Bernard Bolzano (1781–1848): Ein böhmischer Aufklärer [1 ed.] 9783412517526, 9783412517502

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Bernard Bolzano (1781–1848): Ein böhmischer Aufklärer [1 ed.]
 9783412517526, 9783412517502

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BERNARD BOLZANO (1781–1848) Ein böhmischer Aufklärer

KURT F. STRASSER

:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena) und Václav Petrbok (Prag)

Band 16

Kurt F. Strasser

BERNARD BOLZANO (1781–1848) Ein böhmischer Aufklärer

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Bernard Bolzano. Holzschnitt von Gustav Schulz (1868). © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Wolf-Georg Zaddach, Tillmann Lützner, Weimar

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51752-6

Inhaltsverzeichnis Vorwort.....................................................................................................................7 Einleitung...................................................................................................................8

Erster Teil

Vorspiel Frühaufklärung.............................................................................15 1 Der Universalienstreit in Prag und Wien...................................................16 2 Wahrheit im Wandel......................................................................................27 3 Glauben oder Wissen?..................................................................................32

Aufklärung im Habsburgerreich...............................................................36 1 Tauwetter........................................................................................................36 2 Formen des Wissens.....................................................................................51 3 Versprachlichung der Welt...........................................................................59 4 Entsakralisierung und Profanierung...........................................................79 5 Identitätsverlust in Mitteleuropa.................................................................85 6 Ein neues Katechetenamt............................................................................94

Zweiter Teil Bernard Bolzanos Kindheit und Jugend...............................................101 1 Ein Kind der Übergangszeit......................................................................101 2 Beweggründe...............................................................................................123 3 Lebenswelt...................................................................................................130 4 Berufsentscheidung.....................................................................................133

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Inhaltsverzeichnis

Worte sind Taten: Bolzanos Berufsleben...............................................138 1 Beruf(ung)....................................................................................................138 2 Bolzanos ,bessere Begriffe‘........................................................................172 3 Erbauungsreden als Medium der wahren Aufklärung...........................226 4 Bolzanos Glaubens- und Lebensentwurf................................................249 5 Schülerecho..................................................................................................301 6 Dämmerungslicht der Aufklärung............................................................306 7 Schwärmerei im Abendrot.........................................................................347 8 Rückzugsgefechte........................................................................................358 9 Bolzanos Absetzung – ein Missverständnis............................................378 10 Kampf gegen das Vergessenwerden......................................................383

Dritter Teil Weiterleben von Bolzanos Gedanken und Werken..............................411 1 Nachlass, Nachwirkungen.........................................................................414 2 Was wurde aus Bolzanos Anliegen?.........................................................422

Quellen- und Literaturverzeichnis.........................................................429 Personenregister........................................................................................459

Vorwort Den Zugang zur Gedankenwelt des Priesterphilosophen Bernard Bolzano (1781–1848), die den Hintergrund dieser Arbeit ausmacht, verdanke ich Edgar Morscher. Aus unserem gemeinsamen Versuch (Morscher/Strasser 1995), Klarheit über die mehrfach behaupteten Einflüsse Bolzanos auf die Dichtung zu erhalten, ist mein besonderes Interesse für die geisteswissenschaftliche Seite von Bolzanos Werk hervorgegangen. Bald ist mir die besondere Bedeutung seiner Universitätsreden – als Kernstück seiner Aufklärungsarbeit an der Prager Universität, wie auch als Medium seiner Botschaft an die jungen Menschen, – aufgefallen. Als mir klar wurde, dass zur Aufarbeitung dieser Materie die archivalischen Grundlagen fehlten, musste ich einsehen, dass hier zuerst eine Forschungsgrundlage geschaffen werden musste. Ich bemühte mich also, Bolzanos sogenannte „Erbauungsreden“, die er an der Prager Universität gehalten hatte, zugänglich zu machen. Dazu wandte mich auch an Jaromír Loužil, den früheren Leiter des Prager Literaturarchivs, der wesentliche Vorarbeiten dazu geleistet hatte. Er stellte mir seine Unterlagen freundlich zur Verfügung. Mit einem Vorschlag zur Durchführung wandte ich mich an Werner Welzig, den damaligen Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der erkannte sogleich den Wert dieser Reden und sorgte für den Rahmen, in dem die Aufarbeitung der Texte – innerhalb der Bolzano-Gesamtausgabe, die bei Frommann Holzboog erscheint – an der Akademie beginnen konnte. Edgar Morscher konnte an der Universität Salzburg eine Forschungsstelle einrichten, an der die Arbeit auch zu Ende geführt werden konnte. Damit war einmal die Forschungsbasis für die vorliegende Arbeit gegeben, und ich konnte mich der Untersuchung der Zusammenhänge und kulturellen Rahmenbedingungen von Bernard Bolzanos Lebens- und Geisteswelt widmen, deren Ergebnisse hier vorgelegt werden. Aus dem Kreis meiner hilfreichen Kollegen möchte ich noch den Prager Forscher Vilèm Herold, sowie den Prager Exilanten Peter Demetz nennen. Ich verdanke ihnen nicht nur wertvolle, freundschaftliche Begegnungen, sondern wichtige Einblicke in die interkulturellen Zusammenhänge. Wolfgang Speyer bin ich herzlich verbunden für seine kenntnisreiche und belebende Anteilnahme am Fortgang dieser Arbeit, über die zahlreichen Entwürfe bis hin zu ihrer letzten schriftlichen Gestalt. Auch Brigitte Mazohl möchte ich hier für ihre klärenden Anmerkungen danken. Schließlich bin ich auch Steffen Höhne sehr verbunden. Seinem unerschöpflichen Einsatz ist zu verdanken, dass diese Studie auch veröffentlicht werden konnte.

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Autor

Einleitung Im späten 14. Jahrhundert zeigt sich neuzeitliches Denken in Richtung Aufklärung in Mitteleuropa zum ersten Mal deutlich. Zuerst an der Prager und dann auch an der Wiener Universität. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir hier den Begriff „Aufklärung“ weniger als zeitlich begrenzten Epochenbegriff verwenden können, wie das allgemein der Brauch ist, sondern vielmehr als Begriff für eine bestimmte inhaltliche Denk- und Seinsweise. Bereits in der böhmischen Frühaufklärung zu Zeiten des Jan Hus (1370– 1415) zeigt sich an der Prager Karlsuniversität ein neues Denken, das im griechisch-antiken Denken und im christlich-katholischen Glauben wurzelt. Die Prager Position, die besonders von der Auseinandersetzung mit den Lehren von John Wyclif und Johannes Buridan ausging, wurde an vorderer Stelle von Jan Hus (1370–1415) und Hieronymus von Prag (~1379–1416) vertreten. Es war eine konkret-nominalistische Lehre mit starker sozialer Ausrichtung und Volksnähe, die sich auch in der Verwendung der Volkssprache Tschechisch für die Predigten zeigte. An der Karlsuniversität in Prag trafen so zwei widerstreitende Aufklärungsbewegungen aufeinander: Die Vertreter der einen werden als Nominalisten; die anderen als [Universalien-]Realisten bezeichnet. Beide ringen miteinander um nichts weniger als um den Realitätsbegriff in der anbrechenden neuen Zeit. Auf die Ermordung von Jan Hus und Jeroným Pražský in Konstanz folgen schlimme, ganz Europa verheerende Kriege. Der Streit entscheidet sich mit dem Untergang der Hussiten in der Schlacht am Weißen Berg / Bílá hora 1620 im großen abendländischen Glaubenskrieg. Die Auswirkungen auf die mitteleuropäische Kultur sind verheerend. Die frühe Prager Aufklärungsbewegung ist niedergeschlagen und scheint mit der Zeit fast vollkommen aus der Welt geschafft zu werden. Gegen Ende des 17. / Anfang des 18. Jahrhunderts regt sie sich aber unerwartet wieder. Was war geschehen? In der Regierungszeit von Maria Theresia (1717–1780, Erzherzogin von Österreich, ab 1743 Königin von Böhmen und ab 1745 de facto Regentin des Habsburgerreiches) und ihres Sohnes Joseph II. (1741–1790, 1764 römisch-deutscher König, von 1765–1790 Kaiser des HRR, seit 1765 Mitregent und nach 1780 Alleinregent der habsburgischen Länder) kommt es zu einer staatlich geduldeten und teilweise sogar gewollten Wiederaufnahme des verdrängten nominalistischen Aufklärungskonzeptes im habsburgischen Staat und in der mit ihm weiterhin eng verbundenen katholischen Kirche. Ungewöhnlich erscheint zunächst folgende Verwandlung: Waren die böhmischen Nominalisten im 14. Jahrhundert auf der Seite der Reformer gewesen, so sind es jetzt auch bekennende Katholiken: Benedikti-

Vorwort

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ner, Jesuiten Prämonstratenser und andere, die diese Kirche zu reformieren trachten. Auf der logisch-philosophischen Seite ist diese Bewegung nach wie vor eine nominalistische. Sie steht theoretisch weiterhin für die für die Suche nach einer konkreten, harten Begrifflichkeit; praktisch steht sie auf der Seite des einfachen Volkes und ist nicht etwa nur eine Angelegenheit der Gelehrten. Erst im späten 18. Jahrhundert ist es in Mitteleuropa also gelungen, an die eigene Aufklärungsbewegung wieder anzuschließen. Das ist deutlich verzögert in der Geschichte Europas und Nordamerikas. In Prag ist es die Generation von Bernard Bolzanos Lehrern, die diese Bewegung trägt. Als Bernard Bolzano an der Prager Universität studiert, nehmen sich Gelehrte wie Karl Raphael Ungar (1743–1807) Chrysostomus Pfrogner (1751–1812), Josef Dobrovský (1753–1829), Jan Maria Mika (1754–1816) und andere wieder der verschütteten böhmischen Tradition an. Die geistigen Zentren sind die Karlsuniversität und die 1784 gegründete Königlich böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften (Královská česká společnost nauk). Sie werden in Bernard Bolzanos Studienzeit von Persönlichkeiten wie Mika und Dobrovský geprägt. Bolzano prüft ihre Ideen, nimmt die für gut befundenen auf und entwickelt sie weiter. Der Weg führt, entlang der ursprünglichen Intentionen, zu kritischem Widerstand gegen die herrschenden Hierarchien in Staat und Kirche, zum Versuch der Wiederbelebung der früheren tschechischen Hochsprache (besonders durch Josef Dobrovský) und in Richtung Gleichstellung der böhmischen und deutschen Volksgruppe. Noch während des Studiums zeigt sich, dass Bernard Bolzano ein hervorragender Mathematiker ist. Nicht nur das; er glänzt in beiden Grundzügen der alten mitteleuropäischen Geisteswelt: Einerseits ist das die nominalistisch konkrete Denkweise: Er verbindet diese mit der Idee einer mathesis universalis (dem Gedanken, dass alles Zähl- und Messbare genau bestimmbar sei) im Leibnizschen Sinn, und der religiös-barmherzigen, bescheidenen Lebensform einer gelebten Nächstenliebe. Bolzano verschärft diese Grundzüge einerseits mit seinem Anspruch auf Mathematisierung der Wissensgrundlagen, und andererseits mit dem lauten Ruf nach sozialer Gerechtigkeit. Der Hebel, den er ansetzt, besteht in einer auf Volksaufklärung ausgerichteten Verbreitung der aufgeklärten, „besseren Begriffe“ der Alltagssprache. Auf den ersten Blick mutet es heute seltsam an, wenn wir im Hauptteil der Arbeit erfahren, dass der hochbegabte Mathematiker Bernard Bolzano sich, entgegen seine ausgewiesene Qualifikation, im entscheidenden Moment der „Standeswahl“ für das Studium der Religionswissenschaften entscheidet. Wir können aber davon ausgehen, dass er diese Lebensentscheidung mit voller Absicht getroffen hat. Als er im April 1805 dann den Lehrstuhl der Religionslehre

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Autor

an der Prager Karlsuniversität zugesprochen bekommt, hat er bereits sehr klare Vorstellungen von Religion: Er spricht grundsätzlich von einer „christkatholischen“ Kirche und meint damit einen ursprünglichen, jesuanischen Glauben, der nichts mit dem Papsttum oder mit den verschiedenen religiösen Abspaltungen zu tun hat. Ja er versteht darunter letztlich den sensus communis der Menschheit an sich, den Gemeinsinn aller vernünftigen Menschen – letztlich sieht er schon eine Art Weltreligion, die über alle historischen Konfessionen hinweg die Menschheit aneinanderbindet. Die Sprache selbst sieht er als das bindende Medium, die religio des allgemeinen Wissens und Glaubens, des Gemeinsinns der Menschheit. Der Sprache (ganz unabhängig vom Aspekt der Nationalsprache, den Bolzano dabei für gänzlich unbedeutend hält. Er selbst predigt in seiner Muttersprache Deutsch) kommt dadurch die entscheidende Rolle zu. Jeder einzelne Mensch trägt, so gesehen, in seinem Sprachschatz die geistigen Werkzeuge, die er für sein Leben braucht, mit sich: im gesunden Menschenverstand. Religionsgemeinschaften generell – und aus seiner mitteleuropäischen Sicht ist das die christkatholische Kirche – sieht er als die frühen Hüterinnen dieses Gemeinsinnes und der Sprache. Diese Sprache sollte jetzt, mithilfe von mittels Logik und Mathematik geklärter Grundlagen, zu einer Art Weltsprache werden, die das Leben, letztlich das Überleben, der Menschheit in einer neuen, aufgeklärten Welt sichert. Bernard Bolzano geht davon aus, dass hinter dieser gemeinsamen Sprache der Menschheit ein formalisierbarer Kern stehe. Als Lehrer an der Karlsuniversität wird die Verbreitung und Anwendung eindeutiger Begriffe, besonders über religiöse, ethische Inhalte, seine Lebensaufgabe. Die Klarheit der Alltagssprache muss aus seiner Sicht bis in die mathematischen Grundlagen zurückverfolgbar sein. Dabei lässt er das Unerklärbare, das Mystische bestehen und stellt es nicht dem Rationalen entgegen (so wie er als Mathematiker selbstverständlich auch mit dem Phänomen der Unendlichkeit mit irrationalen Zahlen umgeht). Diese Art religiöser Aufklärung geht also Herz und Verstand an, Mystik und Ratio. Sie muss den ganzen Menschen betreffen, wie das ursprünglich angelegt ist. Aufklärung definiert Bolzano jetzt ganz konkret als umfassende Bewegung – des ‚weiser- [ethisch] besser-und-glücklicher-Werdens‘ jedes einzelnen Menschen, und in der Summe der Gesellschaft(en), schließlich der species Mensch insgesamt. Darin, und nur darin, besteht aus seiner Sicht der Fortschritt des Einzelnen wie der Gesellschaften. Die Summe dieser Bewegungen führt dazu, dass eine Kulturgemeinschaft, und letztlich die Menschheit als solche, ihr Glück findet. Das glückliche Leben aller Menschen ist das erklärte Ziel dieses Fortschreitens.

Vorwort

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Von seiner Einsetzung an der Prager Universität im Frühjahr 1805 bis zu seiner Entlassung Ende 1820 und darüber hinaus arbeitet Bolzano nun mit all seinen Kräften daran und sucht nach einer gemeinsamen Sprache, die alle verstehen. Damit legt er auch eine heute anerkannte logisch-mathematische Basis zur späteren analytischen Philosophie wie auch zur Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Im katholischen Süden und Osten Europas, hauptsächlich in den Ländern der Habsburgermonarchie, lebt im 19. Jahrhundert noch die ältere, sinnenhafte Auffassung von Glauben, die weiterhin den Anspruch erhebt, Herz und Verstand gleichermaßen zu bewegen, weiter – während sich im reformierten, protestantischen Westen und Norden Europas bereits die Entscheidung zu einer anderen, rationalen, materiellen und rein verstandesbetonten Zivilisationsentwicklung durchzusetzen beginnt. Im böhmischen Kulturraum kommt es also erneut zur konflikthaften Begegnung zweier grundverschiedener Aufklärungsströmungen. Bernard Bolzano spricht von seiner Zeit als einer im ‚Dämmerungslicht der Aufklärung‘: Er erkennt die Möglichkeiten und Gefahren, die sich darin auftun, wie etwa eine um sich greifende manipulative Technologie der Naturbeherrschung oder eine in der Phase der Industrialisierung dramatisch anwachsende soziale Ungleichheit, in ihren Anfängen. Mit seiner Amtsenthebung 1820 wird ihm jede Einflussmöglichkeit genommen. Der sich bedroht fühlende katholische Klerus verfolgt die Entlassung des Geistlichen mit großer Schärfe und setzt sie schließlich durch. Die politischen Eliten des Habsburgerreiches exekutieren sie nur, ohne Überzeugung. Das ist ein weiterer entscheidender Rückschlag der mitteleuropäischkatholischen Aufklärungsbewegung, und ein Etappensieg einer besonders im Westen und Norden Europas immer stärker werdenden protestantischrationalen Aufklärungskonzeption. Den nächsten Etappensieg bringt das Revolutionsjahr 1848. Eindeutig wird die Entscheidung mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und der November 1918 markiert das endgültige Aus für die mitteleuropäisch-katholische Gegenkultur. Die jetzt eindeutig geschlagene Bewegung wird nachträglich noch mit Spott und Hohn belegt, einer damnatio memoriae der Sieger: Ihr Andenken wird verleugnet, verkitscht, vergessen.

Erster Teil

Vorspiel Frühaufklärung

Ort des Geschehens ist Mitteleuropa. Heute wird im wissenschaftlichen Gebrauch der Begriff ‚Zentraleuropa‘ bevorzugt, nicht zuletzt wegen des ideologischen Missbrauchs des Mitteleuropabegriffes in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Hier verwende ich beide Begriffe gleichbedeutend. Spezielle Bedeutungen des Mitteleuropabegriffs, wie sie vor allem seit Studie Mitteleuropa von Friedrich Naumann (1860–1919) 1915 diskutiert wurden, wie etwa die Zusammenführung des deutschen Kulturraumes, oder die Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes, wie sie von Friedrich von List (1789– 1846), Karl Ludwig von Bruck (1798–1860), Victor von Andrian-Werburg (1813–1858) oder Lorenz von Stein (1815–1890 geführt wurden, spielen hier eine untergeordnete Rolle (LeRider 1994; Csáky 2009; Libardi/Orlandi 2011). Die geographischen Grenzen des Königreichs Böhmen unter Ottokar II. Přemysl (~1232–1278) markieren einen eigenständigen, zusammengehörigen Kulturraum. Das ist der geographische Ausgangsbereich. Mitteleuropa umfasst Teile Schlesiens, das Königreich Böhmen, die Markgrafschaft Mähren, die Herzogtümer Österreich, Steiermark und Kärnten, die Markgrafschaft Friaul, Krain, die gefürstete Grafschaft Tirol und die Windische Mark (Luft 2007, 2010). Das ist geographisch ein von Norden nach Süden, von Schlesien bis zum Mittelmeer reichender Keil, der den Westen vom Osten des Abendlandes trennt.

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Erster Teil

1 Der Universalienstreit in Prag und Wien Die Ideenlehre Platons (428/27–348/47 v.Chr.), wie sie vor allem im Phaidon dargelegt ist, war die philosophische Impulsgeberin neuartiger geistiger Auseinandersetzungen an den europäischen Universitäten. Platon hatte ausgeführt, dass den Ideen, Allgemeinbegriffen (universalia) Wirklichkeit, Realität, ja gar ein Wesen zukomme, – dass es zum Beispiel etwas wie die Röte tatsächlich gebe. Im Mittelalter war diese Ansicht mehrheitlich geteilt worden. Für diejenigen, die das Wesen der Röte für real hielten, bürgerte sich der Name ,Realisten‘, genauer ‚Universalien-Realisten‘ oder ,Hyperrealisten‘, ein. – Die Bezeichnung war notwendig geworden, denn es gab jetzt zunehmend mehr Artisten, die der Meinung waren, es gebe wohl rote Gegenstände, die Röte selbst aber sei nichts Wirkliches, sondern eben nur Begriff, nomen. Daher der Name ,Nominalisten‘ für diejenigen, denen nur Einzeldinge (ontologisch) als wirklich gelten. Die Denkweise des Universalienrealismus war die historisch ältere, genannt die via antiqua – die des Nominalismus ist jetzt die neue Bewegung, die via moderna. Sehr früh schon zeigt sich der Keim der Aufklärung in den geistigen Zentren des Mittelalters; Begriffsklärungen beginnen das Wissen zu erhellen. An der Fakultät der freien Künste (Artistenfakultät) der bedeutendsten Universität des frühen Abendlandes, der Pariser Sorbonne, tobt im ausgehenden Mittelalter der große abendländische Universalienstreit. Es geht um die Neu- und Umdeutung von Begriffen.

Der Prager Universalienstreit Das Land Böhmen war bereits seit 1085 ein eigenes Königreich und nahm als solches lange eine Sonderstellung im gesamten Heiligen Römischen Reich ein. Seine Hauptstadt Prag war im ausgehenden Mittelalter, besonders während der Regierung der Luxemburger im 14. Jahrhundert, geistiges, wirtschaftliches, künstlerisches wie auch politisches Zentrum Mitteleuropas. – Ein Zeichen der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Blüte Böhmens und seiner Hauptstadt war die Gründung der ersten Universität in Mitteleuropa im Prag des Jahres 1348 durch den Luxemburger Karl (Karel) (1316–1378) aus dem Geschlecht der Luxemburger (König von Böhmen; ab 1355 Kaiser des HRR als Karl IV). Die junge alma mater Carolina gab gleich deutliche Lebenszeichen von sich: Bald nach der Gründung entwickelte sich dort in lebhaften, häufig

Vorspiel Frühaufklärung

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auch öffentlich geführten Disputationen, Argumentationen und Vorträgen ein reges Geistesleben, das weit über den Studieralltag mit seinem verordneten Lesen und Auswendiglernen kanonisierter klassischer und mittelalterlicher Texte hinausging. Es entwickelte sich früh ein konstruktiver philosophischer Streit über die gerade im Wandel begriffenen Vorstellungen und Begriffe. Von den vier Fakultäten Theologie, Recht, Medizin und Philosophie hatte die vierte den größten Zulauf. Diese sogenannte Artistenfakultät trug formal noch hochmittelalterliche Strukturen. Sie war nach den septem artes liberales formales benannt und bestand aus dem trivium der freien Künste: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, und dem weiterführenden quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik. Das Studium der artes war einerseits grundlegend für das Universitätsstudium, andererseits führte es nicht direkt ins Berufsleben und war so gesehen keine ‚Brotwissenschaft‘, die die Absolventen ernähren konnte, wie die anderen drei Fakultäten. Die Artisten hatten weniger Aussicht auf eine gesicherte Zukunft. Das war ihr Nachteil und Vorteil zugleich: Es verlieh ihnen eine gewisse Freiheit von Sachzwängen und erhöhte ihre geistige Spannung. Aus diesen Gründen bargen die Artistenfakultäten seit den Pariser Anfängen im späten 13. Jahrhundert immer auch den schärfsten geistigen Zündstoff: Große geistige Veränderungen bahnten sich meist von dort aus an. Methodischer Ausgangspunkt aller Positionen war das Studium der aristotelischen Schriften und der darin enthaltenen zeitinvarianten logischen Grundsätze wie es der Satz vom Widerspruch ist, (A ¬ A) [Metaphysik 1005b], oder der Identitätssatz (A = A). Der mittelalterliche Aristotelismus bildete die elementaren Bausteine der Vorlesungen, Übungen und überhaupt des ganzen Lehrprogramms. Im Streit der Gelehrten ging es jetzt um die unterschiedlichen Deutungen der christianisierten Ideenlehre Platons (Herold 1996: 103, 112–116). Die Lehren Williams von Ockham (~1288–1347), des großen Verteidigers des Nominalismus, fanden nicht nur in Paris, sondern auch gerade an den neuen mitteleuropäischen Universitäten großen Anklang; zuerst in Prag und dann in auch in Wien. Ockhams Nominalismus prägte das Geistesleben im Böhmen des 14. Jahrhunderts wesentlich, auch jenes Jan Hus‘. Dieser hatte an der Prager Artistenfakultät studiert, wurde magister artium, studierte dann Theologie und wurde 1400 zum Priester geweiht. Er lehrte an der Hohen Schule Prags und war im Studienjahr 1409/10 auch ihr Rektor. Über seinen jüngeren Freund Hieronymus von Prag, der in Prag und Paris die freien Künste studiert hatte und magister in artibus war, kam er in Kenntnis der Schriften des papstfeindlichen Kirchenreformers John Wyclif (~1330–1384) aus Oxford. Wyclif forderte eine wahrhaftige Kirche als Gemeinschaft jener, die zur Erlö-

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Erster Teil

sung bestimmt sind, und er verlangte ein dieser Bestimmung gemäßes Leben in Armut und Demut (Demetz 1998: 207ff.). Dynastische Verbindungen des böhmischen mit dem englischen Königshaus hatten es mit sich gebracht, dass böhmische Adelige in Oxford studierten. Dadurch war es zu einer nennenswerten Ausbreitung Wyclifscher Schriften in Böhmen gekommen. Bei Wyclif hatte die Universalienfrage über die philosophische Bedeutung hinaus einen stark ethischen, deutlich sozialpolitischen Akzent bekommen, so Vilém Herold (1996: 116). Jan Hus war von Wyclifs Lehren begeistert. Seine dadurch angeregte Reformtätigkeit zielte darauf ab, die Kirche von unten her zu verändern und eine hierarchie- und herrschaftsfreie religiöse Gemeinschaft nach dem Muster des frühen Christentums (wieder)herzustellen. Das Vorbild dieser Aufklärer war Jesus Christus: Dieser hatte ihnen neue metaphysische Begriffe über den Glauben gebracht. Er führte sie mittels seines ethisch beispielhaften Verhaltens ein – und damit zum wahren = gelebten Glauben zurück. Die Figur Jesus Christus gab dieser Reformbewegung ihre menschenfreundliche, aber auch ihre unbeirrt herrschaftskritische Richtung vor. Auch Hus war in diese Rolle des Reformers hineingewachsen und forderte, so wie die böhmischen Reformer vor ihm, die Abschaffung herrschender Missbräuche in der Kirche und eine Rückkehr zu einfachen, frühchristlichen Formen gelebten Glaubens (Herold 1996: 101f). In feierlichen disputationes de quodlibet wurden die Missbräuche der Kirche jetzt öffentlich in der Sprache des Volkes kritisiert. Die Nominalisten vertraten dabei ein Denken, das grundsätzlich bodenständig und kritisch blieb und sich abstrakten Vorstellungen, selbst wenn sie aus der Kirche kamen, wie etwa die Annahme der Heiligkeit des Papstes, nicht ohne weiteres unterwarf. In Prag wurden jetzt direkt aus dem Leben gegriffene Probleme in die sonst oft abgehobene Gelehrtendiskussion geholt; solche, die das einfache Volk und seine Gebräuche und die alltägliche Lebensweise betrafen. So bewegten ethische Fragen, solche der Beichte oder der Art, in welcher Form die Kommunion, und durch wen (Auserwählte? Frauen?), sie empfangen werden durfte, die Geister. Im Traktat De ecclesia von 1413 hatte Jan Hus sogar eine Art Widerstandsrecht jedes Christen gegen Vertreter der Kirche eingeräumt, wenn diese unrechtmäßig handelten. Hus predigte in der Landessprache Tschechisch, nicht mehr in Latein. Die Muttersprache wurde gesprochen, um das Volk wieder in die Bewegung des Glaubens einzubinden. So dienten Hus’ religiöse Predigten der Wissensvermittlung und zugleich der Ausbreitung der Reformideen. Der Ockamismus, genauer: Ockhamscher Konzeptualismus und Buridansche Terminologie (Markowski 1996: 139) war im mitteleuropäischen Raum zuerst im thüringischen Erfurt aufgetaucht und wurde dort von den Schü-

Vorspiel Frühaufklärung

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lern des Johannes Buridan (~1300–1358~), gelehrt. Neben den Werken von Ockham und Wyclif machten Buridans eigene Schriften in Prag zunehmend Furore. Buridan hielt sich öfters in Prag auf und die Stadt wurde geradezu zur „Drehscheibe des Pariser Buridanismus“ in Mitteleuropa (Michael 2009: 146). Dieser Jean Buridan aus dem Pariser Ockhamistenkreis nahm in dem berühmten Universalienstreit eine bemerkenswert subtile Position ein: Er hatte in dem unter seinem Rektorat in Paris erlassenen Nominalistenstatut vom 29. Dezember 1340 einen offenen Widerspruch zwischen den beiden Richtungen Nominalismus und Universalienrealismus geschickt umgangen (Paqué 1970: 260–63 [Kap III, IV im Nominalistenstatut] Paqué 1970: 10f): Als grundsätzlicher Anhänger der Lehren Ockhams brachte er es fertig, „durch geschicktes Hervorkehren der Formalia und Technikalia ohne Aufgabe seiner eigenen Überzeugung im Namen der Gegner Ockhams zu sprechen …“ (Paqué 1970: 262). Die Sprache selbst besteht in Buridans Verständnis aus willkürlich und durch den freien Willen gesetzten Zeichen. Das relativierte den bisher zwingend und abbildartig angenommenen Zusammenhang der Realität mit den Begriffen und setzte eine deutliche Trennung von res und verba voraus. Bei der Suche nach der Wahrheit, riet Buridan, sollte man nicht allzu sehr über die Worte, de nominibus, nachdenken, streiten und daran festhalten; besonders dann, wenn schon mit dem gesunden Hausverstand zu erkennen sei, was gemeint ist. – Andererseits wäre es unvernünftig zu behaupten, wir hätten gar kein Wissen von den Dingen: Diese werden durch Begriffe gleichsam vertreten, weil wir sie schließlich „nicht zu den Disputationen tragen“ können. Er zweifelte keineswegs, dass wir grundsätzliches Wissen von den Dingen haben können und dass es die Sprache ist, die uns damit umgehen lässt und die uns gerade in diesem Umgang die Dinge näherbringt – so Buridans Argumentationslinie. Er befreite den Sprachgebrauch damit von der Strenge Ockhamscher Dogmatik. Zugleich bereitete er, als angesehener Physiker, durch Einschränkung der Kausalität auf die causa efficiens, den Weg zu den modernen Wissenschaften vor. Er verstand die Sprache als dem freien Willen des Zeichengebers unterstellt und anerkannte so die Unsprachlichkeit der Welt, wobei er diese als für den im engeren Sinn unsprachlichen Zugriff der empirisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungsweise zugänglich erkannte, so Ruprecht Paqué. Auf diese pragmatische Weise machte Buridan die Welt dem technischen Zugriff der naturwissenschaftlichen, empirischen Vorstellungsweise zugänglich. Dazu gehört auch ein neues Auftreten der Vertreter dieser Philosophie. Das ist nicht als Äußerlichkeit zu verstehen.

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Erster Teil Während Occam in seiner Logik in prachtvoller Klarheit und Einfachheit auch äußerlich als der große Denker auftritt, der das Neue als das Selbstverständliche zu Wort bringt, muß man bei Buridan die Neuheiten der via moderna erst durch genaues Lesen aus seinen in demokratischem Alltagston geschriebenen, umfangreichen Texten herauslösen. (Paqué (1970: 261f.)

Das alles macht Buridan zum großen Vermittler und Verbreiter der via moderna in Mitteleuropa. Dieser Weg ist nicht von oben herab vermittelbar, sondern letztlich nur im gemeinsamen Fortschreiten aller Betroffenen als gemeinsame Sache Aller zu erfahren und verstehen. In Buridans praktischem Positivismus, angewandt bei seinen astronomischen Theorien zur Beschreibung und Vorausberechnung von Planetenbahnen, zeigte sich deutlich: Ihm ging es nie zuerst um ,die Wahrheit‘. Er fragte vielmehr stets nach, ob die Wahrheitstheorien treffende Vorhersagen erbrachten, ob sie überprüfbar waren, und ob sie damit ihren praktischen Zweck erfüllten, also wirklichen ,Nutzen‘ brachten – oder nicht. Mit Ockham, Wyclif, Buridan und ihren böhmischen Gesinnungsfreunden ging es jetzt darum, den mittelalterlichen Garten Gottes mithilfe klarer Prinzipien überschaubar zu machen, um diese Erkenntnis im Sinne aller Menschen zu nutzen. Dies alles geschah zu dem anerkannten Zweck, das ,Reich Gottes‘ auf Erden zum Wohl aller gestalten zu können. Ihre praktische Moralphilosophie zielte, im Sinne des besonders von Buridan praktizierten Humanismus, auf das Glück des/der einzelnen Menschen (Markowski 1996: 147ff.). Das ist freilich kein neues Ziel, sondern eine schon seit den Anfängen der sophistischen Aufklärer Griechenlands gängige Ansicht. – Das Neue und Besondere an der jetzigen Aufnahme des Gedankens war der logisch klare, scholastisch vorgezeichnete Weg dorthin. In der weiterentwickelten nominalistischen Auffassung wurden Begriffe nicht nur theoretisch, sondern jetzt auch praktisch, in den disputationes und mit Hausverstand bestimmt und in Einklang mit dem sensus communis gebracht. Das demokratische Näherkommen an das Ziel wurde dabei mit der nachprüfbaren Größe des Nutzens für das Leben der Menschen gekoppelt. Ein besseres Leben und letztlich ein glückliches war das Ziel. Der dabei geltend gemachte Wahrheitsbegriff wurde also nicht rein abstrakt und gar nicht ideologisch absolut angenommen: Die böhmischen Nominalisten bestritten nicht, dass es das Rot, und wenn man so will, das Rot-Sein, die Röte, als Erscheinungsform (und als nomen) gibt. Aber sie interessierten sich nicht für die Röte an sich, sondern für deren beobachtbare und möglicherweise auch nützliche Erscheinungsformen: So verharrten die Phänomene, und damit blieb die Geisteskultur insgesamt, – in Reichweite des gesunden Menschenverstandes. Nicht nur das: Die Begriffe, mit denen die Dinge erfasst

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wurden, blieben so auch in Bewegung, denn Erfahrungen werden ununterbrochen und in verschiedensten Formen gemacht, verarbeitet und in Sprache gefasst. Der praktisch-nominalistische Zugang zum Wissen minderte nebenher die Tendenz zur Verehrung von Größe und Macht, ob kirchlicher oder weltlicher. Er stimmte sie zu einem vernünftigen Maß herab und hielt sich in ebensolchen Grenzen. Auf diese Weise wurde in Prag jetzt über nichts weniger als die Art des modernen Realitätsbegriffes disputiert und darüber entschieden, wie die Wirklichkeit aufgefasst werden sollte. Letztlich ging es um die Frage, ob sie eher an den Dingen selbst oder an den Ideen festzumachen war. Johannes Buridanus hatte praktisch, wie auch in seinem Statut, zweierlei gezeigt: (1) Dass kein streng logischer Widerspruch zwischen den beiden widerstreitenden erkenntnistheoretischen Positionen via antiqua/via moderna bestand. Allerdings ist deutlich geworden, dass die via moderna sich jeglichem Machtanspruch im früheren Sinn stärker widersetzt. (2) Buridan hatte den Weg einer zukünftigen Wissenschaft, und damit die via moderna, methodisch (logisch, empiristisch) vorgezeichnet, eingeschlagen und präzisiert: Durch die Wegmarken (a) des überprüfbaren Nutzens als Beweggrund und (b) durch das eindeutig vorgegebene Ziel, das im Glück des/der Menschen auf Erden besteht. Aber der Prager Streit um Worte war im Gange und noch nicht entschieden. Es traten weiterhin zwei verschiedene bis unversöhnliche Parteien auf: (1) Der Nominalismus fand in Prag hauptsächlich den Beifall der böhmischen (d.h. vorwiegend tschechischsprachigen) Landsmannschaft [Nation]. (2) Den Universalienrealismus vertraten die ‚deutschen‘ (bayerische, sächsische und polnische [=schlesische, also auch deutschsprachige]) Landsmannschaft(en) oder Universitäts-‚Nation(en)‘. Schließlich entbrannte zwischen der böhmischen Nation und den deutschen Nationen ein ernsthafter Streit darüber, welcher der rechte Weg sei: An der aufgerührten Artistenfakultät prallten die Meinungen der Realisten und Nominalisten aufeinander. Im Jahr 1384 kam es dann zum ersten offenen Bruch unter den Artisten. Als im Jahr 1403 dann die deutschen Nationen die von John Wyclif geprägten Ansichten der tschechischen Reformer als Ketzerei offiziell ablehnten, vertiefte sich die Spaltung. Im Kuttenberger Dekret von 1409 kehrte König Václav IV. (1331–1419, seit 1378 König von Böhmen), seinerseits aus machtpolitischen Gründen, die Stimmrechte der nationes drastisch um: Die tschechische Nation erhielt nun drei Stimmen und den drei deutschen wurde insgesamt eine zuteil. Dies führte zur Machtumkehr und zur endgültigen Spaltung der Fakultät. In der Folge führte das zur Abwanderung von 80 Prozent der Lehrerschaft und großer Teile der deutschsprachigen Studenten aus Prag. Viele zogen ins nahe Leipzig

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außerhalb des Habsburgerreiches, wo man im selben Jahr noch eine eigene Universität gründete. Die Prager Universität büßte dadurch ihre führende Rolle in Mitteleuropa ein. Zunächst war es gar nicht ausgemacht gewesen, dass auch die Philosophen sich mit der Ideenlehre überhaupt auseinandersetzen durften: Es war grundsätzlich das Reich der Theologen. Manche taten es trotzdem, und meist mit schlimmen Folgen. Eine tragische Episode aus diesem Streit lag im Verhältnis von Hieronymus von Prag und Johannes Gerson (1363–1424) begründet (Herold 1995; Shank 1996: 129–134). Beide schätzten Buridans Lehren, dennoch gab es vor allem in der Ideenproblematik deutliche Auffassungsunterschiede. Jean Gerson sah diese als rein theologisches Problem und verlangte, dass der wörtliche Sinn der Heiligen Schrift, sensus litteralis Sacrae Scripture zu akzeptieren sei. Jeroným Pražský sah das Problem, wie schon Wyclif, auch als eines der Artisten. Als solcher gebrauchte er, wie die Prager Philosophen vor und um Hus, dazu die Kategorie der urbildlichen Welt, mundus archetypus, in Wyclifs Ideenlehre mundus intelligibilis. Gerson hingegen sah darin eine tödliche Gefahr für die Kirche, nämlich jene der Auflösung der christlichen Lehre, – sobald sie Gegenstand philosophischen Zweifels werden sollte. Besonders in der von Wyclif und Hieronymus vertretenen radikalen Vorstellung, dass die Ideen selbst mit Gott gleichwertig seien, sah Gerson diese Gefahr. Er befürchtete die Auflösung des Glaubens (oder der Schranken bzw. Beschränktheit des mittelalterlichen Glaubens) und bezeichnete als Konzilsvater in Konstanz dann die Position des Hieronymus und des Jan Hus als Häresie; was in dem Fall den qualvollen Feuertod für sie bedeutete (Herold 1995: 86f). Als Hus im Konzil von Konstanz (1414–1418) am 6. Juli 1415 verurteilt und lebendig dem Feuer übergeben wurde, da wurden mit ihm seine Werke, die Abschriften John Wyclifs und andere ‚ketzerische‘ Schriften Opfer des Feuers; als Teil einer langen Geschichte des gewaltsamen Versuchs, „den Irrtum zu liquidieren“ (Speyer 1981). Die ausführliche Verdammung bezichtigte in der 15. Sitzung des Konzils von Konstanz, am 6. Juli 1415, Wyclifs Lehre der schlimmsten, verderblichen Auswirkungen, und Jan Hus seiner Gefolgschaft (Alberigo 1962: 397–410). John Wyclif hatte das Misstrauen gegenüber der Kirchenhierarchie so nachhaltig geschürt, dass es nicht mehr aus der Welt zu schaffen war. Die Kirchenhierarchie rächte sich, indem sie ihn jetzt mit der schwersten, nämlich die Zeiten überdauernden, Strafe belegte, der damnatio in memoria. Seine Gebeine wurden nachträglich ausgegraben und verbrannt. Es gab Ähnlichkeiten mit der Bekämpfung der amalrikanischen Häresie im frühen 13. Jahrhundert, die zu deren fast vollständigen Auslöschung durch die Kirchenhierarchie geführt hatte, und zu weiteren Glaubenskämpfen, sodass

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man sagen muss: Insgesamt war bei der neuzeitlichen Bereinigung der christlichen Glaubensvorstellungen rohe Gewalt die ultima ratio. Doch weder die Morde noch die Verdammung lösten das ursprüngliche Problem, das in der herabgekommenen Glaubwürdigkeit des Klerus bestand, wirklich. Die ausgeübte Gewalt führte in Böhmen vielmehr zu einer Welle von Gegengewalt und Radikalismus. Die folgende hussitische Revolution dauerte vom Tod Hus’ im Juli 1415 bis 1422 (Demetz 1998: 187ff.). Die sogenannten Hussitenkriege folgten in den Jahren von 1419 bis 1436. Es gab viele kämpferische Gruppen, die eine Volksreformation anstrebten. Ihr Zentrum hatten sie meist in Tábor. Die Bewegung spaltete sich in die pragmatischen Utraquisten und radikalen Taboriten. Jan Žižka (~1360–1424), nach dem heute ein Prager Stadtteil benannt ist, war der mächtigste und zugleich gewaltsamste ihrer Führer. Die Kriege und Aufstände endeten in der Niederschlagung der radikalen Hussiten. Das zugrundeliegende Problem war damit nicht ausgeräumt, sondern beiseite- und aufgeschoben – bis zum nächsten Glaubenskrieg. Einer der Gesinnungsgenossen von Jan Hus, und wie dieser von den Anschauungen des John Wyclif geprägt, war Petr Chelčický (~1380/90– 1452/1460~). Er akzentuierte die böhmische Frühaufklärung deutlich in Richtung absolute Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit. Die Frühaufklärer gingen so weit, dass sie Kaiser und Papst des Verrats am wahren Christentum anklagten: Wenn die [geistliche] Hierarchie kirchliches Eigentum missbrauchte, war es die Aufgabe der weltlichen Macht, dem zu steuern, und der König vernachlässigte seine Pflicht, wenn er nicht eingriff. (Demetz 1998: 208)

Nach und nach wurden auch Folgen früherer problematischer Entwicklungen in der Kirche sichtbar, wie etwa die „Konstantinische Schenkung“, die im frühen 4. Jahrhundert Ursache der wachsenden weltlichen Macht der Päpste geworden war, sowie andere Konstantinische Verordnungen gegen sogenannte Ketzer, die den Anfang einer furchtbaren Kette von Ausgrenzung und versuchter Vernichtung des Geistes darstellten und zu Auswüchsen wie Inquisition und zum Index librorum prohibitorum geführt haben (Speyer 2016; 1981). Die böhmischen Reformer verlangten nach wie vor die Rückkehr zu frühchristlichen Glaubensformen. Sie hatten die zukunftsweisende Bedeutung der Volkserziehung erkannt und setzten sich für die Idee einer umfassenden Volksschule ein. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ging aus den Reformgruppen die Bewegung der Böhmischen Brüder (Böhmische Brüderunität) hervor. Die Brüder blieben von der römischen Kirche unabhängig, predigten ein einfaches, friedfertiges, rechtschaffenes Leben und gründeten zahlreiche Gemeinden. Sie stellte sich gegen die feudale Gesellschaftsordnung und standen damit gleichsam „außerhalb der Welt“ (Macek 1974: 164). Im

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Böhmen des 14. bis 16. Jahrhunderts gab es eine Vielzahl reformatorischer Bewegungen. Das Hussitentum gilt als die erste dieser Bewegungen mit dem Ziel, ein neues ‚Reich Christi auf Erden‘ zu errichten. Ein solches war immer schon universalistisch gedacht, galt also grundsätzlich für alle Menschen. Es strebte nach Weltgeltung, nicht aber nach Weltbeherrschung. Die Hussiten strebten weitreichende ökonomisch-soziale Reformen an, waren in sozialer Sicht unruhig. Ihre Bewegung äußerte sich in revolutionären Strömungen (Macek 1974: 150ff.). Das Misstrauen eines Wyclif oder Hus hatte sozialen Hierarchien und Ungerechtigkeiten allgemein gegolten; nicht nur in der Kirche. Dort freilich standen sie in besonders krassem Gegensatz zu den diese konstituierenden Lehren. Dieses Misstrauen galt auch grundsätzlich dem System des Feudalismus. Der Zweifel daran entsprang dem nominalistischen, tatsachennahen Wahrheitsbegriff, der sich grundsätzlich an beobachtbaren Einzelheiten orientierte und nicht an abstrakten, letztlich eingebildeten Größen. Er hatte auch mit einer bestimmten, demokratischen Art des Sprachgebrauchs zu tun. – Die böhmischen Reformer hatten durch ihr Abgehen von der Gelehrtensprache und mit ihren Predigten in der Volkssprache der einfachen Bevölkerung ihre Stimme gegeben. Mit dieser starken, im Volk verwurzelten Verbindung von überprüfbarem, empirisch-nominalistischem Wissen, wacher Herrschaftskritik und radikal christlich-neutestamentlich verstandenem Glauben blieb in Böhmen – und in ganz Mitteleuropa – über die Zeiten hinweg ein kräftiges reformerisches Substrat lebendig. Die böhmische Reformation blieb ein Stachel im Fleisch der Mächtigen. Eduard Winter, der verdienstvolle Bolzano-Forscher, nannte Böhmen, das Vaterland Bolzanos (und auch sein eigenes), einmal „das klassische Land der Aufklärung in Österreich“ (Winter 1938: 285). Die Bedeutung der frühen religiösen Reformbewegungen in Mitteleuropa skizziert der böhmische Autor Franz Werfel (1890–1945): Im Hussitismus tritt das slawische, man möchte beinahe sagen, das tolstojanische Weltgefühl zum ersten Mal ins Licht des europäischen Bewusstseins. Ein einfaches Bauernvolk, ein Volk schwerblütiger Männer und gütig frommer Mütter gelangt plötzlich zum ungeheuren Erlebnis der wahren Christlichkeit. (Werfel 1977: 45)

Der böhmische Schriftsteller Johannes Urzidil (1896–1970) nannte Jan Hus und Jan Komenský einmal große Karyatiden der Überzeugungstreue, des Wahrheitsstrebens und der sittlichen Reinheit, und wenn ihre Namen auch in entlegene geschichtliche Hintergründe wiesen, so lebten sie doch im Geiste, und nicht nur in dem der Tschechen. (Urzidil 1965: 245)

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Der Wiener Universalienstreit Im Herzogtum Österreich erlebte man ebenfalls ein frühes geistiges Bildungshoch im 14. Jahrhundert. Mit der Gründung einer Universität in Wien 1365 folgte Rudolf IV. (1339–1365, Herzog von (Inner-)Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain, Graf von Tirol) aus dem Geschlecht der Habsburger dem Prager Vorbild seines Schwiegervaters Karl IV. aus dem Haus Luxemburg (1316–1378). Die alma mater Rudolphina, zunächst noch ohne theologische Fakultät (!), entstand ebenso wie die Prager Carolina in nominalistischem Geist, also mit Ausrichtung auf das Einzelne und das sinnenhaft Wirkliche. Die geistige Prägung durch Johannes Buridan war hier so stark, dass sich sogar die Mär von einer Gründung der Wiener Universität durch ihn verbreitete (Aschbach 1865: 78–81). Besondere Leistungen erbrachte diese Schule tatsächlich in der Mitte des 15. Jahrhunderts in den Bereichen der Naturphilosophie, in der buridanischen Physik, der praktischen Philosophie und Moralphilosophie nach Buridan. Die in Wien entstandenen naturphilosophischen Schriften basierten durchwegs auf der Grundlage der Werke Johannes Buridans. Man betrieb den gemäßigten Naturalismus seiner neuen Physik und die konsequente Auseinandersetzung mit dem Werk des Aristoteles; mit einer Besonderheit: hier fehlte der Gegner. – „Die Freiheit, die an der Universität Wien herrschte, brachte es mit sich, daß die Wiener Naturphilosophen sich nicht gegen die kirchliche Lehre wandten“ (Markowski 1996: 146). Die Nominalisten gaben hier den Ton an. Das führte dazu, dass bei den Untersuchungen immer von der Sprache selbst Ausgang genommen wurde, womit die Dinge selbst möglichst genau begriffen werden sollten): Bei der Abneigung der Nominalisten vor leeren Abstractionen drangen sie zunächst auf die Nothwendigkeit der Erfahrung und auf die Vermehrung der sinnlichen Grundlage ihrer Erkenntnisse. Eine solche Richtung musste wenigstens mittelbar auf die Bearbeitung des empirischen Naturwissens hinwirken. Es folgte daraus, dass auf den Universitäten, wo die Nominalisten vorherrschten, Mathematik, Physik, Astronomie, Arzneikunde vorzüglich gepflegt wurden. (Aschbach 1865: 82)

Durch gezielte Urkundenfälschungen (Sammelbezeichnung privilegium maius) war es Rudolf gelungen, die Bedeutung des Hauses Habsburg und Österreichs zu heben (Fritz Lošek, in DNP 2001: 1135). Unter dem Habsburger Friedrich III. aus deren innerösterreichischen Linie (1415–1493; ab 1439 Herzog von Österreich, ab 1440 römisch-deutscher König; ab 1452 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) verlagerte sich der Herrschaftsmittelpunkt der Kaiser des

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Heiligen Römischen Reiches von Böhmen in die österreichischen Stammlande im Südosten des Reiches, zunächst nach Wiener Neustadt, dann nach Wien. Der aus der Toskana stammende Gelehrte Enea Silvio Piccolomini (1405– 1464; als Papst ab 1458 Pius II.) kam 1437 an den Hof von Kaiser Friedrich III. und wurde zum bedeutendsten Humanisten auf österreichischem Boden. Der Kaiser krönte ihn 1442 in Frankfurt am Main zum poeta laureatus. In seiner Abhandlung Historia Bohemica beurteilte der gelehrte Weltmann das Wirken der Luxemburger Kaiser aus der gesamteuropäischen Sicht des Heiligen Römischen Reiches durchaus kritisch. Die Hussiten fand er aus machtpolitischer Sicht gefährlich, weil sie mit Volksmacht auftraten und weil ihre Führer zuweilen fähiger waren als die Kaiser (Piccolomini 2005: 0251). Die Hauptgefahr für das Reich sah Piccolomini allerdings in der türkischen Bedrohung und der damit dräuenden Gefahr der Islamisierung des Abendlandes. Friedrichs Sohn Maximilian (I; 1459–1519, römisch-deutscher Kaiser 1508–1519) war ein kunstsinniger Mensch. Als solcher berief er Conrad Celtis (1459–1508), den sein Vater 1487 in Nürnberg schon zum zum poeta laureatus gekrönt hatte, im Jahr 1500 nach Wien. Dort führte er das von Piccolomini begonnene Werk der Frühaufklärung fort und setzte bedeutende Akzente – wie eine gelebte Form frühen Weltbürgertums, die Entwicklung einer Art von Gesamtkunstwerk oder die Besinnung auf die deutsche Sprache und ‚Nation‘ [damals in einem weltoffenen Verständnis einer Sprachgemeinschaft]. Insgesamt war Celtis aber, in seiner Verbindung von Dienst für den mit imperialem Machtaufbau beschäftigten Maximilian I. einerseits, einem allgemein nur wenig überzeugenden Katholizismus zum anderen und dem ihm so wichtigen Schein eigener poetischer Unsterblichkeit nicht wirklich überzeugend, sodass Michael Benedikt das Resultat von Celtis’ Wirken einmal als „Verdrängte[n] Humanismus und Verzögerte Aufklärung“ bezeichnet (Benedikt 1996a: 326). Maximilian I. schuf auch die Grundlagen zu einem neuen – von den Ständen unabhängigen – Behördenapparat, der den politischen Kräften im Habsburgerreich aus einem neuen Rechtsverständnis heraus eine wichtige Stütze werden sollte (Schimetschek 1983: 35). Diese Behörden entwickelten auch eine eigene Kanzleisprache. 1501 gründete der Kaiser, ein Konzept des Conrad Celtis umsetzend, ein Collegium poetarum et mathematicorum! Dieses sollte Teil der Universität zu Wien sein und sah Lehrstühle für Poetik und Rhetorik, sowie für Mathematik und ihre naturwissenschaftlichen Anwendungsgebiete vor: ein wahrhaft weitsichtiger Entwurf. Pest, Türkengefahr und Religionsstreit führten noch im selben Jahrhundert zu Kriegen, die den Niedergang dieser geistigen Blüte erzwangen. Der neue Protestantismus griff auch in den österreichischen Ländern um sich

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und wurde mit großer Härte zurückgedrängt; ein Vorgehen, das zu einem schlimmen geistigen und auch wirtschaftlichen Aderlass in den habsburgischen Ländern führte.

2 Wahrheit im Wandel Die Wahrheit der Offenbarung war eine feste Basis im christlichen Denken des Mittelalters. Das Grundbedürfnis des Menschen nach Sicherheit in einer als bedrohlich empfundenen Welt wurde von den Religionen ursprünglich durch Besänftigung der Götter durch Opfergaben, und durch Bändigung der Phantasie, vorwiegend mittels Ritualisierungen, beruhigt und befriedigt. Auch im christlichen Abendland war das so, aber die Angst vor der ewigen Verdammung war als eine neue Bedrohung dazugekommen. Der Weg der abendländischen Kultur vom Mittelalter zur Neuzeit bedeutet aber letztlich doch eine zunehmende Befreiung des Menschen von Ängsten. Auch die neue Angst vor der ewigen Verdammnis schwächt sich ab. Zunehmendes Erkennen von objektiven Wahrheiten schafft neue, angstfreie Sicherheit. In der neuen Zeit stellt sich heraus, dass nicht nur die Religion, sondern jetzt auch die moderne Wissenschaft in der Lage sein kann, den Naturgewalten ihren Schrecken zu nehmen, Urängste zu bannen und das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu befriedigen. „Neben die Wahrheit der Offenbarung tritt in der Neuzeit eine eigene und ursprüngliche, eine selbständige Wahrheit der Natur“ (Cassirer 1973: 56): Gelehrte schicken sich an, mit ihrem abstrakten Wahrheitsbegriff den Machtanspruch, den sie jetzt dem christlichen Glauben absprechen, für ihre Theorien zu stellen. Ein Machtwechsel vom Glauben und seinen Vertretern hin zum Wissen und seinen Trägern ist möglich geworden. Eine solche translatio von der Herrschaft des Glaubens zu einer Herrschaft des Wissens kündigt sich jetzt an. Das führt in Frankreich zum Beispiel zu einem Rationalismus, der sich durch abstrakte Denkmuster wie René Descartes’ (1596–1650) Dualismus von ‚Materie versus Geist‘ oder ‚Wissen versus Glauben‘ anbietet und den Geist dabei ins Reich des Immateriellen abschiebt und den Glauben ebenso. Ideale Systeme dieser Art verschaffen den Menschen eine neue Form von Übersichtlichkeit und damit Sicherheit (Toulmin 1991: 142ff., 179ff.). Mit dem Grundbedürfnis des Menschen nach Sicherheit ist jenes nach Wahrheit verwandt:

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Zunehmende rationalistische Dekontextualisierung des Wissens führt dazu, dass das Bedürfnis nach Wahrheit vom Glauben gelöst und tendenziell den Wissenschaften zugeordnet wird. Stephen Toulmin hat ausgeführt, wie eine neue Form der Rationalität, etwa nach dem Muster von Descartes, zur theologischen Rechtfertigung von Nationalstaaten oder von Klassenunterschieden herhalten kann; wie geschlossene, ideale Systeme im Verständnis von Isaac Newton (1642–1726) später politische Herrschaftssysteme verherrlichen – bis hin zur ‚wissenschaftlichen‘ Rechtfertigung des Kolonialismus gegenüber sogenannten ‚Primitiven‘. Das geschieht aus einer bereits abstrakten, abgehobenen, und zugleich wertenden und zugreifenden Haltung heraus (Toulmin 1991: 217f.). – Wissenschaftler und ihre Gefolgsleute beginnen also, den Wahrheitsbegriff für sich in Anspruch zu nehmen. Sie fechten die frühere Rolle der Kirche als Trägerin der Wahrheit an, um diese allmählich abzulösen. Paul Feyerabend hat aufgezeigt, dass sich nach dem klerikalen Machtmissbrauch im Spätmittelalter auch eine Art wissenschaftlicher „Tyrannei der Wahrheit“ den Weg bahnt (Feyerabend 1989: 357ff.). Das geschieht mit einem neuen absoluten, jetzt objektiv, wissenschaftlich, also dem Anspruch nach wertfrei auftretenden Wahrheitsbegriff als ihrer schlagkräftigsten Waffe. Das Bedürfnis nach Macht mag in jedem Menschen schlummern; es entwickelt sich aber erst richtig aufgrund (der Einbildung) gewisser Sicherheiten und Wahrheiten. Das Machtbedürfnis bleibt psychologisch eine Art vormoderner Rest in der Psyche des modernen Menschen. Wolfgang Speyer hat darauf verwiesen, dass das Christentum als messianische Religion den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum, und damit auch jenen von Lüge und Wahrheit, ungemein verschärft hat (Speyer 2016: 145). Der einst missionarische Wahrheitseifer des Christentums schlägt in der Neuzeit auf Wissenschaftler über, die damit unbewusst auch Glaubenselemente übernehmen. Gerade das cartesianische Wissensverständnis kommt mit zwingendem, Entscheidung forderndem Wahrheitsfanatismus daher und kappt nach und nach die angestammten Verbindungen von Glauben und Wissen. Das bringt die Wissenschaft in einen Gegensatz zur Religion, der früher gar nicht denkbar gewesen ist und jetzt die Macht der Kirche und des Glaubens untergräbt. Die Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht – und mithin den Machtmissbrauch – gibt es nicht erst in der christlichen Religion, sondern es hat sowas bereits in frühesten Stammeskulturen gegeben, in den Hochkulturen im Alten Orient und Ägypten, im Hellenismus und in der Kaiserzeit des Römischen Reiches (Speyer 2016). Machtmissbrauch ist gleichsam eine Spätfolge saturierter Kulturen.

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Seit der Konstantinischen Wende im vierten Jahrhundert begann weltliche Macht auch die Geschicke des christlichen Abendlandes zu bestimmen. Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion im Römischen Reich am Ende des vierten Jahrhunderts kam dieses zu Macht und Wirkung. Geistliche Macht füllte nach dem Ende des Römischen Reiches zunächst das entstandene politische Machtvakuum. Bischöfe und Päpste wurden zu Landesherrn, Kaiser wurden zu Apostolischen Majestäten im Heiligen Römischen Reich. Weltliche Macht, Machtmissbrauch und Machtarrangement brachte dem Klerus große Reichtümer ein. Die spirituelle Kraft des dahinterliegenden Glaubens ließ im Gegenzug nach und fiel zunehmend hinter die Überzeugungskraft der neuen Naturwissenschaften zurück. – Es zeigte sich bald, dass der neue Wahrheitsbegriff nicht nur das Sicherheits- und Wahrheitsbedürfnis, sondern auch das Machtbedürfnis der Menschen zu stillen in der Lage war. Nicht nur die böhmische Reformation, auch die späteren Reformbewegungen von Martin Luther (1483–1546), Ulrich Zwingli (1484–1531), Johannes Calvin (1509–1564), John Knox (1514–1572) und anderer westeuropäischer Neuerer waren verständliche Reaktionen auf die Glaubenskrise am Ende des gläubigen Mittelalters. Die böhmische Reformationsbewegung können wir auch als eine Art Vorgängerin der deutschen Reformation verstehen: Einig waren die Unzufriedenen jedenfalls alle in der Ablehnung des klerikalen Machtmissbrauchs. – Allerdings hatten die Reformer in Böhmen eine Abspaltung einer christlichen Religionsgemeinschaft aus der allgemeinen, ,katholischen‘, nicht angestrebt. Das hatte auch Luther nicht; allein die Böhmen taten es deshalb nicht, weil das bedeutet hätte, das ihnen wesentliche Element der Universalität aufzugeben. Die böhmischen Reformer kämpften zudem in erster Linie gegen ganz konkrete Missbräuche, nicht gegen deren klerikale Bewahrer. Kontakte zwischen Luther und den Böhmischen Brüdern gab es wohl, aber sie waren in beiden Richtungen nicht von großer Bedeutung und Tiefe (Rohde 2007: 25ff.). – Das nicht ohne Grund, und der lag zu einem guten Teil in der Person Martin Luthers selbst. Der Psychologe Erich Fromm etwa verweist auf Luthers stark autoritären Charakter und seine geradezu verzweifelte Suche nach Sicherheit. Er sieht Luthers Verhältnis zu Autoritäten, letztlich auch Gott gegenüber, durch Unterwerfung gekennzeichnet und durch ein starkes Unterlegenheitsgefühl (Fromm 1941: 254ff.). Beides, das Gefühl der eigenen Verderbtheit und die Unterwerfungsbereitschaft, pflanzt der Reformator auch seinen Anhängern ein, so Fromm, und Luther selbst bricht so die politische Widerstandskraft der protestantisch Glaubenden, indem er die bedingungslose Unterwerfung auch den Landesfürsten gegenüber fordert.

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– Das sehen die böhmischen Reformer ganz anders. – Auch die anderen Reformer westlichen Zuschnitts, wie Ulrich Zwingli, beschwören gerade dieses enge Zusammenwirken von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit. Jean Calvin fügt die Aufforderung zur rastlosen Arbeit als Zwang in das neue Konzept, das besonders von den Puritanern nachgelebt wird. Die darin enthaltene Prädestinationslehre erhöht den durch rastlose Tätigkeit erworbenen Reichtum zur göttlichen Bestimmung und zum „Gotteslohn“. Hier wird eine Metapher zunehmend wörtlich genommen und kommerzieller, materieller Erfolg wird mit Lebensglück und Gnade gleichgesetzt: Die Begriffe von Glück und Gnade nehmen so, besonders für die Protestanten, geradezu entgegengesetzte Bedeutungen von jenen an, die sie in der alteuropäischen Tradition verheißen haben. Davon spricht Max Weber (1864–1920) dann ausführlich. Auch ist die mit dem protestantischen Ethos verbundene Rastlosigkeit eine ganz andere, nämlich geschäftige, praktische, weltliche Art der Tüchtigkeit geworden. Mit der augustinischen „Unruhe des Herzens“ (Confessiones, I,1,1: „Unruhig ist mein Herz, bis es ruht in [Gott]“) hat das nur mehr wenig zu tun: Der Beweggrund hat sich in der Kulturentwicklung unbemerkt gewandelt. Das Herz spielt beim Gelderwerb keine Rolle mehr, hier geht es um harte Währung. Auch das Ziel dieser Mechanik ist, meist unbemerkt, schon ein anderes geworden als jenes, das die frühe Aufklärungsbewegung beseelt hat: Das Glück und die Gnade – beides hat im Grunde nichts mehr mit der Seele, anima, zu tun, sondern zunehmend mit hartem (Geld-)Wert und Besitz. Protestantisch-puritanische Betriebsamkeit in Verbindung mit neuer Autoritätshörigkeit ergibt jedenfalls eine sehr wirkungsmächtige Kraft, die bald auch ökonomisch neue Fakten schafft. Auch wenn es Martin Luther gelungen ist, die Allmacht der päpstlich-ultramontan [römisch]-katholischen Kirche zu brechen: Der Preis für diesen Erfolg besteht in einer neuen, unbedingten Unterwerfung der Menschen neuen Zwängen gegenüber. Er besteht auch in einem tiefen, verborgenen Schlechtigkeitsgefühl des irdischen Menschen, das eine solche Unterwerfung geradezu fordert; und dieses befördert eine grundsätzliche Lieblosigkeit dem Menschen und der Schöpfung gegenüber. Das alles nimmt einem derart gläubigen Menschen letztlich die Freiheit, seinen eigenen Weg zu gehen. Erich Fromm (1941) erkennt in dieser Tendenz eine Ursache der offensichtlichen, modernen „Furcht vor der Freiheit.“ Diese Entwicklung führt letztlich zu einer Glaubensspaltung im Abendland: Im Norden setzt sich der Protestantismus durch – in Mitteleuropa nicht. Auch der katholische Glaube entwickelt sich hier anders, als im zentralistischen Frankreich und im seit 1531/34 formal kirchlich unabhängigen England. – Die Lebensformen entwickeln sich auseinander.

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Im mitteleuropäischen Raum steht der Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken unter anderen Vorzeichen: Im vielsprachigen, landschaftlich und kulturell äußerst vielfältigen Habsburgerreich kann sich der reine, abstrakte, Wahrheitsbegriff nicht wirklich durchsetzen; es bleibt eine gewisse Scheu vor Abstraktionen. Glaube und Wissen bleiben im Geistesleben Zentraleuropas grundsätzlich in Verbindung und laufen nicht Gefahr, in formale Dichotomien zu zerfallen. Die mitteleuropäische Kultur bleibt auf ihrer religiösen Basis, auf der nun auch das moderne Wissen ihren Halt findet und auch die ‚Befreiung der Phantasie in der Kunst‘ möglich ist. Wilhelm Dilthey hat darauf in seiner grundlegenden Einleitung in die Geisteswissenschaften verwiesen (1962: 354). Das metaphysische Sicherheitsbedürfnis steht also in den mitteleuropäisch-katholischen Ländern auch in Zeiten der Krise der Neuzeit nicht wirklich zur Debatte. Es gibt hier keinen Grund, den Glauben gegen das Wissen auszuspielen. Der Wahrheitsbegriff des einfachen Volks, aber auch der Gelehrten Mitteleuropas, fragt nach wirklichen Wahrnehmungen, stellt Hypothesen auf und formuliert Gesetze in der Natur sowie auch in der psychischen Beschaffenheit des Menschen. Diese fragen nach Wirkungen und konkretem Nutzen: Was bringen die neuen (wissenschaftlichen) Erkenntnisse und Wahrheiten, was fordern sie von uns? Der Wahrheitsbegriff wird so ständig überprüft. Es öffnet sich folglich auch nicht so schnell eine trennende Kluft zwischen dem einfachen Volksglauben und dem Glauben der Gelehrten, – obwohl gerade diese sich auch hier deutlicher vom früheren, mittelalterlich-unhinterfragten Glauben absetzen. Abstrakte Widersprüche, wie Materie versus Geist, bleiben hier dem Hausverstand fremd und werden immer wieder als Scheinwidersprüche enttarnt. Selbst die später allgegenwärtige barocke Antithese wird in Mitteleuropa grundsätzlich nicht als ausschließende Widersprüchlichkeit, sondern als komplementär aufgebaute Einheit wahrgenommenen. Die böhmische Reformation ist eine soziale Bewegung. Sie ist gegen die Machtansprüche des abgehobenen Klerus aufgetreten: Man trennt in dieser Bewegung sehr genau zwischen dem Glauben als solchem und dessen Missbräuchen. Man unterscheidet präzise zwischen der Sache und ihren Ausdrucksformen, rhetorisch zwischen res und verba: Nur die Missbräuche, die verba, der Machtmissbrauch insbesondere, werden bekämpft, – nicht aber die res, also der Glaube selbst.

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3 Glauben oder Wissen? Die Kopernikanische Revolution, also der Wandel des Weltbildes im Anschluss an die in der Abhandlung De revolutionibus 1543 kundgetanen Entdeckungen des Nikolaus Kopernikus (1473–1543), erbrachte eine allmähliche Veränderung fundamentaler Auffassungen in der damaligen Leitwissenschaft Astronomie. Der Anlass einer wissenschaftlichen Revolution ist gerade in der abendländischen Kultur von besonderer Bedeutung: Keine der übrigen Weltkulturen ist so deutlich wie sie in Antike und Christentum von wissenschaftlichen Vorstellungen ausgegangen (Kuhn 1981: 3). Der Begriff ,Revolution‘ steht daher für einen grundsätzlichen Wandel von Wertvorstellungen (und repräsentiert diesen). Aus der kritischen Distanz zeigt sich, dass in den Zeiten des Wandels nicht die neu entdeckte Kosmologie im Prozess um Galileo Galilei (1564–1642) auf dem Spiel stand, sondern vielmehr die machtpolitisch bedeutsame Frage nach dem Wahrheitsbegriff. Die Kernfrage in diesem Prozess war demnach nicht die nach einem geozentrischen oder heliozentrischen Weltbild; beides hätte die Kirche verkraften können und das tat und tut sie auch (Feyerabend 1983: 206ff.). Die Berechnungen des Ptolemäus (100–160) waren, – gemessen an den jeweils geltenden Wissensstandards – vor den Untersuchungen von Galilei und Johannes Kepler (1571–1630) immerhin noch genauer als die des Kopernikus. – Die entscheidenden Fragen, die in den Kammern der Mächtigen aller Art für Aufregung sorgten, galten jetzt dem Wahrheitsbegriff und damit dem Wahrheitsanspruch, der aus dem jeweiligen Begriff folgte. Sie stellten sich Fragen der Art: ‚Liegt die Wahrheit nun vielleicht nicht mehr im Wort Gottes, sondern in den Naturphänomenen selbst?‘ ‚Ist das Universum als solches jetzt den exakten Begriffen der mathematischen Erkenntnis zugänglich und durch sie adäquat erfassbar?‘ Der entscheidende Bruch verläuft jetzt zwischen Glauben und Wissen. Die ‚Grundfrage der Neuzeit‘ ist, ob uns die Wahrheit der Natur im Wort Gottes oder in seinem Werk gegeben ist: Zeigt sich die Wahrheit – im ‚Wort Gottes‘, – oder letztlich in der Mathematik und ihrer Formelsprache? (Cassirer 1973: 56f., 1971: 276ff.)

Den Regeln der damals geltenden Wissenschaften gemäß ist im Verfahren gegen Galileo Galilei eindeutig die Kirche im Recht gewesen. Ihre Lehren waren zu dieser Zeit wissenschaftlich wesentlich besser abgestützt als jene des Galilei. Allerdings, „die Behauptung des Copernikanischen Weltsystems wird für Galilei gleichbedeutend mit der Selbstbehauptung der Vernunft“ (Cassirer

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1971: 277). Seine anfangs verrückt erscheinenden Ideen bewirken schließlich eine Änderung des grundlegenden, zuvor unveränderlich und selbstverständlich erschienenen wissenschaftlichen Leitbildes und lösen die Revision der bisherigen wissenschaftlichen Standards aus. Ernst Cassirer hat in seiner Rückschau auf diesen Vorgang (1971) eine deutliche Gegenposition herausgearbeitet. Aber aus mittelalterlicher Sicht hat es sie nicht gegeben: Es hat keinen Widerspruch zwischen dem Wort Gottes und wahrer naturwissenschaftlicher oder mathematischer Erkenntnis gegeben. Cassirer selbst hat darauf hingewiesen, dass hier gar kein echter Widerspruch vorliegt, sondern ein Missverständnis; noch dazu eines, das Galilei zudem leicht hätte vermeiden können. Freilich ist es so, dass die göttliche Offenbarung durch das Wort immer schillernd, mystisch bleibt und mehrere Auslegungsarten zulässt. Sie ist mathematisch nicht zu fassen, und folglich kann sich ein exaktes wissenschaftliches Verständnis damit nicht zufriedengeben. Die Kirchenhierarchie könnte andererseits keinen Wahrheitsbegriff zulassen, der in trockenen Formeln allein ausdrückbar sein sollte. – Solche einander widersprechenden Forderungen belebten die Geisteswelt des Humanismus und der Renaissance, nicht nur in Böhmen und Österreich; denn es gab noch einen lebendigen Pluralismus, und darüber schwebte ein sensus communis, der Glauben und Wissen verband… Aber in diesem Streit geht es bald nicht mehr nur um Erkenntnisfragen, sondern um die damit verbundenen Machtansprüche. Der englische Gelehrte Francis Bacon (1561–1626) vermerkte in seinen Meditationes sacrae von 1597 den Satz „Nam et ipsa scientia potestas est“: Wissenschaft bedeutet Macht (Bacon 1990: 2f., 129). In seinem Novum Organum von 1620 hatte er die Verbindung von Wissen und Macht, wie er sie in den Meditationes angedeutet hatte, mehrfach zu differenzieren versucht und war zur Einsicht vorgedrungen, die Natur ließe sich nur durch Gehorsam ‚besiegen‘, natura non nisi parendo vincitur (Bacon 1990: 80, 270). – Die Natur mit Macht beherrschen – oder sie verstehen, apperzipieren; beides ist im ersten Buch der Genesis angelegt: Das sind die Grenzfälle der Möglichkeiten, die sich dem abendländischen Menschen in der Neuzeit darbieten. Die spätmittelalterliche Aufklärungsbewegung im Sinn von Ockham, Buridan, Wyclif, Hus hat darin keinen Widerspruch gekannt. Die böhmisch-mitteleuropäische Reformbewegung, die deren Geist weiterträgt, erkennt Wahrheit sowohl im Wort Gottes wie auch in der mathematischen Formelsprache. Sie trachtet danach, wie wir bei Bolzano sehen, die christliche Lehre mit der Hilfe von Logik und Mathematik weiterzuentwickeln. Für sie ist konstitutiv, dass sie den Widerspruch zwischen Glauben und Wissen nicht anerkennt und die

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Frage als falsch gestellt betrachtet; aber auch, dass sie den Weg des Verstehens (parendo) dabei geht. In Mitteleuropa stellt sich die Frage nicht: – Die Aufklärung im mehrheitlich protestantisch Nordwesten Europas bewegt sich indessen in Richtung Naturbeherrschung.

Vorläufiges Ende Dass die früh erkannte via moderna im Abendland nicht wirklich eingeschlagen werden kann, dafür haben die kirchlichen Machteliten mit der Ermordung von Jan Hus und vieler anderer sogenannter Häretiker gesorgt. Das Königreich Böhmen kommt 1526 mitsamt seinen Kronländern zu den habsburgischen Erblanden. Ein Jahr nach der Anerkennung der Lutherischen Konfession durch den Augsburger Religionsfrieden 1555 holt Ferdinand I. aus dem Haus Habsburg (1503–1564; seit 1526 König von Böhmen, seit 1558 römischdeutscher Kaiser) die Jesuiten nach Prag, als Beistand im Kampf gegen das unkontrollierbar gewordene religiöse Leben im Land. Aber die Kluft zwischen weltlicher Macht und christlichem Glauben wurde nicht geringer. Im Jahr 1614, als die Prager Stände revoltieren, finden die entscheidenden Ständeversammlungen in der Aula des Carolinums statt. Dabei kommt es zum offenen Bruch mit den Repräsentanten der Staatsmacht. Die damals zu 90 Prozent reformatorischen Stände, denen Kaiser und König Ferdinand II. (1578–1637, seit 1619 römisch-deutscher Kaiser, von 1617–1627 König von Böhmen) Religionsfreiheit zugesichert hatte, werfen aus Protest gegen seinen Widerruf dessen diplomatische Repräsentanten aus dem Fenster. Im Anschluss an den Umsturz werden die Jesuiten vertrieben. Dieser zweite Prager Fenstersturz (Jan Žižka hatte 1419 bereits 13 Ratsherrn aus dem Fenster der hoch aufragenden Prager Burg geworfen) ist bekanntlich der Auslöser des Dreißigjährigen Krieges zwischen der Katholischen Liga und der Protestantischen Union; ein Krieg, der ganz Europa verheert, nicht nur materiell. Die Aufklärungsbewegung der Böhmischen Reformation wird in der entscheidenden Schlacht am Weißen Berg / Bílá hora 1620 von den Regierungstruppen geschlagen. Wie so viele, endet auch der Rektor der Karlsuniversität auf dem Schafott. Nach dem ‚katholischen Triumph‘, wie Peter Demetz den Sieg der Kaiserlichen über die Böhmischen Stände ironisch nennt, wird das bisherige Leben der böhmischen Reformbewegung auf brachiale Art abgewürgt. Das geschieht durch Todesurteile, Vertreibung Andersdenkender, Enteignung, weitgehenden Austausch des einheimischen Adels durch fremdländischen, europäischen. Die wirksamste Waffe gegen die Reformbewegung aber be-

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stand darin, dass die Aufständischen der eigenen Sprache – und das war die tschechische Bildungssprache, in der schon Hus gepredigt hatte – beraubt worden waren: durch systematische Bücherverbrennungen, Zerstörung von Dokumenten, Sprachverfolgung. Mit der alttschechischen wurde eine hochentwickelte, eine führende Sprache des Geistes in Mitteleuropa mundtot gemacht und ihr weiterer Gebrauch auf die einfachen Anwendungen in niederen, abhängigen Schichten zurückgeworfen. Das ging so tief, dass selbst heute noch eine Diglossie zwischen geschriebener und gesprochener Sprache im Tschechischen feststellbar ist, deren Ursprung auf diese gewaltsame Sprachregelung zurückgeht. Die Kehrseite des katholischen Triumphes war ein tiefes kollektives Trauma, das die böhmische Volksseele zeichnen sollte: Es war die traumatische Kollektiverfahrung der Sinnlosigkeit und der Ausweglosigkeit des Streits in Glaubenssachen, von denen man sich mehr und mehr überhaupt abwandte. Das maßlose, eine ganze Generation dauernde, endlos erscheinende Elend des Dreißigjährigen Krieges 1618–1648 hat die Menschen in Europa in jeder Hinsicht zurückgeworfen. In kriegerischen Zeiten weichen grundsätzlich bereits erreichte mentale und ethische Zivilisationsstandards der Gewalt, mit der sie unverträglich sind, und der Gemeinsinn zerfällt wieder. Ein Krieg innerhalb einer Religion, die den ewigen Frieden verkündet, ist ein Widerspruch in sich; ein Glaubenskrieg eine Unmöglichkeit, ein Oxymoron; der Krieg an sich ist eine Folge des Unglaubens. Franz Werfel greift 1914 auf Euripides zurück, um Wahres über den Krieg zur Sprache zu bringen: Immer ist der Besiegte der Sieger – Alle Kriege […] werden für die Mächtigen um ihres Reichtums willen geführt – ‚Der Kreuzestod ist die ewige Kriegserklärung gegen den Staat.‘ (Werfel 1959: 383; 393–395)

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Die gegenreformatorische Neuordnung Böhmens unter Kaiser Ferdinand II. sah die allgemeine Rückkehr zur katholischen Religion vor. Das Volk wurde, notfalls zwangsweise, rekatholisiert. Das prägte die folgende Zeit, die später oft als eine Epoche der Dunkelheit, temno, aufgerufen wird. Die gewaltsame Rückführung zum katholischen Glauben erwirkte tatsächlich eine statistische Umkehrung der formalen Glaubensverhältnisse im Land. Diese wurde durch zahlreiche Klostergründungen befördert. Verschiedene Orden wurden jetzt neben den Jesuiten in Wissenschaft und Bildung tätig, besonders Benediktiner und Piaristen; Kapuziner wie Valerian Magni (1586–1661), Prämonstratenser wie Hieronymus Hirnhaim (1637–1679), zunehmend auch Freimaurer wie der kunstsinnige Graf Franz Anton Sporck (1662–1738) – sie alle arbeiteten dabei vorsichtig am Überleben des Geistes im Land. Im böhmischen Reformkatholizismus fanden die aufgeklärten Denker wieder zusammen (Winter 1943: 1–15; Cerman 2016: 219–222).

1 Tauwetter Die im Westen Europas auftretende neue Art naturwissenschaftlichen Denkens war im Habsburgerreich von niederländischen Denkern und Naturforschern streng methodisch durchgearbeitet worden. Den Zug zur exakten Erfassung der Tatsachen trieben Forscher wie Christiaan Huygens (1629–1695) oder Willem Jacob s’Gravesande (1688–1743) im habsburgischen Leiden voran. Von den österreichischen Niederlanden gingen auch kirchliche Reformbestrebungen des Jansenismus auf Mitteleuropa über (Winter 1943, 33ff). Kaiser Karl VI. (1685–1740; seit 1711 des HRR und als Karl II. König von Böhmen) hatte in Pius Nikolaus Garelli (1675–1739) einen jansenistisch denkenden Leibarzt. Gerard van Swieten (1700–1772), der Leibarzt seiner Tochter Maria Theresia (1717–1780, ab 1743 Königin von Böhmen und ab 1745 de facto Regentin des Reiches) brachte den Funken jansenistischen Reformgeistes von Leiden nach Wien und wirkte dann über die Reform des Erziehungswesens entscheidend auf das ganze Reich. Der Einfluss des Jansenismus auf Böhmen

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beschränkte sich allerdings auf einige seiner Thesen, wie die Läuterung der Religionspraxis, die Rückführung des Christentums auf seine karitativen Anliegen oder die Konzentration der Religionspraxis auf urchristliche Formen (Winter 1943: 13f.; Schamschula 1979: 547f.). Als eine Maßregel gegen die ständischen Revolten vereinigte Ferdinand III. (1608–1657, seit 1627 König von Böhmen, seit 1637 Römisch-deutscher Kaiser), den alten Unruheherd Carolinum mit dem Clementinum, das 1616 zur Katholischen Universität erhoben worden war, und stellte die vereinigte Universität 1654 unter dem neuen Namen Karl-Ferdinands-Universität (seit 1654) unter jesuitische Führung. Bei der nationalistischen Trennung in eine deutschsprachige und eine tschechischsprachige Universität im Jahr 1882 behielt die deutschsprachige (1882–1939) diesen Namen, während die tschechischsprachige wieder den alten Namen Karls-Universität, Univerzita Karlova, annahm, den sie heute trägt. Das Clementinum, wie wir es heute noch sehen, am rechten Moldauufer an der Karlsbrücke, wurde zwischen 1653 und 1726 aufgebaut: Ein mächtiger Barockbau mit charakteristisch aufragender Sternwarte, dem Mittelpunkt naturwissenschaftlicher Gelehrtheit alten Stils und mit eindrucksvollen Sakralbauten; darin große Lehrsäle, eine mächtige Bibliothek. Gedacht war das Ganze ursprünglich als Gegenpol zum reformfreundlichen, utraquistischen Carolinum in der Stadtmitte Prags am Großen Ring. Die Böhmischen Brüder waren im Dreißigjährigen Krieg fast vollständig aufgerieben worden. Der letzte Senior der Brüderunität in Böhmen und Mähren war Jan Komenský (Johann Amos Comenius, 1592–1670) gewesen. Dieser war vor allem als Lehrer beeindruckend, denn sein Prinzip war völlig neu: das Lernen aus eigenem Antrieb. Die Art von Bildung, die er vorschlug, war angewandt-praktisch, gewaltfrei, respektvoll der Persönlichkeit des Lernenden gegenüber, dabei gegenständlich-nominalistisch und universalistisch: Sein Grundsatz war, alles ‚mit Rücksicht auf das Ganze‘ zu lehren. In der Bildung der heranwachsenden Menschen zur Weisheit sah Jan Komenský, wie schon Petr Chelčický am Beginn der Bewegung, den rechten Weg der Bildung für die Menschheit, der zugleich ein Weg zu einer immer genauer erkennbaren und begriffenen (göttlichen) Ordnung war. So hatte Comenius das Gedankengut der böhmischen Reformation in einen über die Zeiten weisenden Zukunftsentwurf noch einmal zusammengefasst, neugestaltet und im Volk weiterverbreitet. Die Saat der böhmischen Reformation war trotz Kriegen und Niederlagen nicht aus der Welt geschafft worden. Ein versprengter Rest der Brüderunität fand Aufnahme im Exil bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760), – aus altem niederösterrei-

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chischen Herrenstandsgeschlecht stammend, welches Österreich seines evangelischen Glaubens wegen verlassen musste, – der ihnen 1722 auf seinem Gut in der Oberlausitz Aufnahme gewährte. Als Erneuerte Brüderunität der Herrnhuter trugen sie ihr reformistisches Gedankengut weiter. – Auch Johann Wolfgang von Goethe (1748–1830) war angezogen von der Brüdergemeinde, von der ‚Magie des Anfangs‘ wie zu Zeiten der Apostel, und davon, dass diese Brüder eben jenen ersten Zustand fortzusetzen, ja zu verewigen schienen. [Die Brüdergemeinde] knüpfte ihren Ursprung an die frühesten Zeiten an, sie war niemals fertig geworden, sie hatte sich nur in unbemerkten Ranken durch die rohe Welt durchgewunden […] Der wichtigste Punct hierbei war der, daß man die religiöse und bürgerliche Verfassung unzertrennlich in Eins zusammenschlang,

so Goethe in Dichtung und Wahrheit (HA 10, 42f.) über die anhaltende und spürbare Magie der Brüdergemeinde. Einzig die gemäßigten Utraqisten hatten, als eine aus den Reformern hervorgegangene Glaubensgruppe, in Böhmen bleiben dürfen. Sie hatten sich allerdings bedingungslos unterzuordnen. Sie, deren Wortführer einst Jan Hus gewesen war, pflegten aber nicht Kriecherei und Selbstverleugnung, sondern hielten beharrlich an ihren Grundsätzen von Toleranz, Universalismus, Friedfertigkeit, Bescheidenheit und egalitärer Gesinnung fest. Sie traten für die Kommunion in beiderlei Formen, sub utraque specie, ein: Brot und Wein (im Kelch, calix), auch für die Laien (Demetz 1998: 93; David 2010: Kap 2). Dieser Gestus mag uns heute unbedeutend erscheinen; damals war er heftig umstritten. Er signalisierte jedenfalls sehr deutlich die ungebrochene Nähe zum Volk. Die Utraquisten hatten einen Mittelweg zwischen Protestantismus und Römischer Kirche, Wittenberg und Rom eingeschlagen und verfolgten unbeirrt ihr konsequent egalitäres, friedfertiges und universalistisch angelegtes Bildungskonzept. Die Kulturkatastrophe des Dreißigjährigen Krieges hatte den Menschen den Glauben nicht austreiben können. Während die Utraquisten ihr bescheidenes Reformwerk im Untergrund weiterführten und den Glauben der einfachen Leute zupackend und wirksam unterstützen, wurde das Land von oben herab rekatholisiert. Die Societas Jesu reformierte das Bildungssystem jetzt vor allem durch konsequente Rationalität. Das Besondere daran war, dass jesuitische Gelehrsamkeit die ratio auch in Glaubenssachen geltend machte. Mit ihrer Studienordnung ratio atque institutio studiorum schuf die Societas Jesu eine besonders tragfähige Bildungsgrundlage für die Habsburgermonarchie. Nach langjährigen Vorarbeiten war diese im Jahr 1599 endgültig approbiert worden und galt weiterhin

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nicht nur für die Gymnasien der Gesellschaft Jesu, sondern eines Großteils der katholischen Welt überhaupt. Die zugrundeliegende Ausrichtung war etwa so zu verstehen: Gott, der Schöpfer der Welt, hat auch die Vernunft geschaffen. Diese ist es, die dem Menschen über die reine Erfahrung hinaus, auch in Logik und Mathematik, den Zugang zu den Naturerscheinungen und zu den ihnen zugrundeliegenden Gesetzen verschaffen kann (Zrenner 1995: 765). [Ich greife hier auch auf den Erfahrungsbericht meines Kollegen Alexander Hieke (Schulzeit im Jesuitengymnasium Linz) zurück.] Die Vernunft kann, so verstanden, dem Glauben gar nicht entgegengesetzt sein, die Gesetze der Vernunft stimmen mit jenen der Schöpfung überein, so die Annahme. – Ganz anders der französische Aufklärer Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789); er nannte die Religion einmal die „geborene Feindin der Erfahrung“. – Die Religion, als vernünftiger consensus aller Gläubigen verstanden, kann in diesem Verständnis gar nicht als ‚Feindin der Erfahrung‘ auftreten, denn dieser Konsens baut auf dem festen Boden eingesehener, überprüfbarer Erkenntnisse. Die Aufklärer in Mitteleuropa fallen nicht in die Tiefen dieses Scheinwiderspruchs, in die sich rein rationale Aufklärer jetzt abseilen. Die katholische Aufklärung, die sich in ganz Europa und darüber hinaus regte (Lehner 2016), verband sich jetzt mit dem im Lande lebendig gebliebenen nominalistischen Grundkonsens zu einer tragfähigen geistigen Basis für eine wirksame Aufklärung. Das jesuitische Bildungsprogramm war fest in den Naturwissenschaften verankert und dadurch gegen ein abstraktes Abheben gesichert. Die gewissenhafte Art, wie das in jesuitischer Erziehung ausgeführt wurde, fand nun, unerwarteter Weise, den Weg zu den im Land bereits bestehenden Glaubensformen. Am Beginn der zweiten Aufklärungswelle in Böhmen standen jetzt also eher paradox anmutende Umstände: (1) Die Jesuiten, ursprünglich zur Hilfe gegen die Reformatoren herbeigerufen, erwiesen der mitteleuropäischen Aufklärung vor allem durch ihre strenge Rationalität, mit der sie Glauben und Wissen verbanden, gute Dienste (2) Die Glaubensauffassung der gemäßigten Utraquisten verband sich mit der Forderung nach einer Rückkehr zu früheren, einfachen Glaubensformen der im Habsburgerreich üblichen gemäßigten Form des Jansenismus. Diese Art der Zusammenarbeit von an sich verfeindeten Jansenisten und Jesuiten ist einmalig. (3) Auch wenn die Zurückführung zum katholischen Glauben zunächst nicht freiwillig geschah: Sie bewahrte die Reformation vor Gruppen-

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und Kleingeist und garantierte für das wesentliche Kriterium der Universalität im Glauben. Die mitteleuropäische Bildungstradition hatte sich mit jesuitischer Grundlagenarbeit auf der via moderna verbunden. So hatte sich die böhmische Tradition mit den vermeintlichen Siegern der Katholischen Liga zu einer neuen, starken Aufklärungsbewegung in Mitteleuropa verwandelt. In den deutschen Ländern außerhalb des Habsburgerreiches, einem bunten Haufen von Kleinstaaten, war eine großangelegte Geisteskultur zunächst nicht erkennbar. Das Volk war nach dem Dreißigjährigen Krieg zumeist verarmt; ganze Landschaften lagen verwüstet und entvölkert da. Im Norden hatte sich der Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg (1657–1713) in Königsberg im Jahre 1701 selbst zum ‚König in Preußen‘ gekrönt (mit Erlaubnis des habsburgischen Kaisers Leopold I. (1640–1705; seit 1658 Römisch-deutscher Kaiser, seit 1656 König von Böhmen). Die verstreuten Besitzungen Brandenburg-Preußens wurden unter dem neuen König Friedrich, jetzt I., vereinigt. Unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm I (1688–1740; ab 1713 König in Preußen und Markgraf zu Brandenburg) wurde das Land durch zielbewusste merkantilistische Wirtschaftspolitik zunehmend reich und durch konsequente Militarisierung auch (kriegs-)mächtig. Mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) erschien dann eine einzelne, aufragende Geistesgröße in Deutschland. Im Jahr 1700 gelang es ihm, den selbstgekrönten Kurfürsten Friedrich III., zur Gründung der Churfürstlich Brandenburgischen Societät der Wissenschaften in Berlin zu bewegen. Die neue Berliner Akademie entwickelte sich in der Folge unter Friedrich Wilhelm I. und seinem Nachfolger Friedrich II. mit Beinamen ‚der Große‘ (1712–1786; ab 1740 König in, nach 1772 von Preußen) und unter dem geistigen Einfluss der französischen Aufklärer zu einer erfolgreichen Akademie nach französischem Muster. Nehmen wir die Gründung von nationalen Akademien einmal grob als Maßstab der Aufklärungsbemühungen, dann sprechen die Gründungsdaten von England mit der Royal Society (1660) und Frankreich mit seiner Académie des Sciences (1666), wie auch der Berliner Societät (1700) – gegenüber Wien (1847) – eine deutliche Sprache. Um Stabilität in Europa zu garantieren, hielt Leibniz die Privilegien des Erzhauses Österreich für unabdingbar (Leibniz 1670: 41–47). Er fand es sicherheitspolitisch für wichtig, dass die Kaiserwürde auch weiterhin bei Österreich bleibe „die Österreicher sind ein Bollwerk Deutschlands“ (Leibniz 1670a: 48–49). Seine Anregung, in der Kaiserstadt Wien eine nationale Akademie deutscher Sprache einzurichten, blieb bei Kaiser Karl VI. unerhört: Der Kaiser war ein gesamtabendländischer Fürst; sein Reich bestand aus vielen Völkern

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mit zahlreichen Sprachen. Die deutsche Sprachgruppe war nur eine, und nicht die größte, in seinem Reich. Eine nationale Akademie in deutscher Sprache war im katholischen Südosten des deutschen Sprachraums kein Thema. In der unsicheren Zeit des Österreichischen Erbfolgekrieges (1740–48), nach dem Tod Karls VI. und seiner umstrittenen Nachfolge durch eine weibliche Thronerbin, hatte Friedrich II. von Preußen die augenblickliche Schwäche des Hauses Habsburg zielsicher ausgenutzt: Der König des aufstrebenden preußischen Staates griff mit einigen ebenso begehrlichen Verbündeten die alte Habsburgermonarchie an. Friedrich II. war ein, wie gesagt wird, aufgeklärter Herrscher, er schuf die Folter ab und es hieß, er ließe jeden ‚nach seiner Art selig werden‘. Schon ein halbes Jahr nach Amtsantritt brach er den ersten Schlesischen Krieg und die Erbfolgekriege vom Zaum. Er war ein Machtmensch und suchte seinen Machtbereich mit dem Schwert zu erweitern. Dabei scheute er vor eindeutigen Vertragsbrüchen und hohem Blutzoll nicht zurück. In dem daraus folgenden Krieg (1756–1763) war es Maria Theresia zunächst um die Rückeroberung des verlorenen Kronlandes Schlesien gegangen. In den Schlesischen Kriegen 1740–1763 gelang es dem preußischen König, Österreich wichtigen Besitz zu entreißen: Die Provinz Schlesien (Schläsing, Ślůnsk, Šleska; seit 1335 böhmisches Kronland, seit 1526 bei Habsburg) sowie die Grafschaft Glatz (Grofschoaft Glootz, Hrabství kladské, Hrabstwo Kłodzkie in den Landessprachen). Die mitstreitenden verbündeten Staaten Frankreich und England kämpften aber längst nicht mehr um kleinliche kontinentale Grenzverschiebungen. In Nordamerika, Indien und in der Karibik ging es schon um die zukünftige Aufteilung der Weltherrschaft. Von ein und derselben Sache, dem Siebenjährigen Krieg, sprachen die Preußen jetzt als dem Dritten Schlesischen Krieg, die Franzosen von La guerre de la Conquête, die Briten vom Great War for the Empire in Nordamerika. In der Karibik ging es um die britische Invasion (Ocupación británica) der Philippinen; auf dem indischen Subkontinent kämpfte man den Dritten Karnatischen Krieg, einen Kolonialkrieg, den ,French and Indian War‘ (1754–1763) zwischen Großbritannien und Frankreich. Die Kriegführung brachte waffentechnisch, strategisch, geographisch und politisch eine völlig neue, moderne Dimension, – jene des Weltkrieges. Das Wissen als neue Macht hatte das möglich gemacht; wissenschaftliche Entwicklungen und ihre Anwendungen stellten der abendländischen Welt überlegene technische Waffensysteme bei.

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Militärische Tugenden, anders gesehen Mitten in den unsicheren kriegerischen Zeiten, am 14. Dezember 1751, gründete Maria Theresia in Wiener Neustadt die Theresianische Militärakademie. Bei dieser Gründung war die paradox erscheinende Absicht erkennbar, das Kriegswesen „auf eine höhere Stufe der Zivilisation“ zu heben, als es das bisher war. Zum Leiter der Akademie wurde Leopold Joseph Graf von Daun (1705–1766) bestimmt. Von seiner mütterlichen Herrscherin erhielt er den bündigen Bildungsauftrag für seine Zöglinge: „Mach’ er mir tüchtige Officirs und rechtschaffene Männer darauß!“ (Janaczek 2007) Auf dem Lehrplan standen in Wiener Neustadt keineswegs nur kriegerische Wissenschaften. An Sprachen wurden Französisch, Italienisch und Böhmisch (Tschechisch) gelehrt und natürlich auch Rhetorik. Die Monarchin hatte mit Johann Heinrich Gottlob Justi (1717–1771), einem zum katholischen Glauben übergetretenen thüringischen Kameralisten, Juristen und Ökonomen, eine schillernde Figur als Professor für Beredsamkeit nach Wiener Neustadt berufen. Der rührige Justi, der vielerlei, auch praktische, Wissensbereiche, so etwa die Seidenraupenzucht, betrieben und effizienter gemacht hatte, zeigte in seiner Abhandlung Untersuchung, ob etwan die heutigen Europäischen Völker Lust haben möchten, dereinst Menschen-Fresser oder wenigstens Hottentotten zu werden (1759) unmissverständlich auf, dass die verheerende Art, wie man zu jener Zeit schon Kriege führte, zu einem allgemeinen bedrohlichen Rückgang des Gemeinsinns führen musste. Justi machte das anschaulich an den Schlesischen Kriegen mit gebrochenen Vereinbarungen und Kapitulationsverträgen und anderen blutigen „Verletzungen des Völker-Rechts“. Solches Verhalten führe unweigerlich in barbarische Zustände zurück, so Justi. In dieser österreichischen Sicht Maria Theresias erschien als der eigentliche Gegner der Aufklärung nicht etwa die Religion, – sondern der Krieg. Der war so gesehen eben nicht eine Art ‚Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‘, (wie das der preußische Heeresreformer Carl von Clausewitz (1780–1831) später definierte), sondern das Ende der Politik und die willkürliche Aufkündigung der grundlegenden Regeln zivilisierten Zusammenseins seitens der Mächtigen und auf Kosten des Volkes. – Aufklärung und Krieg sind in diesem Verständnis Maria Theresias letztlich unvereinbar. Der Krieg galt seit jeher nicht als vorrangiges oder erstrebtes Mittel der Auseinandersetzung oder des Machtgewinns der Habsburger. Ihr Weltreich war auch nicht durch kriegerische Expansion, sondern vorwiegend durch Fürstenheirat zustande gekommen. Im Habsburgerreich war Weltherrschaft, seit Kaiser Karl V. (1500–1558) kein Thema mehr.

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Eine herausragende Geistesleistung erbrachte Österreich gerade in diesen Zeiten in der Kameralistik, einer Art buchhalterisch-juridischer Verwaltungskunde, die in der Großtat der Kodifizierung des allgemeinen Zivilrechts, im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, 1811 kundgemacht, gipfeln sollte. Ein aufgeklärtes, liberales staatstragendes Beamtentum stützte sich auf diese juristische Großtat, die eine gewisse Klarheit in die Staatsordnung brachte. Der Kameralist Gottlob Justi hatte in seiner ausführlichen Policey-Wissenschaft (Justi 1760/1761) eine Grundlage zur ‚Glückseeligkeit der Staaten‘ gelegt und weiter gefestigt: Also in der klaren Regelung der Geschäfte der Menschen, und natürlich auch Staaten, untereinander. Das war ein Mittel, das sicherstellen sollte, dass Zwistigkeiten jeglicher Art sich nicht mehr bis zur Bedeutung von ernsten Zerwürfnissen auswachsen und dass sie zwischen den Staaten nicht zu Kriegsanlässen werden konnten. Sie sollten vielmehr bereits in den Ansätzen durch Klärung der unterschiedlichen Positionen vermieden werden. – So seltsam es klingen mag: Die Bestimmung der Theresianischen Militärakademie war letztlich die Verhinderung von Krieg. Wir begreifen den Krieg heute als ein mit der Sesshaftigkeit der Menschheit seit der neolithischen Revolution verbundenes Phänomen. Kriege haben immer mit einem Mehr-Haben-Wollen, mit Besitzerwerb oder Kriegen, wie es der deutsche Wortsinn trägt, zu tun, so schon Thukydides (454–399/396 v. Chr.), der große antike Praktiker und Theoretiker des Krieges. Die Habsburgermonarchie hatte weniger Expansionsdrang als die anderen europäischen Länder, als Preußen etwa. Man hatte genug, nicht einmal Kolonien wurden ernsthaft angestrebt. Gottlob Justi bekam jetzt als Professor Gelegenheit, die große Kunst der Kriegsvermeidung zu vertiefen und Klarheit im Dienste der ‚Glückseeligkeit der Staaten‘ zu schaffen. Dies geschah unter der Leitung von Wilhelm von Haugwitz (1702–1765), einem anderen konvertierten Protestanten, der ursprünglich im österreichischen Schlesien als Verwaltungsbeamter gewirkt hatte und jetzt als Staatsmann große Reformen vorbereitete. Maria Theresia gab den Auftrag dazu. Als der kaiserliche Feldmarschall Daun am 18. Juni 1757, im Siebenjährigen Krieg, in dem sich Preußen und Österreich mit ihren jeweiligen Verbündeten gegenüberstanden, vor Prag einen ruhmvollen Sieg gegen Friedrich II. von Preußen erfochten hatte, stifteten die ‚Mutter des Heeres‘ und ihr Gemahl Kaiser Franz I. (1708–1765, römisch-deutscher Kaiser seit 1745) den wohl bemerkenswertesten Orden der Militärgeschichte: den Militär-Maria-TheresienOrden. Die Grundsätze bei der Prüfung der zu belohnenden Tapferkeit waren eigen; sie verhießen,

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1. dass eine jede kühn ausgeführte That, welche ohne Gefahr der Verantwortung hätte unterlassen werden können, Anspruch auf das Ritterkreuz begründe; wogegen 2. auf das Grosskreuz nur angetragen werden solle, falls bei der mit Tapferkeit ausgeführten That auch ausserordentlich kluges Benehmen an den Tag gelegt worden sei. (Hirtenfeld 1857: 3) Das Eigene ist, dass hier nicht das unbedingte Befolgen der Regel, sondern das kluge, zugleich das Gesamtwohl fördernde – Übertreten oder Abweichen von der Regel als das eigentlich Tapfere, zu Belohnende gesehen wird. Das erscheint unglaublich – und war geradezu das Gegenteil des Ideals preußischer Folgsamkeit; aber andererseits doch ein Fall von militärischer Größe. Das aufgeklärte „Tauwetter“ (Bodi 1965) begann im Habsburgerreich unter der Regentschaft der Tochter Karls VI., zuerst zaghaft, aber doch immer eindeutiger. Eine Stimmung geistiger Offenheit und Freiheit im Sinne einer allgemeinen Aufklärung machte sich in ganz Mitteleuropa breit. In der Donaumonarchie, die Begriffe ,Habsburgerreich‘ und ,Donaumonarchie‘ (Andics) werden hier synonym verwendet, der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, unter der Herrschaft Maria Theresias und dann ihres Sohnes Joseph II. tat sich ein Zeitfenster auf, durch welches das ‚Licht der Aufklärung‘ ins Habsburgerreich eindrang. Das Reich des Karl VI. war nicht nur landschaftlich, sondern auch politisch gesehen ein außerordentlich buntes und vielfältiges Gemisch von Ländern und Besitzungen, das zusammenzuhalten größtes diplomatisches Geschick erforderte (Tapié 1980: 15–38). Es hatte den Namen des österreichischen Herzogtums angenommen und war seit 1438 praktisch ununterbrochen im Besitz der Kaiserkrone des Heiligen Römisches Reiches. Dieses Österreich bestand aus verschiedensten angestammten Ländern wie Vorderösterreich mit der Hauptstadt Freiburg, der urbs fidelissima Triest etc., es verfügte auch über Länder, wie zum Beispiel Ungarn, die nie dem HRR Untertan waren. Man hatte den großen Feind des Abendlandes, die Osmanen, mit vereinten Kräften besiegt (1683) und war so gesehen das Bollwerk des Christentums. Es war ein großes Erbe von Ländern, das, wie sonst in Großfamilien üblich, durch Heiraten und Erbverträge angewachsen war – und eben nicht durch aggressive Kriegführung. Durch völkerrechtliche Verträge war Kaiser Karl VI. ein Anteil am spanischen Erbe zu erkannt worden, darunter die Spanischen Niederlande und die Herzogtümer Mailand, Parma und Piacenza. In der habsburgischen Lombardei wie auch im Großherzogtum Toskana übte Maria Theresia mittels Sekundogenitur und vorbildlich ausgebildeter Beamter ein bis

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heute sprichwörtliches buon governo aus, in dem sich der Geist der Aufklärung ausbreiten konnte. In Böhmen und Österreich kam es dabei zu einer allmählichen Versöhnung mit der Frühaufklärung an den Hohen Schulen von Prag und Wien. Im Herzen Prags entwickelte sich seit dem Wirken von Judah (Rabbi) Löw (1512/25–1609) eine bedeutende jüdische Aufklärungsbewegung. Seit dem Barock war der italienische Kultureinfluss auf das Haus Österreich und den Hochadel beträchtlich (Witetschek 1974: 329f.); besonders unter dem toleranten Papst Benedikt XIV. (1675–1758), der das Gedankengut des cattolicesimo illuminato unterstützte (Winter 1943, 16ff). Lodovico Antonio Muratori (1672–1740), der Gelehrte aus der Emilia Romagna, übte besonders in Oberitalien großen Einfluss auf das religiöse Leben aus. Sein Buch über die als Nächstenliebe verstandene christliche Liebe Della carità cristiana in quanto essa è amore del prossimo, 1723 in Modena zuerst erschienen, war Kaiser Karl VI. gewidmet. Muratori machte stets deutlich, dass die Freiheit des Denkens mit der christlichen Mäßigung, temperantia, einherging und harmonisch mit einem aufgeklärten Staatswesen vereinbar war. Freilich wurde Muratoris Rechtgläubigkeit immer wieder in Frage gestellt. Dieser Verdacht konnte aber stets zurückgewiesen werden, denn in Benedikt XIV. hatte er einen starken Befürworter. Auch im deutschsprachigen Raum war sein Einfluss bedeutend, sodass man ihn zu den geistigen Gründern des aufgeklärten Josephinismus zählen kann. Viele seiner religiösen Schriften erschienen auch in deutscher Sprache. Im Fürsterzbistum Salzburg etwa gab es um 1740 einen bedeutenden Muratori-Kreis an der fortschrittlichen Benediktineruniversität. Auch in der quellenkritischen Geschichtsschreibung brachten Muratoris Schriften wichtige Anregungen, die besonders in den Benediktinerklöstern aufgenommen wurden. Das gereichte jetzt auch der Geschichtsschreibung Böhmens zum Nutzen: Magnoald Ziegelbauer OSB (1689–1750), der über Melk nach Böhmen gekommen war, leistete dazu im Benediktinerkloster Břevnov/Braunau entscheidende historische Aufbauarbeit (Winter 1943: 22f.). Die Jesuiten hatten, aus Feindseligkeit gegen die Regierung Frankreichs und gegenüber protestantischen deutschen Staaten, unter Kaiser Leopold I. und Karl VI. spanischen und italienischen Kultureinfluss so stark gefördert, dass sie Österreich gegenüber dem Hauptstrom westlichen Denkens geradezu abschotteten (Bernard 1971: 5; Zrenner 1995: 765). Die von Leibniz geprägte Bewegung der protestantischen Aufklärung allerdings übte auf den cattolicesimo illuminato in Oberitalien bedeutenden Einfluss aus und ihr Licht gelangte so gebrochen auch in die Monarchie. Jetzt schien alles offen; ein neuer Geist kam auf. Maria Theresia ließ es jetzt auch zu, dass

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auch die frühen reformatorischen Bewegungen Böhmens wiederauflebten (David 2010: 83ff.; 105; 385ff.). Der – nicht konfessionell, sondern ursprünglich: universal-allgemein verstandene – katholische Glaube ging dabei mit dem überlebenden böhmischen Reformismus eine subtile und reformfreudige Verbindung ein. Die böhmischen Utraquisten mit ihrem ursprünglichen friedvollen, egalitären Glauben, der sich von dogmatisch erstarrten Formen weitgehend befreit hatte, gingen auf den einfachen Menschen zu, – ohne die Erinnerung an das geschehene Unrecht und an das auslösende Trauma des verheerenden Zwists innerhalb der christlichen Religion zu lösen. Zdenek David (2010: 18–46) spricht von „Tolerance, Universalism, and Plebeianism as Legacies of the Sixteenth Century.“ Religiöse und andere Schriften in alttschechischer Bildungssprache aus dem 14. und 15. Jahrhundert wurden ausgeforscht und, falls sie nicht zur Gänze vernichtet waren, vervollständigt, neu gedruckt und verbreitet. Die eigene, alttschechische Sprache, die zur Zeit der böhmischen Reformation eine Hochblüte erlebt hatte, musste dabei freilich erst wieder mühsam erlernt und aufgrund der verbliebenen Texte und Fragmente rekonstruiert werden. Auch wenn Jesuiten eher geisteswissenschaftlich ausgerichtet waren, wie Josef Dobrovský (1753–1829), gingen sie dabei streng methodisch und naturwissenschaftlich an die Arbeit. Als Sprachwissenschaftler wusste Dobrovský sehr genau über die Rolle der Alltagssprache beim Wissenserwerb Bescheid. Aus diesem Grund war er maßgeblich an der Wiedergewinnung der alttschechischen Sprachkultur interessiert und tätig bemüht, das Tschechische wieder in den Rang einer Wissenschaftssprache zu heben. So lebte der frühere Reformgeist wieder auf und das Land konnte wieder zu den eigenen geistigen Wurzeln finden. Im Jahr 1774 wurde die Prager Gelehrte Gesellschaft gegründet. Diese entwickelte sich bald zu einem bedeutenden Mittelpunkt der Aufklärung in Böhmen, mit reformkatholischnaturwissenschaftlicher Ausrichtung. Der Reformkatholizismus verband die Rückgewinnung einst erreichter geistiger Standpunkte mit neuen aufgeklärten Gedanken zu einer starken geistigen und zugleich spirituellen Bewegung. Aufklärung und Religion waren im Mitteleuropa des 18. Jahrhunderts beileibe kein Gegensatz: Der Volksglaube blieb lebendig, sinnlich allgegenwärtig in spirituellen, rituellen Formen und Gebräuchen. Das scholastisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Bildungssystem Österreichs, das die ganze Barockzeit über den Ton angab, ging davon aus, dass die Klarheit der Konzepte zuletzt im nichtsprachlichen Bereich der Logik begründet war. Dieser Bereich war den Gelehrten in den objektiven Strukturen und Grundlagen von Logik und Mathematik zugänglich. Die Jesuiten deckten alle Bereiche des zeitgemäßen Wissens ab und blieben dabei tiefreligiöse Männer. Die naturwissen-

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schaftlichen Studien am Prager Jesuitenkolleg Clementinum waren besonders durch den Astronomen Joseph Stepling (1716–1778) gefördert worden. Er lehrte neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, von Newtons Physik bis zu Leonhard Eulers (1707–1783) aktuellen Beiträgen zur Analysis. Die Reformkatholiken wichen bei ihren Neuerungen freilich in vielen Punkten vom orthodoxen Katholizismus ab. Das Gebot der Liebe war ihr erstes und wichtigstes. Es rückte die alttestamentliche Vorstellung von einem zornigen Gott der Vergeltung und der Rache aus ihrer Mitte deutlich an den unbeachteten Rand der religiösen Vorstellungen. Auch die für Aufklärer andernorts so anstößige Grundfrage der Theodizee, – die Frage der Rechtfertigung der von Gott zugelassenen Übel in der Welt – stellte sich hier weniger dringlich: Fragen wie jene nach dem Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen oder nach dem unbedingten Erdulden göttlicher Anordnungen stellten sich umso weniger, als nun die Aufklärer selbst die Umgestaltung der Lebensumstände unternahmen und tätig wurden. „Dogmatik“ bedeutete den böhmischen Reformkatholiken nichts in Stein Gemeißeltes mehr, sondern nichts anderes als die „Unterweisung zur Glückseligkeit nach der Lehre Jesu“, so der Reformer Franz Stefan Rautenstrauch (1734–1785), der dieses Bestreben ganz selbstverständlich mit der „guten Sache der Menschheit“ gleichsetzte (Winter 1969: 12–15). Die aufgeklärte Kirche in den Habsburgerländern verstand es nun selbst als ihre Aufgabe, den Aberglauben zu bekämpfen. Joseph II. sah dies als eine gemeinsame Aufgabe von aufgeklärtem Staat und katholischer Kirche. Die Reformbewegung in Böhmen bedurfte freilich nicht der Anregung aus der Reichshauptstadt Wien: Von dort drang zentral geleiteter aufklärerischer Einfluss auf dem Verordnungsweg in die Provinzen. Mehr noch färbte in Böhmen das benachbarte Leipzig auf Prag ab als Wien: Es war nicht unbedingt der aus Mähren stammende Wiener Aufklärer Joseph von Sonnenfels (1733–1817), der die Geister in Prag bewegte; mehr Einfluss als dieser übte der aufgeklärte deutsche Schriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700– 1766) aus. Und doch war es nicht so, dass seine protestantisch-aufgeklärte Glaubensauffassung in Böhmen entscheidend fußgefasst hätte. Die Kirche war in Böhmen und den anderen Kronländern, wie etwa Kroatien (Adam Balthazar Krčelić 1715–1778), auffallend fortschrittlich, reformfreudig und zugleich loyal. In den Klöstern Mitteleuropas, vor allem in denen der Benediktiner, entwickelte sich im 18. Jahrhundert aufgeklärtes Denken, individuell und in Gemeinschaften, in neuen Kommunikationsstrukturen. Ein starker Glaube an individuelle Freiheit, Toleranz, Menschenrechte und Gewaltfreiheit prägte vielerorts das Klosterleben, – durchaus mit der Absicht,

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von den Klöstern aus die Gesellschaft aufzuklären und zu modernisieren (Beales 2008; Lehner 2011: 2). Die entscheidende grundlegende Maßnahme der Aufklärung im Habsburgerreich galt der Bildung des Volkes; Volksbildung war ihr Medium und ihr weiterer Antrieb. Die Einführung der Unterrichtspflicht in der Allgemeinen Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt und Trivialschulen in sämmtlichen Kayserlichen Königlichen Erbländern, unterzeichnet am 6. Dezember 1774, war die Grundlage einer aus dem übrigen Europa herausragenden Bildungsmaßnahme in den Habsburgerländern. Schulreform und Staatsreform gingen im absolutistischen Österreich Hand in Hand, und im Schulwesen war die Geistlichkeit federführend: „Die Religion galt als wichtigstes Mittel der moralischen und staatsbürgerlichen Erziehung“ im aufgeklärten Absolutismus des katholischen Österreich (Brezinka 2000: 29). In Böhmen knüpfte man jetzt an das, was Petr Chelčický und Jan Komenskýs schon systematisch betrieben hatten. Viele Lehrer wichen nun ab von gelehrter „Schulmeisterei“. Ferdinand Kindermann (1740–1801) etwa experimentierte in der k[aiserlich] k[öniglichen] Prager Normalschule mit neuen Methoden, die dem Unterricht „das Trockene benehmen“ sollten (Weiss 1906: 54–66). Den Alltag im Normalunterricht in den Schulen der Habsburger Monarchie hatte bis zu Zeiten Maria Theresias noch weitgehend die Methode bestimmt, Kindern das zu Lernende in Tabellen vorzuführen und sie dies dann im Chor nachsagen zu lassen. Es war jetzt Konsens, von diesen mechanischen Lern- und Lehrmethoden jetzt endlich loszukommen. Gerard van Swieten veranlasste die längst fällige Reform des Unterrichtswesens in Österreich auf Geheiß Maria Theresias zwischen 1749 und 1760. Das niedere Schulwesen überantwortete sie dem Klerus. Daraus folgte eine enge Beziehung der Geistlichkeit zur Schule. Bildung war zuerst Verstandessache, und das blieb so während der ganzen Reformepoche: Der ratio gemäß hatte der Schüler zuerst in der Sprachlehre grundsätzlich die Fertigkeit erworben, seine Gedanken grammatikalisch richtig auszudrücken, oder seine Begriffe durch Wörter zu bezeichnen. Nun solle er lernen, seine Begriffe genau zu bestimmen, sie zu vergleichen, und Schlüsse daraus zu ziehen […]. In der Mathematik hat er gelernt, die Verhältnisse der Zahlen und Grössen nach dem Äußerlichen anzugeben. Nun solle er lernen, wie und woher diese Verhältnisse entstehen, wie sie auf verschiedene Gegenstände angewandt werden, und den Nutzen der Anwendung auch selbst prüfen. (Referat Rautenstrauchs vor der Studienhofkommission am 12. Oktober 1783; zit. n. Wangermann 1978: 38)

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Die Reformen im mitteleuropäischen Bildungswesen hatten tiefgreifende Veränderungen in den Universitäten des Reichs mit sich gebracht. Die philosophischen Fakultäten waren in besonderem Maße davon betroffen. Die erste Theresianische Studienreform von 1752 hatte auch die Entscheidung zur Rezeption des Leibniz-Wolffschen Systems gefällt (Cerman 2016: 220f.) und damit die Herrschaft der Barockscholastik gebrochen. Joseph Stepling hatte als erster Studiendirektor an der aufgeklärten Umgestaltung der Prager philosophischen Fakultät gearbeitet. Franz Stefan Rautenstrauch legte jetzt größten Wert auf möglichst gründliche Vorbildung der künftigen Volksbildner, um das Wissen auch in ganzer Breite unter das Volk zu bringen. In seinem Vortrag vor der Studienhofkommission 1783 führte er aus, natürliche Theologie und philosophische Moral sollten die Grundlage bilden, Physik und Mathematik würden folgen: Durch die der Mathematik eigene Beweisart wird [der künftige Volkslehrer] zu wichtigen und genauen Schlüssen angewöhnet und sie ist unzertrennlich mit ihrer Gefährtin, der Physik, verbunden. (Rautenstrauch; zit. n. Wangermann 1978: 37)

Was für den Elementarunterricht gelten sollte, das musste grundsätzlich auch für das dreijährige obligate Philosophiestudium gelten. Dieses Philosophicum, die Weiterführung der mittelalterlichen Artistenfakultät, hatten alle Studierenden an den österreichischen Universitäten, unabhängig von ihrer späteren Spezialisierung als Theologen, Mediziner oder Juristen, zu besuchen. Es war bis zu den Theresianischen Bildungsreformen zweijährig angelegt, dann dreijährig. Im österreichischen Schulsystem hielt sich diese auf den septem artes liberales ruhende Einrichtung und der mittelalterliche Bildungskanon auf scholastischer Basis besonders lange. Die in der ratio naturwissenschaftlich angelegte Rationalität wirkte auch nach dem Verbot des Jesuitenordens von 1773 weiter und gab auch Jahrzehnte danach in den Schulen noch den Ton an. – Der Kampf gegen die Macht der Jesuiten wurde vor allem seitens der katholischen und vorwiegend bourbonischen Herrscher Portugals, Neapels, Spaniens und Frankreichs geführt und setzte bei Papst Clemens XIV. die Aufhebung des Jesuitenordens durch. Den Jesuiten wurde Aufstachelung zu Aufständen und Aufklärung vorgeworfen. Maria Theresia bedauerte das, befolgte aber das Auflösungsbreve Dominus ac Redemptor vom 21. Juli 1773; nicht durchgängig aber die Zusatzverordnung, die den Jesuiten auch den Unterricht verbot: sie wurden in den Gymnasialklassen sowie in den Fächern Mathematik und Physik weiterhin verwendet, nicht aber an den Lehrstühlen für Philosophie und Theologie (Pastor 1932: 250ff.). [Der protestantische König Friedrich II. von Preußen fühlte sich nicht an das Verbot gebunden und hielt sich auch nicht daran. 1814 wurde es unter Papst Pius VII. wieder rückgängig gemacht].

