Berlin bei Gas und Sonnenlicht. Skizzen und Humoresken

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Inhaltsverzeichnis am Schluss des Bandes.

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Berlin.

Verlag von Reinhold Schlingmann.

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13 JAN 03

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Ein Blick in's

Orpheum.

Harmloser Kleinstädter ! Wie ruhig und zufrieden fühlſt Du Dich daheim , wo des Abends die Dunkelheit Deiner schlecht gepflasterten und hühneraugenfeindlichen Straßen Dich von Bierſünden und Kneiplastern abhält, wo die Nothwendigkeit Dir ihre milde Hand auf die Schulter drückt und freundlich-bitter lächelnd sagt : Bleib zu Hause, altes Haus ! Neun Uhr hat's geschlagen und Du findest Niemanden mehr im Rathskeller ! Ja, wolltest Du selbst einſam beim Trunke dort über das menschliche Leben nachdenken, wer weiß , ob Du hinkommst ; denn der Nachtwächter kann Dir begegnen ohne daß Du ihn siehst ; Du kannst über die Kette fallen, an der er seinen Hund leitet, Du siehst sie ja nicht, und der Hund könnte ob dieser unerwarteten Würge-Probe bei seiner Maulkorbfreiheit Dich beißen , denn er erkennet Dich ja auch nicht bei der kohlpechrabenschwarzen dunkelsten Dunkelheit ; oder Du könntest, grade bei Deinem ergreifendsten Gedanken über das Auf und Ab des menschlichen Daseins Dir eine aufgelaufene Stirn an des Nachbars Leiterwagen holen, welcher im Schuße der Nacht mitten 1 III.

2 auf der Straße steht , und das könnte doch übel ablaufen , wenn Du so nach Hause kommst ! Und so bleibst Du zu Hause. Du plauderst des Tages, was Du zu plaudern hast, trinkst schon Morgens Dein Bier und ſehest diese Arbeit während des Tages nach Belieben fort , wie es Dir gefällt , aber des Abends bist Du zu Haus , und sowie die alte Wanduhr mit dem Kukuk halb zehn ſchlägt , ziehſt Du die Zipfelmüße über die Ohren, um zu schlafen , bis der erste Hahnenkräh Dich weckt und aus dem Bette jagt. Wie ruhig kannst Du des Nachts träumen ! Kein Lärmen stört Dich, kein Wagen raſſelt durch die Straßen, von zehn Uhr an herrscht Grabesstille bis zum frühen Morgen ! So glücklich , bescheiden und genügsam sind die Großstädter nicht , am wenigsten aber die Berliner. Ist des Tages Arbeit vollendet, ist es zehn Uhr geworden , so sind die Straßen noch grade so viel erleuchtet, um in trüber Winternacht Jeden erkennen zu können, den der jugendliche Uebermuth noch nicht schlafen läßt und deßwegen nächtliche Zerstreuungen sucht. Lassen wir dort das auseinander gehende Kränzchen sich auf der Rinnsteinbrücke „ Gute Nacht" sagen , lassen wir den Fähnrich dort bei seiner Patrouille ungestört vorbei, laſſen wir selbst den alten Herrn dort unbeachtet, der mit seiner Frau gezankt , um als der „ Vernünftige" außer dem Hause Ruhe zu suchen, und der jezt in Unruhe heimkehrt aber zu Bett ? Das fehlte noch ! In der Residenz ? Ich frage mich soeben , ruft der Berliner , was soll man mit dem angebrochenen Nachmittage beginnen ? Fast an jeder Ecke erzählen die Anschlagsäulen auf bunten Zetteln mit großen Buchstaben , was Alles der sterblichen Hülle

3 der geplagten Menschenseele für Annehmlichkeiten geboten werden . Eins der sechs oder sieben Theater zu besuchen, ist schon zu spät, aber da steht Bal mabille, Bal des aimables rouges, Kaffekränzchen, Cirque gymnastique und Ringkampf von sechs jungen - - Damen" und tausend lockende Anpreisungen erläutern die in allen Vergnügungslokalen Jedem für einen mäßigen Preis sich bietenden Schau- und Sinngenüsse. Wohin nun? Vorwärts zum Orpheum ! Aber, bester Freund, es ist ja erst zehn Uhr ! — Ist also wohl schon geschlossen ? Dieses weniger , lieber Mann , es ist vielmehr noch zu früh, dorthin zu gehen. Wir haben daher noch Zeit zu Abend zu eſſen, und wo können wir das beſſer finden , als bei Moſolf? Schön ! Der tiefliegende Garten , in dem fast kein Stuhl frei ist , in dem es schwirrt wie im Bienenkorbe erschreckt Sie wohl ? Geduld, lieber Mann ! Da kommt schon der Wirth , er bringt ſelbſt einen Tisch, hier sind zwei Stühle, da ſizen wir ! Kellner ! zwei scharf, eins ohne und eins mit! Was das heißen soll ? Höchſt einfach, versteht hier Jeder , die unnüßen Worte sind weggelassen : Beefsteak versteht sich von selbst. Also zwei Beefsteaks scharf, heißt scharf gebraten , auch sehr deutlich , und mit und ohne ist wohl genug gesagt , wenn ich die Zwiebeln meine. Ja , bester Kleinstädter , in Berlin kannst Du Hochdeutsch lernen , und zwar in stenographischer Aussprache. Jezt aber ist es Zeit ; elf hat's geschlagen, nun fort in's Orpheum. Eine lange Reihe Droschken hält vor der Thür mit ihren blauen irrlichtartigen Laternen , der Flur ist prächtig erhellt , der Portier mit seinen mächtigen silbernen Treffen weicht ehrerbietig zurück, und im zierlich geformten , einem Glasschranke ähnlichen 1*

großen Verschlage fißt der Cassirer auf bequemen Lehnstuhl , um der Börse der Wißbegierigen die erste Erleichterung zu verschaffen . Nimm ein Billet , oder nimm hundert , seine Miene bleibt stets dieselbe höfliche. Eine Glasthür öffnet sich , die Billets werden abgegeben , der Garderobier erwartet mit offenen Armen die Spazierstöcke - denn die müssen draußen bleiben nimmt aber auch ebenso gern die Paletots u. s. w. Ein mächtiger Spiegel gestattet noch einen Blick, ob Haare und Cravatte in bester Ordnung, und cine Tafel sagt daneben : Damen dürfen nur in Balltoilette erscheinen ! So so ! Armer Kleinstädter ! Er fühlt die Wucht dieser wenigen Zeilen, denn ein demüthiger Blick auf seine Stiefeln zeigt ihm , daß sie auch nicht im geringsten zur Balltoilette paſſen , und die Wichse ihnen - schon seit Mittag Valet gesagt hat. Doch ihm wird Rettung ! Ein rettender Engel erscheint in Gestalt eines Stiefelwichsers ; ohne ein Wort zu sagen - er hat schon erkannt , daß sein fragender Blick von der Seele bejaht ist -- senkt er sich auf die Knie -- eins, zwei, drei - die Stiefel strahlen in wahrhaft überirdischem Glanze ! O , Christian daheim in Treuenbriezen ! warum kannst Du nicht so wichsen, der Du alle Morgen eine halbe Stunde für das Paar Stiefel ge= brauchst , und dabei die Bürste so oft fallen läßt , daß der Herr aus dem Bette muß, um dem Lärmen zu entfliehen .

Alle diese schönen und lehrreichen Betrachtungen macht Pisicke, um das Angenehme eines Aufenthaltes in Berlin mit dem Nüßlichen ― der schweigenden Belohnung zu vereinen. Er ahnt nicht , daß man ihm den Stock aus Menschenfreundlichkeit abge= nommen , (damit er bei etwaiger Prügelei nicht in Berührung mit den Strafgeseßen komme) und daß der Cassirer, der Portier

5 und der Thürsteher nicht zufällig oder zum Staat aus der Potsdamer Leibgarde ausgewählt scheinen. Wenn diese Riesengestalten ihre Arme ausstrecken , so beflügeln sie mit Gedankenschnelle das Kind der Erde, welches den heiligen Frieden des Ballſaales durch meklenburgische Gelüſte gestört -— und es sieht sich plößlich draußen bei den Droschken an die Luft gesezt" , und hat Zeit nachzugrübeln, weßhalb das humoristische Schicksal dicht an das Orpheum eine christliche Herberge für innere Mission und die Staatsschuldentilgungskaffe gegenüber davon hingesezt hat ! Pisicke hört nicht , wie der Portier dem Wichsier zuflüstert : „Hast Du endlich einen Dummen gefunden ? Sie werden jezt rar !" Seine Augen und Ohren sind gegen eine Hebe aufgesperrt, die mit dem süßesten Lächeln ihm zuflüstert : „Auch ungewichst würden Sie Staat machen, lieber Potsdamer ! „Die Dame verkennt mich ! " raunt Pißicke seinem Freunde zu. „Sie hat Dich nicht verkannt , Stadtverordneter aus Treuenbriezen, man nennt hier jeden liebenswürdigen Cavalier einen Potsdamer," erwidert der Berliner, der nicht Luft hat, die heitere Stimmung seines Freundes getrübt zu sehen. Pisicke ist mit seiner Toilette fertig ; der Mondschein ist wenig ftens am Vorderhaupte nicht mehr bemerkbar , Stiefel und Haare find glänzend aufgewichst , ein Betreßter öffnet die Flügelthüren zum Saale — Wanderer , steh' und staune! Reich vergoldete, mit Arabesken verzierte Pilaster strahlen all die hunderte von Gasflammen wieder, die ein riesiger , prächtig geformter Kronleuchter emporstreckt. Die ganze Decke besteht aus Spiegeln , die nur durch schönlinie, breite Goldleisten unterbrochen werden . Im Fond

des Saales führen Stufen hinauf zwischen vergoldeten Säulen in einen Nebensaal. Hat schon der Hauptsaal durch majestätische, prächtige Formen das Auge gefeſſelt, haben seine Canapés an der Hauptwand zum Beſchauen , und immer wieder zum Beſchauen eingeladen , so macht dieser Raum einen ganz anderen Eindruck ; er erinnert an die Träume des Morgenlandes, zu denen das leiſe Plätschern der Fontänen sich gesellt , umgeben von prächtigen tropischen Pflanzen , an denen die Wassertropfen wie Diamanten glänzen in dem milden Lichte der mattgeschliffenen Gaslampen. Laubenartige Nischen umgeben die herrliche Fontäne, in deren Mitte eine reizende Gruppe Waffer und Licht ausströmen läßt. Eine Treppe führt zu den fürstlich drapirten Logen , deren schwere seidene Vorhänge sie fast ganz von dem Saale abschließen ; eine andere führt zum Garten , und es ist kaum begreiflich , wie auf einem so winzig kleinen Raume eine solche Pracht zu entfalten möglich gewesen. Hier streckt ein Cocosbaum ſeine mächtige Krone empor , die Nüsse sind durch ähnlich geformte Lampions gebildet ; dort steht mitten unter Laubgewinden die Statue eines reizenden Knaben , der ein Schild mit mächtiger Gaspyramide emporhält ; zu seinen Füßen wiegen sich Farrenkräuter in dem über sie ausgegossenen milden Lichte, Blumen von Glas senden Wasser- oder Feuerstrahlen empor, und die Ranken des üppig wachsenden wilden Weines schmiegen sich um Pfeiler und Gelände, bilden Laubgänge und Bosquets . Doch nun zurück zum Saal , in welchem soeben die Musik beginnt. Der Fähnrich in Civilkleidern und der Commis vollenden hier die Ausbildung in der edlen Tanzkunst, deren Anfänge Auch ein Viehhändler läßt fie im Kränzchen ehrbar studirt.

