorlesung bekannt. Wird das Subjekt und damit das Denken hypostasiert, scheitere die Philosophie an dem Versuch, die konkrete Wirklichkeit zu erfassen. In Adornos Darstellung der Philosophiegeschichte begegnet uns dieses Motiv in mannigfacher Gestalt, teils als ein offen postulierter Primat des Geistes, teils als eine verborgene und unreflektierte Voraussetzung der Philosophie. Das Motiv kann somit als Schlüssel dienen, um verständlich zu machen, dass Adornos oftmals arbiträr wirkender Gebrauch des Idealismusbegriffs durchaus systematische Gründe hat. Ich werde im Folgenden begriffliche Schneisen in Adornos Idealismusbegriff schlagen, die zu dessen Spezifizierung beitragen sollen. Die Auswahl der behandelten Begriffe – prima philosophia (I), Residualtheorie (II), Immanenzphilosophie (III) – erhebt keinen Anspruch auf Voll‐ ständigkeit. Vielmehr geht es darum, eine von Adorno beschriebene historische wie systematische Entwicklung der Philosophie nachzu‐ zeichnen, in der die Hypostasierung des Subjekts zunehmend radi‐ kalere Formen annimmt. Der entfaltete begriffliche Rahmen ermög‐ licht schließlich die Rekonstruktion von Adornos These, Husserls
177 Die Frage, ob Adornos Subsumtion des Kritischen Rationalismus unter den Positivismus rechtmäßig ist, kann hier nicht entschieden werden. Es sei zu‐ mindest darauf hingewiesen, dass Adornos Kontrahent im sogenannten Posi‐ tivismusstreit, Karl Raimund Popper, sich von der ihm zugeschriebenen Posi‐ tion des Positivismus bereits in seinem Werk Logik der Forschung distanziert hatte, weil er die eigene Wissenschaftstheorie für unvereinbar mit der Induk‐ tionslogik des logischen Positivismus des Wiener Kreises hielt. Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen 2005, S. 10f.
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transzendentale Phänomenologie sei die konsequenteste Gestalt des Idealismus und zugleich der objektive Ausdruck seiner Liquidation. I. prima philosophia
Der auf Aristoteles und Descartes referierende Begriff der prima philosophia kann als Kernstück von Adornos Idealismusbegriff be‐ zeichnet werden. Er erfährt seine ausführlichste Entfaltung in der Einleitung der Metakritik, die, wie Adorno gegenüber Tiedemann angemerkt hat, „neben dem Aufsatz ‚Der Essay als Form‘ […] noch am ehesten ein Programm seiner Philosophie enthalte.“178 In der An‐ trittsvorlesung gebraucht Adorno den Begriff nur an einer einzigen Stelle, die seine Bedeutung jedoch auf prägnante Weise offenlegt. In der prima philosophia artikuliere sich „eine idealistische Forderung, die vom absoluten Beginn, wie nur reines Denken bei sich selber ihn vollziehen kann“ (GS 1/343). Adorno verwendet den Begriff hier ganz im Sinne Descartes, der in seinen Meditationes de Prima Philosophia ein unumstößliches Fundament der Philosophie fordert. Ausgehend von der Erkenntnis, dass nach allem Zweifel der Gedan‐ ke „Ich bin, ich existiere […] notwendig wahr ist“, besteht Descartes Anliegen darin, die Aktvollzüge des Erkenntnissubjekts zu prüfen, „so daß zuletzt ganz genau nur das übrig bleibt, was sicher und uner‐ schütterlich ist“ 179 – nach Descartes sind das die von aller Erfahrung unabhängigen Grundformen des Denkens, die ideae innatae. In der Metakritik wird der Begriff der prima philosophia dem allgemein weniger gebräuchlichen Begriff der Ursprungsphilosophie gleichgesetzt und in seiner Bedeutung erweitert. Alfred Schmitt macht das deutlich, wenn er Adornos Werk als den Versuch cha‐ rakterisiert, „jede Ursprungsphilosophie – auch eine sich materialis‐ tisch gebärdende – ihres idealistischen Charakters zu überführen.“180 Adornos These besagt nun, dass Philosophie nicht nur dann idealis‐ tisch ist, wenn sie das Denken als ein Erstes setzt. Vielmehr sei jede 178 Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 5)“, S. 386. 179 René Descartes: Die Meditationen über die erste Philosophie des René Descar‐ tes, übersetzt von Christian Wohlers, Hamburg 2009, S. 28. 180 Alfred Schmitt: „Begriff des Materialismus bei Adorno“, in: Ludwig von Friede‐ burg u. Jürgen Habermas (Hgg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main 1983, S. 14–31, hier S. 21.
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Philosophie, die ein erstes Prinzip postuliert, idealistisch. In einer einschlägigen Passage der Metakritik führt Adorno den Gedanken‐ gang aus: „Wann immer solche Identität behauptet wird, ein monistisches Prinzip von Welterklärung, das der bloßen Form nach den Primat des Geistes aufrichtet, der jenes Prinzip diktiert, ist Philosophie idealistisch. Selbst wo als solches Prinzip Sein gegen Bewußtsein ausgespielt wird, meldet sich im Anspruch der Totalität des Prinzips, das alles einschließe, der Vorrang des Geistes an; […] Totales Begreifen aus einem Prinzip eta‐ bliert das totale Recht von Denken.“ (GS 5/186)
Für Adornos Begriff der prima philosophia ist somit weniger die inhaltliche Bestimmung des ersten Prinzips entscheidend als viel‐ mehr die damit vollzogene Setzung von Identität. Folglich werde das Denken bereits dort hypostasiert, wo ein ihm gegenüber verschiede‐ nes Prinzip, sei es Materie oder Sein, den Anfang der Philosophie bildet.181 Schmitt bringt die Quintessenz der zitierten Passage auf den Punkt: „Wo immer ein absolutes Erstes behauptet wird, aus dem alles weitere folgen soll, verbirgt sich in ihm der es setzende Geist“182. Mit Rückblick auf die Antrittsvorlesung lässt sich nun nochmals verdeutlichen, weshalb Adorno Simmels Lebensphiloso‐ phie dem Idealismus zugeordnet hatte, obwohl diese ihren Ausgang doch gerade nicht vom Denken nimmt. Simmel setzt das Leben als ein erstes Prinzip und erteilt bereits durch diese Setzung dem Geist eine Vormachtstellung. Ebenso lässt sich nun die Frage beantwor‐ ten, weshalb nach Adorno auch der Positivismus auf idealistischen Voraussetzungen beruht: Er hypostasiere das empirisch Gegebene, dem dadurch die Funktion eines ersten Prinzips zukomme. In der Metakritik heißt es:
181 In seiner Vorlesung Erkenntnistheorie versucht Adorno den idealistischen Cha‐ rakter eines vulgären Materialismus freizulegen, der die Materie als erstes Prin‐ zip setzt: „Und was man gewöhnlich so mit Materialismus bezeichnet, ist darin von dem, was man gewöhnlich Idealismus bezeichnet, eigentlich gar nicht unterschieden, sondern es setzt ebenfalls abschlußhaft irgendein derartiges Denkprinzip, wie es ja die Materie ist, eigentlich als das tragende und absolute allen anderen zugrunde und verfällt dadurch der Form nach eigentlich selber wieder eben jenem Idealismus, den es seinem Inhalt nach bestreitet.“ NaS IV 1/350. 182 Schmitt: „Begriff des Materialismus bei Adorno“, S. 21.
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„[E]in jegliches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr Erstes re‐ flektieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner Zufälligkeit überführt werden will. Und ein jegliches allgemeines Prinzip eines Ers‐ ten, wäre es auch das der Faktizität im radikalen Empirismus, enthält in sich Abstraktion. Selbst jener Empirismus könnte kein einzelnes jetzt und hier Seiendes, kein Faktum als Erstes reklamieren, sondern einzig das Prinzip von Faktischem überhaupt.“ (GS 5/15)
Es ist offensichtlich – und Sommer hat darauf hingewiesen –, dass Adornos Idealismusbegriff in entscheidender Hinsicht auf Hegel zu‐ rückgeht.183 In einer Passage der Wissenschaft der Logik, auf die Sommer verweist, schreibt Hegel: „Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip“, denn „Prinzipien älterer oder neuerer Philosophien, das Wasser oder die Materie oder die Atome, sind Gedanken, Allgemeine, Ideelle, nicht Dinge, wie sie sich unmittelbar vorfinden“.184 Auch wenn Adorno den Idealismus im Gegensatz zu Hegel nicht für alternativlos hält, drängt sich freilich die Frage auf, ob die Philosophie überhaupt die Möglichkeit hat, mit einem Nichtgeistigen zu beginnen, um dem Idealismus zu entgehen? Adornos wie auch Hegels Antwort lautet: Nein. In der Vorlesung über Negative Dialektik wird mit Nachdruck betont, welch prekäre Ausgangslage sich für eine Philosophie ergibt, die dem Idealismus zu entkommen versucht: „Vergessen Sie nicht, daß eben dadurch, daß Denken im Begriff sich vollzieht, das Organ des Begriffs, nämlich Bewusstsein, schon von vorn‐ herein in einer Art von Prioritätsstellung hereinmanövriert wird; und daß, wenn man einmal auch nur im leisesten den Vorrang des Geistes – sei es in Gestalt der ‚Gegebenheiten‘, die dem Geist als sinnliche Daten gegeben sind, oder sei es im Sinn des Vorrangs der Kategorien –, wenn man diesem Prinzip auch nur den kleinsten Finger reicht, dann tatsächlich nicht mehr herauszukommen ist.“ (NaS IV 16/38)
Zunächst führt das Zitat vor Augen, weshalb die oben formulierte Frage nach einem nichtgeistigen Anfang der Philosophie abgewiesen werden muss. Weil Begriffe das Medium der Philosophie bilden, treffe die Philosophie eine unvermeidliche Vorentscheidung für den
183 Vgl. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 200. 184 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik I, Werke in 20 Bänden, Bd. 5, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 172.
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Idealismus.185 Für Adorno bildet der Idealismus somit nicht den Endpunkt einer philosophischen Bewegung, die in der Hypostasie‐ rung des Geistes kulminieren würde, sondern er ist vielmehr die Voraussetzung einer jeden Philosophie. Will Philosophie dem Idea‐ lismus entkommen, darf sie ihn nicht abstrakt negieren, sondern muss ihn von innen heraus durchbrechen. Das Anliegen, das Ador‐ no in seiner Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie ver‐ folgt, ist ebendiese immanente Durchbrechung des Idealismus. Zunächst bleibt festzuhalten: Nach Adorno ist eine jede Philo‐ sophie idealistisch, die den Primat des Geistes, von dem aus sie notwendig anhebt, akzeptiert und dadurch den Geist und seine Denkformen hypostasiert – dies kann für den deutschen Idealismus und ebenso für den Neukantianismus gelten. Doch auch eine Philo‐ sophie, die sich antiidealistisch gebärdet und die Materie oder die Faktizität zum Ausgangspunkt erhebt, setzt damit bereits ein erstes Prinzip und bleibt dem Idealismus verhaftet – dies gilt nach Ador‐ no für manche Ausprägungen des Materialismus und ebenso für den Positivismus. Dennoch arbeitet sich Adorno im Rahmen seiner Idealismus-Kritik zuvorderst an den offenkundigen Ausprägungen des Idealismus ab. Dabei geht es ihm darum, einen fundamentalen Mangel einer jeden prima philosophia aufzudecken. II. Residualtheorie der Wahrheit
Der Mangel der prima philosophia beruhe auf einer ihr zugrun‐ deliegenden Wahrheitskonzeption, die Adorno als Residualtheorie 185 Einer Notiz zufolge, auf die Tiedemann verweist, wollte Adorno diesen zentra‐ len Gedanken in der Einleitung einer geplanten dritten Auflage der Negativen Dialektik noch einmal ausführlich darstellen. In der Notiz heißt es: „Alle Phi‐ losophie trifft, vermöge ihrer Verfahrensweise, eine Vorentscheidung für den Idealismus. Denn sie muß mit Begriffen operieren, kann nicht Stoffe, Nichtbe‐ griffliches, in ihre Texte kleben […]. Dadurch ist bereits dafür gesorgt, daß den Begriffen der Vorrang verschafft wird. Selbst Materie ist eine Abstraktion. Aber Philosophie vermag dies ihr notwendig gesetztes ψεῦδος selbst zu erkennen, zu nennen; und wenn sie von dort weiterdenkt, zwar nicht es zu beseitigen aber so sich umzustrukturieren daß alle ihre Sätze ins Selbstbewußtsein jener Unwahrheit getaucht sind. Eben das ist die Idee einer negativen Dialektik.“ Rolf Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 6)“, in: Theodor W. Ador‐ no: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, S. 529–531, hier S. 531.
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der Wahrheit bezeichnet. Die Residualtheorie sei aufs Engste mit dem Anspruch verknüpft, die gesamte Wirklichkeitskonstitution aus einem ersten Prinzip zu erklären. Infolgedessen müsse sich die pri‐ ma philosophia ein Verfahren aneignen, um all jene Momente aus sich auszuschließen, die die Identität dieses Prinzips gefährden. Wie Adorno in einer Vorlesung bemerkt, ließe sich dieses Verfahren „mit einem Ausdruck der modernen Erkenntnistheorie ein Verfahren der Reduktion nennen“ (NaS IV 4/43). Dabei soll aus der Philosophie ausgeschlossen werden, „was ephemer, was vergänglich, trügerisch, scheinhaft ist, und es soll dann gewissermaßen als der Rest etwas Unverlierbares, etwas absolut Sicheres, etwas, was ich nun fest und dauernd in den Händen halte, dabei herausspringen“; Adorno fügt hinzu: „Ich habe diese Auffassung von der Wahrheit […] die Resi‐ dualtheorie der Wahrheit genannt“ (NaS IV 4/43). Adornos Formulierungen lassen erkennen, dass der Begriff der Residualtheorie auf Husserls Methode der phänomenologischen Re‐ duktion referiert, wie sie erstmals in den Ideen ausgeführt wird. Ziel der phänomenologischen Reduktion ist die Freilegung einer wesen‐ haften, von allen kontingenten und transzendenten Beziehungen ge‐ reinigten Seinsregion innerhalb des Bewusstseins, einer „Seinssphäre absoluter Ursprünge“ (Hua 3.1/121), wie es bei Husserl heißt. Durch Urteilsenthaltung soll die Geltung des raumzeitlichen Daseins und damit die Quelle aller Kontingenz eingeklammert werden, sodass schließlich das reine Bewusstsein, das „in seinem absoluten Eigen‐ wesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird“, als „phänomenologisches Residuum“ (Hua 3.1/68) zurück‐ bleibt. Ausgehend von diesem Residuum – an ihm ist Adornos Begriff der Residualtheorie offensichtlich gebildet –, sollen die we‐ senhaften Strukturen erschlossen werden, die die Konstitution der Wirklichkeit im Bewusstsein allererst möglich machen. Dabei betont Husserl, dass das gewonnene, reine Bewusstsein „als ein für sich ge‐ schlossener Seinszusammenhang zu gelten hat, als ein Zusammen‐ hang absoluten Seins“ (Hua 3.1/105). In Adornos Augen stellt die phänomenologische Reduktion den Versuch dar, das Bewusstsein zu einem ersten Prinzip zu erheben, in welchem die der Wirklichkeitskonstitution zugrundeliegenden Strukturen bereits enthalten sein sollen. Husserl wolle, wie es in der Metakritik heißt, „die prima philosophia wiederherstellen kraft der Reflexion auf den von jeglicher Spur des bloß Seienden ge‐
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reinigten Geist“ (GS 5/13). Hier ließe sich der Einwand erheben, dass Husserl das reine Bewusstsein doch gerade nicht als Prinzip oder Begriff charakterisiert. Adorno argumentiert jedoch, dass Be‐ wusstsein, wenn es als ursprüngliches Sein gefasst wird, den Cha‐ rakter eines ersten Prinzips erhält.186 Der Identitätsanspruch dieses Prinzips artikuliert sich in Husserls Charakterisierung des reinen Bewusstseins als eines geschlossenen Zusammenhangs, „in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann; der kein räumlich-zeitliches Draußen hat und in keinem räumlichzeitlichen Zusammenhange darinnen sein kann“ (Hua 3.1/105). Um die Reinheit des phänomenologischen Residuums sicherzustellen, müsse jede mögliche Quelle von Kontingenz und damit die Fak‐ tizität aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden. So charakte‐ risiert Husserl die phänomenologische Reduktion in martialisch anmutender Sprache als eine „Vernichtung der Dingwelt“ (Hua 3.1/104) und ihr Resultat, das absolute Bewusstsein, als „Residuum der Weltvernichtung“ (Hua 3.1/103). Husserl resümiert siegessicher: „Wir haben eigentlich nichts verloren, aber das absolute Sein ge‐ wonnen, das, recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzen in sich birgt, sie in sich ‚konstituiert‘“ (Hua 3.1/107). Doch diese Errungenschaft erweist sich in Adornos Augen als ein Pyrrhussieg, denn der „Inhalt […] von Husserls phänomenologischem Residu‐ um ist ganz dürftig und leer“ (GS 5/23). Letztliche werde gerade „das Substantielle der Erkenntnis, Fülle und Bewegtheit ihres Ge‐ genstandes, abgeschnitten“ (GS 5/77). Die phänomenologische Re‐ duktion wird von Adorno somit als dasjenige Instrument der Phänomenologie beschriebene, mit dessen Hilfe der Primat des Geistes gegenüber der Faktizität gesichert werden soll. In der Metakritik wird dieser Gedanken weiter ausgeführt: 186 Hier ist nicht der Ort, um Adornos Diskussion des Seinsbegriffs auszuführen. Es gilt jedoch darauf hinzuweisen, dass sich Adorno über die Spezifik dieses Begriffs bewusst ist. In seiner Vorlesung Ontologie und Dialektik heißt es: „Das Eigentümliche, das Besondere an dem Seinsbegriff liegt darin, daß in ihm zweierlei ausgedrückt wird: auf der einen Seite ist er ein Begriff, nämlich der Inbegriff nicht nur von allem Seienden, sondern auch von aller Idee, von allem Wesen, der Inbegriff schlechthin, der Begriff par excellence; er ist aber auf der anderen Seite auch Ausdruck des Gegenteils, er ist der Unbegriff insofern, als er das notieren, als er das festhalten, als er das aufspießen will, was nun seiner‐ seits prinzipiell überhaupt nicht Begriff sein kann“. NaS IV 7/63.
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„Der reine Geist, der mit dem Seienden identisch sein will, muß um der Illusion der Identität, der Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt willen, sich vollständiger stets auf sich selbst zurücknehmen, mehr stets weglassen. Nämlich alles Faktische. […] Die prima philosophia als Resi‐ dualtheorie der Wahrheit, die sich stützt auf das, was an unbezweifelbar Gewissem ihr zurückbleibt, hat zum Komplement das ihr widerspensti‐ ge Kontingente, das sie doch ausscheiden muß, um den Anspruch der eigenen Reinheit nicht zu gefährden“. (GS 5/90)
Adornos Kritik der Residualtheorie ist, wie Wussow bemerkt, „ur‐ sprünglich auf begrenzte erkenntnistheoretische Positionen bezogen (Rickert, Husserl) und wird rückwärts auf die gesamte Tradition der prima philosophia bis zu Parmenides übertragen.“187 Schon den Ur‐ prinzipien des Parmenides, so Adorno, stehe „die Sache einzig noch als störender Inhalt gegenüber: als bloßer Trug, den er verwirft“ (GS 5/21). Ebenso liege die Residualtheorie dem Denken von Descartes, Leibniz und Kant zugrunde (vgl. NaS IV 4/43). Ihren exponiertesten Ausdruck finde sie jedoch in Husserls Phänomenologie. Das Verfah‐ ren der phänomenologischen Reduktion sei „ein ‚Durchstreichen‘, ‚Ausklammern‘. Zugrunde liegt jener Residualbegriff der Wahrheit, den alle bürgerliche Philosophie, mit Ausnahme von Hegel und Nietzsche, gemeinsam hat“ (GS 5/76).188 Die genannten Ausnahmen verlangen nach einer Erklärung, die uns zugleich einen tieferen Ein‐ blick in Adornos Kritik der Residualtheorie ermöglicht. Nietzsche wird von Adorno als bedeutender Kritiker der prima philosophia ins Feld geführt und sein Aufbegehren gegen die tradi‐ tionelle Wahrheitsauffassung liefert einen entscheidenden Impuls für 187 Wussow: Logik der Deutung, S. 180. Wussow versäumt es an dieser Stelle einen Nachweis zu liefern, aus dem hervorginge, dass Adorno den Begriff der Residualtheorie auch auf Rickert überträgt. Eine Rezension zu Rickerts Aufsatzsammlung Unmittelbarkeit und Sinndeutung, in der Adorno Rickerts Philosophie immer wieder mit derjenigen Husserls eng führt, kann jedoch Aufschluss geben: „Husserls phänomenologisches Residuum heißt bei Rickert ‚universales Minimum‘: beide stellen sich das absolut Erste, dem ihre Philoso‐ phie nachhängt, vor als das, ‚was übrig bleibt‘, gewissermaßen als den Gewinn an absolut sicherem Sein, den der Philosoph nach Abschreibung aller Unkos‐ ten der kategorialen Arbeit buchen kann.“ GS 20.1/245. 188 Tatsächlich spricht Husserl in den Ideen an keiner Stelle von einem „Aus‐ klammern“, sondern verwendet stattdessen die Termini „Einklammerung“ und „Ausschaltung“, die Adorno an dieser Stelle möglicherweise vermengt. Vgl. Hua 3.1/61–64.
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die Kritik der Residualtheorie. In einer Passage der Götzen-Dämme‐ rung, die Adorno in der Metakritik ausführlich wiedergibt, kritisiert Nietzsche die ‚Eigenheit der Philosophen‘, einen durch Abstraktion gewonnenen Allgemeinbegriff als Anfangsprinzip der Philosophie zu setzen: „Sie setzen Das, was am Ende kommt – leider! denn es sollte gar nicht kommen! – die ‚höchsten Begriffe‘, das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunsteten Realität an den Anfang als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein“.189
Adorno bezeichnet die von Nietzsche kritisiere Wahrheitsauffassung als „Metaphysik des Bleibenden“ (GS 5/27). Wahrheit dürfe dem‐ nach weder geworden noch vergänglich sein, da sie sonst ihren über‐ zeitlichen Geltungscharakter verlieren würde. Sie müsse vielmehr der Anfang selbst, erstes Prinzip sein, und als ein solches tauge wiederum nur der von allen kontingenten Beziehungen gereinigte Begriff. Adornos Kritik der Residualtheorie besteht folglich darin, zu zeigen, dass das erste Prinzip der Philosophie sich nicht vollständig von der Faktizität trennen lässt. Wussow weist mit Recht darauf hin, dass sich „die Tragweite dieses Nietzscheanisch inspirierten Kritik‐ motivs für Adorno immer mehr als nahezu unbegrenzt erwiesen“190 hat. Hegel nimmt innerhalb Adornos Kritik der prima philosophia eine Sonderstellung ein, weil er als einziger der Idealisten den Man‐ gel eines ersten Prinzips durchschaut und dadurch die Residualtheo‐ rie durchbrochen habe. In der Vorrede der Phänomenologie des Geis‐ tes heißt es an zentraler Stelle, „daß ferner ein sogenannter Grundsatz oder Prinzip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch falsch ist, insofern er nur als Grundsatz oder Prinzip ist. – Es ist deswegen leicht, ihn zu widerlegen. Die Wiederlegung besteht darin, daß sein Mangel aufgezeigt wird; man‐
189 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, S. 55–161, hier S. 76, zit. n. GS 5/25f. 190 Wussow: Logik der Deutung, S. 180.
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gelhaft aber ist er, weil er nur das Allgemeine oder Prinzip, der Anfang ist.“191
Die Setzung eines ersten Prinzips, dessen Invarianz sich nur auf Kosten inhaltlicher Fülle durchhalten lasse, versucht Hegel durch ein Denken zu überwinden, das den Anfang als immer schon vermittelt erkennt und dadurch relativiert: „Die eigentliche positive Ausführung des Anfangs ist zugleich umgekehrt ebensosehr ein negatives Verhalten gegen ihn, nämlich gegen seine einseitige Form, erst unmittelbar oder Zweck zu sein.“192 Hegel begreift Wahrheit als einen sich entfaltenden Prozess, dem gegenüber ein abstraktes Prinzip als Urgrund aller Wirklichkeitskonstitution stets mangelhaft bleiben muss. In der HegelStudie Aspekte betont Adorno deshalb, „daß die Wahrheit, bei Hegel: das System, nicht als ein solcher Grundsatz, als ein Urprinzip sich aussprechen lasse“ (GS 5/260). Schließlich bleibe aber auch Hegel der prima philosophia verhaftet, weil er die Vermittlung selbst zu einem unmittelbaren Prinzip hypostasiere. Diese Hypostasierung resultiert Adorno zufolge aus dem ungebrochenen Primat des Geistes, dem sich alle Momente in Hegels Philosophie letztlich fügen müssen – er drückt sich aus in der abstrakten Formel der „Identität der Identität und Nichtidentität.“193 Aus diesem Grund richtet sich Adornos Kritik auch gegen Hegel, dessen Dialektik „prima philosophia sein wollte und im Identitätsprinzip, dem absoluten Subjekt, tatsächlich es war“ (GS 6/44). Ungeachtet dessen fungiert Hegels Vermittlungsbegriff bei Adorno als Korrektiv gegen die prima philosophia und deshalb ist es eines der Hauptanliegen von Adornos Hegel-Kritik, die Kategorie der Vermittlung von ihrer idealistischen Konnotation zu befreien194 – wie 191 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bänden, Bd. 3, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 27. 192 Ebd., S. 28. 193 Hegel: Wissenschaft der Logik I, S. 74. 194 Die Bedeutung der Kategorie der Vermittlung für Adornos Philosophie wurde in der Forschung mehrfach hervorgehoben, weshalb hier ein exemplarischer Verweis genügt. Vgl. Thomas Rentsch: „Vermittlung als permanente Negativi‐ tät. Der Wahrheitsanspruch der ‚Negativen Dialektik‘ auf der Folie von Ador‐ nos Hegelkritik“. Sommer hat Adornos Auseinandersetzung mit Hegels Ver‐ mittlungsbegriff schließlich umfassend rekonstruiert. Vgl. Marc Nicolas Som‐ mer: „Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Bd. 32/33, 2011, S. 136–154. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 41–64.
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ich in Kapitel 3 zeigen werde, geschieht dies unter Zuhilfenahme phänomenologischer Motive.195 Schließlich lässt sich die von Adorno beschriebene Residualtheo‐ rie der Wahrheit als eine Fundierungstheorie der prima philosophia verstehen, deren Funktion darin besteht, das erste Prinzip von der Kontingenz des raumzeitlich Seienden zu befreien. Husserls phänomenologische Reduktion steht nach Adorno in einem para‐ digmatischen Sinn für den Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden. Wir werden in Kapitel 2 sehen, dass Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivität in Adornos Augen jedoch gerade das Scheitern dieses Anspruchs bezeugt.196 Adorno beobachtet in der Geschichte der prima philosophia nun eine Radikalisierung der Residualtheorie, die zur Entstehung der modernen Erkenntnistheo‐ rie führt. Wie ich zeigen werde, charakterisiert Adorno die Erkennt‐ nistheorie wesentlich als Immanenzphilosophie, innerhalb derer er wiederum zwei Ausrichtungen unterscheidet – eine positivistische und eine idealistische.
III. Erkenntnistheorie als Immanenzphilosophie
Der Begriff der Erkenntnistheorie, wie Adorno ihn gebraucht, birgt einige Schwierigkeiten, die ich gleich zu Beginn offenlegen werde. Während Erkenntnistheorie im Allgemeinen als eine Grunddisziplin der Philosophie, als ein Grundbestandteil ihres systematischen Auf‐ baus angesehen wird, hat der Begriff bei Adorno vor allem eine philosophiehistorische Bedeutung. An einer zentralen Stelle in der Einleitung der Metakritik wird dies deutlich. Dort heißt es: „Die wis‐ senschaftliche Gestalt der Ursprungsphilosophie war die Erkennt‐ nistheorie. Sie wollte das absolut Erste zum absolut Gewissen erhe‐ ben durch Reflexion auf das Subjekt, das aus keinem Begriff vom Ersten sich ausscheiden ließe“ (GS 5/30). In Adornos Darstellung tritt die Erkenntnistheorie an einem gewissen Punkt in der Entwick‐ lungsgeschichte der prima philosophia auf – nachdem offenbar wur‐ 195 Siehe hierzu das Unterkapitel Zur Struktur negativer Dialektik, in diesem Buch, S. 224–240. 196 Siehe hierzu das Unterkapitel Transzendentale Subjektivität, in diesem Buch, S. 156–169.
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de, dass der Geist in einem jeden ersten Prinzip notwendig enthalten ist. Sie stellt den Versuch dar, die prima philosophia als Wissenschaft zu etablieren, indem sie, „durch die wissenschaftliche Besinnung Schritt um Schritt motiviert“ (GS 5/30), die Bedingungen von Er‐ kenntnis innerhalb des Bewusstseins aufzudecken versucht. Entspre‐ chend der Residualtheorie der Wahrheit müsse das Bewusstsein, um als erstes Prinzip fungieren zu können, frei von aller Kontingenz sein. Daraus folgt nach Adorno, dass die Erkenntnistheorie alle bewusstseinstranszendenten Momente aus sich ausschließen muss. „Der Gedanke […] dichtet sich mehr stets ab gegen alles, was in ihm und seinem Bannkreis, in der Immanenz des Subjekts nicht aufginge“ (GS 5/30). Wenig später heißt es: Erkenntnistheorie sei „die Anstrengung, das Identitätsprinzip durch lückenlose Reduktion auf subjektive Immanenz rein durchzuführen“ (GS 5/34). Daraus ergibt sich eine erste Bestimmung von Adornos Begriff der Erkennt‐ nistheorie, aus der eine zweite folgt. Zunächst bedeutet Erkenntnis‐ theorie die Wendung zum Subjekt.197 Daraus folgt für Adorno, dass Erkenntnistheorie wesentlich Immanenzphilosophie ist, insofern sie von der Annahme ausgeht, alle Bedingungen von Wahrheit seien in der Bewusstseinsimmanenz des Subjekts enthalten. Adornos Begriff der Erkenntnistheorie kann somit nicht losgelöst von dem der Immanenzphilosophie betrachtet werden. Letzterer bleibt in der Adorno-Forschung allerdings in höchstem Maße un‐ terbestimmt. Das mag an einer interpretatorischen Schwierigkeit liegen, die darin besteht, dass Adorno teilweise in einem philoso‐ phiehistorischen, teilweise in einem systematischen Sinne von Im‐ manenzphilosophie spricht. Auf solch eine systematische Bedeutung weist Wiggershaus hin, wenn er bemerkt, dass Adorno den Begriff gebraucht, „um deutlich zu machen, daß das Subjekt ohne Verzicht auf jegliche Form von Ursprungsphilosophie aus seiner Befangen‐ heit in sich nicht auszubrechen“198 vermag. Wiggershaus versäumt es jedoch zu klären, was Adorno unter Immanenzphilosophie genau versteht und weshalb er diesen bedeutungsschwangeren Begriff in 197 In der Vorlesung Erkenntnistheorie weist Adorno darauf hin, dass diese Wen‐ dung zum Subjekt meist mit der Philosophie Kants identifiziert werde, jedoch bereits von Descartes und dem englischen Empirismus vollzogen worden sei. Vgl. NaS IV 1/244f. 198 Rolf Wiggershaus: Theodor W. Adorno, München 2006, S. 39.
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der Metakritik so häufig verwendet. Dort wird das zentrale Anliegen formuliert, die „Immanenzphilosophie […] durch Konfrontation mit der eigenen Unwahrheit zu sprengen“ (GS 5/32). Dass dieses Anlie‐ gen für Adorno nicht an Relevanz verliert, bezeugt eine Passage der Negativen Dialektik, in der die Auffassung, nach Lenins „Buch über den Empiriokritizismus sei keine Kritik an der Immanenzphi‐ losophie mehr not“ (GS 6/206), als kurzsichtig bezeichnet wird.199 Lenins Streitschrift Materialismus und Empiriokritizismus, auf die sich Adorno mehrfach bezieht, wird uns einen philosophiehistori‐ schen Einstieg in die hier durchzuführende Rekonstruktion ermög‐ lichen. Es zeigt sich jedoch, dass Adornos Begriff der Immanenz‐ philosophie weitaus mehr umfasst als den von Lenin zuvorderst kritisierten Positivismus von Avenarius und Mach. Vorausgreifend sei hier auf eine Stelle in der Metakritik verwiesen, in der Adorno die Unterschiede der „idealistischen und positivistischen Immanenzphi‐ losophen“ (GS 5/146) herausstellt. Hier wird deutlich, dass Adorno von einer idealistischen und einer positivistischen Ausprägung der Immanenzphilosophie ausgeht. Im Folgenden werde ich beide von Adorno beschriebenen Ausprägungen rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass beide Ausprägungen, trotz aller Abgrenzungsbemühungen, mit ihrem entsprechenden Gegenpol verschränkt bleiben und an ihrem jeweiligen Versuch einer Fundierung der Erkenntnistheorie scheitern. Wie wir sehen werden, wohnt diesem Scheitern nach Adorno eine gewisse Unausweichlichkeit inne, die sich aus einer grundlegenden Aporie der Erkenntnistheorie ergibt. Diese Aporie gründet wiederum im Doppelcharakter der Erkenntnisformen. a. Positivistische Immanenzphilosophie Anlass von Lenins Schrift Materialismus und Empiriokritizismus ist der von einigen marxistischen Denkern unternommene Versuch, den Empiriokritizismus von Avenarius und Mach in den histori‐ 199 Wie Adorno in der Negativen Dialektik schreibt, sei dies die mündlich geäu‐ ßerte Auffassung von Brecht gewesen. Vgl. GS 6/206. Auch in der Vorlesung über Negative Dialektik verweist Adorno in diesem Zusammenhang auf ein Gespräch, das er während der Emigration mit Brecht geführt habe. Vgl. NaS IV 16/37f.
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schen Materialismus zu integrieren.200 Lenin sieht sich deshalb genötigt, den Empiriokritizismus einer harschen und nicht selten polemischen Kritik zu unterziehen, die sich gegen die empiristische Grundannahme richtet, allein das in der reinen Erfahrung Gegebene sei eine rechtmäßige Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis. Wir ha‐ ben diese antimetaphysische Grundhaltung des Empiriokritizismus bereits kennengelernt. Aus ihr folgt ebenso eine Problematisierung des Begriffs der Materie. Wer von der „empiriokritischen Vorausset‐ zung“ ausgehe, so Avenarius in seiner Kritik der reinen Erfahrung, sei „in nichts gebunden, auch des ferneren anzunehmen, daß […] irgendwelcher Begriff der ‚Materie‘ oder eines ‚Erkenntnisobjekts‘ oder der ‚Dingheit‘ oder gar der ‚Substantialität‘ gesetzt oder nicht gesetzt sei“.201 Von dieser Voraussetzung gelangt Avenarius zu dem Schluss, dass der Begriff der Materie metaphysische Implikationen beinhalte und sich in der reinen Erfahrung nicht ausweisen lasse. „‚Physisches‘ – ‚Materie‘ im metaphysischen absoluten Begriff giebt es aber innerhalb der geläuterten, ‚vollen Erfahrung‘ nicht, weil die ‚Materie‘ in jenem Begriff nur ein Abstractum ist“.202 Ähnlich schreibt Mach, „die gewöhnliche ‚Materie‘“ könne „nur als ein sich unbewusst ergebendes, sehr natürliches Gedankensymbol für einen Complex sinnlicher Elemente betrachtet werden.“203 Lenin erblickt im Empiriokritizismus die Erneuerung eines subjektiven Idealismus im Sinne Berkeleys, der die gesamte Wirklichkeitskonstitution aus‐ gehend von der Bewusstseinsimmanenz zu erklären beanspruche und schließlich in der „Leugnung einer äußeren, objektiven Quelle unserer Empfindungen“204 kulminiere. Dabei sieht er Avenarius und Mach als ideologische Führer eines Feldzugs gegen den Materialis‐ mus, dem auch die Philosophen jener Strömung zuzurechnen seien, die Ende des 19. Jahrhunderts unter der Bezeichnung Immanenzphi‐ 200 Lenin nennt Basarow, Bogdanow, Juschkewitsch, Walentinow und Tschernow. Vgl. W.I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, Werke, Bd. 14, hg. vom „Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED“, Berlin 1975, S. 12. 201 Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung, Bd. 1, S. 22. 202 Richard Avenarius: „Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psycho‐ logie (Dritter Artikel)“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 19/1, 1895, S. 1–18, hier S. 2. 203 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 142. 204 Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, S. 141.
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losophie entsteht.205 Dem hält Lenin eine materialistische Abbild‐ theorie entgegen, die alle Tatsachen des Bewusstseins als Resultate einer Einwirkung der objektiven Realität auf die Sinnesorgane be‐ greift. Denken sei demnach vollständig auf Materie zurückzuführen: „Die materialistische Beseitigung des ‚Dualismus von Geist und Körper‘ (d. h. der materialistische Monismus) besteht darin, daß der Geist nicht unabhängig vom Körper existiert, daß der Geist das Sekundäre, eine Funktion des Gehirns, die Widerspiegelung der Außenwelt ist. Die idealistische Beseitigung des ‚Dualismus von Geist und Körper‘ (d. h. der idealistische Monismus) besteht darin, daß der Geist keine Funk‐ tion des Körpers ist, daß der Geist folglich das Primäre ist, daß die ‚Umgebung‘ und das ‚Ich‘ nur in der unauflöslichen Verbindung ein und derselben ‚Elementenkomplexe‘ existieren.“206
Adorno betont in seiner Vorlesung Philosophische Terminologie, dass Lenins „furchtbar wiederholsame[s] Buch“ (NaS IV 9/352) einer sachlichen Beweisführung ermangele und dem Empiriokritizismus „stur nur immer wieder die These vom Primat des Seins übers Bewußtsein entgegenhält“ (NaS IV 9/354). Während Adorno dieses Vorgehen als dogmatisch bezeichnet, schließt er sich Lenins Darstel‐ lung des Empiriokritizismus in weiten Teilen an. Die Intention des Empiriokritizismus bestehe darin, „durch eine Analyse des mittelbar und unmittelbar dem Bewußtsein Gegebenen zu der Konstruktion der Realität zu kommen, aber immer mit dem Vorrang eben der gegebenen sinnlichen Daten“ (NaS IV 9/351). Entscheidend sei da‐ bei, dass das sinnlich Gegebene „geltend gemacht wird innerhalb des Bewußtseins, so daß also doch im Empirismus gewissermaßen der Primat von Bewußtsein über Sein, jedenfalls der Form nach, herrscht“ (NaS IV 9/353). Weil die Bewusstseinsimmanenz den allei‐ nigen Ausgangsgrund für die Analyse des sinnlich Gegebenen bildet, ist der Empiriokritizismus als Immanenzphilosophie zu bezeichnen. Diese lässt sich wiederum als positivistisch charakterisieren, insofern dasjenige, das „dabei den Primat haben soll, selber Tatsachen und gar sinnliche Tatsachen sein sollen“ (NaS IV 9/353).207 Adorno ver‐ 205 Als Hauptvertreter der Immanenzphilosophie nennt Lenin Schuppe, Leclair, Rehmke und Schubert-Soldern. Vgl. ebd., S. 206–214. 206 Ebd., S. 83. 207 Adorno gebraucht keine einheitliche Terminologie, um die philosophische Position von Avenarius und Mach zu kennzeichnen. Häufig spricht er von
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sucht nun zu zeigen, dass der Empiriokritizismus, obwohl ihm eine empiristische Erkenntnistheorie zugrunde liegt, auf den Idealismus verweist. In seiner Vorlesung Erkenntnistheorie richtet er ein tran‐ szendentalphilosophisches Argument gegen den Empiriokritizismus, wenn er anmerkt, dass Machs berühmter Satz, „Das Ich ist unrett‐ bar“,208 darüber hinwegtäusche, „daß ich diese scheinbare Unmittelbarkeit der Tatsachen meines Be‐ wußtseins überhaupt nur dann aussprechen, nur dann zum Begriff erheben kann, wenn ich dabei von so etwas ausgehe wie von der Substantialität eines Prinzips von Ich überhaupt, eines allgemeinen, jedem besonderen Ich Zugrundeliegenden, das nicht etwa aus einem je eigenen Ich überhaupt erst herausgesponnen werden kann.“ (NaS IV 1/188)209
Nach Adorno schleicht sich der Idealismus durch die Hintertür in den Empiriokritizismus ein, weil dessen Analysen, sofern sie den Anspruch erheben, allgemeine Aussagen über das in der Bewusst‐ seinsimmanenz Gegebene zu treffen, ein Prinzip von Bewusstsein benötigen, das diese Allgemeinheit allererst ermöglicht. Insofern beruhe der Empiriokritizismus, so sehr er auch bemüht ist, meta‐ physische Begriffsbildungen aufzulösen, auf einer metaphysischen Voraussetzung, auf einem ersten Prinzip, in dem sich wiederum die Vormachtstellung des Geistes ausdrückt: „In diesem radikalen Sinn ist eine jede Immanenzphilosophie im er‐ kenntnistheoretischen Sinn eminent voraussetzungsvoll im metaphysi‐ schen Sinn, man könnte beinahe sagen, daß, wie positivistisch sie sich auch gebärden und maskieren mag, eigentlich die Lehre von der absolu‐ ten Priorität des Geistes in jeder Lehre von der bloß erkenntnistheoreti‐ schen Immanenz bereits impliziert sei“. (NaS IV 1/188) radikalem Empirismus (vgl. NaS IV 9/351, GS 6/194) oder von subjektivem Positivismus (vgl. GS 6/205, GS 8/285), eher selten von positivistischer Imma‐ nenzphilosophie (vgl. GS 5/146, NaS IV 1/188). 208 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 18. 209 Solch ein transzendentalphilosophisches Argument gegen den Positivismus hat auch Bruno Bauch formuliert. Im Positivismus seien „die Inhalte der Bezie‐ hungen in letzter Linie Empfindungsinhalte […], die von sich aus ohne Voraus‐ setzung der Geltungsbeziehungen auch selber gar keinen Geltungsanspruch machen […]. Denn ohne die Geltungsbeziehungen könnten sie selbst keinen Geltungsanspruch erheben“. Bruno Bauch: „Das transzendentale Subjekt. Eine transzendentalphilosophische Skizze“, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Bd. 12, 1924, S. 29–49, hier S. 39.
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Mit dem hier verwendeten Begriff der erkenntnistheoretischen Im‐ manenz versucht Adorno den immanenzphilosophischen Charakter des Empiriokritizismus näher zu bestimmen. Der Begriff sei erst‐ mals von Berkeley entwickelt worden und liege schließlich auch dem Denken Machs zugrunde. „Immanent in diesem Sinn sind alle die Tatsachen, die ich als Tatsachen meines Bewußtseins […] bestimmen kann, also sowohl meine aktuellen Empfindungen, wie meine Erinnerungen, wie meine Erwartungen“ (NaS IV 1/171). Dem stellt Adorno unter Bezugnahme auf Kant den Begriff der metaphy‐ sischen Immanenz gegenüber als „Inbegriff alles dessen, was inner‐ halb der Möglichkeiten von Erfahrung liegt“. Dies sei der „Bereich des Verstandes, der Verstandeserkenntnis“ (NaS IV 1/172), dem nach Kant bekanntlich eine konstitutive Funktion im Erkenntnisprozess zukommt, insofern die Form der Erfahrung in ihm gründet. Zu‐ gleich wird die Erkenntnis durch den Verstand auf den Bereich möglicher Erfahrung beschränkt. Adorno versucht nun zu zeigen, dass der Begriff der erkenntnistheoretischen Immanenz mit dem der metaphysischen Immanenz verschränkt ist: „Wenn ich von erkenntnistheoretischer Immanenz […] rede, dann steckt darin auch eine metaphysische Annahme von dem Vorrang von Be‐ wußtsein gegenüber dem Sein. Nur wenn ich unterstelle, daß eigentlich die Rechtsquelle der Wahrheit das sei, was sich auf Bewußtsein reduzie‐ ren läßt, kann ich die Grenze zwischen Erfahrung und Transzendenz im metaphysischen Sinn als eine absolute Grenze eigentlich errichten.“ (NaS IV 1/184)
Kurzum: Als positivistische Immanenzphilosophie erhebe der Empi‐ riokritizismus die Erfahrung des Bewusstseins zum alleinigen Aus‐ gangsgrund der Erkenntnis. Obwohl sein Anliegen in einer rein deskriptiven Analyse des innerhalb der Bewusstseinsimmanenz Ge‐ gebenen besteht, errichtet er Adorno zufolge einen Primat des Be‐ wusstseins gegenüber der bewusstseinstranszendenten Wirklichkeit. Insofern beruhe die positivistische Immanenzphilosophie auf einer metaphysischen Grundannahme, die sie mit ihrem idealistischen Gegenpol teile. Nun gilt es zu zeigen, weshalb nach Adorno auch die idealistische Erkenntnistheorie als Immanenzphilosophie zu charak‐ terisieren ist und inwiefern diese wiederum auf ihren Gegenpol, die positivistische Immanenzphilosophie, verweist.
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b. Idealistische Immanenzphilosophie Um den immanenzphilosophischen Charakter der modernen Er‐ kenntnistheorie herauszustellen, gebraucht Adorno in der Vorlesung Erkenntnistheorie gelegentlich den Terminus „subjektiv gerichtete Erkenntnistheorie“ (NaS IV 1/186). Damit soll der uns bereits bekann‐ te Gedanke zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die moderne Erkenntnistheorie allein auf das Erkenntnissubjekt bzw. dessen Be‐ wusstseinsimmanenz richtet, um die Bedingungen von Wahrheit aufzudecken. Wie im Folgenden Zitat deutlich wird, fallen sowohl Positivismus als auch Neukantianismus unter diesen Terminus. „[W]enn man sich überhaupt nur darauf einläßt, davon auszugehen, daß man von den Tatsachen seines Bewußtseins als des Grundes der Erkenntnis auszugehen hat, ist man dann einer solchen, sei es neukan‐ tianischen, sei es positivistisch orientierten, aber jedenfalls subjektiv gerichteten Erkenntnistheorie ziemlich wehrlos eigentlich ausgeliefert.“ (NaS IV 1/186)
Die Gemeinsamkeit zwischen Positivismus und Neukantianismus besteht nach Adorno zunächst darin, dass beide das Bewusstsein zum alleinigen Ausgangsgrund der Erkenntnistheorie erklären. Der Unterschied der beiden Positionen ergibt sich daraus, welche Mo‐ mente innerhalb des Bewusstseinszusammenhangs als ursprüngli‐ cher Wahrheitsgrund angesehen werden und worauf sich die er‐ kenntnistheoretische Analyse infolgedessen primär richtet. Im Posi‐ tivismus ist dies das sinnlich Gegebene, also dasjenige, „was dir selbst unmittelbar ohne jede Vermittlung eines anderen gegeben ist“ (NaS IV 1/186). Im Neukantianismus bilden „die Formen des Zusammenhangs des Gegebenen in deinem je eigenen Bewußtsein“ (NaS IV 1/186), also die Denkformen des Erkenntnissubjekts, den primären Gegenstand der Analyse. Innerhalb Adornos Begriff der Immanenzphilosophie bildet der Neukantianismus somit den idealistischen Gegenpol zum Positivis‐ mus. Die Gegenüberstellung dieser beiden Ausprägungen der Imma‐ nenzphilosophie wird in der Metakritik deutlich: „Die idealistischen und positivistischen Immanenzphilosophen differieren vorab darin, daß jene die Notwendigkeit betonen, das Subjekt zu bestimmen, dem etwas gegeben sein muß“ (GS 5/146f.). Um Adornos Bestim‐ mung des Neukantianismus als Immanenzphilosophie weiter zu er‐
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hellen, lohnt ein Blick auf die neukantianische Auseinandersetzung mit der transzendentalen Ästhetik Kants. Dabei geht es mir darum, einen Grundgedanken dieser Auseinandersetzung herauszustellen, der der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, abseits aller sonstigen Differenzen, gemeinsam ist.210 Kant geht bekanntlich davon aus, „daß es zwei Stämme der mensch‐ lichen Erkenntnis gebe, […] nämlich Sinnlichkeit und Verstand“.211 In den Augen der Neukantianer setzt Kant in der transzendentalen Ästhetik mit der Sinnlichkeit ein Prinzip voraus, das außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Denkens liegt. Daraus ergäben sich die psychologistischen und metaphysischen Tendenzen, die seiner Philo‐ sophie trotz all ihrer Verdienste innewohnten und die es zugunsten einer geltungstheoretischen Letztbegründung der Erkenntnis zu tilgen gelte. Die methodologischen Voraussetzungen für die Durchführung dieser Letztbegründung finden die Neukantianer in Kants transzen‐ dentaler Logik, genauer: in der dort durchgeführten Geltungsreflexi‐ on, die „die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolg[t]“212. In den Augen der Neukantianer müsse die Transzendentalphilosophie noch die Geltung der Anschau‐ ungsformen aus dem reinen Denken begründen und damit die von Kant nur vermutete „gemeinschaftliche, aber uns unbekannte Wur‐ zel“213 der beiden Erkenntnisstämme freilegen. Cohen bemerkt in seiner Logik der reinen Erkenntnis, durch Kants Trennung von Sinnlichkeit und Verstand sei „dem Denken ein inner‐ licher Schaden zugefügt worden“, denn die Trennung impliziere, dass das Denken „einen Anfang in Etwas ausserhalb seiner selbst“214 habe. Entsprechend richtet sich Cohen in einem programmatischen Sinne gegen Kants transzendentale Ästhetik: 210 Einen Überblick über die kritische Auseinandersetzung mit Kants transzen‐ dentaler Ästhetik im Marburger wie im Südwestdeutschen Neukantianismus gibt Christian Krijnen. Vgl. Christian Krijnen: „Das konstitutionstheoretische Problem der transzendentalen Ästhetik in Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und seine Aufnahme im südwestdeutschen Neukantianismus“, in: Marion Heinz und Christian Krijnen (Hgg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt?, Würzburg 2007, S. 109–134. 211 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 29. 212 Ebd., B 91. 213 Ebd., B 29. 214 Cohen: Logik der reinen Erkenntniss, S. 11.
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„Indem wir uns wieder auf den Boden der Kritik stellen, lehnen wir es ab, der Logik eine Lehre von Sinnlichkeit voraufgehen zu lassen. Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben ausserhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneinge‐ schränkt und ungetrübt sein muss. Das reine Denken in sich selbst und ausschließlich muss die reinen Erkenntnisse zur Erzeugung bringen. Mithin muss die Lehre vom Denken die Lehre von der Erkenntniss werden.“215
Kurzum: Cohen zufolge müsse die Erkenntnistheorie von allen dem Denken gegenüber transzendenten Momenten befreit werden, die ihr bei Kant noch anhaften, denn reine Erkenntnis habe ihren Geltungsgrund allein im Denken. In der Negativen Dialektik wird deutlich, dass der Versuch der Neukantianer, noch die Anschauungs‐ formen aus dem reinen Denken abzuleiten, nach Adorno unum‐ gänglich in eine Immanenzphilosophie führt. Würde, wie bei „den Neukantianern, noch Anschauung der unendlichen Vernunft einver‐ leibt, so wäre Transzendenz virtuell von der Immanenz des Geistes kassiert“ (GS 6/383).216 Mit Adorno ließe sich also argumentieren, dass Cohen die Erkenntnistheorie als prima philosophia entwirft, indem er auf Grundlage einer Residualtheorie der Wahrheit das Denken als ein von allen transzendenten Momenten gereinigtes Urprinzip setzt. Damit ist die Erkenntnistheorie zugleich auf den Standpunkt der Immanenz verwiesen. Dieser Standpunkt der Immanenz, von dem die Erkenntnistheo‐ rie auszugehen habe, wird deutlicher noch von Rickert, dem sys‐ tematischen Oberhaupt des Südwestdeutschen Neukantianismus, herausgestellt. Wie auch Cohen betont Rickert die Notwendigkeit einer Weiterbildung der kantischen Transzendentalphilosophie auf Grundlage der transzendentalen Logik. In seiner Abhandlung Zwei Wege der Erkenntnistheorie von 1909 bezeichnet Rickert das Verfah‐ ren Kants als „im Wesentlichen transscendentalpsychologisch.“ Es sei deshalb „sowohl psychologistischen als auch metaphysischen Missdeutungen verfallen, und das stellt uns die Aufgabe, den transs‐ cendentallogischen Gehalt gerade bei Kant erst in seiner Reinheit 215 Ebd., S. 11f. 216 Adornos Rede von einer unendlichen Vernunft kann an dieser Stelle als Ver‐ weis auf Cohens Integration der Infinitesimal-Mathematik in die Erkenntnis‐ theorie gelesen werde.
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herauszuarbeiten.“217 Die systematische Ausarbeitung dieser Aufgabe findet sich in Rickerts Werk Der Gegenstand der Erkenntnis, das erstmals 1892 erschienen ist und mehrere überarbeitete Neuauflagen nach sich zog. Dort versucht Rickert zu zeigen, dass die „Auffassung des Er‐ kennens als des Vorstellens einer vom Subjekt unabhängigen oder bewußtseinstranszendenten Realität sich nicht durchführen läßt“.218 Folglich sei der „Standpunkt der Immanenz […] das erste Wort der Erkenntnistheorie. Er ist gewissermaßen das einleitende, eine falsche Transzendenz ablehnende Wort“.219 Für die Erkenntnistheorie stelle sich die Frage nach der Transzendenz zunächst nur als ein Form‐ problem, denn von einem denkjenseitigen Inhalt könne überhaupt nicht verständlich gesprochen werden. Dieser sei das „logisch Indif‐ ferente und Unsagbare.“220 Deshalb habe die Erkenntnistheorie die „besondere inhaltliche Erkenntnis ganz beiseite zu lassen und nur nach dem allgemeinen Begriff des Erkennens oder nach der forma‐ len Seinsart seines Gegenstandes überhaupt zu forschen.“221 Rickerts Modell eines rein theoretisch gedachten Gegenstandes als Grundbe‐ dingung aller Erkenntnis führt, indem es den Inhalt selbst noch als Formmoment des logischen Denkens begreift, die von Kant getrenn‐ ten Erkenntnisstämme auf einen gemeinsamen, im Denken liegen‐ den Ursprung zurück. Der theoretische Gegenstand müsse bereits in seinem Ursprung „sowohl formal als auch inhaltlich bestimmt sein, d.h. er stellt ein Zusammen von Form und Inhalt dar“.222 Als dem Erkenntnissubjekt gegenüber transzendent könnten schließlich allein die aller Erfahrung vorausgehenden Geltungsprin‐ 217 Heinrich Rickert: „Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transscendentalpsycho‐ logie und Transscendentallogik“, in: Kant-Studien, Bd. 14, 1909, S. 169–228, hier S. 227. 218 Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 2. 219 Ebd., S. 131. 220 Ebd., S. 142. 221 Ebd., S. 11. 222 Ebd., S. 225. Die Notwendigkeit einer solchen Zusammenführung wird auch von Rickerts Schüler Bauch betont. Kant war es „noch nicht vollkommen gelungen, die ursprüngliche Einheit von Form und Inhalt restlos aufzudecken. Denn aus seiner richtigen Unterscheidung zwischen beiden hatte ihm seine isolierende Abstraktion eine Trennung gemacht, die wieder aufzuheben ihm nur teilweise in seiner letzten Kritik gelang.“ Bauch: „Das transzendentale Subjekt“, S. 42.
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zipien – in der Terminologie Rickerts: die Werte – verstanden werden, nach denen Erkenntnis sich zu richten habe. Sie fielen jedoch keineswegs mit der transzendenten Wirklichkeit zusammen, sondern seien „Gebilde, die nicht existieren und trotzdem ‚Etwas‘ sind, und wir drücken dies am besten dadurch aus, daß wir sagen, sie gelten.“223 Indem Rickert zeigt, dass das von den Werten ausge‐ hende „Sollen begrifflich früher ist als jedes Reale, also auch als das, von dem wir Erfahrung haben“,224 beansprucht er die positivistische „Immanenzphilosophie gewissermaßen von innen her auseinander‐ gesprengt“225 zu haben. Wir sehen also, dass der Standpunkt der Immanenz, von dem die Erkenntnistheorie zunächst auszugehen ha‐ be, für Rickert nicht das letzte Wort behält. Vielmehr lasse sich mit seiner Konzeption eines transzendentalen Idealismus der „Gegensatz von immanenter und transzendenter Erkenntnistheorie im Prinzip überwinden“.226 Adorno sieht in Rickerts werttheoretischer Fundierung der Er‐ kenntnistheorie keinen gangbaren Weg aus der Bewusstseinsimma‐ nenz. Bereits in der Antrittsvorlesung von 1931 bezeichnet er Ri‐ ckerts Wertlehre als „Scheinontologie, die die Frage des Woher-Gel‐ tens so wenig zu tragen vermag wie die des Wofür-Geltens“ (GS 1/326). Mit Adorno lässt sich Rickerts Erkenntnistheorie als Imma‐ nenzphilosophie bezeichnet, weil sie noch den Inhalt der Erkennt‐ nis als Formmoment des logischen Denkens auffasst. Dies sei, wie Adorno in der Metakritik schreibt, charakteristische für die Imma‐ nenzphilosophie. „Keine Immanenzphilosophie kann des Cartesia‐ nischen Vollständigkeitsaxioms aus dem Discours de la méthode entraten, und darum muß für alles in den Bewußtseinsformen vor‐ gesorgt sein – schließlich sogar für das, was nicht selber Form ist“ (GS 5/162). Der Kerngedanke, der Adornos Kritik an der idealistischen Imma‐ nenzphilosophie zugrunde liegt, besteht nun darin, dass sich die Erkenntnisformen nicht derart vom sinnlich Gegebenen trennen 223 Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 260. 224 Ebd., S. 371. 225 Ebd., S. 243. Interessanterweise spricht auch Adorno in der Metakritik von dem Anliegen einer immanenten Sprengung der Immanenzphilosophie. Vgl. GS 5/32. 226 Ebd., S. 360f.
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lassen, wie dies vom Neukantianismus behauptet wird. Adornos Ar‐ gumentation läuft vielmehr darauf hinaus, dass sich in den Erkennt‐ nisformen empirische und begriffliche Momente verschränken, diese Formen also einen eigentümlichen Doppelcharakter aufweisen. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt deutlich machen, dass Adornos Annahme eines Doppelcharakters der Erkenntnisformen auf die Kant-Kritik seines Lehrers Cornelius zurückgeht.227 Aus diesem Doppelcharakter ergibt sich wiederum eine grundlegende Aporie der Erkenntnistheorie, an der positivistische wie idealistische Immanenzphilosophie gleichermaßen scheitern. c. Der Doppelcharakter der Erkenntnisformen Die philosophische Position von Cornelius eindeutig zu bestimmen oder diesen gar in einen Schulzusammenhang einzuordnen, bereitet Schwierigkeiten.228 Adorno selbst bemerkt in einer Vorlesung, dass Cornelius „eine mittlere Position einnimmt zwischen dem Neukan‐ tianismus, wie er vor und auch unmittelbar nach dem Kriege in Deutschland verbreitet war, und einem gemäßigten Positivismus mit gewissen phänomenologischen Elementen“ (NaS IV 11/280). Diese Stellung zwischen zwei sich diametral gegenüberstehenden Positionen lässt die Eigensinnigkeit des Vorhabens von Cornelius bereits erahnen. Tiedemann charakterisiert dieses Vorhaben treffend als eine Radikalisierung des „kantischen Apriorismus“, insofern Cor‐ nelius „noch die kategorialen Mechanismen, die Kant aus der Ein‐ heit des Bewußtseins deduzierte, allein aus der Analyse des unmit‐ telbar Gegebenen gewinnen wollte“. Dadurch habe er „Idealismus 227 Dem Einfluss von Cornelius’ Kant-Kritik auf die Entwicklung von Adornos Denken bin ich andernorts ausführlich nachgegangen. Vgl. Till Seidemann: „Zum Doppelcharakter der Erkenntnisformen. Adorno als Schüler von Hans Cornelius“, in: Felix Brandner und Till Seidemann (Hgg.): Zwischenwelten der Kritischen Theorie. Beiträge zu Systematik und Geschichte, Baden-Baden 2024, S. 167–182. 228 Lenin, der auch Cornelius scharf angreift, stilisiert ihn als geistigen Schüler von Avenarius. Vgl. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, S. 216. Hus‐ serl zählt Cornelius zu den „modernen Humeanern“. Hua 19/211. Keine dieser Zuschreibungen wird der spezifischen Konzeption von Cornelius’ Philosophie gerecht.
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und Empirismus paradox ineinander übergeführt.“229 Tiedemanns Einschätzung, dass Adorno den Standpunkt seines Lehrers „sehr schnell wieder verlassen sollte“,230 ist hingegen nur die halbe Wahr‐ heit. Natürlich ist für Adorno der „Standpunkt einer reinen Imma‐ nenzphilosophie“ (GS 1/13), von dem aus er in seiner Dissertation Husserls Dingtheorie kritisiert,231 später nichtmehr haltbar. Die An‐ nahme eines Doppelcharakters der Erkenntnisformen, die sich aus Cornelius’ Bewusstseinsanalyse ergibt, bleibt für Adornos Denken jedoch konstitutiv. Sie liefert einen entscheidenden Impuls für die noch zu entfaltende These Adornos, die Erkenntnistheorie befände sich von Anbeginn in einer aporetischen Grundsituation. Wie Cornelius in seinem erstmals 1916 erschienen Hauptwerk Transcendentale Systematik zunächst im Einklang mit dem Positivis‐ mus empiriokritizistischer Prägung feststellt, bedürfe die Klärung aller erkenntnistheoretischen Fragen eines Rückgangs auf das unmit‐ telbar Gegebene: „Alles, was man herkömmlicherweise als unsere bewußten Erlebnisse oder als die Erscheinungen unseres Bewußts‐ einsverlaufs bezeichnet“.232 Zugleich verortet er sein Unternehmen im Feld des transzendentalen Idealismus, denn die Untersuchung verfolgt das Ziel, „allgemein gültige, ‚transcendentale‘ Gesetzmäßig‐ keiten“233 innerhalb des Bewusstseinszusammenhangs aufzudecken. Gegenüber Kant vertritt Cornelius jedoch die Auffassung, der trans‐ zendentale Idealismus müsse konsequenterweise als reine Imma‐ nenzphilosophie entworfen werden. Entsprechend versucht Corneli‐ us Kants unerkennbares Ding an sich immanenzphilosophisch auf‐ zulösen, indem er es als erkennbares Gesetz der Erscheinungen in den Bewusstseinszusammenhang integriert. „An die Stelle des uner‐ kennbaren Dings an sich ist auf Grund dieser Betrachtung überall – sowohl in der physischen wie in der psychischen Welt – der erkenn‐ bare Zusammenhang der Erscheinungen nach Gesetzen getreten.“234 229 Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 1)“, S. 382. 230 Ebd. 231 Im Vorwort der Dissertation Die Transzendenz des Dinglichen und Noema‐ tischen in Husserls Phänomenologie macht Adorno deutlich, dass seine Ar‐ gumentation unmittelbar an Cornelius’ Werk Transcendentale Systematik an‐ schließt. Vgl. GS 1/13. 232 Cornelius: Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 21. 233 Ebd., S. 43. 234 Ebd., S. 259f.