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Österreichische Staatsdiener gingen jedenfalls weiterhin (im Sinne der ratio) davon aus, dass der Staat durch gründliche Studien von Logik und Mathematik praktischen Nutzen für das Volk beabsichtige: Es ist nicht unbekannt, daß die Mathematik nebst dem ausgebreiteten Nutzen, den ihre Anwendung auf das praktische Leben gewähret, auch noch einen zweyten kaum geringern, obgleich nicht so in die Sinne fallenden Nutzen durch Übung und Schärfung des Verstandes, durch die wohlthätige Beförderung einer gründlichen Denkart liefern könne[.] (Bolzano 1804, Vorrede)

Die besondere Bedeutung einer logisch-mathematisch klaren Begrifflichkeit für jede Art aufbauender Bildung war Konsens in der aufgeklärten Bildung im Habsburgerreich. Ihre Vordenker behielten die logisch-mathematischen Grundlagen stets bewusst im Auge. So ließ sich solides Bildungswissen aufbauen. Besonders der von Gottfried van Swieten (1733–1803) eingesetzte Joseph Anton Gall (1748–1807) setzte sich mit neuen, kreativeren Unterrichtsmethoden auseinander. Die Studienhofkommission ließ neue Schulbücher, unter anderem auch eine Adaption von Joachim Heinrich Campes (1746–1818) Sittenbüchlein drucken (Wangermann 1978: 62ff.). Auch andere wichtige pädagogische Impulse kamen zu dieser Zeit aus der protestantisch-aufgeklärten, philanthropischen Pädagogik um Johann Bernhard Basedow (1724–1790), Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) und Campe. Gottfried van Swieten trug Sorge dafür, dass im Elementarunterricht „die erste Hand an die Bildung von Herz und Verstand gelegt wurde“ und dass dieser auch „hauptsächlich anschauend“, also in anschaulichen Übungen vor sich gehe. Der Ausgleich von Herzens- und Verstandesbildung wurde angestrebt. „Herz und Verstand“ sollten durch Bildung zu einer Einheit werden.

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2 Formen des Wissens Der deutsche Philosoph Max Scheler (1874–1928) hat den Prozess der Bildung des Geistes und der Wissensformen untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen: ,Bildung‘ versteht man zu dieser Zeit (frühes 20. Jahrhundert) gemeinhin bereits als ,Ausbildung zu etwas‘: Scheler unterscheidet zwischen der ,Materie‘ und der ,Kraft‘ des Wissens und differenziert zwischen (1) Herrschafts- oder Leistungswissen, (2) Bildungswissen und (3) Erlösungs- oder Heilswissen (Scheler 1976: 103–119). Im Habsburgerreich ist die Kirche nominell Trägerin des Bildungswissens. Ihrer Bestimmung gemäß sorgt sie zumindest offiziell für Heilswissen. In der umfassenden Bildungspolitik der mitteleuropäischen Aufklärungsbewegung geht es zumindest nicht primär um Herrschaftswissen, also ein Wissen, das den Herrschaften vorbehalten bleiben soll und das zur Herrschaft über die Natur und Welt dient, sondern mehr um die Gesamtpersönlichkeit prägende Kenntnisse von der Welt und ihren Zusammenhängen: um Bildungswissen, das in Richtung Heilswissen geht. Maria Theresia hatte mit ihren jansenistischen Reformern aber auch dafür gesorgt, dass die Erziehung sich vom höfischen Ideal hin bürgerlichen Vorstellungen des citoyen, wandelte. ,Nationalerziehung‘ im Sinn des Jesuitengegners Louis-René de Caradeuc de La Chalotais (1701–1785), nach dessen Essai sur l’education nationale von 1763 (Versuch über den Kinder-Unterricht 1771), war Gerard van Swietens Erziehungsrichtlinie: Eine republikanische, ethische Staatsgesinnung, die früheres Standesdenken ersetzen und die Entmachtung der Stände vorantreiben sollte. Schon während der Regierungszeit der Monarchin begann der Versuch, die österreichischen Erblande in Richtung einer absolutistisch regierten Monarchie umzubauen. Ihr Sohn Joseph II. (1765–1790 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, 1780-90 böhmischer König) trieb ihn entschieden weiter (Wandruszka 1963: 12). Zwischen dem Habsburgerreich und einer echten absolutistischen Monarchie lagen aber Welten. Der französische Historiker Victor Lucien Tapié führt aus: In Frankreich war alles klar: Der König war das Gesetz. Hingegen in der Habsburgermonarchie „war der Empirismus Trumpf und störte überhaupt keinen Menschen, denn dieses scheinbare Durcheinander hielt sich im Gleichgewicht und ermangelte nicht einer gewissen inneren Ausgeglichenheit“. Es gab eine bunte Mannigfaltigkeit der Länder des Hauses Österreich und eine Vielfalt der Institutionen.

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Erster Teil Zu sagen ,Österreich‘, wie die Neigung im Westen immer noch besteht, hieß, allzusehr an die Dynastie denken, und die Tatsache jener Konföderation von Königreichen und Herzogtümern vernebeln. (Tapié 1980: 22f.)

Österreich funktionierte also ganz anders, und zwar wesentlich komplizierter als das in absoluten Monarchien der Fall war. Das war bei Maria Theresia so, und es sollte sich bis zum Ende des Vielvölkermonarchie nicht grundsätzlich ändern. Bildung und Staat gehörte in der Blüte der Aufklärung im Habsburgerreich eng zusammen. Joseph II. tendierte, mehr und anders als seine Mutter, zu autoritärer Führung und mithin zum Ersatz des Glaubens durch Disziplin. Als Aufgabe des Staates sah er es aber weiterhin, gut fundierte Bildung zu ermöglichen. Hervorragend gebildete Menschen sollten dem Staat dann Nutzen erweisen. Staat und Kirche banden die Wissenschaften und Künste im Sinne des Gemeinwohls und sorgten für deren Verbreitung in der Volksund Gelehrtenbildung. Das Gemeinwohl war in der frühmodernen Geisteswelt des Abendlandes eine durchaus bedeutende Größe. Gottfried Wilhelm Leibniz beginnt seine Ausführungen Über die öffentliche Glückseligkeit mit dem Satz: „Was von öffentlichem Nutzen ist, muß getan werden.“ (Leibniz 1677/78: 134) Das Gemeinwohl war so gesehen keine ideale Vorstellung, sondern eine sehr konkrete Sache, und das war es auch noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert: Es war messbar am tatsächlichen, sozialen Wohlergehen der einzelnen Staatsbürger und ihrer Gesamtheit. ,Nutzen‘ als Steigerung des Gemeinwohls verstanden, aus dem antik-römischen Konzept der utilitas weiterentwickelt, war das Ziel der Bildung auch jetzt, im absolutistischen Josephinismus. Joseph von Sonnenfels’ programmatischer Aufsatz Ueber die Liebe des Vaterlandes und Carl Heirich Seibts Rede Von dem Einflusse der Erziehung auf die Glückseligkeit des Staats, beide aus dem Jahr 1771, klärten die Rahmenbedingungen und versuchten, die Besserung von Herz und Verstand und das ungemindert geltende Glückseligkeitspostulat mit neuen pädagogischen Methoden zu erfüllen (Sonnenfels 1771; Seibt 1771). Dieser Bildungsschub war eine besondere Kulturleistung in der mitteleuropäischen Aufklärung: Der Staat zeichnete verantwortlich für das zunehmende Wohlergehen seiner Bürger. Die Vertreter des Staates sollten das Gemeinwohl vorantreiben und damit die Summe des Guten, die ‚Glückseligkeit aller Staatsbürger‘, erhöhen, da, so hieß es in den Grundsätzen für jeden Diener des Staates vom 13. Dezember 1783, „das Gute nur eines sein kann, nämlich jenes, so das Allgemeine und die größte Zahl betrifft (Walter 1950: 27) Eine tatsächliche Aufwertung des Staates, die Grundlage eines echten, nicht bloß äußerlich-pathetischen Patriotismus be-

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ruhte auf Dankbarkeit für die durch das Staatswesen geleisteten und von ihm empfangenen Dienste jedes Einzelnen. Johann Heinrich Gottlob von Justi hatte die „Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten“ in der präzisen Regelung ihrer Geschäfte gesehen und dazu eine ausführliche PoliceyWissenschaft dazu vorgelegt. Politik verstand er als solche innerliche Verfaßungen des Staats, wodurch die Wohlfahrth der einzelnen Familien mit dem allgemeinen Besten in Verbindung und Zusammenhang gesetzt wird […] die Anstalten wider allerley Gefahren und Unglücksfälle insonderheit die Reinlichkeit und Zierlichkeit der Städte … (Justi 1760: 6f.)

Er fasste also die ,Polizei‘ (als Staatsverwaltung, aber auch in der Bedeutung von säubern, glätten, politia, verstanden), als Hüterin der „Grundveste zu der Glückseeligkeit der Staaten“ auf. Ein Staat könne reich und mächtig werden, führte er aus; aber die „Glückseeligkeit“ werde von kurzer Dauer sein, wenn es nicht gelinge, „durch eine gute Policey die Wohlfahrth der besondern Familien mit dem allgemeinen Besten zu vereinigen“. – Objektiv nachprüfbare soziale Gerechtigkeit und klare Durchführungsgesetze waren das Ziel dieser Bestrebungen; der geordnete Staat, die polis ihr Ort, die Beamten sind ihre Hüter (Schimetschek 1984: 77ff.). Österreich sollte also das vollkommenste Vaterland werden – so vollkommen, daß man „in jedem anderen Lande […] [sein] Glück nicht […] in einem so hohen Grade, nicht so zuverläßig finden kann.“ (Sonnenfels 1771: 11) Die antike Glückseligkeitslehre wurde jetzt mit dem aufgeklärten Christentum verbunden. Nachdem Joseph II. am 16. August 1781 die Kanonisierung der Bibellektüre aufgehoben hatte, konnte man die Bibel auch befreit, im Licht der Aufklärung, lesen. Ein beispielhaftes und erfolgreiches moraltheologisches Werk, Grundzüge der kristlichen Sittenlehre des in Wien lehrenden Moraltheologen Ignaz von Fabiani, beginnt mit der „Bestimmung des Menschen zur Glückseligkeit“ (Fabiani 1789; Rutto 1983: 77–79) als grundlegender moralischer Ausrichtung. Sein Buch ist „allen Verehrern des gesunden Menschenverstandes und Ächten Kristenthums“ gewidmet. Die für die josephinische Sittenlehre grundlegenden Zusammenhänge legt Fabiani anfangs so dar: Die Bestimmung des Menschen zur Glückseligkeit. [Gott] schuf also den Menschen zur Glückseligkeit. Die Vernunft ruhet mit erhabener Wonne auf dieser Wahrheit, die ihr das höchste Wesen als die Urquelle alles Guten, als den liebenden Vater der ganzen Schöpfung darstellet […] Der in unserm Herzen stets rege Trieb nach Glückseligkeit überzeuget auch den eingeschränktesten Verstand von der Richtigkeit dieses Satzes. (Fabiani 1789: §1)

Der Staat wird als der äußere, der Glaube als der innere Rahmen der Glückseligkeit der Menschen verstanden. Die Verehrer des gesunden Menschenverstandes verstehen sich nicht mehr als Diener Gottes oder solche des Kaisers,

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sondern als Diener des Staates. Als solcher verstand sich Joseph II. jetzt selbst auch. Das ist die verweltlichte Form der christlichen Demut, als Mut zu dienen verstanden.

Mathematik kontra Ästhetik? Die Mathematik galt als Mittel zur Schärfung des Verstandes grundlegend für die Aufklärung in Mitteleuropa. In der Zeit des Tauwetters lag in jetzt auch die Geschmacksbildung im Interesse der habsburgischen Aufklärungspolitik. Gerard van Swieten hatte sie in die philosophische Vorbildung der Seelsorger hineinreklamiert. Die künftigen Volkslehrer würden von ihr lernen, „den von ihnen vorgetragenen Wahrheiten Anmuth und Reiz zu geben“ (Vortrag am 12. Okt. 1783 in der Studien-Hofkommission, hier nach Wangermann 1978: 38). Maria Theresia hatte ,ihre‘ Hochschulen auch dem Einfluss der damals blühenden Universitäten im angrenzenden deutschen Ausland das Tor geöffnet: Mit der Bestellung des aus der Oberlausitz stammenden Carl Heinrich Seibt (1736–1806) an die Universität Prag im Jahr 1763 und mit dessen Aufstieg zum Direktor der Philosophischen Studien 1775 sollte sich auch in Prag das Gewicht der Studien langsam etwas verlagern. Im Hintergrund wurde hart um Positionen gekämpft. Dabei ging es um die Bedeutung, aber auch um die Art des Betreibens der Wissenschaften. Für Gottfried van Swieten war auch die Unterweisung im ,guten Geschmack‘ ein elementares Erfordernis zur Grundlage aller Bildung. Er verstand sie im Interesse des Staates und seine Studienreform brachte die Reflexion über Schönheit, Kunst und Geschmack als neues Element in die österreichischen Hörsäle; Geschmacksbildung lag nun im Interesse der Staatsführung (Hlobil 2012: 12). Der in deutschen Landen bereits übliche Leitbegriff ,Geschmack‘ wurde durch Seibt in Österreich eingeführt. Geschmack sollte sich in der Belebung der Einbildungskraft und in der Vervollkommnung des Erkenntnisvermögens äußern. Mit den theresianischen Bildungsreformen hatte der Geist naturwissenschaftlichen Denkens in Österreich zur Mitte des 18. Jahrhunderts eindeutig Überhand gewonnen gegenüber dem theologischen Denken im früheren dogmatischen Verständnis. Mit Seibt und der offiziellen Universitätsästhetik kam jetzt eine Art Gegenbewegung dazu ins Land, die dann die josephinischen Reformen unter Gottfried van Swieten prägen sollte. Tomaš Hlobil, aktueller Nachfolger von Carl Heinrich Seibt auf dem Prager Lehrstuhl für Ästhetik, bezeichnet in seiner großen Studie über die Prager Universitätsästhetik die Antrittsvorlesung Seibts als eine „in Prag entstandene

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Leipziger Variante der Halleschen Überlegungen, welche die kognitive Dimension der schönen Wissenschaften herausstellten“ (Hlobil 2012: 180). Mit Seibt hatte auch der Einfluss seiner Leipziger Lehrer, Gottsched und Friedrich Gellert (1715–1769), in Böhmen und Österreich Raum gewonnen. Über deren französische Prägung machte sich jetzt auch im Habsburgerreich eine gewisse Ablehnung der trockenen, empiristischen Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlich ausgerichteten Philosophie in Österreich breit. Die Unterweisung in gutem Geschmack wurde für die josephinischen Bildungsreformen unter Gottfried van Swieten maßgeblich. Die Entwicklungsgänge von Naturwissenschaften und jener der Geisteswissenschaften verliefen gegen Ende des Jahrhunderts an der Prager Universität erkennbar gegengleich: die Naturwissenschaften absteigend und die Geschmacksbildung aufsteigend: Seibt durchlief eine glänzende akademische Karriere, während der Lehrstuhl der Naturwissenschaften über Jahre vakant war (Hlobil 2012: 372). Das alles war gegen den bisher vorherrschenden Einfluss der Jesuiten gerichtet und brachte auch eine gewisse Nähe zur deutschen aufklärerischen Philosophie von Immanuel Kant (1724–1804). Tomáš Hlobil bringt in seiner Studie Vorgänge zur Sprache, die Licht auf die Spannungen zwischen den beiden Strömungen werfen (Hlobil 2012: 357– 402; dort auch die Quellentexte): Die Naturwissenschaften waren seit der ersten Prager Professur der historia naturalis von 1752 in der Medizin angesiedelt; also in den gutdotierten „Brotwissenschaften“, – während die erste, undotierte Professur Seibts in den damals noch jesuitisch dominierten Philosophischen Studien angesiedelt war. Ignaz von Born (1742–1791), aus Siebenbürgen stammender Geologe, Jurist und auch Freimaurer, war der bedeutendste Naturwissenschaftler Böhmens in dieser frühen Universitätsphase. Borns Unterstützung für den Prager Historiker Gelasius Dobner (1719–1790) galt einer naturwissenschaftlichen Kriterien standhaltenden Art der Geschichtswissenschaft: Dobner hatte die essentialistische und nationalistisch motivierte literarische Schöpfung eines tschechischen ‚Urvaters‘ Čech, von dem alle Tschechen abstammen sollten, in Václav Hájeks († 1553) Kronyka Czeska, als Fiktion erkannt und zurückgewiesen. Deutlicher noch wurde die Polemik der Naturwissenschaftler mit dem Astrologen Anton Strnad (1749–1799), Jesuit und Stepling-Schüler: In seiner Antrittsrede von 1783 erweist dieser die Astronomie – und mithin die angewandte Mathematik – als grundlegend für wissenschaftliches Bestreben schlechthin. Er bemängelt, dass die Zahl der Schriften gerade in diesen Zeiten sich vervielfacht, die Gründlichkeit der Forschung hingegen deutlich abgenommen habe. Das, so Strnad 1783 in der Inauguralrede vom Nutzen der Sternkunde, äußere sich in einer nach französischen

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Sitten eingerichteten Philosophie, die zunehmend ihre mathematischen Wurzeln aufgegeben habe und in schöngeistiges Geschwätz münde (zit. n. Hlobil 2012: 376). Strnad rief zudem auch zur Verteidigung der Religion auf, die auf diese Art ins Hintertreffen kam! Ziel der Polemiken der Naturwissenschaftler war nicht so sehr Carl Heinrich Seibt; sie trafen mehr noch dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Ästhetik, den sächsischen Schriftsteller August Gottlieb Meißner (1753–1807). Meißner war der erste Protestant an der Prager Universität seit dem Dreißigjährigen Krieg. Seine Antrittsvorlesung Ueber die Pflichten eines Lehrers und den Unterschied von Schrift und Vortrag von 1785 (erschienen bei Schönfeld in Prag 1786) wurde von den Schülern begeistert aufgenommen. Kritik kam von einem Autor unter dem Pseudonym ,Hermann‘, hinter dem Hlobil Anton Strnad vermutet. Hermann maß Meißners Rede an den linguistischen Maßstäben des Joseph von Sonnenfels und kam zu dem Schluss, dass der ‚Ausländer‘ österreichisches Deutsch nicht beherrsche (und bemerkt, dass Sonnenfels sich umsonst bemüht habe, diese Sprachvarietät auf einem hohen Stand zu halten): Meißner drücke sich nicht klar aus, stelle den Inhalt gegenüber der Form zurück und halte sich weder an die Logik- noch Grammatikregeln, ja er beherrsche nicht einmal die geltende Orthographie – kurz, Meißner werde als ignoranter Ausländer den in Böhmen geltenden wissenschaftlichen Kriterien keineswegs gerecht. – Nach Prager und Wiener Maßstäben hatten präzise, logisch-mathematische Grundlagen und eine klare und möglichst einfache Sprache Voraussetzungen von Wissenschaftlichkeit zu sein; anderes wurde als ‚Geschwätz‘ kategorisiert. Die Gegensätze sind deutlich: August Gottlieb Meißner hatte anderes im Sinn. Seine ganz auf dem Phänomen der Rührung aufbauende Ästhetik war neu in Böhmen. Er verstärkte mit seinen Vorlesungen, etwa wenn er die Problematik des Genies abhandelte und an Ossian illustrierte (Hlobil 2012: 248), die mittlerweile weite Teile Europas erfassende und bis Rom ausufernde Ossian-Schwärmerei in Böhmen. Die Gesänge des Ossian sind vorgeblich auf folkloristischen Quellen fußende, tatsächlich aber von James Macpherson (1736–1796) verfasste Texte. Meißners ÄsthetikVorlesungen bildeten das ideale Medium für ihre Verbreitung. In seiner Art der Behandlung von Ossian kam der Genialität des Autors – besonders seiner genialischen Fähigkeit, ohne Regeln zu dichten – größte Bedeutung zu. Im deutschsprachigen Raum hatten Ossians Gesänge einen frühen (1768/69) und einfühlsamen Verbreiter und Übersetzer gefunden: in dem österreichischen Jesuiten Johann Nepomuk Cosmas Michael Denis (1729–1800), auch Sined der Barde genannt. Michael Denis war Archivar und Naturforscher. Er hatte sich um das neulateinische Schuldrama verdient gemacht und lehrte bis zur

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Ordensaufhebung im Wiener Theresianum. Seinem Ossian fehlte noch die losgelöst schwärmerische Note, mit der ihn die Romantik, als Gegenpol zu Aufklärung und Klassizismus, umgab. Die Meißnersche Gefühlsästhetik schlug in der bewegten Zeit des böhmischen Wiedererwachens große Wellen. Die Dichter und Übersetzer Josef Jungmann (1773–1847) und Antonín Marek (1785–1877), die slawischen Erwecker hörten Meißner und fertigten Mitschriften seiner Vorlesungen an. Die nationalistisch-patriotische Begeisterung über Böhmens Geschichte, das große Interesse für literarische Fragen, beides hatte in Meißners Vorlesungen einen Kristallisationspunkt. Dass die in dieser Zeit entstandenen ‚alttschechischen‘ Handschriften des Urvaters Čech stilistische Ähnlichkeit mit den Ossian-Liedern aufwiesen, und Fälschungen waren, wurde erst später bemerkt. Meißner hatte in seiner Prager Zeit die sogenannte tschechische Wiedergeburt stark beeinflusst. Dieser Einfluss brachte die zeigemäße Schwärmerei und den Genie-Gedanken über die Grenzen nach Österreich: Das Genie wird im idealistischen Verständnis als ein Mensch gesehen, der keiner äußeren Regeln bedarf, dem das Gefühl alles ist und dessen Denken den strengen Regeln der Logik lustvoll entsagt. Meißners Gefühlsästhetik öffnete dem stürmischen Überschwang und der Leidenschaftlichkeit die Tore der Universität. Der Einfluss war stark, aber nicht zwingend: Das geht allein daraus hervor, dass zwei seiner aufmerksamsten Hörer – Josef Jungmann und Bernard Bolzano – kontroverse Folgerungen aus Meißners Unterricht gezogen haben. Zudem ist es nicht gelungen, dem ästhetischen Idealismus im Anschluss an die Kritik der Urteilskraft von Kant den Weg in Österreich zu ebnen (Hlobil 2012: 267, 318– 320, 404). Bernard Bolzanos eigene Beiträge zur Ästhetik freilich waren ganz anderer Art. Sie mussten noch lange auf ihre Anerkennung warten (Blaukopf 1996; Neumaier 2011; Livingston 2014, 2016). Maria Theresia stellte jetzt die entscheidenden Weichen zur Modernisierung Mitteleuropas; aber nicht nur das. Sie verlangte sehr viel von ihren Beamten und Gelehrten, ja sie schien mit ihren unterschiedlichen Reformen geradezu das Unmögliche zu verlangen: Einerseits ebnete sie den Weg zur Aufklärung westlichen Stils, zur Einheitssprache und auch jenen zum modernen Einheitsstaat. Andererseits hielt sie am alteuropäisch-katholischen Weg der Aufklärung und ihren Grundsätzen fest: Am christlich-katholischen Glauben als Korrektiv allen Wissens; am Universalismus der Vielfalt der Länder und Sitten, an der Vorstellung des Gemeinnutzens der Wissenschaften und am Gesamtzweck der Glückseligkeit Aller. Gerade weil sie alle wesentlichen Anstöße zur Aufklärung ihres Staatsvolkes gegeben hatte, verfolgte sie auch die dadurch bewirkten Veränderungen

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sehr genau. In ‚mütterlicher Wohlmeinung‘ bemerkte sie an ihrem Sohn Joseph zuweilen unsensibles, arrogantes Vorgehen und gab ihm den Rat, die Menschen mehr zu überzeugen statt sie zu zwingen. Sie tadelte das langsame Schwinden des humanen Grundanliegens in den Wissenschaften, wie auch das Verblassen der mit ihnen befassten Persönlichkeiten selbst. Im vertraulichen Teil (Je commencerai à vous parler en particulier …) ihres Briefes mit Instruktionen für ihren jüngsten Sohn, Erzherzog Maximilian Franz (1756– 1801), schrieb sie im April 1774 (undatiert), was sie von ihren Gelehrten hielt: Si je voyais ces soi-disant savants, ces philosophes plus heureux dans leurs entreprises, plus contents dans leur particulier … Wenn ich sähe, daß diese sogenannten Gelehrten, diese Philosophen in ihren Unternehmungen glücklicher und zufriedener in ihrem Privatleben wären, könnte ich mich der Voreingenommenheit und des Eigensinns bezeihen, weil ich mich nicht bekehren will. Aber unglücklicherweise überzeugt mich meine tägliche Erfahrung vom Gegenteil. Niemand ist schwächer, mutloser als diese starken Geister; niemand kriechender und verzweifelter beim geringsten Mißgeschick. Sie sind schlechte Väter, Söhne, Ehemänner, Minister, Generäle, Bürger. (Arneth 1881/2: 319; [dt. in Perrig 1999: 205]

Maria Theresia stellte also weiterhin ihre humanistischen Ansprüche an die Wissenschaften und ihre Protagonisten. Sie erwartete sich, dass sie ganze Männer und Frauen waren. Sie musste aber bemerken, dass sie eher austrockneten und dass ihre Persönlichkeiten insgesamt eher schwächer wurden. Etwas stimmte nicht: Es hatte den Anschein, als ob sie in den kahlen Höhen der Wissenschaft erstarrten. Die Kaiserin nahm an ihren Gelehrten und Philosophen eine Art schnarrende Geistesmechanik wahr, die neben dem bunten, vielfältigen Leben blass aussah. Wenn in der Tätigkeit der Wissenschaftler tatsächlich die Glückseligkeit des Menschengeschlechts auf dem Spiel stand, wenn deren Wissen tatsächlich Nutzen brachte, dann musste sich das sowohl an ihnen selbst als auch an den Ergebnissen zeigen, es musste somit auch jedermann einsichtig und überprüfbar sein. Bei allen Neuerungen verlangte sie, dass zweierlei blieb: 1. Die Zweckbindung von Wissenschaft: Wissenschaft wurde im alten, abendländisch-humanistischen Verständnis als entscheidendes Mittel gesehen, um den Menschen (die Menschheit) zu einem glücklichen Leben (Glückseligkeit, Eudämonie) zu führen. Die Wissenschaft musste in all ihren Tätigkeiten grundsätzlich an diesen Zweck gebunden bleiben. 2. Die Persönlichkeitsbindung der Wissenschaftler: Der Einzelne Forscher steht für seine Arbeit. Sein Ethos kann nicht etwa eine Eigenschaft sein, die

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ihm zukommen kann oder ihn ziert, – sondern er muss im eigentlichen Antrieb (Impetus, Intention) seiner Forschung liegen. Die Wissenschaft als Ganzes wurde im frühen, humanistischen Verständnis von diesen zwei Klammern zusammengehalten: Von der Integrität der einzelnen Forscherpersönlichkeit und von der Sorge der wissenschaftlichen Gemeinschaft um das Wohl der durch ihre Erkenntnisse und deren Umsetzung betroffenen Menschen, letztlich um das Gemeinwohl, und im Grund schon um das Wohl der Menschheit als Ganzes. Maria Theresia wollte verhindern, dass der Verstand zu dürrem Rationalismus abhob und das Ziel der Glückseligkeit aus den Augen verloren würde. Die via moderna wirklich einzuschlagen bedeutete für sie eine sinnvolle Einbettung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in das aus ihrer Sicht bewährte humane Grundkonzept: Aufklärung mit Verantwortung, die wirkliches Wissen schafft: Ein Wissen, das die Menschen vom „Bösen“ bzw. Unwissen (von allem, was gegen Menschen, gegen die Menschheit insgesamt gerichtet ist) erlöst. Max Scheler nannte diese Art des Wissens „Erlösungswissen“.

3 Versprachlichung der Welt Sprachzustand Gottfried Wilhelm Leibniz bemerkte in der allgemeinen Entwicklung der deutschen Sprache einen Rückstand der deutschsprachigen gegenüber der französischen und englischen Welt. In seiner „Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und sprache beßer zu üben, samt beigefügten vorschlag einer Teutschgesinten Gesellschaft“ machte er die „fast allgemeine Grundverderbung der teutschen Beredsamkeit“ für den Rückstand des deutschsprachigen Raumes in der Durchsetzung der modernen Wissenschaften verantwortlich (Leibniz 1697/98: 77; Ueding 1992: 47ff.). Der Zusammenhang von Alltagssprache, Geisteswelt und Geistesleistungen war für ihn offensichtlich (Leibniz 1677). Der Prozess der sprachlichen Vereinheitlichung, der dieses Anliegen befördert, war im deutschen Sprachraum – gegenüber dem Inselreich England oder dem zentralistisch beherrschten Frankreich – eindeutig im Hintertreffen; das war ihm deutlich bewusst: Es fehlte so gesehen etwas wie eine nationale Einheit. Preußen bemühte sich um den Anschluss an die führenden Nati-

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onalstaaten Frankreich und England. Der sich ausbreitende österreichischpreußische Dualismus vertiefte die Unterschiede jetzt. Zusätzlich dissoziierend wirkte die Religionstrennung. Zu Leibnizens Zeiten war es noch nicht ausgemacht, dass Luthers meißnisch-obersächsische Sprachform einst für den ganzen deutschen Sprachraum Geltung haben würde: In Süddeutschland war die auf Kaiser Maximilian I. zurückgehende Kanzleisprache und sein Verwaltungswesen nach wie vor stilbildend. Maximilian hatte ein wohlorganisiertes Verwaltungs- und Kanzleiwesen eingerichtet und über seine Augsburger Drucker im ganzen Reich verbreitet (Moser 1977). Diese einheitliche deutsche Sprachform blieb, neben dem Latein als universaler Gelehrtensprache, als Leitvarietät im süddeutschen und österreichischen Sprachraum noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts maßgebend (Wiesinger 2006: 241–252). Das alles war jetzt – zumal die neuzeitliche Aufklärung auch hier als eine Bewegung zur sprachlichen Erfassung der Welt angetreten ist –, bedeutsam geworden. Der positive Zusammenhang von moderner Aufklärung und Sprachreform war für Leibniz und seinen Schüler Christian Wolff unstreitig. Es stand jetzt außer Frage, dass die Vereinheitlichung der Sprache die Wissenschaften fördere. In der Donaumonarchie sprach man aber eine Vielzahl von Sprachen. Maria Theresia selbst unterhielt sich, wenn sie Deutsch sprach, in der Wiener Mundart. Am Kaiserhof in Wien sprach man Französisch, Spanisch, Italienisch; in den Wissenschaften und in der Kirche Latein. Das Volk redete in den deutschsprachigen Ländern Österreichs Deutsch in sehr verschiedenen, vorwiegend bairischen und alemannischen Varietäten: Dazu kamen Ungarisch sowie slawische und romanische Sprachen in vielfachen Ausprägungen. Zugleich aber führte die Weiterentwicklung von Luthers meißnisch-obersächsischer Sprachform im protestantischen Mittel- und Norddeutschland durch Grammatiker, Poetologen und Sprachgesellschaften – wie die berühmte „Fruchtbringende Gesellschaft“ – zu einer blühenden neuhochdeutschen Schriftsprache (Wiesinger 2006: 245). Der Preußenkönig Friedrich II. hatte mit seiner reformerischen Bildungspolitik unter dem Einfluss Voltaires (1694–1778) entscheidend dazu beigetragen, dass die neue, rationalistische Form der Aufklärung im Norden des deutschen Sprachraumes schnell griff. Eine verglichen mit Mitteleuropa stärkere Förderung moderner Wirtschaft im Sinn ökonomisch effizienter Produktionsformen war im protestantisch geprägten preußischen Staat bereits in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erkennbar. Innerhalb des deutschen Sprachraums war es also zu unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten gekommen und der Unterschied zwischen dem protestantisch-nationa-

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listischen Preußen und der universalistisch angelegten habsburgisch-katholischen Welt war im 18. Jahrhundert deutlich geworden. Nach 1730 hatte sich auch in Österreich Kritik zu regen begonnen: an der Vernachlässigung der Muttersprache zugunsten des Lateinischen im jesuitischen Schulsystem; und überhaupt, an der allgemeinen Unbewusstheit im Sprachgebrauch, an der fehlenden (Neu-)Regulierung der deutschen Schreibsprache (Wiesinger 2006: 255ff.). In den von den Jesuiten geführten Philosophischen Studien fehlte noch immer der Unterricht in deutscher Rhetorik, in der Ästhetik sowie in der allgemeinen Geschichte. Mit der Vergabe des Lehrauftrages für Beredsamkeit an Gottlob Justi an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt reagierte Maria Theresia auf diese Entwicklungen. Justi war am 16. Jänner 1751 in seiner Wiener Neustädter Antrittsvorlesung als Professor für Beredsamkeit, bereits in deutscher Sprache gehalten, davon ausgegangen, dass Aufklärung auch konsequente Versprachlichung der Welt bedeute. Sein Vortrag handelte „Von dem Zusammenhang der Vollkommenheit der Sprache mit dem blühenden Zustand der Wissenschaften.“ (Justi 1750, im ff. n. Paragraphen; Wiesinger 2006: 313–325) Wenn Justi von Vollkommenheit spricht, dann meint er kein Ideal, sondern Präzisierung. Er versteht die Sprache als eine „angenommene und festgesetzte Verbindungsart gewisser Zeichen“ (§ 4). Ihre „Vollkommenheit“ besteht nach Justi darin, dass sie (1) „reicher an Worten wird“, (2) mit diesen Worten „eigentlichere und bestimtere Begriffe verbindet“ und (3) „ihre Veränderungs-und Verbindungsart der Worte einförmiger und regelmäßiger einrichtet“ (§ 9). Und weiter: Da die Wissenschaften und freyen Künste einen allgemeinen Zusammenhang mit einander haben (§. 2.) so ist unter einem blühenden Zustande der Wissenschaften auch die Sprachkunst und Beredsamkeit und folglich eine Vollkommenheit der Sprache begriffen: und diejenigen Mittel, welche einen blühenden Zustand der Wissenschaften verursachen, müssen also auch die Vollkommenheit der Sprache wirken. Denn wenn die Wissenschaften in Hochachtung stehen, und von vielen ausgeübet werden (§.12.); so kan man nach Verschiedenheit der menschlichen Neigungen allerdings annehmen, daß es Leute geben wird, die auch die Verbesserung der Landessprache zum Gegenstande ihrer gelehrten Bemühungen erwehlen werden. (Justi 1750: § 13)

Justis Berufung zum Professor für deutsche Beredsamkeit war auf Anregung von Johann Christoph Gottsched zustande gekommen. Dessen Grundlegung einer deutschen Sprachkunst wurde als Lehrbuch an der Theresianischen Akademie eingeführt. Rhetorik und auch das neue Fach Ästhetik wurden nun in deutscher Sprache unterrichtet. Die lehrplanmäßige Verselbständigung des Unterrichtsfaches Deutsch ließ allerdings noch lange, nämlich bis 1848, auf

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sich warten (Jäger 1979: 100). Entscheidende Impulse in Richtung Sprachbewusstsein waren also auch hierzulande von Johann Christoph Gottsched ausgegangen. Dieser hatte bei Maria Theresia ein Umdenken angeregt, sodass sie letztlich die Sprachreform in Österreich unterstützte. Damit war das Ende der mitteleuropäischen Variante, der maximilianischen Kanzleisprache, wie sie von seinen Augsburger Druckern im ganzen Sprachraum des HRR verbreitet worden war, als Referenzgröße gekommen – und die endgültige Durchsetzung der meißnisch-obersächsischen Kanzleisprache Luthers im gesamten deutschen Sprachraum besiegelt worden. Mit der Entscheidung zu einer gemeinsamen deutschen Sprachform wurde eine ständige Wechselwirkung von Sprache und Wissenschaft ermöglicht und die Begrifflichkeit der Alltagssprache geschärft. Die gemeinsame Sprachentwicklung, die nun eingeleitet wurde, ermöglichte nicht nur das, sondern auch eine Annäherung und zunehmende Synchronisierung der Entwicklung im gesamten deutschen Sprachraum. – Dagegen sprachen allerdings bedeutende Unterschiede in den Lebensformen, Unterschiede in der Auffassung von Aufklärung selbst und in wesentlichen mit ihr verbundenen Begriffen im Gebrauch der Sprache, unterschiedliche Auffassungen von Glauben und vom Nutzen des Wissens – innerhalb des deutschsprachigen Raumes. Leibnizens Beobachtung, wonach der Zustand der Wissenschaften mit jenem der Umgangssprache zu tun hat, wurde auch im Kaiserhaus eingesehen. Maria Theresia selbst hat den Weg zu einer gemeinsamen Umgangssprache in den deutschsprachigen Gebieten geebnet, indem sie die überregionale Sprachvariante im eigenen Reich zurückgestellt hat. – Ein einheitliches Sprachverständnis und einheitlichen Gebrauch der Sprache hat sie damit nicht geschaffen. Karl Kraus (1874–1936) wird der Satz, „der Österreicher unterscheide sich vom Deutschen durch die gleiche Sprache“ nachgesagt. Er ist ihm aber nicht nachzuweisen; wohl aber ist ihm dieser Gedanke nahe (Kraus F 890, 133 bzw. 312, 1934).)

Sprache und Welt Im § 1 seiner Antrittsvorlesung in Wiener Neustadt bestimmte Gottlob Justi Wissenschaft: Eine Wissenschaft ist ein Zusammenhang von Wahrheiten, die sich auf eine einzige Hauptwahrheit gründen, und der menschlichen Gesellschaft zum Nutzen angewendet werden. (Justi 1750: 3)

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Damit betont er den Eigencharakter der mitteleuropäischen Kultur, was den Wissensaufbau und deren Ausrichtung und Nutzen betrifft. Justi bestimmt Wissenschaft als die Summe der gelehrten Bestrebungen zur Förderung der „Glückseeligkeit“. – Der eigentliche Nutzen der gesamten Bildungsbestrebungen im Habsburgerreich, in die nun selbst das Militärwesen eingebaut wurde, lag so verstanden in der Beförderung des Gemeinwohls, der Glückseligkeit des Staates, mit dem universalistischen Endziel der Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Augustin Zippe (1747–1816), der Direktor des Prager Generalseminars, einer der von Joseph II. 1783 eingerichteten Anstalten zur Priesterbildung, unternahm den Versuch, Vernunft und Offenbarung in seiner Sittenlehre zu verbinden und die Glücksökonomie rational, mit logischen Mitteln grundzulegen und aufzubauen (Zippe 1778). „Die Grundsätze der Wissenschaften mit denen der Religion zu verbinden“, heißt es in einer Schuleröffnungsrede an der Savoyischen Akademie in Wien 1763 (Zrenner 1995: 765). Glauben und Wissen zu verbinden war hierzulande weiterhin eine Selbstverständlichkeit und ein gebräuchlicher Topos in der Bildung. Trotz klarer Entscheidung zur gemeinsamen Schriftsprache bleiben grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Südosten und dem Nordwesten innerhalb des deutschen Sprachraumes bestehen, die mit den unterschiedlichen Glaubensformen zu tun haben: Die protestantisch-aufklärerische Versprachlichung der Welt geschieht in der westlich-protestantischen Welt klar zielgerichtet: Im Glauben wird das Prinzip sola scriptura ausgerufen, der Glaube an das „reine“ biblische Wort. Das Ziel in der Idee der rationalen Erkenntnis ist die Erkenntnis der „reinen“ Wahrheit vorgegeben, und mit ihrer Hilfe wird letztlich die Beherrschung der Welt ermöglicht. Auf dem Weg dorthin wird die sinnliche Welt zurückgedrängt und alles Unwesentliche, wie etwa bildliche Darstellungen, Metaphern, abgeworfen. Das Wissen wird immer abstrakter und löst sich fortschreitend vom gesprochenen Wort, wird abstrakt und formelhaft. Die aufklärerische Versprachlichung der katholisch-mitteleuropäischen Welt strebt die Möglichkeit eines glücklichen Lebens aller an, das Gemeinwohl. Naturgemäß ist nicht nur die reine Wahrheit, sondern auch die vollständige Glückseligkeit seit der Austreibung des Menschen aus dem Paradies nicht mehr erkennbar, aber ihr jeweiliger Grad ist konkret messbar: am Wohlbefinden der Menschen auf Erden. Auf diesem Weg zur Wahrheit und Glückseligkeit wird die Welt weiterhin in ihrer sinnlichen Fülle wahrgenommen. Sie erscheint im Glauben auch bildlich, rituell; in der Musik, mit allen Sinnen und

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nicht nur rational, sondern auch angewandt, handwerklich-künstlerisch. So werden immer mehr der unendlich vielen Wahrheiten eingeholt, und dieser Fortschritt betrifft den ganzen Menschen. Das rationale Wissen geht in dieser Geisteswelt von der grundsätzlichen (logischen) Unsprachlichkeit der Welt aus. Das Ziel der vollkommenen Beschreibbarkeit der Welt wird als unsinnig beiseitegestellt. Logik und Mathematik werden als Wissensgrundlage, als Weg des Wissens, verstanden. Dieses wird aufgrund der ethischen Intention des Forschenden in den Gemeinsinn und in die Sprache „zurückgeholt“ und zeigt sich darin – nämlich im sensus communis, buon senso, obecné dobro, und im gesunden Menschenverstand jedes Einzelnen, der diesen Weg mitgeht. Das Unsagbare wird weiterhin als Teil der Sprache anerkannt. Die Grenzen der Sprache werden wahrgenommen und gerade dadurch ist es möglich, diese Grenzen hinauszuschieben ins bisher Unsagbare. Auf diesem Weg zur Wahrheit und Glückseligkeit wird die Welt weiterhin in ihrer sinnlichen Fülle wahrgenommen Der Unterschied wurzelt nach wie vor in einem jeweils verschiedenen Grundverständnis, das sich im ausgehenden Mittelalter herausgestellt hat: Es hängt damit zusammen, ob die Welt nominalistisch, von der konkreten Wahrnehmung her, – oder ob sie von der Idee her verstanden wird. Schon im Pariser Nominalistenstatut von 1340 zeigt sich ein paradox scheinendes Verständnis von Sprache: Im Kapitel I und II wird festgehalten, dass die Sprache ihre Bedeutungskraft (virtutem) nicht von sich aus, sondern durch willentliche Festsetzung (ex impositione) und durch den allgemeinen Sprachgebrauch (ex uso communi) der Autoren oder der anderen Menschen hat[.] (Paqué 1970: 10f.)

Nur so ist garantiert, dass der Wortsinn, virtus sermonis, auch erfasst werden kann, denn er richtet sich nicht nur nach der zur Rede stehenden Sache (materia), sondern zugleich auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (consensus). In der Administration Maria Theresias werden aufgeklärtem Denken also wesentliche Wege geöffnet: Sie legte 1. entscheidenden Wert auf Volksbildung, und zwar in ihrer mitteleuropäisch-nominalistischen Form, die auf Mathematik und Logik baut. Sie gab aber durch die Angelobung von Carl Heinrich Seibt auch den aktuellen Schönen Wissenschaften, die besonders in den deutschen Nachbarländern gepflegt wurden, Raum. 2. Sie durchbrach die Alleinherrschaft der Barockscholastik zugunsten der Leibniz-Wolffschen Philosophie und kam damit den modernen Naturwissenschaften entgegen.

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3. Sie leitete den grundsätzlichen Wandel der sozialpolitischen Grundhaltung vom Feudalismus zum Bürgertum ein. Auch ihr Selbstverständnis als selbstbewusste Frau, Mutter und Familienmensch ging in diese Richtung. 4. Sie baute den alten Feudalstaat weiter zum Beamtenstaat um und schuf ein höheres, gebildetes und bewusst staatstragend agierendes Beamtentum. 5. Nicht zuletzt: Durch ihr Abgehen von der im Habsburgerreich bisher maßgeblichen maximilianischen Kanzleisprache und die Hinwendung zum Lutherdeutsch ermöglichte sie den Weg zur Einheit der deutschen Schriftsprache, was durchaus im Sinn einer aufklärerischen Versprachlichung der Welt lag. Trotz allem sorgte sie auch dafür, dass die mitteleuropäisch-katholische Aufklärungsbewegung am Leben blieb und hatte eine ganz andere Vorstellung von Fortschreiten des Menschengeschlechts als ihr preußischer Gegenspieler. Um die Unterschiedlichkeit zwischen nominalistisch-katholischer und realistisch-protestantischer Sprachauffassung weiter zu beleuchten, werfen wir einen Blick auf die Rolle, welche die sprachbezogenen Künste in den verschiedenen Kulturräumen spielen, und betrachten besonders die Rolle der Sprachkünste, also der sprachgebundenen Künste: Rhetorik, Predigt, Theater und Belletristik.

Rhetorik Der Gegenstandsbereich der Rhetorik war, seit ihren frühen Anfängen in der Gerichtsrede, die praktische, angewandte Vernunft. Das ist ein Bereich, „über den man nur zu subjektiven Ansichten, zu Wahrscheinlichkeiten also gelangen kann, niemals zu der subjektiven und objektiven Gewissheit“ (Ueding 1991: 3). Von Platons metaphysischer Erkenntnislehre aus gesehen erschien die Kenntnis der Wahrheit als Grundbedingung jeder guten Rhetorik (Phaidros 259e). Der bekannte Vorwurf war, wer ein Redner werden wolle, habe nicht nötig, was wahrhaft gerecht sei, zu lernen, sondern nur das, was der Volksmenge, welche zu entscheiden hat, so scheint, ebenso auch nicht, was wahrhaft gut sei oder schön, sondern nur was so scheinen werde; denn hierauf gründe sich das Überreden, nicht auf der Sache wahre Beschaffenheit. (Phaidros 259e– 260a)

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Platons Ideenlehre, wie sie am Horizont des Phaidros leuchtet, lässt eine Kunst, der die Wahrscheinlichkeit mehr gilt als die Wahrheit, blass aussehen. Den frühen sizilianischen Rhetorikern wirft Platon gar vor (Gondos 1996: 85ff.), das Wahrscheinliche überhaupt höher geschätzt zu haben als die Wahrheit (Phaidros 267a: 272d–273a). Damit hat er den Grundstein zu einer Rhetorikverachtung gelegt, die über die Zeiten hinweg besteht, wie wir ihr auch noch bei Immanuel Kant begegnen, und wie sie selbst heutzutage nicht ganz aus der Welt geschafft ist (Curtius 1948: 208–218; Schirren 2008). Aristoteles (384–322) hat einen anderen Akzent gesetzt. Gleich zu Beginn seiner Rhetorik heißt es: Die Rhetorik ist ein Gegenstück zur Dialektik. Denn beide behandeln solche Themen, deren Erkenntnis gewissermaßen allen Wissenschaftsgebieten zuzuordnen ist und keinem bestimmten. (rhet 1,1 1354a)

Die Rhetorik gründet nach Aristoteles auf dem Paradigma der Wahrscheinlichkeit (Eikós). Das rhetorische Gegenstück zum logischen Schluss oder Syllogismus ist das Enthymem. Es lässt in der Regel selbstverständliche Voraussetzungen unausgesprochen und erhöht damit die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Die Opposition von Rhetorik und Dialektik ist nicht wertend verstanden; diese hängt vielmehr mit einer durchgehenden Beachtung des Anwendungs- und Zuständigkeitsbereiches zusammen. Dabei ist der Rhetoriker nach Aristoteles vorzugsweise auch Dialektiker: Denn zu sehen, was wahr ist und was der Wahrscheinlichkeit nahekommt, entspringt derselben Fähigkeit; gleichzeitig sind die Menschen von Natur aus hinlänglich zur Wahrheit bestimmt und treffen sie meistens auch. Daher bedeutet das Wahrscheinliche zu treffen in der Mehrzahl der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen. (rhet 1,1 1355a)

Aristoteles definiert die Rhetorik als die Fähigkeit, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen. Die psychologische Folge aus diesem Erkennen ist das Überzeugenwollen von einer als gut erkannten Sache, also einer, die im Wesentlichen der Glückseligkeit der Menschen dient (rhet 1,5 1360b). Rhetorik und Dialektik nehmen im aristotelischen Verständnis die Stellung von Metadisziplinen ein: In der Absicht, den Menschen zur Glückseligkeit zu führen, beschäftigt sich die Dialektik, also Logik und Mathematik, mit den abstrakten Grundlagen, mit dem Bereich des An sich, während die Rhetorik die notwendige Überzeugungsarbeit zu leisten hat, – jene, bei der es auf dieses An sich eben nicht ankommt. Ihr geht es um die Angemessenheit, aptum, prépon, des Vorgebrachten. Große Kunstfertigkeit in Dialektik wie auch Rhetorik ist notwendig, um der Menschheit ein glückliches Leben einerseits in der Anlage

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erkennbar zu machen, und andererseits, sie davon zu überzeugen und dorthin zu leiten. Die Gefahr des Abgleitens der Rhetorik in die Rolle der Dienerin und Erhalterin von Macht über Menschen war den lateinischen Erben der griechischen Rhetorik schon bewusst, ihre Kritik am Verfall der Beredsamkeit war deutlich. Die großen Rhetoren, Cato (234–149), Cicero (106–43), Seneca (1–65), Quintilian (35–96) begegneten dieser Gefahr an der entscheidenden Stelle: im Charakter und in der Bildung des Redners selbst: Sie forderten, der perfectus orator habe ein vorbildlicher Mensch zu sein; moralisch tadellos, vir bonus, und zugleich auch einer, der mitten im Leben steht und sein – im Grunde immer ethisches – Anliegen mit aller Kunst vorzutragen wisse, dicendi peritus. Der Redner muss, so die Voraussetzung, von einer Sache selbst überzeugt sein – „ut moveamur ipsi“ (Quintilian, inst. or. 6,2,26), so die klassische Formulierung, um dann andere überzeugen zu können. Nur die sophistische Redekunst setzte die Überzeugungsabsicht selbst über die Sache. In Mitteleuropa folgt die ars rhetorica den Spuren des Aristoteles. Sie nähert sich durch den kalkulierenden Umgang mit Wahrscheinlichkeiten eindeutig einer Erfahrungswissenschaft. Wahrscheinlichkeit hat dabei immer weniger mit Vagheit zu tun, denn man hat begonnen, ihr mit mathematischen Mitteln beizukommen. So spricht Bernard Bolzano grundsätzlich von Wahrscheinlichkeitsgraden und sieht die Gewissheit nur als Grenzfall der Wahrscheinlichkeit (WL § 321). – Im protestantischen Nordwesten spielen hingegen die idealen Vorstellungen des Platon eine prägende Rolle. Das führt zweifellos zu eindrucksvoller Rhetorik, aber auch nicht wirklich weiter.

Predigt Das Mittelalter war, anders als die Antike, keine besondere Glanzzeit der Redekunst gewesen, was ihre Praxis betraf: Es fehlten die großen Anlässe wie Gerichtsverhandlungen und auch politische Entscheidungsprozesse, an denen sie ausgeübt werden konnte. Doch die Aufnahme in den Bildungskanon der artes liberales sicherte ihr immerhin eine gewissenhafte Bewahrung und Pflege. Das Christentum nahm sich dieser im Grund heidnischen Kunst an, denn im Interesse jeder Glaubensgemeinschaft liegt es, den Glauben zu vertiefen. Die christliche Homiletik konnte und wollte auf den großen Schatz an Einsichten, den die profane antike Rhetorik bereitstellte, nicht verzichten. Der Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430), selbst ursprünglich profaner Rhetor, hat die geistliche Wohlredenheit in ihren christlichen Grundzügen

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geprägt: Die Redekunst hatte aus seiner Sicht nur Dienerin des ewigen Wortes Gottes zu sein, eloquentia famula. Sie sollte nirgendwo groß zur Schau gestellt werden, denn dieser Glanz würde den des Wortes Gottes nur in den Schatten stellen. Damit war die ars praedicandi wesentlich zu einer frommen Tochter der ars rhetorica geworden. Die Verbindung von Rhetorik und Dialektik ist in der ratio studiorum im aristotelischen Verständnis angelegt und über sie im Schulsystem Österreichs wirksam geworden. Von platonischer Rhetorikverachtung ist hier nicht die Rede. In Böhmen hatte der Reformkatholizismus den Boden für eine kritische Rhetorik und Homiletik bereitet. Die fromme Tochter der ars rhetorica verlor hier bald ihren naïv-unschuldigen Charakter. Der Prämonstratenserpriester Ägyd Chládek (1743–1806) vom Kloster Strahov war der erste Professor der tschechischen Pastoraltheologie und ein äußerst kritischer Prediger. Seine reformerischen Vorschläge riefen oft großen Widerstand unter den Priestern hervor. Zusammen mit seinem Ordensbruder Karl Raphael Ungar (1743– 1807) und dem Jesuiten Josef Dobrovský verfasste er periodische Predigtrezensionen, die bei Franz Karl Guolfinger, Ritter von Steinsberg (1757–1806) in einer Streitschrift mit dem provokanten Titel Geissel der Prediger erschienen. Die erste Nummer kam am 19. April 1782 in Prag auf dem Markt, nachdem im Jahr zuvor Kaiser Joseph II. die erweiterte ‚Preßfreiheit‘ gestattet hatte. Der Stil dieser Kritiken war streitbar und ganz auf den Nutzen für die ‚gute Sache der Menschheit‘ bedacht. Es ging um Sprachkultur, Klarheit und Systematik, in welcher der Prediger seinen Stoff vortragen sollte, aber auch um die aufgeklärte Vertreibung aller unklaren und abergläubischen Vorstellungen früherer Zeiten. Die Zeitschrift wurde nach drei Nummern auf den weniger anstößigen Titel Predigtkritik umbenannt und noch im selben Jahr eingestellt, weil der rührige Guolfinger andere Probleme hatte und Prag verlassen musste. Die Gattung wurde in Wien erfolgreich weitergeführt (Hoppe 1989; Bodi 1995: 128–137) und hieß dort Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien. Bearbeitet von einer Gesellschaft Gelehrter und herausgegeben von L.A. Hoffmann. In der einleitenden Rede stellen die Gelehrten einiges klar (Hoffmann 1782-84/I: 3–32). Die Gelehrten sind nirgends namentlich genannt; nur Leopold Alois Hoffmann (1760–1806) tritt als Herausgeber namentlich auf). Die Gelehrten stellen fest, dass eine „ernstliche Reformation“ dem Predigerwesen guttäte und betonen den Unterscheid zwischen weltlichen und geistlichen Schriftstellern: Die Worte des Predigers gewinnen wesentlich mehr Kraft als jene des Schriftstellers, „der Mund des Predigers gilt fast allgemein für eine Quelle von Heiligkeit und Wahrheit.“ Dem Prediger wird Immunität, Unfehl-

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barkeit und größte Wichtigkeit zugestanden. Aber die wenigsten von ihnen besteigen die Kanzel mit der Absicht, den Gläubigen „wahrhaft christliche Begriffe von der Religion beizubringen“! Dieser allgemeine Schlendrian stehe im gröbsten Widerspruch zu den begründeten Erwartungen der Gläubigen – aus diesem „Paradox“, so die Gelehrten, leite sich der Entstehungshintergrund dieser neuen Schrift [Wöchentliche Wahrheiten] her. Die kritischen Gelehrten verlangen zunächst, dass der Prediger bei seinem Evangelium bleibe, also nicht etwa anfange zu politisieren. Die Hauptsache der Predigten müsse dann die „Aufklärung irriger Begriffe“ und die Überwindung von „Aberglauben und Irrthümern“ sein. Sie nennen einige davon: Die Prediger dürfen dem Aberglauben an den Ablass nicht weiter Nahrung geben und die Menschen glauben machen, „daß ein Stück Gold oder Silber an einem Gnadenbilde aufgehängt, wenigstens 100 Jahre Fegfeuerpein auslöschen müsse“ (Hoffmann 1782-84/17: 27); denn letztlich kann die Kirche den Rechten Gottes nichts vergeben. Sie sollen auch den Wunderglauben nicht stärken, denn am Ende machen noch manche ein Wunder daraus, „daß vor einigen Jahren das Pulvermagazin an der Nußdorfer Linie sprang, weil Feuer zum Pulver gekommen war“ (Hoffmann 1782/I: 18f.) Der Verfasser dieser Zeilen berichtet, er habe sich, „da der heilige Vater unter uns war“ absichtlich unter die Menge gemischt, „welche täglich unter den päpstlichen Fenstern den Segen erwartete“, und „trauriges herzliches Mitleiden mit den armen Irrigen“ empfunden. Es stehe an, „gesunde und richtige Begriffe von dem eigentlichen Werthe und der Wirkung“ eines solchen Segens zu verbreiten (Hoffmann 1782-84/I: 23f.) Die Wöchentlichen Wahrheiten waren erfolgreich und wirksam. Bei den Predigten hatte es vor allem um zwei Dinge zu gehen: Einerseits um Belehrung und andererseits um die Erbauung: Jede Rede musste so eingerichtet sein, „daß sie nicht nur auf den Verstand sondern auch auf das Herz wirke. Sie muß also einfach, faßlich, überzeugend und rührend sein“ (Hoffmann 1782-84/V: 14; VII: 511; Hoppe 1989: 190–194). Dabei hatten die Kritiker immer den möglichen Nutzen für die Hörer im Auge. Die Göttingischen Anzeigen berichten über die Wöchentlichen Wahrheiten: Um aufgeklärte Begriffe unter Tausende zu verbreiten, kann nur eben dieser Kanzelvortrag wirksam genug seyn: und ohne einen solchen verbesserten Kanzelvortrag arbeiten alle die Tausende schreibselige Autoren vergeblich, welche ihr Zeitalter aufzuklären glauben. (82. Stück vom 22. May 1783: Wien und Prag, 819–21 [dig])

Ägid Chládeks Nachfolger als Lehrer für Beredsamkeit und praktische Homiletik an der Prager Universität wurde der Pastoraltheologe Jan Maria Mika (1754–1816), Prämonstratenser vom Strahov-Kloster. Unter Pastoraltheologie waren die praktischen Fächer der Theologie zusammengefasst: die

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Theorie der Selbstvervollkommnung, ‚Aszetik‘, die Katechetik als Theorie des Religionsunterrichtes und die Homiletik als Theorie der geistigen Beredsamkeit. Mika lehrte sprachliche Präzision, ohne dass dies eine (protestantische) Reduktion auf das biblische Wort bedeutet hätte. – Die Verbreitung aufgeklärter Begriffe war das gemeinsame Ziel aller dieser streitbaren josephinischen Priester. Der Predigt wurde in diesem Zusammenhang große Bedeutung beigemessen, denn sie schuf die entscheidende Möglichkeit, aufgeklärte Begriffe zu verbreiten: Aufklären bedeutete in Jan Maria Mikas Verständnis nicht nur genaue Beweisart und logisch klare Schlüsse, sondern hieß auch: einer, welcher aus allen Studenten allein dereinst vor dem Volke öffentlich zu reden hat, muß nothwendigerweise die allgemein hiezu anleitenden Regeln wissen, und diese werden in der Rhetorik und Aesthetik gelehret. Die Rhetorik ist der Grund zu jener geistlichen Beredsamkeit, welche einen Theil der Pastoral-Theologie ausmacht. (Rautenstrauch; zit. n. Wangermann 1978: 37f.)

Das Predigtwesen wurde zum Kristallisationspunkt josephinischer Kirchenpolitik; der Kanzelvortrag war sein wirkungsmächtigstes Mittel. Von Mikas Homiletik lernten die Prager Studenten, darunter Bolzano, dass Reden auf klaren Begriffen zu beruhen und streng logisch aufgebaut zu sein hatten, weil lange Erfahrungen es gelehrt haben, daß nur eine regelmässig eingerichtete Predigt, so wie ein ordnungsmässig angeführtes Kriegsheer die erwünschte Wirkung machen und Siege davontragen können (Mika 1802: 7),

was – trotz zuweilen martialisch-zweckdienlicher Metaphorik – Jan Maria Mikas Anweisung zur körperlichen Beredsamkeit gewaltfrei umsetzte. Mikas Anweisung war ein grundlegendes, umfangreiches Lehrbuch der Homiletik und beruhte auf den klassischen Theorien Ciceros, Quintilians, aber auch eines Zeitgenossen, den Ideen zu einer Mimik des Berliner Theatermannes und Aufklärers Johann Jakob Engel (1741–1802). Mika zeigte nicht nur, wie Predigten aufzubauen waren, sondern übte auch ihren praktischen Vortrag. Die entscheidende Aufgabe der Rhetorik sah er in der persuasio, im Sichtbar- und EinsichtigMachen von Vernunftgründen, die zu einem wirksamen Eintreten für das Gesamtwohl der Menschheit führen konnte und sollte. Was den Predigern der Barockzeit undenkbar gewesen war, nämlich die Vermischung weltlicher Reden mit geistlichen, war bei den aufgeklärten Rhetorikern jetzt an der Tagesordnung. Der Unterschied zwischen geistlicher und weltlicher Beredsamkeit bestehe nur noch im Gegenstand, heißt es bei Johann Wilhelm Schmid (1744–1798) (Schmid 1787: 1 § 2). Lorenz von Mosheim (1693–1755), der erfolgreiche protestantische Prediger in Göttingen, unterschied zwischen ,biblischen‘ und ,philosophischen‘ Predigern – während die

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ersteren es für unnötig halten, „den Leuten zu sagen, warum sie dieses oder jenes glauben sollten“, verlangten letztere, also die philosophischen Prediger, „dass die Regeln der gesunden Vernunft sollen bey den Predigten gebraucht werden“ (Mosheim 1771: 87f.; Ehrensperger 1971: 146ff.). Das frühe mythisch-religiöse Denken wandelte sich im Licht der Aufklärung nun zum vernunftmäßigen Kalkül. Das konnte auf verschiedene Weise geschehen: a. Die protestantische Art der Exegese im buchstäblichen Sinn, in sensu litterali, ließ die mythisch-mystische Dimension des Denkens einfach weg. Da geschah es immer öfter, dass Predigten in langweiligen schulmeisterlichen Philologismus ausarteten. Als Gegenbewegung zu diesem theoretischen „Kopfchristentum“ trat der Pietismus dann als „Herzchristentum“ auf. Dem jungen Goethe etwa, der den sinnlichen Pietismus der Herrnhuter Brüdergemeinde in ihrer Frankfurter Diaspora kennenlernte, war er eine willkommene Gegenwelt zum trockenen Schulprotestantismus (Soboth 2001: 211ff.). b. Im katholischen Süden hingegen war die alte, im Kern mittelalterliche Auslegung des Gotteswortes, in sensu spirituali oder mystico, keineswegs abgeschafft. Die katholische Barockpredigt bricht nicht mit dem jahrhundertealten kirchlich-geistigen Leben, auch dem des Mittelalters, sondern zehrt davon, sodass man, besonders im Hinblick darauf, das Barock „ein spätestes und letztes Mittelalter heißen kann“ (Herzog 1991: 201). In der mitteleuropäischen Messgestaltung konnte man durchwegs noch ahnen, dass die Sprache Anteil am Numinosen hatte, – was der Fall war, noch lange bevor sie zum reinen „Kommunikationsmedium“ reduziert worden war. Manches erklärte sich da noch aus der Mentalität ältester monastischer Schriftbetrachtung mit ihrer geduldigen ruminatio des göttlichen Wortes (Herzog 1991: 270). Da begegnen wir dicken Predigtsammlungen und Registern, vieldeutigen Schatztruhen, aus denen sich die Gottesmänner in mehrfachem Schriftsinn bedienen und somit der Predigt bunten Stoff geben konnten (Welzig 1979). Freilich verloren sich dabei auch nicht wenige katholische Prediger dabei im trocknen Dickicht ausgebreiteter Gelehrsamkeiten und öder Manierismen. Für Johann Christoph Gottsched war die mehrdeutige Predigermethode daher nur mehr trauriges Relikt. Sein Einfluss, der darauf hinauslief, das „Recht der Vernunft“ in der Predigt geltend zu machen, dehnte sich nach seiner Wien-Reise von 1749 auch ins katholische Österreich aus und drang in die

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Benediktinerstifte Melk und Kremsmünster ein (Strassberger 2010: 270ff.). Gottscheds homiletisches Lehrwerk Grund-Riß einer Lehr-Art ordentlich und erbaulich zu predigen von 1740 wurde da gemeinschaftlich diskutiert (Eybl 1989: 328). Fragte man Gottsched, was er „von den allegorischen oder schematischen Sätzen halte, die lange Zeit in der Beredsamkeit geherrschet haben“, so fällt die Antwort bestimmt aus: Ich kann darauf sehr kurz antworten: dass ich nämlich gar nichts darauf halte, und sie für Ueberbleibsel eines barbarischen Geschmackes unter unseren Rednern ansehe. (Gottsched 1736: 134)

Er verlangte, dass in sensu litterali gepredigt wurde. Er beurteilte, aus seiner protestantisch-eindeutigen Sicht, die Redepraxis in Mitteleuropa schlicht als Fehlform. In Wien hatte sie durch den bekannt lebhaften Abraham a Sancta Clara größte Erfolge gefeiert. Gottsched hatte Abraham einen Verstoß gegen das innere decorum vorgeworfen. Es ging um den Vorwurf, dass der zuweilen zotenhafte Vortrag Sancta Claras dem ernsten Gegenstand nicht angemessen sei und gegen das decorum/aptum verstoße (Strassberger 2010: 117ff.). In den habsburgischen Ländern konnte sich Gottscheds Predigtreform nicht durchsetzen; bei aller Wichtigkeit seiner Lehren – der Impetus war in den mitteleuropäischen Ländern zu verschieden. Was Gottsched in seiner Selbstgewissheit nicht bemerkte: Die Prager und Wiener Predigtkritiker bekämpften gerade diese Missbräuche: ungenaue, abgenutzte Ausdrucksweise, Gedankenlosigkeit, die sich hinter Leerformeln verbirgt und vieles mehr – freilich ohne die barocke Predigtform selbst rundweg abzulehnen, was ihnen unnötig und eher gegenwirkend schien. Der Jesuit Ignaz Wurz (1731–1784), Lehrer am Theresianum und ab 1764 Professor der geistlichen Beredsamkeit an der Universität Wien, einer der bedeutendsten Homiletiker deutscher Sprache, zeigte in seiner „Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit“ das Ende des gedankenlosen Nachpredigens an und leitete seinen Abschnitt über die Verwendung von Vorratsbüchern mit dem Rat ein, der Prediger möge doch „selbst erfinden“ (Wurz 1770: 223; Welzig 1979: 20f.). Auch die böhmischen Reformkatholiken hatten das Selbstdenken längst ins Spiel gebracht. Sie verstanden die Bibel als ein Buch mit vielen lebendigen Bildern, in denen Glaubenswahrheiten angesprochen waren. Sie machten dabei einen ganz anderen Gebrauch von der Heiligen Schrift als es das protestantische Formalprinzip vorschrieb, sie gaben ihr damit eine andere Bedeutung – nicht als unbedingt zu befolgende Vorschrift, sondern als Richtlinie. Leslie Bodi verweist einmal auf einen der „wichtigsten Züge der österreichischen Literaturtradition“: „die wache Sprachkritik, die sich von ihren

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barocken Anfängen bei Abraham a Sancta Clara (1644–1709) ungebrochen bis in unsere Zeit erhalten hat“ (Bodi 1995: 134).

Belletristik Der schlesische Dichter Andreas Gryphius (1616–1664) drückt die zeitgemäße Befangenheit in tragischen Umständen in seinem Gedicht aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges unmissverständlich aus: Du sihst / wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden. Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein: Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein, Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden

Hatte sich die Lyrik in der Barockzeit, ja seit dem Mittelalter aus dem gläubigen Hausgarten entfernt, blieb im Bereich der Epik religiöse Erbauungsliteratur der schöngeistigen Literatur bis zur Goethezeit eine überlegene Gegnerin, was ihre Beliebtheit und folglich ihre Verbreitung betrifft. Der sich jetzt gerade von der Erbauungsliteratur freispielenden weltlichen Schwester wurde, ebenso wie der Philosophie, im mitteleuropäischen Raum bisher wesentlich nur Gebrauchsfunktion zugestanden. Künstlerische Ausritte von Dichtern und Philosophen oder ,kühne Aufflüge‘ waren hier nicht vorgesehen und auch nicht erwünscht. In den Ländern der Habsburgermonarchie gab es daher auch kaum ,Sturm und Drang‘ wie in Weimar, kaum ausgeprägten Idealismus und Subjektivismus, und auch die Gegenreaktion des romantischen Irrationalismus hatte hier keinen nennenswerten Erfolg (Bodi 1995: 22). Selbst dem philosophischen Idealismus, der in Immanuel Kants Transzendentalphilosophie schon angelegt war und der die philosophische Tradition des restlichen Europa in einer beispiellosen Erfolgswelle überrollen sollte, war in Österreich – trotz öffentlichen Verbots, das wachen Geistern eher als Anreiz diente – wenig Erfolg gegönnt (Bauer 1966: 11–36). Auch im 19. Jahrhundert blieb das Schwergewicht zunächst auf vorklassischen Dichtern und Denkern wie Gellert, Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Moses Mendelssohn (1729– 1786), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) oder Albrecht von Haller (1708–1777) (Schamschula 1979: 549; Winter 1943: 85–97). An der grundsätzlich zweckorientierten Haltung im Habsburgerreich gegenüber Literatur und Philosophie änderte das nichts. Auch noch zu Zeiten Goethes blieb die Literatur im Habsburgerreich im wesentlichen antisubjektivistisch und realistisch, in einer objektiv und grundsätzlich eher naturwissenschaftlich nüchtern betrachteten und zugleich als ,Reich Gottes‘ verstandenen Welt.

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Bernard Bolzano schloss dann nicht nur an die böhmische Frühaufklärung, sondern auch an die protestantische Aufklärungsbewegung an: Gotthold Ephraim Lessing hat in seinem Ideendrama Nathan der Weise von 1779 Moses Mendelssohn zum Vorbild genommen und ein klares Nutzen-Kriterium herangezogen: Es muss sich in der positiven Wirkung auf den Glaubenden zeigen, ob ein Glaube etwas tauge. Lessing verbildlichte das an der Ringparabel aus dem zwölften Jahrhundert. Sein dramatisches Gedicht war eine Reaktion auf die Auseinandersetzung mit der orthodoxen Buchstabenhörigkeit protestantischer Theologen gewesen, insbesondere des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717–1786), eines Gottsched-Schülers. Es war ein Streit, der Lessing Veröffentlichungsverbot für religiöse Schriften eintrug. Lessing war angetreten, um die zeitübliche ‚Buchstabengelahrtheit‘ – eine Art eingetrockneten, besserwisserischen Gelehrtenglauben – zu überwinden. Er wandte sich gegen den zeitgemäßen Kleinglauben einer fides historica, die den befremdlichen Versuch unternahm, weitgehend ungesicherte Geschichtswahrheiten in objektive Vernunftwahrheiten umzumünzen. Lessing hingegen rückte die Wahrheit vom Objekt ab: Das Objekt, der Ring in der Ringparabel, hat mit der Wahrheit zu tun, aber der Ring ist nicht die Wahrheit. Wer sittlich richtig handelt, dem gebührt der Ring, der ist wahrhaftig; und es ist unwichtig, ob der Ring, den er in Händen hält, der strenggenommen richtige, wahre ist oder der nachgemachte falsche: Er trägt die Wahrheit nicht. Die Parabel zu verstehen heißt, menschliche Wahrheit im wahrhaften Handeln zu erkennen. Die erkannte Wahrheit hat mehr mit der aufrichtigen Mühe zu tun, die angewandt wurde, sie zu erreichen, als mit dem konkreten Ergebnis (Thielicke 1965: 91f., der hier Lessings Position mit jener von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) verbindet; Thielicke 1959). Eine so verstandene Aufklärung hat mehr mit der Erkenntnisbewegung zu tun als mit dem Erkenntnisobjekt. Lessings Nathan ist im Zusammenhang mit seinem Spätwerk Die Erziehung des Menschengeschlechts zu sehen, seinem großen Versuch, das Fortschreiten des Menschengeschlechtes zu systematisieren (Lessing 1780). Wie schon bei Lessing, so stand nun auch bei Bolzano die Frage nach der rechten Religion im engen Zusammenhang mit seinem Erziehungswerk. Sein späterer Konflikt mit der Dogmenstarre und Romhörigkeit katholischer Theologen war, wie Lessings Streit, eine Variante desselben geistigen Ringens um eine in der Neuzeit glaubhafte und glaubwürdige Religion; ein Streit, der über alle Bekenntnisse hinweg tobte. Gibt es wie hier noch deutliche Ähnlichkeiten zwischen Bolzano und Lessing in der Literatur und Leibniz in der Philosophie, so ändert sich das Bild mit Kant und Goethe und dem Idealismus: Es treten zunehmend Unterschiede auf zwischen mitteleuropäisch-katholischer und

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westeuropäisch-protestantischer Welt innerhalb des deutschen Sprachtraums, bezüglich Sprachauffassung und Leistung der sprachbezogenen Künste.

Theater und Gesang Für jesuitische Schulen war die Aufführung von Ordensdramen aufgrund der ratio verpflichtend. Auch andere Orden, besonders die in der Bildung wirksamen Benediktiner und Piaristen, übernahmen diese Anregung. Die von Konrad Celtis eingeführte Tradition der Huldigungsspiele, ludi Caesarei, fand weite Verbreitung und wurde im Jesuitendrama sorgsam gepflegt. Darin wurde in verschiedensten und oft ergreifenden Darstellungen die Welt inszeniert: als Reich Gottes. Das Latein fungierte als verbindliches Medium, wie auch Musik, Bühnenbild und -technik. Es ging in diesen Stücken, die oft auch recht volkstümlich, mit eingestreuten Liedern oder Couplets im Dialekt, auftraten, nicht darum, Stoffe zu erfinden, sondern darum, die Phänomene der Welt und in der Welt als solche darzustellen, die unendliche Vielfalt dieser Welt zu entdecken oder zu enthüllen – und so die Schönheit des Universums, als Schöpfung verstanden, zu verherrlichen. Dieses Theater wollte „neben dem Verstand auch die Phantasie des Zuschauers gefangennehmen,“ (Bauer 1974: 26) – nicht entfesseln, genau darum ging es in diesem theatrum mundi. Man brauchte die Phantasie, um die Vielfalt der Natur und darin auch sich selbst als Teil, zu begreifen. Angesichts äußerlich trister Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gingen die Spiele – es waren eigentlich dramatisierte Predigten – nicht den Weg der Verinnerlichung oder Abwendung von der Welt, sondern suchten vielmehr ein auf Gott vertrauendes Handeln und ein Sich-Einfügen in die tatsächliche und zeitlose göttliche Ordnung und zuversichtliche Hoffnung (Welzig 1961: 422ff.). Dieser barocke Optimismus war, so Bauer, zugleich asketisch und triumphierend (Bauer 1974: 19ff, 23). Darin zeigten sich ethischer Wert und ästhetische Erhabenheit: Die Welt brauchte in ihrer Schönheit nur richtig dargestellt zu werden; dann war ihr nichts hinzuzufügen (Bauer 1974: 27). Dies geschah jetzt in dem Bewusstsein, dass das Leben selbst ein Theater ist, und beides letztlich Schein. Auch Johann Christoph Gottscheds im Norden Deutschlands so erfolgreiche Theaterreform nach französischem Muster war in Österreich kein Erfolg beschieden: Hier war man durchwegs bei der süddeutsch-katholischen und im Grund noch barocken Tradition geblieben. Am Wiener Hof war der spanische Kultureinfluss nach wie vor wesentlich. Durch die Heirat Leopold I. mit

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Infantin Margarita Teresa wurde er auch nach dem Übergang der Führung der Casa d’Austria von Madrid nach Wien noch kräftig am Leben gehalten. Während am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. (1638–1714) die Dichter Corneille (1606–1684) und Racine (1639–1699) Erfolge feierten, spielte man in Wien Hofdramatiker wie Lope de Vega (1562–1635) und Pedro Calderón de la Barca (1600–1681). Sie standen der mitteleuropäischen Volksseele näher als das aufklärerische Pathos der französischen Klassiker (Benedikt 1980: 74). Das Wiener Volkstheater war seit Josef Anton Stranitzky (1676–1726) in Wien, am Kärntnertortheater bereits seit 1712 bestens etabliert. Bedenken Joseph von Sonnenfels’, als Aufklärer eher einer von der trockenen, humorlosen Sorte, von dem sich Maria Theresia auch beraten ließ, führten zu deren Extemporé-Verbot von 1752. Dieser sogenannte Hauswurststreit dauerte bis 1783. Die Kritik am Hanswurst wurde befeuert von der Angst vor dem unerwartet ausgesprochenen Wort und somit vor den Unwägbarkeiten des Stegreiftheaters – letztlich der Volksseele. Schließlich kam es doch zur Erklärung der Spektakelfreiheit durch Joseph II. Einer Glanzzeit des Wiener Volkstheaters stand – von 1780 bis 1830 – nichts mehr im Wege. Selbst das offizielle Ende der Spektakelfreiheit 1794 konnte daran nur wenig ändern. Das Wiener Volkstheater feierte, besonders 1805–1816 unter der Leitung von Johann Karl Liebich (1773–1816) auch am Prager Deutschen Theater, größte Erfolge beim Publikum (Gruber 2014). Witz und Hausverstand wurden dabei als subtile Mittel zur Aufklärung des Volkes direkt und klassenübergreifend eingesetzt (Zeyringer/Gollner 2012: 68ff.; Gauß 1998. 36). Auch die Wiener Klassik, die Oper; Wolfgang Amadeus Mozart (1756– 1791) mit Figaro, Don Giovanni, Zauberflöte, Ludwig van Beethoven (1770–1827) und sein Fidelio, aber auch der bescheidene Einsatz der Musik bei Ferdinand Raimund (1790–1836), im Hobellied etwa, und in den extemporierenden Couplets von Johann Nestroy (1801–1862) trugen das mitteleuropäische Aufklärungskonzept entschieden und volksnah mit und verbreiteten es wirksam im ganzen Reich. Mozarts letzte Oper mit dem Libretto von Emanuel Schikaneder (1751–1812) Die Zauberflöte von 1791 verdeutlicht das mitteleuropäisch-katholische Aufklärungskonzept. Gerade diese Verbindung von Wiener Volkskomödie und Mozarts außerordentlicher Musik zeigt, (1) dass Aufklärung hier keine ideale, hehre Sache war, sondern etwas Handfestes: Papageno, der einfache Mann aus dem Volk (und seinem Theater), findet auf glaubhafteste Weise von allen Mitspielern sein Glück; ganz ohne hohe und hohle Worte. Die rationalistisch vereinfachte Gleichung (Aufklärung = gut, Sinnlichkeit = schlecht) trifft hier keinesfalls zu: Sie passt weder auf die abgehobene, edle Welt Sarastros,

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noch auf die gefährlich-sinnliche der Königin der Nacht, und schon gar nicht auf die triebgesteuerte von Papagena/o. (2) Das Unwahrscheinliche, das hier sowohl im Handlungsverlauf, als auch in den Charakteren selbst auftritt (Rommel 1952: 402ff.), bricht jede rein rationale Aufklärungsarithmetik auf. (3) Das Wunderbare war hier nicht in wohlklingenden Formeln, nicht in den elitären Zaubersprüchen frauenfeindlicher Geheimbündler, sondern in der Musik Mozarts nonverbal allgegenwärtig. Friedrich Schiller (1759–1805) hatte das geschätzt (18. September 1787, NA 33,1, 145f; Rott 2007: 52f.). Das Publikum verstand auch ohne große Worte, dass Sarastro im Grunde ein Gauner war: allein schon deshalb, weil er die Arie In diesen heil’gen Hallen … in E-Dur singt (Harnoncourt 2015: 140). Es ging in dieser bodenständigen Tradition nicht um irgendein Höheres, sondern schlicht um ein glückliches, ein den jeweiligen Möglichkeiten entsprechend aufgeklärtes und erfülltes Leben. Das ist alles. In der (eher mathematischen) Kunst der Musik ist der mitteleuropäischen Aufklärung vielleicht das Höchste gelungen, was zu erreichen war in einer wahrhaft aufgeklärten Welt. – Bernard Bolzano überlegt einmal (PhTb 1, 27– 29 [Analecta V 1803]), den Ausdruck, mit dem man Wörter artikuliert, in einer Art Notenschrift gleich der Musik wiederzugeben. Wenn wir die Musik Joseph Haydns als „vernünftiges Gespräch in Tönen“ auffassen (Weidringer 2009a: 3–9), so ist es eines, das vom gemeinsamen guten Geschmack ausgeht, Allgemeinverständlichkeit, Eingängigkeit für den gesunden Menschenverstand und Klarheit in formvollendeter Weise erreicht: Natürlichkeit und zugleich äußerste Kunstfertigkeit, als Ausdruck des Vernünftigen und zeitlos Wahren an sich. Anlässlich der Aufführung der Schöpfung in Berlin 1826, an Haydns Geburtstag, bemerkte der deutsche Musiker Carl Friedrich Zelter (1758–1832), – dem sein Freund Goethe zuschrieb, er sei in Gesprächen genial und treffe immer den Nagel auf den Kopf (Goethe 1826: 127) – zu Haydns Kompositionen, insbesondere zu seinen Symphonien und Quartetten: Diese Werke sind eine ideale Sprache der Wahrheit, in ihren Theilen nothwendig zusammenhängend und lebendig.

Dazu hier eine die Konturen verstärkende Gegenüberstellung der Merkmale, den Prozess der Versprachlichung betreffend:

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Protestantische Aufklärung

Katholische Aufklärung

Rhetorikverständnis nach platonischem Muster, ausgehend von einem abstrakt-idealen Wahrheitsbegriff

Lebendige Rhetorik: Bewusster Einsatz von Enthymem, Kalkulation mit Wahrscheinlichkeiten

Predigt, Exegese in sensu litterali, Prinzip der sola sciptura

Predigt, Exegese in sensu mystico Prinzip mehrfacher Auslegung

Dichtung eher objektiv, beschreiSubjektivismus, Geniekult in der bend; immer dem Gemeinnutzen Dichtung des deutschen Idealismus dienend Rationales Aufklärungstheater, Barocktheater; Volkstheater, ZauberGottsched, nach französischem spiel, unberechenbar durch spontaMuster nes Extemporieren; Musik Es handelt sich hier also um zwei vollkommen verschiedene Aufklärungstraditionen, – innerhalb derselben (deutschen) Sprachfamilie. Um seine Bewegung von der westlich-protestantischen abzusetzen, spricht Bolzano häufig von der „wahren Aufklärung“, um die es ihm zu tun sei. Andererseits wird die mitteleuropäisch-katholische Bewegung von der anderen Tradition entweder gar nicht, oder als Hinterwäldlerei zur Kenntnis genommen. Wenn wir von der westlich-protestantischen bald von einer herrschenden Aufklärung sprechen können, dann könnten wir die andere Art der Aufklärung, die in Mitteleuropa im Glauben und Wissen des Volkes beheimatet ist, eine dienende nennen, eine Aufklärungsbewegung, die dem Menschen konkret, also seiner geistigen und körperlichen Gesundheit, förderlich ist (und per definitionem nicht herrschend werden kann). Die herrschende Aufklärung ist grundsätzlich auf Herrschaftswissen angelegt, – und die dienende auf Erlösungswissen. Den wesentlichen Unterschied könnten wir vielleicht auch so charakterisieren: Während die herrschende Aufklärung darauf abzielt, den Glauben zu rationalisieren und durch „reine Vernunft“ zu erklären und letztlich ersetzen, – behält die andere Aufklärung den Glauben (im Sinn von ethischen Haltungen wie Liebe in den verschiedensten Formen, die offenbar nicht rein rational begründbar sind) bei. Dieser „vernünftige Glaube“ strebt nach einem Zustand des Glücks, und nicht nach der Macht durch Wissen.

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Im Grunde sind das zwei Positionen, die einander ausschließen. Die beiden Schwerpunkte sind Westeuropa und Mitteleuropa. Die Grenze verläuft durch die deutsche Sprachgemeinschaft. Aber natürlich ist die Verteilung nicht so eindeutig und klar, wie das hier dargestellt werden muss; sondern durchmischt, mit den genannten Häufungs- und Schwerpunkten.

4 Entsakralisierung und Profanierung Eine gewisse Abschwächung und Aushöhlung des Glaubens begleitet den modernen Aufklärungsprozess in jedem Fall, hier wie dort. Es zeigt sich auch in Mitteleuropa seit dem Barock eine Profanierung, eine „moderne Hohlheit“ (Bauer) im Glauben, eine „Entsakralisierung“ (Flusser) des Raumes nicht nur in der überindividuellen Ordnung, sondern im konkreten Leben der neuzeitlichen Menschen:

Entsakralisierung Man konnte in der Barockzeit und in Mitteleuropa auch später noch sehr vernünftige Predigten hören, die weiterhin in sensu mystico gehalten waren. Es ging dabei sehr wohl um die möglichst präzise Versprachlichung der Welt, – das aber hier im Bewusstsein, dass diese nur bis zu einem gewissen Grad sinnvoll war. Es wurde hier nicht der Mythos gleichsam durch den Logos abgelöst oder überwunden. Ein Fortschreiten der Menschheit vom Mythos zum Logos stand außer Frage, aber es bedeutete hier nicht, dass aus einer ,primitiven‘ Vorform im Mythos die ,reife‘ Form des Logos sich entwickeln würde. Walter F. Otto hat gegen diese Vorstellung einmal auf den auffallenden Formenreichtum und die Komplexität alter Sprachen im Unterschied zu den neueren ins Treffen geführt (Otto 1963: 269, 281). Die moderne, allgemeine Vorstellung der ,Primitivität‘ gegenüber allem Früheren wird zum gängigen Vorurteil der Moderne. Die Antike kannte dieses Vorurteil nicht (Dihle 1994: 26). Die aber zweifellos vor sich gehende Entwicklung vom Mythos zum Logos bedeutet in diesem Verständnis, dass die Sprache in ihrem Grundbestand mythisch ist und dass dieser Mythos im Laufe der geistigen Entwicklung der Menschheit seine geheimnisvolle Strahlkraft

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verliert. Was sich dabei verändert, ist aber nur unsere menschliche Sicht auf den Mythos, nicht dieser selbst. Beides, Mythos wie Logos, bedeutet sprechen, beides gehört unabdingbar zum Menschen als sprechendem Wesen. Im Unterschied zur rein philologischen Predigt spricht die spirituelle Predigt aber bewusst auch das an, was jenseits der Grenzen unserer Sprache liegt, das Nichtsprachliche, Unaussprechliche (Otto 1963: 267ff., 279ff.; s. Wittgensteins Vorwort zum Tractatus; s. a. VB, 52; Culture and Value nannte Georg Henrik von Wright diese Sammlung von Bemerkungen Ludwig Wittgensteins, die in unserem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Sie wurde als Vermischte Bemerkungen [von Wright 1977] zuerst auf Deutsch veröffentlicht, hier als VB). In der katholischen Aufklärung geht es weder um eine Austreibung, noch um eine Bewahrung des Mythos, aber sie bewirkt sehr wohl auch eine Akzentund Schwerpunktverlagerung vom Mythischen zum Logischen, wie sie den Weg der Moderne kennzeichnet. MythosLogos ⇒ LogosMythos

In der habsburgisch-mitteleuropäischen Welt wird das Verhältnis von Logos und Mythos reflektiert und der Mythos bleibt lebendig. Es ist den gelehrten Mönchen im Mittelalter schon kein Geheimnis gewesen, dass das mythische Denken nicht bloß Anschauung, sondern auch ein Denken ist und als solches ein kausales Element und damit die Funktion des Logos in sich schließt (Nestle 1966: 17). Die Bewegung vom Mythos zum Logos ist seit dem Erwachen des kritischen Geistes nicht mehr aufzuhalten. Roger Bauer hat in seiner Studie La Réalité, Royaume de Dieu auf diese „Entsakralisierung“ deutlich hingewiesen: Im Vergleich zu den Dramen des Barockzeitalters und der sich dort manifestierenden Gewißheit erscheint nun der Begriff einer überindividuellen Ordnung einem Prozeß der Abnutzung oder, wenn man will, der progressiven Entsakralisierung ausgesetzt. (Bauer 1965: 536f.)

In Mitteleuropa bedeutete die fortschreitende Entsakralisierung der überindividuellen Ordnung jedoch nicht die Tilgung religiöser Inhalte aus der objektiven Ordnung, also nicht gleichsam den Auszug der Götter aus dem Olymp. – Sie bedeutete vielmehr, dass die objektive Welt nicht mehr, weiter bildlich gesprochen, nur allein von Göttern oder von einem Gott bewohnt wurde, sondern dass in diesem Bereich auch andere als nur religiöse Wahrheiten Platz fanden, und zwar alle dem Menschen zunehmend erkennbaren Wahrheitenan-sich, mit denen Gelehrte, und ganz besonders Logiker und Mathematiker, vertraut waren: Objektive Wahrheiten, wie etwa der Pythagoreische Lehrsatz etc., waren ihr täglicher Umgang und so gesehen nichts Besonderes. Diese und

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alle anderen objektiven Wahrheiten, unendlich an Zahl, teilen sich gleichsam den logischen Tatsachenraum mit dem Satz von der unbedingten Existenz Gottes. Der Glaube stellt, im Sinne Thomas von Aquins (1225–1274), nur die Abkürzung zu dieser grundsätzlich vernunftgemäßen Einsicht dar, sozusagen die direkte Verbindung von Gott und der Welt (causa efficiens und causa finalis). Soviel steht hier nämlich fest: auch wenn die Vorstellung von Gott selbst als nicht geklärt angesehen und vielleicht nie vollständig eingesehen wird, sondern, zumindest vorläufig, nur zu glauben ist: Die von ihm geschaffene Ordnung, und damit auch ihn, kann man kennenlernen. Dass sich dies durch neue Erkenntnisse gerade jetzt zeigte, war ein faszinierendes Abenteuer. Die Metaphysik, also die Wissenschaft von der nur a priori und begrifflich erfassbaren Realität, war in mitteleuropäischen Schulen und Gelehrtenstuben schon bestens vertreten: Objektive Wahrheiten bildeten für Logiker immer schon einen nichtsakralen Bereich objektiver Ordnung. Entsakralisierung bedeutet im mitteleuropäischen Kulturraum nichts als die bewusste Zugänglichkeit des früher einmal dem sakralen Erkenntnisobjekt allein vorbehalten gewesenen Wahrheitsraumes. Sie ist Zeichen der tatsächlichen kognitiven und analytischen Weiterentwicklung der Menschen, nichts weiter. Die mährische Dichter-Philosophin Marie von Ebner-Eschenbach (1830– 1916) zeichnet das sich wandelnde Verhältnis in einem ihrer Aphorismen einmal sehr deutlich: „Wer nichts weiß, muß alles glauben.“ (GW 9, 19) Allein die Einsicht, dass die Zahl der gegebenen Wahrheiten unbegrenzt ist, macht den Glauben unverzichtbar. Auf dem Weg der Wahrheit wandelt sich das Verhältnis von Wissen und Glauben. Die Menge des zu Glaubenden geht gegen Null in diesem Entwicklungsprozess: Am Ende der ‚Unruhe des Herzens‘ steht die im Christentum angenommene Gottesgleichheit, und der Unterschied zwischen Wissen und Glauben fällt weg. Roger Bauer ist bei seiner Diagnose der progressiven Entsakralisierung auf einen bedeutsamen Unterschied in den abendländischen Kulturen gestoßen, und er resümiert: „Dieser Prozeß verläuft jedoch [in Mitteleuropa] ohne tiefere Krisen und ohne wirkliche Brüche.“ (Bauer 1965: 536f.; 1974: 132)

Profanierung Der Umstand, dass sich hinter der pompösen klerikalen Machtentfaltung der Barockzeit eine gewisse „barocke Hohlheit“ breitmachte und das Vertrauen in die Kirchenfürsten schwand, hatte in der mitteleuropäischen Aufklärung grundsätzlich nichts mit einem Zweifel an Gott zu tun. Die Sache selbst wur-

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de in der Regel nicht mit ihren Gewändern verwechselt; die Unterscheidung zwischen res und verba war dem gesunden Hausverstand durchaus geläufig. Es änderte auch nicht das Geringste an diesem Gesamtgefüge, wenn jetzt, im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, unerwartete neue mathematische Erkenntnisse, durch Newtons und Leibnizens Entdeckungen aufgestachelt, hinzukamen und alte Sicherheiten ins Wanken brachten. Das bewirkte jetzt in den mitteleuropäischen Gelehrtenstuben vielmehr, dass man an mathematische Erkenntnisse im früheren Verständnis nicht mehr glaubte, wie das früher der Fall war, sondern wusste, auf welchen Axiomen sie beruhten und in welcher Weise ihnen nicht widersprochen werden konnte. Ebenso glaubten die Menschen nicht mehr unbedingt an das Wort Gottes und setzten es nicht mit dem Überbringer in eins. Gläubige in Mitteleuropa wären aufgrund von Missbräuchen des Gottesworts in der christlichen Kirche nicht auf die Idee gekommen, die Kirche selbst abzuschaffen – so wie Gelehrte jetzt genauso wenig auf die Idee kamen, die Mathematik abzuschaffen, nur weil jetzt manche Mathematiker an früher fest geglaubten Axiomen mit Recht zweifelten und manche zurecht aufgaben. Mitteleuropäisch enkulturierte Geistesmenschen verstanden die ‚barocke Hohlheit‘ nicht dramatisch oder existentiell gefährdend. Sie verstanden sie als Spiel; sie erkannten gewissermaßen gefühlsmäßig mehr vom theatrum mundi als ihre nördlichen Nachbarn. Sie kannten nicht nur diese äußere, sondern auch die innere Dramatik der Vorgänge des Glaubenswandels: Man war sich der „Hohlheit“ bewusstgeworden, also des Umstandes, dass – im Grunde vielleicht alles – nur gespielt ist. In Geistesblitzen, deren Häufigkeit etwa in der Wiener Volkskomödie auffallend hoch war, verwandelte sich die alte Glaubensgewissheit zur bewussten Einsicht in die Natur der apriorischen Vernunft. Wenn nur mehr die äußeren Strukturen des Glaubens bestehen bleiben, dann entsteht der Eindruck innerer Hohlheit. Der Prager Emigrant Vilém Flusser spricht von einer „barocken Hohlheit“ als Folge eines den Boden untergrabenden Glaubensverlustes an die Dogmen der christlichen Tradition. Er zeichnet die barocke Welt einmal so: Damals schritt die westliche Menschheit über Bühnenbretter. Ihr Fortschritt war theatralisch. Die barocke Bodenlosigkeit hatte zur Folge, daß alle Handlungen, auch die bedeutsamsten, zu großen Gesten wurden. (Flusser 1990: 59)

Flusser extemporiert dazu eine heute deutlich spürbare profane Folgeerscheinung, nämlich unsere eigene Hohlheit als Folge des Verlusts des Glaubens an uns selbst. Freilich ist der Begriff ,Barock‘ eine Abstraktion, und dessen Formen in Spanien sind andere als im süditalienischen und süddeutschen Raum. Das Barock transzendiert sich in der vanitas-Vorstellung zum theatrum. Der

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Begriff steht für die letzte, deutlich augenscheinlich gewordene Glaubensbewegung im Abendland, vor dem großflächigen Verebben des Glaubens und der vollkommenen Profanierung der Menschenwelt. Weder die Profanierung noch die Entsakralisierung wurden in Mitteleuropa kaum je als existentiell gefährdend wahrgenommen. Das lässt darauf schließen, dass subjektive Sicherheit und Wahrheit für den Einzelnen bei all diesen Veränderungen des Weltbilds gar nicht zur Debatte standen. Die Eigentümlichkeiten der Auflösung sind nur a forteriori feststellbar. Die im Hochmittelalter herausdifferenzierten Positionen des Nominalismus und Realismus spielen auch hier noch immer ihre Rollen: Mit dem Universalienrealismus korrespondiert eine Art magische Sprachauffassung; eine, die dem Namen selbst einen ontologischen Rang verleiht, die mit dem Aussprechen des Namens allein schon (wie bei einem Zauberspruch) eine gewisse Wirkung verbunden sieht. – Der nominalistischen Auffassung entspricht die logische Auffassung der Sprache; also jene, in der die Bedeutung des Namens, wie die einer Schachfigur, durch ihre Stellung im Zeichensystem bestimmt ist. Mit dem Universalienrealismus korrespondiert die Idee der Maschine als idealer Mechanismus, die seit der frühen Neuzeit in der Tradition von René Descartes und Julien Offrey de la Mettrie (1709–1751) jetzt wieder verstärkt durch die Aufklärung geistert. Die Maschine als ein ideales, technisch lückenlos erklärbares und unbegrenzt funktionierendes Werk. – Nominalisten fasziniert das weniger. Der Betrieb der Wissenschaften bedeutet aus nominalistisch-mitteleuropäischer Sicht vielmehr eine Art Spiel, also ein nicht vollständig durchkalkulierbares, offenes Vorgehen. Und das gilt gerade für die strengen Wissenschaften wie Logik und Mathematik: Seit Heraklit hatte es bereits Zweifel gegeben, ob es je in einem lebendigen, sich verändernden Kosmos zwei identische Dinge gebe (22 F 12 Diels/Kranz). Empedokles, Anaxagoras und die Atomisten haben schon nach dem philosophischen Grund dieses Identitätprinzips gefragt (Müller 1965: 26–104). Nicht nur die Identität, sondern auch die Regelmäßigkeit und Unveränderlichkeit der Zahl verlor spätestens nach Newton und Leibniz den Nimbus, der mathematischen Weisheit harter Kern zu sein. Naturwissenschaftlich geschulte Gelehrte hatten jetzt erkannt, dass das neue Wissen auf sehr dürftigen und kaum erkannten Grundlagen aufbaute. Die Mathematik des 19. Jahrhunderts entwickelte sich vollends anders, als es die vertraute Geometrie des zwei- und dreidimensionalen Raumes erwarten ließ. Die frühere Sicherheit ruhte auf ehernen logischen Prinzipien beziehungsweise auf der Annahme der Regelmäßigkeit und Unveränderlichkeit der Zahl. Nun waren die Grundlagen der Mathematik fragwürdig geworden. Es ging nunmehr in der Mathematik auch um Grenzwerte, Funktionen reeller

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Zahlen und deren Stetigkeit, Differenzierbarkeit und Integration; Größen, die null und doch nicht null sind, kamen ins Spiel. Die Mathematik, und mit ihr die Naturwissenschaft, war dem starren Weltbild entwachsen. Mathematiker gingen von den einzelnen Zahlen zu dem seinem Wesen nach unendlichen Zählprozess über. Es kam nach Newton und Leibniz nicht mehr auf die einzelnen Zahlen an, sondern auf den Vorgang des Zählens. Damit war die Mathematik selbst wieder in Bewegung geraten, sie kam aber auch zunehmend in die Lage, Bewegung erfassen zu können (Taschner 2009: 51–58). Schließlich hatte sich auch die Differentialrechnung trotz offensichtlicher Inkonsistenzen in allen Bereichen der Mathematik durchgesetzt. Sie hatte, trotz offener Wissenslücken, dazu beigetragen, das Universum wissenschaftlich besser zu begreifen (Taschner 2009: 54f). Hier spielt auch Bolzano eine große Rolle als mitteleuropäisch-nominalistischer Philosoph. Tatsächlich ist der heutigen Physik der Kosmos viel rätselhafter geworden, als Rationalisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich das noch hätten träumen lassen, ist unser modernes Weltbild heute deutlich weniger geschlossen als je zuvor, und kaum eine der kursierenden kosmischen Theorien ist beweisbar. Subjektive Sicherheit und Wahrheit sind in der mitteleuropäischen Kultur trotz der neuzeitlichen Verfallserscheinungen des Glaubens nicht wesentlich erschüttert – aber Sicherheit und Wahrheit werden hier auch nicht durch den materiellen Schein davon ersetzt. Die Erkenntnis des grundsätzlichen Fehlens von Sicherheit im alten, starren Sinn schafft eine ganz neue Art von Gewissheit; eine, die jedes ,Glauben‘ an Wahrheit, Wissenschaft oder auch an mathematische Sicherheit tendenziell ausgrenzt, und zugleich jeden Glaubensersatz von vornherein verhindert und den religiösen Glauben beibehält. Die Religion ist in der mitteleuropäischen Tradition die Mutter der Aufklärung: In Wahrheit arbeiten die frühen böhmischen Aufklärer um Hus bereits an der Befreiung des Denkens aus der Vormundschaft des Glaubens. Jetzt werken Denker wie Mika und Bolzano an der völligen Befreiung des Denkens von Vormundschaft jeder Art, – von der religiösen im alten Sinn und auch von jener der neuen Wissenschaften. Die herrschende, westlich-rationalistische Aufklärung versucht diese starke katholisch-mitteleuropäische Überlieferung zu entmachten, indem sie die Vorurteile des früheren Denkens durchwegs negativ akzentuiert und verdammt. Mit diesem „Vorurteil der modernen Aufklärung“ fällt sie auf dem Weg der Erkenntnis hinter diese Bewegung zurück, und dagegen bewahrt nicht einmal der Schein rastloser Tätigkeit, mit dem sie auftritt. Hans-Georg Gadamer hat die herrschende westlich-rationalistische Aufklärung in der Feststellung charakterisiert, es gebe

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ein Vorurteil der Aufklärung, das ihr Wesen trägt und bestimmt: Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung. (Gadamer 1960: 255)

Unter ,Überlieferung‘ fällt die ganze Metaphysik.

5 Identitätsverlust in Mitteleuropa Jetzt droht neuerdings Krieg, die eigentliche Gefahr jeder wirklich geistigen Entwicklung. Napoleon brachte die ganze westliche Welt in Aufruhr. Die Gewalt wurde von außen an das Habsburgerreich herangetragen. Das bedeutete Gefahr für das große Experiment der mitteleuropäischen Aufklärung. Die Epoche nach dem Wiener Kongress (1815–1879) bezeichnet der in die Vereinigten Staaten emigrierte Wiener Historiker Robert A. Kann (1974) in seinem Standardwerk mit „Stillstand, Abschied und Stabilisierung“. Man könnte mit Stefan Zweig (1881–1942) noch ,Erstarrung‘ hinzufügen. Helmut Rumpler (1997) nennt die Epoche von 1804–1914 Eine Chance für Mitteleuropa. Er nannte diese im 19. Jahrhundert rundum von Nationalisten bedrängte Habsburgermonarchie wohl nicht zuletzt auch deshalb eine „Hochburg der Humanität“ (Rumpler 1997: 15) im 19. Jahrhundert, weil sie von martialisch hochgerüsteten Staaten umgeben war und ihnen noch ein Jahrhundert standhielt. Hellmut Andics nennt diese Zeitspanne Das österreichische Jahrhundert (1974) und deutet damit etwas wie eine späte Blüte an, die in unglaublicher Vielfalt aufgeht und im Ersten Weltkrieg abstirbt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war zumindest in Mitteleuropa noch nicht ausgemacht, dass die Chance, eine humane Aufklärung weiterzuführen, vielleicht doch noch ergriffen werden könnte. Diese Möglichkeit allein machte die Größe dieses Jahrhunderts (und den Höhepunkt in der Jahrhundertwende bis 1918 aus. Robert Musil (1880–1942) spricht von der Donaumonarchie als einem Land der Möglichkeiten; Hermann Broch (1886–1951) nennt die Zeit vor der Jahrhundertwende als eine der „fröhlichen Apokalypse“ (Broch KWA 9/1, 145ff) und deutet durch die paradox klingende Formulierung an, wie wenig bewusst sich zugleich die Menschen ihrer unglaublichen Möglichkeiten in diesen Zeiten waren. Aber zurück zum Wiener Kongress: Die Verbindung von weltlicher und geistlicher Macht hatte dazu geführt, dass in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts ausschließlich Adelige auf den Bischofsthronen saßen: Ein Miss-

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brauch, der wesentlich mit zum Aufruhr und zur Französischen Revolution von 1789 geführt hatte – und durch sie auch beendet wurde. Die Revolution führte unter Napoleon Bonaparte (1769–1821) zu einem kriegerischen Flächenbrand in ganz Europa; zu einem totalen Krieg, der die politische Landschaft Europas grundlegend verändern sollte. Der napoleonische Expansionskrieg und die durch die Koalitionskriege eingeleitete Epochenwende trafen Österreich mit voller Härte und ganz unvorbereitet: in einer Hochkultur, die mit der Wiener Klassik gekrönt wurde, mitten im spannenden Prozess einer fundamentalen Aufklärung weiter Bevölkerungskreise. Das aufgeklärte Tauwetter in Österreich endete also – ausgerechnet als Folge eines revolutionären Ereignisses, das durch die Aufklärung erst denkbar geworden war – in blutigen Kriegen, wo Hunger und Elend, – all das, wovor man gerade wirksamen Schutz gefunden zu haben glaubte, wieder über das Land hereinbrach. In dieser unglücklichen Lage wurde das Habsburgerreich zur Reaktion gleichsam gezwungen; es avancierte zum ungewollten Gegner der Französischen Revolution schlechthin: Nicht die habsburgische Dynastie oder irgendeine der wechselnden Administrationen waren bedroht. Ein eigenartiges und eigenwilliges politisches und kulturelles System, das nach westeuropäischen Maximen nicht zu begreifen war, wurde zum ersten Mal radikal in Frage gestellt. (Rumpler 1997: 18; Bauer 1974: 39ff.)