- 7-keuchend sich von einer Sirene herumdrehen , die ihr geschminktes Nichts anmuthig an seine Geldkaße drückt. Einige Damen , die keinen Cavalier gefunden , trösten sich mit einander und schweben tanzend durch den Saal. Hier wiegt sich eine hochfrifirte Schöne wie eine Tulpe auf ihrer Crinoline, und wirft Blicke auf die verlebten Gestalten einiger Wollüſtlinge , die ihre sterbende Flamme an solchem Feuer nähren. Die Priesterin der wegelagernden Venus bettelt um Liebe , und „ wo nicht“ , doch um eine Cigarre. Die alte Garde" der erfahrenen Schönen hat sich dort mit einigen berüchtigten Spielern in einer Nische etablirt , die Lockvögel sind ausgesandt , um Potsdamer zu greifen. Aber mitten unter dem geschmückten Laster und der faden Blaſirtheit tauchen auch Bilder auf , die ansprechen können. Der frische Jüngling dort mit den duftenden Locken hat den Preis der Rosinen und das Gewicht der schwarzen Seife in diesem Moment vergessen, er tändelt liebkoſend mit jenem hübschen Kinde und träumt von erster Liebe. Er giebt ihr eine Blume, die er dem Straußmädel abgekauft. „Wirst Du sie bewahren ?" fragt er. „Ich werde sie auf dem Herzen tragen !" ,,Wie sentimental, Veilchenguste !" lacht eine hinzutretende Schöne und bläst ein Rauchwölkchen in die Luft. Veilchenguste wendet sich ab , sie weiß , daß eine schnippische Antwort die Schwefelholz-Marie zur Verrätherin ihrer Geheimnisse mit dem langen Referendarius machen würde. Dort läßt ein Geheimraths-Sohn die Pension seines Vaters lustig draufgehen. Er liebt, er glüht, und Gluth und Liebe strahlen ihm entgegen , der göttliche Leichtsinn der Jugend füllt die Gläser. Das ist noch ein Leben , welches überschäumt wohl

8 ihm, wenn es bald ausgetobt und dann sein ruhiges Geleiſe ſucht ; besser und edler ist es dann als das jenes welken Greiſes von zwanzig Jahren, der der heimlichen Sünde ein schreckliches Opfer geworden ! Beffer ist es noch , als das Leben jenes Menschen, den sie Arthur nennen ; er ist der bezahlte Hausknecht jener Dirne in schwerseidener Robe. Aber dort was soll jenes schüchterne, verschämte Mädchen hier unter der geſchminkten erborgten Pracht ? Wie kam sie mit dem einfachen Cattunkleide in den Saal? - D ― wir möchten der Tafel draußen mit den Worten : „ Nur Damen in Balltoilette dürfen erscheinen !" die bitterste Erklärung geben : es dürfen nur Damen herein, die nicht so fittsam und schüchtern blicken, wie Du, deren Wangen nicht rein sind wie Deine, die sich prunkhaft kleiden könnnen , weil sie gesunken, und sich prunkhaft kleiden müſſen, weil sie nicht haben , was Dich ziert , Du Reine! - Aber wie kamst Du hierher? - Du wolltest einmal die Pracht selbst anschauen, von der die Freundin geplaudert. Du bist heimlich aus dem Hauſe der Eltern fortgeschlichen und der Verführerin gefolgt, die — doch nur Deine Unschuld beneidete , wie Du sie , um ihres seidenen Kleides willen ! Jezt bebſt Du und hältst Dich ſcheu in der Ecke, und wünſchest , Du wärest in Deinem Kämmerlein ! Du bist erschrocken zurückgebebt vor den frechen Blicken der Lüftlinge , vor dem süßlichen Wohlwollen des Graukopfes höre nicht, was er spricht , für Dich war die Tafel da draußen an der Thür ! Nicht wir allein rufen es Dir zu, auch dort sagt es Dir der Blick jener bleichen Dirne in schwerer Seide. Ihr Auge betrachtet Dich und ihr Herz denkt mit schmerzlicher Wehmuth an den Tag zurück, wo sie hierherkam wie Du -- und nicht rein von dannen ging –

9 Hier trank sie das erste süße verzehrende Gift der Luſt und jeßt neulich ging sie über die Brücke und schaute in's Wasser. Es zog fie hinab. Da kam ein Schußmann und nahm sie mit zur Wache - weiß es Gott, wie es endet ! Fliehe Du Mädchen, hier darfst Du nur in der Toilette des Orpheums erscheinen, hier mußt Du weglachen können die Thränen der einsamen Stunden, wie Jene dort, der ein Mann das Herz gebrochen und die jezt einem Andern den Champagner credenzt. Mädchen der Freude dürfen nicht weinen, sonst werden fie langweilig , selbst dem , der sie um ihr Herz betrogen. Sie müssen sogar lachen , während sie hungern, liebkosen, wo sie zurückweichen möchten. Fort, Du Mädchen , Du verdirbst hier die erkünftelte Freude ! Es macht das Herz schwer, Dich sehen und die Anderen ; man möchte weinen über die welken Blüthen, die gebrochenen Herzen , die tanzende Sünde , das mit Champagner betäubte Schluchzen, Dein schlichtes Cattunkleid macht erschrecken wie eine Mahnung aus anderen Sphären - Du reines Mädchen! geh nach Haus! Ja, Pracht und Elend ! „Pisicke“ , ruft der Berliner, „ ich sehe Dich dort stehen an jener riesigen Blumenvase, und staunen ob all des Glanzes, all der Pracht. Du glaubst Dich in einen der Zauberpaläste der Märchen von tausend und eine Nacht verseßt, Du kannst den Gedanken nicht faſſen, daß dieſe Damen in ihrem fürftlichen Staate eben nur Priesterinnen der Venus find ! Siehst Du dort die beiden Mädchen , die eine mit den vollen blonden Flechten und dem blauen Seidenkleide , die andere im rosa Moirée-Gewande, in der Hand den reizenden Strauß ? Komm , tritt näher , und höre ihre Unterhaltung :

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„ Dein Kleid gefällt mir, Eläre, was soll'n das kosten ?" Achtzig Thaler soll ich geben, ist das nicht billig ?" „Sehr billig, Deine Wirthin ist wohl gut ?" „O ja! bei die habe ich's ja „ ausgenommen“ !“ „So ! hast Du schon was abbezahlt ?" „Nee, aber weißt Du, mit die Miethe is ſie theuer ; ich gebe zwei Thaler den Tag , und kriege dafür nich' mal Abendbrod. Nu denk Dir, seit Mittag noch nichts gegeſſen und keinen Dreier hab ich mehr; es ist bald zwei Uhr , mich hungert fürchterlich ; borge mir " acht Gute “, Du kriegst sie morgen wieder !" „ Na das ist nett, ich wollte Dich eben anpumpen, mir geht's ebenso!" Kleider für achtzig Thaler und einen knurrenden Magen ! Morgen zwei Thaler Miethe zahlen , ohne einen Pfennig in der Tasche ! Und findet sich heute kein Begleiter, so muß sie mit dünnen Schuhen und leichtem Mantel durch Wind und Wetter vielleicht eine Stunde gehen, ehe sie ihre Wohnung erreicht. Der Champagner ist verraucht und die Glieder zittern vor Frost bei dem erwachenden Morgen!

Luft und Leid in Moabit.

Moabit, das einstige Dörfchen , zu dem der Berliner mit Frau und Kind an heißen Sommer : Nachmittagen durch den ächten märkischen Sand watete , um den Durst im Glaſe Weißbier zu ertränken , um sich in der Abendkühle auf eine möbelwagenartige Gondel zu sehen und bei den Klängen des Leierkaſtens , bei den lieblichen Wolken der pfälzer Cigarre, auf den ſo zahmen Fluthen Moabit , es ist ein der Spree zu schwärmen und zu träumen . ein Theil Berlins geworden : Und wahrhaftig ein merkwürdiger Theil: Hohe Effen senden Tag und Nacht ihren Rauch zum Himmel , der Eisenhammer lärmt und pocht unermüdet , kräftige Mannsgestalten , russig und schwarz , arbeiten im Schweiße ihres Angesichts für ihr mühevolles Dasein , Frauen und Kinder ſizen an den langen Arbeitstischen in den Fabrikſälen, ſtill und verlaſſen liegt draußen Moabit, und nur am frühen Morgen , des Mittags und des Abends strömen die Fleißigen zu und von der Arbeit. Hat aber auch Berlin Feierabend gemacht , dann kommen die Omnibusse gefüllt aus allen Theilen der Stadt , und Fußgänger

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drängen und stoßen sich auf den staubigen Wegen . Kneipe liegt neben Kneipe , überall Musik, Tanz und Kaffeekränzchen. Das fleißige Moabit , es beherbergt des Nachts den ganzen Leichtsinn der großen Stadt, es ist die Schule der Leidenschaften und Laster ! An dem Zellengefängniß ziehen die Schaaren vorbei , doch was kümmert sie das ? Es ist ja still wie das Grab mit seinen Mauren und Thürmen, und wohl Niemandem unter den Vorübergehenden fällt es ein , im Geist sich in das Innere zu verſeßen , zu ſehen die blaffen , zum wahnsinnig machenden Schweigen verurtheilten Gestalten ; wie hier das Auge gläsern auf die kahlen Wände ftiert und keinen Anhalt findet, wie dort ein Mädchen verzweifelt weint und ächzt auf ihrem harten Lager in dunkler Zelle, wie die Qualen des Innern sie nicht auf die schreckliche Einsamkeit achten laſſen , und wie jener ergraute Sünder ſtumpf brütend ſißt und an die kommenden Tage denkt, wo er wieder frei ist, von Neuem den Kampf auf Tod und Leben mit der ganzen Menschheit beginnen kann , die ihn verstoßen hat , verstoßen auf immer für das erste Verbrechen , zu dem die Verführung Anderer ihn geleitet hat. Alle ziehen luftig und ausgelassen vorbei, die Stille des Grabes der Lebendigen stört sie nicht, ste hören nur von ferne die Töne der wilden Tanzmusik , das Schreien der Ausgelaſſenen ; nur vorwärts , damit sie nicht zu spät kommen , damit auch nicht eine Minute verloren geht vom wilden, wüsten Vergnügen. Das idyllische Glas Weißbier, der dazugehörige Philister mit der langen Pfeife und seinen festgerittenen Ansichten , von denen ihnen kein Gott befreien konnte , Alles ist dahin ! Der brave Handwerksmeister , der sich von des Tages Last erholen wollte, er