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Darüber hinaus beansprucht Cornelius zu zeigen, dass Kants Kri‐ tik der reinen Vernunft auf mehreren dogmatischen Voraussetzungen beruht, von denen die folgenschwerste die strikte Trennung von em‐ pirischer und reiner Erkenntnis sei. Bekanntlich gibt die Erfahrung nach Kant „niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit“,235 sodass für die Transzendentalphilosophie als System aller Prinzipien der reinen Vernunft gelte, „daß gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten; oder daß die Erkenntnis a priori völlig rein sei.“236 Zwar seien jene Begriffe – in Kants Termi‐ nologie: die Kategorien des reinen Verstandes – in der Erfahrung vorfindlich, ihre Geltung könne jedoch nicht auf empirischem Weg begründet werden. Kant unterscheidet deshalb eine empirische De‐ duktion, die sich nur auf das Faktum der Erkenntnisformen richtet, von einer transzendentalen, die zu klären beansprucht, „wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“.237 Cornelius wirft Kant nun vor, dass dessen „Identification aller ‚empirischen‘ mit ‚nur bedingt gültiger‘ Erkenntnis und die Zuwei‐ sung aller ‚Empfindung‘ und alles ‚psychisch‘ Gegebenen überhaupt zur ‚Materie‘ der Erkenntnis“238 den Blick darauf versperrt habe, dass eine empirische Analyse des unmittelbar Gegebenen durchaus im Stande sei, die Geltung der Erkenntnisformen zu erklären.239 Cornelius tritt Kant also mit dem paradox anmutenden Anspruch entgegen, durch eine erfahrungswissenschaftlich ausgerichtete Be‐ 235 236 237 238 239
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Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 3. Ebd., B 28. Ebd., B 117. Cornelius: Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 30. Darüber hinaus behauptet Cornelius, Kant hätte sich nachträglich veranlasst gesehen, „gewisse allgemeinste psychologische Erkenntnisse nicht als empi‐ risch, sondern als ‚transcendental‘ zu bezeichnen, weil sie zur Untersuchung der Möglichkeit einer jeden Erfahrung gehören.“ Ebd., S. 31. Es liegt nahe, dass Cornelius hier auf Kants umfassende Umarbeitung des Kapitels Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der B-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft anspielt. Cornelius bezeichnet die erste Fassung des Kapitels in der AAusgabe, in der die Deduktion der Kategorien teilweise den Anschein erweckt, als psychologische Analyse des Verstandesvermögens durchgeführt worden zu sein, als „eine der größten Leistungen Kants […], die er freilich nicht zu Ende geführt und vielleicht in ihrer Bedeutung selbst niemals vollständig gewürdigt hat.“ Ebd., S. 38.
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wusstseinsanalyse die „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung im Gebiet des unmittelbar Gegebenen“240 freizulegen. Die Aufgabe dieser Analyse bestehe darin, dass sie die „Einsicht in die Möglich‐ keit apriorischer Erkenntnis auf die Erkenntnis eines bestimmten allgemeinsten Zusammenhangs zurückführt, der seinerseits nicht wieder Gegenstand transcendentaler Fragestellung sein kann, son‐ dern als ein letztes Gegebenes aller Erklärung jener besonderen Urteile zu Grunde liegt.“241 Wie lässt sich dieser Zusammenhang genauer bestimmen? Zunächst ergibt sich aus Cornelius’ Bewusstseinsanalyse eine Neubestimmung des Verhältnisses der beiden Erkenntnisstämme Sinnlichkeit und Verstand, die als geradezu antineukantianisch be‐ zeichnet werden kann, sofern man hier unter Neukantianismus die Transzendentalphilosophie der Marburger wie der Südwestdeut‐ schen Schule versteht. Denn während diesen wirkmächtigsten Strö‐ mungen des Neukantianismus zufolge noch die Formen der Sinn‐ lichkeit aus dem Verstand abgeleitet werden müssen, sei dieser nach Cornelius „überall nur eine besondere Function des unmittelbar Gegebenen, d.h. der Sinnlichkeit.“242 Folglich dürfe dem Verstand keineswegs ein logischer Vorrang gegenüber der Sinnlichkeit erteilt werden. Im Gegenteil: „[E]s kann keine Begriffe des Verstandes ge‐ ben, die nicht ihre Bedeutung irgendwie aus der Sinnlichkeit schöp‐ fen. […] Alle ‚Verstandeserkenntnis‘ ist demgemäß in letzter Instanz mittelbares Gegebensein […] von solchem, was einst unmittelbar gegeben war“.243 Nach Cornelius bildet der Verstand also ein mittel‐ bar Gegebenes, das auf die Erfahrung von unmittelbar Gegebenem zurückgeht, sich als eine begriffliche Ordnung verfestigt hat und infolgedessen jede neue Erfahrung formt. Als jene grundlegende Verstandestätigkeit, durch die das in der Erfahrung Gegebene kategorial geformt wird, betrachtet Cornelius das Wiedererkennen. „Die Tatsache des Wiedererkennens ist also die Bedingung dafür, daß in die Gesamtheit der Gegenstände unseres Wissens jener Zusammenhang kommt, den wir als ihre begriffliche Ordnung bezeichnen“; sie ist eine „transcendentale Gesetzmäßig‐ 240 241 242 243
Ebd., S. 26. Ebd., S. 43. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93.
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keit“.244 Entscheidend ist, dass sich jene Verstandestätigkeit eben nicht unabhängig von der Erfahrung heranbildet. „Die Tatsache, daß die Art des Wiedererkennens durch die vergangenen Erlebnisse be‐ dingt ist, können wir auch dahin aussprechen, daß dasselbe von un‐ serer Entwicklung abhängt.“245 Nicht nur verschwimmt damit Kants Unterscheidung von transzendentaler und empirischer Deduktion, sondern auch die zwischen synthetischen Urteilen a priori und a posteriori. Denn nach Cornelius sei apriorische Erkenntnis, d.i. Ver‐ standeserkenntnis, nur aufgrund einer einmal gemachten und infol‐ gedessen immer schon vorausgesetzten Erfahrung von unmittelbar Gegebenem möglich. Sie ist somit keine Erkenntnis, die unabhängig von der Erfahrung zustande käme, sondern die lediglich – und diese Formulierung ist entscheidend – „als für alle künftige Erfahrung gültig zu erkennen“246 sei. Für uns ist an dieser Stelle entscheidend, dass die Konsequenz von Cornelius’ Bewusstseinsanalyse darin besteht, den Erkenntnisfor‐ men des Verstandes einen Doppelcharakter zuzusprechen, insofern diese ihren Ursprung in der Erfahrung des unmittelbar Gegebenen haben und zugleich alle zukünftige Erfahrung formen. Das bedeu‐ tet, dass sich in den Erkenntnisformen empirische und begriffliche Momente miteinander verschränken. Aus diesem Grund richtet sich Cornelius vehement gegen den „Ausschluß alles Psychologischen und ‚Empirischen‘ aus der philosophischen Principienwissenschaft“, denn dieser Ausschluss würde „nicht weniger bedeuten […], als das Ende aller Philosophie, weil die letztere in diesem Falle als Material nur das Nichts behalten würde.“247 Adornos Kant-Rezeption ist nun von ganz ähnlichen Motiven geleitet. Ein zentrales Anliegen seiner Vorlesung Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ besteht darin, Kants strikte Trennung von empiri‐ scher und reiner Erkenntnis als unhaltbar herauszustellen. Kants Forderung, „daß zwar alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung 244 Ebd., S. 101. 245 Ebd., S. 109. 246 Ebd., S. 179. In seinem Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft gibt Cornelius folgendes Beispiel: „Daß Gold von Wasser verschieden ist, wissen wir einzig aus der Erfahrung. Sicher aber ist diese Erkenntnis allgemein und trägt den Charakter der Notwendigkeit an sich.“ Hans Cornelius: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Erlangen 1926, S. 29. 247 Ebd., S. 189.
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anfange, aber nicht in dieser Erfahrung entspringe“ – „diese krasse Entgegensetzung der beiden Momente […] hat doch ein bisschen etwas Dogmatisches“ (NaS IV 4/48). Adorno fährt fort: „[W]enn etwas mit einer Sache anfängt, dann hat das mit dem Ur‐ sprung doch auch etwas zu tun. Es ist schon ganz richtig […], daß man etwa Raum und Zeit oder unsere Denkformen nicht einfach aus der Er‐ fahrung ableiten kann, und daß die logischen Sätze etwa nicht einfach so Erfahrungstatsachen sind wie irgendwelche Beobachtungen, die wir in der physikalischen Welt machen. Es ist aber auf der anderen Seite auch so wiederum, daß, wenn es so etwas wie Erfahrung überhaupt nicht gäbe und wenn uns nicht aus der Erfahrung die Elemente zukä‐ men, die in diesen Sätzen formuliert werden, auch diese angeblich er‐ fahrungsunabhängigen Sätze eigentlich gar nicht möglich wären“. (NaS IV 4/48)
Adorno beschließt seine Ausführung mit einer uns bereits bekann‐ ten Formulierung über den Geltungscharakter synthetischer Urteile a priori, die offensichtlich von Cornelius stammt: „und deshalb ist man dazu gekommen abzuändern: ‚für alle zukünftige Erfahrung‘“ (NaS IV/49). Es ist bemerkenswert, dass Adorno Cornelius’ Formu‐ lierung an dieser Stelle wie einen Common Sense der modernen Erkenntnistheorie behandelt, bezeugt dies doch, welche philosophi‐ sche Bedeutung er seinem Lehrer zugesprochen hat. Die Unhaltbar‐ keit der Trennung von empirischer sowie reiner Erkenntnis und die damit verbundene Annahme eines Doppelcharakters der Erkennt‐ nisformen versucht Adorno anhand der Kritik der reinen Vernunft selbst zu erhärten. Zentrale Bedeutung erhält dabei der § 21 der Transzendentalen Logik, in dem Adorno zufolge deutlich wird, dass nicht nur die durch die Sinne gegebene Materie der Erkenntnis, sondern auch der Verstand und damit die transzendentalen Erkennt‐ nisformen als eine Gegebenheit anzusehen seien. Kant gehe über das „dem gesamten Empirismus Vertraute – von der Zufälligkeit der Gegebenheit, der Unableitbarkeit der sinnlichen Inhalte für die Erkenntnis, […] in diesem höchst merkwürdigen Paragraphen am Ende noch hinaus“ (NaS IV 4/32). Adorno hat den folgenden Satz im Blick: „Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere
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Funktionen zu Urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.“248
Aus dieser Feststellung Kants folgert Adorno, „daß das, was dem Begriff des Gegebenen entgegensteht: nämlich die Organisation des Geistes, dem etwas gegeben ist, – daß das bei Kant selber auch als eine Art Gegebenheit betrachtet wird“ (NaS IV 4/33).249 Wir erin‐ nern uns: Cornelius hatte in der Transcendentalen Systematik den Verstand als ein mittelbar Gegebenes charakterisiert, das letztlich auf die Erfahrung von unmittelbar Gegebenem und das heißt hier: auf die Sinnlichkeit zurückgeht. Wenn Adorno nun weiter davon spricht, dass in der angeführten Passage ein impliziter „Begriff der Gegebenheit der transzendentalen Bedingungen“ (NaS IV 4/35) ge‐ bildet werde, hat er eine Aufwertung der Erfahrung gegenüber der Erkenntnis a priori sowie die Engführung der beiden Erkenntnis‐ stämme im Sinn. Denn sind die Erkenntnisformen selbst als eine Gegebenheit und damit als ein Zufälliges anzusehen, wäre es dog‐ matisch, sie als logisch vorrangig zu hypostasieren und vollständig vom sinnlich Gegebenen, d.i. von der Materie der Erkenntnis, abzu‐ lösen. Wie Adorno in der Metakritik schreibt, habe Kant als „Apo‐ loget der prima philosophia […] doch den Primat der Form […] verfochten“; seine Analyse bezeuge hingegen die „reziproke Abhän‐ gigkeit von Form und Materie“ (GS 5/37). Auch in der Hegel-Studie Aspekte wird explizit auf die Verschränkung empirischer und katego‐ rialer Momente in den kantischen Kategorien hingewiesen. Bei Kant werde die „Bezogenheit der kategorialen Formen, nicht nur ihrer Anwendung, sondern ihrem eigenen Ursprung nach, auf eben jenes Existierende, nämlich die Menschen“ (GS 5/262).250 deutlich. Seine Reflexion „brach an dieser Stelle ab und hat damit die Irreduktibili‐ 248 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 145f. 249 Die Bedeutung, die Adorno dem angeführten Kant-Zitat beigemessen hat, kann nicht hochgenug eingeschätzt werden. In der Metakritik heißt es, Kant betrachte „die Formen als Gegebenheit sui generis, für die sich, der zweiten Fassung der transzendentalen Deduktion zufolge, ‚ferner ein Grund‘ nicht nennen läßt.“ GS 5/37. Auch in der Hegel-Studie Aspekte schreibt Adorno, dass „das Ich denke selbst und die kategorialen Formen von Kant als eine Art von Gegebenheiten respektiert“ (GS 5/262) werden. Darüber hinaus bezieht sich Adorno in der Vorlesung Erkenntnistheorie an mehreren Stellen auf das Zitat. Vgl. NaS IV/219, 285. 250 Hervorhebung von mir, T. S.
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tät des Faktischen auf den Geist, die Verschränkung der Momente bezeugt“ (GS 5/262). In diesem Doppelcharakter der Erkenntnisformen besteht nach Adorno die grundlegende Aporie der Erkenntnistheorie, an der po‐ sitivistische wie idealistische Immanenzphilosophie gleichermaßen scheitern. Denn weder lassen sich die Erkenntnisformen, im Sinne des Positivismus, in sinnliche Elemente auflösen,251 noch können sie, wie es dem Neukantianismus vorschwebt, gänzlich von der Sinnlichkeit losgelöst werden. Aus der Analyse der kantischen Ver‐ standesbegriffe folge vielmehr, „daß das eine Moment immer das andere voraussetzt und umgekehrt, daß aber eine absolute Redukti‐ on auf das eine oder auf das andere nicht möglich sei“ (NaS IV 1/336). Diese Aporie ist der Grund dafür, dass eine Fundierung der Erkenntnistheorie durch die Etablierung eines ersten Prinzips, sei dieses nun Faktizität oder Geist, unmöglich ist. In systematischer Hinsicht ergeben sich aus dem von Adorno konstatierten Scheitern sowohl des positivistischen als auch des neu‐ kantianischen Fundierungsversuchs mindestens zwei Konsequen‐ zen. Zum einen zeigt sich, dass der Versuch, die prima philosophia durch die Wendung zum Subjekt als Wissenschaft zu etablieren, misslingt. Dieses Misslingen wirft wiederum Schatten auf die Idee einer prima philosophia als solcher. Es bezeugt die Unmöglichkeit, den Aufbau der Wirklichkeit aus einem ersten Prinzip zu erklären. In der Metakritik heißt es: „Die Idee des Ersten zehrt in ihrer Entfal‐ tung sich selber auf, und das ist ihre Wahrheit, die ohne Philosophie des Ersten nicht sich hätte gewinnen lassen“ (GS 5/22). Zum ande‐ ren wird deutlich, dass der Versuch, die Erkenntnistheorie als reine 251 In Machs Werk Erkenntnis und Irrtum findet sich ein eindrücklicher Beleg für den Versuch, die kantischen Kategorien gänzlich auf die Erfahrung zurückzu‐ führen und damit ihren apriorischen Charakter radikal zu verneinen. Mach bezieht sich dabei affirmativ auf Friedrich Eduard Beneke und zitiert diesen direkt: „Aber man hat bei der näheren Bestimmung dieses Verhältnisses bisher darin gefehlt, daß man die in der ausgebildeten Seele hervortretenden Formen als schon vor der Erfahrung, oder bestimmter, der Entwicklung der Seele gegebene (angeborene) voraussetzt. Dies ist falsch: Die Formen, welche für die Erkenntnis zunächst vorliegen, sind erst in der Entwicklung der Seele entstanden, vor derselben nur prädeterminiert in angeborenen Anlagen und Verhältnissen, welche ganz andere Formen an sich tragen.“ Friedrich Eduard Beneke: System der Logik als Kunstlehre des Denkens, Berlin 1842, S. 23, zit. n. Mach: Erkenntnis und Irrtum, S. 281f.
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Immanenzphilosophie zu entwerfen, ebenso zum Scheitern verur‐ teilt ist. In der Vorlesung Erkenntnistheorie betont Adorno, dass die beiden Momente, die sich in den Erkenntnisformen verschränken „jeweils auf das andere Prinzip als ein Notwendiges verweisen und in Gestalt dieser Dualität eben anzeigen, daß sie den Rekurs auf eine jegliche Immanenz, mag es nun die Immanenz meines individuellen Bewußtseins oder mag es die Immanenz eines alles in sich befassenden allgemeinen Geistes sein, gleichermaßen eigentlich nicht dulden, son‐ dern daß sie nur in ihrer antithetischen Bezogenheit aufeinander, in ihrer Spannung gegeneinander begriffen werden können.“ (NaS IV/357)
Positivismus und Neukantianismus erweisen sich letzten Endes als zwei Seiten einer Medaille, insofern diese Konzeptionen in ihrer jeweiligen erkenntnistheoretischen Analyse zwar gegensätzliche Mo‐ mente innerhalb des Bewusstseinszusammenhangs zum tragenden Prinzip erklären, aber der prima philosophia in ihrer Grundstruktur gleichermaßen verhaftet bleiben.
Abschlussreflexion: Die Aporie der Erkenntnistheorie Ich möchte die Grundgedanken der bisherigen Darstellung noch einmal rekapitulieren und schließlich Adornos Annahme einer grund‐ legenden Aporie der Erkenntnistheorie als systematischen Ausgangs‐ punkt seiner Husserl-Rezeption herausstellen. Ausgangspunkt von Kapitel 1 war ein von Adorno konstatierter Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit, der nach dem Ende des deutschen Idealismus hervortritt und den philosophischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum systematischen Problem wird. Neueren Varianten des Idealismus – Marburger und Südwestdeutscher Neukantianismus sowie Simmels Lebensphilosophie – hatte Adorno den Positivismus von Avenarius und Mach gegenübergestellt. Husserls Phänomenologie wurde daraufhin als eine Verschränkung von Positivismus und Idea‐ lismus beschrieben. Wie es in der Antrittsvorlesung heißt, sei es Husserls Leistung, „daß er den Begriff der unableitbaren Gegebenheit, wie ihn die positivistischen Richtungen ausgebildet hatten, in seiner Bedeutung für das Fundamentalproblem des Verhältnisses von Ver‐ nunft und Wirklichkeit erkannte und fruchtbar machte“ (GS 1/327). Zugleich bemerkt Adorno, „daß die Husserlschen Gegebenheitsanaly‐ sen allesamt auf ein unausdrückliches System des transzendentalen
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Abschlussreflexion: Die Aporie der Erkenntnistheorie
Idealismus bezogen bleiben, dessen Idee bei Husserl schließlich auch formuliert ist“ (GS 1/327f.). Die spezifische Rolle, die Adorno der Phänomenologie innerhalb der Geschichte des Idealismus zuschreibt, ergibt sich aus Husserls Anspruch, im Sinne des Positivismus vom unmittelbar Gegebenen auszugehen und doch zugleich die transzen‐ dentalen Strukturen des Bewusstseins freizulegen, die von allem Fak‐ tischen unabhängig seien. Um diese philosophiehistorische Verortung der Phänomenologie systematisch zu durchdringen, galt es im Weiteren Adornos Begriff des Idealismus näher zu bestimmen. Der Begriff der prima philoso‐ phia, der in Adornos Metakritik zentral ist, beschreibt ein wesentli‐ ches Strukturmoment dieses Idealismusbegriffs. Durch die Setzung eines ersten Prinzips, das die gesamte Wirklichkeitskonstitution er‐ klären soll, erhalte der Geist eine Vormachtstellung, und zwar auch dann, wenn dieses Prinzip seinem Inhalt nach ein Nichtgeistiges meint. In seiner Kant-Vorlesung bemerkt Adorno, „daß eigentlich al‐ le Philosophie des Ersten, alle ‚erste Philosophie‘, alle prima philoso‐ phia […], ob sie es will oder nicht, eigentlich immer Idealismus ist“ (NaS IV 4/242). Darum bleiben nach Adorno auch solche Philoso‐ phien dem Idealismus verhaftet, die eine antiidealistische Intention verfolgen, den Idealismus aber nur abstrakt negieren. Dies gelte für den Positivismus, der die Faktizität zu einem ersten Prinzip erhebt, und ebenso für den vulgären Materialismus, der die Materie als ein Erstes setzt. Mit dem Begriff der Residualtheorie der Wahrheit, der auf Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion beziehungsweise auf deren Ziel, das phänomenologische Residuum, referiert, beschreibt Adorno den Anspruch der prima philosophia, ihr erstes Prinzip von aller Kontingenz freizuhalten. Im Falle der Husserlschen Phänomeno‐ logie bedeutet dies, die Geltung des raumzeitlich Seienden, d.i. die Faktizität, einzuklammern, um die Wesensstrukturen des reinen Be‐ wusstseins als Ermöglichungsbedingungen der Wirklichkeitskonsti‐ tution freizulegen. In der Geschichte der prima philosophia beobach‐ tet Adorno eine Radikalisierung dieses Anspruchs, die sich in zwei Varianten der modernen Erkenntnistheorie niederschlägt. Kennzeich‐ nend für jene beiden Varianten ist die Wendung zum Subjekt, genauer: die Wendung auf dessen Bewusstseinsimmanenz. Die positivistische Immanenzphilosophie, als deren Vertreter Avenarius und Mach anzu‐ sehen sind, bestimmt die sinnlichen Gegebenheiten des Bewusstseins,
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Kapitel 1: Probleme des Idealismus
die Empfindungen, als „Weltelemente“252. Mach zufolge sei „[n]icht das Ich […] das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich.“253 Dementgegen argumentieren die Vertreter der idealistischen Immanenzphilosophie, unter die der Marburger wie der Südwestdeutsche Neukantianismus subsumiert werden können, dass die Fundierung der Erkenntnistheorie nur gelingen könne, wenn der kantische Dualismus der beiden Erkenntnisstämme im reinen Denken aufgelöst wird. Cohen zufolge dürfe das Denken „keinen Ursprung haben, außerhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muss.“254 Wir haben gesehen, dass nach Adorno positivistische wie idealisti‐ sche Immanenzphilosophie ihren jeweiligen Anspruch einer Fundie‐ rung der Erkenntnistheorie nicht einzulösen vermögen und gegen ihre eigene Absicht auf den jeweiligen Gegenpol führen. Weder sei es ein gangbarer Weg, alles Geistige auf das sinnlich Gegebene zu reduzieren, noch könne der Geist vollständig von der Sinnlichkeit getrennt werden. Dementgegen vertritt Adorno die Annahme eines Doppelcharakters der Erkenntnisformen, die er im Anschluss an seinen Lehrer Cornelius entwickelt. Weil nach Adorno empirische und begriffliche Momente in den Erkenntnisformen unauflöslich miteinander verschränkt sind, erweist sich sowohl das empirische Subjekt des Positivismus als auch das reine Subjekt des Idealismus als untauglich, um die Erkenntnistheorie aus einem ersten Prinzip zu begründen. Damit befindet sich die Erkenntnistheorie in einer ausweglosen Grundsituation. Ich werde diese Grundsituation fortan als die Aporie der Erkenntnistheorie bezeichnen. In aller Allgemein‐ heit fasst Adorno diese Aporie in Zur Philosophie Husserls als die Unmöglichkeit, „das Wirkliche auf seinen Begriff, die Tatsache auf ihr Wesen, in letzter Instanz: das Objekt auf sein Subjekt zu reduzie‐ ren“ (GS 20.1/112). Nun könnte man meinen, das Geschäft einer Kritik der Erkennt‐ nistheorie sei für Adorno an dieser Stelle abgeschlossen, nachdem die Unmöglichkeit herausgestellt wurde, die Wirklichkeitskonstituti‐ on aus einem ersten Prinzip, sei dieses nun Geist oder Faktizität, zu erklären. Adorno sieht in Husserls Phänomenologie jedoch eine 252 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 23. 253 Ebd., S. 17. 254 Cohen: Logik der reinen Erkenntniss, S. 11f.
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Abschlussreflexion: Die Aporie der Erkenntnistheorie
besondere Ausprägung der Erkenntnistheorie. Sie überbietet positi‐ vistische und idealistische Immanenzphilosophien, indem sie beide Ansätze gewissermaßen zusammenzwingt.255 Im Zuge des Versuchs einer Vereinigung jener divergierenden Motive komme es in Hus‐ serls Phänomenologie zu einer Entfaltung der Aporie der Erkennt‐ nistheorie. Indem Adorno diesen Prozess offenlegt, beansprucht er den Idealismus immanent zu durchbrechen.
255 In diesem Sinne spricht auch Eley von einem „Widerstreit zwischen empiristi‐ schen und spekulativen Momenten in der Phänomenologie Husserls.“ Eley: Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Hus‐ serls, S. 27.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
Einleitung: Zwei Ausbruchsversuche Der Anspruch von Kapitel 1 bestand zunächst darin, Adornos Ver‐ ortung der Phänomenologie innerhalb des geistesgeschichtlichen Kontextes zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen und die philosophiehistorischen Voraussetzungen zu klären, von denen die Auseinandersetzung mit Husserl ihren Ausgang nimmt. Auf Grundlage der Darstellung von Adornos Idealismusbegriff wird es im Folgenden darum gehen, die innere Systematik dieser Auseinan‐ dersetzung zu rekonstruieren. Ihr Ziel, so Adorno an Horkheimer, ist die „immanente Durchbrechung des Idealismus“256. Während die in der Antrittsvorlesung thematisierten philosophischen Entwürfe Adorno zufolge noch das Ziel verfolgten, den nach dem Niedergang des Deutschen Idealismus hervorgetretenen Bruch zwischen Denken und Wirklichkeit zu überbrücken und dadurch den Idealismus zu re‐ staurieren, tritt Husserls Phänomenologie zunächst unter antiidealis‐ tischer Flagge auf. Gegen den Idealismus, so heißt es in Zur Philoso‐ phie Husserls, „hatte sich der Ursprungsimpuls der Phänomenologie, jedenfalls ihre historisch wirksame Tendenz gerichtet“ (GS 20.1/52). Sie sei „die letzte ernsthafte Anstrengung des bürgerlichen Geistes, aus seinem eigenen Bereich, der Bewußtseinsimmanenz, der Sphäre der konstitutiven Subjektivität auszubrechen“ (GS 20.1/52). Die in der Antrittsvorlesung entwickelte Philosophiehistoriogra‐ phie wird in der Metakritik um einen Philosophen erweitert, den Adorno fortan an zentralen Stellen seines Werks mit Husserl in Ver‐ bindung bringt: Henri Bergson.257 Adorno wertet Bergsons Intuitio‐ nismus ebenfalls als einen Ausbruchsversuch aus der idealistischen Bewusstseinsimmanenz. Wie Bergson in seinem 1907 erschienen 256 Brief Adornos an Horkheimer vom 7.8.1937. Adorno u. Horkheimer: Briefwech‐ sel 1927–1937, S. 388. 257 Vgl. GS 5/52–55, GS 6/20f., NaS IV 16/106–108.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
Hauptwerk Schöpferische Evolution schreibt, liege es „im Wesen der Vernunftüberlegungen, uns in einen Zirkel des Gegebenen ein‐ zusperren.“258 Es gelte, „den Knoten [zu] durchschlagen, den die Vernunftüberlegung geknüpft hat und den sie niemals lösen wird.“259 Um in jenen Bereich der Wirklichkeit vorzudringen, der dem klas‐ sifikatorischen Denken notwendig versperrt bleibe, müsse sich die Philosophie der durch die Wissenschaft geprägten „intellektuellen Formen und Gewohnheiten […] entledigen.“260 Aufgabe der Philoso‐ phie sei es, „über den reinen Verstand hinauszugehen“ und „uns in etwas Umfassenderes ein[zuführen], in dem unser Verstand sich abgrenzt und von dem er sich einst hat ablösen müssen.“261 Diesen Bereich beschreibt Bergson als den Zustand der „reinen Dauer“; er reiche über die Intellektualität hinaus und „bleibt ihr inkommen‐ surabel, da er unteilbar und neu ist.“262 In Frage steht das Verhältnis, in das Adorno die Ausbruchsversuche von Bergson und Husserl setzt. Bergson habe, wie es in der Metakritik heißt, den „gordischen Knoten“ zwischen Philosophie und Wissenschaft „zu zerhauen ver‐ sucht, indem er gegen das begrifflich-klassifikatorische Denken der Wissenschaft ein unmittelbar-anschauliches Innewerden des Leben‐ digen postulierte“ (GS 5/52). Den Versuch, die lebendige, ungeform‐ te Erkenntnis zu retten, die durch die Verwissenschaftlichung der Philosophie zunehmend verloren gehe, erachtet Adorno als durch‐ aus legitim. Rechtmäßig sei der Intuitionismus, weil er ein Moment in der Erkenntnis anmeldet, das sich dem begrifflich-klassifikatori‐ schen Denken widersetzt, in diesem nicht aufgeht. Nicht jedoch machen jene Erkenntnisakte, die Bergson Intuitionen nennt, „eine absolute, vom diskursiven Denken durch einen ontologischen Ab‐ grund getrennte Quelle der Erkenntnis aus“ (GS 5/53). Intuition und begriffliches Denken seien vielmehr aufs Innerste miteinander verschränkt und ebenso wenig wie das begriffliche Denken dürfe die Intuition hypostasiert werden. Bergson begehe eine „abstrakte 258 Henri Bergson: Schöpferische Evolution, übersetzt von Margarethe Drewsen, Hamburg 2013, S. 222. 259 Ebd. 260 Ebd., S. 226. 261 Ebd., S. 229. 262 Ebd., S. 230.
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Einleitung: Zwei Ausbruchsversuche
Negation der Vermittlung“ (GS 5/54).263 Indem er „die Intuitionen für die unmittelbare Stimme jenes Lebens ausgab, das doch nur als vermitteltes noch lebt, hat er sie selber zum abstrakten Prinzip verdünnt, das rasch mit der abstrakten Welt sich befreundet, gegen die er es ersann“ (GS 5/54). Damit bleibe Bergsons Philosophie der Form nach der prima philosophia verhaftet. Mit dieser Feststellung endet die Auseinandersetzung mit Bergson in der Metakritik.264 Wie Husserls Charakterisierung der Philosophie als strenge Wis‐ senschaft bereits nahelegt, bleibe der phänomenologische Ausbruchs‐ versuch, so Adorno, „im Gegensatz zu Bergson, mit der Wissenschaft einverstanden“ (GS 5/55). Husserl erscheine „unvergleichlich viel akademischer als Bergson. Trotz der Parole ‚Zu den Sachen‘ sind seine Texte gerade in ihren fruchtbarsten Partien überaus formal und voll von terminologischen Distinktionen“ (GS 5/55). Indem Husserl „sein in sich antagonistisches Verhältnis zur Wissenschaft nicht verleugnet, […] vermeidet er den Trug des Irrationalismus, die abstrakte Negation hätte Macht über die Verdinglichung“ (GS 5/55). Nach Adorno vermag auch Husserls die idealistische Bewusstseinsimmanenz nicht zu durchbrechen. Gegen Husserls eigene Absicht treibe der phänomeno‐ 263 Der Begriff der abstrakten Negation stammt von Hegel, der ihn als das Ver‐ fahren des Skeptizismus beschreibt. Dieses Verfahren negiere die Sache von außen und habe darum ein leeres und abstraktes Nichts zum Resultat: „Der Skeptizismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob und was ihm etwas Neues sich darbietet, um es in denselben Abgrund zu werfen.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 74. 264 Adornos Kritik an Bergsons Intuitionismus findet sich in ähnlicher Form in Rickerts Aufsatz Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare, den Ador‐ no rezipiert hat. Vgl. GS 20/247. Rickert zufolge lasse die Abwehr der „begriffli‐ che[n] Konstruktion zugunsten der Intuition“ außer Acht, dass man ebenso Begriffe benötigt, „um neue Anschauungen zu finden, wie man Anschauungen braucht, um im begrifflichen Denken vorwärts zu kommen.“ Heinrich Rickert: „Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare“, in: Ders.: Philosophische Aufsätze, hg. von Rainer A. Bast, Tübingen 1999, S. 107–151, hier S. 109. Ob der Vorwurf, Bergson würde die wissenschaftliche Erkenntnisform negieren, berechtigt ist, muss an dieser Stelle offenbleiben. Rémi Brague weist daraufhin, dass kein Begriff in Bergsons Werk so hartnäckig missverstanden wurde, wie der der Intuition: „Die Intuition kann erst dann ins Innere der Wirklichkeit vordringen, wenn sie sich lange Zeit mit deren oberflächlichen Erscheinungen vertraut gemacht hat, was wiederum nur durch die Wissenschaft geschehen kann.“ Rémi Brague: „Einleitung“, in: Henri Bergson: Schöpferische Evolution, übersetzt von Margarethe Drewsen, Hamburg 2013, S. IX–L, hier S. XXXVIIIf.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
logische Ausbruchsversuch den Idealismus jedoch in einen Prozess der Selbstzerstörung, an dessen Ende offenbar werde, dass die idealistische Konzeption einer reinen transzendentalen Subjektivität notwendig mit der Faktizität verschränkt bleibe und darum nicht deren Ermögli‐ chungsbedingung sein könne. „Husserl akzeptiert das Denken in seiner verdinglichten Gestalt, folgt ihr jedoch so unbestechlich, bis sie über sich hinaustreibt“ (GS 5/55). Ausgehend von Adornos erster längeren Abhandlung über Husserl nach der Dissertation, dem Aufsatz Zur Philosophie Husserls aus dem Jahr 1937, wird es in diesem Kapitel zunächst darum gehen, Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus und die Gründe für sein Scheitern darzulegen. Dieses Scheitern wird nach Adorno durch die idealistische Wende der Phänomenologie bezeugt (1). Adornos emphatische Rede von einem Ausbruchsversuch aus dem Idealismus sollte gerade nicht dazu verleiten, dieses Motiv zu hypostasieren. In einem Brief an Horkheimer vom 24. November 1934 bezeichnet Adorno Husserls Phänomenologie als die „fortgeschrittenste bürger‐ liche Erkenntnislehre“265, aber diese Formulierung lässt sich nicht allein auf das Ausbruchsmotiv reduzieren. ‚Fortgeschritten‘ ist hier ebenso im Sinne eines Prozesses zu verstehen, der sich in der Phäno‐ menologie ereigne und von Adorno als eine mehrstufige Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie beschrieben wird (2). Sie sei be‐ dingt durch die Verschränkung von Positivismus und Idealismus, die Adorno als das Spezifikum der Phänomenologie herausgestellt hatte. Der Darstellung in Zur Philosophie Husserls folgend, beginnt die Entfaltung der Aporie im zweiten Band der Logischen Untersu‐ chungen, in dem Husserl mittels seiner Theorie der kategorialen An‐ schauung eine erkenntnistheoretische Fundierung der logischen Ge‐ setze anstrebt; sie erstreckt sich über die Wesenslehre der Ideen und kulminiert schließlich in Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivität in den Cartesianischen Meditationen. Am Ende dieser Entwicklung zeige sich in einer nie zuvor erreichten Deutlichkeit, dass die transzendentale Subjektivität als Grundbegriff des Idealis‐ mus unauflösbar mit der Faktizität verschränkt ist und darum nicht deren Ermöglichungsbedingung, kein Erstes sein kann. Damit habe Husserl „den Weg zur Liquidation des aporetischen Grundbegriffes, der transzendentalen Subjektivität, freigemacht“ (GS 20.1/88). 265 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 40.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
Zuletzt gilt es darauf hinzuweisen, dass es Adorno nicht um eine rein sachliche Darstellung der Phänomenologie geht. Vielmehr greift die Darstellung in den behandelten Gegenstand ein. So ist zu Beginn der Metakritik von der „Verpflichtung zum eingreifenden Argument“ die Rede, die sich aus der „enge[n] Fühlung mit dem Stoff“ (GS 5/9) ergeben habe. Zugleich beansprucht Adorno einen Prozess zu beschreiben, der sich im Gegenstand selbst ereignet. So gebühre das Verdienst für die Liquidation des Idealismus, die sein Husserl-Aufsatz vorangetrieben habe, „weit weniger mir als je‐ ner Selbstzerstörung des Idealismus, […] die in Husserl […] ihre Vollendung findet.“266 Wir können an dieser Stelle festhalten, dass sich die Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie gegen Husserls eigene Absicht vollzieht und darum durch einen Eingriff sichtbar ge‐ macht werden muss. In einer Zwischenbemerkung, die dem zweiten Unterkapitel vorangeschickt wird, werde ich Adornos methodisches Vorgehen näher erläutern.
1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus I. Ausbruchsmotiv: ‚Zu den Sachen selbst‘
Adornos Rede von einer antiidealistischen Intention, die Husserl in seinem Frühwerk verfolgt, hat nichts Außergewöhnliches an sich. Es ist eben diese Intention, die in der berühmt gewordenen Forderung ‚Zurück zu den Sachen selbst‘ aus dem zweiten Band der Logischen Untersuchungen ihren Ausdruck findet (vgl. Hua 19/10). Wie Edith Stein berichtet, bestand die Faszination, die die Logischen Untersu‐ chungen auf Husserls Schülerkreis ausübten, gerade in einer gegen den Idealismus gerichteten Wendung vom Subjekt zum Objekt der Erkenntnis: „Die Logischen Untersuchungen hatten vor allem dadurch Eindruck gemacht, dass sie als eine radikale Abkehr vom kritischen Idealismus kantischer und neukantischer Prägung erschienen. Man sah darin eine ‚neue Scholastik‘, weil der Blick sich vom Subjekt ab- und zu den Sachen zuwendete: die Erkenntnis schien wieder ein Empfangen, das von den 266 Brief Adornos an Horkheimer vom 19.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 451.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
Dingen sein Gesetz erhielt, nicht – wie im Kritizismus – ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigte. Alle jungen Phänomenologen waren entschiedene Realisten.“267
Diese Perspektive auf Husserls Frühwerk wird auch von Adorno geteilt. So sei es Husserls Absicht gewesen, „bloß ‚gemachte‘ Begriffe, die ihre ‚Sachen‘ verdecken, zu zerschlagen, ‚Theoretisierungen‘ ab‐ zubauen, Wirkliches, unabhängig von der terminologischen Appara‐ tur, die es verdeckt, zu enthüllen“ (GS 20.1/55). Husserls „Ausbruchs‐ versuch aus dem Idealismus ist einer aus dem Begriffsfetischismus“ (GS 20.1/57).268 Nun war Husserl freilich nicht der einzige Philosoph um die Jahr‐ hundertwende, der einem Unbehagen gegenüber den überbordend wirkenden Begriffskonstruktionen der idealistischen Systemphiloso‐ phen wie der Neukantianer Ausdruck verlieh. Wie wir gesehen ha‐ ben, ist auch der frühe Positivismus empiriokritizistischer Prägung, mit dem sich Husserl intensiv auseinandersetzte, von einer antiidea‐ listischen Intention geleitet. Auch hier wendet man sich gegen die idealistische Vorstellung eines statischen Erkenntnissubjekts, das dem Objekt seine Form aufprägt bzw. dieses allererst konstituiert. Wie Avenarius schreibt, sei die dabei zugrundeliegende Auffassung von einem „‚unmittelbare[n] Gegebensein des Bewußtseins‘ u. Ä. schon der Ausfluß einer Theorie“269 und deshalb kein geeigneter Ausgangsgrund für eine Wissenschaft, die sich dem Ideal echter Vorurteilslosigkeit verpflichtet fühlt. „Vom ‚Bewußtsein‘ oder dem ‚Denken‘ […] ‚ausgehen‘, heißt im besten Fall also, um nicht einen drastischeren Vergleich zu gebrauchen, beim Ende anfangen!“270 267 Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie, S. 174. 268 Ähnlich heißt es in Husserl and the Problem of Idealism: „In other words, his attack was directed not only against positivism and empiricism, but against idealism, and his effect was largely that of an anti-idealist philosopher. It be‐ came such an attack by the slogan ‚Zu den Sachen‘, ‚Back to the subject-matter itself‘, and the motive of his insistence upon notions such as intuition is in fact this anti-idealist desire of getting back to the materials themselves. He wants to destroy every hypothetical superstructure of the pure acts of thinking and meanings, every arbitrary construction which derives from systematical bias. His campaign is directed, if I may say so, against any philosophical ornamentation, against anything that does not belong to the matter itself.“ GS 20.1/133f. 269 Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung, Bd. 1, S. VIII. 270 Ebd.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
Abseits bereits dargestellter Gemeinsamkeiten, vor allem hinsicht‐ lich der geteilten positivistischen Grundhaltung, besteht aber eine entscheidende Differenz zwischen Husserls früher Phänomenologie und dem Empiriokritizismus, von der schon die Logischen Untersu‐ chungen Zeugnis ablegen. Im Zuge seiner philosophiehistorischen Verortung der Phänomenologie macht Otto Pöggeler auf diese Diffe‐ renz aufmerksam: „[E]r [Husserl; T. S.] stand Kant, vor allem dem Methodologismus der Neukantianer, ebenso fern wie dem Systemgedanken des spekulativen Idealismus. Sein Philosophieren gehörte eher, so schien es, zu den em‐ piristischen Tendenzen, und doch brachte es ganz anderes ins Spiel: die kategoriale Anschauung, das materiale Apriori.“271
So geht es Husserl bereits im ersten Bande der Logischen Untersu‐ chungen, den Prolegomena zur reinen Logik272 von 1900, darum, Apriorität und Idealität der logischen Gesetze herauszustellen, in‐ dem er zeigt, dass deren objektive Geltung nicht dem psychischen Akt des Urteilens entspringe, die Psychologie als eine empirische Wissenschaft also kein zureichendes Fundament für die Begründung der Logik liefern könne. Darin besteht seine einflussreiche Kritik des logischen Psychologismus, die schließlich auch den Empiriokritizis‐ mus von Avenarius und Mach trifft. Der Psychologismus verkenne die „grundwesentlichen und ewig unüberbrückbaren Unterschiede zwischen Idealgesetz und Realgesetz“ (Hua 18/79f.) und übersehe, dass die Gesetze der Logik „weder der Begründung noch dem In‐ halt nach Psychologisches (also Tatsächlichkeiten des Seelenlebens) voraussetzen“ (Hua 18/81).273 Sie seien vielmehr Idealgesetze, „Wahr‐ heit[en] an sich“ (Hua 18/75), die nicht im Subjekt gründen: 271 Otto Pöggeler: „Die Krise des Phänomenologischen Philosophiebegriffs (1929)“, in: Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hgg.): Phänomenologie im Widerstreit, Frankfurt am Main 1989, S. 255–276, hier S. 255. 272 Husserls Werk wird im Folgenden schlicht Prolegomena genannt. 273 In den Prolegomena zur reinen Logik äußert sich Husserl folgendermaßen über den Empiriokritizismus: „Nah verwandet mit dem Psychologismus […] ist eine andere Form empiristischer Begründung der Logik und Erkenntnistheorie, welche in den letzten Jahren in besonderem Maße Ausbreitung gewinnt: näm‐ lich die biologistische Begründung dieser Disziplin mittels des Prinzips vom kleinsten Kraftmaß, wie Avenarius, oder des Prinzips von der Ökonomie des Denkens, wie Mach es nennt“. Hua 18/196. Bei diesen Begründungsversuchen komme es zu einer „Verwechslung des tatsächlich Gegebenen mit dem logisch
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
„Was wahr ist, ist absolut, ist ‚an sich‘ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen spre‐ chen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.“ (Hua 18/125)274
Die Auffassung von einer den logischen Gesetzen zukommenden Wahrheit an sich, die sich aus Husserls Psychologismuskritik ergibt, führt zu einem logischen Objektivismus275 und damit zu einer Ent‐ subjektivierung der Erkenntnis. Damit richtet sich Husserl sowohl gegen die empiristisch orientierte positivistische Immenenzphiloso‐ phie wie auch gegen die idealistische Immanenzphilosophie der Neukantianer, die er ebenfalls dem Psychologismus zurechnet. Es sei unerheblich, ob der Psychologismus „sich auf ‚Transzendentalpsychologie‘ stützt und als formaler Idealismus die Objektivität der Erkenntnis zu retten glaubt, oder ob er sich auf empirische Psychologie stützt und den Relativismus als unvermeidliches Fatum auf sich nimmt. Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Geset‐ ze faßt oder sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf gewisse ‚ursprüngliche Formen‘ oder ‚Funktionswei‐ sen des (menschlichen Verstandes) […] ist eo ipso relativistisch“ (Hua 18/130). Idealen“ (Hua 18/209), das jedoch in „Tatsachen des psychischen Lebens […] in keiner Weise aufgelöst oder umgedeutet werden“ (Hua 18/210) könne. 274 Husserls Auffassung, die logischen Gesetze seien von jeder Denkfunktion unabhängige Wahrheiten an sich, ist stark beeinflusst von Bernard Bolzanos Lehre über Sätze an sich. Bolzano wird in den Prolegomena zur reinen Logik als „einer der größten Logiker aller Zeiten“ bezeichnet. Seine Wissenschafts‐ lehre sei ein Werk, „das in Sachen der logischen ‚Elementarlehre‘ alles weit zurückläßt, was die Weltliteratur an systematischen Entwürfen der Logik dar‐ bietet“. Hua 18/227. Zu Bolzanos Lehre von den Sätzen an sich vgl. Bernard Bolzano: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neu‐ en Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter, Bd. 1, Sulzbach 1873, S. 76–91. Auch Adorno betont den Einfluss Bolzanos auf Husserl: „[H]e assumes Bolzano’s ‚propositions in themselves‘, that is the pure unities of validity.“ GS 20.1/129. 275 Adorno spricht bereits in Zur Philosophie Husserls von einem „logischen Ab‐ solutismus“. GS 20.1/47. Dieser logische Absolutismus wird schließlich in der ersten Studie der Metakritik einer ausführlichen Kritik unterzogen. Vgl. GS 5/48–95.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
Damit richtet sich Husserl gegen jene Wendung zum Subjekt, die Adorno als Geburtsstunde der modernen Erkenntnistheorie be‐ schrieben hatte und stellt zugleich deren immanenzphilosophischen Charakter in Frage. Erkenntnis werde vom Objekt, nicht vom Sub‐ jekt bestimmt und übersteige damit die Immanenz des Bewusstseins. Jener phänomenologische Realismus, den Edith Stein als die in Hus‐ serls Schülerkreis vorherrschende Position beschrieben hatte, grün‐ det in dieser Grundannahme. Sie tritt in einer Passage des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen deutlich hervor: „Er [der wissenschaftliche Forscher; T. S.] weiß auch, daß er die objekti‐ ve Geltung der Gedanken und gedanklichen Zusammenhänge, die der Begriffe und Wahrheiten nicht macht, als handelte es sich um Zufällig‐ keiten seines oder des allgemein menschlichen Geistes, sondern daß er sie einsieht, entdeckt. Er weiß, daß ihr ideales Sein nicht die Bedeutung eines psychischen ‚Seins in unserem Geiste‘ hat“. (Hua 19/100)
In dieser Grundannahme sieht auch Adorno Husserls Antiidealis‐ mus begründet, der nicht nur in den Prolegomena, sondern auch in den vielschichtigen Untersuchungen des zweiten Bandes der Logi‐ schen Untersuchungen zum Ausdruck kommt. Hier sei lediglich auf Husserls Bedeutungstheorie verwiesen, die in Ausdruck und Bedeu‐ tung, der I. Untersuchung des zweiten Bandes, entwickelt wird. Auch hier ist die Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung zentral, zwischen der Aussage als einer psychologischen Tatsache mit zeitli‐ chem Charakter und dem ausgesagten Inhalt, der „schlechterdings nichts Subjektives“ sei. „Mein Urteilsakt ist ein flüchtiges Erlebnis, entstehend und vergehend. Nicht ist aber das, was die Aussage aus‐ sagt, dieser Inhalt, daß die drei Höhen eines Dreiecks sich in einem Punkte schneiden, ein Entstehendes und Vergehendes“ (Hua 19/50). Dieses Identische in der wiederholbaren Aussage bezeichnet Husserl als deren Bedeutung. In der Bedeutung sei „von einem Urteilen und Urteilenden schlechterdings nicht zu entdecken. […] Der Sachver‐ halt selbst ist, was er ist, ob wir seine Geltung behaupten oder nicht. Er ist eine Geltungseinheit an sich“ (Hua 19/49). Wie wir sehen, besteht Husserls Antiidealismus auch hier in der Überzeugung, dass es ein objektives, transzendentes Moment in der Erkenntnis gibt, das nicht durch die Akte des Subjekts erzeugt wird und sich ebenso wenig auf diese Akte reduzieren lässt. Über die Grundintention der Logischen Untersuchungen urteilt Adorno des‐ halb:
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
„Das Ziel der logischen oder erkenntniskritischen Enthüllung ist alle‐ mal was ‚als solches‘ ist: die Sätze an sich anstelle der psychologischen Gesetze, unter welchen sie von Menschen einzig nachgedacht werden; die reine Bedeutung, so wie sie vom ‚Blickstrahl der Intention‘ getroffen und festgehalten wird; die Evidenz der ‚Sache selbst‘, die sich darstellt, und nicht ihr subjektives Korrelat, das ‚Gefühl‘ von ihr; der wahrge‐ nommene oder wie immer gemeinte Gegenstand und nicht dessen bloß bewußtseinsmäßiges Substitut.“ (GS 20.1/57)
Husserls Festhalten an der Sache selbst, als dem subjektunabhängi‐ gen Moment in der Erkenntnis, wird von Adorno immer wieder als der progressive Nerv der Phänomenologie beschrieben. Progres‐ siv sei die Phänomenologie, wo sie „das Denken nötigt, ernstlich über seine eigene Immanenz, wie Husserl es ausdrückt, ‚hinauszu‐ meinen‘“ (GS 20.1/87) und, wie es schließlich in der Metakritik heißt, „auf eine nicht bewußtseinsimmanente Realität sich richte“ (GS 5/215). Die Weiterbildung der Phänomenologie zu einem trans‐ zendentalen Idealismus, die sich in den Ideen und dann vor allem in den Cartesianischen Meditationen vollzieht, bezeugt nach Adorno jedoch das offenkundige Scheitern des phänomenologischen Aus‐ bruchsversuchs. Im Folgenden gilt es, die Gründe für dieses Schei‐ tern darzulegen.
II. Scheitern des Ausbruchs: Heimkehr zum transzendentalen Idealismus
Husserls Hinwendung zu einem transzendentalen Idealismus wurde von jenen Schülerinnen und Schülern, die den Standpunkt einer realistischen Phänomenologie vertraten, von Anbeginn kritisch be‐ obachtet. Vor allem die Göttinger Schülerschaft Husserls hielt den Ansatz der Logischen Untersuchungen für unvereinbar mit der trans‐ zendentalen Phänomenologie der Ideen und nahm die häufig so bezeichnete idealistische Wende Husserls als einen Bruch mit dem Frühwerk wahr.276 So berichtet Edith Stein von einem Privatseminar, das Husserl kurz nach Veröffentlichung der Ideen abhielt: 276 Vgl. Thomas Vongher: „Persönlichkeit und Leben“, in: Sebastian Luft u. Maren Wehrle (Hgg.): Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 8–18, hier S. 13.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
„Die ‚Ideen‘ aber enthielten einige Wendungen, die ganz danach klan‐ gen, als wollte ihr Meister zum Idealismus zurücklenken. Was er uns mündlich zur Deutung sagte, konnte die Bedenken nicht beschwichti‐ gen. Es war der Anfang jener Entwicklung, die Husserl mehr und mehr dahin führte, in dem, was er ‚transzendentalen Idealismus‘ nannte […], den eigentlichen Kern seiner Philosophie zu sehen und alle Energie auf seine Begründung zu verwenden: ein Weg, auf dem ihm seine alten Göttinger Schüler zu seinem und ihrem Schmerz nicht folgen konnten.“277
Adornos Interpretation der idealistischen Wende Husserls unter‐ scheidet sich nun dahingehend von derjenigen der realistischen Phänomenologinnen und Phänomenologen, als Adorno jene Wen‐ de bereits in der Grundkonzeption der Logischen Untersuchungen angelegt sieht. „[D]ie Abhebung von der idealistischen Tradition ist von ihm [Husserl; T. S.] und der Schule überschätzt worden“ (GS 20.1/61). Das bedeutet, dass nach Adorno von einer Wende oder einem Bruch im strengen Sinne nicht die Rede sein kann. Diese Auffassung wird durch Husserls nachträgliche Umarbeitung der Logischen Untersuchungen in gewisser Hinsicht gestützt. So weist Henning Peucker darauf hin, dass Husserl versucht hat, das Werk für eine zweite Auflage „so gut wie möglich auf das Niveau seiner neuen transzendentalphänomenologischen Einsichten zu bringen.“278 In diesem Zusammenhang ist Husserls Auseinandersetzung mit Paul Natorp bekannt geworden, an der sich die Hinwendung zu einem transzendentalen Idealismus schrittweise ablesen lässt.279 Die‐ 277 Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie, S. 174f. Wie Stein weiter be‐ richtet, gewann Max Scheler infolge der idealistischen Wende Husserls einen zunehmenden Einfluss auf die realistisch orientierten Phänomenologen. „Die jungen Phänomenologen standen sehr unter Schelers Einfluß; manche […] hielten sich mehr an ihn als an Husserl“. Ebd., S. 181. 278 Henning Peucker: „Logische Untersuchungen“, in: Sebastian Luft u. Maren Wehrle (Hgg.): Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 55–65, hier S. 56. 279 Abseits der Bezüge in den Werken Husserls und Natorps ist diese Auseinander‐ setzung in zwei Rezensionen dokumentiert, die Natorp zum ersten Band der Logischen Untersuchungen und den Ideen verfasste. Vgl.: Paul Natorp: „Zur Frage der logischen Methode. Mit Beziehung auf Edmund Husserls ‚Prolego‐ mena zur reinen Logik‘“, in: Kant-Studien, Bd. 6, 1901, S. 270–283. „Husserls ‚Ideen zu einer reinen Phänomenologie‘“, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Bd. 7, 1917/18, S. 224–246.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
se Auseinandersetzung kreist um die Frage, ob sich ein reines Ich als festes Zentrum aller Gegenstandsbeziehung phänomenologisch ausweisen lässt. In der Erstauflage des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen kam Husserl noch zu folgendem Schluss: „Nun muß ich freilich gestehen, daß ich dieses primitive Ich als notwendi‐ ges Beziehungszentrum schlechterdings nicht zu finden vermag. Was ich allein zu bemerken, also wahrzunehmen imstande bin, ist das empirische Ich“ (Hua 19/374). In der Neuauflage findet sich in einer Anmerkung dann der Zusatz: „Inzwischen habe ich es zu finden gelernt“ (Hua 19/374).280 Dass hier bereits eine idealistische Kon‐ zeption der Phänomenologie angedeutet wird, bezeugen schließlich die Ideen, in denen Husserl durch die Methode der phänomenologi‐ schen Reduktion zu einem reinen Ich gelangt. In einer Anmerkung bezieht sich Husserl abermals auf Natorp und revidiert die einst geäußerte Kritik vollständig: „In den ‚Log. Unters.‘ vertrat ich in der Frage des reinen Ich eine Skepsis, die ich im Fortschritt meiner Studien nicht festhalten konnte“ (Hua 19/124). Adornos These, der zufolge der Idealismus bereits in Husserls Logischen Untersuchungen verankert sei, findet sich in Grundzügen bereits in der Antrittsvorlesung. Dort wird Husserls Phänomenolo‐ gie zunächst als der Versuch charakterisiert, „nach dem Zerfall der idealistischen Systeme und mit dem Instrument des Idealismus, der autonomen ratio, eine übersubjektive verbindliche Seinsordnung zu gewinnen“ (GS 1/327). Wie Adorno hinzufügt, sei es jedoch „die tiefe Paradoxie aller phänomenologischen Intentionen, daß sie vermittels der gleichen Kategorien, die das subjektive, nachcartesianische Den‐ ken hervorgebracht hat, eben jene Objektivität zu gewinnen trachte‐ ten, der diese Intentionen im Ursprung widersprechen“ (GS 1/327). Die Paradoxie, von der Adorno hier spricht, besteht also darin, dass Husserl in seiner frühen Schaffensphase zwar von einer antiidealisti‐ schen Intention geleitet sei, jedoch von Anbeginn mit idealistischen Begriffen operiere. In Zur Philosophie Husserls wird dieser Gedanke weiter ausgeführt. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus vollziehe sich „vermöge der gleichen Kategorien, die die idealistische
280 Husserl merkt dabei an, „daß die hier vollzogene (und von mir, wie schon gesagt, nicht mehr gebilligte) Stellungnahme zur Frage des reinen Ich für die Untersuchungen dieses Bandes irrelevant bleibt“. Hua 19/376.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
Analyse der Bewußtseinsimmanenz beistellt“ (GS 20.1/52).281 Dabei sei „die Macht der Grundbegriffe der Bewußtseinsimmanenz, mit welchen Husserl diese zu durchstoßen trachtet, […] so groß, daß sie aus Eigenem und gegen alle ursprüngliche Intention die gleiche Phantasmagorie nochmal entrollen, gegen welche sie mobilisiert wa‐ ren“ (GS 20.1/52). Der intendierte Ausbruch aus dem Idealismus sei von der Phänomenologie nie vollzogen worden. „Sind alle ihre Untersuchungen um ‚Transzendenz‘, um das nicht Bewußtseinseige‐ ne bemüht, so hat doch keine die Ebene der Immanenz, der Be‐ wußtseinsanalyse im traditionell idealistischen Sinne verlassen“ (GS 20.1/57). Um das von Adorno konstatierte Scheitern des phänomenologi‐ schen Ausbruchsversuchs schrittweise nachzuvollziehen, richten wir den Blick erneut auf Husserls Psychologismus-Kritik. Husserl hatte im Rahmen dieser Kritik zu zeigen beansprucht, dass die Geltung der logischen Gesetze nicht dem psychischen Akt des Urteilens entspringt. Stattdessen bezögen sich jene Gesetze auf ein Reich an sich seiender, idealer Wahrheiten, deren Geltung vom urteilenden Subjekt unabhängig sei. In Adornos Augen ist der logische Objekti‐ vismus, mit dem Husserl dem Psychologismus entgegentritt, der Be‐ wusstseinsimmanenz jedoch nur scheinbar entraten. Bereits für die Prolegomena gelte: „Die Objektivitäten, die das Bewußtseinsleben übersteigen, weisen bei Husserl allemal zurück auf jene ratio, welche nichts anderes ist als die Einheit des Bewußtseinslebens selber, die Kantische synthetische Einheit der Apperzeption“ (GS 20.1/57). An‐ ders als die logischen Gesetze bei Husserl, drückt die synthetische Einheit der Apperzeption bei Kant bekanntlich kein ideales Sein aus. Sie ist kein dem Denken unterstelltes Substrat, sondern, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft schreibt, „ein Actus der Spontanität“.282 Ich sei mir in der synthetischen Einheit der Apperzeption meiner selbst bewusst, „nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selber bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, 281 Auch in Husserl and the Problem of Idealism heißt es: „Roughly his problem may be stated as follows: he rebels against idealist thinking while attempting to break through the walls of idealism with purely idealist instruments, namely, by an exclusive analysis of the structure of thought and of consciousness“. GS 20.1/133. 282 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 132.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
nicht ein Anschauen“283; sie ist die ursprüngliche Form der Verstan‐ destätigkeit. Wie also lässt es sich erklären, dass Adorno Husserls Vorstellung vom idealen Sein der Logik mit der synthetischen Ein‐ heit der Apperzeption kurzschließt? Adornos These besagt, dass das Sein an sich, das Husserl den logi‐ schen Gesetzen zuschreibt, Ausdruck einer Verdinglichung der Ver‐ standestätigkeit ist. „[D]as transsubjektive Sein der logischen Sätze, die phänomenologische Grundkonzeption, ist die Verdinglichung der Denkfunktion, das Vergessen der Synthesis“ (GS 20.1/58). Ador‐ no wird seine eigene Konzeption einer materialistischen Logik erst in der Metakritik ausführlich zur Darstellung bringen; vor allem in deren erster Studie Kritik des logischen Absolutismus.284 Der Gedan‐ ke, der dabei im Zentrum steht, findet sich jedoch bereits in Zur Phi‐ losophie Husserls. Wie Adorno dort bemerkt, würden Husserls Prole‐ gomena „die Logik selber verdinglichen und von der Arbeit des Den‐ kens so gut wie vom Stoff des Gedachten losreißen, ohne den ihre Sätze sinnlos wären“ (GS 20.1/68). Adorno zufolge besteht der Sinn der Logik in ihrer Anwendung. In der Analyse der logischen Gesetze dürfe deshalb weder vom Urteilsakt noch vom Gegenstandsbezug gänzlich abstrahiert werden. Das bedeutet keineswegs, dass sich Adorno auf die Seite des logischen Psychologismus schlägt und be‐ haupten würde, die objektive Geltung der Logik erkläre sich allein aus ihrer Anwendung. Wie es in der Metakritik heißt, habe Husserl „die Antinomien, in welche der logische Psychologismus mündet, eindringlich und mit viel Autorität dargestellt“ (GS 5/80). Jedoch sei „die Rede vom Ansichsein der Logik streng nicht zulässig“, weil ihre Möglichkeit abhänge „vom Dasein, von Sätzen, mit allem was dies Dasein mit sich führt, so wie umgekehrt die Sätze abhängen von der Logik, der sie genügen müssen, um wahr zu sein. Die formale Logik ist funktionell, kein ideales Sein“ (GS 5/74). Indem Husserl, so der Vorwurf Adornos, der Logik den Charakter des idealen Seins zuspricht, erhebt er sie zur Ontologie. Allein aufgrund dieser Onto‐ logisierung würden die logischen Gesetze dem Erkenntnissubjekt als transzendente, subjektunabhängige Gegebenheiten gegenübertreten. Die Stringenz, die die Logik „im Urteil über Gegenstände gewinnt, 283 Ebd., B 157. 284 Siehe hierzu das Unterkapitel Adornos materialistische Logik, in diesem Buch, S. 178–222.