Die Donaumonarchie geriet so in eine schiefe Optik: Sie war im Aufbruch, das Licht einer neuen, alles Leben umfassenden Aufklärung hatte gerade zu leuchten begonnen. Jetzt aber schien es, als wolle gerade sie sich gegen diesen Aufbruch stemmen. Seit dem Revolutionsjahr 1789 bekam die Gegenaufklärung auch in Österreich wieder Oberwasser (Krenz 2016). So wie der Dreißigjährige Krieg die Glaubensspaltung in die europäische Kultur mit Feuer und Schwert eingebrannt hat, so sollten diese Kriege jetzt die europäische Aufklärung spalten: Eine Wissensspaltung, wenn man so will, nicht weniger schicksalhaft als die frühere Glaubensspaltung. So wie Napoleons Eroberungskriegszüge den Verrat an der humanen Idee der Revolution bedeuteten, so bedeuteten die daraus hervorgehenden nationalen Kriege aus der Sicht der mitteleuropäischen Aufklärungsbewegung den Verrat am eigentlichen Konzept der Aufklärung – sowohl durch die kriegerische Gewalt selbst, als auch durch die folgende Wiederaufrichtung von Herrschaftssystemen alten Musters mit neuen Waffen und Konzepten. Nationale Kriege stimmten bisherige kulturelle Standards jäh herab und schwächten auch die friedliche Position der Aufklärungsströmung im Kern Europas entscheidend. Die neuen, bürgerlichen Machteliten der großen europäischen Nationalstaaten profilierten sich in diesen Kriegen. Die Macht-

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politiker der aufstrebenden Nationalstaaten Preußen und Italien schlossen sich begeistert an. Das alte Habsburgerreich stand im Verteidigungs- und Rückzugsgefecht gegen die , moderne‘ Welt. Es ging bei diesen Kriegen um Macht, Weltmacht, um die Herrschaft über Mensch und Natur. Der österreichische Kanzler Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) sprach mit guten Gründen von einem Weltkrieg. Er kannte die wirklichen Dimensionen dieses Krieges (Siemann 2016: 238ff.). Er wusste, dass es nichts zu gewinnen gab im Krieg. Unter den vielen Reformen, die Joseph II. zur Vereinfachung und Organisation des bürgerlichen Lebens eingeführt hatte, war auch der sogenannte Spracherlass von 1784 gewesen. Die Entscheidung zugunsten der deutschen Sprache ging zunächst allgemein zu Lasten der bisher dominanten Bildungssprache Latein. Es war eine praktische Entscheidung gewesen. Nicht beabsichtigt war, dass die andere Landessprache in Böhmen, das Tschechische, dadurch in ihrer gerade wieder begonnenen Aufwärtsentwicklung empfindlich gestört wurde. Josef Dobrovský hatte die Gefahr erkannt. Nach Josephs Tod hielt er, anlässlich der Krönung seines Nachfolgers Leopold II. (1747–1792; ab 1790 Römischer Kaiser) zum König von Böhmen am 6. September, am 25. September 1791 in Prag vor diesem eine Rede, und zwar Über die Ergebenheit und Anhänglichkeit der slavischen Völker an das Erzhaus Österreich. Dobrovský versicherte den Monarchen der Treue seiner slawischen Völker. Er nahm die Gelegenheit zum Anlass, seinen König dazu zu bewegen, ihrer [tschechischen] Sprache weiterhin mehr Geltung zuzugestehen (Schamschula 1979: 556). Der „Aufblick zur habsburgischen Dynastie ist eine gängige rhetorische Figur in den tschechischen Sprachverteidigungen, über welche die spätere Literaturgeschichtsschreibung schweigend hinweggeht“, so Peter Demetz (2001: 131). Sprachnationalismus war im Habsburgerreich noch nicht im Spiel. Doch er war schon erfunden und drängte vom Westen her bereits spürbar ins Reich. Kaiser Leopold II. war unter anderem von Karl Anton Graf von Martini (1726–1800) erzogen und in die Naturrechtslehre eingeführt worden. Als Großherzog von Toskana (1765–1790) hatte man in ihm einen überlegten Aufklärer geschätzt, der die drückende Generalpacht abschaffte, ebenso das Kirchenasyl, der auch Auswüchse der Volksfrömmigkeit eindämmte, die Armee auflöste, die Gesundheitsvorsorge reformierte und gerade dabei war, den toskanischen Musterstaat in eine konstitutionelle Monarchie mit klar begrenzten Rechten der Herrscher umzuwandeln, – als er die Erbnachfolge in Wien antreten musste. In seinen zwei Wiener Regierungsjahren konnte er nicht allzu viel ausrichten. Mit der von Leopold II. geschaffenen Studieneinrichtungskommission bekam nun Graf Martini bedeutenden Einfluss auf

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die Universitätspolitik. Leopold II. wollte auf universitärer Ebene der von Frankreich inspirierten Revolutionspropaganda entgegenwirken und die einfachen Bevölkerungsschichten zu ihrer traditionellen Anhänglichkeit an das Kaiserhaus zurückführen (Wangermann 1966: 103ff.). Im Reichsvolk hatte sich das nationalistische Denken noch nicht eingenistet. Dass das Reich jetzt im Süden angegriffen wurde, empfanden die Betroffenen weitgehend ohne nationalistische Überhöhung (als Kampf für die Freiheit) noch einfach als kriegerische Handlung, als Gewaltakt, Usurpation, Blutvergießen, und man sah das menschliche Leid, das damit einherging, als solches. Die Begeisterung über die Französische Revolution und ihre Folgen hielt sich beim Volk durchaus in Grenzen. Man spürte davon nur die allgemeine Not, Gewalt und die Beunruhigung. Unter der Regierung von Leopold II. setzten jetzt auch politische Vorsichtsmaßnahmen ein. Als der Kaiser im Jahr 1791 Gottfried van Swieten als Präsens der Studienhofkommission entließ, da war bereits klar, dass der Wind schon aus einer anderen Richtung wehte (Wangermann 1978: 113; 1966: 123ff.). Über den Grafen Martini kam es zu einer Schwächung der Universitätsästhetik: man hatte deren Zusammenhang mit den neuen Formen von (idealistischer, nationalistischer) Schwärmerei durchaus erkannt. Leopolds Sohn und Nachfolger Franz II. (1768–1835; 1792–1806 Römischer Kaiser, ab 1804 als Franz I. Kaiser von Österreich, ab 1792 König von Böhmen) verschärfte die Gangart. Über den Grafen Rottenhan (1738–1809) trieb er die Stärkung der Naturwissenschaften wieder voran; – aber jetzt in einem neuen und ganz anderen Sinn als zuvor nämlich, so Graf Rottenhan in seinem Gutachten über den Gesichtspunkt und Wirkungskreis der Studien-RevisionsKommission: „damit der politischen und philosophischen Freidenkerei […] Grenzen gesetzt werden.“ (zit. n. Sauer 1995: 309) Das politische Klima änderte sich in Mitteleuropa bald unter den kriegerischen Bedrohungen. Das wirkte sich auch auf die Zensur aus: Kaiser Joseph II. selbst hob mit Dekret vom 20. Jänner 1790 die Zensurfreiheit nach drei Jahren wieder auf. Kirche und Staat vereinigten sich in dieser Rücknahme von Freiheiten und bekräftigten das in der Zensurvorschrift vom 21. Juli 1814, die eine Art Vorzensur religiöser Schriften seitens der kirchlichen Behörden (bischöflichen Konsistorien) vorsah. Von Gemeinwohl oder Glückseligkeit war bald nicht mehr oder nur noch oberflächlich und hohl die Rede. Wir haben heute ein durchwegs negativ geprägtes Bild von Zensur. Die Aufklärer in der Zeit Maria Theresias hatten die Zensur noch als Dienstleistung für die einfachen und teilweise unmündigen Staatsbürger verstanden: Man wollte ihnen die Zeit und Mühe ersparen, die ihnen eine Lektüre von Schriftwerken bereitet hätte, aus denen erwiesenermaßen nichts dem Gemein-

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wohl Nützliches hervorging. Es war eine paternalistische Zensur gewesen, allerdings „aus mütterlicher Wohlmeinung“; eine psychohygienische oder „policeyliche“ Maßnahme. Für Bernard Bolzano galt dieser positive Zensurbegriff grundsätzlich noch: Er war kein grundsätzlicher Gegner von Zensur und vertrat das Zensurieren von Schriften, auch noch in seiner Utopie Von dem besten Staate (BS XVI). Es war ganz in seinem Sinn, einerseits unnötige Zeitvergeudung zu vermeiden, sowie andererseits auch, Gewinnstreben vom Buchdruck fernzuhalten. Diesen Zwecken sollte eine Vorzensur dienen und nicht erst der umständliche Einzug von Druckwerken. Es stellte sich nach Bolzanos Amtsantritt bald heraus, dass die Obrigkeit im Habsburgerreich das frühere aufgeklärte Gedankengut verriet und es zu Phrasen entwertete. Die intellektuelle Autonomie der geistigen Schichten, darunter der Schriftsteller vor allem, wurde durch bohrendes Misstrauen und daraus folgend aufdringliche und argwöhnische und im modernen Sinn politische Zensur gezielt unterhöhlt (Wögerbauer 2007: 115; vgl. die von Wögerbauer u.a. herausgegebene Monographe V obecném zájmu [Öffentliches Interesse] 1749–2014, 2015; Künne/Piša 2018). Damit sorgten die Machteliten im Land für die pejorative Veränderung des Begriffes ,Zensur‘ (Bachleitner 2017). Auch dadurch löste sich das Band zwischen dem Volk und den Regierenden, das Jan Maria Mika vor einem Jahrzehnt noch voraussetzen konnte und das er noch zu festigen versucht hatte. Aber es war schon brüchig. Dass Aufklärung durch Krieg verbreitet werden könnte, daran glaubten die in den Krieg hineingerissenen habsburgischen Fürsten wohl nicht. Aufklärung bestand ja aus österreichischer Sicht gerade in der Verhinderung von Krieg durch die Kraft des Geistes oder der weiblichen Natur (in der Hochzeitsdoplomatie). Aber die weltlichen und kirchlichen Machteliten in Österreich waren verunsichert und sie begingen in ihrer Unsicherheit nun einen schleichenden Verrat an der eigenen Kultur und ihrer Aufklärungsbewegung. Die innere Ausdifferenzierung der Aufklärungskräfte in Österreich wurde nun zunehmend gestört. Die aktuellen Reformen des Grafen Rottenhan zielten nicht auf eine neuerliche Stärkung der Mathematik und Naturwissenschaften, sondern vor allem auf die Schwächung der vom deutschen Ausland eindringenden Bildungsströmungen wie etwa der Ästhetik ab. Mit dem Zurückdrängen dieser Einflüsse sollte das als gefährlich eingestufte Eindringen von Schwärmerei und Nationalismus nach Österreich verhindert werden. Um die Jugendlichen von aufrührerischen Gedanken abzubringen und sie zu disziplinieren, sollte stattdessen Mathematik gedrillt und geistlos repetiert werden. Mit derlei Maßnahmen wurde aber gerade ihr ursprünglich in der mitteleuropäischen

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Reformation angelegter und auch vielfach erreichter Nutzen, – nämlich der ganzen Bildung methodischen Halt und letztlich eine solide Grundlage zu geben – hintertrieben und die eigene Aufklärungskultur geschwächt. Die Geistesmenschen wehrten sich dagegen, in Wien und auch in Prag. In diesem Sinn widmete der aufmerksame Rhetoriker Jan Maria Mika dem Kaiser Franz II. im Jahr 1793 eine homiletische Schrift mit dem Titel: Warnung vor Fehlern, welche Unglück und Verderben über das ganze Land, wie über Frankreich, verbreiten könnten. Kaiser Franz, dem das Manuskript unterbreitet worden war, beschenkte den Autor mit 12 Gulden, die für den Druck bei Caspar Widtmann in Prag ausreichten (Mika 1794). In den Annalen von Strahov (Annales Strahovienses PNP Ms. Sg. DI IV 5, S. 106) heißt es dazu, Mika habe „das ansteckende französische System von Freiheit und Gleichheit abgelehnt, und die Untertanen dazu aufgefordert, dem obersten Herrscher Gehorsam und Treue zu bezeigen.“ (Haubelt 1981: 49) Aber der Prämonstratenser-Pater Mika predigte nicht etwa frommen Untertanengehorsam, sondern er suchte in seiner Schrift nach den Ursachen der Unzufriedenheit, die sich in der Revolution, – aus seiner Sicht zurecht – entladen hatte. Das war subtile Buridansche Dialektik. Als herausragender Homiletiker hatte Mika dabei immer im Auge, was er seinen Hörern zumuten durfte und was er ihnen ersparen sollte, um sie nicht unnötig zu beunruhigen (Mika 1794: 5f). Als eine der Hauptursachen für die revolutionäre Entladung von 1789 benannte er deutlich Habsucht und Geiz, die zu einer ungerechten Verteilung der Güter geführt hätten. Jan Maria Mika verwies auf die allzumenschlichen Eigenschaften der Mächtigen, die zu einer tatsächlichen und wachsenden Ungleichheit im Volk geführt habe, und benannte die Verschwendungssucht der Reichen als gerechten Anlass für die herrschend gewordene Unzufriedenheit (Mika 1794: 62ff.). Zum Abschluss seiner Schrift brachte er ein Lob auf das Kaiserreich an und huldigte dem Herrscher, – aber nicht nur dem ‚guten‘ Kaiser Franz, sondern zugleich auch Josef II. und seiner erfolgreichen Aufklärungspolitik! Mika stellte die Böhmen als gehorsame und vaterlandstreue Untertanen dar, was sie in diesen Zeiten auch ohne Zweifel waren, und fügte seinem Lob auf Kaiser Franz hinzu, dass dieser „den Fußstapfen des höchstseligen Andenkens und unvergesslichen Regenten unseres Königs und Kaisers Josef II., Seines glorreichsten Vorfahrers und Onkels, getreu folge!“ (Mika 1794: 134). „Und dies –“, kommentiert Josef Haubelt „recht prägnant – zu einer Zeit [1793/1794], da die antijosephinische Reaktion gegen die Aufklärung loszuziehen begann“ (Haubelt 1981: 51). – Hier ist der Wunsch offensichtlich schon stärker als die Beschreibungstreue: Wenn Mika versuchte, den restaurativen Katholizismus

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Franz II. mitzutragen, ohne die aufgeklärte Position eines Josef II. aufzugeben, dann hatte dieser Wunsch schon eine beträchtliche Kluft zu überbrücken. Auch wenn man zugeben kann, dass Franz II. durchaus nicht nur von Reaktion allein bestimmt war (Kann 1976: 261ff.), – das Kunststück ist ihm nicht gelungen. Allerdings muss dazugesagt werden, dass der Spielraum Franz II. äußerst gering war. Marian Mikas Kloster, das begüterte Prämonstratenser-Stift Strahof/ Strahov, war übrigens nur knapp – und vorwiegend wegen seiner hervorragenden theologischen und philosophischen Bibliothek – seiner Schließung durch Kaiser Joseph II. entgangen. Der Kaiser hatte erklärt, die Bibliothek sei „zu nützlich“, um zerstört zu werden. Zum Dank dafür brachte man im Giebelfeld des Eingangstores seine Büste ihm zu Ehren an (Beales 2008: 221f.). Am 20. August 1795 hielt Mika eine Predigt in der Kirche des Zisterzienserstiftes Ossegg/Osek, die als Lobrede auf den heiligen Bernhard als Friedensstifter auch gedruckt wurde (Mika 1795). Nun war Bernard de Clairvaux (1090–1153) wahrlich kein Friedensengel, allerdings sehr wohl ein großer Redner: Es gelang ihm, halb Europa für den zweiten Kreuzzug (1147–1149) zu entflammen. Sein Ideal sah er in den „bewaffneten Mönchen“ (Tempelritter) und deren Eintreten, und notfalls Sterben, für den Glauben. Auch die gewaltsame Christianisierung der Slawen hatte sein Beglückungsfeldzug vorgesehen. – Jetzt aber, am Ende des 18. Jahrhunderts, als „bundbrüchige Nachbarn“ Europa mit Krieg bedrohten, unterstützte Mika die Kriegsrüstungen des Kaisers und rief zur Unterstützung von Steuer- und Militärmaßnahmen der Regierung auf (Mika 1795: 6). Bernard de Clairvaux‘ Zeichnung als Aufklärer wie auch seine Schilderungen als Kämpfer gegen Häretiker waren dabei homiletisch durchaus zweckdienlich. Mika rief also mit starken Mitteln zur Verteidigung des bestehenden und noch wirksamen Aufklärungskonzeptes auf. Das war hohe rhetorische Kunst, aber hier half die Kunst wenig. Kaiser Franz II. hatte seit seinem Amtsantritt eine Reihe von Vorschriften und Ämtern eingesetzt, die mit der sogenannten „General-Verordnung“ von 1795 eingeführt wurden und den bisherigen josephinischen Freiheiten nun ein sicheres Ende bereiteten (Bodi 1995: 27ff.). Mit den sogenannten Jakobinerprozessen ab 1794 war es den Aufrührern an den Kragen gegangen. Der aus Prag stammende Franz Hebenstreit (1747–1795) wurde am 8. Jänner 1795 nach einem abschreckenden Schauprozess in Wien durch den Strang hingerichtet; die anderen Angeklagten wurden auf verschiedene Weise „unschädlich gemacht“ (Winter 1944: 137). Nach den Jakobinerverfolgungen veränderte sich das geistige Klima im Habsburgerreich krass. Seit 1795 arbeitete eine Studienrevisionskommission unter dem Vorsitz des Staatsmi-

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nisters Graf Heinrich Franz Rottenhan daran. Die von den Machteliten als zersetzend empfundene, aber bei der aufgeklärten Jugend sehr beliebte Philosophie Immanuel Kants – ja am liebsten wohl mit ihm kritisches Denken überhaupt – sollte aus den Studien verbannt werden. Stattdessen wurden diese wieder mit eher gedankenlosen, ,religiösen‘ Inhalten versehen. Aus Gründen der Staats- (und Religions)-Sicherheit wurde, nach langen Disputen in der neu eingerichteten Studienrevisionskommission, die Rezeption von Kants Werken 1798 untersagt und in der Folge effizient verhindert (Sauer 1982: 267ff.; 278). Beide Maßnahmen waren, nachträglich betrachtet, kontraproduktiv. Indes kam Napoleon mit seinen Heeren Wien immer näher. Er hatte sich 1804 selbst zum Kaiser ausgerufen. Der aus Preußen zugewanderte Politiker Friedrich Gentz (1764–1832) rief in seinem Kriegsmanifest vom März 1809 zum Aufstand gegen ihn auf. Das Manifest richtete sich an die ‚deutsche Nation‘. Das führte zu einiger Verwirrung, denn von welcher deutschen Nation war eigentlich die Rede? Eine deutsche Nation im Sinne der französischen gab es nicht. Eine zivile Miliz war aber notwendig; denn nur eine Bürgerbeteiligung konnte den kriegsentscheidenden Umstand fehlender Personalstände im österreichischen Heer etwas ausgleichen. Eine Miliz war allerdings, was ihre zerstörerische Effizienz betrifft, nicht mit einem ausgebildeten Heer zu vergleichen; es fehlte ihr zudem, im Gegensatz zu den Angreifern, die nationalistische Begeisterung. Einen böhmischen Landespatriotismus gab es seit dem Mittelalter. Er ist bereits in der deutschsprachigen Literatur Prags des 13. Jahrhunderts nachweisbar und von grundsätzlich toleranter Natur (Krywalski 2003: 132–141). Er zeugt von Stolz auf das bedeutende, alte Königreich und ist ursprünglich mit verbürgten Standesrechten verknüpft gewesen. Mit einem Reichspatriotismus, der sich auf das ganze dynastische Gebilde bezieht, war der böhmische und auch andere Arten des Landespatriotismus bestenfalls locker verknüpft. Das Volk zeigte, auch wenn es die Notwendigkeit dazu einsah, begreiflicherweise wenig Begeisterung für den Militärdienst (Kann 1966: 222f.). Der Nationalismus griff in Österreich nicht wirklich. Selbst der Wunsch nach einem eigenen deutschen Staat war im mitteleuropäischen Kaiserreich gegenstandslos und hatte auch nicht das Potential, etwas an den bestehenden Umständen zu verbessern. – Zu verbessern gab es allerdings genug: In Böhmen bestanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts große soziale Unterschiede zwischen beiden autochthonen Bevölkerungsgruppen und die tschechische hatte nach wie vor erheblichen Nachholbedarf. Der Spracherlass gefährdete jetzt die tschechische Aufholbewegung, besonders im Bildungsbereich. Der

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Vorgang, der mit Dobrovský, Ungar, Mika und vielen anderen zu einer Art Volksbewegung geworden war, wurde dadurch kräftig hintertrieben. Der Identitätsverlust des habsburgischen Staatenbundes war auch eine Folge der Kleingläubigkeit seiner religiösen und politischen Machteliten und ihrer Berater. An dessen Stelle trat jetzt argwöhnisches Misstrauen in die intellektuellen und künstlerischen Menschen und Kreise. Die geistige und weltliche Administration der Habsburgermonarchie war jetzt im Begriff, auf höchster Ebene ihre einst über den Dingen stehende Einigungskraft zu verlieren. Sie verlor das Vermögen, die geistige Bewegung des Landes auf ihrer Seite zu halten, und zwar in dem Ausmaß, als sie deren geistige Dynamik ängstlich einzuschränken, zu überwachen und dirigieren versuchte. Die Säkularisierung, in Österreich unter Joseph II. vorangetrieben, führte ab 1803 in faktischer Weise von geänderten Besitzverhältnissen und Abhängigkeiten zum Ende der geistigen auch das Ende der materiellen Vorherrschaft der Katholischen Kirche. Als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das den lockeren politischen Rahmen für vielfältige und beeindruckende geistige und künstlerische Entwicklungen in Europa geboten hatte, 1806 formell aufgelöst wurde, bedeutete das die Aufgabe eines fast tausendjährigen Gebildes und damit den totalen Traditionsbruch. Dieses geräumige gotische Gebäude war eben nicht nach allen Regeln der Baukunst errichtet, wie Theodor von Dalberg (1744– 1817) am Ende feststellte, aber in ihm hatte man lange Jahrhunderte in ziemlicher Sicherheit wohnen können. An dem epochalen Wandel aller Lebensbereiche änderte die Übernahme der Kaiserwürde durch Österreich unter Franz II., nunmehr I. von Österreich, nichts mehr. Immerhin gelang es, den Anspruch auf Heiligkeit im Österreichischen Kaisertum, das geglaubte Fundament seit Konstantin, formal aufrecht zu halten. Auch in der Kirchenhierarchie war die Verschiebung in den Erwartungen und Begründungen jetzt spürbar: Die Schöpfung von Joseph Haydn (1732– 1809) mit dem von Gottfried van Swieten im aufgeklärt liberalen Geist bearbeiteten Text nach Paradise Lost des John Milton (1608–1674) und seine Psalmen wollten den dogmatisch erstarrten Ansprüchen der Kirche nicht mehr genügen: Ihre Aufführung in Kirchenräumen wurde schlichtweg untersagt. Und das, obwohl, oder weil, derartige Aufführungen allgemeine Begeisterung erregt hatten! (Weidringer 2009b: 43). – Anders als heute, wo die Geschmäcker irgendwie auseinandergefallen sind, war die Musik Haydns offenbar allen verständlich. Es gab keinen Unterschied zwischen Ernster und UnterhaltungsMusik: (Bloße) Unterhaltung war diese Musik nie, Unterhaltung im heutigen

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Verständnis als Ablenkung vom Ernst des Lebens war in dieser Welt vielleicht noch nicht gängig. Ernst war Haydns oder Mozarts Musik auch nicht unbedingt. Sie war streng komponiert, Ernstes wie heiter Unterhaltendes war nach den gleichen Aufbauregeln angeordnet. Genaueres Hinhören ließ aber immer wieder gezielte Regelverstöße erkennen: Das war gegen den kindischen Ernst gerichtet, darin zeigte sich der tiefere Humor und die Heiterkeit, die diese Kultur ausgemacht hatten, und die jetzt von den eigenen Machteliten so gefürchtet wurde. Schließlich gab es auch keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Musik. Gerade Haydn griff nicht selten auf sakrale Formen zurück, wenn er etwas Neues schuf, wie etwa die f-MollSymphonie (Hob 1:49) von 1772, aus einer viersätzigen Sonata da chiesa aus der Barockzeit. Die scharfe Reaktion macht deutlich, dass die kirchlichen und staatlichen Führer die subversive, befreiende Macht der Kunst, und nicht nur der Wortkunst, sehr wohl ahnten: Die Künste führten ihnen die Grenzen der Macht vor die Sinne. Nicht nur die Künstler, sondern die eigenständige mitteleuropäische Art der Aufklärung insgesamt konnte keinen Rückhalt mehr von Staat und Kirche erwarten. Deren Administrationen verstanden ihre eigenen Denker und Künstler nicht mehr und wandten sich jetzt von ihrer eigenen Kulturtradition ab. – Und das ermöglichte es der herrschenden Aufklärung, ihren bisher an den habsburgischen Grenzen aufgehaltenen Siegeszug auch hier einzuleiten. Der fundamentale Identitätsverlust geht von der Führungsschicht aus. Aber die andere, nicht herrschende Aufklärung bedarf gar keiner ausgewiesenen Führungsschicht. Bleibt also nur die Gewalt als Mittel der herrschenden Aufklärung, sich ihr Vorrecht zu verschaffen – der Krieg.

6 Ein neues Katechetenamt In diesen Zeiten musste dem – aus der Sicht der Mächtigen – Unruheherd der Philosophischen Studien, der alten Artistenfakultät, wieder einmal das Feuer genommen werden. Die Auflösung des Jesuitenordens 1773 und die zweite Theresianische Studienreform im Jahr darauf hatten die Verweltlichung der Studien beschleunigt. Die Prager Historikerin Marie Pavlíková beschreibt die Lage:

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Mit dem Abbau des jesuitischen Unterrichtssystems und dessen scholastischer Grundlage, dem Durchbruch der Aufklärung und mit der fortschreitenden Rationalisierung des Unterrichts verschwand die Religion vollkommen aus der höheren Bildung. Das neue Unterrichtssystem an den philosophischen Fakultäten und Lyceen führte aber nicht nur zur Meinungsfreiheit und Toleranz, sondern in seinen Folgen zur religiösen Gleichgültigkeit und erweckte in politischer Hinsicht revolutionäre Ideen, (Pavlíková 1985: 133)

Man wollte jetzt ein neues Amt einführen, um der Unruhen Herr zu werden und den Machtverlust der herrschenden Eliten hintanzuhalten. Das Philosophicum wurde umgebaut. Neue Fächer wurden eingeführt und das Amt der Studiendirektoren brachte neue staatliche Kontrollmöglichkeiten. Spätestens in der Unterrichtsreform von 1804/05 wurde die Tendenz zur Rücknahme der aufgeklärten Bildungspolitik eindeutig. Wir können sie als eine Folge der Ängste verstehen, die Kriege und Umstürze bei Herrschern und auch Untergebenen ausgelöst haben. Der Zusammenhang zwischen religiöser Gleichgültigkeit und revolutionären Bewegungen schien eindeutig. Daher kam der Gedanke, den Glauben, jetzt freilich sehr verkürzt als religiöser Gehorsam verstanden, wieder zu stärken. Davon versprachen sich die weltlichen und geistlichen Machteliten jetzt offenbar eine Hemmung revolutionärer Leidenschaftlichkeit und gehorsame Gläubige. Mit Hofdekret vom 22. Oktober 1802 wurde die Studienversammlung (Studienkonsess) aufgelöst und die Institution der Studiendirektoren erneuert. Eine Revision des Lehrplanes wurde vorbereitet und ebenso die Errichtung von Lehrstühlen der Religionswissenschaft an den philosophischen Fakultäten. Schon der Entwurf eines neuen Studienplans der Studienkommission von 1796 hatte einen Vorschlag Chrysostomus Pfrogners (1751–1812) zur Wiedereinführung der religiösen Erziehung an allen Schulstufen vorgesehen, – um diesem religiösem Indifferentismus entgegenzuwirken. Die aktuelle Unterrichtsreform schuf jetzt das neue Amt des Universitätskatecheten an der alten Artistenfakultät, dem jetzigen Philosophicum. Der Wunsch nach einem eigenen Religionslehrer für die allgemeinen philosophischen Studien war nicht neu und hatte viele gedankliche Väter: Das Bestreben, tüchtige Beamte und redliche Bürger heranzubilden (Maria Theresia); Herz und Verstand der Jugendlichen im aufgeklärten Sinn zu prägen (Gottfried van Swieten); dem Reich Nutzen zu bringen (Joseph II.); dem Verfall der Sitten entgegenzuwirken (Martini). Dieser wollte die Reden auch mit der Verpflichtung zum Besuch des Gottesdienstes verknüpft sehen. Zudem ging es auch um die Anhänglichkeit zum Landesfürsten (Leopold II.) und schließlich darum, die politische Ordnung, die in Folge der Französischen Revolution in ganz Europa aus den Fugen geraten war, wiederherzustellen (Franz II./I.). Die Verschiedenheit der

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einfließenden Zielvorstellungen, vom josephinisch geprägten Staatsutilitarismus über philanthropisch beeinflusste Erziehungsideale bis zur Angst vor idealistischem Freiraum und zu politisch-religiösem Restaurations- und Sicherheitsdenken. Das alles ergab einen weiten Rahmen der Erwartungen für den neuen Religionsprofessor, aber auch weitgehende Wirkungsmöglichkeiten und -befugnisse am Philosophicum, das den ‚Berufs- oder Brodstudien‘ vorgelagert war. Ab 1804 einzusetzende Religionslehrer sollten dem anwachsenden religiösen Indifferentismus entgegenwirken. Ihr Amt war als Werkzeug der katholischen Restauration in Österreich angelegt (Pavlíková 1981: 41). Restauration bedeutete das Wiederherstellen und Festhalten des Erreichten für Klerus und Adel, den status quo für die Mächtigen zu erhalten. Im Zuge des josephinischen Spracherlasses war Deutsch als Unterrichtssprache auch an der Theologischen Fakultät für den Lehrvortrag in Pastoral und an der Philosophischen Fakultät eingeführt worden. Die Grundlage des Collegiums St. Clemens am rechten Kopf der Karlsbrücke bildete ein fünfjähriges Gymnasium, dem ein dreijähriger Kurs in Philosophie folgte, auf dem dann ein zweijähriges Studium der Theologie aufbaute (Stemberková 1996: 29). Dieser Struktur folgte auch noch die Einrichtung des dreijährigen Philosophicums, wie sie von der Josephinischen Unterrichtsreform in der bis 1848 geltenden Variante angelegt wurde. Es war den höheren, praktischen Studien Theologie, Jurisprudenz und Medizin als Propädeutikum vorgelagert. Gottfried van Swieten hatte eine Aufwertung der Philosophischen Studien angestrebt. Von einer Gleichstellung mit den anderen Fakultäten konnte aber noch immer keine Rede sein (Stachel 1999: 123). Ohne Zweifel hatte die Philosophische Fakultät aber nach wie vor eine Schlüsselstellung im ganzen Bildungssystem des Kaiserreiches inne. Nichts weniger als die Nähe und Ergebenheit der gebildeten Gesellschaftsschicht der künftigen Intelligenz des Landes zur Katholischen Kirche und deren Lehre, und damit verbunden die Loyalität gegenüber dem katholischen Herrscherhaus, lag zu einem guten Teil in den Händen dessen, der dieses Amt ausüben sollte (Pavlíková 1985: 133). Im Hofdekret vom 3. Februar hieß es dann: Zur Verbesserung des Religionsunterrichts bei den teutschen und lateinischen Schulanstalten soll ein eigener Katechet angestellt werden […] [um] auf den heilsamen Zweck hinzuwirken, die Schüler der Philosophie zu guten Christen und rechtschaffenen Bürgern zu bilden. (zit. n. Jaksch 1830: 592f)

Das klang noch ganz nach Maria Theresia, die dem Katecheten wohl zugerufen hätte: ‚Mach‘ er mir gute Christen und rechtschaffene Bürger darauß!‘ Aber es war bereits ganz anders gemeint. Die Absicht entwickelte sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts in die entgegengesetzte Richtung: Die Herrschen-

Aufklärung im Habsburgerreich

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den verlangten jetzt gehorsame Einhaltung der ‚Christenpflichten‘ und willige Unterordnung in einen Staat, der jedoch zunehmend autoritär regiert wurde. In diesem Zusammenhang wurde jetzt beschlossen, dass ein Katechet am Philosophikum ernannt werden sollte, dessen vordringliche Aufgabe es wäre, für Ruhe und Ordnung Sorge zu tragen. Den schleichenden Identitätsverlust des alten Mitteleuropa zu beenden oder gar umzukehren, lag nicht im Interesse der Herrschenden, weder in der verunsicherten habsburgischen Staatsführung, noch weniger in der Kirchenhierarchie. Dieses neue, zweifellos sehr einflussreich angelegte Katechetenamt trug nicht nur die Hoffnungen all jener, die vor wirklicher Aufklärung Angst hatten. Es trug auch Hoffnungen der verantwortungsbewussten böhmischen Aufklärer wie Dobrovský und anderer, etwa Jan Maria Mika. Der sollte bei der Besetzung des neuen Katechetenamtes noch seine Hand im Spiel haben.

Zweiter Teil

Gott schafft die Tiere, der Mensch schafft sich selbst Lichtenberg [1776/80]

Bernard Bolzanos Kindheit und Jugend 1 Ein Kind der Übergangszeit In Prag konnte man zu Beginn des Jahrhunderts noch den milden Hauch des früheren Tauwetters spüren. Das Kronland Böhmen hatte, so wie die ganze Donaumonarchie, gerade geistig aufgeatmet: Gelehrte und Gläubige hatten den Anschluss an die geistige Bewegung der frühen Aufklärung gefunden. Böhmen war, auch in Technik und Wirtschaft, führend im ganzen Kaiserreich. Reformkatholizismus und Josephinismus prägten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch das Geistesleben im Habsburgerreich, ebenso wie ein lebendiger, sinnenhafter Glaube im Einklang mit einer Aufklärungsbewegung, die den ganzen Menschen erfasste. Am Himmel flirrte jetzt das Wetterleuchten der Koalitionskriege. Besuchern der Stadt, wie etwa dem gern in Böhmen weilenden Kurgast Goethe, fiel das rege kulturelle Leben Prags auf; er sah bedeutende künstlerische wie wissenschaftliche Leistungen im Entstehen. Kritische Beobachter im Lande beklagten in dieser Zeit einen durch die Kriege bedingten Rückfall in soziales Unrecht und zunehmenden Sittenverfall. Die politischen Ergebnisse der von 1792 bis 1815 dauernden Koalitionskriege zwischen Frankreich und seinen verschiedenen europäischen Gegnern, besonders Österreich, wurden im Wiener Kongress 1814/1815 besiegelt. Dort unternahm der österreichische Kanzler Lothar von Metternich den Versuch, wieder Ordnung in Europa zu schaffen. An eine Wiederherstellung der alten Reichsordnung war nicht mehr zu denken (Siemann 2016: 506ff.) – andererseits verlockte das Gegenmodell Napoleon als moderne Alternative nicht: aus dem Gerechtigkeit einfordernden Revolutionär war ein menschenverachtender Despot geworden; Raubzüge, Zerstörungen äußerlicher und innerlicher Strukturen folgten. Metternichs Staatskunst schaffte in dieser aussichtslosen Lage aber immerhin das Kunststück, die aufkommenden Nationalismen noch fast ein Jahrhundert lang zurückzuhalten, die kontinentaleuropäischen Macht-

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Zweiter Teil

begierden Russlands zurückzuweisen und damit die Grundlage für einen dauerhaften Frieden in Europa zu schaffen. Er bewerkstelligte das durch die ausgewogene Konstruktion eines stabilen formaljuristischen Rahmens. Damit bewahrte er letztlich das bunte Vielvölkerreich im Herzen Europas vor einem noch früheren Untergang, auch wenn es von dem ins Land getragenen Nationalismus jetzt von innen her zerfressen wurde. Das Habsburgerreich war jetzt von stark selbstbewussten Nationen umzingelt. Aus völkisch-nationaler Sicht erschienen Länder jetzt ,alt‘ und ,jung‘, so der Soziologe Norbert Elias (1897–1990); dem jeweiligen Grad des Nationalisierungsprozesses gemäß (1997: 78f.). ‚Jüngere‘ verhielten sich ungestümer, ehrgeiziger, kämpferischer als ‚erwachsene‘. Jede dieser Nationen strebte per definitionem danach, die größte Nation überhaupt zu werden, alle anderen zu besiegen und in absoluter, zeitloser Größe zu glänzen. Während Frankreich und England schon um die Weltherrschaft kämpften, drängten Deutschland, unter preußischer Führung, und das junge, nationalistische Italien jetzt begehrlich nach Mitteleuropa. Die Donaumonarchie hatte in einem Krieg nichts zu gewinnen. Sie war wohl das einzige politische Gebilde, in dem sich jetzt Beamte und Politiker der grundsätzlichen Wahrheit von der Sinnlosigkeit des Kriegführens bewusst waren. Eine Schwäche des großen Staatsmannes Metternichs äußerte sich darin, dass er, so wie die katholisch-klerikalen Eliten, denen er diente, die geistigen Kräfte im Land unterschätzte, ihnen mit Misstrauen begegnete und auch nicht daran dachte, diese anzuhören oder gar einzubinden: Davon zeugten nicht nur die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die Ausschaltung der kritischen Geistesbewegung, ihre Abdrängung in den Untergrund, das war das Verhängnis der Habsburgermonarchie, „Kakaniens“ (Musil 1985/1 – Kapitel 8). In diese Zeit der Umbrüche wird Bernard Bolzano geboren. Er spricht von dieser bewegten Zeit als von einer der ‚wohlthätigen Gährung‘ [=Aufklärung], aber auch vom „Dämmerungslicht der Aufklärung“, in dem sich neue, gefährliche Unklarheiten und Halbwahrheiten ausbreiten und das ganze Projekt der Aufklärung zu zerstören drohen. Er sieht größten Handlungsbedarf gegeben und richtet sein Leben danach ein. In einer seiner früheren Reden zeichnet er noch ein hoffnungsvolles Bild der Lage: Ich will es zwar nicht läugnen, daß besonders im Anfange und in der ersten Zeit der Gährung selbst von den Gelehrten mancher Irrthum und manche Verwirrung ausgehen wird: aber lasset das alles seinen Gang gehen, laßt es nur reifen u. bald wird sich alles von selbst u. ohne euer Zuthun in Ordnung bringen. Künste und Wissenschaften werden den Menschen das Thörichte und die völlige Grundlosigkeit ihres bisherigen Aberglaubens zeigen,

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sie werden einsehen lernen, daß nur die Mäßigkeit gesund erhalte, nur Fleiß u. Betriebsamkeit wohlhabend machen könne; sie werden einsehen lernen, daß ein gerechter Gott den Bösen nothwendig bestrafen müsse, und daß kein anderes Mittel, als wahre vollkommene Besserung die Strafe vorhergegangener Sünden mildern u. aufheben könne, sie werden einsehen lernen, daß alle Menschen einander wesentlich gleich sind, und einen unveräußerlichen, wesentlich gleichen Anspruch auf den Genuß irdischen Wohlseyns haben. Dies, meine Freunde, dies sind die wohlthätigen Wahrheiten, welche dort nicht verkannt bleiben können, wo Künste und Wissenschaften blühen, wo man die Kräfte der Natur erforscht und kennen lernt, wo man die Werke der Alten liest, wo die Veränderungen und Schicksale des menschlichen Geschlechts nicht unbekannt sind, wo jene Königin der Wissenschaften, die erhabene Weisheitslehre geachtet und betrieben wird. (1810.13: 158 [6. Jänner 1810], Fest der Erscheinung des Herrn)

Eltern Die Stadt Prag übte seit dem Mittelalter immer wieder große Anziehungskraft auf Menschen im ganzen Abendland und vor allem im Habsburgerreich aus. Die Mehrheit der Zuwanderer aus dem Süden stammte aus den Bergen und den Seengebieten um Lugano und Como sowie aus dem Tessin (Demetz 1998: 357–362). Bernardus Pompejus Bolzano (1737–1816), der Vater des Philosophen, war schon als Jugendlicher von Nesso am Comersee in der habsburgischen Lombardei nach Böhmen ausgewandert; ein gängiger Ortswechsel innerhalb der Donaumonarchie. Die Italiener in Prag waren gut organisiert und auch Bolzanos Vater hatte daran Anteil: Er war lange Jahre Kassier im italienischen Waiseninstitut zu Prag (Bolzano LB, 5. Zur Biographie Bolzanos: Hoffmann 1850; Zeithammer 1850; Wißhaupt 1850; Winter 1969; tabellarisch: Berg/Ganthaler/Morscher 1987). Der Vater Bolzano war Geschäftsmann und handelte mit Kunstgegenständen. Er heiratete Cäcilia Maurer (1753–1821), eine Frau aus der bürgerlichen Oberschicht, die dem deutschen Kulturkreis angehörte. Das Geschäft mit Devotionalien und Andenken ging „seit dem französischen Kriege“ immer schlechter, sodass am Lebensende des Vaters nicht viel des erworbenen Vermögens übriggeblieben war (Bolzano LB, 4). Am 10. Mai 1781 wurde Bernardus Placidus Johann Nepomuk (1781– 1848) als viertes von zwölf Kindern in der Familie Bolzano geboren. Von den zwölf Kindern erreichten nur Bernard und sein Bruder Johann Baptist (1777–1859) ein höheres Alter. Bernard war seinen Geschwistern sehr verbunden, besonders seiner früh verstorbenen Schwester Franziska (1796–1813) und seinem Bruder Peter (1793–1818), der in Ausübung seines Arztberufes aufgrund einer Ansteckung früh verstarb. Die Eltern waren bürgerlich, ka-

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tholisch. An seinem Vater beeindruckten den jungen Bernard vor allem die Gewissenhaftigkeit, der Gerechtigkeitssinn und die Bescheidenheit. Sein Vater war ein aufgeklärter Mann. Ihn zierte eine „von allen Schlacken des Aberglaubens gereinigte Gottesfurcht“, wie sein Sohn berichtet (Bolzano LB, 5). Der wurde durch die Aufklärungskultur seines Vaters geprägt. Dieser stammte aus der habsburgischen Provinz, in der sich unter Maria Theresias sprichwörtlichem buon governo reges aufgeklärtes Leben ausbreitete. Eine Beziehung zur lombardischen Aufklärung durch Pietro (1728–1797) und Alessandro Verri (1741–1816), Cesare Beccaria (1738–1774) u.a. ist durchaus denk- aber nicht beweisbar; auch ein Einfluss des Neapoletaners Giambattista Vico ist nicht auszuschließen. Allerdings ist das schwer im Detail nachzuvollziehen. Bernard Bolzano Vater ist in früher Jugend schon ausgewandert und so dürfte dann doch der literarische Einfluss Carl Heinrich Seibts, den dieser in Prag mit Begeisterung hörte, entscheidend gewesen sein. Der Sohn Bernard schätzte seinen Vater zeitlebens sehr. Seine Mutter, eine herzensgute und tiefgläubige Frau, liebte er. Ihr Glaube half ihr über die vielen erlittenen Schicksalsschläge hinweg. Sie war zeitlebens die große Stütze für ihren Sohn. In Bolzanos Prager Elternhaus lebten, allen Anzeichen nach, tiefe Religiosität und aufgeklärter Geist harmonisch zusammen.

Schule Schulbildung war in Österreich zu Bolzanos Zeit noch immer im Sinne der jesuitischen ratio angelegt, obwohl deren wohltätiger Einfluss, wie er einmal bemerkt, „seit mehr als drey Jahrzehenden, ich möchte sagen mit Aufhebung eines gewissen Hl. Ordens“ nachgelassen habe (1811.5: 74; 1811.4: 60): Er schätzte zeitlebens die Bildungsleistungen der Societas Jesu. In Bolzanos Jugend waren Aufklärung und Reformkatholizismus in Böhmen von charismatischen Persönlichkeiten wie Franz Stefan Rautenstrauch, Josef Dobrovský, Ferdinand Kindermann und Carl Heinrich Seibt, der als erster Laie und Nichtjesuit nach dem Dreißigjährigen Krieg in Prag Vorlesungen halten durfte, geprägt. Bernard Bolzanos Grundausbildung und Vorbereitung auf das Gymnasium erfolgte durch Hauslehrer. Die Prüfungen an der Theiner Hauptschule hatte er vermutlich als Privatschüler abgelegt. Die Theinschule war während der Theresianischen Schulreform aus der Pfarrschule hervorgegangen. Sie lag im Pfarrbezirk der elterlichen Wohnung in der Zeltnergasse (Pavlíková 1981: 30). Danach besuchte er das Neustädter Gymnasium (1791/92–1795/96). Die Schulzeit am Gymnasium, das von Piaristen

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geführt wurde und den staatlichen Behörden unterstellt war (fünf Jahre: Principia, Grammatik, Syntax, Rhetorik, Poesie nach dem Muster der ratio), blieb Bolzano in guter Erinnerung, insbesondere sein Rhetoriklehrer Hermengild Großmann: ich hatte das Glück, einen sehr würdigen Mann, namens Hermengildus Großmann zum Lehrer zu erhalten, und zwar durch alle fünf Jahre, durch welche damals die Gymnasialstudien währten. Noch jetzt schwebet seine Achtung gebietende Gestalt mir vor Augen, noch jetzt ertönet mir im Ohre die ernste, feierlich gedämpfte Stimme, mit der er sprach, wenn er erschienen war, uns zu der heil. Handlung der Beichte vorzubereiten. Was immer schön, was edel und groß war, das zog ihn mächtig an, und indem wir dieß sahen, fühlten auch wir uns begeistert. (Bolzano LB, 16)

Rhetorik war im mitteleuropäischen Wissenschaftsleben neben der Dialektik noch immer eine leitende Grundlagenwissenschaft. Das Wissen blieb auch zu Bolzanos Schulzeit eindeutig auf Logik, Mathematik und Physik gegründet und daran ausgerichtet. Jansenismus und böhmischer Reformkatholizismus hatten zudem christliches Sozialdenken in frühchristlicher Prägung ins Spiel gebracht. Die literarische Bildung sah bei den Piaristen neben Texten in den alten Sprachen auch deutschsprachige Werke zur Lektüre vor. Der Kanon erwies den Autoren des 18. Jahrhunderts nach wie vor Treue (Bauer 1974: 61–63), ließ die Romantiker beiseite und nahm Goethe und Schiller eher wählerisch auf (Jäger 1979: 106f.). Die Schöne Literatur zog Bernard Bolzano schon früh an. Seine Vorlieben entwickelten sich zunächst den Lesegewohnheiten im Elternhaus gemäß und wurden dann durch den literarischen Kanon im Gymnasium geleitet. In der Bibliothek seines Vaters fand er Pietro Metastasio (1698–1782), La Rochefoucault (1613–1680), Christian Fürchtegott Gellert, Salomon Gessner (1730–1788), Johann Jakob Engel, August Wilhelm Iffland (1759–1816) u.a. (Bolzano LB, 5). Bernard Bolzanos literarischer Geschmack bewegte sich zeitlebens in diesen Grenzen. Das hieß auch: österreichische Dichter fehlten. Deren Ansehen und Verbreitung war auch nicht besonders bedeutend. Der Ruhm Wiener Dichter reichte meist nicht bis Prag. Ihr Auftrag war auch eher bescheiden: Sie sollten dem Staatswesen dienliche Schriften erstellen. Was aber darunter zu verstehen war, gerade das war mit der Umwandlung des aufgeklärten zum wieder von oben kontrollierten Staat, der zu Zeiten Bernard Bolzanos stattfand, wieder zur Streitfrage geworden. Obwohl die kritische Ausrichtung der österreichischen Schriftsteller in dieser Frage durchaus mit jener Bolzanos übereinstimmte, kam er mit den Werken von Autoren aufklärerischen Geistes wie Michael Denis (1729–1800), Aloys Blumauer (1765–1798) oder Johann

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Baptist von Alxinger (1785–1797) kaum in Berührung. Aber auch die Dichter des in deutschen Ländern aktuellen Sturm und Drang oder der Romantik fehlten in Bolzanos Lektüreliste. So blieb der kaiserliche Hofdichter Pietro Metastasio der einzige verbürgte ‚österreichische‘ Dichter im Hause Bolzano. Insgesamt war Bernard Bolzanos Verhältnis zur Dichtung eher schwierig zu nennen: Nicht nur in seiner utopischen Schrift Von dem besten Staat beurteilte er die Schauspielkunst sehr kritisch und bewertete eine reine Dichterexistenz als unzureichend für ein erfülltes Leben (Bolzano BS XII, 126; 1816.20). Das Theater zog ihn nicht an. Auch der Umstand, dass ein paar Häuser von Bolzanos Wohnstätte entfernt in der Intendanz von Johann Karl Liebich die goldene Epoche des Prager deutschen Theaters gefeiert wurde (Gruber 2014), sollte ihn nicht merklich beeindrucken. Er hielt die Aufführung von Dramen grundsätzlich für verlorene Liebesmüh (Bolzano BS XVII, 129; 1816.20). So wenig er Idealismus schätzte, so stark war Bolzanos Achtung für Friedrich Schiller. Sein Interesse an Kunst war ein ethisches wie ästhetisches. Über den Vorrang der Ethik ließ er dabei keinen Zweifel aufkommen. Er folgte dem josephinischen Literaturverständnis: Literatur wie Philosophie wurde vorwiegend Gebrauchsfunktion zugestanden. Genialität war nicht erwünscht und wurde auch nicht angestrebt und geschätzt. Bolzanos wissenschaftliche Bildung verdankt sich der österreichischen Schulphilosophie, die zu dieser Zeit eng mit dem Religionsunterricht verbunden war. Maßgeblich dafür ist der grundsätzlich scholastische und dann vom naturwissenschaftlichen Ansatz der jesuitischen Bildungstradition geprägte Zugang zum Denken. Der wissenschaftliche Charakter dieser Philosophietradition war eher bescheiden, es gab auch keine herausragenden Persönlichkeiten. Eine zunehmend bedeutende Rolle spielen für Bolzanos Bildungsgang die zeitgenössischen böhmischen Gelehrten wie Chládek, Grün, Dobrovský, Mika und andere. Durch sie lernte er die genuin böhmisch-mitteleuropäische Philosophietradition kennen.

Heimat 1796, als Fünfzehnjähriger, in der letzten Gymnasialklasse des Prager Piaristengymnasiums, verfasste Bernard Bolzano ein Gedicht auf die sagenhafte böhmische Identifikationsfigur Libussa / Libuše. Damit drückte er seine tiefe, dankbare Verbundenheit zu seinem Vaterland Böhmen aus. Eine Verbundenheit, die nichts mit romantischer Verklärung zu tun hatte, sondern mit innigem Dank für erhaltene Möglichkeiten durch Bildung, Schutz und Geborgenheit. Das Gedicht auf Libussa war in 75 tadellosen lateinischen Hexametern gesetzt

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(Zeithammer 1850: 36–42; metrisch übersetzt von Robert Zimmermann; Demetz 2013: 17–35). Das stellt nebenher die Leistungsfähigkeit des österreichischen Schulsystems eindrucksvoll unter Beweis. Bolzanos panegyrischer, oder überhaupt, sein poetischer Ausdrucksdrang schien damit aber weitgehend erschöpft. Er flammte später nur einmal wieder auf; Friedrich Schiller zu Ehren, des einzigen Dichters unter den ‚Jüngeren‘, den Bolzano wirklich schätzte. In Bolzanos Libussa ist von Böhmens furchtbarem Aderlass (Hussitenkriege, Bílá Hora, ,dunkle‘ Zeiten [temno]) indirekt die Rede, und von der unvergänglichen Hoffnung auf ein spätes, glückliches Ende. In diesem Gedicht zeigt sich die starke Bewegung des böhmischen Wiedererwachens von ihrer ursprünglichen, unideologischen Seite. Sie sollte sein Leben prägen. Seine Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis war eindeutig, und dennoch stellte er sich unmissverständlich auf die Seite der tschechischsprachigen Bevölkerung und trat für die Wiederherstellung ihrer Rechte ein. Er war immer auf der Seite der Unterdrückten. Bolzano liebte seine Vaterstadt Prag und sein Heimatland Böhmen. Umso schmerzhafter erlebte er Prag jetzt als Ort des Sittenverfalls und sich ausbreitender religiöser Gleichgültigkeit. Die Fallhöhe war bedeutend; war diese Stadt doch einst glänzender Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reiches und Ausgangspunkt tiefgreifender geistig-religiöser Erneuerungsbewegungen gewesen. Diese Sorge bringt er mit seiner Auffassung von Gerechtigkeit und Gemeinwohl in eine objektive, systematisierbare Form, an deren entscheidender Stelle sein ‚Oberstes Sittengesetz‘ stehen wird, das sich hier schon andeutet, wie sein Biograph Gregor Zeithammer (1800–1881) bemerkt: Die Ausarbeitung seines Gedichts auf Libussa zeigt nicht nur einen großen Aufwand an Korrekturen und Entwürfen, – es leuchten bei dem Knaben auch schon spätere erkenntnisleitende Gedanken auf: Bemerkenswerth scheint es mir, dass er in einem [Entwurf] den Tugendhaften nennt, communi saluti progagandae studentem, sodaß ihm schon in jener Zeit das oberste Sittenprinzip, wie er es später aufstellte, vorgeschwebt haben mag. (Zeithammer 1850: 41)

Es ging in dieser Zeit wieder um die Bewahrung Böhmens vor dem drohenden Untergang in Irrtum und Aberglauben. Nicht die Rettung der Habsburgermonarchie war Bolzanos erstes Ziel. Die dynastische Sichtweise kommt hingegen bei dem Wiener Dichter Franz Grillparzer (1791–1872) deutlicher ins Spiel. Bolzano sah Böhmen als eigenständiges Land in dem größeren Verband der Habsburgermonarchie, aus dem auch seine Vorfahren stammten. Die Auflösung oder Zerstörung dieses größeren Verbandes würde niemandem dienen und war keineswegs in seinem Sinn. Er bleibt Böhmen, das er nie verlassen hat, stets dankbar verbunden.

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Zweiter Teil

Studium In den Studienjahren 1796/97 bis 1798/99 besuchte Bernard Bolzano das Philosophicum an der Karl-Ferdinands-Universität zu Prag. Mathematik (reine, praktische und angewandte) war hier grundlegende Materie. Der Mathematik und der Logik näherte er sich früh, jedoch langsamer und mühsamer, als man denken möchte, wenn man die Ergebnisse kennt. Das Fach Philosophie war aus Bolzanos Sicht in der von Carl Heinrich von Seibt übermittelten Form für ihn nicht überzeugend ausgeführt. Logik war nicht Seibts Stärke; er trug faktisch eine Art Gottschedscher Lebensphilosophie vor. In seiner Lebensbeschreibung erwähnt Bolzano Seibt auch nur kurz. Gregor Zeithammer zitiert aus Bolzanos Tagebuch, wo dieser Seibt so beschreibt: „etwas stolz, er spielt den Gelehrten – er leistet einem nachdenkenden Zuhörer nicht das Genüge, er evagiert gar sehr oft und unterhält mit Erzählungen, geht aber alles nur obenhin durch“ (Zeithammer 1850: 43f.; Winter 1969: 21f.). Nach Abschluss des Philosophicums dachte er daran, Theologie zu studieren. Die Mutter hätte das sehr gerne gesehen. Den aufgeklärten Vorstellungen seines Vaters widersprach das eher. Gemeinsam schlugen sie ihrem Sohn vor, noch ein Jahr mit dem Studium anderer Gegenstände zu verbringen. Also besuchte er im Studienjahr 1799/1800 den Kurs für Höhere Mathematik (zwei Jahrgänge zugleich) bei Franz Joseph Gerstner (1756–1832). In Gerstners Bericht an das böhmische Landesgubernium heißt es, dass der junge Mann bei seiner Abschlussprüfung bei weitem alle Schüler übertroffen habe, die er während seines siebzehnjährigen Wirkens an der Universität gekannt habe (Pavlíková 1981: 49). Die Prüfung war wegen der Krankheit des Beisitzenden (als Repräsentant der Fakultät), des Studiendirektors Karl Raphael Ungar, der an schmerzhafter Gicht litt, in dessen Wohnung im Klementinum abgehalten worden. Franz Joseph Gerstner in seinem Bericht über die Prüfung des jungen Bernard Bolzano: … hier zeigten sich seine ausgebreiteten Kenntnisse in dieser schwierigen Wissenschaft bei einem zweistündigen Examen in solchem Glanze, dass der Director darüber die innigste Freude offenbarte, sagend, er habe während dieser Zeit vor lauter Interesse keine Schmerzen empfunden. (Zeithammer 1850: 45f.)

Bolzano studierte zudem ältere und neuere Philosophie und vieles mehr: Er las die Colloquia familiaria des Erasmus (1466–1536), die Reden Ciceros, Salzmanns Moralisches Elementarbuch, Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica, dazu die zeitgemäßen deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). An Schöner Literatur las er jetzt Klopstock, Pe-

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trarca (1304–1374), Shakespeare (1564–1616) – (Zeithammer 1850: 47, 50f.). Er studierte die Metaphysik von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) und fand darin so manche logische Unzulänglichkeit. Beim Studium von Immanuel Kants damals hochaktuellen Haupttexten, – laut seinem persönlichen Arbeitsplan zwei Stunden täglich – ging es ihm nicht viel besser: Vieles schien ihm grundsätzlich richtig, wie etwa die Unterscheidung zwischen Begriffen und Anschauungen, jene zwischen apriorischen und aposteriorischen Urteilen bzw. Sätzen; zwischen analytischen und synthetischen Urteilen bzw. Sätzen, und anderes mehr. Es zeigte sich aber auch bald, was ihn von Kants Anschauungen trennte; er schrieb viele Bogen voll, stieg bis zu dem obersten Sittengesetze auf, welches [er] in der Beförderung des allgemeinen Wohles fand, und gegen das Kant’sche und einige andere in Schutz nahm. (Bolzano LB, 23; 1936a: 68)

Im Herbst 1800 begann Bernard Bolzano, trotz früh aufgezeigter Begabung für Mathematik, das Studium der Theologie (Studienjahre 1800/01 bis 1803/04). Zu Beginn des Studienjahres 1800/1801 war Professor Stanislav Vydra (1741–1804), Bolzanos Lehrer der Mathematik, ernsthaft erkrankt. Franz Joseph Gerstner, der Vorsitzende der Mathematischen Studien, wollte Bernard Bolzano, der ihm noch in bester Erinnerung war, die Supplierung übertragen. Dies war aber aus formalen Gründen – er war mit 18 Jahren zu jung – nicht möglich (Zeithammer 1850: 52). Im Theologiestudium stieß sich Bolzano bald daran, dass ihm verschiedene Lehren der Kirche mit der Vernunft oder doch wenigstens mit der Geschichte nicht vereinbarlich schienen. Von Begeisterung war er weit entfernt: Uebrigens muß ich bemerken, dass ich bei meinem Eintritte in die theologischen Studien noch gar nicht unbedingt beschlossen hatte, den geistlichen Stand zu ergreifen. Noch war ich ja nicht einmal recht überzeugt davon, ob auch die Religion, deren Verkünder ich in diesem Stande werden sollte, Wahrheit und Göttlichkeit habe … (Bolzano LB, 25f.)

Bernard Bolzanos Suche, ob das katholische Christentum wirklich auf einer göttlichen Offenbarung beruhe, brachte ihm nur dürftige und unsichere Ergebnisse. Seine Stimmung kippte, nicht etwa, weil die Suche zu einem Erfolg geführt hätte, – sondern weil er diese Suche selbst als unsinnig erkannt hatte. Gregor Zeithammer berichtet: Doch bald fing er auch an zu begreifen, wie wenig man Ursache habe, dieß [die Göttlichkeit des katholischen Lehrbegriffs] zu verlangen, um eine wahre göttliche Offenbarung im Christenthume zu finden. (Zeithammer 1850: 53)

Der Theologe Eduard Winter erklärt, wie Bolzano dabei vorging, als er, ohne Göttlichkeit vorauszusetzen, sich einen Begriff von derselben machte:

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Zweiter Teil

Der Offenbarungsinhalt wurde von Bolzano philosophisch durchdacht und neologisch bearbeitet, d.h. durch aufgeklärte Auslegekunst in allen seinen Teilen nützlich und vernünftig gemacht. Die protestantischen Theologen Spalding und Steinbart, die er durch seinen Vater und später gründlich durch Seibts Moralvorlesungen kennenlernte, blieben ihm Wegweiser. Aber nicht der Protestantismus erschien ihm als die vollkommenste Religion, die dem allgemeinen Wohle am besten dient, sondern in Übereinstimmung mit Seibt der Katholizismus, wie er ihn sich in diesen Jahren zurechtlegte. (Winter 1969: 26f.)

Die vollständige Auflösung von Bernard Bolzanos Zweifeln geschah dann in einer für unsere Begriffe sehr ungewöhnlichen Wendung. Er verdankte den dazu nötigen Gedankensprung seinem Rhetoriklehrer Jan Maria Mika. Bolzano berichtet später: Erst in dem letzten meiner theologischen Studienjahre waren es einige von dem Professor der Pastoral, Marian Mika, einem Manne, den ich ungemein hochschätzte, zufällig hingeworfenen Worte, „daß eine Lehre schon gerechtfertigt sey, sobald man nur zeigen könne, daß uns der Glaube an sie gewisse sittliche Vortheile gewähre“ – wodurch mir ein Licht aufging, welches allmählig alle noch übrigen Dunkelheiten zerstreute. Nun wurde mir nämlich mit Einem Male klar, daß es sich in der Religion, besonders in einer göttlichen Offenbarung so gar nicht darum handle, wie eine Sache an sich beschaffen sey, sondern vielmehr nur darum, was für eine Vorstellung von ihr für uns die erbaulichste sey; und es währte jetzt kaum einige Wochen, so war ich zu meiner völligen Beruhigung überzeugt geworden, daß wir am Christenthume, und zwar gerade an dem katholischen – eine wahre göttliche Offenbarung und die vollkommenste aller Religionen haben. Ich fühlte so lebhaft die Wohlthätigkeit dieser Ueberzeugung, und wie ersprießlich es wäre, wenn alle gebildete Menschen dieselbe Ansicht von der Sache erhielten, daß ich mir die Verbreitung dieser Begriffe von nun an zu meiner Lebensaufgabe machte. Daß ich die Aufnahme in den geistlichen Stand ansuchen müsse, war mir nun vollends außer Zweifel … (Bolzano LB, 27f.)

Es war eine rationale Einsicht, die den jungen Mann zu seiner Entscheidung führte; keine Erleuchtung und kein Erweckungserlebnis, wie das noch bei Blaise Pascal (1623–1663) der Fall gewesen war. Es gab, soviel wir wissen, kein außergewöhnliches Schlüsselerlebnis, das Bolzano ‚umgepolt‘ hätte. Bei ihm lief das ganz anders: Die Einsicht, dass es um den Glauben an sich gar nicht ging, brachte die entscheidende Wende. Er fragte nicht (essentialistisch) nach dem Wesen des Glaubens, sondern konkret (empirisch) nach dem Gebrauch der mit dem Glauben einhergehenden Vorstellungen, und zwar genauer, nach deren Nutzen für den Menschen/die Menschheit. Also ging es ihm auch nicht um Gott als Wesen, sondern um das uns vor Augen Stehende, um die Welt, – freilich als Schöpfung, als das immanent Göttliche verstanden. Das magisch-religiöse Zeitalter, in dem der numinose Mensch als Wundertäter auftreten konnte, scheint im 19. Jahrhundert endgültig überwunden zu sein (Speyer 1984: 129). Bernard Bolzanos neuartige, den ganzen Menschen umfassende Art von Geistigkeit hat nichts Numinoses mehr, im Sinn von

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Rudolf Otto. Sie beruht also weder auf einem mysterium, noch auf romantischgenialer, direkt göttlicher Eingebung, sondern letztlich auf rationalen, nachvollziehbaren Einsichten.

Geisteswelt Versuchen wir, einige dieser grundlegenden Einsichten aufzuzeigen: Nicht nur in Logik und Mathematik, auch in der Physik sahen Bolzano und seine Freunde großen Nachholbedarf. Es gab noch keine zureichende Konzeption von formalen Systemen. Man kannte noch keinen konsistenten Atom- oder Molekülbegriff. Das moderne Wissen schwamm gewissermaßen in einer trüben Begriffsbrühe. Solange die Grundlagen des Wissens, jene der Logik und Mathematik, offensichtlich nicht deutlich erkannt waren, solange waren, aus Bolzanos Sicht, auch ihre Anwendungen, war ihr Nutzen fragwürdig. Es musste für einen gründlichen Denker der mitteleuropäischen Schule aber klar bestimmbar sein und bestimmt werden, welcher Nutzen der Menschheit insgesamt, und nicht nur der gerade lebenden Generation, aus Logik und Mathematik und ihren praktischen Anwendungen, ja aus den Wissenschaften insgesamt, erwuchs. Der erreichbare Nutzen musste, nach den Vorgaben der mitteleuropäisch-humanistischen Aufklärung, weiterhin in der Steigerung des Gemeinwohls liegen und dort auch konkret spür- und messbar sein. Also musste zunächst nach den Grundlagen der Mathematik gesucht werden, um Klarheit, um Halt zu finden. Bolzano sah jetzt Handlungsbedarf in den logisch-mathematischen Disziplinen. Ein Umdenken und eine Art Neubegründung war für ihn jetzt die eigentliche Herausforderung der Wissenschaft seiner Zeit. Zur Ausführung seiner geplanten mathesis universalis sollte ihm letztlich die Zeit nicht reichen. Aber bereits die Absicht zeigte jetzt, dass beides, nämlich Glauben und Wissen – wenn sie weiterhin der Menschheit dienen sollten – völlig umgestaltet werden mussten. Bolzano geht, wie schon Sokrates in seiner Apologie, davon aus, dass das ganze Wissen nur für selbstverständlich Gehaltenes, aber nichts ‚absolut Sicheres‘ sei. Also fasste Bolzano den denkwürdigen Vorsatz: Ich habe beschlossen, (März 1812) eine Logik herauszugeben, etwa unter dem Titel: Versuch einer neuen Logik, zufolge der eine gänzliche Umstaltung aller Wissenschaften statt finden müßte. (PhTb 2: 34)

Das bedeutete im Grunde einen weiteren Versuch, die via moderna, den neuen Weg der Wahrheit aus dem Mittelalter heraus, wirklich einzuschlagen. Das

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verlangte ein vorbehaltloses Umdenken. In der ‚Einleitenden Vorrede‘ zu seiner ersten Publikation, den Betrachtungen von 1804, hat Bolzano klargestellt, dass Erkenntnisgewinnung keine reine Geistesmechanik bedeute. Nicht um die ,reine‘ Mathematik gehe es hier, sondern um den Nutzen, den „die Anwendung [der Mathematik] auf das practische Leben gewährt“ (Bolzano 1804: If.). Bolzano folgt dabei seinem methodischen Grundprinzip, das er lebenslang einhält: Erstlich stellte ich mir die Regel auf, daß ich mich durch keine Evidenz eines Satzes von der Verbindlichkeit los zähle, einen Beweis für denselben aufzusuchen – so lange, bis ich deutlich einsähe, dass und warum sich durchaus kein Beweis fernerhin fordern lasse. (Bolzano 1804, Vorrede)

In seiner zweiten veröffentlichten Schrift Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik von 1810 hält er fest: Das älteste und gewisser Maßen noch immer unübertroffene Lehrbuch der Mathematik, die Elemente des Euklides, enthalten bekanntlich gar keine Erklärung der Wissenschaft, von der sie handeln. (Bolzano 1810: 1)

Genau das ist aber ein entscheidender Mangel, der jetzt aus seiner Sicht nicht mehr beiseitegeschoben und übergangen werden konnte. Seit der Antike, besonders seit dem wohlgegründeten Axiomensystem des Euklid, hatte die Mathematik den Ruf, eine unproblematische und vertrauenswürdige Wissenschaft zu sein. Daraus war schon früh der Wunsch entstanden, dieses eindeutige System zum Muster aller Wissenschaften, die Ethik inbegriffen, zu machen, eine mathesis universalis gleichsam. Philosophen von Plato bis hin zu Descartes, Baruch Spinoza (1632–1677) und Leibniz haben das versucht. Montaigne (1533–1592), Shaftesbury, Leibniz … sie alle waren den gesamteuropäischen Weg der Aufklärung gemeinsam gegangen. Bis hierher. Jetzt stand man am Scheideweg. Bolzano geht weiter und sucht nach einer grundsätzlichen Wissensbasis. Eine Strecke folgt er dabei Leibniz. Als philosophischer Mathematiker seiner Zeit wusste Bolzano, dass auch auf die Mathematik kein unbedingter Verlass mehr war. Leibniz und Newton hatten mit ihrer Entdeckung der aperiodischen Größen der Mathematik die bisherige (Schein-) Sicherheit abgegraben. Hier musste der Weg weitergesucht werden. Aus Bolzanos Sicht bedurfte es gerade jetzt, wo vor allem die mathematischen und physikalischen Erkenntnisse – aufgrund der vielfältigen, jetzt möglich gewordenen technischen Anwendungen – ins alltägliche Leben griffen, – neuer, stichhaltiger Anhaltspunkte, um den Nutzen dieser Eingriffe zu bestimmen. Für Bolzano stand allerdings nach wie vor fest: Es war im Grunde noch kein besserer Weg zur Wahrheit gefunden worden als jener der

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Mathematik. Logik und Mathematik waren aus seiner Sicht auch weiterhin konkurrenzlos bei der bewussten Wahrheitsfindung. Aber diese Sicht der Dinge kam jetzt gerade aus der Mode: Von jeher hat man die Methode, deren die Mathematiker sich im Vortrage ihrer Wissenschaft bedienen, ihrer hohen Vollkommenheit wegen gepriesen, und bis auf Kants Zeiten auch geglaubt, daß sich das Wesentliche derselben auf jeden wissenschaftlichen Gegenstand anwenden lasse. (Bolzano 1810: 38, hier mit Anmerkung: ‚Besonders in der LeibnizischWolfischen Schule‘)

„… bis auf Kants Zeiten“, denn die philosophischen Erkenntniszweifel Kants und der idealistischen Philosophen stellten diese logische Basis in Frage. Bolzano wies diesen Zweifel als unbegründet und sinnlos verwirrend zurück. Dazu später. Auch wenn es in den Grundlagen von Logik und Mathematik jetzt Grundsätzliches zu klären gab; ja selbst wenn beides nicht mehr unbedingte Sicherheit garantierte: Logik und Mathematik ermöglichen nach wie vor den geregelten Fortgang der Erkenntnisse, so Bolzano, sie stehen nach wie vor für die Richtigkeit des Weges selbst und des Fortschritts darauf. Es ist eine im Grunde philosophisch-naturwissenschaftlich gedeutete Welt, von der sich Bolzano ein mehrdimensionales Bild macht: Eine Welt der (1) realen, wirklichen Objekte, Dinge; (2) der Erscheinungen, also der Gegenstände menschlichen Vorstellungsvermögens und (3) der Objekte ohne Realität, also der Sätze, Vorstellungen und Wahrheiten-an-sich. Das Bild reicht von der dynamischen Welt der Anschauungen (1) bis zur statischen Welt der Wahrheiten an sich (3). Erkenntnis braucht einen festen Grund; davon geht Bolzano aus: Gibt es keinen Grund des Wissens, gibt es auch kein Wissen. […] – Jedes Wissen einer Wahrheit muß einen Grund haben; nämlich die Wahrheit selbst und eine Erkenntnißkraft, die auf sie gerichtet [ist] zusammen machen diesen Grund aus; aber nicht jede Wahrheit an sich muß einen Grund haben. (PhTb 2: 93)

Zuerst stellt sich wieder die Grundfrage, ob man die Welt wirklich verstehen wolle, oder sie nur beherrschen. Das Verstehen verlangt so eine psychologisch vollkommen andere, nämlich reflexive, Grundhaltung als das Beherrschen, das mit einer aggressiven Haltung am besten vorankommt. Verstehen ist in diesem Sinn bei Bolzano kein rein geistiger Vorgang; es ist „nichts vom Verhalten dessen, der versteht, begrifflich Unabhängiges“, so Eike von Savigny (1974: 39), der sich dabei auf Ludwig Wittgensteins (1995) Begriff von ,Verstehen‘ bezieht. – Das Verstanden-Haben muss folglich im Leben dessen, der verstanden hat, ‚sich zeigen‘, im Verständnis von Ludwig Wittgenstein (1984b: 5,62]. Das Verstehen, also die Erkenntniskraft des Menschen, ist entscheidend; fehlt sie, bleibt jede Wahrheit unerkannt und auch unbegründet und wirkt nicht.

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Die bewegte Welt und das dynamische Weltbild von Bernard Bolzano haben also stabile Grundfesten: Diese bauen auf der Annahme, dass die Welt, so wie sie ist, auf zweckmäßigste Weise aufgebaut und eingerichtet ist (Gen 1,31; 1820.6). Hier hatte Leibniz noch die These von der ‚prästabilisierten Harmonie‘ eingebracht. Bolzano braucht sie nicht mehr (Leibniz 1924: § 51; Bolzano Ath2: 304; Bolzano PdU [§ 52]: 213; Colantuono 2016: 149). Die Welt versteht Bolzano als Schöpfung, denn physikalisch gesehen kann aus dem Nichts nichts entstehen, sondern es muss geschaffen werden. Das Gegebene (uns inbegriffen) ist also Schöpfung. Jenes Etwas, das diese Welt geschaffen hat, also der Schöpfer des Ganzen, wird im Abendland ,Gott‘ genannt und als ein selbst nicht geschaffener, ‚unbewegter Beweger‘ vorgestellt. Bolzano glaubt nicht etwa an Gott, weil es ihn gibt, sondern weil er die Annahme eines ungeschaffenen und mit idealen Kräften ausgestatteten Schöpfers als vernünftig versteht und die Auseinandersetzung damit als erkenntnisfördernd einsieht. Bei ,idealen Möglichkeiten‘ oder ,möglichen Welten‘ hat Leibniz, im Anschluss an die christlichen Neuplatoniker, noch als ‚von Gott gedachten‘ gesprochen. Bolzano versteht sie jetzt unabhängig davon, als ,Vorstellungen-an-sich‘. Als objektive Gedanken entkleidet er sie ihres bislang unabdinglich angenommenen Gottesbezugs und baut sie so in seine objektive Logik ein. Das war bisher in der Geschichte der Philosophie unmöglich gewesen, so Menyhért Palágyi (1902: 60). Die Annahme der Geordnetheit des Universums erklärt auch den Umstand, dass es gewisse Symmetrien gibt und dass wir fundamentale Grundgrößen erkennen, die für unser Universum gelten, die übereinstimmen und mit der Existenz von Leben zusammenhängen (Oberhummer 2008: 131ff., der allerdings andere Konsequenzen daraus zieht als Bolzano). Mittlerweile allerdings, wo man seit Stephen Hawkings Großem Entwurf (2000) eher von einem ,Multiversum‘ spricht, zweifelt man, ob an gemessenen Größen überhaupt noch etwas Fundamentales ist. Nachdem Bolzano grundsätzlich davon ausgeht, dass wissenschaftlich gewonnene Einsichten (und zwar alle) jederzeit durch bessere revidiert werden können, verunsichert auch das sein System nicht. Er hält an seinen Einsichten fest, solange sie sich als nützlich und richtig erweisen. Es ändert so gesehen aber nichts an deren früherer Richtigkeit, wenn sie sich nachträglich einmal als streng gesehen nicht ,richtig‘ erweisen sollten. Dann waren es eben aus seiner Sicht ‚nützliche Irrtümer‘. Verstehen Menschen einmal, dass die Welt in ihrer Anlage nicht verbesserbar ist, dann muss es für sie vor allem darum gehen, die Begriffe, Bilder und Theorien, die sie sich davon verfertigen, zu verbessern, – und nicht die Welt.

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Der Göttinger Philosoph und Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg hat schon auf das bedrohliche Auseinanderfallen des Wissens in unorganisierte Einzelheiten reagiert und dazu aus der Zeitschrift Spectator vom 7. März 1711, die der irische Dichter Richard Steele (1672–1729) gemeinsam mit Joseph Addison (1672–1719) und anderen herausgab, notiert: I lay it down therefore for a rule, that the whole man is to move together; that every action of any importance, is to have a prospect of public good; and that the general tendency of our indifferent actions, ought to be agreeable to the dictates of reason, of religion, of good-breeding […]. (The Spectator 7.3.1776/6: 26f.; Lichtenberg 1980: 316)

Der ‚ganze Mensch‘ ist bei Bolzano gemeint. Er ist weiterhin ein Wissender und Glaubender. Gerade im Glauben hat sich in dieser Übergangszeit noch mehr zu ändern als im Wissen. Gerade von einem Gleichklang von Glauben und Wissen entfernt sich die Gesellschaft in diesen Zeiten deutlich. Bolzano sieht Handlungsbedarf: Er geht bei seinem Amtsantritt davon aus, dass auf dem Weg zur Wahrheit ein ,Gleichgewicht zwischen Fortschritten in der Religion und den übrigen Kenntnissen‘ wiederhergestellt werden müsse. Wenn die Mehrheit der Individuen einer biologischen species insgesamt, nicht ihrer natürlichen Bestimmung entspricht, – dann steht nicht die Welt still, aber die species stirbt aus. Für die Gattung Mensch heißt das, wenn er nicht wirklich aus dem Erfahrenen lernt und keinen consensus omnium darüber findet, an den sich alle gleichermaßen halten, dann riskiert er den Fortbestand seiner Gattung, nichts sonst. Von diesem Wissen geht, wie wir noch genauer sehen werden, Bolzano jetzt aus. – Er beobachtet (wie schon Maria Theresia) die zeitgemäße Erscheinung, dass viele Menschen, die sonst oft hochgelehrt sind, gerade in dem wesentlichen Bereich des Glaubens kaum bewusste, brauchbare Kenntnisse aufweisen können. Er nennt diese Scheingelehrten einmal Menschen, die „bei so vieler Einsicht in einigen Stücken, doch eine so große Blödigkeit in anderen beweise[n].“ (1817.41: 379) Diese „Blödigkeit“ nimmt in seinen Augen deutlich zu, und diese Erkenntnis ist es letztlich wohl auch, die ihn sein religiöses Lehramt anstreben lässt. Er hat gute Gründe: Der eine Grund ist, dass Bolzano die ‚christkatholische Kirche‘ – er sagt nie ‚römisch-katholische‘, weil er das Papsttum (wie schon Hus) nicht schätzt und für etwas zum wahren Glauben Hinzugekommens und Weglassbares hält – als die Hüterin des ,gesunden Menschenverstandes‘ im christlichen Abendland versteht: Sie garantiert den consensus omnium auch in einer neutestamentarischen, wahrhaft menschlichen und aufgeklärten Welt. Er geht davon aus, dass ohne diesen Gemeinsinn keine gemeinsame Sprache möglich ist und

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keine Kultur ohne diese. Eine als breit und allgemein, ,katholisch‘ verstandene Kirche versteht Bolzano also als jene Gemeinschaft, in deren Begriffen sich der Fortschritt in Richtung Glückseligkeit aller Lebewesen eindeutig und grundsätzlich universalisierbar (für alle Menschen gleichermaßen) offenbart. Dieses Verständnis steht im Einklang mit der römisch-stoischen Lehre, in der das ethische Motiv besonders betont war, ja geradezu ,Sinn für das allgemeine Wohl‘ bedeutete (und noch weiterhin in manchen Kulturbereichen mit ihrer ungebrochenen rhetorischen Tradition als buon senso gewisse Geltung hat). Es gibt auch noch einen zweiten guten Grund für Bolzanos Wahl: Das in jeder Hinsicht Neue – und immer wieder Verdrängte –, das Jesus Christus als Mensch in die Welt gebracht hat, ist eine nicht überbietbare Einheit seines Wesens, im Reden und Wirken: Diese Einheit weist auf das Zentrum hin, zu dem jeder Mensch hier auf Erden unterwegs ist und in dem sich sein Wesen erfüllt: auf die Gottes- und die Menschen-/Nächsten- und Fernsten-Liebe. Jesus hat diese Liebe mehr als alle übrigen Menschen erfüllt und, indem er sie erfüllt hat, hat er die „Frohe Botschaft“, evangelion – ein Terminus seiner Umwelt – gebracht, dass die Liebe das Wesen des Schöpfers ist. (Speyer 2010: 44)

Bei seinen logischen Vorarbeiten zu künftigen Klärungen wird Bolzano die Tiefe der notwendigen Veränderungen bewusst, und er notiert, er habe sich seit mehr denn achtzehn Jahren schon mit Untersuchungen über die Logik, wenn auch nicht ausschließlich, doch sehr mit Liebe beschäftigt. Er ist hiebey auf Ansichten gerathen, die, wenn sie richtig sind, eine gänzliche Umstellung nicht nur der Logik, sondern durch sie auch aller anderer wissenschaftlicher Disciplinen nach sich ziehen müßten. (Bolzano MPhS, 173; Bolzano WP, 6f.)

„… mit Liebe“! – Liebe, amor, eros, caritas schließt zunächst alles Maschinenhafte per definitionem aus. Sie ist nachweisbar unberechenbar. Lieben kann sich zudem niemals im reinen Befolgen von Regeln oder Algorithmen erschöpfen: Mit seiner ungewöhnlichen Forderung bricht Bolzano hier vollkommen mit dem alten Maschinenparadigma. Im Umgang mit den abstraktesten aller Wissenschaften, mit Logik und Mathematik, setzt er also Liebe, eine wesentlich irrationale humane Qualität voraus! Wie sollte Mathematik mit Liebe zusammenhängen? Es ändert doch kein wie immer gearteter Beweggrund irgendetwas an der Logik oder Mathematik selbst; weder an ihren objektiven Wahrheiten, noch an ihren Regeln, und erst recht nicht an ihren Ergebnissen. Aber doch; – der Beweggrund bestimmt die Richtung der Forschung; er lenkt die Erkenntniskraft des Forschers und er bestimmt damit doch wieder die Ergebnisse: Der Erkenntnisweg ist ein anderer, je nachdem, ob Forscher ‚mit Liebe‘ oder mit unbedingtem ‚Willen zur Wahrheit‘ und aus Machtbedürfnis ans Werk gehen.

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Für Bolzano war klar: Nur der rechte Beweggrund und die aktive Teilnahme am sensus communis schaffen den Zusammenhang zwischen dem (kalkulierenden, handelnden) Individuum und der Lebenswelt. Worin besteht der rechte Beweggrund? Mit welcher Intention soll einzelne Geistesmensch ans Werk gehen? Welche Art von Liebe ihn leitet, das hat Bolzano bereits in seinen ,pädagogischen Vorüberlegungen‘ geklärt: Es ist nicht etwa die ,Liebe zur Wahrheit‘, die ihn antreibt und bestimmt. Es interessieren ihn manche an sich faszinierende Rätsel nur bedingt: Fragen um den Ursprung des Planeten, seine kleinsten Elementarteile oder die Frage, ‚wie man so etwas wie eine künstliche Zelle herstellen könne‘ etwa. Sie würden für ihn frühestens erst dann in den Vordergrund des Interesses treten, wenn alle drückenden sozialen Missstände, auf die Einfluss genommen werden kann, einmal gelindert sind und ihr Ende absehbar ist. In der Philosophie, wie Bolzano sie versteht, geht es nicht um die Liebe zur Weisheit, wie es die ältere, etymologische Bedeutung von Philosophie verheißen hatte: davon sei man schon längst abgekommen, so er (Bolzano WP, 6). Eine solche abstrakte Liebe hält Bolzano für schlicht unerfahrbar und daher eigentlich gegenstandslos. Es geht auch nicht mehr, wie früher angenommen, um die ,Liebe zu Gott‘, denn auch die ist nicht wirklich erfahrbar: Bolzano geht es schlicht um die Liebe zu den Menschen. Der mittelalterliche Kirchenlehrer Bernard von Clairvox (1090–1153) hatte das noch gerade umgekehrt gesehen: „So muß man zuerst Gott lieben, damit man dann in Gott seinen Nächsten lieben kann. Gott macht also auch, daß er geliebt wird“ (Clairvox 1990: 105). Wer Mathematik aus dem Beweggrund der Liebe zu den Menschen betreibt, den interessieren vordringlich sozialethisch relevante, anthropologische Zusammenhänge, Ergebnisse und Anwendungen; also solche, die der Gesellschaft dienen und das Leben der Menschen erleichtern können. – In einem moralischen Beweggrund und in dem Ziel, nämlich die Glückseligkeit menschlichen Lebens hier und jetzt zu ermöglichen, sieht Bolzano den Zusammenhang der belebten Welt mit der abstrakten Welt der Logik und Mathematik! Die Absicht bestimmt den Gebrauch, der von Logik und Mathematik gemacht wird, sie wählt dem Gemeinwohl brauchbare Erkenntnisse aus der Fülle der Möglichkeiten. Die Bedeutung einer Erkenntnis ,ist‘ gleichsam ihr Gebrauch in den Wissenschaften (Wittgenstein 1995: § 43). Wenn das so ist, dann muss das auch überprüfbar sein; es muss ,sich zeigen‘:

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In seinem Leben wollen wir, soll sich die Frucht seines Philosophirens zeigen; wer uns ein Philosoph, wer uns ein Weltweiser im edelsten Sinn heißen will, der soll ein Weiser sein, und somit auch weise und tugendhaft leben. (WP, 13)

Der Beweis der Nützlichkeit einer Wissenschaft – und besonders der ‚Mutter aller Wissenschaften‘, muss so gesehen in genau treffenden Begriffsklärungen und -verbindungen etc., – letztlich in einem sinngemäß angelegten, ‚gelungenen Leben‘ des Denkenden selbst liegen und so, bei aller Abstraktheit‘ konkret nachvollziehbar sein. Das eben hatte schon Maria Theresia von ihren Wissenschaftlern verlangt: Ein gelungenes, glückliches Leben ist für sich gesehen schon ein Beitrag zum Gemeinwohl. Ein glückliches Leben ist in Bolzanos Verständnis gar nicht möglich, ohne dass es zugleich ein der Menschheit nützliches wäre. Eine von einer Mehrzahl glücklicher, zufriedener Menschen geprägte Lebensform müsste eine deutliche Besserung des allgemeinen, geistigen und zuletzt materiellen Wohlstands (nicht Luxus) für alle menschlichen Lebewesen zuwege bringen. Diese Ankündigung Bolzanos geschah in einer Zeit, in der man zunehmend bereits auf praktische, technische Anwendungen von Kenntnissen aus den Naturwissenschaften, auf ,Industrialisierung‘ des Lebens, setzte, und in der jeder Mensch, gleich ob er etwas davon verstand oder nicht, von den angewandten Naturwissenschaften in seinen Lebensformen bereits mitbestimmt wurde. – In Anbetracht des „äußerst mangelhaften Zustande[s], in dem sich die Logik bis diesen Tag befindet“ (Bolzano MPhS, 172), erkannte das Bolzano als eine ethisch höchst fragwürdige Angelegenheit. Die Frage ist zunächst: Wie kann eine abstrakte Wissenschaft, wie es die Mathematik ist, mit der tatsächlichen, dynamischen, belebten Welt überhaupt in Verbindung treten? – Wenn wir als Menschen eine Verbindung zur Außenwelt haben, dann geschieht das über unsere Sinnesorgane. Sie liefern uns empirische Daten, die wir speichern und aus denen wir Erkenntnisse bilden können. Fragen folgender Art stellten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Wie sollten Sinneseindrücke in Mathematik übersetzbar sein? Wo beginnt mathematische Erkenntnis? Was ist unsere Quelle der Gewissheit? Es erhob sich auch die Vermutung, dass Logik und Mathematik allein ausreichten könnten als Basis des Wissens, dass sie sich – als bloßes formales System – genügten. Diese Frage beschäftigte die Grundlagenmathematiker während des ganzen 19. Jahrhunderts. An seinem Ende präzisierte sie der deutsche Mathematiker David Hilbert (1862–1943) in einem Programm, das er im Jahr 1900 in Paris vorstellen sollte. In den Anfangsgründen der Mathematik stieß man bei dieser Suche zunächst auf Altbekanntes: auf ,Intuitionen‘, also etwas wie unmittel-

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bar einleuchtende Erkenntnisse. Diese boten aber jetzt keine beruhigenden Antworten mehr, denn Intuitionen konnten sehr verbreitet und dennoch völlig falsch sein, wie sich oft genug erwiesen hatte. Rebecca Goldstein verweist in solchen Zusammenhängen einmal auf rassentheoretische ‚Intuitionen‘, die Kurt Gödel und Albert Einstein aus Europa ins ferne Amerika vertrieben und dort zusammengebracht hatten (Goldstein 2005: 127). Für Bolzano konnten es, aufgrund der fehlenden Überprüfbarkeit, keinesfalls ,unmittelbar einleuchtende Erkenntnisse‘ oder ,Eingebungen‘ sein, die das abstrakte Wissen gleichsam erdeten. Andererseits, eine Mathematik ohne einen geglaubten Rest einer externen Grundannahme; eine, die zur Gänze gleichsam aus einem einzigen wohldefinierten Satz abgeleitet wäre, drohte zum reinen Formalismus, zum abgehobenen Glasperlenspiel auszuarten. Damit wäre jeder moralische Halt verloren, jeder Zusammenhang mit einer Ethik wäre obsolet. Gegen Ende seiner Wissenschaftslehre, also desjenigen Werks, in dem Bolzano später wesentliche Züge der notwendigen, gänzlichen Umgestaltung aller wissenschaftlichen Disziplinen darlegt, spricht er über die Frage: „Wie Sittlichkeit auch bei Abfassung eines Lehrbuches zu Statten komme“ und führt aus, dass die Sittlichkeit die entscheidende Kraft für jeden einzelnen Wissenschaftler wie für die Wissenschaft überhaupt sein müsse. Deswegen erteilt er den zukünftigen Forschern folgenden grundlegenden Rat: Geh und befleißige dich erst, ein guter Mensch zu werden! (WL § 700: 599)

Nicht ob, – wie Menschen Logik und Mathematik betreiben, ist die Frage; aus welchem Beweggrund? Auf eine bloß auf spezielle Gehirnteile beschränkte, technisch-immanente, letztlich unbewusste und nicht wirklich reflektierte Art? Oder auf eine ganzheitliche, menschliche Zusammenhänge und letztlich das Gemeinwohl achtende, bewusste, selbstbewusst-kritische Weise – letztlich aus dem Beweggrund der Liebe? Bei Bolzano war das war zweifellos der Fall. Als Hauptaufgabe seines Lebens nannte er in seinem Testament das „Nachdenken über Gott, Unsterblichkeit und Offenbarung“ (Zeithammer 1850: 167). Seinen Schülern gestand er, „bis zum letzten Athemzug“ der Verbreitung des so verstandenen Christentums leben zu wollen, und alle seine Tätigkeiten, selbst Geschäfte, die auf den ersten Blick mit der Sache der Religion in gar keiner Verbindung zu stehen scheinen, unternehme ich nur darum, weil ich sie für nicht untaugliche Mittel zu jenem letzten Zwecke halte. (1817.43)

Selbst die Logik und Mathematik betreibt er bewusst mit dieser Intention. Er steht hier am Anfang der ganzheitlichen soziologischen Tradition von Wissenstheorien (Elias 1989: 22). Peter Demetz vermutet einmal, Bolzano sei

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„vielleicht der erste Sozialphilosoph einer zukünftigen multiethnischen Gemeinschaft“ (Demetz 1998: 412). Gottlob Justi hat die Wissenschaften als Zusammenhang von Wahrheiten erklärt, der auf einer einzigen ,Hauptwahrheit‘ gründe. Bolzano bezeichnet diese Hauptwahrheit als das ,Oberste Sittengesetz‘. Er versteht es als das alles entscheidende Denkgesetz für den Menschen, als eine (raum-zeitlich invariante) Wahrheit-an-sich. Als solche ist sie Teil der statisch-unveränderbaren Welt, als diejenige aus der unendlich großen Menge von Wahrheiten-an-sich, die das Fortschreiten, sowohl des menschlichen Individuums, als auch des Menschengeschlechts, ermöglicht und bestimmt. Dieses Fortschreiten bedeutet nach Bolzano ,Aufklärung‘. Das ist das Schicksal des Menschen. Die sogenannte Goldene Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“, ist eine Art Vorform zu den Sittengesetzen Kants wie auch Bolzanos (1811.33: 346; 1813.30: 306). Kants ‚oberstes Sittenprincip‘, den damals schon sehr bekannten Kategorischen Imperativ, befand Bolzano für ungeeignet, denn er war rein formal und letztlich zweckwidrig. Dazu später. Bolzanos eigenes Sittengesetz, das er sich bereits in seiner Studienzeit zurechtrichtete, klang ähnlich, aber es lagen tatsächlich Welten dazwischen: Anders als für Kant konnte und durfte ein Sittengesetz für ihn nicht etwas Abstraktes, Formales sein wie Kants Kategorischer Imperativ, sondern es musste etwas ganz Konkretes sein: eine Handlungsnorm, die jeden angeht und die auch jeder einsieht. Es musste genauer sein als die bekannte ,Goldene Regel‘, und musste vor allem jetzt auf einer festen logischen Basis stehen. Bolzano nahm nicht an, dass der einfache Mensch dieser logischen Explikationen bedürfe; ihm genügt der Hausverstand, solange dieser intakt ist, reicht er auch aus, um Bolzanos Oberstes Sittengesetz einzusehen, und sobald dies die Mehrheit tut, funktioniert auch der sensus communis. Bolzano geht davon aus, dass die Mathematik und die ihr gleichsam vorgelagerte Logik diese Hauptwahrheit präzise auszudrücken vermögen und dies auch müssen. Diese logisch-mathematische Klarheit müsse, so Bolzano, nicht nur in der Mathematik selbst, sondern im Leben, im Leben des Einzelnen, wie im gesellschaftlichen Leben insgesamt, zu immer deutlicherer Erfassung und zweckdienlicher Organisation der Wirklichkeit führen. Das heißt, auf dieser analytischen Begründung alles Wissens müssen zunehmend vernünftigere Lebensformen ableitbar sein. Dieses Wissen muss logisch und sachlich fest begründet sein und alle ethischen Handlungen müssen daraus abgeleitet und eindeutig begründet werden können. Wenn Bolzano bei der Einführung des Obersten Sittengesetzes nicht ohne common-sense-Postulate auskam, dann heißt das: Er wollte nicht ohne sie auskommen. Über den Wert einer ethischen

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Handlung entscheidet aus Bolzanos Sicht die Intention, aus der sie erfolgt. Diese ist eindeutig belegbar und falsifizierbar, letztlich auf eine recht einfache Art und Weise: Am Leben selbst des Wissenschaftlers kann man sehen, ob seine Intention die rechte (gewesen) ist. Das Oberste Sittengesetz steuert die menschliche Bewegung in Zeit und Raum und sichert dadurch letztlich die Existenz der species Mensch. Es ist die Leitwahrheit in Bolzanos Denken; eine logische Wahrheit, die ein ethisches Prinzip zum Inhalt hat; und eine praktische Wahrheit, aus der sich jede andere praktische Wahrheit (also auch jede einzelne Pflicht, die den Menschen betrifft) objectiv, d.h. so, wie die Folge aus ihrem Grunde, ableiten läßt. (Bolzano RW 1 [§ 87]: 228)

Bolzanos Ableitung des Obersten Sittengesetzes im Religionsunterricht (§ 87 der Religionswissenschaften) ruht auf zwei Postulaten: (1) auf der logisch begründeten und begründenden Aussage, dass es Aussagen mit Praxisbezug überhaupt gibt (logisch und epistemologisch geben muss), und (2) auf der Aussage, dass es für jede bedingte praktische/praxisbezogene Wahrheit mindestens eine unbedingte Wahrheit gebe: Denn sicher kann es im Reiche der Wahrheiten keine Reihe von Folgen ohne ersten Grund geben. Die bedingte Wahrheit besteht nur, weil es unbedingte Wahrheiten gibt. (Bolzano RW 1 [§ 87]: 229)

Hier gibt es keinen streng logischen Beweis. Aus Bolzanos Sicht bedarf es dessen auch nicht, denn das leuchte dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres ein und sei Grundbestand des sensus communis. Anders als noch Jeremy Bentham (1748–1832) in seiner Introduction to the Principles of Morals and Legislation von 1789 definiert Bolzano sein regelutilitaristisches Sittengesetz als universale Norm und nicht, wie Bentham, als Verhaltensregel für eine Gruppe oder Partei. The Methods of Ethics 1874 des englischen Philosophen Henry Sidgwick (1838–1900) geht später in eine Richtung, die Bolzanos Utilitarismus nahekommt, Verbindungen zu Bolzano gibt es m.W. nicht. Bolzano formuliert sein Oberstes Sittengesetz einmal so: Wähle von allen dir möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, die Tugend und Glückseligkeit des Ganzen, gleichviel in welchen Theilen, am meisten befördert. (Bolzano RW [1 § 88]: 236)

Er geht davon aus: „Die Beförderung der Glückseligkeit ist ein ursprüngliches Vernunftgebot.“ (RW 1 § 88: 234) Es geht hier nicht um Fragen der Moral, sondern der Vernunft. Die aus dieser praktischen Wahrheit ableitbaren Verhaltensweisen müssen im tatsächlichen Leben jedes Einzelnen, in den konkreten Lebensformen einer Gesellschaft, sichtbar und daher auch jederzeit objektiv

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zu überprüfen sein. Der Weg zur Glückseligkeit hat einen festen Grund. Der Mathematiker Blaise Pascal war der letzte große Denker gewesen unter den Mathematikern, Physikern und Philosophen der Neuzeit, so einmal Hugo Friedrich, der das Gewissen daran erinnert hatte, daß die rationale Daseinsauslegung auch den Anspruch einer seelischen Ordnung einzubeziehen und ihr eine nicht minder exakte Aussagekraft einzuräumen hat. (Friedrich 1950: 294)

Darin folgt ihm jetzt Bolzano. Die Sicherheit des Glaubens/im Glauben – (Glauben als Tätigkeit, Glaube als ,Inbegriff‘ verstanden: ein Inbegriff ist nach Bolzano ein „Zusammen, in welchem gewisse Dinge als Teile erscheinen“ [WL 1: § 82]), – diese Sicherheit kann also kann felsenfest sein, aber sie ist immer von anderer Art als jene des Wissens. Der Sicherheit des Glaubens fehlt die beweisbare Eindeutigkeit. Das muss so sein, und deshalb kann der Glaube auch niemandem befohlen oder eingetrichtert werden. Dieser bewusst eingestandene Rest Undefiniertheit gibt dem Menschen den Spielraum, der es ihm ermöglicht, dem Ungewissen seiner eigenen Existenz weiter auf die Spur zu kommen. Durch diesen Spielraum wird das ,Jüngste Gericht‘ für den Menschen erst denkbar und notwendig, und der Mensch wird im religiösen Sinn so erst zum Gegenstand von Belohnung oder Bestrafung (Ath 2: 188; Colantuono 2016: 94ff.). – Ohne diesen Spielraum, ohne diese Bewegungsmöglichkeit geht gar nichts: Bolzano sieht es als seine Aufgabe, diesen Spielraum zu bewahren und ihn jetzt mit seinen Schülern zu betreten. Bolzano geht also von der Notwendigkeit einer wirklichen Epochenwende aus. Den politischen Umstürzen, die jetzt gerade durch Krieg und Gewalt herbeigeführt wurden, traute er nicht. Es ging jetzt – zwischen Fortschrittsenthusiasmus und dessen zeitgemäßem Pendant Mittelalterromantik – um ein ganz anderes Denken, das aus dem archaischen Machtstreben herausführen musste. Bewegung ist in Bolzanos Verständnis das Schicksal des Menschen in einer bewegten Welt: Nicht nur unsere Vorstellungen, auch unsere Urteile sind aus seiner Sicht nichts als in unserer Seele vor sich gehende Veränderungen (WL [§ 282]: 118f.). Irrtum und Aberglauben bedeuten letztlich Stillstand, Tod. Die Bewegung, die den Einzelnen, wie auch ganze Kulturen, zu einer höheren Menschlichkeit führt, ist die eigentlich menschliche Bewegung. Das Christentum erkannte einst ihr Wesen in der Liebe. Bolzanos Umgang mit der Wahrheit ist bei alldem im Grund spielerisch, aber nicht unernst: Seine Theorie der „weisen Selbsttäuschung“ in bestimmten Fällen (1810.47–48), die er seinen Studenten dargelegt und anempfiehlt, zeigt ein virtuoses Spiel von Wahrheit und Irrtum. Eine gewisse Heiterkeit

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des Geistes hebt sich wohltuend von der herrschenden Tyrannei der strengen Besserwisser. Gerade indem sich Bolzano bemüht, die Begriffe der Analysis zu präzisieren, also das ,Spiel‘ der einzelnen Teile untereinander zu verringern, nimmt er die neue Grundwahrheit, – dass es keine (statische) Sicherheit im früheren Verständnis gibt –, ernst. Er nimmt die wissenschaftliche Arbeit mit notwendig inkonsistenten Begriffen aber nicht einfach hin, lehnt sie auch nicht rundweg ab, sondern versucht unentwegt, die Begriffe zu verbessern – und kommt gerade dadurch der Wahrheit näher. So konnte er etwa einen gerade in der Katholischen Kirche besonders stark erkenntnishemmend wirkenden Aberglauben, – nämlich die Annahme, ,Unendlichkeit‘ stünde Gott allein zu, und niemand dürfe sich an ihr vergreifen – einfach hinter sich lassen, um eine tragfähige Begriffsklärung zu Aspekten des vielfältigen Phänomens der mathematischen Unendlichkeit von Zahlen, Teilen und Mengen, zu finden. Die von Bolzano entdeckte Äquivalenz einer Menge zu einer echten Teilmenge (Bolzano PdU § 20) wurde später von Georg Cantor (1845–1918) und Richard Dedekind (1831–1916) als Definition der mathematischen Unendlichkeit verwendet. Bolzano war ganz knapp daran (Tapp 2011: 175). Edgar Morscher hat gezeigt, wie man aus Bolzanos Thesen durchaus ein Unendlichkeitsaxiom ‚herausdestillieren‘ kann, das Dedekinds Beweis zumindest ebenbürtig ist (Morscher 2011: 201ff.). Der Unendlichkeit, als göttlicher wie auch als mathematischer Eigenschaft, ist Bolzano jedenfalls gerade durch seine Übertretung des unzeitgemäßen religiösen Verdikts nähergekommen. Begriffsklärung, – von der Analysis bis hin zur Alltagssprache, erkennt Bolzano als die entscheidende, als seine wesentliche Aufgabe. An den Theologen Johann Peter Romang schreibt er später rückschauend: Nur dadurch, nur auf dem Wege der genauen Begriffsbestimmung kam ich zu allen den eigenthümlichen Lehren und Ansichten, die Sie in meinen Schriften (selbst in den mathematischen) antreffen … (BGA 3, 4/2: 157ff. [1.5.1847])

2 Beweggründe Mit Hofdekret vom 3. Feber 1804 wurden unter Kaiser Franz jetzt „an allen Universitäten und Lyceen“ des Reiches eigene Stellen für Religionslehrer eingerichtet. Am 22. März 1804 schrieb das böhmische Landesgubernium den

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Konkurs (Stellenausschreibung) für die Besetzung der Religionslehrerstellen an Universitäten und an den Gymnasien aus. Bolzanos Pastorallehrer Jan Maria Mika war bei dieser Ausschreibung federführend. Er riet seinem Schüler, sich für beide Stellen zu bewerben. Das tat dieser auch. Der ‚Konkurs‘ fand am 23. August statt. Am 25. Oktober 1804 wurde auch eine weitere Stellenausschreibung bekanntgegeben, bei der es um den Lehrstuhl der Elementarmathematik – die Stelle Vydras – ging. Auch dafür bewarb sich Bolzano jetzt, auf Anraten Mikas. Die Ausschreibung vom 23. August war noch nicht entschieden und der Ausgang dieser drei Bewerbungen durchaus ungewiss. Dieses Amt trug Erwartungen und Hoffnungen verschiedener bis widersprüchlicher Art. Der kleinste gemeinsame Nenner der Anforderungen von Seiten der Mächtigen in Staat und Kirche bestand jetzt, im Jahr 1804, darin, dass der Kandidat gläubig und loyal war, intellektuell zuverlässig und als (Lehrer-)Persönlichkeit glaubwürdig. Das war bedeutsam, denn ein entscheidendes Kriterium zur Anstellung von Hochschulprofessoren in Österreich war in dieser Zeit die verfassungsgemäße Zuverlässigkeit (Kernbauer 1999: 60). Diesbezüglich konnten die Obrigkeiten wenig gegen den Kandidaten einzuwenden haben. Es war tatsächlich kein wie immer gearteter Hintergedanke im Spiel, als sich Bernard Bolzano für das Amt des Religionsprofessors bewarb; weder seinerseits noch seitens der Freunde, die ihn berieten. Er blieb in der Tradition seiner Lehrer und entwickelte die im Grunde sozialkritischen Betrachtungsweisen Mikas und anderer weiter. Er folgte auch Josef Dobrovský, indem er die Slawen selbstverständlich als gleichwertige Partner ansah und ihre Gleichstellung in intellektuellen Bereichen forderte, ebenso wie er auch die Gleichstellung der Frauen forderte. Auch der Kreis von Personen, die Bolzano beeinflussten, war gläubig und staatstreu. Aber die Zeiten waren im Umbruch und die Maßstäbe, nach denen der junge Mann erzogen und gebildet worden war, waren nach und nach außer Kraft gesetzt worden und galten bestenfalls noch äußerlich. So waren die Gründe, die früher für ihn gesprochen haben oder hätten, nicht mehr schlagend. Im Vergleich zweier Schuljahreseröffnungsreden aus den Jahren 1763 und 1804 kommt Walter Zrenner einmal (1995: 773) zu Indizien dafür, dass „das Regime auf dem Wege zu einem stark ideologisch fundierten Machtapparat war“. Bolzano hatte seine eigene Sicht: 1. Aus Bolzanos Sicht galten Religion und Glaube nach wie vor als unverzichtbar für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen. Aber er hatte vollkommen andere Begriffe davon, als es die nunmehr tonangebenden waren: Für ihn war der Rückhalt des Glaubens Voraussetzung

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für die freie Entwicklung jedes einzelnen Menschen zur Mündigkeit. – Das Gegenteil war jetzt zunehmend gefragt: Der Glaube sollte, als oft schon erprobtes Mittel, wieder zur staatlichen und kirchlichen Bevormundung der Menschen herhalten. 2. Mathematik war in der Erziehung, die Bolzano erfahren hatte, das Mittel, um zu klarem Denken vorzudringen und den Verstand zu schärfen. Der Unterschied in der Auffassung zwischen Gottfried van Swieten und Graf Rottenhan war markant: – Rottenhan ging es jetzt vorwiegend um die Einschränkung der von den Machteliten als gefährlich empfundenen Freidenkerei: Dies sollte durch gedankentötenden Drill mittels dumpfer und vor allem zeitraubender Rechnerei; also nicht zum Zwecke der Klarheit, sondern zu dem der Unübersichtlichkeit, bewerkstelligt werden. 3. Es war kein Geheimnis, dass Bernard Bolzano Kritik an der Philosophie Immanuel Kants übte. Sie richtete sich vor allem gegen dessen willkürliche Annahme der Beschränkung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Bolzano hatte, wie Kant auch, großes Verständnis für den Widerstand der Menschen gegen Unterdrückung und Bevormundung. Er fand das Problem jedoch in Kants Philosophie ungeeignet dargestellt und einer Lösung abträglich. Kant trug aus Bolzanos Sicht zur herrschenden Begriffsverwirrung bei und verdunkelte die gerade aufkommende Klarheit: Das war der Grund seiner Ablehnung der Kantschen Philosophie. – Hinter dem offiziellen „Kant-Verbot“ an österreichischen Universitäten stand eine ganz andere Befürchtung: Die Angst vor durch Kans kritische Theorien Ungehorsam und „revolutionäre Umtrieben“, und dahinter stand die Furcht vor dem Machtverlust der herrschenden Eliten in Staat und Kirche. Bei näherer Betrachtung zeigte sich also, dass dieser junge Mann der richtige Kandidat gewesen wäre für das neue Amt – zu Zeiten des Tauwetters, aus denen sein geistiges Profil stammte. – Jetzt aber, zu Zeiten des politischen Zurückruderns und der Angststarre, schien er bei näherer Betrachtung so etwas wie der Bock zu sein, den man zum Gärtner machen würde. Welche Voraussetzungen brachte er aber tatsächlich für das Amt mit, – als Priester, als Lehrer, als Rhetor, als Mensch? Bernard Bolzano sah sich grundsätzlich, wie schon Jan Hus, vor der großen Herausforderung, den von Jesus Christus zuerst beschrittenen Weg der Aufklärung weiterzugehen. Es war eine friedliche Bewegung für einfache

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Menschen, – von unten angegangen, ,basisdemokratisch‘, universal, objektiv und streng an den Tatsachen orientiert. Als Priester brachte der junge Mann einen vollständigen Aufriss der Religionswissenschaft mit, „den er sich als Achtzehnjähriger bereits im Kampf um seinen Glauben errungen hatte“ (Winter 1969: 37). Bolzano war glaubensfest und als Theologe gedankenreich. Eduard Winter meinte einmal, dass die theologische Basis Bolzanos im engeren Sinn eher schmal sei (Winter 1932: 43ff.; 103ff., 109, 145; Herrmann 2002). Aber um eine eigene theologische Basis im engen fachtheoretischen Sinn ging es Bolzano gar nicht: Er hatte sich ein wissenschaftliches Weltbild erarbeitet, das auf logischen Gesetzen und Wahrheiten-an-sich aufbaute. Es war in Sätzen ausdrückbar und auch auf sie rückführbar. Das galt für ihn auch im Bereich der Religion. Als Lehrer hatte Bolzano schon an der Erziehung seiner jüngeren Geschwister, besonders Peter und Franziska, erfolgreich mitgewirkt und sein Talent unter Beweis gestellt: Er unterrichtete Jugendliche auch jenseits und nach seiner offiziellen Lehrverpflichtung bis zu seinem Lebensende mit großem Erfolg und Einsatz. Er interessierte sich für pädagogische Ideen und Werke von Basedow, Salzmann, Lessing u.a. (BBB 1: 155–158), überlegte sich stets neue Methoden, wie sein Freund Josef Hoffmann (1776–1851) berichtete (Hoffmann 1850: 22). Im Jahr 1803 schon, als seine Berufswahl noch nicht entschieden war, entwarf er ein Projekt für den Unterricht in Mathematik: Ich hatte mir vorgenommen, das Projekt anzumerken, daß der Lehrer die Rechenkunst, um sie seinen Schülern angenehmer zu machen, anwendet, und in Beispielen, woraus sie ihren Nutzen sehen, vortragen solle […] Die Vorteile hiebei sind: 1. Die Lust der Kinder zur Rechenkunst wird dadurch erhöht. 2. In Beispielen und conkreten Fällen begreift man leichter. 3. Sie lernen so den eigentlichen Gebrauch der Rechnungsarten kennen. 4. Bei dieser Gelegenheit lernen sie auch Verschiedenes als Nebensache kennen, z.E. die Preise von allerlei Waaren und was man sonst hier einflechten kann. – Die Form, in welcher der Lehrer jene Anwendung auftischt, kann verschieden sein. Erzählungen, Briefe, Räthseln, dgl. (PhTb 1: 21)

Bolzanos Gabe, für sehr abstrakte Aussagen einfache und anschaulich zwingende Bilder und Beweise anzubieten, war auffallend; auch Jahrhunderte später noch (Wallace 2010: 158, Anm 42). Sein didaktisches Grundprinzip der Veranschaulichung bringt auch auf der höchst abstrakten Ebene, jener der Grundlagen der Mathematik, entscheidenden Erkenntnisgewinn. Das zeigt eine psychologisch-pädagogische Anmerkung, wo es um das Erlangen von Sicherheit im Wissen geht: Man sollte glauben, es geschehe, wenn man sich Mühe giebt, den Satz erst durchzudenken, Beweise für ihn aufzusuchen u.s.w. Allein ich fürchte, besonders, wenn die Beweise nicht

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ganz invicti [unwiderlegt] sind, wenn sie, was fast noch bei jedem Beweise in der Physik, Philosophie, Theologie, Moral etc. ist, nur irgend einen geheimen Zweifel und Gegeneinwurf unaufgelöst lassen, – so ist dies keineswegs das Mittel, wodurch der Geist Zutrauen zu seinem Satz gewinnt. Vielmehr oft das Gegenteil. Wenn ich länger über den Beweis der Parallellinien nachdenke: so fange ich endlich gar zu zweifeln an, ob denn der Satz von [den] Parallelen auch wirklich wahr wäre. Eben so in andern Fällen. – Ein besseres Mittel aber ist der Gebrauch des Satzes. Man veranstalte Gelegenheit, nach Anleitung dieses Satzes zu handeln, ihn zu gebrauchen, auf ihn zu bauen. – Und so wie in der physischen Natur der Grundstein um so fester wird, je mehr man auf ihm aufbaut: so wird auch der angenommene Grundsatz immer fester Wurzeln greifen, je öfter man ihn praktisch angewendet hatte. Probatum est. [Es ist bewiesen] (PhTb 1: 31f.)