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bleibt jezt fort aus der Kneipe , wo nicht mehr , wie früher , der Kanarienvogel des Wirthes über dem Schanktisch, troß der Gäste, ſchlafen kann , wo jezt die Seidel klirren und gejucht wird , wo der halbwachsene Lehrling stolz den ersten Qualmstudien obliegt. Heranblühende Materialisten bis hinauf zum Lagerdiener, ja zum Commis mit reizend grellfarbiger Kravatte und dem unvermeidlichen Siegelring ohne Namenszug auf den zinnoberrothen, riesig ausgebildeten Händen , die Haare bis in den Nacken gescheitelt, fie fliegen wie Schmetterlinge von Blume zu Blume und wenden all ihre geistigen Schäße an , um durch gute Wiße die Herren von zweierlei Tuch, wie hier das stark vertretene Militär genannt wird , zu verdrängen. Doch - blanke Knöpfe am Rock haben, und in Moabit nicht geliebt werden , gehört zu den Unmöglichkeiten. Und diese von Moſchus oder Bergamott - Oel umdufteten Blumen ? Ein großer Theil davon sind Nätherinnen oder Arbeiterinnen aus älteren und neueren Decennien , die des Tages ehrlich und mühselig ihr Brod verdient und wenigstens einmal in der Woche sich diese Erholung gönnen , und die am Arm ihres Angebeteten, den sie heirathen wollen - er will gewöhnlich nicht, oder ist noch nicht mit sich selbst klar, behandelt auch dieses Thema meistens nur als vertrauenerweckende, kußerzeugende Unterhaltung fich glücklich fühlen , und froh beim Glase Bier , beim wilden Tanze sich über die rauhe Wirklichkeit auf einige Stunden wegſeßen. Ein anderer Theil der Damen und es zeugt davon, daß hier das Laſter nicht festen Fuß gefaßt , es ist nur ein ganz geringer - gehört der gesunkensten Klasse an. Doch fie fühlen fich hier nicht wohl, find keine Stammgäste ; der ungebohnte Fußboden sagt ihnen nicht zu , die Herrenwelt kann und will nicht ſo

14 tief in die Tasche greifen , wie sie es wünschen , und das hier in so tausendfältigen Variationen mit klopfendem Herzen besprochene Thema von Heirath , Ehe und glücklicher Zukunft , es ist ihnen fader Unsinn. Was soll ihnen die Ehe ? Sie, die den Becher der Lust nur noch um zu vegetiren an die Lippen ſeßen, die ihn schon hundertmal geleert, was soll ihnen der Gedanke der Zukunft, was kann er auders, als ihnen wie ein drohendes Gespenst erscheinen, das die seidenen Lappen , die jeßt ihre Formen umrauschen , vom Leibe reißt, das ihnen den Spiegel zeigt , worin ste sehen , wie jede wüste Nacht in Falten sich auf Stirn und Wangen eingräbt, wie das Auge trübe aus den Höhlen lugt, wie die ekle Schminke das Gelb nicht mehr verdecken kann , wie nach kurzer Spanne Zeit sie abtreten müſſen von der wilden , wollüftigen , verschwenderischen Bühne ihres Lebens , um das seidene Kleid mit dem Bettelkittel zu vertauſchen , statt des Sammtmantels die Riemen der Torfkiepe um die Schultern zu legen ! Für solche ist kein Boden hier , wohl kommen von den Tausenden heute die und morgen die, aber selten kommt dieselbe wieder. Doch die Hauptarmee , das sind die Köchinnen und Dienstmädchen; sie führen hier das Wort, fte geben den Ton an, ihnen beugen sich Boruſftas Krieger , also die Auserwählten der ganzen wilden Menge. Doch weßhalb ? Sind sie grade die Schönsten, fühlen sie sich magnetisch hingezogen zu den blanken Knöpfen ? Haben sie allein nur fühlende Herzen ? Nicht doch ! sind sie auch im Vollbesig aller dieser Tugenden , die Sache hat einen tieferen Grund. ― Lustig kraßen die Fideln , der Baß brummt ſeine drei Töne, jeden viermal hintereinander, nur beim Schluß brummt er Fortiſſime ;

- 15 ― Fenster und Thüren des großen Saales ſtehen offen , doch die Luft bleibt dick und heiß, die vielen Gasflammen am Kronleuchter sorgen dafür, der Tabacksqualm thut das Seinige , aber der Zugwind schadet den Tanzenden nicht, ſie ſind daran gewöhnt. „Jeßt einen langsamen Walzer !" ruft ein Dragoner , dem der Schweiß in Strömen von der Stirne träufelt. " Aber recht langsam." „Den tanz' ich nicht" sagt seine ebenfalls glühende Dame. „Ach was !" ruft höflich ihr Adonis , „ man druf! “ Die Musik beginnt , und er drückt sie an sein liebetrunkenes Herz so fest, so innig , daß schon dem Zuschauer vom bloßen Zusehen der Athem vergehen könnte. Ihr im herrlichsten Carmin strahlendes Gesicht blickt etwas ängstlich, aber es schadet nichts, denkt sie , er liebt mich wirklich recht sehr ! Ihre Wonne geht so weit, daß , als der Tanz vorbei und der würdevolle Maitre in weißer Binde, der bei Tage mit Scheere und Nadel, des Abends mit dem Chapeau claque handtirt , den üblichen Tanzgroschen mit der höflichen Rede „ Nanu 'ran !" erbittet , sie sich bewogen fühlt, den Tribut selbst zu zahlen und ihrem Kavalier mit verschämten Lächeln zuzulispeln : „Lassen Sie man , ich zahle. Wollen Sie eine Knoblauchswurst ?" "„Ja wohl" erwidert er ohne die geringste innere Erregung des Staunens, „aber nicht ohne einen Kümmel mit Luft." „Gut , dann trink ich einen Seidel! " sagt sie beistimmend. Und ich trinke mit ! " erwidert er resignirt. Da liegt die Ursache , weßhalb hier die Köchinnen regieren ; fie bezahlen immer, aber nur für Soldaten. Denn erstens tragen

- 16 dieſe blanke Knöpfe , zweitens find fie so groß und hübſch ge= wachsen , und endlich sagt ihnen eine innere Stimme , einen Soldaten heirathen , ist nicht unmöglich. Bildungsunterschiede eristiren nicht , und der Soldat kann Unteroffizier werden , sogar Feldwebel , und welchen schöneren , köstlicheren Himmel kann sich eine Köchin denken, als am Arme des blißblanken Soldaten Frau Feldwebel genannt und von dem Gemeinen gegrüßt zu werden ? Deßhalb ihm , dem Auserwählten , ihre ganze Liebe , und worin kann sich dieselbe schöner zeigen , als im „ Futtern ?" Der Soldat ift gesund , das Traktament klein , er hat immer Hunger , noch öfter wie immer, Durst, ihm muß geholfen werden. Und sie thut es mit unglaublicher Uneigennüßigkeit ! Alle Schwänzelgroſchen des Marktes werden ihm geopfert , und es giebt keine Maus, keine Ratte im Hause ihrer Herrschaft , die sie nicht rücksichtslos der wahnsinnigsten Naſchsucht beschuldigt , um ihren „Bräutigam “, wie sie ihn schon nennt, bevor sie noch seinen Namen weiß, heimliche Bratenstücke , Schinkenstullen , Schmalz u . dgl. unter zärtlichen Küssen des Abends im Dunkel des Hausflurs zu überreichen. Und er? Er liebt ! Stockt ja der Fluß seiner Rede, so beißt er gerührt in's Butterbrod , ſie versteht ihn ! Und iſt ſein Herz eins von den allerbesten , so schenkt er ihr — man denke , ein Soldat schenkt! - zu ihrem Geburtstag einen Rahmen mit Glas, und darunter ein weißes Blatt mit einem von Rosen , Tauben und Vergißmeinnicht umrankten schönen gedruckten Vers , der holprig genug ist. Ihre Rührung kennt keine Grenzen ! Ver schiedene Paare selbstgestrickter Strümpfe sollen ihn zu Weihnachten belohnen , wenn sie ihn noch hat , und er sie! Denn es kommt nicht selten vor, daß er fle , einer besseren Pfründe zur

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Liebe, treulos verläßt , und ſie aus Rache sich einen Andern von demselben Regiment erwählt. Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie ewig neu ! aber das Herz dabei entzwei brechen, wie Heine ſingt, kommt weder bei ihm noch bei ihr vor. Das macht die Uebung! Doch jezt hat sie ihn noch. Beide freuen sich ihres Daseins, er ißt und trinkt im Schweiße seines Angesichts , und sie läßt sich dabei seine Erlebnisse aus dem leßten Kriege erzählen. Es ist merkwürdig, wie so ein Norddeutscher erzählt. Bramarbaſiren ist ihm fremd, das Wort Heldenthaten kennt er nicht. Er weiß nur daß er so und so viel Wochen kein Bett gesehen , und daß er mit leeren Magen und todtmüden Beinen bei Königsgräß immer vorwärts gegangen , wie ihm ganz schlimm geworden beim Stöhnen der Verwundeten, wie eine Bombe dicht bei ihm krepirt iſt , aber etwas Besonderes ſeinerseits darin zu finden , von seinem Muth zu sprechen oder daran zu denken , das fällt ihm nicht ein. Er erzählt das Alles , weil sie es gern hört ; doch seine Gedanken weilen beim Eſſen und Trinken der Gegenwart , beim heutigen lustigen Abend. „Aber Marie! " sagt ein blasses schmächtiges Mädchen ängstlich zu seiner Angebeteten , es ist gleich zehn Uhr , komm doch nach Haus !" "Jezt schon ? Bewahre ! Jezt geht's ja erst ordentlich an! Dazu hab ich Dich nicht mitgenommen. Du weißt, ich habe den Hausschlüſſel , und Deine Herrschaft merkt garnicht , wenn wir kommen." „Aber Fräulein , " ſagt ein geſtriegelter Ladendiener zu der III. 2

18 Kleinen , deren zartes Gesicht noch immer die größte Angst ver räth. " Sie wollen doch noch nicht fort ? Kommen Sie, eine Polka wird gespielt, ich bringe Sie sicher nach Hause. Aber erst trinken !" Und er reicht ihr das Glas mit Grog ; sie ist schon erregt, mehr wie je ; sie will die Angst vergessen, fie trinkt, und läßt sich geduldig zum Tanze führen. „Wer ist die ? " fragt der Soldat. „ Die dient bei Geheimraths unter uns ; ste ist erst nach Berlin gekommen , d'rum ist sie so linkiſch ; na, das wird sich schon finden ; ihr Vater ist Cantor auf einem Dorfe und hat sieben Kinder, darum dient fie. Ich habe sie mitgenommen ; der Commis von der nächsten Ecke bei uns hat mich darum gebeten, er liebt fie." „Nun wollen wir ein bischen in den Garten gehen , " sagt der Dragoner, der halb gehört und ganz gegessen hat. Der Garten nimmt sie auf mit seinen vielen Lampions , die die Nacht zum Tag machen , und doch giebt es manche Laube, wohin das Gas nicht seine Strahlen sendet. Endlich wird aufgebrochen ; es geht schon auf zwei Uhr, und die Cantorstochter ängstigt sich zu ſehr, obgleich ihr Köpfchen nicht mehr recht weiß, was sie sagt. Lustig, unter Singen und Lärmen geht's zur Stadt. Der Dragoner ist überlaut , die Köchin freut sich und hinterher geht die Kleine mit gesenktem Köpfchen und achtet nicht der Liebesversicherungen ihres Begleiters . Man ge langt nach Haus. Heute war's schön ! jubelt die Köchin mit zärtlichem Liebesblick, sie küßt den Dragoner , und der Commis küßt die ängstliche Kleine. Ach Gott , seufzt sie , wenn die Madame merkt, daß ich jeßt erſt komme : Gute Nacht ! -