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schreibt sie sich als reiner Form zu und unterschiebt sich als Ontolo‐ gie“ (GS 5/76).285 Fassen wir den Gedanken als Ganzen: Husserls Auffassung, die logischen Gesetze seien Ausdruck subjektunabhängiger Wahrheiten an sich, beruht nach Adorno auf einer Verdinglichung der Verstan‐ destätigkeit. Diese Verdinglichung bedeute eine Loslösung der logi‐ schen Gesetze vom Kontext ihrer Anwendung; das heißt ihre not‐ wendige Bezogenheit auf einen Urteilsakt wie auf einen Urteilsge‐ genstand werde unterschlagen. Die Logik werde damit zur Ontologie erhoben. Was dem Subjekt schließlich als transzendentes, absolutes Sein gegenübertritt, sei das verdinglichte Bewusstsein selbst. In die‐ sem spezifischen Sinne sei „der logische Absolutismus […], ohne es zu ahnen, von Anbeginn absoluter Idealismus“ (GS 5/74). Diese Verdinglichungskritik an der in den Prolegomena vertretenen Auffas‐ sung über den Charakter der Logik richtet Adorno nun in ähnlicher Weise gegen jene phänomenologische Theorie, mit der Husserl die grundlegende Struktur des Bewusstseins beschreibt: die Theorie der Intentionalität. Mit dem Begriff der Intentionalität versucht Husserl die Eigen‐ heit des Bewusstseins zu fassen, über sich hinauszuweisen auf eine Welt transzendenter Gegenstände. Husserl entwickelt die Theorie der Intentionalität in der V. Untersuchung des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen, die den Titel Über intentionale Erlebnisse und ihre „Inhalte“ trägt. In den Ideen wird eine neue Terminologie in die Theorie eingeführt. Den intentionalen Akt des Bewusstseins, der sich auf einen transzendenten Gegenstand richtet, bezeichnet Husserl dort als Noesis, den intendierten Gegenstand als Noema. Ebenso ist die Rede von einer Wesensbeziehung zwischen Bewusst‐ seinserlebnis und Bewusstseinskorrelat (vgl. Hua 3.1/228). Für uns ist an dieser Stelle entscheidend, dass Husserls Theorie zufolge der transzendente Gegenstand dem Bewusstsein unmittelbar gegeben ist; er stellt kein bloß mentales Konstrukt dar, das nur in der Be‐ wusstseinsimmanenz enthalten wäre. Schon in der V. Logischen 285 Der Vorwurf, Husserl würde die Logik ontologisieren, findet sich bereits bei Rickert. „Die ‚ontologische‘ Tradition ist, wo das Logische noch als ideal Seien‐ des behandelt wird, nicht vollständig genug aufgegeben“. Rickert: Der Gegen‐ stand der Erkenntnis, S. 271. Auch Lukács bemerkt, dass Husserl „letzten Endes das ganze Gebiet der Logik in eine ‚Faktizität‘ höherer Ordnung verwandelt“. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 295.
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Untersuchung bemerkt Husserl, „daß der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden“ (Hua 19/439). Husserl richtet sich damit gegen die Auffassung Kants, wonach uns Gegenstände nur als Erscheinungen gegeben seien, als Dinge an sich aber unerkennbar blieben. Entspre‐ chend heißt es auch in den Ideen: „Das Ding, das Naturobjekt nehme ich wahr, den Baum dort im Garten; das und nichts anderes ist das wirkliche Objekt der wahrnehmenden ‚Intention‘. Ein zweiter immanenter Baum oder auch ein ‚inneres Bild‘ des wirklichen, dort draußen vor mir stehenden Baumes ist doch in keiner Weise gegeben, und der gleichen hypothetisch zu supponieren, führt nur auf Widersinn.“ (Hua 3.1/207f.)
Sowohl in Zur Philosophie Husserls als auch in der Metakritik be‐ schäftigt sich Adorno vornehmlich mit der Intentionalitätstheorie der Ideen. Adornos Ausführungen kreisen in beiden Texten um die Frage, welcher ontologische Status dem von Husserl beschriebenen intentionalen Gegenstand nun tatsächlich zuzusprechen sei.286 Sei‐ ne Antwort ist eindeutig: Entgegen Husserls Beteuerung bleibe der intendierte Gegenstand der Bewusstseinsimmanenz verhaftet und sein scheinhafter Charakter der Transzendenz sei wiederum bloß Ausdruck einer Verdinglichung der Verstandestätigkeit. Bereits in seiner Dissertation kritisiert Adorno Husserls Auffas‐ sung, der transzendente Gegenstand sei dem Bewusstsein unmittel‐ bar gegeben. Diese Kritik lohnt es in den Blick zu nehmen, gerade weil Adorno als Anhänger von Cornelius aus ihr noch gänzlich andere Schlüsse zieht. Schon Cornelius bemerkt, dass für die Be‐ zugnahme auf transzendente Gegenstände stets ein vermittelndes Erlebnis notwendig ist – in Husserls Terminologie: ein intentionaler 286 Diese Frage wird noch in der zeitgenössischen Husserl-Forschung kontrovers diskutiert. Zahavi verweist einerseits auf eine von Føllesdal, Dreyfus, Miller, Smith und McIntyre vertretene Fregeanische Interpretation, der zufolge das Noema als der ideale Sinn der intentionalen Beziehung verstanden werden müsse. Noema und transzendenter Gegenstand seien demnach strikt vonein‐ ander zu unterscheiden. Dem steht die von Sokolowski, Drummond, Hart, Cobb-Stevens und Zahavi selbst vertretene Interpretation gegenüber, der zu‐ folge der transzendente Gegenstand ein Moment des Noemas darstelle, von diesem also nicht ontologisch verschieden sei. Vgl. Zahavi: Husserls Phänome‐ nologie, S. 63–60.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
Akt. Deshalb seien diese Gegenstände jedoch niemals unmittelbar, sondern, wie Cornelius schreibt, „ihrer Natur nach nur mittelbar gegeben“287. Adorno schließt an Cornelius an, wenn er bemerkt, dass Husserl „die Gegebenheit von Dingen […] fälschlich zur unmittelba‐ ren Gegebenheit [macht]“ (GS 1/30). Dementgegen sei intentionales Bewusstsein stets „Bewußtsein von mittelbar gegebenen realen oder idealen Gegenständen“ (GS 1/43). Adorno argumentiert nun, dass Husserls Auffassung von der unmittelbaren Gegebenheit intentiona‐ ler Gegenstände auf eine unzulässige Überschreitung der Bewusst‐ seinsimmanenz zurückzuführen ist. Indem in den Ideen Dinge als „prinzipielle Transzendenzen“ (Hua 3.1/87) charakterisiert werden, stelle Husserl dem Bewusstsein von Anbeginn eine transzendente Welt gegenüber, „die zwar nur in ihrer Bezogenheit auf das Bewußt‐ sein erkenntnistheoretisch legitimiert werden könne, deren Existenz aber nicht durch den Zusammenhang des Bewußtseins konstituiert werde“ (GS 1/17). Dem jungen Adorno zufolge sei „die Rede von einer natürlichen ‚Wirklichkeit‘ […], die unabhängig von Bewußts‐ einszusammenhang besteht, unstatthaft“ (GS 1/54). In Zur Philosophie Husserls wird dieses Urteil nicht mehr gefällt. Im Gegenteil: Wie Adornos nun argumentiert, sei die intentionale Bezugnahme auf transzendente Gegenstände und damit der phä‐ nomenologische Ausbruchsversuch als solcher „scheinhaft im Ur‐ sprung“ (GS 20.1/60). Denn, so Adorno, die phänomenologische Epoché sei die „Voraussetzung der Lehre von der Intentionalität“ (GS 20.1/59).288 Die in der Epoché eingenommene phänomenologi‐ sche Einstellung besteht gerade darin, dass die Geltung aller fakti‐ schen Beziehungen des Bewusstseins auf eine transzendente Welt ausgeschaltet wird. In dieser Einstellung sei, wie Husserl bemerkt, kein Urteil gestattet, „das von der Thesis des ‚wirklichen‘ Dinges, wie der ganzen ‚transzendenten‘ Natur Gebrauch macht, sie ‚mitmacht‘“ (Hua 3.1/209). Die Analyse des reduzierten Phänomens der Wahr‐ nehmung führt nach Husserl darauf, dass die Wahrnehmung „ihren noematischen Sinn, ihr ‚Wahrgenommenes als solches‘ hat, ‚diesen 287 Cornelius: Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 91. 288 Dem entspricht eine Vorbemerkung Husserls, mit der das Kapitel Noesis und Noema in den Ideen eröffnet wird: „[O]hne die Eigenheit transzendentaler Einstellung erfasst und den rein phänomenologischen Boden sich wirklich zugeeignet zu haben, mag man zwar das Wort Phänomenologie gebrauchen, die Sache hat man nicht“. Hua 3.1/200.
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blühenden Baum dort im Raume‘, […] eben das zum Wesen der phä‐ nomenologisch reduzierten Wahrnehmung gehörige Korrelat“ (Hua 3.1/209). Dieses Korrelat sei nicht im Bewusstsein enthalten; sein Charakter der Transzendenz gründe jedoch im Bewusstsein selbst. Die Struktur der Intentionalität erweist sich – so eine einschlägige Formulierung in den Ideen – als „Transzendenz in der Immanenz“ (Hua 3.1/124). Husserls Hinweis, dass das transzendente Moment der Wahrneh‐ mung in der phänomenologischen Einstellung als Sinn des reduzier‐ ten Phänomens zur Geltung kommt, vermag nach Adorno nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der von der Intention gemeinte transzendente Gegenstand dem Bewusstsein im strengen Sinne im‐ manent bleibt. Indem transzendente Gegenstände „zu bloßen ‚Sin‐ nen‘ der singulären Akte gemacht und aus allen Relationen von Raum, Zeit und Kausalität ausgebrochen werden“, werde unabweis‐ bar, dass das „‚leibhafte‘ Objekt, auf welches der Ausbruch zielt, […] ein bloß Mentales“ (GS 20.1/60) sei.289 Den Charakter des bewusstseinstranszendenten Ansichseins erhielten die intendierten Gegenstände allein infolge einer Verdinglichung der Verstandestätig‐ keit. In Zur Philosophie Husserls schreibt Adorno: „Den Schein ihrer Bewußtseinsunabhängigkeit haben sie [die Dinge; T. S.] lediglich dem zu verdanken, daß das einzelne Bewußtseinserlebnis aus den Relationen des Bewußtseinsganzen herauspräpariert und iso‐ liert, der ‚Inhalt‘ des Einzelaktes gegenüber dem synthetischen Bewußt‐ seinszusammenhang verselbständigt, eben der Anteil von ‚Synthesis‘, von ‚Leisten‘ am Objekt unterschlagen wird […]: der größere Realitäts‐ gehalt des Husserlschen Gegenstandsbegriffsgegenüber dem herkömm‐ lich idealistischen ist also lediglich auf ein höheres Maß an Verdingli‐ chung zurückzuführen“. (GS 20.1/59f.)
Hier wiederholt Adorno den bereits gegen Husserls Prolegomena gerichteten Verdinglichungsvorwurf, der sich in der Tat als ein „Zentrum für Adornos Überlegungen“290 erweist. So hatte Adorno argumentiert, dass der Charakter des transzendenten Ansichseins, den Husserl den logischen Gesetzen zuschreibt, Resultat einer Ver‐ 289 Auch Merleau-Ponty bemerkt, dass Husserl das Problem der transzendenten Welt übergehe, indem er „an die Stelle der Welt selbst einen bloßen ‚Sinn Welt“‘ setzt. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 10. 290 Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 360.
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1. Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus
dinglichung der Verstandestätigkeit sei. Unter Bezug auf die Inten‐ tionalitätsstruktur heißt es nun in der Metakritik: Das Noema sei „gegenüber der Noesis Verdinglichung, die sich selbst als ein An sich verkennt“ (GS 5/165). „Nach dem Muster der Sätze an sich konstru‐ iert Husserl nun Dinge an sich“ (GS 5/170). Der Bewusstseinsimma‐ nenz sind diese Dinge keineswegs entraten. Die in den Logischen Untersuchungen beschriebenen logischen Sachverhalte, ebenso wie die intentionalen Gegenstände in den Ideen, seien stattdessen der Ausdruck einer Verdinglichung der Verstandestätigkeit; nur infolge dieser Verdinglichung erhielten sie den Charakter des bewusstsein‐ sunabhängigen Ansichseins. Der Ausbruch aus der idealistischen Bewusstseinsimmanenz sei damit von Husserl nie vollzogen worden. Adornos Darstellung zufolge werde der transzendentale Idealis‐ mus in den Prolegomena noch bekämpft und komme dort nur latent zum Ausdruck. Mit der Methode der phänomenologischen Reduk‐ tion in den Ideen erhalte dieser Idealismus hingegen schärfere Kon‐ turen. Schließlich weiche die antiidealistische Auffassung, dass die transzendente Wirklichkeit nicht durch das Bewusstsein konstituiert wird, einer Forderung nach umfassender Immanenz, die in den Car‐ tesianischen Meditationen unmissverständlich ausgesprochen werde. Husserls darin entwickelte Konzeption einer transzendentalen Sub‐ jektivität zeigt nach Adorno, dass „nichts mehr denkbar ist, was die‐ ser Subjektivität nicht untertan und im strengsten Sinne ihr Besitz wäre“ (GS 20.1/52f.). Adorno mag sich dabei auf folgende Stelle in den Cartesianischen Meditationen beziehen: „Transzendenz in jeder Form ist ein innerhalb des ego sich konstituie‐ render Seinssinn. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der trans‐ zendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden. Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht, […] ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen Konkretion der transzendentalen Subjektivität.“ (Hua 1/117)
Die Herausbildung einer derartigen Konzeption der transzendenta‐ len Subjektivität begreift Adorno als notwendigen Schritt in der Fortentwicklung der Phänomenologie. Diese Konzeption sei der Be‐ leg dafür, dass Husserls Denken dem Idealismus von Anfang an
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verhaftet war. „Die Heimkehr zum transzendentalen Idealismus“, so Adorno, sei „gefordert von der Not eben der Begriffe, mit welchen Husserl auf der Höhe seiner Wirksamkeit dem herrschenden Idea‐ lismus in seinen psychologistischen und konstruktiv-aprioristischen Repräsentanten entgegentrat“ (GS 20.1/67). Im Weiteren wird für uns der folgende Gedanke zentral sein: Nach Adorno behalte die transzendentale Subjektivität bei Husserl nur scheinbar das letzte Wort. Indem die Aporie der Erkenntnistheorie in seiner Phänomenologie zur Entfaltung gelangt, werde der Primat des Bewusstseins, den Adorno als das zentrale Motiv des Idealismus beschrieben hatte, untergraben. Husserls „Zentralbegriffe“, so Adorno, „sind aporetische allesamt“ (GS 20.1/49). Adorno versucht eine Bewe‐ gung dieser Begriffe sichtbar zu machen, die den „Weg zur Liquidation des aporetischen Grundbegriffes, der transzendentalen Subjektivität“ (GS 20.1/88) eröffnet und damit die immanente Überschreitung des Idealismus ermöglicht. Diese von Adorno beschriebene Bewegung, die ich als die Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie bezeichne, gilt es im Folgenden zu rekonstruieren.
2. Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie Nach Adorno entfaltet sich die Aporie der Erkenntnistheorie in Hus‐ serls Phänomenologie ab dem Punkt, an dem Husserls versucht, die Idealität der logischen Gesetze erkenntnistheoretisch zu fundieren. Dies geschieht in Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, dem zweiten Band der Logischen Untersuchungen, der nach Husserl die „erkenntnistheoretische, bzw. phänomenologi‐ sche Grundlegung der reinen Logik“ (Hua 19/7) zur Aufgabe hat. Genauer geht es um „eine Sicherung und Klärung der Begriffe und Gesetze, die aller Erkenntnis objektive Bedeutung und theoretische Einheit verschaffen“ (Hua 19/7). Nachdem Husserl in den Prolego‐ mena zu dem Ergebnis gelangt war, dass die logischen Gesetze subjektunabhängige Wahrheiten an sich seien, soll nun die Frage beantwortet werden, „wie es denn zu verstehen sei, daß das ‚an sich‘ der Objektivität zur ‚Vorstellung‘, ja in der Erkenntnis zur ‚Erfassung‘ komme, also am Ende doch wieder subjektiv werde“ (Hua 19/12f.). Dieser Frage widmet sich die VI. Untersuchung des zweiten Bandes in besonderem Maße. Sie trägt den Titel Elemente einer Phänomeno‐
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2. Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie
logischen Aufklärung der Erkenntnis und enthält Husserls Theorie der kategorialen Anschauung. Die Kritik der kategorialen Anschauung ist eines der Hauptanlie‐ gen, das Adorno in seiner während des Oxforder Exils geführten Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie verfolgt. Wie er an Benjamin schreibt, steht „die Analyse der kategorialen An‐ schauung als einer hypostasierten Aporie des Idealismus“291 im Zen‐ trum der geplanten Husserl-Arbeit. Auch gegenüber Horkheimer spricht Adorno von einem geplanten Hauptkapitel über kategoriale Anschauung, das den folgenden Gedanken zur Darstellung bringen soll: „Im Zentrum steht immer mehr die Konzeption des ‚aporetischen Be‐ griffs‘, d.h. daß die gesamten Begriffe der idealistischen Erkenntnistheo‐ rie nicht sowohl Ausdruck irgend realer Verhaltensweisen des ‚Geistes‘ sind als vielmehr Ausdruck der Widersprüche, in die sich das Denken zwangsläufig verwickelt, indem es versucht, Realität aus sich zu entwi‐ ckeln“.292
Die angekündigte Darstellung findet sich schließlich im zweiten Ka‐ pitel von Zur Philosophie Husserls. Dort wird unmissverständlich ausgesprochen, was die Formulierungen aus den Briefwechseln be‐ reits andeuten: der in Adornos Augen aporetische Charakter der ka‐ tegorialen Anschauung. Diese sei geradezu „der aporetische Begriff κατ' ἐξοχήν“ (GS 20.1/68). Die kategoriale Anschauung bilde den Ausgangspunkt für die Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie in Husserls Phänomenologie. Die Entwicklung der Phänomenologie beschreibt Adorno daraufhin als einen Prozess, in dem sich die Apo‐ rie fortwährend reproduziert. In der „prozessuale[n] Entfaltung der idealistischen Erkenntnistheorie“, so Adorno, sei „keine Korrektur eines Fehlers […] möglich, die nicht einen neuen Fehler notwendig setzte“ (GS 20.1/84). Indem dieser Prozess zur Darstellung gebracht und damit sichtbargemacht wird, beansprucht Adorno den Idealis‐ mus immanent zu durchbrechen. In Hinblick auf diese Darstellung gilt es einige Bemerkungen zu Adornos methodischem Vorgehen voranzuschicken. 291 Brief Adornos an Benjamin vom 28.5.1936. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 179. 292 Brief Adornos an Horkheimer vom 30.10.1936. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 208.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
Zwischenbemerkung: Die Frage nach der Dialektik
Der Prozess der Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie wird von Adorno als ein dialektischer Prozess beschrieben. Die Bahn, die Husserls Ausbruchsversuch aus dem Idealismus nehme, sei „eine dialektische von Anbeginn, trotz allen Hasses gegen Hegel und die dialektische Methode“ (GS 20.1/57). Die Frage, welche Rolle der Dialektik in Adornos Auseinandersetzung mit Husserl zukommt, verlangt eine differenzierte Beantwortung. Sommer hat überzeugend dargelegt, dass die theoretische Rechtfertigung des vollendeten Kon‐ zepts einer negativen Dialektik in Adornos Spätwerk „beinahe aus‐ schließlich über die Auseinandersetzung mit Hegel [verläuft]“293. Geht es um Adornos Arbeiten über Husserl und die in ihnen entfal‐ tete Dialektik, trifft dieses Urteil nicht zu. Hierfür möchte ich zwei Argumente angeben. Das eine Argument ist ein werkgeschichtliches. Adorno beginnt verhältnismäßig spät, sich intensiv mit Hegel zu befassen. Wie er in einer Vorlesung bemerkt, habe er „in einer Zeit, in der mir sel‐ ber Hegel noch ungemein fremd war, sozusagen auf eigene Faust die Dialektik entdeckt in der Notwendigkeit, einem Denken mich zu stellen, dessen Unzulänglichkeit mir […] evident war“ (NaS IV 9/264). Das Denken, von dem Adorno hier spricht, ist das seines Lehrers Cornelius. In der kritischen Auseinandersetzung mit dessen Immanenzphilosophie habe er gelernt „aus dem Zwangsmechanis‐ mus eines in sich geschlossenen Denkens herauszukommen, […] indem man dieses Denken von innen her durchbricht, als ob man ihm von innen her seine Forderungen präsentiert“ (NaS IV 9/264). Der Sache nach beschreibt Adorno hier das philosophische Verfah‐ ren der immanenten Kritik. Sie unternimmt es, die inneren Wider‐ sprüche eines Gegenstandes offenzulegen, indem gezeigt wird, dass dieser seine eigenen Forderungen nicht zu erfüllen vermag. Auch in der Auseinandersetzung mit Husserl kommt dieses Verfahren zur Anwendung. So schreibt Adorno am 25. Februar 1935 an Horkhei‐ mer, dass sein geplantes Husserl-Buch den Versuch darstellt, „die immanenten Widersprüche der Phänomenologie bis zur Selbstauflö‐ sung zu treiben, also gleichsam die undialektischste aller Philosophi‐ 293 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 28.
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2. Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie
en […] durchzudialektisieren“294. Auch wenn Adorno die immanente Kritik später häufig mit Hegel in Verbindung bringen wird,295 ent‐ wickelt er das Verfahren offenbar nicht in der direkten Auseinander‐ setzung mit Hegel. Am 2. August 1938, also etwa ein Jahr nach der Abfassung von Zur Philosophie Husserls, ist Adorno mit einer Über‐ arbeitung des Textes beschäftigt und berichtet Benjamin von seiner Lektüre der Wissenschaft der Logik: „Sie werden einen Reflex davon im Husserl finden.“296 Diese Formulierung drückt griffig aus, wie sich Husserl-Rezeption und Hegel-Rezeption bei Adorno zueinander verhalten. Während die Husserl-Rezeption Anfang der zwanziger Jahre einsetzt, intensiviert sich die Beschäftigung mit Hegel erst zu einem Zeitpunkt, als Adorno seine zentralen Thesen über Husserls Phänomenologie bereits entwickelt hat.297 Erstes Zeugnis dieser in‐ 294 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 56. 295 So auch in der Einleitung der Metakritik, dem wohlgemerkt zuletzt verfass‐ ten Text des Buches. Wie Adorno dort schreibt, opponiert immanente Kritik „nicht sowohl der Phänomenologie durch einen dieser äußerlichen und frem‐ den Ansatz oder ‚Entwurf ‘, als daß sie den phänomenologischen mit seiner eigenen Kraft dorthin treibt, wohin er um keinen Preis möchte, und ihm mit dem Geständnis der eigenen Unwahrheit Wahrheit abnötigt.“ GS 5/14. Daraufhin wird eine Passage aus Hegels Wissenschaft der Logik zitiert: „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst angreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht.“ Zit. n. GS 5/14. Sie findet sich in: G.W.F Hegel: Wissenschaft der Logik II, Werke in 20 Bänden, Bd. 6, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 250. 296 Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 345f. 297 Ich rede bewusst von einer Intensivierung der Beschäftigung mit Hegel, weil ich keinesfalls den Eindruck erwecken möchte, dass Hegel für Adorno erst En‐ de der dreißiger Jahre an Bedeutung gewinnt. So zeugt die Habilitationsschrift Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, die erstmals 1933 erschien, von Adornos früher Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes. Schon Benjamin bemerkte in einer Rezension: „In diesem Buch liegt viel auf engem Raum. Leicht möglich, daß die späteren des Verfassers einmal aus diesem hier entspringen werden.“ Walter Benjamin: „Kierkegaard. Das Ende des philosophischen Idealismus“, Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 380– 383, hier S. 383. Auf die Bedeutung des Buches für Adornos Konzeption einer negativen Dialektik wurde in der Forschung hingewiesen. Vgl. Lore Hühn u. Philipp Schwab: „Intermittenz und ästhetische Konstruktion: Kierkegaard“, in: Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm (Hgg.): AdornoHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 325–334.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
tensivierten Beschäftigung ist der 1957, also ein Jahr nach der Meta‐ kritik veröffentlichte Text Aspekte der Hegelschen Philosophie, der später in die Drei Studien zu Hegel eingeht.298 Das zweite Argument stützt sich auf eine geschichtsphilosophi‐ sche These Adornos. Adorno hatte die transzendentale Phänomeno‐ logie bereits in der Antrittsvorlesung von 1931 als die konsequenteste Gestalt des Idealismus charakterisiert und Husserl das Verdienst zugeschrieben, den Idealismus „von jedem spekulativen Zuviel gerei‐ nigt und ihn auf das Maß der höchsten ihm erreichbaren Realität gebracht“ (GS 1/328) zu haben. Wer das Programm einer Über‐ schreitung des Idealismus durch immanente Kritik verfolgt, müsse sich folglich an dessen gegenwärtiger Gestalt abarbeiten. Das sei, wie Adorno gegenüber Horkheimer deutlich macht, nicht die Philo‐ sophie Hegels, sondern Husserls transzendentale Phänomenologie: „Aber daß man es heute im Idealismus nicht mehr mit Hegel, sondern eben mit Husserl zu tun hat, das liegt nicht nur in der Konsequenz des Verfalls des bürgerlichen Denkens, sondern auch in der des Schick‐ sals der Hegelschen Philosophie selber. So fraglos der Vorrang Hegels über alle spätere bürgerliche Philosophie ist, so wenig kann doch deren Kritiker auf einen rekonstruieren Hegel sich beziehen. Die Hegelsche Bewegung des Gedankens ist nun einmal, als philosophiehistorische Wirklichkeit gesehen, die, welche zur phänomenologischen Katastrophe führte. Allein der Gedanke, heute etwa zur Kritik des Idealismus eine Hegelkritik zu schreiben, hätte ein Moment der – im Hegelschen Sinne – ‚Abstraktheit“‘.299
Auch in Zur Philosophie Husserls wird diese These ausgesprochen. Zwar sei Husserl gegenüber Hegel, „gleich allen nachgeborenen bür‐ gerlichen Denkern, zurückgeblieben“, weil er die „Einsicht vom prin‐ zipiell aporetischen Charakter der erkenntnistheoretischen Begriffe […] explizit nicht vollzogen“ (GS 20.1/85) habe. „Zugleich aber ist er fortgeschritten im Sinne des fortschreitenden Zerfalls. […] Seine idealistischen Aporien bedrohen den Idealismus“ (GS 20.1/85). Will man der Dialektik in Adornos Husserl-Arbeiten auf die Schliche kommen, ist Hegel also nicht der erste Ansprechpartner. Anstatt alle Stellen zusammenzutragen, an denen Adorno über Hegels Dialektik 298 Vgl. Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 5)“, S. 386. 299 Brief Adornos an Horkheimer vom 19.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 452.
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2. Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie
spricht, ist es ergiebiger, zu fragen, wie sich dialektische Widersprü‐ che Adorno zufolge in Husserls Phänomenologie artikulieren. Wie Adorno in Zur Philosophie Husserls bemerkt, sei es das Spe‐ zifische der Phänomenologie, dass sie „ihre immanente Dialektik ab‐ bricht“ (GS 20.1/86). Wird Dialektik mit Adorno als eine begriffliche Bewegung gefasst, die sich immanent, das heißt in den philosophi‐ schen Begriffen selbst ereignet, weil ein Begriff seinem eigenen Sinn nach auf seinen Gegenbegriff verweist, so werde diese Bewegung von Husserl stillgestellt. Der Grund für die Stillstellung der Dialek‐ tik ist nach Adorno in Husserls phänomenologischem Ansatz zu suchen. Weil Husserls positivistische Grundhaltung es fordert, alle Gegenstände der Erkenntnis in unmittelbarer Anschauung auszu‐ weisen, werden diese Gegenstände „aus den Relationen des Bewußt‐ seinsganzen herauspräpariert und isoliert“ und dadurch „der Anteil von ‚Synthesis‘, von ‚Leisten‘ am Objekt unterschlagen“ (GS 20.1/59). Die Isolierung der Erkenntnisgegenstände führe dazu, dass deren dialektische Selbstbewegung sich im Verborgenen ereignet. Infolge‐ dessen artikuliere sich die Dialektik in der Paradoxie, die Adorno als „das eingefrorene Zerrbild der Dialektik“ (GS 5/123) bezeichnet; Husserls Phänomenologie sei als ein Denken zu charakterisieren, „das anstelle von Dialektik einzig über deren statisches Surrogat, die Paradoxie, verfügt“ (GS 20.1/70). Aus dem Gesagten ergibt sich folgende Sachlage: Einerseits ver‐ wehre sich Husserl dem Versuch einer einseitigen Auflösung der Aporie der Erkenntnistheorie, wie dies in je gegensätzlicher Weise in positivistischer und idealistischer Immanenzphilosophie geschieht. Weil seine phänomenologische Methode aber auch die dialektische Dynamisierung der Aporie verunmögliche, versuche Husserl „die divergenten Motive zur paradoxen Einheit zu verschmelzen“ (GS 20.1/68). Die Theorie der kategorialen Anschauung sei Ausdruck dieses Versuchs. Weil der Versuch misslinge, reproduziere sich die Aporie und komme in stets neuen begrifflichen Konzeptionen zum Ausdruck. Weil der phänomenologische Ansatz, so Adorno, „auf Widersprüche führt, wird in strenger Abfolge zur Korrektur der Widersprüche ein Begriff nach dem anderen erfunden, einer aus dem anderen entwickelt, während doch keiner der ‚Sache‘ näher kommt als der erste“ (GS 20.1/84). Dieser Prozess sei der Willkür entrückt. Die phänomenologischen Widersprüche seien solche, in
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
die die idealistische Erkenntnistheorie „notwendig sich verwickelt“ (GS 20.1/99). Im Folgenden werde ich ausgehend von Husserls Theorie der kategorialen Anschauung darlegen, wie sich die Aporie der Erkennt‐ nistheorie Adornos Darstellung zufolge in der Wesenslehre der Ideen reproduziert und schließlich zur fundamentalen Bedrohung für die idealistische Konzeption der transzendentalen Subjektivität wird, wie Husserl sie in den Cartesianischen Meditationen entwirft. Wenn ich diesen Prozess im Folgenden zur Darstellung bringe, halte ich mich in erster Linie an Adornos Ausführungen in Zur Philosophie Husserls. Dass dabei von Dialektik kaum die Rede sein wird, ist die‐ sen Ausführungen selbst geschuldet. Zwar fasst Adorno den Prozess als einen dialektischen, insofern er zu zeigen beansprucht, dass Hus‐ serls Begriffe stets auf Widersprüche führen und zur Entwicklung neuer Begriffe nötigen. Allerdings sind Stellen, an denen Adorno diese Dialektik beim Namen nennt, äußerst selten.300 Adorno macht sich, wie auch Gehring feststellt, „den Gedanken eines indirekten Vorgehens zu eigen, das bei der Beschreibung von Paradoxien ein‐ setzt.“301 Wie Husserls „Dialektik wider Willen“ (GS 5/117) näher zu bestimmen ist und auf welche Weise Adornos Konzeption einer negativen Dialektik an diese anschließt, werde ich im letzten Kapitel dieses Buches zeigen.302
I. Kategoriale Anschauung
a. Erweiterung der Anschauung Zunächst ist es nötig, die für Adornos Interpretation zentralen Ele‐ mente der Theorie der kategorialen Anschauung einzuführen – frei‐ lich ohne diese vielschichtige Theorie Husserls umfassend darstellen zu können.303 Husserls Theorie der kategorialen Anschauung wur‐ 300 301 302 303
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Es sind vier an der Zahl. Vgl. GS 20.1/57, 70, 81, 86. Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 363. Siehe hierzu das Unterkapitel Negative Dialektik, in diesem Buch, S. 222–257. Weiterführend sei hier auf den bereits zitierten Text von Lohmar verwiesen. Vgl. Lohmar: „Kategoriale Anschauung (VI. Logische Untersuchung, §§ 40– 66)“. Eine einflussreiche Darstellung der Theorie der kategorialen Anschauung
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de von Anbeginn kontrovers diskutiert,304 war jedoch von großer philosophischer Tragweite, als Husserl eine besondere Variante der kategorialen Anschauung herausstellt, die er ideierende Abstrakti‐ on nennt und später mit dem berühmt gewordenen Terminus We‐ sensschau umschreibt. Gleich zu Beginn des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen führt Husserl eine erkenntnistheoretische Grundannahme der Theorie der kategorialen Anschauung ein, die nach Walter Ehrlich „die ganze Methodik der Phänomenologie im Keime“305 enthält: „Die logischen Begriffe als geltende Denkeinheiten müssen ihren Ur‐ sprung in der Anschauung haben; sie müssen durch ideierende Abstrak‐ tion auf Grund gewisser Erlebnisse erwachsen und im Neuvollzuge dieser Abstraktion immer wieder neu zu bewähren, in ihrer Identität mit sich selbst zu erfassen sein.“ (Hua 19/10)
Hier wird eine Erweiterung des herkömmlichen, nur auf sinnliche Anschauung bezogenen Anschauungsbegriffs deutlich, denn Husserl geht davon aus, dass nicht nur sinnliche Gegenstände, sondern auch logische Begriffe in der Anschauung gegeben sein können. Diese be‐ sondere Variante der kategorialen Anschauung nennt Husserl ideie‐ rende Abstraktion. In ihr „ist uns das Allgemeine selbst gegeben; wir denken es nicht in bloß signifikativer Weise, wie im Falle des bloßen Verständnisses allgemeiner Namen, sondern wir erfassen es, wir er‐ schauen es.“306 Husserl spricht deshalb auch von der „Wahrnehmung des Allgemeinen“ (Hua 19/691) oder von der „allgemeinen Anschau‐ findet sich bei Tugendhat. Vgl. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 107–136. 304 Solche Kontroversen fasst Lohmar zusammen: „Husserls Theorie der katego‐ rialen Anschauung gilt als schwierig. Einige Kritiker empfinden sie zudem als dunkel oder halten sie sogar für verfehlt. Manche Kritiker behaupten sogar, es gebe so etwas wie kategoriale Anschauung gar nicht. Manchmal wird auch vermutet, dass Husserl seine Lehre von der kategorialen Anschauung später ganz aufgegeben habe.“ Lohmar: „Kategoriale Anschauung (VI. Logische Un‐ tersuchung, §§ 40–66)“, S. 210. 305 Walter Ehrlich: Kant und Husserl. Kritik der transzendentalen und der phäno‐ menologischen Methode, Halle 1923, S. 56. 306 Husserl unterscheidet verschiedene Allgemeinheiten, die sich aus unterschied‐ lichen Arten der Abstraktion ergeben. „Farbe, Haus, Urteil, Wunsch sind rein sinnliche Begriffe, Farbigkeit (Farbig-sein), Tugend, Parallelenaxiom u. dgl. sind kategorial vermischte, Einheit, Mehrheit, Beziehung, Begriff sind rein kate‐ goriale.“ Hua 19/713.
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ung“ und fügt hinzu, dass dieser Ausdruck „manchem freilich nicht besser klingen wird als hölzernes Eisen“ (Hua 19/690). Angesichts dieser in der begrifflichen Konstruktion liegenden Paradoxie, auf die Husserl hier selbst hinweist, drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis von sinnlicher und kategorialer Anschauung von Husserl bestimmt wird. Husserl zufolge besteht zwischen sinnlichen und kategorialen Ak‐ ten ein einseitiges Fundierungsverhältnis, insofern letztere letztlich immer in ersteren fundiert seien müssen, das heißt ein ursprüngli‐ cher Akt sinnlicher Anschauung nötig ist, auf den eine erste katego‐ riale Anschauung aufbauen kann. Während uns in der sinnlichen Anschauung reale Gegenstände „in einem Schlage“ (Hua 19/676) gegeben sind, werden diese in der kategorialen Anschauung aufein‐ ander bezogen.307 Dadurch entsteht eine „in eigentümlicher Weise modifizierte Gegenständlichkeit“ (Hua 19/714), auf die sich weitere kategoriale Akte beziehen können, die dann keine sinnlichen Ele‐ mente in sich enthalten. Es bestehe also die Möglichkeit, „kategoriale Anschauungen selbst wieder zu Fundamenten neuer kategorialer Anschauungen zu machen“ (Hua 19/712). Doch worin besteht diese modifizierte Gegenständlichkeit? Ausdrücklich wendet sich Husserl gegen die idealistische These, die kategorialen Formen würden die sinnlichen Gegenstände allererst konstituiert. „Die kategorialen For‐ men leimen, knüpfen, fügen die Teile nicht zusammen, daß daraus ein reales, ein sinnlich wahrnehmbares Ganzes würde“, denn dann wäre das „beziehende und verknüpfende Denken und Erkennen […] nicht Denken und Erkennen dessen, was ist, sondern fälschendes Umgestalten in ein anderes“ (Hua 19/715). Die neuen Gegenstände seien also „nicht Gegenstände im primären und ursprünglichen Sin‐ ne“ (Hua 19/715). Vielmehr bringt es die Erweiterung des Anschau‐ ungsbegriffs mit sich, ein gegenständliches Korrelat kategorialer Ak‐ te anzunehmen, durch das kategoriale Formen nicht bloß gedacht,
307 Husserl nennt das Beispiel „dieses Papier ist weiß“. Hua 19/660. In diesem Ur‐ teil sind uns das Papier und die weiße Farbe durch sinnliche Anschauung gege‐ ben. Die Prädikation als kategoriale Form ist uns hingegen durch kategoriale Anschauung gegeben, die wiederum in den Akten der sinnlichen Anschauung fundiert ist. Kategoriale Formen können durch „Formworte wie „das, ein, eini‐ ge, viele, wenige, zwei, ist, nicht, welches, und, oder usw. ausgedrückt werden“. Hua 19/658.
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sondern als ideale Gegenstände anschaulich gegeben werden. So sei es unvermeidlich, „jeden erfüllenden Akt überhaupt als Anschauung und sein intentiona‐ les Korrelat als Gegenstand zu bezeichnen. In der Tat können wir auf die Frage, was das heißt, die kategorial geformten Bedeutungen fänden Erfüllung, sie bestätigen sich in der Wahrnehmung, nur antworten: es heißt nichts anderes, als daß sie auf den Gegenstand selbst in seiner kategorialen Formung bezogen seien. Der Gegenstand mit diesen kate‐ gorialen Formen sei nicht bloß gemeint, wie im Falle einer bloß symbo‐ lischen Funktion der Bedeutungen, sondern er sei uns in eben diesen Formen selbst vor Augen gestellt; mit anderen Worten: er sei nicht bloß gedacht, sondern eben angeschaut bzw. wahrgenommen.“ (Hua 18/671)
Ungeachtet der Möglichkeit, dass kategoriale Akte sich auf ideale Gegenstände beziehen und damit alles Sinnliche aus sich ausschlie‐ ßen, liegt es nach Husserl „in der Natur der Sache, daß letztlich alles Kategoriale auf sinnlicher Anschauung beruht, ja daß eine kategoriale Anschauung, also eine Verstandeseinsicht, ein Denken im höchsten Sinne, ohne fundierende Sinnlichkeit ein Widersinn ist“ (Hua 19/712). Wir sehen, dass sich sinnliche und kategoriale Anschauung weder gänzlich voneinander ablösen noch ineinander auflösen lassen.308 Bevor ich mich Adornos Darstellung der Theorie der kategoria‐ len Anschauung zuwende, ist es sinnvoll, Husserls Konzeption in ein Verhältnis zu den beiden von Adorno beschriebenen Gegenpo‐ len innerhalb der modernen Erkenntnistheorie zu setzen. Wir erin‐ nern uns: Die positivistische Immanenzphilosophie von Avenarius und Mach ging davon aus, dass alle Erkenntnisformen auf letzte sinnliche Elemente, auf Empfindungen reduzierbar seien. Diese sei‐ en die „Weltelemente“.309 Der idealistischen Immanenzphilosophie der Neukantianer lag wiederum die entgegengesetzte Auffassung zugrunde. Noch die Formen der sinnlichen Anschauung müssten 308 Dieser Aspekt der Theorie der kategorialen Anschauung wird von Lohmar hervorgehoben. „Ohne den Vollzug der fundierenden Wahrnehmungsakte wä‐ re kategoriale Anschauung […] nicht möglich. Kat. Anschauung geht jedoch auch nicht in der Summe der fundierenden Wahrnehmungen auf. Sie richtet sich in einem umfassenden Akt synthetisch auf die schlicht intendierten Ge‐ genstände und stellt einen neuen Zusammenhang her.“ Lohmar: „Kategoriale Anschauung (VI. Logische Untersuchung, §§ 40–66)“, S. 213. 309 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. S. 23.
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aus dem reinen Denken als dem ersten Prinzip der Erkenntnis abge‐ leitet werden. Das Denken dürfe, wie es bei Cohen heißt, „keinen Ursprung haben, außerhalb seiner selbst“.310 Die Theorie der kate‐ gorialen Anschauung widerspricht beiden Auffassungen und deutet zugleich auf ihre Vereinigung hin. Gegen die positivistische Imma‐ nenzphilosophie verteidigt Husserl die Apriorität und Reinheit kate‐ gorialer Formen, denn es gebe solche Erkenntnisformen, die nichts Sinnliches in sich enthalten. Anderseits seien diese Erkenntnisfor‐ men letztlich immer in Gegenständen der sinnlichen Anschauung fundiert und können deshalb nur anschaulich ausgewiesen werden. b. Paradoxe Vereinigung Die Aporie der Erkenntnistheorie, an der positivistische und idea‐ listische Immanenzphilosophie scheitern, wird nach Adorno durch Husserls Theorie der kategorialen Anschauung artikuliert, indem diese die unauflösliche Verschränkung sinnlicher und kategorialer Momente in den Erkenntnisformen bezeugt. Anstatt die Aporie zu‐ gunsten einer der beiden Seiten aufzulösen, ziele Husserl auf eine paradoxe Vereinigung der Momente. Dieser Gedanke erhält seine bündigste Gestalt in Husserl and the Problem of Idealism. Adorno weist dort auf das durch die Aporie der Erkenntnistheorie bedingte Scheitern einer jeden prima philosophia hin, wenn er schreibt, „that the sphere of the factual and the sphere of thought are involved in such a way that any attempt to separate them altogether and to reduce the world to either of those principles is necessarily doomed to failure“ (GS 20.1/126). Der Anspruch der IV. Untersuchung Hus‐ serls bestehe nun gerade darin, die Trennung der Sphäre des reinen Denkens von der des Faktischen zu überbrücken. „It is actually supposed to provide that ‚bridge‘ between the ideal an the real“ (GS 20.1/126). Deshalb führe die Theorie der kategorialen Anschauung „into the very center of the problem of idealism in Husserl’s philos‐ ophy“ (GS. 20.1/127). Kategoriale Anschauung sei der Versuch, die gegensätzlichen Motive der Phänomenologie – das idealistische, das von der Apriorität und Reinheit kategorialer Formen ausgeht, und das positivistische, das die anschauliche Ausweisung dieser Formen fordert – zu vereinen: 310 Cohen: Logik der reinen Erkenntniss, S. 11.
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„Categorial intuition is the deus ex machina in Husserl’s philosophy, by which it tries to reconcile the contradictory motives of his philosophy, namely, his desire to save the absolute objectivity of truth and his accep‐ tance of an imperative need of positivistic justification.“ (GS 20.1/129)
Es gilt zu klären, wie sich Husserls Versuch einer Vereinigung der beiden Motive in Adornos Augen vollzieht. Adornos These lautet, dass Husserl die Aporie der Erkenntnistheorie zu beheben versucht, indem er diese auf den positiven Begriff bringt. Kategoriale Anschauung sei dieser Begriff. Seine Funktion bestehe darin, „die divergenten Motive zur paradoxen Einheit zu verschmelzen“ (GS 20.1/68). In diesem Sinne sei er – wie im obigen Zitat ausgesprochen – der deus ex machina der Phänomenologie, der entwickelt wur‐ de, um „die phänomenologischen Antinomien zu beheben, indem die Leistung des Paradoxen zum positiven Wesen erhoben wird“ (GS 20.1/68). Denn um das Ansichsein der logischen Gesetze zu wahren, müsse Husserl diese von der Konstitutionsleistung des Den‐ kens fernhalten und gleichzeitig einen Erkenntnisakt aufzeigen, in dem deren objektive Geltung unmittelbar einsichtig wird. Dieser Erkenntnisakt sei die kategoriale Anschauung: „Husserl erblickt hier die vérités de raison, die Sätze an sich, die reinen Geltungseinheiten; dort die rechtsausweisende Bewußtseinsimmanenz, das Bereich der Gegebenheiten, der Erlebnisse. Beide sind durch den Sprung getrennt, der die gesamte Phänomenologie durchzieht: jene sind ‚Wesen‘, diese ‚Tatsachen‘. Zwischen ihnen waltet keine Relation, als daß die vérités de raison in faktischen Erlebnissen ‚gemeint‘ werden. Den Sprung nun sucht Husserl dergestalt zu schließen, daß er sich bemüht herauszuarbeiten, die Intention führe auf die vérités als solche, ohne sie im mindesten zu subjektivieren und relativieren: ihr An sich soll erscheinen, sie sollen nicht in subjektiver Reflexion erzeugt, son‐ dern selbstgegeben und anschaulich sein, aber auch nicht den Tribut des bloß Faktischen und Zufälligen entrichten, den die ‚schlichte‘, sinn‐ liche Anschauung schuldet.“ (GS 20.1/69f.)
Weil Husserls logischer Absolutismus das von aller Denkfunktion unabhängige Ansichsein der logischen Gesetze behauptet, erzwin‐ ge dieser die Theorie der kategorialen Anschauung. Deren Kern besteht nach Adorno in der Annahme, dass „‚Wahrheiten an sich‘, objektiv vorgegebene doch ideale Tatbestände, einsichtig werden
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im ‚bloßen Hinblick‘“ (GS 20.1/68).311 Damit diese intendierte er‐ kenntnistheoretische Fundierung der reinen Logik gelingen könne, die logischen Gesetze also in der Anschauung einsichtig werden, sei es nötig, ihnen „jenen Charakter unmittelbarer Gegebenheit zu vindizieren, der dem Positivisten Husserl für die einzige Rechtsquelle der Erkenntnis gilt, und sie dem Bereich zweifelhaf‐ ter, abgeleiteter Reflexion zu entwinden“ (GS 20.1/68). Wodurch erhalten die logischen Gesetze nach Adorno den Charakter un‐ mittelbarer Gegebenheit? Aus Adornos Kritik der Prolegomena ist uns die These bekannt, dass der gegenständliche Charakter, den Husserl den logischen Ge‐ setzen zuspricht, Ausdruck einer Verdinglichung der Verstandestä‐ tigkeit sei. Diese Verdinglichungskritik richtet Adorno nun ebenfalls gegen Husserls Theorie der kategorialen Anschauung. So resultiere der Charakter der unmittelbareren Gegebenheit der logischen Ge‐ setze in der kategorialen Anschauung aus der Verdinglichung der in einem Urteil enthaltenen kategorialen Form. Adorno stützt seine These auf folgende Passage der VI. Untersuchung: „Wie nun der Begriff sinnlicher Gegenstand (Reales) nicht durch ‚Re‐ flexion‘ auf die Wahrnehmung entspringen kann, weil dann eben der Begriff Wahrnehmung, oder ein Begriff von irgendwelchen realen Kon‐ stituentien von Wahrnehmung resultierte, so kann auch der Begriff Sachverhalt nicht aus der Reflexion auf Urteile entspringen, weil wir 311 Dieser Auffassung Adornos wurde bereits früh von Kaufmann widersprochen, der in seiner 1940 erschienen Rezension zu Husserl and the Problem of Idea‐ lism bemerkt, dass Adorno das dynamische Moment in Husserls Theorie der kategorialen Anschauung vernachlässige. „Adorno is inclined to overstress the static, passivistic and seemingly dogmatic features in Husserl’s theory of knowledge. As a matter of fact, while the dynamic trend becomes more and more outspoken in Husserl’s later development, the very key to his position is given, from the beginning, in the relation between intention and fulfilment and its dynamic implications.“ Kaufmann: „‚Husserl and the Problem of Ideal‐ ism’ by Th. W. Adorno“, S. 124. Adorno selbst gründet seine Auffassung auf eine Formulierung der Prolegomena zur reinen Logik, durch die er die Theorie der kategorialen Anschauung vorbereitet sieht: „Mag sich, wer in der Sphäre allge‐ meiner Erwägungen stecken bleibt, durch die psychologistischen Argumente täuschen lassen. Der bloße Hinblick auf irgend eines der logischen Gesetze, auf seine eigentliche Meinung und die Einsichtigkeit, mit der es als Wahrheit an sich erfaßt wird, müßte der Täuschung ein Ende machen.“ Hua 18/75, zit. n. GS 20.1/68.
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dadurch nur Begriffe von Urteilen oder von realen Konstituentien von Urteilen erhalten könnten.“ (Hua 19/669)312
So zeigt sich, dass kategoriale Formen – hier: der Sachverhalt – nach Husserl nicht aus der Reflexion auf Urteile entspringen, womit er sich gegen einen zentralen Gedanken Kants richtet.313 Diese Auffas‐ sung tritt in einer anderen Formulierung der VI. Untersuchung noch deutlicher hervor: „Nicht in der Reflexion auf Urteile oder vielmehr auf Urteilserfüllungen, sondern in den Urteilserfüllungen selbst liegt wahrhaft der Ursprung der Begriffe Sachverhalt und Sein (im Sinne der Kopula); nicht in diesen Akten als Gegenständen, sondern in den Gegenständen dieser Akte finden wir das Abstraktionsfundament für die Realisierung der besagten Begriffe.“ (Hua 19/669f.)
Was Husserl hier aussagt, gelte „von allen kategorialen Formen bzw. von allen Kategorien“ (Hua 19/670). Nicht die Urteilsakte, sondern die Gegenstände, auf die sich ein Urteilsakt bezieht, liefern nach Husserl das Fundament kategorialer Formen. Eben diese Gegenstän‐ de fasst Husserl als die Korrelate kategorialer Akte. Weil der phäno‐ menologische Ansatz es fordert, dass jedes Teilmoment des Urteils – und das heißt eben auch: die kategoriale Form, beispielsweise das prädikative Sein in einer Prädikation – in der Anschauung erfüllt 312 Zit. n. GS 20.1/68f. 313 Kant gewinnt die Kategorien des reinen Verstandes bekanntlich, indem er die Einheit der Synthesis, d.i. die logische Funktion in den Urteilen, freilegt. „Auf solche Weise entspringen gerade so viel reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel logische Funktionen in allen möglichen Urteilen gab“. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 105. Dass Kants Philosophie einer Methode ermangle, durch die die Kategorien anschaulich ausgewiesen werden können, wird von Husserl immer wieder kritisiert. So bedürfte es, wie Husserl in der Krisis-Schrift unter Bezug auf Kants transzendentale Deduktion schreibt, „einer grundwesentlich anderen regressiven Methode als der auf jenen fraglosen Selbstverständlich‐ keiten beruhenden Kants, nicht einer mythisch konstruktiv schließenden, sondern einer durchaus anschaulich erschließenden“. Hua 6/118. Freilich sei solch eine Methode erst durch Husserls selbst entwickelt worden. Wie Iso Kern deutlich macht, kann Husserls Versuch einer anschaulichen Ausweisung kategorialer Formen, im offenen Gegensatz zu Kant, als eine transzendentale Deduktion „von unten“ charakterisiert werden. Vgl. Iso Kern: Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantia‐ nismus, Den Haag 1964, S. 161.
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werde, sei es nach Adorno notwendig, „das Moment eines ‚gegen‐ ständlichen Korrelats‘ der kategorialen Formen, also eine sie erfül‐ lende Anschauung, wenn auch eine prinzipiell nicht sinnliche, posi‐ tiv einzuführen“ (GS 20.1/73). Während Akte sinnlicher Anschauung durch reale Gegenstände erfüllt werden, finden kategoriale Akte ihre anschauliche Erfüllung in idealen Gegenständen und das heißt nach Adorno: in verdinglichten kategorialen Formen. „Naiv-realis‐ tisch ist die Bedeutung verdinglicht, und jedes ihrer Momente wird darum zum Abbild eines verdinglichten Seins, mit dem sie sich dann erfüllt: die Vorstellung einer schlichten Wahrnehmungsaussage durch Anschauung, die Kategorie durch kategoriale Anschauung“ (GS 20.1/72). Die Unmittelbarkeit, die der gegenständlich gegebenen kategorialen Form anhaftet, sei nach Adorno wiederum nichts ande‐ res als die Unmittelbarkeit des erlebten Urteilsakts: „Der Charakter der Unmittelbarkeit, den er [Husserl; T. S.] dem ‚Ge‐ wahrwerden des Sachverhalts‘ unterschiebt, ist kein anderer als die Unmittelbarkeit des Urteilsvollzuges selbst; in den dürren Worten der traditionellen Erkenntnistheorie: daß der Urteilsakt selber –, und frei‐ lich nicht dessen Gegenstand, das ‚Geurteilte als solches‘, – ein Erlebnis, ‚unmittelbar gegeben‘ ist.“ (GS 20.1/77)
Auf das ‚Geurteilte als solches‘ könne zwar reflektiert werden, da‐ durch verliere es aber den Charakter unmittelbarer Gegebenheit, denn von der Reflexion „kann Anschaulichkeit so wenig wie Unmit‐ telbarkeit behauptet werden“ (GS 20.1/78). Auch hier gelte, dass die Akte der Reflexion als Erlebnisse unmittelbar sind, nicht aber das Geurteilte des ursprünglichen Urteilsakts, auf das reflektiert wird. Diese Akte „verhalten sich, wenn sie das ursprüngliche Geur‐ teilte als Gegenstand ‚im Blick haben‘, mittelbar zu ihm. […] Als solche Synthesen aber sind sie, prinzipiell selbst wenn auf sinnlich anschauliche Momente rekurriert würde, nicht als Anschauungen und Selbstgegebenheiten zu denken“ (GS 20.1/78). Fassen wir den bis hierher entfalteten Gedanken Adornos zusam‐ men: Husserls Versuch, mittels der Theorie der kategorialen Anschau‐ ung die Aporie der Erkenntnistheorie zu beheben, indem die ihr zugrundeliegenden divergierenden Motive – das positivistische und das idealistische – zur Einheit gebracht werden, habe die Verdingli‐ chung der kategorialen Form zur Folge. Der Charakter unmittelbarer Gegebenheit, der der verdinglichten kategorialen Form anhaftet, sei wiederum auf das unmittelbare Erleben des Urteilsakts zurückzufüh‐
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ren. Adorno argumentiert nun, dass die Verdinglichung der kategoria‐ len Form notwendig in Husserls Wesenslehre führt, wie sie in den Ideen entfaltet wird. So sei das Wesen Ausdruck der verdinglichten kategorialen Form. „Gedachtes wird zum Wesen“, so Adorno, „durch Isolierung der einzelnen ‚Akte‘, ‚Erlebnisse‘“, (GS 5/97). Für Adornos Argumentation ist im Weiteren folgender Gedanke zentral: Die Ver‐ dinglichung der kategorialen Form offenbare, dass diese Form sich nicht vollständig von faktischen Momenten abspalten lasse. Bei Hus‐ serl, so Adorno, „spielen Wesen und Faktum ineinander“ (GS 20.1/80). Was diese Formulierung aber ausdrückt, ist die Verschränkung kate‐ gorialer und empirischer Momente in den Erkenntnisformen, in der die Aporie der Erkenntnistheorie ihren Grund hat. Im Folgenden werde ich zeigen, wie sich diese Aporie Adorno zufolge in Husserls Wesenslehre reproduziert.
II. Wesen
a. Wesen und Tatsache Husserl möchte das durch ideierende Abstraktion gewonnene Allge‐ meine – in der Terminologie der Ideen: das durch Wesensschau gewonnene Wesen – streng von allem Faktischen unterschieden wis‐ sen. „[R]eine Wesenswahrheiten“, so Husserl, „enthalten nicht die mindeste Behauptung über Tatsachen“ (Hua 3.1/17). Dennoch bestehe eine – wohlgemerkt asymmetrische – Beziehung zwischen Wesen und Tatsache, insofern jeder Tatsache ein Wesen vorangehe. „Sagten wir: jede Tatsache könnte ‚ihrem eigenen Wesen nach‘ anders sein, so drückten wir damit schon aus, daß es zum Sinn jedes Zufälligen gehört, eben ein Wesen, und somit ein rein zu fassendes Eidos zu haben“ (Hua 3.1/12). Während die Möglichkeitsweisen eines jeden individuellen Gegenstandes also durch Wesensgesetze vorgezeichnet sind, seien die Wesen selbst von jeder Tatsache unabhängig.314 314 Entsprechend müsse, wie Husserl im Nachwort der Ideen schreibt, überall „die Wissenschaft von den reinen Möglichkeiten der Wissenschaft von den tatsäch‐ lichen Wirklichkeiten vorangehen und dieser als ihre konkrete Logik die Lei‐ tung geben.“ Hua 5/143.
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Kapitel 2: Durchbrechung des Idealismus
Das Exposé für die geplante Dissertation in Oxford aus dem Jahr 1934 legt offen, dass Adorno schon früh Zweifel an der Recht‐ mäßigkeit dieser Trennung von Wesen und Tatsache hegt. In einer Auflistung der philosophischen Probleme in Husserls Phänomeno‐ logie, die in der Dissertation behandelt werden sollen, findet sich der Punkt: „The inconsistency between his isolation of facts (and ‚Essences‘) from one another“315. In seinen späteren Texten versucht Adorno durch seine Analyse von Husserls Wesensbegriff zu zeigen, dass sich das Wesen nicht von der Sphäre des Faktischen trennen lässt, die Aporie der Erkenntnistheorie sich also in der Wesenslehre reproduziert. Dieser Gedanke Adornos wird in Zur Philosophie Hus‐ serls nur angedeutet und erste in Spezies und Intention, der zweiten Studie der Metakritik entfaltet. Bevor ich mich der genannten Studie zuwende, gilt es zentrale Elemente der Wesenslehre einzuführen. Eine der Grundannahmen Husserls ist es, dass Wesenserkenntnis stets einen individuellen Gegenstand als Ausgangsexempel zur Vor‐ aussetzung hat. Bereits in der VI. Logischen Untersuchung spricht Husserl von der „Eigentümlichkeit ideierender Abstraktion, […] not‐ wendig auf individueller Anschauung zu beruhen“ (Hua 19/712). Auch in den Ideen heißt es, es sei eine „Eigenart der Wesensanschau‐ ung, daß ein Hauptstück individueller Anschauung, nämlich ein Er‐ scheinen, ein Sichtigsein von Individuellem ihr zugrunde liegt“ (Hua 3.1/15).316 Daraufhin beschreibt Husserl zwei Wege, um Wesenser‐ kenntnis zu erlangen. So könne sich das reine Wesen „intuitiv in Er‐ fahrungsgegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw., exemplifizieren, ebensogut aber auch in bloßen Phantasiegege‐ benheiten“ (Hua 3.1/16). Wie wir gesehen haben, zeigt Husserl in der VI. Logischen Untersuchung, dass kategoriale Anschauung, auch 315 Oxford University Archive, Board of the Faculty of Literae Humaniores, Mappe ‚Wiesengrund-Adorno‘ (Anm. 53), zit. n. Kramer u. Wilcock: „‚A pre‐ serve for professional philosophers‘. Adornos Husserl-Dissertation 1934–37 und ihr Oxforder Kontext“, S. 142. 316 Lohmar spricht in diesem Zusammenhang vom „Ein-Akt-Paradigma der sta‐ tischen Phänomenologie“, denn die eidetische Methode – und dies gelte glei‐ chermaßen für kategoriale Anschauung und Wesensschau – „erlaubt die Ein‐ sicht in die Wesensstrukturen bereits auf der Grundlage eines einzelnen Aktes“. Dieter Lohmar: „Genetische Phänomenologie“, in: Sebastian Luft u. Maren Wehrle (Hgg.): Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 149–157, hier S. 149f.
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in ihren höherstufigen, alle Sinnlichkeit ausschließenden Varianten, letztlich in sinnlicher Anschauung fundiert sei und darum ein erster Akt benötigt werde, der sich auf einen sinnlich gegebenen Gegen‐ stand bezieht.317 In den Ideen betont Husserl die für die Wesens‐ schau herausragende Bedeutung der „Phantasieanschauung (ohne Dasseinssetzung)“ (Hua 3.1/18), die es ermögliche, ausgehend von „nicht-erfahrenden, nicht-daseinerfassenden, vielmehr ‚bloß einbil‐ denden‘ Anschauungen“ (Hua 3.1/16) Wesenserkenntnis zu erlangen. Schließlich erteilt Husserl der Phantasieanschauung sogar eine Vor‐ zugstellung gegenüber der sinnlichen Anschauung, weil erstere die geforderte Ausschaltung von Tatsachenaussagen vereinfache (vgl. Hua 3.1/145–148). Ob nun ein realer oder ein imaginativer Gegenstand als Aus‐ gangsexempel dient – Aufgabe der Wesensschau ist es, das Wesen jenes Gegenstands freizulegen, indem dessen bloß kontingente Ei‐ genschaften von den invarianten Eigenschaften unterschieden wer‐ den, durch welche die Möglichkeitsweisen des Gegenstandes immer schon festgelegt sind. Das Wesen wird von Husserl dabei als ein „neuartiger Gegenstand“ aufgefasst, als „eidetischer Gegenstand“ (Hua 3.1/14). In Formale und transzendentale Logik stellt Husserl schließlich die Methode der freien Phantasievariation als Grundlage der Wesensschau heraus. Im Zuge der Variation des Gegenstandes in der Phantasie trete das „notwendig Verharrende, das Invariante hervor, das unzerbrechlich Selbige im Anders und Immer-wiederanders, das allgemeinsame Wesen – an das alle ‚erdenklichen’ Ab‐ wandlungen des Exempels und alle Abwandlungen jeder solchen Abwandlung selbst gebunden bleiben“ (Hua 17/255).318 317 Zwar spricht Husserl bereits in der VI. Untersuchung gelegentlich von der Möglichkeit imaginative Akte zum Fundament kategorialer Anschauung zu machen, schreibt diesen Akten aber keine größere Bedeutung zu. Vgl. Hua 19/691–693. 318 Diese Passage aus Formale und transzendentale Logik wird auch von Adorno zitiert. Vgl. GS 5/124f. Eine noch ausführlichere Darstellung der freien Variati‐ on findet sich In Husserls Werk Erfahrung und Urteil: „Sie beruht auf der Abwandlung einer erfahrenen oder phantasierten Gegenständlichkeit zum be‐ liebigen Exempel, das zugleich den Charakter des leitenden ‚Vorbildes‘ erhält, des Ausgangsgliedes für die Erzeugung einer offen endlosen Mannigfaltigkeit von Varianten, also auf einer Variation. M. a. W. wir lassen uns vom Faktum als Vorbild für seine Umgestaltung in reiner Phantasie leiten. Es sollen dabei immer neue ähnliche Bilder als Nachbilder, als Phantasiebilder gewonnen
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Wie Adorno nun in Spezies und Intention schreibt, sei es die In‐ tention der Wesensschau, „durch ‚exemplarische Analyse‘ faktischer Gegebenheiten Ergebnisse auszukristallisieren, die von der Faktizität befreit sind“ (GS 5/125). Dabei hätten die Wesen, als die Ergebnisse jener Analyse, ihr Vorbild in Husserls Prolegomena. „Die zu Sätzen an sich erhobenen logischen Axiome bieten das Modell der fakten‐ freien, reinen Wesenheiten, deren Begründung und Beschreibung die gesamte Phänomenologie sich als Aufgabe wählte“ (GS 5/98).319 Der Auffassung Husserls, die Wesen seien von der Faktizität unab‐ hängig, wird von Adorno widersprochen. Die Argumentation hebt an mit der Bezugnahme auf eine Passage der II. Logischen Untersu‐ chung Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktions‐ theorien, in der Husserl die ideierende Abstraktion am Beispiel der Farbwahrnehmung erläutert: „So erfassen wir die spezifische Einheit Röte direkt, ‚selbst‘, auf Grund einer singulären Anschauung von etwas Rotem. Wir blicken auf das Rotmoment hin, vollziehen aber einen eigenartigen Akt, dessen Intenti‐ on auf die ‚Idee‘, auf das ‚Allgemeine‘ gerichtet ist. Die Abstraktion im Sinne dieses Aktes ist durchaus verschieden von der bloßen Beachtung oder Hervorhebung des Rotmomentes; den Unterschied anzudeuten, haben wir wiederholt von ideirender oder generalisierender Abstraktion gesprochen.“ (Hua 19/225f.)320 werden, die sämtlich konkrete Ähnlichkeiten des Urbildes sind. Wir erzeugen so frei willkürlich Varianten, deren jede ebenso wie der ganze Prozeß der Va‐ riation selbst im subjektiven Erlebnismodus des ‚beliebig‘ auftritt. Es zeigt sich dann, daß durch diese Mannigfaltigkeit von Nachgestaltungen eine Einheit hindurchgeht, daß bei solchen freien Variationen eines Urbildes, z. B. eines Dinges, in Notwendigkeit eine Invariante erhalten bleibt als die notwendige allgemeine Form, ohne die ein derartiges wie dieses Ding, als Exempel seiner Art, überhaupt undenkbar wäre.“ Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Un‐ tersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. von Ludwig Landgrebe, Prag 1939, S. 410f. 319 Auch Nicolas de Warren verweist auf diese Kontinuität zwischen Husserls Prolegomena zur reinen Logik und der Wesenslehre der Ideen. Husserls „Über‐ legungen zu Wesen und Wesenserkenntnis erinnern an die starke Verteidigung von Idealität und idealen Bedeutungen in den Prolegomena der Logischen Untersuchungen“. Nicolas de Warren: „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“, in: Sebastian Luft u. Maren Wehrle (Hgg.): Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 65–74, hier S. 68. 320 Zit. n. GS 5/105.