Bolzano ging stets davon aus, dass der Lehrer die Sprache seiner Hörer verstehen und diese auch selbst sprechen müsse. Er setzte beim gesunden Menschenverstand an, in klar verständlicher Alltagssprache. Eduard Winter schreibt: „Das letzte Geheimnis seines Erfolges als Lehrer und Erzieher aber war die Liebe zu seinen Schülern.“ – Bolzanos Pädagogisches Tagebuch beginnt mit den Worten: Die Wirksamkeit meines Lehramtes kann sich freilich nur durch Liebe äußern. Meine vornehmste Sorge muß also dahingehen, mir die Liebe meiner Schüler zu erwerben … (Winter 1969: 43; 1 Kor 13,2)

Noch während seines Studiums hatte sich Bolzano auch sehr genau überlegt, was einen Menschen, der die Lebensumstände seiner Mitmenschen verbessern will, auszeichnen müsse: Wer nun auf die Moralität und Glückseligkeit der Menschen vor Andern wohlthätig einwirken will, muß folgende Eigenschaften haben: A. Die erste und die Grundeigenschaft ist die eigene Moralität. Wer nicht selbst moralisch ist, kann nicht den festen Willen haben, Moralität und Glückseligkeit bei sich und Andern zu befördern. Und wer diesen Willen nicht besitzt, bei dem dieser Wille nicht die erste und letzte Triebfeder aller seiner Handlungen ist, der wird auch keinen großen Nutzen unter den Menschen stiften. […] Wer im Ernste die Moralität der Menschen befördern will, der muß sie dort befördern, wo es je in seiner Macht steht, d.h. in sich selbst. Er will Menschen bessern? Wohl, so bessere er zuerst sich selbst; so bessert er doch einen Menschen. […] B. Die zweite Eigenschaft ist Kraft, und ich verstehe hier darunter alle sowohl inneren als äußeren Fähigkeiten und Umstände, welche sich auf die Wirksamkeit eines Menschen auf seine Nebenmenschen beziehen … (Zeithammer 1850: 57f.)

Es folgen 17 sehr detaillierte Punkte, die mit den gängigen Aufstellungen, so auch bei Wurz, weitgehend korrespondieren. Als Lehrer der Wissenschaften praktizierte und verlangte Bolzano vor allem ein systematisches Fortschreiten. Jeder neu zu setzende Schritt war erst

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zu setzen, wenn es dafür festen und deutlich einsehbaren Grund gab, auf dem ethische Beweggründe bauten. Als Redner kam auf den Jüngling nun der Auftrag zu, öffentliche ,Exhorten‘ abzuhalten, der Begriff stand ursprünglich für klösterliche Mahn- und Aufmunterungsreden. Das brachte die Möglichkeit, klare, „aufgeklärte Begriffe unter den Menschen zu verbreiten“, also die eigentliche Hauptaufgabe der Aufklärer (Hoppe 1989: 52–60). Ignaz Wurz beschreibt das Anforderungsprofil in seiner Anleitung zur Beredsamkeit: Wen nenne ich also einen geistlichen Redner oder Prediger? Jenen Mann, welchen die Natur mit Kräften, die dieser heiligen Arbeit gewachsen sind, mit einer fertigen Zunge, einer starken und angenehmen Stimme, einer besonderen Geschicklichkeit, Augen und Hände anständig zu bewegen, versehen, und dessen Gesicht und Körper sie zu einer männlichen Schönheit und Majestät gebildet hat. Er besitzt einen scharfen und eindringenden Verstand, eine sichere und schnelle Beurtheilungskraft, eine leichte und getreue Gedächtniß, einen edeln Muth, und eine Standhaftigkeit, welche macht, dass ihn weder die Furcht schwächet, noch der Beyfall aus der Fassung bringt, noch das Ansehen der Zuhörer zurückhält. (Wurz 1770: 37f.)

Mut hatte Bolzano. Sein Begriff von Mut setzt, wie wir sehen werden, Freiwilligkeit voraus, zudem ein deutliches Bewusstsein von der Natur der Tätigkeit, die gewählt wird, und schließlich auch noch Beharrlichkeit, wenn die Entwicklung nicht zum gewünschten oder erwarteten Erfolg führt. Von seiner Urteilskraft und seiner geistigen Größe kann sich jede(r), anhand der Wissenschaftslehre etwa, einen Begriff machen. Was Geschicklichkeit, Körper und Schönheit betrifft: Bolzano war zart gebaut und nicht sehr (1.63 m) groß. Seine Erscheinung hört sich in der trockenen Sprache des Pathologen so an: [Sein] asthenischer, aus vorhandenen Abbildungen bekannter Habitus wurde offenbar durch die geringe Fettschicht unter der Haut, d.h. durch Bolzanos Magerkeit, unterstrichen. (Vlček 1981: 25)

Seine Stimme konnte nicht besonders kräftig gewesen sein, denn er litt zeitlebens an Bluthusten (Hämoptoe). Schon als Knabe konnte er an lebhafteren Spielen nicht teilnehmen, denn seit seiner frühen Jugend plagte ihn sein Lungenleiden, das von Zeit zu Zeit ausbrach und zuweilen lebensbedrohende Zustände hervorrief. Dieses Leiden war auch der Grund dafür, dass er später für zwei Studienjahre, vom Mai 1813 bis August 1815, seine Lehrtätigkeit unterbrechen musste, wobei anfangs alles andere als gewiss war, ob er sie je wieder aufnehmen konnte. „Die Hagerkeit des Kranken, die beim Sprechen und mehr noch beim Gehen bald eintretende Athemnoth, die häufigen Katarrhe …“ hatten die Ärzte nicht zweifeln lassen, „dass dem Bluthusten eine ausgebildete Tuberculose zu Grunde liege“, wie Anton Wißhaupt (1813–1887),

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der behandelnde Arzt, berichtet (1850a: 93). Die Krankheit verlangte von Bolzano lebenslang äußerste Disziplin. Das war nicht immer leicht mit dem Predigeramt zu verbinden. Gregor Zeithammer berichtete, dass er öfters morgens, „von Schweiß triefend ins Kollegium ging, um dort oft blutspuckend die Kanzel zu besteigen“ (Zeithammer 1850: 76). Nur außergewöhnliche Disziplin und die aufopfernde Betreuung ihm nahestehender Frauen, zuerst seiner Mutter und dann besonders seiner späteren Lebensfreundin Anna Hoffmann (1784–1842), ermöglichten es dem zarten und willensstarken Mann, trotz seines chronischen Leidens ein vergleichsweise hohes Lebensalter zu erreichen. Bolzano wusste, dass seine körperliche Eignung zum Redner eher gering war und er bekannte, dass er „zu einem Redner nicht die geringste Anlage in [sich] verspüre“ (Bolzano LB, 29; Hoffmann 1850: 65). Das klingt dann auch durch die Worte des Isokrates, in Bolzanos Motto zum ersten gedruckten Band der von ihm gehaltenen Universitätsreden, Prag 1813: Meine natürlichen Anlagen waren für die aktive Politik nicht stark und kräftig genug, wie es erforderlich gewesen wäre, für das Redenhalten aber nicht vollkommen und nicht in jeder Beziehung brauchbar, sondern sie befähigten mich zwar, über jeden Gegenstand den wahren Sachverhalt besser zu vermuten als Leute, die es zu wissen behaupten. (Bolzano ER 1813, II; Isocrates 2003: 10 [9, 234d])

Vorgetragen wurde jetzt in deutscher Sprache. Bolzano spricht ein präzises und von Dialekteinflüssen weitgehend freies Prager Deutsch in oberdeutscher Schriftsprache. Ein Redner hatte zweifellos auch besondere charakterliche Voraussetzungen mitzubringen: Johann Christoph Gottsched unterstreicht in seiner Ausführliche[n] Redekunst die Grundvoraussetzung der Integrität des Redners: Durch einen Redner verstehe ich einen gelehrten und rechtschaffenen Mann, der die wahre Beredsamkeit besitzet. Ich schliesse also aus der Zahl der Redner die Sophisten und alle Schwätzer aus, die entweder eine falsche Beredsamkeit besitzen, oder nur viel Worte machen. (Gottsched 1736: 103)

Bolzano war der vir bonus – „Bonus vero vir sine deo nemo est“ (Seneca, Epistulae morales 41: 2; 1820.6: 76). An den charakterlichen Voraussetzungen ist bei Bernard Bolzano nie ein ernstzunehmender Zweifel aufgetreten. Bernard Bolzano überzeugte vor allem als Mensch. Er war kein Weltverbesserer, sondern ein Sich-selbst- und dadurch auch ein Menschenverbesserer. In einer Anmerkung zum Punkt 4 ,Moralität‘ notiert er: Die Moralität, von der ich hier spreche, besteht keineswegs in einer bloßen Überzeugung des Verstandes. Der taugt meiner Meinung nach noch nicht zum Verbesserer der Menschen, der sein System der Moralität, seine Grundsätze von Menschenbeglückung, Aufklärung u.s.w. bloß im Kopfe hat und dessen Herz daran noch keinen Theil hat. Sondern

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ich verlange, daß der Menschenverbesserer Moralität im Herzen habe, daß er nicht bloß so und so denke, sondern so wirklich empfinde; ich will, dass er eine warme, im Herzen gegründete Liebe zu allen seinen Mitmenschen empfinde. (Zeithammer 1850: 58)

Alle Zeugnisse sprechen dafür, dass Bernard Bolzano diese Bereitschaft zu lieben besaß. „Besitzt ein Mensch diese Bereitschaft, dann besitzt er sie auch sich selbst gegenüber; wenn er nur andere ,lieben‘ kann, dann kann er überhaupt nicht lieben“, so Erich Fromm zur Psychologie des Liebenden (1941: 285). Die Zeugnisse und Zeichen sprechen dafür, die Liebe zu den Menschen als Bolzanos Beweggrund zu verstehen: Sein Wirken, als Verwirklichung seiner Ansichten und Einstrellungen, erklärt sich daraus.

3 Lebenswelt Wirkt die äußere Welt des ‚Weisen von Prag‘, wie man ihn später auch nannte, recht ruhig und bescheiden beschaulich, so erweckt die innere den gegenteiligen Eindruck: Anton Wißhaupt berichtet: „Bolzanos Tätigkeit war bewunderungswürdig: er konnte nicht einen Augenblick müßig sein.“ (Wißhaupt 1981: 342) Es ist eine ausgesprochen dynamische Welt mit weiten Ausblicken in verschiedenste Richtungen. Bolzanos Leben macht insgesamt, in allen auf uns gekommenen Zeugnissen, Berichten, Briefen, Werken, erstaunlicherweise überhaupt keinen kargen oder dürftigen Eindruck. Es erscheint vielmehr von einer „Heiterkeit des Geistes“ getragen, einer Art großzügiger Gelassenheit (1817.17–18; Demetz 2015). Seine einfache, bescheidene Lebensweise jenseits von allem Luxus und fern jeder Verschwendung folgt den Regeln, Riten und Rhythmen christlichen Lebens. Seine Lebensform zeigt ein Streben nach Einsichten auf allen möglichen Wissensgebieten und als Folge einen großen inneren, wohlgeordneten Wissensschatz. In Bernard Bolzanos Lebensform wird eine tätig eingegangene Verantwortung für die Welt, als Reich Gottes verstanden, deutlich. Diese folgt aus seinen Einsichten in die formalen wie auch konkret-physikalischen Eigenschaften der belebten Welt. Wir würden diese Lebensform heute als bescheiden, naturgemäß und ganzheitlich bezeichnen. Die Kirche, die Gemeinschaft aller Menschen, die guten Willens sind, bildet den Rahmen und prägt den Ritus, die Formen des Lebens. Bolzano stellt das in einer seiner allerletzten Erbauungsreden noch einmal klar:

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Wir pflegen zu sagen, es habe sich eine gewisse religiöse Gesellschaft oder Kirche unter den Menschen gebildet, wenn sie, veranlaßt durch die Gleichmäßigkeit ihrer Begriffe von Gott und göttlichen Dingen, den Entschluß fassen, gewisse Übungen, die sich auf die Verehrung Gottes oder sonst überhaupt auf Religion beziehen, in Zukunft gemeinschaftlich zu verrichten; wenn sie, z. B., es unter sich eingeführt haben, an bestimmten Tagen Versammlungen zu halten, um durch gemeinschaftlich gepflogenes Gebet oder durch andere Handlungen, die man zugleich als eine Art von Gottesdienst betrachten kann, zu erbauen. Daß es solche Kirchen zu allen Zeiten und bei allen Völkern gegeben hat und noch gibt, ist eine Wahrheit, die uns alle Reisende und Geschichtsforscher bestätigen; und schon aus ihr allein ist auch die Nothwendigkeit solcher Kirchen erwiesen. (1820.11: 119)

Lebensform Die abendländischen Lebensformen sind seit der griechischen und römischen Antike Gegenstand philosophischer Betrachtungen und Entwürfe (RAC 2008 ‚Lebensform‘). Bei Demokrit ist es die Richtigkeit des Denkens, was den Menschen glücklich macht. Bei den Sophisten kommt etwas wie politische Bildung als wesentlich dazu. Sokrates gibt durch sein Leben und Sterben ein die Kulturen überdauerndes Beispiel vor. Seneca rät, Tat und Kontemplation zu verbinden. Der Ausdruck ,Lebensform‘ wird in Mitteleuropa weniger abstrakt gebraucht als das Eduard Spranger (1883–1963) in seiner bekannten Studie Lebensformen (1966) macht. Ludwig Wittgenstein verwendet den Begriff später – als Bündel von Verhaltens- und Sprechweisen, womit das „Gegebene“, als selbstverständlich Vorausgesetztes, wahrgenommen und zugleich reflektiert werden kann (Wittgenstein 1995: IIxi, 507; 1984a: 1 § 630). Betrachten wir kurz das ,Bündel‘: Bolzanos Lebensweise ist durchwegs die eines einfachen, bescheidenen freundlichen Menschen. Den Mitgliedern seiner Familie ist er herzlich verbunden (Wißhaupt 1981: 337ff.). Sein Umgang mit den Menschen allgemein ist nicht nur freundlich, sondern auch bestimmt. Ein Beispiel: Nachdem er einmal bemerkte, dass eine demenzkranke Verwandte, die im Hause Bolzano versorgt wurde, unerwartet doch eine Regung bei seinem Eintritt in die Kammer zeigt, besuchte er sie des öfteren. Nachdem mit ihr aber kein Gespräch zu führen war, nahm er seine Violine mit, auf der er als Knabe (nach eigenen Angaben mit eher geringem Erfolg und Talent) gespielt hatte, und ließ sie für sie erklingen – einen bekannten und angesehenen Fürsten andererseits, der in der Mathematik dilettierte und seine Ergebnisse dem bereits stadtbekannten Mathematiker zum wiederholten Male vorlegte, weil er erhoffte, damit eine Art Unsterblichkeit zu erreichen, machte Bolzano unmissverständlich klar, dass er dieses auf solche Art nie und

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nimmer erreichen werde. Er machte ihm stattdessen einen Gegenvorschlag, nämlich es dadurch zu versuchen, den Ärmeren und in immer bedrückenderen Verhältnissen lebenden Menschen in seiner Heimat günstige Wohnungen zu verschaffen. Bolzano nützte wirklich jede Gelegenheit, um auch andere zu gemeinnütziger Tätigkeit anzuregen und ging dabei, etwa wenn er zu Tröstende besuchte, nicht selten über die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit hinaus. Frauen behandelte er durchwegs mit größter Achtung und die Gleichstellung der Frau war ihm eine Selbstverständlichkeit. Sein Umgang mit Geld war nicht auf Gewinn ausgerichtet: Sobald er etwas mehr Geld bekam, sorgte er dafür, dass es sozialen Einrichtungen zugutekam. Sein Bruder Johann, der eher praktisch veranlagt war, ärgerte sich nur darüber, dass Bernard so viel Geld für den Ankauf von Büchern, und überhaupt, so viel Zeit für die ‚Schriftstellerei‘ verwendete. Sonst brauchte er ja wenig. Josef Hoffmann, auf dessen Gutshof im südböhmischen Těchobuz, fast am Ende der Welt damals, Bolzano später lebte, zeichnete seinen Gast als bescheidenen, geradezu bedürfnislosen Menschen. Er war einfach gekleidet, ernährte sich auf einfache, gesunde Weise, war diszipliniert, arbeitsam und unentwegt bemüht, den Menschen seiner Umgebung zu nützen (Hoffmann 1850: Vorrede). Er ging mit gutem Beispiel eines einfachen, liebenswürdigen und sehr bescheidenen Menschen durchs Leben, von jeher war es mein Wunsch, von den Gütern der Erde nicht allzu viel, höchstens nur so viel zu genießen, als bei einer gleichen Vertheilung derselben auf einen Jeden ausfallen würde. (Bolzano LB, 77)

Das war die Lebensregel. Diese legte er auch seinen Schülern nahe: Was immer die Natur selbst nicht gebieterisch fordert, das lasset uns, wo nicht verschmähen, doch nie in solcher Weise und so oft genießen, daß es uns zum Bedürfnisse, das wir nicht lassen können, werde […] die einfachsten und wie die gesündesten, so auch zugleich die wohlfeilsten Nahrungsmittel mögen die Speise sein, durch die wir unseren Leib erhalten; nicht theuere Stoffe, zu deren Bereitung so vieler Menschen Hände zusammenwirken, Mancher vielleicht selbst einen Theil seiner Gesundheit aufopfern mußte, sondern gemeine, leicht zu gewinnende und darum wohlfeile Zeuge wählen wir zu jenen Kleidungsstücken, womit wir uns vor Kälte und Witterung schützen […] die einfachen und wohlfeilen Freuden der Natur seien diejenigen Erholungsmittel, durch die wir uns, wenn wir ermüdet sind, zu neuen Arbeiten stärken (1812.15: 198)

Seneca, im Anschluss an die griechischen Stoiker Bolzanos Gewährsmann in Fragen menschlicher Lebensweise, formuliert das einmal so: Das höchste Gut sei es, gemäß der Natur zu leben (Seneca, De otio 4,2; Solemus dicere summum bonum esse secundum naturam vivere).

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Abgesehen von Sicherung und Erhalt der Lebensfunktionen kommt dem Besitz keine Bedeutung zu. Reichtum ist für Bolzano ein zweifelhaftes Gut und nicht das reine Glück, für das es gemeinhin gehalten wird. Was die Verteilung von Besitz und Reichtum betrifft, so stellt der große Mathematiker folgende einfache Rechnung an: Alles was jemand zu viel hat, nimmt er (nachdem keines der Güter unbegrenzt vorhanden ist) anderen weg, das fehlt den anderen. Er unterscheidet zwischen Reichtum und Wohlhabenheit: Wohlhabend zu sein bedeutet, zum Fortkommen ausreichend Mittel zur Verfügung zu haben; Reichtum hingegen bedeutet den Besitz eines Vielfachen dessen, was zum Leben notwendig ist, und das kann, so Bolzano, nur auf Kosten der anderen Menschen zustandekommen: Wohlhabend sollten alle Menschen sein, reich niemand (1818.33–34, dazu Einleitung 2A24, 19) Er selbst lebte danach.

4 Berufsentscheidung Ohne weiteren Einfluss zu nehmen wartete Bolzano nun die offizielle Entscheidung der Behörden ab. Sie brachte ihm das Amt des Religionslehrers und Exhortators. Bernard Bolzano erfüllte es mit unbedingtem, geradezu lebensbedrohend großem Einsatz. Dass diesem jungen Mann das Amt des Universitätslehrers tatsächlich zugesprochen wurde, besagt auch, dass der Kampf zwischen den josephinischen Aufklärern und den rückwärtsgerichteten Bewahrern 1804 noch nicht eindeutig entschieden war. Besonders in der Beamtenschaft hielten sich Josephinisten in wichtigen Positionen. Die österreichische Dienstaristokratie wehrte sich ganz entschieden gegen die restriktiven Veränderungen der Staatsführung. Mit Bolzanos Bestellung hatten sich die Staatsbeamten noch einmal durchgesetzt. Die staatlichen und kirchlichen Entscheidungsträger erkannten freilich die Gefahr, die er für die Machteliten darstellte. In den entscheidenden Gremien gab es einige, die mit der Entscheidung offen unzufrieden waren. Sie meldeten sich auch bald zu Wort. Dass sich dieser junge Mann für das Amt des Religionslehrers entschieden hatte, ist dennoch ungewöhnlich. Die Hauptquelle, Bernard Bolzanos Lebensbeschreibung, die er 1831 für seine spätere Freundin Anna Hoffmann verfasst und die sein Freund, der Priester Michael Josef Fesl (1788–1864) ohne Autorisierung veröffentlicht hat, sagt diesbezüglich sehr viel aus: „Wie ich [Bolzano] mich aber in Hinsicht auf meine Standeswahl benahm, ist wirk-

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lich eigen.“ (Bolzano LB, 23) Eigen(artig) wirkt zunächst einmal, dass zwei ganz unkritische, ja für uns banal wirkende Umstände seine Entscheidung zumindest mitbestimmt zu haben scheinen: Da war einmal sein Vetter Theophil Reichel, der ihn bewunderte und in allem nachahmte. Reichel war dazu bestimmt, Geistlicher zu werden. Gemeinsam hatten sie studiert, gemeinsam dachten sie über die Entscheidung der Standeswahl nach. Bolzano schreibt, er habe sich um alles in der Welt nicht den Vorwurf zuziehen wollen, Reichel vom Priesterstand abwendig gemacht zu haben: Das wäre aber geschehen, er wäre sicher nicht geistlich geworden, oder ich wenigstens fürchtete dieß, sobald ich selbst nicht geistlich geworden wäre; zumal da er die Untersuchung über seine Standeswahl gemeinschaftlich mit mir und mit Benützung meiner eigenen Papiere [das Manuskript Über die Standeswahl] anstellte. Hiezu kam [(2)] noch, daß mir nicht unbekannt war, auch meine Mutter würde, ob sie es gleich nie ausdrücklich sagte, doch nichts mehr Freude gewähren, als wenn sich einst fände, dass ein rechtschaffener Geistlicher aus mir geworden sey. (Bolzano LB, 24f.)

Es waren vielleicht nicht die wesentlichsten Gründe, aber wenn sie Bolzano seiner Lebensfreundin gegenüber zugab, dann bedeutet das, dass manches, was wir heute für unbedeutend oder gar zweckwidrig erachten würden, für ihn ein gewisses Gewicht hatte. Uns Heutigen erscheint es überhaupt höchst eigenartig, dass sich ein mathematisches Spitzentalent für das Priesteramt entscheidet. (In der Einleitung zu Bolzanos Beyträgen (1810a) etwa bedauert der deutsche Mathematikhistoriker Hans Wußing diese Entscheidung). Eigenartig ist dabei jedenfalls, dass Bolzano bei seiner Entscheidung nicht seinen offensichtlichen Talenten, die ohne Zweifel auf Seiten der Mathematik und formalen Logik lagen, gefolgt war. – Dies, obwohl er seinen Studenten immer den Rat gab, bei der Berufswahl ihren Talenten zu folgen. Um hinter diesen Schein des Sonderbaren zu kommen und diese ungewöhnliche Lebensentscheidung verstehen zu können, müssen wir noch einen Blick auf Bolzanos Lebensform werfen und vorweg auch auf seine geistige Welt: Die getroffene kann jedenfalls keine einfache Entscheidung gewesen sein, denn sie traf nicht seine hervorragenden Talente, und seine körperliche Eignung widersprach ihr geradezu. Dass er sie so gefällt hat, lässt sich vielleicht verstehen, wenn man drei Dinge bedenkt: 1. E r musste, als junger Mensch schon, gleichsam einen Blick in die „Tiefe der Zeiten“ – mit Doderer zu sprechen – geworfen und erkannt haben, dass die abendländische Kultur auf dem Scheideweg stand. Hätte er „zur Zeit einer Großen Kultur“ (Wittgenstein 1994: 29f.) gelebt, dann wäre er ohne Zweifel Mathematiker geworden. Das Opfer

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eines Katechetenamts zu bringen, bedurfte es jedenfalls besonderer Einsichten. 2. Als gut ausgebildeter Rhetoriker sah er leicht ein, dass es keine andere Berufstätigkeit gab, die an Wirkungsmöglichkeit nur annähernd an die des Religionsprofessors an den Philosophischen Studien heranreichte. 3. Aus seinem Begriff von „Heimat“ geht hervor, dass er sich seiner Heimatstadt Prag und Böhmen dankbar verpflichtet fühlte und ihr diesen Dienst für all seine empfangenen Wohltaten, wie ausreichend Nahrung, Schutz und Ausbildung ganz bewusst leistete. Diese Dankbarkeit, die Sorge um das Gemeinwohl war universalistisch gedacht, also im Bewusstsein, dass die abendländische Kultur ein Gefüge, in dem Böhmen Teil war, jetzt der Unterstützung bedurfte. Wenn wir uns dennoch fragen, warum er sich der Religion und nicht der Mathematik zugewandt habe, dann ist zu sagen: Das hat er nicht: Er hatte nicht aufgehört, Logik und Mathematik zu betreiben. Er betrieb sie weiterhin und er erklärte die Religion mit Mitteln der Mathematik. Ein Blick auf seine umfangreichen mathematischen Tagebücher während all der Jahre zeigt die ungeheure Gedankenarbeit, die er auch neben dem Lehramt darauf verwendet hat. – Andererseits veröffentlichte er in den dreißiger und vierziger Jahren bis zu seinem Tod noch eine ganze Reihe von theologischen Schriften, die sein ungebrochenes Interesse an der Religion eindrucksvoll belegen. Noch im Jahr 1847 verfasste er eine (verschollene) Schrift zum Thema Was sollen die Katholiken jetzt von ihrer Obrigkeit verlangen (Křivský 1976: 166, Anm 6). Es war so gesehen keine Entscheidung ,gegen etwas‘ gewesen. Wenn wir uns fragen sollten, ob es eine Entscheidung für die Religion oder für die Ethik war, dann dürfte bereits klargeworden sein, dass es auch hier nichts zu entscheiden gab, denn beides gehört aus Bolzanos Sicht engstens zusammen. Wenn zuweilen, im Verfahren gegen ihn etwa, kritisch anklingt, er verkürze den Glauben auf Ethik: Er verkürzte nichts, er nahm nur ein objektiv überprüfbares Kriterium für den Glauben an: ein gerechtes Leben, nach dem Beispiel Jesu, nach allgemein anerkannten sittlichen Grundregeln. Zu fragen, ob er sich mehr für den Weg seiner Mutter oder den seines Vaters entschieden habe, das wäre ebenso sinnlos, wie wenn wir uns beim Hören der Schöpfung von Joseph Haydn zermarterten, ob hier der Finger Gottes oder das Aufblitzen aufgeklärter Vernunft im Spiel sei (Weidringer 2009b: 43f.). – Bernard Bolzano hatte sich ganz im Sinne seiner Eltern entschieden.

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In einer Erbauungsrede über den Heiligen Johannes Nepomuk malte der Dreißigjährige – der den Namen Johann im Kreis seiner Taufnamen führte – Johannes von Pomuk als Vorbild in Sachen Mut und Gesinnungstreue: Allein so viele Fähigkeit er auch gehabt hätte, ganz bey dem Fache der Gelehrsamkeit zu bleiben; sehn wir ihn doch die minder ruhmvolle Bahn der Seelsorge betreten, weil er hier der Menschheit einen noch wichtigeren Nutzen zu leisten können gehoffet. (1811.36: 357)

Unschwer lässt sich Bolzano selbst in dieser Beschreibung erkennen. Wenn es ein Opfer war, das er jetzt auf sich nahm, so war es jedenfalls eines, das er mit deutlichem Bewusstsein und mit Freude gebracht und auch nie bereut hat: Von dem Vorwurfe, welchen man mir bei Gelegenheit dieses Verfahrens [„Bolzano-Prozess“] theils scherzweise, theils auch vielleicht im Ernste gemacht hat, daß ich die Lehrkanzel der Mathematik jener der Religionslehre gern vorgezogen hätte, und dann wohl auch gar nicht geistlich geworden wäre, spricht mich mein innerstes Bewußtseyn los. Denn einem Manne, der einen großen Einfluß auf die Besetzung der Lehrkanzeln hatte, [Mika] und weil er mich lieb gewonnen, mich eigends holen ließ, um mich zu fragen, welche von beiden [Theologie, Mathematik] mir denn die willkommenere wäre, gab ich zur Antwort, ich könne mit einiger Zuversicht hoffen, daß ich durch Vorlesungen über die Religion einen bedeutenderen Nutzen stiften würde, als es durch Vorlesungen über Mathematik je möglich sey. (Bolzano LB, 29)

Der Nutzen war das entscheidende Kriterium. Bolzanos Berufsentscheidung hängt mit der von Marian Mika vertretenen Einsicht zusammen, dass es nicht um das Wesen der Religion gehe, sondern um den Gebrauch, den Menschen von ihr machen. Er nahm an, daß es nach des Apostels Meinung nicht auf die Beschaffenheit einer Religion an sich, sondern auf die Gesinnung, mit der man ihr anhängt, ankomme, wenn man entscheiden will, ob sie für diese Menschen wirklich Offenbarung sei oder nicht. (1813. 29: 288; Perikope Röm 10,1–16)

Hier konnte er etwas bewegen. Echte Zweifel hatte er nur an seiner Eignung zum Redner angesichts der Pflicht der Abhaltung sonntäglicher Erbauungsreden. Aus seinem Gesundheitszustand war es tatsächlich keineswegs vorherzusehen, dass er die Strapazen, vor allem jene des öffentlichen Vortrages vor hunderten Studenten, ohne weiteres verkraften konnte. Tatsächlich brachten ihn seine ernstgenommenen Verpflichtungen mehrmals an den Rand des Grabes. Er atmete schließlich auch auf, als ihm dieses Amt wieder genommen wurde; auch wenn das eine eindeutige Niederlage bedeutete. Diese war jedoch nicht selbst verschuldet, daher für ihn hinzunehmen, als eine in der Vorsehung Gottes beschlossene Sache.

Bernhard Bolzanos Kindheit und Jugend

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Bolzanos Lebensentscheidung war jedenfalls eine, die er in aller Bewusstheit getroffen hatte, und die gerade deshalb eine möglichst, aber gewiss nicht rein rationale war. Als hervorragender Rhetoriker vermied Bolzano jeden ‚revolutionären‘ Anschein im modernen Sinn und umschrieb die Dinge. Das war angebracht, denn es musste klargestellt werden, dass seine Vorschläge mit Aufruhr und Gewalt nichts zu tun hatten und haben sollten. Das gilt für die hier seltsam autoritär klingende Forderung der katholischen Kirche, die Vernunft dem Glauben zu unterwerfen. Wenn er etwa die Zuflucht zu Gott und das Festhalten an der Lehre Jesu (1817.3) empfiehlt, – dann verlangt er damit nicht etwa „müßiges Gebet“ (1817.3: 43); er verlangt keineswegs ein bloßes Bekenntniß zu der Lehre Jesu, das jemand mit dem Munde ablegt, während er doch so ganz und gar nicht lebt, wie diese Lehre fordert. (1817.3: 47)

Er verlangt nichts weniger, als dass derjenige, der das Problem verstanden hat, sein Leben demgemäß ändert. Dass eine solche Art, zu Gott „seine Zuflucht zu nehmen“ (1817.3: 41) glückhaft sein könne, bestätige „das einstimmige Zeugniß des gesunden Menschenverstandes“, so Bolzano (1817.3: 44), und zwar unabhängig davon, ob sich die aktuellen Vorstellungen von Gott jemals als treffend erweisen sollten, – ja selbst dann, „wenn auch kein Gott im Himmel lebte“! (1817.3: 46) – Nichts; weder Jesus, Gott, ja nicht einmal eine Ordnung setzt er voraus in seinem radikalen Glauben: Er nimmt alles dem Obersten Sittengesetz Entsprechende an und lebt es, nachdem er es geprüft und für gut befunden hat. Das ist alles.

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Zweiter Teil

Worte sind Taten: Bolzanos Berufsleben 1 Beruf(ung) Die Untersuchungen über die ‚Standeswahl‘ betrieb Bernard Bolzano mit äußerster Gewissenhaftigkeit; persönlich für sich selbst und ganz allgemein als Lehrer (Bolzano 1853; Webhofer 1992: 104ff.). Er spricht von ,Berufsständen‘ im modernen, nicht von ,Landständen oder Geburtsständen‘ im alten, noch mittelalterlichen Verständnis. Dabei hat er stets die „Hauptwahrheit“, nämlich die größtmögliche Förderung des allgemeinen Wohles, als Maß vor Augen (Zeithammer 1850: 51). So fragte er sich jetzt auch selbst zuerst nach dem Nutzen jedes Standes, seine[n] Verrichtungen, Pflichten und Obliegenheiten, verglich sie mit [s]einen Kräften und Eigenthümlichkeiten. Auch ist so viel gewiß, daß weder Eigennutz, noch Liebe zur Bequemlichkeit, noch irgendeine Aussicht auf glänzende Ehrenstellen [ihn] für den geistlichen Stand einnahmen, ja daß im Gegentheil [s]eine ganze sinnliche Natur sich gegen diesen Stand empört habe … (Bolzano LB, 23f .)

In dieser Zeit des Umbruchs änderten sich die Begriffe, so auch der Begriff von ,Beruf‘. Wie Max Weber später ausführt, wird der Beruf in den Ablauf des modernen Fortschrittsdenkens eingebunden. So wie sich jetzt die allgemeinen Vorstellungen vom ,Fortschritt‘ selbst änderten, so änderten sich jetzt auch jene des Berufes in dem „in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzten Entzauberungsprozeß“ (Weber 1975: 17). Mit zunehmender Rationalisierung, Industrialisierung und Arbeitsteilung verliert der Beruf des Menschen die Dimension der „inneren Bestimmung“, wie sie dem „althistorischen Geist“ der mittelalterlichen und frühen neuzeitlichen Kultur noch wesentlich inne war (Weber 1975: 8). Jetzt stand man gleichsam am Übergang von der früheren ,Berufung‘ zur späteren amerikanischen Version, dem ,Job‘. Bolzanos eigene Berufswahl steht auch irgendwie dazwischen. Sie war jedenfalls Gegenstand deutlichen Nachdenkens über die eigene Lebensaufgabe. Es ging dabei wohl um etwas, das man in früheren Zeiten als ,Berufung‘ bezeichnet hatte, aber jetzt waren sehr bewusste Überlegungen, wie die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten einerseits und der gesellschaftlichen Notwendigkeiten andererseits, damit verbunden. Daraus errechnete er sich die Möglichkeiten, der ‚guten Sache der Menschheit‘ bestmöglich dienen zu

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können. Nach seiner überraschenden Klärung der religiösen Vorstellungen sah Bolzano nun auch eine mögliche Berufslaufbahn vor sich: Mein fernerer Plan aber war, mich in diesem Stande um irgend eine Lehrkanzel an der Philosophie oder auch wohl an einem Gymnasio zu bewerben, und wenn ich erst angestellt wäre, um die Erlaubniß öffentlicher Vorlesungen über die gute Sache der Religion für freiwillige Zuhörer aus den gebildeten Ständen zu bitten. Kaum war ich einige Wochen mit diesem Plane umgegangen, kaum hatte ich ihn einigen meiner Vertrauten mitgetheilt; als ich aus dem Munde meines verehrten Lehrers Mika vernahm, daß der Monarch beschlossen habe, eigene Lehrkanzeln der Religion bei der philosophischen Facultät sowohl als auch an den Gymnasien zu errichten. Staunend betrachtete ich dieses Zusammentreffen meiner Wünsche mit den Verfügungen der Regierung … (Bolzano LB, 28)

Wirkungsmöglichkeiten In Mathematik und Logik geht es darum, die Schlüssigkeit und Konsistenz der Denkoperationen, in denen sich ihre Ordnung entfaltet, stets unter Beweis zu stellen. Reine Mathematik und Logik befassen sich ausschließlich mit der „immanenten Ordnung menschengeschaffener Beziehungssymbole“ (Elias 1989: 160ff.). Das erfordert einen hohen „ontologischen Preis“, so Peter Simons (2003: 325); in dem Sinn, dass sich Logikerinnen und Logiker zwangsläufig zeitraubend intensiv mit abstrakten Gegenständen beschäftigen. Das braucht Zeit, denn sie müssen sich dazu in die Materie vertiefen und je mehr sie das tun, ziehen sie sich aus dem tätigen Leben zurück. Diesen Preis zu zahlen ist Bernard Bolzano, trotz aller gegebenen Faszination, unter den gegebenen Zeitumständen jetzt (1804) nicht bereit. Er setzt alles – sein Leben, seine Berufskarriere – ein, um seinen Landsleuten die richtigen Begriffe zu erschließen und ihnen helfen, zu ihrem Glück zu finden. Freilich, diese Berufsentscheidung bedingt für den hochbegabten Mathematiker jetzt die hauptsächliche Zuwendung zur Alltagssprache. Das bringt es mit sich, dass er es in der Umsetzung seiner Vorstellungen nun, statt mit eindeutigen Begriffen wie wahr und falsch, mit offensichtlich unabgeschlossenen und offenen Begriffen zur Bezeichnung von Adäquatheit zu tun hat, mit Annäherungen, mit Enthymemata, mit rhetorischen Wahrscheinlichkeitsgraden, – statt mit kontextfreien, eindeutigen formalen Schlüssen in der ,reinen‘ Mathematik (Elias 1989: 160). Konsequentes Schärfen von Begriffen, präzises Anwenden von Überzeugungsmitteln, strenge Beachtung der Angemessenheit, genaues Auseinanderhalten von Enthymem und Syllogismus etc., – darin besteht jetzt sein pädagogisch-rhetorisches Handwerk. Er setzt altbewährte Mittel ein, argumentiert

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hier rhetorisch, dort dialektisch, ohne freilich die Regeln der Vernunft und der jeweiligen Disziplin je außer Acht zu lassen. Hat er das Überzeugende einer Sache erkannt, sucht er es zu verbreiten, denn er weiß, „das Wahrscheinliche zu treffen [bedeutet] in der Mehrzahl der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen“ (Aristoteles rhet 1.1355a). Seine solide rhetorische Grundausbildung lässt ihn die Grenzen des dialektischen Beweisens, die in der rhetorischen Tradition seiner Zeit durchaus noch verankert waren (Gadamer 1972: 16ff.; 21) wahrnehmen. Sie hat wohl auch sein unbegrenztes Vertrauen in die Wahrheit des consensus omnium, die einzige Sicherheit in diesen Fragen, befestigt. Die Zuwendung zur Alltagssprache ist bei Bolzano umso effektiver, als er von einer präzisen logisch-mathematischen Folie ausgeht. Vor dem klaren Hintergrund der von Konnotationen freien Sprache der Logik und Mathematik sucht er nun die notwendig auftretende Unschärfe der natürlichen Sprache zu vermindern. In der rhetorischen Argumentation, in der er es jetzt zumindest teilweise mit nicht vollständig formalisierbaren Aussagen zu tun hat, verweist er auf den „gesunden Menschverstand“ oder beruft sich auf die Weisen aller Zeitalter als Zeugen. Und auch wenn er in seinen späteren wissenschaftstheoretischen Arbeiten versucht, weitestgehend zu systematisieren und zu axiomatisieren, wenn er schließlich auf das Konstrukt vom ,Satz-an-sich‘ und auf ein einheitliches Satzmodell, ,A hat b‘, kommt, dann hat das nichts mit Essentialismus zu tun, sondern nur mit der Klarheit im Hintergrund. Sie ist nach Bolzano Voraussetzung für jeden wirklichen Fortschritt der Menschheit. Als Lehrer und Redner konnte er jetzt diese Klarheit vor der Gesamtheit der Hörer der Philosophischen Studien ausbreiten und ihr gleichsam Raum schaffen. Die Studenten waren überrascht, erstaunt. Bolzano nützte dieses Erstaunen – stupor animos tenet. Auch wenn er sich nicht zum Redner berufen fühlte, die Wirkungsmöglichkeit war nirgends größer im Land als jetzt und hier, auf diesem Lehrstuhl. Bolzano musste zugreifen.

Amtsantritt Bernard Bolzano wurde am 13. Feber 1805 (Studienjahr 1804/1805) als erster „Religionslehrer“ an der Universität Prag nach den neuen Vorschriften formal bestellt. Zunächst war das nur provisorisch möglich, weil er die Voraussetzung der Priesterweihe noch nicht erfüllte. Am 7. April 1805 wurde er geweiht und am 17. April zum Doktor der Philosophie promoviert. Ein noch nicht vierundzwanzig Jahre alter, zart gebauter Jüngling von „mittelhoher Gestalt“ (Vlček 1981: 25) mit einer durch sein chronisches Lun-

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genleiden geschwächten Stimme, trat am Freitag, den 19. April 1904, 10 Uhr vormittags sein Lehramt an. Jene Frage, die schon den großen Schweizer Erzieher Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bewegt hatte, die Preisfrage der Akademie zu Dijon, „ob der Fortschritt der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe“ (Baczko 1970: 147), stellte sich jetzt auch für Bernard Bolzano. Mit der Antrittsrede an der Karl-Ferdinands-Universität zu Prag begann eine außerordentlich systematische Aufklärungstätigkeit, deren Rahmen und Richtung schon in diesem ersten Vortrag angedeutet war. Bolzano selbst verzeichnet als Titel der Rede (die Reden hatten keine Titel; diese sind nur Hilfsmittel der Archivierung) Uiber den Nutzen eigener Religionsvorlesungen für die Hörer der Philosophie (Index PNP DIII d2; BGA 2A15, 39, die Rede selbst ist verschollen). Bolzano achtet bei allem, was er unternimmt, auf die Grundlagen. Sie müssen einsichtig und der Nutzen des Handelns muss eindeutig bestimmbar sein. Es ging ihm um den Nutzen für die Studierenden, für das Vaterland und letztlich für die gute Sache der Menschheit. Er wollte keinesfalls bloße Gelehrsamkeit vermitteln, nicht Wissen um des Wissens willen, keine Buchstabengelehrtheit. Die Kaiserl. auch K.K. priv. prager Oberpostamtszeitung berichtet: Freitags, den 19 April dieses Vormittags um zehn Uhr wurde an der hierortigen k. k. Karl ferdinandeischen Universität im Kollegio Klementino und Hörsaale des 1ten Jahrgangs der Philosophie […] die feyerliche Installazion des Herrn Bernard Bolzano von Kronstätten, Weltpriesters und Doctoren der freyen Künste und Weltweisheit, als allerhöchst ernannten Katecheten für die sämmtlichen Hörer der Philosophie der hierortigen Universität abgehalten […] (Nr. 48 vom 22. April 1805)

Professor Ignaz Sinke (1759–1808), Prorektor der Universität und einziger Laie im Kollegium der Theologischen Fakultät, hatte Bolzanos Vortrag wohlwollend eingeleitet, mit einer Rede, in welcher er die Errichtung dieser Lehrkanzel als die wohlthätigste Anstalt unserer allergnädigsten Landesfürsten in dem glänzendsten Lichte darstellte. Er zeigte darin, welche Vortheile daraus entstehen, wenn die studierende Jugend durch die geheiligte Religionslehre immer größere Fortschritte auch in der Bildung des Herzens gelange. Am Schluße seiner Rede erinnerte er die unterstehenden Akademiker nicht nur die Vorlesungen über den Religionsunterricht ordentlich und fleißig zu besuchen, sondern auch den vorgeschriebenen sonntägigen Gottesdienst … (Oberpostamtszeitung Nr. 48, vom 22.4.1805)

Darauf hieß Sinke „den Herrn Religionslehrer die Lehrkanzel zu besteigen“ und bemerkt dazu:

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Herr Bolzano von Kronstätten bewieß in seiner ersten mit allgemeinem Beifall abgehaltenen Antrittsrede die Nützlichkeit und Nothwendigkeit des Religionsunterrichts für die Hörer der Philosophie. (Oberpostamtszeitung, 22.4.1805)

Das Intelligenzblatt zu den Annalen der Literatur und Kunst in den österreichischen Staaten, berichtet in dieser Angelegenheit, „Abbé Bolzano“ wurde mit aller Feyerlichkeit im Hörsaale der Logik im Clementino istallirt, und eröffnete seine Vorlesungen mit einer Antrittsrede „über die Nothwendigkeit der Beachtung des Gleichgewichts in den Religionsfortschritten mit den übrigen Kenntnissen“ […] auf eine Art, daß man den Druck dieser Rede […] wahrhaft wünschen muß. (Beförderungen, Belohnungen, Ehrenbezeigungen April 1805: 170–176, 175; Marinelli-König 2013: 524)

Hier rückt ein anderer wesentlicher inhaltlicher Aspekt in den Mittelpunkt: Das ,Gleichgewicht in den Religionsfortschritten mit jenen in den übrigen Kenntnissen‘, also die Gemeinsamkeit der Entwicklung von Glauben und Wissen. Gerade hier galt es, wie Bolzano stets betonte, viel aufzuholen und Einseitigkeiten auszugleichen. Im Preußen Friedrichs II. hatte sich das Gewicht eindeutig zugunsten der wissenschaftlichen Erkenntnis verlagert. Selbst in dem diesbezüglich traditionell etwas anders gelagerten Habsburgerreich sah Bolzano die Gottesgelehrtheit gegenüber der Weltweisheit deutlich im Hintertreffen. In diesem asymmetrischen Wissensfortschritt erkannte er ein gefährliches Missverhältnis: Er sah vor allem die ethische Basis damit schwinden, denn diese war in den Naturwissenschaften allein nicht zu gründen und bedurfte aus seiner Sicht einer aufgeklärten Theologie. Bolzano ging davon aus, dass ein tatsächliches Fortschreiten der Kultur, also eine Verbesserung der Lebensumstände aller, nur bei einem gleichmäßigen Beschreiten beider Erkenntniswege erreichbar sei. Bernard Bolzanos Antrittsrede wurde ,mit allgemeinem Beifall‘ aufgenommen. Der Einstieg in das Lehramt war gelungen.

Lehrauftrag Der an der Prager Universität zu Zeiten Jan Hus’ ausgebrochene Streit war nie beigelegt, sondern nur gewaltsam aufgelöst worden. Das Feuer schwelte noch in den folgenden Jahrhunderten, bis eine kluge Monarchin es zugelassen hatte, dass es wieder vorsichtig entfacht wurde. In Böhmen hatte subtiler Widerstand einen eigentümlichen Verband von Glauben und Wissen über Jahrhunderte der Dunkelheit gebracht. Bolzano nahm dieses Feuer von seinen böhmischen Lehrern auf und brachte damit einen fundamentalen Widerstand zur mitt-

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lerweile ideologisch-rationalistisch beherrschten Lebensform im Nordwesten Europas in ein System. Das neu geschaffene Lehramt war jetzt die große Chance, den Funken überspringen zu lassen und etwas Großes zu bewegen. Sein Einfluss konnte jetzt, vervielfacht durch die Ausbildung zukünftiger Lehrer, Priester und sonstiger Mitglieder höherer Stände, weit in Raum und Zeit ausstrahlen. Die künftigen Eliten sollten in deutlich erkannten, richtigen, ‚besseren‘ Begriffen, sprechen, denken und leben, diesen consensus im Sinne des Gemeinwohls verbreiten und so die Wende zum Besseren herbeiführen: … dafür sorgte die Fürsehung Gottes; es wurde das Lehramt, welches ich jetzt bekleide, errichtet, und nicht ohne großen Widerspruch der Jüngling von vierundzwanzig Jahren ernannt, dasselbe zu versehen; nur so wurde es mir möglich gemacht, meine Begriffe durch den beständigen Vortrag auszubilden und gerade bei Jenen, für die sie eigentlich gehören, bei den künftigen Mitgliedern höherer Stände, auszubreiten. (1817.10: 103)

Als öffentlicher Lehrer betrat Bolzano ein sehr schwieriges Terrain: Jetzt, in Zeiten einer behördlicherseits zurückgedrängten Aufklärung, hatte er die Mächtigen in Staat und Kirche tendenziell gegen sich – und zudem deren Gegner, die selbsternannten Revolutionäre, Nationalisten, Ideologen und Idealisten. Als Mann der Veränderung hatte er zudem auch das mächtige Heer der Beharrenden gegen sich. Er galt den braven Kirchenmännern als Neologe und Häretiker, den Staatsmännern als gefährlicher Freidenker und den sich rasch vermehrenden Nationalisten wechselseitig als Verräter an der deutschen bzw. tschechischen Sache. Die Herausforderung bestand darin, die Stimme der Vernunft in einem zunehmend lauter und aufgeregter werdenden Umgangston hörbar zu machen. Zudem, auch wenn es nirgendwo deutlich ausgesprochen war, subformal gleichsam, war das neue Amt in der deutlich spürbaren politischen Absicht eingerichtet worden, die konservativen Kräfte in Kaisertum und Kirche zu stärken; ‚gefährliche‘, so das Hofkanzlei-Dekret vom 18. Juni 1802, Bücher und Werke, welche wie immer religions-, sitten- und staatswidrige, und nach dem überhaupt wahrgenommenen Revolutions-Geiste höchst gefährliche Grundsätze, also die eines Voltaire, Rousseau, Helvetius u.s.w. [zu bekämpfen]. (zit. n. Unger 1840: 59)

Im Hofdekret vom 3. Februar 1804 hieß es dann eher unverfänglich: Zur Verbesserung des Religionsunterrichts bei den teutschen und lateinischen Schulanstalten soll ein eigener Katechet angestellt werden, welcher jeder Klasse dieser Schüler […] in der Religion mit genauer Befolgung der hier unten beigefügten Instrukzion Unterricht zu ertheilen hat (zit. n. Jaksch 1830: 592f.)

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Bolzano fand die Reaktion der Machteliten auf die Bedrohung von außen sehr ungeschickt. Dass das ihm jetzt zugedachte Amt eines Systemerhalters von kritischen Geistern sofort abgelehnt wurde, war ihm klar: Die Studierenden waren aus sehr begreiflichem Grunde gegen den neuen Lehrgegenstand im Voraus eingenommen; denn er vermehrte nicht nur die Summe dessen, was sie lernen sollten, sondern auch schon der Name: Katechet, unter dem man ihnen den neuen Professor ankündigte, war ihnen im hohen Grade zuwider. Das System der Natur, die Schriften Voltaire’s und anderer Freigeister waren unter ihnen bisher im Umlaufe gewesen, und somit war ihnen Alles, was sich auf Religion bezog, theils lächerlich, theils verächtlich geworden. Die Worte: Andacht, Erbauung, Frömmigkeit, Buße, Beichte, heil. Abendmahl und hundert andere, die zur Bezeichnung religiöser Gegenstände dienen, klangen beleidigend in ihren Ohren. Vor meiner Antrittsrede war unter ihnen die Verabredung getroffen, dass sie bei der ersten ihnen anstößigen Aeußerung zu stampfen anfangen, und nicht eher aufhören wollten, als bis ich den Katheder wieder verlassen hätte. (Bolzano LB, 31; Knoodt 1881,1: 76f.)

Das Fach, dem diese Professur gewidmet war, hieß ,Religionslehre‘; ab dem Studienjahr 1813/14 ,Religionswissenschaft‘, und ab dem Studienjahr 1816/17 ,Religionsunterricht‘. Die Lehrtätigkeit in diesem Fach erfolgte im Rahmen der Philosophischen Studien, der früheren Artistenfakultät, die formal jetzt keine eigene Fakultät darstellte. Der Lehrstoff dieses philosophischen Vorstudiums umfasste nicht nur Philosophie und Religionslehre, sondern auch das Studium der Sprachen, der Geschichte, der Naturkunde und der Physik sowie der Mathematik. Die Vorlesungen zur Religionslehre wurden im Vorlesungsverzeichnis der Universität unter den Philosophischen Vorlesungen angekündigt. Der Religionsprofessor gehörte dem Lehrkörper der Philosophischen Studien und nicht demjenigen der Theologischen Fakultät an. Bis zur österreichischen Universitätsreform von 1849/50 unter Graf Leo Thun-Hohenstein (1811–1888) hatte das Studium der philosophischen Fächer an den damaligen Universitäten des Kaiserreiches eine propädeutische Aufgabe zu erfüllen und sollte auf die eigentlichen bzw. ,höheren‘ Studien, also Theologie, Medizin und Jurisprudenz, also auf den jeweiligen Beruf, des Seelsorgers, Arztes, Richters vorbereiten. Der Lehrtauftrag bestand aus zwei aufeinander bezogenen Tätigkeiten: dem (theoretischen) Unterricht aus Religionswissenschaft und den zusätzlich an Sonntagen abzuhaltenden (praktischen) Ausführungen, den sogenannten „Exhorten“ oder Erbauungsreden vor dem Plenum der Studenten aller drei Jahrgänge des Philosophicums (Jaksch 1830: 589f; Unger 1840: 542–544). Dazu kam noch der Auftrag, die Studierenden in der Freizeit beratend zu begleiten. Gemäß Hofdekret und beigefügter Instruktion waren die Exhortationen für sämtliche Studenten aller drei Jahrgänge der Philosophischen Studien

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gemeinsam zu halten. Die Bezeichnung Erbauungsreden setzte sich spätestens mit Bolzanos gleichnamiger Publikation von 1813 (Bolzano ER 1813) allgemein durch. Die formalen Anforderungen waren im Hofdekret vom 3. Februar 1804 formuliert: Nebst dieser Religionslehre soll den gesammten philosophischen Schülern von ihren Katecheten auch an den Sonntägen Vormittags eine Exhorte gehalten werden, und durch diese Exhortation, bei welcher alle Schüler zu erscheinen verpflichtet sind, ist vorzüglich auf das Herz, so wie bei jenen an Schultagen abzuhaltenden Religionsvorlesungen vorzüglich auf den Verstand derselben zu wirken. (zit. n. Jaksch 1830: 589f.)

In den Exhorten, hieß es weiter, habe der Religionslehrer sich zu bemühen, den Studierenden die Lehren und Pflichten des Christen mit Würde und Wärme anschaulich und eindringlich vorzustellen, und auch dadurch so wie durch alle andere Mittel, die ihm zu Gebothe stehen, als guten Rath, gewonnenes Zutraun u.s.w. auf den heilsamen Zweck hinzuwirken, die Schüler der Philosophie zu guten Christen und rechtschaffenen Bürgern zu bilden. (zit. n. Jaksch 1830: 592f.)

Im Religionsunterricht ging es um die Vermittlung von Kenntnissen, in Begriffen der Rhetorik ausgedrückt, um das docere; während das Bewegen, movere, Aufgabe der Exhortationen war. Der Unterricht galt dem ‚Verstand‘; die Rede den ‚Herzen‘ der Zöglinge. Laut Klassenlisten für die Philosophischen Studien zwischen 1805 und 1820 waren die Durchschnittszahlen der Studierenden in den Studienjahren, in denen Bolzano tätig war, 330 für den ersten Jahrgang, 220 für den zweiten und 150 für den dritten Jahrgang. Nach Bolzanos eigener Einschätzung kann man die durchschnittliche Gesamtzahl der Studierenden der drei Jahrgänge daher mit etwa 700 beziffern. Die Gesamtzahl änderte sich in den fünfzehn Jahren nicht wesentlich; nur in Bolzanos letztem Unterrichtsjahr 1820 erreichte sie nahezu tausend Studenten. Marie Pavlíková setzt die Gesamtzahl der Studenten, die von Bolzano „direkt beeinflusst“ worden waren, mit etwa 5100 an (Pavlíková 1985: 139). Inhaltlich war der Katechet naturgemäß nicht frei in seinen Ausführungen. Es galten die entsprechenden Stellen des Großen Katechismus, der in Österreich seit 1772 vorgeschrieben war. Die Vorschriften waren in den ‚Instrukzionen‘ des Hofdekrets vom 3. Feber 1804 in groben Zügen ausgeführt. Bolzano hielt sich durchwegs gewissenhaft daran. Vieles, wie etwa die verlangte Begründung der Vorzüge der geoffenbarten Religion, betrieb Bolzano mit pointiertem Nachdruck. Im Unterricht am Philosophicum musste eine Art Fundamentaltheologie vorgetragen werden. Mit speziellen Fragen der Dogmatik und Moral hatte man sich hier nicht zu befassen: Nicht Fachtheo-

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logen, sondern interessierte Laien aus der Hauptstadt Prag und Umgebung sollten angesprochen werden. Theologie sollte in die Breite wirken.

Erste Erfahrungen und Akzente 1804 war die Philosophie vom Wenzelsseminar in der Husstraße/Husová wieder in das Klementinum übersiedelt. Sie belegte dort den Flügel zum Marienplatz hin, nahe von Bolzanos Wohnhaus. Die Erbauungsreden fanden im größten der drei Logikhörsäle statt, in jenem des ersten Jahrganges der Philosophen. Dieser besaß keinerlei besondere akustische Eignung (Pavlíková 1985: 53, 136). Bei seinen sonntäglichen Exhortationen stand Bolzano nun vor hunderten gar nicht erwartungsfrohen Hörern: Man hatte den Studierenden mit dieser Pflichtveranstaltung eine ungeliebte Zusatzbelastung aufgebürdet. Das waren harte Bedingungen und es nimmt Wunder, dass die Studenten nicht ihren Unmut äußerten, wie Bolzano befürchtet hatte. Darüber berichtete er später in der Lebensbeschreibung: Daß dieses nicht erfolgte, ja daß die jungen Leute in Kurzem mich sogar liebgewonnen hatten, war allerdings keine bloße Folge der Zweckmäßigkeit meines Benehmens, sondern hier kamen mir auch manche günstige Umstände zu Statten; vor allem die Achtung, welche mir meine Collegen, Männer, die größtentheils zweimal so alt als ich waren, so freigebig angedeihen ließen. Von meiner Seite mochte das Wirksamste wohl dieß gewesen seyn, dass ich ernstlich eingedenk dessen, wie nahe ich denjenigen, welche meine Schüler hießen, an Alter stehe, mich mehr als ihren Freund betrug als dass ich sie hätte den Lehrer fühlen lassen, sodann dass ich die Wahrheiten der Religion in Ausdrücke kleidete, die ihnen gefälliger waren. (Bolzano LB, 31f.)

Das Beispiel Jesu Christi als Lehrer und Volksaufklärer war für Bolzano maßgeblich. Er versuchte, ähnlich wie die biblische Persönlichkeit, den Zugang in die Herzen seiner Hörer auf möglichst einfache, natürliche Art zu gewinnen und stand immer auf derselben Ebene mit den Angesprochenen. So gesehen war seine von der ersten bis zur letzten Rede durchgängig gebrauchte Anrede „meine Freunde“ weder Anbiederung, noch verdeckte sie hier eine Hierarchie; er folgte dem christlichen ‚Gebot der Liebe‘: Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. (Joh 15,15)

Bolzanos Erziehungs- und Bildungskonzept bedeutete wirksam gelebte Nächstenliebe, dem ethisch revolutionären Gehalt der neutestamentlichen

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Lehre gemäß. Er versuchte ihr, wie einst seine böhmischen Vorläufer Hus, Chelčický oder Comenius, wieder neues Leben einzuhauchen. Sein Ruf nach sittlicher Erneuerung war unüberhörbar und er klang überzeugend. Der jugendliche Lehrer ging dabei streng systematisch vor und schritt im Sinne der klassischen Rhetorik als vir bonus mit gutem Beispiel voran, geleitet von taktischer Schläue im Dienste der ,guten Sache der Menschheit‘. Einerseits waren seine Botschaften ganz einfach, jedermann verständlich; – andererseits war sein philosophisches Konzept dahinter ausnehmend abstrakt. Bolzano hatte sich sehr sorgfältig auf eine künftige Lehrtätigkeit vorbereitet (PNP D X 10: Grundsätze meines Benehmens im Lehramte [unveröffentlicht]). Er hatte zweifellos die Fähigkeit, große Zusammenhänge zu sehen, sie aufzuzeigen und mit deren Folgerichtigkeit zu fesseln. Er setzte methodisch ganz neue Akzente und erneuerte die schon von Comenius bekannten Forderungen nach geistiger Wachheit. Er wich von der im damaligen Unterricht meist noch üblichen Didaktik des Nachsagens und Auswendiglernens ab, ja er verbat sich dieses „gedankenlose Auswendiglernen“, lehnte „sclavische Nachbeterey“ ab, mahnte: „wähne auch nicht, dass du verbannt seyst, allzeit nur deines Lehrers Meynung anzunehmen, prüfe und forsche du selbst!“ (1808.4: 117; 1812.5: 74). Im Unterricht der Religionswissenschaften zeigt sich der junge Lehrer bald als pragmatischer Denker und konsequenter Nominalist, der sich nie hinter Abstraktionen, Gesetzen oder erstarrten Dogmen verschanzt. Er fragt stets nach dem tatsächlichen Gebrauch, in dem Begriffe, Regeln, Gesetze, Dogmen ihr Leben gewinnen – oder auch verlieren. Der junge Katechet legt es gezielt darauf an, die Studierenden zum Selbstdenken zu bringen. Er verlangt von der ersten bis zur letzten Rede – mehr oder weniger deutlich ausgesprochen – ein unentwegtes ,Weiser-, besser- und glücklicher-Werden‘ aller Beteiligten, sich selbst naturgemäß eingeschlossen. Diese Forderung durchzieht sein Werk von der ersten bis zur letzten Aktion. Er stellte höchste Anforderungen, – verlangte lückenlose Anwesenheit, ungeteilte Aufmerksamkeit und vertiefendes Studium in den unterrichtsfreien Zeiten, so wie er das schon in seiner ‚Akademischen Pflichtenlehre‘ vorgezeichnet hatte. Er machte keinen Hehl daraus, dass die Schüler einen ,mehr als gemeinen Grad‘ an geistigen und sittlichen Qualitäten aufzuweisen hatten, eben deshalb, weil ihnen im späteren Leben eine Sonderstellung in der Gesellschaft zukommen würde, die erst verdient werden musste. Die hohen Anforderungen, die Bolzano an die Studierenden stellte, taten seiner Beliebtheit bei den Studierenden seltsamerweise keinen Abbruch (Hoffmann 1850: 18).

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Das (uns Heutigen nicht mehr erfahrbare) Charisma seiner Persönlichkeit war offensichtlich stark genug. Bolzano sprach vor einem präzisen, logisch-mathematischen und philosophischen Hintergrund. Die daraus folgende Klarheit wurde über den theoretischen Unterricht hinaus auch in seiner stimmigen, authentischen Lebensform sichtbar. Sein Unterrichtsstil unterschied sich vom damaligen Unterrichtsalltag zum einen durch eine unerhörte Intensität: Diese kam aus der von den Grundlagen her durchdachten und zwingenden Konsistenz seiner Gedanken, die er von der abstrakt-logischen Basis bis zur ganz konkreten, nützlichen Ausführung im Alltag durchhalten konnte. Zum anderen unterschied sich sein Denken und Sprechen vom bisherigen Religionsunterricht durch eine vollkommene Offenheit gegenüber Veränderungen: Durch ständiges Überprüfen der Begriffe und Lehrsätze, insbesondere jener, die vom bisherigen Gebrauch abwichen. Und das waren nicht wenige. Der Gebrauch, den er von Dogmen machte, verlebendigte diese gleichsam, brachte sie in Bewegung. Dass sich seine Begriffe dabei von den allgemein üblichen entfernten, war ihm bewusst; es war unvermeidlich und wurde bald auch von seinen Gegnern erkannt und kritisch angemerkt. Bolzano war, wie schon Jesus Christus, ein im Denken radikal Unangepasster; einer, der stets auf der Seite der Verlierer und Unterdrückten im jeweils herrschenden Machtsystem stand. Wie schon Jesus, so verhalf auch er der anarchischen Kraft der Liebe zu einer Stimme – einer Stimme, die jetzt logisch klar sprach. Das war unerhört. Seine erzieherischen Prinzipien entsprachen in Vielem jenen der fortschrittlichen Philanthropen im angrenzenden Sachsen. Pädagogik selbst war für ihn allerdings nie mehr als Mittel zum Zweck. Der originelle Gehalt seiner Ideen zur Pädagogik reichte nicht heran an das Werk der großen zeitgenössischen Pädagogen wie Basedow, Salzmann oder Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). Er hatte diesen Ehrgeiz nicht und erarbeitete auch nie ein pädagogisches Konzept. In der einzigen Arbeit, die sich bisher mit dem pädagogischen Aspekt von Bolzanos Wirken beschäftigt hat, heißt es dazu: Was Bolzano [in der Pädagogik] ausgesprochen hat, ist zum größeren Teil bekanntes Gedankengut jener Epoche. Es trägt die Züge der katholischen Aufklärung, ist da und dort in den Werken der uns Bekannteren, Rousseaus, Lockes, der Philanthropinisten […] bereits angelegt. Mit warmer Anteilnahme hat Bolzano die ihm wertvoll erscheinenden Ideen aufgegriffen, wie sie ihm eben begegneten. (Franzis 1933: 11)

Im Zusammenhang mit dem Plan einer neuen und verbesserten Herausgabe des Lehrbuches der Religionswissenschaft, das seine Schüler zum Druck gebracht

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hatten, schrieb Bolzano später (7. Dez. 1835: 142) an seinen Schüler und Freund, den reformkatholischen Weltpriester Michael Josef Fesl. Er erinnerte, daß es [seine] Gewohnheit gewesen, nicht vorzulesen, sondern freie Vorträge zu halten, wo es mir dann auch zuweilen gelang, die Sache deutlicher darzustellen oder mit bessern, richtigern und korrektern Ausdrücken zu geben, als oft diejenigen waren, die in dem handschriftlichen Aufsatze standen, den ich den Schülern zum Abschreiben preisgab, preisgab in der Art, daß ich meine Papiere selten nur ein paar Stunden des Jahres zu Hause hatte, daß das Autographon mir gar oft abhanden kam, wo ich es dann durch irgendeine mehr oder weniger fehlerhafte Abschrift der Schüler ersetzte; dass ich den Gebrauch gehabt, manche gar nicht unwesentliche Verbesserung nur mündlich vorzutragen oder den Schülern zur Eintragung in ihre Hefte zu diktieren, ohne sie in mein eigenes Exemplar gehörig einzuschreiben; daß es durch diese Umstände gar oft geschehen sei, daß eine meiner Revisionen von einem späteren Jahre in einzelnen Partien unvollkommner blieb als manche von einem früheren Jahre; daß ich endlich beim mündlichen Vortrage auch vieles erweiterte, so manche Zusätze machte, Einwürfe anführte und widerlegte, Beispiele zur Erläuterung das eine Jahr diese, ein anderes jene gab. Von fleißigen Schülern wurden dergleichen Zusätze und Berichtigungen während der Vorlesung niedergeschrieben, zumal da ich hiezu öfters ermahnte.

Damit zeichnet Bolzano selbst ein Bild von seiner spontanen Art des Unterrichtens, dem wenig hinzuzufügen ist. Bei seiner pädagogischen Tätigkeit ging er mit einem für die Zeit unüblichen psychologischen Einfühlungsvermögen vor. Er hielt die Kenntnis der seelischen Umstände seiner Schüler für unabdingbar, um diese überhaupt erreichen zu können. Im Sinne der rhetorischen Angemessenheit, des aptum, ging er davon aus, dass seine Anliegen nicht über die Köpfe der Menschen hinweg, sondern direkt, in menschlicher Nähe, und dabei mit größter Vorsicht, verbreitet werden konnten. Das innere aptum sorgte für die Angemessenheit von Worten und deren Inhalt, das äußere für die Angemessenheit der Botschaft gegenüber dem Erfahrungshorizont ihres Empfängers, also der angesprochenen Schüler. Dass diese armen Geschöpfe mit Wörtern ohne Dinge vollgestopft würden, hatte Komenský schon als Grundübel erkannt. Seine Klage galt einer zunehmenden Abgehobenheit in der Sprache (Ueding 1992: 189). Das zu beheben bedurfte es vorbildlicher Lehrer, nach dem rhetorischen Muster des vir bonus dicendi peritus. Bolzano wollte die Aufklärung wieder zu einer wahren Volksaufklärung verbreitern und hielt es für notwendig, den Volksglauben zu stärken. Selbst Irrtümer und so manche strenggenommen abergläubischen Vorstellungen verwarf er nicht einfach, solange sie irgendeinen Nutzen hatten, sondern gebrauchte sie zum Zwecke der Aufklärung weiter, um sie nach und nach zu korrigieren und bei Gelegenheit durch angemessene, besser begründete Begriffe und Ansichten zu ersetzen. In seinem Unterricht der Religionswissenschaft – etwas gänzlich anderes als das, was

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heute darunter verstanden wird – können kritische Betrachter heutzutage daher zuweilen den Anschein haben, er pflege einen „für den berühmten Logiker sehr lockere[n] Umgang mit sogenannten ,Beweisen‘“ (von Reventlow 2002: 213). Aber es ist alles genau bedacht, auch die rhetorische Wirkung strenggenommen ungenauer Aussagen. Bolzanos Erziehungsweise der ,wahren Aufklärung‘ erklärt sich vollständig aus dem Beweggrund der Liebe zu den Menschen. Das bedeutet ein ernsthaftes Eingehen auf die Psyche der Lernenden und absolute Gewaltfreiheit; Verzicht jeder Art von Bevormundung und stattdessen Hinführung zur Mündigkeit. Der Verstand und das Herz sollen gerührt und gebildet werden. – Diese Erziehungsweise unterscheidet sich deutlich vom Erziehungsmodell der herrschenden Aufklärung westlichen Zuschnitts, wie es etwa in folgendem Beispiel exerziert wurde: Der junge Ferdinand von Bourbon, späterer Herzog von Parma (1751–1802), sollte durch die besten Erzieher und Lehrer seiner Zeit zu einem idealen aufgeklärten Herrscher erzogen werden. Das Vorhaben scheiterte grandios (Badinter 2010: 40, 59, 78). – Die herrschende Aufklärungspädagogik war davon ausgegangen, dass das zugrundeliegende ‚Material‘ Mensch durch den (immateriellen) ‚Geist‘ zu formen sei. Bolzano war Aufklärer einer anderen Art. Etwas kurios mag der Umstand erscheinen, dass Bolzano, ein „Doctor der freyen Künste und Weltweisheit“ und Weltpriester, „durch die höchste Gnade seines Landesvaters“ (Oberpostamtszeitung 22.4.1805), seiner Apostolischen Majestät, Kaiser Franz, jetzt offiziell dazu berufen worden war, den Unterricht der Gottesgelehrtheit hochzuhalten. Das Auftreten gegen „religiösen Indifferentismus und Ungläubigkeit“, wie es von den Behörden verlangt wurde, lag durchaus in Bolzanos Sinn (RW 1 §§ 44–48). Allerdings – er hatte von Anfang an ganz eigene Vorstellungen und Begriffe von Religion und Glauben. Deshalb kam ihm jetzt die Möglichkeit, im Rahmen der vorgegebenen Richtlinien ein eigenes Unterrichtssystem nach seiner Art auszuarbeiten, gerade recht. Er sah darin eine lohnende Herausforderung. Nun hatte er Gelegenheit, seine Vorstellungen praktisch umsetzen und dann seine Vorlesungshefte zur Approbation vorzulegen (Křivský 1981: 64f.). – Seine anfängliche Freude über diese Möglichkeit wurde bald getrübt. Der Religionsprofessor musste dem Erzbischof, Wilhelm Florentin von Salm-Salm (1745-1810; als Bischof von Prag 1793 durch Franz II. eingesetzt, im Jahr darauf mit dem päpstlichen Pallium versehen) versprechen, nach dem offiziellen Lehrbuch, jenem des Wiener Theologen Jakob Frint (1766–1834), zu unterrichten. Die Studienhofkommission hatte am 14. August 1805 Frints Lehrbuch als verbindlich vorgeschrieben (Frint 1806–

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1814; Löffler 1999a: 318–320). Frint war seit 1801 Hofkaplan in Wien und Mentor der Wiener wissenschaftlichen Theologie. Er hatte den Unterricht an der Wiener Universität übernommen und war maßgeblich an der Einführung dieses Faches an Lyceen und Universitäten beteiligt. Als Hofkaplan hatte er Zugang zum Hof und auch einen gewissen Einfluss auf die Mächtigen in der Katholischen Kirche (Winter 1969: 39). Bolzano musste also nach dem Erscheinen des Frintschen Lehrbuches 1806 nach diesem unterrichten. Im Jahr 1808 kam dessen zweiter Teil heraus. Frints Buch war erst in der Konzeption und erschien sukzessiv. Nach dem Erscheinen des zweiten Teiles 1808 dauerte es bis 1814 zum Erscheinen des dritten Bandes. Es erschien in erster Auflage 1806–1814 (3 Teile in 6 Bänden) bei Geistinger in Wien, Baden und Triest (Löffler 1999a: 318). Bolzano musste also mangels offiziellen Lehrbuches bis 1809 im zweiten und im dritten Jahr nach eigener Vorbereitung unterrichten. Im Jahr 1811 legte er seine Vorbereitungen dem Studiendirektor Milo Grün, dem Abt von Strahov, zur Einsicht vor. Grün erlaubte ihm daraufhin, das unvollständige Frintsche Lehrbuch beiseite zu legen und ab dem Sommersemester 1811 nach eigenen Heften vorzulesen (Winter 1944: 132). Die Weisung Grüns war nur mündlich erfolgt.

Stolpersteine So manche Episode des inneren Machtkampfes zwischen Josephinisten und Reformgegnern spielte sich schon bald nach Bolzanos provisorischer Bestellung ab. Hier die erste von zweien, die für unsere Zusammenhänge von Bedeutung sind: Das Gubernium (böhmische Landesregierung) bemühte sich nach Bolzanos Amtseintritt um seine rasche Ernennung zum ordentlichen Professor. Den Vorschlag entschied der Kaiser am 7. Juni 1805 ungnädig. In einer Resolution vom 7. Juli und einem Hofdekret vom 13. Juli des Jahres beschied er barsch: „Statt des Bolzano sind über Einvernehmung des Ordinariats andere Individuen vorzuschlagen.“ (Winter 1944: 15); 1969: 39f.; Bolzano LB, 35). Dieser offizielle Widerstand gegen Bolzano beruhte auf einem Vortrag bei der Studienhofkommission, der schon vom 15. Februar 1805 datierte, also noch bevor dieser seine Antrittsrede gehalten hatte. Die Gründe gegen Bolzanos Ernennung, die offiziell genannt wurden, waren offensichtlich vorgeschoben: Da hieß es nämlich, (1) Bolzano habe nicht nach dem Lehrbuch des Hofkaplans Jakob Frint unterrichtet; (2) er sei Kantianer; und (3) er habe den „Schellingschen Katechismus“ benützt (Winter 1944: 13ff.; Bolzano LB,

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35). – Das war alles rasch widerlegt, denn erstens war das Lehrbuch Jakob Frints zu dieser Zeit noch gar nicht verfügbar. Die anderen Vorwürfe waren die damals üblichen Keulen der staatlichen Ankläger gegen vermeintliche Regierungsgegner und hatten ganz offensichtlich nichts mit den Tatsachen zu tun. Das josephinische Beamtentum zeigte sich noch einflussreich genug, um Bolzano in seinen Reihen zu halten. Zudem hatte er einen starken Rückhalt im böhmischen Adel. Der Prager Erzbischof Fürst Wilhelm Florentin SalmSalm parierte den Angriff vom 7. Juni und verteidigte Bolzano erfolgreich. Er konnte schließlich auch Kaiser Franz beruhigen und dieser „resolvierte“ den jungen Lehrer (Winter 1944: 19; 1969: 37ff.). Inzwischen hatte Bolzano schon sein Majestätsgesuch in Wien eingereicht und wurde mit Hofdekret vom 2. Oktober 1806 aufgrund der kaiserlichen Resolution vom 23. September des Jahres als Professor der Religionslehre an der Philosophischen Fakultät definitiv angestellt. Eine zweite Episode betrifft das Unterrichtsfach der ‚Akademischen Pflichtenlehre‘, das Bernard Bolzano ein besonderes Anliegen war (Webhofer 1992: 145–158). Bolzano hatte sich dazu umfassende Entwürfe zurechtgelegt (ÖNB ser. nova 3474h; Winter 1969: 40f.; Webhofer 1992: 120ff.) und unterrichtete die Pflichtenlehre (unentgeltlich) in den ersten drei Jahren. Es ging dabei nicht nur um eine Aufzählung von Pflichten, sondern er gab darin ausführliche Anleitungen zu einer in jeder Hinsicht vorbildlichen Lebensform der Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit. Es ging darum, wie sich der zukünftige Akademiker zu verhalten habe, um seine ‚hohe Bestimmung‘ zu erreichen. Als erste, oberste Regel legte er die Pflicht fest: „Tue das, was du mit deiner Vernunft als recht erkennest!“ (ÖNB ser. Nova 3474h, Teil c; Webhofer 1992: 147). – Als Bolzano 1808 die Mitteilung erhielt, dass er die außerordentlichen Vorlesungen zur Akademischen Pflichtenlehre nicht weiter halten dürfe, hielt er eine Rede vor den Studierenden, die er auch in sein Pädagogisches Tagebuch eintrug. Er betonte, dass er diese ihm so wichtige Aufgabe auch trotz seiner gesundheitlichen Schwäche gerne weiter ausgeübt hätte. Dann las er den Studierenden das kaiserliche Dekret vor, das ihm den Vortrag „vom höchsten Orte“ verbot! – Bolzano bedauerte in seiner Schlussansprache das Unglück, „das Gute nicht ausführen zu können“ (in Webhofer 1992: 317f). Er kündigte, als Beweis seiner Loyalität, die Einstellung dieser Vorlesung an. Zugleich aber ließ er seine Schüler wissen, dass er nicht aufhören würde, sie zum Guten zu führen (1809.10: 89). Davon konnten sich die Studenten bald überzeugen, denn ihr Religionsprofessor beschäftigte sich, besonders in den Erbauungsre-

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den, ausführlich damit, die Pflichten der „künftigen Mitglieder höherer Stände“ zu erläutern und zu begründen. Noch im Jänner 1819 unterstrich er, dass es für keinen Stand nöthiger sei, als für den geistlichen, dafür zu sorgen, daß nur lauter solche Personen in ihn aufgenommen werden, die mit den ausgezeichnetsten Kräften des Geistes auch die entschiedenste Güte des Herzens verbinden. (1819.11–12: 116f.)

Bemerkenswert ist in diesem Vorfall zum einen die unbedingte Loyalität Bolzanos – aber auch seine unbedingte Hartnäckigkeit, wenn es um die ,gute Sache der Menschheit‘, zugleich die ,gute Sache der Religion‘, so die damals übliche Formulierung des aufklärerischen Bildungsziels, ging (1819.1: 31). Dazu lässt er Paulus sprechen: „Prüfet alles und das Gute behaltet“ (1 Thess 5,21, 1819.1: 33). Erstaunlich ist auch der Umstand, dass es die Strenge war, die seine Vorgesetzten zur Absetzung dieser Vorlesungsreihe bewogen hatte. Es hatte Beschwerden gegeben, dass er die Zöglinge, die meist aus vornehmen Familien stammten, zu hart angegriffen habe. Schon Frints Pflichtenlehre war in den höheren Kreisen von Wien wegen ihrer Strenge in Verruf geraten. Bolzano zeichnete die Pflichten noch wesentlich strenger als dieser. Peter Webhofer kommentiert (1992: 158): „Die Ansprüche, die Bolzano stellte, waren offenbar zu hoch, als daß die Mitglieder der ‚höheren Stände‘ ihnen hätten genügen können“. Warum die Exzellenz der Gebildeten für Bolzano so wichtig war, wird verständlich, wenn wir an die entscheidende Rolle denken, die den Lehrern, Priestern und den Gebildeten überhaupt in den zu erwartenden radikalen Veränderungen zukommen würde. Die wahre Aufklärung verlangte äußerste Klarheit in den Grundsätzen und Kompromisslosigkeit in der Durchführung. Die führende Rolle der zukünftigen Priester und Lehrer verlangte in Krisenzeiten eine besondere Festigkeit im Wissen und im Glauben. Nur wer den Blick für das Ganze hatte und das Herz bei den Menschen, konnte daran bewusst und wirksam arbeiten, so Bolzano. Er ging davon aus, dass es ‚ums Ganze‘ ging. Schon Jan Amos Comenius hatte Bildung und Aufklärung in seiner berühmten Schrift als Via lucis (1642, 1668) gesehen. Aufklärung verkörpert in dieser Tradition das Klare, Lichtvolle in der Welt des Menschen; aber nicht nur das verstandesmäßig Aufgehellte, sondern auch das Schöne und das Gute, –Aufklärung ist hier eine ästhetische und moralische Größe zugleich. Bolzano bereitet jetzt den Boden, schafft genauere und bessere Begriffe von der Welt und gebraucht diese gezielt zum Wohl des Ganzen. Er nutzt seinen Unterricht und seine öffentlichen Exhorten zur Verbreitung der wahren Aufklärung, auf der via lucis. Er zielt von der ersten bis zur letzten Unterrichtsstunde darauf

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ab, das Wissen seiner Schüler nicht nur zu vermehren, sondern er will es, und damit ihr Leben, verändern. Er will sie erlösen. Es sollten freilich noch größere Stolpersteine liegen auf diesem Weg.

‚Revolutionärer‘ Anspruch Der Begriff ,Revolution‘ kommt aus der Astrologie, die im Mittelalter von der Astronomie noch nicht getrennt war. Seit dem christlichen Mittelalter hat er auch eine neue, religiöse Dimension gewonnen: In einem wörtlichen Verständnis bedeutet den frühen Christen ,revolvere‘ das Wegwälzen des Steines vom Grabe Christi (Kluge 1989) – und dessen ,revolutionäre‘ Folgen für die Menschheit: Die Gewissheit von einem Weiterleben nach dem Tod und damit die Bestätigung des Gedankens einer ausgleichenden Gerechtigkeit und einer bestehenden – wenn auch noch kaum noch erkennbaren – Ordnung in der Welt. Das sind für Bolzano keine dialektischen, sondern rhetorische Gewissheiten, die einen ethischen Inhalt haben. Rhetorische Gewissheiten sind nicht immer streng beweisbar, werden jedoch für wahr gehalten, und sind zugleich solche, die mit den Angesprochenen geteilt werden. Bolzanos pädagogisch-rhetorische Tätigkeit besteht darin, Begriffe zu klären und diese zu verbreiten. Ihre Gültigkeit stellt er durch sein eigenes Beispiel augenscheinlich unter Beweis. Seit dem 13. Jahrhundert wurde das vulgärlateinische ,rivoluzione‘ auch als politischer Begriff verwendet, in der Bedeutung von radikaler Veränderung. Dieser Begriff wurde ins Englische und Französische übernommen und von dort ins Deutsche. Nach der Französischen Revolution von 1789 wurde er zunehmend mit diesem entscheidenden politischen Umsturz verbunden und mit ganz anderen Vorgängen, nämlich mit Guillotine und Gewalt. In den der Französischen Revolution folgenden Zeiten tobte auch der Kampf um die Besetzung politischer Begriffe; ein Machtkampf um Sprache und Worte (Riedl 1997: 11ff.). Die Unterdrückten verbanden mit der Revolution etwas Positives, nämlich die Hoffnung auf bessere Zustände. Als ,revolutionär‘ galt zu Bolzanos Zeiten bereits ein gewaltbereiter Umstürzler. Seitens der Machteliten in Österreich war der Begriff ,Revolution‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert früh schon negativ konnotiert. Bei den österreichischen Geistesmenschen war die positive Konnotation des Begriffes ,Revolution‘, die von Hoffnung auf Veränderung getragen war, spätestens seit der Ermordung der Tochter Maria Theresias, Erzherzogin Marie-Antoinette (1755–1793), Gemahlin des französischen Königs Ludwig XIV., umgeschlagen und wandelte

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sich im landläufigen Gebrauch einerseits also zur Metapher für politisch motivierte Grausamkeit. Zunehmend wurde er auch im Volk mit den gewaltsamen und kriegerischen Folgen der Revolution verbunden und die Hoffnungen, die früher damit einhergegangen waren, schwanden dahin. Bolzano hatte, wie schon sein Lehrer Mika, größtes Verständnis für die Gründe, die zur Französischen Revolution geführt hatten. Für ihn waren Machtmissbrauch und Reichtum, besonders in der Kirche, nichts als Ärgernisse und Glaubenshindernisse. Die Machtaneignung durch Napoleon und deren Ausbreitung durch Krieg und Gewalt hielt auch Bolzano für einen schlimmen Verrat an der Sache: ein toller Welteroberer bricht in die Grenzen des friedlichen Landes ein und verbreitet Tod und Verwüstung um sich her, ohne daß ihm die mindeste Veranlassung dazu gegeben worden wäre; …

Das politische Unheil wurde, auch aus Bolzanos Sicht, durch unkluge Reaktionen der Machteliten im Land noch verschärft … eine unweise Landesregierung kann ohne Verschulden der Nation sehr vielen Schaden anrichten, Unwissenheit und Aberglauben kann als die Folge erschwerter Aufklärung sich zu verbreiten anfangen, ohne daß es dem Volke selbst zur Schuld gelegt werden kann. (1810.12: 146)

Das Schlimme war aus Bolzanos Sicht, dass, unter dem Waffengerassel einer versuchten Welteroberung und hinter Aufruhr, Umsturz und Gewalt, der Blick auf die eigentliche Revolution verstellt und die ‚wirkliche‘ Aufklärung wieder zurückgenommen wurde. Wissenschaft und Technik lieferten in Zeiten, wo die Einführung der Guillotine (1792) als Zeichen menschlich-technischen Fortschritts gefeiert wurde, ein monströses Zusammenspiel. Der tiefere, über die Verschlechterung der Lebensumstände von ganzen Völkern hinausgehende Schaden, der angerichtet wurde, war folgender: Wie im ganzen habsburgischen Kaiserreich, so auch im Königreich Böhmen, war es in der Folge der Kriege dazu gekommen, „daß die vor kurzem begonnene Aufklärung wieder verdunkelt worden“ war, so Bolzano (1811.13–15: 136, Über das Fortschreiten des Menschengeschlechtes). – Anders als etwa der illustre Kurgast Goethe beklagte er in Böhmen die allgemeine „Verderbniß der Sitten“ (1812.7: 91 [November 1811]) und bedauerte, dass sein Vaterland vom Weg der Aufklärung wieder abgekommen sei. Nun hatte gerade die Volksrevolution Krieg und Leid über sie gebracht. Bolzanos Vaterland Böhmen und das ganze Kaiserreich hatten, wie er vor seinen Schülern und Hörern ausführt (1811.4: 60), nach der glücklichen Herrschaft Maria Theresias und ihres Sohnes nun, statt weiter vorwärts, wieder rückwärts

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zu schreiten begonnen. Die Rede 1811.4 Von den Quellen des Übels, das uns seit zwei bis drei Jahrzehnten so allgemein drückt handelt von den Kriegen und sonstigen Übeln, die aus der Französischen Revolution folgten. – Eine wirkliche, ‚wahre‘ Revolution, im Sinn einer tatsächlichen Verbesserung der Lebensumstände, war das aus Bolzanos Sicht keinesfalls. Eine solche war nie mit Gewalt zu erzwingen: Nicht durch den gewaltsamen Umsturz aller bestehenden Ordnungen, sondern durch eine allmählige Verbesserung wird die vollkommene [Ordnung] herbeigeführt. (1819.30: 299)

Eine bestehende Ordnung zu gefährden, erschien Bolzano grundsätzlich als unverantwortlicher Akt, denn damit würde in jedem Fall mehr zerstört als aufgebaut, also das Kind sprichwörtlich mit dem Bade ausgeschüttet. In der Einleitung zu seiner Utopie Von dem besten Staate betont er, dass diese nicht mit der Herbeiführung eines besseren Staates, sondern mit der Einrichtung desselben zu tun habe. (Bolzano BS, 5). Der „strengsten Bestrafung“ (1817.16: 239) fand er es wert, wenn ein Einzelner, aber auch eine Gruppe oder eine Regierung, die eigenen Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen trachtete. Dies umso mehr dann, wenn diese Vorstellungen nicht durch den sensus communis geprüft und gutgeheißen worden seien (1817.14–16). Derlei hielt er einer ,wirklichen‘ Revolution in höchstem Maße abträglich. Sein Begriff von Revolution war mit jeder Art von Gewalt unvereinbar.

Unterbrechung Nach einer hoffnungsvollen Tätigkeit von 1805 bis 1813 kommt es zu einer krankheitsbedingten Unterbrechung 1813–1815. Nach Wiederbeginn, also nach dem Ende der Koalitionskriege, hatte sich die Lage deutlich verschlechtert (1816.2). Der Krieg hatte entscheidende gesellschaftliche Rückschläge gebracht. Statt die Bildung wirken zu lassen und die wichtigsten Ämter im Staate dann endlich durch die Klügsten zu besetzen, hatte man den Antrieb der Entwicklung, die umfassenden Bildungsreformen, wieder zurückgefahren. Die Hoffnung auf eine Aufhebung der alten Standesunterschiede war wieder in weite Ferne gerückt. Die Revolutionäre hatten sich selbst mit Adelstiteln geschmückt. Bolzano sprach die Probleme vor seinen zu einem guten Teil adeligen Hörern sehr deutlich an: Reich oder adelig geboren zu sein allein berechtigt aus seiner Sicht noch keineswegs zur Ausübung verantwortungsvoller Ämter im Staat. Daran ändert nichts,

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daß es den Mächtigen und Großen dieser Erde gelungen ist, die Aufmerksamkeit der gemeinen Menschenmenge von einer so einleuchtenden Wahrheit dergestalt abzuziehen, daß sie nunmehr ganz gleichgiltig zusieht, in wessen Hände die wichtigsten Aemter und Würden im Lande durch Zufall, Geburt oder Reichtum gelangen. (1813.3: 44)

Bolzano kämpfte gegen diesen neuen, deutlich abgestumpften Zeitgeist nach dem Krieg mit aller Kraft an. Er machte seinen Schülern unmissverständlich klar, dass nichts billiger wäre, als jemanden nur aufgrund seines Standes zu beurteilen oder zu verurteilen; verlangt aber, dass solche alten Standesunterschiede auch in den Köpfen der Menschen, und in ihrem Sprachgebrauch, aufhörten zu bestehen. In seiner konkreten Spracharbeit ersetzt er beispielweise die bisherigen Kriterien zur Standesbestimmung durch ein treffenderes: Der Einsatz des Einzelnen für das Gemeinwohl allein sollte Ehren einbringen, „wahren Adel unseres sterblichen Geschlechtes“, den „wahren Seelenadel“ – einen Begriff, den er zu diesem Zweck neu schuf und der nun nichts mehr mit hoher Geburt, Besitz oder anderen äußeren Umständen zu tun zu haben brauchte. (1817.38) Bolzano sah in diesen Zeiten der Verunsicherung das große Menschheitsprojekt der abendländischen Aufklärung ernsthaft in Frage gestellt. Er wollte keinesfalls Mitläufer eines gewaltsamen Aufruhrs in den Reihen seiner Schüler heranziehen. Sie sollten wissen, was ,Revolution‘ wirklich bedeutete: einen entscheidenden, nachprüfbaren Wandel zur tatsächlichen Verbesserung der Lebensumstände der Menschen, sonst gar nichts. – Gerade damit hatten aus seiner Sicht die gegenwärtig herrschenden politischen Umbrüche und ihre Leitbegriffe wie ,Revolution‘ und ,Aufklärung‘ immer weniger zu tun. Andrerseits: die Wandelbarkeit der Begriffe ist Voraussetzung jeder Weiterentwicklung des Menschen: Darauf setzte Bernard Bolzano, und er wusste auch, dass er äußerst sorgfältig vorgehen musste. Ausgehend vom Alltagsgebrauch entwickelte er die Begriffe, wissenschaftliche wie alltägliche, seinem Verständnis von wahrer Aufklärung gemäß, weiter. In einer seiner letzten Reden (1820.6) erklärt er sein Abweichen vom herrschenden Sprachgebrauch nochmals, jetzt schon rechtfertigend: Als Philosoph des sensus communis wusste er, dass seine Alltagsbegriffe nicht allzu weit vom Gemeinsinn abweichen durften – und dennoch mussten seine ,besseren Begriffe‘ auf eine vollkommene Neubeschreibung der Welt abzielen: Das erscheint widersprüchlich. Vor allem bedeutete das jetzt aber, dass diese Begriffe zunehmend von einem durch Nationalismus und Rationalismus beherrschten ,Zeitgeist‘ (eine Herdersche Formulierung) abwichen. Eine tatsächliche Verbesserung der Lebensumstände musste, wie er stets ausführt, mit einem grundsätzlichen, längst notwendig gewordenen Wandel von Wertvorstellungen und Lebensformen einhergehen.

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Aufklärung musste mit dem Verständnis und der tatsächlichen Umsetzung von grundsätzlichen Wahrheiten-an-sich – besonders der Wahrheit von der „wesentlichen Gleichheit aller Menschen“ (RW 3, §§172–176; 1810.33–34) –, jener „so wichtige[n] Grundlage unsrer gesammten Pflichten und Rechte“ (1811.13: 139) einhergehen. Sie konnte nur durch die genaue Befolgung des Obersten Sittengesetzes zustandekommen. Die „wesentliche Gleichheit der Menschen“ sah er einerseits als Axiom, das einerseits unmittelbar einleuchtet, andererseits als wissenschaftlich (biologisch) eindeutig begründbar und auch begründet. Bolzano machte als Erzieher deutlich, es gehe jetzt darum, Wahrheiten dieser Art nicht nur klar anzusprechen, sondern sie auch selbst, je nach Möglichkeit, zu verwirklichen. Er war entschlossen, sein Leben dieser ,guten Sache der Menschheit‘ zu widmen und mit seinen Schülern gemeinsam an der ,wahren‘ Aufklärung und Revolution, also einer maßvollen, friedfertigen, aber entschiedenen allgemeinen humanen, sozialen Korrektur der Lebensformen zu arbeiten. Diese wahre Revolution verlangte in seinem Verständnis zunächst das Wahrnehmen der Verantwortung jedes Einzelnen für das Gemeinwohl. Das, so räumte er ein (1818.29: 259, Vorteile der Beschäftigung mit vernünftigen Plänen), sei kein einfaches Unterfangen, und es komme, wenn überhaupt, so immer nur langsam und mit vieler Mühe zustande.

Der Plan des Redners Bolzano versucht als Lehrer an der Hohen Schule Prags zunächst einmal, Bewegung in das geistige Gefüge zu bringen. Begriffsklärung sollte ein Fortschreiten in Richtung Wahrheit in Gang setzen. Das Ziel des Fortschreitens durch bessere Begriffe – und mithin das ideale Verhältnis zur Wahrheit – wäre dort erreicht, wo eine Person selbst die Wahrheit ist. Das ist in der christlichen Religion bei Jesus Christus der Fall: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6) Die im Neuen Testament aufscheinende Gestalt des Jesus Christus, – auch wenn es sich dabei letztlich nur um den Gemeinsinn zu seiner Zeit zusammengetragener Erzählungen über menschliches Verhalten handeln sollte – ist das Vorbild der anderen, ,wahren‘ Aufklärung: Ein Mensch, der das Leben angenommen, eingesehen und dadurch überwunden hat. Bernard Bolzanos Verständnis von Bildung deckt sich vielfach mit Gedanken von Jean-Jaques Rousseau. (BBB 2: 328; in seiner Bibliothek befinden sich die Lettres écrites de la montagne, die er auch in der RW benutzt): Die vom

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Besitzdenken gelöste Auffassung von Eigentum, seine – gar nicht naive – Vorstellung von einem ‚unverdorbenen Naturzustand‘, das Konzept des Vergeselschaftungs- und Denaturalisierungsprozesses, – alles das verbindet Bolzano wie Rousseau mit einer Kritik an uninspirierter Vernünftelei und dementsprechend abstrakter Fortschrittsarithmetik so mancher Aufklärer. Eduard Winter umreißt Bolzanos Bewegung: Aus der neologischen Erweichung der Erbschuld, verbunden mit Rousseauschen Gedanken, erwuchs das Interesse an der Erziehung, von der man für das allgemeine Wohl geradezu eine Umgestaltung der Menschheit erwartete. (1969: 15)

Eine solche „Umgestaltung“ sollte letztlich das Ende jeder Art von Unterdrückung von Menschen durch Menschen bedeuten und soziale Gerechtigkeit verwirklichen. Bolzanos Beweggründe kommen aus seiner dankbaren Liebe zum Vaterland, aus der Beunruhigung durch einen einseitigen Wissensfortschritt, dem der Glaube jetzt zum Opfer zu fallen drohte, und aus einer allgemeinen Beunruhigung über sich ausbreitende neue Irrtümer und Aberglauben. Es geht ihm darum, seinem Vaterland zu helfen, Glauben und Wissen wieder zu vereinen und billige Surrogat von beidem aus der Welt zu schaffen und Irrtum und neuen Aberglauben hintanzuhalten

1. Das Vaterland retten: Während der neue Kaiser und Nationalheld Napoleon auf seinem Russlandfeldzug eine Million Menschen nationaler Glorie hinopferte, versuchte Bolzano die bedrohte Wohnung Böhmen, und mit ihr das ganze Haus, zu retten. Nun ging es darum, seinem „in einer todesähnlichen Ohnmacht darniederliegende[n] Vaterland“ (1817.11: 120) aufhelfen. Er sah allerorten unverschämt ausgelebte soziale Ungerechtigkeit, Zusammenrottung des „gemeinen Haufens“ einerseits und menschenverachtende Macht- und Prunkgebärden auf der anderen. Er bemerkte die jämmerlichen Lebensumstände so vieler Zeitgenossen und wollte nicht einfach zusehen, sondern tat alles, was in seiner Macht stand, um eine Besserung herbeizuführen. Böhmen verstand er als „eine Skizze der großen Aufgabe der Menschheit: das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen.“ (Patočka 1969: 230) 2. Den Glauben bewahren: Der jetzt in ganz Europa in Gang befindliche Aufklärungsschub hatte eine kräftige Weiterentwicklung in den Naturwissenschaften gebracht, während in den Wissenschaften vom Menschen und in der Religion wenig Bewegung zu spüren war. Bernard Bolzano war beunruhigt, denn er sah in diesem Ungleichverhältnis ein entscheidendes, wenn nicht überhaupt das Problem seiner Zeit. Er ging von der Tragfähigkeit des christlichen Glaubens aus:

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Wir haben wahrlich keinen Grund, von einem Glauben abzugehen, den so viele weise Menschen geprüft und wahr befunden; der so erhebend ist; für dessen Richtigkeit jeder gesunde Menschenverstand entscheidet, daß alle Einwürfe des Witzlers beschämt werden! (1811.21: 244)



Bolzano ging davon aus, dass Aufklärung Verstand und Herz braucht, und dass sie nur dann verdiente, so zu heißen, wenn sie den ganzen Menschen betraf. 3. Irrtum und Aberglauben bekämpfen: Maria Theresia hatte die Weichen gestellt: Ihre Bildungsreformen hatten im Kaiserreich den Prozess der Aufklärung auf allen Ebenen in Gang gebracht. Dass die Pflege der Muttersprache die Entwicklung der Wissenschaften fördere (und ihr Verlust die Vernichtung dieser Entwicklung bedeute), hatte man kaum irgendwo so schmerzhaft erfahren wie in Böhmen. Im Habsburgerreich gab es seit dem 18. Jahrhundert beeindruckende Beispiele von Sprach-und Kulturfürsorge (Goebl 1994; Seibt 1997: 204ff.; Siemann 2016: 107f.). Ein Blick auf die Literatur des Vormärz zeigt, dass die Sprachkultur Mitteleuropas reichhaltig, dicht und vielfältig war. Die Zweisprachigkeit Böhmens etwa wurde aus Wiener Sicht durchaus wohlwollend betrachtet und die Gemeinsamkeit der Lebensformen überwog die Probleme der Mehrsprachlichkeit in der ersten Jahrhunderthälfte bei weitem (Marinelli-König 2011; 2013; Vorwort Moritz Csáky). Selbst Anteilnahme am traurigen historischen Schicksal Böhmens, wie sie den jugendlichen Bernard Bolzano bewegt hatte, kam darin zur Sprache (Marinelli-König 2013: 21). Seit den Napoleonischen Kriegen wandten sich Gelehrte im mitteleuropäischen Lebensraum den eigenen Sprachkulturen zu; der tschechischen, serbischen, slowenischen, italienischen und so weiter. Bolzano führte aus, dass die historisch gewachsenen Sprachen, „aus Mangel der Verabredung bei den verschiedenen Völkern der Erde nothwendig auch auf verschiedene Bezeichnung der Begriffe habe[n] verfallen müssen“, stellte aber klar:

daß es ganz willkürlich sei, ob man die Dinge so oder anders bezeichne, daß man aus Mangel an Verabredung bei den verschiedenen Völkern der Erde nothwendig auch auf verschiedene Bezeichnung der Begriffe habe verfallen müssen; daß der auf diese Art entsprungene Unterschied der Sprache der allerunwesentlichste sei, der unter den Menschen nur immer stattfinden mag; daß es daher die größte Thorheit sei, einen Menschen schon darum, weil er in einer anderen Sprache sich ausdrückt als wir, für etwas Besseres oder für etwas Schlechteres als uns selbst zu halten[.] (Bolzano 1844; 1816.41–43: 427f., Über das Verhältnis der beiden Volksstämme in Böhmen)

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Bolzano wusste freilich auch, dass die eigene menschliche Natur sich stärker einer erfolgreichen Erforschung entzieht als die nicht-menschliche Natur. Jetzt, da Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften technisch umgesetzt wurden, mussten aus seiner Sicht die Wissenschaftler ihr eigenes Tun reflektieren: Erst wer sich der Erforschung seiner (eigenen) menschlichen Natur nicht mehr widersetzt, kann zu einem angemessenen Umgang mit den Gefahren kommen, die der aufgeklärte Mensch jetzt zunehmend selbst verursacht (Elias 1989: 7). Bolzano war sich dieser Gefahren bewusst: Ist es nicht immer ein Irrthum, der sehr beschämend für uns ist, wenn wir so wenig uns selbst bekannt sind, daß wir Begriffe und Gefühle, die bloß in unseres Geistes innerer Werkstätte erzeugt sind, für ein Werk der Außenwelt halten, und auf die Dinge, die uns umgeben, übertragen? – Nicht nothwendig ist sie, diese Beschämung für den Menschen; er kann sie ersparen, wenn er das Licht der Vernunft, das ihm sein Schöpfer gegeben hat, brauchet. (1819.29: 286)

‚Wirkliche‘ Aufklärung bedeutet für Bolzano Machtabgabe der Herrschenden einerseits – und Übernahme von Verantwortung durch die bisher Unterdrückten andererseits: Beide sollten sich bewegen und ihre sozialen Rollen neu bestimmen. Die Mitglieder der unteren Schichten durften nicht, „aus schimpflichem Eigennutze im Stande der Sklaverey“ verbleiben (1816.20: 211f.). Er sah aber wenig Hoffnung: So beruhigen wir uns denn, wenn es uns allzusehr kränken will, daß es so langsam vorwärts gehe mit der Aufklärung unseres Geschlechtes, daß wir sowenig zu ihrer Beförderung beitragen können, weil man uns den Mund verschlossen hat; wenn wir mit Wehmuth bemerken, wie man seit einiger Zeit in allen Ländern Europas wieder zurückzugehen scheint, wie sich fast alle Schriftsteller schimpflich bequemen, der Unterdrückung der Menschheit das Wort zu geben! (1816.14: 143; Ijob 1,21)

Was jetzt in Bolzanos Text darauf folgt, klingt für uns heute befremdlich: Gott hat es zugelassen; es muß sein Gutes haben. Der Herr, sprach Hiob, hat es gethan; der Name des Herrn sei gepriesen! Sprechen auch wir mit ihm: Der Name des Herrn sei gepriesen! (1816.1: 145)

Das ist aber kein frommer pietistischer Gebetsaufruf, kein Lob der Unterdrückung oder der Dummheit: Der ganze Text ist eine Mahnung zur Besonnenheit und der Hinweis auf den Rückhalt, den der Glaube denjenigen bieten kann, die sich der Unterdrückung nicht beugen. Bolzanos Entwurf einer ,besseren Welt‘ (Strasser 2011) war universalistisch angelegt, auf Zeit und Raum als Gesamtheit bezogen. Böhmen war eine Wohnung unter vielen im „Haus seines Vaters“ (Joh 14,2). Sie/es galt es jetzt zu schützen. Das war sein Plan. In der Rede 1816.3; 44 expliziert er ihn besonders deutlich; es geht um

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1. Schaffung besserer Begriffe auf allen Ebenen, vom Alltag bis in die Wissenschaften. Klare Begriffe zu bilden und diese korrekt zu verbinden, darin sah Bolzano die wesentliche Voraussetzung für das Fortschreiten des Einzelnen sowie der species Mensch allgemein in Richtung Mündigkeit. 2. Ihre Verbreitung: Er teilte diese Begriffe den Studierenden mit und prüfte sie gemeinsam mit ihnen. Sie sollten sie, besonders in ihren geistigen Führungspositionen, für die sie bestimmt waren und ausgebildet wurden, ins Volk tragen. 3. Die besseren Begriffe sind immaterieller Teil einer zu erreichenden konkreten, vernünftigeren Lebensform zu verstehen. Neue Kommunikationsformen ermöglichen einen nachweislich vernünftigen, verstehenden Umgang mit der Schöpfung. 4. Die politische Umsetzung dieser Begriffe und Zusammenhänge kann nur in verbindlichen gesellschaftlichen Strukturen, in klaren Regeln und Gesetzen der politischen Verfassung geschehen. Dazu ist der Einfluss auf Regierung und Gesetzgebung geltend zu machen. Das sieht Bolzano aber bereits als die Aufgabe der nächsten Generation, der hier herangebildeten Eliten. Der ,wichtigste Versuch‘ Bolzanos ist eminent politisch, aber nicht im herrschenden, modernen Wortsinn von ,einer Parteiung entsprechend‘, sondern als die polis, die öffentlichen Angelegenheiten, ja die abendländische Kultur, letztlich alle und jeden Menschen dieser Kultur angehend.