19 Ein Jahr ist seitdem verflossen. Noch einmal , lieber Leser, komm mit nach Moabit. Wieder ist es Nacht , der Mond scheint hell und beleuchtet mit seinem grellen Licht die städtiſch gebauten vierstöckigen Häuser , die " Menschenkasernen" , wie der Berliner ſagt. Wieder klingt die Musik ; Soldaten und Köchinnen und Nätherinnen und allerhand Buntes durcheinander tanzt wieder, wie damals , Gärten und Säle find wieder überfüllt , doch die Straße ist öde und leer. Da kommt eine weibliche Gestalt in dünnem fadenſcheinigen Umschlagetuch , der Mond beſcheint ihr bleiches abgehärmtes Gesicht , ihre rothen verweinten Augen ; fie geht in eins der großen Häuser. Willst Du wissen , wer sie ist ? Sie ist die Cantorstochter von damals. Die Madame hatte ihr Zuspätkommen gemerkt , sie mußte ziehen , sie war vierzehn Tage außer Dienst. Weißt Du, Leser, was das heißt, ein junges, unerfahrenes, hübsches Mädchen vierzehn Tage außer Dienst in Berlin ? Ihr Lohngeld hat sie bekommen , sie nimmt für die wenigen Tage eine Schlafstelle. Doch wie langweilig ist das Warten ! Jede Anschlagsäule nennt hundert billige Vergnügungen ; warum , denkt sie , soll ich mir die paar Tage nicht zu Nuße machen ? Da schleicht sie jezt verweint die Treppe hinauf. Warum? Wo will sie hin ? Sie ist - Amme geworden und will ihr Kind, ihr Schmerzenskind, besuchen ! Sie hat sich heimlich weggestohlen von ihrer Herrschaft ; das von ihr genährte Kind schläft ja , es ist voll und frisch und gesund, wie der Fisch im Waſſer. Sie klingelt leiſe. Endlich wird geöffnet. Ein hageres, gelbes, böseblickendes Weib, schlumpig und mit struppigen Haaren hält ihr die blakende Dellampe vor's Gesicht. 2*

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„ Sie schon wieder ?" schilt sie in schneidendem Tone , „ erft vorige Woche waren Sie hier , nun stören Sie mich noch im Schlafe?" „Bitte , bitte," jammert das Mädchen flehentlich , „ſeien Sie nicht böse, lassen Sie mich mein Kind nur sehen, bitte, bitte !" „Was daran zu sehen ist!" brummt das Weib , doch läßt sie das Mädchen eintreten. Sie gehen durch einen höchſt unſsauberen Korridor, auf welchem aufgehäufte schmußige Wäsche einen ekelerregenden Geruch verbreitet ; fie treten ein in eine dunstige einfenstrige Stube. Das Weib schiebt den Docht ihrer Küchenlampe mit einer Haarnadel höher , das röthliche Licht erhellt die Stube. Da steht ein Bett. Ein Kerl liegt darin , der Mann des Weibes . Sein aufgedunsenes Gesicht, seine rothe Naſe, ſein mühsames Schnarchen beweisen zur Genüge , daß er schnapstrunken in's Bett getaumelt. Daneben ein anderes Lager , das ist für das Weib. Und den übrigen engen Raum nehmen sieben Waschkörbe ein. Und darin Darin sind sieben Kinder , denen die menschliche Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts keine ehrliche Mutter , keine Heimath geben will , die durch den Fehltritt der Mutter verdammt sind , elend dahin zu fiechen, welchen der Staat als einzige Zuflucht die "Engelmütter" - wie der Sarkasmus der Berliner solche Pflege= rinnen nennt, die die Kinder zu Engeln befördern - die Engelmütter gestattet , damit , wenn sie wirklich leiblich gedeihen , sie geistig ungeboren bleiben und dem Staate zur Last fallen , damit fie, wenn's gut geht, sterben, weil sie nicht den tausendsten Theil der Pflege erhalten , die jede wohlhabende Dame ihrem Schoßhunde schenkt!

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Sieben Körbe stehen in der Stube , der einfenstrigen , doch das Haus hat viele Stuben , die Straße piele Häuser. Und, Leser, geh in all die großen Häuſer dort, überall findest Du Waſchkörbe mit lebendigen Kinderleichen ; geh alle Kirchsprengel durch, schlag alle Todtenliſten nach , kein einziges des großen Berlin zeigt Dir so viel Sterbefälle unehelicher Kinder wie das zu Moabit! Weinend kniet das Mädchen am Korbe ihres Kindes. Sie will ihm die Brust geben, das Wenige, was das Kind der Reichen, was der Schmerz , die Angst ihr gelassen. Das Kind nimmt es nicht , die Speise ist zu schwer ! Wasser mit wenig Milch und Mohnsaft die Hülle und Fülle , damit es nicht schreit , das hat schon jezt seinem Magen den Garaus gemacht. „Verdammt !" schreit plöglich die Alte auf. Das Mädchen dreht sich um nach ihr ; da ſteht das Scheuſal und hat ein Bettchen in der Hand. „ Sehen Sie 'mal , die iſt todt !" Das Mädchen tritt an den Korb , da liegt eine Kindesleiche, so bleich , so abgezehrt , der große Kopf mit dünner Haut überzogen, die Augen geschlossen, tief , tief in ihren Höhlen. Entsett tritt sie zurück. „Da schlag der Teufel drein !" ruft wüthend die Alte und wirft das Bettchen zur Erde. " Grade die ! Das ist die Tochter von der Gräfin ! Sieben Thaler hat sie gezahlt , sieben Thaler " immer pünktlich ! Sie geben nur drei, konnte nun nicht Gott !" stöhnt das Mädchen. Thränenlos sinkt sie an „ den Korb ihres Kindes . Mit gedankenleeren Blicken stiert sie es an, fie küßt es und wankt hinaus. -Dort hinter dem Zellengefängniß kommt sie über eine Brücke.

22 Sie bleibt stehen , schaut mit stierem Blick in die Fluthen , über welche der Mond ſein gespenstisches Licht verbreitet - Nein! murmelt sie, du darfst nicht hinunter ; dein Kind , dein Kind ! "Guten Abend, Fräulein," sagt plößlich Jemand neben ihr. Erschreckt fährt das Mädchen auf aus ihren Gedanken , fie taumelt einen Schritt zurück. „Erschrecken brauchen Sie wirklich nicht!" fährt der Sprecher fort , dessen Erscheinung den schlichten Handwerksmann verräth , deſſen vertrauenerweckendes gutmüthiges Gesicht vom vollen Mondschein klar beleuchtet wird, „ wirklich nicht . Ich bin's ja !" „Ach Sie, Herr Wenzlau , wie kommen Sie denn hierher ? " erwidert das Mädchen , indem sie ihren Schmerz und ihre Aufregung zu verbergen sucht. „ Ja ſehen Sie,“ fährt er verlegen fort, „das iſt ſo ' ne Sache. Ich war bei Ihrer Madame , um die neuen Stiefel abzugeben, die sie bei mir beſtellt hat , und da hoffte ich Sie zu ſehen!“ Das Gefühl, doch nicht ganz einſam auf der Welt dazuſtehen, war dem Mädchen ein unerwarteter Trost ; ihr dankbarer Blick ermuthigte ihn, weiter zu reden. „Aber Sie waren nicht da , " fuhr er fort , „ und die Köchin, die kann Sie ja nicht leiden , die lachte so und sagte mir , wo Sie wären und daß die Madante Sie wegschicken würde , weil Sie heimlich weggegangen sind. Wiſſen Sie , Luiſe , das ärgerte mich , und ich wurde ſehr grob , und ich bin Ihnen nachgegangen und ich wollte Ihnen sagen und wenn ich nicht das von der Köchin gehört hätte, daß Sie fortmüßten, dann hätte ich noch garnicht den Muth dazu - und ich wollte Ihnen sagen, daß Sie doch zu meiner alten Mutter ziehen sollten mit der Kleinen , da

- 23 haben Sie's beide beſſer ; Sie haben ja auch meine selige Schwester bei ihrer lezten Krankheit so gepflegt , das vergessen wir Ihnen nie - und wenn Sie denn - wenn Sie denn - ich habe nämlich mein gutes Brod uud Mutter kann auch nicht mehr so wirthschaften - und da möchte ich wohl - wohl - das heißt, wenn Sie mich leiden können - wohl heirathen, nnd wenn Sie nun vielleicht - aber Sie sagen ja garnichts ! - nun weinen mir wird auch so anders, Sie so sehr, thun Sie's doch nicht - bitte sagen Sie ' mal " ich bin so ungeschickt , und wenn und er streckt ihr seine beiden Händen entgegen , „ kommen Sie und wohnen Sie bei Mutter , ich will ja fortziehen , wenn Sie es lieber sehen!" Luise reichte ihm weinend die Hand , richtete ihr Köpfchen in die Höhe , ihre Thränen blinkten im Mondenschein , so lieb wie der Thau der Blume, ihr Auge schaute ihn dankbar an. „Das habe ich nicht verdient," sagte sie wehmüthig ; fast verzweifelnd fügte sie hinzu „ich bin ja so schlecht !" „Sie sind nicht schlecht !" brauste er los , „Andere sind schlecht, „das weiß ich , sonst käme ich nicht , und die Mutter nähme Sie nicht zu sich!" Dabei drückte er ihre Hand ſo innig , so herzlich , als sollte der Händedruck für die ungeschickte Zunge ein gutes Wort einlegen. Kommen Sie, bitte, bitte ! " Er legte ihren Arm in den seinen , fie ließ es geschehen. Langsam und schweigend verschwanden Beide im Dunkel der langen Häuſerreihen, und der Großvater Mond schaute ihnen so klar und freundlich nach, als wollte er sagen : Kinder ! Nehmt meinen Segen mit! ―

Ein Sinfonie - Conzert.