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Mit der Auffassung, dass sich das in einer Anschauung enthaltene Allgemeine – hier: das Wesen ‚Röte‘ – nicht aus einem Vergleich verschiedener Rotmomente ergebe, also keine bloß empirische All‐ gemeinheit sei, richtet sich Husserl gegen zu seiner Zeit vorherr‐ schende nominalistische Abstraktionstheorien.321 Nach Husserl sei das Wesen eine eidetische Allgemeinheit, das heißt nicht der aus der Erfahrung abstrahierte Allgemeinbegriff, unter den reale Gegenstän‐ de aufgrund ähnlicher Merkmale zusammengefasst werden, sondern ein idealer Gegenstand, der in der Anschauung unmittelbar zugäng‐ lich sei. Um diesen Anspruch erfüllen zu können, muss das Wesen, so Adorno, als Verschränkung von „zwei einander sich ausschließen‐ den Bestimmungen“ (GS 5/106) begriffen werden: „[D]ie Unmittelbarkeit, mit der man ein Rotes wahrnimmt, soll den an‐ schaulichen Charakter des Aktes garantieren; daß aber dabei das Sinn‐ liche nicht isoliert, sondern nur mit Denken verflochten vorkommt, soll das unmittelbar Angeschaute zugleich zu einem Geistigen – zum Begriff machen, der unmittelbar an der Singularität, ohne Rücksicht auf den Charakter des Begriffs als abstrakter Einheit gleicher Momente, aufleuchte.“ (GS 5/106)
Die beiden Bestimmungen bestehen also darin, dass einerseits das Allgemeine über die empirische Erfahrung hinausgehe, nicht durch diese komponiert werde, anderseits aber ebenso wenig auf reines Denken rückführbar sei, sondern als eidetischer Gegen‐ stand unmittelbar anschaulich in der Erfahrung liegt.322 Die Ver‐ 321 Husserl zufolge würden solche Abstraktionstheorien von einer Reihe moderner Humeaner vertreten werden, als deren exponiertesten Vertreter er Adornos Lehrer Cornelius ansieht. Ein angeführtes Zitat von Cornelius veranschau‐ licht diese Form der Abstraktionstheorie, gegen die Husserl sich richtet. „Die Unterscheidung verschiedener Merkmale […] gründet sich […] darauf, daß die Inhalte nach ihren Ähnlichkeiten in Gruppen zusammengefaßt und mit gemeinsamen Namen bezeichnet werden. Nichts anderes als die Zugehörigkeit eines Inhalts zu verschiedenen solchen Gruppen von untereinander ähnlichen und deshalb gleichbenannten Inhalten ist es hiernach, was wir meinen, wo wir von den verschiedenen Merkmalen eines Inhalts sprechen.“ Hans Cornelius: „Über ‚Gestaltqualitäten“‘, S. 103, zit. n. Hua 19/212. Eine ausführliche Kritik an der Abstraktionstheorie des Empirismus findet sich indessen im HusserlianaBand Erste Philosophie, der das Manuskript einer in den Jahren 1923/24 unter gleichnamigem Titel gehaltenen Vorlesung enthält. Vgl. Hua 7/126–131. 322 Palma sieht in dieser Auffassung Husserls eine unüberbrückbare Differenz zur gesamten Tradition der Transzendentalphilosophie, denn Husserl gehe davon
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schränkung dieser beiden Bestimmungen führt nach Adorno schließlich zu einer Destruktion des Wesens. „Husserls Bestim‐ mung des Wesens richtet dieses selber: es ist fiktiv“ (GS 5/129). Der Phänomenologe Lothar Eley hat diese These Adornos ernst‐ genommen und in seinem Werk Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls systematisch ausgearbeitet.323 Wie Adorno spricht auch Eley von einer „Span‐ nung des von Husserl konzipierten Wesens“, die sich darin zeige, „daß es einerseits rein aus der Intuition geschöpft, also Gegen‐ stand der Anschauung sein soll, andererseits aber als ein regio‐ naler Rahmen, an den die Erfahrung je schon gebunden ist, be‐ griffen wird.“324 Diese Spannung führe zu einer „Destruktion des Transzendentalen“325, schließlich – so Eley in einer Drastik, die derjenigen Adornos in nichts nachsteht – zur „Destruktion des Idealismus“.326 Im Folgenden wird es sich als hilfreich erweisen, immer wieder Bezug auf Eleys Untersuchung zu nehmen. b. Destruktion des Wesens Wie Adornos Argumentation erkennen lässt, vollzieht sich die De‐ struktion des Wesens in zwei Schritten. Weil das Wesen als idealer Gegenstand mehr als der Allgemeinbegriff, diesem in puncto Sach‐ haltigkeit überlegen sein soll, werde es der bloßen Tatsache, dem Dies-da angeglichen. Weil diese Angleichung jedoch die strikte Tren‐
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aus, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung „eidetisch sind und in der Erfahrung selbst liegen, da sie nicht im Subjekt bzw. in seinen Denktä‐ tigkeiten, sondern in den sinnlichen Wesensgehalten gründen.“ Palma: „Eine peinliche Verwechselung. Zu Husserls Transzendentalismus“, S. 23. Palma schlägt deshalb vor – und dabei kann er sich u.a. auf Landgrebe und Eley beru‐ fen – Husserls Phänomenologie nicht als Transzendentalphilosophie, sondern als eidetischen Empirismus zu bezeichnen. Ebd., S. 43. Als Vorüberlegung für dieses Werks kann eine bereits 1959 erschienene Rezen‐ sion zu Adornos Metakritik angesehen werden, in der Eley Adorno das Ver‐ dienst zuspricht, „in scharfen Analysen die Krise des Transzendentalen in der Philosophie Husserls“ freigelegt zu haben. Eley: „Zum Begriff des Transzen‐ dentalen“, S. 357. Eley: Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, S. 89. Ebd. S. 59. Ebd. 85.
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nung zwischen Wesen und Tatsache zu unterlaufen droht, verflüchti‐ ge sich die geforderte Sachhaltigkeit. Am Ende der Destruktion steht Adornos Befund: das Wesen ist nichts anderes als der Allgemeinbe‐ griff und damit keineswegs der Faktizität enthoben. Richten wir den Blick erneut auf die Wesenslehre der Ideen. Bereits zu Beginn der Ideen betont Husserl, zwischen Wesen und individuellem Gegenstand liege „nicht eine bloß äußerliche Analogie vor, sondern radikale Gemeinsamkeit. Auch Wesenserschauung ist eben Anschauung, wie eidetischer Gegenstand eben Gegenstand ist“ (Hua 3.1/14). Wesensanschauung sei Bewusstsein von „einem ‚Gegenstand‘, einem Etwas, worauf ihr Blick sich richtet, und was in ihr ‚selbst gegeben‘ ist“ (Hua 3.1/15). Im Zuge der genaueren Verhält‐ nisbestimmung zwischen Wesen und Tatsache werden von Husserl Wesen und Dies-da gegenübergestellt, um sodann den „zwischen ihnen obwaltenden Wesenszusammenhang“ festzustellen, der darin bestehe, „daß jedes Dies-da seinen sachhaltigen Wesensbestand hat“ (Hua 3.1/34).327 Dieses sachhaltige Wesen nennt Husserl Konkre‐ tum328 und den übergreifenden Zusammenhang von Dies-da und Konkretum Individuum. „Ein Dies-da, dessen sachhaltiges Wesen ein Konkretum ist, heißt ein Individuum“ (Hua 3.1/35). Adorno bemerkt nun, dass das so konzipierte Wesen sich vom Dies-da allein darin unterscheide, dass ihm keine Faktizität zuge‐ sprochen wird. Bezugnehmend auf das oben angeführte Beispiel der ideierenden Abstraktion schreibt Adorno, das „aus der singu‐ lären Farbwahrnehmung herausideierte ‚Rot‘ wäre lediglich ein mit der obligaten phänomenologischen Klammer verziertes ‚reduzier‐ tes‘ Dies da“ (GS 5/105). Wesen und Dies-da werden zu bloß komplementären Bestimmungen zweier Einstellungen: der phäno‐ menologisch reduzierten und der natürlichen Einstellung. „Die eidetische Singularität […] ist daher nicht, wie die Begriffe, um‐ fassender als das τόδε τι, sondern einzig noch dessen Schatten“ (GS 5/111). Auch Eley argumentiert, dass Husserls Wesenslehre die 327 Husserls Ausdruck Dies-da ist an dem Aristotelischen τόδε τι gebildet und meint die „pure, syntaktisch formlose individuelle Einzelheit.“ Hua 3.1/33. Das heißt: die bloßes Tatsache. 328 Das Konkretum beschreibt Husserl als ein absolut selbständiges Wesen, als eine eidetische Singularität, und stellt ihm das Abstraktum als unselbständiges Wesen gegenüber. Vgl. Hua 3.1/35.
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Angleichung des Wesens ans Dies-da zum Resultat hat. „[D]as Wesen wird im selben Sinn zum Gegenstand wie das Dies-da, Wesen und Dies-da werden zu bloßen Komplexionen.“329 Wodurch also ist diese Angleichung bedingt? Husserls Angleichung des Wesens ans Dies-da ist nach Adorno – diese These ist uns mittlerweile bekannt – Ausdruck einer Ver‐ dinglichung der Verstandestätigkeit. „Weil die Herkunft der idealen Gegenstände“, so Adorno, „nicht ins epistemologische Blickfeld tritt, werden sie gegenüber den sie komponierenden Bewußtseins‐ akten verselbständigt“ (GS 5/105). Die idealen Gegenstände seien somit nur scheinbar von der Denkfunktion unabhängig. Dass sie als solche ins phänomenologische Blickfeld treten, hängt zusam‐ men mit der positivistischen Forderung nach unmittelbarer An‐ schaulichkeit, die Husserls gesamte Phänomenologie durch‐ herrscht. Diese Forderung übertrage Husserl „derart auf den Ge‐ halt der höheren kategorialen Funktionen, daß ihm auf allen sei‐ nen Stufen die Prädikate eines starren, von der Subjekt-ObjektDialektik unberührten Ansichseins zugesprochen werden“ (GS 5/112). Diesen Gedanken hat auch der Husserl-Schüler Ludwig Landgrebe ausgesprochen. Aufgrund der „methodischen Grund‐ überzeugungen Husserls“ könne sich bei ihm das Bewusstsein „selbst aber nur in den Produkten seiner Leistungen, den gegen‐ ständlichen Einheiten, den Dingen begreifen und in seinem Wesen enthüllen“.330 Schließlich sei die phänomenologische Haltung „eine solche universaler Vergegenständlichung, beziehungsweise eine sol‐ che, die alles Sein nur als Gegenstand-sein begreifen läßt.“331 Die beschriebene Angleichung des Wesens ans Dies-da wird nach Adorno zum Problem der Wesenslehre, denn letztlich wäre das We‐ sen „von Individuellem überhaupt nicht mehr zu unterscheiden. Reines τόδε τι und Wesen, das Individuelle und sein Begriff fielen zusammen“ (GS 5/111). Auch Eley bemerkt, dass die von Husserl postulierte Differenz von Wesen und Dies-da „dadurch negiert wird, 329 Eley: Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, S. 43. Bereits in seiner Rezension zur Metakritik nimmt Eley diese These Adornos zustimmend auf. Husserls „Wesen ist also dem Da abgeschaut.“ Eley: „Zum Begriff des Transzendentalen“, S. 357. 330 Ludwig Landgrebe: Philosophie der Gegenwart, Berlin 1957, S. 34. 331 Ebd.
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daß ihre Momente vergegenständlicht werden (so daß das Denken dem Empirismus verfällt).“332 Um seiner Sachhaltigkeit Willen soll das als Konkretum gefasste Wesen auf ein Dies-da bezogen sein, doch strenggenommen sei diese Bezugnahme nicht zulässig, denn wir erinnern uns an Husserls Worte: „reine Wesenswahrheiten ent‐ halten nicht die mindeste Behauptung über Tatsachen“ (Hua 3.1/17). Diese paradoxe Situation sei der Grund dafür, dass das Wesen in einen Prozess der Entsubstantialisierung eintrete, in dem es jede Sachhaltigkeit einbüßt und zur bloßen Invariante wird. So schreibt Adorno: „Wesenlos bleiben die Wesen, mit denen der willkürliche Gedanke des Subjekts dem verödeten Seienden Ontologie einzubil‐ den sich vermißt“ (GS 5/129). Eley beschreibt diesen Prozess der Entsubstantialisierung des Wesens ausgehend von der Wesenslehre der Ideen. Während das Wesen in den Ideen noch „von der gerade‐ hin vernehmbaren Sachhaltigkeit her verstanden“333 werde, verliere es diese Sachhaltigkeit in den Cartesianischen Meditationen. In einer Passage, die von Eley und auch von Adorno angeführt wird, charak‐ terisiert Husserl das Wesen als „reine Möglichkeit“, als „Reich der Unwirklichkeiten“, als einen Typus, der „in der Luft absolut reiner Erdenklichkeiten [schwebt]“ und „aller Faktizität enthoben“ (Hua 1/104) ist.334 Adorno erklärt den Prozess der Entsubstantialisierung des Wesens damit, dass Husserl der Abstraktionstheorie, gegen die er im zweiten Band der Logischen Untersuchungen opponierte, nie ganz entraten sei. Dies zeige sich daran, dass zur Erlangung von Wesenserkennt‐ nis stets ein individueller Gegenstand als Ausgangsexempel benötigt wird. Wie Adorno bemerkt, sollte bereits der Begriff des Exempels „Husserl stutzig machen: er kommt aus eben jener trivialen Abstrak‐ tionstheorie, die ein Beispiel wählt, dann ein anderes, und aus ihrer Vielfalt das Wesentliche aussondert“ (GS 5/126). In dieser Hinsicht bleibe das Wesen „nichts anderes als der alte Allgemeinbegriff der Umfangslogik“ (GS 5/126) und das heißt: eine durch Induktion gewonnene empirische Allgemeinheit. Husserls scharfe Abgrenzung des Wesens von der Tatsache wäre damit freilich widerrufen. Adorno bemerkt: 332 Eley: Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, S. 26. 333 Ebd., S. 49. 334 Vgl. ebd., S. 38 u. GS 5/129.
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„Wenn weiter für die von Husserl gelehrte Wesensforschung überhaupt ein ‚Exempel‘ ‚als Ausgang notwendig‘ ist, so wird bereits die reinliche Trennung von Faktum und Idealität revoziert, insofern das Ideelle eines Faktischen bedarf, um überhaupt nur vorgestellt werden zu können. Läßt sich zum Wesen ohne Faktum, und wäre es auch nur ein einzel‐ nes, nicht gelangen, so wird damit eigentlich jene Beziehung zwischen Begriff und Erfahrung implizit wiederhergestellt, die Husserl wegerklärt hatte.“ (GS 5/125f.)
Dieser Gedanke findet sich auch bei Eley. Zwar betone Husserl, „daß das oberste ‚Allgemeine‘ […] nicht ein Allgemeines meint, daß [sic] der Erfahrung abgeschaut ist, sondern daß [sic] selbst der Erfahrung apriori seine Regel vorschreibt“.335 Weil jedoch das Dies-da als „un‐ tere Grenze des Allgemeinen“336 der Ausgangspunkt sei, von dem aus zum Wesen fortgeschritten werden soll, hebe Husserl die „von ihm geforderte Unterscheidung von empirischer und apriorischer Regel genau wiederum dadurch auf, daß er die Unterordnung dieser unter jener als Klassifikation bestimmt.“337 Husserls strikte Trennung von Wesen und Tatsache wurde auch von Alfred Schütz in Zweifel gezogen, der in seinem Aufsatz Type and Eidos in Husserl’s Late Philosophy zu zeigen beansprucht, dass die Wesensschau ihr metho‐ disches Fundament in der empirischen Induktion habe, das Wesen also der von der Erfahrung nicht zu emanzipierende Allgemeinbe‐ griff sei. Schütz schreibt, „there is indeed merely a difference of degree between type and eidos. Ideation can reveal nothing that was not preconstituted by the type.“338 335 Eley: Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, S. 41. 336 Ebd., S. 42. 337 Ebd. 338 Alfred Schütz: „Type and Eidos in Husserl’s Late Philosophy“, in: Philosophy and Phenomenological Research, Bd. 20.2, 1959, S. 147–165, hier S. 164. Inwie‐ weit die phänomenologische Soziologie von Schütz Einfluss auf Adornos Hus‐ serl-Rezeption genommen hat, lässt sich kaum beurteilen. Dass eine Auseinan‐ dersetzung mit Schütz noch vor Veröffentlichung der Metakritik stattgefunden hat, ist indessen unzweifelhaft. So spricht Adorno 1941 gegenüber Horkheimer von einer geplanten Vorlesung an der Columbia University, in der es um eine „Einleitung in die Phänomenologie mit besonderer Berücksichtigung der phänomenologischen Tendenzen in der Soziologie“ gehen soll. Brief Adornos an Horkheimer vom 20.5.1941. Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer: Brief‐ wechsel 1938–1944, hg. von Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Briefe und
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Im Weiteren erklärt Adorno, dass Husserls Methode der Phanta‐ sieanschauung sich ebenso wenig über die Verschränkung von We‐ sen und Tatsache hinwegsetzen könne. „[W]ährend die Variation nichts mit Faktizität zu tun haben möchte, zieht sie doch ihre Sub‐ stanzialität aus ihr“ (GS 5/129), denn auch für die Phantasievariatio‐ nen gelte, dass diese „unvermeidlich mit Elementen der Erfahrung versetzt“ (GS 5/126) seien. Kurzum: „Eine Wesensform, die, um ihre Invarianten zu gewinnen, Fiktionen miteinander vergleichen muß, wiederholt die von Husserl befehdete Abstraktionstheorie auf vermeintlich höherer Ebene“ (GS 5/126).339 Fassen wir den ausgeführten Gedankengang Adornos zusammen. Weil Husserls Wesen ein in der Anschauung unmittelbar gegebener Gegenstand und damit mehr sein soll als der Allgemeinbegriff, werde es der bloßen Tatsache, dem Dies-da angeglichen. Die da‐ mit einhergehende Vergegenständlichung des Wesens sei wiederum Ausdruck einer Verdinglichung der Verstandestätigkeit. Weil nun jedoch die Negation der Wesen-Tatsache-Differenz drohe, verflüch‐ tige sich die geforderte Sachhaltigkeit des Wesens zu einer bloß faktischen Bestimmung. Am Ende erweise sich das Wesen als der Allgemeinbegriff, dessen Konstitution notwendig auf die Erfahrung von Faktischem zurückverweist. „Die phänomenologische Reinheit“, so Adorno unter Bezug auf Husserls Wesensbegriff, „idiosynkratisch gegen alle Berührung mit Faktischem, bleibt doch hinfällig wie ein Blumenornament“ (GS 5/97). Mit der Destruktion des Wesens hat die durch den phänomenolo‐ gischen Ansatz in Bewegung gebrachte Entfaltung der Aporie der Er‐ kenntnistheorie eine neue Stufe, jedoch noch nicht ihren Endpunkt erreicht. Erst Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivi‐ tät, wie sie in den Spätschriften, allen voran in den Cartesianischen
Briefwechsel, Bd. 4.2, S. 118. Eine explizite Erwähnung von Schütz findet sich schließlich in Adornos Vorlesung Einleitung in die Soziologie. Vgl. NaS IV 15/91f. 339 Ähnlich bewertet Schütz Husserls Methode der Phantasieanschauung. „It is doubtless possible to grasp eidetically material realms or regions of being, but these regions are not constituted by performances of our consciousness: they are indeed ontological regions of the world and as such given to our experience or, as we may say, imposed upon us.“ Schütz: „Type and Eidos in Husserl’s Late Philosophy“, S. 164.
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Meditationen entworfen wird, offenbare das unausweichliche Schei‐ tern des Idealismus. III. Transzendentale Subjektivität
Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Konzeption einer trans‐ zendentalen Subjektivität, die auch unter dem Terminus Eidos Ego firmiert, bildet den Fluchtpunkt sowohl von Zur Philosophie Hus‐ serls als auch der Metakritik, deren letzte Studie Das Wesen und das reine Ich eine umgearbeitete Fassung des genannten Textes darstellt (vgl. GS 5/10f.).340 Die argumentativen Grundlinien dieser Ausein‐ andersetzung legt Adorno bereits 1936 gegenüber Horkheimer offen: „Die Arbeit kulminiert in einer Analyse des H.schen eidos ego, das einmal als notwendige Konsequenz des Idealismus erwiesen, anderseits aber in der Unmöglichkeit seiner ‚Reinheit‘ herausgestellt wird und zwar derart, daß das transzendentale Subjekt seinem eigenen Sinne nach auf die Existenz des Leibes weist und darum als Fundament nicht zu halten ist. Alles hängt von der strikten Immanenz dieses Nachweises ab; ist sie möglich, dann ist wirklich der Idealismus aus den Angeln zu heben.“341
Wie Adorno bemerkt, fördere Husserls Eidos Ego zutage, dass der idealistische Grundbegriff der transzendentalen Subjektivität not‐ wendig auf den Leib und damit auf das faktische Subjekt verweist. Demnach sei die idealistische Forderung nach der Reinheit der transzendentalen Subjektivität uneinlösbar, womit der Idealismus insgesamt in Frage steht. Doch gehen wir einen Schritt zurück: Wenn sich die transzendentale Subjektivität bei Husserl als eine Ver‐ schränkung von kategorialen und empirischen Momenten heraus‐ stellt, wäre dies der Beleg dafür, dass die in der Phänomenologie zur Entfaltung kommende Aporie der Erkenntnistheorie das Funda‐ 340 Dass Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie sich auf die‐ sen Fluchtpunkt zubewegt, wird auch dadurch deutlich, dass der Text Zur Philosophie Husserls ursprünglich unter dem Titel Kritik der transzendentalen Subjektivität in der Zeitschrift für Sozialforschung erscheinen sollte. Vgl. Brief Adornos an Benjamin vom 20.4.1937. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928– 1940, S. 231. 341 Brief Adornos an Horkheimer vom 30.10.1936. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 208.
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ment des Idealismus selbst angreift. Davon, ob die transzendentale Subjektivität „ein aporetischer Begriff selber“ sei, so Adorno, hänge ab, „ob die phänomenologischen Widersprüche echte Antinomien sind, in welche dies Denken ‚notwendig sich verwickelt‘, und mehr: ob der Ansatz der idealistischen Erkenntnistheorie selber ein ψεῦδος ist, das preisgegeben werden muß“ (GS 20.1/99). Bevor wir den an‐ gedeuteten Argumentationsgang im Einzelnen nachverfolgen, werde ich einige Motive einführen, die für Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivität zentral sind. a. Husserls transzendental-phänomenologischer Idealismus Husserl spricht die eigene Position des transzendental-phänomeno‐ logischen Idealismus der Sache nach bereits in den 1913 veröffent‐ lichten Ideen aus, und zwar mit Einführung der phänomenologi‐ schen Reduktion. Die phänomenologische Reduktion zielt bekannt‐ lich auf die Freilegung des reinen Bewusstseins als einer von allen kontingenten und transzendenten Beziehungen gereinigten „Seins‐ sphäre absoluter Ursprünge“ (Hua 3.1/121).342 Allerdings gebraucht Husserl den Begriff des Idealismus in den Ideen nur an einer einzi‐ gen Stelle, an der er sich von einem subjektiven Idealismus im Sinne Berkeleys abgrenzt (vgl. Hua 3.1/120). Dies ändert sich im Nachwort der Ideen aus dem Jahre 1930, in dem Husserl rückblickend schreibt, seine Phänomenologie sei „in sich selbst universaler Idealismus, als Wissenschaft durchgeführt“ (Hua 5/152). Resultat eben dieser Durchführung sei, „daß nur die transzendentale Subjektivität den Seinssinn des absoluten Seins hat, daß nur sie ‚irrelativ‘ ist (d.i. nur auf sich selbst relativ), während die reale Welt zwar ist, aber eine wesensmäßige Relativität hat auf die transzendentale Subjektivität, da sie nämlich ihren Sinn als sei‐ ende nur haben kann als intentionales Sinngebilde der transzendentalen Subjektivität.“ (Hua 5/153) 342 Im Nachwort der Ideen betont Husserl die kaum zu überschätzende Bedeutung der Reduktion für seine Phänomenologie, wenn er schreibt, „daß der eigentli‐ che Anfang der systematischen Eröffnung dieser Wissenschaft [der Phänome‐ nologie als apriorischer Wissenschaft; T. S.] in den Kapitel liegt, die von den bezeichneten Reduktionen handeln.“ Hua 5/142.
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In dem genannten Nachwort kündigt Husserl schließlich an, dass neue Veröffentlichungen, die er „im letzten Jahre begonnen habe (die ersten seit diesen ‚Ideen‘), […] weitreichende Fortführungen, Klärungen, Ergänzungen“ (Hua 5/154) enthalten werden. Die ers‐ te dieser Veröffentlichungen bilden die Cartesianischen Meditatio‐ nen, die auf zwei 1929 in Paris gehaltenen Doppelvorträgen basie‐ ren.343 In den Cartesianischen Meditationen bekräftigt Husserl den Anspruch der Phänomenologie, prima philosophia zu sein, indem er Descartes Vorhaben der philosophischen Letztbegründung radi‐ kalisiert. So fragt Husserl zunächst, ob es nicht an der Zeit sei, Descartes „Radikalismus des anfangenden Philosophen zu erneuern […] und mit neuen Meditationes de prima philosophia zu beginnen“ (Hua 1/47). Gegen Descartes wendet Husserl jedoch ein, dass dessen methodischer Zweifel nicht weit genug gehe und bei einer naturalis‐ tischen Konzeption der Subjektivität stehen bleibe. Husserl schreibt, dass Descartes das „Ego zur substantia cogitans, zur abgetrennten menschlichen mens sive animus macht“ (Hua 1/63) und darum „das Eingangstor nicht überschreitet, das in die echte Transzenden‐ talphilosophie hineinleitet“ (Hua 1/64).344 Dementgegen führe die konsequent durchgeführte phänomenologische Reduktion auf das transzendentale Ego als ursprünglichen Geltungsgrund der gesam‐ ten objektiven Welt, der jedoch selbst, so eine einschlägige Formu‐ lierung Husserls, „kein Stück der Welt“ (Hua 1/65) sei. Dürfe das transzendentale Ego auch nicht als Teil der Welt, das heißt nicht als psycho-physisches Ich missverstanden werden, so sei es dennoch – und zwar seinem eigenen Sinn nach – auf die Welt bezogen. Husserl betont, dass dieses Ego „nur ist, was es ist, in bezug auf 343 Die Cartesianischen Meditationen erschienen zunächst 1931 auf Französisch. Eine erste deutschsprachige Fassung enthielt der 1950 veröffentlichte erste Band der Husserliana mit dem Titel Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. In Zur Philosophie Husserls arbeitete Adorno noch mit dem französi‐ schen Text, in der Metakritik schließlich mit der genannten deutschsprachigen Fassung. Im Zuge seiner Kritik der transzendentalen Subjektivität bezieht sich Adorno auch wiederholt auf Husserls Formale und transzendentale Logik, die zentrale Motive der Cartesianischen Meditationen vorwegnimmt. 344 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Philosophie Descartes findet sich auch in Husserls Krisis-Schrift. Dort bezeichnet Husserl Descartes als den „urstiftenden Genius der gesamten neuzeitlichen Philosophie“ (Hua 6/75), der jedoch den „originalen Radikalismus seiner Gedanken nicht wirklich durch‐ führt“. Hua 6/80.
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intentionale Gegenständlichkeiten“ (Hua 1/99). Eben hierin besteht die unhintergehbare Intentionalitätsstruktur, die der transzendenta‐ len Subjektivität nach Husserl zukommt.345 Die ursprüngliche Korrelation zwischen Ego und Welt bedeutet jedoch ebenso, dass die Welt nur innerhalb jener Intentionalitäts‐ struktur in den Blick kommen kann, jegliche Transzendenz also in die Immanenz der transzendentalen Subjektivität fallen muss. „Daß das Sein der Welt“, so Husserl, „transzendent ist und notwendig tran‐ szendent bleibt, ändert nichts daran, daß es das Bewußtseinsleben allein ist, in dem jedwedes Transzendente als von ihm Unabtrennba‐ res sich konstituiert“ (Hua 1/97). Weil sich Transzendenz nach Hus‐ serl also stets in der Bewusstseinsimmanenz konstituiert, bestimmt er die Phänomenologie als einen transzendentalen Idealismus, der nicht wie derjenige Kants „die Möglichkeit einer Welt von Dingen an sich glaubt offenhalten zu können“ (Hua 1/118). In diesem Sinne kann die Phänomenologie der Cartesianischen Meditationen als Im‐ manenzphilosophie bezeichnet werden. Durch die Abgrenzung von der Transzendentalphilosophie Kants lässt sich eine weitere Spezifik von Husserls Konzeption der trans‐ zendentalen Subjektivität verdeutlichen. Kant betont, dass der höchste Punkt der Subjektivität, den er die synthetische Einheit der Apperzeption nennt, kein dem Denken zugrundeliegendes Sein ist, sondern „ein Actus der Spontanität“.346 Unter der synthetischen Einheit der Apperzeption muss „jede Anschauung stehen […], um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein verei‐ nigen würde.“347 Sie ist also die Bedingung der Möglichkeit, das in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige als gegenständliches Objekt wahrzunehmen. Sie kann darum selbst nicht anschaulich gegeben sein. Zugänglich ist sie allein durch eine Abstraktion, die das synthetisierende Moment als Gemeinsamkeit aller Denkakten 345 Der mit der Intentionalitätsstruktur notwendig einhergehende Weltbezug des transzendentalen Ego müsse nach Zahavi gegen die weitverbreitete Vorstellung einer weltlosen Subjektivität hervorgehoben werden. Denn schließlich, so Za‐ havi, könne diese Subjektivität „als das Subjekt der Intentionalität, nicht ohne Bezugnahme auf die Welt beschrieben werden; sie ist nichts in Isolation von der Welt.“ Zahavi: Husserls Phänomenologie, S. 54. 346 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 132. 347 Ebd., B 138.
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herausstellt. Diese Abstraktion ist das ‚Ich denke‘, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss. In dieser Vorstellung bin ich mir bewusst, „nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen.“348 Die Spezifik des transzendentalen Idealismus Husserls besteht nun darin, dass der höchste Punkt der Subjektivität nicht durch Abs‐ traktion gewonnen werden soll. Stattdessen unterwirft Husserl das transzendentale Ego der Wesensschau und gelangt so zu einem „uni‐ versalen Eidos transzendentales Ego überhaupt“ (Hua 1/106). Das Eidos Ego sei anschaulich gegeben und damit kein Abstraktionspro‐ dukt. Der Übergang zum Eidos Ego ist nach Husserl notwendig, um den wissenschaftlichen Charakter der Phänomenologie sicherzustel‐ len. Denn im Gegensatz zum Subjektbegriff des deutschen Idealis‐ mus ist das durch die phänomenologische Reduktion freigelegte transzendentale Ego kein allgemeines Subjekt. So schreibt Husserl, dass die Reduktion zunächst auf „mein transzendental-phänomeno‐ logisches Ich“349 (Hua 1/65) führt. Diese konkrete transzendentale Subjektivität samt ihrer Konstitutionsleistungen bezeichnet Husserl in Anlehnung an Leibniz als Monade. Diese sei „das in voller Kon‐ kretion genommene Ego […] in der strömenden Vielgestaltigkeit seines intentionalen Lebens und den darin vermeinten und evt. als seiend für es sich konstituierenden Gegenständen“ (Hua 1/102). Nun geht es Husserl um „die erste Verwirklichung einer philosophischen Wissenschaft – die einer ‚ersten Philosophie“‘ (Hua 106). Deshalb sei es die Aufgabe der Phänomenologie, durch eine Analyse des trans‐ zendentalen Ego zu einem Eidos Ego zu gelangen, d.i. zu einer trans‐ zendentalen Subjektivität überhaupt. Wie es in den Cartesianischen Meditationen heißt, könne die Enthüllung des transzendentalen Ego „zu einer echt wissenschaftlichen nur werden unter Rekurs auf die ihr, das ist dem Ego als einem Ego überhaupt, zugehörigen apodiktischen Prinzipien, auf die Wesensallgemeinheiten und Notwendigkeiten, mit‐ tels deren das Faktum auf seine rationalen Gründe, auf die seiner reinen Möglichkeit zurückbezogen und damit verwissenschaftlicht (logifiziert) wird.“ (Hua 1/106)
348 Ebd., B 157. 349 Hervorhebung von mir, T. S.
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Die Freilegung des Eidos Ego erfolgt durch die uns bereits bekannte Methode der eidetischen Variation, die Husserl, präziser noch als in den Cartesianischen Meditationen, in der Formalen und transzen‐ dentalen Logik beschreibt. „[E]ine Subjektivität überhaupt […] ist nur denkbar in einer Wesens‐ form, die wir in ihren sehr vielfältigen Gehalten in fortschreitender Evidenz gewinnen, indem wir unsere eigene konkrete Subjektivität an‐ schaulich enthüllen, und durch freie Abwandlung ihrer Wirklichkeit in Möglichkeiten einer konkreten Subjektivität überhaupt, unseren Blick auf das dabei erschaubare Invariable, also das Wesensnotwendige rich‐ ten.“ (Hua 17/33)
Rufen wir uns in Erinnerung: Husserl hatte das durch Wesensschau gewonnene Wesen in den Ideen als einen anschaulich gegebenen Gegenstand bestimmt, dem ideales Sein zukommt. Dies muss folg‐ lich auch für die als Eidos Ego gefasste Subjektivität gelten. Ent‐ sprechend spricht Husserl in Formale und Transzendentale Logik von jener wesenhaften Subjektivität als dem „einzigen absolut Seien‐ den“ (Hua 17/278). Anders als Kant bestimmt Husserl den höchsten Punkt der Subjektivität also nicht als eine rein intellektuelle Funkti‐ on der Einheitsstiftung, die für sich genommen leer ist, sondern als erstes und absolutes Sein, das allem weiteren Sein als Bedingung der Möglichkeit vorausgeht. Eley bringt diese Spezifik der transzen‐ dentalen Subjektivität auf den Punkt. „Das transzendentale Ich weiß nach Husserl um sich, indem es sich zuschaut – und gerade deswe‐ gen ist die Transzendentalphilosophie im Sinne Husserls transzen‐ dentale Phänomenologie.“350 Schließlich gilt es das Verhältnis von faktischem und transzen‐ dentalem Subjekt noch einmal in den Blick zunehmen, denn wie eingangs dargelegt, entzündet sich Adornos Kritik der transzenden‐ talen Subjektivität an eben dieser Verhältnisbestimmung. Husserls Ausgangspunkt ist das empirisch-faktische Subjekt, das durch die phänomenologische Reduktion von allem Faktischen gereinigt wer‐ den soll und so als transzendentales Ego samt seiner intentionalen Konstitutionsleistungen, schließlich als Monade in den Blick kommt. Das in seiner Konkretion gefasste transzendentale Ego unterwirft Husserl nun der Wesensschau, mit dem Ziel, die allgemeinen und apriorischen Strukturen einer transzendentalen Subjektivität über‐ 350 Eley: „Konstruktive Phänomenologie und kritische Theorie“, S. 64.
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haupt freizulegen. Die transzendentale Subjektivität überhaupt ist das Eidos Ego, das nach Husserl vom empirisch-faktischen Subjekt unabhängig sei. In den Cartesianischen Meditationen heißt es an entsprechender Stelle: „Das Eidos selbst ist ein erschautes bzw. erschaubares Allgemeines, ein reines, ‚unbedingtes‘, nämlich durch kein Faktum bedingt“ (Hua 1/105). Auch wenn das Eidos Ego der Faktizität enthoben sei, so behält es doch eine spezifische Beziehung zum faktischen Subjekt: Das faktische Subjekt ist als Möglichkeit im Eidos Ego enthalten, das „alle reinen Möglichkeitsabwandlungen meines faktischen [Ego; T. S.] und dieses selbst als Möglichkeit in sich faßt.“ (Hua 1/106) Schließlich sei das „‚Faktum‘ und seine ‚Irrationalität‘ selbst ein Strukturbegriff im System des konkreten Apriori“ (Hua 1/114). Faktizität wird so zu einer Wesensbestimmung der transzendentalen Subjektivität. b. Transzendentale Subjektivität und faktisches Subjekt Mit seiner Kritik an Husserls Konzeption der transzendentalen Sub‐ jektivität beansprucht Adorno, die Phänomenologie in ihrem Kern zu treffen. „Die Frage nach Recht und Unrecht von Phänomenologie in ihrer definitiven Gestalt konzentriert sich auf das εἰδος ego, die wesenhafte Subjektivität, deren Struktur unvermittelt gewiß sein soll und absolut gültig in ihrer Reinheit“ (GS 20.1/99). Die hier vorge‐ nommene Charakterisierung jener Subjektivität lässt deutlich wer‐ den, dass Adorno die Verschränkung von Idealismus und Positivis‐ mus, die er als Spezifikum der Phänomenologie herausgestellt hatte, noch in Husserls Eidos Ego entdeckt. Dieses soll nicht-faktisch und dennoch, im Sinne des Positivismus, unmittelbar einsehbar sein. „Der positivistische Impuls“ so Adorno „setzt noch im εἰδος ego als szientivisch-kritischer sich durch: die Transposition des reinen Ich in ein ‚Wesen‘, seine Emanzipation von allem ‚Weltlichen‘ kann be‐ friedigt werden bloß als eine durch den Gang von ‚Forschung‘ vorge‐ zeichnete“ (GS 20.1/108f.). Die transzendentale Subjektivität als der Grundbegriff des Idealismus soll bei Husserl kein Produkt spekula‐ tiver Konstruktion sein, sondern „als ‚Gebiet‘ erschlossen werden“ (GS 20.1/109). Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass Adornos Kritik der transzendentalen Subjektivität auf der glei‐ chen Argumentation beruht wie seine Kritik der Wesensschau. Diese wird in Zur Philosophie Husserls in einen direkten Zusammenhang
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mit Husserls Eidos Ego gestellt. Den „Kern der Lehre vom εἰδος ego, die das Erbe der Wesensschau antritt“, bestimmt Adorno dabei folgendermaßen: „wie diese [die Wesensschau; TS], zumindest auf dem Standpunkt der ‚Ideen‘, aus einem singulären, individuellen Gegenstand dessen ‚Wesen‘ soll herauspräparieren können, so soll die Variation der absoluten Sin‐ gularität ‚meines‘ Bewußtseinslebens, ohne alle Rücksicht auf einen möglichen oder wirklichen Umfang von Bewußtseinsindividualität, von denen das Wesen könnte abstrahiert werden, deren ‚Wesen‘ als eben das εἰδος ego ergeben.“ (GS 20.1/106)
Hatte Adorno gegen Husserls Wesenslehre argumentiert, dass das Verfahren der eidetischen Variation die Verschränkung von Wesen und Faktizität bezeugt, so richtet er dieses Argument nun gegen die Konzeption des Eidos Ego. Aufgrund des positivistischen Postulats unmittelbarer Anschaulichkeit muss Husserl vom faktischen Subjekt ausgehen, um zum Eidos Ego zu gelangen. Dies bezeugt nach Ador‐ no bereits, dass sich die transzendentale Subjektivität nicht von der Faktizität emanzipieren lässt. „Wäre dem Erkenntnistheoretiker in der Tat bloß ‚sein‘ Ich als Ausgangspunkt gegeben, […] so könnte auch die Variation, wofern sie ‚sein‘ Ich festhält, immer nur im Rahmen ‚sein Ich‘ spielen“ (GS 20.1/106f.). Das aber heißt in der Konsequenz: „Die egologische Erfahrung kann nicht wesenhaft wer‐ den; das Wesen nicht der Relation auf Dasein sich entäußern“ (GS 20.1/108). Römer hat diesen Gedanken Adornos pointiert zusam‐ mengefasst: „Analog dazu, wie der deutsche Idealismus den Geist zum obersten Prinzip gemacht habe, versuche Husserl laut Adorno die transzendenta‐ le Subjektivität als ein absolut Erstes zu setzen. Bei dem Versuch der Ausarbeitung einer eidetischen Phänomenologie im Ausgang vom je meinigen Erfahrungssubjekt jedoch ergebe sich bei Husserl eine funda‐ mentale Aporie: Wenn die phänomenologischen Wesen über Phantasie‐ variationen gewonnen werden sollen, so können sie unmöglich von der Faktizität des variierenden Ego losgelöst werden; damit aber sind sie niemals reine Wesen, sondern bleiben an die faktische Bedingtheit des konkreten Ego gebunden.“351
Die Kritik kann hier jedoch noch nicht Halt machen, denn ob‐ wohl vom faktischen Subjekt auszugehen sei, um zum Eidos Ego 351 Römer: „Gibt es eine ‚geistige Erfahrung‘ in der Phänomenologie?“, S. 70.
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zu gelangen, behauptet Husserl ja schließlich, dass letzteres dem faktischen Subjekt als reine Möglichkeit vorausgeht. Hier liegt nach Adorno der „nervus probandi“, denn Husserls Übergang zum Eidos Ego sei durch eine „Erschleichung“ (GS 20.1/101) gewonnen: „in diesem Übergang verschwindet der Bezug des angeblich absoluten ‚transzendentalen‘ Seins aufs Faktum“ (GS 20.1/106). Um diese Er‐ schleichung als eine solche auszuweisen, muss die Kritik noch einen Schritt weitergehen. „[V ]ermag sie des Momentes von Faktizität, von raumzeitlicher ‚Welt‘, im εἰδος ego habhaft zu werden, dann ist der Idealismus nicht zu retten, dessen Kritik Husserl selber bis zu dieser Stelle vorgetrieben hat.“ (GS 20.1/100) Adorno versucht deshalb zu zeigen, dass nicht nur Husserls Weg zum Eidos Ego die Verschränkung von Faktizität und transzendentaler Subjektivität bezeugt, sondern jene Subjektivität ihrem eigenen Gehalt nach auf das faktische Subjekt zurückverweist. Auch hier ist uns Adornos Argument bereits bekannt. Gegen die Wesenslehre der Ideen hatte Adorno eingebracht, dass Husserl das als Konkretum gefasste sach‐ haltige Wesen, dem Dies-da, d.i. der bloßen Tatsache, angleiche. Weil dadurch die Auflösung der geforderten Differenz von Wesen und Tatsache drohe, verflüchtige sich die Sachhaltigkeit des Wesens. Letztendlich erweise sich das Wesen als der bloße Allgemeinbegriff und das heißt als eine Abstraktion aus der empirischen Erfahrung. Auch Adornos Kritik der transzendentalen Subjektivität kreist um das Verhältnis von Wesen und Tatsache, nun gefasst als Verhältnis von Eidos Ego und faktischem Subjekt. Die entscheidende Frage sei, „wie sich die beiden Ichbegriffe zueinander verhalten: die Sub‐ jektivität ‚Ich selbst‘, die von Husserl ohne weiteres der psychophysi‐ schen Person gleichgesetzt ist, und das ‚Transzendentale Ego“‘ (GS 20.1/101). Um die Beantwortung dieser Frage nachzuvollziehen, sei an einen zentralen Aspekt von Husserls Konzeption der transzen‐ dentalen Subjektivität erinnert: Diese Subjektivität wird von Husserl als ein Sein gefasst. Auf diesen Aspekt weist Adorno hin, wenn er bemerkt, dass das transzendentale Ego „mehr sein soll als das abstrakte Kantische Ich denke, von welchem Husserl doch angele‐ gentlich es unterscheiden möchte“ (GS 20.1/102f.). Im Gegensatz zu Kant bestimmt Husserl den höchsten Punkt der Subjektivität nicht als abstrakte Form der Synthesis, sondern als Sein. Und mehr als das: Wie am Begriff der Monade deutlich wurde, ist Husserls transzendentale Subjektivität ebenso wenig als transpersonale All‐
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gemeinheit anzusehen, sondern als konkrete Subjektivität mit allge‐ meinen und notwendigen Wesensgesetzen. Deshalb ist es für Hus‐ serl möglich, von meiner transzendentalen Subjektivität zu sprechen. Dementsprechend beschreibt Adorno das Eidos Ego in Husserl and the Problem of Idealism als „a strictly individual, personal conscious‐ ness which is nevertheless supposed to be absolutely nonfactual, a pure essence, whilst not derived from any plurality of individual consciousnesses“ (GS 20.1/133). Husserls Bestimmung der transzendentalen Subjektivität als sin‐ guläres Sein lässt für Adorno die Frage aufkommen, worin deren ei‐ gentliche Differenz zum faktischen Subjekt besteht. „[W]arum dann die von Husserl so sehr betonte Differenz zwischen beiden; warum wird ihnen verschiedene Wertigkeit oder transzendentale Ursprüng‐ lichkeit zugeschrieben?“ (GS 20.1/102). Hatte Adorno argumentiert, dass die Wesenslehre der Ideen die Entsubstantialisierung des We‐ sens zum Resultat habe, das Wesen sich also als reine Form offenba‐ re, so gilt dies auch für Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivität: „Die radikale Differenz bei radikaler Identität des ‚Inhalts‘ läßt keinen anderen Weg, als Kantisch-traditionell genug, auf die ‚Form‘ zu rekurrieren und beiden Ichbegriffen verschiedene formale Konstitution zuzusprechen“ (GS 20.1/102). So erweise sich die transzendentale Subjektivität, Husserls eigener Beteuerung zum Trotz, als eine aus der Erfahrung des faktischen Subjekts gewonnene Abstraktion. Dies werde durch Husserls Rede von meinem transzen‐ dentalen Ego deutlich. Sie besagt nach Adorno, „daß der Begriff des transzendentalen Ich aus dem empirischen durch Abstraktion abge‐ leitet ward“ (GS 20.1/101f.). Erst die Hypostasierung des Abstrakti‐ onsprodukts führe dazu, dass die transzendentale Subjektivität vom faktischen Subjekt unabhängig erscheint. Wird aber „das transzen‐ dentale Ich radikal vom animus oder intellectus getrennt, der in die ‚Welt‘ gehört, so wird problematisch das Recht, es überhaupt noch ‚Ich‘ zu nennen“ (GS 20.1/105). Nach Adorno gründet die für den Idealismus charakteristische Hypostasierung des Geistes darin, dass ein durch Abstraktion gewonnener Allgemeinbegriff des faktischen Subjekts von der Erfahrung abgespalten und verselbstständigt wird. In Zur Philosophie Husserls schreibt Adorno: „Mag immer der Idealist die ausabstrahierten Bedingungen der Mög‐ lichkeit eines phänomenalen Ich transzendental heißen – sie bleiben auf dies phänomenale, irgend ‚tatsächliche‘ Ich angewiesen, weil sie
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nicht ‚an sich‘ gelten. Sie sind nicht zu determinieren, besitzen keine ‚Bedeutung‘, es sei denn in Relation zu einem faktischen phänomenalen Ich und seinem faktischen Inhalt. Ihre Hypostasierung würde sie nicht bloß willkürlich von der Genesis ihrer eigenen Abstraktion abschneiden – sie machte sie im strengsten Verstande sinnlos; sie sind definierbar einzig im Rekurs auf Faktisches. Wenn der Idealist sie als Bedingungen der Möglichkeit von faktischem Bewußtseinsleben betrachtet, so ist fak‐ tisches Bewußtseinsleben die Bedingung ihr Möglichkeit ebensowohl. Der strengste Begriff des Transzendentalen vermöchte des Rekurses aufs Faktum sich nicht zu entledigen. Und bliebe damit was Husserl dem Cartesischen Ego vorwirft: ein Stück Welt.“ (GS 20.1/104)
Während Adorno dieses Argument gegen den Idealismus insgesamt, vor allem in seiner klassisch-deutschen Gestalt richtet,352 beinhaltet Husserls Konzeption der transzendentalen Subjektivität ein Merk‐ mal, das die Spezifik des transzendental-phänomenologischen Idea‐ lismus ausmacht: „Aus Angst um die absolute Sekurität […] überbietet Husserl allen traditionellen Idealismus; er weist die Abhängigkeit vom kontingenten Faktum in dessen eigener Konzeption vom Ich nach und statuiert als wahre und allein zureichende Voraussetzung das Ideal des faktenfreien transzendentalen. Damit aber hat er präzise den Hebelpunkt des Idea‐ lismus bestimmt.“ (GS 20.1/100)
Der von Husserl selbst erbrachte Nachweis, dass das kontingente Faktum in der transzendentalen Subjektivität enthalten sei, besteht nach Adorno darin, dass Husserl die Faktizität zu einer Wesensbe‐ stimmung eben jener Subjektivität erklärt. Indem Husserl betont, dass das faktische Subjekt eine Wesensmöglichkeit des Eidos Ego sei, gehe er über den klassischen Idealismus hinaus. „Sein Denk-Gewis‐ sen, geschärft von Mathematik und reiner Logik, hat ihn befähigt, 352 So bemerkt Adorno in seiner Vorlesung über die Kritik der reinen Vernunft, dass bei Kant, ebenso wie bei Fichte, „ein Reflexionsbegriff – also ein Begriff, der durch einen denkenden Prozeß von etwas Gegebenem abstrahiert ist, aber in dieser Abstraktion doch auf das Gegebene bezogen bleibt – nun so behan‐ delt wird, als ob er mit dem, worauf er bezogen ist, schlechterdings nichts zu tun hat. Man muß unterscheiden die logische Gültigkeit von Abstraktionen – die natürlich frei ist von den Einzelmomenten, von denen abstrahiert wird dabei – von dieser ich möchte beinahe sagen: transzendentalen Gültigkeit der Abstraktionen; das heißt: ob solche obersten Abstraktionsbegriffe an sich gel‐ ten, ohne daß sie in sie selber wieder sachhaltige Voraussetzungen notwendig mit hereingenommen werden müssen“. NaS IV 4/221f.
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das Faktische, bloß Seiende, aus der Idee Unableitbare dort noch aufzuspüren, wo der herkömmliche Idealismus vor allen Zufällen der Welt sich geborgen meint: im denkenden Ich“ (GS 20.1/99). In den Cartesianischen Meditationen findet Adorno noch einen weite‐ ren Beleg für die unauflösliche Verschränkung von transzendentaler Subjektivität und faktischem Subjekt. An einer Stelle, auf die sich Adorno in einer Fußnote der Metakritik bezieht, stößt Husserl auf den Leib des transzendentalen Ego und ordnet ihm Empfindungsfel‐ der zu: „Unter den eigentlich gefaßten Körpern dieser Natur finde ich dann in einziger Auszeichnung meinen Leib, nämlich als den einzigen, der nicht bloßer Körper ist, sondern eben Leib, das einzige Objekt inner‐ halb meiner abstraktiven Weltschicht, dem ich erfahrungsgemäß Emp‐ findungsfelder zurechne, obschon in verschiedenen Zugehörigkeitswei‐ sen (Tastempfindungsfeld, Wärme-Kältefeld usw.), das einzige, ‚in‘ dem ich unmittelbar ‚schalte und walte‘, und insonderheit walte in jedem seiner ‚Organe‘. Ich nehme, mit den Händen kinästhetisch tastend, mit den Augen ebenso sehend usw., wahr und kann jederzeit so wahrneh‐ men, wobei diese Kinästhesen der Organe im ‚Ich tue‘ verlaufen und meinem ‚Ich kann‘ unterstehen; ferner kann ich diese Kinästhesen ins Spiel setzend stoßen, schieben usw. und dadurch unmittelbar und dann mittelbar leiblich handeln.“ (Hua 1/128)353
Indem Husserl auf den für das Bewusstsein konstitutiven Beitrag des Leibes stößt, treibt er die phänomenologische Analyse in Adornos Augen so weit, dass die Reinheit dieses Bewusstseins gefährdet wird. Es zeige sich, „daß die Empfindung, nach Husserls Doktrin unmit‐ telbar irreduktibler Tatbestand des transzendentalen ego, gar nicht isoliert werden kann von den Sinnesorganen“ (GS 5/149). Weil die Leibempfindung, die Husserl dem transzendentalen Ego zugesteht, von den Sinnesorganen überhaupt nicht zu trennen ist, werde unab‐ weislich, dass dieses Ego eben doch ein ‚Stück Welt‘ ist. „An dieser Stelle muß Husserls Analyse verstummen, wenn sie nicht die gesam‐ te ἐποχή durch einen in dieser gewonnenen Befund sprengen will“ (GS 5/150). Abermals, so ließe sich mit Adorno argumentieren, ver‐ sucht Husserl die Überlegenheit des reinen Bewusstseins zu sichern, indem er betont, dass die Kinästhesen der Sinnesorgane ‚meinem
353 Zit. n. GS 5/149.
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‚Ich kann‘ unterstehen‘ und damit der transzendentalen Subjektivität unterliegen.354 An der phänomenologischen Konzeption der transzendentalen Subjektivität wird Adorno zufolge die Aporie der Erkenntnistheorie sichtbar – nicht als ein spezifisches Problem der Husserlschen Phä‐ nomenologie, sondern als fundamentales Problem des Idealismus. Indem Husserl die Verschränkung von kategorialer Form und Fak‐ tizität in der transzendentalen Subjektivität selbst nachweist, habe er jenen Punkt des Idealismus getroffen, an dem dieser am ver‐ letzlichsten ist. Wie Adorno in Zur Philosophie Husserls schreibt, bleibe die transzendentale Subjektivität „auf Faktisches verwiesen und Faktisches gehört zum ‚Sinn‘ des transzendentalen hinzu, das nicht verselbständigt und als absolutes Fundament behandelt wer‐ den darf “ (GS 20.1/103). Ist der Idealismus aber auf die Faktizität verwiesen, so kann er „nicht länger hoffen, diese zu begründen. Die Relation zum Faktum, die im Innersten des transzendentalen ‚Sinnes‘ wohnt, zersetzt dessen Wesenhaftigkeit und Apriorität“ (GS 20.1/104). Schließlich habe Husserl „den Idealismus, um ihn nur ja in seiner absoluten Sekurität zu erweisen, der schwersten Probe aus‐ gesetzt. Das Experiment hat sich gegen ihn gekehrt: der Idealismus ist zerfallen.“ (GS 20.1/104) Auch in der Metakritik kommt Adorno zu diesem Schluss. Es sei die „Aufhebung des Idealismus, die am Ende von Husserls Philosophie sich anzeigt“ (GS 5/234). Husserl habe „die fundamentale Bewußtseinsanalyse so weit [getrieben], bis sie ins nicht Bewußtseinseigene umschlägt“ und damit „den Begriff des absolut Ersten selber [widerlegt]“ (GS 5/234f.). Adornos Argumentation zufolge bezeugt die transzendentale Phä‐ nomenologie das unabweisbare Scheitern des Idealismus. Dennoch habe Husserl den Idealismus nicht verlassen. Wie seine Konzeption der transzendentalen Subjektivität vor Augen führe, habe er bis zu‐ 354 Meyer-Drawe hat Husserls Ringen mit dem Phänomen der Leiblichkeit darge‐ legt und ist dabei auch auf Adornos Husserl-Kritik eingegangen. Leiblichkeit, so Meyer-Drawe, „bleibt eine Provokation der Architektur des Erkennens, weil sie die Sortierung nach Subjekt und Objekt, nach innen und außen, nach aktiv und passiv sabotiert, weil sie immer auf beiden Seiten des Geschehens ist. Je genauer der phänomenologische Blick die Konstitutionsleistungen betrachtet, um so mehr muß sich das Bewußtsein in seiner Überlegenheit aufspielen, weil der Rückgang auf die Sachen selbst […] erkennen muß, daß die Epoché unvoll‐ ständig bleiben muß, da sie nicht an ein Erstes heranlangt.“ Meyer-Drawe: „Der Leib – ‚ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding‘“, S. 297.
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Abschlussreflexion: Die transzendentale Phänomenologie
letzt und mit aller Kraft versucht, der Aporie der Erkenntnistheorie auf dem Boden des Idealismus Herr zu werden. Dass Husserl die Faktizität selbst zu einer Wesensbestimmung jener transzendentalen Subjektivität erklärt, gebe Zeugnis davon. Die Funktion, die nach Adorno bereits der kategorialen Anschauung zukam, nämlich „die phänomenologischen Antinomien zu beheben, indem die Leistung des Paradoxen zum positiven Wesen erhoben wird“ (GS 20.1/70), werde der transzendentalen Subjektivität vererbt. Die Dialektik, die sich in dieser Paradoxie verbirgt, habe Husserl bis zuletzt nicht aus‐ getragen. Seine transzendentale Phänomenologie kulminiert in dem Versuch, „den Idealismus im paradoxen Einstand festzubannen“ (GS 5/235).
Abschlussreflexion: Die transzendentale Phänomenologie als konsequenteste Gestalt des Idealismus Jener Brief an Horkheimer vom 23. Oktober 1937, in dem Adorno von der „Selbstzerstörung des Idealismus“355 spricht, die sich in Husserls Phänomenologie ereigne, ist ein Dokument der philosophischen Selbstbehauptung. Verfasst, nachdem Horkheimer unmissverständ‐ lich zum Ausdruck gebracht hatte, dass er die grundlegenden Thesen des Aufsatzes, den Adorno in der Zeitschrift für Sozialforschung zu veröffentlichen hoffte, ablehnt. Husserls Phänomenologie, so Hork‐ heimer, „ist eben nicht das, wofür sie von Ihnen scheinbar ausgegeben wird – der Idealismus in seiner konsequentesten Gestalt.“356 Auch wenn Adorno bemüht ist, die Veröffentlichung seines Aufsatzes zu retten, beharrt er in seinem Brief auf der These von der „exemplari‐ schen Bedeutung der Husserl-analyse [sic] für das gesamte Problem des Idealismus“357. Dass noch in den Schlussworten der fast zwanzig Jahre später erschienen Metakritik von der „Aufhebung des Idealis‐ mus, die am Ende von Husserls Philosophie sich anzeigt“ (GS 5/234), die Rede ist, bezeugt Adornos Festhalten an seiner Überzeugung. Wir 355 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 451. 356 Brief Horkheimers an Adorno vom 13.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 427. 357 Brief Adornos an Horkheimer vom 23.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel, 1927–1937, S. 451.
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wollen uns die Grundlinien von Adornos Argumentation noch einmal vor Augen führen und dabei den Fokus auf die Frage legen, worin die Spezifik der transzendentalen Phänomenologie nach Adorno besteht; ja aus welchem Grund Husserls Phänomenologie der Idealismus in seiner konsequentesten Gestalt sei. Diese These hatte Adorno bereits in der Antrittsvorlesung von 1931 ausgesprochen. Husserl komme das Verdienst zu, „den Idealismus von jedem spekulativen Zuviel gereinigt und ihn auf das Maß der höchsten ihm erreichbaren Realität gebracht“ (GS 1/328) zu haben. Zunächst jedoch trat Husserls Phänomenologie unter antiidealis‐ tischer Flagge in die philosophische Arena des beginnenden 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Forderung ‚Zurück zu den Sachen selbst‘ richtete sie sich gegen den in der modernen Erkenntnistheorie ver‐ tretenen Vorrang des Subjekts. Husserl behauptet in den Logischen Untersuchungen, dass die logischen Gesetze, ebenso aber auch Be‐ deutungsgehalte von Aussagen, ihren Ursprung nicht im urteilenden Subjekt hätten; sie seien stattdessen Wahrheiten an sich. Adorno hat‐ te argumentiert, dass die von Husserl beschriebenen idealen Gegen‐ stände Ausdruck einer Verdinglichung der Verstandestätigkeit seien und allein deshalb den Charakter des subjektunabhängigen Ansich‐ seins erhielten. In Wahrheit habe Husserl den Bereich der Bewusst‐ seinsimmanenz nie verlassen, wie seine mit den Ideen eingeleitete und in den Cartesianischen Meditationen fortgeführte idealistische Wende bezeugt. Obwohl der von Adorno so bezeichnete Ausbruchsversuch Husserls aus der idealistischen Bewusstseinsimmanenz misslungen sei, offen‐ bare die Fortentwicklung seiner Phänomenologie in einer nie zuvor erreichten Deutlichkeit, dass der idealistische Anspruch, die Wirklich‐ keitskonstitution aus einer transzendentalen Subjektivität zu begrün‐ den, uneinlösbar ist. Der spezifische Grundcharakter der Phänome‐ nologie, die Verschränkung von Positivismus und Idealismus, führe zu einer Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie, die Adorno ausge‐ hend von Husserls Theorie der kategorialen Anschauung beschreibt. Sie verbinde die positivistische Forderung, alle Gegenstände der Erkenntnis in unmittelbarer Anschauung auszuweisen, mit der idea‐ listischen Annahme einer geistigen Idealsphäre, die von der Faktizität unabhängig sei, ja, dieser als Ermöglichungsbedingung vorausgehe. So sind Husserl zufolge nicht nur empirische Gegenstände, sondern auch kategoriale Formen in der Anschauung unmittelbar zugänglich. Nach
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Adorno stellt die kategoriale Anschauung somit den Versuch dar, „die divergenten Motive zur paradoxen Einheit zu verschmelzen“ (GS 20.1/68). An dieser Darstellung hat Adorno festgehalten. In seiner Vorlesung Ontologie und Dialektik aus den Jahren 1960/61 stellt er die „antinomische Struktur der Gegebenheit geistiger Sachverhalte bei Husserl“ (NaS IV 7/266) heraus, die in der Theorie der kategorialen Anschauung zum Ausdruck komme.358 Im paradoxen Charakter der kategorialen Anschauung verberge sich zugleich eine Dialektik, die Husserl aufgrund seines phänomenologischen Ansatzes nicht auszu‐ tragen vermochte, die jedoch die weitere Entfaltung der Aporie der Erkenntnistheorie in der Wesenslehre der Ideen bedingt. Adorno argumentiert, dass Husserls Wesenslehre ihre eigene An‐ nahme, einer der Faktizität vorgeordneten Idealsphäre, unterläuft. Die von Husserl beschriebenen Wesenheiten dürfen nicht durch ein Verfahren der Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen werden, da sie sonst den Charakter des faktenfreien Ansichseins verlieren würden. Ebenso wenig dürfen sie aus reinem Denken konstruiert werden, da dies der positivistischen Forderung nach unmittelbarer Anschaulichkeit zuwiderlaufen würde. Folglich geht Husserl vom anschaulich gegebenen singulären Gegenstand aus und beansprucht dessen Wesen durch eidetische Variation freizulegen, indem die bloß kontingenten Eigenschaften von den invarianten Eigenschaften un‐ terschieden werden. Damit jedoch werde die strikte Trennung von Wesen und Tatsache, die Husserl immer wieder hervorhebt, wider‐ rufen. „Läßt sich zum Wesen ohne Faktum, und wäre es auch nur ein einzelnes, nicht gelangen, so wird damit eigentlich jene Bezie‐ hung zwischen Begriff und Erfahrung implizit wiederhergestellt, die Husserl wegerklärt hatte“ (GS 5/125f.). Dieser Prozess einer Destruktion des Wesens, wird nach Adorno schließlich auch der transzendentalen Subjektivität zum Problem. Auch hier gilt, dass diese Subjektivität weder aus der Erfahrung abstrahiert noch aus reinem Denken konstruiert werden dürfe, son‐ dern anschaulich ausgewiesen werden müsse. Entsprechend geht Husserl vom individuellen Ich aus, um dessen Wesen – das Eidos Ego – durch eidetische Variation freizulegen. Husserl zufolge soll dieses Eidos Ego vom faktischen Ich gänzlich unabhängig sein, die‐ 358 Für eine tiefergehende Beschäftigung mit der Thematik empfiehlt er dabei das letzte Kapitel der Metakritik. Vgl. NaS IV 7/90.