Der Auftrag des Redners Jesus Christus war ein Volkslehrer gewesen; Bolzanos Aufgabe war jetzt etwas anders gelagert: So manche Schwierigkeit, meine Freunde, die wir in Jesu Reden finden, entspringt nur daraus, weil wir des Umstandes nicht genug eingedenk sind, daß wir Reden eines Volkslehrers vor uns haben. Ein wahrer Volkslehrer, nämlich ein Mann, der seine Vorträge nicht etwa bloß an Gelehrte, sondern an Menschen von allen Ständen richtet und in der Absicht spricht, daß das Gesagte von Allen begriffen werde, muß sich in vielen Stücken ganz anders ausdrücken als ein Gelehrter, der vielleicht denselben Gegenstand, aber nur wieder für Gelehrte und überdieß noch in wissenschaftlicher Rücksicht behandelt. (1816.45: 350)

Seine Aufgabe, die zukünftigen Volkslehrer heranzubilden, verfolgte er gemäß der Vorstellungen Maria Theresias, und weniger nach denen ihres Sohnes

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Joseph: Dieser verlangte den „Dienst Gottes, des Nächsten und des Staates“ (Winter 1943: 143). Allerdings kehrte Joseph II die Reihenfolge nach und nach um, sodass bei ihm der Staat zuerst kam. Die Verbindung von Staat und Kirche war im Heiligen Römischen Reich immer schon stark ausgeprägt gewesen. Die Habsburger verstanden sich als Schutzherrn des katholischen Glaubens. Nach dem Dreißigjährigen Krieg war diese Verbindung in ihrem Reich stärker geworden. Die enge Verbindung von geistlicher und weltlicher Rede, die per Hofdekret gefordert war, lag ganz in Bolzanos Sinn. Inhaltlich verstand und nannte Bolzano seine Reden oft auch ,gottesdienstliche Versammlungen‘ oder ,heilige Betrachtungsstunden‘. Er wollte die ,katholischchristliche Verehrungsweise Gottes‘ allgemeinverständlich erklären. Er verstand Messe und Exhorte als gemeinsame Sache und betrachtete die spirituelle, mentale Vorbereitung durch die Heilige Messe als wesentlich, um die geistige Spannung aufzubauen, die er dann beim Hören der Erbauungsreden voraussetzte. Was in der Wandlung bei der Hl. Messe im Idealfall spirituell geschah, nämlich eine Art Bewusstseinserweiterung, das sollte in der Exhorte intellektuell geschehen, praktisch unterbaut, erläutert und zur persönlichen Umsetzung vorbereitet werden. Auch die Erbauungsreden dienten so gesehen dazu, das Bewusstsein der wesentlichen Gleichheit der Menschen ebenso zu erneuern wie das Bewusstsein von der gemeinsamen Abhängigkeit von objektiven Strukturen. Formal ist die Exhortation von der Messe zu trennen. Sie ist nicht Teil der Messe, auch wenn man inhaltlich unter Exhorten ,eine Art Predigt‘ verstand, wie es im Hofdekret vom 4. Oktober 1790 heißt (Unger 1840: 56; Zeithammer 1850: 74). Der Besuch der Hl. Messe an Sonn- und Feiertagen war immer schon eine allgemeine Pflicht für Katholiken; man musste das nicht besonders betonen. Bolzano tat es trotzdem und ließ für seine Studenten keine Gründe gelten, sich dieser Pflicht zu entziehen (1807.14: 71 etc). Die Reden wurden an Sonn- und auch Feiertagen gehalten, im Anschluss an die Hl. Messe (1811.1: 35; Pavlíková 1985: 136). Das galt während des Studienjahres, also zwischen Anfang November und Ende August des Folgejahres, „vom Anfang der Vorlesungen bis zum Eintrittstage der Herbstferien“ (Unger 1840: 56). Neben den Sonntagen waren wohl von Anfang an auch die kirchlichen Feiertage als Tage der Exhortationen mitgemeint, obwohl sie 1804 noch nicht ausdrücklich erwähnt wurden. Dies geschah erst in späteren Dekreten der Studienhofkommission. Die Exhorte folgte auf den Gottesdienst. Die Studenten wechselten dazu in den Hörsaal. Abt Milo Grün, ab 1807 Stu-

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diendirektor der Philosophischen Studien, berichtete im selben Jahr dem Landesgubernium, Bolzano habe freiwillig „an allen Sonn- und Feiertagen den Gottesdienst für die akademische Jugend, in der dem Schulgebäude so nahe und bequem gelegenen St. Clemenskirche ab[ge]halten“ (Winter 1944: 58). Seine erste Erbauungsrede (1805.1, BGA 2A15: 39, die Rede ist verschollen) hielt der frisch geweihte und promovierte Priester am 21. April 1805, dem ersten Sonntag in der Oktav nach Ostern, dem Weißen Sonntag: Das ist beziehungsvoll, denn die Farbe Weiß hat in der Liturgie mit Geburt, Taufe und Schuldlosigkeit zu tun. Bolzano stellte anfangs stets klar, warum es den Hörern der Philosophie wichtig sein müsse, Religionsvorlesungen zu besuchen. Er begann so, die logischen und psychologischen Überzeugungen zu stärken, Beweggründe zur Mitarbeit zu schaffen, um dann sein Begriffssystem systematisch auszubauen. Jedes weitere Studienjahr begann er wieder damit, diese Grundfesten zu erneuern und dann weiterzubauen. Er arbeitete daran, den Gedanken der Pflicht zum Besuch der Hl. Messe durch den eines sinnvollen, nützlichen ,Anliegens‘ im Eigeninteresse der Besucher zu ersetzen. Die ,vernünftige Verehrungsweise Gottes‘ sollte wieder zu einer Sache des gesunden Menschenverstandes, Predigten wieder zu bewegenden Volksreden werden. – Wenn das bisher mit einer gewissen „Lauigkeit“ und inneren Unbeteiligtsein geschah, dann hing das oft mit einer „übertriebenen Sittenstrenge“ zusammen, die manche Sittenlehrer forderten, so Bolzano, oft auch mit der Angabe „unwichtiger Gründe“, wie „Oberherrschaft Gottes“; aber auch mit einem nicht selten gerade daraus hervorgehenden religiösen Indifferentismus (1811.17–21). Trotz dieser ungewöhnlichen Auffassung bewegte sich Bolzano als Redner immer innerhalb des vorgegebenen Rahmens: Die Aufgaben des Exhortators bestehen in allgemeiner Belehrung, Beratung, Mahnung. Bedeutsame Affekte, die dabei eine Rolle zu spielen haben, sind Hoffnung, Erwartung und Furcht. Letzteren Aspekt drängte Bolzano weit zurück. Vordringliche Zeitreferenz ist, besonders in den beratenden, den deliberativen Reden, die Zukunft. Bolzano rückte sie aus unwirklicher und jenseitiger Ferne unmittelbar in die Gegenwart. Das Thema war Religion im weiteren Sinn, also Umgangs- und Lebensformen allgemein betreffend. Im Sinne der Einteilung Lorenz von Mosheims erwies er sich eindeutig als philosophischer Prediger, der streng darauf achtete, ,dass die Regeln der gesunden Vernunft sollen bey den Predigten gebraucht werden‘. Was die Exhorten auf jeden Fall aus dem formalen Rahmen des Gottesdienstes geworfen hätte, war ihre Länge. Die ,Vorlesung‘ dauerte ziemlich genau eine Stunde. Das war Studierenden der Philosophie zumutbar, gewöhn-

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lichen Messbesuchern hingegen nicht. Anders war auch das Publikum, das er als akademischer Exhortator jetzt vor sich hatte. Die Hörerschaft bestand, ganz ähnlich wie die des antiken Rhetors, aus gebildeten Laien, es war „ein sehr bestimmtes, aus sehr gleichartigen Theilen bestehendes Auditorium“ (ER 1813, Vorrede). Die – zum Bedauern Bolzanos ausschließlich männliche – Jugend des Adels und des wohlhabenden Bürgertums, sowie begabte Schüler aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die meist von kirchlichen Stellen unterstützt wurden und aus allen Teilen des Landes kamen. Diese Homogenität der Hörer gestattete es ihm, wichtige Themen in aller Ausführlichkeit und auch in einem weiteren Umfang und komplexerer Struktur abzuhandeln, als es im Rahmen der Hl. Messe möglich und sinnvoll gewesen wäre: Wie manchen Gegenstand also, den der Prediger für immer unberührt lassen, oder nur im Vorbeygehen berühren darf, kann [der akademische Exhortator] ganz unbedenklich eingreifen, und mit aller Ausführlichkeit behandeln. (ER 1813, Vorrede, X)

Der Anspruch, den Bolzano an sich selbst stellte, war der höchste, er nahm alle Verantwortung auf sich: Nur an mir selbst also müßte die Schuld liegen, wenn ich durch meine Vorträge Ihnen nicht in der That bedeutend nützlicher werden sollte, als jeder andere Prediger im Lande … (1817.1: 29)

Die sonntäglichen Reden waren für Bolzano ausgelagerter Teil des Gottesdienstes, in dem er die christliche Religion als ein „unschätzbares Geschenk des Himmels“ darstellen wollte. Er sah es auch als seine Pflicht, alle möglichen Übel und Missstände in der Gesellschaft und in ihrer Verfassung offen anzusprechen: Nur jetzt, da ich zu einer Gesellschaft von Jünglingen spreche, die alle, alle zu zukünftigen Mitgliedern höherer Stände herangebildet werden sollen, jetzt kann ich alles zur Sprache bringen, was sich für solche Zuhörer, und nur für sie zu hören geziemt; jetzt kann und soll ich reden von allen Mißbräuchen, die in der menschlichen Gesellschaft bis auf den heutigen Tag bestehen; jetzt kann und soll ich allem, was immer böse ist, die Larve abreißen, und fürwahr! ich werde mich durch nichts davon abhalten lassen, so lange ich dieses Amt begleite! (1817.1: 29)

Anders als das in den sehr viel überschaubareren Stunden des Religionsunterrichts möglich war, verlangte allein die große Zahl der Zuhörer einen bis ins Detail vorbereiteten Text, der dann vorgelesen werden musste: Was insbesondere meine Exhorten betrifft, so fühlte ich die Mängel und Fehler derselben bei ihrer Vorlesung immer so lebhaft, daß ich am Schlusse des Vortrags insgemein kaum aufzusehen vermochte. (Bolzano LB, 83)

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Dass Bolzano seine Erbauungsreden nicht frei gesprochen hat, sieht man schon an den genauen und sprachlich komplexen schriftlichen Redevorbereitungen mit ihren komplizierten Hypotaxen und langen Parenthesen. Die Situation an der Kanzel war zweifellos eine andere, als sie antike Redner in der Regel vorfanden. Bolzano war immer vorbereitet. Er wiederholte in all den Jahren keine einzige Rede, obwohl sich im dreijährigen Philosophicum ein dreijähriger Predigtrhythmus geradezu angeboten hätte. Priestern wird dieser Rhythmus angeraten, weil man davon ausgeht, dass nach dieser Zeit die Erinnerung an eine Rede im Kirchenvolk gelöscht ist. Wenn Bolzano ein Thema wieder aufnahm, dann geschah das jedes Mal auf neue Weise. Seine Erbauungsreden waren von der ersten bis zur letzten gewissenhaft und vorbildlich konzipiert. Jede einzelne Rede bzw. Redeserie von zwei bis sechs Reden, war ein eigenständiges Werk. Sein äußerer Aufbau war von der ersten bis zur letzten gleichförmig (Bibelstelle [Perikope], Eingang, Abhandlung); logisch klar gegliedert, nach den Gesetzen der klassischen oratio aufgebaut und meist zwischen einleitender und abschließender Segensformel eingebettet. Die Vorbereitungen notierte Bolzano in deutscher Schrift (Sütterlin/Kurrent) mit Spitzfeder und Tusche auf Büttenpapier. Die Seiten waren beiderseits beschriftet und wurden dann mit Faden geheftet. Eine solches Heftchen enthielt drei bis fünf Bögen im Quartformat. 60 dieser Originalhefte sind erhalten geblieben. Bolzano gab zu jeder Rede eine Bibelstelle (Perikope) an. Nach dem Konzil von Trient (1545–1563) war in der Katholischen Kirche ein ordo lectionum sanctae missae festgeschrieben worden, der die Bibelstellen für die Sonn- und Feiertage in den Festkreisen bestimmte. Anders als der Priester in der Messfeier fühlte sich Bolzano als Exhortator durch diese Messordnung nicht gebunden. Er wählte eine passende oder „schickliche Stelle“, also meist eine Perikope „nach eigenem Belieben“ (ER 1813, Vorrede, XV; 1810.11; 1811.22; 1813.23 etc.). Er verwies darauf, dass es in Zeiten des frühen Christentums dem Priester freigestanden war, die Perikopen so zu wählen, dass auch größere Stücke vorgelesen wurden und so die Gemeinde im Laufe des Jahres mit „dem wichtigsten und fruchtbarsten Theile der Bibel bekannt gemacht wurde“, und er bedauerte besonders, „daß man in späteren Jahrhunderten auf den unseligen Gedanken verfiel, den eigentlichen Unterricht von der Vorlesung des Wortes Gottes zu trennen“ (1811.19: 187). Bolzanos Auslegung der Bibel erklärte, meist ausgehend von den Perikopen, die den Erbauungsreden als Anregung, inventio, vorangingen, die in der Bibel geschilderten Umstände aus folgenden Annahmen: Gottes ,Absicht‘ sei

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es, mit diesen Erzählungen dem Gemeinwohl der Menschheit zu dienen, die Menschheit zur Glückseligkeit zu führen. In diesem Sinn stellte er stets dar, dass die Umstände gerade so, wie sie stattgefunden haben bzw. weitergereicht wurden, auf bestmögliche Weise angeordnet seien, um die Welt als Schöpfung erfahrbar zu machen. Bolzano ‚glaubt‘ an den Logos, an eine allem Geschehen zugrundeliegende Wahrheit. Auch wenn er wesentlich mehr davon versteht und begründen kann als die Mehrheit seiner Zeitgenossen, so glaubt er daran; er nimmt an, Gottes ,Wille‘ sei darauf gerichtet, uns diesen Glauben anzuempfehlen. In diesem Sinn verteidigt er auch die Entscheidungen der Kirche, die synodalen Regelungen, die sie für das Leben in der Gemeinde eingeführt hatte, als gemeinsamen und daher bestmöglichen Beschluss des Rates der Gläubigen; freilich nicht ohne geschichtliche Bedingtheiten und Deutungsspielräume sowie Verbesserungsmöglichkeiten und zuweilen auch Handlungsbedarf einzuräumen. – Zum einen boten die Erbauungsreden die entscheidende Möglichkeit, „aufgeklärte Begriffe unter Tausende zu verbreiten“, wie es schon in den Göttigischen Anzeigen von 1783 zum Motto ausgerofen worden war, – zum anderen war die Rednertätigkeit für Bolzano sehr anstrengend. Josef Hoffmann berichtet, sein Freund habe ihm gestanden, es sei häufig geschehen, daß er nicht vor 12 und 1 Uhr der Mitternacht zu Bette kam, besonders vor den Sonnund Feiertagen, wo er eine der Erbauungsreden zu halten hatte, die er, früher verhindert, fast immer erst den Abend zuvor überdenken und niederschreiben mußte. Frühzeitig am Morgen beendigte er dann die Arbeit und besserte daran bis die drängende Stunde schlug, worauf er, – fast immer unzufrieden mit dem Werke – vom Schweisse triefend in den entfernten Hörsaal eilte und oft blutspuckend die Kanzel bestieg. (Hoffmann 1850: 29)

Glauben, Mysterium und Sprache Das religiöse Wissen verstand Bolzano als eine Art phylogenetisch gewachsenen Inbegriff von Anschauungen und Sätzen über das Ethische und Metaphysische. Das Wissen, das in der Bibel schriftlich ausgebreitet war und das für den Glauben und die Wissenschaften in früheren Zeiten ausreichend gewesen war, war erstarrrt und reichte für einen zeitgemäßen Glauben aus seiner Sicht nicht aus. Die Bibel verstand er als ein „todtes Buch […] das vor mehr als drey Jahrtausenden zu ganz verschiedenen Zwecken geschrieben worden ist.“ (1812.33: 406) Es konnte wichtige Hinweise geben, lehrreiche Bilder vermitteln; aber das genügte längst nicht mehr. In frühchristlichen Zeiten hatte ein gelebter Glauben menschliches und soziales Unrecht verhindert und das

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gelebte einfache Gebot ‚liebet einander‘ mochte ausreichen, – jetzt musste bewusst daran gearbeitet werden. Das sah er als seine Aufgabe, die freilich nur in einer gemeinsamen Anstrengung aller gelingen konnte, letztlich musste es zum consensus omnium werden. Die Kirche musste den sensus communis finden und ihn hüten. Das war jetzt aus seiner Sicht nur in einem „freundschaftlichen Verhältnis“ von Glauben und Wissen möglich (1813: 12f.). In seiner Vernunft besitzt der Mensch das Mittel, sittliche Wahrheiten zu erkennen, als tätiger Mensch versucht er, diese Erkenntnis in seinen Handlungen umzusetzen (Hornig 2002: 301f. Gottfried Hornig verweist hier auf Christian Wolffs Philosophie bzw. dessen Deutsche Metaphysik und Ethik als philosophisches Vorwissen Bolzanos hinsichtlich des Phänomens Vervollkommnung). Weder gelehrte Theologie noch historische Bezüge schienen Bolzano ausreichend, sondern Aufklärung über das Wesen der Religion und auch über die Mißbräuche innerhalb des kirchlichen Lebens tat not (1813.10–11). Später erklärte er einmal, dass [s]eine sämmtlichen, den Gegenstand der Religion betreffenden Ansichten sich bei [ihm] lange schon vor Antritt meines Lehramtes auf dem Wege eines ganz unbefangenen Nachdenkens entwickelt hatten, und daß eben sie nur der Beweggrund waren, der [ihn] zur Wahl des geistlichen Standes und zur Bewerbung um diese, damals gerade erst zu errichtende Lehrkanzel bestimmte. Sowie ich nemlich für meine eigene Person die feste Überzeugung, welche ich von der Wahrheit und Göttlichkeit des katholischen Christenthums gewonnen hatte, als das größte Glück meines Lebens ansah: so wurde es mein Wunsch und Bestreben, dies Glück auch unter andere zu verbreiten. (Bolzano 1825: 81f.)

Bolzanos Arbeit war die eines sprichwörtlichen Seelsorgers. Er kümmerte sich aber nicht nur um das geistige, sondern auch um das psychische und physische Wohl der Studierenden. In der Hl. Messe wollte er die gemeinschaftliche Feier der Christengemeinde wiederbeleben, ähnlich dem jansenistischen Bestreben, die Religionspraxis auf das ursprüngliche Christentum zurückzuführen und auf diese Weise eine unmittelbare Gottesbeziehung wiederherstellen (Schamschula 1979: 552). Den Grund, „worauf sich die Pflicht der Theilnahme an dem öffentlichen Gottesdienste stützt“, sieht Bolzano vor allem in der Stärkung des sittlichen Verhaltens; andernfalls drohe Verwilderung und Zügellosigkeit. Bolzano verknüpfte religiöse Inhalte tendenziell direkt mit sozialen Anliegen, sodass beides untrennbar wurde. Besonders seine vornehme, adelige Hörerschicht mahnte er zur vorbildlichen Teilnahme an der Hl. Messe: Ich will hier nicht erwähnen, daß die gebildeten Stände beynahe durchgängig auch mehr Bedürfniß haben, an die so wichtige Wahrheit von der wesentlichen Gleichheit aller Menschen recht oft erinnert zu werden. Das geschieht nirgends besser, nirgends mit einem

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glücklicheren Erfolge, als in dem Gotteshause, als hier, wo sie mit völliger Beyseitsetzung alles Ranges, der Reiche neben dem Armen, der Vornehme und Hohe neben dem Gemeinen und Niedern, der Weise neben dem Ungebildeten – vor Einem und ebendemselben Gotte und Vater auf ihren Knieen liegen und ihre Nichtigkeit erkennen! Doch unser Gottesdienst leistet bei weitem mehr für den Gebildeten, als daß er ihm bloß die Nachricht von aller Menschen wesentlicher Gleichheit anschaulich macht … (1811.18: 206)

In der Eucharistie begegnet der Mensch dem Mysterium, dem christlichen ‚Geheimnis des Glaubens‘ oder dem Mythischen allgemein als Form eines auf das Absolute, den Urgrund gerichteten Erlebens. Die christliche Eucharistie versteht er als ein solches Mysterium. Josef Hoffmann berichtet: Ich habe – wenn auch nur sehr wenige – doch einige der geistlichen Herren diese Handlung mit der ihr gebührenden Würde und Anständigkeit verrichten sehen; einem Bolzano hingegen ist in dieser Beziehung keiner gleichgekommen, geschweige daß er es ihm zuvor gethan hätte. Wer es nicht selbst erfahren, der mag es mir auf ’s Wort glauben, daß er von dem Augenblick an, wo er sich zum Altar begab, mehr einem verklärten Wesen, als einem blossen Menschen glich. Ganz anders waren da seine Gesichtszüge selbst, ihre Färbung, als gewöhnlich beschaffen. Jede Bewegung, jeder Schritt, jede Kniebeugung, zumal jene vor Erhebung der Hostie und des Kelches – in dieser pflegte er jedes Mal länger zu verweilen – hatten den Ausdruck des höchsten Anstandes, der tiefsten Ehrfurcht und Demut; man sah es ihm an, wie innig er jedes Wort, das er lispelte oder sprach, auch fühlte … (Hoffmann 1850: 24)

Das mysteriōn ist im antiken Verständnis nicht einfach eine zurückgehaltene Botschaft oder Information, sondern bedeutet das Hinausgehen über das durch Worte Sagbare, eine Art Vergegenwärtigung des Göttlichen durch mythische Gesten und Bilder. Dabei wird der Mythos notwendig zum Ritus und zeigt sich in diesem. Im Mythos geht es um den Übergang vom Wort zur Tat, also um das direkte, sinnliche Wirken des Wortes, die Verlebendigung der Sprache: um das Tun dessen, was gedacht oder gesagt wird. Dabei ist die „in unserer Sprache niedergelegte Mythologie“ (Wittgenstein 2000: 291.6) noch zu ahnen. Das Einssein, der innere Zusammenhang von Körper und Geist, wird dabei offenbar. Von diesem spricht Walter F. Otto im Zusammenhang mit dem Verständnis von Freiheit; er fragt sich: Wie kann ein Leib- und Geistwesen so zu sich selbst kommen, dass es Gesetzen folgt […] also sein Wesen und Leben sich gerade in ihnen als völlig frei empfindet? Man sieht es den Haltungen und Bewegungen unmittelbar an: Die Leibesbewegungen sind unbeschwert, ungehemmt, leicht und ‚schön‘, und so auch die seelischen und geistigen Bewegungen und Betätigungen. (Otto 1963: 291)

Das Erlebnis des mysterium fidei war in Bolzanos Eucharistiefeier offensichtlich, am Priester selbst und auch den Messbesuchern erfahrbar, wahrnehmbar, wie berichtet wird. Es sollte, so Bolzanos Gedanke, auch noch auf die

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im Anschluss an die Messe gehaltenen Erbauungsreden wirken: Auch diese waren geregelte Zusammenkünfte, in der das Bewusstsein der wesentlichen Gleichheit der Menschen ebenso erneuert wurde wie das Bewusstsein von der gemeinsamen Abhängigkeit von außermenschlichen Strukturen oder einer Göttlichkeit, was nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, sondern der zum Dank ein spirituelles Opfer gebracht und an das stellvertretende Opfer des Jesu Christi gedacht wurde. Im Gottesdienst, wie Bolzano ihn verstand, ging es nicht vordringlich um Verehrung und Anbetung Gottes. Früheren Formen des Wort- oder sonstigen Aberglaubens, – wie etwa der Ansicht, man müsse den Namen Gottes nur richtig aussprechen, um dadurch wahre Wunder vollbringen zu können (1817.45), – widersprach Bolzano entschieden. – Freilich kann es gerade in der Liturgie, wo vor-geschriebene Formeln nachgesagt werden, wo Messen stets gleichförmig ,gelesen‘ werden, leicht zu dem Eindruck kommen, dass die Sprache hier erstarrt sei und leblos mechanisch repetiert werde. Selbst wenn das ungezählte Male tatsächlich so ist, selbst wenn Priester Formeln längst nur mehr mechanisch nachbeten, kann es dazu kommen, dass die Sprache plötzlich zu ‚schillern‘ beginnt und Begriffe plötzlich lebendig werden, ihre erstarre Bedeutung ablegen und eine neue aufleuchtet: „In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt“ (Wittgenstein 2000: 291,6; Rhees 1979; Wohlfahrt 1983: 409ff.). Ritus und Zeremonie sind gleichsam die Satzzeichen dieser Sprache. „In den alten Riten haben wir den Gebrauch einer äußerst ausgebildeten Gebärdensprache“ (Wittgenstein 2000: 291,1). Das Geheimnis des Glaubens, mysterium fidei ist in der katholischen Messfeier entscheidend, und es ist auch der Grund, warum Bolzano der Eucharistie so großen Wert beimisst und sie mit allerhöchster geistiger Gespanntheit feiert. Es ist eine Kulthandlung und zugleich geistiges Wirken. Man anerkennt damit das Unzulängliche in der Begrenztheit des menschlichen Horizonts. Weder eine Überwindung des Mythischen noch ein Aufgehen darin geschieht dabei, sondern eine Annäherung, etwa in der Erkenntnis, dass Mythos und Logos einander bedingen und dass der menschlichen Erkenntnis gar kein anderer Weg bleibt außer dem, zunehmend beides wahrzunehmen. So wie es dem Menschen auch nicht erspart bleiben kann, sich selbst, das Unverständliche schlechthin, wahrzunehmen. Die Bewegung verläuft nicht linear, sondern als eine der gegenseitigen Durchdringung. Als Seelsorger ging es Bolzano um das körperliche und geistige Wohl seiner Schutzbefohlenen, nicht um irgendeine abstrakte Wahrheit. Er beschreibt das einmal so: Wenn ich in meiner einsamen Stube oft darüber nachdenke, meine Freunde, auf welche Gegenstände von hoher Wichtigkeit ich Ihre Aufmerksamkeit in diesen sonn- und fest-

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täglichen Vorträgen jedesmahl hinleiten soll: so ist das Einzige, worauf ich hiebey sehe, Ihr eigener möglichst größter Nutzen. (1812.4: 52)

Die Studierenden, die sich auf Bolzanos Weg einließen und sich seiner Bewegung anschlossen, hatten ein Kriterium, woran sie ihren Fortschritt auf diesem Weg überprüfen konnten: Ihr Glaube musste ihnen selbst moralisch zugutekommen, ihr Leben zugleich die Welt verständlicher, heiterer und schöner machen. Ihr eigener Lebensweg musste ihnen dabei immer klarer werden; Irrtümer und Aberglauben sollten abfallen von ihnen wie Herbstlaub von den Bäumen. Bolzanos Bibelauslegung war zumindest eigenwillig, unorthodox, wenn nicht neologisch: Philanthropisch-aufgeklärte Ansichten dringen in den biblischen Text, philosophische Gedanken unterlegt er ihm und nicht selten wird der biblische Ausgangstext mit Vernunftargumenten derart überlagert, dass er geradezu unkenntlich gemacht wird. Dass dies den Begriff der Exegese weit dehnt, ist offensichtlich. Die Grundbedeutung dieses Begriffs liegt darin, auf das Zeichensystem des schriftlich fixierten Textes zu verweisen und aus ihm wörtlich ,herauszuführen‘. Zuweilen könnte man bei Bolzano aber geradezu von einem umgekehrten Weg sprechen: einer ,Eïsegese‘, dem Hineinlegen eines fremden Sinnes; was theologisch als Fehlform gilt (Ch. Dohmen, Art. „Exegese“ LThK, 1087). Allerdings macht der Exeget Bolzano stets darauf aufmerksam, dass es auf die erzählten geschichtlichen Vorgänge im Grund gar nicht ankommt, sondern darauf, hinter diesen Erzählungen die „Absicht Gottes“ zu erkennen (1817.8–10; 1817.12). Zudem erklärt er auf äußerst freizügige Weise jede Auslegung für richtig und damit gottgewollt, sobald sie vernünftig und erbaulich, also der Menschheit dienlich ist. Die Heilige Schrift hat nach Bolzano dort ihre Berechtigung, wo „man [sie] in jenem Geiste liest, welchen [die Kirche] selbst uns eingibt“ (1812.33: 406). – Die Stelle im Commonitorium des Vinzenz von Lérins (gest. um 450), auf die Bolzano hier anspielt (Vinzenz 1985: 149), besagt, dass wegen der Vielfalt der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten der Heiligen Schrift nur eine gemeinsame, von allen Mitgliedern der Kirche angenommene Auslegung die rechte sein könne. Nur eine solche, als lebendige Ausdrucksform des sensus communis verstandene, ist in der Lage, die Bibel zu verlebendigen. Ob die Schrift „mit Nutzen“ gelesen und verwendet wird, das komme eben auf den Geist an, in dem sie gelesen werde; auf den Gebrauch, der von ihr gemacht werde. Das Anliegen der Verbreitung besserer Begriffe barg allerdings die Gefahr des Neologismus. Bolzano war sich seiner Sache so sicher wie man sich eben logisch und vernunftgemäß eingesehener Wahrheiten sein kann. Seine Abweichungen vom üblichen Sprachgebrauch geschehen auf dem sicheren Boden

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des sensus communis und methodisch korrekt. Somit konnte der Neologismusvorwurf für ihn kein ernstzunehmender sein. Hauptzweck seines Priesteramtes waren Erneuerung und Wieder-Verlebendigung der Glaubensbegriffe. Seine Abweichungen von gängigen Formen erfolgten in dem festen Glauben an die Existenz Gottes und an die göttliche Offenbarung durch Jesus Christus (Bolzano 1825). Auch das dritte wesentliche Kriterium der katholischen Rechtgläubigkeit wird von Bolzano erfüllt: der Glaube an die Eucharistie. Dies geht einem Artikel aus Heinrich August Pierers Universallexikon hervor (Pierer 1824/23: 1835; Morscher/Thiel 2003: 271, 292). Edgar Morscher hat herausgefunden, dass die anonym erschienenen und mit Kürzel [meist XX] versehenen Artikel in diesem Lexikon von Franz Příhonský verfasst, jedoch von Bernard Bolzano konzipiert, zumindest aber korrigiert worden sind. So auch der Artikel Transsubstantuation, der die Verwandlung von Fleisch und Blut Jesu Christi in Form von Hostie und Wein – und die Wirksamkeit dieses Vorganges auf den Empfänger – durchaus glaubhaft als Wahrheit darstellt. Bolzanos Abweichungen von herrschenden Sprach- und Glaubensformen hatten System. Dieses stand durchwegs auf harten, logisch-mathematischen Grundlagen. Es war aber zugleich eine sehr menschliche Bewegung, die von den herrschenden Formen wegführte.

2 Bolzanos ,bessere Begriffe‘ Alltagsbegriffe zur Welterfassung, wie etwa die Universalien Zeit und Raum, versteht Bolzano grundsätzlich physikalisch – Zeit als Inbegriff aller Augenblicke; Raum als den Inbegriff aller Orte – und atomistisch, als (zeitlich und räumlich ausdehnungslose) Punkte. Bolzanos Atomismus ist ein dynamischer. Es gibt keinen Stillstand in der wirklichen Welt nach Bolzano: „Die erste dieser Schulmeinungen, die wir aufgeben müssen, ist die von den älteren Physikern erdachte tote oder bloß träge Materie …“ (PdU [§ 51]: 147). Zur Bestimmung des Raumbegriffs benutzt Bolzano die Dynamik, hier das physikalische Phänomen der Anziehungskraft. Dadurch wird es ihm möglich, objektiv abzuleiten, „dass und warum der Raum drei Ausdehnungen habe u.a.m.“ (PdU § 40: 115). Er sieht Zeit und Raum als Bestimmungen oder Beschaffenheiten von Substanzen: Zeit als diejenige Bestimmung,

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deren Vorstellung wir zur Vorstellung Substanz hinzufügen müssen, um von zwei einander widersprechenden Beschaffenheiten b und Nicht-b ihr die eine in Wahrheit beizulegen, die andere absprechen zu können. (PdU [§ 39]: 113)

Der Satz ‚Die Bäume blühen‘ kann richtig sein, wenn er die Zeitbestimmung ,Frühling‘ enthält. Er ist falsch etwa mit der Zeitangabe ,Winter‘. Zeit schafft so gesehen die Möglichkeit von Veränderung. Bolzano gebraucht seine physikalischen Vorstellungen zugleich zur logischen Klärung der Wirklichkeit, wenn er Zeit als eine unendliche, unumkehrbare Folge von Zeitpunkten, Raum als Inbegriff aller Raumpunkte auffasst. Das Kontinuum ist nach Bolzano ein aus solchen (auch materiellen) Punkten bestehendes Ganzes, das weder abgeschlossen noch zusammenhängend sein muss und damit über später als modern erachtete Vorstellungen hinausgeht. Die konkrete Zeit und der Raum sind dabei Bestimmungen an realen Dingen (Substanzen und Adhärenzen), und als solche sind sie selbst nichts Wirkliches (nicht etwas, was selbst Veränderungen durchläuft). Bolzano fasst die Wirklichkeit also grundsätzlich mit den Begriffen des modernen Physikers auf: Der Wirklichkeitsbegriff verliert unter diesen Voraussetzungen seine alte Statik; die frühere Verbindung mit dem ,Wirken‘ kommt wieder zum Tragen. In seiner metaphysischen Abhandlung Athanasia definiert er „Sein und Wirken sind zwei mit einander so eng verbundene Begriffe, daß wir sie häufig mit einerlei Wort bezeichnen.“ (Ath2: 85; WL § 142 Anm. 2) Über seine Absichten als Redner berichtet Bolzano rückblickend: „Mein vornehmstes Augenmerk hatte ich freilich nur darauf gerichtet, wie ich meine Zuhörer für die gute Sache der Tugend und Religion gewinnen könne“ (Bolzano LB, 30). Er will seine ‚Schutzbefohlenen‘ zu einem kritischen Bewusstsein führen. Werkzeuge dazu sind die besseren Begriffe, und das Lehramt bietet ihm die einmalige Gelegenheit dazu, sie zu verbreiten. Dahinter steht das theoretische Vorhaben, logische Wahrheitsgrundlagen zu erstellen und Formen der Ableitung aufzuzeigen, um nicht nur den wissenschaftlichen, sondern den ganzen gesellschaftlichen Diskurs auf eine überprüfbare, logisch klare Grundlage zu stellen. Für seinen methodischen Ansatz bedeutet das grundsätzlich, nichts einfach als selbstverständlich oder einfach als gottgegeben hinzunehmen. Die Begriffe sind in ihrem Wandel zu begreifen und dem Wandel der Dinge auch anzupassen. Sie sollen ermöglichen, die humane Botschaft, die Jesus Christus in die Welt gebracht hat, wieder wahrzunehmen und wirklich umzusetzen, – und dies bedeutet nichts anderes als eine Revolution der Lebensumstände. Bolzano erklärt auch, wie er dabei methodisch vorgeht: Sein Ausgangspunkt ist stets die Alltagssprache und damit der sensus communis. Wesentliche

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Zweiter Teil

Begriffe verschiedenster Art, nicht nur physikalische oder philosophische, wie ,Wahrheit‘, theologische wie ,Glauben‘, sondern auch politische und sittliche wie ,Heimat‘, ,Besitz‘, ,Mut‘, ,Freiheit‘, ,Gleichheit‘, ,Brüderlichkeit‘ und natürlich ,Aufklärung‘ selbst usw. gebraucht er mit Bedacht anders. Auch den ,Fortschritt’ bestimmt er ganz bewusst anders als die meisten seiner Zeitgenossen. – In der Summe ist das ein Versuch einer „Neubeschreibung der Welt“, so wie das die frühe Christengemeinde einst gesagt und getan hatte (Rorty 1994: 88). Die Begriffe sollten – als „Samenkörner der Wahrheit“ (1818.4: 50; Mt 13,32) verstanden – Früchte tragen. Eine Sammlung der Begriffe Bolzanos wurde von seinem Schüler Florian Werner, Moralprofessor am Priesterseminar zu Leitmeritz, im Jahr 1821 zusammengestellt (Winter 1964; Schuffenhauer et al. 1981: 187–277)]. Bolzanos Begriffe wichen folglich in bestimmter Weise von den herrschenden ab. Das blieb nicht unbemerkt. Er selbst thematisiert dies zuweilen, um auf den Gegenwind hinzuweisen und ihm bewusster entgegentreten zu können: Macht man mir nicht den Vorwurf, daß meine Begriffe allzu abweichend sind von den gewöhnlichen und meine Forderungen zu überspannt? (ER 1813.26: 257)

Im Eingang zur Rede 1817.27 – der Gegenwind bläst schon erheblich stärker – spricht er das wieder einmal deutlich an (252f.). Die Rede behandelt ein Sprichwort nach Sebastian Brant, Das Narrenschiff (1494): Unter den tadelnden Urtheilen Anderer ist mir besonders ein Vorwurf bekannt, den mir viele Menschen, seit ich dieses öffentliche Amt bekleide, machen. Man will nämlich bemerkt haben, daß ich mit der gegenwärtigen Gestalt der Dinge, mit den herrschenden Gesinnungen, Sitten und Gebräuchen meiner Mitmenschen in sehr vielen Stücken unzufrieden sei; daß ich mir eine andere, eine vermeintlich bessere Gestalt der Dinge träume, und den Wunsch und die Hoffnung hege, diese werde einst wirklich zu Stande kommen; man will beobachtet haben, daß ich auch in Ihnen, meine Freunde, diese Unzufriedenheit mit dem, was gegenwärtig ist, und diese Sehnsucht nach einer besseren Zukunft anzuregen suche; daß ich Sie auffordere, daran zu arbeiten, damit diese bessere Zukunft wirklich nach und nach herbeigeführt werde. Wagt man es auch (weil meine eigene[n] Erklärungen und mein ganzes Betragen dieß offenbar widerlegen) keineswegs, mich zu beschuldigen, daß ich Empörungen und Meuterei begünstige: so behauptet man doch mit einem desto größeren Anscheine von Wahrheit, daß ich durch dieß alles nichts nützen und ausrichten werde. Denn, sagt man, die Menschen selbst wollen es nicht besser haben; sie widersetzen sich selbst, wenn Jemand auftreten will, um ihren Zustand zu verbessern; sie lieben ihre Fesseln, ihr Elend, ihre Noth… (ER 1817.27: Über den Grundsatz, die Welt zu betrügen, weil sie betrogen sein will).

Er weist dies zurück und zeigt, dass nur Unwissenheit und Irrtum die wahre Ursache menschlicher Übel sei, und nur „Belehrung, Unterricht, Verbreitung

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besserer Begriffe“ (ER 1817. 28: 262), also die Aufklärung der Irrtümer, diesem Grundübel abhelfen könne. Sein Abweichen vom Zeitgeist unübersehbar: Derselbe Wunsch nach Klarheit, der ihn später zu seinem hochabstrakten analytischen Satz über eine Eigenschaft der Mengen reeller Zahlen geführt hat, lässt ihn auch in der Alltagssprache andere als die herrschend gewordenen Begriffe gebrauchen. Dazu einige Beispiele:

‚Fortschritt‘ Den Weg oder das Schicksal des Menschen/der Menschheit nennt Bolzano das „Fortschreiten des Menschengeschlechtes“, ein Schlüsselbegriff, deshalb hier etwas ausführlicher dargestellt: Bolzano spricht durchwegs von einem Schreiten, von einem Prozess also, nicht von einem Faktum. In einer fulminanten Serie von drei Erbauungsreden, die am Sonntag, 6. Jänner 1811 (Erscheinung des Herrn) beginnt, verdeutlicht er diesen Begriff: Über das Fortschreiten des Menschengeschlechtes (1811.13–15; s. a. 1817.32–33). Diese „Wahrheit“ vom Fortschreiten des Menschengeschlechts war ihm so teuer, bekennt er, „daß ohne sie das Leben keinen Reiz für [ihn] hätte“ (1811.15: 174). (1) Fortschreiten kann nur der Mensch. Bolzano spricht vom wirklichen Fortschreiten des Menschen und des gesamten Menschengeschlechtes in der [sittlichen] Vollkommenheit und klärt: Wenn sich die Menschen nicht recht verstehen, meine Freunde, wenn sie mit ebendenselben Worten nicht ebendieselben Begriffe verbinden: so ist es nicht zu wundern, wenn ihre Streitigkeiten kein Ende nehmen wollen, und daß der eine dem andern Einwürfe macht, von welchen der, dem sie geschehen, gesteht, daß er nicht einmal begreife, wie ihm so etwas könne eingeworfen werden! Sich also so bestimmt, als möglich, zu erklären, was man mit seiner Behauptung eigentlich sagen wolle; das ist bei jeder in Streit gezogenen Wahrheit das erste, was man thun muß, will man ihr eine allgemeinere Anerkennung verschaffen. Deßhalb müssen auch wir uns erst bestimmter erklären, was wir eigentlich unter dem steten Fortschreiten unseres Geschlechtes verstehen. (1811.13: 133)

Ein „wirkliches Fortschreiten“, so führt er jetzt aus, gibt es sowohl für das Individuum, wie auch für die spezies Mensch insgesamt: Es ist nun jenes stete Fortschreiten unseres Geschlechts, zu dessen Vertheidigung wir uns anheischig machen, ein immerwährendes, nur mit dem Aussterben der Menschheit selbst zu beschließendes Vorwärtsschreiten derselben; ein Vorwärtsschreiten nicht in jeder beliebigen Rücksicht, sondern nur in den drei wichtigsten Stücken, in Weisheit, Tugend und Glückseligkeit; ein Vorwärtsschreiten endlich, das von der Menschheit im Ganzen gilt, und sich auf ihre ganze Dauer erstreckt, hiebei aber Rückgänge für einzelne Zeiten und in einzelnen Ländern gar nicht ausschließt. (1811.13: 134)

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Vom Fortschreiten sprechen wir deswegen nur beim Menschen / der Menschheit, denn nur diese(r) hat „die Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln, und zu vergleichen, über sie nachzudenken, aus ihnen zu lernen“. Dem Tier mangelt diese Fähigkeit (1811.13: 153). Es ist nicht sinnvoll, in jeder beliebigen Hinsicht von ,Fortschritt‘ zu sprechen, sondern grundsätzlich nur in den drei entscheidenden Eigenschaften des Menschen, in Weisheit, Tugend und Glückseligkeit. Das Fortschreiten besteht nicht etwa in einer wahllosen Steigerung von Fertigkeiten oder Fähigkeiten: Kenntnisse dieser und jener Art, Sprachfertigkeiten, rein wissenschaftliche Entdeckungen sind ohne Zweifel nicht zu verachtende Vollkommenheiten; dennoch behaupten wir abermals nicht, daß unser Geschlecht in diesen Stücken je länger, je weiter kommen werde; denn eigentlich sind diese Fertigkeiten nur bis zu einem gewissen Grade für wahre Vorzüge zu achten; darüber hinaus sind sie nur eine beschwerliche Last für das Gedächtniß, oder ein schädliches Mißverhältniß in der Entwicklung unserer Kräfte, sind nicht mehr Vorzüge, sondern Fehler. (1811.13: 135)

(2) Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen / einer Gesellschaft, im richtigen Maß und zum rechten Ende fortzuschreiten. Der individuelle Tod setzt diesem Prozess kein Ende; das wahre Ende liegt in der Einswerdung mit Gott. Wie im dynamischen Atomismus seiner Physik, so setzt er auch im menschlichen Alltag Leben mit Bewegung gleich, und Stillstand mit Tod, – der so verstanden ein auschließlich menschliches Phänomen ist. Bolzanos objektiv-abstraktes Fortschrittskonzept ist zugleich auch ein metaphysisches und wie dieses in den Prozess einer steten Weiterentwicklung der Substanzen eingebunden. Er sieht die menschliche Seele als einfache Substanz, die sich nach dem körperlichen Tod zum Göttlichen hin weiterentwickelt. Das Ganze sieht er als unendlichen Vorgang, da das Göttliche selbst nicht erreichbar ist. Er geht davon aus, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, unzählig viele Wahrheiten mit Bestimmtheit einzusehen, ohne den Grund, aus dem wir sie einsehen, zu unserm deutlichen Bewußtsein erheben und in Worten ausdrücken zu können. (Ath2: 71)

Diese Fähigkeit erlaubt dem Menschen eine grundsätzlich unbegrenzte Vermehrung der Denkkraft und Urteilskraft; einen Vorgang, den Bolzano einmal poetisch mit dem kühnen Flug des Adlers zur Sonne vergleicht (1812.2: 505). Die Metapher bezieht er aus dem Gedicht Der Adler Jupiter von Josef Georg Meinert (1773–1844), das 1812 im Deutschen Museum erschien (F. Schlegel 1812: 354–357; 1812.43: 505; Meinert 1810: 159f.). Fortschreiten ist nach Bolzanos Verständnis ein stetes Weiser-, besser- und glücklicher-Werden des Einzelnen. Die Möglichkeit des Fortschreitens gibt es nur für den Menschen,

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als vernunftbegabtes Wesen mit geringer Instinktprägung; nicht für Tiere, nicht für Engel, Maschinen oder sonstige Dinge. Menschliche Bewegung beginnt mit dem Empfangen und der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Wahrnehmungen sind der Ausgangspunkt aller geistiger Entwicklungen. Apperzipieren, Erfahrungen machen, aus ihnen Lernen, gegenständlich und sozial, (für das Gemeinwohl) nützliche Erkenntnisse daraus Gewinnen und Umsetzen. Der Mensch hat dazu bestimmte Kräfte: Denkkräfte, Empfindungskräfte und andere. Als die wichtigsten der Denkkräfte sieht Bolzano die Vorstellungskraft und die Kraft zu apperzipieren. Der Mensch muss diese Kräfte allerdings üben und ausbilden. Er ist grundsätzlich in der Lage, sich seine Vorstellungen zunehmend bewusstzumachen; vage, dunkle Vorstellungen weiterzuentwickeln und sich immer klarere Urteile über die Welt zu bilden. Die Vorstellungen werden deutlich, wenn wir sie uns im Gedächtnis vergegenwärtigen (Ath2: 151f.). Der Gegenstand wird dabei immer genauer erfasst, die Vorstellungen werden deutlicher und die Begriffe darüber präziser – der ganze Mensch verändert sich, indem seine geistigen Kräfte wachsen und das Bewusstsein darüber sich ändert (WL § 280). Immanuel Kant hat in seiner Philosophie einen radikalen Erkenntniszweifel in die Welt gesetzt und dieser ist aufgrund der Wirkungsmacht von Kants Philosophie weit über die philosophische Welt hinausgewachsen. Bernard Bolzano plagt der Zweifel, „ob der Mensch durch Erfahrungen Kenntnis von der Welt erlangen könne“, keinen Moment (WL § 30–32; RW 1 § 11–13). Auch Georg Christoph Lichtenberg war noch nicht anfällig für diesen seltsamen Erkenntniszweifel des Idealismus: Geister ohne eine Welt außer ihnen müssen seltsame Geschöpfe sein, denn da von jedem Gedanken der Grund in ihnen liegt, so sind die seltsamsten Verbindungen von Ideen allzeit recht. Leute nennen wir rasend, wenn sich die Ordnung ihrer Begriffe nicht mehr aus der Folge der Begebenheiten in unsrer ordentlichen Welt bestimmen läßt, deswegen ist gewiß eine sorgfältige Betrachtung der Natur, oder auch die Mathematik das sicherste Mittel wider Raserei […] (Lichtenberg 1980: A 111)

Er empfiehlt den vernünftigen Menschen, den Blick vom Ideenhimmel ab-, und der Natur zuzuwenden: „Die Natur ist so zu sagen das Laufseil, woran unsere Gedanken geführt werden, daß sie nicht ausschweifen.“ Der Prozess des menschlichen Fortschreitens bedeutet für Bolzano ein immer stärkeres Bewusstsein des Wahrgenommenen. Es gibt dieses Fortschreiten für Menschen als Individuum, für eine organische Kulturgemeinschaft, schließlich auch in der Summe für das ganze Menschengeschlecht, die species Mensch.

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(3) Fortschreiten ist schließlich nur dem ganzen Menschen möglich, nicht etwa nur Eigenschaften oder Teilen seiner Persönlichkeit. Er muss und kann es nur – mit ‚Herz und Verstand‘, wie es in der alteuropäischen Bildungsformel hieß. Daran hatte die Monarchin Maria Theresias ihre Gelehrten gemessen: Nur der ganze Mensch, als Familienvater, -mutter und Gelehrte(r), kann wirklich fortschreiten. Auf der konkret-subjektiven Ebene bedeutet das Fortschreiten für den Menschen, zunehmend Verpflichtungen zu übernehmen, die Menschenpflicht zu einem rücksichtsvollen, vernünftig geführten Leben; – anderen Menschen, Lebewesen, den Späteren und der unbelebten Natur gegenüber. Es ist die Verpflichtung zu einem Leben im Sinne des Obersten Sittengesetzes. Dieses verlangt letztlich vom Einzelnen ‚whole man‘ zunehmend, immer mehr Verantwortung für sein/ihr Tun, mit allen Folgewirkungen, wirklich zu tragen, und so mündig zu werden. – Nur wer sich im Gleichgewicht bewegt, kann wirkliche Fortschritte machen. Das gilt nach Bolzano letztlich für die Menschheit selbst, als biologische species: ‚mankind is to move together‘ müsste man eigentlich sagen. (4) Dieses Fortschreiten geschieht nicht automatisch, es ist eine aus freiem Willen erbrachte, und nur so wirklich zu erbringende menschliche Leistung. So manche technische Erfindung und Entwicklung seiner Zeit brachten für Bolzano unleugbare Verbesserungen des Alltagslebens, aber ein ,Fortschritt‘ war damit aus seiner Sicht noch nicht automatisch gegeben. – Es gibt für ihn keinen Fortschritt an sich, sondern nur die Dynamik eines konkreten, begründeten, bedachten und gezielten Fortschreitens des/der Menschen im Einzelnen, – eine Sichtweise, die in der antiken Skepsis bereits angelegt war. Bolzano räumt ein, dass dieses Fortschreiten kein kontinuierlicher und gleichförmiger Prozess sei, weder für den Einzelnen noch für Kulturen, noch auch für die species Mensch. Insgesamt ist dieser Prozess aber nicht aufzuhalten, so Bolzano: Bildungsreformen, Strafrechtsreformen, Aufhebung der Leibeigenschaft, Schritte zur Emanzipation der Frau …, das alles und mehr zählt er als Wegmarken, welche teilweise schon gesetzt wurden. Dass es in diesem schicksalshaften Prozess der Menschheit überall und immer wieder zu Rückschlägen kommen könne und auch tatsächlich komme, ändere nichts an dem Fortschritt der Menschheit als Ganzheit betrachtet, so er. Es gibt also auch Rückschritte – und ein solcher stand am Beginn seiner Überlegungen: Der Umstand, dass sein Heimatland in Kriegshandlungen verwickelt worden war und sich als Folge deren gerade in einer Zeit der Rückentwicklung befand;

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daß wir seit etlichen Jahrzehenden wirklich statt weiser, besser und glücklicher zu werden, in diesen Stücken nur rückwärts gehen; daß die vor kurzem begonnene Aufklärung wieder verdunkelt worden ist … (1811.13: 136)

war ein verhängnisvoller Rückschritt. Das allgemeine Weiser-, Besser- und glücklicher-Werden, wurde jetzt durch äußere Hindernisse wie Krieg, Hungersnot behindert. Böhmen, und mit ihm ganz Europa, erlitt, nach den furchtbaren Glaubenskriegen vor eineinhalb Jahrhunderten, – jetzt wieder eine grobe Störung des Zivilisationsprozesses; diesmal ausgelöst durch nationale Eroberungskriege. Bolzano zieht nüchtern Bilanz: wir sind seit etlichen Jahren her unläugbarer Weise beynahe in allen Stücken, die bey dem Wohle eines Landes zu betrachten kommen, statt vorwärts zu schreiten, nur zurück gegangen; die Mehrzahl unseres Volkes ist jetzt minder weise und minder gut, und minder glücklich, als sie es vor zwey bis drey Jahrzehenden schon war! (1811.4: 60)

Mit diesem Tatbestand wollte er sich nicht zufriedengeben, erst recht nicht in einer Stadt wie Prag, wo gerade diese Tradition des Ausgleichs von Wissen und Glauben einmal so lebendig gewesen war); hier in dieser Hauptstadt eines ehemals so blühenden Königreiches, in diesem einst so blühenden, jetzt leider nur durch sein Alterthum ehrwürdigen Sitze der Wissenschaften, wurde, so weit wir zurückdenken können, dafür gesorgt, daß die Gebildeten, deren es hier eine so große Anzahl gab, auch einen ihren Bedürfnissen entsprechenden religiösen Unterricht empfingen. (1817.1: 29

(5) Ein tatsächliches Fortschreiten des Menschengeschlechtes ist für Bolzano am Gemeinwohl mess- und ablesbar. Der Ausblick auf das gewünschte Ende des Weges schärft den Sinn für das Fortschreiten: Unser Geschlecht wird endlich auch immer weiter schreiten in wahrer Glückseligkeit; das ist, das Heer der Leiden, welche uns drücken, wird in der Folge der Zeiten sich immer mehr und mehr verringern; je länger, je wirksamer werden die Mittel seyn, die man zu ihrer Abhülfe erfunden haben wird; die Zahl derjenigen aus uns, die sich unglücklich fühlen, wird immer kleiner werden, und immer größer die Anzahl jener, die eine naturgemäße Befriedigung ihrer menschlichen Bedürfnisse auf Erden finden, die ruhig und vergnügt ihr Daseyn zubringen, und alt und lebenssatt dem Tode ohne Murren in die Arme sinken, weil auch sie sagen können: daß sie gelebt, und dieser Erde Glück genossen haben! (1811.13: 135)

Den Archetyp kulturellen Zusammenlebens sieht Bolzano im Leben der frühchristlichen Gemeinschaften (1809.43–44: 403, Über den Begriff des Eigentums: „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“ Bolzano führt anschließend rhetorische Beweise an, die für ein tatsächliches Fortschreiten des Menschengeschlechtes bis dato sprechen sollen. Er räumt ein, dass diese Beweise nur mit hoher Wahrscheinlichkeit

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zutreffend sein konnten. Er liefert (1) Beweise aus der Geschichte und (2) Vernunftbeweise dazu. Sie sollten darlegen, dass die Menschheit tatsächlich in diesem Sinn fortgeschritten sei seit ihrem Bestehen: 1. Der „Beweis aus der Geschichte“ (1811.13: 133) musste allein schon aufgrund des damaligen geringen historischen Erkenntnisstandes dürftig ausfallen, so Bolzano: Erstens gebe es überhaupt wenige Nachrichten; zweitens berichteten die Geschichtsschreiber meist nur über Kriege und Schlachten und prägten dergestalt ein vereinfachtes und auf Gewalt ausgerichtetes Geschichtsbild. Das Entscheidende, das die Menschen wirklich Bewegende, hätten sie stets beiseitegelassen. – Aber selbst wenn wir zuverlässigere Nachrichten hätten, bliebe es schwierig zu beurteilen, ob gewisse Völker oder Menschen auf höherer Stufe stünden als andere, so Bolzano, denn das Äußere einer Handlung sage wenig aus über ihren ethischen Wert. Dieser hänge von den Beweggründen ab, die bestenfalls aus der Art der Durchführung zu erschließen seien. Jedenfalls können Beweise dieser Art nie eindeutig und vollständig sein. Er hielt sie jedoch für vollkommen ausreichend in diesem Fall. Er führt folgende Beweise an: Man denke jetzt insgesamt richtiger und aufgeklärter über die Pflichten und Obliegenheiten des Menschen als je zuvor. Die allgemeine Grausamkeit habe eindeutig abgenommen seit den Zeiten Davids. Und wenn wir besser geworden sind, dann sind wir auch glückseliger geworden und des Elends gebe es „jetzt gewiß weniger auf Erden“. Das sei vor allem der Erscheinung Jesu Christi zu danken (Joh 1,9): „Das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, kam die in die Welt“. Im Evangelium des Johannes folgt allerdings auch Zweifelhaftes: „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht“ [Herv. KFS.]. Das war der Grund, aus dem Bolzano jetzt handelte; und er zweifelte aber nicht daran,

daß die erhabene Wahrheit von aller Menschen wesentlicher Gleichheit, diese so wichtige Grundlage unsrer gesammten Pflichten und Rechte, mit jedem Jahrhundert zu immer allgemeinerer Anerkennung gelange. ((1811.13: 139)

2. Der Vernunftbeweis in der folgenden Rede (1811.14) geht von der dogmatischen Annahme aus, dass es vor allen bedingten, mit begrenzten Kräften ausgestattetes Wesen ein unbedingtes Wesen mit unbegrenzten Kräften – einen Gott gebe. Dieser bringe, so Bolzano, alles dasjenige Gute, das nicht an sich unmöglich sei, zur Wirklichkeit/Wirksamkeit. Wer dies leugne, der leugnet entweder Gottes Allmacht, indem er nicht

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zugibt, dass Gott dazu in der Lage sei; oder er leugnet andererseits Gottes Allwissenheit, indem er nicht zugibt, dass Gott fähig wäre, zu erkennen, was für das Wohl der Allgemeinheit am zuträglichsten sei; oder er spricht Gott den Willen ab, das Gute in Wirklichkeit umzusetzen. – Alles dies käme der Leugnung seiner Heiligkeit gleich. So wenig diese aber zu leugnen ist, und das Wesen Gott als allmächtig, allwissend und allheilig angenommen werden müsse, muss dieser auch alles Gute, das an sich möglich ist, zur Wirklichkeit bringen. Geht man davon aus, dass das Fortschreiten des Menschengeschlechts in Weisheit, Tugend und Glückseligkeit in der Freiheit des Menschen liegt, ist offenbar, dass so definiertes Fortschreiten seine eigene Sache des Menschen und nicht etwa sein vorbestimmtes Schicksal ist. Zu zeigen wäre nur, dass diese Möglichkeit nicht etwa in einem inneren Widerspruch zur Natur des menschlichen Geschlechtes stehe: Es ist aber aus Bolzanos Sicht offensichtlich, dass jeder einzelne, unvollkommene Mensch immer vollkommener werden könne und dass folglich das ganze Menschengeschlecht, als Summe der Individuen verstanden, auch immer vollkommener werden könne. Ein Beispiel, wie ein solcher Mensch sein würde, sieht er in Jesus Christus. 3. Zu zeigen ist dann noch, dass es also einen Grund gebe, durch welchen das Fortschreiten bewirkt wird. Es gibt, so Bolzano – und hier nimmt er das anfängliche Dogma wieder vorsichtig zurück – diesen Grund, „der – ich möchte sagen – auch ohne eines Gottes Daseyn, von selbst das menschliche Geschlecht allmählig weiter führen müsste“! (1811.13, 148f) Bolzano braucht nun den dogmatisch angenommenen Grund nicht mehr. Das heißt nicht, dass er ihn für überwunden oder unzutreffend hält. Dieser Grund, so Bolzano, liege erkanntermaßen in der Empirie, in den Erfahrungen, die Menschen machen; Erfahrungen, die verarbeitet werden und so den Geist dieser Menschen verändern. Sie werden gleichsam individualgenetisch und epigenetisch weiter überliefert und in der phylogenetischen Entwicklung der species Mensch angereichert. Es handle sich dabei um einen wachsenden Schatz von Erfahrungen, von Entdeckungen in den verschiedenen Wissenschaften, um ein Anwachsen der Kenntnisse, vom eigenen Dasein, von Gott und der Welt, – und darin besteht so gesehen der feste Grund des Fortschreitens der Menschheit, so Bolzano. Im zweiten Teil der Rede geht er, im rhetorischen ductus subtilis vorgetragen, auf die wichtigsten und am häufigsten vorgebrachten Argumente gegen die Möglichkeit dieses Fortschreitens ein:

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1. „Nichts ist in dieser Welt vorhanden, […] was dieses Vorwärtsschreiten unseres menschlichen Geschlechtes durch seine Ähnlichkeit bestätigen könnte. Alles […] bleibt auf derselben Stufe unverrückt: […] wird denn das menschliche Geschlecht allein eine unbegreifliche Ausnahme machen?“ (1811.14: 152) – Die Antwort: Es fehlt uns erstens zu dieser Behauptung der ganze Überblick über die Welt, der uns eventuell vergleichbare Wesen aufzeigen könnte (Bolzano nahm an, dass es im Kosmos auch andere belebte Planeten gebe). 2. ,Der Mensch sei von Gott als vollkommenes Wesen geschaffen; was sollte er da noch fortschreiten (müssen)? Es müsste sich vielmehr von der ursprünglichen Vollkommenheit entfernen, da sich die Schwächen und Unvollkommenheiten fortpflanzten.‘ – Die Antwort: Die Geschichte von der Vollkommenheit des Menschen ist ein Vorurteil aus dem Alten Testament! Dieses ist durch die Menschheitsgeschichte nicht erwiesen; dagegen spricht auch die Erfahrung, die zeigt, dass die Natur selbst sich stets zu verbessern suche; so auch die menschliche Natur, – eine der Natur gemäße Lebens- und Erkenntnisweise vorausgesetzt. 3. ,Wenn das so ist, wo bleibt dann die göttliche Gerechtigkeit, wo doch hier die späteren Geschlechter offensichtlich den früheren gegenüber begünstigt werden?‘ – Die Antwort: Es wäre Unfug, anzunehmen, Gott würde nicht alle Parameter zur Beurteilung eines Charakters heranziehen. Er zitiert dazu Lukas (12,48): „Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden, und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen.“ 4. ,Es mögen ja gewisse Fortschritte möglich sein, doch die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen würden dabei an bestimmte Grenzen stoßen.‘– Bolzano antwortet, dass dieses Problem auf absehbare Zeit nicht auftreten würde und das menschliche Geschlecht noch unendlich viel auf Erden zu lernen habe –

Allein, wenn einst der Zeitpunct kommt, wo es ganz ausgelernt hat und zu dem höchsten Gipfel seiner auf Erden erreichlichen Vollkommenheit gelangt ist: – wohlan, dann ist es reif zu seiner Umwandlung geworden; dann wird es aufhören, ein menschliches Geschlecht zu heissen, und in ein englisches umstaltet werden (1811.14: 160)

So wie der Mensch einst die Grenze zwischen Tier und Mensch überschritten hat, nachdem er die Frucht vom „Baum der Aufklärung“ (1818.36: 316. Bolzano verwendet diese Bezeichnung bedeutungsgleich wie die bekannte ‚Baum der Erkenntnis‘) gegessen habe, so überwindet er, als nächsten entscheidenden Schritt, die Grenze vom Menschen zum Engel, also einer Art vergeistigtem

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Wesen. Es müsste schon seltsam zugehen, so Bolzano, wenn die vielfältigen Erfahrungsschritte die Nachwelt „nicht immer weiser, hiedurch mittelbar auch besser und glücklicher“ (1811.14: 149) schüfen. Er ist sich der Sache so sicher, dass er annimmt, dieses Gesetz des Fortschreitens gelte, selbst wenn nicht Gott, sondern ein „blindes Ohngefähr“ die Welt regierte! (1811.14: 149; 154). Die dritte Rede in der Serie vom Fortschreiten (1811.15), gehalten am Fest des Namens Jesu, beginnt überraschend. Besonders für die Mehrzahl der Hörer, denen Bolzanos Reden Von aller Menschen wesentlicher Gleichheit von April/Mai des Vorjahres noch in lebhafter Erinnerung war: Zwey Classen von Menschen, sehr ungleich in der Menge, die jede in sich greift, gibt es auf dieser Erde, meine Freunde. Die Eine derselben, die bis zur Stunde leider die allerzahlreichste ist! – bestehet aus Menschen, welche im Grunde um nichts, als um sich selbst nur besorgt sind. Es ist schon viel, wenn sie sich um das Schicksal einiger ihrer nächsten Verwandten bekümmern; doch wie es etwa dem ganzen menschlichen Geschlechte ergehe, das fragen sie nicht einmahl, und falls sie ja aus langer Weile manchmahl die Schicksale benachbarter Völker sich erzählen lassen, so denken und empfinden sie dabey doch nichts, und hören es ebenso gleichgültig an, daß Völker rückwärts, wie daß sie vorwärtsschreiten in der Vollkommenheit. Nur klein ist das Häuflein derjenigen Menschen, welche die andere Classe bilden, die auf das Wohl des Ganzen achten, es zu beurtheilen vermögen, o, sich innig freuten, wenn es bey irgend einem Volke auf Erden besser wird, und herzlich mittrauerten, wenn der Schutzgeist unseres Geschlechtes trauert! (1811.15: 162f )

Gemäß seinem methodischen Grundprinzip des systematischen Differenzierens von Grundwahrheiten und Normen, wie auch der durchgehend angewandten rhetorischen Prinzipien der Angemessenheit und Zumutbarkeit, führt Bolzano hier eine deutliche Unterscheidung innerhalb der Menschen ein. Diese rüttelt freilich nicht an ihrer wesentlichen Gleichheit und bildet keine neue Scheidewand; sie markiert aber dennoch gerade den entscheidenden ethischen Unterschied zwischen den Menschen: Er unterscheidet zwischen denjenigen, die fortschreiten, und jenen, die stehenbleiben; zwischen Lebendigen und Toten gleichsam, und dabei ist nicht der physische Tod gemeint. Die Gruppe von Menschen, die er im Hörsaal vor sich haben möchte, sind jene Menschen, denen das Gemeinwohl ein Herzensanliegen ist, denen das Blut „im Herzen pocht und [deren] Auge funkel[n], wenn es sich um die Fortschritte unseres Geschlechtes zur Vollkommenheit handelt.“ (1811.15: 162) Er nennt sie den „wahren Adel unseres sterblichen Geschlechtes“, den „wahren Seelenadel.“ (1811.15: 163). Das Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Gruppen ist der jeweilige Grad der Anwendung des Obersten Sittengesetzes. Später wirft Bolzano Tiefere Blicke in das ehrwürdige Heiligtum der Tugend (1820.3, Titel). Dieses entscheidet die Frage, ob und in welchem Grad die Menschheit insgesamt zur Vollkommenheit fortschreitet. Die Einteilung ist

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durchlässig, aber sie ist vollkommen eindeutig: Die Zugehörigkeit zu einer dieser zwei Klassen hängt von der freien Entscheidung jedes Individuums ab; und wie sie getroffen ist, das zeigt sich im Leben des entsprechenden Menschen. Zur Perikope dieser Rede hat Bolzano das Bild vom „guten Hirten“ gewählt (Joh 10,1–16). Guter Hirte und Mietling sind die Grundtypen der beiden kontroversen Klassen nach Bolzano. Seine Schüler versteht er als dazu ausersehen, die „guten Hirten“ ihres Vaterlandes zu werden. In der Abhandlung wird dieses Bild folgerichtig vom Hörsaal auf das ganze Menschengeschlecht angewandt: Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. (Joh 10,16; Herv. KFS) Es ist der Beweggrund, der den gedungenen Knecht oder Mietling vom guten Hirten unterscheidet. In Martin Luthers Bibelüberetzung von 1523: ein guter hirte lesset sein leben fur die schafe. ein miedling, der nicht hirte ist, des die schafe nicht eigen sind, sihet den wolf komen, und verlesset die schafe, und fleucht. (1810.84, 382; Grimm; [Im deutschen Sprachraum hat sich heute für dieses Phänomen der Ausdruck Manager eingebürgert]) (Joh 10,11–13)

Dieser Mietling geht mit scheinbarem Eifer für das Gute ans Werk, strebt nach Belohnung, süßem Lob, Hoffnung auf Beförderung (1810.17: 200). Es geht ihm um den äußeren Schein, um Geld. Das ist Verrat an der Menschheit, auch wenn er dem Buchstaben des Gesetzes formal nachkommt (1809.3: 32). Der Mietling kümmert sich auch nicht um das Wohl des Vaterlandes (1810.23: 283f); er verwaltet die angestrebten Ämter im eigenen Interesse und nicht zum Wohl der Menschheit allgemein [k]ann es dann anders kommen, als daß die Menschheit unter dem Joche der Miethlinge statt ihrem Ziele der Vollkommenheit allmählig zugeführet zu werden, vielmehr ins tiefste Elend gestürzt wird? (1811.36: 358f.)

Bolzano erklärt in diesem Zusammenhang den universalen Heilsplan; die Ansicht, dass Jesus Christus die christliche Kirche gegründet habe, um die Welt zu einen und zum Guten zu führen; „daß unsre heilige Religion sich immer weiter und weiter auf Erden ausbreiten müsse, bis sie am Ende der allgemeine Glaube des ganzen menschlichen Geschlechtes werden wird.“ (1811.15: 169.) So wie die freie Entscheidung des Einzelnen, sein Leben im Dienste der Gemeinschaft zu leben, im Grunde nicht erzwungen werden kann, so darf man sich auch die Ausbreitung des Christentums nicht als „Sieg“ einer Religion über alle anderen vorstellen, sondern als ein friedliches (in Kriegszeiten un-

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mögliches) sich Ausbreiten vernünftiger Annahmen über Gott und die Welt. Im Grund ist es gleich, wie die Religionsgemeinschaft sich nennt, in der dies stattfindet. Dazu führt Bolzano noch aus: 1. Der Wert der Bildung liege darin, dass die Empfänglichkeit in einem durch Künste und Wissenschaften verfeinerten Geist größer und das Fortschreiten in menschlicher Weisheit, Tugend und Glückseligkeit beschleunigt ist. Diese drei Begriffe gelten konsekutiv: Wer an Weisheit zunimmt, tut dies nur wirklich, wenn seine ethischen Grundsätze sich weiterentwickeln und folglich die Bedingungen zu einem glücklichen Leben Aller geschaffen werden. Tugend ist also nicht etwas, was zur Weisheit dazukommt, sondern eher Steuerungsmittel der menschlichen Weisheit. Diese schafft die Bedingungen zu einem glücklichen Leben Aller (Glückseligkeit). 2. Ein Zustand der allgemeinen (An-)Erkennung des Gemeinsinns könnte durchaus ein „goldenes Zeitalter auf Erden“ (172) genannt werden. Dies hätte das Ende jedes Machtstrebens von Menschen über Menschen, das Ende jeder Form von Krieg zu bedeuten, – ewigen Frieden:

… Dann wird nicht mehr der Eine bauen, und der Andre bewohnen; der Eine pflanzen, und der Andere genießen. Dann werden Lamm und Wolf beysammen weiden; der Säugling wird am Loch der Natter spielen; und für unschädlich wird man alle Thiere, die Gott geschaffen hat, erklären und frohlocken wird der Mensch, durch alle Tage seines Lebens; denn fühlen wird er es, daß ihn zur Lust geschaffen hat der Herr, sein Gott! (172f.; Jes 65,25)

So stark diese Vorstellung nun auch wirkt: sie ist kein Idealbild. Die Annäherung an diesen glücklichen Zustand ist ein ständiges Suchen und auch Fehlen; aber das ist letztlich die Aufgabe des Geistes. Das Ziel, ein Zustand der Glückseligkeit Aller, ist verständlich, aber noch weitgehend im Dunkel. Es ist viel zu weit weg, als dass über seine Natur etwas Wahres gesagt werden könnte. Das Fortschreiten dorthin ist eine grundsätzlich unberechenbare Bewegung. Wohin der Weg führt, kann keiner vorherwissen; jedenfalls führt er in eine andere Welt als die jeweils herrschende, aus der sie kommt. Der Weg lässt sich jedenfalls nicht abmessen, nicht berechnen – und auch nicht abkürzen. Bolzano gibt nur Wegweiser: 1. Auch die Wahrheit vom „Fortschreiten des Menschengeschlechts“ (1811.13–15)) könnte sich irgendwann als überholt herausstellen. Aber selbst wenn sie sich später als Irrtum herausstellte: – es wäre „wohlthätiger Irrthum“ (1811.15, 175), so Bolzano: Niemand würde sie zu seinem Schaden für wahr gehalten haben. Ein wohltätiger Irrtum

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kann jederzeit, sobald er als solcher enttarnt ist, mit Freuden abgelegt werden, wie eine wärmende Jacke in der Sonne. 2. Diese ‚Wahrheit‘ verblendet nicht. Eine gewisse konstruktive Unzufriedenheit mit den tatsächlichen Gegebenheiten, eine Einsicht in die ‚Gebrechen seiner Zeit‘ wird dadurch keineswegs verdrängt oder verklärt, so Bolzano: Von diesen [Gebrechen] schonend sprechen, diese aus Menschenfurcht [dem Zögling] verheimlichen wollen; das halte ich für einen Hochverrath an der Menschheit selbst; und mir einen solchen zu Schuld kommen zu lassen, wird mich nichts in der Welt jemahls bewegen. (1811.15: 179)

3. Die Bestürzung über die tatsächlich erkannten Gebrechen und Ungerechtigkeiten einer Zeit sucht Bolzano in die Kraft zur Veränderung zu verwandeln. Nur durch konkrete Anstrengung jedes Einzelnen wird die ersehnte „Rettung des Vaterlandes“ möglich. Das vorzüglichste Mittel dazu ist und bleibt der moralische Fortschritt jedes Einzelnen. Bolzanos Fortschrittsbegriff ist pragmatisch, und praktisch an das Wohlergehen des/der Menschen, sowie an die Achtung vor / Bewahrung der Schöpfung gebunden. Eine Weiterentwicklung und Anwendung technischer Wissenschaften in diesem Sinn bedeutet, dass die Nähe zur Natur, also das ökologische Prinzip, streng durchgehalten wird: Es sind so gesehen keinerlei Anwendungen denkbar, bevor deren Folgen für die Menschheit und Natur nicht restlos geklärt sind, und vor allem keinerlei Verschwendung zu Lasten anderer oder gar der Nachwelt. Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss streng durchgehalten, die Schöpfung in ihrer natürlichen Vielfalt bewahrt werden. Es geht um ein gemeinsames Fortschreiten der Menschheit in einer Welt. Die neue, universale Lebensform sieht nach Bolzano ein radikal zu veränderndes Verhalten zu Besitz und Eigentum, einen Abbau von Rangordnungen und Unterschieden, eine Auflösung aller herrschenden Machtstrukturen vor. In seiner Utopie Von dem besten Staat führt er solche Gedanken aus. Bolzano hat geklärt, dass das Fortschreiten des Menschengeschlechtes nur auf dem ,Weg der Wahrheit‘ sinnvoll ist, und dass irgendwann für jeden Menschen, jede Kultur, die Menschheit selbst die ,Stunde der Wahrheit‘ kommen werde. Bei aller Abstraktheit, aus der dieser Gedanke kommt, bleibt er immer ganz konkret: Es wird – ich sage es mit aller Zuversicht – einst eine Zeit erscheinen, wo man den Krieg, das tolle Beginnen, sein Recht durchs Schwerdt zu beweisen, eben so allgemein verabscheun wird, wie man den Zweykampf jetzt schon verabscheut! wo all die tausendfälti-

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gen Rangordnungen und Scheidewände unter den Menschen, die so viel Böses bewirken, glücklich gehoben seyn werden, und jeder umgehn wird mit seinem Nächsten, so wie ein Bruder mit dem Bruder; es kömmt eine Zeit. wo man Verfassungen einführen wird, welche dem Mißbrauche nicht mehr so schrecklich ausgesetzt seyn werden, als unsre gegenwärtigen; ein Zeitpunct kommt heran, wo man den Menschen auf naturgemäße Art erziehen, und keinen Ruhm mehr darein setzen wird, von der Natur sich weit entfernt zu haben, ein Zeitpunct wird kommen, wo Niemand glauben wird, Achtung und Ehre zu verdienen, weil er ein Einziger so viel an sich gerissen hat, als zur Befriedigung der Bedürfnisse 1000er hinreichend wäre! (1811.14: 151)

Die Entscheidung für die andere, die nicht herrschende, mitteleuopäischkatholische Aufklärung, bedeutet eine Entscheidung gegen den Krieg. Sie würde den Krieg – als „Vater aller Dinge“ (Heraklit) und Herrscher über alle menschlichen Schicksale (Diels/Kranz 1964: 22 F 53) – entthronen. Nicht aus dem Gegeneinander, sondern aus dem Miteinander der Menschen würde die andere Erkenntnis folgen. Fortschreiten bedeutet beides – einerseits, das Universum als solches den exakten Begriffen der mathematischen Erkenntnis zugänglich und durch formale Sprache adäquat erfassbar zu machen; andererseits, das Wort Gottes, also Wahrheiten, die mit Tugend und Moral zu tun haben, deutlicher zu verstehen und ihnen gemäß zu handeln. Bolzano ist überzeugt davon, dass es für jeden Menschen die Pflicht gebe, sich so viel als möglich einer gemeinnützigen Thätigkeit zu befleißen. Er geht dabei, zumindest rhetorisch, so weit, dass er jenen, die sich ausschließlich um ihren Besitz und ihr Eigenwohl kümmern, gleichsam die Daseinsberechtigung abspricht (1817.14 –16 Daß niemand zu leben verdiene, der nicht zu nützen sucht nach seiner Möglichkeit).

Fortschreiten in Mitteleuropa Das herrschende idealistische Denken verführte zur Ausprägung des Ideals von Fortschritt (Elias 1997: 40f.). Das Ideal von Fortschritt hat wenig mit den konkreten individuellen und sozialen Prozessen zu tun, von denen Bernard Bolzanos tatsächliches Fortschreiten handelt. Norbert Elias hat ausgeführt, dass der Glaube an die eigene Nation und die zunehmenden zwischenstaatlichen Animositäten zur Erhöhung der Spannungen zwischen den Nationen und zu latenter Kriegsgefahr geführt haben. Solche neuen Formen politischen Glaubens, und vor allem eine neue, ‚natiozentrische‘ Denkorientierung, führte zu einem gleichsam den Zeit- und Raumkoordinaten enthobenen Glauben an eine zeitenthobene ,ewige Nation‘. Das idealistische Denken hatte aus der tatsächlichen Heimat auch ein Ideal von Heimat gemacht (Elias 1997: 40f).

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Der Sieg des wissenschaftlich-technischen Zeitalters über das mythischreligiöse wurde jetzt, im 19. Jahrhundert, erkämpft. Bernard Bolzanos Position in dieser Bewegung mutet paradox an: Als Wissenschaftler stand er an vorderster Front derer, die ein neues wissenschaftliches Weltbild entdeckten und erstellten. Als Priester stand er zugleich an vorderster Front jener, die sich für ein Verständnis der mythisch-religiösen Sicht auf die Welt einsetzten und sie zu bewahren suchten. Darin liegt aber kein wirklicher Widerspruch: Schon in den frühesten Anfängen seines Studiums stand der junge Bernard Bolzano in Kontakt mit der neuen Welt technischer Möglichkeiten. Dafür sorgten seine Lehrer, besonders der große böhmische Physiker Franz Joseph von Gerstner. Gerstner hatte nach dem Jesuitengymnasium das Philosophicum besucht und bei Stanislav Vydra elementare Physik studiert, Mathematik bei Jan Tesanék (1728–1788) und Astronomie bei Joseph Stepling. Im Jahr 1777 hatte er sein Studium mit einer Prüfung über Newtons De principiis philosophiae abgeschlossen. Franz Joseph Gerstner hatte vor allem die Wichtigkeit einer technischen Ausbildung neuerer Art erkannt. Er reorganisierte das alte Prager Ingenieurinstitut und wandelte es zu einem modernen Polytechnikum um (1806). Kaiser Joseph I. (1678–1711, ab 1705 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Böhmen) hatte die Prager Ingenieurschule vor einem Jahrhundert bewilligt. Bereits im Jahre 1718 hatte sie mit einem Dutzend Studierender ihre Arbeit aufgenommen. Ihr Absolvent Gerstner erwies sich als grandioser Umsetzer naturwissenschaftlicher Konzepte in die Praxis, korrigierte nebenher die geographischen Koordinaten so mancher europäischen Städte und vieles mehr. Von der Böhmischen Hydrotechnischen Gesellschaft beauftragt, beschäftigte sich Franz Joseph Gerstner mit dem Projekt eines Verkehrsweges für den Salztransport und schlug eine damals noch ungewöhnliche Variante vor, nämlich eine Eisenbahntrasse. Der Nutzen war klar definiert: Die Eisenbahn sollte dem Transport des Salzes, des bedeutendsten Lebensmittels seit der Frühzeit, aus dem Salzkammergut nach Böhmen dienen. Die diesbezüglichen Pläne Gerstners, die im Jahr 1808 genehmigt worden waren, kamen infolge der Koalitionskriege aber erst ab 1824 zur Umsetzung. Gerstners Sohn Franz Anton (1796–1840) verwirklichte als ausführender Ingenieur mit dem Bau der insgesamt 127 km langen Eisenbahnstrecke Budweis-LinzGmunden die erste Eisenbahn (von Pferden gezogen) in Kontinentaleuropa. Das Projekt sollte dem Gemeinnutzen dienen. Als aufmerksamer Hörer von Bolzanos Erbauungsreden kannte Franz Anton Gerstner die Problematik. (Von ihm und Bolzanos jüngerem Bruder Peter sind gewissenhafte Mitschriften Bernard Bolzanos Erbauungsreden aus dem Studienjahr 1811/12 erhalten [PNP D III c 1 und 2]).

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Über seinen verehrten Lehrer Franz Joseph Gerstner schrieb Bolzano einmal: Auch wenn dieser „wenig Verständnis für die Dichtkunst“ aufbrachte, so habe der höhere Zweck seiner Mechanik im Grunde mit dem edler Dichtung Wesentliches gemein; ihm [Gerstner] nämlich leuchtete es bei Weitem deutlicher als den meisten anderen Menschen ein, wie viel des Nützlichen, ja des Nothwendigen auf dieser Erde noch zu thun übrig sey, wie vielem Elende blos durch geschickte Anwendung der Mittel, welche uns Mathematik und Physik darbieten, gesteuert werden könnte und sollte. (Bolzano 1837: 34)

Wenn Bolzanos eigenes Hauptinteresse die philosophische Mathematik betraf und nicht so sehr die Anwendung selbst, dann lag das in seiner philosophischen Begabung begründet. Grundsätzlich ließ er aber keinen Zweifel daran, dass die neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen waren, um das Leben der Menschen zu erleichtern. Der Nutzen (oder Schaden) war objektiv feststellbar und musste freilich auch geprüft werden. Nur so konnte sichergestellt werden, dass der ganze Fortschritt in technischen Dingen auch tatsächlich dem Gemeinwohl der Menschheit diente. In einer programmatischen Rede Ob es noch besser auf Erden werden könne als es jetzt ist drückt er seine Hoffnungen auf Fortschritt durch angewandte Technik einmal deutlich aus: Ich hoffe es, daß uns die Zeit auch Mittel lehren wird, um jene große Anzahl von Menschen, die jetzt theils müßig gehen, theils sich mit unnützen oder gar schädlichen Dingen beschäftigen, in eine gemeinnützige Thätigkeit zu versetzen, ich hoffe es theils durch diesen Umstand, theils durch die Erfindung von Maschinen, welche den Menschen die Arbeit erleichtern, auch für die unterste Klasse des Volkes Zeit genug übrig bleiben wird, um auch die Ausbildung ihres Geistes zu betreiben. Ich hoffe, daß durch diese Art ein höherer Grad von Aufklärung der Antheil aller Menschen werde, und daß durch ihn zugleich eine Menge von Vortheilen, welche wir jetzt noch begehren, für die Zukunft wegfallen wird. Ich hoffe, daß uns ein angestrengteres Nachdenken leiten wird, zu glücklicher Entdeckung solcher Verfassungen im Staate, welche den Mißbräuchen nicht mehr so sehr wie die vorhandenen ausgesetzt sind, Verfassungen, bey welchen das Ungeheuer des Krieges sein wildes Schlangenhaupt nicht mehr empor heben wird. (1817.1: 36f.)

Als es den begabten Physiker Christian Doppler (1803–1853) auf der Suche nach einer Anstellung aus Salzburg nach Prag verschlug, waren es Bolzano und Franz Exner (1802–1853), welche die außerordentliche Bedeutung von Dopplers Denkweise und seiner Ergebnisse erkannten (Schuster 1992; Forcher/Schuster 2011). Salzburg war bis zu den Napoleonischen Überfällen und Plünderungen (1800, 1805, 1809) ein unabhängiges, wohlhabendes und der Aufklärung zugeneigtes Erzbistum gewesen, mit einer weithin bekannten aufgeklärt-kritischen Benediktineruniversität. Von hier aus wurde Aufklärung publizistisch verbreitet. Hier erschien die berühmte Salzburger Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung, das Flaggschiff der Reichskirchlichen Aufklärung

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(Krenz 2016:147ff.). An der Benediktineruniversität wurde schon seit 1740 Experimentalphysik als Lehrfach unterrichtet. 1803 wurde das Erzbistum auf Anordnung Napoleons säkularisiert, verlor seine Unabhängigkeit, viele seiner territorialen Besitzungen, und im Jahr 1811 erhielt Bayern, das auf der Seite Napoleons stand, aus dessen Hand Land und Stadt Salzburg. Diese Herrschaft dauerte sechs Jahre. In dieser Zeit wurde die Benediktineruniversität, die berühmte Bannerträgerin katholischer Aufklärung, geschlossen. – Salzburg ist ein deutlicher Beispielfall für die verheerende Wirkung der Folgen der Französischen Revolution auf das aufgeklärte Geistesleben Mitteleuropas. Das geplünderte und beraubte ehemalige Erzbistum war nach den napoleonischen Wirren kein Ort mehr für große Geister. Christian Doppler wollte, auf der Suche nach einer Stelle, in seiner Verzweiflung eigentlich schon in die Vereinigten Staaten auswandern, hatte aber im letzten Moment noch ein Angebot aus Prag erhalten. Er nahm es an, weil es, wie er betont, seinem patriotischen Sinn entgegenkam, im eigenen Land zu bleiben und diesem zu dienen. Am Prager Polytechnischen Institut fand Doppler im März 1841 als Professor für Praktische Geometrie und Physik eine angemessene Stelle. Bernard Bolzano, seit dem Feber 1815 ordentliches Mitglied der 1774 als Prager Gelehrten Gesellschaft gegründeten Königlich-Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, förderte den jungen Mann. Christian Doppler versuchte durch experimentelle Untersuchungen einen wissenschaftlich haltbaren Atombegriff zu finden und begann damit, die beiden Begriffe ,Atom‘ und ,Molekül‘ erst einmal klar zu trennen. Bolzano war von Dopplers Vorgangsweise begeistert – „es ist unglaublich, was für ein fruchtbares Genie Österreich an diesem Manne besitzt“ (Bolzano an Fesl: 17.2.1846: 373) – und trug tatkräftig zur Verbreitung und Anerkennung der Lehren Dopplers bei. Im Jahr 1837 gelang es ihm, eine Arbeit Dopplers zur analytischen Geometrie gegen den Widerstand seiner Kollegen in den Abhandlungen der Königlich-Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zum Druck zu bringen. Im Jahre 1840 wurde er auf Vorschlag Bolzanos zum Außerordentlichen Mitglied der Gesellschaft ernannt und 1842 trug Doppler dann in der naturwissenschaftlichen Sektion der Königlich-Böhmischen Gesellschaft vor Bolzano und fünf weiteren Hörern seine Erkenntnisse „über die merkwürdige Erscheinung des farbigen Lichtes der Doppelsterne und einiger anderer Gestirne des Himmels“ vor, also seine wissenschaftliche Großleistung, die Entdeckung des sogenannten ,DopplerEffektes‘. Die Arbeit wurde 1842 dann bei Borrosch und André in Prag gedruckt. Bolzano beschäftigte sich damit in seiner Schrift von 1843: Ein paar Bemerkungen über die neue Theorie in Herrn Professor Christian Doppler’s Schrift: ‚Uiber das farbige Licht der Doppelsterne und einiger anderer Gestirne des Himmels‘ (Bolzano

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1843). Darin verteidigte Bernard Bolzano dieses Prinzip gegen verschiedene Einwände, die durchwegs aus mangelhaftem Kenntnisstand hervorgegangen waren. Bolzano ging dabei über Dopplers Arbeiten hinaus in seinen mathematischen Ausführungen. Er diskutierte auch die Möglichkeit Dopplerscher Frequenzverschiebung transversaler Schwingungen bei Transversalbewegungen der Quelle; eine Frage die erst mit der Speziellen Relativitätstheorie geklärt werden konnte (Berg 2003: 149)! Die vollständige Anerkennung dieses Prinzips in Physik und Astronomie sollte durch Ernst Mach, 1867 bis 1895 Professor der Physik an der deutschsprachigen Karls-Universität in Prag und Mitglied der Königlich-Böhmischen Akademie, erfolgen. In den Abhandlungen der Königlich-Böhmischen Gesellschaft von 1842 bis 1848, also unter den Auspizien Bolzanos, erschienen Dopplers grundlegende Arbeiten. Bolzano veröffentlichte im Jahre 1847 eine zweite Arbeit in den Annalen der Physik und Chemie, worin er Dopplers Arbeiten von 1842 bis 1847 kommentierte (1847a). Das von Christian Doppler entdeckte wellentheoretische Prinzip, zur Zeit Bolzanos noch mehrheitlich angefeindet, ist mit seinen vielfältigen praktischen Anwendungen, von der Medizin bis zur Raumfahrt, ein besonders deutlicher Fall der nützlichen Umsetzung mathematisch-physikalischer Erkenntnisse im Sinne Bernard Bolzanos. Christian Doppler ging 1848 an die Wiener Universität, wo er unter anderem Gregor Mendel (1822–1884), den Begründer der modernen Genetik, in experimenteller Physik unterrichtete. Josef Ludvík František Ressel (1793–1857), um noch einen böhmischen Erfinder zu nennen, führte als Forstbeamter führte er das Prinzip der Nachhaltigkeit bei der Wiederbepflanzung des Karstes um Triest, in Istrien und der dalmatischen Inselwelt ein. Er dachte in Jahrhunderten, wenn er zunächst eine Föhrenart, den pinus nerus austriacus, zur Stabilisierung des durch rücksichtslose Rodung in früheren Zeiten arg geschädigten Karstbodens anpflanze, um später Eichen, Buchen und andere wertvolle Hölzer anpflanzen zu können. Dazu sollte es allerdings nicht mehr kommen. Als Erfinder war er rastlos tätig, erfand praktische Dinge wie Kugellager, Rohrpost oder Heizmittel für Dampfmaschinen. In all diesen Fällen war sein genialer Erfindungsgeist dem Gemeinwohl gewidmet, dem er das persönliche völlig unterordnete. Als Ressel, der in ärmlichen Verhältnissen und unfreiwillig unstet lebte, auf einer Dienstreise von Triest nach Laibach schwer an Typhus erkrankte, kritzelte er sterbend noch auf die ärztliche Vorschreibung, man möge auf die Prioritätsrechte bei seiner Erfindung der Schiffsschraube nicht vergessen, denn er habe eine arme Witwe und mehrere Kinder zu versorgen… Der Steyrer Erfinder Josef Werndl (1831–1889) bot Kaiser Franz Joseph sein Hinterladergewehr mit dem bahnbrechenden ‚Tabernakelverschluss‘

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an. Der Kaiser lehnte, seiner allgemeinen Skepsis gegenüber technischen Neuerungen folgend, Werndls Erfindung ab. Josef Werndl war als Erfinder durchaus dem Gemeinwohl verpflichtet gewesen, trug zur Entwicklung der Elektrizität aus Wasserkraft bei und sorgte vorbildlich für die Arbeiter in seiner Fabrik. Nun ist ein Gewehr aber grundsätzlich kein Gewinn für das Gemeinwohl. Doch als der preußische Kanzler Otto Bismarck (1815–1889) Österreich in seinem Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland aus dem Feld schlagen wollte und für Kaiser Franz Joseph den Krieg praktisch unausweichlich machte, da trug diese Entscheidung Franz Josephs zur Niederlage bei Königgrätz (1866) bei. Genauer betrachtet war es aber eben nicht die (mäßige) Fortschrittsskepsis des Kaisers, sondern die österreichische Spar- und Friedenspolitik, die das alte Reich den nationalistischen Gegnern zur leichten Beute werden ließ (Aumüller 2004): Während Preußen aufgerüstet hatte, hatte Österreich abgerüstet. Es war den aufstrebenden Nationalstaaten von Italien (1859) und Preußen (1866) gelungen, das alte Reich zu Kriegen zu zwingen, für die es weder bereit noch gerüstet war. – Die angedeuteten Beispiele sollen zeigen, daß die gern behauptete Rückständigkeit der mitteleuropäischen-katholischen Welt in Sachen Wirtschaft und Wissenschaft einer Überprüfung der Tatsachen keineswegs standhält. Allerdings war man bei der ‚Verwertung‘ der Ergebnisse nicht besonders geschäftstüchtig. Die Soziologen Nicolaus Sombart (1863–1941) und Max Weber haben aufgezeigt: Es gibt auffallende Kongruenzen zwischen Protestantismus und Kapitalismus. In seiner Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von 1904/5 erklärt Weber eine ‚Wahlverwandtschaft‘ zwischen Protestantismus und Kapitalismus und zeigt auf, dass das nüchterne Ethos des Protestantismus mit modernem Kapitalismus und ebensolchem Unternehmertum wesentlich besser vereinbar ist als der katholische Glaube. Wenn dann noch eine Prädestinationslehre hinzutritt, wie das bei Calvin und anderen Reformern der Fall ist; eine Theorie, die den Reichtum für Gottes Lohn erklärt, dann ist der Weg zum unbegrenzten globalen marketing vorgezeichnet. Hermann Broch sieht im protestantischen Glauben den herrschenden modernen schlechthin, und er fügt hinzu, dass Kants Denkweise sie exekutiere: Der protestantische Gedanke: der kategorische Imperativ der Pflicht. Der ganze Gegensatz zum Katholizismus: die äußeren Lebenswerte werden nicht in den Glauben einbezogen, werden nicht theologisch kanonisiert, sondern sie werden bloß anhand der Schrift streng und fast nüchtern überwacht. (KWA 1, 579f.)

Rückständigkeit in Sachen Ingenieurskunst oder Wissenschaft kann dem Habsburgerreich also keineswegs nachgesagt werden. Die Fakten ergeben ein geradezu gegenteiliges Bild. ,Fortschritt‘ bedeutet aber in der mitteleu-

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ropäisch-katholischen Aufklärung keine absolute Größe, sondern eine überprüfbare, also nicht nur den Einsatz wissenschaftlich-technischer Methoden, sondern er findet aus altösterreichischer Sicht nur dort statt, wo dieser Einsatz das Wohl des Ganzen tatsächlich und erwiesenermaßen befördert. – Die Unvollkommenheit der Welt hatte Leibniz noch im endlichen Wesen der Natur begründet gesehen. Bolzano sah sie in der Unvollkommenheit des Menschen begründet – die so lange währen musste, als Menschen die Aufgabe des Geistes nicht begriffen und sich, wie jetzt, nach dem Fortschritts-Ideal ausrichteten und darüber das menschlich-konkrete Fortschreiten vergaßen und Gefahr liefen, den Geist selbst aufzugeben. Aus der Sicht der herrschenden Aufklärer in den begehrlich aufstrebenden Nationalstaaten nahm sich freilich die vielfältige, bunte, nicht übertrieben geschäftige und vielgestaltige katholisch-mitteleuropäische Welt geradezu als Muster an Rückständigkeit aus. Der Fortschritt Mitteleuropas, wie ihn Bolzano und andere verstehen, führt praktisch in die entgegengesetzte Richtung als jene der modernen Nationalstaaten.

,Heimat‘ Die Begriffe ,Heimat‘ und ,Vaterland‘ dienten noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vornehmlich amtlichen und rechtlichen Zwecken wie der Bestimmung von Wohnsitz, Besitz und Erbgut. Von diesem alltagssprachlichen Gebrauch ausgehend entkoppelte Bolzano aber er die Begriffe bewusst von alten Bestimmungen, vor allem von den Besitzverhältnissen, wobei er die Bedeutung von Besitz allgemein herabminderte und von einem Naturrecht auf ein menschenwürdiges Leben ausging. Diese Entkoppelung war wichtig; denn immerhin galt in den meisten europäischen Ländern noch die Festlegung, dass einem Besitzlosen das Heimatrecht verwehrt war. Dies nicht zuletzt, weil das die spärlichen öffentlichen Einrichtungen im Falle von Bedürftigkeit oft vor große Probleme gestellt hätte, weshalb Bolzano auch die Schaffung sozialer Einrichtungen als wichtig erkannte und mit allen Kräften vorantrieb. Es war Besitzlosen bisher auch nicht erlaubt, eine Ehe einzugehen und damit eine Familie zu gründen, was Bolzano schärfstens ablehnte, weil es häufig in ein dramatisch aussichtsloses Leben führte (dazu 1812.36–38). Bolzanos Begriff von Heimat und Vaterland bezeichnet zunächst den Ort und die Gesellschaft, dem der Einzelne aufgewachsen ist und denen er grundlegende Leistungen wie Schutz und Bildung verdankt (1810.18, vgl. auch 1816.41–43; 1806.45; dazu Loužil 1983/84). Indem er den Wert einer

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Person so von herrschenden Besitzverhältnissen löst, trägt er der Vorstellung von der „wesentlichen Gleichheit aller Menschen“ Rechnung. Diese schließt, recht verstanden, ungerechte Verteilung von Besitz und Vermögen aus. Eben darin sieht er die Ursache aller sozialen Konflikte. In einer bald weithin bekannten Rede Über die Vaterlandsliebe bestimmt er den Begriff von Heimat: Nach unserer Vorstellung hat sich ein jeder Mensch das Land der Erde als sein Vaterland zu denken, von welchem er bisher die meisten Wohlthaten empfangen hat und dem er gegenseitig auch die meisten Dienste zu leisten sich im Stande fühlt. (1810.18: 205)

Tiefe Dankbarkeit bindet Bernard Bolzano an sein Heimatland. Sein ,Landespatriotismus‘ pocht nicht mehr, wie der ursprüngliche historische, auf die Rechte der Stände, sondern auf die natürlichen Rechte der gesamten Landesbevölkerung. Sein Patriotismus erhält so eine demokratische Gestalt (Höhne 2003: 628). Das Bohemismuskonzept war immer von der geschichtlichen Einheit Böhmens, als eines Volkes mit zwei Sprachnationen, ausgegangen. Bolzano ruft jetzt dazu auf, diese gegebene Einheit durch Bildung und gegenseitiges Kennenlernen zu verwirklichen. Dafür tritt er in seinen berühmten Reden zum Thema ein und leugnet dabei nicht die Wunde der Kulturvernichtung nach der Schlacht am Weißen Berg, spricht sie vielmehr bewusst an. Die „wesentliche Gleichheit aller Menschen“ stand für ihn immer außer Frage, und erst recht die Gleichberechtigung ganzer Bevölkerungsgruppen. Dass aber an der wirklichen Gleichberechtigung der beiden Gruppen innerhalb Böhmens noch tatkräftig zu arbeiten sei, war ihm deutlich bewusst, das war wesentlicher Teil des Programmes seines Bohemismus (Loužil 2000). Sein versöhnlicher Aufruf in der Rede Über das Verhältniß der beiden Volksstämme in Böhmen (1816.41–43) war eindeutig zuerst an die Deutschsprachigen, also seine eigene Bevölkerungsgruppe, gerichtet: Sie hatte den größeren Handlungsbedarf. Die Frage der Umgangssprache wurde jetzt kräftig aufgeheizt. Bolzano selbst sprach auch Tschechisch; die Sprache spielte in seinem urbanen und gelehrten Umkreis aber keine große Rolle. Deutlich war auch sein Aufruf zur Gleichbehandlung des jüdischen Bevölkerungsteiles (1809.15; Demetz 2011). Das alles und mehr waren Bedingungen zur Rettung seines Vaterlandes. Die Umsetzung der wesentlichen Gleichheit aller Menschen in seinem Vaterland war noch Wunsch, Projekt. Die Rettung des Vaterlandes war für Bolzano keine nationale Angelegenheit, auch keine politische im modernen Sinn, sondern eine allgemein menschliche. Dankbarkeit ist die emotionale Grundlage seines Patriotismus. Von Stolz ist hier keine Rede. Der Begriff ,Vaterlandsliebe‘ bezeichnet in der alteuropäischen Kultur kein Gefühl, sondern etwas Konkretes, das sich an Taten und Leistungen wie Erziehungsvorsorge, Bildungseinrichtungen, Schaffung von Gemeingut,

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Gerechtigkeit, Schutz Schwächerer, Kranker, messen ließ. Joseph von Sonnenfels sieht das positive Heimatgefühl nicht als etwas Willkürliches, sondern es entspringt aus konkreten, positiven Erfahrungen, die zu Überzeugungen werden (vgl. Wangermann 1988, 158). Das beste Vaterland ist ein sozial gerechtes, so Bolzano. Es verhindert, dass Menschen bestechlich, betrügerisch, entseelt werden und keine Kraft mehr zur Selbstachtung und zur wirklichen Vaterlandsliebe aufbringen. Seine Utopie (BS) baut auf einem dazu bestens eingerichteten Staat. Bolzanos Heimatbegriff beruht auf Dankbarkeit der Heimat gegenüber. Auch das war imitatio Christi, im neuen Verständnis einer ,wahren Aufklärung‘ der Menschheit: Nächst Eltern war es das Vaterland, dem [Jesus] das Meiste schuldig zu seyn erkannte, so oft er die Umstände seiner Geburt und seines früheren Lebens überhaupt erwog. Unter dem Vaterland, von dem ich hier spreche, verstehe ich keineswegs die zu Judäa jetzt eben herrschend gewordene Landesregierung, die von den Römern eingesetzt war, und wie es allgemein bekannt ist, kaum einen anderen Zweck als den der Gelderpressungen hatte. Nicht dieses hat sich Verdienste um unseren Herrn erworben, wohl aber das Volk der Juden selbst, und all das Große und Edle, so dieses Volk seit Anbeginn bis auf die Zeit des Herrn zu Stande gebracht hatte … (1816.8: 95)

,Besitz‘ Der von Bolzano angestrebte Bedeutungswandel des Begriffes ,Besitz‘ ist radikal. Er besteht einerseits in einer Lösung von materiellen Bezügen, andererseits in der Dynamisierung des Begriffs. Besitz im statischen Sinn, materiell wie geistig, ist in der bewegten Welt des Bernard Bolzano eher ein Hindernis: Für ihn gelten grundsätzlich die ethischen Ansichten über ökonomisches Handeln, wie sie auch in den Soziallehren der christlichen Kirche festgelegt werden und in den Gebräuchen und Gesetzen des vorkapitalistischen Abendlandes auch durchaus schon zuweilen zum Ausdruck kamen (Fromm 1941: 248f.; Tawney 1926). Demnach liegt der Wert materiellen Besitzes in der Ermöglichung und Sicherstellung eines anständigen Lebens, welches dem Menschen erst die Freiheit der geistigen Weiterentwicklung eröffnet. Wie es schon im decretum Gratiani (ca. 1140) einer bemerkenswerten scholastischen Zusammenführung einander widersprechender Regeln (concordia discordantium canonum) festgeschrieben war, so sollte es weitergeführt werden: Die Güter der Erde werden dabei grundsätzlich als Gemeingut verstanden. Privatbesitz wird so gesehen, wie schon in der Antike, als unbedeutend und unwesentlich für die Glücksökonomie verstanden.

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Von ,Besitz‘ und ,Eigentum‘ (1809.43–44; SphS, 152f; BS X) spricht Bolzano in den Fällen, wo dem Besitzer das Recht zusteht, ein Gut nach eigenem Gutdünken zu verwenden. Materielle Besitzverhältnisse sollten aus seiner Sicht grundsätzlich keine großen Unterschiede zwischen Menschen aufreißen. Alles, was jemand über sein Auskommen hinaus seinen Besitz nannte, war aus Bolzanos Sicht ein der Allgemeinheit enteigneter Besitz. Die Regeln, nach denen Güter zu verwenden sind, haben dem Obersten Sittengesetz zu folgen: Eigentum jeder Art wäre demnach nur zum Zwecke der Beförderung des allgemeinen Wohles gerechtfertigt. Für übermäßigen Reichtum – er verstand darunter das Vielfache dessen, was für ein Leben und Fortkommen in Würde nötig war –, konnte es aus seiner Sicht keine wie immer geartete Rechtfertigung geben. Er machte deutlich, dass an übermäßigem Eigentum immer das Blut derjenigen klebe, denen, als Folge deren Reichtums, das Nötige zum Leben und Fortkommen fehle. Es ging ihm dabei nicht um Abschaffung von Eigentum und Besitz, sondern um ein gerechtes, ein universalisierbares, dem Gemeinwohl zuträgliches Maß an Gütern, das eine freie Entwicklung ermöglichte (1818.33–34). Am Ende des Mittelalters waren es das Aufkommen des Kapitals und die Geldwirtschaft, welche den Menschen aus feudalistischer Bevormundung befreit und sogar noch den Merkantilismus und Absolutismus ansatzweise überwunden haben. – Aber wer schränkt seinen Besitz freiwillig und mit Bedacht so ein, dass für alle, und erst recht auch die Späteren, genug bleibt? Es gibt kaum jemanden, der die durch übermäßigen Besitz allein schon verratene Wahrheit-an-sich von der ,wesentlichen Gleichheit aller Menschen‘ leugnet und behauptet, er sei mehr wert als tausend andere, ihm stehe tausendfacher Besitz zu, so Bolzano; aber es gibt noch weniger Menschen, die diese Wahrheit-an-sich einer gerechten Verteilung auch tatsächlich wahrnehmen und ihr Leben danach richten. An sich ist materieller Besitz nichts Schlechtes, so Bolzano, er ist vielmehr wichtig für den Menschen: Der ,Trieb nach Eigentum‘ ist es, der es ihm erst ermöglicht, Freiheit in Maßen auszuüben (1809.43–44). Deshalb soll er aus seiner Sicht auch im besten Staat nicht gänzlich abgeschafft werden. Besitz ist so gesehen immer ein Sein, und nur in geringem Maß ein Haben; durchaus in dem Sinn, wie es Erich Fromm später darstellt (Fromm 1976): Materieller Besitz ist nicht etwa deswegen von geringer Bedeutung, weil es im Grund um das ewige Leben des Menschen ginge, sondern deswegen, weil es um ein sozial gerechtes Leben aller Menschen auf Erden geht, so Bolzano. Max Scheler erklärt, dass auch das Wissen grundsätzlich keinen Besitz und auch kein Beherrschen bedeuten kann, sondern letztlich ein Seinsverhältnis ist: Wissen zu besitzen oder diesen Besitz jemandem zu verschaffen, war für

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Bolzano nicht selbst Ziel. Es ging ihm offensichtlich nie um ein Haben, sondern um ein Sein. – Mehr noch, das Ziel ist „ein Werden, ein Anderswerden“, so Scheler: Die objektive Rangordnung der Ziele geht vom Herrschaftswissen zum Bildungswissen, an dem wir in unserer einmaligen Individualität teilhaben, und schließlich zum Erlösungswissen. Dieses „kann nur ein Wissen um Dasein sein, um Dasein, Wesen und Wert des absolut Realen in allen Dingen, das heißt: metaphysisches Wissen“. – „Denn alles Wissen ist in letzter Linie Wissen von der Gottheit und für die Gottheit“, so Scheler (1976: 118, 119). Der Prager Dichter Franz Kafka (1883–1924) bringt einmal den Gedanken so zuende: „Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein.“ (Kafka OO 7: 84/87) 2011).

,Mut‘ Dass diese Tugend bisher meist mit dem Soldatenstand verbunden wurde, sah Bolzano als Folge einer moralisch noch rückständigen Welt, und damit verbunden einer Geschichtsbetrachtung, die den „Unterschied zwischen wahrer und scheinbarer Größe“ verkannte und die Geschichte als Kette von Kriegen und Siegen auffasste: … Sie sehen es von selbst, meine Freunde, in einem ganz anderen Geiste, als es bisher geschehen ist, muß die Geschichte der Menschheit in Zukunft aufgefaßt werden. Das Meiste, was man bisher bewundert hatte, muß man in Zukunft nur um des strengsten Tadels erzählen … (1813.33–34: 330f.)

Bolzano setzte dem herrschenden Vorurteil die Definition des wahren Mutes entgegen. Dies geschah in einer eigenen Abhandlung Uiber den Muth vom 25. Februar 1810 (BGA 2A17/1; ER1813 – BGA 1,2; Strasser 2008a). Sie beginnt: Es ist ein sehr verbreitetes Vorurtheil, meine Freunde, daß man in keinem andern Lebensstande so viel Gelegenheit habe, Muth und Tapferkeit zu beweisen, als in dem Stande, dem die Vertheidigung des Vaterlandes obliegt … (1810.22: 248)

Dass das Hinscheiden für das Vaterland ein „süßes“ sein müsse (1810.22: 253; Horaz, Carmina 3,2,13 Dulce et decorum est pro patria mori), war ein verbreiteter Topos, aber doch nur eine Art Vorurteil. Es bedurfte einer Klärung der Begriffe, die man sich über die Vorgänge machte: Denn bey sehr Vielen ist es schon in dem Begriffe selbst gefehlt, den sie vom Muthe sich bilden, und eben deshalb haben sie auch keinen bestimmten Maßstab für denselben, und können nicht beurtheilen, bey welchen Gelegenheiten er so recht an den Tag gelegt werden könne oder nicht; am allerwenigsten endlich wissen sie, welche Erfordernisse zum echten

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Muthe gehören, und welche Beförderungsmittel desselben es gibt. Soll ich denn dieser Unwissenheit geduldig zusehn, meine Freunde? Ist es nicht meine Pflicht, hierüber richtige Begriffe bey Ihnen auszubreiten? (252)

Bolzanos Definition: Nur der, behaupte ich, besitzet echten Muth, der sich mit voller Besonnenheit zu einem Schritte zu entschließen vermag, der ihn bedeutenden Gefahren oder Leiden aussetzt, und wenn diese eingebrochen sind, nicht gleich bereuet, den Schritt gethan zu haben. (254)

Der echte Mut – Bolzano nennt ihn auch den „hohen Muth“, womit er auf den hôhen muot, eine Art Hochgestimmtheit, wie sie aus dem mittelalterlichen höfischen Wertekanon bekannt ist, zurückgreift – setzt voraus: 1. freiwilliges Handeln, 2. deutliches Bewusstsein der zu erwartenden Folgen und Gefahren, 3. dieses Handeln auch aufgrund eintretender schlimmer Folgen nicht zu bereuen. Der moralische Wert des Mutes hängt ab vom Beweggrund, der die Mutigen antreibt; seine Stärke hat mit der der Größe und Dauer der zu erwartenden Schwierigkeiten und Nachteile zu tun, sowie mit der Besonnenheit, mit welcher die Leiden eines Misserfolges getragen werden. Die höchste Form von Mut zeige sich, so Bolzano, am Beispiel Jesu, der nach dem Letzten Abendmahl den Gang zum Kreuz antritt; genau wissend, was ihn erwarte. Dieser wahre Mut sei aber nicht Legende, sondern im gewöhnlichen bürgerlichen Leben durchaus auch anzutreffen; es bedürfe dazu nicht der Ausnahmesituation des Schlachtfeldes: In den Berufsständen, die seine Hörer anstrebten, war mutiges Verhalten im Dienste des Vaterlandes angebracht: Ärzte brauchten ihn, wenn sie sich aufopfernd um die Gesundheit auch der Ärmsten bemühten [Bolzanos geliebter Bruder Peter ist als junger Arzt in solcher Tätigkeit infolge Ansteckung gestorben], Richter brauchten ihn, wenn sie für die Rechte der Armen kämpften; Seelsorger brauchten ihn, wenn sie sich um jede einzelne Seele bemühten, mehr als um ihr eigenes Wohl; Lehrer brauchten ihn, wenn sie jungen Leuten eine andere Welt eröffnen als jene traurige, ungerechte, in die sie hineingeboren wurden. Damit sprach er seine Schüler direkt an, mit deutlichem Aufforderungscharakter: Ihr endlich, die nicht der Staat allein, nein, die Gott selbst durch seine außerordentlichen Gaben beruft, Lehrer und Aufklärer des menschlichen Geschlechts zu werden! o, welche herrliche Gelegenheiten werden nicht euch sich darbieten, der ganzen Welt zu zeigen, daß euer Muth nicht geringer, als euere Weisheit sey! Der rechten Aufklärung nehmlich stemmt man sich jederzeit entgegen; die reine Wahrheit findet in allen Ländern ihre Hasser. Euere erhabene, heilige Pflicht wird es seyn, jede gemeinnützige Wahrheit auf Erden auszubrei-

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ten. Man wird es euch verbiethen wollen; ihr aber werdet muthvoll erwiedern müssen, was jene heiligen Apostel einst erwiederten: „Man muß Gott mehr, denn Menschen gehorchen!“ [Apg 5,29] Und sollt’ es sich fügen, daß man euch, wie jene ersten Verkündiger des Evangeliums, um eurer Grundsätze wegen zu tödten drohete; doch sollt ihr keinen Finger breit von Gottes Lehre weichen, sollt euch vielmehr mit herzlicher Freude freuen, daß Gott euch würdiget, um seines Nahmens Willen, das heißt, für Wahrheit und Tugend, zu bluten und zu sterben! Brauche ich es jetzt noch zu beweisen, meine Freunde, daß der Stand des Soldaten nicht der einzige sey, in dem man Muth zeigen könne? (268)

Bolzano benutzt sein Amt nicht, um gegen einen äußeren Gegner aufzutreten, sondern gegen Gewalt und Krieg selbst. – Es nimmt heute Wunder, dass diese scharfe pazifistische Aktion Bolzanos in Kriegszeiten im bedrängten Habsburgerreich keinerlei Sanktionen nach sich gezogen hat. – Bolzano war jedenfalls mutig: Mut ist gewissermaßen die (Be-)Währung des wahren Aufklärers. – „Man könnte Gedanken Preise anheften […] Und womit zahlt man für Gedanken? Ich glaube: mit Mut,“ so Ludwig Wittgenstein (1994: 105).