Der Musikdirektor Carl Liebig hat das hohe Verdienst, der Erste gewesen zu sein , der die Meisterwerke der Tondichter dem Volke zugänglich gemacht hat ; mit unermüdlichem Eifer sorgte er für die vollendete Ausführung , das winzige Eintrittsgeld machte sie auch dem wenig Bemittelten zugänglich, und während das Volkstheater durch geistesleere Possen den Geschmack verdirbt , während dem nach Bildung strebenden Mittelstande durch die hochgeschraubten Preise der königlichen Bühnen , für welche die klaſſiſchen Geistesproducte leider noch Monopol find , der Eintritt dazu faſt zur Unmöglichkeit gemacht ist , hat ein schlichter Liebig für die musikalische Bildung einer ganzen Residenz seit Jahrzehnten gesorgt, führte er dem Zuhörer classische Werke vor , unterhielt ihn nicht nur an dem einen Abend : er gab seinem Geschmack eine edlere Richtung. Selbst bei einfachen Familien , deren Mittel es erlauben , auch zu Hause Musik zu treiben , wird selten Beethoven und Mozart fehlen , selten wird Jemand nicht wissen , auch ohne den Titel zu sehen , welches Meisterwerk vorgetragen wird. Und

25 das ist Liebig's Verdienst ! Hat er auch vor manchem andern bedeutenden Manne voraus , daß schon jeßt seine Leistungen volle Anerkennung finden , daß er keiner Recension , keiner Reclame bedurfte , um den Concertsaal bis auf den leßten Plaß besezt zu sehen : auch die Nachwelt wird ihm danken , was er der edlen Kunst mit seinem anspruchslosen Wesen genügt , die Nachwelt wird den von ihm gebahnten Weg weiter gehen , wird sich stets dankbar erinnern : Liebig hat uns den Weg gezeigt ! Schon dem ganzen Wesen des Mannes , der ganzen Capelle ſieht man an , wie ernst Jeder danach strebt , Vollkommenes zu geben. Liebig steht inmitten seiner Musiker und dirigirt ; seine hohe Gestalt, sein ruhig ernstes Antlig , sein gutmüthiges Auge machen ihn zur lieben Erscheinung. Die Musik beginnt ; man sieht , daß er jeden Ton schon vorher erwartet wie einen lieben alten Bekannten ; welch ein angenehmes Gefühl sich seiner bemeistert , wenn die Klänge mächtig oder leise in richtigem Maße sein Ohr berühren , und wie die Wolken leicht oder schwer über seine Stirn ziehen , wenn ein Ton nicht pünktlich eintrifft , das Piano zu stark, das Forte zu ſchwach iſt. Und ist der Schlußakkord erklungen , rauscht nach einem Augenblick der größten Stille das Beifallsgeklatsch ; sein Gesicht schaut ruhig , ernst und gutmüthig, es ist ja ein Weihrauch , der ihm fast nach allen Stücken gezollt wird. Doch - betrachten wir die Zuhörer ; wahrlich , da giebt's genug des Humoriſtiſchen ! Um sieben Uhr beginnt das Concert. Schon vor drei Uhr kommen die ersten Verehrer desselben ! Natürlicherweise nur vom zarten Geschlecht (vom schönen würde an dieser Stelle nur selten

26 paſſen) ; denn welcher Mann hätte so viel Zeit , so viel Geduld , den Anfang des Concertes vier volle Stunden zu erwarten ? Eine der älteren Verehrerinnen der Vesta nach der andern betritt den Saal, denen das gütige Schicksal kein Ehegesponst beschieden, und die steif und fest behaupten, nur aus Prinzip nicht zu heirathen. Warum kommen sie so zeitig ? Um den bestimmten Stuhl am bestimmten Tisch auf der bestimmten Stelle des Saales zu occupiren . Und warum den grade ? Ist es nur Gewohnheit, welche zu verläugnen ihnen unangenehm wäre ? Das wohl am wenigsten. Aber sämmtliche Insassen im zwei - reihigen Tisch - Umkreiſe find ihnen bekannt , ohne daß je zwischen ihnen ein Wort gewechselt ward. Unter schweren Kämpfen, unter Aufbietung des gesammten Mutterwißes sind Notizen , zufällig hingeworfene Worte , Theile der Unterhaltung aufgesammelt , sämmtliche Garderobenstücke sind im Umschwunge der Jahre durchgemustert, ja man steht sogar mit der Wirklichen Geheimen Ober- Rechnungsraths - Wittwe , deren Großvater Premierminister in Reuß- Schleiz - Kreuz - LobensteinEbersdorf- Gera gewesen , und welche ihren Thron am vierten Tisch links , zweiten Stuhl rechter Hand aufgeschlagen hat : mit dieser Koryphäe steht man auf dem Nickfuß ; dieser Dame halber ist heute, wie immer, der beste Hut troß des Regenwetters aufgeſeßt. Der Kellner kennt bereits seine Functionen. Er bringt die Tasse Kafe, und ― seine Arbeit ist für den ganzen Tag und Abend vollbracht. Er braucht sich nicht mit Geldwechseln zu quälen , das Zweigroschenstück liegt bereits auf dem Tisch; die Gewißheit, kein Trinkgeld zu bekommen , überhebt ihn aller unangenehmen Enttäuschungen , und der Einsturz des Himmels wäre eher zu erwarten , als daß seine Dienste heute noch einmal in

27 Anspruch genommen würden. Wäre der Kafe so heiß , wie das Innere der Erde, er hat vollkommen Zeit ſich abzukühlen . Beim Beginn des Concertes ist die Tasse noch beinahe voll , nur ihre Physiognomie hat sich verändert. Die Milch , gelangweilt durch die gezwungene Verbindung mit dem schwarzen Kafe , hat sich wie eine pilz und filzartige Decke der Oberfläche desselben aus. gebreitet. Doch man glaube nicht , daß die Besizerin dieses Kafe's die vier Stunden ruhiger Erwartung mit Nichtsthun zu verbringen gedenkt ! Die Garderobe wird langsam abgelegt, und, sollte man jemals gestaunt haben, welche geringe Menge Gold eine bedeutende Fläche zu vergolden im Stande ist: das Staunen über das Ausbreitungstalent hier würde ersteres noch übertreffen. Den Hut behält die Dame auf dem Kopfe , und doch - werden sieben Stühle mit den übrigen Personalien belegt! Muffe , Schirm, Pelzmanchetten einzeln , Körbchen und Gott weiß was , hat alles das Glück, auf einem Stuhle großherrlich ausgebreitet zu sein, um denselben für die Nachkommenden zu reſerviren. Ist das Riesenwerk vollbracht , so fährt das Strickzeug aus der Beilage des gestrigen Intelligenzblattes , die Nadeln beginnen zu raſſeln , die Observationsarbeit fängt an, bald trifft eine andere Glaubens, genoffin ein , welcher der nächste Tisch links gehört“ und die scharfen Zungen entsenden ihre spigen Pfeile gegen Andere, während das Auge mit den Fehlern und Mängeln an der Garderobe der ebenso beschäftigten „Freundin“ zu thun hat , um ſpäter wieder gegen Andere der Zunge jede beliebige Benuzung zu gestatten . Die Zeit verrinnt , der Saal füllt ſich mehr und mehr. Zuerst natürlich nur mit Damen, da den Herren selten vom Himmel

28 ein so großer unnüßer Zeitreichthum geschenkt ist. Man begrüßt fich, nimmt die aufgehobenen und nicht aufgehobenen Pläße ein ; das Plaudern , Stuhl- und Tiſchrücken und Taſſengeklapper erfeugt ein fast betäubendes Geſumm und Geſchwirr. Endlich ist es sieben Uhr Liebig's kleiner Taktstock übt eine magische Kraft, ein Klopfen desselben auf's Notenputt - mäuschenstill ist's im Sval , und leise rauschen die ersten Klänge einer klassischen Ouvertüre. Alles lauſcht den Tönen, doch - die Neben-

gedanken, die dabei durch manches Köpfchen fahren ? Julius Sturm fingt einmal : Das sind unsre schönsten Lieder, Für die kein Wort genügt, Um deren zarte Glieder Kein Reimgewand sich schmiegt. Die leis' in uns erklingen, und still in uns verweh'n, Und doch zu denen dringen, Die liebend uns versteh'n ! Und was kann wohl diese unausgesprochenen Gedanken lieblicher zum Herzen führen, als die Musik ; Musik , die das Gefühl leise in die Seele haucht , ehe noch Worte gefunden , ja ehe noch Gedanken klar durchdacht sind ! Und hierzu noch dazu Liebig'sche Musik! Auf mancher denkenden Stirn , in so manchem reizenden Auge kann man hier schauen, wie der schalkhafte, Alles bezwingende Amor sein Wesen treibt, wie er die Musik als Paß benußt , um in so manchem Herzen Zutritt zu finden ! Hier erscheint er in ernster, dort in heiterer, hier in schöner, dort in verzerrter Maske. Dort ſigt ein liebreizendes Kind ; der wellige, blonde Scheitel ist mit einfachem, blauen Sammtbande geziert, volle glatte Flechten

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schmiegen sich an das Köpfchen , das Engelsgesichtchen ist tief zur Arbeit gebeugt, es scheint sich nicht um die Umgebung zu kümmern. Wie dürfte die Kleine auch ? Zu beiden Seiten ſizen zwei ältere Damen , denen die greisenhafte Unschuld aus den kleineu grauen Augen bligt, denen das langjährige Bewußtsein der vollkommenſten Sündlosigkeit scharf in's Gesicht geäßt ist , und die Beide gleich einem Cerberus ihr Mündel bewachen. Mächtig rauschen die Klänge des Allegro , wie Sturmesbrauſen ziehen ſie dahin, da auf einmal Windſtelle , und ein schmelzendes Adagio schleicht sich leiſe in's Herz ! Ruhig und langsam hebt jezt die Kleine ihr Köpfchen; der Finger, welcher den Faden zieht, hält plöglich still, ihr schönes blaues Auge schaut offen und gerade aus , ein leiſes, leises Lächeln , umspielt ihr Mündchen , sie blickt wieder auf die Arbeit , die kleine weiße Hand ist wieder fleißig ! Wohin hat sie geschaut ? Dort zu jener Säule , an die ein junger Mann mit unterschlagenen Armen sich lehnt. Der Blick , der langersehnte Blick, er ist verstanden, die Muſik, das Gefühl haben ihm sogleich den richtigen Weg gezeigt. Freude blißt aus seinem sonst so ernstem Auge, über die hohe Stirn zieht der Gedanke : Wie glücklich macht mich dieser Blick ! Und ein leiser Seufzer spricht : Wann ― wirst Du ganz mein eigen sein ?" Nicht weit von dem schönen Kinde zeigt sich die Liebe in anderer Gestalt. Ein hoffnungsvoller Jüngling , Verehrer des Merkur, d. h. des modernen, sigt in modernster Toilette auf einem Stuhl, dem man die Angst ansieht , auf so martervolle Weise als Wiegestuhl benußt zu werden. Der Scheitel dieses Adonis ist meridianhaft über den Kopf geschlungen und verliert sich nach Hinten in die Unendlichkeit. Der Glanz der Gasflammen spiegelt

30 ſich auf dem dünnen angeklebten Haarspiegel , und die nach. allen Dimensionen mehr als vollkommene Hand, deren Röthe angenehm gegen den bedeutenden goldenen Siegelring absticht, spielt in möglichst graziöſer Bewegung mit der goldenen Uhrkette. Der Ausdruck des Gesichtes ist fehlerfrei : kein Gedanke , weder gut noch schlecht , hat je Falten über die keusche Stirn gefurcht , und das molkenfarbige Auge , welches durch seine kräftige Wölbung lebhaft an Krebse erinnert , starrt mit unermüdlicher Riesenkraft auf eine benachbarte Dame, welche merkwürdigerweise so beschränkt ist, auch nicht das Geringste von dem unendlichen Glück dieſer Liebes-Ovation zu ahnen. Nur Ausdauer ! denkt der Jüngling ; die Touren mit der blizenden Uhrkette werden bei jedem neuen Musikstück krampfhafter die Dame bewundert weder den Reichthum , noch den glücklichen Beſizer ! Da kommt als rettender un: Engel ein Kellner ganz leiſe geſchlichen mit ſeinen Taſſen streitig sind Sinfonie- Concerte die beste Schule für plumpe Kellner -- doch trog seiner Geschicklichkeit berührt der Präſentirte¤er den Tisch, die Tassen klirren leiſe, und - unser Adonis hat Ge= legenheit , seinen Verſtand , ſein Gefühl glänzen zu laſſen ! Er erinnert sich plöglich, daß er im Concert iſt, ſeine klare Logik ſagt ihm , daß jedes Geräusch dabei störend iſt, und um zu zeigen, wie. ſein Gefühl beleidigt , wie er in seinem muſikaliſchen Ideengange gestört ist , „ verdonnert“ er den Kellner mit einem scharfen , langanhaltenden Schsf-st ! dessen Deutlichkeit die zehnte Potenz des Taſſengeklingels bedeutend übersteigt. Alles schaut auf. Der Glückliche hat seinen Zweck erreicht , denn auch die Angebetete blickt ihn an, deutlich sieht man das Wort „ unausstehlich!" über. ihre Lippen gleiten ; auch ihrem Troubadour entgeht es nicht, ein