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sem als Möglichkeit vorausgehen. Stattdessen bezeugt seine Konzep‐ tion jedoch, dass die transzendentale Subjektivität „auf dies phäno‐ menale, irgend ‚tatsächliche‘ Ich angewiesen [bleibt]“ (GS 20.1/104). Die Verschränkung von transzendentalem und faktischem Ego lässt sich nicht auflösen. Beleg hierfür sei einerseits, dass das faktische Subjekt als eine Wesensmöglichkeit im Eidos Ego erhalten bleibt. Anderseits führe Husserl die phänomenologische Analyse so weit, dass er auf die konstitutive Bedeutung des Leibes für das Bewusst‐ sein stößt. Damit handelt er sich ein Stück materieller Dingwelt ein. „Der strengste Begriff des Transzendentalen“, so Adorno, „vermöchte des Rekurses aufs Faktum sich nicht zu entledigen. Und bliebe damit was Husserl dem Cartesischen Ego vorwirft: ein Stück Welt“ (GS 20.1/104). In einer nie zuvor erreichten Deutlichkeit zeige sich bei Husserl, dass der idealistische Grundbegriff der transzendentalen Subjektivi‐ tät unauflöslich mit der Faktizität verschränkt sei und darum nicht als erstes Prinzip fungieren könne, aus dem die Wirklichkeitskonsti‐ tution abzuleiten sei. Wie die Vorlesung Ontologie und Dialektik be‐ zeugt, ist Adorno auch von dieser Darstellung nicht abgewichen. Mit wiederholtem Verweis auf das letzte Kapitel der Metakritik bemerkt er, dass Husserl in seiner Lehre vom Eidos Ego versucht habe, „die konstitutive Subjektivität des Idealismus und die reine Wesenhaftig‐ keit in einer äußerst kunstvollen Konstruktion […] ineinander zu bringen“ (NaS IV 7/101). Dabei werde deutlich, dass das Eidos Ego „gewissermaßen seiner eigenen Wesenhaftigkeit, der Reinheit des Gedankens entgleitet“ (NaS IV 7/100). Als konsequenteste Gestalt des Idealismus habe Husserls transzendentale Phänomenologie zu gelten, weil sie das unumgängliche Scheitern des Idealismus an sei‐ nem eigenen Anspruch – und das heißt: immanent – bezeugt. Konse‐ quent ist Husserls Vorgehen darum, weil er entsprechend der positi‐ vistischen Forderung, alle Gegenstände der Erkenntnis in unmittel‐ barer Anschauung auszuweisen, den idealistischen Grundbegriffen, wie es in Zur Philosophie Husserls heißt, „den Paß abverlangt“ habe: „Er unternahm es zu kontrollieren ob und in welcher Weise sie ‚da sind‘. Er ist dabei zum alten idealistischen Ergebnis gekommen, daß sie im faktischen Sinne nicht daseien; er hat dafür eine andere, ausweis‐ bare, eigene Art von ‚Dasein‘, als die des Idealen, unabhängig von Abs‐ traktionsvorgängen, die aufs Faktum zurückführen, ihnen zu erweisen versucht. Dieser Versuch ist ihm mißlungen: damit aber der der Recht‐
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Abschlussreflexion: Die transzendentale Phänomenologie
fertigung der idealistischen Idealität selber. Sein Mißlingen läßt den aporetischen Charakter der idealistischen Begriffe hart hervortreten.“ (GS 20.1/83)
Welche spezifische Bedeutung Adorno der transzendentalen Phäno‐ menologie innerhalb der Geschichte der modernen Philosophie zu‐ schreibt, bezeugt noch die 1955/56 verfasste Einleitung der Metakri‐ tik. „Je konsequenter die Erkenntnistheorie verfährt“, so schreibt Adorno, „desto weniger geht sie auf: so bereitet sie das Ende des Fetischismus der Erkenntnis vor. Der fetischisierte Geist wird sein eigener Feind: selten so eindringlich und prototypisch wie bei Hus‐ serl“ (GS 5/35).359 Mit seiner Darstellung beansprucht Adorno den Idealismus im‐ manent durchbrochen zu haben. Dabei erweist sich der Materialis‐ mus als die notwendige Konsequenz des Idealismus. Die „immanen‐ ten Widersprüche“ des Idealismus, so Adorno in Zur Philosophie Husserls, seien „als Ausdruck eben der realen gesellschaftlichen Bewegung zu verstehen […], die der idealistische Grundansatz aus‐ schließt“ (GS 20.1/99). Den hier ausgesprochenen Übergang in den Materialismus, den Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Hus‐ serls Phänomenologie vollzieht, werde ich im folgenden Kapitel re‐ konstruieren.
359 Meyer-Drawe hat das in anderen Worten ausgedrückt: „Husserls radikales Programm unter dem Motto ‚zu den Sachen selbst‘ sprengt die Hoffnung auf Letztbegründung, je mehr es sich diesem Ziel nähert.“ Meyer-Drawe: „Der Leib – ‚ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding‘“, S. 292.
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
Einleitung: Ein vom Dogma total verschiedener Weg Bekanntlich stammt die Äußerung Adornos, die diesem Kapitel als Leitwort dient – die nämlich, dass sein philosophisches Programm ein „vom Dogma total verschiedene[r] Weg zum Materialismus“360 sei – nicht aus der Entstehungsphase der Metakritik. Sie findet sich in einem Brief an Scholem vom 14. März 1967, der zu diesem Zeit‐ punkt gerade die Lektüre der Negativen Dialektik abgeschlossen hat‐ te. Wie Adorno ausführt, besteht die Spezifik von deren Programm darin, dass er sich „in der Arbeit gerade nicht eine materialistische These vorgegeben“ hat: „es wird versucht, in einem sehr bestimmten Sinn Materialismus zu erreichen, nicht von ihm auszugehen.“361 Er‐ reicht worden sei dieser Materialismus durch die Herausarbeitung der immanenten Aporetik des Idealismus. „Die triftigen Argumente, die ich gegen den Idealismus glaube vorgebracht zu haben, präsen‐ tieren sich jenseits des Bannes, und wie ich denke, stringent als materialistische.“362 Adorno betont, dass der von ihm erreichte Mate‐ rialismus „nicht abschlußhaft, keine Weltanschauung, kein Fixiertes ist.“363 Das unterscheide ihn vom dogmatischen Materialismus des orthodoxen Marxismus: „Ich meine also einen Materialismus gegen den offiziellen, ketzerisch ganz und gar.“364 Die These, die ich in diesem Kapitel entfalten werde, ist die fol‐ gende: Adorno vollzieht die Überschreitung des Idealismus hin zu einem undogmatischen Materialismus nicht erst in der Negativen Dialektik, sondern bereits in seiner Auseinandersetzung mit Hus‐ 360 Brief Adornos an Scholem vom 14.3.1967. Adorno u. Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S. 414. 361 Ebd. (Unterstreichung im Original). 362 Ebd. 363 Ebd. 364 Ebd.
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
serls Phänomenologie. Der Übergang ist der Sache nach bereits in der Metakritik – genau genommen schon in Zur Philosophie Husserls von 1937 – vollzogen. Die Entfaltung dieses Materialismus erfolgt schließlich in der Negativen Dialektik. Scholem scheint das in seiner Lektüre bemerkt zu haben: „Der Zusammenhang mit Ihrem Husserl-Buch war mir natürlich sehr deutlich und zu gleich auch nützlich, um Ihre Intention zufassen.“365 Doch auch Adorno selbst gibt solche Hinweise. An Thomas Mann schreibt er am 1. August 1950, dass es in seinem kürzlich veröffentlichten Aufsatz Zur Philoso‐ phie Husserls darum gehe, „den dialektischen Materialismus nicht dogmatisch der Philosophie von außen entgegenzustellen, sondern als deren eigene Wahrheit in ihrer Objektivität zu begreifen.“366 Ähnliches sagt Adorno in der 1965/66 gehaltenen Vorlesung über Negative Dialektik über die Metakritik. Das Buch habe „sich die Auf‐ gabe [ge]setzt, nicht dem Idealismus dogmatisch eine materialisti‐ sche Philosophie gegenüber zu setzen, sondern nach seinem eigenen Maß, immanent den philosophischen Idealismus zu sprengen“ (NaS IV 16/78). Darüber hinaus ist in der ursprünglichen Fassung der Einleitung der Negativen Dialektik367 eine Formulierung zu finden, die bezeugt, dass Adorno bis in sein Spätwerk eine Verbindung zwi‐ schen seiner eigenen Philosophie und der Phänomenologie Husserls gesehen hat. Dort heißt es: „Das Zu den Sachen, das Husserl bloß proklamiert hatte, wäre durchzuführen, ohne daß die Sachen durch ihre erkenntnistheoretischen Kategorien substituiert würden“ (NaS IV 16/238). Schon hier kündigt sich an, dass die Entfaltung von Adornos Materialismus in der Negativen Dialektik unter Bezugnah‐ me auf Husserls Phänomenologie erfolgt. Negative Dialektik lässt sich geradezu als Adornos Versuch verstehen, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ einzulösen.
365 Brief Scholems an Adorno vom 1.3.1967. Adorno u. Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S. 407. Wie aus einem Brief Scholems an Adorno hervorgeht, hatte er bereits den Aufsatz Zur Philosophie Husserls gelesen. Vgl. Brief Scholems an Adorno vom 27.3.1942. Adorno u. Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S. 323. 366 Theodor W. Adorno u. Thomas Mann: Briefwechsel 1943–1955, hg. von Chris‐ toph Gödde u. Thomas Sprecher, Briefe und Briefwechsel, Bd. 3, Frankfurt am Main 2002, S. 82f. 367 Diese Fassung findet sich unter dem Titel Zur Theorie der geistigen Erfahrung im Anhang der Vorlesung über Negative Dialektik. Vgl. NaS IV 16/227–262.
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Einleitung: Ein vom Dogma total verschiedener Weg
Ich werde meine These in zwei Schritten entfalten. Das erste Unterkapitel wird Adornos Konzeption einer materialistischen Lo‐ gik darlegen, wie sie in Zur Philosophie Husserls und in der Meta‐ kritik entworfen wird. Adorno gelangt zu dieser materialistischen Logik, indem er die Aporie der Erkenntnistheorie materialistisch interpretiert. Die Überlegungen, die solch eine Interpretation recht‐ fertigen sollen, entwickelt Adorno in enger Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Geltung und Genesis der Logik. Während Husserl in den Pro‐ legomena zur reinen Logik noch die strikte Trennung von Geltung und Genesis postuliert, stößt er im Zuge der Ausarbeitung seiner genetischen Phänomenologie auf eine ‚Sinnesgenesis‘ der logischen Urteile und damit auf eine Historizität der Logik. Husserl liefert für Adorno den immanent-erkenntnistheoretischen Beleg dafür, dass die vermeintlich reinen, aller Faktizität enthobenen erkenntnistheo‐ retischen Begriffe einen gesellschaftlichen Gehalt in sich tragen. An diesem Punkt rückt Adorno in die Nähe von Sohn-Rethels Versuch einer Rückführung der idealistischen Erkenntnistheorie auf die Wa‐ renform. Wie ich in einem Exkurs zeigen werde, unterscheiden sich die beiden Programme jedoch in Hinblick auf Methode und Durchführung. Adorno gelangt schließlich zu dem Ergebnis, dass sich die Logik zwar nicht auf Gesellschaft reduzieren lässt, jedoch ihrem eigenen Sinn nach auf die Gesellschaft verweist. Mit diesem Nachweis beansprucht Adorno den Übergang in den Materialismus zu vollziehen (1). Im zweiten Unterkapitel werde ich Adornos Weg in die Negative Dialektik ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit Hegels Ka‐ tegorie der Vermittlung nachzeichnen. Dabei zeigt sich, dass Ador‐ nos Konzeption einer inneren Vermittlung auf ein Motiv der geneti‐ schen Phänomenologie rekurriert: Adorno fasst den Widerspruch als Sinnesimplikat des Begriffs und damit als ein Moment, auf das der Begriff seinem eigenen Sinn nach verweist. Die Absetzung von Hegels Vermittlungsbegriffs kulminiert in Adornos Theorem vom Vorrang des Objekts: „Durch den Übergang zum Vorrang des Objekts“, so Adorno, „wird Dialektik materialistisch“ (GS 6/193). Nicht nur beruht jenes Theorem auf einer Aneignung phänomeno‐ logischer Motive; auf der Strukturebene negativer Dialektik wird die Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ durch den Übergang zum Vorrang des Objekts eingelöst. Im letzten Unterkapitel werde ich auf das
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
Verfahren negativer Dialektik eingehen und die Bedeutung der Hus‐ serlschen Wesensschau für Adornos Mikrologie herausstellen. Die Mikrologie bildet wiederum die Voraussetzung für ein Verfahren, das Adorno als gesellschaftliche Physiognomik bezeichnet. Die Phy‐ siognomik zielt auf die Freilegung eines gesellschaftlichen Gehalts in geistigen, sozialen und kulturellen Phänomenen und geht damit über die Negative Dialektik hinaus (2).
1. Adornos materialistische Logik Schon zu Beginn der dreißiger Jahre ist der Übergang in den Materialismus das erklärte Ziel von Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie. Wie er 1934 an Horkheimer schreibt, soll seine Husserl-Arbeit „eine Art kritisch-dialektisches Vorspiel einer materialistischen Logik abgeben“ und „aus Philoso‐ phie gerade dort, wo sie sich am abstraktesten gibt, den Funken der historischen Konkretion […] schlagen“.368 Benjamin gegenüber spricht Adorno von dem „Gedanke[n] der Interpretation von Lo‐ gik als gesellschaftlichem Ausdruck“369, der die Husserl-Arbeit be‐ herrscht. Bei der Feststellung, dass die Selbstzerstörung des Idea‐ lismus in Husserls Phänomenologie zur Vollendung kommt, ist also keinesfalls stehenzubleiben. Vielmehr soll es in einem zweiten Schritt darum gehen, so Adorno in Zur Philosophie Husserls, die „immanenten Widersprüche“ der idealistischen Erkenntnistheorie „in ihrer historischen Entfaltung, als Ausdruck eben der realen gesellschaftlichen Bewegung zu verstehen […], die der idealistische Grundansatz ausschließt“ (GS 20.1/99). Die Aporie der Erkennt‐ nistheorie soll also materialistisch interpretiert werden. Adorno sieht in der genuin erkenntnistheoretischen Diskussion einen sys‐ tematischen Anknüpfungspunkt für seine Überlegungen: das Ver‐ hältnis von Geltung und Genesis der Logik.
368 Brief Adornos an Horkheimer vom 24.11.1934. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 41. 369 Brief Adornos an Benjamin vom 28.5.1936. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 179.
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1. Adornos materialistische Logik
I. Geltung und Genesis
Die Frage, ob die Geltung der logischen Gesetze von ihrer Genese im menschlichen Bewusstsein unabhängig ist, oder auf diese zurückge‐ führt werden kann, entwickelt sich im späten 19. Jahrhundert zu einem Hauptproblem der Erkenntnistheorie. Sie ist aufs Engste verknüpft mit einer Fragestellung, die wir bereits in Kapitel 1 im Zusammenhang mit Adornos Annahme eines Doppelcharakters der Erkenntnisformen diskutiert hatten: Ob das sinnlich Gegebene oder das Denken Aus‐ gangsgrund der Erkenntnistheorie sein müsse. Die in Kapitel 1 darge‐ stellten Konzeptionen der positivistischen und der idealistischen Immanenzphilosophie gaben gegensätzliche Antworten auf diese Fra‐ ge. Auch hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Genesis und Geltung weichen sie in einem grundlegenden Sinne voneinander ab. Die von Avenarius und Mach vertretene positivistische Imma‐ nenzphilosophie bestimmt die Empfindungen als „Weltelemente“370 und muss darum die Vorstellung einer logischen Idealsphäre, deren Geltung von der Erfahrung unabhängig sei, ablehnen. Deutlich wird das in Machs zustimmender Bezugnahme auf den Psychologisten Friedrich Eduard Beneke.371 Nach Beneke sei es ein Fehler, „die in der ausgebildeten Seele hervortretenden Formen als schon vor der Erfah‐ rung, oder bestimmter, der Entwicklung der Seele gegebene“372 vor‐ auszusetzen. Stattdessen seien „[d]ie Formen, welche für die Erkennt‐ nis zunächst vorliegen, […] erst in der Entwicklung der Seele entstan‐ den“373. Der Neukantianismus der Südwestdeutschen wie der Mar‐ burger Schule, der mit Adorno als idealistische Immanenzphilosophie charakterisieret werden kann, nimmt eine Gegenposition ein. Wie wir exemplarisch bei Windelband lesen, beweise der „Umstand, daß der kausal bedingte Prozeß des menschlichen Gattungslebens zum Be‐ wußtsein gewisser Sätze geführt hat, […] nicht das Geringste für ihre absolute Geltung oder ihre Berechtigung“374. 370 Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 23. 371 Sowohl Windelband als auch Husserl betrachten Beneke als einen Hauptbe‐ gründer des Psychologismus. Vgl. Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 2, S. 423. Hua 18/142. 372 Beneke: System der Logik als Kunstlehre des Denkens, S. 23, zit. n. Mach: Er‐ kenntnis und Irrtum, S. 281. 373 Ebd., S. 281f. 374 Windelband: „Kritische oder genetische Methode?“, S. 370.
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
Es ist die hier skizzierte erkenntnistheoretische Debatte, in die sich auch Husserls Prolegomena von 1900 einreihen. Die schlagende Kraft, die Husserls Durchbruchswerk und der darin entwickelten Psychologismuskritik gemeinhin zugesprochen wird, besteht in dem erbrachten Nachweis, dass sämtliche Versuche, die Geltung der logi‐ schen Gesetze empirisch zu erklären, in einen Relativismus führen, der gegen die Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt verstößt.375 Im Folgenden werde ich Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Prolegomena rekonstruieren. Die Schlüsse, die sich für Adorno aus dieser Auseinandersetzung ergeben, bilden die Grundla‐ ge für seine Konzeption einer materialistischen Logik. a. Husserls Idee einer reinen Logik und Adornos Kritik des logischen Absolutismus Als Adorno am 24. November 1934 sein geplantes Husserl-Buch erstmals gegenüber Horkheimer erwähnt, berichtet er, dass „im Entwurf “ bereits eine „eingehende Analyse des I. Bandes L.U.“376 vorliegt. Offensichtlich beginnt Adorno sich unmittelbar nach seiner Aufnahme am Merton College im Herbst 1934 in Husserls Prolego‐ mena zu vertiefen. Die behandelten Themenkomplexe, die Adorno im selben Brief aufzählt,377 finden sich allesamt in der Metakritik wieder, sodass davon ausgegangen werden kann, dass deren erste Studie Kritik des logischen Absolutismus, in der die Auseinander‐ setzung mit Husserls Prolegomena ihren avanciertesten Ausdruck findet, auf jenen Entwurf von 1934 zurückgeht.378 Allein einer der aufgezählten Themenkomplexe, nämlich Husserls Psychologismus‐ 375 Wie Robert Spaemann betont, gehöre „Husserls Widerlegung des Psychologis‐ mus in der Logik […] zu den wenigen philosophischen Leistungen, die eine bestimmte Debatte definitiv beendet haben.“ Robert Speamann: Personen. Ver‐ suche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 2006, S. 63. 376 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 40. 377 Wie Adorno schreibt, sei der Entwurf „zentriert um die Probleme: Ontologi‐ sierung der Wissenschaft; Verdinglichung der Logik, Problem der ‚Norm‘ als Verdeckung des Praxisproblems; Dialektik des Kampfs gegen den Psychologis‐ mus“. Ebd. 378 Nochmalig berichtet Adorno von seiner Auseinandersetzung mit Husserls Pro‐ legomena in einem Brief an Horkheimer vom 28. November 1936. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits davon die Rede, dass diese Auseinandersetzung im ersten,
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1. Adornos materialistische Logik
kritik, erfährt in Adornos Brief eine nähere Erläuterung, die ein Grundmotiv der Auseinandersetzung erkennen lässt: „[N]ebenbei gesagt, eines der interessantesten Resultate meiner bishe‐ rigen, sehr angestrengten Arbeit scheint mir zu sein, daß sich ergibt, daß Husserls Kampf gegen den Psychologismus, soweit er berechtigt ist, allemal objektiv gleichsinnig ist einem Kampf gegen schlechte d.h. rationalistische Psychologie und darüber hinaus der psychologischen Eliminierung der gesellschaftlichen Objektivität“379.
Von Anbeginn sieht Adorno eine Rechtmäßigkeit in Husserls Psy‐ chologismuskritik. Kritikwürdig sei der Psychologismus, weil er, indem er die Geltung der logischen Gesetze auf psychologische Vorgänge im menschlichen Bewusstsein zurückführt, einen Begriff von Objektivität auflöst, den Adorno hier als gesellschaftliche Objek‐ tivität bestimmt. Lassen wir die Konnotation, die durch das Adjektiv ‚gesellschaftlich‘ transportiert wird – auch wenn sie sich noch als höchst bedeutungsvoll erweisen wird –, zunächst außen vor und erinnern uns an das zu Beginn von Kapitel 2 beschriebene Motiv des Ausbruchsversuchs aus der Bewusstseinsimmanenz, das Ador‐ no wiederholt als progressives Element der Phänomenologie heraus‐ stellt. Dieser Ausbruchsversuch besteht nach Adorno darin, dass Husserl gegen den Psychologismus einen Begriff von Objektivität verteidigt, der sich nicht auf das Subjekt und seine Denkvorgänge reduzieren lässt. Nach Husserl sei der „objektive Gehalt der Wissen‐ schaft […] von den Eigenheiten der menschlichen Natur überhaupt völlig unabhängig, er ist eben objektive Wahrheit“ (Hua 18/162). Objektivität habe ihren Ursprung nicht im Subjekt, ganz gleich, ob dieses wie in der positivistischen Immanenzphilosophie als empiri‐ sches gefasst wird, oder wie im Neukantianismus als rein formales Erkenntnissubjekt auftritt. Adorno erblickt in der Entsubjektivierung der Geltungsproblema‐ tik, die sich aus Husserls Psychologismuskritik ergibt, ein rechtmä‐ ßiges Motiv. Wie es in der ersten Studie der Metakritik heißt, habe Husserl „die Antinomien, in welche der logische Psychologismus mündet, eindringlich und mit viel Autorität dargestellt“ (GS 5/80). Husserl drücke „richtig aus, daß die Denkgesetze des Individuums bereits abgeschlossenen Kapitel des geplanten Husserl-Buchs dokumentiert ist. Vgl. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927 – 1937, S. 242. 379 Ebd., S. 40.
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
[…] ihre Objektivität nicht vom Individuum empfangen“ (GS 5/83). Auch in Adornos Vorlesung Erkenntnistheorie sind Husserls Prolego‐ mena ein wiederkehrender Bezugspunkt, und zwar vornehmlich, um das Verhältnis von Geltung und Genesis zu beleuchten. In den Prole‐ gomena, die nach Adorno „in einem gewissen Sinn überhaupt die Voraussetzung der gesamten modernen Philosophie darstellen“, habe Husserl gezeigt, „daß die Geltung der rein logischen Gesetze mit ihrer Genesis, also ihrem Zustandekommen, in dem tatsächlichen Bewußtsein von Repräsentanten einer bestimmten zoologischen Spezies, der Spezies Mensch nämlich, nicht zusammenfallen“ (NaS IV 1/71). Abermals wird die Kritik des Psychologismus als „etwas sehr Richtiges und etwas außerordentlich Legitimes“ (NaS IV/105) herausgestellt: „Das kann man vielleicht am einfachsten so ausdrücken, daß man sagt, daß in der Tat das Subjekt der Erkenntnis nicht ohne weiteres das empirische einzelmenschliche Individuum sei. Wo wir etwas mit Grund erkennen, steckt in der Tat in dieser Erkenntnis ein Moment von Allge‐ meinheit darin und von Notwendigkeit, das hinausreicht über die mehr oder minder zufälligen Bedingungen unserer je einzelnen empirischen Existenz.“ (NaS IV 1/105)
Wir können also festhalten, dass Adorno keineswegs eine Auflösung der Geltung im Sinn hat. Wie er in der Vorlesung Philosophische Ter‐ minologie betont, seien die „logischen Fragen im Sinne der objekti‐ ven Geltung logischer Sätze […] nicht aufzulösen in genetische oder anthropologische Fragen“ und dies gezeigt zu haben, sei das „große und bis heute noch andauernde Verdienst von Edmund Husserl“ (NaS IV/100). Die Kritik an der psychologistischen Rückführung der logischen Gesetze auf das Subjekt ist nach Adorno berechtigt, weil die Geltung jener Gesetze transsubjektiv ist. Zeigt sich Adorno mit Husserl einverstanden, wo es um die Ent‐ subjektivierung der Geltungsproblematik geht, so missbilligt er die Konsequenz, die Husserl aus seiner Psychologismuskritik zieht. In dem oben angeführten Brief an Horkheimer fügt Adorno hinzu, dass Husserls Kritik des Psychologismus „falsch und reaktionär wird in der Verabsolutierung der Logik, die sich immanent-logisch nicht
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1. Adornos materialistische Logik
durchhalten läßt“380. Die hier in Rede stehende Verabsolutierung der Logik drückt sich nach Adorno in Husserls ‚Idee einer reinen Logik‘ aus, deren Grundriss im gleichnamigen letzten Kapitel der Prolego‐ mena entworfen wird. Unmittelbar vor Beginn dieses Kapitels gibt Husserl an, dass seine Logischen Untersuchungen „entscheidende Anstöße von Bolzano – und außerdem von Lotze – empfangen ha‐ ben“ (Hua 18/229). Besonders Bolzanos Einfluss auf Husserl,381 auf den Adorno in diesem Zusammenhang immer wieder hinweist,382 gilt es zu verdeutlichen, um Adornos Argumentation im Weiteren nachzuvollziehen. In seiner Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1873 vertritt Bolzano die Auffassung, dass es neben bloß psychischen Vorstellungen und gesprochenen Sätzen ein Reich an sich seiender, idealer Wahrheiten gibt, das durch die logischen Gesetze artikuliert wird. Um die Ob‐ jektivität der Logik zu sichern, sei es nach Bolzano „notwendig, […] von Wahrheiten an sich, d.h. von Wahrheiten, abgesehen davon, ob sie von jemanden erkannt oder nicht erkannt werden, und insbeson‐ dere von dem Zusammenhange, der zwischen ihnen herrscht, zu sprechen“383. Ganz im Sinne Bolzanos schreibt Husserl: „Was wahr ist, ist absolut, ist ‚an sich‘ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen“ (Hua 18/125). Wenn Husserl von der Idee einer reinen Logik spricht, hat er einen idealen Zusammenhang solcher Wahr‐ heiten an sich im Sinn. Dieser Zusammenhang könne zum einen „abgesondert von aller Beziehung zum denkenden Subjekt und zur Idee der Subjektivität überhaupt betrachtet und erforscht werden“ (Hua 18/240). Zum anderen sei jeder sachhaltige Gegenstandbezug außerachtzulassen. Deutlich wird das in der IV. Untersuchung des 380 Brief Adornos an Horkheimer vom 24.11.1934. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 40. 381 Zum Einfluss Bolzanos auf Husserl vgl. Christian Beyer: Von Bolzano zu Husserl. Eine Untersuchung über den Ursprung der phänomenologischen Bedeu‐ tungslehre, Dordrecht 1996. 382 In Adornos Vorlesung Philosophische Terminologie heißt es etwa: „Diese ganze Wendung der Interpretation der Logik als eines Zusammenhangs von reinen Gesetzen im Unterschied von bloß psychologischen Regeln unseres Denkens datiert zurück auf den Mathematiker Bernhard Bolzano, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts schon die Theorie der Sätze an sich entwickelt hat“. NaS IV 9/404. 383 Bolzano: Wissenschaftslehre, S. 81.
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zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen, in der Husserl eine reine Formenlehre möglicher Bedeutungen als Fundament der rei‐ nen Logik entwirft und betont, „daß im Sinne der in der reinen Lo‐ gik als solcher innegehaltenen Ausschaltung der ‚Erkenntnismaterie‘ all das, was den Bedeutungsformen (Typen, Gestalten) bestimmte Beziehung auf sachhaltige Seinssphären geben könnte, ausgeschaltet bleibt“ (Hua 19/337). Bereits dem Aufsatz Zur Philosophie Husserls von 1937 ist zu ent‐ nehmen, dass Adorno Husserls Idee einer reinen Logik als logischen Absolutismus charakterisiert (vgl. GS 20.1/47).384 Während die Pro‐ legomena in diesem Aufsatz hinter Adornos Auseinandersetzung mit Husserls späteren Schriften zurücktreten, widmet sich die erste Stu‐ die der Metakritik einer ausführlichen Kritik des logischen Absolu‐ tismus. In einer Passage des sonst dickichhaft verfassten Textes tritt das Kernmotiv dieser Kritik klar hervor: „Der logische Absolutismus geht somit weit hinaus über die Kritik der psychologischen Deutung der Logik als der Ableitung ihrer Geltung aus der Dynamik des ‚Seelenlebens‘; über den gelungenen Nachweis, daß die logischen Gesetze kein bloß innermenschlich Seelisches sind. Absolutistisch ist Husserls Theorie vielmehr, weil sie die Abhängigkeit logischer Gesetze von Seiendem überhaupt als der Bedingung ihres möglichen Sinnes leugnet. Sie drückt ihm kein Verhältnis von Bewußt‐ sein und Gegenständlichem aus, sondern es wird ihr ein Sein sui gene‐ ris zugeschoben“. (GS 5/77)
Wie Adorno abermals betont, lasse sich die Geltung der Logik einer‐ seits nicht ausgehend von psychischen Vorgängen im einzelmensch‐ lichen Bewusstsein, d.i. genetisch erklären. Anderseits könnten die logischen Gesetze auch nicht vollständig von ihrer Beziehung auf Seiendes losgelöst werden. „[D]ie Rede vom Ansichsein der Logik“, so Adorno an anderer Stelle, sei „streng nicht zulässig“ (GS 5/74). Adorno beansprucht seine These mit zwei Argumenten zu begrün‐ den, die die Idee einer reinen Logik von je entgegengesetzter Rich‐ tung angreifen: Erstens lasse sich ein subjektives Vollzugsmoment, 384 Wie wir in der Metakritik lesen können, glaubt Adorno, sich dabei auf eine Stelle aus den Prolegomena berufen zu können (vgl. GS 5/77), an der Husserl den Terminus gebraucht. Vgl. Hua 18/144. Gehring merkt zu Recht an, dass der Beleg nicht darauf schließen lässt, dass es sich hierbei um eine Selbstbe‐ zeichnung Husserls handelt. Vgl. Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 356.
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1. Adornos materialistische Logik
das dem logischen Urteil inhärent sei, nicht aus der Logik tilgen (1). Zweitens sei die Logik notwendig auf ein objektiv-inhaltliches Moment, d.i. auf einen Gegenstand verwiesen, ohne den ihre Sätze sinnlos und nicht vorstellbar wären (2). Beide Argumente laufen auf keine Aufhebung, jedoch auf eine Relativierung der in den Pro‐ legomena postulierten Trennung von Geltung und Genesis hinaus und bilden schließlich die Grundlage für Adornos materialistische Auffassung der Logik: Die Logik sei kein ‚Sein sui generis‘, sondern drücke ein ‚Verhältnis von Bewußtsein und Gegenständlichem‘ aus. (1) Adornos erstes Argument gegen die Idee einer reinen Logik wurde in ähnlicher Form bereits durch den Neukantianer Rickert formuliert, auf dessen häufig implizite Auseinandersetzung mit Husserl es sich an dieser Stelle einzugehen lohnt. Mit Husserls Psychologismuskritik stimmt Rickert dahingehend überein, dass er die notwendige Trennung der Geltung der logischen Gesetze vom psychischen Akt des Urteilens hervorhebt. Der Sinn des Logischen falle „nie mit dem wirklichen psychischen Sein zusammen, wel‐ ches das Urteil als zeitlich ablaufender Vorgang in einem indivi‐ duellen Seelenleben besitzt.“385 Jedoch könne es „mit der Alterna‐ tive: Psychologismus oder reine Logik […] nicht sein Bewenden haben“, denn das erkennende Subjekt sei „stets auch ein psychi‐ sches Ich und läßt sich in der Erkenntnistheorie ebensowenig ganz ‚ausschalten‘ wie das Bewußtsein überhaupt oder der Gegenstand der Erkenntnis.“386 Im Vorwort der dritten Auflage seines hier zitierten Hauptwerks Der Gegenstand der Erkenntnis greift Rickert die Diskussion über das Verhältnis von Psychologie und reiner Logik noch einmal auf. Trotz aller notwendigen Kritik am Psy‐ chologismus „läßt sich das Logische nicht vom Subjekt trennen“, weil dies einen „Rückfall in ontologische Metaphysik“387 bedeuten würde. Eben diesen Vorwurf richtet Rickert an Husserl und eben‐ so an Bolzano: „Die ‚ontologische‘ Tradition ist, wo das Logische
385 Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 161. 386 Ebd., S. 154. Rickerts Rede von einer ‚Ausschaltung‘ des psychischen Ich legt nahe, dass er sich hier auf Husserls in den Ideen eingeführte Methode der phä‐ nomenologischen Reduktion bezieht, nach deren Vollzug „die ganze Welt, ein‐ gerechnet uns selbst mit allem cogitare, ausgeschaltet“ (Hua 3.1/66) sei. 387 Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, S. X.
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noch als ideal Existierendes behandelt wird, nicht vollständig ge‐ nug aufgegeben“388. Adorno hat in einer 1941 erschienen Rezension zu Rickerts Nach‐ lassband Unmittelbarkeit und Sinndeutung die Philosophie Rickerts in ein Verhältnis zu Husserls Phänomenologie gesetzt und dabei auf dieses nicht zu eliminierende subjektive Moment hingewiesen, das Rickert gegen Husserls reine Logik in Stellung bringt. Wie Ador‐ no schreibt, habe Rickert eine „drastischere Vorstellung von der Subjektivität als Husserl“ (GS 20.1/246). Das Subjekt sei bei ihm nicht „bloße Organisationsform von Gegebenem“, sondern „muß in einiger Selbstständigkeit zu allem Objektiven hinzugedacht werden und ist damit von Anbeginn weit substanzieller als für Husserl“ (GS 20.1/246). Adorno selbst arbeitet die Rolle des urteilenden Sub‐ jekts in Kritik des logischen Absolutismus heraus. Hier lautet das Argument, dass die im Urteilsakt vollzogene logische Synthesis zum unabdingbaren Sinn der Logik gehört: „Aber die Sinnanalyse der logischen Struktur selber erzwingt die Rück‐ frage auf Denken. Keine Logik ohne Sätze; kein Satz ohne die synthe‐ tische Denkfunktion. Husserl hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die psychologische Voraussetzung zur Behauptung eines Gesetzes mit seiner logischen Geltung nicht vermengt werden darf. Wohl aber sind die logischen Gesetze nur dann ‚sinnvoll‘, können nur dann er‐ kannt werden, wenn ihnen die Anweisung auf Denkakte innewohnt, die sie einlösen.“ (GS 5/84f.)
Adorno unterscheidet in dem Zitat zwischen Logik und Satz und meint damit das logische Gesetz als Urteilsinhalt und die Aussage als Urteilsakt.389 Beide seien keineswegs identisch, ließen sich aber auch nicht voneinander trennen, weil die logischen Gesetze anders 388 Ebd., S. 271. Husserl wiederum hat bereits in der ersten Auflage des ersten Ban‐ des der Logischen Untersuchungen den Neukantianismus des Psychologismus bezichtigt und diese Kritik nie zurückgenommen. Demnach gehöre „ein guter Teil der Neukantianer in die Sphäre psychologistischer Erkenntnistheorie, wie wenig sie es auch Wort haben wollen. Transzendentalpsychologie ist eben auch Psychologie.“ Hua 18/102. Husserls größtenteils kritische Auseinandersetzung mit Rickert hat Kern umfassend rekonstruiert. Vgl. Kern: Husserl und Kant, S. 374–420. 389 In einer Vorlesung entfaltet Adorno diese Doppeldeutigkeit des Urteilsbegriffs: „Dann wird Ihnen sofort einleuchten, wenn Sie eine Sekunde einmal phäno‐ menologisch den Begriff ‚Urteil‘ bedenken, daß dieser Begriff des Urteils einen doppelten Sinn hat, nämlich auf der einen Seite das Urteil, das ich vollziehe –
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als durch Urteilsakte nicht ausgesagt werden können. Ebenso wie die objektive Geltung des Urteilsinhalts, ist die durch das Subjekt vollzogene logische Synthesis zum Urteil Bedingung von Wahrheit. „[D]ie Objektivität der Wahrheit“, so schreibt Adorno, „begreift die denkenden Subjekte mit ein, die, indem sie die Synthesis vollbrin‐ gen, zu dieser zugleich von der Sache her veranlaßt werden, ohne daß Synthesis und Nötigung voneinander sich isolieren ließen“ (GS 5/78). Keineswegs werde die ‚Nötigung‘, von der Adorno hier spricht, d.i. die Apodiktizität der logischen Gesetze, durch das urteilende Subjekt erzeugt – diese Auffassung wäre psychologistisch. Doch „[g]erade die Objektivität der Wahrheit bedarf des Subjekts“ (GS 5/78). „Das Urteil muß zugleich einen Sachgehalt ausdrücken und ihn durch Synthesis stiften“ (GS 5/82). Adorno versucht diesen Ge‐ danken in der Vorlesung Philosophie und Soziologie am Beispiel des Urteils ‚zwei mal zwei gleich vier‘ zu veranschaulichen: „[O]hne das Moment einer Synthesis – wenn Sie wollen, also ohne ein genetisches Moment –, ohne das Moment, daß etwas getan wird, hat ein solcher Satz wie der, daß ‚zwei mal zwei gleich vier‘ sei, gar kein Recht. Wenn ich nicht ‚zwei‘, ‚zwei‘ und ‚vier‘ zusammenbringe, wenn ich nicht sie synthetisiere, dann ist eine Aussage über ihre Synthesis, wie dieses synthetische Urteil, gar nicht möglich. Auf der anderen Seite aber, wenn nicht dem auch etwas entspricht – also wenn ich es tautologisch sagen darf –, wenn nicht wirklich zwei mal zwei gleich vier ist, dann kann ich diese Synthesis, die das ausspricht, auch meinerseits gar nicht zustande bringen. […] Das Urteil ist also nur wahr, wenn ihm der Sachverhalt entspricht, den es ausdrückt. Der Sachverhalt ist aber nur dann vorhanden, wenn ich das Urteil ausspreche. Die beiden Momente sind also […] durch einander vermittelt.“ (NaS IV 6/275)
Adorno geht nun noch einen Schritt weiter. Dass die Geltung der Logik, auch wenn sie nicht auf den Urteilsakt reduziert werden kann, von diesem nicht zu trennen sei, verweise auf ein faktisches Moment, das in die Logik eingeht. Das urteilende Subjekt kann – das war das Ergebnis von Adornos Kritik der transzendentalen Sub‐ jektivität – nie ein reines, von der Faktizität unabhängiges Subjekt also, erläuternd, mein Urteilen –, und auf der andern Seite das Urteil als ein objektiver Tatbestand, also als ein Geltendes“. NaS IV 6/275. Die Unterschei‐ dung entspricht der in Husserls Prolegomena. Husserl trennt dort die logischen Gesetze als Urteilsinhalte von den Urteilsakten. Die Verwechselung beider sei eines der psychologistischen Irrtümer. Vgl. Hua 18/77.
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sein; aus seinem Begriff „läßt ein wie immer auch geartetes fakti‐ sches Substrat sich nicht austreiben“ (GS 5/94). Die Konsequenz, die sich daraus für Adorno ergibt, wird in Kritik des logischen Absolutis‐ mus ausgesprochen: „Der Sinn der Logik selber fordert Faktizität. Anders ist sie nicht vernünftig zu begründen: ihre Idealität ist kein reines An sich, sondern muß immer auch ein Für anderes sein, wenn sie überhaupt irgend etwas sein soll“ (GS 5/84f.). Jenes ‚Andere‘ meint neben dem urteilenden Subjekt den Gegenstand, auf den sich die logischen Gesetze beziehen, womit wir bei Adornos zweitem Argument gegen die Idee einer reinen Logik angelangt sind. (2) Emil Lask, der Schüler Rickerts, hat in seinen letzten Schrif‐ ten eine Gegenstandslogik entwickelt, deren Grundmotiv in Ador‐ nos materialistische Logik eingeht. Dieses Grundmotiv besteht in dem Gedanken, dass die Logik ihren Sinn nur erfüllt, indem ihr Geltungsanspruch über ein Anderes ausgesagt wird, das selbst kein Logisches ist. Lask betont in Die Logik der Philosophie und die Kate‐ gorienlehre von 1911, dass der Geltungsgehalt der Logik „nicht eine ‚Welt‘ für sich bildet, sondern als ein Anschmiegungsbedürftiges, Ergänzung Heischendes über sich hinausweist auf ein fremdes Au‐ ßer-sich.“390 Alles Geltende sei „ein inhaltliche Erfüllung erwarten‐ des Hingeltendes, ein etwas anderes Betreffendes und bedarf eines Materials als des Betroffenen.“391 Dieses Material – Lask nennt es das „alogische Material“392 – ist für die Logik konstitutiv, das Logische darum „ein bloßes Moment über einer alogischen Masse.“393 Lasks Einfluss auf Adorno wird in einer zentralen Passage der Negativen Dialektik explizit, in der Adorno bemerkt, dass Begriffe stets auf Nichtbegriffliches verweisen und, „mit Lasks Ausdruck, über sich hinaus[meinen]“ (GS 6/23).394 In der Metakritik wird Lask nur an einer Stelle als Beleg dafür angeführt, dass die von der 390 Emil Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form, Tübingen 1911, S. 32. 391 Ebd., S. 33. 392 Ebd., S. 36. 393 Ebd., S. 31. 394 Sommer hat die Bedeutung Lasks für die in der Negativen Dialektik entfaltete Urteilstheorie eindrücklich herausgestellt. Vgl. Marc Nicolas Sommer: „Kriti‐ sche Theorie als Phänomenologie des Absoluten. Adornos Negative Dialektik“, in: Marc Nicolas Sommer u. Mario Schärli (Hgg.): Das Ärgernis der Philoso‐ phie. Metaphysik in Adornos Negativer Dialektik, Tübingen 2019, S. 279–313.
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modernen Erkenntnistheorie vollzogene Wendung auf die Bewusst‐ seinsimmanenz des Subjekts den Widerspruch zwischen Geist und Faktizität nicht aufzulösen vermag.395 Während das Motiv für jene Erwähnung äußerst unbestimmt bleibt, wird der Gedanke eines für die Logik konstitutiven Gegenstandsbezugs von Adorno ausführlich herausgestellt und gegen Husserls Idee einer reinen Logik gerichtet. An dieser Stelle gilt es zunächst deutlich zu machen, dass Husserl selbst auf solch einen Gegenstandsbezug hinweist. In den Prolegome‐ na heißt es, dass die logischen Gesetze „in denkbar größter, weil logisch-kategorialer Allgemeinheit auf Bedeutungen und Gegenstän‐ de überhaupt gehen“ (Hua 18/247). Adorno argumentiert nun in Kritik des logischen Absolutismus, dass bereits die Rede von einem Gegenstand überhaupt, die Auffassung vom Ansichsein der Logik untergräbt: „Daß von jeglichem Gegenstand abgesehen werden mag, weil die for‐ male Logik für alle paßt, besagt zwar, daß in der höchsten Allgemein‐ heit der Kategorie ‚Gegenstand überhaupt‘ sämtliche spezifischen Dif‐ ferenzen verschwinden; nicht aber verschwindet die Beziehung ihrer Sätze auf einen ‚Gegenstand überhaupt‘. Sie gelten nur ‚für‘ Gegenstän‐ de. Einzig auf Sätze läßt Logik sich anwenden, einzig Sätze können wahr oder falsch sein.“ GS 5/73)
Adorno veranschaulicht das Gesagte am Beispiel des Prinzips vom Widerspruch, das „nicht auszusprechen [wäre] ohne Rücksicht auf den Begriff kontradiktorisch einander entgegengesetzter Sätze“ (GS 5/73). Dieser Gedanke wird in der Vorlesung Erkenntnistheorie wie‐ derholt, wenn Adorno anmerkt, dass „in der Logik selber, vermöge der Frage nach dem Rechtsausweis ihrer ursprünglichen Grundsät‐ ze, etwas wie die Frage nach der Beziehung auf Gegenständlichkeit überhaupt beigestellt ist. Man kann sich logische Sätze nicht vorstel‐ len, ohne daß man sie denkt als Sätze, die sich auf irgendwelche, sei es auch ideale Gegenstände beziehen“ (NaS IV 1/177). Mit dem Bezug auf ideale Gegenstände, den die Logik notwendig einschließt, ist in Adornos Augen die Sphäre der reinen Idealität der 395 Dort heißt es: „Während die Idee der Ursprungsphilosophie monistisch auf die reine Identität abzielt, läßt doch die subjektive Immanenz, in der das absolut Erste ungestört bei sich selber sein will, sich auf jene reine Identität mit sich selbst nicht bringen. […] Darum wird in der erkenntnistheoretischen Analyse die Immanenz selber stets wieder nach subjektiven und objektiven Momenten polarisiert; Emil Lask hat das besonders nachdrücklich dargetan.“ GS 5/30f.
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logischen Gesetze bereits in Richtung Faktizität überschritten. Der Begriff der logischen Gesetze beinhalte notwendig ein inhaltlich-fak‐ tisches Moment, „sowohl mit Hinblick auf die Faktizität ihres eige‐ nen Vollzugs, auf tatsächliches subjektives Urteilen, wie mit Hinblick auf die stofflichen Elemente, die auch dem abstraktesten Satz, sei es noch so vermittelt, zugrundeliegen, wenn er überhaupt etwas bedeu‐ ten, ein Satz sein soll“ (GS 5/73f.). Damit verweisen diese Gesetze – der Gedanke entspricht demjenigen Lasks – „auf eine Materie, die gerade nicht im Denken aufgeht, das an ihr sich betätigt“ (GS 5/74). Den Grund dafür, dass Husserl den Bezug auf jene Materie unterschlage, sieht Adorno in der bereits beschriebenen Vernachläs‐ sigung des Urteilsvollzugs. „Indem Husserl das subjektive Moment, Denken, als Bedingung der Logik unterschlägt, eskamotiert er auch das objektive, die in Denken unauflösliche Materie des Denkens“ (GS 5/74). Denn „ohne die konstitutive Vermittlung durch Denken“, so Adorno, „wären die vorgeblichen Idealgesetze auf Wirkliches gar nicht anwendbar; das ideale Sein hätte mit realem nicht einmal als dessen ‚Form‘ etwas zu tun“ (GS 5/78). In seiner Beurteilung von Husserls Idee einer reinen Logik nähert sich Adorno schließlich dem Resümee, das bereits Rickert gezogen hatte: Die Auffassung vom idealen Sein der logischen Gesetze sei Ausdruck einer Ontologisierung der Logik. „In ihrer Naivität gegen‐ über der Beziehung auf Gegenständliches mißversteht die Logik notwendig sich selbst: ihre Stringenz, die sie ja im Urteil über Gegenstände gewinnt, schreibt sie sich als reiner Form zu und un‐ terschiebt sich als Ontologie“ (GS 5/76). Als Resultat aus Husserls Psychologismuskritik gehe die Ontologisierung der Logik Hand in Hand mit der radikalen Trennung von Geltung und Genesis. Ador‐ no zufolge müsse Husserl diese Trennung auf allen Ebenen der Lo‐ gik vollziehen, sonst „würde das logisch Absolute mit Seiendem und nach dem Maßstab des Chorismos Kontingentem und Relativem versetzt“ (GS 5/79). Darum werde in den Prolegomena sowohl der Urteilsakt des Subjekts unterschlagen, durch den die Geltung der logischen Gesetze allererst zum Ausdruck gebracht werde, als auch der Gegenstandsbezug vernachlässigt, ohne den diese Gesetze ihren Sinn verlieren würden. Die Kritik des logischen Absolutismus hat für Adorno zum Resul‐ tat, dass die absolute Trennung von Geltung und Genesis unrecht‐ mäßig ist. Daraus, dass die Geltung nicht auf die Genesis reduziert
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werden könne, folge keineswegs, „daß die Explikation des Sinnes von Geltungscharakteren nicht auf genetische Momente zurückver‐ weise als auf ihre notwendige Bedingung“ – dies, so Adorno weiter, habe der „spätere transzendentalphilosophische Husserl stillschwei‐ gend konzediert“ (GS 5/80). In der 1929 erschienen Formalen und transzendentalen Logik stößt Husserl auf eine ‚Sinnesgenesis‘ der Urteile und liefert so für Adorno den immanent-erkenntnistheoreti‐ schen Beweis, dass die Geltung der Logik notwendig auf eine Gene‐ sis verweist, Geltung und Genesis also miteinander verschränkt sind. b. Genetische Phänomenologie: Zur Historizität der Logik Während Husserl in den Prolegomena die Frage, „wie Erfahrung, die naive oder wissenschaftliche, entsteht“, noch als erkenntnistheo‐ retisch irrelevant abtut und verkündet, sich „nicht für das Werden und die Veränderung der Weltvorstellung“ zu „interessieren“ (Hua 18/208f.), beginnt er seine Phänomenologie ab den zwanziger Jah‐ ren um erfahrungsgeschichtliche Analysen zu erweitern. Die gene‐ tische Phänomenologie, mit der Adorno durch die Formale und transzendentale Logik sowie die Cartesianischen Meditationen in Be‐ rührung kommt, eröffnet ein neues Feld der phänomenologischen Forschung: die Historizität des Bewusstseins. Aufgabe der geneti‐ schen Phänomenologie ist die Konstitutionsanalyse von Bewusst‐ seinsphänomenen. Als solcher geht es ihr darum, den stufenartigen Aufbau der Bewusstseinsphänomene zu beschreiben. In der zeitge‐ nössischen Husserl-Forschung besteht Einigkeit darüber, dass die Ausarbeitung der genetischen Phänomenologie weder einen Bruch mit der statischen Phänomenologie der Logischen Untersuchungen und der Ideen noch deren Relativierung bedeutet. Auch wenn sich, wie Lohmar schreibt, „einige Themen und Methoden der Phänome‐ nologie ändern, so dass scheinbar ein Gegensatz zwischen statischer und genetischer Phänomenologie entsteht, bleibt doch der gemein‐ same Charakter der beschreibenden und eidetischen Wissenschaft vom Bewusstsein erhalten“396. Zahavi bemerkt in einem noch allge‐ meineren Sinne, dass die „Vorstellung, dass Husserls Werk durch eine Reihe entscheidender Brüche charakterisiert sei, ein Relikt 396 Lohmar: „Genetische Phänomenologie“, S. 153.
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aus einer Zeit [ist], als man nur zu den veröffentlichten Schriften Zugang hatte.“397 In diese Zeit fällt auch Adornos Beurteilung der genetischen Phänomenologie. Als Adorno in einem Brief an Horkheimer vom 12. November 1935 von seiner Lektüre der Formalen und transzendentalen Logik berichtet, fügt er, entgegen der Interpretation der zeitgenössischen Husserl-Forschung, hinzu: „Freilich indiziert sie die Selbstaufhe‐ bung der Phänomenologie.“398 Vergegenwärtigt man sich eine zu Be‐ ginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Sichtweise auf Husserls Phäno‐ menologie, wird Adornos Äußerung nachvollziehbar. Die Einschät‐ zung, dass Fragen der Historizität für die Phänomenologie nicht nur unbedeutend, sondern auch unzugänglich seien, weil diese sich allein auf ein Reich ewiger Wahrheiten richte, findet sich beispiels‐ weise bei Rickert. In seinem Aufsatz Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare aus dem Jahr 1924 schreibt er: „Wie z.B. die Probleme der Kultur auf diesem Boden auch nur in Angriff genommen werden sollen, bleibt nach dem, was Husserl bisher publi‐ ziert hat, völlig dunkel. Alle Kultur ist geschichtlich bedingt, und die stets auf ‚eidetisch‘ Allgemeines gerichtete ‚Wesensschau‘ sieht daher an etwas sehr ‚wesentlichem‘ aller Kultur notwendig vorbei.“399
Adorno geht in seiner Rickert-Rezension auf den zitierten Aufsatz ein und betont zustimmend, dass es eine der „erstaunliche[n] Beob‐ achtungen“ Rickerts sei, „daß der eidetischen Phänomenologie His‐ torisches prinzipiell verschlossen ist“ (GS 20/248). Diese Einschät‐ zung findet sich dann auch in der Metakritik wieder. Dort heißt es unter Bezugnahme auf den in Adornos Augen absolutistischen Wis‐ senschaftsbegriff der Prolegomena, Husserl hätte den „Faden zwi‐ schen Logik und Geschichte durchschnitten, ehe die Beweisführung nur anhebt“ (GS 5/58). Ähnlich beurteilt Adorno die Ideen. Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion folge dem „Schema 397 Zahavi: Husserls Phänomenologie, S. 148. 398 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 93. 399 Rickert: „Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare“, S. 114. Wohlge‐ merkt fügt Rickert hinzu, dass ihm ein Urteil über das Wesen der Phänomeno‐ logie zum Zeitpunkt der Abfassung des Aufsatzes noch nicht möglich scheint. Vgl. ebd. Wie Rickert sich angesichts der etwas mehr als zehn Jahre später erschienen Krisis-Schrift zu seinen Aussagen von 1924 verhalten hätte, bleibt reine Spekulation. Husserls Spätwerk erschien in Rickerts Todesjahr.
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der Verewigung“. Durch sie erhalte das unmittelbar Gegebene „die Prädikate des Ewigen und transzendiert zum Wesen“ (GS 5/176). Adornos Auffassung, die Phänomenologie sei ihrem Wesen nach geschichtsfremd, wird durch die Lektüre der Formalen und trans‐ zendentalen Logik erschüttert. Überschwänglich schreibt er an Horkheimer, das Werk sei „das Interessanteste, was H. geschrieben hat und vielleicht auch das Bedeutendste.“400 Welche Bedeutung Adorno der Schrift innerhalb Husserls Gesamtwerk zuweist, wird dann auch in seinen philosophischen Texten deutlich. In der Meta‐ kritik heißt es, dass Husserls Phänomenologie in der Formalen und transzendentalen Logik „einmalig ihr Extrem [erreicht]“ (GS 5/219) und noch in einer Vorlesung aus dem Jahr 1960 bezeichnet Adorno die genetischen Analysen aus Formale und transzendentale Logik als das „größte Verdienst von Edmund Husserl“ (NaS IV 6/273). Gemäß ihrem Untertitel stellt Husserls Formale und transzenden‐ tale Logik den Versuch einer Kritik der logischen Vernunft dar. Diese Kritik zielt auf die „intentionale Explikation des eigentlichen Sinnes der formalen Logik“ (Hua 17/14). In der Einleitung kündigt Husserl an, dass die bevorstehenden Analysen auf in den Logischen Untersu‐ chungen „noch nicht vollständig erkannte“ Aspekte des logischen Denkens führen werden, die „nicht nur für das wirkliche Verständ‐ nis des echten Sinnes der Logik als einer besonderen Wissenschaft, sondern für die ganze Philosophie von größter Bedeutung“ (Hua 17/14) seien. Dabei wird schnell deutlich, dass Husserl die Logik aus einem gegenüber den Prolegomena erweiterten Blickwinkel er‐ forscht. So gehe die Untersuchung von den logischen Gebilden aus, „die uns in der Überschau die historische Erfahrung an die Hand gibt, also von dem, was ihren traditionellen objektiven Gehalt ausmacht, und versetzt sie zurück in die lebendige Intention der Logiker, aus der sie als Sinngebilde entsprangen“ (Hua 17/14). Hus‐ serl geht es also mitunter darum, den genetischen Ursprung der logischen Gebilde freizulegen. Wohlgemerkt ist er dabei nicht an einer faktischen Genese der Logik interessiert, sondern untersucht die Leistungen der transzendentalen Subjektivität, die der Logik
400 Brief Adornos an Horkheimer vom 12.11.1935. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 93.
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zugrunde liegen.401 Es sind eben diese genetischen Analysen, insbe‐ sondere Husserls Analyse des logischen Urteils, auf die Adorno in seiner Auseinandersetzung den Fokus legt. Bevor ich mich dieser Auseinandersetzung zuwende, gilt es den Kontext zu beleuchten, in den Husserl seine genetischen Analysen der Logik stellt. Husserls Übergang in den transzendentalen Idealismus macht es erforderlich, den Untersuchungen über die objektive Seite der Logik solche Untersuchungen beizustellen, die die im logischen Denken ablaufenden Leistungen der transzendentalen Subjektivität erforschen, also in eine subjektive Richtung gehen. Zunächst spricht Husserl ganz im Sinne der Prolegomena davon, dass das Objektive der logischen Gebilde „den Seinssinn bleibender Fortgeltung [hat], ja sogar den objektiver Gültigkeit in besonderem Sinne, über die ak‐ tuell erkennende Subjektivität und ihre Akte hinausreichend“, denn es sei in einer „objektiven Dauer für jedermann vorfindlich, in sel‐ bem Sinne nachverstehbar, intersubjektiv identifizierbar, daseiend, auch wenn niemand es denkt“ (Hua 17/37). Demgegenüber gehe die subjektive Richtung der logischen Thematik, die in der traditio‐ nellen Logik vernachlässigt worden sei, „auf die tief verborgenen subjektiven Formen, in denen die theoretische ‚Vernunft‘ ihre Leis‐ tungen zustande bringt“ (Hua 17/38). Diese Leistungen seien die Ermöglichungsbedingungen dafür, „daß im thematischen Felde des vollziehenden Subjekts die jeweiligen Gebilde, die jeweiligen Urteilsund Erkenntnisgegenständlichkeiten im Charakter von Erzeugnis‐ sen ‚objektiv‘ auftreten“ (Hua 17/38). Auf der Suche nach jenen ‚tief verborgenen subjektiven Formen‘ stößt Husserl schließlich auf eine Sinnesgenesis der logischen Urteile: „Die Enthüllung der Sinnesgenesis der Urteile besagt genauer gespro‐ chen, so viel wie Aufwickelung der im offensichtlich zutage getretenen Sinn implizierten und ihm wesensmäßig zugehörigen Sinnesmomente. Die Urteile als fertige Produkte einer ‚Konstitution‘ oder ‚Genesis‘ kön‐ nen und müssen nach dieser befragt werden. Es ist eben die Wesensei‐ genheit solcher Produkte, daß sie Sinne sind, die als Sinnesimplikat ihrer Genesis eine Art Historizität in sich tragen; daß in ihnen stufen‐ weise Sinn auf ursprünglichen Sinn und die zugehörige noematische 401 Die Kritik am Psychologismus bleibt also bestehen und wird von Husserl in dem Kapitel Psychologismus und transzendentale Grundlegung der Logik erneut bekräftigt. Vgl. Hua 17/157–183.
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Intentionalität zurückweist; daß man also jedes Sinngebilde nach seiner ihm wesensmäßigen Sinnesgeschichte befragen kann.“ (Hua 17/215)
Welche Bedeutung Adorno dieser Passage zuschreibt, die sowohl in Zur Philosophie Husserls als auch der Metakritik wiedergegeben wird, ist unübersehbar: „Kaum je ist Husserl weiter gelangt als in diesen Sätzen“ (GS 20.1/92, 5/218), heißt es in beiden Texten.402 Adorno sieht die Trennung von Geltung und Genesis durch Hus‐ serls Hinweis relativiert, dass die logischen Urteile Produkte einer Genesis seien und damit eine Historizität in sich tragen. Während in den Prolegomena die Urteilsinhalte noch als gänzlich unabhän‐ gig vom Urteilsakt und der in ihm vollzogenen Synthesis be‐ schrieben wurden, liefern die subjektiv gerichteten Konstitutions‐ analysen in Formale und transzendentale Logik für Adorno den Beleg dafür, „daß ohne subjektive Synthesis die Objektivität des Urteils nicht möglich sei“ (GS 5/217). Die Entdeckung der Sin‐ nesgenesis, „rührt an die seit den Prolegomena unterstellte Di‐ chotomie von Genesis und Geltung: dieser ist ihre Entstehung nicht mehr äußerlich, nicht mehr unabhängig also von ihrem eigenen Wahrheitsgehalt, sondern Genesis fällt in jenen Wahr‐ heitsgehalt selber“ (GS 5/140). Nur in einer einzigen Vorlesung – es ist die 1960 gehaltene Vorlesung Philosophie und Soziologie – geht Adorno ausführlich auf die Formale und transzendentale Lo‐ gik ein. Auch dort wird deutlich, welche Bedeutung er Husserls Entdeckung der Sinnesgenesis für die Bearbeitung der Geltungs‐ problematik zuspricht: „Ich halte es für das größte Verdienst von Edmund Husserl, den ich sonst weiß Gott genügend kritisiert habe, daß er, der also zunächst ja, wie Sie alle wissen, den Gedanken von der Reinheit der Geltung von ihrer Genese aufs extremste verfochten hat, durch die Konsequenz seines Gedankens immerhin dazu genötigt worden ist zu konzedieren, daß, wie es bei Husserl heißt, es etwas wie genetische Sinnesimplikate des Urteils gibt […]. Das heißt, er ist also später von der berühmten These von der Geltung der Sätze an sich unabhängig von ihrem Ur‐ 402 An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass der in Zur Philosophie Husserls enthaltene zentrale Abschnitt zur Formalen und transzendentalen Logik, abge‐ sehen von wenigen Umformulierungen und Kürzungen, auch in der stark überarbeiteten Fassung des Textes, die unter dem Titel Das Wesen und das rei‐ ne Ich in die Metakritik eingeht, erhalten geblieben ist. Vgl. GS 20.1/91–93 und GS 5/217–219.