,Liberté, Égalité, Fraternité‘ Diese Begriffe – Leitbegriffe der Freimaurerbewegung und nachträglich zum Motto der Französischen Revolution ausgerufen – sind für Bolzano von größter Bedeutung. In seinen Reden Von aller Menschen wesentlicher Gleichheit (1810.33f.) heißt es: Thöricht also, höchst thöricht wäre es, wenn wir auf jene völlige Freiheit und Gleichheit drängen, welche gewisse unsinnige Schwärmer vor etlichen Jahrzehenden in allen bürgerlichen Gesellschaften eingeführt wissen wollten. Sie haben Blutes genug vergossen, um zu erfahren, daß das ein Traumbild sei, wornach sie rangen. (1810.34: 388; Von den Unterschieden, die es doch gleichwohl gibt)

Für Bolzano sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder Geschwisterlichkeit weder leere Floskeln noch Gottesgaben: sondern Aufgaben, erst einzusehende und umzusetzende Wahrheiten. Freiheit ist für Bolzano kein überschwängliches Gefühl, alles tun zu können und keine Rücksichten nehmen zu müssen; sie hat mit laisser faire nichts zu tun. Freiheit ist in Bolzanos Gebrauch (1) ein Privileg der species Mensch und (2) erstreckt sich letztlich „nur auf die Wahl von zwey Handlungsweisen“ in einer bestimmten Situation. Es gibt schicksalhafte Entscheidungen im Leben jedes Einzelnen, und auch im Leben von Völkern und Staaten; gewisse Augenblicke,

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in welchen der Mensch durch sein so oder anders eingerichtetes Betragen über das Wohl oder Weh seines ganzen künftigen Lebens, ja oft zugleich über das Glück oder Unglück ganzer mit ihm verbundener Familien und wohl gar Völker entscheide. (1818.1, 26)

Bolzano bereitete seine Schüler in den Erbauungsstunden und im Unterricht darauf vor, in ihrem Leben vor weitreichende Entscheidungsfragen gestellt zu werden, solche, die mit Freiheit und Gleichheit und Menschlichkeit wesentlich zu tun hatten. Wenn es so weit war, müssten sie frei entscheiden.

,Gleichheit‘ und ,Brüderlichkeit‘ Die Vorstellung Von aller Menschen wesentlicher Gleichheit (1810.33. Dazu RW 3, §§ 172–176) ist in Bolzanos Wahrheitstheorie als Wahrheit-an-sich verankert; als unbestreitbare, objektive apriorische Wahrheit. Im ersten Teil seiner theoretischen Ausführungen dazu geht er auf eine merkwürdige psychologische Begleiterscheinung ein: Dass diese offensichtliche Wahrheit-an-sich kaum je geleugnet, aber doch selten einmal mit deutlichem Bewusstsein der Folgewahrheiten gedacht werde: Die Wahrheit von aller Menschen wesentlicher Gleichheit gehört unter die merkwürdige Klasse derjenigen Wahrheiten, die zwar beinahe von keinem Menschen ausdrücklich und dem Buchstaben nach geläugnet, nach ihrem wahren vollständigen Sinne gleichwohl nur von den Wenigsten erkannt und angenommen werden. (1810.33: 372)

Die Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Mensch ist so stark, dass sie biologisch zu einer species zusammengefasst werden müssen, so Bolzano (1810.33: 373). – Das Wort ,gleich‘ besagt dem allgemeinen Sprachgebrauch gemäß mehr als ,ähnlich‘ und weniger als ,einerlei‘ [dasselbe] (Bolzano bestimmt solche Verhältnisse grundsätzlich in seiner Elementargeometrie). – Diese Klarheit setzt er auch in der Alltagssprache voraus und ein; er arbeitet damit: Wenn er über die Quellen der Mißbräuche in der menschlichen Gesellschaft spricht (1813.10– 11), dann kamen unvermittelt brennende soziale Fragen zur Sprache, und mit ihnen gängige Verhaltensnormen, aufgrund derer sich soziales Unrecht über die Zeiten hinweg erhält. Macht man sich das nicht bewusst, kann sich daran kaum etwas ändern, So gibt man denn jedes fernere Nachdenken auf und fügt sich geduldig in eine Unvollkommenheit, die man für wesentlich ansieht. Von dieser Art, um nur ein Beispiel zu berühren, ist jener fürchterliche Mißbrauch, der in der Ungleichheit des Eigenthumes liegt. Welcher vernünftige Mensch sieht es nicht ein, daß jene unverhältnißmäßige Vertheilung

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der Glücksgüter, die bis zur Stunde noch in allen Staaten herrscht, ein überaus großes Übel und die fruchtbare Mutter unzähliger anderer sei? (1813.10: 118)

Das klingt nach virtuellem Kommunismus, hat aber mit Klassendenken, wie es in diesen Zeiten aufkommt und mit Klassenkategorien verbunden wird, nichts zu tun. Es ist vielmehr aus der christlichen Vorstellung von der natürlichen Würde des Menschen heraus gedacht. Bolzano macht deutlich, wie vielfältig verflochten die verschiedenen Formen von Unrecht sind, und er lässt erkennen, dass gleichsam der ganze Knoten entwirrt werden musste, nicht etwa nur ein einzelner, hervorstehender Strang – und dies, auch (und gerade) dann, wenn „argwöhnische Staatsverfassungen“ dem entgegenstehen sollten (1813.10f., 122, 132). Um 1813 etwa beginnen staatskritische Bemerkungen dieser Art in Bolzanos Erbauungsreden aufzutauchen. Wie ,Freiheit‘, so war auch ,Gleichheit‘ in diesen Zeiten zum politischen Kampfbegriff geworden, in einem Kampf sozialer Unterschichten gegen ihre Unterdrücker. Bolzanos Eintreten für dieses gerechte Anliegen verlangte jetzt zugleich den Kampf gegen flache ideologische Wahrheiten von Gleichmacherei und Konformität, der mit vereinfachenden Schlagworten ausgefochten wurde. Er machte dabei auch auf den Umstand aufmerksam, dass dieser Kampfbegriff stets von den Aufsteigenden und nicht von den Aufgestiegenen eingesetzt wurde. Einige Wenige hatten auf das zertrümmerte Glück von Millionen ihr eigenes, nicht etwa wahres, nein, nur bloß scheinbares Glück gegründet. Diese Wenigen hatten das Eigenthum vor allen übrigen an sich gerissen, die ganze Welt mußte aus elenden Bettlern und Sklaven bestehen, damit nur jene Etlichen sich reich und frei dünken könnten, ob sie gleich in der That die ärmsten und elendsten all ihrer Sklaven wurden. Diese Verruchten verschwelgten an Einer von Ihren Tod und Verderben bringenden Tafeln, was etwa hingereicht hätte, um dafür Tausenden eine gesunde Nahrung und eine naturgemäße Lust der Sinne zu verschaffen. Verschwelgten, sage ich, und wollten Ehre noch von ihrer Schandthat haben und zwangen die Bestohlenen sie zu vergöttern und ihnen Altäre zu erbauen. (1810.33: 369)

Das Christentum, so Bolzano weiter, widersetze sich derlei „verjährtem Missbrauch“; aber nicht mit Gewalt: Es habe die bürgerlichen Ordnungen nie grundsätzlich in Frage gestellt, sondern diesem herrschenden Missbrauch eine damals unerhörte, objektive Wahrheit entgegengesetzt: daß alle Menschen dieser Erde, von welchem Volke sie auch abstammen, weß Glaubens sie seien, zu welchem Stande sie gehören, zu welcher Lebensart sie auch gezwungen sein möchten, dennoch in allen wesentlichen Stücken einander gleich zu achten seien; daß alle Menschen, was auch für Rangordnungen und Unterschiede List und Gewalt unter sie eingeführt, doch immer noch gleiche, heilige, ewige, unveräußerliche Rechte und Ansprüche auf den Genuß irdischer Glückseligkeit hätten. (1810.33: 370)

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Theorien, die gerade im Menschsein wesentliche Unterschiede bemerken wollen, wie etwa den Rassismus, wischte er (in Zeiten, wo die Nationalstaaten schwunghaften Sklavenhandel trieben) vom Tisch wie störende Brösel: „Hat es so viel auf sich, daß nur die [Haut-]Farbe allein sich in gewissen Himmelsstrichen durch die Einwirkung der Luft und Sonnenhitze ändert?“ (373) Die grundsätzliche gleichartige Funktionsweise des Geistes (Vorstellungskraft, Urteilskraft, Empfindungsvermögen) und damit die Wahrheit von der wesentlichen Gleichheit aller Menschen stand für Bolzano ganz außer Zweifel; die Vernunft des Blödesten aus uns denkt nach eben denselben Grundgesetzen, welche der tiefsinnigste Forscher in seinem Bewußtsein vorfindet. (1810.33: 383)

Im zweiten Teil der Rede über die wesentliche Gleichheit malt er aus, was mit Völkern geschehe, die diese wichtige Wahrheit vergessen (1810.33: 374–376): (1) Die unteren Volksklassen – den Begriff ,Klasse‘ verwendet Bolzano im naturwissenschaftlichen Verständnis, nominalistisch, also ohne Idealisierung und ohne ihm ontische Existenz zuzusprechen – sehen ihren Bedrückungen durch die höheren zunehmend mit stumpfer Gleichgültigkeit und Trägheit zu. Sie sind es, die diese Wahrheit von der Gleichheit Aller zu ihrem eigenen Verderben vergessen und die Misshandlungen der Großen und Mächtigen „mit einer schimpflichen Gelassenheit“ ertragen: Bolzano sieht die Schuld an Zuständen der Unterdrückung nie einseitig auf Seiten der Unterdrücker und lehnt nicht nur jedes Beherrschen, sondern auch jedes willfährige SichBeherrschen-Lassen als Verrat an der eigenen Menschenwürde ab. (2) Die höheren Volksklassen werden bei zunehmender Unterwürfigkeit der niedrigeren immer frecher und grausamer. (3) Der Irrtum verfestigt sich. Im abschließenden Teil regt Bolzano, wie er das konsequent nach jeder Explikation tut, zu Anwendungen aus dem Gehörten an und zieht gangbare Folgerungen aus der erkannten Wahrheit: Die Aufgabe seiner Schüler werde es sein, in Zukunft „alle entbehrlichen Unterschiede unter den Menschen […] [zu] entfernen“ (377). Entbehrlich sind alle jene Unterschiede, die nicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vonnöten sind. Je mehr willkürlich eingeführte, äußerliche Unterschiede es gebe, umso mehr werde das Bild von der wesentlichen Gleichheit der Menschen getrübt. Bolzano räumt dabei ein, dass diese Unterschiede nicht von vornherein schlecht gewesen sein müssen, also in früheren Zeiten durchaus ihr Gutes gehabt haben mögen. Aufklärung und Bildung würden sie aber weitestgehend überflüssig machen. Er schließt die Rede mit dem Handlungsaufruf:

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Steht es also irgendwo in unseren Kräften, meine Freunde, oder wird es vielleicht dereinst in unsere Macht gegeben werden, [darauf zählte er bei seinen Schülern] dergleichen Unterschiede abzustellen: o! dann lassen Sie uns nicht länger säumen, das zu thun, und lassen Sie uns fest glauben, daß wir der Menschheit so den wesentlichsten Dienst leisten.

Bolzano verfolgt hier durchgängig ein methodisches Prinzip, das er auch in der Heiligen Schrift angewandt findet: Soll eine Aussage oder Aufforderung Menschen von verschiedenen Verstandeskräften berühren, so müssen zunächst einfache Aussagen aufgestellt werden, die dann zu verfeinern sind. Ist das Grundsätzliche (hier die Wahrheit von der wesentlichen Gleichheit aller Menschen) also einmal geklärt, geht er daran, das Bild genauer zu betrachten und zu differenzieren: Einige Unterschiede zwischen den Menschen bleiben dennoch unbestreitbar, räumt er ein; es gebe auch solche, die „von Gott selbst eingesetzt“ seien (Begabungen, Schwächen). Träfen diese zu, so gelte es, sich trotzdem nie über andere Menschen stolz zu erheben oder auch sich selbst nicht unnötig zu erniedrigen. „Von Gott eingesetzt“ sei etwa das Alter oder die potentielle Geisteskraft eines Menschen. Aber diese ist unbedeutend, „wenn sie durch Tugend nicht zum allgemeinen Wohle angewendet wird“. Nach der ersten Rede, in der er die Wahrheit von aller Menschen wesentlicher Gleichheit gründlich dargelegt hat, spricht Bolzano in der folgenden Stunde – wohlgemerkt vor ausgewähltem Publikum, dem er diese Wahrheiten zumuten zu können glaubt, also vor den jungen Menschen, „deren Herz noch weich, noch empfänglich für die sanfte Wahrheit [ist]“, und denen die Geschicke des Vaterlandes nicht gleichgültig sind und vielleicht einst anvertraut werden – Von den Unterschieden, die es gleichwohl gibt (1810.34): Er zählt, nach Bedeutung in einer Antiklimax gelistet, fünf Unterschiede auf, und zwar (1) sittlichen Charakter, (2) Geisteskräfte, (3) Alter, (4) Reichtum, (5) Verbindungen. Der (1) sittliche Charakter hängt nach Bolzano von der Lauterkeit der Beweggründe ab. Die (2) Kräfte des Geistes und die mit seiner Hilfe erworbenen nützlichen Erkenntnisse verdienen eingeschränkt Bewunderung, denn die genetischen Voraussetzungen zum Erwerb besonderer Kenntnisse seien keine Eigenleistung. Das (3) Alter ist nicht an sich, sondern nur insofern, als es einen zur Lebensweisheit führt, ein wertvolles Gut; denn es gibt gewisse Wahrheiten, „die weder Bücher noch Nachdenken, sondern nur das Alter und die vielfältige Erfahrung, die es hat, so recht aufschließen kann“. Zu den von den Menschen durch menschliche Willkür eingeführten Unterschieden zählt er (4) jenen des Reichtums. Unterschiede im Vermögen, sofern sie nicht allzu hoch sind, haben nichts Schädliches, so Bolzano. Die Bedeutung des Reichtums werde aber allgemein überschätzt;

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Noch weit geringer ist der Vorzug des Reichthums und beinahe Nichts jener der vornehmen Geburt, so hoch die Menschen auch durch ein teuflisches Vorurtheil geblendet, beide zu erheben pflegen. (383)

Im Umgang mit angemaßten Würdenträgern empfiehlt er, keinem die äußeren Ehrenbezeugungen, die ihm von Amts wegen gebühren, zu versagen, – sehr wohl aber „innere Achtung“, wenn er sie nicht verdiene. Zuletzt beleuchtet er den Unterschied (5) in den Verbindungen, in denen Menschen stehen. Verbindungen schaffen Unterschiede zwischen Menschen. Nur in Verbindung mit anderen bringt der Mensch, als soziales Wesen, vieles zustande, was der Einzelne niemals schaffen könnte. Die Gefahr, maßlose Forderungen nach völliger Gleichheit aufzustellen und so das ganze soziale Gefüge zu gefährden, malt Bolzano mit einem Bild von Schiller aus: „Der Krone Zweck ist des Bürgers Glück“ zitiert er (388f.), diese Rede abschließend und spielt dabei auf den berühmten Dialog von König Philipp und Marquis Posa in Schillers Don Karlos an (3. Akt, 10. Auftritt). Der König spricht da von „des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden“ (V. 3800) in dem von ihm regierten Spanien. Aber Posa vergleicht das mit der „Ruhe eines Kirchhofs“ und bringt die Forderung an den König vor: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ (V. 3861f) Posa weiter: Weihen Sie dem Glück der Völker die Regentenkraft, die – ach, so lang’ – des Thrones Größe nur gewuchert hatte. – Stellen Sie der Menschheit verlornen Adel wieder her. Der Bürger sei wiederum, was er zuvor gewesen, der Krone Zweck. (V. 3885–3892; Schiller NA 6: 192; Bolzano 1810.33: 388f.)

Solange die Figur des Königs „rechtmäßige Obrigkeit“, das heißt, durch seine Taten legitimiert ist, also im Wesentlichen mit der Figur des „guten Hirten“ (Mt 19,24) übereinstimmt, – solange verstößt er nicht gegen die Wahrheit von der wesentlichen Gleichheit Aller, denn der Unterschied zu den Untertanen liegt nur in seinem Aufgabenbereich. Brüderlichkeit oder besser Geschwisterlichkeit kennzeichnet nachweislich Bolzanos Umgang mit Schülern, Freunden, Mitmenschen. Brüderlichkeit aller Menschen ist das Ziel der wahren Aufklärung. Das Muster ist die böhmische Bruderidee, die konsequent auf Respekt, Frieden und Gewaltlosigkeit hinarbeitet. „Brüderlichkeit“ ist so gesehen kein Gefühl, sondern eine durch Bildung und Erziehung ermöglichte verfeinerte soziale, humane Haltung den Mitmenschen gegenüber; eine Kulturleistung: Eine, die erst erarbeitet werden muss, von der Gesellschaft wie vom Einzelnen. Das Ziel formuliert Friedrich

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Schiller einmal in seiner Ode An die Freude: „Alle Menschen werden Brüder …“, Beethoven vertont es gleichsam, in seiner Neunten Symphonie.

,Utopie(n)‘ Was Bolzano jetzt unternimmt, hat irgendwie mit der „Verwirklichung von Urträumen“ zu tun (Musil MoE 1 Kap. 11 „Der wichtigste Versuch“, 39) – aber nicht in der üblichen, herrschenden Form, wie etwa in dem Wunsch, fliegen zu können …, sondern mit der utopischen Vorstellung einer gerechten Welt. Es hat sich in der Forschung als brauchbar erwiesen, von Utopien im engeren Sinn (1) in sensu stricto, und solchen (2) in sensu lato, im weit(er)en Sinn, zu unterscheiden (Winiarczyk 2002). Bernard Bolzano hat beides geliefert: 1. Utopien im engeren Sinn gibt es mindestens seit Platons Politeia aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia des Thomas Morus (1478–1535) war eine solche. Auch Bolzano schreibt eine: sein Büchlein vom besten Staate (BS). Eine erste Fassung geht auf 1831 zurück; veröffentlicht wurde sie erst 1932. Staatsutopien im engeren Sinn entwerfen abstrakte Konzepte und tragen zwangsläufig auch autoritäre, totalitäre Züge. Das muss so sein, weil der Mensch nicht dazu neigt, sich rationalen Ordnungen und Einsichten freiwillig zu unterwerfen. Er neigt auch nicht dazu, gerade jene Menschen, die sie durchzusetzen versprechen, demokratisch zu wählen. Ein solcher, notwendig autoritärer und totalitärer Idealstaat muss für die Mehrheit der Bevölkerung dann nicht nachteilig sein, wenn sichergestellt ist, dass die Obrigkeit im Sinne der Mehrheit regiert, – wie es zuweilen in der Wohlfahrtsökonomik dem „wohlwollenden Despoten“, Joseph II trägt solche Züge (Gauß 1989), oder im kleineren Rahmen der Figur des pater familias zugeschrieben wird. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Staatsutopien der Zeit fiktional enthoben sind, tragen sie so deutliche Züge ihrer Zeit: Mores utopische Insel war kein politisches Modellprogramm, aber das Leben auf ihr schärfte den Blick auf das gegenwärtige. Das sollte auch Bolzanos Staatsutopie. Sie ist geprägt von starker Reglementierung, zeigt Vorbehalte gegenüber den Freien Künsten im Sinne des theresianischen Aufklärungskonzeptes. Sein Büchlein trägt gewisse Züge des „ikarischen Kommunismus“. Die Voyage en Icarie des utopischen Sozialisten Etienne Cabet (1788–1856) hat Bolzano sehr beeindruckt (Cabet 1842; Havránek 1981: 61–92) ebenso Isaak

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Iselin (1728–1782) Träume eines Menschenfreundes; beides in Bolzanos Besitz (BBF 15). Ähnlichkeiten sind bei John Locke (1632–1704), Jean Jacques Rousseau, Heinrich Stephani (1781–1850), Friedrich Schleiermacher oder Karl Marx (1818–1883) sowie in der Deklaration der Menschenrechte von 1789 auszumachen – in dieser durchaus eigenständigen Sicht Bolzanos. Cabets Utopie, ihrerseits stark an der Utopia des Thomas Morus orientiert, ist in der tatsächlichen praktischen Umsetzung gescheitert, und zwar an der Nichteinhaltung der ursprünglich vereinbarten Regeln. Sie teilt dieses Los mit allen übrigen Utopien in sensu stricto. Dieses Scheitern ist jedoch zugleich als ein positives Zeichen für den Menschen an sich zu werten: Es ist der Beweis, dass er sich als Individuum in dem Idealstaat nicht aufgegeben hat (was Bedingung gewesen wäre). Wie viele andere sozialutopische Schriften, die in diesen Zeiten, besonders in Frankreich, erschienen und schließlich namensprägend waren, lief auch Bolzanos Utopie auf einen in die Zukunft projektierten ideal gedachten Ort hinaus. Bolzano hatte diese Schrift spät, zwischen 1840 und 1846, fertiggestellt. Sie ist eine abgeschlossene und somit aus dem Zeitfluss gehobene Fiktion in einem, durch sein Exildasein bedingt, schon etwas realitätsfernen und somit zeitgemäßen Gewand. Seine Hoffnung auf (durch seine Schüler und ihn bewirkte) Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatland Böhmen war zur Zeit der Abfassung schon gering geworden. 2. Der Versuch, den Bolzano in seiner offiziellen Tätigkeit als Religionsprofessor an der Karlsuniversität gewagt hat, ist als Utopie im weiteren Sinn zu verstehen. Er hat sie theoretisch im Unterricht der Religionswissenschaft, praktisch in den Erbauungsreden und angewandt in seinem Wirken als Mensch, Bürger, Seelsorger betrieben. Diese Utopie in sensu lato, auch ,mythische‘ oder ,deskriptive‘ genannt, spielt nicht im luftleeren Raum, sondern im Hier und Jetzt des Prager Alltags. Bolzanos bessere Welt will in ganz konkreten und gangbaren Vorschlägen zur Änderung der üblichen Lebensweise dieses Hier und Jetzt zurechtrücken. Das hatte mehr mit ,Eutopia‘, dem Land der Glückseligkeit, dem Reich Gottes auf Erden zu tun, als mit ,Utopia‘. Sein Entwurf eines besseren Lebens ist vor allem kein idealer, sondern ein praktischer, greifbarer. Bolzano schafft theoretisch einen konkreten Rahmen für menschliche Glückseligkeit. Ähnlich wie in Aristoteles’ Politik (7,8) ist die Veränderung als Inbegriff wünschenswerter und zu verwirklichender Haltungen des Einzelnen angelegt und erweist die Notwendigkeit grundsätzlicher Änderungen der vorgefundenen Lebensformen und ihrer politischen Verfassungen. Das ist auch Eschatologie: sowohl individuelle als auch

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universale Hoffnung auf Vollendung. Bolzanos bessere Welt beschreibt keine neue, sondern die geistige und moralische Erneuerung der alten Welt. Davon handeln seine Predigten und daraus beziehen diese auch ihre auffordernde, ja beschwörende Dynamik. Die Erneuerung legt er in der Hand des Einzelnen, in dessen Einsicht und Verständnis, und sie zeigt sich in der Besinnung auf den mythischen Aspekt der Sprache: Diese selbst soll gleichsam vom banalen ,Kommunikationsmedium‘ in einen genuinen Ausdruck des Menschen und des Menschlichen im Kosmos zurückgeführt werden. Das bedeutet eine vollkommene Umwälzung der Kommunikationsstruktur. Bolzanos wichtigster Versuch ist kein Gedankenexperiment: Es ist eine mit seinen Lehrern, Freunden und Schülern gemeinsam unternommene Anstrengung, die darauf angelegt ist, die sozialen Nöte Gräuel abzuschaffen und ein neues, wirkliches Leben zu schaffen. Bolzanos Tätigkeit als Lehrer und Seelsorger ist insgesamt als utopisch im weiteren Sinn (2) zu verstehen; als ein Versuch, gelebten Glauben und lebendiges Wissen in die Tat umzusetzen. Bolzanos Utopie im engeren Sinn (1) zeigt trotz zeitgemäßer Rahmenbedingtheiten, wie weit er als politischer Philosoph seiner Zeit voraus war: Sie ist vollkommen frei von Ideologie und nimmt den Gedanken der Gleichheit aller Menschen ernst. Sie verlangt Gleichheit von Mann und Frau in allen politischen Bereichen; Bildung, Arbeit, aktives und passives Wahlrecht. Sie geht von einer bewusst gewählten basisdemokratischen Staatsform aus, die in überschaubaren Einheiten funktionierbar gemacht werden soll, wofür er konkrete Vorschläge bringt. Es fehlt jede Form von Klassendenken, jede Überheblichkeit tierischen Lebewesen gegenüber. Bolzanos Utopie geht von einer strikten Trennung von Kirche und Staat aus und von grundsätzlicher Religionsfreiheit aller Staatsbürger. Diese Utopie bestimmt den Wert des Eigentums dynamisch und völlig neu, sie löst sich vollkommen von statischem Besitzdenken, löst das Erbrecht auf und bestimmt die materiellen Werte ebenso wie die geistigen, strikt im Sinne des Gemeinwohls. – Waren diese Gedanken richtig, dann würden sie sich irgendwann als notwendig erweisen.

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,Erbauung‘ Auch in der Kirche hatte sich im ausgehenden Mittelalter Erstarrung breitgemacht. Alles was sich bewegte, geriet in Verdacht. So auch die spätmittelalterliche religiöse Erneuerungsbewegung der devotio moderna des niederländischen Laienapostels Gerrit de Groote (1340–1384). Im Konstanzer Konzil wurde auch sie der Häresie beschuldigt. Johannes Gerson, der die Verurteilung von Jan Hus und Hieronymus mittrug, war es gewesen, der diesen gefährlichen Verdacht hier abwehrte. Aus der Bewegung der devotio moderna ging die bekannte Erbauungsschrift de imitatione Christi des Thomas von Kempen (1380–1471) hervor. Sie hatte, trotz ihres eher spröden Programmes, Welterfolg: Die Nachfolge Christi ist eine Kompilation deutscher mystischer Texte von Meister Eckhart (1260–1328) und anderen, in denen das Leben Jesu zur Nachahmung empfohlen wird. Diese Bewegung gewann bedeutenden Einfluss auf den Protestantismus und wandelte sich nach dem Dreißigjährigen Krieg zu einer subjektiven Kultur der strengen Bibeltreue mit Erweckungserlebnissen und Verinnerlichung, – dem Pietismus. Goethe erfuhr ihn über die „schöne Seele“ Susanna Katharina von Klettenberg (1723–1774) im Umkreis der Herrnhuter Brüdergemeinde. Es war die sinnenhaftere Variante des Protestantismus und als solche auch in Böhmen bekannt. Bolzano knüpfte, wenn er den Ausdruck ,Erbauung‘ für seine Exhorten gebrauchte an diese Tradition jetzt nicht an. Johann Heinrich Campe aus dem Kreis der thüringischen Philanthropisten definierte den Begriff in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache als „sein Gemüth erheben, fromme Gedanken fassen und dadurch zum Guten ermuntert und gestärkt zu werden.“ (Campe 1807: 954; TRE 10: 18ff.) Bolzanos Erbauungsliteratur kann man, etwas euphemistisch, auch so beschreiben. Der Begriff ,Erbauung‘ ist nur ungenau umrissen und umfasst verschiedene literarische Gattungen: Ein elastisches genre, das sich den Epochen und ihren Gegebenheiten anpasst und im Bereich der Gebrauchs- bzw. Trivialliteratur angesiedelt ist. Es umfasst Trostschriften in traurigen Zeiten, Sterbebüchlein in Zeiten von Epidemien, Breviere für alle Lebenssituationen und Bevölkerungsschichten. ,Nachahmung Jesu‘ hatte in Bolzanos Verständnis nun nichts mehr mit mittelalterlicher Leidensnachfolge zu tun. Es bedeutete aus Bolzanos Sicht nicht nur, einen einfachen, aufrechten Lebensstil zu pflegen, sondern nach den richtigen Begriffen zu leben. „Wie Jesus Christus selbst nicht eine Idee, sondern Leben ist, so ist auch die Zugehörigkeit zu ihm nicht bloßer Gedan-

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ke, sondern ein Lebensakt“ (Ebeling 1979 2: 524f.). Die Evangelien zeugen davon: Was insbesondere die Evangelien betrifft, so stellen uns diese in der Person Jesu Christi ein Muster so hoher Vollkommenheit dar, dass jedem Freunde der Menschheit und jedem Liebhaber der Tugend, um wie viel mehr jedem Christen, überaus viel daran gelegen seyn muß, glauben zu können, dass einst wirklich ein so vollendeter Mann, als dieser Jesus uns hier geschildert wird, gelebt hat, d.h. glauben zu können, dass die Evangelien wenigstens in allen denjenigen Stellen, in denen sie uns den Charakter Jesu zeichnen, alle Verlässigkeit haben. (RW 3/1 [§ 21]: 60)

Wenn es, so Bolzano, (RW 1 § 137) einen Menschen gegeben hatte, der wirklich keine Fehler beging, dann war das der Beweis, dass dies jederzeit wieder möglich wäre. Auf der einen Seite ist [Erbauung] das Resultat des Bauens, das Gebäude (1 Kor 3,9; Eph 2,21); auf der andern Seite bezeichnet dasselbe Wort den Akt des Bauens, das Erbauen (Röm 14,19; 15,2; 1 Kor 14,3 […]. Das Fundament ist festgelegt. Es darf nicht abgeändert werden (1 Kor 3,11). Aber auf diesem unabänderlichen Fundament muss weitergebaut werden (1 Kor 3,10.12.147). Die Kirche ist dabei nirgendwo nur Baustelle oder Ruine, sondern sie ist überall vollständig da und trotzdem ist sie nicht fertig, sondern im Werden; denn immer wieder werden durch Christus Menschen miterbaut zum Hause Gottes (Eph 2,21f). Die Kirche muß so lange aufgebaut werden, bis alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Gottessohns gelangen (Eph 4,12f.; TRE 10: 189).

Das ,Reich Gottes auf Erden‘ hat mit der Menschwerdung Jesu Christi begonnen. Alle Mitglieder der Kirche bauen an diesem ,Reich Gottes‘. Es ist, nach christlicher Eschatologie, insgesamt Ereignis der Vergangenheit und der Zukunft; als Vorgang gesehen ist es ein Ereignis der Gegenwart; ein deïktisches Ereignis des ich, jetzt, hier. – So komplex und paradox dieser Vorgang auch erscheinen mochte; Bolzano sieht und bestimmt ihn, und mithin ,Erbauung‘, mitunter ganz einfach: „Was immer die Menschen besser und glücklicher macht, das ist zweckmäßige Erbauung.“ (1819.32: 307) Auf die Verbreitung der besseren Begriffe kam es jetzt es an: Bernard Bolzanos Zuversicht im Hinblick auf das tatsächliche Fortschreiten des menschlichen Geschlechtes ruht letztlich auf seiner Erkenntnis der Wirkungsmacht der Sprache. Er setzt auch auf die Überzeugungskraft wie auch auf die Suggestivkraft der besseren Begriffe. Jesus Christus hat, so er, den ersten, wesentlichen Beitrag zu Begriffsklärungen über das Göttliche geleistet, „um uns von der Knechtschaft der Sünde loszumachen und ein frommes, gottgefälliges, glückseliges Geschlecht aus uns heranzubilden.“ (1819.17, 159) Bolzano setzt auch auf sprachliche Bilder, deren Suggestivkraft über das gesprochene Wort hinauszureichen vermag:

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Und unser Herr Jesus sagt: Mit eben dem Maaße, mit dem ihr andere messet, wird auch euch zugemessen werden. Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen, der auch selbst unbarmherzig mit seinem Nächsten verfuhr. Wie wäre es möglich, meine Freunde, bey dem Bewußtsein so vieler Mängel und Verschuldung, die wir an uns haben, möglich, daß dieser Worte Zauberkraft nicht unseren Zorn auf der Stelle schmelzen, und die schon gedachte Strafe herabstimmen sollte bis auf den Grad, den die Vernunft selbst nothwendig findet? (1813.32, 317; Mk 4,24)

Er setzt auf der ,Worte Zauberkraft‘: darauf, dass aus Worten Taten werden. Der ,Zauber‘ der Worte betrifft das Verhältnis von Wort und Tat. Ihn setzt er jetzt zur Verbreitung der Aufklärung ein.

,Aufklärung‘ Jean-Jaques Rousseau hat in seiner an der Akademie zu Dijon preisgekrönten Schrift der Aufklärung selbst die Schuld an den ungerechten Zuständen der Gesellschaft seiner Zeit gegeben. Das nennt Bolzano jetzt eine Übertreibung. Er stellt klar: Nicht die Aufklärung selbst sei schuld an den gegenwärtigen Übeln und Leiden, sondern ein falscher Begriff von Aufklärung (die verba, nicht die res) – die Sache verhielt sich ganz anders: Das Fehlen wirklicher, also im Sinne der Menschen wirksamer Aufklärung war aus seiner Sicht die Ursache aller Übel. Ach, nicht der gütige Gott ist es, der solches Elend uns zuschickt, sondern wir Menschen thun das! Wir – wir sind es, die wir das zahllose Heer von Krankheiten selbst hervorgebracht haben! Nicht die Natur zeugt solche fürchterliche Leiden – der Wilde weiß nichts von ihnen – die Kunst hat sie geschaffen. Unsere verkehrte Lebensart, unsre zweckwidrige Erziehung, die widernatürlichen Nahrungsmittel, deren wir uns bedienen – dieß sind die Ursachen von diesen schweren Leiden! Wir Menschen sind es auch, die wir aus einer verdammlichen Trägheit versäumen, die rechten Heilmittel, die Gott für jedes Übel in die Natur gelegt hat, aufzusuchen; denn unsere Weisesten sind ja bis zur Stunde noch so thöricht, daß sie die kostbaren Augenblicke des Lebens eher mit der Erfindung nutzloser Spitzfindigkeiten versplittern, als daß sie die Mittel zur Stillung des Elendes aufsuchen wollten, das sie und ihre Brüder gemeinschaftlich dulden müssen … (1810.54: 535)

Das Wahre an Rousseaus Kritik sah er darin, „daß manche Menschen bei dem Geschäfte der Aufklärung wirklich sehr unvorsichtig sind, und hierdurch des Schadens mehr anrichten, als der gestiftete Nutzen werth ist“! (Warnung vor den gewöhnlichsten Fehlern, die man bey dem Geschäfte des Aufklärens begehet. 1817.31: 287f). Bolzano sah nicht nur die Gefahr, dass die Aufklärung aufgrund äußerer Nöte (Krieg) wieder zurückgenommen würde, sondern auch jene, dass die Begriffe von Aufklärung und Fortschritt ihre eigentliche Bedeutung und Bewegung einbüßten, eine Art Scheinaufklärung an ihre Stelle trete und zur

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Quelle von neuer Ungerechtigkeit werde – eine ,Aufklärung‘ genannte Scheinbewegung, die bei näherem Hinsehen den Menschen weder weiser, noch besser und schon gar nicht glücklicher machte. Das Licht der Aufklärung musste in dieser Zeit also sehr behutsam verbreitet werden. Seinen Schülern riet er, einfühlsam vorzugehen, um nicht noch vor der Zeit, nicht bevor man noch etwas Großes zu leisten Kraft und Gelegenheit hatte, das Opfer dieser Bösedenkenden zu werden, ist eine weise Behutsamkeit, wie Jesus sie anempfiehlt, wirklich höchst nothwendig. (1810.54, 539, auch 1810.28, 323)

Bolzano wusste um die Fehler, die bei der Ausbreitung der Aufklärung gemacht wurden, und empfahl, Sorge dafür zu tragen, daß wir auch anderen Menschen nicht durch unsere Aufklärung ein Stein des Anstoßes und eine Gelegenheit zum Ärgernisse werden. Deßhalb müssen wir uns mit der besonderen Lage, mit den Begriffen und Meinungen, mit der Denk- und Empfindungsweise derjenigen, die uns umgeben, bekannt zu machen suchen. Ohne zu wissen, was für Begriffe und Meinungen diejenigen, die uns umgeben, hegen, wie sie zu denken und zu empfinden gewohnt sind, von welchen Grundsätzen sie ausgehen, an welchen Vorurtheilen sie noch hängen: können wir gar nicht beurtheilen, welchen Eindruck es auf sie machen werde, wenn wir vor ihren Augen uns so oder anders benehmen, dieß oder jenes thun oder sagen werden; nicht wissen können wir, wie unser Benehmen von ihnen gedeutet, wie unsere Worte von ihnen verstanden werden, ob wir erbaulich oder ärgerlich für sie sein dürften. (1811.3: 54)

Er warnt seine Schüler dann eindringlich vor den häufigsten Fehlern, „die man bei dem Geschäft der Aufklärung begeht“ (1817.31): Die Schuld für eine auf Abwege geratene Aufklärung gibt er den Aufklärern selbst, nämlich jenen Eiferern der Weltverbesserung, welche die Menschen mit ihren Ideen überrumpeln und sie ihnen gleichsam eintrichtern wollen. Diese Leute, führt er aus, machen sich keinen Begriff von dem Schaden, den sie anrichten, indem sie die gute Sache nicht überzeugend vertreten, sondern nur oberflächlich über die Leute stülpen. Als den gefährlichsten Fehler dieser Weltverbesserer nannte er, dass diese falschen Propheten Aufklärung so betrieben, als sei sie etwas, wodurch sich die Menschen „von ihren Pflichten und Verbindlichkeiten losmachen könnten“. ,Weltverbesserer‘ gingen davon aus, dass diese vor ihrem Auftreten ,schlechter‘ gewesen sei: eine [die] moderne Anmaßung (s. Thomas Bernhards Karikatur Der Weltverbesserer, 1979). – Nicht Weltverbesserung, sondern Menschenverbesserung, und zwar die eigene zuerst, und dann die der anderen Menschen, verlangt er jetzt, und beschwor seine Schüler geradezu: Fangen Sie deßhalb Ihre Aufklärung Anderer nie damit an, dass Sie in Ihnen Zweifel gegen das erregen, was die Menschen bisher in frommer Herzenseinfalt für ihre Pflicht und Schuldigkeit hielten. […] Befolgen Sie schließlich […] selbst jene Regeln des Verhaltens,

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die zwar an sich auf einem Vorurtheile beruhen, aber doch in den Augen Mehrerer für verbindlich gelten. (1817.31: 291)

Wirkliche Aufklärer sollten, so Bolzanos methodischer Hinweis, nie „irgend ein Vorurteil stürzen, auf welches andere Menschen gewisse, für sie höchst wichtige Wahrheiten gegründet hatten.“ Die besserwisserische Arroganz der neuen Aufklärer, die alles Alte verachten, sah er als das Übel seiner Zeit an, – nicht die Aufklärung selbst. Dieser standen jetzt neue, kaum erkannte Formen von Irrtum und Aberglauben entgegen: Der Fortschrittsaberglaube war ein sehr wirksamer. Der Nationalismus war im 19. Jahrhundert die erfolgreichste Variante eines neuen Aberglaubens. „Die Nation, als Ideal gesehen, lenkt den Blick auf das Bestehende“, sie erscheint als „ewig“, wird als „unvergänglich“ besungen und in ihren Charakterzügen unvergänglich. „Der „nationale Gedanke“ lenkt den Blick fort von dem, was sich wandelt, auf das, was als bestehend und unveränderlich gilt, so Norbert Elias (1997: 36), der hier das Erstarren einer Bewegung, das Verkrusten von Begriffen beschreibt. Das gilt auch für den Begriff der ,Aufklärung‘, auch wenn die modernen Propheten der Aufklärung sich dessen nicht gewahr sind. Sie tun jetzt gerade, so Bolzano, als ob erst in ihren Tagen die Vernunft erwacht sei, daß die Menschen aller früheren Jahrhunderte auf der Stufe der Unmündigkeit gestanden, und daß sie erst, sie allein im Stande wären, Wahrheit und Irrthum gehörig zu unterscheiden. (1818.25–28: 253, 250)

Die Entscheidung Die herrschenden Machteliten der Habsburgermonarchie und der Katholischen Kirche hatten, so wie ihre revoltierenden Gegenspieler, wenig Ahnung von der Tiefe der Veränderungen, die im Grunde schon längst anstanden, – und auf die Bolzano jetzt ganz bewusst zuging. Umstürzler hofften auf Machtwechsel zu ihren Gunsten, auf Machtgewinn: – Beide Kontrahenten waren entschlossen, den blutigen, archaischen Kampf des Herrschens und Beherrschtwerdens, jetzt mit potenzierten, modernen technischen Mitteln und Waffen, weiterzuführen. Bolzano strebte längst anderes an: ein Ende dieser tödlichen Kriegslogik: Die Umsetzung seiner Vorstellungen hätte grundsätzliche Veränderungen in der staatlichen Verfassung und auch in der kirchlichen Struktur eingefordert und Machtpositionen jeder Art erst einmal in Frage abgestellt. Er regte eine engagierte Volksbewegung an, die „eine allmähliche Verbesserung“ der Lebensumstände auf friedliche Weise herbeiführen sollte. Sie zielte, wie schon die Volksbewegung Jesu Christi, auf ein Ende der Machtausübung von Men-

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schen über Menschen und gegenüber Tier und Natur, – also auf ein anderes, neues und bewusstes Verhältnis zur ganzen Schöpfung ab, auf ein anderes Leben, auf das tatsächliche Beschreiten der via moderna. Bolzanos ungeheurer Entwurf hätte letztlich bedeutet, das ,revolvere‘ des Steines von Jesu Grab und die Gewissheit eines Weiterlebens nach dem Tod ernstzunehmen und an einer anderen, einer gerechten Welt im Diesseits zu bauen. Diese Art der Erbauung kam in Bolzanos Religionslehre und in den Reden (und allein schon im harmlosen Begriff davon) unscheinbar daher, und war doch von einer nicht zu steigernden Radikalität für den Menschen, – einer Radikalität, von der die herrschenden Revolutionäre und ihre teils unfreiwilligen Gegner keine Ahnung hatten. Die Verwirklichung des ,Reiches Gottes auf Erden‘ sah Bolzano genau genommen nicht als ein Zukunftsprojekt – es musste vielmehr hier und jetzt geschehen, und durch tatsächlich nachprüfbar bessere Lebensumstände Aller jetzt und hier offensichtlich werden. Alle seine Reden waren auf die eine, die wesentliche Entscheidung hingerichtet. Bolzanos Versuch, ohne Zweifel der ,wichtigste Versuch‘ seines Lebens, geht von einer gegebenen Möglichkeit aus: Dass Menschen sich für ihr Leben entscheiden und die Freiheit zu nutzen, die eben nur dem Menschen gegeben ist: Er hat die Möglichkeit, fortzuschreiten, hin zu einem Zusammensein aller Menschen in vernünftigen, also naturgemäßen, nachhaltigen Lebensformen ohne Gewalt und Herrschaft. Es ist eine Entscheidung des Einzelnen für das (eigene) Leben. Bolzano geht davon aus, dass diese Möglichkeit verwirklichbar ist. Dies deshalb, so argumentiert er, weil so etwas in früheren Zeiten und Räumen bereits verwirklicht worden war; in manchen Hochkulturen und auch schon in den frühen Christengemeinden. Das Wirkliche, wie auch das bereits einmal Verwirklichte, ist für ihn zugleich das vollkommen Mögliche (RW 1 § 137). Wissen und Glauben vereinigen sich in dieser Ansicht: Er glaubt an die Möglichkeit, daß die Lehre Jesu die christlichen Völker einst noch so weise machen werde, daß sie durch keine Anstiftung ihrer Beherrscher sich werden bereden lassen, Kriege zu führen und einander zu Tausenden zu ermorden; glauben wir das, weil es die Vernunft billigt […] (1819.4, 52f.; Jes 2,4.)

Bolzano stellt fest, dass sich die Menschen in der gegenwärtigen „Zeit des Wechsels“ (1820.12: 126), in einem täglich anwachsenden, unübersichtlicher werdenden Meer von Scheinwidersprüchen befinden. Klarheit, also die geistige, wissenschaftliche Durchdringung der Welt, hält er auf dem Weg der Aufklärung für unabdinglich. Er ist dabei bereit, über den Bereich des Logischen

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(Widerspruchsfreien) hinauszublicken und gleichsam in die Tiefen des Lebens hinabzusteigen, um jetzt, gemeinsam mit den Studenten den ,Weg der Wahrheit‘ zu beschreiten. Um die Schwierigkeit und die Bedeutung der notwendig gewordenen Grundentscheidung seinen Schülern deutlich zu machen, muss er die Angelegenheit zunächst dem gesunden Menschenverstand eingängig machen. In seiner rhetorischen Arbeit führt er seine Hörer deshalb doch immer wieder vor Widersprüche, die sie zu konkreten Lebensentscheidungen zwingen. Er spricht seine Schüler direkt an und fragt sie: ob [s]ie einst zu der Classe der guten oder bösen Mitglieder höherer Stände gehören werden, ob [s]ie gemeine Sache mit jenen haben werden, die auf den Umsturz des Glückes von Millionen eine eigene, nicht wahre, sondern nur geträumte Glückseligkeit zu gründen suchen, – oder ob [s]ie mit seiner Hilfe das Reich Gottes auf Erden in derjenigen Vollkommenheit, die es dem jetzigen Grade der Aufklärung gemäß erhalten kann, nach aller Möglichkeit befördern wollen, und so in dem Bewußtsein, andere glücklich zu machen, auch ihre eigene und wahre Glückseligkeit finden. (1818.1: 27f.)

Zu Beginn jedes Studienjahres klärt er allgemein: Es geht jetzt für die Eintretenden nicht etwa, wie manche meinen, nur um den Eintritt in die höheren und gebildeten Kreise des Landes, sondern vielmehr um die Frage der Zugehörigkeit zur Gruppe der ,guten‘, also nützlichen, auf das Gemeinwohl bedachten – oder der ,bösen‘, also auf Kosten anderer lebender und letztlich nur nach ihrem Eigenwohl trachtenden Mitglieder der Gesellschaft. Fortschreiten sieht Bolzano als ein aufgrund der Verarbeitung von Sinneseindrücken ermöglichtes Anwachsen von Weisheit, Tugend und demzufolge Bewusstsein, hin zur Glückseligkeit des Menschen. Natürlich geht niemand seinen Weg ganz unbeirrt. Bolzano betont in diesem Zusammenhang stets den großen Wert des christlichen Sakraments der Beichte und der mildtätigen ,Buß- und Besserungsanstalt‘ der Katholischen Kirche.

Weg der Wahrheit Bolzano zeigt auf, dass „sich die Freiheit des Menschen nur auf die Wahl zwischen zwey Handlungsweisen erstreckt“ (1820.9: 93), – eine bestimmte Sache zu wollen oder nicht zu wollen; zu tun oder nicht zu tun. Gott hat diese Freiheit, und der Mensch gleicht ihm hierin (RW 1 § 15: 46; RW 1 § 78: 196). Die bewusste, eigene Entscheidung wird, aufgrund der erst einmal klargestellten Begriffe, jedem Einzelnen möglich.

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Um frei entscheiden zu können, muss der Mensch sich seiner selbst erst einmal bewusst werden. Die Welt erscheint sich selbst in der Reflexion, in deutlichen Begriffen, – aber nur dort, wo sie sich bewegt, so einmal der Wiener Physiker Erwin Schrödinger (1887–1961): Bewusstsein ist gleichsam Bewegung: Diese Welt erscheint sich selbst nur dort, wo, und nur insofern als sie sich entwickelt, neue Formen gebiert. Stellen des Stillstandes entgleiten dem Lichte des Bewußtseins, versteinern, erscheinen nur mittelbar im Zusammenspiel mit Stellen der Evolution (Schrödinger 1986: 22f.)

„Bewußtheit ist mit dem Lernen der organischen Substanz verbunden; das organische Können ist unbewußt“, klärt Schrödinger (1986: 19). Bolzanos unerschütterliche Zuversicht, sein Vertrauen in den Menschen, ist nicht etwa auf die Vermutung gegründet, dass der Mensch gut ist, sondern darauf, dass er lernfähig ist. Lernen/Fortschreiten sieht er als stetes Anwachsen von Tugend, Weisheit und Glückseligkeit im Menschen; als einen grundsätzlich irreversiblen Vorgang, der nicht kontinuierlich verläuft. Bolzano schnürt das Bündel der Begriffe der Logik, Ethik und der Theologie, die bei der bewussten Lebensentscheidung jedes Einzelnen bedeutend sind, auf, und ordnet es immer wieder dialektisch zu echten Widerspruchspaaren. Mit seinen „besseren“ Begriffen geleitet er seine Schutzbefohlenen an die Stelle, wo Logik, Ethik und Theologie nicht mehr weiterhelfen; wo sie selbst und für sich allein die entscheidende Frage ihres Lebens zu beantworten haben und Taten setzen, – oder eben nicht. Beginnt der Mensch, die Natur zu verstehen, lernt aus ihr und wird er sich der ihn umgebenden Ordnung deutlicher bewusst, so kann er sich weiter, auch aus der gewohnten, selbstverständlichen Ordnung heraus bewegen. Auch wenn die Entscheidung, die der Einzelne nun fällt, von höchster Abstraktheit und absoluter Eindeutigkeit ist; es ist keine mathematische, sie fällt nicht im kontextfreien Raum der Logik. Die Entscheidung muss im Leben selbst fallen und sie wird dort, im Leben des Einzelnen (und in Summe dann einer Gesellschaft oder einer ganzen Kultur), sichtbar. Das Leben, das – im Unterschied zur Mathematik noch zu Bolzanos Zeiten – immer schon von Polyvalenz geprägt gewesen ist, macht die Entscheidung wahr. Bolzano führt die Hörer an den fundamentalen Widerspruch des Lebens. An der Weggabelung geht es entweder folgerichtig zur Glückseligkeit aller Menschen – oder in die Erstarrung und letztlich Vernichtung (W. Beierwaltes HWP 3 [1974], 105–117).

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Ethik Auch wenn der Impuls ein ethischer ist: Es geht hier nicht um Ethik, sondern letztlich um eine Frage der Evolution, um Arterhaltung. Das ,Gute‘ selbst liegt sozusagen „außerhalb des Geschehens und Soseins“, so Ludwig Wittgenstein später. Die Ethik ist in diesem Sinn als Transzendentalie zu verstehen; sie liegt der menschlichen Erfahrung zugrunde. – „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken“ (Wittgenstein 1994: 24): Man kann die Menschen nicht zum Guten führen, man kann sie nur irgendwohin führen; das Gute liegt außerhalb des Tatsachenraumes.

Erwin Schrödinger hat aufgezzeigt, dass eine zwingende Norm, sich im Sinne der Moral zu entscheiden, ethisch, also etwa im Sinn des Kantschen Imperativs, nicht begründet werden kann, und dass dies zu begründen ein sinnloses Unterfangen wäre. „Kants Imperativ ist eingestandenermaßen unbegreiflich.“ (Schrödinger 1986: 20). Er sieht in dem „rätselhaften Vorhandensein“ eines solchen Sittengesetzes aber immerhin den Beginn einer biologischen Umbildung, also eine Art Vorstufe. Bolzanos ,Oberstes Sittengesetz‘ – das Schrödinger nicht kannte – ist allerdings wesentlich weniger rätselhaft als Kants Imperativ, es ist strenggenommen kein Sittengesetz, sondern ein anthropologisches, biologisches Gesetz, das über die Eingrenzung des Egoismus der Individuen und deren Zusammenwirken Arterhaltung ermöglicht. Biologisch betrachtet zeigt sich diesbezüglich eine deutliche Überlegenheit von Tieren gegenüber dem Menschen; in Beziehung auf Energieeffizienz, Ressourcenschonung… letztlich Arterhaltung. Das ist der übergeordnete Parameter. Dieser gilt auf die Dauer der Zeit an sich und kann nicht auf Kosten eines anderen Parameters, etwa durch massive Ausschöpfung von Ressourcen, erkauft werden. Die Verwandlung des Menschen, seine „Umbildung von egoistischer zu altruistischer Einstellung“ ist keine moralische Leistung, wenngleich die Ethik den Weg dorthin bildet. Der Wandel, der jetzt ansteht, ist nichts anderes als in die Tat umgesetzte Erkenntnis, die das Überleben der species ermöglichen soll, oder, wieder ethisch gesprochen: wahrgenommene Verantwortung des Einzelnen für sich selbst, seine Nachfahren und die Welt – Verantwortung tragen bedeutet, das Wort ergreifen, seine Stimme erheben. Jedes Wort ist in diesem Sinn echter Teil einer Sprache, die den sensus communis trägt. In dem Maße, wie der Erkennende seine dem jeweiligen Erkenntnisstand gemäße Ver-

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antwortung für eine sinnvoll geordnete Welt tätig wahrnimmt, wird er mündig, ,entspricht‘ er ihr. Der notwendige Erkenntnisakt folgt nicht zwingend aus der Erziehung und unterscheidet sich wesentlich von der Dressur; und zwar eben deshalb, weil der Mensch Freiheit besitzt, weil sein Gehirn eine wesentlich geringere Instinktprägung aufweist als das der Tiere: Die Möglichkeit (und Notwendigkeit) des Fortschreitens nimmt Bolzano gerade aufgrund der genetischen Unbestimmtheit des Menschen als (gott)gegeben an. Gerade darin erkennt er die Gnade des Menschen: „Ehrte [Gott] den Menschen nicht hoch über alle Thiere gerade dadurch, daß er vor allen andern ihm die wenigsten Instinkte und Naturtriebe verlieh?“ (1812.9: 116) Die fehlende Instinktprägung eröffnet dem Menschen die Möglichkeit der freien Willensentscheidung – und verlangt ihm andererseits diese Entscheidung ab (1812.9: 117); eine bewusste Entscheidung – zum Menschsein. In der abschließenden Rede der diese Regel ausführenden Serie von Erbauungsreden 1817.14–16: Daß niemand zu leben verdiene, der nicht zu nützen sucht nach seiner Möglichkeit [abschließende Reden handeln bei Bolzano durchwegs von Anwendung, Durchführung, Umsetzung] meint Bolzano eingangs, dem Menschen, dem müßiggängerischen besonders, könne in der That kein Anblick beschämender sein, als der Anblick jenes so klein und so gering geachteten Thierchens, das wir die Ameise nennen. […] Wenn er bedenkt, was in unserem Texte zu erwägen aufgegeben wird, daß diese Ameise doch keinen Herrn unter den geschaffenen Wesen anerkennt, daß sie doch keinen Pacht zu zahlen und keinen Aufseher zu befürchten hat, und gleichwohl die Arbeit mit solchem Fleiße verrichtet und schon zur Erntezeit weise für den Winter Speisevorrath sammelt: wie sollte ihm da nicht klar werden, daß Thätigkeit und dieß zwar eine auf das gemeine Wohl gerichtete Thätigkeit, ein durch das ganze Weltall herrschendes Naturgesetz sei? (1817.16: 157)

Der Staat der Ameisen als beschämendes Beispiel für die bestehenden menschlichen Staatseinrichtungen, so Bolzano: Ihr Staat ist höchst zweckmäßig eingerichtet; die Ameisen beschämen in ihrer Art durch etwas wie Umsicht und Selbstlosigkeit. Sie kennen sogar eine Art Fürsorge für die nächsten Generationen: Der eingesammelte Speisevorrat ist nicht für die Lebenden selbst, „sondern [ist] für ihre junge Brut, für die noch Kraftlosen bestimmt“. Verglichen dazu findet es Bolzano, es traurig, daß wir mit unserer hochgepriesenen Vernunft es nicht so weise eingerichtet haben, wie diese vernunftlosen Geschöpfe, die es bloß mittelst ihrer Triebe und Instinkte thun. (158)

Beginnen die Erkennenden, dem Obersten Sittengesetz folgend, sich „so viel ih[nen] möglich ist, einer gemeinnützigen Thätigkeit zu befleißen“ (1817.14–16: 139), dann ändert sich die Lebensform des Menschen zu die-

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sem Zeitpunkt wesentlich. Bei dieser letzten ,Verwandlung‘ rückt der Mensch erkenntnismäßig vom bisherigen Bild vom Tier ab. Eine Rückkehr zum reinen Instinktverhalten, eine vollständige Apperzeptionsverweigerung ist für den Menschen als solchen unmöglich, so Bolzano. Erwin Schrödinger geht bei seinen Betrachtungen über Geist und Materie empirisch von der „physikalischen Grundlage des Bewusstseins“ aus und kommt dabei, wenn er über Ethik philosophiert, auf eine bemerkenswerte Veränderung zu sprechen; auf eine Umbildung des Menschen zu einem animal sociale. […] Eine Tierart, die zur Staatenbildung schreitet, ohne den Egoismus einzuschränken, wird zugrunde gehen. Phylogenetisch weit ältere Staatenbildner wie die Ameisen, Termiten, Bienen, haben ihn längst abgelegt … (Schrödinger 1986: 24)

In der neueren Forschung kommt zu den bisher angenommenen Evolutionsfaktoren Selektion und Mutation ein wesentlicher Faktor hinzu, der mit Kooperation zu umschreiben ist und vieles am bisher eher mechanischen Verständnis des Evolutionsprozesses anders verstehen lässt (Novak/Highfield 2011). Max Scheler sieht die anthropologische Entwicklung aus wissenschaftstheoretischer Sicht, im Licht seiner Zeit gemäßer biologischer Forschungen. Er beschreibt den Gegensatz zwischen Gehirn- und Fortpflanzungsfunktionen oder den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit bei zunehmendem Zivilisationsgrad der Gesellschaften. Er erkennt die Begrenztheit des homo naturalis und fragt sich, ob dessen Entwicklung nicht überhaupt eine „Sackgasse der Natur“ darstelle und letztlich nichts weiter erreiche als das, was das Tier viel einfacher, automatischer, nämlich Erhaltung der Gattung und Realisierung spezifischer Ziele (Scheler 1976: 94ff.) zustande bringe. Mit der Vervollkommnung des Verstandes verringert sich die Freiheit des Menschen gleichsam, durch Einsicht. Die Wünsche und Begierden der Einsichtigen geraten zunehmend weniger in Widerspruch mit ihren Einsichten und können gar nicht anders, als mit dem Obersten Sittengesetz übereinzustimmen. Etwas dem Verstand Einsichtiges und Überprüfbares verstanden zu haben, heißt, seine Wahrheit nicht leugnen zu wollen, mehr noch, dies nicht mehr zu können. Mit jeder lebendigen Erkenntnis und ihrer Verarbeitung und Speicherung wird die Fehlerquote bei Entscheidungen – und somit die Möglichkeit des Scheiterns – insgesamt geringer. Wesentliche biologische Zusammenhänge ,verstanden‘ zu haben, heißt so gesehen (im Wittgensteinschen Sinn), diesem Verständnis gemäß zu leben, – und das ist irgendwann keine Frage des Wollens mehr. Der vollkommene Wille ist mit Bolzano als Konvergenz des Wunsches mit den Regeln der Vernunft zu verstehen (Ath2, 192). – Hier ist der Übergang vom Wort zur Tat geschafft.

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Adorno präzisiert einmal, im Gespräch mit Arnold Gehlen, dass der Fortschritt und die Mündigkeit des Menschen erst an der Stelle anfange, „wo die Menschheit […] als Gesamtsubjekt sich konstituiert“ (Grenz 1974: 234). Diese Verwandlung der Menschheit zu einem bewussten Ganzen, dieses Schwester/Brüder-Werden setzt den Zusammenbruch jeder herrschenden Dialektik (der Aufklärung) voraus.

Logik Hermann Broch beschreibt in seiner Analyse des modernen Wertzerfalls auch die inneren Vorgänge des Betroffenen: Alles Denken stimmt aber nur insolange mit den Tatsachen überein, als das Vertrauen zu seiner Logizität aufrecht bleibt. […] die Tatsachen werden erst dann anders betrachtet, wenn die Dialektik zusammengebrochen ist […] auf dem eigensten Gebiet der Logik, nämlich angesichts des Unendlichkeitsproblems […] (Broch 1978: 533)

Broch vergleicht die schier unerschöpfliche Geduld der Menschen mit ihren bisherigen Philosophen mit der Geduld von Patienten angesichts der ärztlichen Kunst… […] und so wie der menschliche Körper den unsinnigsten Kuren vertrauensvoll ausgesetzt wird und dabei sogar gesundet, so erträgt die Wirklichkeit auch das unmöglichste Theoriengebäude, – insolange die Theorie nicht selber ihren Bankrott erklärt. […] Erst nach erfolgter Bankrotterklärung reibt sich der Mensch die Augen, erst dann wendet er sich der Wirklichkeit wieder zu, verlegt den Quell seines Wissens vom Gebiet des Vernunftschlusses auf das der lebendigen Erfahrung. (Broch 1978: 535f)

Der aus Deutschland vertriebene Psychoanalytiker Erich Fromm weist in seiner Abhandlung Die Kunst des Liebens darauf hin, dass hier die bewährte aristotelische Logik nicht weiterhilft. Er weist auf eine „paradoxe Logik“, wie sie etwa schon mittelalterliche Mystiker oder Religionen des Ostens gekannt haben: Gottesliebe führt hier zum Akt des Erlebens des Einsseins mit Gott, und jedes richtige Handeln im Leben bestärkt diese Einheit: nicht das Wissen, sondern das Tun. Dieses zeigt Verständnis, Milde, Duldsamkeit, und darin zeigt sich die Wandlung des (zum) Menschen (Fromm 1956: 483–487). – Es ist in jedem Fall ein Paradoxon, vor dem der Einzelne steht, weil er letztlich keine Wahl hat, wenn er als Mensch leben will, als sich für das humane Leben zu entscheiden. Wirklich paradox wird die Welt für den Menschen, wenn er sich nicht verwandelt; dann beschreitet er die Sackgasse eines Entwicklungsparadoxons (Morris 2012: 36): Dann kommt der Punkt, wo die ganze Kultur (und im Fall einer Weltbeherrschung sich anmaßenden westlich-

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abendländischen Zivilisation) die Entwicklung, ihre selbst geschaffenen Lebens- und Überlebensprobleme nicht mehr lösen kann: Sie werden am Ende nur immer komplexer. Diese Sackgasse wird gerade in Bolzanos Sicht beschritten und sie wird immer enger. Ogwohl die Fortschrittsbegeisterten von der vollkommenen Berechenbarkeit der Welt ausgegangen sind, führt dieser eingeschlagene Weg nicht zu einer berechneten oder berechenbaren Entwicklung: Bereits seit der frühen Industrialisierung des 18. Jahrhunderts, zu Zeiten der Dampfmaschine, folgt die herrschende Aufklärung nicht vernunftgemäßen Bahnen, sondern der faktischen Macht technischer Anwendungen und den persönlichen Gewinnaussichten Einzelner. Von einer bewussten Leitung des Entwicklungsstromes kann man längst nicht mehr sprechen. Reflexionshemmung wesentlichen Einsichten gegenüber, ausgedehnte Apperzeptionsverweigerung, partielle „Blödigkeit“ in Bolzanos Sinn – das alles bestimmt die Art des modernen Fortschreitens. Historiker und Soziologen beschreiben die Entscheidungen, nach der weltbewegende Veränderungen in den letzten zwei Jahrhunderte erfolgen, heutzutage realistisch; so etwa Ian Morris: Change is caused by lazy, greedy, frightened people looking for easier, more profitable, and safer ways to do things. And they rarely know what they’re doing. (Morris 2012: 28)

„Veränderungen werden von faulen, habgierigen, verängstigten Menschen bewirkt, die nach leichteren, profitableren und sichereren Wegen suchen, etwas zu tun. Und sie wissen nur selten, was sie eigentlich tun“. Von einer bewussten Leitung dieses Stromes kann man da nicht sprechen. Mehr noch, Reflexionen über die Grundlagen der Mathematik und ihre Anwendungen oder ein Nachdenken über Zielvorstellungen – zumindest solcher, die über beschränktes privates oder nationales Nützlichkeitsdenken hinausgehen –, fehlen allgemein. Es fehlt die Reflexion darüber; es fehlt die Selbstreflexion derer, die diese Entwicklung vorantreiben. Kritische Beobachter weisen heute auf „blinde Flecken“ in der Technikreflexion hin. Franz Seifert spricht am aktuellen Beispiel der Nanotechnologie eher von einem „Vorwärtsstolpern“ in grundsätzlichen Entscheidungen, als von einem geplanten Vorgehen. Er beklagt das allgemeine Desinteresse, vor allem im Hinblick darauf, dass alle Menschen von den daraus folgenden Veränderungen betroffen sein werden (Seifert 2015). Max Scheler hat, wie schon Bolzano, einen Ausweg aus einer ausweglosen Entwicklung gesehen. Er versteht den Menschen als Wesen, „in dem das Urseiende sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu verstehen und sich zu erlösen beginnt“. (Scheler 1976: 96) Er/es ist „beides zugleich: eine Sackgasse und – ein Ausweg!“

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Theologie Mit der entscheidenden geistigen Weiterentwicklung des Menschen überleben sich frühere Vorstellungen, so etwa das alttestamentarlische Bild einer Sonderstellung des Menschen in der Welt. Vorstellungen wandeln sich und der Vorstellende selbst wandelt sich. In der liturgischen Wandlung (communio), als Element der christlichen Eucharistie, erkannte Bolzano ein wirksames Bild dieser Verwandlung des Menschen, die transsubstantuation. Die Verwandlungsfähigkeit des Menschen wird so sinnlich erfahrbar gemacht und angeregt. Die Teilnahme an der Eucharistiefeier erachtete Bolzano wohl auch deshalb für besonders wichtig. Er verpflichtete seine Freunde mit Nachdruck dazu und ließ keine Möglichkeit aus, sie selbst zu feiern, was er auf höchst konzentrierte, eindringliche Art tat. Max Scheler spricht von einer „Selbstdeifikation“ des Menschen: Der Mensch – ein kurzes Fest in den gewaltigen Zeitdauern universaler Lebensentwicklung – bedeutet also etwas in der Werdensbestimmung der Gottheit selbst. (Scheler 1976: 101f.; 1820.2: 37 [Mt 5,48])

Die Metapher der „werdenden Gottheit“ ist problematisch und klingt hegelianisch; aber sie wird leichter verständlich, wenn wir sie nur auf die Erkenntnisperspektive des Menschen beziehen. Der Mensch ist in seiner Lebensentwicklung „hineinverflochten“ in das „Werden der Gottheit“. Nach Max Scheler ist das im „Erlösungswissen“ angelegt. Bolzano führt aus: „Erziehung ist dem Menschen ein Bedürfnis, das eben zufolge des höheren Ranges, den er in der Stufenleiter der Wesen behauptet, ihm unentbehrlich ist.“ (1819.8: 84) Für Bolzano ist die zunehmende Gottähnlichkeit oder Vollkommenheit jedes Menschen (1820.2), jeder nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, ohne relative oder absolute Wertung, das Kriterium für Fortschritt des Einzelnen wie des Menschengeschlechts zu „künftigen Stufen des Daseins“ (Ath 2,5–11). Der Mensch verwandelt sich gleichsam zum Engel; das menschliche zu einem ,englischen Geschlecht‘, in der geläufigen Metaphorik der Daseinsformen Tier/Mensch/Engel. Bolzanos Gebrauch des Begriffes ,Engel‘ für den durchgeistigten Menschen kommt etwa der gängigen Bedeutung eines ,rettenden Engels‘ in unserem Sprachgebrauch nahe. Neben (1) einem Leben im Einklang mit der Natur sind es auch (2) besondere Kräfte, die den Engel auszeichnen: Kräfte, die ausschließlich im Sinne des Obersten Sittengesetzes eingesetzt werden und etwa zur Betreuung, Pflege und Heilung bedürftiger Menschen aller Art, zur Schaffung von Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen eingesetzt werden.

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,Engel‘ ist schließlich die Bezeichnung für einen verklärten Menschen, wie es Jesus Christus nach seinem Leiden und seiner Auferstehung war. Die historisch überlieferte Auferstehung Jesu bebildert aus seiner Sicht die Hoffnung des Menschen schlechthin. Der Aufbruch in die andere Lebensform verwandelt den Fortschreitenden letztlich in ein ,höheres‘, in der Bedeutung von ,höher organisiertes‘ Wesen einer komplexeren Lebensform. In der gegebenen Welt, setzt Bolzano stets hinzu, müssen zuerst die aktuellen, bestehenden Verfassungen so umgestaltet werden, dass es dieser ,rettenden Engel‘ über kurz oder lang eben nicht mehr bedarf (1815.15–16).

Diskontinuität Die Beweggründe der Forscher sind im 19. Jahrhundert vorwiegend idealer, ideologischer und nationaler Natur. Forschung wird durchwegs als technischformales Entdecken der ,reinen Wahrheit‘ aufgefasst. Das frühere Ziel einer ,Glückseligkeit der Menschheit‘ ist längst außer Sicht, der Nutzen der ganzen Anstrengungen außer Sichtweite. Das einst fest gegründete Gebäude der Wissenschaften zerfällt langsam in einander immer weniger kommunizierende, ,fensterlose‘ Monaden. Die Naturwissenschaften kommen tatsächlich immer härter, mathematisch-empirisch genauer an eine gedachte, abstrakt angenommene Wahrheit; so nahe, dass ihre Ergebnisse großteils alltagssprachlich nicht mehr formulierbar sind. Sie geben bald unbestritten den Ton an und den Weg des Unternehmens Wissenschaft vor. Die Geisteswissenschaften unterliegen häufig dem verzerrenden Einfluss von Zeitströmungen, wie Faschismus und Rassismus. Sie werden ,weicher‘ und verlieren aufgrund ihrer methodischen Unsicherheit tendenziell an Boden und Bedeutung. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts verharrt dabei insgesamt bei einem althergebrachten kumulativen Wissensbild: Wissenschaft wird als ein fleißiges Ansammeln von Wissen und Kenntnissen gesehen. Allerdings: Wer historische Tatsachen ernst nimmt, muß den Verdacht haben, daß die Wissenschaft nicht zu dem Ideal tendiert, welches uns die Vorstellung von ihrem kumulativen Wesen nahegelegt hat. (Kuhn 1981: 108)

Auf dem Weg der Wahrheit gibt es zwei Brüche, den Aufbruch und die Verwandlung. Wir sprechen hier von Vorgängen, die Franz Kafka etwa ein Jahrhundert später in eindringliche Bilder gefasst hat (Kafka Der Aufbruch (1983a); Die Verwandlung (1983b). Niemand kann dem Einzelnen etwas abnehmen. Nur er hört das Signal zum Aufbruch, nur ihm gilt es. Es gibt kein allgemeines Si-

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gnal. Die Verwandlung geschieht jedenfalls, – ihre Verweigerung führt in Verhärtung und Verderben. Franz Kafkas Bild des Käfers macht das deutlich. Im alltäglichen Leben sind diese Erscheinungen viel weniger deutlich als in Kafkas Kunst – sie bestehen aus unübersichtlichen Mengen von Detailentscheidungen und Teileinsichten; aus unterlassenen und selten aus ganz bewusst gesetzten Schritten. Die Verwandlung ist die entscheidende Diskontunuität. Die herrschende Aufklärung nähert sich unbeirrt dem Ziel der technologischen Singularität: dem Punkt, an dem die künstliche Intelligenz in der Lage ist, ihre technische Apparatur selbst zu verbessern. Zugleich ist der Versuch, in das menschliche Erbgut einzugreifen, die seit Bestehen der species Mensch eingerichteten genetischen Keimbahnen zu manipulieren, bereits in Gange. Dieser Versuch, den Zufall in der Entwicklung des Lebens endgültig auszuschalten, bedeutet nicht nur den Verlust der letzten, von Willen und Mut unabhängigen Freiheit des Menschen, der Gnade. Das tatsächliche Eintreten der technologischen Singularität wäre die größte Diskontinuität in der Menschheitsgeschichte, denn sie fällt wohl mit ihrem Ende zusammen.

Entscheidungsfrage Für einen logischen Widerspruch im aristotelischen Verständnis gilt in der Regel das Prinzip der Zweiwertigkeit: Von zwei widersprechenden Auffassungen kann nur eine wahr sein. Es gilt auch das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten: Es gibt kein Entkommen; kein Nichtentscheiden. Die Entscheidungsfrage ist in jedem Fall zu beantworten. Wenn sich jemand nicht die Freiheit nimmt, seine Lebensfrage bewusst zu beantworten, so wird sie durch seine/ ihre eigene Lebensweise beantwortet: Nicht zu entscheiden, also nicht zu diesem Bewusstsein vorzudringen, nicht weiser, besser und glücklicher werden zu wollen, bedeutet eine Entscheidung gegen das Leben, denn eine Rückkehr zu einem unschuldigen Naturzustand ist unmöglich und das Bekenntnis fortzuschreiten und sich aufzuklären, erfordert einen selbsttätigen, bewussten Akt der Veränderung. – ,Aufgeklärt‘ kann man gewissermaßen nicht werden, sondern aufklären muss man sich selbst. Die oberste Wahrheit-an-sich des Obersten Sittengesetzes zu verstehen, heißt letztlich nichts anderes, als sein Leben ändern: Die Lebensänderung ist der einzige mögliche Beweis für dieses Verstandenhaben. Bolzano stellt die Entscheidungsfrage immer wieder, in verschiedensten Gewändern. Er zeigt in zahlreichen Beispielen seiner Erbauungsreden und im Religionsunterricht auf, dass diese Frage nicht nur von jedem Einzelnen,

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sondern auch von jeder sich weiterentwickelnden Zivilisation und jeder Kultur irgendwann zu beantworten ist, bzw. gewesen ist. Vergangene Kulturen sind oft daran gescheitert oder von anderen vernichtet worden. Dafür gibt es genug Zeugnisse. Bolzano macht deutlich, dass sich die Frage für die abendländische Aufklärung hier und jetzt stellt, zwingend und unausweichlich. Zur Verdeutlichung stellt er immer wieder die Parallele mit dem Israel in der Zeit um Jesu Geburt her. Menschen, die diese Entscheidung nicht treffen, versäumen gleichsam die eigene ,Menschwerdung‘. Bolzano sieht also, durch unzählige Scheinwidersprüche und Sprachverwirrungen hindurch, ganz klar auf einen Widerspruch, der jeden Menschen, ja die Menschheit selbst betrifft: Es tun sich zwei Wege auf, und nur einer von beiden ist wirklich und führt weiter. Um hier Klarheit zu schaffen, reicht auch die Bibel nicht aus, so Bolzano. Schließlich legen die Menschen sie widersprüchlich aus: Die einen schließen, der Mensch sei zum Erhalter der Erde bestellt (Gen 1,26), die anderen beschließen, sich die Erde zu unterwerfen (Gen 1,28). Bolzano stellt seine Schüler vor ein wirkliches Dilemma: Welche Art des Ehrgeizes treibt den Einzelnen an? In Ausdrücken der Ethik formuliert er die Frage verschiedentlich: Wirst du tatsächlich ein „guter Mensch“ werden, wie Jesus selbst, dem das so großes Leid eingebracht hatte; willst du das also mit all den Folgen, die das für dein Leben bedeutet? (1616.25: 261f.): (Bolzanos Übersetzung von Paulus (2 Tim 3,12): „So werden alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen wollen, verfolgt werden. Und alle, die fromm leben wollen in Christus Jesus, müssen Verfolgung leiden“). Die immer wieder eindringlich gestellte Frage kann verschieden auftreten:





Lebst Du Dein Leben





im Sinne des universalen Gemeinwohls [OSg] im Sinne des Eigen(National- usw... Nutzens?)



auf dem Weg der Tugend Gehst Du Dein Leben







Gehst Du Dein Leben







auf dem Weg des Lasters? auf dem Weg Wahrheit uf dem Weg der Lüge, des Scheins?

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Die Mächtigen in Staat und Kirche mussten auch im Habsburgerreich in diesen Zeiten tiefer geistiger und politischer Erschütterung vorsichtig sein. Aus machtpolitischer Sicht war Bolzanos Vorgangsweise gefährlich, da er ,revolutionäre Umtriebe‘, so das gängige Reizwort, anregte; ob er selbst dies wollte oder nicht. Letztlich würde seine Vorstellungen einen ungeheuerlichen und auch beunruhigenden Wandel in den Lebensformen mit sich bringen, – eine Lösung von starrem Wahrheitsglauben und Besitzdenken, die sich seit der neolithischen Wende im Abendland so breitgemacht haben: Ein ungeheurer Wandel – Anarchie droht. Anarchie bedeutet Fehlen von Herrschaft, nicht aber Terror (Sombart 1990). Auch wenn Bolzano jede Gewaltanwendung konsequent ablehnte und als Staatsbürger absolut loyal war: Ob er die Kontrolle über eine landesweite anarchische Befreiungsbewegung hätte behalten können, war keineswegs gewiss. Einmal angenommen, es wäre gelungen, und von Böhmen wäre diesmal tatsächlich eine weltweite Bewegung der Vernunft und Brüderlichkeit ausgegangen, selbst dann hätte das auf jeden Fall, – so wie jede Entstehung des Neuen – zunächst eine Phase größter Unruhe, des Chaos und aufbrechender Irrationalität mit sich gebracht. Es waren Veränderungen jener Kategorie, die – nicht nur in Böhmen – schon einmal in einem furchtbaren Prozess geendet und schließlich zu jahrelangen Kriegen geführt hatten. Gelänge es Bolzano und seinen Freunden tatsächlich, die Wende herbeizuführen, dann wäre das eine Art ,Wunder der Vernunft‘. Wunder hielt er allerdings für möglich. Seinem Verständnis von ,Wunder‘ gemäß wäre das (1) sehr unwahrscheinlich, und es würde (2) in engster Verbindung mit der verbreiteten Lehre stehen (1816.36–39). Das offensichtlichste Wunder aus seiner Sicht war die tatsächliche Ausbreitung des Christentums. Die ethischen Umwälzungen, die das frühe Christentum in der Welt bewirkt hat, sind allerdings auch nicht über Nacht geschehen. Bei den Erfolgseinschätzungen blieb Bolzano zurückhaltend: Er erwartete für sich keineswegs, die Verwirklichung so langwieriger gesellschaftlicher Vorgänge, wie er sie im Auge hatte, selbst miterleben zu können. Er war sich deutlich bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit einer wirklichen Wende sehr gering war, lehnte aus diesem Grund jede ,revolutionäre Schwärmerei‘ in diesem Zusammenhang entschieden ab und warnte vor Gewalt, Aufruhr und Ungeduld. Zugleich hätte es wohl nichts gegeben, das ihn vom Weg der wahren Aufklärung abbringen hätte können.

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3 Erbauungsreden als Medium der wahren Aufklärung Die Prager Predigttradition der Frühaufklärung lebt zu Zeiten der mitteleuropäischen Spätaufklärung, in den Prager Predigtkritiken und den Wiener Wöchentlichen Wahrheiten der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts wieder auf. Es geht nach wie vor um die ,Aufklärung irriger Begriffe‘ und um die ,Überwindung von Aberglauben und Irrtümern‘. Mit klarer Begrifflichkeit und logisch scharfem Instrumentarium sollte es möglich werden, den Weg der Wahrheit tatsächlich zu beschreiten, so die Annahme. Bernard Bolzanos Erbauungsreden setzen diese Tradition einer vernunftgeleiteten Religionslehre fort. Sie sollen den zukünftigen Mitgliedern der Höheren Stände, besonders aber den Lehrern und Priestern, das geistige Rüstzeug in die Hand geben, das ihnen bei ihrer Aufklärungsarbeit im Volk nützlich sein kann und soll. Er geht dabei außerordentlich gewissenhaft und planmäßig vor. Die Wohlüberlegtheit des gesamten Versuches ist allein schon aus der Natur der Vorträge an rhetorisch bedeutsamer Position, zu Beginn und am Ende der Studienjahre, abzulesen:

Hereinholen Beginn: Zunächst mussten die ,Arbeiter im Weinberg‘ angeworben werden. In den ersten Vorträgen des jeweiligen Studienjahres bemüht sich Bolzano, die Gründe für den Besuch der ,religiösen Vorträge‘ bewusst und einsichtig zu machen. Größtes Gewicht legt er darauf, dass sich die jungen Leute ihrer bevorzugten Lage bewusst werden und dass sie ihre große Verantwortung für das Gemeinwohl erkennen und wahrnehmen. Besonders in den ersten Jahren erklärt er, in den Anfangsstunden des jeweiligen Studienjahres (1805.1, 1806.1, 1807.1, 1808,1, 2), den ,Nutzen‘ der religiösen Vorträge. Er verweist auf die Christenpflicht, den sonntäglichen Reden – so gesehen waren sie ausgelagerte Predigten – beizuwohnen, wie auch auf die staatlich verordnete Pflicht zum Besuch der Lehrveranstaltung nachzukommen. Bolzano setzt alles daran, den Exhorten ihren ursprünglich anhaftenden Zwangs- und Pflichtcharakter zu nehmen und den Nutzen der Veranstaltung zu verdeutlichen. Ein Beispiel: 1808.2: Über die nützliche Art des Anhörens von Erbauungsreden Dies ist die erste Erbauungsrede, von der eine vollständige Redevorbereitung Bolzanos in Abschrift erhalten geblieben ist, und auch die erste aus der Sammlung der Abschriften, die Bolzanos Freund und Schüler Michael Josef

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Fesl am Priesterseminar zu Leitmeritz organisiert hatte. Das Manuskript ist heute im Literaturarchiv Prag PNP aufbewahrt (Konvolut Bolzano D III). Sie ist die zweite aus einer Serie von zwei Reden zu Beginn des Studienjahres 1807/1808 und steht inhaltlich mit der vorhergehenden ersten Rede Vom Nutzen religiöser Betrachtungsstunden in Verbindung. Die erste dieser Reden ist verschollen, aber ihr Konzept ist anhand von Bolzanos autographischem Index (PNP D III b1) nachvollziehbar. Es ist davon auszugehen, dass den Verfertigern der Abschriften aus dem Leitmeritzer Konvolut die Originalmanuskripte Bolzanos vorgelegen sind. Die Evangelienperikope Mt 13,1–23 (Gleichnis vom Sämann) weicht von der Festtagsperikope laut Messbuch, Mt 13,31–35 (Gleichnis vom Sauerteig), ab, ist aber mit dieser inhaltlich verwandt. Es geht dabei allgemein um die Verbreitung nützlichen Gedankengutes. Im Eingang versucht der Redner, volle Aufmerksamkeit herzustellen. Die Ausführung unterstreicht dann Grundsätzliches: Sollen vernünftige Menschen zu irgend einer Verrichtung und Unternehmung von größerem Umfange bewogen werden; so kann dieß nur dadurch geschehen, daß man sie von dem Nutzen überzeuge, welcher daraus entweder für sie oder für Andere, entweder für ihre Tugend, oder für ihre Glückseligkeit entspringt. (1808.2: 90)

Bolzano setzt voraus, dass ,Vernunft‘ im Sinne des Obersten Sittengesetzes definiert sei: ,Vernünftig‘ ist nicht, sich Wissen und Vorteile zu verschaffen; vernünftig war das nur, wenn diese Vorteile letztlich dem allgemeinen Wohl dienten. Der vernünftige Mensch muss von dem allgemeinen sittlichen Nutzen einer Handlung überzeugt sein, um deren Ausführung anzustreben oder dazu bewogen werden zu können. – Aus diesem Grund stellt Bolzano jetzt, nach den begrifflichen Vorarbeiten in der ersten Rede des Studienjahres, den Nutzen, der aus den wöchentlichen Reden erwachsen soll, genauer dar: Zunächst knüpft er an die Rede vom letzten Sonntag an und wiederholt die dort ausgeführten Elemente der Argumentation: (1) Die Einsetzung öffentlicher Erbauungsreden hatte schon im Altertum ihren Sinn. [Der Altersbeweis bringt grundsätzlich den Autoritätsvorteil durch die Nähe zum göttlichen Ursprung ins Spiel]. Er stellt die Lehrveranstaltung damit in die frühchristliche Tradition und weist zugleich auf erfolgreich ausgeübte Praktiken „bei allen Völkern“ hin (1808.1: 89). (2) Eine ständige Wiederholung, Festigung und Erweiterung der sittlichen Belehrungen ist „zur Beförderung der Tugend bei der großen Menge des Volkes schlechterdings unentbehrlich und für Gebildete wenigstens von größtem Nutzen“. (1808.2: 91) Die Menge der religiösen Wahrheiten (1808.2: 89) oder nützlichen Erkenntnisse (1808.2: 91) ist unbegrenzt, unerschöpflich, unendlich; „die Vernunft vermag durch zweckmäßiges Nachdenken zu den bereits entdeckten noch immer neue nützliche Wahrheiten hinzuzufinden.“ (3) Anschluss an die

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vorige Rede: „Wir schlossen endlich mit dem, ich hoffe, nicht ungegründeten Beweise, daß auch selbst das Gesetz, das den Besuch der Erbauungsstunden auf jeden Sonntag festgesetzt, nichts weniger als ein unbilliges und übertriebenes Gesetz sey“ (1808.2: 91). Er fügt hinzu, dass er sich selbst von diesem Prozess des Fortschreitens nicht ausnehme, er selbst also „durch jede der künftig zu haltenden Erbauungsstunde um etwas weiser, besser und glücklicher“ zu werden hoffe. (4) Mit dem Hinweis, dass viel auf die rechte Art des Anhörens ankomme, wenn die Reden den zu erwartenden Nutzen bringen sollten, leitet er auf den eigentlichen Inhalt der Rede über: Die Abhandlung soll nun die Gründe und Gegengründe für die im Titel aufgestellte Behauptung anführen. Nachdem die Frage, ob aus Erbauungsreden überhaupt Nutzen gezogen werden könne, grundsätzlich geklärt ist, muss ausgeführt werden, wie der größte Nutzen daraus zu ziehen sei. Bolzano beginnt mit der allgemeinen Feststellung, dass „ein und derselbe Unterricht bei mehreren Zuhörern oft die verschiedensten Wirkungen hervorbringe“, dass es vom Ernst und von der Aufmerksamkeit des Zuhörers abhänge, wie groß dieser Gewinn sein könne (1808.2: 92). Die folgende Dreiteilung ergibt sich aus der Gliederung in die drei Zeitstufen des Vorher, Jetzt und Nachher der Redesituation: 1. Vorbereitung der Hörer: Gedanken existieren mental nicht unabhängig voneinander, so Bolzano, sondern sie beeinflussen einander. Daraus ergibt sich zum einen überhaupt die Möglichkeit einer Empfänglichkeit für moralische Belehrungen (1808.2: 93), und zwar dadurch, dass sich der Hörer mit Gedanken, die den gerade vorgebrachten gleichgerichtet sind, oder zumindest nicht widerstreiten, auseinandersetzt. Daher die Forderungen (a) „Wir müssen nämlich – dieß ist das erste Stück – noch vor dem Anfange unserer Erbauungsstunden alle fremdartigen und unserem Unterrichte, welcher uns hier ertheilt werden soll, sicher ungünstige Vorstellungen aus unserem Gemüthe sorgfältig entfernen“ (1808.2: 93). Gedanken an Kleidung, Nahrung, an das Fortkommen im Studium etc., seien daher jetzt zurückzudrängen. (b) Es sei vielmehr sinnvoll, sich mit Vorstellungen zu befassen, die den zu erwartenden Lehren ähnlich sind, und er empfiehlt, an die allgemeinen Grundsätze der Sittlichkeit und Tugend zu denken, „und mit dem Vorsatze in den Hörsaal [zu] treten: daß jetzt die wichtige, den sittlichen Betrachtungen geheiligte Stunde angehe, daß Sie jetzt aufmerken, und gern annehmen wollen, was Sie hier immer zu Ihrer Besserung und Belehrung finden werden.“

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2. Aufnahme der Gedanken: Während des Vortrages ist jede Zerstreuung hintanzuhalten und das Augenmerk auf das Wesentliche des Inhalts zu legen. Bolzano empfiehlt, (a) jede Ablenkung, und sei sie auch durch ein Wort des Redners verursacht, im Keim zu ersticken, und den Sprechenden nie aus den Augen zu verlieren. (b) Der Zuhörer solle versuchen, den wesentlichen Inhalt des Vortrages bedachtsam aufzufassen und sich einzuprägen, dabei aber nicht auf einzelne Buchstaben, Wörter oder Bilder achten, nicht (wörtlich) an der Schale bleiben, sondern (inhaltlich) zum Kern der Sache vorzudringen; im Sinne der Evangelienperikope Mt 13,1–15: „Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht. Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt (Jesaja 6,9-10): Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit ihren Ohren hören sie schwer, und ihre Augen haben sie geschlossen, auf dass sie nicht mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, dass ich sie heile …“. 3. Nachbereitung: In einer Stunde kann nur der Samen gestreut, der Funke in unser Herz gelegt werden (1808.2: 97). Dazu muss aber das Gehörte zuerst gefestigt und in der Folge angewendet werden. (a) „Neu erlangte Überzeugungen“ bedürfen öfterer Überprüfung und Wiederholung, um wirksam werden zu können. (b) Vor allem „Geistesträgheit“ sei es, die Menschen daran hindere, erkannte Regeln der Weisheit auf sich selbst und auf ihr eigenes Betragen zu übertragen und das führe zu seltsamen Widersprüchen. Deshalb verlangt er, müsse es eine uns zur Gewohnheit gewordene Regel seyn, bei jeder neuen Uiberzeugung, die uns zu Theil wird, und bei jedem neuen Gedanken, der in uns aufsteigt, die Frage aufzuwerfen: was folgt hieraus für deine Lebensweise? solltest du diesem Grundsatze auch schon bisher, obgleich du ihn nicht deutlich anerkanntest, gefolget seyn? Wenn nicht, was ist von nun an abzuwenden? was ist noch heute, was ist noch jetzt zu thun, meine Freunde? Dieß sind nun die Fragen, die Sie am Ende jeder unserer Erbauungsstunde sich selbst zu stellen und mit Geschäftigkeit zu beantworten nie unterlassen dürfen, wenn Sie wahren Nutzen von denselben haben wollen. Ich weiß es wohl, daß dieses Geschäft, in dem Augenblicke, da es verrichtet wird, das angenehmste und das vergnügendste nicht immer ist. Es ist unangenehm die leisen Regungen seines Gewissens laut werden zu lassen […] – Allein, wie thöricht wäre es, wenn wir aus feiger Furcht von diesen Unannehmlichkeiten das heilsamste Geschäft unterließen? (1808.2: 98.)

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Am Schluss verstärkt er nochmals die gewonnenen Einsichten, mit stark appellativem Charakter: Wohlan! so soll uns denn das Geschäft unserer Besserung nicht mehr ein lästiges, sondern das angenehmste und süßeste heißen, denn segnen, so verheißet uns selbst die Bibel, segnen werden wir einst die Traurigkeit, die unsere Besserung bewirkt. (Amen 98f., vgl. 2 Kor 7,9f.; Hebr 12,11)

Mit diesem Aufruf entlässt er „seine Freunde“. Ein Verstehen der Botschaft zeigt sich darin, dass bestimmte Haltungen, wie Gewissenhaftigkeit, Gemeinschaftsgeist, Verantwortungsbewusstsein, tatsächlich ausgeübt werden. Sind die Hörer einmal von dem Nutzen der Erbauungsreden überzeugt, dann besuchen sie diese gern und freiwillig, so Bolzanos Überlegung. Das nächste Studienjahr beginnt er folgendermaßen: Beweggründe, warum Studierende den religiösen Vorträgen, die sonn- und feiertäglich für sie gehalten werden, mit Lust und Liebe beiwohnen sollen. (1809.1)

Solche Gründe gibt es aus Bolzanos Sicht mehr als genug: Die Studierenden sollten teilnehmen, auch wenn sie kein Gesetz dazu verpflichte; denn (1) Jugendliche können die wahren Lebensgrundsätze nicht bloß aus sich selbst schöpfen, sie bedürften einer Anleitung. (2) Kanzelreden, also Predigten im Rahmen des Gottesdienstes, seien dazu nicht geeignet; dafür gab es jetzt die Exhorten, die der Staat so fürsorglich und weise für sie eingerichtet habe. Sie sollten (3) die Erbauungsreden gerade jetzt, da sie die gutgemeinte Aufforderung des Gesetzgebers dazu veranlasse, besuchen. Zwar schafften solche Gebote stets unangenehme Gefühle und Ablehnung – aber wer wollte, allein aus kindischem Trotz gleichsam, solchen „dunklen Vorstellungen und Gefühlen“ folgen, vielleicht gar zu seinem Leidwesen? Ein solches Gebot lege (4) den Studierenden in Wahrheit keine neue Last auf – das war der ursprüngliche Vorwurf gewesen, dessen Argumente er entkräftet hatte –, denn eine an sich nützliche Sache brauche eigentlich gar kein Gesetz und schränke ihre Freiheit in Wahrheit gar nicht ein. Vielmehr schränken sie selbst ihre Freiheit ein, wenn sie, vielleicht nur aus Ärger über dieses Gebot, oder aus unbegründeten Vorurteilen und Ängsten, auf nützliche Belehrungen verzichten. Die rhetorische Kraft solcher Gedankenfolgen (persuasio) wurde noch dadurch erhöht, dass Bolzano stets widersprechende Meinungen einführte (im ductus subtilis), mit der Absicht (consilium), beim Publikum eine dieser Meinung entgegengesetzte, also in seinem Sinn positive Wirkung provokatorisch zu erzielen (Lausberg 1990: 33f.). Man konnte das Besondere an Bolzanos Unterricht nicht etwa durch einen göttlichen Schauer (mysterium tremendum) erfahren, in Begriffen von Rudolf

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Otto ausgedrückt (Otto 1917). Schüler wie Anton Günther oder Emanuel Veith warteten umsonst darauf. Aber es gab doch etwas wie ein mysterium fascinans: Bolzanos bedeutendes Charisma folgt schlicht aus der Kraft systematischen Denkens und aus dessen vollkommener Übereinstimmung mit seinem alltäglichen Leben. Bolzanos Schüler und Freund Franz Příhonský beschreibt seinen Eindruck von Bolzanos Vortrag so: In der edelsten Einfachheit, wie wir dieß sonst bei keinem Redner, weder des Alterthums noch der Neuzeit, es sei denn bei dem großen Demosthenes, antreffen, bewegt sich der Vortrag seiner Erbauungsreden. Äußerer Schmuck und sonstiges Beiwerk wird nirgends angewendet, und der verwöhnte Geschmack sieht sich umsonst nach glänzenden Epithetis, ungewöhnlichen Figuren und sogenannten geistreichen Wendungen um, als hätte er erwartet, die reine lautere Wahrheit müsse durch sich selbst, durch ihr bloßes Auftreten den Sieg davon tragen, in ihrer nackten Schönheit die Herzen aller gewinnen. (ER 1849: VIf [Vorrede]; s. a. Zeithammers Brief an Bolzano vom 22.11.1840 [Bolzano 2007: 100ff.]).

Das ist keine übliche ,Kathederprophetie‘, wie Max Weber formuliert (1975, 36f): Bolzano vertraut gewissermaßen auf die Kraft der Wahrheit. Franz Příhonský (1788–1859) kannte seinen Freund und Lehrer gut: Dieser bekennt tatsächlich einmal gegenüber seinen Zuhörern (1818.12: 112): „Auf die Macht der Wahrheit, die für sich selbst überzeugt, habe ich gerechnet, meine Freunde…“ Im Laufe der Jahre setzt Bolzano auch andere Themen an die prominente Stelle des Studienbeginns; zuweilen unterstreicht er darin Grundsätzliches, den Zeitpunkt und den Anlass der Vorträge betreffend: Über die Feier des Festtages (1810.1). Im Studienjahr 1810/11 geht er auf mögliche Störungen in Bezug auf Einstimmung, Aufmerksamkeit, Nachbereitung ein: Von den gewöhnlichen Fehlern, welche bei der Anhörung religiöser Vorträge begangen werden (1811.1). Er betont immer wieder die Verbindlichkeit, religiöse Vorträge zu hören (1812.1, 1813.1) und ,beweist‘, dass es auch „ein ungültiger Grund sei, religiöse Vorträge darum nicht zu besuchen, weil es so viele andere nicht tun“. In der Eingangsrede (1810.1) stellt Bolzano die Frage, ob es überhaupt sinnvoll sei, Feiertage aus dem Alltag herauszuheben: Zunächst bedeute die Feier des Festtages eine dem Menschen allgemein und seit jeher sehr hilfreiche Strukturierung seines Lebensalltags, so Bolzano: Die Sitte, welche wir unter allen gebildeten Völkern antreffen, daß sie gewisse Tage des Jahres aus der großen Menge der übrigen besonders ausheben, um sie den doppelten Freuden, dem frommen Andenken an Gott, und dem Genuße unschuldiger Ergötzungen zu weihen. – Diese Sitte ist gewiß weise und gut und alles Lobes werth. (1810.1: 21)

Bolzano tritt hier gegen Säkularisierung und Verweltlichung der Sitten an, – unter der Voraussetzung, dass die ethischen und religiösen Formen und

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Formeln aus ihrer Erstarrung gelöst und weiterentwickelt werden. Die Gegenargumente, die er hereinholt, klingen ganz aktuell, etwa dass der Sonntag ein Tag wie jeder andere sei, oder dass man sich auch an Werktagen sehr gut vergnügen könne: Das Aufgeben dieser bewährten Sitten bringe aber viele nachteilige Folgen, führt er aus: Leichtsinn und Oberflächlichkeit, rasches Urteil und leichtfertiger Spott machen bald auch vor den ehrwürdigen Büchern Gottes nicht Halt, wie vor der bekannten Stelle aus dem Ersten Buch Mose, das Bolzano als Perikope zu dieser Rede wählt: „Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht…“ (Ex 20,8–11). Bolzano hält fest, (1) dass es Sinn habe, der Forderung zu einem Ruhetag nach der Arbeit nachzukommen. Das sei notwendig, denn es ist „so gar nichts Seltenes unter uns, daß wir uns von dem Streben nach Reichthum und nach den übrigen Mitteln zum Genusse so sehr beherrschen lassen, daß wir darüber den Genuß selbst verabsäumen“ (1810.1: 24). Es ist (2) schwierig, das rechte Mittelmaß von Arbeit und Ruhe zu finden. Die geltende formale Regelung setzt der natürlichen Vergnügungssucht der Menschen ihre Schranken, indem sie diese auf wenige, bestimmte Tage beschränkt. (3) In der gelösten Atmosphäre eines gemeinsam begangenen Festtages könne sich die Erkenntnis von „aller Menschen wesentlicher Gleichheit“ leichter verbreiten, ebenso wie die Einsicht, dass die Menschheit eine gemeinsame große Familie bilde. Gemeinschaftlich begangene Festtage brächten ausgleichende Bewegungen, sie regten auch zur Mildtätigkeit gegenüber Ärmeren und Schwächeren an … kurz, wenn Sittlichkeit und Religion unter den Menschen nicht ganz zugrunde gehen sollten, dann sei die Einhaltung religiöser Festtage unabdingbar; Wenn es dahin kommen soll, daß sich die Menschen nicht, durch den Glanz trüglicher Scheingüter verblendet, so oft selber ins Unglück stürzen sollen, [sondern] daß sie sich unter einander alle als wahre Brüder lieben, und ihr gemeinschaftliches Wohl mit weiser Übereinstimmung befördern: so müssen sie öfters an diese Pflichten erinnert und darüber gehörig aufgeklärt werden. (1810.1: 26)

Auch das sei die Aufgabe der ,sittlichen Vorträge‘; dazu könne aber auch die Kunst beitragen. Dabei hatte Bolzano vor Augen, dass die Menschen in brüderlicher Eintracht ihr gemeinschaftliches Wohl mit weiser Überlegung befördern; „denn nur der Glaube aller (heißt es) stärkt den Glauben“ (1810.1: 27). Der Anklang an Friedrich Schiller ist nicht zufällig; sein Name ist an den Rand des Manuskripts notiert: Bolzano spielt auf Schillers Maria Stuart an: – Die Kirche ists, die heilige, die hohe, Die zu dem Himmel uns die Leiter baut, Die allgemeine, die katholsche heißt sie,

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Denn nur der Glaube aller stärkt den Glauben, Wo Tausende anbeten und verehren, Da wird die Glut zur Flamme, und beflügelt Schwingt sich der Geist in alle Himmel auf. (5. Akt, V 3610) (NA 9/1, 146)

Das gemeinsame religiöse Feiern aller Menschen, „die eines guten Willens sind“ (27f.; Lk 2,14), wie es auch in Volksfesten stattfindet, – das ist der Marktplatz, auf dem die sittlichen und religiösen Begriffe gemeinsam belebt, erneuert, ergänzt und berichtigt, also weiterentwickelt werden, wo der sensus communis gepflegt wird. Schafft man die Feiertage ab, dann gehe diese ganz entscheidende Möglichkeit für die sittliche Weiterentwicklung der Menschheit verloren (1810.1: 28). Die Bedeutung von Regel und Ritus ist hier keine abgehoben sakrale mehr, sondern eine ganz konkrete, alltägliche. Abschließend geht Bolzano, wie immer am Ende der Vorträge, auf die tatsächliche Umsetzung ein; in diesem Fall auf die „doppelten Freuden“ des Genusses unschuldiger Vergnügungen und des frommen Andenkens an Gott. Dazu gibt er praktische Anleitungen: Die Tage der Freude seien zuerst Tage des erhöhten Lebensgenusses. Dies bedeute für die Studierenden (1) Ausspannung nach Tagen des angestrengten Studierens; (2) eine besondere Lage, der sie durch Verhalten und Kleidung auch äußerlich Rechnung tragen sollen; (3) erlaubt standesgemäße Vergnügungen, welchen sie gemeinsam nachgehen können. Das Andenken an Gott biete (1) den Studierenden Gelegenheit, den eigenen sittlichen Zustand einer genauen Selbstprüfung zu unterziehen. (2) Der Besuch der Erbauungsreden, verstanden als „zweckmäßig eingerichtete religiöse Vorträge“, bedeute einen Gewinn für ihre „Herzensbildung“ (1810.1: 32). Folglich (3) müsse ihnen allen die gemeinsame Feier der Heiligen Messe am Tag des Herrn ein Anliegen sein und weiterhin bleiben. Bolzano legt seinen Schülern die unausweichliche Pflicht auf, unaufhörlich danach zu streben, sittlich besser und weiser zu werden. Diese Pflicht gelte für jeden Menschen, wie er in der Redeserie 1813.23/24 ausführt; aber besonders eben für seine Schüler, denn sie seien es, die einst höchste Ämter zu besetzen und die Geschicke des ganzen Landes in Zukunft zu leiten hätten. Nichts sei schlimmer, so Bolzano, als wenn diese Ämter nicht von den Allerbesten im Land gelenkt würden. Davon freilich seien leider die meisten Staaten Europas noch weit entfernt, so er. Sollte sich jemand in der Runde seiner Zuhörer nicht geeignet fühlen, so große Verantwortung zu übernehmen, so Bolzano, dann möge er diese Lehranstalt lieber verlassen! Alle sollten in diesem Sinn Selbsteinschätzung

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und -kontrolle üben (1813.2, 35f). Dazu hat er jene Stelle des Römerbriefes gewählt, in der Paulus seinen christlichen Zuhörern den Rat erteilt Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist. (Röm 12,2)

Der Pflicht des Fortschreitens nachzukommen heißt, den Weg zu sich selbst zu gehen und sich nicht ausschließlich nach der großen Menge zu orientieren. Bei aller Strenge trauert Bolzano um jeden, der es nicht schafft. Zu Beginn des Studienjahres 1812/13 erinnert er, bei aller Freude über den gefüllten Hörsaal, mit Wehmut an die verhältnismäßig große Zahl der Studienabbrecher und findet dabei ganz persönliche Töne: Diese Erinnerung, meine Freunde, wie so schmerzlich ist sie nicht für mich, mit welcher Wehmuth erfüllt sie nicht mein Herz, denn sie ist nichts anders, als die Erinnerung, daß ich 8 Jahre meines Lebens, acht Jahre an der Blüthe meines Lebens beynahe verlohren habe, daß ich den Hauptzweck meines Aufenthalts in dieser Lehranstalt, einen Zweck, den ich mit aller Anstrengung meiner Kräfte, mit einer bedeutenden Anstrengung meiner Gesundheit, endlich auch mit Hintansetzung so mancher andrer wichtiger Zwecke zu erreichen bemüht war, doch! gleichwohl nichts erreicht habe! Wie traurig wird mir erst vollends diese Erinnerung, wenn ich die Vergangenheit als ein Vorbild der Zukunft betrachte, und aus den Umständen, daß meine Bemühungen mir 8 mal mißlungen sind, den Grad der Wahrscheinlichkeit bestimmen will, mit dem ich hoffen darf, daß sie das 9te mal mir gelingen werde (1813.1: 20)

Diese Eingeständnisse gehen weit über eine rhetorische captatio benevolentiae hinaus, die man am Redebeginn annehmen dürfte. Sie zeigen, wie ernst es ihm mit seiner ,Lebensaufgabe‘ ist: Auch Jesus machte es nicht anders. Gleich in den ersten Tagen seiner Bekanntschaft mit ihnen gab er den jungen Männern, die er zu künftigen Predigern seines neuen Glaubens aufnahm, deutlich genug zu verstehen, zu welchen großen und wichtigen Zwecken sie Gottes Fürsehung auserkohren habe (1813.4: 52)

so heißt es zu Beginn einer Rede, die jene Eigenschaften der jungen Männer ausmalt, welche die Arbeiter im Weinberg, oder seine idealen Schüler, zieren sollten: Was Jesus (als Mensch) gelungen ist, konnte grundsätzlich auch (ihm und) allen anderen gelingen, so die Botschaft; sofern man nur beherzt ans Werk ging. Bolzano gebraucht das in der Bibel von Anfang an (Gen 9,20) häufig verwendete Bild von der ,Arbeit im Weinberg‘ (Mt 20,1), um den Auftrag, den er auszuführen im Begriff steht und für den er seine Schüler vorbereitet, zu verdeutlichen. Die Rede 1806.14, in der das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ausgeführt wird (Perikope Mt 20,1–16 [laut Messbuch]), gehört zu den frühen,

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verschollenen. Bolzano kommt immer wieder darauf zu sprechen und es ist stets klar, worum es geht: Unter der ,Arbeit im Weinberg‘ versteht er die Ausführung dessen, was das Oberste Sittengesetz verlangt. Schluss: Bolzano wählt die Stellen von der „Größe der Ernte“, „Anweisung für die Mission“ und „Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis“ als Anlaß (Perikope) für die Rede am Schluss des Studienjahres 1809/10, in der er mit besonderem Nachdruck (an rhetorisch bedeutsamer Stelle) seine Schüler zur „Rettung und Beglückung [ihres] Vaterlandes aufruft (1810.54: 542): Kein Zweifel: Er erwartet Großes von seinen Schülern. Er stellt eine große Ernte in Aussicht. Das birgt Gefahren. Er verschleiert das nicht. Mehrfach zitiert er (Lk 10,3): „Ob ich euch gleich wie Lämmer hin unter die reißenden Wölfe sende, doch fürchte dich nicht, du kleine Herde …“ Die sonn- und feiertäglichen Erbauungsreden waren das ideale Transportmedium für Bolzanos Anliegen, – die Verbreitung der besseren Begriffe. Diese Reden wurden auch bald zu einem intellektuellen und spirituellen Großereignis im Prag der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Bolzano hielt das Abschreiben und Mitschreiben der Reden seitens der Hörer für wichtig. Der josephinische Schulreformer Gottfried van Swieten hatte sich entschieden gegen das von Karl Anton von Martini erlassene Verbot aller schriftlichen Notizen während der Vorlesungen gestellt. Er hatte die Bedenken der philosophischen Lehrer der Prager Universität bei seinem Vortrag in der Studienhofkommission vom 15. August 1791 ins Treffen geführt: Was das Nachschreiben in den Vorlesungen betrifft, sagten sie, so ist bey den hiesigen Schülern der Philosophie gewöhnlich, dass die fleissigeren aus ihnen das Wesentliche des mündlichen Vortrages mittels kurzen Erinnerungsnotaten in ihre Schreibtafel aufnehmen, sodann aber zu Hause erst ausarbeiten und ins Reine schreiben. Welche Verfahrungsart folgende wichtige Vortheile gewähret. (Wangermann 1978: 103f.).