31 -seliges Lächeln verbreitert seine wohlgepolsterten Lippen in's Unendliche, er ist entzückt, daß ſie — den Kellner unausstehlich findet, denn — unausstehlich er selbst etwa? Nein das ist unmöglich ! Noch so manches Augenspiel , so manches Zusammentreffen der Gefühle auf den Flügeln der göttlichen Musik ist zu schauen, doch mehr oder weniger sind sie sich alle ähnlich. Hier Liebe und Hingebung, dort fade Ziererei ·- die leider sehr stark vertreten hier Melancholie, dort offene, frohe Heiterkeit. Doch - der alte Herr da in jener Ecke , die er ſchon ſeit zehn, zwölf Jahren sein eigen nennt ? Ist die Musik auch ihm nur liebliche Sclavin, die ihn das irdische Paradies erschauen läßt? Wohl schwerlich ! Er sieht entschieden älter aus , als er wirklich ist, die tiefen Furchen seiner Stirn hat wohl der Kummer gezogen, doch das kluge Auge schaut so klar und ruhig in die Welt , als wäre der Kampf des Herzens längst vorbei , als ruhte so manche Erinnerung ganz still in seiner Bruſt , und käme nicht mehr hervor, um ihn zu quälen. Er scheint zu den Stereotypmenschen zu gehören. Bei gutem wie bei schlechtem Wetter steht sein Regenschirm links an seinem Stuhl , nie hat ihn Jemand anders , als im schwarzen Ueberrock gesehen, und im Sommer wie im Winter liegen seine waschledernen Handschuhe dicht bei der Taſſe Kaffe; stets sigt er auf demselben Plaz in der Neben-Nische , wo eine Cigarre zu rauchen nicht verboten ist. Sein Gesicht bleibt immer daffelbe, offen und ehrlich in die Welt schauend , ohne Freude, ohne Kummer zu verrathen . Doch was ist heute mit ihm geschehen ? Er scheint ein Anderer wie sonst. Die Cigarre ist ihm ausge gangen, er hat, was noch nie dagewesen, seinen Stuhl ſo gerückt, daß er nicht das Orchester vor sich hat ! Sein Blick scheint un-



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ruhig, seine Augen glänzen ; er beobachtet eine Dame, die ziemlich weit entfernt von ihm an einem Tiſch mit einem kleinen Mädchen sigt. Auch der Blick der Dame iſt ſeinem Auge begegnet, ſie hat die Farbe gewechselt und noch eifriger wie zuvor sich mit ihrer Handarbeit beschäftigt. Sie ist nicht mehr jung, ihr regelmäßiges, wenn auch nicht schönes Gesicht ist einnehmend, ihre Toilette ein: fach und doch ansprechend, und ihr Lächeln zu der Kleinen ist nicht mehr das frohe, ſorgenfreie Lächeln ; es iſt Wehmuth, es zeigt von Seelenschmerz, den sie als treuen Gefährten manch' langen Jahres lieb gewonnen . Das lezte Stück des ersten Theils ist verklungen ; die Zu hörer klatschen , die Dame blickt auf , blickt zu dem alten Herrn, und mitten durch das Beifallsgeklatſch ſpricht ihr Auge : Komm! Er steht auf; noch nie hat er das gethan , noch nie hat er seinen Plaz vor Schluß des Concerts verlassen. Langsam , ja zögernd geht er zu ihrem Tisch. „ Guten Abend , Madame," sagt er mit bewegter Stimme, ich hätte nicht geglaubt, Sie je wieder zu sehen. Darf ich mich zu ihnen sezen ?“ „Das soll mir sehr lieb sein," antwortet sie, und nimmt vom nächsten Stuhl das darauf liegenden Mäntelchen ihres Kindes. Er sezt sich. Nach einigem Schweigen sagt er : „ Sie sind allein hier, Madame ; ist das Ihr Kindchen ?“ „Ja,“ antwortet sie. „ Ich wollte ſo gern bei meinem kurzen Aufenthalte hier wieder Liebig hören, wieder an die Zeiten denken, die für mich die glücklichsten gewesen." „Und Ihr Gatte ?" fragt der Herr mit gedämpfter Stimme. "„Mein Mann ist seit elf Monaten todt!"

- 33 „Da bedaure ich Sie von Herzen ; Sie haben ihn gewiß sehr lieb gehabt," fragte er, ohne sie anzusehen. „ Dieſe Aeußerung hätte ich , nach dem Abschiedsbriefe , den ich Ihnen vor zehn Jahren geschrieben, nicht von Ihnen erwartet !" Erstaunt blickte er auf. „Sie haben an mich geschrieben , an mich, nach Ihrer Verlobung ?" „Haben Sie meinen Brief nicht bekommen ? Waren Sie nicht in Berlin ?“ „Nein, ich verließ die Stadt, um ― Zerstreuung zu suchen.“ Darf ich Ihnen jest sagen , was ich geschrieben ?" fuhr sie lebhaft fort. Doch - es wird Ihnen wohl gleichgültig sein ; was wird Sie das Schicksal einer Frau intereſſiren, der Sie gewiß im Kreise Ihrer Familie „Familie ?" unterbrach er, „ich bin heut allein wie vor zwölf Jahren." „O , dann hören Sie , vielleicht finde ich Verzeihung bei Ihnen." „Verzeihung ? Die haben Sie nicht nöthig, Madame ; warum soll ich nicht offen sprechen ? Ich habe Sie zu innig geliebt, um Ihnen eine Schuld beizumessen , Ihnen zu zürnen ; habe ich mir auch das Räthsel nie erklären können, weßhalb Sie mich von sich gestoßen, weßhalb mir diese Mißachtung , die mich so tief verwundet, weßhalb mir, nach ſo inniger Liebe kein einziges tröstendes Wort, - ich habe gedacht, es sollte nicht sein ; und ist auch mein Herz dabei verdorrt, fragt es auch jezt noch Tag für Tag : warum ſolche Mißachtung ? ich habe doch stets und aufrichtig gedacht : Du meine einzige Liebe, schüß' Dich Gott !“ „Sie müssen hören , was ich geschrieben ! Schenken Sie mir III. 3

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die Ruhe wieder , die ich, ach ! so lange nicht gekannt ! Wenn Sie wüßten, welche Sehnsucht, welche Qual ich ausgehalten, als ich keine Antwort empfing, Sie würden gewiß nicht Nein ſagen !" „Nun, dann erzählen Sie, selbst auf die Gefahr hin, daß all die schönen, die quälenden Erinnerungen wieder auferstehen.“ „Ich schrieb , daß Sie ebenso wie ich über die Verhältniſſe meines Vaters getäuscht waren. Wir machten ein großes Haus , aber eines Tages theilte mir der Vater mit, daß er, daß wir Alle betteln müßten , wenn ich nicht meinen , nun verstorbenen Mann hei:athen würde. Die Wahrheit war schrecklich, doch die Beweise zu schlagend - ich hab's gethan und meine Lieben waren gerettet. Nur auf Eins hoffte ich noch in diesem Leben , auf Ihre Verzeihung , daß ich Ihnen mein Wort gebrochen , doch - die blieb aus !" „Wie bedaure ich Sie !" antwortete er nach einer Pauſe, „aber sicher haben Sie sich darin gefunden . Sie haben gewiß Jhren Mann lieb gehabt?" „ Ja , das habe ich ! " erwiederte fie , und sah ihm offen in's Gesicht. „Ich habe ihn geehrt , sogar lieb gehabt. Er war ein braver Mann ; ſein Ja war Ja , ſein Nein war Nein ; ich habe ihn geehrt und aufrichtig seinen Tod beweint, aber habe auch aufrichtig betrauert, daß es mir nie möglich gewesen, ihn von ganzer Seele zu lieben. Dies Gefühl war aus meiner Bruſt gewichen.“ Der zweite Theil des Concertes begann. Beide waren still . Ihr Antlig war wieder auf die Arbeit geneigt ; er schien ein Anderer wie seit manchem Jahr ; seine Wangen hatten sich ge= röthet , und sein sonst ruhiges Auge blickte bald auf sie , bald auf das Kind.

35 „Wie heißt Du , Kind ?" sagte er lächelnd , indem er seine Hand auf dem niedlichen Köpfchen ruhen ließ. Julie! Und wie heißt Du denn ? Bist Du auch ein Onkel ?" „Gewiß bin ich das ; und wenn Du immer artig bist, bin ich auch Dein Onkel!" „Schenkst Du mir auch 'was ? Ja ? Mama, den Onkel kann ich gut leiden ! Mama, hast Du ihn auch lieb ?" Tief erröthend sagt die Mama : „ Still , liebes Kind !" und weiter nichts. Noch so manch' herrliche Melodie traf ihr Ohr. Ob sie dieselbe wohl gehört haben mag ? Noch so manches Lieblingsthema des alten Herrn wurde vorgetrageen. Ob er wohl darauf geachtet ? Gesprochen haben Beide nichts mehr bis zu Ende. Als die letzten Töne erklungen, als der hoffnungsvolle Kaufmann mit süßester Miene seiner Angestaunten gesagt : „ Meine Dame, würde ich das Glück haben dürfen, Ihren schönen Arm zu führen ?“ als ein verächtlicher Blick ihn verabschiedete , sah der alte Junggeselle die Wittwe lächelnd an , als wollte er sagen : Bekomme ich auch einen Korb ? Und sie lächelte wieder, so lieb und freundlich, und nahm ihr Kind an die Hand, und legte den Arm in den ſeinen ; schweigend gingen sie hinaus wie die anderen Zuhörer , schweigend und doch so vertraulich, als wären ihre Herzen nie getrennt gewesen.

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Berliner Mittagbrod. Der Sensenmann Ist ein Tyrann, Der, wo er kann, Weib, Kind und Mann In's Grab will ha'n, ſagt ein alter Vers in einem alten Gesangbuch. Aber dieser Sensenmann steht durchaus nicht allein da mit seiner , weder das geehrte Publikum noch den hohen Adel verschonenden Niederträchtigkeit ; es giebt noch einen ebenso großen , ja noch größeren Tyrannen, der nicht nur einmal kommt, sondern alle Tage, und das ist der Hunger ! Die Gräfin mit ihrem Stammbaum , der noch über Adam hinweggeht, muß ihn befriedigen, wie das Marktweib mit ihrer Kiepe ; der Regenwurm und der König, die Käſemade und der Kaiser , Wanze und Blutegel wie selbst Seine Heiligkeit der Papst , der doch hier schon mit einem Fuß ganz, und mit dem andern bis zum Knöchel im Himmel steht - alle find sie seine Unterthanen , und bei seinem fabelhaften Gedächtniß vergißt er keine einzige Seele , läßt sie höchstens in Ruhe, wenn der ihm durchaus unangenehme Rival Sensenmann durch seine höchst ungemüthlichen Sterbebett- Vorbereitungen dem , was da kreucht und fleucht , zu verstehen giebt : Ich komme näch stens selbst!