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sprung abgekommen und hat gesagt, es gehört zu ihrem Sinn dazu, daß man sie auf ihren Ursprung zurückverfolgt“. (NaS IV 6/273f.)
Dass Geltung und Genesis zwar nicht identisch seien, sich aber auch nicht derart strikt voneinander trennen ließen, wie dies in den Pro‐ legomena postuliert wurde, hatte Adorno in seiner Kritik des logi‐ schen Absolutismus zu zeigen versucht. Adornos Anerkennung wird Husserl also zunächst darum zuteil, weil dieser im Zuge der Fort‐ entwicklung seiner Phänomenologie selbst auf die Verschränkung von Geltung und Genesis im logischen Urteil gestoßen sei, wodurch Adorno seine Kritik an der Idee einer reinen Logik bestätigt sieht. Freilich fasst Husserl die Sinnesgenesis nicht als eine faktische Gene‐ sis, sondern als eine synthetisierende Leistung der transzendentalen Subjektivität, die bestimmten Wesensstrukturen unterliegt. Die His‐ torizität der Logik wird von ihm, so schreibt Adorno, „durch das transzendentale System interpretiert“ (GS 20.1/93), also als ‚innere Historizität‘ aufgefasst. Auch in der Vorlesung Philosophie und Sozio‐ logie bemerkt Adorno, Husserl hätte den genetischen Ursprung der Logik „dann in einer allgemeinen Vernunft, mit anderen Worten in der transzendentalen Struktur des Geistes überhaupt gesucht, den er nun seinerseits wieder von allem faktischen Seienden versucht hat abzuspalten“ (NaS IV 6/274). Adorno wird es im Weiteren darum gehen – dieses Motiv ist uns mittlerweile nur allzu vertraut – die Verschränkung der Sin‐ nesgenesis mit der Faktizität herauszustellen; genauer: Er versucht zu zeigen, dass Husserls Sinnesgenesis auf eine gesellschaftliche Genesis verweist. Durch diesen Nachweis beansprucht er den von Husserls genetischer Phänomenologie bereits eingeleiteten Über‐ gang in den Materialismus zu vollziehen. „Husserl müßte nur das geöffnete Tor der Dingwelt durchschreiten, um zu finden, daß die ‚innere Historizität‘, die er gewahrte, keine bloß innere ist“ (GS 20.1/92). Damit ist unweigerlich das in der Forschung kontrovers diskutierte Verhältnis von Erkenntnistheorie und Gesellschaft bei Adorno aufgerufen, das es in seiner Grundform zu umreißen gilt, um die Spezifik jenes Übergangs zu verstehen.
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II. Erkenntnistheorie und Gesellschaft
Das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Gesellschaft hat seine wechselvolle Geschichte innerhalb von Adornos Werk, was sich auch in der Forschung widerspiegelt. So vertritt Schnädelbach die Auffassung, Adorno würde Erkenntnistheorie und Gesellschaft in eins setzen, indem er „das Absolute des Idealismus mit Marx unmit‐ telbar als das gesellschaftliche Ganze in mystifizierter Gestalt inter‐ pretiert“403. Anke Thyen hingegen – nebenbei bemerkt selbst Schü‐ lerin von Schnädelbach – behauptet das genaue Gegenteil. Adorno ziele gerade nicht darauf, „das Prinzip konstitutiver Subjektivität durch ein anderes holistisches Prinzip zu ersetzen.“404 Sommer hat darauf aufmerksam gemacht, dass solch gegensätzliche Auffassun‐ gen „weitgehend Adornos eigener Unentschiedenheit in der Frage nach dem Verhältnis der Erkenntniskategorien zur gesellschaftlichen Wirklichkeit geschuldet“405 sind. Diese Unentschiedenheit, ebenso wie ihre Überführung in eine konsistente Position, lässt sich wohl‐ möglich nirgends besser ablesen als an Adornos Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel. Ein Exkurs über diese Auseinandersetzung wird helfen, das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Gesellschaft bei Adorno in den Blick zu bekommen, um schließlich den Nachweis eines Zusammenhangs von Sinnesgenesis und gesellschaftlicher Ge‐ nesis zu rekonstruieren, durch den Adorno den Übergang in den Materialismus zu vollziehen beansprucht. Exkurs: Adornos Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel
Der in Zur Philosophie Husserls ausgesprochene Befund, dass die ‚in‐ nere Historizität‘ der Logik, der Husserl im Zuge seiner phänomeno‐ logischen Analyse des Urteils gewahr wird, auf eine äußere verweist, findet sich ebenso in Das Wesen und das reine Ich, der letzten Studie der Metakritik, die eine überarbeitete Fassung des Husserl-Aufsatzes 403 Herbert Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno“, in: Ludwig von Friedeburg u. Jürgen Habermas (Hgg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main 1983, S. 66–93, hier S. 86. 404 Anke Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtiden‐ tischen bei Adorno, Frankfurt am Main 1989. 405 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 189.
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von 1937 darstellt. Auch die diesem Befund vorausgehenden Sätze haben dort ihre weitestgehend textidentische Entsprechung (vgl. GS 5/219). Ein Zusatz ist in Das Wesen und das reine Ich jedoch nicht mehr enthalten. Noch einmal sei Adornos Befund – diesmal die Ver‐ sion der Metakritik – wiederholt: „Husserl müßte nur das geöffnete Tor durchschreiten, um zu finden, daß die ‚innere Historizität‘, die er gewahrte, keine bloß innere sei“ (GS 5/219). Während der Satz hier endet, folgt in Zur Philosophie Husserls: „[…] daß zu den sinnausweisenden Momenten der Genesis Fakten rech‐ nen; daß die Genesis selber, und damit die Bedingung der Möglichkeit allen Sinnes und selbst des formallogischen, in der realen Geschichte liegt, der der Gesellschaft als der wahrhaft ‚objektiven‘ Instanz des rei‐ nen Denkens, und er wäre fähig, ‚diesen versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen, um sie zum Tanzen zu bringen‘.“ (GS 20.1/92)
Zunächst spricht Adorno hier aus, dass Husserls Sinnesgenesis auf faktische Momente verwiesen sei, Denken und Faktizität also ver‐ schränkt sind, ohne dass dadurch einer der beiden Sphären der Vor‐ rang zugesprochen werden würde. Indem er daraufhin jedoch die Gesellschaft als die ‚wahrhaft objektive Instanz des reinen Denkens‘ bestimmt, erteilt er dieser den Primat gegenüber dem Denken und damit gegenüber der Erkenntnistheorie. Horkheimer hat in einem Brief vom 13. Oktober 1937, der eine ausführliche Kritik an Adornos Husserl-Aufsatz enthält, seinen Dissens mit der zitierten Passage deutlich gemacht. Er sieht in ihr „das Programm einer anti-idealisti‐ schen Philosophie, wie sie auch Sohn-Rethel anstrebt.“406 Die während der dreißiger Jahre geführte Auseinandersetzung zwischen Adorno und Sohn-Rethel, dem Horkheimer von Anbeginn kritisch gegenüberstand, ist in ihrer Bedeutung für die Klärung des Zusammenhangs von Erkenntnistheorie und Gesellschaft bei Ador‐ no kaum zu überschätzen. Wohlgemerkt, weil sich Adorno im Ver‐ lauf der Auseinandersetzung zunehmend von Sohn-Rethel abgrenzt und im Zuge dieser Abgrenzung die Spezifik seiner eigenen Position immer klarer hervortritt. Die auch von Sohn-Rethel vertretene Auf‐ fassung eines Primats der Gesellschaft gegenüber den Erkenntnis‐ formen, die die zitierte Passage aus Zur Philosophie Husserls noch 406 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 429.
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nahelegt, wird Adorno im Zuge der Fortentwicklung seines Denkens immer entschiedener kritisieren. Sohn-Rethel, dessen Position hier nur in ihren Grundzügen dar‐ gestellt werden kann, erläutert seine Überlegungen über den Zusam‐ menhang von theoretischer Erkenntnis und gesellschaftlicher Praxis in einem in der Zeit von 4.-12. November 1936 verfassten Brief an Adorno, dem sogenannten Nottingham-Brief.407 In diesem Brief beschreibt Sohn-Rethel das entscheidende Problem, das der Marxis‐ mus zu lösen habe, als „die Relation des Geltungscharakters der Theorie (alias ‚Erkenntnis‘) zur Praxis des menschlichen Seins.“408 Als Lösung bietet er seine Methode der ‚marxistischen Determinati‐ on‘ an, die „das Bewußtsein in Bezug auf seine Wahrheitsfrage, die Begriffe hinsichtlich ihres Geltungscharakters aufs materielle Sein zurückführt.“409 Sohn-Rethel ist überzeugt davon, dass sich die Heranbildung der idealistischen Konzeption der transzendentalen Subjektivität aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis erklären lässt, die Geltung der Erkenntnisformen also vollständig auf eine gesellschaftliche Genesis zurückgeführt werden kann. „In der Tat vollzieht sich genau im gesellschaftlichen Sein die Synthesis, die der Idealismus in der Subjektivität gesucht hat.“410 Bündig ist die‐ se Überzeugung Sohn-Rethels in der vielfach wiederholten Formel ausgedrückt, „daß im Innersten der Formstruktur der Ware – das Transzendentalsubjekt zu finden sei.“411 Sohn-Rethels Konzeption ist nun von Anbeginn mit einer großen Schwierigkeit behaftet. Um die „geheime Identität von Warenform und Denkform“412 nachzuweisen, muss er die ungeheure Anstren‐ gung auf sich nehmen, den Ursprung dieser Identität in der mensch‐ lichen Zivilisationsgeschichte aufzudecken. In diesem Zuge gelangt 407 Zuvor hatte Sohn-Rethel ein Manuskript, das von ihm so bezeichnete Luzerner Exposé, an Adorno, Benjamin, Bloch, Horkheimer und Lukács versendet. Weil dieses Exposé, wie Adorno antwortet, „von ganz außerordentlicher Schwierig‐ keit“ sei, bittet er auch im Auftrag Horkheimers um eine „Skizze des Gedan‐ kenganges“. Brief Adornos an Sohn-Rethel vom 3.11.1936. Adorno u. Sohn-Re‐ thel: Briefwechsel 1936–1969, S. 9. 408 Adorno u. Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969, S. 14. 409 Ebd., S. 15. 410 Ebd., S. 24. 411 Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit, S. 192. 412 Ebd.
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Sohn-Rethel zu der Annahme, dass die Entstehung der Geldform um 700 v. Chr. in Ionien die Voraussetzung des abstrakten Denkens darstellt und sich erst infolgedessen die Vorstellung reiner, von der Faktizität unabhängiger Erkenntnisformen bilden konnte. „[D]ie Entstehung der Subjektivität“, heißt es im Nottingham-Brief, „ist so‐ gar das unabtrennbare Korrelat zur Ausbildung der Geldform des Wertes.“413 Adorno antwortet am 17. November 1936 und spart nicht an Wor‐ ten der Begeisterung. Sohn-Rethels Brief habe bei ihm „die größte geistige Erschütterung“ seit der ersten Begegnung mit Benjamin her‐ vorgerufen und bezeuge „die Tiefe einer Übereinstimmung, die un‐ vergleichlich viel weiter geht als Sie ahnen konnten und auch als ich selber ahnte.“414 In der Hoffnung, eine Vermittlung des von finanziel‐ len Sorgen geplagten Sohn-Rethels ans Institut für Sozialforschung zu bewirken, schreibt Adorno wenige Tage später an Horkheimer und berichtet, dass Sohn-Rethels Brief ihn „aufs stärkste beeindruckt hat.“415 Er erblickt in der Arbeit „eine hochbedeutende – ich wage zu sagen: eine genialische Intention“416, die mit dem eigenen Anliegen einer Überschreitung des Idealismus koinzidiere. Horkheimers Urteil fällt jedoch gegensätzlich aus. Soweit er und Marcuse „etwas Richtiges in der Arbeit finden können, sind es theo‐ retische Ansichten, die uns allen seit langem gemeinsam sind, vorge‐ tragen in einer akademisch eitlen und bombastischen Sprache.“417 413 Adorno u. Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969, S. 24. Seine Überlegungen zum Zusammenhang von Geldform und abstraktem Denken hat Sohn-Rethel später in dem um 1976 entstandenen Text Das Geld, die bare Münze des Apriori ausführlich dargelegt: „Die Verstandesbegriff existieren gewiß nirgend anders als im menschlichen Bewußtsein, aber sie entspringen nicht aus ihm. Es ist das gesellschaftliche Sein der Menschen, das ihr Bewußtsein bestimmt. […] Keine ‚reine Apperzeption‘ nach Kant als ‚Subjekt einer transzendentalen Synthesis‘, sondern das Geld als funktionaler Träger der gesellschaftlichen Synthesis bei Warenproduktion liefert den geschichtlichen Erklärungsgrund für das Verstandesapriori.“ Alfred Sohn-Rethel: „Das Geld, die bare Münze des Apriori“, Schriften, Bd. 4.2, hg. von Carl Freytag, Oliver Schlaudt u. Françoise Willmann, Freiburg/Wien 2018, S. 721–797, hier S. 732. 414 Adorno u. Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969, S. 32. 415 Brief Adornos an Horkheimer vom 23.11.1936. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 225. 416 Ebd. 226. 417 Brief Horkheimers an Adorno vom 8.12.1936. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 248.
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Das Grundproblem, das Horkheimer sieht, hatte Adorno schon in einem früheren Brief an Sohn-Rethel als eine mögliche Gefahr des Ansatzes angesprochen, der es in der weiteren Ausarbeitung entge‐ genzuwirken gelte. Bedenken bestünden darin, „ob nicht bei Ihnen, roh gesagt, die materialistische Dialektik zu einer prima philosophia (ich will nicht sagen: einer Ontologie) gemacht wird“, es sich also trotz aller antiidealistischen Intentionen um einen „wie sehr auch verwandelten ‚Idealismus“‘418 handle. Ganz offensichtlich konnte Sohn-Rethel diese Bedenken bei Horkheimer nicht ausräumen. In seiner Kommentierung des Luzerner-Exposés kritisiert Hork‐ heimer „übertrieben idealistische Formulierungen“419 und bemerkt, „dass das, was der Autor hier mit vertrauten Erkenntnissen getan hat, ihre idealistische Verbrämung und nicht etwa ihre Schärfung ist.“420 Sohn-Rethel, so Horkheimers Befund, setze Gesellschaft und Subjektivität in unmittelbare Identität, indem er behauptet, die ob‐ jektive Geltung von Erkenntnis vollständig aus einer faktischen Ge‐ nese ableiten zu können. Ohne einen Zusammenhang beider Sphä‐ ren in Abrede zu stellen, wäre es, wie Horkheimer schreibt, „ein Irrtum zu glauben, dass der Idealismus überwunden werden könnte, indem man einfach anstelle der idealistischen Termini nunmehr solche aus einer materialistischen Theorie setzt.“421 Adorno rät er, Sohn-Rethels Ausführungen noch einmal genau durchzusehen: „Die formale Übereinstimmung in der Intention wird hinter der vielsa‐ genden Probe ihrer Durchführung verschwinden.“422 Adorno hat diesen Rat ernstgenommen und so lässt sich zei‐ gen, dass er sich zunehmend von Sohn-Rethels Position entfernt. Anfänglich, das heißt zu Beginn des Jahres 1937, wird noch eine Differenz zu Horkheimers Beurteilung genannt, die darin besteht, „daß ich trotz allem und unter allem Schutt einen sehr fruchtbaren Gedanken sehe, während Sie […] das Was durch das Wie so kom‐ 418 Brief Adornos an Sohn-Rethel vom 3.11.1936. Adorno u. wechsel 1936–1969, S. 10f. 419 Brief Horkheimers an Adorno vom 8.12.1936. Adorno u. wechsel 1927–1937, S. 249. 420 Ebd., S. 252. 421 Brief Horkheimers an Adorno vom 11.1.1937. Adorno u. wechsel 1927–1937, S. 268. 422 Brief Horkheimers an Adorno vom 8.12.1936. Adorno u. wechsel 1927–1937, S. 250.
Sohn-Rethel: Brief‐ Horkheimer: Brief‐ Horkheimer: Brief‐ Horkheimer: Brief‐
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promittiert finden, daß Sie an das Was selber nicht mehr glauben.“423 Trotz methodologischer Probleme sieht Adorno in Sohn-Rethels Ableitungsversuch „etwas Richtiges und auch echt Marxistisches […], was es nur gälte, aus dem überwuchernden akademisch-idea‐ listischen Beiwerk herauszulösen.“424 Doch der Glaube daran, dass solch eine Ableitung überhaupt möglich sei, schwindet zunehmend; wohlmöglich auch, weil sich Adorno immer klarer darüber wird, welche Beweislast man damit auf sich lädt. Die Suche nach einem geschichtlichen Ursprung, auf den sich der Zusammenhang von Erkenntnis und Gesellschaft zurückführen lassen soll, ist für Adorno jedenfalls kein gangbarer Weg. Nach einem Treffen mit Sohn-Rethel schreibt Adorno am 27. November 1937 an Benjamin und hat zu diesem Zeitpunkt nur noch müde Worte der Enttäuschung übrig, auch weil Sohn-Rethel daran scheitert, versprochene Textentwürfe fertigzustellen. So berichtet Adorno spöttisch, dass Sohn-Rethel sich „auf emsiger Suche nach dem befindet, der die Arbeit erfunden hat, um ihn samt der Zeit totzuschlagen, und daß ihm die Ausmünzung seiner Arbeit für eine weitere unbestimmte Periode weit mehr am Herzen liegt als deren Vollendung im vorgesehenen Zeitraum.“425 Nach der Übersiedlung von Oxford nach New York kommt der Austausch mit Sohn-Rethel zum Erliegen und wird bis zu Adornos Tod nur noch gelegentlich aufgenommen. Kommen wir zu der Frage, wie sich die Abkehr von Sohn-Rethel in Adornos theoretischen Texten niederschlägt und damit zunächst zurück zu der eingangs zitierten Passage aus Zur Philosophie Hus‐ serls. Wenn Adorno dort von der „Gesellschaft als der wahrhaft ‚objektiven‘ Instanz des reinen Denkens“ (GS 20.1/92) spricht, kann ihm in der Tat der Vorwurf gemacht werden, den er selbst gegenüber Sohn-Rethel formuliert hatte: dass hier eine neue prima philosophia errichtet wird, die anstelle des Denkens die Gesellschaft als erstes Prinzip setzt. Nun wurde der Aufsatz im Juli 1937 fertiggestellt426 423 Brief Adornos an Adorno vom 21.1.1937. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 273. 424 Brief Adornos an Adorno vom 25.1.1937. Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 278. 425 Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 300. 426 Adorno schreibt am 6. Juli an Horkheimer, dass er Morgen anfangen wird, „die Arbeit über Phänomenologie zu schematisieren; für die Zwecke der Zeitschrift kann ich ja natürlich die Disposition des Buches nicht beibehalten.“ Adorno
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und fällt damit noch ganz in die Zeit, in der Adorno mit SohnRethels Position und damit um die eigene ringt. Die Streichung besagter Passage in der 1956 veröffentlichten Metakritik spricht da‐ für, dass sich Adorno inzwischen von dem Versuch einer Ableitung der Erkenntnisformen aus der Gesellschaft verabschiedet hat. An‐ derseits findet sich an einer Stelle der Metakritik der an Sohn-Rethel erinnernde Gedanken, dass das Transzendentalsubjekt die Gesell‐ schaft sei. Wie Adorno bemerkt, habe die Immanenzphilosophie „das Moment der Reflexion, der Vermittlung entdeckt und damit ebenso die Erkenntnis als Arbeit bestimmt wie ihren Träger, das logisch-allgemeine Subjekt, als die Gesellschaft“ (GS 5/35). Es ließe sich anbringen, dass Adorno in den folgenden Sätzen der erkennt‐ nistheoretischen Reflexion ihr Eigenrecht zuspricht und diese ge‐ gen „die Perversion des dialektischen Materialismus zur russischen Staatsreligion und positiven Ideologie“ richtet, die gerade auf der „Verleumdung jenes Elements als idealistisch [beruht]“ (GS 5/35). Dennoch bleibt jene Formulierung – sie wird sich in dieser Form in Adornos späteren Texten nicht mehr finden – hinter der eigentlichen Stoßrichtung der Metakritik zurück. Deren Anliegen besteht gerade nicht darin, soziologische Entspre‐ chungen für erkenntnistheoretische Begriffe zu finden und letztere dadurch aufzulösen. Vielmehr versucht Adorno die idealistische Er‐ kenntnistheorie, wie wir anhand seiner Kritik der transzendentalen Phänomenologie feststellen konnten, immanent, das heißt durch Freilegungen ihrer inneren Aporetik, auf einen ihr inhärenten gesell‐ schaftlichen Gehalt zu führen. „Der reale Lebensprozess der Gesell‐ schaft ist kein in die Philosophie soziologisch, durch Zuordnung Eingeschmuggeltes, sondern der Kern des logischen Gehalts selber“ (GS 5/34). Auch andere Passagen verdeutlichen, dass Adorno sich einerseits gegen die lückenlose Identifikation von Gesellschaft und Erkenntnistheorie richtet und anderseits der letzteren ein irreduzi‐ bles Eigenrecht zuspricht. „Am letzten obliegt es der Kritik der Erkenntnistheorie, welche die Vermitteltheit der Begriff zum Kanon hat, unvermittelten Objektivismus zu verkünden […]. Die Erkennt‐ nistheorie kritisieren heißt auch: sie festhalten“ (GS 5/34).
u. Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S. 377. Am 3. August wird der Aufsatz dann an Horkheimer versendet. Vgl. ebd., S. 386.
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Adorno betrachtet den Versuch, die Geltung der Logik vollstän‐ dig aus einer gesellschaftlichen Genese zu erklären und damit die Erkenntnistheorie durch Gesellschaftstheorie zu ersetzen, als Sozio‐ logismus und von diesem grenzt er sich scharf ab. Gegen die Wis‐ senssoziologie Karl Mannheims hält er in einer Vorlesung fest: „Die Geltung also ist nicht rein, sage ich, unabhängig von der Genese, und auf der andern Seite ist die soziologische Position, daß die Genese die Geltung sei, wie sie im totalen Ideologiebegriff enthalten ist, ebenfalls nicht zu halten“ (NaS IV 6/270). Explizit auf Sohn-Re‐ thel gemünzt ist eine Stelle in der 1959 gehaltenen Vorlesung Kants „Kritik der reinen Vernunft“, an der Adorno sich unmissverständlich von dessen Grundgedanken distanziert, ohne seine zeitweilige Un‐ entschiedenheit zu leugnen: „[M]an kann wohl sagen, daß die Erkenntnistheorien überhaupt ihrer objektiven Gestalt nach eine Art Reflexion des Arbeitsprozesses sind; nicht in dem Sinn, daß sie kausal durch die Arbeitsprozesse hervorge‐ bracht wären, sondern in dem Sinn, daß das Bewußtsein dadurch, daß es auf sich selbst reflektiert, dabei notwendig an einen Begriff von Rationalität gerät, wie er gleichzeitig der Rationalität der Arbeitsprozes‐ se […] nun einmal entspricht. – Auf der anderen Seite aber wäre es dann doch wieder ganz falsch, wenn man etwa sagen wollte – und ich muß Ihnen bekennen, daß die Versuchung dazu mir zuzeiten sehr nahe gelegen hat –, daß das Kantische Transzendentalsubjekt eigentlich die Gesellschaft sei.“ (NaS IV 4/261)
Bis in seine Spätschriften wird Adorno immer wieder einen Zusam‐ menhang zwischen transzendentaler Subjektivität und Gesellschaft herstellen, ohne jedoch deren Identität zu behaupten oder zu ver‐ suchen, die Erkenntnisformen aus gesellschaftlichen Prozessen kau‐ sal abzuleiten. Einschlägig ist dabei die Rede von einer ‚Urverwandt‐ schaft‘ von Tauschprinzip und Identifikationsprinzip in der Negati‐ ven Dialektik (vgl. GS 6/149).427 Wie Sommer jedoch mit Recht 427 Ebenfalls anzuführen wäre folgende Passage: „Als äußerster Grenzfall von Ideologie rückt das transzendentale Subjekt dicht an die Wahrheit. Die trans‐ zendentale Allgemeinheit ist keine bloße narzißtische Selbsterhöhung des Ichs, nicht die Hybris seiner Autonomie, sondern hat ihre Realität an der durchs Äquivalenzprinzip sich durchsetzenden und verewigenden Herrschaft. Der von der Philosophie verklärte und einzig dem erkennenden Subjekt zuge‐ schriebene Abstraktionsvorgang spielt sich in der tatsächlichen Tauschgesell‐ schaft ab.“ GS 6/180.
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1. Adornos materialistische Logik
bemerkt, ist eine solche „Strukturgleichheit […] als Korrelation ohne Kausalität weit von den beabsichtigten Ableitungen Sohn-Rethels entfernt“428. Ebenso können wir der Einschätzung von Dirk Braun‐ stein zustimmen: „Adorno interessiert sich […] weniger für die ge‐ meinsame historische Genese von Erkenntnis und gesellschaftlicher Herrschaft, sondern will vielmehr die faktische Vermitteltheit beider hier und jetzt kritisieren.“429 Der Blick auf Adornos Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel hat eine Negativbestimmung des Zusammenhangs von Erkenntnistheo‐ rie und Gesellschaft ermöglicht. Adorno geht es nicht darum, die Er‐ kenntnisformen aus einer gesellschaftlichen Genesis abzuleiten und so der Gesellschaftstheorie den Vorrang gegenüber der Erkenntnis‐ theorie zu erteilen. Im Folgenden werde ich Adornos Rezeption der genetischen Phänomenologie erneut in den Blick nehmen und die Argumentation einsichtig machen, auf der Adornos Urteil über den Zusammenhang von ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Historizität und schließ‐ lich von Sinnesgenesis und gesellschaftlicher Genesis gründet. Auf diesem Weg wird nicht nur Adornos Übergang in den Materialismus nachvollzogen, sondern auch eine Positivbestimmung des in Frage stehenden Zusammenhangs möglich. Zunächst ist es nötig, Adornos Verständnis von Husserls Sinnesgenesis näher darzulegen. a. Idealistische Synthesis und Sinnesgenesis Im Brief an Sohn-Rethel vom 3. November 1936 nennt Adorno ein zentrales Anliegen seines Husserl-Buches: „den Funktionsbe‐ griff dem Idealismus, der ihn einstweilen völlig blockiert, zu entrei‐ ßen.“430 Wenn Adorno hier vom Funktionsbegriff des Idealismus spricht, meint er die Konzeption einer reinen Synthesis, die als das einheitsstiftende Prinzip des Selbstbewusstseins aller Erfahrung vorausgeht und diese erst ermöglicht. Gilt es dem Idealismus den Funktionsbegriff ‚zu entreißen‘, so bedeutet dies, nachzuweisen, dass jene Synthesis nicht rein, sondern mit der Faktizität verschränkt ist und schließlich auf eine gesellschaftliche Genesis verweist. Wie 428 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 191. 429 Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld 2011, S. 86. 430 Brief Adornos an Sohn-Rethel vom 3.11.1936. Adorno u. Sohn-Rethel: Brief‐ wechsel 1936–1969, S. 10.
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ich zeigen werde, versucht Adorno diesen Nachweis in Auseinander‐ setzung mit Husserls genetischer Phänomenologie zu erbringen. Adorno hatte Husserl zunächst vorgeworfen, dass dieser in den Prolegomena die Synthesis als Bedingung der Logik unterschlagen würde, indem er die logischen Gesetze vollständig vom Urteils‐ vollzug trennt. „Das transsubjektive Sein der logischen Sätze“, so Adorno, „impliziert die Verdinglichung der Denkleistung, das Ver‐ gessen der Synthesis“ (GS 5/197). Allein infolge des Vergessens der Synthesis erhielten die logischen Gesetze den Anschein des be‐ wusstseinstranszendenten Ansichseins. Den von Adorno so stilisier‐ ten Ausbruch aus der Bewusstseinsimmanenz habe Husserl damit nie vollzogen. Adornos These lautet nun, dass Husserl die vergessene Synthesis in der genetischen Analyse des logischen Urteils wieder‐ entdeckt und als Sinnesgenesis beschreibt. Noch einmal sei die in Adornos Augen entscheidende Passage aus Formale und transzen‐ dentale Logik wiedergegeben: „Die Enthüllung der Sinnesgenesis der Urteile besagt genauer gespro‐ chen, so viel wie Aufwickelung der im offensichtlich zutage getretenen Sinn implizierten und ihm wesensmäßig zugehörigen Sinnesmomente. Die Urteile als fertige Produkte einer ‚Konstitution‘ oder ‚Genesis‘ kön‐ nen und müssen nach dieser befragt werden. Es ist eben die Wesensei‐ genheit solcher Produkte, daß sie Sinne sind, die als Sinnesimplikat ihrer Genesis eine Art Historizität in sich tragen; daß in ihnen stufen‐ weise Sinn auf ursprünglichen Sinn und die zugehörige noematische Intentionalität zurückweist; daß man also jedes Sinngebilde nach seiner ihm wesensmäßigen Sinnesgeschichte befragen kann.“ (Hua 17/215)
Wie Adorno im Anschluss an diese Passage in der Metakritik fest‐ hält, sei die „Tragweite von Husserls Einsicht […] darin zu suchen, daß er Synthesis und Geschichte dem erstarrten Ding und gar der abstrakten Urteilsform abzwang, während sie bei den klassischen Idealisten einer vorgedachten – eben ‚systematischen‘ – Auffassung vom Geist zugehört“ (GS 5/218f.). Wie wir sehen, parallelisiert Ador‐ no Husserls Sinnesgenesis mit einer bestimmten Konzeption der Synthesis, die er den idealistischen Systemphilosophien zuschreibt. Diese Konzeption der Synthesis, die ich nur so weit umreißen werde, wie es für den Nachvollzug von Adornos Gedankengang nötig ist, hat ihren philosophiehistorischen Ursprung in der Philoso‐ phie Kants, genauer: in der von Kant beschriebenen synthetischen Einheit der Apperzeption. Diese stiftet die Einheit in der Mannig‐
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faltigkeit der Anschauung und ist damit, wie Kant schreibt, „der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.“431 Während die synthetische Einheit der Apperzeption aufgrund des dualistischen Grundcharak‐ ters der kantischen Philosophie jedoch allein den einheitlichen Zusammenhang der Vorstellungen stiftet und auf eine subjektun‐ abhängige Quelle – die in der Anschauung gegebene Materie der Erkenntnis – verwiesen bleibt, radikalisiert sich die Konzeption einer ursprünglichen Synthesis im deutschen Idealismus. Adorno argumentiert, dass Kants Synthesis bei Fichte und Hegel total wird, insofern Fichtes absolutes Ich das Nicht-Ich aus sich selbst setzt und Hegel die Synthesis zum absoluten Geist hypostasiert. Beide Konzeptionen sind damit nicht länger auf ein ihnen Äußerliches verwiesen. So habe Fichte, wie Adorno in der Hegel-Studie Aspekte schreibt, „die Unterscheidung des transzendentalen und empirischen Subjekts rücksichtslos über Kant hinausgetrieben und um der Unversöhnlichkeit beider willen versucht, das Prinzip des Ichs der Faktizität zu entwinden und dadurch den Idealismus in jener Absolutheit zu rechtfertigen, die dann zum Medium des Hegelschen Systems wird.“ (GS 5/263)
Für uns ist hier lediglich ein Aspekt von Bedeutung, den die ge‐ nannten Konzeptionen gemeinsam haben: Die Synthesis wird als ursprüngliche Tätigkeitsform des Denkens immer schon vorausge‐ setzt, das heißt sie beruht auf einer spekulativen Setzung. An diesem Punkt bringt Adorno Husserl ins Spiel. Während die deutschen Idealisten die Synthesis als ursprüngliche und zugleich wirklichkeits‐ konstituierende Tätigkeitsform eines absoluten Ichs oder eines ab‐ soluten Geistes ‚von oben her‘ setzen, lege Husserl die Synthesis in der deskriptiven Analyse des singulären Gegenstands frei. Ausge‐ sprochen wird dieser Gedanke in der letzten Studie der Metakritik: „Seine [Husserls; T. S.] antisystematische Haltung ward dadurch be‐ lohnt, daß sie in der gleichsam blinden, von keinem Oberbegriff ‚von oben her‘ gelenkten Analyse entdeckte, was die Konstruktion der syste‐ matischen Idealisten deduktiv setzt, und was dafür das nachkonstruie‐ rende Denken der Positivisten vergißt: das dynamische Moment der 431 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 134.
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Erkenntnis, die Synthesis. Sie ist für Husserl ein Tatbestand der De‐ skription.“ (GS 5/217)
Adorno erblickt die besondere Bedeutung Husserls gegenüber den deutschen Idealisten in der deskriptiven Methode der Phänomeno‐ logie und der von ihr vorgegebenen Ausrichtung auf den anschau‐ lich gegebenen Gegenstand. Wie bereits gesehen, hatte Husserl dem Idealismus in den Ideen vorgeworfen, dieser sei unfähig, „Bewußts‐ einsarten rein schauend und wesensmäßig zu analysieren“ und wür‐ de stattdessen „von oben her Theorien […] machen“ (Hua 3.1/46). Auch in der Krisis-Schrift kritisiert Husserl diese Erkenntnisbegrün‐ dung ‚von oben her‘, wenn er Kant vorwirft, seine transzendenta‐ len Begriffe nicht anschaulich ausgewiesen zu haben. Dementgegen bedürfe es einer „grundwesentlich anderen regressiven Methode als der auf jenen fraglosen Selbstverständlichkeiten beruhenden Kants, nicht einer mythisch konstruktiv schließenden, sondern einer durchaus anschaulich erschließenden“ (Hua 6/118). Grundsatz die‐ ser Methode ist Husserls ‚Prinzip aller Prinzipien‘, das die Phäno‐ menologie darauf verpflichtet, bei ihrer Begriffsbildung nicht kon‐ struierend zu verfahren, sondern sich dem anschaulich gegebenen Gegenstand rein deskriptiv zuzuwenden.432 In Formale und transzendentale Logik macht Husserl deutlich, dass diese phänomenologische Einstellung auch für die Analyse logischer Urteile gilt. Jederzeit sei eine „Änderung der Einstellung möglich, in der wir unsere Urteile, ihre Bestandstücke, ihre Verbin‐ dungen und Beziehungen zum Thema machen; das geschieht in einem neuen Urteilen zweiter Stufe, in einem Urteilen über Urteile, in dem Urteile selbst zu Gegenständen der Bestimmung werden“ (Hua 17/117). Voraussetzung der phänomenologischen Analyse des Urteils ist also seine Vergegenständlichung und im Zuge der Analyse des vergegenständlichten und damit anschaulich gegebenen Urteils wird Husserl dessen gewahr, dass im Urteil „nicht nur der offene oder fertige Sinn, sondern der implizierte beständig mitzureden hat, und daß er insbesondere […] bei der Evidentmachung der logischen Prinzipien, wesentlich mit fungiert“ (Hua 17/216). Das logische Urteil als singulärer Gegenstand der phänomenologischen 432 Wie Kern bemerkt, kann Husserls Versuch einer anschaulichen Ausweisung kategorialer Formen als eine transzendentale Deduktion „von unten“ charakte‐ risiert werden. Vgl. Kern: Husserl und Kant, S. 161.
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Analyse offenbart sich als ein stufenartiges Sinngebilde, das dem logischen Gehalt, als dem ‚fertigen Sinn‘ des Urteils, vorausgehende Sinnesmomente in sich trägt, also eine Sinnesgenesis aufweist. Was sich Husserl zufolge in solch einer Genesis zeigt, ist die synthetisie‐ rende Leistung des Denkens „als die, unbekannt wie, beschaffene Intentionalität, in deren ‚Synthesis‘ sich die Denkgebilde als ‚Sinnes‐ einheiten‘ konstituieren“ (Hua 17/39). In Adornos Augen hat Husserl die ‚von oben her‘ gesetzte Syn‐ thesis der idealistischen Systemphilosophien von ihren spekulativen Voraussetzungen befreit und im Rahmen der deskriptiven Analyse des Einzelphänomens beschrieben. Verantwortlich hierfür sei die „positivistische Entwicklung nach Kant“, mit der eine Abwertung der Spekulation einherging und stattdessen „auf tatsachengerechte, quasi-naturwissenschaftliche Forschung gedrängt“ (GS 5/170) wur‐ de. Gemäß der positivistischen Grundhaltung der Phänomenologie müsse Husserl, wie Adorno schreibt, „den Prozeß der transzenden‐ talen Synthesis in beschreibender Kontemplation sistieren“ (GS 5/170f.). Die transzendentale Synthesis werde dabei „nicht mit ihrem ehrlichen Fremdwort bedacht, sondern in die kunstgewerbliche ‚In‐ nerlichkeit des Leistens‘ übersetzt“ (GS 5/192). Letztendlich habe sich Husserl den deutschen Idealisten jedoch wieder angenähert, indem er die „Entdeckung der Synthesis […] durch das transzenden‐ tale System interpretiert“ (GS 20.1/93), also auf die transzendentale Subjektivität zurückführt.433 Die Husserl zugeschriebene Freilegung der Synthesis im singulä‐ ren Gegenstand ist für Adorno in philosophiehistorischer wie syste‐ matischer Hinsicht von kaum zu überschätzender Bedeutung. Hatte Adorno der Phänomenologie bereits zugutegehalten, diese würde gegen ihren eigenen Willen die Unmöglichkeit einer reinen trans‐ zendentalen Subjektivität offenlegen und dadurch die Liquidation 433 Adorno mag sich dabei wohlmöglich auf die Cartesianischen Meditationen beziehen, in denen Husserl eine ursprüngliche Synthesis des Bewusstseins beschreibt, die er als inneres Zeitbewusstsein bezeichnet. In §18 heißt es: „Synthesis liegt aber nicht nur in allen einzelnen Bewußtseinserlebnissen und verbindet nicht nur gelegentlich einzelne mit einzelnen; vielmehr ist das gesamte Bewußtseinsleben, wie wir schon vorweg gesagt haben, synthetisch vereinheitlicht.“ Hua 1/80. Und außerdem: „Die Grundform dieser universalen Synthesis, die alle sonstigen Bewußtseinssynthesen möglich macht, ist das allumspannende innere Zeitbewußtsein.“ Hua 1/81.
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des Idealismus befördern, so schreibt er Husserl darüber hinaus das Verdienst zu, den Übergang in den Materialismus vorbereitet zu haben: „Husserl jedoch, der Detailforscher und umgeschlagene Positivist, insis‐ tiert solange vorm starren, fremden Gegenstand der Erkenntnis, bis die‐ ser unter dem medusenhaften Blick nachgibt. Das Ding, als identischer Gegenstand des Urteils, öffnet sich und präsentiert für einen Augen‐ blick, was seine Starrheit verbergen soll: den geschichtlichen Vollzug. Gerade die Hinnahme und Analyse der Verdinglichung durch eine der Absicht nach bloß deskriptive und spekulationsfeindliche Philosophie führt dazu, daß als ihr zentraler ‚Befund‘ Geschichte manifest wird – womit freilich der Begriff des deskriptiven Befundes sich selber aufhebt. Husserl müßte nur das geöffnete Tor durchschreiten, um zu finden, daß die ‚innere Historizität‘, die er gewahrte, keine bloß innere sei.“ (GS 5/219)
Die zentrale Frage, die es nun zu klären gilt, ist die folgende: Mit welchem Recht meint Adorno einen Zusammenhang von ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Historizität herstellen zu können? Die Antwort mag trivial klingen: Die Sinnesgenesis kann keine reine Genesis sein, weil Adorno zufolge weder die von der Phänomenologie beschriebenen Wesensstrukturen singulärer Gegenstände noch die transzendentale Subjektivität, die nach Husserl Ursprung aller Bewusstseinsleistun‐ gen ist, von der Faktizität unabhängig sind. So hatte Adorno in seiner Kritik der Wesenslehre argumentiert, dass das Wesen, gegen Husserls Beteuerung, mit der Tatsache ver‐ schränkt bleibt, weil die Wesensschau stets einen individuellen Ge‐ genstand als Ausgansgrund benötigt. Diesen Ausgangsgrund wählt Husserl auch in seiner Analyse logischer Urteile. Um die Wesens‐ strukturen logischer Urteile freizulegen, müsse der Logiker von Ex‐ empeln ausgehen und an ihnen die Wesensschau üben. Dabei könne er, wie es in der Formalen und transzendentalen Logik heißt, „eigene wirkliche Urteile nehmen, er kann auch Urteile Anderer nehmen, die er vielleicht ganz ablehnt, aber nachverstehend und in der Weise eines eigentlichen Quasivollzuges doch als mögliche Urteile evident erfaßt“ (Hua 17/68). Schließlich suche auch die Analyse der Genesis des Urteils nach deren „eidetisch zu fassender Wesensform“ (Hua 17/216). Wenn aber, so Adorno, „ein ‚Exempel‘ ‚als Ausgang notwen‐ dig‘ ist, so wird bereits die reinliche Trennung von Faktum und Idealität revoziert, insofern das Ideelle eines Faktischen bedarf, um
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überhaupt nur vorgestellt werden zu können“ (GS 5/125). Damit könne das logische Urteil, ebenso wenig wie die ihm wesensmäßig zugehörige Sinnesgenesis, von der Faktizität losgelöst werden. Schlussendlich entwirft Husserl in der Formalen und transzen‐ dentalen Logik die Idee einer ‚letzten Logik‘, die „die gesamten Prinzipien der objektiven Logik als Theorie auf ihren ursprüngli‐ chen und rechtmäßigen transzendental-phänomenologischen Sinn zurückführt und ihr echte Wissenschaftlichkeit verleiht“ (Hua 17/277). Sie habe ihren Urgrund in der transzendentalen Subjekti‐ vität als dem einzig absolut Seienden, das sämtliche Bewusstseins‐ leistungen und damit auch die von Husserl beschriebene Sinnesge‐ nesis umfasst. Dass Husserls transzendentale Subjektivität jedoch mit jener Faktizität verschränkt bleibe, die sie zu begründen bean‐ sprucht, hatte Adorno bereits in Zur Philosophie Husserls dargelegt. Die transzendentale Subjektivität bleibe „auf Faktisches verwiesen und Faktisches gehört zum ‚Sinn‘ des transzendentalen hinzu, das nicht verselbständigt und als absolutes Fundament behandelt wer‐ den darf “ (GS 20.1/103). Darum kann Adorno sagen, „daß die ‚inne‐ re Historizität‘, die er [Husserl; T. S.] gewahrte, keine bloß innere sei“ (GS 5/219). Damit stellt sich die Frage, ob sich in der faktischen Wirklichkeit eine Genesis vollzieht, die mit der Sinnesgenesis ver‐ schränkt ist und somit als ihr Äquivalent beschrieben werden kann. b. Sinnesgenesis und gesellschaftliche Genesis Natürlich droht die Rede von einer faktischen Genesis der Logik den abgewehrten Feind des Psychologismus zu neuem Leben zu erwe‐ cken. Keinesfalls will Adorno in den Psychologismus zurückfallen, weshalb er in der Metakritik betont, dass die „implizite Genesis des Logischen […] nicht die psychologische Motivation“ sei; sie sei „ein gesellschaftliches Verhalten“ (GS 5/83). Diese Formulierung fordert es, einen genaueren Blick auf jenes faktische Subjekt zu werfen, mit dem die transzendentale Subjektivität des Idealismus, wie Adorno in Auseinandersetzung mit Husserl gezeigt hatte, unauflöslich ver‐ schränkt ist. Nach Adorno wäre es eine Illusion, anzunehmen, dass das fakti‐ sche Subjekt als solches überhaupt unmittelbar zugänglich wäre, also unabhängig von der intersubjektiven Praxis beschrieben werden könnte. Ein ‚reines‘ empirisches Subjekt gebe es ebenso wenig wie
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das reine Transzendentalsubjekt des Idealismus. Adorno bemerkt in einer Vorlesung, „daß das Einzelsubjekt selber genauso ein Abs‐ traktum ist, wie ich umgekehrt versucht habe, Ihnen zu zeigen, daß das transzendentale Subjekt im Vergleich zu dem empirischen Einzelsubjekt eine Abstraktion ist, die von diesem nicht ganz und nicht mit vollem Recht kann getrennt werden“ (NaS IV 1/336f.). Das faktische Subjekt sei vielmehr „immer schon als ein gesellschaftlich vermitteltes zu verstehen“ (NaS IV/337). Gesellschaftlich vermittelt sei das faktische Subjekt schon allein deshalb, weil sein Denken sprachlicher Natur ist, Sprache aber niemals von gesellschaftlicher Praxis isoliert ist. „Denken ist allein schon durch Sprache und Zei‐ chen dem je Einzelnen vorgeordnet“, heißt es in der Metakritik. „[D]essen Meinung, ‚für sich‘ zu denken, enthält noch in der äußers‐ ten Opposition zum Allgemeinen ein Moment des Scheins: was dem individuellen Denkenden von seinem Gedanken zugehört, ist dem Inhalt wie der Form nach ein Verschwindendes“ (GS 5/66). Das fak‐ tische Subjekt ist also immer schon vergesellschaftetes Subjekt; es ist gewissermaßen der Ort an dem Erkenntnistheorie und Gesellschaft aufeinandertreffen. Wird das faktische Subjekt als gesellschaftliches bestimmt, rückt die Frage nach dem Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Gesellschaft in ein neues Licht. Gemäß dem Programm einer im‐ manenten Überschreitung des Idealismus beansprucht Adorno zu zeigen, dass sich die Frage nach dem Zusammenhang von Erkennt‐ nistheorie und Gesellschaft aufgrund der inneren Aporie der Er‐ kenntnistheorie, das heißt aus immanent erkenntnistheoretischen Gründen aufdrängt. Die Aporie der Erkenntnistheorie, die nach Adorno in Husserls Phänomenologie in besonderer Weise zur Ent‐ faltung kommt, besagt, dass in den erkenntnistheoretischen Begrif‐ fen faktische und kategoriale Momente miteinander verschränkt sind und damit weder die empirisch-positivistische noch die idealis‐ tische Begründung der Erkenntnis gelingen könne. In beiden Fällen erweise sich die Bewusstseinsimmanenz, sei es die des empirischen oder die des reinen Bewusstseins, als brüchig. Wie Adorno nun in der Metakritik schreibt, werde die Erkenntnistheorie im Zuge ihres Scheiterns „gegen ihre Absicht zum Medium der Nichtidentität“ (GS 5/34). Während der Begriff der Nichtidentität bereits an die Negative Dialektik gemahnt, ist für uns zunächst nur relevant, dass sich nach Adorno in den erkenntnistheoretischen Begriffen geltend macht, was
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gemäß der Residualtheorie der Wahrheit aus der Bewusstseinsim‐ manenz ausgeschlossen bleiben soll: der gesellschaftliche Prozess. Dies ist allein deshalb möglich, weil das faktische Subjekt, von dem der Idealismus abstrahiert, gesellschaftliches Subjekt ist. Das heißt jedoch keineswegs, wie es wiederholt zu betonen gilt, dass der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Gesellschaft kausaler Natur wäre. In der Vorlesung Erkenntnistheorie macht Adorno dies deutlich: „[I]ch suche zu der Einführung der gesellschaftlichen Kategorie, und das ist der Unterschied von der Wissenssoziologie und dem Soziologis‐ mus, nicht zu gelangen, indem ich dabei kausale Beziehungen suppo‐ niere, kausale Beziehungen voraussetze […], sondern ich suche in den Kategorien der Erkenntnistheorie selber durch deren Analyse, indem ich sie gewissermaßen unters Mikroskop nehme, eben jenes Moment der gesellschaftlichen Realität als ihren eigenen Sinn zu entdecken, der im allgemeinen als ein bloß Abgeleitetes begriffen wird“. (NaS IV 1/349)
Zwei Motive möchte ich herausgreifen. Wenn Adorno bemerkt, dass er die Kategorien der Erkenntnistheorie ‚unters Mikroskop‘ nimmt, um ihren gesellschaftlichen Gehalt aufzudecken, erinnert dies nicht zufällig an Husserls phänomenologische Methode, die beansprucht, in der Analyse des Einzelphänomens allgemeine Strukturen freizule‐ gen, die über dieses Einzelphänomen hinausgehen. Und so heißt es bereits in der Vorrede der Metakritik, dass das angewandte „mi‐ krologische Verfahren stringent dartun [soll]“, wie die erkenntnis‐ theoretischen Einzelfragen „über sich selbst und schließlich ihre ganze Sphäre hinaustreiben“ (GS 5/10).434 Der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Gesellschaft, den Adorno aufzeigen will, soll also nicht auf einer Setzung ‚von oben her‘ beruhen. Vielmehr gehe es darum – und damit kommen wir zum zweiten Motiv – in der Analyse von Einzelphänomenen die gesellschaftliche Realität als den eigenen Sinn der erkenntnistheoretischen Begriffe zu dechiffrieren. Auch die Verwendung des Sinnbegriffs ist uns aus Husserls Phäno‐ menologie bekannt. Husserls Entdeckung der Sinnesgenesis besagt, dass der fertige Sinn des Urteils, das heißt der darin ausgedrückte logische Gehalt, Produkt einer Genesis ist und nach dieser befragt 434 Adornos Verfahren der Mikrologie werde ich später genauer erläutern. Siehe hierzu das Unterkapitel Aneignung der Wesensschau: Adornos Mikrologie, in diesem Buch, S. 242–249.
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werden muss. Es sei eine Wesenseigenheit logischer Urteile, „daß in ihnen stufenweise Sinn auf ursprünglichen Sinn und die zugehörige noematische Intentionalität zurückweist; daß man also jedes Sinn‐ gebilde nach seiner ihm wesensmäßigen Sinnesgeschichte befragen kann“ (Hua 17/215). Mit Husserl gesprochen versucht Adorno eine Sinnesgeschichte der erkenntnistheoretischen Begriffe zu schreiben, die jedoch, im Gegensatz zu Husserl, keine Geschichte des reinen Bewusstseins ist, sondern den aporetischen Charakter der Bewusst‐ seinsimmanenz ebenso wie die Vergesellschaftung des Erkenntnis‐ subjekts mitbedenkt. Am Ende der Einleitung der Metakritik heißt es: „Auch die hinfälligen Begriffe der Erkenntnistheorie weisen über sich hinaus. Bis in ihre obersten Formalismen hinein, und vorab in ihrem Scheitern, sind sie ein Stück bewußtloser Geschichtsschreibung, zu er‐ retten, indem ihnen zum Selbstbewußtsein verholfen wird gegen das, was sie von sich aus meinen.“ (GS 5/47)
Adornos Versuch, die unbewusste Geschichte der erkenntnistheore‐ tischen Begriffe freizulegen, lässt sich detailliert an seiner Auseinan‐ dersetzung mit Husserl nachvollziehen. Das Resultat, welches es erst noch zu ergründen gilt, sei vorangestellt: Adorno zufolge hat die von Husserl vollzogene Verdinglichung der Logik zu einem subjektunab‐ hängigen Sein an sich, die den Kern des logischen Absolutismus aus‐ mache, strukturelle Ähnlichkeit mit einem Vorgang, der sich in der gesellschaftlichen Realität abspielt: der im Warentausch gründende Prozess der Verdinglichung. „Unabweisbar“, schreibt Adorno, sei „die Analogie mit dem vulgär-ökonomischen Denken, das den Wert den Waren an sich zuschreibt, anstatt ihn als ein gesellschaftliches Ver‐ hältnis zu bestimmen“ (GS 5/72). Hier ist der Punkt, an dem es Adornos Bestimmung des gesellschaftlichen Subjekts zu erweitern gilt und geklärt werden muss, wie Adorno die Vergesellschaftung fasst, der das faktische Subjekt unterliegt. Adorno geht mit Marx davon aus, dass sich die bürgerlich-kapita‐ listische Gesellschaft als ein Funktionszusammenhang beschreiben lässt, der sich gegenüber den faktischen Subjekten verselbstständigt hat, dessen Objektivität also von seiner sozialen Genesis unabhängig erscheint. Dabei kommt dem Warentausch konstitutive Bedeutung zu, als sich durch ihn ein Abstraktionsprozess vollzieht, in dem alle besonderen Qualitäten des Arbeitsvorgangs wie des Arbeitsprodukts
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verschwinden und der Tauschwert an deren Stelle tritt. „Erst inner‐ halb ihres Austauschs“, so schreibt Marx im Kapital, „erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiednen Gebrauchsge‐ genständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständ‐ lichkeit.“435 Im Zuge der Verselbständigung des Tauschwerts zu einer gesellschaftlichen Universalie nimmt das soziale Verhältnis der Menschen, wie Marx schreibt, die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“436 an; das Arbeitsprodukt, die Ware, kommt allein als Tauschwert zur Geltung und erscheint dadurch als „ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht“437. Mit dieser Beschreibung des gesellschaftlichen Funktionszusam‐ menhangs konfrontiert Adorno die Erkenntnistheorie, die die Ge‐ sellschaft von sich fernhalten möchte. Die Kritik, so Adorno in der Metakritik, präsentiert der Erkenntnistheorie „den Wechsel und zwingt ihr selber die außen, an der Gesellschaft gewonnene Einsicht ab, daß Äquivalenz nicht die Wahrheit, daß der gerechte Tausch nicht die Gerechtigkeit sei“ (GS 5/34). An diesem Punkt erscheint Adornos Vorgehen ambivalent: Einerseits beansprucht er den Übergang in den Materialismus ausgehend von der erkenntnis‐ theoretischen Aporetik, das heißt immanent zu vollziehen. Ander‐ seits spricht er offen aus, dass die Einsicht in den gesellschaftlichen Tauschprozess eine ‚außen, an der Gesellschaft gewonnene Einsicht‘ sei. Adorno scheint zwischen der erkenntnistheoretischen und der gesellschaftstheoretischen Sphäre hin und her zu springen. Man kann sagen, dass Adorno von einem aus der Marxschen Ge‐ sellschaftsanalyse gewonnenen Minimalinstrumentarium ausgeht, das sich jedoch erkenntnistheoretisch zu bewähren hat, das heißt nur so weit in Gebrauch genommen werden darf, wie sich eine Strukturgleichheit mit dem Gehalt der Erkenntnistheorie aufzeigen lässt. Der Wahrheitsgehalt der Erkenntnistheorie ergibt sich dann daraus, dass sich die von ihr entwickelten Begriffe, nachdem ihr idealistischer Trug der Reinheit durchbrochen wurde, als adäquate 435 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1968, S. 87. 436 Ebd., S. 86. 437 Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW 40, Berlin 1968, S. 465–588, hier S. 511.
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Beschreibungen gesellschaftlicher Phänomene erweisen. Als eine Art Imperativ ist diese Grundhaltung in der Negativen Dialektik formuliert: „In gesellschaftliche Kategorien ist philosophisch über‐ zugehen allein durch Dechiffrierung des Wahrheitsgehalts der philo‐ sophischen“ (GS 6/198). Diese Grundhaltung ist die Ursache dafür, dass Adornos Bezüge auf die Marxsche Terminologie spärlich und häufig vage bleiben.438 Es geht Adorno eben nicht, wie Christian Thein richtig feststellt, „um eine differenzierte Rekonstruktion der von Marx detailliert ausgearbeiteten begrifflichen und sachlichen Dimensionen der ökonomischen Zusammenhänge, sondern um eine Reflexion des Verhältnisses von idealistischem Systemgedanken und gesellschaftlicher Form.“439 Kehren wir zurück zu dem in Frage stehenden Zusammenhang, den Adorno zwischen logischem Absolutismus und gesellschaftli‐ cher Verdinglichung herstellt. Adorno beansprucht durch Bezugnah‐ me auf Husserls eigene Philosophie, das heißt immanent erkenntnis‐ theoretisch, zu zeigen, dass jener Zusammenhang über eine bloße Analogie hinausgeht, sich in den Husserlschen Begriffen also die gesellschaftliche Realität geltend macht, ohne dass diese Begriffe kausal aus der Gesellschaft hervorgingen. Den entscheidenden Beleg sieht er in Husserls Entdeckung der Sinnesgenesis: „Der deskriptive Sachverhalt hat, nach den Worten des späten Husserl, seine ‚genetischen Sinnesimplikate‘. Das aber rührt an die seit den Pro‐ legomena unterstellte Dichotomie von Genesis und Geltung: dieser ist ihre Entstehung nicht mehr äußerlich, nicht mehr unabhängig also von ihrem eigenen Wahrheitsgehalt, sondern Genesis fällt in jenen Wahr‐ heitsgehalt selber, der ‚fordert‘. Nicht ist, wie der Relativismus es will,
438 In der Literatur wurde dies zu Genüge bemerkt. Schon Jay schreibt in seiner Dialektischen Phantasie, Horkheimer und Adorno hätten sich „niemals ernst‐ haft mit Ökonomie befaßt, nicht mit marxistischer und nicht mit bürgerlicher.“ Jay: Dialektische Phantasie, S. 185. Braunstein hat sich Jays Auffassung zum Trotz auf die Suche nach den verdeckten Spuren der Kritik der politischen Ökonomie in Adornos Werk begeben. Vgl. Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie. 439 Christian Thein: „Synthesis a priori und gesellschaftliche Synthesis. Transfor‐ mationen der idealistischen Semantik in der Kritischen Theorie“, in: Michael Hackl u. Christian Danz (Hgg.): Die klassische deutsche Philosophie und ihre Folgen, Göttingen 2017, S. 299–319, hier S. 311.
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Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit.“ (GS 5/140f.)440
Wenn Adorno sagt, dass die Genesis in den Wahrheitsgehalt fällt, bedeutet dies, dass die Geltung ihrem eigenen Sinn nach auf die Genesis verweist; sie lässt sich nicht losgelöst von der Genesis den‐ ken, auch wenn sie mit dieser keineswegs identisch ist. Dies habe der „spätere transzendentalphilosophische Husserl stillschweigend konzediert […], ohne doch die These des logischen Absolutismus ausdrücklich zu berichtigen. Soweit die Beziehung der logischen Geltung auf Genesis notwendig ist, gehört diese selber zu dem zu explizierenden, zu ‚erweckenden‘ logischen Sinn“ (GS 5/80). Adorno bestimmt nun die Genesis als gesellschaftliche Genesis und er sieht sich dazu berechtigt, weil das Erkenntnissubjekt vergesellschaftetes Subjekt ist, die Genesis also weder eine naturgesetzlich-psychologi‐ sche sein könne noch im Sinne des Idealismus als reine Genesis der transzendentalen Subjektivität aufgefasst werden dürfe. Hierin besteht der Kern von Adornos Versuch, die Aporie der Erkenntnis‐ theorie materialistisch zu interpretieren, ohne sie dabei gesellschafts‐ theoretisch aufzulösen. Wie in der Vorlesung Erkenntnistheorie aus‐ geführt wird, gehe es gerade darum, „das sogenannte genetische Element der Erkenntnis als konkret gesellschaftliches zu fassen und in dem Sinn, in den möglichen Sinn von Erkenntnis und von Wahr‐ heit überhaupt hereinzubringen“ (NaS IV 1/341f.). Wohlgemerkt be‐ deute dies keine „Identifikation der Gesellschaft mit der Wahrheit“, sondern „daß die Idee der Wahrheit, ohne die Bezogenheit auf den realen gesellschaftlichen Prozeß und seine Bedingungen überhaupt nicht gedacht werden kann“ (NaS IV 1/343). In Husserls Entdeckung der Sinnesgenesis erblickt Adorno also den immanent-erkenntnistheoretisch erbrachten Nachweis, dass die vermeintlich reinen und überhistorischen Begriffe der Erkenntnis‐ 440 Mit dem letzten Satz bezieht sich Adorno auf eine Formulierung von Benja‐ min, die er in der Metakritik wiedergibt: „Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ‚zeitlosen Wahrheit‘ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.“ zit. n. GS 5/141. Sie findet sich in: Walter Benjamin: Das PassagenWerk, Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 578.
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theorie, ja die logischen Gesetze selbst, einen gesellschaftlichen Gehalt in sich tragen. Über Husserls logischen Absolutismus sagt Adorno: „Denken wird aus Denken ausgetrieben. Das ist, trotz der Reduktion der natürlichen Welt, der strenge Tatbestand von Verdinglichung“ (GS 5/56). Diese Verdinglichung werde durch die Entdeckung der Sinnesgenesis durchbrochen. „Husserl akzeptiert das Denken in seiner verdinglichten Gestalt, folgt ihr jedoch so un‐ bestechlich, bis sie über sich hinaustreibt“ (GS 5/55). Der Charakter des Ansichseins, den Husserl der Logik zuschreibt, zergeht, indem diese sich abhängig von einem genetischen Prozess erweist. Erst im Resultat dieses Prozesses – mit Husserl gesprochen: im logischen Gehalt als dem fertigen Sinn des Urteils – verschwindet die Genesis, sodass der logische Gehalt vom urteilenden Subjekt unabhängig erscheint.441 Dieser von Husserl beschriebene Vorgang entspricht nach Adorno in struktureller Hinsicht dem Prozess der Verdinglichung, der sich in der warentauschenden Gesellschaft ereignet. Wie wir gesehen haben, wird auch im Tausch, um die Arbeitsprodukte einander kom‐ mensurabel zu machen, von allen genetischen Momenten abstra‐ hiert, sodass das Arbeitsprodukt allein als Tauschwert zur Geltung kommt und dem Produzenten mit Marx gesprochen „als ein frem‐ des Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht“442 gegenübertritt. Nun konfrontiert Adorno nicht nur die Erkenntnis‐ theorie mit der Gesellschaft, um ihren gesellschaftlichen Gehalt aufzudecken. Auch die Gesellschaft wird gewissermaßen erkenntnis‐ theoretisch interpretiert, indem Adorno zu zeigen beansprucht, dass der Warentausch selbst begrifflichen Charakter hat. Der Objektivität der logischen Gesetze, die aus ihrer stets gleichen Anwendbarkeit auf ungleiche Gegenstände resultiert, entspricht umgekehrt die Objekti‐ vität des Tauschwerts. Der Warentausch, so Adorno in der Vorlesung Erkenntnistheorie bestehe eben darin, „daß das, was miteinander ge‐ tauscht wird, entäußert wird derjenigen Qualitäten, die unvergleich‐ bar sind, und gebracht wird nur auf die Momente, die an ihm 441 Diesen Gedanken hatte Adorno schon 1936 gegenüber Sohn-Rethel formuliert. Anliegen seines Husserl-Buchs sei die „Überwindung der Antinomie von Ge‐ nesis und Geltung“; zentrale Motive darin seien „die ‚Verdinglichung der Logik‘ und „das Gelten als ‚vergessene Synthesis‘“. Brief Adornos an Sohn-Rethel vom 3.11.1936. Adorno u. Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969, S. 10. 442 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 511.