Genau das empfahl Bolzano jetzt seinen Studenten. Er wies sie besonders in didaktischen Einführungen und mnemotechnischen Anleitungen zu Beginn des Unterrichtsjahres stets darauf hin, mitzuschreiben und das Aufgeschriebene zu Hause nochmals zu durchzudenken und zu wiederholen, damit ihre Inhalte sich zu aktivem Wissen verfestigten (1811.1, 29ff.). Die bewusste Erinnerung, das Vergegenwärtigen ist es nach Bolzano, was Erfahrungen erhält, Vorstellungen lebendig macht und damit das geistige Fortschreiten mit ermöglicht. Johann Emanuel Veith berichtet: [Bolzanos] Vorträge und Erbauungsreden, die er an Sonn- und Feiertagen hielt, fanden großen Beifall nicht nur an der Universität, sondern auch außerhalb derselben, und zahlreiche Abschriften davon kamen in Umlauf. (Loewe 1879: 12)

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Die Arbeiter im Weinberg In einer Serie von fünf zusammengehörigen Reden zeichnet Bolzano zu Beginn des Studienjahres 1812/13 das Bild des idealen ,Arbeiters im Weinberg‘ (1813.2–6, also des Studenten, wie er ihn sich vorstellt: Schilderung eines Jünglings, der sich auf musterhafte Art zu höherem Stande vorbereitet. Eingangs wird der Wunsch zur Segensformel: Möchte ich glücklich mit dieser Schilderung seyn, möchte die Schönheit dieses Bildes Sie alle einnehmen, meine Freunde. Möchten Sie alle nichts sehnlicher wünschen, als demselben gleich zu werden! Möchten Sie jeden [Charaker-]Zug, der Ihnen bis jetzo fremd gewesen war, auch bei sich nachzuahmen trachten! Möchte der Segen des Höchsten bewirken, daß ich in dieser Hoffnung mich einst nicht ganz getäuscht finde. (1813.2: 33)

Bolzano betrachtet seine Schüler als jene (durch ihre Interessen und Begabungen) qualifizierte Gruppe von Arbeitern im Weinberg, die eine neue Art des Glaubens im ganzen Land verbreiten, die ,Jünger des neuen Weges‘, wie das zu frühchristlichen Zeiten hieß. Die Saat sollte dann in künftige Generationen aufgehen. Es sollte alles getan werden, „was sich zur Abhilfe menschlichen Elendes und zur Beförderung des Wohlseins unseres Geschlechtes leisten lasse.“ An der rhetorisch bedeutsamen Stelle am Schluss des Studienjahres 1809/10 hat er angekündigt: „Die Ernte ist groß“ – mit diesen Worten fängt Jesus seinen Vortrag in unserem Texte an – die Ernte ist groß, allein der Arbeiter sind leider wenige; bittet demnach den Herrn, auf dass er noch Arbeiter in seinen Weinberg senden möge. (1810.54, 534; vgl. Mt 9, 37)

In der Serie ist ausgeführt, wie diese Arbeiter und Arbeiterinnen beschaffen sein sollen. Sie beginnt mit Bolzanos pädagogischem Grundsatz: „Die beste und wirksamste Art, Menschen zu unterrichten, meine Freunde, ist immer die durch Beispiele.“ (1813.2: 31) Bolzanos Beispielgeber ist Jesus Christus. Ihm ist der Beginn der ,echten Aufklärung‘ für die Menschheit zu danken. Er hat die wesentlich neuen Begriffe über Gott, Ewigkeit und Güte aus- und vorgeführt. Auch die Auswahl der Apostel nach ihren besonderen Eigenschaften, die Jesus vorgenommen hat, ist maßgeblich für Bolzano. Nachdem er eine Woche zuvor aufgezeigt hat, dass es keinen vernünftigen Grund geben könne, Möglichkeiten der Fortbildung in den Wind zu schlagen, kommt er nun in positiver Form wieder auf die „wirksamste Art, Menschen zu unterrichten“ zurück und entwirft ein beispielhaftes Bild mit zwölf (!) Charakterzügen, je drei in vier Reden abgehandelt. Dazu kommt noch die Schlussrede mit Anweisungen zur Umsetzung. Er räumt vorweg ein:

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wenn auch die Züge, die ich entwerfe, noch immer zu jenen allgemeinen gehören, welche des sinnlichen Reitzes für das Auge ermangeln; denn auch der Mahler, der ein Gemählde ausarbeitet, fängt mit gewissen, sehr unbestimmt scheinenden Grundzügen an, welche das Auge zwar noch nicht ergötzen können, für die Vollendung des Gemähldes aber von größter Wichtigkeit sind. (1813.4: 53)

Das Bild zeigt Jesus Christus, als ,höchstes Vorbild‘, und das seiner Jünger. Für die anwesenden Schüler wirkt freilich zuerst Bolzanos eigenes, vorgelebtes und konkret nachvollziehbares Vorbild; ohne dieses wäre alles vergebliche Mühe. Das Bild, das er jetzt ausmalt, soll die Zielvorstellung, die sich die jungen Leute vorsetzen können und sollen, verdeutlichen. Bolzano geht davon aus, dass „man das Ziel, worauf man strebet, genau und richtig kennen müsse, will man es nicht bei aller Eile danach verfehlen“. So führt er den Studierenden Anfang [das waren eben sie selbst] und Ende [vorbildliche Jünglinge] der ganzen Erziehungsbewegung vor. Damit schafft er eine Dynamik, die aus der Spannung zwischen dem je aktuellen und naturgemäß unvollkommenen Zustand des einzelnen Gläubigen einerseits – und Vollkommenheit (letztlich Gottes) folgt (1820.2 Vom Wesen der Vollkommenheit …). Jesus hat als Mensch das Höchstmaß an erreichbarer Tugend und Vollkommenheit verkörpert. Wer Bolzanos Vortrag und Beispiel folgt und versteht, sucht nach Vervollkommnung und Annäherung an das Ziel der sittlichen Vollkommenheit (Hornig 2002: 301). Die Einfachheit dieser Skizze sollte alle wesentlichen Charakterzüge in einem Entwurf übersichtlich und, mit dem Beispiel Bolzanos vor Augen, in Bild, Wort und Tat anschaulich machen. Diese Vorträge sind zugleich die Fortführung und Erweiterung der ,Akademischen Pflichtenlehre‘ aus seiner frühen Lehrtätigkeit. Zu verlangen ist: • • • • • • • • • • •

Ein gesunder Körper und überdurchschnittliche Geistesgaben gute Erziehung, die vor üblen Lastern bewahrt und Talente geweckt hat gefühlvolles Herz reges sittliches Gefühl echt religiöser Sinn verfeinerter Ehrtrieb Sinn für das Schöne heitere Sinnesart Vaterlandsliebe Bedürfnislosigkeit, Genügsamkeit in der Lebensführung Fleiß und Ausdauer

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• Sinn für den Mitmenschen (und für das Große der gesamten Unternehmung) Ein Blick auf diese Merkmale oder ,Wahrheiten‘, zugleich Kennzeichen der künftigen Lebensform, für die Bolzano steht: 1. Gesunder Körper: Als erste Voraussetzung nennt Bolzano einen gesunden Körper, und dazu gehören in diesem Fall auch mehr als gewöhnliche Geisteskräfte. Dass er die erste Voraussetzung in der Leiblichkeit sieht, bezeugt seinen klaren Wirklichkeitssinn, denn Verantwortung zu tragen bedeutet auch körperliche Anstrengung. Ein Arzt müsse gesunde Sinneswerkzeuge besitzen und jeder, der unterrichtet, solle zumindest nicht über ein abschreckendes Äußeres verfügen. Bolzano sieht immer den ganzen Menschen und betont, dass der gesunde Geist in einem ausgeglichenen Körper auch mehr zu leisten vermag. Bolzano trieb selbst konsequent Gymnastik und achtete sehr auf seine Physis. Wie immer, so räumt er auch hier Ausnahmen ein, – zu denen er in diesem Fall selbst gehörte –, und erwähnt, „dass in nicht seltenen Fällen auch ein Mann vom schwachen, kränklichen Leibe ein treffliches Mitglied höherer Stände werden und wirklich große Dienste der menschlichen Gesellschaft leisten könne“ (1813.2: 33). Dass in den Körpern seiner Schüler nicht nur ein gesunder, vielmehr ein hervorragender Geist wohnen müsse, war eine Forderung, die sich von selbst verstand, lagen doch die wichtigsten Güter der Menschen und damit außerordentlich große Verantwortung im ganzen Staate in den Händen der Mitglieder der höheren Stände; mittelmäßige Kräfte langen dazu nicht aus, bringen es höchstens zu einem gedankenlosen Nachsprechen auswendig gelernter Formeln, nie zum Verstehen [=Anwenden] derselben. (1813.2: 35.)

2. Erziehung: Bolzano zeigt, es gehe hier vor allem darum, dass die Möglichkeiten, die ein junger Mensch in sich trägt, nicht durch falsche oder mangelhafte Erziehung vorzeitig verbaut werden, dass der Lehrer also nicht erst „vieles niederzureißen hat, bevor er aufbauen kann“. Das ist nicht standesmäßig gedacht, sondern heißt nur, dass in der Erziehung sehr viel Schaden angerichtet werden kann. Bolzano schätzt diese Gefahr realistisch und hoch ein. 3. Gefühlvolles Herz: Spätestens bei dieser Forderung wird klar, wie anders, im Vergleich zu den herrschenden Vorstellungen, sich Bolzano eine künftige Gesellschaft denkt. Er geht hier ganz im Sinne Pascals

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von einer „logique du cœur“ aus, von einer Sprache des Herzens, die ohne Umwege vermag, „was keine Redekunst nachzubilden vermag“, nämlich jemanden im Innersten zu bewegen. Das ist von größter Bedeutung für den Lehrer und Priester: „Endlich da niemand mittheilen kann, was er nicht selbst besitzt, würde ein Lehrer, dem Herzlichkeit fehlt, diese wohl seinen Schülern mitzutheilen wissen?“ Aber auch: „Der Arzt, der kein gefühlvolles Herz besitzt, wird höchstens dort Eifer beweisen, wo es sich um die Genesung eines Reichen und Vornehmen handelt“, es wird ihn kein Mitleid mit Armen rühren. (1813.2: 38f.) Um die Menschheit werde es so lange schlecht stehen, solange nicht vorwiegend Menschen von einem gefühlvollen Herzen in die höheren Stände aufgenommen werden, so Bolzanos realistische Voraussicht. 4. Reges sittliches Gefühl: Dieser Zug ist, anders als der vorherige, direkt auf das tätige Leben gerichtet: Bolzano stellt fest, dass diese Wahrheit seit Menschengedenken unterdrückt worden sei und bei wichtigen Amtsinhabern nur in Ausnahmefällen angetroffen werde. Er spricht von einem tief verwurzelten „Verstandesfehler“, der dazu geführt habe und meint damit asoziale Wertvorstellungen, die in den herrschenden Lebensformen eingebettet sind, „in einer irrigen Beurtheilung dessen, was mehr oder weniger wichtig ist“. 5. Echt religiöser Sinn: Das bedeutet nach Bolzano, den Gedanken an Gott nicht auf den Lippen zu heucheln, sondern ihn im Herzen zu hegen. Man könne zwar, wie „gewisse Weltweise“ betonen, das Böse nur deshalb meiden, weil es böse ist (und nicht im Hinblick auf eine Bestrafung durch Gott), oder das Gute nur tun, weil es gut ist. Aber der Menschenkenner Bolzano meint, das wäre eindeutig zu viel verlangt. Eine wirkliche Sicherheit in moralischen Fragen könne man nur durch „vernünftige Gottesfurcht“ erreichen. Die widersprüchlich scheinende Formulierung „vernünftige Gottesfurcht“ meint so etwas wie Ehrfurcht aus Einsicht. Wer diese nicht fühle, dessen Tugend gleicht einer schwächlichen Pflanze, die, ohne den wohlthätigen Strahl der Sonne genossen zu haben, durch die verkünstelte Hitze des Treibhauses verzogen worden ist. Der erste Windstoß, der sie berührt, pflückt ihre welken Früchte ab. (1813.2: 47.) Der „religiöse Sinn“ ist es, der, nach Bolzano, die Menschen aneinanderbindet und menschlicher Tugend die nötige Festigkeit verleiht. Wie schon Pascal, so siedelt auch er einen wesentlichen Teil der menschlichen Urteilskraft im religiösen Bereich an.

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6. Verfeinerter Ehrtrieb: „Verfeinert“ soll heißen, von dem „lauten Beyfall des großen Haufens“ abzusehen und sich ihm nicht gleichzustellen. Denn dieser „Haufe“ ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm Dinge wie „hohe Geburt“, Reichtum, Prunk und Verschwendung bewundernswert erscheinen. Die Achtung eines einzelnen wirklich Weisen sollte dem vorbildlichen Jüngling mehr wert sein als Orden, Ruhm und der laute Beifall der Massen. 7. Sinn für das Schöne: Auch diese Forderung klingt heute ungewöhnlich. Bolzano meint allen Ernstes, dass niemand zu den verantwortungsvollen Ämtern in einer Gesellschaft Zutritt haben dürfe, der nicht das Erhabene vom Niedrigen, das Schöne vom Hässlichen gehörig zu unterscheiden wisse, und niemand, der für die Rührungen des Erhabenen und des Schönen nicht empfänglich sei. Bolzano meint, ein solcher Mensch würde sich lächerlich machen, wenn ihm, bei aller Gelehrsamkeit, der Sinn für das Schöne fehle (1813.2: 55). Im Sinne von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen wehrt er sich gegen das Diktat der reinen Vernunft und verlangt, dass Verantwortungsträger so etwas wie eine ,schöne Seele‘ haben, die das Gute mit Vorliebe anstrebt und deren Ausdruck folglich eine gewisse Grazie eigne. So bringt er Ethik und Ästhetik in Einklang: „Das Schöne, meine Freunde, liegt in der Mitte zwischen dem Nützlichen und Guten“ (1813.2: 56) und „nichts ist gewisser, als daß das Gute unter die Klasse des Schönen gehöre“, wie er den zukünftigen Mitgliedern der höheren Stände schon früher erklärt hatte (1810. 4, 61; vgl. Wittgenstein 1984b: 6.421). 8. Heitere Sinnesart: Gemeinsam mit Schiller gewissermaßen, tritt er auch gegen ein Missverständnis auf, das durch „gewisse Weltweise“ in die praktische Vernunft gekommen sei, dass nämlich Pflichterfüllung immer ein hartes Geschäft sei. Bolzano sieht das ganz anders, Schiller auch: Über Anmuth und Würde (Schiller NA 20: 284): „In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davor zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern, mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“ – Bolzano sieht hingegen „eine heitere Gemüthsstimmung [als] das erste und unumgänglichste Erforderniß zu allem Lebensgenusse“ (1813.4: 58) und bringt kleine Kinder als Beispiel: Geschöpfe, die von dem von Erwachsenen herbeigeredeten „Ernst des Lebens“ noch nicht beschwert sind. „Echte Heiterkeit“ hat nichts mit Spaß und Unterhaltung im modernen Verständnis zu tun, viel

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aber mit dem Spielerischen im Schillerschen Sinn. Sie geht den Mittelweg zwischen den beiden Abwegen – Leichtsinn und Schwermut (1813.4: 59) In dieser „heiteren Gemüthsart“ sind auch Bolzanos Erbauungsreden verfasst (1817.17f; vgl. Demetz 2015). 9. Vaterlandsliebe: Bolzano wollte, dass es „für einen Lobspruch gelte, ein Böhme, ein ächter Böhme zu seyn“, statt, wie er oft beobachten konnte, sich des Vaterlandes zu schämen und ausländische Sitten nachzuäffen. Das Fehlen des Gemeingeistes im Lande führe nur dazu, dass jeder seine eigene Bereicherung und seine persönlichen Vorteile suche (1813.4: 61). Bolzano scheute sich nicht, „zur alten verlorenen Vaterlandsliebe wieder aufzumuntern“. Der „ächte Böhme“ ist nach Bolzano kein sich ängstlich von anderen abgrenzendes Wesen (und schon gar keiner, der sich vom Deutschsprachigen oder Tschechischsprachigen im eigenen Land abgrenzt), sondern der echte Weltbürger, durchaus im Kantschen Verständnis (1784). Das steht jetzt zunehmend im Gegensatz zu dem neuartigen nationalistischen Ideenkonglomerat, das den Begriff ,Nation‘ in eine trübe Dunstwolke zu hüllen beginnt. 10. Bedürfnislosigkeit, Genügsamkeit: Das sind tragende Säulen der neuen Lebensform, die Bolzano vorlebt. Je vollkommener das jemandem gelinge, desto unbestechlicher könne er sein. Das gelte besonders für Inhaber höherer Ämter, die „mehr Gelegenheit zur Sünde“ bieten als andere. Sie sollen sich vorbildlich vor großem Aufwand in der Lebensführung hüten und dadurch sich von jenen unterscheiden, die ihr Amt nur zum Broterwerb ausüben. Daher Bolzanos Aufruf: „Ringen Sie nach der vollendetsten Bedürfnislosigkeit, welche bei dem Menschen möglich ist. Suchen Sie sich so frei und unabhängig von allem zu machen, als man es werden kann …“. 11. Fleiß und Tätigkeit: … und ist dieser Weg einmal beschritten, dann gibt es kein Zurück; im Jüngling beginnt ein Feuer zu brennen, das ihn von einer zur anderen Arbeit mit Freuden treibt (1813.4: 70). In einer früheren Rede, die vor den Gefahren handelt, welche den Akademiker in seiner Laufbahn bedrohen (1812.7), notiert Bolzano einmal einen Spruch des jüngeren Plinius, wo es heißt, [Plinius der Ältere] habe jeden Augenblick für verloren gehalten, den er nicht auf die Studien verwendet habe (1812.7, 96): „Nam perire omne tempus arbitrabatur, quod studiis non impertiretur“ (Plinus Briefe 3,5,7–16). Plinius der Jüngere spricht so über seinen Onkel, dessen Lebensform ihm, wie auch Bolzano, vorbildlich erschien.

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12. Leben für seine Mitmenschen: Schon der junge Mann sollte eine Idee davon haben, was er für seine Mitwelt einst leisten könne und würde. Dieser Sinn für die großen Zusammenhänge, die Einsicht in die Bedeutung des Obersten Sittengesetzes für die Menschheit als solche, sollte schon den jungen Mann beseelen. So wie das bei dem biblischen Samuel der Fall war, der „die Einführung einer besseren Ordnung der Dinge schon als Knabe vorhergesehen habe“, oder bei Bernard Bolzano. Der neue Religionsprofessor erwartet wirklich sehr viel von seinen Schülern. Sie sollten ihren Beitrag zur „Rettung des Vaterlandes“ leisten – und damit zur Wiedereinsetzung der „heiligen Rechte der Menschheit“. Er fordert geradezu das Gegenteil jener Kleinmütigkeit und Kriecherei, die Maria Theresia an den Gelehrten ihrer Zeit schon festgestellt hat, wenn er von der Würde des Akademikers und den praktischen Folgen hieraus sprach: Ich wiederhole es also: nicht nur den Schein höherer Tugend müssen Sie sich in diesen Jahren schon zu verschaffen wissen; sondern es ergeht die unerläßliche Fo[r]derung an Sie, in aller Wirklichkeit die besten und tugendhaftesten Menschen in unserm Vaterlande zu werden und zu seyn! Niemand muß mehr Empfänglichkeit für alles Gute beweisen, Niemand muß von den heiligen Gefühlen der Religion mehr und stärker gerührt und ergriffen werden; Niemand muß eine innigere Liebe zu unserm Vaterlande und zu der ganzen Menschheit hegen, Niemand darf wahrheitsliebender, Niemand genügsamer, Niemand geübter in der schweren Kunst sich selbst zu beherrschen, Niemand standhafter dort, wo es auf Durchsetzung schwerer Pläne ankömmt, Niemand unerschrockener und muthvoller in der Vertheidigung der guten Sache befunden werden, als Sie, meine Freunde, als diese hier versammelte Gesellschaft! (1812.3: 49)

Der Lohn für die Arbeit ist ein ,gerechter‘, wie schon aus dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16) hervorgeht: Die zuletzt angeworbenen Arbeiter erhalten den gleichen Lohn wie jene, welche den ganzen Tag gearbeitet haben, denn nicht die Leistung an sich zählt, sondern die Leistung im Verhältnis zu den gegebenen Möglichkeiten. Schließlich ist der Lohn auch nicht das Entscheidende für die Arbeiter und Arbeiterinnen; vor Gott zählt nicht die Leistung, sondern der Beweggrund entscheidet über den sittlichen Wert, und nur auf den kommt es an.

Schule des (friedlichen) Widerstands Die Zeitumstände bringen es mit sich, dass Bolzanos Lehre jetzt einerseits einen gewissen Vorbehalt gegen herrschende Eliten aller Art, aber auch zunehmend gegen herrschende Zeitströmungen wie Nationalismus, Idealismus und

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Materialismus einfordert. Das heißt auch, dass ihm einerseits die politischen und kirchlichen Eliten mit zunehmender Feindseligkeit begegnen und andererseits auch das Heer der Nationalisten, Idealisten, Materialisten jeder Art. Sein Spielraum wird zusehends enger. Bolzano kämpft mit ganzem Einsatz gegen diese Entwicklung an und arbeitet zum Teil mehr, als seine körperlichen Voraussetzungen ihm erlauben. Er verlangt andererseits auch von seinen Schülern ganzen Einsatz und macht ihnen nichts vor: Sie werden, beydes, Kraft und Willen vereinigen, um dem gesunden Wohlstande unseres Vaterlandes aufzuhelfen. Niemand muß eine innigere Liebe zu unserm Vaterlande und zu der ganzen Menschheit hegen … (1812.3: 49, 1812.4: 53)

Die „Rettung des Vaterlandes“ erfordert ganzen Einsatz. Er stellt klar, „daß etwas Großes zu Stande komme, dazu wird Kampf, Widerstand erfordert.“ (1810.28: 325). Bolzano will, gemeinsam mit seinen Schülern „etwas Großes“ leisten. Sein Unterricht und besonders seine sonntäglichen „Erbauungsreden“ sind eine gründliche und grundsätzliche, subtile Schule des Widerstands: Anwendung von Gewalt gegen Menschen ist in diesem ,Kampf‘ ausgeschlossen. Alle friedlichen Formen des Widerstands gegen herrschende Verhältnisse werden gepflegt: (1) voran natürlich die wahre Aufklärung, also Wissen und Bildung als Mittel der Emanzipation (der unteren Schichten, der Frauen); (2) wahre Religion, also irdische Gerechtigkeit und gelebte Gleichheit aller Menschen als Voraussetzung einer herrschaftsfrei funktionierenden Gesellschaft. (3) Dazu kommen subtile, passive oder innere Formen des Widerstands, von denen hier noch die Rede sein wird. Bei alldem achtet Bolzano sehr genau darauf, dass dies niemals zur Gefährdung der staatlichen Ordnung führt. Seine Schüler sollen ausstrahlen auf das ganze Land in der unerschütterlichen Zuversicht, dass „die gute Sache der Menschheit […] allezeit fortschreitet und einst den vollkommensten Sieg über die Macht der Finsternis und der Bosheit davon tagen wird.“ (1810.6: 124; zu Bolzanos Begriff von Zuversicht: Konzelmann-Ziv 2010). In der Serie 1810.28–30 wird diese Zuversicht genau begründet: Über die Wahrheit, daß die gute Sache der Menschheit am Ende doch allzeit den Sieg davontrage über die Macht der Bosheit. Wenn gerade die Religion zum eigentlichen Medium der wahren Aufklärung werden sollte, dann musste diese unorthodoxe Ansicht jedenfalls mit Vorsicht verbreitet werden (1811.19, 187). Bolzano berät seine Schüler, wie sie sich gegen die „Feinde der Aufklärung“ und „Söhne der Finsternis“ zu verhalten haben (1816.12–13). In der Redeserie Von der wahren Verfassung der Übel, die unser Vaterland bedrücken (1817.28–31) nennen die Herausgeber im Untertitel die Ursache: „Mangel an Aufklärung (Unwissenheit und Irrthum) ist als wahre Ursache der Übel anzusehen,

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die unser Vaterland bedrücken.“ Es gab so gesehen gewissermaßen keine bösen Menschen als Gegner, sondern eigentlich nur (deren) Unwissenheit und deren Irrtümer. Das ist eine schwierige, harte und unübersichtliche Gegnerschaft. Bolzano bereitet seine Schüler auf den zu erwartenden Widerstand gegen die andere, wahre Aufklärung vor; „von jeher fand die gute Sache der Menschheit, und Jene, welche sie zu befördern suchten, ihre wüthenden Feinde und Gegner.“ (1810.54: 539) Ein Vierteljahrhundert später heißt es in der Vorrede zur Herausgabe der von den Schülern verwahrten und vor Spitzeln in Sicherheit gebrachten Vorlesungshefte der Religionswissenschaft: Die Wahrheit hat noch jederzeit Gegner, und ihre Vertheidiger haben noch immer um so heftigere Feinde gefunden, je nachdrücklicher und schlagender ihre Vertheidigung war. (RW 1, Vorrede, VI)

Die Aufklärung darf nur mit größter Behutsamkeit verbreitet werden, ist Bolzanos Devise. Er gibt seinen Schülern den biblischen Rat: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ (Mt 10,16: 1809.9, 74; 1806.4, 1811.2–3; 1616.12–13 u.v.m) Bolzano geht davon aus, dass es der geistliche Stand sei, der besondere geistige und sittliche Leistungen zu erbringen habe (1809.36, 337). Der Priester soll der ,gute Hirte‘ sein, so auch die Leitidee der Pastorallehre des Spätjansenismus. Er selbst hofft, dass er selbst nicht ganz nutzlos im Weingarten gearbeitet habe und wünscht sich, daß sich doch mehrere aus meinen theueren Zuhörern, doch mehrere hätten berathen lassen, daß ich für diesen und jenen doch nicht vergeblich gesprochen haben würde, daß es mir doch gelungen wäre, auch ihn vom Rande des Verderbens zu erretten, daß meine Wirksamkeit statt auf so wenige, sich auf das Ganze der mir anvertrauten Jugend erstrecket haben würde. (1811.1: 30)

Bolzano ist als Lehrer insofern unnachgiebig, als er danach strebt, ,Mietlinge‘, in dem Fall Menschen, die das Studium als Leiter zu Macht, Reichtum und Ehre betrachten, von diesem Studium fernzuhalten. Er ist nicht streng im herkömmlichen Sinn überzogener Anforderungen bei seinen objektiven Leistungsfeststellungen. Seine Anforderungen an die Studierenden zielen weiter, nämlich auf die Beweggründe, welche die Jugendlichen vorantreiben. Er erwartet in jeder Hinsicht über das allgemeine Maß hinausgehende Anstrengungen und Leistungen von ihnen. Er ist aber zugleich Realist genug, um nicht gleich alle Führungsämter im Staate abschaffen zu wollen, obwohl er auf lange Sicht in diese Richtung denkt. Führungsämter werden umso weniger wichtig, als die Menschen beginnen, selbst für ihr Handeln Verantwortung zu über-

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nehmen. Führungsämter bedeuten in diesem Sinn Übernahme von Verantwortung und Sorge gegenüber den Geführten, nach dem (paternalistischen) Muster des ,guten Hirten‘; solange diese nicht selbst die Voraussetzungen dazu (erlangt) haben. Der bildliche ,gute Hirte‘ steigt also über die Metapher hinaus, indem er dafür sorgt, dass die ,Schafe‘ ihn nicht mehr brauchen, weil sie sich allein zurechtfinden. Verblassen aber die rechten Beweggründe, dann wächst auch die Gefahr, dass sich seine Schüler bald als eine Schar Auserwählter, als neue ,Führungselite‘ des Landes zu wähnen und verhalten anfangen. Er korrigiert stets; wenn sich uns unwillkürlich, wie dem Apostel Paulus, die Bemerkung aufdringt: Ich habe mehr gearbeitet als sie alle: sagen Sie selbst, meine Freunde, gibt es da eine größere Gefahr für uns, als die, zu Stolz und Hochmuth verleitet zu werden? und auch durch diesen Stolz uns selbst allzu frühzeitig wieder herabzustürzen von jener Höhe, welche wir mühsam erklommen hatten, und all des süßen Lohnes, der unser wartete, uns wieder zu berauben und unwürdig zu machen? – O wenn wir der Lehre des Christenthums folgen, werden wir glücklich aus dieser Gefahr vorüber gehen. Nicht uns, nicht uns, dem Geiste Gottes werden wir die Ehre geben, wenn etwas Großes geschehen ist durch unsere Hand. Und wenn wir fühlen, daß wir nicht zu den verwerflichen Arbeitern in Gottes Weinberg gehören: so werden wir dankbar auf unsere Knie sinken, und mit nicht erheuchelter, sondern mit wahrer Demuth sprechen: Herr, du hast große Dinge an mir gethan! Dein Name sey ewig gepriesen! (1810.41: 451; Vgl. „non nobis, Domine, non nobis sed nomini tuo da gloriam (Ps 113,9, Vulgata)

Bolzano verlangt, dass die künftigen Verantwortungsträger im Lande weder durch hohe Geburt und noch weniger durch Reichtum, sondern einzig durch Leistungen gerechtfertigt seien. Der „Beyfall der großen Menge“ ist auch nicht das rechte Maß, an dem die Eignung der Kandidaten abzulesen sei, denn er gelte in der Regel nur Äußerlichkeiten. Bolzano geht realistischer Weise von der Trägheit der Masse aus und von der Bequemlichkeit des Einzelnen. Im Sinn von Paulus verlangt er, dass die Verantwortlichen darin vorangehen, dass sie sich wandeln und ihr Denken (und das der Geführten) erneuern (Röm. 12.2). Seine Schüler sollten sich im positiven Sinn von der bequemen Masse abheben, Äußerlichkeiten und Bequemlichkeiten überwinden, den Diskurs lebendig halten zwischen dem Erstarren und Verharren in alten Denkmustern – und der drohenden Auflösung in Formlosigkeit. Das musste jetzt ausgewogen werden. Das verlangt subtilen Widerstand gegen herrschende Trends. – Eine ,wirkliche Revolution‘, wie sie Bolzano anstrebt, kann nur völlig gewaltlos ablaufen und unter Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung (1812.23; 288 Verhalten des Weisen gegen die Gesetze der Obrigkeit): Nein, meine Freunde, um Menschen zu beglücken, soll Niemand Menschen morden, am allerwenigsten wie es im Aufruhre zu geschehen pflegt; Menschen, die oft ganz unschuldig

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an allen den Übeln sind, für deren Erduldung sich die aufgebrachte Menge rächen will. Es gibt ein leichteres, es gibt ein sanfteres Mittel, um böse, lästige Verordnungen zurückzuweisen und der Bedrückung tyrannischer Obrigkeiten zu widerstehen. Und dieses Mittel ist – die allgemeine Überzeugung von ihrer Widerrechtlichkeit. Wenn alle, alle Bürger einsehen, daß Etwas widerrechtlich ist; wenn es nur Eine Stimme im ganzen Volke darüber gibt: wer, meine Freunde, wer sollte es da wagen, es ihnen aufdringen zu wollen? Dann mag der Bösewicht befehlen – es gehorcht Niemand.

Eine andere Lebensform muss sich von unten, kapillar durchsetzen, „langsam und mit vieler Mühe“; so wie sich das Christentum einst durchgesetzt hatte und weiter durchsetzt (1810.33, 370f). Der Weg dorthin führt über die Bildung von Herz und Verstand: Wissen, das ,mit Liebe‘ sich angeeignet wird: Liebe ist die eigentliche Quelle dieses Widerstandes. Sie allein kann dazu führen, dass die Menschen zu einem ,naturgemäßen Leben‘ zurückkehren, dass sie das Leben in aller Vielfalt ehren, einander und die Schöpfung achten. Ein möglicher Übergang von herrschenden politischen und religiösen Formen, mithin von einer herrschenden Aufklärung – zu einer wirklichen und wahren Form der Aufklärung, birgt – wie auch jede wissenschaftliche Revolution – auf jeden Fall sehr viele Gefahren, Irrationalismen und Raum für Gewalt- und Katastrophenszenarien in der menschlichen Seele und in der menschlichen Gesellschaft. Bolzano ist sich dessen bewusst. Seine Vorstellung einer Revolution hält sich an das Beispiel Jesu Christi: Also nicht durch Umsturz der Verfassungen, welche bisher bestanden hatten; nicht durch gewaltsame Einführung anderer noch so zweckmäßiger Formen, nicht durch die Einführung eines weltlichen Reiches, das sich von einem Ende der Erde zum anderen ausdehnt; selbst durch Erfindung in Kunst und Wissenschaft nicht, glaubte sich Jesus von Nazareth das größte Verdienst um die Menschheit erwerben zu können. Nein, den Mann, der ein Besitzer der größten Kraft gewesen, die je ein Sterblicher gehabt, sehen wir mit Beiseitesetzung aller anderen Zwecke nur auf das einzige Ziel der Einführung besserer Religionsbegriffe auf Erden, nur auf die Verbreitung einer richtigen Erkenntniß von Gott, von der Unsterblichkeit der Seele und von dem wahren Wesen menschlicher Glückseligkeit und Tugend hinwirken. (1816.24: 254; Joh 17,1–5)

Subtile Formen des Widerstandes betreibt Bolzano auch noch, als bereits Denunziationen und Untersuchungen gegen ihn im Gang sind. Ein Beispiel dafür ist die Redeserie 1818.9–10 Von den Vorteilen der bürgerlichen Gesellschaft Der Grundton ist: Die bürgerlichen Gesetze sind ein wertvolles Gut und jede/jeder – in der beispielgebenden Perikope (Lk 2,21; laut Missale) die Mutter Maria und damit Jesus Christus selbst – ist verpflichtet, sich daran zu halten. Die bürgerliche Gesellschaft bringe in ihrer Gesamtheit wesentlich mehr Nutzen als Schaden für jeden Einzelnen. Das gelte auch noch in den gegenwärtigen Zeiten, obwohl großer Verbesserungsbedarf bestehe. Er „be-

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weist“ das auf die übliche gründliche Art und bebildert es mit einleuchtenden Beispielen. In der zweiten Rede der Serie erläutert er die Pflichten, die für den Einzelnen aufgrund der großen Wichtigkeit einer gerechten Gesellschaftsordnung bestehen; – angesichts des Umstandes, dass immer mehr seiner Mitbürger jetzt auch die Auswanderung oder „eine Auflösung der ganzen jetzt bestehenden Verfassung des Staates und die Wiederherstellung des ursprünglichen Naturzustandes wünscht“ (1818.10: 98). Das hält er für Strategien der Lösungsvermeidung des Grundproblems. In der Ausführung nennt er fünf Pflichten: 1. Die erste Pflicht ist, „Alles zu thun, was immer nothwendig ist, um nur die Auflösung des Staates selbst zu vermeiden“ und „den bürgerlichen Verein, in dem wir leben, vor der Gefahr einer Auflösung zu bewahren“ (1818.10: 100). 2. Ausgehend vom Beispiel Samuels in der zweiten Perikope (1 Sam 8,322; von Bolzano selbst gewählt) nennt er die zweite Pflicht, nämlich Änderungswünsche nicht über das Volk hinweg durchzusetzen, sondern notfalls geduldig auf Gottes Vorsehung zu rechnen. Dabei nimmt er seinen Hörern das „heilige Versprechen“ ab, „daß Sie den Unterdrückern der Menschheit niemals zu Gunsten reden wollen“ und so stets das Gemeinwohl der Menschheit, auch gegen den eigenen Vorteil, im Auge behalten. 3. Bei der Durchführung ruft er zu Mäßigung und Sorgfalt (temperantia) auf, denn es wäre verderblich, neue Missverständnisse in die Welt zu setzen. Selbst die Zweckwidrigkeit mancher bestehenden Staatseinrichtungen entbinde niemanden von der Pflicht, sie zu achten. Es gehe um die Verbesserung dieser Einrichtungen, nicht um ihre Abschaffung. Gerade „deßhalb werden weise Regierungen ein solches Nachdenken nicht mehr zu unterdrücken suchen, sondern dasselbe vielmehr befördern und zu ihrer eigenen Belehrung nützen“ (1818.10: 103); so sein als Vermutung verkleideter Wunsch. 4. Er warnt davor, „Einrichtungen abzustellen, ohne erst dafür zu sorgen, daß die Vortheile, die sie bisher, auch unerkannt, gewährt haben, künftig auf eine andere Art erreicht werden“ (1818.10: 104). 5. Schließlich beschwört er seine Freunde geradezu: „verbreiten Sie allenthalben eine heilige Scheu vor jedem Versuche, den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern“ (1818.10: 104).

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Nebenher macht Bolzano weitreichende Vorschläge zur Behebung der sozialen Not. Seine sozialethischen Schriften zeigen viele konkrete Verbesserungsmöglichkeiten auf, die nicht nur das gerechte Zusammenleben der Menschen fördern, sondern auch das aufkommende Umweltproblem in der Stadt Lösungen zuführen konnten (Bolzano 1847c, 8), die ungeheuer einsichtig und modern wirken. Erste Voraussetzung für all diese Lösungen ist wirklicher Friede, mehr als Abwesenheit von Krieg, im Land und in der Welt. Friede ist die notwendige Grundlage der wahren Aufklärung. Ohne ihn bewegt sich gar nichts. Ihn zu erreichen, darf jedoch keine Gewalt angewendet werden, so das jesuanische Konzept. Als Bernard Bolzano zu Jahresbeginn 1818 von den Vorteilen der bürgerlichen Gesellschaft spricht (1818.9–10), kommt seine Rede auch darauf, dass sich Menschen in seiner Zeit oft in einer sehr drückenden Lage befinden; und er zeichnet die zwei gängigen Auswege nach: Da er nun jene Pein, die ihm die gegenwärtige Lage verursachet, aus einer jetzt vorhandenen Empfindung kennt, von den Beschwerlichkeiten aber, die eine andere Lage hat, sich nur durch die Einbildungskraft eine schwache Vorstellung zu machen vermag; da ihm die Heftigkeit des Schmerzes, der in seinen Gliedern tobt, jedes ruhige Nachdenken unmöglich macht, da nur der einzige Gedanke sein Bewußtsein ausfüllt, was er jetzt leidet, sei nicht länger auszuhalten: so versucht er jede Veränderung, zu der er die Gelegenheit ersieht, ohne erst viel überlegt zu haben und überlegen zu können, ob er nicht etwa vom Schlimmen in’s noch Schlimmere gerathe. Aus dieser Bemerkung erklärt sich’s, woher es komme, daß seit einiger Zeit in allen Staaten Europas eine nicht unbeträchtliche Menge von Bürgern auf den Gedanken der Auswanderung aus ihrem Vaterlande, auf den Gedanken der Ansiedelung in einem fernen Welttheile, in wüsten und unbewohnten Gegenden verfällt, daß eine Menge Anderer, die keine Möglichkeit zu einem solchen Schritte vor sich sieht, eine Auflösung der ganzen jetzt bestehenden Verfassung des Staates und die Wiederherstellung des ursprünglichen Naturzustandes wünscht. (1818.10: 98)

Bolzano hält beide Auswege für verkehrt und regt seine Hörer an, statt auf Auswege, auf eine konkrete Verbesserung der bürgerlichen Verfassung und der sozialen Verhältnisse im Land hinzuarbeiten.

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4 Bolzanos Glaubens- und Lebensentwurf Bolzanos Plan zielt auf eine neue, oder besser: erneuerte Lebensform. Das Christentum sollte als sozialrevolutionäre Bewegung wiederbelebt, die Welt neu beschrieben und gesehen werden.

Anders sprechen Bolzano will das Leben über seinen menschlichen Ausdruck, die Sprache, verändern: Gelingt es uns erst, eine edle Sprache einzuführen, so wird im Kurzen auch schon eine edle Denk- und Handlungsweise in unserem Vaterlande herrschen. Denn wie der Mensch spricht, so denkt und handelt er auch. Und wer recht redet, spricht das Wort Gottes, den sollen alle schätzen. (1811.43: 435 [Spr 16,13])

Eine ,edle‘ Sprache ist in erster Linie eine klare. Es geht Bolzano bei seinem Programm der Präzisierung der Alltagssprache um den Gleichklang von res und verba. Wo dieser fehlt, machen sich Missverständnisse breit. Ein Widerspruch zwischen Begriff und Tat pflegt immer dann einzutreten, „wenn der Begriff nicht die gehörige Deutlichkeit besitzt“, so Bolzano (1813.14: 153): Die Sprache muss gewissermaßen ,härter‘, verbindlich, kurz: im Gebrauch präzisiert und damit wieder verlebendigt werden. – Worte sind letztlich Taten: „Steht nicht jeder Fehler, den wir begehen, in einem gewissen Verhältnisse mit unseren Begriffen, mit unserer ganzen Art zu denken?“ (1819.17: 163). Begriffsklärung ist der Weg. In einem Brief an den Theologen Johann Peter Romang vom 1.5. 1847 (Bolzano 2007: 158) hatte Bolzano erklärt: Nur dadurch, nur auf dem Wege der genauen Begriffsbestimmung kam ich zu allen den eigenthümlichen Lehren und Ansichten, die Sie in meinen Schriften (selbst den mathematischen) antreffen.

Die Bildung ,besserer Begriffe‘ ist für ihn Voraussetzung für jedes wirkliche Fortschreiten, als Bewegung vom unbedachten Nachsprechen hin zum bewussten Sprechen, vom gedankenlosen Regelfolgen zum bewussten Spiel damit: Es verhält sich nämlich mit dem richtigen Denken fast eben so, wie mit dem richtigen Sprechen und noch so manchen andern Verrichtungen, welche der Mensch in einer ziemlichen Vollkommenheit ausüben kann, ohne je einen eigenen Unterricht darin empfangen zu haben, und ohne die Regeln, nach denen er dabei verfahren muß, zu kennen. Wie aber

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Jeder zugibt, daß man die Regeln der Sprache auch dann, wenn man schon ziemlich richtig spricht, nicht ohne Nutzen studiere, daß man sie jetzt um so sicherer, und selbst in den schwierigern Fällen befolgen lernt: so dürfen wir auch von einem gehörigen Studium der Regeln des Denkens und der Bearbeitung der Wissenschaft einen ähnlichen Vortheil erwarten. (WL § 9 Nutzen der Logik, 36)

Bolzano differenziert in seiner konsequenten, alltäglichen Spracharbeit jetzt, wie später Ferdinand de Saussure (1857–1913), Zeichen in signifiant (Bezeichnendes) und signifié (Bezeichnetes) und nimmt dabei als Nominalist keinen inneren oder essentiellen Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem von vornherein an: Es gibt diesen Zusammenhang, es muss ihn geben, so Bolzano, aber er versteht ihn als willkürlich gesetzt, arbiträr und praktisch, zweckdienlich (der Zweck ist das Gemeinwohl). Diese Auffassung schließt auch Fehlerhaftigkeit mit ein. Bolzano betrachtet und korrigiert aufmerksam auffallende Abweichungen vom Konsens, die sich unbewusst und unbedacht eingeschliffen haben. Wo es ihm besonders am Herzen liegt, da erlaubt er sich ausnahmsweise den Versuch, einen neuen Begriff zu schaffen, wie etwa den des ,Seelenadels‘ – ein Kompositum, das Vorurteile überwinden helfen soll. In den semiologischen Einschüben seiner Erbauungsreden präzisiert er verschiedenste Sprachsitten und -gebräuche, stellt die Bedeutung von Wortklang, Konnotationen, Assoziationen dar, führt aus, (1811.43) Wie gut es sei, die Torheiten und Laster der Menschen durch die Benennung nicht zu beschönigen. Er zeigt auf, wie an sich gleichgültig scheinende Zeichen und Töne, also Form und Klang eines Wortes, von größtem Einfluss auf unser Denken sein können und mittelbar auf unser Empfinden und Handeln wirken, spricht über die Wirkung ,fixer Ideen‘, also heute sogenannte ,Zwangsvorstellungen‘ und deren störenden Einfluss auf das Gleichgewicht, „welches zwischen unseren gesamten Vorstellungen Statt finden muß“: Über den Fehler herrschender Vorstellungen (1813.18–19, 189). Er beleuchtet die häufig auftretende Verwechslung verwandter Vorstellungen (1819.29) und bemerkt feine Zusammenhänge der Wirkung von Konnotationen und sprachlichen Assoziationen. Er setzt auf handlungsorientiertes Sprechen und erwartet eindeutig ,perlokutionäre Akte‘, Folgehandlungen im Sinne der späteren Sprechakttheorie, von seinen Hörern. Er thematisiert in seinen Erbauungsreden Sprichwörter und fragt nach, ob sie noch den Gemeinsinn noch treffen oder vielleicht eingefroren sind, zum Beispiel Über das Sprichwort „Einmal ist keinmal“ (1813.20). – Insgesamt zielt seine kosequente Spracharbeit darauf ab, den Abstand zwischen Wort und Tat zu verringern. Begriffsverwirrung, totes Wissen, trockene Buchstabengelehrsamkeit und böse Absichten macht er im Abstand zwischen Wort und Tat aus. Sein Glaubensverständnis, in das seine Sprachtheorie eingebettet

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ist, fordert das Gegenteil von Kopfchristentum oder Weisheit der Schriftgelehrten; es fordert ein wirkliches, gelebtes, jesuanisches Christentum, fordert unbedingte Wahrhaftigkeit. Kein Wort soll zu viel, keines zu wenig gesprochen werden. Sprache ist so gesehen eine strenge, die rettende Zeremonie, und am Ende seines Lebens wird jeder Rechenschaft zu legen haben „für jedes unnütze und müssige Wort, welches aus dem Munde kam“. (1812.4, 63; Mt 12,36; Jak 3,2) Es geht in Bolzanos wichtigstem Versuch freilich nicht nur um die Verbreitung besserer Begriffe; sondern um einen anderen Gebrauch der Begriffe, und von Sprache überhaupt: Grundsätzlich ist die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache (Wittgenstein 1995: § 43). Der Gebrauch gibt den Zeichen Leben; er ist es, der Bedeutung stiftet. Sprechen ist, auch für Bolzano, ein unbedingtes Regelfolgen, bis zu einer gewissen Grenze – und dort geschieht gegebenenfalls die bedachte Abweichung von der Regel. In der mitteleuropäischen Aufklärungstradition wird die Welt nicht als vollkommen durch Sprache abbildbar verstanden: Die Sprache steckt nicht das Ende einer vernünftig wahrnehmbaren Welt ab, – sondern die Grenze verläuft mitten durch diese Welt. Das erkennende Subjekt selber ist eine solche Grenze (Wittgenstein 1984b: 5.6–6; 5.632). Wissen ist auf der einen, – Glauben auf der anderen Seite dieser Grenze. Die Bibel mit ihrem häufigen Gebrauch von sprachlichen Bildern ist für Bolzano mehr Dichtung als Wissenschaft. Sie weist immer wieder über sich hinaus. Bilder, Metaphern übersteigen den Bereich des Ausdrückbaren und berühren jenen des Unaussprechlichen. Das zu erkennen bedeutet auch, das magische Denken und Sprechen ernstzunehmen und nicht als etwas wie eine ,primitive Vorform‘ misszuverstehen (Wittgenstein 2000; Lévi-Strauss 1979: 25). Bilder übersteigen den Bereich des Aussprechbaren und berühren jenen des Mythischen und des Unaussprechlichen. Den Gebrauch von Bildern hält Bolzano nicht nur in der biblischen Sprache für unabdinglich, „weil der Mensch, ein sinnlich-geistiges Geschöpf, der Bilder bedarf, damit das hohe Himmlische ihn rühre.“ (1810.5, 75; Bolzano 1845: 88, 153, 176, 378). Michael Fesl gegenüber bemerkt Bolzano (Brief an Fesl, 13.12.1823 [Winter/Zeil: 34]): „daß […] aus den Schriften der Mystiker des 15. und 16. Jahrhunderts ein wichtiger Gebrauch in der Religionslehre zu machen sei, ist völlig meine Ansicht“ und er wirft Fesl vor, „den Wert der Gefühle, der Zeremonien u. dergl.“ nicht ausreichend anzuerkennen. In der mitteleuropäischen Aufklärungstradition geht man davon aus, dass die Welt, als Reich Gottes verstanden, an sich ,in Ordnung‘ ist. Es kommt hier nur darauf an, diese richtig zu begreifen und beschreiben. Wenn diese Annahme stimmt, dann kann alles Übel auf der Welt tatsächlich nur aus menschlichem Irrtum und Aberglauben folgen. Es kann nur ein falsches/

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vermeintliches, oder ein fehlendes Wissen und/oder Glauben sein, oder ein nicht-Erkennen oder nicht wahrnehmen-Wollen, was den Menschen bedrückt. Ein solches Weghören, Verweigern von Apperzeption kann nicht ohne Folgen bleiben (Joh 12,47: „Wer meine Worte nur hört und sie nicht befolgt, den richte nicht ich; denn ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten“). Bolzanos Alltagssprache weicht – infolge der beschriebenen Tendenz – zusehends vom herrschenden Sprachgebrauch ab. Im Eingang zur Rede 1817.27 thematisiert er das deutlich: Auch wenn diesem Abweichen vom üblichen Sprachgebrauch eine mit logischer Klarheit systematisch ausgebreitete, offene, ethisch und anthropologisch grundgelegte Seins- und Erkenntnisform zugrunde liegt, – für jemanden wie Bolzano, der Wahrheit und Sicherheit im sensus communis gegründet sieht, muss jedes Anders-Sprechen, jedes Abweichen von der Alltagssprache, gerechtfertigt werden. An sich ist es fragwürdig, sich gegen den Zeitgeist und damit gegen den darin ausgesprochenen Gemeinsinn zu stellen: So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und falsch ist?“ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. .(Wittgenstein 1995: § 241)

Bolzano weicht tatsächlich vielfach vom herrschenden Sprachgebrauch ab, doch er gibt über jede Abweichung gewissenhaft Rechenschaft. Sein Sprachgebrauch ist Ausdruck einer anderen Lebensform. Das Problem ist: Gibt es in einer Kultur keine gemeinsame Sprache (mehr), dann kann es keinen Gemeinsinn, keine grundsätzliche Übereinstimmung über Richtig und Falsch geben. Sprachverwirrung ist die Folge. Bolzanos ‚Lieblingsautor‘ Friedrich Schiller hat sich an seinem Lebensende, auch um dieselbe Zeit, in dem unvollendeten Drama Demetrius (1804/1805) mit ähnlichen Gedanken über Mehrheiten und Gemeinsinn beschäftigt. Er lässt den Fürsten Sapieha folgende Sätze sagen: Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wengen nur gewesen. Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat? Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl? Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt, Um Brod und Stiefel seine Stimm verkaufen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen, Der Staat muß untergehn, früh oder spät, Wo Mehrheit siegt, und Unverstand entscheidet. (NA 11, 23, Z. 461–469)

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So sieht das auch Bolzano: Der ‚gemeine Haufe‘ muss seine Fesseln ablegen. Die numerische Mehrheit sagt nichts aus über das Gewicht der Meinungen. Jede ängstliche Zusammenrottung muss sich auflösen und jeder Einzelne muss sich am Ende selbst und seiner Verantwortung für das Gesamte bewusst – und damit mündig werden. Die Wahrheit zeigt sich nicht im Urteil Aller, sondern in dem der Urteilsfähigen, und auch die können sich noch täuschen. Für grundsätzliche soziale Ausgeglichenheit zu sorgen, dafür, dass aus Urteilenden Urteilsfähige werden können, das war jetzt die Aufgabe des „guten Hirten“. Schillers Demetrius verkündet: „Ich will aus Sklaven Menschen machen. / Ich will nicht herrschen über Sklavenseelen.“ (Schiller, NA 11, 23 V. 586–587). In seiner schon erwähnten Rede Über den Grundsatz, die Welt zu betrügen, weil sie betrogen sein will thematisiert Bolzano die in der Gesellschaft sich ausbreitenden Irrtümer einmal: Ich läugne es nicht, daß die groben Irrthümer, in welchen wir unser Geschlecht befangen finden, insoweit den Namen verschuldeter Irrthümer verdienen, als es fast immer ein Einzelner oder auch mehrere Menschen waren, die den Grund zur Entstehung und Verbreitung dieser Irrthümer gelegt. Keineswegs aber läßt sich behaupten, daß eben derjenige Theil der Menschheit, der jetzt befangen in diesen Irrthümern ist, auch die Schuld derselben trage. Man hat ihn erzogen in diesen Irrthümern, man hat ihm die Hilfsmittel zur Ausbildung seines Geistes boshafterweise entzogen … (1817.27: 258)

Um dieser infamen Tendenz Einhalt bieten zu können, muss gleichsam die Sprache umgruppiert werden. – Hier setzt eine sprachkritische (zugleich erkenntnis- und sozialkritische) Wende an, eine Revolution bisher ungeahnten Ausmaßes. Die Ungeheuerlichkeit von Bolzanos Versuch liegt darin, anders zu sprechen als die große Menge derjenigen, die nicht selbst das Wort ergreifen, anders auch als diejenigen, die sich anmaßen, über Sprache und Gedanken der Beherrschbaren zu bestimmen.

Anders wissen Wahrheiten-an-sich sind nur die Richtschnur unseres Erkennens; sie sind nicht die Ursache unserer Erkenntnis. Wir können und müssen sie nicht alle erkennen. Aber jedes Nicht-Erkennen ist letztlich ein Irrtum, so Hugo Bergmann (1970: 26f.) Verfestigen sich Irrtümer und Aberglauben zu einer unnatürlichen Lebensform, werden an sich natürliche Menschen zu artifiziellen. Für sie gibt es kaum einen Ausweg. Ganze Kulturen können sich von Zeit zu Zeit in eine solche ausweglose Lage verrennen. Bernard Bolzano sieht diese Gefahr in sei-

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ner Zeit gegeben und drückt immer wieder tiefes Unbehagen an den Lebensformen seiner Zeit aus. Er vergleicht die gegenwärtige Lage seiner Zeit stets mit jener Palästinas zur Umbruchszeit um Christi Geburt. Die Notwendigkeit einer radikalen Revolution schätzt er zu seiner Zeit etwa gleich hoch ein. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, der die landläufigen Vorstellungen und Begriffe über wissenschaftliche Revolutionen in neuerer Zeit den tatsächlich damit einhergehenden, beobachtbaren Umständen angenähert hat, spricht einmal auch von der Kehrseite des modernen Klischees vom Wissenschaftler als dem großen Neuerer: Mir scheint, man kommt einer vollständigen Ausnützung der potentiell vorhandenen wissenschaftlichen Fähigkeiten näher, wenn man erkennt, in welchem Maße der Grundlagenforscher auch ein Traditionalist sein muß oder […] ein konvergenter Denker. (Kuhn 1978: 321)

Ein Denker muss in der bestehenden wissenschaftlichen Tradition fest verankert sein, wenn er Aussicht haben soll, sie im Falle seines Erfolges zu verändern, so Kuhn. Bernard Bolzano war im antiken und christlichen Humanismus, im abendländischen Glauben und Wissen bestens verankert. Wäre er das nicht gewesen, dann wäre ihm sein Vorhaben der Umgestaltung der Wissenschaften, des Glaubens und damit der Lebensformen allgemein, – also der radikale Paradigmenwechsel von einer naïv gläubigen zu einer vernünftig gläubigen Kultur, nie in den Sinn gekommen, ja nicht einmal denkbar gewesen. Für die mitteleuropäischen Denker in ihrer naturwissenschaftlich grundgelegten Bildung ist die Krise der Neuzeit eine, die nicht nur aus dem Verblassen des Glaubens, sondern ebenso aus einem Ausarten des Wissens gekommen ist: Es ist gleichsam auf Sand gebaut und es fehlt die Selbstreflexionen der Wissenden. Friedrich Nietzsche (1844–1900) zeigt seinem bekannten Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ auf, alles Denken und Sprechen sei ohne erkannte und bewusste Grundlagen des Wissens sinnlos. Ironisch nannte er den (abendländischen) Menschen als ein „gewaltiges Baugenie“, „dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Auftürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt.“ (Nietzsche 1988a: 882) Diesen unheiligen ,Begriffsdom‘ will Bolzano einreißen. Er führt in seiner Wissenschaftslehre einen neuen Umgang mit dem Wissen ein, zeigt einen anderen Gebrauch: Er bringt das Wissen vor allem wieder in Bewegung und legt sein Augenmerk dabei auf den Beweggrund, der seinen Wissenserwerb antreibt und der dem nach Wissen Strebenden auch zunehmend bewusstwerden – die Liebe zu den Menschen. Der Weg dorthin führt über die logisch-mathematische Methodik des Wissens. Sie ist jenseits der Leidenschaftlichkeit zu betreiben und markiert die Grenze zwischen Glauben

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und Wissen, die unentwegt weiter voranzutreiben ist. Er versucht das losgelöste Wissen seiner Zeit gewissenmaßen in einer mathesis universalis einzufangen und überschaubar zu machen. Dadurch sollte ein innerer Zusammenhang der für den Menschen wesentlichen Wahrheiten – die Grundfeste ihrer Kultur gleichsam – deutlich werden, und zwar ganz anders als bisher. Dies alles würde zu einem wesentlich anderen Wissen führen als es das herrschende gewesen ist und jemals sein kann – ein dem Menschen dienender Wissensbau entstünde daraus. Die Andersheit (gegenüber dem herrschenden Zeitgeist) folgt aus den dazu diametral anderen Beweggründen des nach Wissen Forschenden sowie auch im Hinblick auf das Ziel: Er will nicht(s) beherrschen und sein Ziel ist die Glückseligkeit der Menschen, anschaulich und überprüfbar im tatsächlichen, alltäglichen Nutzen aller wissenschaftlichen und sonstigen Tätigkeiten. Dabei bleibt die Zweckbindung der Wissenschaft an das Wohl der Menschheit und der Persönlichkeitsbindung der einzelnen wissenschaftlichen Tätigkeiten an den ausübenden Menschen grundsätzlich erhalten. ,Bildungswissen‘, im Sinn von Max Scheler, schlägt um und wird zum ,Erlösungswissen‘.

Anders glauben Ernst Cassirer präzisiert: Der eigentliche radikale Gegensatz zum Glauben ist nicht der Unglaube, sondern der Aberglaube: Denn er rührt an die Wurzeln des Glaubens, er läßt den Quell versiegen, aus dem die echte Religion entspringt. (Cassirer 1973: 215)

Auch aus Bolzanos Sicht ist das aktuelle Problem nicht der Unglaube. Diesen hält er für praktisch unmöglich. Wirklich problematisch sind aus seiner Sicht nur Irrtum und Aberglaube: Ja wenn wir das Unglück hätten, daß diese Irrthümer noch etwas allgemeiner, als es bisher geschehen, unter uns verbreitet würden: müssten nicht sie allein schon alle Bande lösen, welche den Menschen an den Menschen binden, und würden wir nicht uns unter einander selbst aufreiben und zu Grunde richten? (1817.28: 264. Die Rede ist in der gedruckten Form in ER 1849 von Bolzanos Freunden so betitelt: Mangel an Aufklärung (Unwissenheit und Irrthum) ist als wahre Ursache der Übel anzusehen, die unser Vaterland bedrücken)

Bei genauerer Betrachtung geht es hier nicht um eine Rettung des Glaubens. Es ist auch nicht der drohende Unglaube, den Bolzano befürchtet. Er kämpft um eine Lösung des Glaubens aus der Erstarrung. Erstarrungen sind Folgen

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von Irrtum und Aberglauben. Sprechen wir kurz einen gängigen Irrtum an: Die Frage ist: Können wir vernünftig glauben? Immanuel Kant hat gemeint, wir wären außer Stande, über irgend einen derjenigen Gegenstände, welche nicht sinnlich wahrgenommen werden können, ein synthetisches Urtheil zu fällen, daher wir denn weder über Gott, noch über unsere eigene Seele, ihre Unsterblichkeit, Freiheit, noch über andere dergleichen übersinnliche Gegenstände nur das Geringste erkennen. (WL § 315.5, 246ff.; dazu Kant 1787: 699; Kant 1788: 243, 250ff.)

Diese Meinung ist mittlerweile so verbreitet, dass man Glauben und Wissen weithin für unvereinbar zu halten begonnen hat. Im krassen Gegensatz geht Bolzano von der Vernünftigkeit und Verstehbarkeit des Glaubens aus. Er meint: Schon darum, weil wir im Besitze der Begriffe Gott, Seele u.s.w. sind, können wir auch gewisse (nicht bloß analytische) Urtheile über die durch diese Begriffe bezeichneten Gegenstände fällen. (RW 1 § 62: 163)

Der Gebrauch der Begriffe macht Bolzanos Reformprogramm wirksam: Einst fest geglaubte Begriffe verwendet er jetzt offen: Bolzanos methodisches Grundprinzip, wie er es in seinen frühen Betrachtungen angekündigt hat, gilt auch für religiöses Wissen: Auch dies muss sich an den Maßstäben der Vernunft messen lassen. Seine Methodik erklärt er seinen Studenten: [W]ir müssen bei Erörterung der Frage, ob eine gewisse Meinung ersprießliche oder schädliche Folgen für die Menschheit habe, keine religiöse Meinung noch als wahr voraussetzen. Dieß führt denn zu der Regel: man solle nichts, was sich nicht ohne die Lehren der Religion als gut und gemeinnützig erweisen läßt, durch sie und wegen ihr dafür erklären. (1817.43: 392f., 396)

Bolzano hält es also grundsätzlich für möglich, über metaphysische Tatbestände synthetische oder Erfahrungs-Urteile zu fällen. Es geht dabei nicht immer um die „Auffindung der objektiven Gründe einer übersinnlichen Wahrheit“, sondern oft um „bloße Gewißheit“ (Ath 2, Einleitung, 19). Die Gewissheit dieser Einsichten verblasst oder schwindet nicht unbedingt im Lichte der wahren Aufklärung. Aber ihr Charakter wandelt sich: von einer naïv angenommenen, unhinterfragt vorausgesetzten zu einer verstandenen, gelebten Sicherheit und Wahrheit.

Mathesis universalis Bernard Bolzanos Entwurf einer grundlegenden mathesis baut auf einer Methode: der logisch-mathematischen. Deshalb kann es nach seinem Verständnis

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nur eine Art von Wissenschaft geben, mit allen möglichen Bereichen. Es kann so betrachtet keine eigene Methode der Geisteswissenschaften geben und er sieht auch keinen Grund, das Wissen in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zu trennen, wie das zu seiner Zeit zunehmend geschieht. Für ihn muss auch der sagbare Teil von Religion und Glauben wie das restliche Wisse mit vernünftigen, wissenschaftlichen Kriterien messbar sein. In seiner Wissenschaftslehre, – dem theoretischen Teil seines Versuches, das Wissen/die Wissenschaft, [„Wissen“ als Geistestätigkeit, „Wissenschaft“ als Inbegriff dieser Tätigkeiten verstanden] also alles, was gewusst wird, gewusst werden kann und soll, der Menschheit zum Nutzen übersichtlich zu ordnen – gibt er später, als ihm durch seine Entlassung aus dem Lehramt die Zeit dazu gegeben wird, genaue didaktische Anweisungen zur zweckmäßigen Einteilung der Gesamtmenge der wissenschaftlichen Bereiche. Den Plan zu diesem Werk erläutert er zu Beginn. Im grundlegenden ersten Teil seiner neuen Logik, der ‚Fundamentallehre‘, heißt es: Indem man sich vornimmt, in dem ersten oder reinen Theile der Logik bloß von solchen Gesetzen des Denkens zu handeln, die für alle Wesen, (auch für Gott selbst) gelten; stellt man sich (und nicht mit Unrecht) vor, daß diese Gesetze in einer gewissen Hinsicht keine anderen sind, als die Bedingungen der Wahrheit selbst; d.h. daß alles dasjenige, was nach einem für alle vernünftigen Wesen geltenden Denkgesetze als wahr muß angesehen werden, auch objectiv wahr sey, und umgekehrt. (WL [Sulzbach 1837] § 16: 64.3)

Diese Art der „Gleichstellung“ von Gott und Mensch allein schon erregte vielfach Aufsehen und heftige Ablehnung. Als Bolzano im Exil daran dachte, in seinen geplanten Ausführungen zur zweiten Auflage der Religionswissenschaft noch einiges zu klären, da setzte er sich unter anderem mit der Theorie des Glaubens des Münsteraner katholischen Theologen Alexander von Sieger (1798–1848) auseinander. Dort hieß es: Von einer absoluten Wahrheit, die vor Gott und den Menschen dieselbe wäre, mag ich nichts wissen, und wenn mir jemand sagte, zweimal 2 wäre 4 im Himmel und auf Erden, so würde ich einen so kleinlichen Begriff von Gott, als könnte er keine Wahrheiten schaffen, in welcher die Mathematik nichts gelte, noch wäre, verlachen. (Sieger 1833: 59; ein Exemplar findet sich in Bolzanos Bibliothek [BBB 2: 353]; nach Winter 1981: 93)

Bolzano fand das gar nicht kleinlich und hielt mit einer für ihn typischen logischen Wendung dagegen: Der Meinung wären wir nicht und dächten, wenn der Mensch gar keine Wahrheit, die der Verfasser absolute nennt, das heißt, die auch vor Gott gälte, zu erkennen vermögte, so müßte er besorgen, dass vielleicht auch der Satz: „es gebe einen Gott“ vor Gott nicht gelten würde, d.h. nicht absolut wahr sei.

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(Winter 1981, 93. Dieser Satz steht so in Bolzanos Handexemplar der RW und wurde nicht in die BGA übernommen). Auch in diesem Fall, verschafft sich Bolzano wesentliche Klarstellungen durch regelkonforme Überwindung von logischen Widersprüchen. Er dreht gleichsam die epistemologische Richtung, indem er Gott vom Logos her versteht und nicht umgekehrt. Der so gewonnene Gottesbegriff war den Theologen seiner Zeit begreiflicherweise viel zu profan. Dieser Gott war so gesehen kein überirdisches Wesen mehr und man konnte und brauchte nicht mehr zu ihm aufschauen. In Bolzanos neuer Theologie bricht die erstarrte Bewunderung gleichsam auf. So verstanden rückt ,Gott‘ zwangsläufig aus dem Zentrum der Metaphysik. Aber nicht nur das war ein Ärgernis für zeitgenössische Theologen und Philosophen: Es hatte für sie den Anschein, Bolzano wolle Gott mit seiner eigenwilligen Religionslehre auch die Herrschaft über die Wahrheit entziehen, und zwar nicht nur über die theoretischen, sondern auch über die praktischen oder sittlichen Wahrheiten: Gut ist, lehrten verschiedene Theologen, was Gott will, und das oberste Sittengesetz lautet sonach: Folge dem Willen Gottes! So erklärten sich Melanchthon, Crusius u.A. Versteht man dieß so, als wäre der Wille Gottes der letzte Grund davon, warum dieß oder jenes gut oder böse ist: so däucht mir das irrig. (RW 1, § 90: 246f.)

Für Bolzano ist gut, was Gottes Denken konform ist. Das Handeln folgt dem Sein, agere sequitur esse, wie es als scholastisches Prinzip galt und besonders von Thomas von Aquin weiterwirkt (Summa contra Gentiles 3, 69). Das Sein ist das Göttliche, es wird als ,wirklich-Sein‘ verstanden, also als wirksam-Sein. Damit nimmt Bolzano eine Position ein, die der dritte Earl of Shaftesbury (1671–1713) schon vertreten hat: Dieser hat Unterscheidungen zwischen Gut und Böse grundsätzlich der (menschlichen) Natur zugewiesen und sie als unabhängig vom Willen Gottes verstanden. Zur Beurteilung all dieser Vorgänge zieht er den Grad heran, in dem der Glaube, – also alles, was Menschen in seinem (Gottes) Sinn unternehmen –, das Gemeinwohl fördert. Shaftesbury gehört zu jenen Denkern, wie vor ihm auch der protestantische Theologe Georg Calixt (1586–1656), welche die Bedeutung des consensus omnium eingesehen und für entscheidend angesehen haben. Bolzano bezieht sich auch ausdrücklich und lobend auf diese Denker (RW 1, § 7, 21). Schon Calixt hat die Unabhängigkeit eines höchsten Sittengesetzes von der Existenz Gottes betont, – und so seine Durchsetzung damit gleichsam in die tätigen Hände des Menschen gelegt. Es rührt im Verständnis dieser Gottes- und Weltgelehrten nicht an der Würde göttlicher Allmacht, wenn der denkende Mensch nun angesichts seiner verstandesmäßigen Einsichten selbst Verantwortung übernehmen muss, wenn es nicht mehr genügt, den Befehlen Gottes zu folgen: „Sein Wille geschehe im Himmel“ – dort geschieht er – „und auf Erden“: Hier aber

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lässt Gott dem Menschen die Freiheit, seinen Willen zu erfüllen und ihm zu gefallen (oder nicht). Gott herrscht also nicht mehr in der wirklich aufgeklärten Welt, so Bolzanos Annahme. – Mehr noch, nichts beherrscht den Menschen mehr, nachdem er sich mithilfe seines Verstandes von den äußeren Zwängen der (göttlichen) Natur freigespielt hat. Nur er selbst kann das: Er kann sich beherrschen. Er tut das Gute also nicht mehr ,Gott zuliebe‘, und erst recht nicht der Wahrheit zuliebe, – er tut es, seiner selbst, seiner Mitmenschen und der ganzen Menschheit zuliebe. Eduard Winter kommentiert hier, die theologische ,Wahrheit‘ werde in Bolzanos Verständnis nicht mehr ,theonom‘, sondern ;autonom‘ verstanden. Er spricht hier vom „Kernpunkt der Religionswissenschaft“, den Bolzano damit enthülle (Winter 1981, 93). Freilich ist diese ,Autonomie‘ innerhalb der Schöpfung zu verstehen, eine relative und keine, die von Gott unabhängig sein könnte; aber eine vom Menschen selbst verantwortete.

Dogmen Am äußersten Rand des Wissens, an der Grenze, die das Wissen vom Glauben scheidet, finden sich traditionellerweise Dogmata eingemauert. Sie markieren die Stelle, wo der gesunde Hausverstand deutlich einsieht, dass, und warum, sich durchaus kein Beweis fernerhin fordern lässt, wie er es in der Vorrede zu seiner ersten Veröffentlichung, den Betrachtungen von 1804, angekündigt hat. Bernard Bolzano löst diese einst sakrosankten Grenzsteine vorsichtig aus ihrer festen Verankerung: Er setzt weder die Existenz Gottes, noch die Jesu Christi, noch auch die der Dreifaltigkeit oder die Geordnetheit der Welt im starren Sinn dogmatisch voraus: Er versucht diese Umstände vernunftgemäß einzusehen. Bolzano ,glaubt‘ sehr wohl an das Dasein Gottes und ist jederzeit bereit, diesen Glauben feierlich zu bekennen. Er glaubt an Gott, – dies deswegen, „weil die Vernunft nichts klarer ausspricht, als dass es kein bedingtes Wesen geben könnte, wenn es kein unbedingtes gäbe.“ (Bolzano 1825: 87) Dreieinigkeit und Allvollkommenheit Gottes sind jetzt keine Dogmen mehr im früheren Sinn von unhinterfragbaren Wahrheiten. Sie markieren die Grenzen zwischen Wissen und Glauben. Bolzano glaubt anders als bisher üblich, das heißt, er gebraucht die Vorstellungen, die damit traditionell gefasst wurden, offen: Viele altbekannte Dogmen stellen sich dabei als „bleibende Gewissheiten“ heraus, andere nicht. Bolzano glaubt nicht an Gott, weil er ,existiert‘, aber er kennt vernünftige Gründe für diesen Glauben: Er versteht

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diesen ,Glauben‘ als Teil des Gemeinsinns, den vernünftige Menschen und „selbst die größten Weltweisen“ seit jeher teilen. Die Annahme, dass es Wahrheiten-an-sich gebe, ist für Bolzano grundlegend und steht außer Zweifel. Das erlaubt ihm, über die „in der raum-zeitlich bedingten Wirklichkeit geltenden Gesetze des Logischen und damit des Widerspruchsfreien hinauszublicken. Wie die logisch vorgehende Vernunft die eigenen Grenzen wahrzunehmen imstande ist, so vermag sie in diesem Akt zugleich diese rein logischen Grenzen auch zu überschreiten“ (Speyer 2016a: 53). – So sieht es Bolzano als zweckmäßig an, die Welt als Schöpfung und als ein geordnetes Ganzes zu verstehen und nicht als wirren Haufen von Materie; er verweist in diesem Zusammenhang etwa auf die mythische Aussage im Buch der Weisheit des Alten Testaments (1818.17–18: 151 Von der Ordnungsliebe): „denn er hat Alles […] nach Maaß und Gewicht geordnet.“ (Weish 11,20) Trotzdem bleibt in seiner Methodik für ihn nichts von vornherein ausgeschlossen, – nicht einmal die Möglichkeit, dass ein „blindes Ohngefähr“ die Welt regiere (1811.14: 149)! Wenn Bolzano sich grundsätzlich durch keine Evidenz eines Satzes von der Verbindlichkeit entbunden fühlt, einen Beweis für denselben aufzusuchen, und dies auch in religiösen Dingen, dann heißt das, biblisch gesprochen, dass der Boden im Weingarten sehr sorgfältig zu bestellen ist. Und zwar „so lange, bis [jeder Schüler] deutlich einsähe, dass der Boden bestens bereitet ist und „dass und warum sich durchaus kein Beweis fernerhin fordern lasse“. Es kann dabei wohl vorkommen, dass Steine oder Lehmklumpen beiseite geräumt werden müssen, also dass Dogmen sich überlebt haben. Dazu zwei Beispiele aus Bolzanos Lehrtätigkeit: 1. In seinem Religionsunterricht bemerkt Bolzano einmal, dass ein bloßer „Formularglaube“, also ein Glauben an vielleicht sogar unverstandene Formeln, keinerlei Nutzen habe und abzulegen ist. Ein Beispiel:

… Man bemerkte ferner, daß sich die Menschen oft über gewisse Meinungen, die uns nach unseren jetzigen Begriffen sehr gleichgültig seyn können, und also nicht mehr zur Religion gehören, mit vieler Heftigkeit stritten, weil sie sich vorstellen, daß es wichtige Glaubensartikel wären. So wurde z.B. vom 15ten bis zum 17ten Jahrhunderte hin, die Behauptung, daß die Erde still stehe, als ein zur Religion gehöriger Glaubensartikel angesehen, weil man vermeinte, daß mit Verwerfung dieses Satzes zugleich das Ansehen der heil. Schrift und die Göttlichkeit der christlichen Religion, also eine Menge höchst wichtiger Lehren und Meinungen umgestoßen würden. (RW 1, § 44b: 115)

2. Im Autographon einer Erbauungsrede mit dem Titel Wie kann der Religion in unserem Lande mehr Ansehen verschafft werden (1811.5) notiert

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er am Blattrand, ziemlich erleichtert, dass der in die Jahre gekommene Brauch des Eidschwures auf die Jungfernschaft Mariens aus den Universitätsstatuten endlich fallengelassen worden war:

1782 ist jener Eid den alle Doktoren pro defensione a imaculata B.[eatae] V.[irginis] conceptione bis dahin schwören mußten durch Kaiser Joseph aufgehoben worden. (1811.5: 70)

Im kaiserlichen Hofdecret vom 5. Juni 1782 des Kaisers Joseph II. hatte es geheißen: Da die Wichtigkeit eines Eides erfordert, daß solcher nur alsdann abgelegt werde, wenn er eine gewisse Wahrheit zum Stofe, und die Noth zum Beweggrunde hat: so soll die Ablegung des Eides de immaculata Conceptione bei allen Universitäten, Lyzäen, Doktorspromotionen […] künftig weggelassen […] werden. (Handbuch 1785: 505f.)

Bolzano achtet rituelle Formen und legt größten Wert auf sie. Er stürzt einst fest geglaubte Vorurteile nicht ohne Rücksicht auf Verluste. Sein Umgang damit ist aber ganz eindeutig, und gerade deshalb empfindet er es als Missbrauch, jemandem Gelübde abzuverlangen, die nichts mehr bedeuten: Nicht deutlich, sage ich, sehen sie dieß Alles ein und also erkennen sie es auch nicht mit völliger Deutlichkeit, daß es ein grober Mißbrauch sei, unüberlegte Gelübde zu erfüllen. Sie ahnen es, aber sie wissen es nicht ganz gewiß; und darum dauert er fort, dieser Mißbrauch, von einem Jahrhunderte zum andern! (1813.10: 117)

Es ist also nach Bolzano nicht das Dogma selbst, das die Religion in Verruf bringt, sondern ein dem fortgeschrittenen Bewusstseinsstand nicht mehr angemessener Gebrauch, der davon gemacht wird; sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus irgend einem Vorteil, den jemand aus diesem Beharren ziehen mag. Er beschreibt die psychischen Vorgänge, die zu derlei Missbräuchen führen, psychologisch sehr genau, sodass deutlich wird, wo genau die Grenze zum schädlichen Aberglauben überschritten wird. Er verlangt aber auch zuweilen eine Rückkehr zum früheren Gemeinsinn und zu älteren Sitten, wie etwa die Wiedereinführung der Mitternachtsmette am Christtag (sie war nach dem Wiener Kongress – aus Gründen der Vorsicht und der Gefahr von nächtlichem Aufruhr – untersagt worden [1818.7, 79]). Er nimmt also Dogmen an, sobald sie einer kritischen Überprüfung standhalten und deren Sinnhaftigkeit außer Frage gestellt ist; aber er gebraucht diese Wahrheiten nicht mehr ,dogmatisch‘, im früheren starren, herrschenden Verständnis, sondern setzt sie kritischer Überprüfung aus. In diesem Gebrauch verändert sich die Bedeutung des Begriffes ,Dogma‘ selbst: Er büßt in diesem Sprachgebrauch seine zeitlose Sicherheit und Wahrheit ein und ist dem metaphysischen Sicherheitsbedürfnis keine Stütze mehr. Aber die so gebrauchten

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Dogmen gewinnen dabei an Leben: Sie markieren die jeweiligen Grenzen des sinnvollen Zweifels. Diese Grenzen bedeuten nicht mehr das Ende des Glaubens, sondern sie sind wieder mittendrin im Leben. Diese Art des Wissens hört insgesamt auf, starrer Besitz zu sein. Man kann sich dahinter nicht verschanzen; es ist in Bewegung. Dieser Gebrauch geht auch nicht von dem herrschenden Vorurteil aus, dass alles Frühere zu verwerfen sei. Bolzanos Bewegung geht so viel weiter: Selbst wenn am Ende des Weges zur Wahrheit auch die ursprüngliche Wahrheit, z.B. ,Es gibt einen Gott‘, ganz anders aussähe und, von einem späteren Standpunkt betrachtet, vielleicht auch nicht mehr als Wahrheit gälte, wäre das noch lange kein Grund, diese Wahrheit – so lange sie Nutzen bringt – zu verwerfen und sie später etwa als ,kindliche‘ oder ,primitive‘ Vorstellung zu belächeln. Was die Gottesvorstellung betrifft, verhält es sich bei Bernard Bolzano ähnlich wie schon bei Blaise Pascal, der in seiner bekannten „Wette“, Penseés 233, empfohlen hat: „c’est en faisant tout comme s’ils croayent …“ (Pascal 1964: 134–138, 137). [wir tun also einfach so, als ob Gott existierte, auch wenn wir es nicht wissen (können)]. Um den Aspekt des Wettens geht es bei Bolzano hier nicht; eher um den einer vernunftgemäßen, durch Wahrscheinlichkeit gerechtfertigten Entscheidung. – Ähnliche Wetten trifft man auch schon früher, etwa bei Alexander von Aphrodisias (um 200 n. Chr.): Dieser hatte die Frage, ob der Mensch einen ,freien Willen‘ habe, oder ob er gänzlich determiniert sei, schon mit einer Art Wette beantwortet (W.Puster HWP, Art. ,Wette‘. Ich danke Otto Neumaier für den Hinweis). Diese Wette gewännen in jedem Fall diejenigen, welche die Annahme vertreten, der Mensch habe freien Willen, denn sie haben in jedem Fall mehr vom Leben. – Und die Wette, ob wir an Gott glauben sollen oder nicht, gewinnen in jedem Fall jene, die es tun. Auf diesem Glauben lässt sich, wie ungezählte Male (und auch an Bolzanos Beispiel) bewiesen ist, ein verantwortungsvolles und glückliches Leben aufbauen. Was Bolzano mit Pascal verbindet, ist die mathematische, rhetorisch-wahrscheinlichkeitstheoretische Herangehensweise an das Problem, mit der es vielfach gelingt, die anfängliche Vermutung zu festigen, auch wenn sich dabei das ursprünglich fest Geglaubte so nicht halten lässt. Josef Hoffmann überliefert eine seltsam klingende Aussage von Bernard Bolzano „Ich würde Jesum verlassen und der Kirche folgen, wenn diese es von all ihren Gliedern fordern sollte.“ (Hoffmann 1850: 14.) Bolzanos Glaube ist also fest genug, um nicht abhängig zu sein davon, dass Jesus wirklich gelebt hat: Was der Gemeinsinn der Glaubenden von dieser Figur überliefert hat, sagt ihm genug. Die ,Gottesliebe‘ Bolzanos hat wenig mit dem anthropomorphen Gottes- und Christusbild zu tun. Er verwirft diese Bilder aber keines-

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wegs; seine Gottesliebe ist ,autonom‘ geworden. Bolzano räumt schließlich sogar ein, dass selbst der christliche Glaube insgesamt sich einmal als Irrtum herausstellen könne. Und wenn schon, so seine Reaktion, Hauptsache, dass es ein „beseligender Irrtum“ gewesen ist, und wenn dieser als Irrtum eingesehen würde, wäre es ein Leichtes, auch ihn loszulassen.

Offener Zugang In seiner Studie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) lässt Kant nur einen Zugang offen: Sobald der Mensch die christliche Religion als eine „gelehrte Religion“ begreift, die sich auf Geschichte stützt, könne sein Glaube ein freier, fides elicita, sein. Dies aber gälte nur dann, lehrte der Philosoph, „wenn jedermann gelehrt wäre“. Hingegen wenn der Glaube auch für den Ungelehrten zugänglich sein sollte, welcher die Gründe nicht einsehen könne, dann müsse dieser Glaube nicht bloß ein gebotener, sondern zudem ein dem Gebot blind gehorchender, eine fides servilis sein (Kant 1793: 833ff.). – Derlei Ansichten findet Bolzano krass überzogen und der Sache gar nicht dienlich, daher widerspricht er ihnen energisch (1813.29: 293; 1819.22: 215). Er hält nichts von einem Gelehrtenglauben, ebensowenig wie vom reinen Gelehrtenwissen. Er achtet darauf, dass die Zugänge zum Glauben offen sind und bleiben, und zwar für alle Menschen, und er sorgt jetzt dafür, dass diese Offenheit nicht beeinträchtigt wird: Angesichts der zu erwartenden gesellschaftlichen Veränderungen erkennt er die Notwendigkeit eines globalen Gemeinsinns aller Gläubigen. Auch er unterscheidet grundsätzlich zwischen den beiden Polen eines verstandes- und eines gefühlsmäßigen Zuganges, sowie auch zwischen einer kognitiven und einer Gesinnungskomponente der Glaubenswahrheit. Unerheblich ist für ihn aber, durch welchen der Zugänge jemand das „Reich Gottes“ betritt: Dem kindlichen Gemüt (a) erschließt sich die Wahrheit des Glaubens auf direktem Weg über die Gesinnungskomponente, so wie eine Märchenwelt mit all ihren darin geltenden Regeln. Der/dem Gebildeten (b) ist sie, je nach Grad der Bildung, auf dem mehr oder weniger steilen Weg über die kognitive Variante zugänglich; jedem und jeder „nach Kräften und Verhältnissen“ (1813.28–29: 291; Bolzano LB, 27; 1819.22: 218f.). Dem etwas gebildeten ,gemeinen Manne‘ ist der Glaube meist auf kürzerem Wege erreichbar als dem Gelehrten, so Bolzano. ,Ausgemacht‘ ist für ihn in jedem Fall, dass niemals eines der beiden Extreme der Zugangsvarianten allein ganz ausreicht:

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a. Irgendwann in seiner Entwicklung beginnt das Kind zu zweifeln und die Märchenwelt bricht auf; – und selbst in den geistfernsten Menschen steigen irgendwann berechtigte Zweifel auf. Das heißt aber, dass der Jugendliche oder der bildungsferne Mensch irgendwann doch zu denken beginnen (kann) und die früher ,alleinseligmachenden‘ bildlichen Wahrheiten nicht mehr ausreichen. Sie werden deswegen ihren kindlichen Glauben an das Christkind jetzt nicht plötzlich als unwissenschaftlich, kindisch oder als falsch abtun, sondern eher mit Erkenntnis überlagern. b. Auch wenn jemand die logischen Feinheiten, mit denen die Glaubenslehre (Bolzanos) diese Lehren später beweist, bis ins Kleinste nachvollzieht, bedeutet das noch lange kein ,Verstehen‘ in seinem Sinn (einer Verhaltensänderung des Verstehenden). Irgendwo stößt auch der Klügste an seine Grenzen und auch der strengste Rationalist kommt nicht ganz ohne die Gesinnungskomponente aus, wenn sein Glauben lebendig werden soll, und das ist entscheidend. „Kinder brauchen Märchen“, wie der aus Wien vertriebene Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903–1990) später überzeugend darlegt (Bettelheim 1976). Aber auch der erwachsene Mensch braucht bildliche Vorstellungen; dann etwa, wenn er die Welt der christlichen Lehren wirklich „verstehen“ will, so Bolzano: Wenn wir […] einen Satz M für wahr halten, ohne ein Wissen desselben zu haben, wenn es uns also eben nicht unmöglich scheint, dass wir durch Richtung unserer Aufmerksamkeit auf alle demselben entgegenstehende wahre, oder nur scheinbare, Gründe zu dem entgegengesetzten Urtheile Neg. M verleitet werden könnten, wir aber gesonnen sind, die Gründe für dessen Wahrheit im Auge zu behalten: so nenne ich dieses Verhältniß unseres Gemüthes zu dem Satze M ein Glauben an diesen Satz. (WL § 321: 288; Konzelmann-Ziv 2010: 315ff.)

Eine so erlangte Gewissheit des Glaubenden zeigt sich in einem Verhalten, das dem Verhalten des Wissenden durchaus äquivalent ist (WL § 319). – Ein wieder anderer möglicher Zugang zur Wahrheit kann Menschen über eine eigenartige Mischung von Glauben und Wissen zum Verständnis der christlichen Lehren führen; gewissermaßen über ,formale Kriterien‘. Bolzano führt den Streit darüber in der Erbauungsredenserie Von der Erkennbarkeit der göttlichen Offenbarung lebendig aus: ‚Aber wie unsicher‘ werden die Gegner uns einwenden, ‚ist diese Entscheidung nicht, gesetzt, daß sie auch den Namen einer vernünftigen verdiente! Sind die Gelehrten im Streite, werden selbst diese irre an der Wahrheit: wie will der gemeine Mann, ohne die inneren

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Gründe ihres Streites zu kennen, bloß aus der Art, wie sie ihn führen, inne werden, auf welcher Seite die Wahrheit liege?‘ – Ich antworte hierauf: bloß daraus, daß die Gelehrten sich über einen gewissen Gegenstand [hier: das Vorhandensein einer Offenbarung] streiten, folgt im geringsten noch nicht, daß keine sichere Entscheidung in Betreff desselben für Menschen möglich sei. (1813.29: 295f.)

So kann sich also ein Beobachter des Streites ein wahres Urteil bilden, „Grade dieß ist es, was der bloße Zuschauer dieses Streites, oft ohne sich in die inneren Gründe desselben einzulassen, ja ohne nur etwas von ihm zu verstehen, bloß aus den äußeren Betrachtungen der Streitenden mit vieler Wahrscheinlichkeit entnehmen kann.“ (1813.29: 296). Wenn der Beobachter auf diese Art alles getan hat, was in seinen Kräften stand, dann kann er, wie hier, auch so zu einem Urteil kommen, das so gewiss ist, „wie es nur immer bei den Gelehrten der Fall ist“ (1813.28: 296). – Dies, so Bolzano, in Glaubenssachen umso eher, als die vorbildliche Lebensweise der frühen Kirchenväter dort verbürgt ist; während moderne, gelehrte ihr Urteil sehr oft zu streng fällen oder es durch einen zweifelhaften Lebenswandel entkräften. Bolzano lässt also alle Zugänge zum Glauben offen; den naïven, den intellektuellen, den formalen und alle möglichen Zwischenformen. Das muss auch so sein; denn es wäre auch in Zeiten der Aufklärung und höchster Bildungsstandards nicht jedermanns Sache, den Grundlagen der Klarheit mit mathematischem Kalkül nachzugehen und so den Nutzen dieser Tätigkeit im Wissen wie im Glauben zu erkennen (WL § 9; RW 1 § 4). Bolzano erwartet derlei gar nicht: Als sein Freund Michael Josef Fesl sich einmal darüber beklagt, dass gemeinsame Bekannte, ja selbst Fachleute wie der Physiker Christian Doppler, weder in der Lage noch willens seien, Bolzanos mathematisch-logischen Gedankengängen zu folgen, weist ihn dieser heftig zurück: Wie falsch ist dies, wie parteiisch und ungerecht! Als ob den Leistungen Dopplers, Heßlers [Physikpofessor, damals in Prag] Palackýs [damals Sekretär der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften] und anderer nur das Geringste entginge nur darum, weil sie kein Interesse und vielleicht auch kein Talent für meine spekulativen Forschungen haben. (Antwortbrief an Fesl von 22.4.1842. Winter/Zeil: 322f.)

Bolzano achtet einerseits den althergebrachten Glauben an einen persönlich vorgestellten ,lieben Gott‘, auch wenn er selbst sich metaphysischen Phänomenen vorwiegend mithilfe der Mathematik nähert. Er kämpft gegen den Einfluss jener „Klügler und Zweifler“, die sich manche christlichen Lehren, und besonders die schwer rational begreiflich zu machende Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, nicht erklären konnten – und darob gleich den ganzen Glauben als unhaltbar verwarfen, das Kind also gleich mit dem Bade ausschütten. Dazu sagt er, am „Feste der allerheiligsten Dreyeinigkeit“

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Eine Quelle der größten Streitigkeiten, meine Freunde, eine von denjenigen Lehren, welcher der stolzen Vernunft der Weltweisen von jeher am alleranstößigsten gewesen sind, ist die erhabene Lehre von der dreyeinigen Natur in Gott […]. Denn seit den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung war diese Lehre schon ein Stein des Anstoßes für die Vernunft, nicht der gemeinen Menschenmenge zwar, aber wohl jener Weltweisen, die es entweder wirklich waren, oder doch zu seyn vorgaben! (1811.42: 411)

In seinen Ausführungen Über die Vollkommenheit des christlichen Lehrbegriffs (1819.25; auch 1819.17) klärt er zunächst den Gebrauch des Begriffes ,vollkommen‘: Etwas ist vollkommen, so er, wenn es seinem Zweck gerecht wird. Der Zweck ist hier die Beförderung des Gemeinwohls und letztlich die Glückseligkeit der species Mensch. Der christliche Lehrbegriff ist, so Bolzano, obwohl durch Menschen eingeführt, dennoch ,vollkommen‘ (1820.2). – ,Vollkommen‘ ist auch die sperrige Lehre der Dreieinigkeit (1819.26): Sie erlaubt es den Menschen, drei Wirkungsbereiche des einen Göttlichen zu differenzieren. Diese unterscheiden sich darin, je nachdem ob es sich um die (1) Glückseligkeit/ Vollkommenheit des gesamten Weltalls (Vater), (2) einer ganzen Gattung von Geschöpfen (Sohn) oder (3) eines Einzelwesens (Hl. Geist) handle. Vorwiegend sei es der Stolz, so Bolzano welcher die zeitgemäßen Weltweisen am Verstehen solcher Wahrheiten hindere, und dies vor allem deshalb, weil es das unausgesprochene Zugeständnis der Begrenztheit des (auch ihres eigenen) Verstandes enthalte. Der sensus communis, und mithin der ,Rat der Kirche‘, verlange keineswegs, dass wir uns in Glaubenssachen unserer Vernunft völlig zu entschlagen hätten. Vernünftig ist aus Sicht Bolzanos die Einsicht, wenn sich uns irgend eine religiöse Ansicht darbietet, die sich durch einen wohlthätigen Einfluß auf unser Herz empfiehlt, und Gottes Zeugniß für sich hat; dann sollen wir sie nie aus dem Grunde verwerfen, weil wir sie nicht auf eine wissenschaftliche Art zu rechtfertigen wissen. (RW 2 § 8: 21; 1811.42: 415 Titel: Von der Forderung der katholischen Kirche, die Vernunft dem Glauben zu unterwerfen)

Es geht ihm auch hier auch nicht um das ,Wesen‘ der Lehre (von der Trinität), sondern um deren Wirkung: Indem Bolzano empfiehlt, die „Vernunft dem Glauben zu unterwerfen“, rät er gewissermaßen, das rationale Wissen, also den Bereich des logisch Widerspruchsfreien, zu übersteigen, um auf dem Weg der Wahrheit weiterzukommen und den Zuständigkeitsbereich der Vernunft auszuweiten. Bei diesem ,Rat der Kirche‘, den er empfiehlt, geht es auch um das Bekenntnis zur Unendlichkeit des gegebenen Wissens, mit allen daraus folgenden Ungewissheiten. Der Rat beinhaltet das unausgesprochene Eingeständnis der Irrtumsanfälligkeit des menschlichen Verstandes, das den strengen Rationalisten so schwerfällt. Die endliche oder ,alleingelassene‘ Vernunft allein ist aus Bolzanos Sicht ungenügend und zu irrtumsanfällig, um den Menschen in wesentlichen Daseinsfragen allein leiten zu können. – Bolzanos Rat

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bedeutetet vielmehr, dass bei menschlichen Entscheidungen immer nur der mögliche oder tatsächliche Nutzen für die Menschheit den Ausschlag geben dürfe, – und nicht etwa irgendein abstraktes Wahrheitsideal. Wenn er ein Fortschreiten der species Mensch annahm, wenn Menschen den Weg zur Wahrheit tatsächlich gingen und sich einer möglichen Wahrheit näherten, dann konnte dieser Weg jedenfalls kein dem beschränkten Menschenverstand vorhersehbarer, kein geradliniger oder kontinuierlicher sein. Dieses Fortschreiten geschieht eher durch Versuch und Irrtum, und trotz allerlei Rückschlägen, so Bolzano. Der Wiener Logiker Karl Popper expliziert dieses Fortschreiten gut ein Jahrhundert später in seiner Logik der Forschung (1934/1979) als notwendig offenen, unendlichen Prozess. Die „christkatholische Kirche“, als Hüterin des gesunden Menschenverstandes, garantiert den consensus omnium in der wahrhaft aufgeklärten Welt. Dieser, so Bolzano, habe längst schon eingesehen, dass ein ,rein rationales‘ Weltverständnis nicht weiterführe und dass der Ausweg darüber hinausführt. Bolzanos Empfehlung drückt also keine Wertung für die eine oder die andere Sache aus, sondern die Erkenntnis, dass wesentliche Erkenntnisfortschritte bei ihrer Findung nicht gleich rational erklärbar sein müssen und können. Dass das zunächst als irrational Wahrgenommene, den bisherigen rationalen Rahmen Sprengende, ein wesentliches Moment eines jeden echten Erkenntnisfortschritts oder Paradigmenwechsels ist, weiß man heute längst (vgl. Fleck {1935} 1980; Kuhn 1981). ,Klügelnde‘ Aufklärer verbauen sich selbst, und damit auch den ihnen vertrauensvoll folgenden Menschen, den Zugang zum Glauben, so Bolzano. Sowohl die Staatsraison des ancien regime, als auch jene Friedrichs II. von Preußen und jetzt auch noch das josephinische Staatskirchentum – alle diese Systeme haben die unteren Bevölkerungsschichten weitestgehend außer Acht gelassen (Winter 1938: 285). Bolzano erkennt das als schwerwiegenden Fehler. Deswegen ist in seinen Vorstellungen auch kaum etwas von einem josephinischutilitaristischen Staatskirchentum zu merken. Die absolutistischen Reformer um Joseph II. sind sich aber immerhin noch darüber im Klaren gewesen, dass in einem katholischen Staat vernünftige Reformen nur unter der tätigen Mitwirkung der Geistlichen durchführbar waren (Wangermann 1978, 36f). Für sie war nicht nur die Wissenschaft, sondern auch der Glaube dem Zweck der idealen Staatsführung untergeordnet. Bolzano sieht das anders: Die Bestimmung und Berechtigung von Kirche und Glauben kann für ihn weder im Politischen noch im Göttlichen im liegen, sondern nur im allgemein Menschlichen.

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Religionsbegriff Unter ,Religion‘ versteht Bolzano in seiner Religionswissenschaft (RW 1 § 2: 4) den „Inbegriff aller derjenigen Lehren und Meinungen eines Menschen […], die einen Einfluß auf seine Tugend und Glückseligkeit haben.“ Bolzano geht grundsätzlich von einer „allgemeinen Freiheit des Denkens und der Religion“ aus. Er setzt sie auch in seiner utopischen Schrift voraus (BS, VII). Die Religionslehre hat, aus Bolzanos Sicht, die Aufgabe, unter den verschiedenen religiösen Erscheinungsformen, die es in der Welt gibt, die aktual vollkommene Religion zu finden (RW 1, § 36). Die aktual vollkommenste meint zirkumskript also die beste Religion für die Menschen in Böhmen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. (Das Suchfeld ist freilich eingeschränkt durch das verhältnismäßig geringe Wissen über die anderen Religionen zu seiner Zeit. So gibt es etwa noch kaum nennenswerte Kenntnisse über den Buddhismus, an dem Bolzano gewiss viel Annehmenswertes gefunden hätte.) Die Feststellung der aktual vollkommenen Religion schließt grundsätzlich keine andere Religion aus. Bolzano zeigt, dass es historisch und aktuell viele Religionen gibt, die zu ihrer Zeit oder an ihrem Ort, oft auch gleichzeitig, als vollkommene gelten können. So ist etwa die mosaische Religion vor dem Erscheinen Jesu Christi für Bolzano lange Zeit eine vollkommene Religion gewesen. Im Vergleich der verschiedenen Weltreligionen kommt Bolzano zur Erkenntnis, dass die religiösen Begriffe, die sittlich am weitesten fortgeschritten sind, also am wenigsten Irrtümer und Aberglauben transportieren, die „christkatholischen“ seien. Dank der Aufklärungsarbeit von Jesus Christus geben sie im Neuen Bund die nachweisbar klarsten Richtlinien gegen Aberglauben und für Menschlichkeit vor. Ist die vollkommenste Religion gefunden, so hat diese als Gegenstand der Religionslehre zu gelten. Nach Bolzanos Einsicht ist das die „christkatholische“, als die Religionsgemeinschaft, die von der ursprünglichen Lehre ausgegangen und wesentlich dabei geblieben ist, trotz aller Abspaltungen und Reformversuche. Er versteht sie gleichsam als eine Art phylogenetisch gewachsenes Substrat an Aussagen über erprobte Anschauungen vorwiegend ethischer Art.  Die Bezeichnung „römisch-katholisch“ sucht man vergebens in Bolzanos religiösen oder wissenschaftlichen Schriften: Er versteht sich als „christkatholischer“ Priester und reiht sich in die alte böhmische Tradition, die dem Papsttum durchwegs kritisch gegenübersteht. Unter katholisch versteht er nicht, wie es zu seiner Zeit schon eher üblich war, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten konfessionellen Gemeinde, sondern er gebraucht den Begriff

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im vorreformatorischen Verständnis, als Kennzeichnung eines allgemeinen christlichen Glaubens, der Herkunft des Wortes gemäß „allgemein“, „die Gesamtheit der Gläubigen betreffend“ (Kluge 1989). So wie schon Moses Mendelssohn, bzw. Lessings Nathan der Weise, schaut Bolzano bei seiner Suche nach der vollkommenen Religion nicht auf ihr Wesen, sondern auf den konkreten Nutzen, den diejenigen, die eine Religion ausüben, aus dieser Praxis ziehen. Er macht ethische und pragmatische Kriterien geltend, wie die Brauchbarkeit und ,Vernunftmäßigkeit‘ des Gebetsritus, die Vernunftgemäßheit der Vorstellungen vom Jenseits, die Einrichtung des Korrektivs einer ,Buß- und Besserungsanstalt‘ als Hilfe für den grundsätzlich fehlerhaften Menschen – und nicht zuletzt die Rolle, welche die Liebe in den Religionen spielt (1811.19–21; 1812.43–46) – All das erwogen, kommt Bolzano zu folgendem Schluss: Wo kann, (wenn sonst alle Umstände dieselben sind) dem allergefährlichsten Feinde der menschlichen Bildung, dem Aberglauben, nachdrücklicher gesteuert werden, als dort, wo der annehmungswerthe Hauptgrundsatz des echten Katholizismus gilt: „In religiösen Gegenständen sey nur das wahr und ausgemacht, was der gemeine Sinn entscheidet, was Alle allzeit und zu allen Orten glauben“ – Wo hat je eine andere Religion das wahre Wesen der Tugend richtiger ausgesprochen, als es die christliche in jenen zwey bekannten Gebothen der Liebe thut? (1810.5: 74)

Die Aufforderung zu Feindesliebe und zu großzügigem Verzeihen, die das Neue Testament unmissverständlich erhebt, stellt zweifellos eine nicht mehr überbietbare Stufe sittlichen Verhaltens gegenüber allen früheren Formen und sittlichen Regeln dar (Speyer 2017: 14). – Mit diesen Vorstellungen festigt Bolzano nun eine deutlich andere Grundeinstellung, als es die mittlerweile in den nunmehr von Kant und Goethe eindeutig geprägten deutschen Ländern die tonangebende Geisteshaltung war (Gadamer 1972: 7ff.).

Natürliche und geoffenbarte Religion Religiöse Sätze, und mithin natürliche Religion, gebraucht jeder, gleich welchen Bekenntnisses er/sie auch immer sein mag, und ungeachtet dessen, ob er/sie überhaupt ein religiöses Bekenntnis ablegt, so Bolzano. – Die rationalistische, zeitgeistgemäße Auffassung der herrschenden Aufklärer sieht das anders: Sie stellt einen eindeutigen Wahrheitsanspruch. – Die geoffenbarte Religion, die Bolzano seinem Amt gemäß jetzt vertritt, erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit im streng logischen Sinn (vgl. die Begriffsklärungen in RW 1, § 21). Sie braucht ihn auch nicht, um glaubhaft zu sein, so Bolzano. Im Gegenteil: als

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bewiesene Lehre könnte sie gar nicht geglaubt werden. So wie man einen bewiesenen Lehrsatz nicht glauben kann. Bolzano geht davon aus, dass alles Urteilen und Fürwahrhalten nach gewissen, notwendigen Gesetzen erfolge: Sehen wir die Gründe für eine Wahrheit ein: so ist es uns unmöglich, sie zu läugnen; und im Gegentheile, so lange wir noch keine Gründe haben, ist es uns unmöglich, etwas zu glauben. (RW 1, § 18: 56)

Das gilt nach Bolzano für alle Arten von Wahrheiten. Glauben und Wissen sind in Bolzanos Verständnis nur zwei besondere Zustände unseres Geistes im Hinblick auf seine Urteile: Wir glauben einen Satz M, wenn wir Gründe haben, ihn für wahr zu halten; wenn wir von ihm überzeugt sind, ohne dass wir diese Gründe oder Überzeugungen streng logisch beweisen können. – Wir haben Wissen über einen Satz, wenn wir seine Gründe bewiesen haben. Sind diese einmal bewiesen, dann können wir sie rational nicht mehr zurückweisen (WL § 321: 288). Die Zustimmung zum Wissen ergibt sich also gleichsam von selbst, sie ist keine Leistung des Einzelnen. Es ist nicht nur sinnlos, sondern letztlich unmöglich, Gewusstes, den Pythagoreischen Lehrsatz etwa, zu leugnen, oder auch zu glauben. Beim Glauben spielt der Wille des Menschen eine entscheidende Rolle: die Zustimmung zu einem geglaubten Satz ist Sache unseres Willens. Beim Wissen spielt, sobald dieses eindeutig ist, der Wille keine Rolle mehr. Der Wille macht also den Unterschied – und darin zeigt sich die Freiheit des Menschen. So gesehen offenbart sich gerade in der bewussten Annahme des geoffenbarten Glaubens der freie Wille des Menschen. Die Grenzen zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion werden von Offenbarung und Wunder bestimmt. Beides liegt im Kantischen Sinn „außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, bei Bolzano keineswegs:

Offenbarung Ganz im Sinne der für den Religionsunterricht an österreichischen Universitäten geltenden ,Instrukzionen‘ zeichnet der Religionslehrer nun die Grenzen der ,natürlichen‘ oder Vernunftreligion, wie sie besonders Immanuel Kant in seinem Aufsatz Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 vertreten hat, deutlich nach – und stellt sie der ,geoffenbarten‘ Religion gegenüber. Zu Pfingsten [!] 1818 hält er eine Serie von vier Reden Über den Zweck der Offenbarung. Er verweist zunächst auf

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den Irrthum, daß unsere christliche Religion ihrem wahren Wesen nach nichts Anderes sein könne und dürfe als eine Anstalt, die nur zur Versinnlichung, Ausbreitung und Erhaltung jener religiösen Wahrheiten dient, die wir auch schon durch unsere bloße Vernunft mit unbezweifelter Gewißheit einzusehen vermögen. (1818.25–28; 1818.25: 222)

Indem er die Notwendigkeit einer ,göttlichen Offenbarung‘ annimmt, widerspricht Bolzano dem Programm der vor allem in Westeuropa herrschend gewordenen rationalistischen Aufklärung. Zugleich erkennt er in diesem Programm auch die Gefahr eines ,Glaubens‘ an die Wissenschaften, also einer Fortführung der bisherigen (devoten) Glaubenshaltung mit anderer, rein weltimmanenter, ,rationaler‘ Ausrichtung. Bolzano nimmt allerdings an, dass die einfachen Menschen durch ihren gesunden Hausverstand vor derlei verkürzten und abgehobenen ,Klügeleien‘ weitgehend geschützt sind. Es sind vor allem, wie zu Zeiten Jesu die Pharisäer, die (aus seiner Sicht nicht vollständig oder nicht ,wirklich‘) Gelehrten, welche hier den größten Anfechtungen unterliegen. Ein derartiges halbgelehrtes Zwischenstadium, im „Dämmerungslicht der Aufklärung“ (1813.8: 99 u.a.) gleichsam, hält Bolzano für besonders anfällig für derartige Irrtümer und Formen von Aberglauben. In einem solchen Übergangsstadium neigen Halbgebildete dazu, sich ihres Glaubens zu schämen, andere wiederum sind voll Ungeduld und würden am liebsten die Gehirne der Menschen umkrempeln, so Bolzano. Seinen Studenten empfiehlt er eine sichere Methode, sich vor solchen Irrungen zu schützen. Er empfiehlt ihnen, in der Vermeidung des Irrthums und in der Auffindung neuer Wahrheiten [werden wir] gewiss weit glücklicher sein, wenn wir die Regeln [der Logik], vollständig kennen gelernt haben …. (WL [§ 9]: 35ff. [Nutzen der Logik])

Indem er die Grenzen zwischen Naturreligion und geoffenbarter in seinem Religionsunterricht deutlich nachzeichnet, nimmt er zugleich Stellung für eine ,geoffenbarte‘ Religion; wobei der Begriff ,Offenbarung‘ selbst sich ändert. Diese Offenbarungsreligion erleichtert es besonders dem weniger Gebildeten, einerseits zum echten Glauben zu finden und andererseits der Gefahr des (gelehrten) Aberglaubens zu entgehen. Die Offenbarung, von der Bolzano dann durchaus vernunftgemäße Erklärungen liefert, ist freilich etwas, das über jede erwiesene Wahrheit hinausgeht – und das gerade dadurch wirkliche Bewegung ermöglicht. Bolzanos Klarstellungen verlaufen jenseits von Wertungen und stellen nicht etwa den geoffenbarten Glauben über den natürlichen oder umgekehrt: Er zeichnet hier zwei vollkommen verschiedene Haltungen und Ansprüche: ,Offenbarung‘ bedeutet für Bernard Bolzano eine für den vernünftigen Menschen unverzichtbare Gabe, will er sich nicht in den Kreis seiner eigenen Gedanken einschließen.

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Die katholische Religion mache sich, so Bolzano, dabei nicht etwa anheischig, „uns das Wesen Gottes, wie es an sich ist, aufzuschließen, […] sondern sie verspricht uns bloß, wie er von uns begriffen werden kann, […] zu schildern“ (RW 3, § 35: 104). Bolzano führt aus, dass jene natürliche Religion, mit der sich der aufgeklärteste Theil der Menschheit begnügen müßte – wenn es keine Offenbarung gäbe – niemals so vollkommen sey, dass sich nicht eine geoffenbarte Religion zur Beförderung seiner Tugend und Glückseligkeit ungleich wirksamer bezeigen könnte. (RW 1 [§ 97]: 268; 1818.25–28)

Eine geoffenbarte Religion ist dem Menschen in jedem Fall nützlicher als die natürliche Religion. Bolzano bringt also das Kriterium des praktischen Nutzens ein – seine Kritik klingt dabei ganz ähnlich wie einst die (oben engeführte) Beobachtung Maria Theresias über ,ihre‘ Gelehrten – und betont: Christen, die nur dasjenige vom Christenthume glauben, was auch die bloße sich selbst überlassene Vernunft als wahr einsehen kann, wie sind sie doch insgemein so kalte und trockene Menschen! wie hören wir sie wohl sehr viel reden von der Tugend, doch wie sehr fehlt es ihnen, sobald es zum Handeln kömmt, an dem benöthigten Muthe, an der gehörigen Kraft und Beharrlichkeit! (1818.27: 329 [Über den Zweck der Offenbarung])

Bolzanos Gebrauch des Begriffes ,Offenbarung‘ macht deutlich, dass diese selbst recht vernünftige Züge trägt: In der Rede Über die Erkennbarkeit wirklich geschehener Offenbarungen führt er aus, Offenbarung besage nichts anderes, als daß nämlich jeder Glaube, welchen ein Mensch mit aufrichtigem Herzen und nach vorsichtiger Prüfung als Offenbarung Gottes annimmt, dieses auch wirklich und in der That für ihn sei. (1813.28–29: 278)

Das ist wieder eine sehr ungewöhnliche, überraschend einfache und auch unpretentiöse Begriffsbestimmung. Bolzano räumt ein, dass solche Lehren in dieser Form weder in den (für ihn so wichtigen) Paulusbriefen, noch sonst wo in der Heiligen Schrift ausgesprochen sind. Das folge einer weisen Fügung, erklärt er weiter; denn diese Begriffe seien viel zu erklärungsbedürftig, um dem einfachen Manne, für den die Bibel ja geschrieben ist, ohne weiteres einleuchten zu können. Je einfacher das Gemüt, desto spektakulärere Anregungen braucht es. In früheren Zeiten hat man sich Offenbarungen mit Feuerstrahl und Blitzen bildlich ausgemalt, um sie irgendwie zu begreifen. Im Verlauf des Fortschreitens der Menschheit könnte sich aber herausstellen, so Bolzano, dass es andere, feinere, wirksamere Mittel des Begreifens von Offenbarungen gebe, und es könnte sich letztlich sogar zeigen; „das eigene Nachdenken der Menschen sey das vornehmste Mittel, dessen [Gott] sich zu seiner Offenbarung bedienet.“ (1812.33: 406)

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Er hält jetzt seine Schüler für reif genug, das in der Bibel zurecht nicht Ausgesprochene zu verstehen. Nichts von oben herab erwarten, vielmehr selber denken und auch nicht am Gewussten ängstlich kleben bleiben: das war die Empfehlung. Wenn Bolzano seinen Studenten empfahl, etwa in der für sie so wichtigen Frage der Berufsentscheidung der ,göttlichen Fürsehung‘ zu vertrauen, dann hieß das: glauben wir […] mit aller Zuversicht, daß Gott, wenn wir nur unsere eigene Vernunft gehörig anwenden, und was wir vermögen, thun, gewiß uns dahin leiten werde, wo es für unsere Ausbildung am allerzuträglichsten ist! (1817.11: 115)

Er meint also damit im Grunde ein gesundes, auf Erfahrungen und Erkenntnissen bauendes Selbstvertrauen: Seine ,göttliche Vorsehung‘ trägt sehr vernünftige, sehr menschliche Züge. In der überarbeiteten Form der Athanasia räumt er einmal – die Gründe der Offenbarung betreffend – bestimmte widersprüchlich erscheinende Umstände ein: Wir können es nemlich im Voraus zugestehen, dass es in jenem Inbegriffe der Lehren, aus welchen die christliche Offenbarung bestehet, mehrere gebe, die uns den Gegenstand, von welchem sie handeln, nicht so, wie er an sich ist, sondern nur so, wie seine Vorstellung uns Nutzen schafft, beschreiben; mit anderen Worten, wir können im Voraus einräumen, dass sich das Christenthum auch solcher Lehren bediene, die etwas Bildliches enthalten. (Ath2: 266)

Das über die formale Sprache Hinausgehende ist entscheidend für die Offenbarung, so Bolzano, denn schließlich gehört zu ihrem Wesen eben nicht, „dass sie für alle Menschen einleuchtend und erweisbar sein müsse.“ (1813.28: 285)

Wunder Als ,Wunder‘ versteht Bolzano schlicht „eine Begebenheit, aus der sich entnehmen lässt, dass Gott eine gewisse Lehre von uns als eine Offenbarung geglaubt wissen wolle.“ (RW 1 § 150: 378; RW 1 § 39: 104) Eine solche Begebenheit muss (1) mit der Lehre, zu deren Bestätigung sie dienen sollte, in Verbindung stehen, und (2) ungewöhnlich sein (RW 1, § 151: 580). Wunder sieht Bolzano als Begleiterscheinungen der Glaubenslehre, die der Entstehung und Ausbreitung einer sittlichen Lehre dienlich waren und sind. Mit Begriffen einer gerade zu diesem Zweck weiterentwickelten mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie (RW II [§§ 15–30]: 37–75) versucht er, den Grad der Glaubwürdigkeit von Wunderberichten zu bestimmen. Der Schluss von

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Bolzanos wahrscheinlichkeitstheoretischen Ausführungen über „die Natur der historischen Erkenntniß, besonders in Hinsicht auf Wunder“ sollte gar kein Beweis der Existenz oder Nichtexistenz von Wundern im empirischen Sinn sein; er läuft vielmehr auf einen vernünftigen Umgang mit Wundern, genauer mit Wundererzählungen, mit denen wir es in der Regel zu tun haben, hinaus. Mit seiner Wahrscheinlichkeitstheorie ließ sich die Glaubwürdigkeit von Wundern vernünftig bestimmen Und so ersehen wir denn, daß der Glaube an eine göttliche Offenbarung das Eigene hat, daß er, obschon auf historischen Sätzen von ungewisser Art beruhend, doch diese Ungewißheit nicht mit ihnen theilet, weil es sich hier durchwegs nicht darum handelt, wie die Sache an sich sey, sondern nur darum, wie sie uns erscheinet. Was sich uns nach gehöriger Prüfung als göttliche Offenbarung darstellt, ist es auch in der Wahrheit. (RW 2 [§ 30]: 75)

Das war völlig neu und revidierte These von David Hume (1711–1776), Wunderberichte müssten auf jeden Fall unglaubwürdig sein, da sie die Naturgesetze verletzten (Ganthaler 1990: 339ff.; Berg 1987; Dorn 1987; Löffler 1997). Auch die Jansenisten lehnten historische Wunderberichte rundweg ab. – Bolzano tat das nicht. Er wies aber auch den Versuch, Wunder durch Menschenkunst rational zu erklären, wie ihn protestantische Theologen unternahmen, zurück (PhTb 1: 86f.; Winter 1932: 79ff.). An Wundererzählungen fand er in der Regel nichts, was mit vernünftigem Denken oder Naturgesetzen in Widerspruch stehe; ebenso wie an der göttlichen Offenbarung, die dadurch bezeugt werden sollte (PhTb 1, 87): Wenn Jesus zum Beispiel Menschen durch Handauflegen geheilt hatte, so hielt es Bolzano nicht für ausgeschlossen, dass Menschen späterer Zeit durch Fortschritte in den Naturwissenschaften in ihrer Heilkunst einmal so weit kommen können, dass sie nicht durch umständliche Medikationen und invasive Methoden, sondern durch bloße Konzentration von Energien ein vergleichbares ,Wunder‘ an kranken Menschen bewirken können (1817.10: 108). Als das „sicherste und unläugbarste Wunder“ bezeichnete Bolzano den Umstand, dass es Jesus mit seiner Schar einfacher und weitgehend ungebildeter Fischer gelungen sei, die ganze Menschheit betreffende, entscheidende Veränderungen in den Lebensformen hervorzurufen, und zwar weltweit. Und dies zudem mit einer Lehre, die Liebe und Verzeihung verlangte und somit in deutlichem Widerspruch zu stärksten menschlichen Instinkten wie Egoismus und Raffgier stand! Tatsächlich erschien es nicht sehr vernünftig, von den Menschen, die bisher gewohnt waren, das Hohe, Vollkommene und Mächtige anzubeten, jetzt zu verlangen, dass sie einen zutiefst Erniedrigten, Verletzbaren und Ohnmächtigen verehrten, – und gerade dies ist geschehen. Wer dieses höchst unwahrscheinliche und zugleich offensichtlich stattgehabte und

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wirksame ,Wunder‘ nicht erkenne, dem sei nicht zu helfen, meinte er (1813.29, 292, gehalten zu Ostern 1813, im Gedanken an die Auferstehung Jesu, dem Wunder oder der Veränderung, revolutio, schlechthin).