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vergleichbar sind“ (NaS IV 1/339). Adorno zieht daraus den Schluss, „daß der reale Lebensprozeß der Gesellschaft als seine Bedingung ebenso den Begriff voraussetzt, wie Begriff, wie Erkenntnis anders denn vermöge eines gesellschaftlichen Substrats überhaupt gar nicht gedacht werden kann“ (NaS IV 1/342). Gesellschaft und Erkenntnis sind also aufs Engste miteinander verschränkt und diese Verschrän‐ kung ist abermals eine Voraussetzung dafür, dass sich unbewusste gesellschaftliche Gehalte in den erkenntnistheoretischen Begriffen überhaupt dechiffrieren lassen. Davon legt Husserls logischer Abso‐ lutismus Zeugnis ab. Sein Wahrheitsgehalt besteht nach Adorno da‐ rin, dass er die Objektivität des gesellschaftlichen Funktionszusam‐ menhangs, der von den vergesellschafteten Subjekten unabhängig erscheint, adäquat zum Ausdruck bringt. In der Metakritik heißt es: „Die Gewalt des logischen Absolutismus über die psychologische Be‐ gründung der Logik ist der Objektivität des die einzelnen unter sich zwingenden und ihnen zugleich undurchsichtigen gesellschaftlichen Prozesses abgeborgt. Husserls wissenschaftliche Besinnung nimmt im Angesicht dieses Gesellschaftlichen unreflektiert die Position des Indivi‐ duums ein. Wie das vorkritische Bewußtsein die Dinge, erhöht er die Logik zu einem an sich Seienden. Damit drückt er richtig aus, daß die Denkgesetze des Individuums – psychologisch gesprochen, des Ichs, dessen Kategorien ja der Realität zugewandt, in Wechselwirkung mit dieser gebildet und insofern ‚objektiv‘ sind – ihre Objektivität nicht vom Individuum empfangen. Verzerrt dringt die Einsicht von der Vorgeord‐ netheit der Gesellschaft gegenüber dem Individuum durch.“ (GS 5/83)
In Adornos Sinnesgeschichte der erkenntnistheoretischen Begriffe wird Husserl, so eine prägnante Formulierung aus der Metakritik, zum „bewußtlosen, doch getreuen Historiographen der Selbstent‐ fremdung des Denkens“ (GS 5/70). Seine Phänomenologie bezeu‐ ge, nachdem sie ihres Reinheitspostulats zum Trotz des faktischen Gehalts ihrer Begriffe überführt wurde, dass die Erkenntnistheorie „bewußtlos von der Gesamttendenz einer Gesellschaft beherrscht [wird], die […] ihre je existenten verdinglichten Formen als endgül‐ tig, als Kategorien hypostasieren muß“ (GS 5/146). Mit der Bewusst‐ machung des gesellschaftlichen Gehalts der Erkenntnistheorie, die drauf hinausläuft, die Gesellschaft als den impliziten Sinn der Er‐ kenntnistheorie, nicht jedoch als deren genetischen Ursprung auszu‐ weisen, sieht Adorno den Übergang in den Materialismus vollzogen.
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Kapitel 3: Übergang in den Materialismus
Seine Konzeption einer materialistischen Logik ist zugleich Resultat dieses Übergangs. Zuletzt möchte ich Grundlegendes wiederholen und Konsequen‐ zen aufzeigen, die sich aus dem bisher Gesagten für Adornos Kon‐ zeption einer materialistischen Logik ergeben. Dafür komme ich zunächst zurück auf den zu Beginn des Kapitels angeführten Brief an Horkheimer vom 24. November 1934. Adorno hatte in diesem Brief bemerkt, dass Husserls Psychologismuskritik insofern berechtigt sei, als der Psychologismus in der „psychologischen Eliminierung der gesellschaftlichen Objektivität“443 mündet. Adorno hält an einem Begriff von Objektivität fest, die näher als gesellschaftliche Objekti‐ vität bestimmt wird, jedoch nicht kausal aus der Gesellschaft hervor‐ geht. Er hegt keine Zweifel an der Objektivität der logischen Gesetze und wir haben gesehen, dass er sich der psychologistischen wie soziologistischen Ableitung der Geltung aus der Genesis verwehrt. Die Logik verweise vielmehr ihrem eigenen Sinn nach auf eine Genesis und damit auf die Gesellschaft, sie sei kein Sein an sich. Die „bloße Möglichkeit“ der Logik, so heißt es in der Metakritik, „hängt ab vom Dasein, von Sätzen, mit allem, was dies Dasein mit sich führt, so wie umgekehrt die Sätze abhängen von der Logik, der sie genügen müssen, um wahr zu sein. Die formale Logik ist funktio‐ nell, kein ideales Sein“ (GS 5/74). Kern der materialistischen Logik Adornos ist mit Sommer gesprochen eine „bestimmte Relativierung“ der Logik. Das bedeutet, dass es Adorno nicht darum geht, „die Gültigkeit der Erkenntniskategorien zu relativieren, sondern bloß ihren Charakter der Absolutheit aufzuheben“444. Diese bestimmte Relativierung resultiert aus dem Nachweis der Verschränktheit von Erkenntnistheorie und Gesellschaft. Erstere verweise auf die Gesell‐ schaft, deren Funktionszusammenhang wiederum begrifflich struk‐ turiert ist. Schließlich habe Husserl selbst im Zuge seiner Entdeckung der Sinnesgenesis hervorgekehrt, dass die Geltung der Logik auf geneti‐ sche Sinnesmomente verwiesen ist, das logische Urteil also funktio‐ nell ist und nach seiner Genesis befragt werden muss. Allerdings sieht Husserl die absolute Geltung der Logik dadurch nicht relati‐ viert und funktionell ist das Urteil bei ihm allein im Sinne der 443 Adorno u. Horkheimer: Briefwechsel 1927 – 1937, S. 40. 444 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 192f.
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zugrundeliegenden synthetisierenden Leistung des reinen Bewusst‐ seins. Die Genesis ist also immanente Genesis. Weil Husserl glaubt, das Bewusstsein durch die phänomenologische Reduktion aus der gesellschaftlichen Faktizität herauslösen zu können, verkennt er Adorno zufolge „die kollektive Einheit im Vollzug von Bewußtseins‐ akten, das gesellschaftliche Moment der Synthesis des Denkens“ (GS 5/66). Es ist von großer Bedeutung, dass Adorno hier von einem gesellschaftlichen Moment der Synthesis spricht. Das bezeugt, dass es ihm, anders als Sohn-Rethel, nicht darum geht, die reine Synthesis des Idealismus, die Husserl im Zuge seiner Entdeckung der Sinnesgenesis im Einzelphänomen freigelegt habe, durch eine gesellschaftliche Synthesis zu ersetzen. Adornos Übergang in den Materialismus kulminiert nicht in der gesellschaftstheoretischen Auflösung der Aporie der Erkenntnistheo‐ rie. Denn wie die positivistische und die idealistische Immanenz‐ philosophie, bleibe auch der Soziologismus der prima philosophia verhaftet, indem er die Gesellschaft als ein erstes Prinzip setzt. Ador‐ nos materialistische Interpretation der Aporie der Erkenntnistheorie besteht darin, die Aporie aus der wechselseitigen Verwiesenheit von logischer Geltung und gesellschaftlicher Genesis zu erklären, ohne dabei einem der Momente einen Primat zuzuweisen. Sein Materialis‐ mus ist Materialismus nur insoweit, als er die idealistische Bewusst‐ seinsimmanenz durchbrochen hat und einem gesellschaftlichen Ge‐ halt der erkenntnistheoretischen Begriffe zum Ausdruck verhilft, indem er ihre Sinnesgeschichte erzählt. Nicht nur wird dadurch die Philosophie materialistisch. Durch die Pointierung des Geltungsmo‐ ments, dass sich nicht auf die gesellschaftliche Genesis reduzieren lässt, wird der Materialismus, wie Adorno in der Negativen Dialektik schreibt, „notwendig philosophisch, trotz und vermöge aller Philo‐ sophiekritik“ (GS 6/198). Auch darin besteht sein undogmatischer Charakter: Der Materialismus wird durch die Analyse der inneren Aporetik der erkenntnistheoretischen Begriffe gewonnen und bleibt dadurch mit der Philosophie verschränkt, noch wo er über sie hin‐ ausblickt. Diesen Materialismus entfaltet Adorno schließlich in seinem phi‐ losophischen Hauptwerk, der Negativen Dialektik. Genauer noch: Sein Materialismus erhält die Gestalt einer negativen Dialektik und diese ist Adornos Antwort auf die Aporie der Erkenntnistheorie. Die Auseinandersetzung mit Husserl bildet dabei eine entscheidende
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Voraussetzung. Wie Adorno in der Vorrede berichtet, habe Benjamin nach seiner Lektüre von Zur Philosophie Husserls im Jahr 1937 be‐ merkt, „man müsse durch die Eiswüste der Abstraktion hindurch, um zu konkretem Philosophieren bündig zu gelangen. Die Negative Dialektik nun zeichnet retrospektiv einen solchen Weg auf “ (GS 6/9). Im nun folgenden letzten Unterkapitel werde ich diesen Weg beleuchten und dabei der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Phänomenologie Husserls für die Entstehung von Adornos Konzept einer negativen Dialektik zukommt.
2. Negative Dialektik Adorno hat die Metakritik noch 1966 gegenüber Kracauer als „Ram‐ pe“ zur Negativen Dialektik bezeichnet: „Zu deren vollem Verständ‐ nis dürfte aber die ‚Metakritik‘ fast unentbehrlich sein.“445 Unge‐ achtet der Bedeutung, die Adorno seiner Auseinandersetzung mit Husserl in diesem Brief beigemessen hat, gibt die Negative Dialektik Anlass zu der Annahme, dass diese Bedeutung gegenüber derjeni‐ gen Hegels gewichen ist. So verweist bereits ihr Titel zweifellos auf Hegel. Und mehr als das: Adorno macht gleich im ersten Satz deutlich, in welche Tradition er sich mit seinem philosophischen Hauptwerk stellt. „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“ (GS 6/15). Diese Philosophie ist die hegelsche. Sie erhält sich am Leben, weil ihre von Marx prognostizierte Verwirklichung durch den Übergang in die Praxis nicht gelang. Die Konsequenz, die sich daraus für die Philosophie ergibt, spricht Adorno wenig später aus: „Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirk‐ lichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren“ (GS 6/15). Die in Rede stehende Philosophie ist auch hier diejenige Hegels. Weil diese ihr Versprechen, eins mit der Wirklichkeit zu sein, nicht einlöste, ist sie zur Selbstkritik genötigt. Adorno bestimmt das Programm der Negativen Dialektik bereits in diesen ersten Sätzen als eine Selbstkri‐ tik der hegelischen Philosophie. 445 Brief Adornos an Kracauer vom 28. September 1966. Adorno u. Kracauer: Briefwechsel 1923–1969, S. 716.
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2. Negative Dialektik
Wer nach der Bedeutung von Husserls Phänomenologie für Ador‐ nos Konzept einer negativen Dialektik fragt, sollte sich jedoch von Adornos philosophiehistorischer Selbstverortung nicht beirren las‐ sen. Meyer-Drawe hat darauf hingewiesen, dass Adorno bis in die Negative Dialektik „beeinflußt bleibt von Husserls Weg zu den Sa‐ chen selbst, wenngleich er sich später bemüht, diese Spuren wenn nicht gar zu verwischen, so doch in ihrer Bedeutung herunterzuspie‐ len.“446 Ungeachtet dessen, ob Adorno solch ein gezieltes Vorgehen unterstellt werden kann, bedarf es in der Tat der Spurensuche, um den Einfluss Husserls in der Negativen Dialektik herauszuarbeiten. Dieser Einfluss ist in der kategorialen Struktur negativer Dialektik selbst zu suchen, und zwar an jenen Stellen, an denen sie sich von der idealistischen Dialektik Hegels absetzt. So betont Adorno in der Vorrede, dass sein Buch Dialektik von ihrem „affirmativem Wesen befreien“ (GS 6/9) möchte, das ihr bei Hegel noch anhaftet. Das bedeutet, dass negative Dialektik die Kategorien der hegelschen Dia‐ lektik „festhält sowohl wie qualitativ verändert“ (GS 6/10). Dadurch wird Dialektik materialistisch. Ich werde im Folgenden darlegen, dass Adorno diese qualitative Veränderung der Dialektik unter Be‐ zugnahme auf Motive der Husserlschen Phänomenologie vollzieht. Diese Bezugnahme erfolgt, weil Adorno in Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ die für die negative Dialektik entscheidende Intention sieht, den von Hegel noch unangefochtenen Primat des Geistes zu unterlaufen. Zunächst gilt es die kategoriale Struktur negativer Dialektik in ihrer Differenz zu Hegel darzustellen und dabei zu zeigen, inwiefern Ador‐ nos Absetzung von Hegel unter Bezugnahme auf Husserls Phänome‐ nologie erfolgt. Das Theorem, das dabei im Zentrum steht, ist der von Adorno so bezeichnete Vorrang des Objekts in der Vermittlung. Dieses Theorem, so werde ich zeigen, kann als Adornos Versuch gelten, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen‘ auf der Strukturebene negativer Dialektik einzulösen (I). Daraufhin wird das Verfahren negativer Dialektik in seiner erkenntnispraktischen Anwendung untersucht. Ich werde zeigen, dass das für Adornos Philosophie zentrale Motive der Mikrologie auf einer Aneignung der Husserlschen Wesensschau be‐ ruht. Die Mikrologie bildet wiederum die Voraussetzung für Adornos 446 Meyer-Drawe: „Der Leib – ‚ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding‘“, S. 300.
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Verfahren der gesellschaftlichen Physiognomik, das in einem gewissen Sinn als eine Verbindung von Wesensschau und genetischer Phäno‐ menologie verstanden werden kann. Indem die Physiognomik einen gesellschaftlichen Gehalt in geistigen, aber auch sozialen und kultu‐ rellen Phänomenen freizulegen versucht, geht das Verfahren über die Negative Dialektik hinaus (II). I. Zur Struktur negativer Dialektik
Negative Dialektik ist Adornos Antwort auf die Aporie der Erkennt‐ nistheorie. Die Aporie der Erkenntnistheorie hat ihren Ursprung in der unauflöslichen Verschränkung kategorialer und empirischer Momente in den Erkenntnisformen. Das bedeutet, dass die Geltung der Erkenntnisformen nicht von einer faktischen Genesis losgelöst werden kann, sich aber ebenso wenig auf diese Genesis reduzieren lässt. Ganz gleich, ob diese als psychologische oder gesellschaftliche Genesis gefasst wird. Es müsse folglich darum gehen, wie Adorno in der in den Jahren 1957/58 gehaltenen Vorlesung Erkenntnistheo‐ rie bemerkt, „zu einer Formulierung dieser Gesetzmäßigkeiten über‐ haupt zu kommen, in der sowohl das Moment der Denkgesetzlich‐ keit wie das eines fundamentum in re, also einer gegenständlichen Bestimmtheit dieser Gesetze ausgedrückt ist“ (NaS IV/72). Das, so fügt er hinzu, „ist ein Problem, das einzig und allein in einer dialektischen Logik und nicht mit den Mitteln der traditionellen Logik zu lösen ist“ (NaS IV/72). Die dialektische Logik, die Adorno hier im Sinn hat, konzipiert er später als negative Dialektik. Ich werde ihre kategoriale Struktur ausgehend von Adornos Konzeption der Vermittlung erschließen und den phänomenologischen Motiven nachgehen, die in diese Konzeption eingegangen sind. a. Innere Vermittlung und der Widerspruch als Sinnesimplikat Adorno spricht Hegel das große Verdienst zu, in kritischer Aus‐ einandersetzung mit der Philosophie Kants einen Weg gefunden zu haben, der die Dynamisierung dualistischer Strukturen in der Erkenntnistheorie erlaubt. In der Hegel-Studie Aspekte, die ein ers‐ tes Dokument der intensivierten Beschäftigung mit Hegel darstellt,
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2. Negative Dialektik
schreibt Adorno: „Die von Kant einander entgegengesetzten Pole, Form und Inhalt, Natur und Geist, Theorie und Praxis, Freiheit und Notwendigkeit, Ding an sich und Phänomen, werden allesamt von Reflexion durchdrungen, derart, daß keine dieser Bestimmungen als ein Letztes stehen bleibt“ (GS 5/43). Die hegelsche Kategorie, der Adorno dabei die entscheidende Bedeutung beimisst, ist diejenige der Vermittlung. Die Bedeutung des Vermittlungsbegriffs für Ador‐ nos negative Dialektik kann indessen nicht hoch genug eingeschätzt werden, worauf in der Forschung mehrfach hingewiesen wurde. „Vom Hegelschen Begriff der Vermittlung nimmt Adornos Kritik am idealistischen Vorrang des Subjekts ihren Ausgang“,447 heißt es bei Thyen. Ebenso weist Rentsch darauf hin, dass der Bezugsrahmen der Negativen Dialektik „im wesentlichen die Dialektik Hegels und deren zentraler methodischer Gesichtspunkt der Vermittlung“448 sei. Sommer, der Adornos Auseinandersetzung mit Hegels Vermittlungs‐ begriff erstmals umfassend rekonstruiert hat, geht so weit zu sagen, dass sich in Adornos Konzeption der Vermittlung der „Kern seiner negativen Dialektik“449 finden lasse. Die Kategorie der Vermittlung bietet somit eine ausgezeichne‐ te Zugangsmöglichkeit, um die Struktur negativer Dialektik zu er‐ schließen. Allerdings wurde Adorno wiederholt vorgeworfen, dass seine Konzeption der Vermittlung eine Verkürzung der hegelschen Dialektik darstelle und dadurch in jenen Dualismus zurückfalle, den Hegel zu überwinden angetreten war. Rentsch spricht von einem „Schritt von der Dialektik zum Dualismus“, der darin bestehe, „daß die drei Hegelschen Momente begrifflicher Vermittlung: Allgemei‐ nes, Besonderes und Einzelnes, bei Adorno auf zwei: Allgemeines und Einzelnes (bei Adorno synonym: Besonderes) zusammenge‐ kürzt werden.“450 Auch Birgit Sandkaulen wirft Adorno vor, dass er die hegelsche Dialektik „in den Typus einer dualistischen Reflexions‐ philosophie zurückverwandelt“451. Dementgegen hat Sommer geltend 447 448 449 450 451
Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S. 168. Rentsch: „Vermittlung als permanente Negativität“, S. 85. Sommer: „Die Differenz in der Vermittlung“, S. 136. Rentsch: „Vermittlung als permanente Negativität“, S. 95. Birgit Sandkaulen: „Modell 2: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu He‐ gel. Adornos Geschichtsphilosophie mit und gegen Hegel“, in: Axel Honneth u. Christoph Menke (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S. 169–187, hier S. 184.
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gemacht, dass solche Vorwürfe verkürzt sind. Adornos Konzeption der Vermittlung habe ihren Ursprung gerade nicht im dreigliedrigen Vermittlungsbegriff der Wissenschaft der Logik, in der Hegel die Vermittlung ausgehend von den drei Momenten des allgemeinen Begriffs „Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit“452 entwickelt. Stattdessen sei die Phänomenologie des Geistes, in der sich ein im Ursprung zweigliedriger Vermittlungsbegriff finden lässt, von größe‐ rer Wichtigkeit.453 Die Differenz zwischen einem Dualismus und Adornos Position bestehe schließlich in seiner Konzeption einer inneren Vermittlung, „die nicht bloß die äußerliche Verwiesenheit der Momente behauptet, sondern ihre immanente, wechselseitige Abhängigkeit.“454 Ich werde im Folgenden über Sommer hinausge‐ hen und die These entfalten, dass Adorno zu der Gestalt einer inne‐ ren Vermittlung gelangt, indem er ein Motiv in den hegelschen Ver‐ mittlungsbegriff einschleust, das der Husserlschen Phänomenologie entnommen ist: das ‚Sinnesimplikat‘. Hegel richtet sich zu Beginn der Phänomenologie des Geistes gegen die Konzeption der prima philosophia, deren Anspruch da‐ rin besteht, die gesamte Wirklichkeitskonstitution aus einem ersten Prinzip oder Grundsatz zu erklären. Solch ein Grundsatz weise notwendig einen Mangel auf, „weil er nur das Allgemeine oder Prinzip, der Anfang ist.“455 Indem Hegel zeigt, dass die in solch einem Grundsatz enthaltenen Bestimmungen nicht für sich allein gedacht werden können, deckt er das Ungenügen eines unmittelba‐ ren Anfangs und damit dessen Vermitteltheit auf. Die Setzung eines ersten Prinzips, aus dem alles folgen soll, wird so durch ein Denken überwunden, das den Anfang als immer schon vermittelt erkennt und dadurch in seiner unmittelbaren Form negiert: „Die eigentliche positive Ausführung des Anfangs ist zugleich umgekehrt ebensosehr ein negatives Verhalten gegen ihn, nämlich gegen seine ein‐ seitige Form, erst unmittelbar oder Zweck zu sein. Sie kann somit gleich‐ falls als Widerlegung desjenigen genommen werden, was den Grund des
452 453 454 455
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Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik II, S. 273. Vgl. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 41–48. Sommer: „Die Differenz in der Vermittlung“, S. 139. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 27.
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Systems ausmacht; richtiger aber ist sie als ein Aufzeigen anzusehen, daß der Grund des Systems in der Tat nur sein Anfang ist.“456
Wie Adorno in der Hegel-Studie Aspekte zustimmend anmerkt, habe Hegel die „Unzulänglichkeit eines abstrakten Grundsatzes jenseits der Dialektik, aus dem alles folgen soll“ (GS 5/260) erkannt. „Die Konsequenz aus dem Grundsatz negiert diesen zugleich und bricht seinen absoluten Vorrang“ (GS 5/260). Adorno erblickt in diesen Ausführungen Hegels eine zweigliedrige Vermittlung, die schlicht darin besteht, dass ein Anfangsprinzip immer schon über sich hin‐ ausweist, also vermittelt ist und in seiner falschen Form negiert werden muss. Adornos Kritik an Hegel wird schließlich darin beste‐ hen, dass Hegel trotz des Gedankens der Vermittlung am Primat des Geistes festhält und darum im Idealismus verbleibt, während Vermittlung solch einen Primat doch eigentlich nicht zulässt. Der Primat des Geistes bleibe bestehen, weil Hegel die Vermittlung selbst zu einem Unmittelbaren erklärt und damit hypostasiert. Dadurch werde die Vermittlung gegenüber ihren Momenten zu einem selb‐ ständigen Dritten, dessen Bewegung im absoluten Geist zur Aufhe‐ bung gelangt. Auf diesen noch zu vertiefenden Problemhorizont weise ich deshalb hin, weil dadurch verständlich wird, dass Adorno von Anfang an auf eine Konzeption der dialektischen Vermittlung hinarbeitet, die als Kritik des Idealismus entwickelt ist. Sein Vermitt‐ lungsbegriff, so ließe sich gegen den Vorwurf einer vermeintlichen Verflachung der Dialektik anmerken, ist aus guten Gründen zwei‐ gliedrig. Für Adornos Konzeption der Vermittlung ist nun weiter entschei‐ dend, dass die Vermittlung als eine innere Vermittlung gefasst wird. Das heißt, dass der Widerspruch nicht aus dem Hinzutreten eines äußerlichen Moments resultiert, sondern „die Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch in ihnen selber“ (GS 5/257). Was man sich unter solch einer Vermittlung ‚in den Extremen‘ vorzustel‐ len hat, macht Adorno in einer Vorlesung deutlich: „[D]iese innere Vermittlung, also die Vermittlung, die darin besteht, daß die beiden einander entgegengesetzten Momente nicht etwa wech‐ selseitig aufeinander verwiesen sind, sondern daß die Analyse eines jeden in sich selbst als auf ihr Sinnesimplikat, auf ihr Entgegengesetztes verweist, das ist eigentlich, könnte man sagen, das Prinzip der Dialektik 456 Ebd., S. 28.
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gegenüber einem bloß äußerlich dualistischen oder disjunktiven unter‐ scheidenden Denken“. (NaS IV 9/466)
Dass Adorno das entgegengesetzte Moment in der Vermittlung hier als Sinnesimplikat bezeichnet, weist darauf hin, dass phänomenolo‐ gische Motive in sein Konzept einer negativen Dialektik eingewan‐ dert sind. Wir erinnern uns: Adorno hatte Husserl das Verdienst zugesprochen, im Zuge seiner phänomenologischen Analyse des Urteils die Genesis als Sinnesimplikat der logischen Geltung freige‐ legt zu haben. Es sei, wie Husserl bemerkt, die „Wesenseigenheit“ logischer Urteile, „daß sie Sinne sind, die als Sinnesimplikat ihrer Genesis eine Art Historizität in sich tragen“ (Hua 17/215). Die Gel‐ tung verweise also in sich und ihrem eigenen Sinn nach auf eine Genesis. Auch in der Hegel-Studie Skoteinos oder Wie zu lesen sei gebraucht Adorno Husserls Ausdruck des Sinnesimplikats, um die Spezifik dialektischer Vermittlung aufzuzeigen: „Durch die Explikation der Begriffe, also durch das, was nach tradi‐ tioneller Logik und Erkenntnistheorie die analytischen Urteile leisten, wird im Begriff selber, ohne den Umfang des Begriffs zu verletzen, sein Anderes, Nichtidentisches als sein Sinnesimplikat evident. Der Begriff wird solange hin- und hergewendet, bis sich ergibt, daß er mehr ist, als er ist.“ (GS 5/363)
Das dem Begriff gegenüber Nichtidentische sei also in diesem selbst als sein Sinnesimplikat enthalten. Die Rede vom Sinnesimplikat be‐ sagt, dass sich der Widerspruch zwischen Begriff und Nichtbegriffli‐ chem innerhalb der begrifflichen Sphäre selbst bemerkbar macht. Die innere Vermittlung ist eine solche, die durch die Explikation des Begriffs und damit immanent aufgedeckt wird; darum Adornos Hinweis auf das analytische Urteil. Doch findet sich in dem Zitat noch ein weiterer Verweis auf Husserl. Wenn Adorno die Dialektik hier als ein Verfahren charakterisiert, das darin besteht, dass ein Begriff ‚solange hin- und hergewendet [wird], bis sich ergibt, daß er mehr ist, als er ist‘, beruft er sich indirekt auf Husserls Methode der eidetischen Variation. Sie besteht darin, einen Gegenstand so lange zu variieren, bis seine Wesensstrukturen hervortreten, die gegenüber den bloß kontingenten Eigenschaften invariant sind. Die eidetische Variation, so Husserl, kehre das „notwendig Verharrende, das Inva‐ riante hervor, das unzerbrechlich Selbige im Anders und Immerwieder-anders, das allgemeinsame Wesen“ (Hua 17/255). Adorno
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beschreibt ebenfalls eine Art Variation des Begriffs, die derjenigen Husserls jedoch entgegengesetzt ist, insofern sie zum Resultat hat, dass der Begriff über sich hinausweist auf Nichtbegriffliches und so‐ mit kein reines Wesen sei. In besagter Hegel-Studie fügt Adorno hin‐ zu, dass der Begriff „in die Brüche [geht], sobald er auf sich beharrt, während doch nur die Katastrophe solcher Beharrung die Bewegung stiftet, die ihn in sich zu einem anderen macht“ (GS 5/363). Solch ein ‚Beharren auf sich‘ hatte Adorno auch der Phänomenologie Hus‐ serls vorgeworfen. Gerade weil Husserl auf der Reinheit des Wesens beharrt, werde offenkundig, dass das Wesen sich nicht von dem ihm entgegengesetzten Pol, der Faktizität, emanzipieren lasse. Das Wesen ist in sich dialektisch vermittelt und verweist auf das, was es selbst nicht ist. Dieser Gedanke wird schließlich in der Negativen Dialektik ausgesprochen: „Die Kantische Konzeption erlaubte noch Dichotomien wie die von Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, ohne daß die mutuelle Vermit‐ teltheit der Gegensatzpaare sie beirrte; ihr dialektisches Wesen, den Widerspruch als ihr Sinnesimplikat bemerkte sie nicht. Erst Heideggers Lehrer Husserl hat die Idee der Apriorität so geschärft, daß gegen sei‐ nen Willen wie gegen den Heideggers am eigenen Anspruch der εἴδη deren Dialektik zu entnehmen war.“ (GS 6/140)
Adorno grenzt sich abermals vom dualistischen Charakter der kanti‐ schen Philosophie ab und gebraucht wiederholt den Husserlschen Ausdruck des Sinnesimplikats, um die Spezifik dialektischer Ver‐ mittlung herauszustellen. Als Sinnesimplikat ist der Widerspruch im Begriff selbst enthalten; er resultiert nicht aus dem Hinzutreten eines äußerlichen Moments. Diese innere Vermittlung habe Husserls We‐ senslehre gegen ihre eigene Absicht hervorgekehrt, gerade weil Hus‐ serl die Reinheit des Eidos bis aufs Letzte verteidigt. Seine Behaup‐ tung, dass das Wesen von der Tatsache unabhängig sei (vgl. Hua 3.1/17), wird in Adornos Augen durch die Wesenslehre selbst wider‐ legt. Indem Husserl von einem individuellen Gegenstand ausgehen muss, um zum Wesen zu gelangen, werde, wie wir in der Metakritik gelesen hatten, „die reinliche Trennung von Faktum und Idealität re‐ voziert, insofern das Ideelle eines Faktischen bedarf, um überhaupt nur vorgestellt werden zu können“ (GS 5/125f.). Mit Adorno ließe sich argumentieren, dass der Widerspruch zwischen Tatsache und Wesen im Wesen als Sinnesimplikat enthalten ist. Die Konzeption
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des Sinnesimplikats bietet für Adorno somit die Möglichkeit, mit Husserl gegen Husserl, die Vorstellung einer erkenntnistheoretischen Idealsphäre zu kritisieren. Hier lässt sich erkennen, was Adorno in der Metakritik unter jener „Dialektik wider Willen“ (GS 5/117) versteht, die der Phänomenologie „mit der Kraft ihrer eigenen Kon‐ sequenz erst abzuzwingen“ (GS 5/56) sei. Adorno gebraucht die Konzeption des Sinnesimplikats ebenso, um die idealistische Vor‐ stellung eines reinen Erkenntnissubjekts zu unterlaufen. Wie er in der Negativen Dialektik unter Bezug auf Kant geltend macht, sei das faktische Subjekt „Sinnesimplikat noch des logischen ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können‘“ (GS 6/184f.).457 Adorno versagt Hegel deshalb dort die Gefolgschaft, wo dieser die Vermittlungskategorie mit dem Primat des Geistes verbindet. Die Trennung der Vermittlung vom Primat des Geistes setzt, wie Sommer bemerkt, „im Inneren der Vermittlung eine Strukturver‐ änderung frei, die für das Gefüge einer negativen Dialektik von zentraler Bedeutung ist“458. Diese Strukturveränderung gilt es nach‐ zuverfolgen. Sie kulminiert in Adornos Theorem vom Vorrang des Objekts in der Vermittlung. „Durch den Übergang zum Vorrang des Objekts“, so Adorno in der Negativen Dialektik, „wird Dialektik materialistisch“ (GS 6/193). Im Folgenden wird sich zeigen, dass nicht nur diese Strukturveränderung auf der Aneignung phänome‐ nologischer Motive beruht, sondern der Übergang zum Vorrang des Objekts Adornos Versuch ist, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ einzulösen. b. Der Vorrang des Objekts und das ‚Zu den Sachen selbst‘ In der Aporie der Erkenntnistheorie drückt sich die Unmöglichkeit aus, die Wirklichkeitskonstitution aus der Immanenz des Bewusst‐ seins heraus zu begründen. Ganz gleich, ob das empirische Bewusst‐ sein als Ursprung bestimmt wird, aus dem die Erkenntnisformen ab‐ 457 Tiedemann hat Recht: „Die Bedeutung des Husserlschen Gedankens, daß jedes Urteil seinem Sinn nach seine Genesis in sich trägt, ist für das Denken Adornos kaum zu überschätzen.“ Rolf Tiedemann „Anmerkungen des Herausgebers (NaS IV 16)“, in: Theodor W. Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik. Frag‐ mente zur Vorlesung 1965/66, NaS IV 16, S. 263–334, hier S. 333. 458 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 55.
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zuleiten wären, oder ein reines Bewusstsein als Bedingung der Mög‐ lichkeit des empirischen auftritt – die Verschränkung empirischer und kategorialer Momente in den Erkenntnisformen verunmöglicht nach Adorno die Reduktion des einen Pols auf den jeweils anderen. Adorno betont in der Vorlesung Erkenntnistheorie, dass die beiden Momente „nur in ihrer antithetischen Bezogenheit aufeinander, in ihrer Spannung gegeneinander begriffen werden können“ (NaS IV 1/357). Das heißt aber zugleich, „daß sie den Rekurs auf eine jegli‐ che Immanenz, mag es nun die Immanenz meines individuellen Be‐ wußtseins oder mag es die Immanenz eines alles in sich befassenden allgemeinen Geistes sein, gleichermaßen eigentlich nicht dulden“ (NaS IV 1/357). Adornos These besagt, dass Hegel jene ‚antithetische Bezogenheit‘ der Momente, mithin ihre Vermitteltheit, aufdeckt, die‐ se Spannung jedoch in der Immanenz des absoluten Geistes auflöst. Sein Idealismus, so heißt es in Aspekte, ist ein solcher, „der nichts mehr außerhalb des zum Unendlichen erweiterten Subjekts stehen läßt, sondern alles in den Stromkreis der Immanenz hineinreißt“ (GS 5/254). Dadurch werde „der Gegensatz zwischen form- und sinnverleihendem Bewußtsein und bloßem Stoff ausgelöscht“ (GS 5/254). Adornos Vorwurf gegenüber Hegel lautet, dass er am Primat des Geistes und damit am Idealismus festhält, während der Gedanke dialektischer Vermittlung solch einen Primat nicht zulässt. In gewis‐ sem Sinn handle Hegel der Dialektik zuwider. „[O]bwohl Dialektik die Unmöglichkeit der Reduktion der Welt auf einen fixierten sub‐ jektiven Pol dartut und methodisch die wechselfältige Negation und Produktion der subjektiven und objektiven Momente verfolgt, hat Hegels Philosophie als eine des Geistes am Idealismus festgehalten“ (GS 5/259). Der Grund für die Verbindung von Vermittlung und Idealismus ist in Hegels Vermittlungsbegriff selbst zu suchen. Nach Adorno beruht die idealistische Dialektik Hegels auf einer „Hypostasis der Vermittlung“ (GS 6/322). Diese Hypostasierung be‐ steht darin, dass Hegel die Vermittlung als das Werden des Geistes bestimmt und so erneut zu einem Unmittelbaren erklärt. Die Drei‐ gliedrigkeit des hegelschen Vermittlungsbegriffs gründet demnach darin, dass die Vermittlung schließlich zu einem selbständigen Drit‐ ten gemacht wird, das selbst nicht vermittelt ist. Deutlich wird das in einer Passage der Phänomenologie des Geistes:
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„Denn die Vermittlung ist nichts anderes als die sich bewegende Sich‐ selbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abs‐ traktion herabgesetzt, das einfache Werden. Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst.“459
Indem sich die Vermittlung als die reine Reflexion auf sich selbst bezieht, erkennt sie sich als ein unmittelbares Verhältnis, das von den vermittelten Momenten unabhängig ist. Hans Friedrich Fulda hat darauf hingewiesen, dass die Bewegung des Werdens bei Hegel gerade darin besteht, dass sich „ein Gegenstand, der wesentlich Ver‐ hältnis ist […] zu einem in sich selbst Entgegengesetzten“ fortbildet, „um schließlich nach vielen Metamorphosen wieder zu einem Einfa‐ chen zu werden, wie es das anfängliche, unmittelbare Allgemeine war.“460 Resultat dieser Bewegung ist die „Aufhebung der Vermittlung und Wiederherstellung der (ersten) Unmittelbarkeit in einem zwei‐ ten Unmittelbaren, das wieder Einfaches und Allgemeines ist.“461 Der Grund dafür, dass die Vermittlung schließlich selbst zur Unmittel‐ barkeit wird, liegt darin, dass die Bewegung des Werdens bei Hegel immer schon das Werden des Absoluten meint. Das Absolute muss so als das Resultat einer Entwicklung aufgefasst werden, denn als ein unmittelbares Anfangsprinzip bliebe es ein isolierter und abstrakter Begriff. Zugleich kann das Absolute selbst kein Vermitteltes sein, sonst wäre es nicht das Absolute; es ist vielmehr die Totalität aller Vermittlungen, in der die Bewegung des Werdens zur Aufhebung gelangt. Dies ist der Kern von Hegels berühmter Forderung, „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufas‐ sen und auszudrücken.“462 Die Verbindung von Vermittlung und Idealismus, mithin die Identität von Subjekt und Objekt, ist damit von Anfang an gesetzt. In der Negativen Dialektik kritisiert Adorno Hegels „Doktrin von der auf jeder dialektischen Stufe erneut sich herstellenden Unmit‐ telbarkeit“ (GS 6/48). Der Hypostasierung der Vermittlung hält er 459 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 25. 460 Hans Friedrich Fulda: „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstel‐ lungsweise“, in: Rolf-Peter Horstmann (Hg.): Seminar: Dialektik in der Philo‐ sophie Hegels, Frankfurt am Main 1978, S. 124–174, hier S. 142. 461 Ebd., S. 157. 462 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 23.
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einen schlichten Gedanken entgegen: die Vermitteltheit der Vermitt‐ lung. Vermittlung ist nach Adorno ein Relationsbegriff, kein Sub‐ stanzbegriff und das bedeutet, dass das Vermittelte in der Vermitt‐ lung nicht zur Auflösung gelangen kann; gegenüber der Vermittlung bleibt es substantiell. „Vermittlung besagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes; Unmittelbarkeit selbst aber steht für ein Moment, das der Erkenntnis, der Vermittlung, nicht ebenso bedarf wie diese des Unmittelbaren“ (GS 6/174). Dass die Vermittlung des Unmittelbaren bedarf, heißt, dass die Vermittlung selbst vermittelt ist. „So wenig aber die Pole Subjekt und Objekt läßt Vermittlung sich hypostasie‐ ren; sie gilt einzig in deren Konstellation. Vermittlung ist vermittelt durchs vermittelte“ (GS 6/106). Was sich hier anzeigt, hat Thyen als „Asymmetrie im Modus der Vermittlung“463 bezeichnet. Nicht nur stellt diese Asymmetrie die entscheidende Differenz zur Dialektik Hegels dar; sie resultiert, so werde ich zeigen, aus einer affirmativen Bezugnahme auf Husserls Phänomenologie. Um die Gründe nach‐ vollziehbar zu machen, die zu Adornos Auffassung einer Asymmetrie in der Vermittlung führen, bedarf es einer Analyse der Subjekt-Ob‐ jekt-Beziehung. Adornos Konzeption einer inneren Vermittlung besagt, dass ein jeder Begriff seinen Gegenbegriff als Sinnesimplikat enthält und damit zugleich über sich hinausweist. Für das Verhältnis von Sub‐ jekt und Objekt folgt daraus: Das Subjekt verweist seinem eigenen Sinn nach auf das Objekt als ihm Entgegengesetztes; Objekt ist Objekt nur für ein Subjekt, das sich auf dieses bezieht. In diesem Vermittlungsverhältnis scheint zunächst das Subjekt einen Vorrang einzunehmen, weil die philosophische Reflexion notwendig vom Subjekt ihren Ausgang nimmt. Subjekt ist, wie es in dem späten erkenntnistheoretischen Text Zu Subjekt und Objekt heißt, geradezu der „Inbegriff der Vermittlung“ (GS 10.2/746). Das Subjekt kann das Gegebene nicht unmittelbar, jenseits der Vermittlung erfassen. Falsch sei die „Überzeugung, das der Subjektivität Transzendente sei für sie unmittelbar, ohne daß sie durch den Begriff es beflecke“ (GS 6/86).464 In diesem Sachverhalt hat die Hypostasierung des 463 Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S. 169. 464 Daraus ergibt sich nach Adorno eine unumgängliche Vorentscheidung der Philosophie für den Idealismus – ein Gedanke, den Adorno in eine geplan‐
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Erkenntnissubjekts im Idealismus ihren Ursprung. Sie läuft auf den entgegengesetzten Fehlschluss hinaus, die objektive Wirklichkeit sei allein durch das Subjekt konstituiert. Bei genauerer Betrachtung stellt sich das Subjekt-Objekt-Verhältnis jedoch in einem anderen Licht dar. Die Vermittlung des Unmittelbaren, die auf der Subjektsei‐ te stattfindet, ist eine reine „Reflexionsbestimmung, sinnvoll nur in bezug auf das ihr Entgegengesetzte, Unmittelbare“ (GS 6/173). Die Vermittlung der Vermittlung durch das Unmittelbare ist hingegen von ganz anderer Qualität. Sie ist Vermittlung nicht im Modus sub‐ jektiver Reflexion, sondern eine substantielle Vermittlung, insofern dasjenige, das hier vermittelt – das Unmittelbare – auch von der Vermittlung unabhängig gedacht werden kann. Es ist gegenüber der Vermittlung substantiell. „In Unmittelbarkeit liegt nicht ebenso de‐ ren Vermitteltsein wie in der Vermittlung ein Unmittelbares, welches vermittelt würde. Den Unterschied hat Hegel vernachlässigt“ (GS 6/173). Husserl hingegen, so wird sich noch zeigen, hat diesen Unter‐ schied gesehen. Aus dieser Asymmetrie in der Vermittlung resultiert Adornos Theorem vom Vorrang des Objekts. Der Vorrang besagt nicht, dass das Unmittelbare oder das Objekt gegenüber dem Subjekt hypostasiert werden dürfte, sondern, dass dem Objekt in der Ver‐ mittlung, wie Sommer es nennt, ein „Doppelcharakter“ zukommt: „Es wird vom Bewusstsein als zugleich vermittelt und unmittelbar gedacht“465. Darüber hinaus besagt der Vorrang des Objekts auf der Subjektseite, dass das Subjekt, als ein immer auch faktisches, zugleich Objekt ist, und zwar in einem substantiellen Sinne. Noch die transzendentale Subjektivität, so hatte Adorno gegen Husserl und den Idealismus insgesamt geltend gemacht, vermag sich nicht von der Faktizität loszulösen; sie verweist ihrem eigenen Sinn nach te dritte Auflage der Negativen Dialektik einfügen wollte: „Alle Philosophie trifft, vermöge ihrer Verfahrensweise, eine Vorentscheidung für den Idealismus. Denn sie muß mit Begriffen operieren, kann nicht Stoffe, Nichtbegriffliches, in ihre Texte kleben […]. Dadurch ist bereits dafür gesorgt, daß den Begrif‐ fen der Vorrang verschafft wird. Selbst Materie ist eine Abstraktion. Aber Philosophie vermag dies ihr notwendig gesetztes ψεῦδος selbst zu erkennen, zu nennen; und wenn sie von dort weiterdenkt, zwar nicht es zu beseitigen aber so sich umzustrukturieren daß alle ihre Sätze ins Selbstbewußtsein jener Unwahrheit getaucht sind. Eben das ist die Idee einer negativen Dialektik.“ Rolf Tiedemann: „Editorische Nachbemerkung (GS 6)“, S. 531. 465 Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 59.
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auf das faktische Subjekt, das als solches eben auch Objekt ist. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno: „Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzuden‐ ken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein. Das seiende Ich ist Sinnesimplikat noch des logischen ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können‘“. (GS 6/184)
Mit dem Theorem vom Vorrang des Objekts beansprucht Adorno zu zeigen, dass Subjekt und Objekt dialektisch vermittelt, zugleich aber nichtidentisch sind. Nichtidentisch sind sie, weil es in der Vermittlung ein Ungleichverhältnis, eine Asymmetrie gibt, die sich nicht durch Vermittlung auflösen lässt. Indem Adornos Dialektik die Nichtidentität von Subjekt und Objekt artikuliert, ohne diese Nicht‐ identität aufzuheben, ist sie negative Dialektik. Bei Hegel hingegen sei die Identität von Subjekt und Objekt von Anfang an gesetzt. Er gehe folglich von einer symmetrischen Vermittlung aus, durch die sich die Herrschaft des Geistes stets aufs Neue manifestiere. So bemerkt Adorno in Aspekte, dass Hegels „Lehre von der Identität von Subjekt und Objekt […] ihrer bloßen Form nach allemal bereits auf den Vorrang des Subjekts hinausläuft“ (GS 5/259). Ausgedrückt wird dieser Vorrang in Hegels berühmter Formel der „Identität der Identität und Nichtidentität.“466 Thyen bemerkt mit Recht, dass aus Adornos Sicht bei Hegel die Durchführung „einer wirklichen, dialektischen Versenkung in die Sache selbst […] eigentlich nicht geleistet worden“ sei, weil „die Voraussetzung der Identitätsthese schließlich immer wieder den idealistischen Primat konstitutiver Subjektivität gesetzt hätte.“467 Adorno gewinnt den Vorrang des Objekts im Zuge einer imma‐ nenten Kritik des hegelschen Vermittlungsbegriffs und nicht durch die abstrakte Negation des idealistischen Vorrangs des Subjekts. „Einzig subjektiver Reflexion, und der aufs Subjekt, ist der Vorrang des Objekts erreichbar“ (GS 6/186). Doch lassen sich in Adornos 466 Hegel: Wissenschaft der Logik I, S. 74. 467 Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S. 169.
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Hegel-Kritik und seiner Konzeption einer asymmetrischen Vermitt‐ lung auch phänomenologische Motive erkennen. In der Negativen Dialektik fällt Husserls Name dann auch erstmals an einer Stelle, an der sich Adorno von Hegels Philosophie abgrenzt: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interes‐ se dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement be‐ kundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen […]. Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstrakti‐ onsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist. Bergson wie Husserl, Träger philosophischer Moderne, haben das innerviert, wichen aber davor zurück in traditionelle Metaphysik.“ (GS 6/19f.)
Adornos Verweis auf Bergson lasse ich hier außen vor.468 Es geht mir um das, was Adorno an einer äquivalenten Stelle in der Vorle‐ sung über Negative Dialektik als das „Interesse der Philosophie am Nichtbegrifflichen“ (NaS IV 16/106) bezeichnet. Bezogen auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis ist das Nichtbegriffliche dasjenige am Ob‐ jekt, das sich der Subsumtion unter den Begriff entzieht; mithin dasjenige, das sich in der Vermittlung durchs Subjekt nicht auflösen lässt. Besteht der Anspruch des Begriffs darin, Identität herzustellen, so ist das Nichtbegriffliche zugleich das Nichtidentische, womit ein zentraler Terminus der Negativen Dialektik benannt ist. Der Sache nach reicht das Motiv des Nichtidentischen jedoch weit hinter die Negative Dialektik zurück. In Zur Philosophie Husserls von 1937 spricht Adorno Husserls Theorie der kategorialen Anschauung das Verdienst zu, dem Nichtidentischen zur Artikulation verholfen zu haben: „Das Nichtaufgehen des logischen Sachverhaltes in seiner Konstitution durch Denken; die Nichtidentität von Subjektivität und Wahrheit: dem eigentlich galt der Entwurf der kategorialen Anschauung. Sein Mißlin‐ gen aber wird notwendig, weil dies Nichtsubjektive in Kategorien der reinen Subjektivität zu fassen versucht und schließlich in diese zurück‐ gerufen wird: der nichtidentische Sachverhalt wird zur unmittelbaren Gegebenheit des Bewußtseins; sein faktisches Dasein aber zum idealen Sein, das selber in letzter Instanz mit der reinen Denkfunktion zusam‐ menfällt; beide Immanenzbestimmungen, die der reinen Gegebenheit 468 Auf Bergsons Ausbruchsversuch wurde zu Beginn von Kapitel 2 hingewiesen. Siehe hierzu Einleitung: Zwei Ausbruchsversuche, in diesem Buch, S. 111–115.
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und die des reinen Denkens, ergeben, jäh in eins gesetzt, die Phantas‐ magorie des Wirklichen, das scheinhafte εἰδος.“ (GS 20.1/81)
Die von Adorno angeführten Gründe für das Scheitern von Husserls Ausbruchsversuch aus der Bewusstseinsimmanenz sind uns bekannt. Husserl versuche das bewusstseinstranszendente Objekt als ein Un‐ mittelbares und zugleich als ein ideal Seiendes zu fassen. Sein We‐ sensbegriff offenbare sich als eine Verschränkung von unmittelbarer Gegebenheit und reinem Denken. Er enthalte damit zwei Bestim‐ mungen, die beiderseits immanenzphilosophischen Konzeptionen entstammen: dem Positivismus empiriokritizistischer Prägung und dem Neukantianismus. In dieser Verschränkung von positivistischer und idealistischer Immanenzphilosophie bestehe gerade die Spezifik der Phänomenologie. Husserls antiidealistische Intention, ‚Zu den Sachen selbst‘ vorzudringen, geht jedoch als ein wirkmächtiger Im‐ puls in Adornos negative Dialektik ein. Natürlich setzt Adornos Konzeption der Vermittlung dem philo‐ sophischen Bestreben, die Sachen unmittelbar zu erfassen, Schran‐ ken. „Was Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv, unmittelbar vorhanden“; zugleich aber ist „die Sache selbst keineswegs Denkpro‐ dukt; vielmehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch. Solche Nichtidentität ist keine ‚Idee‘; aber ein Zugehängtes“ (GS 6/189). Mit der letzten Bestimmung der Nichtidentität grenzt sich Adorno von Kants Ding an sich ab. Kant habe, wie es in der Ein‐ leitung der Metakritik heißt, „dem Nichtidentischen Ehre angetan, hat verschmäht, es in die Identität des Subjekts ohne Rest hinein‐ zunehmen“ (GS 5/38). Jedoch bleibe das Nichtidentische als Ding an sich eben eine bloße Idee.469 Sein Formalismus nötigt zur strik‐ ten Grenzziehung zwischen Subjekt und bewusstseinstranszendenter Wirklichkeit. Anders verhält es sich bei Husserl. Wie es in den Ideen heißt, sei es ein „prinzipieller Irrtum zu meinen, es komme die Wahrnehmung (und in ihrer Weise jede andersartige Dinganschau‐ ung) an das Ding selbst nicht heran“ (Hua 3.1/89). Adorno zufolge sei die Auffassung der Phänomenologie, die Sache könnte als solche unmittelbar erfasst werden, „ihr eigentlich vorkritisches Element, 469 Eine Annäherung von Ding an sich und Nichtidentischem unternimmt Ador‐ no auch in Zu Subjekt und Objekt: „Ein solches Nichtidentisches käme dem Kantischen Ding an sich recht nahe, obwohl jener an dem Fluchtpunkt seiner Koinzidenz mit Subjekt festhielt.“ GS 10.2/753.
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das sie zum Schrittmacher der Ontologie qualifizierte, aber auch ihr legitimer Einspruch gegen den Formalismus“ (GS 5/38). In einem gewissen Sinne nimmt Adorno hier eine Mittelstellung zwischen Kant und Husserl ein.470 Mit Kant argumentiert er gegen Husserl, dass die bewusstseinstranszendente Wirklichkeit nicht unmittelbar zugänglich sei. Zugleich sind das Nichtidentische und die Sache, im Gegensatz zum Ding an sich, nicht bloß Grenzbegriffe. Was sich in ihnen ausdrückt, ist die auch von Husserl vertretene Vorstellung einer substantiellen Unmittelbarkeit, die gegenüber dem Subjekt und seinen Akten – mit Adorno gesprochen: gegenüber der subjektiven Vermittlung – resistent ist und zugleich substantiell in den Erkennt‐ nisprozess eingeht. Hier ließe sich eine Vielzahl an bereits diskutier‐ ten Motiven aus Husserls Phänomenologie anführen. Ich möchte mich exemplarisch auf einen Aspekt der Theorie der kategorialen Anschauung in der VI. Logischen Untersuchung beziehen. Husserl richtet sich dort mit Nachdruck gegen die idealistische Auffassung, die kategorialen Formen würden die sinnlich gegebenen Gegenstän‐ de allererst konstituiert. „Die kategorialen Formen leimen, knüpfen, fügen die Teile nicht zusammen, daß daraus ein reales, ein sinnlich wahrnehmbares Ganzes würde“, denn dann wäre das „beziehende und verknüpfende Denken und Erkennen […] nicht Denken und Erkennen dessen, was ist, sondern fälschendes Umgestalten in ein anderes“ (Hua 19/715). Die Vorstellung von substantieller Unmittelbarkeit lässt sich Ador‐ no trotz des Gedankens der Vermittlung nicht ausreden. „Die Uni‐ versalität von Vermittlung ist aber kein Rechtstitel dafür, alles zwi‐ schen Himmel und Erde auf sie zu nivellieren“ (GS 6/57). Weil die Vermittlung durch das Subjekt allein im Modus der Reflexion erfolgt, bedarf diese Vermittlung des Unmittelbaren, um überhaupt ein ‚Etwas‘ zu haben, das vermittelt wird. Nicht zufällig bezieht sich Adorno in der Negativen Dialektik häufig dann auf die Phänomeno‐ logie, wenn er das Eigenrecht des Unmittelbaren hervorhebt, das sich der Kontrolle des Subjekts entzieht. Kategoriale Anschauung er‐ 470 Hier zeigt sich, dass die in der Forschung häufig vertretene Auffassung, Adorno nehme eine Mittelstellung zwischen Kant und Hegel ein, erweiterungsbedürf‐ tig ist. Vgl. Jay Bernstein: „Negative Dialektik. Begriff und Kategorien III. Adorno zwischen Kant und Hegel“, in: Axel Honneth u. Christoph Menke (Hg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S. 89–118. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 227–246.
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innere daran, „daß den kategorial konstituierten Sachverhalten, wel‐ che die traditionelle Erkenntnistheorie einzig als Synthesen kennt, immer auch, über die sinnliche ὕλη hinaus, ein Moment korrespon‐ dieren muß. Insofern haben sie stets auch etwas Unmittelbares, an Anschaulichkeit mahnend“ (GS 6/87). Husserl, so schreibt Adorno, „half in seinen wirksamsten Schriften verzerrt einem anti-idealisti‐ schen Motiv zum Ausdruck, dem Ungenügen an der These von der Allherrschaft des denkenden Subjekts“ (GS 6/169). Eben dieses antiidealistische Motiv wird auch durch den Vorrang des Objekts artikuliert, denn dieser Vorrang besagt zunächst genau das: dass die idealistische Hypostasierung des Subjekts unrechtmäßig ist. In der Negativen Dialektik zeigt sich, dass Adorno die Ausdrücke Objekt und Sache häufig äquivalent gebraucht. Die Sache sei „das Nichtidentische durch die Identität hindurch“ (GS 6/189); das Ob‐ jekt wiederum „der positive Ausdruck des Nichtidentischen“ (GS 6/193). Beides sind somit Ausdrücke, die noch der Logik des Iden‐ titätsdenkens gehorchen, aber auf das verweisen, was sich diesem Denken entzieht. Dass Adorno vom Vorrang des Objekts spricht, hat den Grund, dass der Vorrang aus der Analyse der Subjekt-Ob‐ jekt-Vermittlung gewonnen wurde. Der Bedeutung nach ließe sich ebenso von einem Vorrang der Sache sprechen. Adornos Theorem vom Vorrang des Objekts wäre dann die Einlösung von Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘. Und tatsächlich findet sich in der ursprünglichen Fassung der Einleitung der Negativen Dialektik eine Formulierung, die genau das nahelegt: „Das Zu den Sachen, das Husserl bloß proklamiert hatte, wäre durchzuführen, ohne daß die Sachen durch ihre erkenntnistheoretischen Kategorien substituiert würden“ (NaS IV 16/238). Die Kritik an Husserl, die damit zugleich formuliert ist, ist uns bekannt. Die Sachen, die Husserl auf Grundla‐ ge originär gebender Anschauung beschreibt, seien der verdinglichte Ausdruck der Verstandestätigkeit und damit gegenüber der Bewusst‐ seinsimmanenz keineswegs transzendent. Die Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ sei von Husserl bloß proklamiert worden. Negative Dialektik, so meine These, ist in zentraler Hinsicht als Adornos Versuch zu verstehen, Husserls Forderung einzulösen. Im Vollzug dieser Einlösung wird die Philosophie materialistisch. Die‐ ser Materialismus ist undogmatisch, weil er dem Idealismus nicht einfach als Gegenposition gegenübertritt, sondern durch die Analyse der inneren Aporetik der erkenntnistheoretischen Begriffe gerecht‐
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fertigt wird. Materialismus, so schreibt Adorno, ist „keine durch Entschluß zu beziehende Gegenposition mehr, sondern der Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität, für welche der Idealis‐ mus optiert, indem er sie verzerrt“ (GS 6/197). Auf der Strukturebe‐ ne negativer Dialektik wird Husserls Forderung durch den Übergang zum Vorrang des Objekts eingelöst. Nun muss die Frage beantwortet werden, wie Adorno diese Einlösung zu vollziehen beansprucht. Es geht also um das Verfahren negativer Dialektik. II. Zum Verfahren negativer Dialektik
In den Stichworten zu einer nicht erhaltenen Vorlesung aus der Vorlesung über Negative Dialektik findet sich eine Formulierung, die im Folgenden als Leitwort dienen soll: „Das Zu den Sachen, die bei Husserl immer nur noetisch-noematische Strukturen sind, durch‐ zuführen; meine materialen Arbeiten sind der Versuch, die hier von oben her – falsch darum – entwickelte negative Dialektik einzulösen“ (Nas IV 16/165). Den Gehalt dieser Formulierung gilt es sich in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. Adorno charakterisiert nega‐ tive Dialektik nicht nur als den Versuch, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ einzulösen; er bezeichnet die Phänomenologie selbst als eine negative Dialektik, die eben diese Forderung nicht zu erfüllen vermochte, weil sie ‚von oben her‘ entwickelt worden sei. Freilich muss man sich solch einer Formulierung, die sich in dieser Explizitheit an keiner anderen Stelle in Adornos Werk findet, mit Be‐ dacht zuwenden. Zunächst spricht Adorno nur wiederholt aus, dass die Phänomenologie im Bereich der Bewusstseinsimmanenz und damit im Idealismus verbleibt. Wie die Formulierung aber ebenso nahelegt, scheint Adorno in der noetisch-noematischen Struktur, das heißt in der Intentionalitätsstruktur, wie Husserl sie in den Ideen beschreibt, ein Motiv zu erblicken, das in einem gewissen Sinn als negativ-dialektisch zu charakterisieren wäre: die nicht weiter redu‐ zierbare Korrelation zwischen intentionalem Akt und Gegenstand; schließlich die zwischen Subjekt und Objekt. So spricht Adorno in der Metakritik unter Bezug auf die Struktur von Noesis und Noema auch vom „irreduktiblen Ursachverhalt der ‚Korrelation‘“ (GS 5/168). Allerdings sei diese Struktur ‚von oben‘ entwickelt, das heißt, sie beruht auf einem Vorrang des Subjekts. „Husserls noetisch-
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noematische Struktur ist […] eine von dualistischer Immanenz“ (GS 5/31). Auch Zahavi bemerkt, dass es, „phänomenologisch gespro‐ chen, einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Subjekt und jedem Objekt gibt“, dieser Unterschied bei Husserl jedoch „durch eine These über den Vorrang des Subjekts“ ergänzt wird.471 Der Vorrang bestehe eben darin, dass Husserl „nicht an der faktischen und empirischen Beschaffenheit des Subjekts interessiert [ist], son‐ dern an seiner wesenhaften Struktur, gereinigt und befreit von allen kontingenten Umständen.“472 Dem steht Adornos negative Dialektik freilich schroff entgegen. Mit dem Theorem vom Vorrang des Objekts versucht Adorno das Übergewicht des Subjekts im Erkenntnisprozess gerade dadurch zu unterlaufen, dass er die nicht reduzierbaren faktischen Momente herausarbeitet, die seiner Ansicht nach noch der transzendentalen Subjektivität innewohnen. Wie wir im Folgenden sehen werden, hebt Adorno die irreduktible Differenz von Subjekt und Objekt jedoch immer wieder als ein erkenntniskritisches Motiv der Phäno‐ menologie hervor. Bedeutsam für uns ist außerdem, dass Adorno in dem obigen Zitat noch das Verfahren negativer Dialektik in einen Zusammenhang mit Husserls Phänomenologie bringt.473 Wie wir gelesen haben, seien seine ‚materialen‘ Arbeiten der Versuch, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen‘ selbst einzulösen. Dabei lie‐ fert die Negative Dialektik, wie Tiedemann bemerkt, ein Ensemble von Adornos materialen Arbeiten: „solcher zur Ontologie, zur Ge‐ schichts- und Moralphilosophie oder zur Metaphysik; man kann auch sagen: zu Heidegger, zu Hegel und Kant oder zur Möglichkeit von Philosophie nach Auschwitz?“474 Adorno weist in der Vorrede der Negativen Dialektik darauf hin, dass sich die Methodologie sei‐ ner materialen Arbeiten von deren Durchführung nicht trennen lasse (vgl. GS 6/9). Solch einer Trennung, die nach Adorno der Theorie negativer Dialektik zuwiderläuft, werde ich mich im Folgen‐ 471 Zahavi: Husserls Phänomenologie, S. 49. 472 Ebd. 473 Bereits Römer hat darauf hingewiesen, dass Adorno in der Negativen Dialektik „seine Arbeit an Husserl in die Entwicklung des negativ-dialektischen Verfah‐ rens“ überführt; allerdings ohne einsichtig zu machen, worin diese Überfüh‐ rung genau besteht. Römer: „Gibt es eine ‚geistige Erfahrung‘ in der Phänome‐ nologie?“, S. 67. 474 Tiedemann: „Anmerkungen des Herausgebers (NaS IV 16)“, S. 337.
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den schuldig machen. Zunächst werde ich zeigen, dass das für Ador‐ nos Philosophie charakteristische Verfahren der Mikrologie auf einer Aneignung der Husserlschen Wesensschau beruht. Deren Grundge‐ danke von der Reinheit des Wesens wird von Adorno jedoch kritisch unterlaufen, indem er das Wesen als Ausdruck der gesellschaftli‐ chen Totalität fasst. Daraufhin werde ich Adornos gesellschaftliche Physiognomik als ein materiales Verfahren einführen, das darauf zielt, den gesellschaftlichen Gehalt geistiger, sozialer und kultureller Phänomene freizulegen. Indem ich zuletzt die erkenntnispraktische Anwendung der Physiognomik anhand eines Beispiels aus Adornos soziologischen Arbeiten veranschaulichen werde, versuche ich die Trennung von Methodologie und Durchführung wieder einzuholen. a. Aneignung der Wesensschau: Adornos Mikrologie Innerhalb der Forschung wird Benjamin häufig als die wichtigste Referenz für Adornos Verfahren der Mikrologie angeführt.475 Das liegt durchaus nahe, denn Adorno selbst hat das Verfahren immer wieder mit Benjamin in Verbindung gebracht. Benjamins Denken, so schreibt er in Erinnerungen, „entriß den gedanklichen, geisti‐ gen Gehalt gerade begriffslosen Details, konkreten Momenten“ (GS 20/177). In der Vorrede zu Tiedemanns Studien zur Philosophie Walter Benjamins heißt es, dass Benjamin „den großen Wahrheits‐ gehalt im mikrologischen Detail aufsuchte“ (GS 20/180). In der Ein‐ leitung zu Benjamins Schriften spricht Adorno von Benjamins „Fä‐ higkeit zur ‚Interpolation im Kleinsten‘, und eine Zelle angeschauter Wirklichkeit wiegt ihm […] den Rest der gesamten Welt auf “ (GS 11/570). Die Liste solcher Bezugnahmen ließe sich lange erweitern. Doch schon die angeführten Formulierungen ermöglichen eine ers‐ te Bestimmung des mikrologischen Verfahrens. Es geht darum, in konkreten Einzelphänomenen ein Allgemeines freizulegen. Adornos Emphase auf Benjamin droht jedoch einen entscheidenden Einfluss 475 Vgl. Thomas Küpper u. Timo Skrandies: „Rezeptionsgeschichte“, in: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 17–56, hier S. 23. Dimitrij Owetschkin: „Spuren der Versöhnung. Zu theolo‐ gischen Motiven bei Theodor W. Adorno“, in: Études Germaniques, Bd. 249, 2008, S. 29–47, hier S. 30.
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zu verdecken: Husserls Phänomenologie.476 Hatte Adorno in Zur Philosophie Husserls eine ausführliche Kritik der kategorialen An‐ schauung vorgelegt, zeigt sich, dass das mikrologische Verfahren auf einer partiellen Wiederaneignung jenes phänomenologischen Motivs beruht. Adornos Negative Dialektik bezeugt den systemati‐ schen Versuch, Husserls Wesensschau für das Verfahren negativer Dialektik nutzbar zu machen. Schon in Zur Philosophie Husserls hatte Adorno Husserls Phäno‐ menologie als eine Philosophie charakterisiert, die von konkreten Einzelphänomenen ausgeht und diese nicht vorweg unter klassifi‐ katorische Allgemeinbegriffe subsumiert. Weil Husserl der Analyse solcher Phänomene eine derartige Gewichtung zuschreibt, bewahre seine Phänomenologie „einen tief fragmentarischen Zug […]: sie stellt ‚Untersuchungen‘, ausgeführte Analysen nebeneinander, ohne sie billig zu vereinheitlichen, ja ohne auch nur Widersprüche zu glätten, die sich aus den singulären Studien ergeben“ (GS 20.1/90f.). In der Metakritik wird diese Herangehensweise zum Programm er‐ hoben. Husserls Phänomenologie wird hier als ‚konkretes Modell‘ gewählt, an dem „die Frage nach Möglichkeit und Wahrheit von Er‐ kenntnistheorie prinzipiell aufgerollt werden [soll]“ (GS 5/9). Dabei soll das „mikrologische Verfahren stringent dartun“, wie die erkennt‐ nistheoretischen Einzelfragen „über sich selbst und schließlich ihre ganze Sphäre hinaustreiben“ (GS 5/10). Dieses Verfahren setzt sich in der Negativen Dialektik fort. In ihrem dritten Teil werden drei Modelle negativer Dialektik ausgeführt, die, so Adorno in der Vor‐ rede, „nicht unähnlich der sogenannten exemplarischen Methode, Schlüsselbegriffe philosophischer Disziplinen [erörtern], um in diese 476 Auch Benjamins Verfahren lässt Einflüsse aus der Phänomenologie erkennen, wie zuletzt Ferencz-Flatz dargelegt hat. Vgl. Christian Ferencz-Flatz: „Edmund Husserl. Das Wesen der Phänomenologie“, in: Jessica Nitsche u. Nadine Werner (Hgg.): Entwendungen. Walter Benjamin und seine Quellen, München 2019, S. 99–119. Bereits Adorno hat eine Nähe zwischen der Phänomenologie und dem Denken Benjamins bemerkt. In der Einleitung zu Benjamins ‚Schrif‐ ten‘ heißt es: „Benjamin gehört zu der philosophischen Generation, die allent‐ halben aus Idealismus und System auszubrechen trachtete, und es fehlt nicht an Beziehungen zu den älteren Repräsentanten solcher Bemühungen. Mit der Phänomenologie verbindet ihn zumal in seiner Jugend das Verfahren der objektiv-bedeutungsanalytischen, an der Sprache ausgerichteten, der willkürli‐ chen Festsetzung von Termini entgegengesetzten Bestimmung von Wesenhei‐ ten.“ GS 11/571.
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zentral einzugreifen“ (GS 6/10). Die Analyse dieser Schlüsselbegriffe – sie lauten: Freiheit, Geschichte, Metaphysik – soll „ins Sachhaltige geleiten“ und negative Dialektik, „ihrem eigenen Begriff gemäß, ins reale Bereich hineintreiben“ (GS 6/10). Letztlich heißt das: ‚Zu den Sachen selbst‘ vorzudringen. Doch lässt solch ein werkgeschichtli‐ cher Überblick die innere Systematik des mikrologischen Verfahrens nur erahnen. In der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Frei‐ heit bemerkt Adorno, dass der Modellcharakter seiner Philosophie darin besteht, „daß ich versuche, spezifischer Phänomene so inne‐ zuwerden, daß von ihnen aus Licht auf das Ganze fällt“ (NaS IV 13/255). Dabei „wirkt im allgemeinen die erhellende Kraft solcher Modelle und Modellkategorien um so stärker, je intensiver man sich in die Details der einzelnen Phänomene versenkt“ (NaS IV 13/255). Diese Versenkung ins Einzelphänomen, die die Erkenntnis eines allgemeinen Zusammenhangs befördern soll, bezeichnet Adorno als Mikrologie. In der Vorlesung Einführung in die Dialektik wird deut‐ lich, wie stark das mikrologische Verfahren mit Adornos Konzept der Dialektik verknüpft ist. In der folgenden Passage der Vorlesung gibt Adorno eine Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis von Einzelphänomen und Ganzem von einer dialektischen Philosophie zu denken ist: „Dialektik ist nämlich demgegenüber der Versuch, nun nicht etwa sche‐ matisch, auch wiederum mechanisch ein Ganzes von außen heranzu‐ bringen, um das Phänomen zu verstehen, weil es auch sich heraus nicht verstanden werden kann, sondern [der Versuch,] das Einzelphänomen so zu durchleuchten, bei dem Einzelphänomen so zu verweilen, das Einzelphänomen so zu bestimmen, bis es eben durch diese Bestimmung in sich über sich hinausgeht und dadurch transparent wird auf eben jenes Ganze, auf eben jenes System, innerhalb dessen allein es über‐ haupt seinen Stellenwert erst findet. Das also heißt einmal zunächst konkret gesprochen, die Forderung, die ein dialektisches Denken an uns zunächst wirklich als […] naive Wissenschaftler richtet: auf der einen Seite, daß wir nicht als sture Fachleute bei den uns gegebenen Einzelphänomenen stehenbleiben, sondern sie innerhalb der Totalität erkennen, innerhalb deren sie überhaupt erst fungieren und ihren Sinn empfangen; daß wir aber auf der anderen Seite nun auch nicht diese Totalität, dieses Ganze, in dem wir stehen, [es] nicht dogmatisch von außen heranbringen, sondern daß wir versuchen diesen Übergang im‐ mer aus der Sache zu vollziehen.“ (NaS IV 2/40f.)
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Die Rede von dem Ganzen als Totalität weist bereits daraufhin, dass das Allgemeine, das in der Analyse des Einzelphänomens freige‐ legt werden soll, Adorno zufolge ein Moment des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs ist. Der Übergang zu jener Totalität soll zu‐ gleich ‚aus der Sache‘ vollzogen werden und eben hier setzt Adornos Aneignung der Wesensschau ein. Deren Elemente, allen voran der Wesensbegriff selbst, durchlaufen im Zuge dieser Aneignung einen transformativen Prozess, in dem sich ihr Bedeutungsgehalt qualitativ verändert. Ein Grundmotiv der Wesensschau hat seinen Ursprung in Hus‐ serls kritischer Auseinandersetzung mit einer Reihe von nominalisti‐ schen Abstraktionstheorien, die um die Jahrhundertwende vorherr‐ schend waren. Diesen Theorien zufolge lassen sich Allgemeinbegrif‐ fe allein durch Induktion gewinnen, indem empirische Gegenstände aufgrund ähnlicher Merkmale zusammengefasst werden.477 Den Be‐ griffen sei demzufolge kein Eigenrecht zuzusprechen; ihre Geltung gründe in der Erfahrung des empirischen Bewusstseins. Husserl argumentiert, dass das Allgemeine, sofern ihm unbedingte Geltung zugesprochen werden soll, nicht aus einem Vergleich verschiedener Einzelgegenstände und damit nicht den Veranstaltungen des Sub‐ jekts entspringen könne. Ihm zufolge ist das Allgemeine als ein idealer Gegenstand aufzufassen, den es in der phänomenologischen Analyse des Einzelphänomens freizulegen gilt. Bereits in der VI. Logischen Untersuchung betont Husserl die „Eigentümlichkeit ideie‐ render Abstraktion, zwar notwendig auf individueller Anschauung zu beruhen, aber darum nicht das Individuelle dieser Anschauung zu meinen“ (Hua 19/712). Auch in den Ideen spricht Husserl von der „Eigenart der Wesensanschauung, daß ein Hauptstück individueller Anschauung, nämlich ein Erscheinen, ein Sichtigsein von Individu‐ 477 Im zweiten Band der Logischen Untersuchungen nennt Husserl Adornos Leh‐ rer Cornelius als einen exponierten Vertreter solcher Theorien. Um deren Grundgedanken zu veranschaulichen, führt er ein Zitat von Cornelius an: „Die Unterscheidung verschiedener Merkmale […] gründet sich […] darauf, daß die Inhalte nach ihren Ähnlichkeiten in Gruppen zusammengefaßt und mit gemeinsamen Namen bezeichnet werden. Nichts anderes als die Zugehörigkeit eines Inhalts zu verschiedenen solchen Gruppen von untereinander ähnlichen und deshalb gleichbenannten Inhalten ist es hiernach, was wir meinen, wo wir von den verschiedenen Merkmalen eines Inhalts sprechen.“ Hans Cornelius: „Über ‚Gestaltqualitäten‘“, S. 103, zit. n. Hua 19/212.
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ellem ihr zugrunde liegt“ (Hua 3/15). Ausgehend vom Einzelphäno‐ men soll das Wesen eines Gegenstandes durch eidetische Variation erfasst werden, indem der Gegenstand so lange variiert wird, bis seine unveränderlichen Wesensstrukturen hervortreten.478 An zwei Grundgedanken der Wesensschau hält Adorno ausdrück‐ lich fest. Zum einen lasse sich das Allgemeine in der Analyse des Einzelphänomens freilegen. Husserl hat gelehrt, so sagt Adorno in der Vorlesung über Negative Dialektik, „daß die ‚Wesenheiten‘, also das philosophisch Relevante […] aus dem je Einzelnen heraus‐ zuschauen seien […] und nicht, wie im allgemeinen unterstellt, durch komparative Abstraktion sich ergeben“ (NaS IV 16/107). In der Negativen Dialektik heißt es sinngemäß: „Tatsächlich haust das Allgemeine, wie Husserl erkannte, im Zentrum der individuellen Sache, konstituiert sich nicht erst im Vergleich eines Individuellen mit anderen“ (GS 6/164). Der zweite Grundgedanke, den Adorno übernimmt, besteht darin, dass jenes Allgemeine nicht durch die Akte des Subjekts konstituiert wird und folglich über das individuel‐ le Bewusstsein hinausweist. So bestehe ein rechtmäßiges Motiv der Wesensschau darin, „daß Geistiges nicht konstituiert wird durch das erkennend darauf gerichtete Bewußtsein, sondern in sich, weit über den individuellen Urheber hinaus, im kollektiven Leben des Geistes und nach seinen immanenten Gesetzen objektiv begründet ist“ (GS 6/89). In Adornos Hinweis auf das ‚kollektive Leben des Geistes‘ zeichnet sich bereits der Punkt ab, an dem er sich von Husserls Wesensschau absetzt. Der Wesensbegriff erfährt bei Adorno eine qualitative Verände‐ rung, die für das Verfahren negativer Dialektik charakteristisch ist. „Wesen ist nicht länger als reines geistiges Ansichsein zu hypostasie‐ ren“ (GS 6/169); keineswegs gehöre es einer von der Faktizität unab‐ hängigen Idealsphäre an. Dieser Gedanke ist uns bekannt. Adorno hatte bereits in der Metakritik zu zeigen versucht, dass das Wesen nicht von der Faktizität unabhängig ist, der es von Husserl entgegen‐ gesetzt wird. Vor dem Hintergrund von Adornos Konzeption der in‐ neren Vermittlung lässt sich ergänzen: Das Wesen ist in sich vermit‐ 478 Lohmar spricht in diesem Zusammenhang vom „Ein-Akt-Paradigma der sta‐ tischen Phänomenologie“, denn die eidetische Methode „erlaubt die Einsicht in die Wesensstrukturen bereits auf der Grundlage eines einzelnen Aktes“. Lohmar: „Genetische Phänomenologie“, S. 149f.
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telt und enthält seinen Widerspruch – die Tatsache – als Sinnesim‐ plikat. Aus der Verschränkung des Wesens mit der Tatsache folgt für Adorno jedoch keineswegs, dass der Allgemeinheitsanspruch des Wesens einfach zu negieren wäre. „Das Wesen mahnt an die Nicht‐ identität im Begriff dessen, was nicht erst vom Subjekt gesetzt ist, sondern dem es folgt“ (GS 6/170). Was im Wesen zum Ausdruck ge‐ langt, sei der allgemeine gesellschaftliche Zusammenhang, der über das Bewusstsein hinausgeht und dem sich die Individuen zugleich fügen müssen; in anderen Worten: die gesellschaftliche Totalität.479 Das Wesen sei „vorab Unwesen, die Einrichtung der Welt, welche die Menschen zu Mitteln ihres sese conservare erniedrigt, ihr Leben beschneidet und bedroht, indem sie es reproduziert und ihnen vor‐ täuscht, sie wäre so, um ihr Bedürfnis zu befriedigen“ (GS 6/168). Noch in diesem stark verwandelten Sinn hält Adornos Wesensbegriff an zwei Moment der phänomenologischen Wesenslehre fest. Das eine Moment betrifft das von Husserl beschriebene Verhältnis von Wesen und Tatsache. Husserl zufolge ist das Wesen die Ermög‐ lichungsbedingung der Tatsache und dieser damit vorgeordnet.480 Wird das Wesen als Ausdruck der gesellschaftlichen Totalität gefasst, behält diese Bestimmung in einem verwandelten Sinne ihr Recht. „Was die Tatsache vermittelt, ist gar nicht so sehr der subjektive Mechanismus, der sie präformiert und auffaßt, als die dem Subjekt heteronome Objektivität hinter dem, was es erfahren kann“ (GS 6/172). Hier zeigt sich, in welcher Weise sich der Vorrang des Ob‐ jekts und damit das materialistische Motiv in Adornos negativer Dialektik geltend macht: In der Vermittlungsbeziehung zwischen Subjekt und Gesellschaft hat die Vermittlung durch die Gesellschaft substantiellen Charakter; sie vollzieht sich nicht im Modus subjekti‐ ver Reflexion, sondern in der objektiven Wirklichkeit. 479 Dieser Gedanke findet sich bereits in der Metakritik: „Bei Husserl schon kündet, in den innersten Zellen der Erkenntnistheorie, jene Fetischisierung des nun einmal Seienden sich an, die […] sich übers totale gesellschaftliche Bewußtsein ausbreitet. Auch in diesem Sinn sind Husserls Wesenheiten ‚zweite Natur‘.“ GS 5/146. 480 „Zum Sinn jedes Zufälligen gehört“, so heißt es in den Ideen, „ein Wesen, und somit ein rein zu fassendes Eidos“. Hua 3.1/12. Deshalb müsse überall „die Wissenschaft von den reinen Möglichkeiten der Wissenschaft von den tatsächlichen Wirklichkeiten vorangehen und dieser als ihre konkrete Logik die Leitung geben.“ Hua 5/143.
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Das zweite Moment betrifft die Unmittelbarkeit, in der sich das Wesen Husserl zufolge erfassen lässt.481 Der gesellschaftlichen Totali‐ tät, wie sie sich dem Bewusstsein zeigt, „ist das Moment unmittelba‐ ren Blicks adäquat. Als in sich bereits Präformiertes läßt es gleich den Sinnendingen auch sich anschauen“ (GS 6/89). Der Gedanke Adornos, der hier zugrunde liegt, beruht auf dem Konzept der zwei‐ ten Natur – ein Konzept, das bekanntlich auf Hegel zurückgeht und prominente Bedeutung in der Gesellschaftstheorie von Lukács erhält.482 Der Begriff der zweiten Natur besagt, dass die gesellschaft‐ lichen Verhältnisse aufgrund ihrer Invarianz und Unvermeidlichkeit als naturwüchsig und unmittelbar erscheinen. „Je unerbittlicher Ver‐ gesellschaftung aller Momente menschlicher und zwischenmensch‐ licher Unmittelbarkeit sich bemächtigt, desto unmöglicher, ans Ge‐ wordensein des Gespinsts sich zu erinnern; desto unwiderstehlicher der Schein von Natur“ (GS 6/351). Diesem Schein wird die Invarianz und Unmittelbarkeit des Husserlschen Wesens gerecht. Allerdings durchschaue Husserl nicht, dass diese Unmittelbarkeit eine gesell‐ schaftlich gewordene ist. Seine kategoriale Anschauung „verwechselt jene zweite Unmittelbarkeit mit einer ersten“ (GS 6/88). Dem Phä‐ nomenologen, so Adorno in der Metakritik, sind die Gegenstände „so gründlich entfremdet und erstarrt, daß er sie als ‚zweite Natur‘ anschaut und beschreibt“ (GS 5/198). In dem hier dargelegten Sinne ist eine Formulierung aus der Metakritik zu verstehen, in der Ador‐ no Husserl als den „bewußtlosen, doch getreuen Historiographen der Selbstentfremdung des Denkens“ (GS 5/70) bezeichnet. Der Materialismus der negativen Dialektik besteht darin, die ge‐ sellschaftliche Vermittlung aufzuzeigen, die sich in den philosophi‐ schen Begriffen ereignet. Das dabei zugrunde gelegte mikrologische Verfahren, orientiert sich an Husserls Wesensschau und geht zu‐ gleich über sie hinaus, indem Adorno das Wesen als mit der Faktizi‐ tät vermittelt und damit als ein Gewordenes fasst. Adorno überführt 481 Wesensschau, so Husserl, ist eine „originärgebende Anschauung, das Wesen in seiner ‚leibhaften‘ Selbstheit erfassend.“ Hua 3.1/15. 482 Hegel bestimmt beispielsweise das Rechtssystem als eine zweite Natur. Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bänden, Bd. 7, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 46. Lukács zufolge führt das Phänomen der Verdinglichung dazu, dass soziale Verhältnisse den Charakter einer zweiten Natur annehmen. Vgl. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 260.
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diese Erwägungen über Husserls Wesensschau in ein Verfahren, das sich als gesellschaftliche Physiognomik bezeichnen lässt. Ausgehend von der mikrologischen Analyse von Einzelphänomenen zielt die‐ ses Verfahren darauf, eine gesellschaftliche Genesis in scheinbar überzeitlichen Phänomenen freilegen und die Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ in der Auseinandersetzung mit konkreten Gegenstän‐ den durchzuführen. Die gesellschaftliche Physiognomik macht sich dabei Elemente der phänomenologischen Konstitutionsanalyse zu eigen und kann in einem spezifischen Sinne als Verknüpfung von eidetischer und genetischer Phänomenologie verstanden werden. Ich werde im Folgenden darlegen, worin dieses Verfahren besteht und wie es von Adorno über die Negative Dialektik hinaus zur prakti‐ schen Anwendung kommt. b. Von der Phänomenologie zur gesellschaftlichen Physiognomik Adorno gebraucht die Begriffe Mikrologie und Physiognomik nicht nur häufig im gleichen Kontext; er scheint ihnen zuweilen auch die gleiche Bedeutung unterzuschieben. Vom mikrologischen Verfahren oder vom mikrologischen Blick ist ebenso die Rede, wie vom phy‐ siognomischen Verfahren oder vom physiognomischen Blick. Ver‐ sucht man eine Differenzierung im Bedeutungsgehalt der Begriff vorzunehmen, so ließe sich sagen, dass die Mikrologie als eine methodische Voraussetzung der gesellschaftlichen Physiognomik zu verstehen ist. Die Physiognomik geht dann über die Mikrologie hinaus, insofern sie nicht nur eine Erkenntnispraxis, sondern auch eine Theorie über den gesellschaftlichen Charakter geistiger, sozialer und kultureller Phänomene darstellt. Als Analyse geistiger Phänome‐ ne bildet die Physiognomik ein Verfahren negativer Dialektik. Als Analyse sozialer und kultureller Phänomene geht sie über die Philo‐ sophie hinaus in das Gebiet der Soziologie, Kulturwissenschaft und Ästhetik.483 483 Auf Adornos Physiognomik kultureller Gegenstände werde ich nicht eingehen. Verwiesen sei auf sein Buch Mahler. Eine musikalische Physiognomik aus dem Jahr 1960. Vgl. GS 13/149–319. Ebenfalls zu nennen wäre der Versuch über Wag‐ ner. Die darin gewählte Methode charakterisiert Adorno als Mikrologie: „Es gibt darin keine allgemeine Grundlegung, keine Gesamtanalysen der Werke, keine Zusammenfassungen und Folgerungen, sondern die Konstruktion setzt
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Eine ausführliche Begriffsgeschichte kann hier freilich nicht vor‐ gelegt werden. Johann Caspar Lavater entwickelt die Physiognomik im 18. Jahrhundert als eine Charakterlehre, die von der leiblichen Gestalt eines Menschen auf dessen Charakter schließen lassen soll. Die Physiognomik wurde als pseudowissenschaftliches Fundament für Rassismus und Eugenik herangezogen, war aber ebenso in der Kulturphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts von Bedeutung. Hier sind die Namen Simmel, Ludwig Klages und Oswald Spengler zu nennen484 – auf letzteren und sein Konzept der Physiognomik be‐ zieht sich Adorno in dem 1938 gehaltenen Vortrag Spengler nach dem Untergang. Spenglers Physiognomik, so Adorno, „hat das Verdienst, den Blick aufs ‚System‘ im einzelnen auch dort noch freizulegen, wo es mit einer Freiheit sich gibt, hinter der doch bloß die uni‐ versale Abhängigkeit sich verbirgt“ (GS 10.1/59). Zugleich kritisiert Adorno, dass Spenglers Physiognomik zu rigide sei und dadurch me‐ taphysische Züge annehme. „In Wahrheit ist sein physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien gebunden“; allein dadurch werde es ihm möglich, „gesellschaftliche Abhängigkeitsver‐ hältnisse aufs Schicksal und den Stundenschlag der Kulturphasen zu nivellieren“ (GS 10.1/59). Hier wird bereits deutlich, was die Physiognomik in Adornos Augen nicht leisten kann: Sie lässt sich nicht derart operationalisieren, als dass sie ein abgeschlossenes Ka‐ tegoriensystem liefern könnte, in dem die Einzelphänomene einen unverrückbaren Platz einnehmen. Zur systematischen Anwendung kommt das Verfahren der Physio‐ gnomik erstmals in dem im amerikanischen Exil unter der Leitung von Paul Lazarsfeld durchgeführten Princeton Radio Research Pro‐ unmittelbar mit der Betrachtung von Einzelnem ein und fügt sich aus der nahen Interpretation von Details und minutiösen Zügen, die zur Erkenntnis des Ganzen zusammenschießen sollen.“ GS 13/505. 484 Berührungspunkte der Physiognomik mit der Phänomenologie können hier nur angedeutet werden. Der Husserl-Schüler Ludwig Ferdinand Clauß berief sich auf die Physiognomik, um seine Rassenlehre zu begründen. Vgl. Ludwig Ferdinand Clauß: Rasse und Seele. Eine Einführung in den Sinn der leiblichen Gestalt, Berlin 1938. In der von Hermann Schmitz begründeten Neuen Phäno‐ menologie wird das Konzept teilweise verwendet, um das Phänomen des Lei‐ bes zu analysieren. Vgl. Thomas Fuchs: „Zur Phänomenologie der Stimmun‐ gen“, in: Friederike Reents u. Burkhard Meyer-Sickendiek (Hgg.): Stimmung und Methode, Tübingen 2013, S.17–31.
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ject. In dem 1939 verfassten Text Radio Physiognomics, der ein theo‐ retisches Fundament der Studie bildet, wird die Nähe zu Husserls Phänomenologie schnell erkennbar.485 Um das Radio-Phänomen zu erforschen, bezieht sich Adorno explizit auf Husserls Phänomenolo‐ gie und formuliert den Anspruch, „to keep as closely as possible to the phenomenon and not to any hypo‐ thesis or pre-judgments about the phenomenon, roughly understood as the music pouring out of the loudspeaker. Of course, our inferences sometimes take the form of hypotheses, but we are trying to develop them from observation of the phenomenon itself and not to deduce them from above.“ (NaS I 3/65)
Ganz im Sinne der phänomenologischen Methode gilt es die Urteile dem Gegenstand nicht ‚von oben‘ überzustülpen, sondern im Zuge der Analyse des unmittelbar gegebenen Einzelphänomens zu entwi‐ ckeln. „Our description must stick to immediate radio phenomena as the ‚material‘ of the listener’s reactions; but it must also try to elaborate the ‚objective‘ characteristics of these elements“ (NaS I 3/67). Auch wenn Adorno das Radioprojekt gegenüber Benjamin zunächst als „eine Sache von außerordentlichen Möglichkeiten und größter Publizität“ bezeichnet – er habe „die Leitung des gesamten musikalischen Teils und darüber hinaus eigentlich die theoretische Gesamtleitung“486 –, ist die Zusammenarbeit mit Lazarsfeld nicht von langer Dauer. Am 29. Februar 1940 teilt er Benjamin gerade‐ zu erleichtert mit, „einstweilen wenigstens das Radioprojekt los“ zu sein: „Die Befreiung hat mir einen großen Impuls gegeben“487. Adornos Radiophysiognomik zeigt jedoch anschaulich, dass die sys‐ tematische Aneignung phänomenologischer Motive nicht erst in der Negativen Dialektik erfolgt, sondern unmittelbar nach der Oxforder Emigration beginnt. In der Negativen Dialektik überführt Adorno die Physiognomik in ein philosophisches Verfahren, das darauf zielt, eine Genesis in vermeintlich überzeitlichen geistigen Phänomenen freizulegen. Wie Adorno bemerkt, sei die physiognomische Anschauung, „so wenig 485 Ferencz-Flatz hat auf diese Nähe hingewiesen. Vgl. Ferencz-Flatz: „Zur Funkti‐ on des Vortheoretischen bei Adorno“, S. 938f. 486 Brief Adornos an Benjamin vom 7.3.1938. Adorno u. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S. 313. 487 Ebd., S. 419.
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wie die der Sinnendinge absolut und unwiderleglich“ (GS 6/89). Sie gewinne an Triftigkeit je tiefer die mikrologische Versenkung ins Einzelphänomen vollzogen wird. „Je eindringlicher Bewußtsein solcher gewordenen Objektivität des Geistigen sich versichert weiß, anstatt sie dem betrachtenden Subjekt als ‚Projektion‘ zuzuschrei‐ ben, desto näher kommt es einer verbindlichen Physiognomik des Geistes“ (GS 6/88). Die Physiognomik stellt dabei nicht nur eine Erweiterung der Wesensschau dar; Adorno versucht vielmehr zu zei‐ gen, dass eine Verwandtschaft zwischen beiden besteht. „Anderseits nennt Wesensschau den physiognomischen Blick auf geistige Sach‐ verhalte“ (GS 6/89). Es geht Adorno darum, ein erkenntniskritisches Motiv in kategorialer Anschauung und Wesensschau freizulegen, das für das Verfahren negativer Dialektik nutzbar gemacht werden soll. Die bedeutsamste Passage, die sich in diesem Zusammenhang in der Negativen Dialektik findet, ist zweifelsohne die folgende: „Wozu aber die kategoriale Anschauung, fehlbar genug, beiträgt, wäre das Begreifen der Sache selbst, nicht deren klassifikatorische Zurüstung. […] Unter dem ideierenden Blick regt sich die Vermittlung, die im Schein der Unmittelbarkeit von geistig Gegebenem eingefroren war; da‐ rin ist Wesensschau dem allegorischen Bewußtsein nahe. Als Erfahrung des Gewordenen in dem, was vermeintlich bloß ist, wäre sie genau fast das Gegenteil dessen, wofür man sie verwendet: nicht gläubige Hinnahme von Sein, sondern Kritik; das Bewußtsein nicht der Identität der Sache mit ihrem Begriff, sondern des Bruches zwischen beidem.“ (GS 6/89f.)488
Der kritische Gehalt der Wesensschau besteht nach Adorno darin, dass die Sache nicht als Produkt subjektiver Konstitution gedacht wird, ihre Analyse aber dennoch die Erkenntnis eines allgemeinen Zusammenhangs ermöglicht. Ungeachtet der unrechtmäßigen Hy‐ postasierung des Wesens zu einem idealen Ansichsein zeige sich in Husserls Wesenslehre, „daß noch die Begriffe, denen sie ihre Wesenheiten unbedenklich gleichsetzt, nicht nur die Produkte von Synthesen und Abstraktionen sind: ebenso repräsentieren sie auch ein Moment in dem Vielen, das die nach idealistischer Doktrin bloß gesetzten Begriffe herbeizitiert“ (GS 6/167). Dieses Moment, das kei‐ ner subjektiven Setzung entspringt, ist nach Adorno ein gesellschaft‐ 488 Beinahe wortgetreu findet sich diese Passage bereits in Adornos Vorlesung Ontologie und Dialektik. Vgl. NaS IV 7/283f.
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2. Negative Dialektik
liches. Es geht in einem substantiellen Sinne in die philosophischen Begriffe ein und soll durch das physiognomische Verfahren freigelegt werden. Hier tritt Adornos materialistische Konzeption des Begriffs ins Auge, die für seine negative Dialektik konstitutiv ist. Der Begriff sei „seinerseits in ein nichtbegriffliches Ganzes verflocht“ (GS 6/24). Für den Begriff sei charakteristisch, „auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen […], wie konträr, als abstrakte Einheit der unter ihm be‐ faßten Onta vom Ontischen sich zu entfernen. Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik“ (GS 6/24). Freilich geht Adorno damit über Husserls Wesensschau hinaus. Das Wesen drückt ihm zufolge einen Aspekt des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs aus und verliert dadurch seinen überzeitlichen Charakter. Es erweist sich als Produkte einer Genesis. Wie Ferencz-Flatz zurecht bemerkt, zeigt sich Adornos Physio‐ gnomik an diesem Punkt „augenscheinlich der genetischen Phäno‐ menologie des späten Husserl verwandt.“489 Doch gilt es diesen Zusammenhang zu präzisieren. Wir konnten bereits sehen, dass Adorno verschiedentlich versucht, die eidetische Phänomenologie der Logischen Untersuchungen und der Ideen unter Bezugnahme auf Husserls genetische Konstitutionsanalysen zu relativieren. So werde die absolute Geltung der Logik durch Husserls Entdeckung einer Sinnesgenesis der logischen Urteilsform partiell relativiert. Zwar las‐ se sich die Geltung nicht auf die Genesis reduzieren; ebenso wenig dürfe die Logik aber als ein reines Ansichsein hypostasiert werden, denn sie verweise ihrem eigenen Sinn nach auf eine Genesis. Die Sinnesgenesis dürfe Adorno zufolge wiederum nicht bloß als eine bewusstseinsimmanente Genesis verstanden werden, weil noch die transzendentale Subjektivität mit dem faktischen, vergesellschafteten Subjekt verschränkt bleibe. Im Gegensatz zur genetischen Phänome‐ nologie Husserls – auch darauf weist Ferencz-Flatz hin –, „gewahrt die Physiognomik am Einzelphänomen nicht so sehr die Etappen seiner Bewusstseinskonstitution als vielmehr die Spuren seiner so‐ zialen Genesis.“490 Adornos gesellschaftliche Physiognomik kann damit als eine Verknüpfung von Wesensschau und genetischer Phä‐ nomenologie unter materialistischen Vorzeichen angesehen werden. 489 Ferencz-Flatz: „Zur Funktion des Vortheoretischen bei Adorno“, S. 944. 490 Ebd., S. 945.
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Die Überzeitlichkeit des Wesens wird durch den Verweis auf eine Genesis relativiert. Zugleich gilt vor dem Hintergrund von Adornos Konzeption der inneren Vermittlung, dass das Wesen die Tatsache als Sinnesimplikat enthält, also mit der Faktizität verschränkt ist. Daraus folgt, dass die Genesis eine gesellschaftliche Genesis ist. In der Einleitung zum ‚Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‘, in der Adorno die Bedeutung der Physiognomik für die Soziologie hervorhebt, heißt es: „Vermittelt wird zwischen dem Phänomen und seinem der Deutung bedürftigen Gehalt durch Geschichte: was an Wesentlichem im Phä‐ nomen erscheint, ist das, wodurch es wurde, was es ist, was in ihm stillgestellt ward und was im Leiden seiner Verhärtung das entbindet, was erst wird. Auf dies Stillgestellte, die Phänomenalität zweiten Grades richtet sich der Blick von Physiognomik.“ (GS 8/319)
Die Physiognomik vermag nach Adorno nur deshalb eine gesell‐ schaftliche Genesis in den Einzelphänomene freizulegen, weil diese Phänomene, ganz gleich, ob sie geistiger, sozialer oder kultureller Art sind, immer schon in einem allgemeinen gesellschaftlichen Zu‐ sammenhang stehen. Sie gewinnt an Triftigkeit, je lückenloser sich die Integration der Einzelphänomene in den gesellschaftlichen Ge‐ samtzusammenhang vollzieht. Deutlich wird das in der Vorlesung Ontologie und Dialektik: „Je vergesellschafteter die Welt, je dichter ihre Gegenstände mit allge‐ meinen Bestimmungen übersponnen sind, desto mehr ist tendenziell der einzelne Sachverhalt unmittelbar durchsichtig auf sein Allgemeines; desto mehr läßt sich gerade durch mikrologische Versenkung in ihn herausschauen; ein Tatbestand freilich, der der ontologischen Absicht schroff entgegengesetzt ist, obwohl er die Wesensschau, ohne daß diese es ahnte, mag ausgelöst haben. Ich meine nicht weniger als die Immer‐ gleichheit der standardisierten und verwalteten Welt, von der man ten‐ denziell nur ein Stück unter die Lupe zu nehmen braucht, um in ihr gewissermaßen die Formel des Ganzen zu finden“. (NaS IV 7/284)491
Zu seiner vollen sozialphilosophischen Bedeutung gelangt das Ver‐ fahren der gesellschaftlichen Physiognomik über die Negative Dia‐ lektik hinaus in Adornos soziologischen Schriften der späten sech‐ 491 Diese Passage der Vorlesung findet sich beinahe wortgetreu auch in der Negati‐ ven Dialektik. Vgl. GS 6/90.
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ziger Jahre. Ich möchte zuletzt ein Beispiel anführen und damit fluchtlinienartig andeuten, wie die Physiognomik als soziologisches Verfahren zur Anwendung kommt. Dabei beziehe ich mich auf den Text Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute von 1968, der die Ergebnisse zweier Forschungsseminare des Instituts für Sozialfor‐ schung wiedergibt.492 In beiden Seminaren ging es darum, auf Grundlage einer mikrolo‐ gischen Analyse von sozialen Einzelphänomenen Aspekte des gesell‐ schaftlichen Gesamtzusammenhangs zu erkennen und damit eine gesellschaftliche Genese des sozialen Handelns aufzudecken. Pro‐ grammatisch bemerkt Adorno: „Soll Erfahrung wieder gewinnen, was sie vielleicht einmal vermochte und wessen die verwaltete Welt sie enteignet: theoretisch ins Unerfaßte zu dringen, so müßte sie Um‐ gangsgespräche, Haltungen, Gesten und Physiognomien bis ins ver‐ schwindend Geringfügige hinein entziffern“ (GS 8/193f.). Indem Adorno die Bedeutung „ungesteuerter subjektiver Erfahrung“ (GS 8/185) hervorhebt, erweist sich die Physiognomik zunächst verwandet mit der phänomenologischen Soziologie des subjektiven Sinnverste‐ hens, wie sie von Schütz entwickelt wurde. Schütz habe, wie Adorno in einer Vorlesung bemerkt, „unter dem Gesichtspunkt der sogenannten phänomenologischen Erfahrung, dieses Moment, daß lebendige Er‐ fahrung zur Geltung kommen muß […] nachdrücklich hervorgeho‐ ben“ (NaS IV 15/91f.). Gegen soziologische Theorien des subjektiven Sinnverstehens macht Adorno jedoch geltend, dass der subjektive Handlungssinn nicht nur eine unzureichende Erklärung für soziales Handeln liefere; gegenüber den objektiv-gesellschaftlichen Motiven, die dabei eine wesentliche Rolle spielen, sei der subjektive Sinn ein Sekundäres. „Die primären psychologischen Reaktionen der Einzel‐ nen, Führer oder Geführter, sind irrelevant vor den übermächtigen Verhältnissen, in die sie eingespannt sind und die ihnen ihr Verhalten weithin aufnötigen“ (GS 8/180). Die Physiognomik versucht vielmehr über die psychologische Motivation und den Bereich subjektiven Sinns hinauszugehen und nach den allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen zu fragen, die das Handeln präformieren. Hier lässt sich 492 Auch Ferencz-Flatz bezieht sich in seiner Darstellung von Adornos Physiogno‐ mik auf diesen Text. Vgl. Ferencz-Flatz: „Zur Funktion des Vortheoretischen bei Adorno“, S. 945–947. Mir scheint der Text in besonderer Weise geeignet zu sein, um die Bedeutung der Physiognomik über die Negative Dialektik hinaus zu veranschaulichen.
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erkennen, wie Adorno seine philosophischen Überlegungen in die Soziologie überträgt. So wenig, wie philosophische Erkenntnis allein vom Subjekt her verstehbar sei, könne auch der subjektive Sinn keine zureichende Erklärung für soziales Handeln liefern. Daraufhin wird eine Reihe verschiedener Alltagssituationen be‐ leuchtet und gezeigt, wie sich in diesen Situationen Momente des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs geltend machen, die über den konkreten Handlungsanlass hinausgehen. „Zu erwarten steht“, so Adorno, „daß im einzelnen Moment die Struktur und ihre Verände‐ rungen sichtbar werden, die als ganze nicht zu greifen sind, als allherrschende jedoch das Gesetz jeglicher Konkretion bilden“ (GS 8/185). Den Ausgangsgrund der gesellschaftlichen Physiognomik bil‐ det die Sprache. „In deren Wendungen und Stereotypen haben sich historische und soziale Verhältnisse und Spannungen niedergeschla‐ gen; auf diese sind sie interpretierbar“ (GS 8/190). Beispielhaft sei eine beschriebene Szene und ihre physiognomische Analyse angeführt: „Ein altes Weib herrscht Kinder, die auf einer ohnehin lauten Straße spielen, wegen Lärmens an. Noch nachdem sie längst verschwunden sind, schimpft es weiter. Das Keifen ersetzt physische Gewalt, bereit, in diese überzugehen; unter der Rationalisierung notwendiger Erziehung – einer der beliebtesten im Klima der deutschen Reaktion – läßt die Frau die aufgestaute Wut über die eigene armselige Existenz und die allgemeine über den Verkehrslärm an denen aus, die sich ihr schutzlos darbieten, den Kindern. Daß ihr Affekt gegen den Anlaß sich verselb‐ ständigt, zeigt, wie irrelevant dieser für ihren Sozialcharakter ist. Protest wider die Brutalität von Autofahrern jedoch käme ihr schwerlich in den Sinn; verhaßt ist ihr vielmehr, aus zweiter Natur, was sie als ungebändig‐ te erste irritiert; sie an das mahnt, was sie in sich unterdrücken mußte: der Radau.“ (GS 8/190)
Charakteristisch für diese Darstellung, wie für alle weiteren, ist die Pointierung jener Momente, an denen sich nach Adorno zeigt, dass das Handeln der Akteurin nicht durch den konkreten Anlass erklär‐ bar ist und diesen in vielerlei Hinsicht übersteigt. In diesen Momen‐ ten lassen sich nach Adorno Aspekte des gesellschaftlichen Gesamt‐ zusammenhangs dechiffrieren, dem die Akteurin unterliegt und der sich darum in ihrer Handlung geltend macht. Diesem methodischen Vorgehen folgen auch die Analysen aller weiteren Alltagsszenen: ein Straßenbahnschaffner, der seinen Ärger an Studierenden auslässt; kollektives Grinsen über einen alten Mann, der in der Tür der Stra‐
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ßenbahn eingeklemmt ist; Konflikte im Straßenverkehr. Stets zielt die Physiognomik darauf, „Gesellschaft aus ihren Phänomenen zu interpolieren“ (GS 8/185). Einige Motive der Husserlschen Wesensschau bleiben in Ador‐ nos gesellschaftlicher Physiognomik erhalten. Wie die Wesensschau hebt die Physiognomik an mit der mikrologischen Analyse des Ein‐ zelphänomens und ist dabei von der Überzeugung geleitet, dass sich in diesem Einzelphänomen ein Allgemeines geltend macht, das sich nicht auf die Konstitutionsleistung des Subjekts reduzieren lässt, mit diesem also nichtidentisch ist. Die Invarianz, die Husserl dem Allgemeinen zuspricht, wird von Adorno jedoch partiell relativiert. Ich spreche bewusst von einer partiellen Relativierung, denn die ge‐ sellschaftliche Totalität, die sich Adorno zufolge als jener allgemeine Zusammenhang erweist, durch den die Einzelphänomene immer schon vermittelt sind, erscheint als ein Wesenhaftes. Sie erscheint dem Bewusstsein als unausweichlich und unmittelbar und damit als zweite Natur. Der Schein des Naturhaften soll von der Physiognomik jedoch unter Einbeziehung einer genetischen Perspektive durchbro‐ chen werden, die die gesellschaftliche Totalität ihres geschichtlichen Charakters überführt. Prägnant heißt es in einer Vorlesung, dass „das Moment der gesellschaftlichen Physiognomik oder überhaupt des soziologischen Blicks dem gleichkommt, das Gewordensein in dem wahrzunehmen, was als ein bloß Seiendes sich präsentiert“ (NaS IV 15/245). Adorno fügt hinzu, dass es im Allgemeinen „eines der wesentlichen Organe einer kritischen Theorie der Gesellschaft ist, Dinge, die sich als daseiend und dadurch als naturgegeben prä‐ sentieren, in ihrer Gewordenheit zu begreifen“ (NaS IV 15/245). Für die kritische Theorie Adornos kann im Besonderen gelten: Dieses wesentliche Organ ist die gesellschaftliche Physiognomik, die sich im Zuge einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie entwickelt.
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Schlussbetrachtung
Die Untersuchung hat deutlich gemacht, dass die Auseinander‐ setzung mit Husserls Phänomenologie keineswegs am Rande von Adornos Denkweg anzusiedeln ist. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass sich Adorno auf allen Etappen dieses Weges in einem geistigen Zwiegespräch mit Husserl befindet; ja, dass die spezifische Gestalt seines Denkens sich durch die Auseinandersetzung mit Husserl hindurch entwickelt. Damit ist keineswegs gesagt, dass alle zentra‐ len Motive in Adornos Philosophie auf seine Husserl-Rezeption zu‐ rückzuführen sind und ebenso wenig soll Adorno am Ende dieser Untersuchung als Phänomenologe oder gar Husserlianer dargestellt werden. Wohl aber gilt es sich angesichts der bis heute dürftigen Forschungslage vor Augen zu führen, welche Bedeutung der Ausein‐ andersetzung mit Husserl in Adornos Werk tatsächlich zukommt. Dabei sei folgende Feststellung vorangeschickt: Husserl ist wohl derjenige Philosoph, mit dem sich Adorno über den längsten Zeit‐ raum in seinem Leben befasst hat. Dabei hat sich Adorno selbst als Husserl-Experte gesehen. Nachdem er gemeinsam mit Benjamin den Congrès Descartes besucht hatte, der im August 1937 in Paris stattfand, berichtet er Horkheimer von einem Vortrag von Fritz Hei‐ nemann: „Ich hielt die Zeit für eine Intervention gekommen und entgegnete strikt philologisch auf seine Darstellung von Husserl, indem ich Punkt für Punkt nachwies, daß diese Darstellung den Texten widerspricht. Höchst unerwarteter Erfolg: allgemeiner Applaus, die ganze folgende Diskussion ging von meinem Angriff aus, und Herr Heinemann wur‐ de richtig zu Grabe getragen, was ihn nicht daran hinderte, mich am nächsten Tag zu begrüßen und sich bei mir auch noch zu bedanken“.493 493 Brief Adornos an Horkheimer vom 11.8.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 574. Adorno berichtet weiter, dass er nach dem Vortrag ins Gespräch mit verschiedenen Phänomenologen kam, darunter Landgrebe: „meine Interpretation hat er völlig bestätigt.“ Ebd., S. 575.
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Schlussbetrachtung
Interessant ist dieser Bericht, weil aus ihm hervorgeht, dass sich Adorno mit Husserls Texten sehr vertraut gefühlt hat. Ich möchte nicht in das Gebiet psychologischer Deutung abschweifen, sondern lediglich deutlich machen, dass Husserls Phänomenologie – oder besser: Adornos Lesart der Phänomenologie – eine methodische Grundlage für Adornos eigenes Philosophieren gebildet hat. Die Schriften Husserls boten ihm ein philosophisches Instrumentarium, um sich die Werke anderer Denker zu erschließen. So haben wir in Kapitel 3 gesehen, dass sich Adorno bei seiner Interpretation der Dialektik Hegels phänomenologische Motive zunutze macht. Wenn Adorno wiederholt davon spricht, dass dialektische Vermitt‐ lung darin bestehe, den Widerspruch als Sinnesimplikat des Begriffs freizulegen, so ist es nicht vermessen, zu sagen, dass ein umfassen‐ des Verständnis seiner Hegel-Interpretation nur unter Einbeziehung der Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie möglich sein dürfte. Jedenfalls gilt es einige Rezeptionsgewohnheiten, die sich in der Adorno-Forschung etabliert haben, aufzubrechen. Die häufig an‐ zutreffende Auffassung, Adorno nehme eine Mittelstellung zwischen Kant und Hegel ein,494 insofern er die Dualismen der Kantischen Philosophie mit Hegel dynamisiere und Hegels absolutem Idealis‐ mus wiederum mit der Selbstbegrenzung der Vernunft begegne, ist mindestens erweiterungsbedürftig. Denn tatsächlich findet Adorno beide Motive auch in Husserls Phänomenologie. Die Theorie der kategorialen Anschauung widersetzt sich der strikten Trennung von Anschauung und Begriff, von Sinnlichkeit und Verstand. „Es liegt in der Natur der Sache“, so Husserl, „daß letztlich alles Kategoriale auf sinnlicher Anschauung beruht“ (Hua 19/712). Ebenso haben wir gesehen, dass Adorno in der kategorialen Anschauung ein Korrektiv gegen die idealistische Hypostasierung der Vernunft erblickt: „Das Nichtaufgehen des logischen Sachverhaltes in seiner Konstitution durch Denken; die Nichtidentität von Subjektivität und Wahrheit: dem eigentlich galt der Entwurf der kategorialen Anschauung“ (GS 20.1/81). Doch abseits solcher Hinweise auf notwendige Revisionen und Erweiterungen in der Adorno-Forschung, gilt es einige Grundli‐ nien von Adornos Husserl-Rezeption noch einmal in den Blick zu nehmen. 494 Vgl. Bernstein: „Negative Dialektik. Begriff und Kategorien III.“ Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 227–246.
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Schlussbetrachtung
Adornos Darstellungen und Interpretationen der Phänomenolo‐ gie – ganz gleich, ob man den Blick auf die noch stark von Cornelius beeinflusste Dissertation oder die späteren Schriften richtet – sind sicher nicht über alle Zweifel erhaben und beruhen teilweise auf Missverständnissen. Zudem kann nicht in Abrede gestellt werden, was Gehring in Hinblick auf die Darstellung in der Metakritik fest‐ hält: „Sachlichkeit und brutale Überzeichnung folgen unmittelbar aufeinander.“495 Solche Überzeichnungen finden sich vor allem in Adornos geschichtsphilosophischen Ausführungen über die Phäno‐ menologie. Dass die „Aufhebung des Idealismus […] am Ende von Husserls Philosophie sich anzeigt“ (GS 5/234), ist eine These, die sich kaum halten lassen dürfte. Adornos Anspruch, in seiner Darstel‐ lung der Phänomenologie einen Prozess der „Selbstzerstörung des Idealismus“‘496 offenzulegen, der sich gegen Husserls eigene Absicht ereignet und diesem verborgen geblieben sei, wiegt schwer. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass diese Darstellung innerhalb der Husserl-Forschung auf Ablehnung gestoßen ist. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass ähnliche Auffassungen auch von einzelnen Phäno‐ menologen und Phänomenologinnen vertreten wurden. So spricht Landgrebe davon, dass Husserls phänomenologische Analysen „sein Programm und die in ihm liegende Selbstinterpretation seines Wer‐ kes in einer ihm selbst verborgen gebliebenen Weise sprengen.“497 Die geschichtliche Bedeutung von Husserls Phänomenologie bestehe darin, „daß gerade in dem Versuch, die neuzeitliche Subjekt-Proble‐ matik zu Ende zu denken, die Punkte hervortreten, an denen diese von innen her aufgelöst und überwunden wird.“498 Ebenso schreibt Meyer-Drawe: „Husserls radikales Programm unter dem Motto ‚zu den Sachen selbst‘ sprengt die Hoffnung auf Letztbegründendes, je mehr es sich diesem Ziel nähert.“499 Solche Verweise sollen nicht dazu dienen, die idiosynkratischen Exegesen Adornos zu relativieren – diese sind ohnehin konstitutiv für sein Denken –, sondern dazu ermutigen, den Blick nicht vor‐ 495 Gehring: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, S. 360. 496 Brief Adornos an Horkheimer vom 19.10.1937. Adorno u. Horkheimer: Brief‐ wechsel 1927–1937, S. 451. 497 Landgrebe: Philosophie der Gegenwart, S. 29. 498 Ebd., S. 29f. 499 Meyer-Drawe: „Der Leib – ‚ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding‘“, S. 292.
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Schlussbetrachtung
schnell von seiner Auseinandersetzung mit Husserl abzuwenden. Es ist interessant, dass Tengelyi, demzufolge „sich die sachlichen Ein‐ wände, die Adorno gegen Phänomenologie und Ontologie erhebt, ausnahmslos – oder beinahe ausnahmslos – entkräften lassen“500, einen einzigen Kritikpunk Adornos nennt, dem möglichweise zuzu‐ stimmen sei: „Eine mögliche Ausnahme bildet vor allem der Vor‐ wurf einer ‚Allergie gegen das Seiende‘ überhaupt“‘501. Dabei bezieht sich Tengelyi auf eine Passage in Adornos Vorlesung Ontologie und Dialektik. Dort heißt es: „[J]ene Art Transsubjektivität, die vom Subjekt durch dessen Reduktion auf das reine Wesen allein übrig bleibt, ist das Modell des Heidegger‐ schen Seinsbegriffs. Aus der Preisgabe der Empirie in der Phänomeno‐ logie, die so weit geht, daß nicht nur alles Psychologische der Empirie zugeordnet wird, sondern eigentlich überhaupt jeder sachhaltige Inhalt, den es irgend gibt, – daraus wird in der Fundamentalontologie so etwas wie eine Art Allergie gegen das Seiende überhaupt.“ (NaS IV 7/102)
Im Grunde ist damit das zentrale Anliegen von Adornos HusserlKritik angesprochen. Adorno wollte zeigen, dass der Anspruch der Phänomenologie, Wissenschaft des reinen Bewusstseins zu sein, un‐ einlösbar ist. Weder lasse sich das Wesen von der Tatsache trennen noch sei der idealistische Zentralbegriff der transzendentalen Sub‐ jektivität vom faktischen Subjekt unabhängig. Die von der phäno‐ menologischen Reduktion intendierte „Vernichtung der Dingwelt“ (Hua 3.1/104) lasse sich nicht bis zur letzten Konsequenz zu Ende führen. Das reduzierte Bewusstsein, das als „Residuum der Weltver‐ nichtung“ (Hua 3.1/103) zurückbleibt, sei kein unbedingtes, absolu‐ tes Sein, sondern bleibe unauflöslich mit der Faktizität verschränkt. Über die Aporie der Erkenntnistheorie, die sich aus der Verschrän‐ kung empirischer und kategorialer Momente in den Erkenntnisfor‐ men ergibt, vermag sich die transzendentale Subjektivität in Ador‐ nos Augen nicht hinwegzusetzen. Tengelyi führt nicht aus, warum Adornos Kritik möglichweise zu‐ zustimmen sei. Husserls Überzeugung, mit Hilfe der phänomenolo‐ gischen Reduktion eine Region innerhalb des Bewusstseins freilegen zu können, die als rein und ebenso als absolutes Sein zu gelten habe, 500 Tengelyi: „Negative Dialektik als geistige Erfahrung?“, S. 48. 501 Ebd.
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Schlussbetrachtung
wurde in der Husserl-Rezeption jedenfalls häufig und schon früh problematisiert.502 Merleau-Ponty bemerkt, dass Husserl das Prob‐ lem der transzendenten Welt und des Anderen übergehe: „Wären wir absoluter Geist, so wäre die Reduktion kein Problem. Doch da wir zur Welt sind, da alle unsere Reflexionen ihrerseits auch in den Zeitstrom verfließen, den sie zu fassen suchen […], gibt es kein Den‐ ken, das all unser Denken umfaßte.“503 Daraus zieht er den Schluss: „Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion.“504 Ferdinand Fellmann bemerkt wie‐ derum eine Aporie der phänomenologischen Reduktion: „Niemand weiß, was mein reines Bewusstsein wirklich bedeutet. Denn solange das Bewusstsein meines ist, also empirisch, ist es nicht rein, und wenn ein Bewusstsein rein ist, also Bewusstsein überhaupt, dann ist es nicht empirisch.“505 Zahavi gibt eine Antwort auf die schwierige Frage nach dem Verhältnis von empirischem und reinem Bewusst‐ sein, wenn er bemerkt, dass die Beziehung keine zwischen zwei verschiedenen Subjekten sei, sondern zwischen zwei Perspektiven auf dasselbe Subjekt: „Das transzendentale Subjekt ist das Subjekt in seiner primären konstitutiven Funktion. Das empirische Subjekt ist dasselbe Subjekt, aber jetzt aufgefasst und interpretiert als ein Ge‐ genstand in der Welt, d.h. als ein konstituiertes und mundanisiertes Seiendes.“506 Doch auch dann bleibt die Frage offen, wie der Wechsel zum reinen Bewusstsein vollständig vollzogen werden kann, und wie ich mich des vollständigen Perspektivwechsels überhaupt versichern soll. Wie wir gesehen haben, besteht die Spezifik von Adornos Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von transzendentaler Subjektivität 502 Schon innerhalb Husserls Münchener und Göttinger Schülerschaft stieß die Methode der phänomenologischen Reduktion auf Ablehnung. Theodor Con‐ rad hat die Position jener Schülerschaft darum als ‚Phänomenologie ohne Reduktion‘ bezeichnet. Vgl. Eberhard Avé-Lallemant u. Karl Schumann: „Ein Zeitzeuge über die Anfänge der phänomenologischen Bewegung: Theodor Conrads Bericht aus dem Jahre 1945“, in: Husserl Studies, Bd. 9.2, 1999, S. 77– 90, hier S. 83. 503 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 11. 504 Ebd. 505 Ferdinand Fellmann: Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg/Mün‐ chen 1989, S. 127. 506 Zahavi: Husserls Phänomenologie, S. 51.
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Schlussbetrachtung
und faktischem Subjekt darin, dass er jenes Subjekt als vergesell‐ schaftetes Subjekt fasst. Das Subjekt ist ihm zufolge derjenige Ort, an dem Erkenntnistheorie und Gesellschaft aufeinandertreffen. Anders als Sohn-Rethel glaubt Adorno jedoch nicht, die Erkenntnisformen aus der Gesellschaft ableiten zu können. Solch ein Ableitungsversuch würde die Gesellschaft als ein erstes Prinzip setzen und dadurch der prima philosophia verhaftet bleiben. Dass sich Adorno einer stringenten Ableitung verwehrt, hat zur Folge, dass die Beziehung zwischen Erkenntnistheorie und Gesellschaft uneindeutig bleibt. Die Rede von einer Urverwandtschaft zwischen Identifikationsprin‐ zip und Tauschprinzip in der Negativen Dialektik führt das vor Augen (vgl. GS 6/149). Adorno geht es darum zu zeigen, dass die erkenntnistheoretischen Begriffe ihrem eigenen Sinn nach auf die Gesellschaft verweisen, ohne dass ihre Geltung auf eine gesellschaft‐ liche Genesis reduziert werden könnte. Dabei liegt ein Gedanke zugrunde, den Adorno der genetischen Phänomenologie entnimmt. In der Formalen und transzendentalen Logik bemerkt Husserl, dass es eine Wesenseigenheit logischer Urteile sei, „daß sie Sinne sind, die als Sinnesimplikat ihrer Genesis eine Art Historizität in sich tragen“ (Hua 17/215). Freilich wird die Sinnesgenesis von Husserl allein im Sinne einer bewusstseinsimmanenten Konstitution aufgefasst. Vor dem Hintergrund der Verschränkung von transzendentaler Subjekti‐ vität und Faktizität argumentiert Adorno hingegen, „daß die ‚innere Historizität‘, die er [Husserl; T. S.] gewahrte, keine bloß innere sei“ (GS 5/219). Sie verweise auf den gesellschaftlichen Prozess. Wie Tiedemann mit Recht bemerkt hat, ist die „Bedeutung des Husserl‐ schen Gedankens, daß jedes Urteil seinem Sinn nach seine Genesis in sich trägt, […] für das Denken Adornos kaum zu überschätzen.“507 Dies gilt insbesondere für Adornos Übergang in den Materialismus sowie für die Konzeption dieses Materialismus. Der Übergang in den Materialismus, den Adorno bereits in Zur Philosophie Husserls zu vollziehen beansprucht, gelangt in der Nega‐ tiven Dialektik zur Entfaltung. Negative Dialektik – so die These, die es zu begründen galt – ist Adornos Versuch, Husserls Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ einzulösen. Auf der Strukturebene negativer Dia‐ lektik erfolgt diese Einlösung durch den Übergang zum Vorrang des Objekts. Dieser Übergang markiert den Punkt, an dem sich Adorno 507 Tiedemann: „Anmerkungen des Herausgebers (NaS IV 16)“, S. 333.
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Schlussbetrachtung
von der idealistischen Dialektik Hegels und ihrem Postulat von der Identität von Subjekt und Objekt absetzt, indem er eine Asymme‐ trie in der Vermittlung herausstellt. Während die Vermittlung des Objekts durch das Subjekt allein im Modus der Reflexion erfolge, sei die Vermittlung des Subjekts durch das Objekt eine substantielle Ver‐ mittlung. Das Objekt bleibt gegenüber der subjektiven Vermittlung resistent; es löst sich nicht in der Vermittlung auf. Adorno kann sich dabei auf den Gedanken Husserls berufen, dass die Sache nicht durch die Akte des Subjekts konstituiert wird. Husserls Wesen, so heißt es in der Negativen Dialektik, „mahnt an die Nichtidentität im Begriff dessen, was nicht erst vom Subjekt gesetzt ist, sondern dem es folgt“ (GS 6/170). Auch das Verfahren negativer Dialektik nimmt die Forderung ‚Zu den Sachen selbst‘ als Impuls in sich auf. Die mikrologischen Analysen Adornos folgen dem Grundgedanken der Wesensschau, dass das Allgemeine im Einzelphänomen enthalten sei. Der Materialismus der negativen Dialektik besteht wiederum darin, jenes Allgemeine nicht als überzeitliches Wesen, sondern als Aspekt des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs zu deuten. So zielt Adornos Verfahren der gesellschaftlichen Physiognomik gera‐ de darauf, eine gesellschaftliche Genesis in geistigen, sozialen und kulturellen Phänomenen freizulegen. Eben weil sich Adorno bei solchen, immer auch fehlbaren Analysen bescheidet, enthält sein undogmatischer Materialismus keine starke ontologische These über die Verfasstheit der materiellen Wirklichkeit. Er ist kein System und kann, indem er die idealistische Vormachtstellung des Geistes zu durchbrechen versucht, seinem Wesen nach auch nicht System sein. Er ist, wie Adorno an Scholem schreibt, „nicht abschlußhaft, keine Weltanschauung, kein Fixiertes“508. Ähnliches darf für diese Untersuchung gelten. Ihr Ergebnis be‐ steht darin, die Grundlinien von Adornos Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie freigelegt und zentrale phänomenologi‐ sche Motive herausgearbeitet zu haben, die Adorno im Zuge dieser Auseinandersetzung in die eigene Philosophie integriert. Von hier‐ aus gilt es weiterzuforschen – innerhalb von Adornos Werk und da‐ rüber hinaus. Unberührt blieben beispielsweise Adornos Überlegun‐ gen zur Metaphysik, die im letzten Kapitel der Negativen Dialektik, 508 Brief Adornos an Scholem vom 14.3.1967. Adorno u. Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S. 414.
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Schlussbetrachtung
den Meditationen zur Metaphysik, ausgeführt werden. „Die kleins‐ ten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute“, schreibt Adorno am Ende des Kapitels, „denn der mikrologische Blick zer‐ trümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Verneinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar“ (GS 6/400). Hier zeigt sich, dass das auf Husserls Wesensschau referierende Verfahren der Mikrolo‐ gie auch in den Meditationen zur Metaphysik von Bedeutung ist. Allein ihr Titel mag ein Hinweis auf eine Verwandtschaft zu Husserls Cartesianischen Meditationen sein. Darüber hinaus kann ausgehend von Adornos Husserl-Rezeption die Frage nach systematischen An‐ knüpfungspunkten zu anderen phänomenologischen Philosophien gestellt werden. Merleau-Ponty fordert ausgehend von seiner Ana‐ lyse der Leiblichkeit ein Denken in Gestalt einer „Dialektik ohne Synthese“509 und rückt dadurch in eine augenscheinliche Nähe zur negativen Dialektik Adornos.510 Schließlich mag die Rekonstruktion der Husserl-Rezeption Adornos einen Beitrag zur längst nicht gelös‐ ten Aufgabe der erkenntnistheoretischen Fundierung wie Legitimie‐ rung einer kritischen Theorie der Gesellschaft leisten. Bis zuletzt hat Adorno deutlich gemacht, dass die Analyse des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs stets auf die mikrologische Analyse kon‐ kreter Einzelphänomene verwiesen bleibt. In einem Interview, das Adorno kurz vor seinem Tod mit dem Spiegel geführt hat, antwortet er auf die letzte Frage, ob er seine wichtigste Aufgabe nach wie vor darin sehe, die kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse voranzutreiben: „Ja, und mich in ganz bestimmte Einzelphänomene zu versenken“ (GS 20.1/409).
509 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Giuliani u. Bernhard Waldenfels, München 1986, S. 129. 510 Auf solche Gemeinsamkeiten wurde in der Forschung bereits hingewiesen. Vgl. Meyer-Drawe: „Der Leib – ‚ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding‘“. Sommer: Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 175–179.
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