(Religiöse) Wahrheit(en) Bolzano geht davon aus, dass die Religion (1) einen wahrheitsfähigen Kern haben muss. Er sieht (2) religiöse Sätze als Glaubensbasis und (3) die Sprache selbst als Trägerin des sensus communis und damit des Wahrheitsschatzes einer Kulturgemeinschaft / der Menschheit. Den (1) wahrheitsfähigen, kognitiven Kern der katholischen Religion im herkömmlichen Verständnis (Löffler 1999a: 326) legt Bolzano (a) Sinn korrespondenztheoretisch an, im Sinne der adaequatio et intellectus ad rem nach Thomas von Aquin; dann (b) auch kohärenztheoretisch, also in dem Sinn, dass alle Sätze in einen Inbegriff von Sätzen eingefügt werden können und insgesamt ein harmonisches Ganzes bilden; und schließlich (c) pragmatistisch, also mit Blick auf die Nützlichkeit des Glaubens und um dessen konkrete Bewährung auf lange Sicht. – Das entscheidende Gewicht in Bolzanos Wahrheitsauffassung liegt eindeutig auf dem pragmatischen Zugang (c). Es genügt ein Blick auf die grundsätzliche Wahrheit-an-sich des Obersten Sittengesetzes, um zu sehen: Konkrete Nützlichkeit bestimmt den Wahrheitsgehalt der Proposition. Das gilt bei Bolzano für alle, und selbst noch für mathematischen Wahrheiten (Zellini 2010: 161f.). Die kohärenztheortische Auffassung (b) ist insofern bedeutsam, als der theoretische und besonders der praktische Teil seiner Religionslehre darauf abzielt, ein System von Begriffen zu erstellen. Das geschieht jetzt praktisch in der Auseinandersetzung mit den Sprechern: seinen Schülern und Freunden. Die korrespondenztheoretische Auffassung (a) zählt schließlich, weil diese dem normalen Sprachgebrauch der Alltagssprache entspricht und entsprechen muss. – Bolzano vereint alle drei klassischen Wahrheitsauffassungen zu einer starken wissenschaftlichen Basis. Der wesentlich pragmatische Aspekt seiner objektiven Wahrheitsauffassung hält sie fern von jeder abgehobenen „Tyrannei der Wahrheit“ im Feyerabendschen Sinn. Zudem enthält diese Auffassung eine Absage an jede Art von Exklusivitätsanspruch einzelner Religionen und Bekenntnisse (Graf 2011: 36f.). Als (2) Wahrheitsbasis der Religion versteht Bolzano den Inbegriff der „religiösen Sätze“. Diese Auffassung hat den Vorteil, dass Anschauungen als Sätze einer eindeutigen Begriffsanalyse zugänglich gemacht und systematisiert

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werden können. Somit wird es auch möglich, jeden, auch noch so raffiniert verhüllten Schlupfwinkel für Irrtum und Aberglauben – und damit zugleich den Boden sozialer Ungerechtigkeiten – auszuleuchten. Ihre Summe, also die Glaubensbasis eines Menschen ist der Inbegriff seiner Meinungen und Vorstellungen, die einen entweder wohlthätigen oder nachtheiligen Einfluss auf seine Tugend oder auf seine Glückseligkeit äußern, und zugleich so beschaffen sind, daß eine eigene Versuchung da war, sich ohne gehörigen Grund entweder für oder wider sie zu entscheiden. (RW 1 [§ 20]: 60f.)

Diese Definition ist so allgemein, dass es gar keinen vernünftigen Menschen geben kann, der keine Religion hat. Selbst der bekennende Atheist hat so gesehen einen Glauben, im Verständnis von natürlicher Religion. Es gibt demgemäß keine Areligiosität, sondern nur verschiedene Grade der Bewusstheit hinsichtlich der eigenen Religion. Von der Gesamtmenge menschlichen Wissens ist das religiöse Wissen so zu trennen wie eine Teilmenge von der Grundmenge. Religiöse Sätze sind jene Teilmenge, in der Aussagen über Sitte und Moral getroffen werden. Wertung ist hier nicht im Spiel: Weder kann die Teilmenge des religiösen Wissens höher- noch geringerwertig sein als die Teilmenge des rationalen Wissens in der Gesamtmenge des Wissens, wohl aber gleichwertig. Zwischen religiösen und anderen Wahrheiten kann kein Widerspruch auftreten, weil beide vernunftgemäß sind, perfektibel, korrigierbar, falsifizierbar. Religiöse Sätze enthalten religiöse Begriffe. Bolzano definiert, differenziert und entwickelt diese unentwegt weiter: So unterscheidet er etwa zwischen Gottes ,Willen‘ und Gottes ,Absicht‘. So etwa in der Rede Von der Kunst, Gott überall zu finden (1813.17). Während Gottes Wille in all seinen Werken, also in der ganzen Vielfalt der Schöpfung, zu erkennen ist, bleibt seine Absicht meist unerkannt. Gott zu erkennen kann nicht bedeuten, ihn selbst zu erkennen, sondern seine Werke: die Schöpfung und den Menschen als Geschöpf – und darin seine Absichten. Dazu gibt er folgende praktische Anleitungen: (a) Bemerken wir an einem gewissen Ereignis wohltätige Folgen, so dürfen wir davon ausgehen, eben diese Folgen haben Gottes Absicht, dieses Ereignis anzuordnen, mit bewirkt. (b) Dies besonders dann, wenn das Ereignis durch Zusammenwirken sehr vieler, vielleicht gar disparater Umstände bewirkt worden ist. (c) Wir dürfen daraus auch schließen, dass jede Gelegenheit zum Guten, die sich uns darbietet, von Gott auch deshalb herbeigeführt worden sei, damit wir das Gute auch zur Ausführung bringen. (d) Daraus erwächst für uns die Verpflichtung, „vortreffliche Gelegenheiten, etwas Gutes und Gemeinnütziges zu üben“, auch wirklich wahrzunehmen.

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Den ,Heiligen Geist‘ versteht Bolzano als Bild für etwas, das auf unsere Heiligung einwirkt, und zwar auf natürlichem wie auch auf übernatürlichem bzw. unbewusstem, unerkanntem Weg. Er spricht davon aber auch in herkömmlichen Metaphern, wenn er sagt, dass dieser Geist „einen Wohnsitz in unseren Herzen“ aufschlage (1810.41: 448 usw.) Die Vorstellung, dass man seinen eigenen geistigen Fortschritt stets dem Heiligen Geist und nicht der eigenen Natur zu verdanken habe, dass jede Erkenntnis immer auch eine Gnade sei, sieht er als probates Hausmittel gegen intellektuellen Hochmut (dazu zitiert er 1 Kor 15,10 „Doch durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin…“). Den Begriff von der ,Erbsünde‘, eine schon bei den Orphikern verbreitete Vorstellung, die jetzt von den rationalistischen Aufklärern vehement abgelehnt wird, macht er verständlich, indem er auch ihn als Bild auffasst: Die Vorstellung der ‚Erbsünde‘ als gedankliche Herausforderung zum Kampf gegen das Böse in uns. Den Begriff von einer im Jenseits ,ausgleichenden Gerechtigkeit‘ versteht er als deutlichen Hinweis auf die Sinnlosigkeit ungerechten Handelns sub specie aeternitatis; die Vorstellung ,Gottes Richterstuhl‘ versteht er als Instanz ausgleichender Gerechtigkeit, die jene zur Rechenschaft zieht, die gegen die Regeln zivilisierten Zusammenseins verstoßen, – auch wenn sie sich den weltlichen Gesetzen nach korrekt verhalten (1813.21). Selbst die herkömmliche anthropomorphisierende Vorstellung vom ,Gottvater‘ lässt Bolzano gelten, sofern ihre Ansprüche nicht mit jenen eines irdischen Patriarchismus verknüpft werden. Seinen Studenten erklärt Bolzano am Fest des Heiligen Geistes im Jahr 1810 einmal: „Von Gott und den göttlichen Verhältnissen, meine Freunde, kann sich der Mensch beinahe keine anderen als bildliche Begriffe machen.“ (1810.41: 445). Jenseits der Leidenschaften angesiedelt, distanziert und vernunftgemäß, (Elias 1989: 101) also ,wissenschaftlich‘, ist auch Bolzanos Auffassung der biblischen Schöpfungsgeschichte und des Großteils biblischer Aussagen angelegt, in Glauben und Wissen – und schon allein deshalb nicht geeignet, mit wissenschaftlichen Theorien in Widerspruch zu treten. Das gilt, angefangen bei der Schöpfungsgeschichte von Adam und Eva, – als mythisches Sinnbild für die brüder-/schwesterliche ,Verwandtschaft aller Menschen‘ verstanden –, bis zur Wahrheit von der wesentlichen Gleichheit aller Menschen, für die Bolzano biologisch argumentiert. Er vertritt dabei eine andere Meinung als noch David Hume, der echte Zivilisation nur der weißen Rasse zugetraut hat. Selbst wenn sich die mythische Erzählung von Adam und Eva und die These der wesentlichen Gleichheit aller Menschen einst als Irrtum herausstellen sollte, so würde das nichts ändern, so Bolzano;

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[g]esetzt also, wir könnten auch nicht mit augenscheinlichen Beweisen darthun, daß alle Menschen, die auf Gottes Erde leben, von Einem und demselben Elternpaare stammen; gesetzt, es fänden sich besondere Schwierigkeiten bei der Voraussetzung dieser Meinung, die so frühzeitige Bevölkerung entfernter Welttheile zu erklären; gesetzt, es würde dereinst sogar das Gegentheil erwiesen: könnte uns dieß hindern zu behaupten, daß alle Menschen dennoch nur Wesen von Einer und derselben Gattung sind? (1810.33: 373)

(3) Wahrheitskriterium der allgemeinen katholischen Kirche ist die Sprache insgesamt, und damit der in ihr bewahrte Gemeinsinn, consensus omnium, so Bolzano. Er geht dabei von der über jedes rationale Konzept hinausreichenden bildlichen Natur der sprachlichen Begriffe aus: Er gebraucht den Gottesbegriff unter der provokanten Voraussetzung, dass dieser nicht vollständig definiert und nie vollständig definierbar ist. Wenn er einen Gottesbeweis führt, dann um aufzuzeigen, dass Konsistenz im Umgang mit der Vorstellung und ihrem Begriff möglich ist (Ganthaler/Simons 1987; Löffler 2002a; 1999). Gottesbeweise sind so gesehen lehrreiche Exerzitien und Vergewisserungen, wie das Gelehrte von Anselm von Canterbury (1033–1109) bis Kurt Gödel (1906–1978) auch gehandhabt haben. Der Versuch, gleichsam den Logos zu beweisen, zielt offensichtlich nicht auf einen ontologischen Beweis ab. Durch seinen teils mathematischen, teils metaphorischen Umgang mit dem Begriff ,Gott‘ nimmt ihm Bolzano jedenfalls seine gerade zu dieser Zeit oft aufgebürdete, letztlich unerträgliche Beweislast ab (Löffler 1999: 299); zumal das Glaubensverständnis seiner Zeitgenossen zur fides historica neigte, zum krampfhaften Festhalten an ,historischen Tatsachen‘. In einem ,historisch belegbaren‘ Jesus versuchte man an die Wahrheit über ihn zu kommen. Dies artete im 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer Flut von Lebensbeschreibungen und zumeist in ein im Grunde ungläubiges, historisches Für-wahr-Halten aus (Thielicke 1965: 82). Ein ,Dasein Gottes‘ braucht nicht bewiesen zu werden – vielmehr noch: Es soll gar nicht bewiesen werden und darf nicht beweisbar sein. Eine solche Überzeugungskraft wäre aus Bolzanos Sicht höchst unwillkommen, denn sie würde die Göttliche Offenbarung überflüssig; und vor allem, sie würde die Freiheit des Menschen hinfällig machen (1811.30–31 Von welcher Beschaffenheit die Beweise einer wahren Offenbarung in Rücksicht auf ihre Überzeugungskraft sein müssen). Zum Glauben kann der Mensch auch durch die besten Argumente nicht gezwungen werden, so Bolzano: Er muss ihn annehmen, wie ein Geschenk. Kern des Glaubens ist bei Bolzano, wie schon bei Vinzenz von Lérins (†~434–450), der sensus communis; also dasjenige, „was zu allen Zeiten, an allen Orten und von Allen geglaubt worden ist.“ (RW 3 [§ 4]: 16–18; vielfach in ER und RW angeführt) Im berühmten Commonitorium pro catholicae fidei antiquitate des

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Vinzenz heißt es unter Punkt II,5 (Vinzenz 1985: 149; zur Textgestalt Bardenhewer 1962: 579ff.): „In ipsa item catholica ecclesia magnopera curandum est, ut id teneamus quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est.“ Der consensus omnium ist als Wahrheitskriterium, schon von Aristoteles und den Stoikern, und besonders in frühchristlicher Zeit, bei Klemens (50–97~), Irenäus (~135-202, Hippolyt (~170–235) gesehen worden: „Schon bei den Apostolischen Vätern, so im 1. Klemensbrief, also am Ende der Regierungszeit Domitians (95/96 n.Chr.), dokumentiert die allgemeine Übereinstimmung bei Gemeindebeschlüssen die Wirkung des einen Heiligen Geistes“ (Oehler 1961: 117). Hier in der Frühzeit zeigt sich der christliche Einheitsgedanke schon eindrucksvoll. Der Hl. Vinzenz gilt als der Verfasser zweier Abhandlungen zur Verteidigung des Alters und der Universalität des katholischen Glaubens. Seine Klärungen waren gegen die profanen Neuerungen der Häretiker; der Arianer, Donatisten, Pelagianer und anderer gerichtet. Sein Commonitorium legt die Grundlagen katholisch-theologischer Methodik von Orthodoxie und Traditionsverständnis. Die Kriterien sind universitas, antiquitas, consensus. Sie gelten konsekutiv: Bei Mangel an Universalität entscheidet das Alter. Zeugen sind die „magistri probabiles“, die in der Gemeinschaft der einen Kirche und des einen Glaubens verharrten, und was nicht nur einer oder zwei, sondern alle gleichermaßen in ein und derselben Übereinstimmung gelehrt haben, das ist ohne Zweifel zu glauben. (H.R.Drobner, LThK 2001: 798)

Wie im Wissen, so unterscheidet Bernard Bolzano auch im Glauben immer deutlich zwischen Wahrheiten-an-sich und den Vorstellungen, die sich jemand davon macht. Die Summe dieser Vorstellungen, und mithin religiöse Wahrheit einer Kulturgemeionschaft, sieht er im consensus vernünftiger Menschen, den jeder Einzelne im gesunden Hausverstand mit sich trägt. Bolzanos Vertrauen in Gott liegt so gesehen letztlich in der Annahme, dass Gott den consensus omnium „immer so leiten werde, daß das, was alle glauben und behaupten, auch sichere Wahrheit sey.“ (1812.33: 407; RW 3, § 9.) Das, was alle christlich Gläubigen jederzeit fraglos anerkennen können, sieht Bolzano, wie schon Vinzenz von Lérins, als die von jeder Mode unabhängige, unveränderliche, objektive Glaubensgrundlage an.

‚Perfektibilität‘ des Christentums Unerlässlich für die Vollkommenheit einer Religion ist für Bolzano nicht nur ihre aktuale Vollkommenheit, sondern zu dieser Wirklichkeitsbedingung hat

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noch eine Möglichkeitsbedingung zu kommen, denn in seinem Religionsverständnis ist die Dynamik des Fortschreitens von einer aktual vollkommenen in Richtung der absolut vollkommenen Religion vorgesehen. Die vollkommene Religion an sich wäre nach Bolzano der allen verschiedenen Zeiten und Räumen vollkommen entsprechende Grundkonsens aller mündigen Geschöpfe: die Weltreligion. Das maßgebliche Kriterium der Veränderbarkeit eines Glaubens setzt, theologisch gesehen, einen gleichbleibenden und einen veränderbaren Teil der Lehre voraus. Darüber, wie sich dies im Christentum verhalte, hat Bernard Bolzano mit seinem Freund, dem Theologen Johann Stoppani (1778–1836) vom Prämonstratenserkloster Stahov, gerungen und darüber einen ausführlichen Briefwechsel geführt: Uiber die Perfectibilität des Katholicismus (Bolzano 1845; vgl. dazu auch das entsprechende [getilgte] Kapitel in Eduard Winters Josephinismus-Studie: Němec 2016: 125–135). Stoppani vertrat die Meinung der Amtskirche, ein „perfektibler“ Katholizismus sei in Wahrheit gar keiner: Dieser Erklärung der heiligen Synode [Konzil von Trient 1545–63] zu Folge gibt es keinen Katholicismus „unserer oder irgend einer Zeit“; dieser schreibt seinen Ursprung von Christo und den Aposteln her, und die Kirche hat nur das Geschäft, dafür zu sorgen, daß er bis an das Ende der Welt rein und unversehrt erhalten werde. (Bolzano 1845: 152)

Wollte Bolzano die überlieferte Lehre aber verbessern, so sollte er doch gleich Protestant werden, schrieb Stoppani seinem Freund, der einen reformkatholischen Weg, wie ihn Bolzano vorschlug, ablehnte (Winter 1969: 138f.). Aus Bolzanos Sicht aber musste sich die Kirche selbst wandeln, wollte sie lebendig bleiben in einer sich verändernden Welt; und er fand, es war höchste Zeit dafür. Die perfectibilité, ein Gedanke, den auch die Aufklärung aufnahm, stand für Bolzano in religiösen Angelegenheiten außer Frage. Zu fragen war nur, wo die Grenze zu ziehen war zwischen dem, was unverändert bleiben musste und dem, was zu verbessern war. Seinen Schülern stellte er diese Grenze einmal so dar: So wenig die Kirche zugeben kann, meine Freunde, daß unsere heilige Religion eine Veränderung im Laufe der Zeiten erfahre, daß wir jetzt etwas Anderes, als die Apostel gelehrt, etwas dem Widersprechendes glaubten: so gerne gesteht sie es doch dem Gebildeten ein, daß in der Art, wie Gottes Offenbarung vor unserm menschlichen Verstande aufgefaßt wird, ein gewisses Fortschreiten zu immer größerer Vollkommenheit nicht nur Statt finden könne, sondern auch in der Wirklichkeit Statt finde. Wie unsere Einsichten sich in Betreff aller irdischen Dinge nach und nach erweitern; wie uns dieß fähig macht, mit den Lehren der Religion von Zeit zu Zeit einen vollständigeren Begriff zu verbinden, und bey denselben Worten, deren sich schon unsere Vorfahren in dem Bekenntnisse ihres Glaubens bedient, noch etwas Mehreres u. Bestimmteres zu denken, als vielleicht sie dabey gedacht hatten: so weiß es auch, sagt die katholische Kirche, jener Geist Gottes, der ihre Lehrer

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erleuchtet, durch seinen Beystand zu bewirken, daß wir zu diesen vollständigen Einsichten in der That gelangen. (1817.32: 296)

Bolzano empfand die kurialen Weisungen des Tridentinums nicht als so bindend wie sein Freund Stoppani. Je später die Dogmen als solche festgesetzt wurden, desto geringer war seine Zustimmung. Die Sonderrolle des Papstes auf dem Stuhl Petri etwa war für ihn, so wie etwa auch der Zölibat, weglassbar, ein Dazugekommenes und kein grundlegender Bestandteil der katholischen Lehre. Verständlich, dass dies der christlich-katholischen Amtskirche suspekt war. Für Bolzano aber zählen auch die Kriterien der Perfektibilität und der Universalität zum Kern des Glaubens, weil sie die Möglichkeit seiner Bewegung und Weiterentwicklung schaffen. So wie die Perfektibilität die Veränderbarkeit des Glaubens garantiert, bewahrt die Universalität den gleichbleibenden Teil der Lehre, ihre Unveränderbarkeit; jenen Teil davon, der immer und überall von allen geglaubt wird.

Weltreligion Wenn es nach Bolzano nur einen Glauben geben kann, eine Art gemeinsam erarbeiteter Regeln zivilisierten Zusammenseins, und wenn der Zugang zur Kirche allen offen war, dann musste die vollkommene Religion die Möglichkeit der Universalisierung in sich tragen. Bolzano deutete die Heilige Schrift so, dass die These von der Ausbreitung der christlichen Religion mit jener vom stetigen Fortschreiten des Menschengeschlechtes in Weisheit, Tugend und Glückseligkeit, und schließlich mit seiner Erlösung, zusammenfiel (bes. nach Joh 10,16, Röm 11,25–12.2). Das entspricht dem christlichen Heilsplan. In der Redeserie Wie das katholische Christentum eine Religion für alle Zeiten sein kann am Pfingstfest, dem ,Geburtstag der christlichen Kirche‘, im Jahr 1812, klärte er seine Vorstellungen: (1812.32–33). Die vollkommene Religion muss eine sein, die der Entwicklung des Menschen in den verschiedenen Zeitaltern und -räumen Rechnung trug und sich „für alle Menschen und alle Zeiten“ schickt. Ihre Lehrbegriffe dürfen also nichts enthalten, was irgendjemandem vollkommen überflüssig oder auch schädlich sein könnte. Sie dürfe andererseits nichts von dem auslassen, was Einzelnen nützlich sein könnte (1812.33: 399f.). Bolzano führt seinen Hörern vier Punkte aus, die der gegebenen christlichen Religion ihre Möglichkeit der Weiterentwicklung zur Weltreligion erhalten sollen:

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1. Entscheidend ist zunächst, dass der katholische Lehrbegriff nicht zu hoch ansetzt, sondern jeden Menschen anspricht. Das tut er, so Bolzano, indem er „durchgängig nur auf solche Triebe und Bedürfnisse gegründet ist, deren sich der Mensch, solange er Mensch bleibt, nicht zu entäußern vermag“ (1812.32: 387). Zum Beispiel: (a) Allen Menschen ist eine gewisse Empfänglichkeit für Lust und Schmerz eigen. Nachdem es eindeutig zu viel verlangt ist, dass der Mensch das Gute nur deshalb tue, weil es gut ist, bedient sich das Christentum bestimmter Hilfsmittel, um zu dieser Liebe zum Guten zu erziehen; etwa der Vorstellung von einem „gerechten Gott“, der Gutes belohnt und Böses bestraft. (b) Nachdem der Mensch vernunftbegabt ist und somit den Blick in die Zukunft richten kann, empfiehlt sich auch der beruhigende Gedanke, dass der Tod nur einen Übergang bedeute, aus einem unvollkommenen Leben in Richtung auf ein vollkommenes. (c) Der Gedanke, dass wir das Ebenbild Gottes als Zielvorstellung in uns tragen, ist eine Vorstellung von solcher Erhabenheit, dass sie den Menschen unmöglich ungerührt und unbewegt lassen könne. (d) Andererseits schade es dem Menschen nicht, zu wissen, dass alles Leiden, das ihn drückt, nur auf eigene Torheiten und Laster, letztlich auf seine „unnatürliche Lebensweise“ zurückzuführen sei. (e) Dazu komme der tröstliche Gedanke der Vergebung unserer Sünden im Bußsakrament, welches ausschließlich der Besserung des Menschen diene. Zudem (f) ist das Beispiel Jesu, dessen Leiden auch den Gefühlskältesten rühren und zur Besserung aufmuntern, jedem zugänglich … „und eine Zeit, in der man Jesum geringschätzt, ist keine Zeit der Aufklärung, sondern der traurigsten Verfinsterung zu nennen“! (1812.32: 391) Schließlich (g) sei auch der Gedanke, Fürbitten (auch für Verstorbene und derer für uns) seien wirksame Mittel, welche die Menschheit zu einer höheren sittlichen Stufe führen können, Zeichen einer wahren, echten Aufklärung (1812.32: 393). 2. Die meisten christlichen Lehren von Gott und göttlichen Verhältnissen lassen keine gültigen Vorstellungen davon zu und dennoch sind sie uns vertraut, nämlich als Bilder. Sie „sind einer bildlichen Natur, und jeder Anhänger des Christenthums versteht und deutet sich diese Bilder nach seiner Fassungskraft“ (1812.32: 393). Auch wenn unser Wissen nur Stückwerk ist: wir können auf diese bildliche Weise damit umgehen und jeder begreift eben „gerade so viel, als für ihn nöthig ist“. So weit unser Bild vom bezeichneten Gegenstand und von der aktuellen Wirklichkeit immer entfernt sein mag: es kann dem Menschen nützlich sein. Selbst Irrtümer, ja Verwechslungen von Bild und Bezeichnetem, die das Bild oft für die Sache nehmen, können zu den „wohltätigen Irrtümern“ gehören, und Bolzano schließt auch nicht

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aus, dass „in diesem Gewand des Irrthums die Wahrheit selbst nur desto kräftiger“ auf den Glaubenden wirken könne. Das Christentum sagt uns keineswegs: „so ist die Sache an sich“; es biete nur hilfreiche Bilder an, und zwar solche, die den Weg offenhalten, auf welchem dem Gemeinwohl und damit der Glückseligkeit Aller auf Erden näherzukommen sei. 3. Die Glaubenslehren müssen dabei nicht nur viele Auslegungsarten zulassen, sondern „auch eine große Mannigfaltigkeit in den Begriffen und Meinungen selbst bey ihren Anhängern nicht nur gestatten, sondern sogar begünstigen und unterstützen“. Als ausdrückliche Glaubenslehren kann die Kirche freilich nur solche zulassen, die ausnahmslos ersprießlich sind; die anderen spiegeln eine gewisse (gottgewollte) Vielfalt und müssen in ihrer Mitte geduldet werden. Als Beispiele für solche geduldete und später als Irrtümer erkannte und ausgeschiedene Lehren führt er an: (a) den Glauben der frühen Christen, dass das Weltgericht nicht mehr fern sei; (b) den Glauben, dass jene Menschen, die nicht getauft seien, wie Sokrates, nicht selig werden könnten, und auch (c) verschiedene, oft drastische Vorstellungen der Leiden des Fegefeuers und der Hölle. Der gesunde Menschenverstand, aus dem das Wort Gottes spricht, habe diese Anschauungen längst als Irrtümer erwiesen, so Bolzano. Auch wenn sie für den aufgeklärten Menschen überflüssig sind, so haben sie doch für Menschen früherer Zeiten manche lehrreiche Wirkung ausgeübt; weshalb sie letztlich von der Kirche auch geduldet wurden. 4. Damit das Christentum einst für alle Zeiten und alle Menschen gelten könne, sei es notwendig, dass „es mit seinem Unterrichte nie auf einem gewissen Punkte stehen bleibe, sondern dieses vielmehr in eben dem Maaße wie die Empfänglichkeit der Menschen wächst, auch seinen Unterricht immer mehr ausbilde und mit neuen Zusätzen bereichere“ (1812.33: 403). In diesem Zusammenhang betont Bolzano das auffallende Missverhältnis in der aktuellen Kulturentwicklung: Während die Begriffe in Kunst und Wissenschaften gerade jetzt deutlich weiterentwickelt würden und niemand auf die Idee komme, dass hier ein Ende erreicht sei, werde die Weiterentwicklung in den religiösen Begriffen meist geleugnet oder gar hintertrieben. – „Soll alles fortschreiten beym Menschen, und nur sein Glaube, seine Kenntnisse von Gott und göttlichen Verhältnissen, das Wichtigste, das er besitzt, soll ewig stillstehen?“ – Eine Religion, die „mit dem menschlichen Geschlechte nicht gleichen Schrittes fortrückt“, könne unmöglich die vollkommenste heißen. Bolzano liest die biblische Ankündigung vom Fortdauern der christlichen Religion bis zum Ende der Zeiten als Bekenntnis zur fortdauernden Weiterentwicklung. Gerade das gesteht er den protestantischen Kirchen

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– „diese[n] abtrünnigen Töchter[n] unserer Mutterkirche, [ihnen], die nichts als ein zu weit getriebener Abscheu und Widerwille vor jenen Mißbräuchen, die der Geist Gottes nicht ohne Absicht in der Kirche herrschend werden ließ, von uns getrennt und losgerissen hat“ – nicht zu. Ein wesentlicher Vorwurf, den Bolzano dem Protestantismus macht, liegt also darin, dass man in seinem Sinn „nichts anderes glaube und thue, als was zu Zeiten der Apostel geglaubt und gethan ward“ und somit einen wirklichen Fortschritt in Glaubenssachen wirksam unterbinde – welch eine „sonderbare Verirrung!“ (1819.4, 54). Das protestantische Formalprinzip, die Anerkennung der Heiligen Schrift als objektive Norm, wies er zurück: „Ein todtes Buch […] das vor mehr als drey Jahrtausenden zu ganz verschiedenen Zwecken geschrieben worden ist, dieß todte Buch soll ewig ihr einziger Glaubenslehrer seyn!“ (406) Eine derartige Voraussetzung erscheint ihm für einen christlichen Glauben gänzlich unangemessen und er schließt: „Was bleibt [den Protestanten] denn also anders übrig, was bietet sich ihnen natürlicher dar, als die Behauptung, daß das ganze Christenthum nichts als eine Vernunftreligion sey und seyn könne“. Aber eine Vernunftreligion kann aus der Sicht Bolzanos niemals ausreichend sein. – „Allein nicht todte Buchstaben, auch keine Stimme vom Himmel herab, nein, das eigene Nachdenken der Menschen sey das vornehmste Mittel, dessen [Gott] sich zu seiner Offenbarung bedienet“. – Das klingt nun wieder ganz nach Vernunftreligion; jedoch – „[Gott] verpflichtet die Menschen, daß sie in Fragen und Zweifeln, welche die Religion, welche die Tugend und Glückseligkeit betreffen, nicht jeder Einzelne nur seinem eigenen Urtheile traue, sondern die Meinung anderer erforschen mögte. Er will, daß wir Vergleichungen anstellen, Zusammenkünfte halten, alles, was immer in unseren Kräften steht, um die Wahrheit herauszubringen, verwenden sollen; und er verspricht uns dagegen, daß er die Meinung des Ganzen immer so leiten werde, daß das, was alle glauben und behaupten, auch sichere Wahrheit sey, und wie sein eigener Ausspruch könne angesehen werden“ (1812.33: 406f.). – Auch wenn der Unterschied nicht augenscheinlich ist, – es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht: Der Weg zur Wahrheit liegt für den mitteleuropäischen Gelehrten im Wort Gottes und in der logischwissenschaftlichen Beschreibung der Welt. Letztlich nimmt Bolzano nur die Möglichkeit der Sprache als Geschenk Gottes an, der Rest ist dem Menschen anvertraut, so er. Mit diesem doch weitgehend konsistenten Angebot von Glaubensannahmen will Bolzano jetzt, wie einst Jesus, einen ‚moralischen Fortschritt‘ neuer Qualität bewirken. Er will aus der langen Folge der Religionskriege, Kreuzzüge,

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Conquistas, Missionierungen in Gottes Namen, der Eroberungen und Kolonialisierungen im Dienst der Machtausbreitung des christlichen Abendlandes, wie sie gerade in dieser Zeit mit Gewalt ohne Grenzen vorangetrieben wird, ausbrechen und einen anderen Weg beschreiten: Jenen Weg, auf dem Jesus selbst vorangegangen ist; den ursprünglichen, friedlichen Weg der Ausbreitung von Wahrheit in der Welt. Bolzano geht gleichsam den Weg zwischen der Überheblichkeit gegenüber Glauben und Gläubigen der herrschenden Aufklärungsfanatiker einerseits – und Verachtung des Weltlichen gegenüber dem Außerweltlich-Himmlischen der religiösen Eiferer und des pragmatischen Klerus andererseits; eine Tendenz, welche das Chistentum oft gefördert und damit das herrschende gestörte Verhältnis von Natur und Mensch mitverursacht hat (Speyer 1989): Das Christentum hat das ursprüngliche mythisch-magische Weltbild, das bei den Griechen und Juden aufgebrochen ist, mit zerstört. Waren es bei den Griechen die Dichter-Philosophen, so waren es bei den Juden Abraham und seine Nachfolger, welche die Welt erklärten. Das Ergebnis war, ein jeweils anderes bei den Griechen und bei den Juden. Jedenfalls hat das Christentum durch Jesu Stellvertreteropfer dem blutigen und unblutigen Opfern ein gewisses Ende bereitet. – Bolzanos Glaubensauffassung nimmt gleichsam beides mit: Sie verwirft die göttliche Welterklärung nicht, setzt aber mit Jesus Christus im Neuen Bund eine vollständige Wende dieser christlichen Auffassung voraus und verfolgt zugleich den Weg der Dichter-Philosophen weiter. Er nimmt gleichsam das göttliche Geschenk der Vernunft aus der ,Hand Gottes‘ an, – mit allen Gefahren, die eine Übernahme von Verantwortung eben mit sich bringt, und mit allen Opfern, die dafür gebracht werden müssen.

Scheinwidersprüche Vieles erscheint uns heute ungereimt in Bolzanos Religionslehre: So seine Unterscheidung zwischen dem Glauben an sich und dem tatsächlich gelebten Glauben eines Menschen (RW 1 § 20: 61): 1. Zum ,objektiven Glauben‘, also zur Religion an sich, gelangt Bolzano durch die Annahme, dass der Inbegriff der religiösen Sätze, „ohne jedoch vorauszusetzen, daß sie wirklich von irgend Jemand geglaubt und angenommen werden“, die Religion der Menschen ausmache. Dieser objektive Glaube ist vor allem zur Klärung in seinem Unterricht von Bedeutung.

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2. Den ,subjektiven Glauben‘, als innere, seelische Bewegung, sieht er als eine Art black box, wie man das im Sinn heutiger Systemtheorie verstehen könnte: Sein Inhalt steht nicht zur Debatte und kann auch gar nicht zur Debatte stehen. Das ist vergleichbar dem Umstand, dass in der angewandten Mathematik nicht ,innere Vorgänge‘ zählen, sondern der Gebrauch, das Befolgen der Regel. (Das meinte Bolzano mit seinem probatum est beim Studium mathematischer Regeln s.o.; vgl. Wittgenstein 1995: §§ 138–242; Wittgenstein 1982: 38). Das, was beim subjektiven Glauben zur Debatte steht, ist vielmehr der ,wirkliche‘, gelebte Glaube: Das, was sich in den tatsächlichen Handlungen eines Menschen ,zeigt‘, also das konkret Objektivierbare: die Taten. – Ein Anschein von Paradoxie entsteht dadurch, dass der subjektive Glaube immer auch eine intersubjektive Angelegenheit sein muss; nämlich eine, die das Gemeinwohl und damit die Menschheit als Ganzes angeht. Dazu RW 1 § 20, 61; uns zur Verständniserleichterung: „In beiden Fällen aber nehmen wir dieses Wort in einer Bedeutung, die weiter, als die gewöhnliche ist.“ Bolzanos Begriff von Glauben ist zugleich abstrakter und konkreter als der landläufige. Seine objektive Lehre von Gott ist abstrakter als die übliche, weil sie von den logischen Denkmöglichkeiten des Glaubens handelt. Seine subjektive Lehre von Gott ist konkreter als die gewöhnliche, weil sie vom wirklichen (wirksamen, wirkenden,) Verhalten des Gläubigen ausgeht und nur im Leben dessen überprüfbar und ablesbar ist. Unter ,Religion‘ versteht er nicht mehr „eine bloße Lehre von Gott“, sondern alles das, was „einen Einfluß auf seine Tugend und Glückseligkeit“ hat (RW 1 [§ 2]: 4). Ein Glaube ohne Wirklichkeit (im Sinn von Wirksamkeit) wäre nach Bolzano nur scheinbar einer: „Der Glaube ohne die Werke ist tot“ (1808.45; Jak 2, 14–26). Ein Glaube ohne Gesinnungskomponente und ohne eine ihm gemäße Lebensform wäre gar kein Glaube, so Bolzano. Seine Abweichungen vom ‚gewöhnlichen‘ Begriff gehen auch, was den Umgang mit der Hl. Schrift betrifft, in zwei widersprüchlich scheinende Richtungen: 1. Einerseits nimmt er sie ‚wörtlich‘. Aber nicht etwa im Sinn der Buchstabengelehrsamkeit des Formalprinzips, sondern er nimmt den ungeheuren sittlichen Anspruch, den das Evangelium erhebt, vollkommen ernst. 2. Andererseits nimmt er die Bibel nicht wörtlich oder ,ernst‘, und fasst vieles, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht, als bildliche Wahrheiten auf: Als Anspielungen, deren Wahrheit, wie jene einer Fabel etwa, nicht im wörtlichen Sinn, sondern in ihrem Verweischarakter zu finden ist. Diese Auffassung ist zugleich ein praktisches Werkzeug, um

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den Unterschied zwischen Glauben und Wissen zu überbrücken, d.h. sich mit menschlichen, also endlichen, rationalen Vorstellungen dem Göttlichen, Unendlichen, (noch) nicht Erklärbarem zu nähern und damit umzugehen (1810.41, 445): Eine Religion, die als „bloße Lehre von Gott“ verstanden wird, taugte dazu nicht. Der so Glaubende feiert den Gottesdienst nun auch nicht mehr Gott zuliebe im Haus Gottes; er feiert ihn seines eigenen Seelenheils wegen, und des Beispiels von gutem Willen, das er anderen Mitgliedern seiner Gemeinde durch sein Dabeisein im Haus Gottes unter Beweis stellt. Er verehrt Gott nicht der Ehre Gottes wegen, sondern um seiner selbst und der Menschheit willen. Dass dieses Glaubensverständnis neu ist, diese „neuen Begriffe“ unerhört sind und selbst in der Bibel bestenfalls andeutungsweise vorkommen, gibt Bolzano offen zu (1817.10: 103f.); aber er verweist dabei stets auf den Umstand, dass diese Begriffe nicht seine Erfindungen, sondern aus den althergebrachten Begriffen regelgerecht abgeleitet und daraus nachprüfbar weiterentwickelt sind. Seinen Schülern prägt er zusätzlich ein, alle diese Abweichungen von herkömmlichen Begriffen in jedem Fall besonders kritisch nachzuprüfen, um zu ihrem eigenen Glaubensbekenntnis zu finden; keinesfalls seine Lehren einfach nachzuahmen oder nachzubeten. – Insgesamt handelt es sich bei den angeführten Widersprüchlichkeiten um Scheinwidersprüche, die im Auge des zeitgemäßen Betrachters liegen. Der Schein von Widersprüchlichkeit entsteht durch ihre extreme Ausprägung in zwei Weisen: Einerseits durch Abstraktionen höchster Art, andererseits durch Zuwendung zum Konkretesten, dem Alltag des Einzelnen. Beide Pole umschließen einen einheitlichen Glauben.

Gebet Bei all seinen Begriffsbestimmungen folgt Bolzano zunächst dem alltäglichen Sprachgebrauch. Um sich dem Grenzbereich zwischen Glauben und Wissen zu nähern, gebraucht er das Gebet und empfiehlt es auch seinen Schülern. (Heute würden wir das eher ,Besinnung‘, ,Meditation‘, freie Reflexion oder ähnlich nennen). Bolzano nennt das Gebet „die erhabenste Handlung, welche ein endlicher Geist nur immer vollziehen kann“ (1816.24: 249): Es entzieht sich der Ebene der rationalen Distanzierung vollkommen. Dabei wird deutlich, dass der wissenschaftlich geregelte, rationale Erkenntnisfortschritt, der auf immer deutlichere Intersubjektivität zielt, an gewisse Grenzen stößt. An

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dieser Grenze wird deutlich, dass für das denkende Subjekt immer ein Rest an Unbestimmbarem und Subjektivem und damit an Eigenverantwortung bleibt. Den Bereich jenseits der Grenze, das Unaussprechliche, Mystische, wahrzunehmen, ist für Bolzano jedoch wesentlich, denn gerade er enthält die Möglichkeit des Über-sich-selbst-Hinausgelangens. Dem Glaubenden kann es gerade im unbedingten Regelfolgen, wie es in der Messordnung oder im rituellen Gebet geschieht, gelingen, sich für zeitlose Momente vom Regelzwang zu befreien und darüber hinauszukommen. Unbedingtes Regelfolgen kann somit zur Erkenntnis des Regelwerks selbst führen, zum Heraustreten aus der Befangenheit.

Wahre Aufklärer Die Schere zwischen der in Westeuropa herrschenden Form der Aufklärung und der mitteleuropäischen hat sich in den Zeiten der Koalitions- und Befreiungskriege deutlich geöffnet. In den 15 Jahren von Bolzanos Lehrtätigkeit ist die Tendenz – und sein Kampf dagegen – nachvollziehbar. Idealismus, Nationalismus, Romantizismus prägen das Sprachverhalten im Westen, und dies auch zunehmend in Mitteleuropa. Das heißt, Bernard Bolzano spricht zunehmend anders, als es der herrschende Zeitgeist gebietet. Er verwendet sowohl Alltags- als auch politische Begriffe nicht im diesem Sinn. Er hat nun nicht nur die alten Beharrer als Gegner, sondern auch die Schwärmer und Idealisten aller Art. Seine Welt wird immer enger. Er weigert sich, Zeiten, in denen Menschen weiterhin systematisch unterdrückt und ausgebeutet werden, als ,aufgeklärte‘ zu bezeichnen; in Zeiten der Schwärmerei erst recht. Er spricht von ,wahrer‘ Aufklärung nur dann, wenn sittliche und erkenntnismäßige Fortschritte tatsächlich erkennbar sind und das Ergebnis in zunehmendem Wohlergehen der Menschheit auch überprüfbar vorliegt. Das ist immer weniger der Fall. Er weigert sich auch, dort von ,Glauben‘ zu sprechen, wo die herkömmliche Frömmigkeit zur Niederhaltung von Menschen missbraucht wird, und auch dort, wo ein neuer Aberglaube jetzt profane Dinge als Nationalsymbole und Eigenschaften, wie etwa ,Nationalstolz‘, anbetet. Von wahrem Glauben redet er nur dort, wo Menschen gemeinsam nachweislich Gutes bewirken. Schlüsselbegriffe, wie etwa der mit der Französischen Revolution eng verbundene Begriff der Freiheit, wurden zu hohlen Schlagwörtern, die ihren früheren semantischen Wirklichkeitsbezug zunehmend verlieren und jetzt geradezu umkehren. Die Lebensformen im Europa der industriellen Revolution des beginnenden 19. Jahrhunderts sind tatsächlich im Begriff, sich durch

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Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse tiefgreifend zu ändern. – Bolzano und seine Freunde entfernen sich also deutlich von der herrschenden Aufklärung und vom herrschenden Glauben. Ihr Verständnis von Aufklärung bedeutet das Gegenteil: das Fehlen jeder (menschlicher wie technologischer) Herrschaft von Menschen über Menschen und die Natur. Ihr Verständnis von Glauben zeigt sich im Eintreten für das Wohl der Menschen und soziale Gerechtigkeit. Es sind gefährliche, kritische Zeiten des Wechsels (1820.12: 126) und der offenen Möglichkeiten im Übergang vom feudalen zum industriellen Zeitalter – und was Bolzano jetzt wagt, ist tatsächlich so unglaublich, dass es bisher kaum wahrgenommen worden ist: Er zielt bewusst darauf ab, die Bewegung und Entwicklung des Stromes der abendländischen Kultur nicht dem Zufall zu überlassen, sondern nach Kräften steuernd einzuwirken, zum Wohl und Nutzen seines Heimatlandes Böhmen und der Menschheit insgesamt. Er versucht, die Lebensformen weiterhin unter menschlicher, humanistischer Kontrolle, – und den Kurs auf die Zielvorstellung einer glücklichen Menschheit – zu halten. Bolzanos Kritik ist nicht etwa gegen den technologischen Fortschritt gerichtet, im Gegenteil: Er verlangt mehr als nur eine oberflächliche Anwendung kaum durchschauter mechanischer und chemischer Prozesse: Bolzano verlangt ein gründliches Verständnis davon, das so weit geht, die möglichen Folgewirkungen zu bedenken. Er verlangt, nicht nur von seinen Studenten, sondern von allen, die ihm zuhören, sich möglichst breites Grundlagenwissen zu verschaffen, – woraus sich aus seiner Sicht Verantwortungsbewusstsein von selbst ergibt. Der Versuch richtet sich gegen die für ihn offenkundige Tendenz, dass der Gewinn aus diesen Leistungen jetzt nicht den einfachen Menschen zugutekommen sollte, nicht den ausführenden Arbeitern, sondern neuen, selbsternannten Machteliten. Bolzano erkennt diese Gefahr ganz genau. Man konnte sie in England auch schon studieren, wie das etwa Karl Marx oder auch der Erzherzog Johann von Österreich (1782–1859), der Bruder des Kaisers, tat. Der Erzherzog zog daraus seine Schlüsse und setzte sie um: Er sorgte in den von ihm gegründeten Industrieunternehmen nicht nur für einen angemessenen Lohn der Arbeiter, sondern ließ aus dem Profit wichtige Bildungs- und Kunsteinrichtungen schaffen. Im Jahr 1825 schlug er den Ausbau des alten Gerstner-Projektes, der Eisenbahnlinie Linz-Budweis, bis zum großen Hafen der Monarchie in Triest, vor (Klingenstein 1982: 412).

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Sprachkritische Wende Der seit der Französischen Revolution geführte Machtkampf um Sprache und Worte trennt nun Mitteleuropa von Westeuropa. Die ,sprachkritische Wende‘ in Bolzanos Philosophie besteht jetzt in der Tendenz, anders zu sprechen und den auftretenden (idealistischen, romantischen, nationalistischen) Begriffen und Sprachverwirrungen mit besseren Begriffen entgegenzutreten. Diese Wende zeigt sich in widersprüchlich scheinender Form; nämlich (a) im Bestehen auf klar bestimmbaren und bestimmten Begriffen und Regeln, und (b) im bewussten Abgehen vom herrschenden Gebrauch der Sprache. Diese sprachkritische Wende zielt auf die Mündigkeit der Sprecher; auf die Möglichkeit, ohne Vormund, frei und selbst entscheiden zu können. Die freie Entscheidungsmöglichkeit ist dem Menschen gegeben, seit er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, so Bolzano. Der Mensch hat seither die Wahl, seinen Möglichkeiten entsprechend, den Weg der Wahrheit zu beschreiten, also tatsächlich weiser, besser und glücklicher zu werden – oder nicht. Die Freiheit der Entscheidung eröffnet dem Menschen – oder einer Kultur oder Zivilisation, schließlich auch der species Mensch selbst – die Möglichkeit der Sünde und des Scheiterns. (Ath 2: 188) Der Ausdruck ,sprachanalytische Wende‘ wurde von dem von dem Wiener Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker Gustav Bergmann (1906–1987), einem Mitglied des Wiener Kreises, im 20. Jahrhundert geprägt. Die Bewegung gewinnt in der angloamerikanischen Philosophie als „linguistic turn“ (Rorty 1967) seit der Mitte des 20. Jahrhunderts größte Bedeutung, vor allem durch die breite Wirkung der Philosophie Ludwig Wittgensteins. Dieser notiert sich dazu einmal den „[Anastasius] Grün und [Jacob] Grimm“ (Grillparzer SW 1,12,1: 86) betitelten Aphorismus von Franz Grillparzer Wie leicht bewegt man sich im Großen und im Fernen, Wie schwer faßt sich, was nah und einzeln, an: Statt vom Grammatiker fein still zu lernen, Bewunderst du, halloh! den Freiheitsmann. (Wittgenstein 1994 [1931]: 39f.).

Damit spricht er eine zentrale Voraussetzung dieser sprachkritischen Wende an: die bewusste Zuwendung zur Sprache selbst.

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Auftrag an die Schüler Als Bolzano ab November 1815 nach seiner Krankheit wieder zu unterrichten begonnen hatte, waren wichtige weltpolitische Entscheidungen gefallen, allen voran die Neuordnung Europas im Wiener Kongress, und die allgemeine Stimmung hatte sich geändert. Seine unerwartete Genesung sah Bernard Bolzano jetzt als Wink der Vorsehung an, seinen Auftrag weiterzuführen: Gleich in der ersten Rede klärt er: Auch über den Gegenstand der Tugend läßt sich durch Nachdenken noch viel Neues und Wissenswertes herausbringen. (1816.1) In der Zwischenzeit schien sich das Vorurteil wieder breitgemacht zu haben, religiöse Vorträge seien sinnlos, weil es in sittlichen Gegenständen ohnehin keine Neuigkeiten gebe, so Bolzano. Er bestreitet das in der Abhandlung: Zunächst führt er aus, (1) es gebe durchaus auch Pflichten von schwer einsehbarer Art. Diese seien (2) eben nicht anders als mittels geschärften Nachdenkens zu erkennen. Nur durch Nachdenken sei auch eine (3) deutliche Einsicht in die verborgenen Gründe unserer Pflichten (wie etwa die Pflicht der Nächstenliebe) möglich. Daraus ergäben sich (4) neue Beweggründe, die uns zur Erfüllung unserer Pflichten geneigter machen. Schließlich (5) können auch immer subtile Mittel und Wege zur Vollziehung unserer Pflichten gefunden werden. Das Thema der Tugend war damit noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Drei programmatische, aufmunternde Reden zum Thema folgten: Durch die vereinigte Bemühung nur weniger Männer kann in jedem Zeitalter eine verbesserte Gestalt der Dinge herbeigeführt werden. Sein Eintreten für die ,heiligen Rechte der Menschheit‘ war durch die nach dem Wiener Kongress einsetzende repressive Restaurationspolitik aber deutlich schwieriger geworden. Nach seiner ersten Rede, in der er wie immer die Grundfesten seiner Erbauung stärkte, verdeutlichte und festigte, kam er zu seiner Lebensaufgabe, der Verbreitung tauglicher Begriffe zur Schaffung einer besseren Welt: Er fragt (1816.2), Ob es noch besser auf Erden werden könne als es jetzt ist. Bolzano beginnt mit dem, was auch der engherzigste Zweifler zugeben muss: Dass das, wovon Wissen oder Erfahrung zeigt, dass es schon einmal bestanden hatte, – etwa eine echte Gemeinschaft der Gläubigen, in frühchristlicher Zeit – auch wieder entstehen könne, also auch jetzt wieder möglich sei (RW 1 § 137). Als Perikope für die Rede wählt er des Propheten Jesaia Rede (Jes 2,1–4) über das messianische Jerusalem – ein Reich, in dem es keine Kriege mehr gibt und deren (krieg)führende Herrschaftsschichten durch friedliche abgelöst werden. Eingangs spricht er von den durch die Befreiungskriege bedingten existentiellen Nöten der Menschen einerseits, sowie vom Überfluss einer kleinen

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Schicht meist adeliger Besitzer andererseits. Er stellt klar, dass es sich nicht um eine allgemeine Notlage, sondern um ein konkretes Verteilungsproblem handle: Das war eine Kampfansage an soziale Gleichgültigkeit und religiösen Indifferentismus und ein Aufruf zum Eintreten für die „Heiligen Rechte der Menschheit“. Bolzano setzt seine subtile Art des Widerstandes gegen eine herrschende Aufklärung unvermindert fort und äußert sich zum Thema Aufruhr: Über den Umgang mit Menschen, die ihr Glück auf den Unverstand anderer gründen. (1816.12–13). Bolzano bemerkt, dass man gerade jetzt, nach dem Wiener Kongress, „in einigen Ländern Europas wieder zurückzugehen scheint“ und bereits erreichte äußerliche und geistige Freiheiten wieder rückgängig zu machen suche. Er räumt dabei ein, dass diese Art Betrachtungen, die er jetzt seinen Hörern bietet, vor „ungebildeten und im Denken ungeübten Leuten“ nicht angestellt werden dürften, weil sie von jenen leicht missverstanden werden könnten und in ihren zu erwartenden emotionalen Reaktionen die Staatssicherheit gefährdeten. Menschen, „die ihr [vermeintliches] Glück auf den Unverstand anderer gründen“, bezeichnet er als die eigentlichen „Feinde der Aufklärung“, oder jetzt der Klarheit halber, Feinde der „wahren“ Aufklärung: Das sind jene Menschen, die kein Interesse am wirklichen Fortschritt der Menschheit haben, aber ein umso größeres an ihrem eigenen Vorteil. Zugleich verbittet er sich allzu einfache Lösungen wie Klassendenken oder Spielarten des Nationalismus und Rassismus und warnt davor, die „Feinde der Aufklärung“ nur in bestimmten Ständen oder Völkern zu suchen und zu finden. – „Es kann nichts unbilliger sein, als irgend Jemand bloß wegen seines Standes zu hassen“ (1816.12: 135). – Selbst diejenigen, die sich der Aufklärung tatsächlich widersetzen, müsse man zu verstehen suchen, vor allem ihre Verhältnisse und Gründe, die sie zu diesen Irrtümern geführt haben, kennen. Freilich gebe es auch ganz verdorbene, wirklich gefährliche Verhinderer der Aufklärung. Vor ihnen müsse man sich hüten und in christlicher Demut auf sie einwirken. – „Auch unser Herr vermied den Hof und den Aufenthaltsort der Großen, weil er Wahrheit lehren wollte“ (1816.12: 138). Die zweite der Reden beginnt mit der Perikope aus dem Römerbrief (Röm 13,1–7). Bolzano widerspricht den dort vorgebrachten Aussagen: „Es ist nicht wahr, was [Paulus] hier sagt, dass alle obrigkeitliche Gewalt von Gott selbst eingesetzt sei“! [Bemerkenswert ist daran auch, dass Bolzano diese „Wahrheit“ immerhin in einem Staat ungehindert vortragen konnte, der von einem Apostolischen Kaiser regiert wurde]. Überhaupt könne es, so Bolzano weiter,

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keinen unbedingten Gehorsam gegenüber dem Landesherrn geben. Er setzt auf die Kraft des Verstandes und zeichnet folgenden Weg der Aufklärung vor: Man setze es vor einer gewissen Menschenmenge recht deutlich auseinander, daß eine gewisse Klasse von Menschen sich nur auf ihre Kosten, nur von ihrer bisherigen Unwissenheit genährt und erhalten habe; man zeige ihr, daß es ihr bloßer Unverstand gewesen, der jenen Leuten ein so bequemes Auskommen, so große Reichthümer und eine so allgemeine, auf ’s schändlichste mißbrauchte Obermacht eingeräumt hat: welche Entrüstung wird sich da äußern, wie wird man da in eines Jeden Mienen erröthende Scham, glühenden Zorn, wüthende Rache ausgedrückt finden; in welche Fluchworte wird nicht Jeder ausbrechen; wie wird da Jeder nur lauter Bösewichter in denen erblicken, die er kurz vorher beinahe vergöttert hatte; mit welcher Wuth wird man in Vereinigung über sie herfallen, und sie in einigen Augenblicken nicht nur alles dessen beraubt haben, was sie sich widerrechtlich und zum Nachtheile des Ganzen zugeeignet, sondern ihnen auch nicht einmal diejenigen Güter und Recht zugestehen wollen, auf die ein jeder Mensch Anspruch hat! Wer aus uns, meine Freunde, wollte je das Losungswort zu solcher Grausamkeit geben? wer wollte je sein Gewissen mit dem Bewußtsein belasten, daß er der mittel- oder unmittelbare Veranlasser von solchen Gräueln gewesen? (1816.13: 142.)

Wenn die Mächtigen Schuld an der ungerechten Verteilung der Güter trügen, so würde sich irgendwann ihre Ohnmacht offenbaren. Das war natürlich Sprengstoff in diesen Zeiten. Bolzano beteuert daher, Blutvergießen würde Gerechtigkeit und Einsicht niemals herbeiführen können, – sondern nur Ausdauer und Beharrlichkeit könne dies: Mag es auch immerhin sein, daß diese Reichen im Grunde nur solche Erfindungen und Erzeugnisse belohnten, die ihrer Eitelkeit schmeichelten, die ihrer Üppigkeit Nahrung gaben, die ihre Macht vergrößerten, die sie als Mittel zur Vertheidigung gegen ihre Feinde brauchen konnten: sie werden es doch nicht hindern können, daß man das einmal Erdachte und Erfundene auch zu anderem Zwecke noch gebrauche; sie werden es nicht hindern können, daß unser einmal erwachter Erfindungsgeist nun immer thätig bleibt und zu dem Angenehmen endlich auch das Nützliche dazu erfindet; sie werden es uns sicher nicht ganz und für immer verbieten können, daß wir, an’s Denken einmal gewöhnt, auch über Alles nachdenken, auch über die zweckmäßigste Verfassung in einem Staate, und daß uns da über kurz oder lang einleuchtend werden sollte, daß jener allzugroße Unterschied in den Vermögensumständen verderblich sei und daß es Mittel, ihn zu verhüten, gebe. (1816.13: 144f.)

Das ist subtile Aufklärung (Strasser 1995): Radikal in ihren Forderungen, zurückhaltend in ihrer Vorgangsweise, weitreichend in ihrer Perspektive: Bolzano geht davon aus, dass die abendländische Kultur an diesem Wendepunkt sich zu einer Weltkultur wandeln muss, aufgrund der vergrößerten Reichweite des Geistes. Diese ,Weltkultur‘ wäre nicht mehr an Europa gebunden, sondern nur an die dort bereits erprobten und auch am weitesten ausdifferenzierten sozialen Standards. Diese müssten für alle Bewohner dieses Planeten gelten. Er geht weiters davon aus, dass die allgemeine christliche Re-

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ligion zu einer Weltreligion sich wandelt, und damit jene ethischen Vorgaben, die im Leben Jesu vorgeführt sind, weltweit Geltung erlangen. Bolzano prägt seinen Schülern unentwegt ein, sie müssten sich klare Grundsätze erarbeiten und zurechtlegen, um dann, wenn es Zeit sei, danach zu handeln und diese Änderungen durchzusetzen (1816.9: 106ff.). Diese Grundsätze müssen jedenfalls der Erkenntnis der ,wesentlichen Gleichheit aller Menschen‘ Rechnung tragen. Sie bedeuten zugleich ein Bekenntnis zur Vielfalt der Natur: Gleichschaltung und tatsächliche Gleichheit der Verhältnisse sei weder gottgegeben noch wünschenswert – es gehe nur um die gleichen Möglichkeiten des Menschseins für jeden, in seiner Eigenart. Nur so ließe sich die Würde jedes einzelnen Menschen zeigen. Darin sollte er letztlich seine Gottähnlichkeit; soll er sich als „Abbild Gottes“, beweisen – oder er würde sich „unter das Tier“ herabwürdigen, nämlich dann, wenn er die heiligen Rechte der Menschheit nicht verteidigte und in „schimpflicher Feigheit“, den „pflichtschuldigen Widerstand“ gegen die Unterdrücker versage (1811.16: 187, 201). Bolzano sieht die Schuld am herrschenden Unrechtszustand nicht einseitig verteilt und durchaus nicht nur auf Seiten der Unterdrücker, sondern auch auf Seiten jener Unterdrückten, die es sich in ihrer Lage leicht und bequem machen. Kein Zweifel, Bolzano war wieder mit vollem Einsatz am Werk und trieb sein humanes, soziales Anliegen systematisch voran. Aber die äußeren Umstände waren mittlerweile andere geworden: Während die Nationalisten darauf drängten, die Macht zu übernehmen; während die kirchlichen und weltlichen Mächte wieder bemüht waren, die alten Herrschaftsstrukturen zu festigen, verwies Bolzano auf eine Position der Einfachheit und Brüderlichkeit, wie sie aus der frühchristlichen Gemeinde oder von Jan Hus oder in den gemäßigten Positionen der Utraquisten und der Böhmischen Brüder bekannt ist. – In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er in einer späteren Rede im November 1816 empfiehlt (1817.3): Das wirksamste Mittel zu dieser Besserung [der allgemeinen Lebensumstände] ist die Zuflucht zu Gott und das Festhalten an der Lehre Jesu. – Das klingt gottesfürchtig und beruhigend in den Ohren der Mächtigen: Vorsicht im Ausdruck war das Gebot der Stunde. Aber wer Bolzanos Gedankenfolge, aus der der Ausspruch folgte, nachvollziehen konnte, empfand das als subtilen Handlungsaufruf und wusste, was zu tun war: Ein stilles Gebet reichte jedenfalls nicht aus; ein energisches Eintreten für die demokratischen Rechte der Menschen, das war jetzt der rechte, wahre ,Gottesdienst‘ nach Bolzanos Verständnis. Dieses Studienjahr (1816/17) beendet er mit der Warnung: Ursachen, warum viele Menschen in ihren späteren Jahren statt besser schlimmer werden (1816.44–45) Da-

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mit weist er auf das Phänomen der ‚Überläufer‘: Im Kampf um die Freiheit laufen immer Einzelne und Gruppen von Menschen wieder in das andere Lager (der Unterdrücker) über, nämlich sobald sie es sich selbst im Unrechtszustand bequem eingerichtet haben (Fromm 1941: 220). Bolzano erläutert die wohlbekannte Erscheinung, dass jugendlicher Gerechtigkeitssinn und Eifer im Erwachsenenleben bald verraucht. Er listet die allseits bekannten Verhaltensmuster auf: • dass junge Menschen voll guter Vorsätze und Pläne sind und klagen, diese nicht ausführen zu können – und wenn die Zeit gekommen ist, wo sie diese auch tatsächlich durchführen könnten, nicht das geringste tun; • dass Menschen in ihrer Jugend beim Anblick fremder Not sehr gerührt sind – und dann, wenn sie endlich die Kräfte dazu haben, etwas dagegen zu tun, dies tunlichst unterlassen; • dass junge Männer die Nichtigkeit dessen, „was der gemeine Haufe als ein beneidenswerthes Glück anstaunt“ deutlich erkannt haben und mit der verdienten Verachtung davon sprechen – und dann auf einmal kein höheres Ziel mehr kennen, als „schnödem Reichthum und hohen Würden und Ehren“ hinterherzulaufen. Viele meinen, dass solche Grundsätze „sowieso nur für Lehrkanzeln taugen und nicht für das alltägliche Leben“ oder „die Welt ließe sich ohnehin nicht umändern“, dies und weiteres könne man hören, so Bolzano. Mit den rhetorischen Mitteln der deutlichen Begriffsbildung und eindringlichen Vorstellung versucht er gegen das Allzumenschliche, das sich auch nach seinen Vorträgen rasch wieder einzuschleifen drohte, anzugehen: Weiser, besser und glückseliger zu werden, wie er es verstand, konnte nur ein lebenslanger, und oft genug ein ungemütlicher, Prozess sein – oder es geschah eben nicht. Zu Beginn des nächsten Studienjahres (1817.1) ‚beweist‘ er, wie stets in Jahresanfangsreden, wieder die Notwendigkeit des Besuches der religiösen Vorträge. Zu Unterrichtsbeginn 1817 unterstreicht er die heilsame Wirkung der Teilnahme an den „religiösen Betrachtungsstunden“: Von den heilsamen Wirkungen, die der ununterbrochene Besuch dieser Erbauungsreden hervorbringen dürfte (1818.1).

Letzter Rat Am Ende des jeweiligen Studienjahres wies Bolzano die Hörer der Erbauungsreden meist noch einmal mit Nachdruck auf ihre kommenden großen

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Aufgaben hin. Am Schuljahresende 1810 hatte er eine dieser programmatischen Abschiedsreden gehalten (1810.54): Die letzten und wichtigsten Räte und Bitten des scheidenden Lehrers. Im Eingang thematisiert er die Abschiedsstimmung, die grundsätzlich auch an die Vergänglichkeit menschlichen Daseins erinnert. Die Abhandlung schließt an die Perikope von den Arbeitern im Weinberg (Mt 9,37) und erneuert die Ratschläge, die schon im Evangelium gegeben werden (Mt 10,5–28). Die Parallele zwischen den Aposteln und Bolzanos Schülern steht deutlich im Raum (1810.54. 533f.): Wie jene Schüler Jesu des herrlichen Berufes sich freuten, die Aufklärer und die Verbesserer ihres Zeitalters zu werden: so sind auch Sie, meine Freunde, so Viele Sie immer mehr als gemeine Geisteskraft in sich verspüren und eben deßhalb sich mit vollem Rechte zu den höheren Ständen vorbereiten, alle berufen und verpflichtet, in wenigen Jahren die Aufklärer und Verbesserer unseres geliebten Vaterlandes zu werden. Dieses ist jene erhabene Bestimmung, an welche ich Sie durch die Zeit unserer Verbindung hindurch nicht oft genug erinnern zu können glaubte, die ich bei allen meinen Vorträgen an Sie voraussetzte, von der ich auch heute noch ausgehen muß, da ich die letzten Räthe und Bitten des scheidenden Lehrers vorbringen will.

Damit schließt er den Kreis von der Bereitung des Bodens im Weinberg bis zur Ernte; von der Aufnahme des Arbeiters bis zu seiner Entlassung, die die Aufnahme der eigentlichen Lebensarbeit bedeutet. Es sind sechs bemerkenswerte Ratschläge oder Bitten, die er hier ausspricht: Erster Rat: Arbeit – „Abhilfe menschlichen Elends“ und „Beförderung des Wohlseins unseres Geschlechtes“ (1810.54: 534) tut not. Bolzano beginnt anschaulich mit einem aktuellen Fall, dem Tod eines armen, unschuldigen Mädchens, „dessen ganzes Leben auf Erden nur eine Kette des fürchterlichsten Leidens gewesen zu sein scheint“ (1810.54: 535): Zwölf lange Jahre brachte sie auf ihrem Sterbebette zu; und keine, keine der Freuden, die Gott geschaffen hat, das menschliche Herz zu erquicken, waren für sie vorhanden. Auch jene ärmlichen Bequemlichkeiten, nach welchen sich der Kranke zu einiger Linderung seines großen Leides sehnt, auch diese ärmlichen Bequemlichkeiten mußte die Unglückliche, von der ich rede, entbehren, darum entbehren, weil sie nicht reich geboren war in diesen theuren Zeiten, weil zu den Leiden der Krankheit auch noch das Leid der Dürftigkeit und Armuth sich hinzugesellte.

Im Einzelfall klagt Bolzano hier den ganzen Vergesellschaftungsprozess an, der solche Ungerechtigkeiten zulässt. Wie Jean-Jaques Rousseau, so geht auch er von einer Art unverdorbenem Naturzustand des Menschen aus, in dem Menschen vom Instinkt geleitet worden sind. Anders als dieser sieht er das grundsätzliche Fehlen der Instinkte beim Menschen gegenüber dem Tier nicht als Mangel an, sondern als jenes Besondere am Menschen, das ihm erst Welt-

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offenheit und Entscheidungsfreiheit ermöglicht (1812: 8-9; Vorwort Strasser 2011a: 10f.). Die christliche Metapher der Erbsünde sieht er hier nicht angesprochen. Er interpretiert sie grundsätzlich als Auftrag zur Bemühung der Vernunftwesen, gemeinschaftsfähig zu werden. Selbst dass der Mensch in Schmerzen gebäre und geboren werde, sehe man längst nicht mehr als ,Willen Gottes‘, sondern als „Folgen unserer zweckwidrigen Lebensart und der Verzärtelung und Verkrüppelung unseres Leibes“ (1812.9: 118ff.). – Anders als Voltaire und andere Aufklärer setzt er aber die Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen nicht einfach voraus, sondern versteht sie als Produkt eines gar nicht selbstverständlichen Bildungsprozesses. Dieser stelle etwas wie ,soziales Gewissen‘ an den Platz, den einmal der Instinkt besetzt hat. „Ach, nicht der gütige Gott ist es, der solches Elend uns zuschickt, sondern wir Menschen thun das …“ (1810.54: 535). An diese Betrachtungen schließt er jene zum Eigentumsrecht, die wieder deutlich von Rousseaus Gedanken zur politischen Ökonomie geprägt sind. Bolzano lehnt Besitz in der aktuellen Form ab: Die Erde könne nie unser Besitz sein, sie ist uns gleichsam nur geliehen und die Menschen müssen sich dieser Leihgaben würdig erweisen. Den übertriebenen Reichtum Einzelner sieht er durch die Armut und das Leiden Vieler erkauft und an sich unmoralisch: … Wir Menschen sind es auch, die wir das Recht des Eigenthums und die Erwerbungsarten noch mit so weniger Klugheit bestimmt und eingeschränkt haben, daß es dem Einen möglich wird, durch Zufall oder List so viel an sich zu reißen, als wohl für Tausende genügen könnte; und daß er eben dadurch dann diese Tausende hungern und darben macht. (1810.54: 535f.)

Im Gegensatz zu den herrschenden Aufklärern seiner Zeit vertraut Bolzano also nicht darauf, dass der Verstand quasi selbstverständlich den richtigen Weg gehe. Er vertraut vielmehr auf den „weisen Plan Gottes“ oder die Wohlgeordnetheit des Universums, die etwas wie den aktuellen Unrechtszustand Zustand seines „verkommenen Zeitalters“, niemals auf längere Zeit zulassen könne. – Aus diesem ,Gottvertrauen‘ schöpft Bolzano die Kraft zu seinem Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse: Aber nur müssen sie erst – nur müssen wenigstens erst alle höhere Stände darüber einig sein: welche der bisher herrschenden Meinungen schlechthin verderbliches, nicht mehr zu duldendes Vorurtheil sind? Welche Gebräuche und Sitten, welche Einrichtungen und bürgerlichen Gesetze wahrhaft gemeinschädlich und sonach aufzuheben sind? vornehmlich aber: ob es auch etwas Besseres, unläugbar Besseres gebe, das sich an ihre Stelle setzen lasse, und was es denn sei? – Sie sehen also, meine Freunde, was Sie zu thun haben, wenn Sie einst wirkliche Aufklärer und Verbesserer der Menschheit werden wollen; Sie sehen, welche wichtigen Erkenntnisse Sie sich da einzusammeln haben … (1810.54: 536)

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Anstatt ihrem Verstand zu vertrauen, legt er seinen Freunden nahe, Vorstellungen und Begriffe genau zu überprüfen und nur das Brauchbare zu behalten. … Nur erst ein kleiner, unbedeutender Anfang ist zu dieser Einsammlung bisher gemacht worden; es liegt an Ihnen, daß Sie die Winke, welche wir Ihnen gaben, benützen und weiter verfolgen … (1810.54: 536)

In seinem zweiten Rat weist Bolzano die Studierenden darauf hin, wie schwierig es sein werde, die Grundsätze wie diese, die sie sich eben erst angeeignet haben, auch zu behalten, durchzuhalten und sie, auch gegen den Zeitgeist, zu vertreten. Deswegen rät er ihnen, diese zuerst im eigenen Umfeld anzuwenden und sich dabei nicht beirren zu lassen (Röm 12,2) denn groß ist die Zahl derjenigen, „die von der Wahrheit bald wieder abfallen und sich von jenem allgemeinen Strome werden sich fortreißen lassen“ (1810.54: 537). In seinem dritten Rat empfiehlt er seinen Schülern, im Sinne des Evangeliums, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren: „Reiset umher im Lande, heilet die Kranken, reinigt die Aussätzigen […] und thuet dieses Alles sonder Bezahlung“ (Mt 10,8). Auch wenn das Wirken nicht so leicht gehe wie bei den „gottgestärkten“ Jüngern Jesu, – jede ausgeübte Wohltätigkeit wird ihren Wirkungskreis, und damit die Möglichkeit, Wahrheit zu verbreiten, erweitern – vorausgesetzt, dass sich nicht andere Beweggründe (Eigennutz, Bereicherungssucht, Ruhmbegierde …) einschleichen, wozu freilich gerade in wichtiger Stellung mehr Anreiz besteht als in unbedeutender (Bolzano 1847). Der vierte Rat ist eine Warnung: „Vor bösen Menschen aber nehmt euch in Acht“ (Mt 10,17f.): Er empfiehlt seinen Mitstreitern für die gute Sache der Menschheit, genau auf ihren Umgang zu achten. Ihre Sache, also wahre Aufklärung und wahres Christentum, finde ihre erbitterten Gegner in jenen, die sich in ihrem vermeinten Glücksgenusse nicht anders gesichert [sehen] als durch die Unterdrückung der heiligen Menschheitsrechte […] Jeder, der denkt, ist ihnen gefährlich. (1810.54: 539)

Fünfter Rat: Aufruf, jederzeit bereit zu sein: Wenn einst die Stunde schlagen wird, wo unser Widerstand der Menschheit nützen kann, da lasst uns auftreten und für die gute Sache mutig und tapfer kämpfen. (1810.54: 539)

In seinem sechsten Rat beschwört Bolzano seine Schüler noch, „die Religion nie bei Seite zu setzen“. Kraft und Mut und Lust zu allem Guten schöpft er aus seinem Glauben, der von einem Menschenbild ausgeht, das in seiner Würde und letztlich Gottähnlichkeit unzerstörbar ist. Die letzten und wichtigsten Räte und Bitten des scheidenden Lehrers bestimmen den Auftrag an seine Freunde und Schüler, ihren Mitmenschen in einer wahrhaft

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christlichen Revolution voranzugehen – in eine Art zweiten, unverdorbenen, wahrhaftigen Bewusstseinszustand, der kein (direkt) gottgegebener mehr ist, sondern ein mit aller Kraft des menschlichen Geistes vom Menschen selbst herbeigeführter: das Ergebnis eines alltäglichen, harten und unermüdlichen Kampfes um die „heiligen Rechte der Menschheit“. – Man denke hier etwa an Heinrich von Kleists Vorstellungen vom Verlust und der Wiedergewinnung der „natürlichen Grazie“ durch das Bewusstsein und vom „Durchgang durch das Unendliche“ in seiner Abhandlung Über das Marionettentheater, ebenfalls aus dem Jahr 1810. Kein Zweifel, – Bolzano erwartet von seinen Schülern Großes, große Leistung und Wirkung. Sie sollten, wie einst die Apostel, „Menschenfischer“ werden (1813.4, 52). Bolzanos „Räte und Bitten“ münden, [die „Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis“ (Mt 10,19f.; 27) paraphrasierend] in einen Aufruf zur Handlungsbereitschaft: Denket dann nicht mit allzuängstlichem Sinne nach, was ihr da thun und sprechen sollet, in jener Stunde selbst wird es euch eingegeben werden; denn nicht ihr selbst sowohl, als vielmehr Gottes Geist wird es dann sein, der durch euch reden wird. Was ich seither im Dunkeln sprach, das predigt dereinst am hellen Mittage; was ich euch nur leise in das Ohr gesagt, das predigt laut herab von allen Rednerbühnen … (1810.54: 540)

Es bedarf des echten Mutes, in Bolzanos Verständnis, etwas wie „hôher muot“ in der mittelhochdeutschen Bedeutung, höchste Bewusstheit und Bedachtheit; wenn der Augenblick gekommen ist – denn es gibt auch … eine Art tollkühner Schwärmerei, meine Freunde, die sich auch ohne die mindeste Hoffnung eines glücklichen Erfolges in Gefahr und Leiden stürzt, um sich das ergötzende Bewußtseyn eines vermeintlichen Märtyrerthums zu verschaffen. Die Menschheit, statt durch solche Schwärmer zu gewinnen, verliert vielmehr durch sie, weil der mißlungene Versuch, gewisse Fesseln zu zerbrechen, gewöhnlich den Erfolg nach sich zieht, daß nur noch festere und drückendere geschmiedet werden. (1810.54: 540)

Damit entlässt Bolzano seine Schüler ins Leben. Als Lehrer steht er selbst beispielhaft für eine neue Lebensform. Diese ist im Evangelium grundgelegt. Er hat sie neu formuliert, gemäß seiner Zeit verdolmetscht und trägt so die Botschaft Jesu in einer aktuellen Sprache weiter. Seine Freunde und Schüler versteht er als auserwählte Verkünder dieser neuen Denkweise und Lebensform. Von ihnen erwartet er, dass sie ihr Leben dieser Aufgabe weihen. Er verlangt ein bedingungsloses Eintreten für Gerechtigkeit und Wahrheit, mit allen persönlichen Folgewirkungen. Die Rede 1816.24 Betrachtung des letzten Gebetes Jesu ist Teil einer drei Erbauungsreden umfassenden Einheit, die sich mit dem „Letzten Gebet“ Jesu, befasst. In der Bibelübersetzung Bolzanos kommt die Ähnlichkeit und Gleich-

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gerichtetheit des Vorgangs, in dem sich Bolzano begreift, mit dem biblischen Geschehen besonders deutlich zum Ausdruck: Ich unterrichte sie in dieser Lehre, spricht [Jesus] und deßhalb werden sie jetzt den Haß der Welt erfahren, weil sie nicht übereinstimmen mit dieser Welt, so wenig als ich mit ihr übereinstimme. Und etwas später bittet er für sie: Gib ihnen die Kraft, sich aufzuopfern für die Verkündigung deiner Lehre; denn mit demselben Auftrage, mit welchem du mich in die Welt gesandt hast, sende ich sie in diese Welt. Ich opfere mich itzo für sie, damit auch sie lernen, sich für die Wahrheit aufzuopfern. Verbreiter also sollten die Jünger Jesu werden, Verbreiter solcher Wahrheiten, die von der Welt, das heißt von dem größten Theile der Menschen gehaßt und angefeindet werden, und dieß zwar darum, weil sie, ob es gleich sehr ersprießliche und beseligende Wahrheiten sind, doch der bisherigen Gewohnheit und Einrichtung widersprechen und sie der Thorheit und Ungerechtigkeit beschuldigen […] Ich habe mich für die Wahrheit aufgeopfert, sprach unser Jesus, auf daß diejenigen, die meine Anhänger heißen, ein Gleiches thun sollen. (1816. 25: 265f.)

Am Ende dieser Rede zitiert er Paulus (2 Tim 3,12); eine Briefstelle mit deutlich appellativem Charakter: Verkündige die Wahrheit, dringe mit Nachdruck auf ihre Befolgung, es sey den Menschen gelegen oder ungelegen. Wisse, daß alle jene, die nach den Grundsätzen Jesu ihr Leben einrichten wollen, Verfolgungen leiden werden. (1816.25: 267)

Während der rund fünfzehn Jahre seines offiziellen Wirkens an der Prager Universität hat Bolzano zu allen wesentlichen und die Menschen seiner Zeit bewegenden Themen Stellung genommen. In seinen Reden hat er die neue Lebensform umfassend dargelegt und selbst vorgelebt. Ähnlich wie schon der antike Rednerphilosoph Isokrates ist Bolzano ein Mann des Gemeinsinns und versteht die Philosophie praktisch, als Hinführung zu erfolgreichem, ethisch klar begründetem Handeln. Isokrates ist vom gesunden Menschenverstand ausgegangen; und von der grundsätzlichen Verbesserungsfähigkeit des Menschengeschlechtes; davon also, „daß Menschen von sich aus sehr wohl wüßten und darin übereinstimmten, was gut und was böse sei“ (Fuhrmann 1990: 24f.; Dihle 1994: 17). Bernard Bolzanos Entwurf ist ein erneuerter, großer böhmischer Gegenentwurf zu den jeweils herrschenden Glaubens- und Wissensvorstellungen. Auch dieser Entwurf kommt in einer entscheidenden, dämmernden Umbruchszeit und ist als eine alle Menschen wieder verbindende Bewegung angelegt.

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5 Schülerecho Bolzanos Studenten berichten einhellig, dass in seinen Vorlesungen konzentrierte, gespannte Stille geherrscht habe. Anton Günther (1783–1863), der von 1804 bis 1806 die Philosophischen Studien unter Bolzano besucht hat, schreibt; der Einfluß des jungen Priesters und Professors auf die sittliche Haltung der Studenten war im Großen und Ganzen schon damals [Studienjahr 1805/06] ein nicht geringer, wurde aber in späteren Jahren […] noch bedeutender, wie Augenzeugen mir mittheilten. (Knoodt 1881,1: 77)

Aus seiner kritischen Haltung zum Lehrbuch Frints hatte Bolzano keinen Hehl gemacht. Seinen Schülern, den begabteren besonders, war die Mangelhaftigkeit des vorgeschriebenen Unterrichtsbehelfes ohnehin nicht verborgen geblieben. Dennoch hielt sich Bolzano, als es geboten war, streng daran, und zwar so sehr, dass Anton Günther einmal berichtet, dass Bolzano als bloßer Nachbeter Frint’s verschrieen werden konnte! Von dieser Ansicht kamen jedoch die tüchtigeren Studenten bald ab, da Bolzano den Inhalt des Lehrbuchs kritisch behandelte, wodurch aber letzterer [Frint] nicht an Ansehen gewann. (Knoodt 1881,1: 76)

Ein anderer Schüler, Carl Postl (1793–1864), verallgemeinerte die Qualität vormärzlicher Lehrbehelfe später etwas drastisch: These school-books are the most barren and stupid extracts which ever left the printing press. The professors are bound, under penalty of losing their places, to adhere literally to these skeletons. (Postl/Sealsfield 1828: 79)

Trotz der offensichtlich starken rhetorischen Überzeugungskraft gelang es Bolzano nicht, alle religiösen Sucher von seiner „vernünftigen“ Religionsauffassung zu überzeugen. Anton Günther vermisste bei seinem Lehrer gerade das „worum es ihm am meisten zu tun war, nämlich den unwidersprechlichen Nachweis der Nothwendigkeit einer übernatürlichen Offenbarung überhaupt.“ (Loewe 1879: 17) Günther hatte erwartet, dass ihm ein Fingerzeig gegeben wurde, der es [ihm] ermöglichte, über diesen Punct endlich ins Reine zu kommen. Dieses Problem war es ja gewesen, welches selbst Professor Bolzano [ihm] ungelöst gelassen hatte […] Jetzt dämmerte [ihm] die sogenannte übernatürliche Religion als die historische Offenbarung durch Jesum Christum, den Gottmenschen, auf. (Knoodt 1881,1: 104)

Den gesuchten Beweis konnte Günther in Bolzanos rationaler Auffassung nicht finden. Bolzano hatte die Frage für sich ja nicht beantwortet, sondern

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als unsinnig zurückgewiesen. Günther fand seine Antwort in einem verinnerlichten Bibelstudium, das ihn auch zu ganz anders gelagerten Religionsvorstellungen brachte. Bolzano seinerseits nahm Günther als Theologen nicht ernst (Brief an Příhonsky vom 27. September 1832 [Bolzano 2005: 177]). Die Bewegung, die der junge Religionslehrer unter seinen Hörern auslöste, stellte sich bald als unerwartet stark heraus. Sie berechtigte zu großen Hoffnungen einerseits und begründete schlimme Befürchtungen andererseits. Wenn er trotz seiner Strenge und seiner ungewöhnlichen neuen Lehren allgemein Erfolg hatte, dann lag das vor allem daran, dass er selbst seine Ansichten authentisch vorlebte und als Persönlichkeit überzeugte. Allen Berichten zufolge war sein Umgang mit den Studenten stets freundschaftlich, brüderlich. Selbst jene, die seine Ansichten nicht teilten, konnten an seiner Person nichts auszusetzen finden: So sein Schüler Johann Emanuel Veith (1787–1876), wenig jünger als sein Lehrer. Veiths Biograph, der Prager Philosoph Johann Heinrich Loewe (1808–1892) berichtet: Bolzano wußte gleich im Beginne seiner Wirksamkeit die Studierenden an sich zu fesseln. Seine Vorträge und die Erbauungsreden, die er an Sonn- und Feiertagen hielt, fanden großen Beifall nicht nur an der Universität, sondern auch außerhalb derselben, und zahlreiche Abschriften davon kamen in Umlauf. Doch fehlte es an Solchen nicht, bei denen die fremdartige, von der üblichen gänzlich abweichende Behandlung des Gegenstandes Anstoß erregte … (Loewe 1879: 12; Sophie Loewe 2005)

Veith, der Anton Günther zugeneigt war und Klemens Maria Hofbauer (1751–1820) verehrte, war freilich auch einer von denen, die mit Bolzanos analytischer Religionslehre nichts anfangen konnten endlich konnte [Veith], was ihm Noth that, und wornach er in dunkler Sehnsucht rang, durch die Lehren Bolzano’s gar nicht gegeben werden. Man kann dieß aussprechen, und doch dem persönlichen Werthe Bolzano’s und seinem verdienstvollen Wirken volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ein Mann von scharfem Verstande und vielseitiger Bildung, ein ernster würdevoller Charakter von makelloser sittlicher Reinheit, streng gegen sich selbst, aber auch Gleiches von Anderen fordernd, dabei freundlich im Umgange, für sich mit Wenigem zufrieden, gegen Andere über seine Verhältnisse wohlthätig, ein Mahner und väterlicher Rathgeber der Jugend, hat er Manchen vor Verwirrungen bewahrt oder von Abwegen auf den richtigen Pfad geleitet, und so lässt sich wohl begreifen, wie er Viele mit Liebe, Alle mit Achtung gegen sich erfüllte. (Loewe 1879: 13f.)

Diese grundsätzliche Wertschätzung bleibt über Zeiten und Ideologien hinweg erhalten: Der aus Prag gebürtige Ernest (Arnošt) Kolman betonte in seiner streng kommunistischen Phase, dass Bolzano „trotz der irrigen Grundlage seiner Weltanschauung [die diesen für den kommunistischen Klassenkampf in seinem Sinn untauglich macht] die edlen Züge eines wirklichen Menschen

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verkörperte, der ja letzten Endes das Hauptziel der gesamten sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft […] bildet.“ – (Kolman 1963: VI). Schließlich war auch nicht gesagt, dass die Schüler das, was sie bei Bolzano gehört, auch tatsächlich verstanden hatten und lebten. Das zeigt das Beispiel von Karl [laut Geburtsbuch Carolus Magnus] Postl aus dem südmährischen Poppitz deutlich: Er absolvierte das Philosophicum in Prag von 1808 bis 1811 (Strasser 2007) und hatte Professor Bolzanos Veranstaltungen zu besuchen. Im „Klassenverzeichnis“ (Archiv der Karlsuniversität Prag) des betreffenden Kataloges von 1808 steht in seiner Rubrik die Anmerkung „Sehr evangelisch [der Frohbotschaft des Neuen Testaments gemäß] gesinnt und fleißig“ – also Lob, was seine Teilnahme an Bolzanos Unterricht betrifft. Nach abgeschlossenem Studium wurde Postl Ordenssekretär im Kreuzherrnorden mit dem roten Stern am rechten Brückenkopf der Karlsbrücke. Trotz dieser beachtlichen Karriere floh er 1823 ganz unerwartet aus Prag. Später stellte sich heraus, dass er im amerikanischen Exil unter einigen falschen Namen untergetaucht und unter dem Pseudonym „Charles Sealsfield“ zu Schriftstellerehren gekommen war. Der bekannte Wiener Literaturhistoriker Eduard Castle (1875–1979) jedenfalls schloss sein vielsagend „Unterdrückung des geistigen Lebens“ überschriebenes Kapitel über Postls Schulzeit in seiner lange Jahre maßgebenden Sealsfield-Biographie Der große Unbekannte mit der lapidaren Vermutung: „Wir haben Grund zu der Annahme, daß Bolzano auch auf Carl Postl starken Einfluß ausübte.“ (Castle 1952: 29) Eine lange Reihe von leichtgläubigen Interpreten schloss sich dieser und anderen wissenschaftlich getarnten Meinungen an (nicht so: Schüppen 1981), die schwer auf der Erforschung dieses „großen Unbekannten“ lasteten. – Dabei hätte schon ein grober Blick auf Postl/Sealsfields Lebensweise gezeigt, dass das keinesfalls so sein kann: In seiner Studienzeit hat Karl Postl Bolzanos entscheidende Redeserie über die Wahrheit Von aller Menschen wesentlicher Gleichheit Ende April/Anfang Mai 1810 (1810.33f) gehört. Er hat sie aber offensichtlich nicht „verstanden“: Wie hätte er sonst, später, als plantage owner im Süden Amerikas, für Sklavenhaltung eintreten können? In seinem kritischen Reisebericht von 1828 Austria as ist is – Sketches of continental courts, by an eye-witness zeichnet Postl/Sealsfield ein düsteres Bild vom Österreichen Schulsystem: At Easter, and towards the close of August, the youth is examined: if his answers prove satisfactory, he is admitted at the beginning of the next year into a higher class; if otherwise, he is detained till he knows by heart his lesson, and then advanced. A young man who has gone through the academical course of these studies, knows a little of every thing, but on the whole nothing. He has regularly forgotten in the succeeding course, what he had

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learned by heart in the preceding. A free exercise of the mental powers, a literary range is absolutely impossible; nay, against the instructions of the professors. The youth, during the time of these studies, is watched with the closest attention. His professors are ex-ufficio spies … (Sealsfield 1828: 79)

Seinen Lehrer Bolzano hebt Sealsfield deutlich von der in seinem Bericht allgemein ausgebreiteten Düsterheit der Zeitumstände ab: Of the members of this university, the Professor of Philosophy Bolpano [sic] was universally admitted to be one of the very first. Several works which he published, showed him to be a very liberal and eminent thinker. This gentleman was suddenly arrested, his writings seized, himself placed before an ecclesiastical tribunal … (Sealsfield 1828: 75f.)

Charles Sealsfields Bericht ist scharf und kritisch, verrät aber wenig Sachkenntnis, bedingt durch seine bereits jahrelange Abwesenheit vom Schauplatz. Es ist eine Art Vorform des von Thomas Bernhard später großzügiggehandhabten genres der ‚Österreichbeschimpfung‘. Bei Postl ist es aber keine künstlerische Aufwallung, sondern Zeichen seiner Enttäuschung und seines Ärgers. Dass Bolzano „plötzlich verhaftet“ worden sei, wie Sealsfield schreibt, trifft nicht zu. Was Postl am österreichischen Bildungssystem kritisiert, dass es nämlich zum überwiegenden Teil auf reines Auswendiglernen hinauslief, oder dass die Lehrbücher (besonders jenes von Jacob Frint) von geringer geistiger Spannung waren – das waren genau die Punkte, gegen die sich sein Lehrer zur Wehr gesetzt hatte, was Postl eigentlich gehört und gemerkt haben sollte: Vielleicht, daß mehrere von Ihnen, durch jenes lästige, den Geist erstickende Auswendiglernen, wozu Sie im vorigen Jahre angehalten wurden, vielleicht selbst hie und da durch eine unedle und allzu sklavische Behandlung von Seite Ihrer Lehrer eine geheime Abneigung empfinden gegen alle jene Verhältnisse, in welchen die Worte: Schule und Lehrer vorkommen … (1808.4: 117)

In seinen letzten Reden noch, in denen Bolzano von der grundsätzlich gutartigen Anlage der menschlichen Triebe spricht, bedauert dieser, wie wenig die zeitgemäße Pädagogik den jungen Menschen entgegenkomme und sie darin unterstütze: Nur eine bessere Einrichtung sollten wir unserer Lehrart geben, nur alles Unverständliche aus unserem Vortrage entfernen, nur nicht verlangen, daß unsere Zöglinge bloß stumme Zuhörer machen, sondern erlauben sollten wir es, daß sie auch mitsprechen dürfen; einrichten sollten wir es, daß sie soviel, als sie nur vermögen, durch eigenes Nachdenken finden und ihre sämmtlichen Kräfte dabei beschäftigen können: dann würden wir uns sicher nie beklagen dürfen, daß unsere Kinder keine Lust zur Arbeit haben. (1820.4: 51)

Obwohl Sealsfield einen Teil seiner Plantagen-Aktien verkaufte (der Rest brachte ihm bis zum Lebensende erhebliche Gewinne ein) und gestand:

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Ein größerer Theil meines Vermögens besteht nämlich in Eisenbahn Obligationen und EisenbahnAkzien, die sich in Verwahrung […] befinden. (Castle 1955: 342f., Brief vom 26. November 1863)

Postl/Sealsfield war kein weltabgewandter Dichter; letztlich war er ein „erfolgsorientierter Opportunist“, skrupelloser Plantagenbesitzer und Nutznießer von Sklavenarbeit… sein Leben eine „eigennützige Selbstinszenierung“ (Ritter 2016: 12ff.) – kurz, in Habitus, und Lebensform das glatte Gegenteil seines früheren Lehrers Bolzano. Abgesehen von solchen Einzelfällen war Bernard Bolzanos Erfolg mit den Universitätsreden insgesamt unerwartet groß, ja geradezu sensationell. Besonders wenn man bedenkt, dass er eigentlich keine der an ihn gestellten Erwartungen erfüllt hatte: Zum einen nicht die Wünsche der Studenten: Sie hatten keine Lust auf Zusatzaufgaben und schon gar nicht auf eine zusätzliche Erbauungsstunde – und Bolzano führte viele von ihnen auf den anstrengenden Pfad der kritischen Reflexion. Zum anderen enttäuschte er die Erwartungen der kirchlichen und staatlichen Behörden, die gerne braven und frommen, unkritischen Gehorsam gelehrt gesehen hätten – Bolzano unterlief gerade dieses ‚Bildungsziel‘ ganz bewusst und nachhaltig. Sein Erfolg zeigte sich unter anderem darin, dass zu den Pflichtbesuchern bald eine ständig wachsende Anzahl von interessierten freiwilligen Hörern kam. Er erwähnte einmal, es sei allgemein bekannt, dass die Erbauungsstunden […] nicht nur von den Hörern der Philosophie, die dazu gesetzlich verpflichtet sind, sondern auch von so vielen jungen Männern, die aus den philosophischen Studien längst ausgetreten, zum Teile schon in öffentlichen Ämtern angestellt sind, besucht werden. (Winter 1944: 63)

In der ersten Rede des Studienjahres 1817/18 sprach Bolzano einmal von „nahe an hundert“ solcher freiwilligen Hörer. Anton Günther berichtet, Jahre nach seinem Studium: So hörte ich von Fichtner, Professor am Kleinseitner Gymnasium und vormals mein Mitschüler unter Bolzano, dass die Exhorten desselben aus dem Hörsaale der Universität in die Salvatorkirche hätten verlegt werden müssen, weil der Zudrang der Zuhörer, sowohl aus dem Bürger- als aus dem Militärstande immer größer wurde, und zu der Anhörung der Predigt auch noch der Empfang der Sakramente hinzukam. (Knoodt 1881,1: 77)

Dieser einzige, doppelt indirekte und nicht verifizierbare Hinweis auf eine Abhaltung der Erbauungsreden in einem sakralen Raum sollte in der Fachliteratur ein besonderes Gewicht erhalten dadurch, dass ihn Eduard Winter in seine maßgebende Bolzano-Biographie aufnahm (Strasser 2007). Dies geschah in

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der Absicht, den großen Erfolg von Bolzanos Vorträgen zu bebildern. Den belegt das Schülerecho aber ohnehin ausreichend. Die Stellung Bernard Bolzanos war bald gesichert; sein Erfolg bei den Hörern unerwartet und durchschlagend. Als Person war er vollkommen glaubhaft und liebenswert, und so war er auch weitgehend unantastbar. Er genoss zudem das Vertrauen des böhmischen Adels. Man ließ ihn ungestört arbeiten. Er sagte Wahres, ohne je beleidigend oder ungerecht zu werden. Das vollkommene Vertrauen der Machteliten in Staat und Kirche und ihrer Zuträger zu gewinnen, konnte freilich auch ihm nicht gelingen.

6 Dämmerungslicht der Aufklärung Die Hauptgefahr für die Kulturentwicklung aus mitteleuropäischer Sicht stellte der Krieg dar. Verteidigung, wie sie im Habsburgerreich gegen Napoleons Despotismus und andere nationalistischen Expansionsbestrebungen notwendig geworden war, hielten Mika, Bolzano und ihre Mitstreiter für unvermeidlich. Für Begeisterung sahen sie selbst nach der Niederschlagung des sogenannten „Revolutionsheeres“ keinen Anlass. So bemerkt Bolzano im Jänner 1816: Ganz Deutschland ja ganz Europa frohlockt über gewisse Siege, die es erfochten hat. Darf ich Ihnen gestehen, meine Freunde, daß bey den Grundsätzen, die ich besitze, das Herz nicht mit einstimmen kann in diesen Jubelton? Darum nicht einstimmen kann, weil ich den Vortheil nicht sehe, den wir errungen haben, weil es mir nur ein Wahn, nur ein verderblicher Wahn zu seyn scheint, zu folge dessen wir uns jetzo ich weiß nicht was für glückliche Zeiten versprechen! – Statt mich erfreuen zu können der allerneuesten Ereignisse, betrachte ich sie vielmehr mit tiefem Schamgefühl[.] (1816.14: 150)

Bernard Bolzano, und mit ihm wohl der Tenor der Habsburgerwelt, konnte an Kriegen überhaupt nichts Gutes finden. In deutschen Landen war besonders während der Befreiungskriege eine gewisse Kriegsbegeisterung wach geworden. Aber die Unterschiede zwischen der österreichischen und der (preußisch-)deutschen Geisteswelt gingen viel tiefer. Wir betrachten sie genauer anhand von Bernard Bolzanos Reaktionen. Eine erste Reaktion war das Kapitel Seibt, den Maria Theresia ins Reich geholt hat (s.o.): Als Philosophen schätzte ihn Bolzano nicht sehr, die Polemiken der österreichischen Gelehrten gegen ihn sind vielsagend. Besonders der böhmische Mathematiker und Astronom Anton Strnad (1746–1799) war

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früh sehr deutlich geworden. Betrachten wir die Bereiche Philosophie und Dichtung etwas näher, vorwiegend aus der Sicht Bolzanos. An geistigen Kriegsschäden war der Verlust von Offenheit und Pluralismus in der Gesellschaft zu bemerken. Schwärmerei, Idealismus und allerlei abergläubischer Religionsersatz begannen sich auszubreiten. Bolzano stellte fest, dass das Licht, welches Aufklärung bringen sollte, jetzt seltsam verzerrt leuchtete und oft bizarre Schatten warf (1818.28: 251). Aus böhmisch-österreichischer Sicht zeigten sich jetzt im Westen und Norden Europas bedenkliche Entwicklungen. Gerade im gepriesenen ,Land der Denker und Dichter‘ schien es jetzt, als seien grundlegende und tragende Wahrheitsannahmen nicht mehr haltbar und das ganze philosophische Getriebe geriete ins Stottern. Bolzano berichtet indes den Hörern des Prager Philosophicums Über den Zweck der Offenbarung: Von den Quellen des Irrtums, daß das Christentum nichts mehr als natürliche Religion sei [!]): Nun ist es offenbar, daß, während die übrigen Völker der Erde, die sich zum Christenthume bekennen, seit einem halben Jahrhundert alle ganz andere Zwecke verfolgten, der Deutsche seine Aufmerksamkeit auf den Zweck der Verdeutlichung seiner Begriffe und auf das, was man Gelehrsamkeit in dieses Wortes engstem Sinne zu nennen pflegt, verwandte. Während andere Völker damit beschäftiget sind, sich Freiheit zu erkämpfen oder gewisse wichtige Verbesserungen in ihrer bürgerlichen Verfassung einzuführen, oder gewisse Künste und Wissenschaften, die eine unmittelbare Beziehung auf die Zwecke des geselligen Lebens haben, auch nur für diese Zwecke bearbeiten: ist der Deutsche zu dem Bewußtsein erwacht, daß auch die bloße Verdeutlichung unserer Begriffe ein Geschäft sei, das seine Annehmlichkeit und seinen Nutzen habe. Diese Beschäftigung ist es, die er seit einem halben Jahrhundert mit dem größten Fleiße betreibt. Ich wollte gerne sagen – auch mit glücklichem Erfolge: aber wie sehr würde mich da die Erfahrung selbst der Lüge strafen! Denn daß man sich bisher noch über keinen einzigen Begriff vereinigen konnte, daß immer der Erklärung, welche der Eine aufstellt, zehn Andere widersprechen, liegt ja am Tage, meine Freunde. Es ist auch eben nicht so sehr zu wundern, daß es mit diesem Geschäfte bisher so schlecht gelungen ist; denn es ist in der That eines der schwersten, woran sich der menschliche Verstand wagen kann. Es ist begreiflich, daß durch die ersten Versuche in dieser Art zu viel Verwirrung herbeigeführt ward, als daß man die erwünschte Verdeutlichung seiner Begriffe erreicht hätte; es ist voraus zu sehen, daß man durch dieses Bestreben in eine Menge Irrthümer sich stürzen und nach vieljährigem Kampfe erst zu einem richtigen Besitze der Wahrheit gelangen werde. Denn was man vorher nicht aus deutlicher Einsicht der Gründe, aber geleitet durch ein gewisses dunkles, in seinen Aussprüchen sehr sicheres Gefühl erkannte, das zieht man jetzt, weil man nichts Anderes annehmen will, als was man deutlich erkennt, in Zweifel; dagegen aus mancher, an sich ganz richtigen Entdeckung, die man jetzt eben gemacht hat, leitet man Folgerungen ab, die zwar sehr scheinbar, aber doch übereilt sind und die ein reiferes Nachdenken einst wieder zurücknehmen wird. (1818.28: 251f.)

Bolzano fasst das Problem so zusammen:

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So sind wir also zu aufgeklärt, um die Beweise einer älteren Zeit befriedigend zu finden, aber zu wenig fortgeschritten im Denken, um bereits bessere ausgedacht zu haben, die sich an ihre Stelle setzen ließen. (1818.28: 252)

Idealismus In den deutschen Ländern konnte man zu Bolzanos Zeit „bereits auf eine beinahe schon 600jährige Tradition intensiver philosophischer Bemühungen von Albertus Magnus bis Hegel zurückblicken“, so Werner Sauer (1982: 9) – während die Philosophie in Österreich weiterhin Dienerin der Theologie geblieben war und jetzt erst mit Bolzano die Weltbühne betrat. Die Philosophie genoss in deutschen Landen längst großes Ansehen und war zu Bolzanos Zeiten ein hochangesehenes Lehrfach. Auf den neueren Reformuniversitäten im nahen Halle oder in Göttingen genoss man weitgehende libertas philosophandi. Die neuen Hohen Schulen in den deutschen Ländern lebten aus dem Geist des Idealismus und räumten der neuen idealistischen Philosophie eine bedeutende, ja überragende Stellung ein. Diesen Geist hielt man in Österreich für gefährlich. Immanuel Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft die bekannten vier Paare von Antinomien dargestellt, die Bernard Bolzano als schlecht durchdacht und fehlerhaft zurückweist (WL § 315.7) Für ihn als Mathematiker, der mit dem Phänomen der Unendlichkeit umzugehen wusste, waren Kants Begriffe weitgehend unbrauchbar. Und überhaupt, Bolzano fand Immanuel Kants bekannte Aussage, die Logik sei seit Aristoteles eine abgeschlossene Wissenschaft, höchst befremdlich; insbesondere zumal gerade Kant es war, der zugleich die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf Untersuchungen geleitet hatte, welche dem äußeren Anscheine nach in gar keiner Verbindung mit der Logik stehen und nicht der geringsten Erleuchtung aus dieser Wissenschaft zu bedürfen scheinen. (Bolzano MPhS 1810–1816: 171f.; Bolzano RW 1 [§ 63]: 168; Kant 1787: 20)

Solche seltsamen, für Bolzano nicht nachvollziehbaren Gewissheiten bestimmten Immanuel Kant offenbar, die Logik und Mathematik, ja die Naturwissenschaften allgemein, für sicherer, gewisser und ,wahrer‘ zu halten als alle übrigen Wissenschaften. Bolzano kann sich auch darüber nur wundern: Aus seiner Theorie glaubte K.[ant] auf das Genügendste auch die Erscheinung erklären zu können, daß die vier Wissenschaften: Logik, Arithmetik, Geometrie und reine Physik, sich in einem beinahe unbestrittenen Besitze allgemein anerkannter Wahrheiten befinden (WL [§ 315.4]: 243f.)

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Von einem solchen ,Besitz‘ kann nach Bolzano keine Rede sein. Dass die Wissenschaften der Natur tatsächlich verlässlicher sind als jene des Geistes (wenn man sie überhaupt trennen wollte; Bolzano wollte das nicht), stellt er freilich nicht in Abrede. Aber dies, so er, folgt keinesfalls aus dem von Kant angenommenen Grund: also nicht, weil die Naturwissenschaften gleichsam der Wahrheit näher oder an sich gewisser wären, – sondern doch nur, weil man die Dinge der Natur leichter objektivieren und besser überprüfen; oder, wie Karl Popper später ausführt, – ,falsifizieren‘ kann als andere, menschliche Verhältnisse etwa: Die Methode allein ist es aus seiner Sicht, die objektiv ‚sichere‘ Erkenntnisfortschritte ermöglicht. Aus Bolzanos ganzheitlich-mitteleuropäischem Verständnis müssen „Wissenschaft, Philosophie, rationales Denken […] beim Alltagsverstand anfangen“ (Popper 1982: 45ff.). – Genau davon ist aber Kants Philosophie offensichtlich sehr weit entfernt. Zudem ist die (eindeutig höhere) Wertung, die Kant den Naturwissenschaften gegenüber den restlichen zukommen lässt, – wie überhaupt jede Wertung in den Wissenschaften – aus seiner Sicht unangebracht. Es ist zudem nach Bolzano keineswegs der Fall, dass die mathematischen Wissenschaften sich im vorzüglichen Besitz allgemeiner Wahrheiten befinden, wie Kant annimmt, sondern es ist nur so, dass die Resultate, die man in diesen Wissenschaften herausbringt, der menschlichen Leidenschaft gleichgültig sind, daher die Untersuchung fast immer mit aller Unbefangenheit und mit gehöriger Muße und Ruhe begonnen und zu Ende gebracht wird. Wir sind nur darum so gewiß von der Richtigkeit der Regeln [syllogistischer Modi]: Barbara, Celarent, u.s.w., weil tausenderlei Versuche in Schlüssen, die wir nach ihnen angestellt haben, sie bestätigen. (WL § 315.4: 244)

Was die Sicherheit der Mathematik betrifft, so macht sich Kant andere Vorstellungen davon: Er geht ihr nicht nach, sondern er glaubt daran. Bolzano hingegen hat nachgeschaut und weiß, dass es diese (absolute) Sicherheit seit der Unendlichkeitsdiskussion innerhalb der Mathematik nach Newton und Leibniz nicht mehr geben kann. Unabhängig davon geht er aber davon aus, dass die Mathematik – aufgrund ihrer Überprüfbarkeit – weiterhin eindeutig die sicherste Grundlage des Wissensfortschritts darstellt. Bolzano kennt und schätzt die große deutsche philosophische Tradition; Cusanus (1401–1464), Leibniz, Christian Wolff (1679–1754), Christian Thomasius (1655–1728), Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), und besonders Immanuel Kant. Er steht also durchaus in der deutschen Geistes- und Aufklärungstradition. Leibniz’ Philosophie ist für ihn am wichtigsten. – Jetzt aber ändert sich diese deutsche Philosophietradition; mit und besonders nach Immanuel Kant weicht sie ab von dem Weg, der bisher durch die Anwendung

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von Logik und Mathematik bestimmt und vorgegeben war. Nur wenige, Lichtenberg etwa, waren diesen Weg unbeirrt weitergegangen. Bernard Bolzano geht jetzt den Weg der früheren deutschen Tradition weiter, den diese im Begriff ist zu verlassen. Er ist in dem Jahr geboren worden, als Kants Critik der reinen Vernunft erscheint. Kant stirbt in dem Jahr, als Bolzano sein Lehramt antritt: Kant hat mit seinem mächtigen Gesamtwerk der europäischen Philosophie bereits den Weg gewiesen, als Bolzano zu denken beginnt. Bolzano studiert Kants Schriften gewissenhaft und es wird dabei für ihn immer fraglicher, ob er diesen Weg weiterverfolgen kann. Von der uninspirierten, eingeschlafenen österreichischen Universitätsphilosophie hat sich Bolzano bereits früh gelöst. Die ehrwürdige deutsche Tradition hat mit Kant und besonders mit seinen Nachfolgern den einzig möglichen Weg der Wahrheit aus seiner Sicht aufgegeben. Kant war vor der ‚Unendlichkeitsgrenze‘ stehengeblieben. Als schöpferischer Geist musste Bolzano sich jetzt von der deutschen philosophischen Schule lösen, wie sie jetzt durch Kants Nachfolger bestimmt wurde: In der Zeit der nahezu unbegrenzten Wirkungskraft des Kantschen Philosophierens wird der Unterschied zwischen der österreichischen und der deutschen Bildungstradition jetzt signifikant: Bolzano setzt sich eindeutig vom deutschen Idealismus, der nun herrschenden deutschen Philosophietradition, ab – und die ‚österreichische Philosophie‘ entsteht. Die inhaltlichen Gewichtungen Bolzanos erinnern an jene der böhmischen Frühaufklärung zu Zeiten des Jan Hus: Auf der böhmisch-österreichischen Seite steht nach wie vor der Nominalismus und auf der deutschen Seite der Universalienrealismus. Bolzanos Begriffsklärungen im Bereich der Grundlagen der Logik und Mathematik sind mit der Ockham-Buridanschen Position ähnlich verwandt wie der deutsche Idealismus mit dem metaphysischen Realismus von Begriffen im platonischen Verständnis. Bolzano verlangt eine Bodenhaftung, die notwendigerweise von ungeheurer Abstraktheit ist, denn dort, wo es um Grenzen und Grenzwerte geht, muss sein konkreter, scholastisch-analytisch spekulativer Zugang zu Philosophie und Religion sehr abgehoben wirken: Er konstruiert eine Funktion, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist. Dieser später so genannte ,Satz von Bolzano-Weierstraß‘ besagt, dass jede beschränkte Folge komplexer Zahlen mit unendlich vielen Gliedern (mindestens) einen Häufungspunkt hat und jede beschränkte Folge reeller Zahlen einen größten und einen kleinsten Häufungspunkt (Bolzano 1817, bzw. in der Funktionenlehre [BGA IIA 10/1: 47f.]). David Foster Wallace meint in seiner kompakten Geschichte der Unendlichkeit über den Satz von Bolzano-Weierstraß:

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Es gibt einen Grund, weshalb all das so grässlich abstrakt aussieht: Es ist grässlich abstrakt. Genau diese Abstraktheit macht Weierstraß’ Theorie jedoch zur saubersten und klarsten Theorie der Stetigkeit/des Grenzwerts, die irgendjemand vorgelegt hat. Nichts von der Unschärfe natürlicher Sprache; die Def. verwendet nichts als reelle Zahlen und einfache Operatoren wie *“–“ und „