37 Wenn also Alles , was kribbelt und krabbelt, dem Hunger ſeine Opfer bringt, warum soll es nicht auch der Berliner ! Ebenso aber, als nicht alle Berliner großmäulig sind , wie unsere süddeutschen Brüder behaupten , die ihr unumstößliches Urtheil nach den Berliner jüdischen und christlichen Commis voyageurs gebildet, ebenso wenig haben die Berliner eine Stereotypspeise wie die ſpartanische Suppe; der eine ißt Auſtern und Fasanenpastete , der andere Commisbrod und Kuhkäse , gerade so wie alle anderen Staubge= borenen. Intereſſant aber dürfte es vielleicht ſein , das Wie ? zu erörtern, und als Geist mit der Nibelungenkappe einigen Berliner „Mittagbrods" beizuwohnen, und zwar denen außer dem Hause" ; denn die bei Muttern " find in aller Welt gleich. Die Glocke in einem der feinsten Hotels unter den Linden hat soeben den Gästen ein : ,,Vous êtes servis Messieurs" zuge rufen ; das ,,Mittagbrod ist fertig" wäre ebenso gemein, wie, wenn neben der blendend weißen Serviette der Table d'hôte ein Zettel mit ,,Speisekarte" anstatt ,,Menu" liegen würde , dafür befinden - Es ist drei Uhr Nachmittags ; wir uns ja eben in Deutschland ! — mit dem der feinen Gesellschaft eigenen Eile-Mangel finden sich die Gäste nach und nach ein , und nehmen Plaß an der langen Tafel im prächtig decorirten Eßſaal. Die Servietten find makellos und künstlich gefaltet , Meſſer und Gabeln rein wie die Unschuld, und Blumensträuße in nicht weiten Zwischenräumen geben der Tafel ein heiteres , festliches Ansehen. Endlich haben Alle schweigend, oder wenigstens nur leise sprechend Plaß genommen, die Kellner stehen am Büffet , um mit dem Serviren zu be ginnen , und der Oberkellner geht mit geräuschlosen Schritten durch die Stuhlreihen , wie der Storch durch den Salat. Derselbe

38 -ist entschieden die interessanteste und dabei unangenehmste Per= sönlichkeit sämmtlicher Anwesenden. Sein Anzug , seine Wäsche, ſein Scheitel , Alles ist vollkommen makellos an ihm , aber troz ſeines leiſen Schrittes knarren die Stiefel maliziös , troßdem ſein Gesicht aussieht so klar wie der italische Mittagshimmel , es ist regenwurmnaßkalt ; auf seiner Stirn lauert ein unbegrenzter Eigendünkel, ſeine zuſammengekniffenen Augen scheinen im fortwährenden Tariren der Gäste begriffen , süßlich - knechtisch - aufdringlich spricht er mit den Gästen , roh und abstoßend mit den Kellnern . So lange er an der Tafel die verschiedenen Wünsche für die Weine entgegennimmt, ist die Unterhaltung fast ganz verstummt ; jedem beschleicht , bewußt oder unbewußt , das unangenehme Gefühl, von einem Untergeordneten tarirt zu werden. Endlich zieht fich der Herr Oberkellner gnädigst zurück ; die Suppe wird ſervirt , die Damen ziehen die Handschuhe aus , das Gespräch verstummt fast ganz. Bald ist die Suppe genossen , das Teller: geklapper beginnt und damit die Conversation. Dort hinten an der Ecke lauscht eine schöne Rheinländerin eifrig den Worten ihres Gemahls , der in klaren, wohlgefeßten Worten mit seinem Nachbar über die Vortheile und Schattenseiten des Code Napoléon streitet. Nichts ist lieblicher , als ein so offenes frisches Frauengesicht vom schönen herrlichen Rhein ! Deutsche Biederkeit und Treue leuchtet aus den blauen Augen , aber jede Bewegung verräth, daß sie sich das einzig Poetische der nachbarlichen Franzosen : die Grazie und Höflichkeit zu eigen gemacht hat. Zu ihrer Rechten hat das launische Geschick einen echten Pommer von altem Schrot und Korn aufgepflanzt ; man sieht ihm an, daß Noth uud Mangel ihn nie gedrückt , daß er kommandiren kann , wie Einer, aber die

39 leichte Unterhaltung ist nicht gemacht für ihn ; er spricht wenig, und füllt die ziemlich langen Firmaten seines Schweigens mit Eingießen und Austrinken ſeines Rothweins aus. Nicht weit von ihm ein reicher Franzose und ein Graf der Mark aus einem alt= berühmten Hause. Welche Aehnlichkeit, und doch, welche himmelweite Verschiedenheit zwischen ihnen ! Beide haben feine , scharfmarkirte Gesichter , jede ihrer Bewegungen ist aristokratiſch , aber der Franzose mit seinen dunkeln Augen , seinem gelblichen Teint, muß sich Gewalt anthun, bei lebhafter Unterhaltung nicht zu leb haft zu werden , während der Graf auch bei den stärksten Entgegnungen , bei der ewigen Beweglichkeit des Andern stets gelassen und freundlich erwidert, niemals die diplomatiſche Maske der Höflichkeit weglegt. Die Falten im Gesicht des Grafen, die kahle Stelle auf seinem Kopfe zeigen , daß er ein vielbewegtes Leben hinter sich hat , aber die Augen versöhnen mit ihrem tiefen , gedankenvollen Blick ; der Franzose aber hat ein Gesicht , verzerrt durch die Falten um Nase und Mundwinkel , das Haar ist noch kräftig, die Augen ' leuchten und brennen noch wie vor dreißig Jahren ― doch dem ganzen Ausdruck fehlt die Versöhnung des Alters, des Wiſſens — der ganze Charakter erscheint noch als wilde Dissonanz, der jeder Weg zur harmonischen Auflöſung genommen ; er ist und bleibt unfertig, während sein aristokratischer Nachbar ein vollendetes Ganze repräsentirt. Noch Andere haben an der Tafel Plaz genommen, doch haben sie meist Alltagsgesichter aufzuweisen; Wörter und abgebrochene Säße hört man hin und wieder : Herr liche Race - reines Vollblut graziöses Mädchen , die Antoinette -- singt fameus! --- echter Bulldog - 3 Louisd'or - Wiesbaden - Balleteuse - u. s. w .

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" Guten Morgen, meine Herrschaften ! " ertönt es mit kräftiger Stimme von der Thüre her und - der einzige Berliner der Tischgesellschaft tritt ein. Es ist ein pensionirter Rath , Junggesell, Rentier und langjähriger Stammgaſt des Hotels. Alle Anwesenden begrüßen ihn freundlich , die Damen lächeln , die Herren lachen ihm entgegen , er ist allbeliebt und durch seinen unermüdlichen Humor die Seele der Tafel. Selbst der Oberkellner gönnt ihm eine freundliche Verbeugung ohne Tariren , denn er kennt des alten Herrn Freigebigkeit. „Traurige Nachricht, meine Herrschaften “, ſagt der neu Eingetretene , während sein gutmüthiges Vollmondsgesicht auf der kleinen wohlgenährten Gestalt durchaus nicht traurig aussieht, und er Hut und Stock dem Kellner übergiebt. „ Nun ?“ tönt es neugierig von aller Munde. " Zweihundert und neunzehn Personen sind heut Morgen in Mainz in die Luft gegangen !" " Er läßt sich auf seinen Plaß nieder und bindet sich gemüthlich die Serviette um den Hals. „Schrecklich", sagt die Rheinländerin , und läßt die Gabel sinken. ,,Voilà, feine Precaution mit die Pulver“, sagt der Franzose. „Kaum glaublich“, fügt etwas zweifelnd der Graf hinzu. " Es ist ganz sicher, meine Herrschaften " " , erwidert der Rath, „„ warum sollen denn auch bei dem schönen Wetter die Menſchen nicht in die Luft gehen ?"" Allgemeines Lachen belohnt die harmlose Bemerkung ; wohl weniger wegen der Geistesſchärfe, als weil sie eine Bresche in die steife engbegrenzte Unterhaltung , die bisher nur mit den nächsten Nachbaren geführt wurde, geschossen hat.

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„Ich habe wieder meine große Noth , Herr Rath“, sagt die reizende Rheinländerin , „ mit dem liebenswürdigen Herrn Franzosen ; unser Kampf über die Frage, ob die deutsche oder die französische Sprache biegsamer und schmiegsamer sei, hat noch zu keinem Reſultate geführt ; Sie waren gestern so freundlich , mir Ihre Hülfe zu versprechen, und ich hoffe, daß Sie das nicht vergessen haben ! " „Vergessen ? Bei Leibe nicht !" erwidert der Rath , indem er dem vor ihm stehenden Putenbraten äußerst energisch zu Leibe geht. Glücklicherweise bin ich gestern Abend meines Kopfzerbrechens dadurch überhoben , daß ich zufällig ein tête-à -tête in der Gesellschaft belauschte" „Was sehr schlecht von Ihnen gehandelt ist“, unterbrach die Dame neckend. „Vollkommen zugestanden, aber für Sie, gnädige Frau, gehe ich - natürlich mit Erlaubniß Ihres Herrn Gemahls durch's Feuer , und würde , wenn Sie es befehlen , Ihnen die Skalps meiner besten Freunde zu Füßen legen ." „Dann wollen wir Alle dem Herrn Rath die Freundſchaft kündigen“ , sagte scherzend der Graf , „ obgleich ich für meinen Skalp wenig zu fürchten habe. “ „Aber zur Sache, meine Herrschaften !" ruft die Dame, „ich bin sehr neugierig auf das Belauſchte !" „Zu Befehl , gnädigste Frau , ich komme zur Sache. Ich werde Ihnen wortgetreu das Zwiegespräch mittheilen, und wenn dann Monsieur le Français dasselbe uns wortgetreu in seine Langue universelle überſeßen kann , erklären wir uns für beſtegt. Ich habe es mir aufgeschrieben ; hören Sie also gefälligſt:

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„Wie geht es , mein Fräulein ?" fragte gestern der auf freiem Fuße lebende, noch ledige Leichtfuß mit den nöthigen Krahfüßen die junge Dame , von der er aus sicherer Hand wußt daß sie sich unter der Hand nach einem Manne umſehe , dem ſie ihre Hand reichen könnte , gestatten Sie mir zuvörderst einen Handfuß!" Sie: " Sehr gütig , mein Herr ! doch auf so vertraulichem Fuße stehen wir noch nicht ! Ich muß Ihnen das Handwerk als Hand - Langer gleich handgreiflich legen , sonst fußen Sie auf meine Gutmüthigkeit , haben im Handumdrehen die die Vorhand , fassen festen Fuß , und nehmen sich stets die ganze Hand , wenn man Ihnen einen Finger reicht.“ Er: " Man begreift sofort, daß Sie den Fußtapfen Ihrer Mutter folgen ; ich hoffe , es sind nur Handgriffe , aber nicht Ihr Ernst, daß Sie immer mit mir auf dem Kriegsfuß e ſtehen wollen!" Sie : „ Mein völliger Ernst ; denn man hat mir unter den Fuß gegeben , und ich will es Ihnen unter der Hand mittheilen, daß Sie in Sachen der Liebelei stets bei der Hand ſind, überall Ihre Hände im Spiel haben , daß Sie fußfällig flehen können, aber daß Jede verloren ist, die Ihnen nur eine Handbreit Vertrauen schenkt ; Ihre Treue steht auf schwachem Fuße und Ihre gefühlvollen Händedrücke sind nur Handstreiche , die Sie handwerksmäßig betreiben , um uns den Boden unter den Füßen zu entziehen . Dem Vertrauen, welches man Ihnen schenken wollte, würde die Reue auf dem Fuße folgen." Er: „ Ich sehe , Fräulein , Sie können mehr als Handarbeiten anfertigen und man hat alle Hände voll zu thun, Ihre

43 Angriffe zu pariren. Es würde für mich schlecht ablaufen , wenn ich mich mit Ihnen in ein geistreiches Handgemenge einlassen wollte ; selbst mit Versfüßen käme ich nicht durch, deshalb bitte ich Sie fußfällig : treten Sie meine Gefühle nicht mit Füßen und lassen Sie mir freie Hand für ein wahrhaftes Geständniß !" Sie : ,,Das klingt ja so schauerlich , als wenn Sie Hand an sich legen wollten ? So leicht laſſe ich Sie aber nicht aus den Händen; reden Sie also so viel Sie wollen , ich kann ja meine Hände so lange in den Schooß legen!" Er: "1Wenn das Reden mir nur gut von der Hand geht ; doch ich will stehenden Fußes anfangen. Ich lebe , Sie wissen es, nicht auf großem Fuße , denn bei mir geht's von der Hand in den Mund , und nach dem jezigen Münzfuße würde ich für meine Aktien, wenn ich sie dem Banquier einhändigte , keinen hundertsten Theil Cubikfuß Silber erhalten. Nichtsdestoweniger und obgleich ich so unvorbereitet bin, daß ich nicht einmal Handschuhe ' anhabe , bitte ich Sie mir Ihre Hand zu reichen! Stehen Sie ja doch noch lange nicht mit einem Fuße im Grabe, und sind jezt in dem schönen Alter, wo man gern auf Freiers Füßen steht. Ich meine es ehrlich ; glauben Sie nicht dem Gerede, daß mein Herz von einer Hand in die andere wandert." Sie : ,,Das heißt deutsch reden ! Nun - morgen soll Ihnen meine Antwort eingehändigt werden ! Meine Handschrift kennen Sie. Vorläufig aber stehen wir nur auf dem Friedensfuß!" Er: :: ,,Fräulein , meinen ſchönsten Dank lege ich Ihnen zu Füßen ; ich bin überglücklich ! Küß die Hand , meine Gnädigste !" -

44 Mehr habe ich nicht gehört , meine Herrschaften", schloß der Rath unter dem allgemeinen Gelächter. ,,Reizend", rief die Rheinländerin , indem sie in die Hände flatschte ; nun, Herr Franzose, was sagen Sie ?" ,,Was ich sagen ? C'est bien simple à traduire ; ick brauch nit viel Wort zu überſeßen , die ganze Geſchicht ist überſeßt , wenn ick überseße nur die Wörter : die deutsche Sprack haben Hand und Fuß! Voilà tout !" ,,Bravo!" ertönt es aus Aller Munde ; „ die deutſche Sprache ſoll leben !" ,,Aber auch : Vive la France !" fügte die Dame graziös hinzu, indem sie mit ihrem Gegner anstieß. ,,Mais l'empereur ?" fragte der Rath den entzückten Franzosen. ,,Allez !" erwiderte er fast ärgerlich. alle? rief ſcherzend der Rath, „ nun, meinet,,Ale ? Ist er

wegen !" Bei schallendem Gelächter erhebt man sich , und Jeder verläßt nach den üblichen Verbeugungen den Saal, um - ſich für neue Vergnügungen vorzubereiten. Die Erde ist ein Paradies, selbst wenn man nichts weiter hat, als Geſundheit und recht viel Geld!" Merkwürdigerweiſe haben nicht alle Berliner so recht viel Geld, um ihren Diner - Studien drei Stunden lang in feinem Hotel obzuliegen. Ein ganz bedeutender Theil der Berliner geht in's Speiſehaus und ißt , ſeiner Kaſſe angemeſſen , für 3, 4 auch 7½ Sgr.; manche ſogar, die mehr zu verzehren haben, oder denen es auf ein Paar Thaler Schulden mehr oder weniger nicht ankommt, versteigen sich auf 10 Silbergroschen.

45 In dem langen , höchst einfachen Ekſaal find alle Tafeln, die fich geduldig neben einander haben preſſen laſſen , gedeckt. Das Tischzeug ist nicht ganz makellos , denn erst Sonntag macht es einem neugewaschenen Plaß. bedeutende Mostrichflecke , festsigende Kartoffelüberreste von gestern , auch einzelne hineingefahrene Gräten nehmen ihm den Charakter der Langweiligkeit. Es ist zwölf Uhr. Noch keine Seele rührt ſich ; zehn Minuten vergehen, die Thüren öffnen sich , die Hungrigen strömen ein , und zwölf Minuten nach Zwölf ist kein Plaz mehr zu haben ; fünf Minuten später steht schon hinter jedem Plaß ein Stuhlerpectant. Das Speisehaus gehört zu den besuchtesten ; das Essen ist billig und schmackhaft, Bier zu trinken keine Nothwendigkeit , und der Wirth die personificirte Normal - Grobheit. Lezteres ist ein unendlicher Vortheil : denn Jeder ißt ruhig weiter , wenn der Herr Wirth mehr als deutlich wird ; man hat ja das angenehm erwärmende Gefühl , daß die Kellner noch viel bedeutender grob behandelt werden, wenn der Gast an die strenge Unparteilichkei des „FutterOnkels " appellirt. Jeder am Tisch hat mit einem Eifer den Speiſezettel durchstudirt, als wenn er darauf noch Kriegsdepeschen aus Böhmen erwartete. Der Kellner kommt, und die Befehle ertönen von allen Seiten. " Bouillon mit" " Sehr wohl" - „Fleisch ohne" "Mir „Sehr wohl" "I„Bouillon ohne" - " Sehr wohl können Sie" ― sagt ein Neuling , doch - der Kellner ist schon verschwunden , und der Gast , der nicht mit angehaltenem Athem

den Augenbkick abpaßt , wo eben ein Anderer seine Bestellung vollendet, und ohne eine ſechszehntel Pause zu machen , sofort mit

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seiner Bestellung ohne Vorrede einfällt , kann lange warten , che er einen Löffel Suppe bekommt. In einer Minute ist der Kellner zurück; ein Jongleur ist nichts gegen ihn. Er hält wenigstens zwölf gefüllte Teller, einen künstlich über den andern gefeßt , bis zum Oberarm hinauf; ſie werden den Hungrigen vorgeseßt , neue Bestellungen folgen , und so geht es fort. Von der Conversation der Gäste ist fast nichts zu sagen, denn Jeder schweigt , die Augen sind auf dem Anstand, um den Kellner wieder abzufangen , und so Mancher sißt neben seinem Nachbar seit einem Jahre alle Mittag, und hat keine Idee, wer er ist und was er ißt. Junge Kaufleute und Beamte bilden meistens das Kontingent , nur im Hochsommer ist Abwechselung; da kommen auch ältere Herren des wohlhabenden Mittelstandes, die ihre Frauen in's Bad geschickt haben, ihre Mittage hier vertrauern , und erst Trost des Abends in Lokalen ſuchen, „ wo man doch die Damen nicht mitnehmen kann." Das Interessanteste beim ganzen Mittagstisch ist unstreitig die Küche , wo der Zuschauer staunen muß , von welcher Dehnbarkeit die menschliche Gedächtnißkraft ist. Fünf Kellner stürzen an den Tisch , der Küche und Lokal trennt. " Sechsmal Suppe mit dreimal ohne zwei Beefsteak scharf ſechsmal Puree zwei Hammel ein junges vier halbe" trompetet der erste Kellner ohne jede Interpunktion, der zweite und dritte macht's nicht beffer , der vierte ſezt hinzu : „Aber rasch,“ der fünfte beginnt gar ſeine Rede, „Himmeldonnerwetter ! Wie lange soll ich denn warten !" „Aber Sie haben noch jarnischt bestellt !" schreit die eine Köchin.

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„Ach so ! Na denn -" und es folgt eine andere Variation der Bestellungen . Vier auch fünf Köchinnen „ arbeiten" fortwährend ; der Braten fliegt unter dem großen Messer in Stücke , die Suppenkelle wird geschwungen wie ein Feuereimer , Gänse , Enten und Hühner werden im Nu massakrirt und erhalten alle aus dem einen Saucenkessel ganz gleiche Taufe ; Teller klirren und schwirren, die dickſte Köchin hat das Kommando , ſie faßt mit an , überall , bei Braten , Suppe und Gemüſe , und hat die eigenthümliche Gewohnheit alle zwei Minuten zu sagen " Sputen Sie sich man !" nk darauf zur Erholung den gebrauchten Daumen der rechten Hand wieder gemüthlich abzulecken , um dann von Neuem in die Töpfe zu fahren. In fünfzehn Minuten kann jeder Gast seine Suppe, Gemüse, wo: Fleisch und Braten verarbeitet haben ; gefühllos gegen das rieſenhaft arbeitende Hirn des Kellners fragt er ganz gelaſſen : „ Kellner, was bekommen Sie!" und ― horribile dictu! Der Mensch weiß Alles , selbst den Gurkensalat ! Der Gast steht auf , macht dem wartenden Nachfolger Plaz , der auch Eile hat , um 1½ Uhr ist das Lokal fast leer dreihundert Menschen haben an fünf Tafeln gegessen , bedient von fünf Kellnern und dem Wirth als Oberinspector. Time is money! So speist der eheloſe Mittelſtand ; nun zu den Aermeren im Keller, die eine der größten Segnungen Berlins benußen können : Die Volksküchen ! Was für einen Werth haben alle Kanonenfabriken der Welt gegen eine einzige Volksküche Berlins in den Augen eines denkenden, vernünftigen Menschen ! Die Gutmüthigkeit, die Barmherzigkeit und das angeborene " Gerne abgeben"

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der Berliner ,

deren ärmere Schichten bei der Erkundigung über das Kind einer befreundeten Familie stets zuerst die zwei Fragen stellen : "„ Is et denn jeſund ?“ und „giebt et denn gern wat ab ?" und dann erst sagen : „ det Kind is nett!" ― dieſes edele Gefühl hat hier in den Volksküchen einen Lichtpunkt erreicht, worauf der Berliner stolz sein kann. Man geht einige Stufen hinab , und befindet sich in einem geräumigen , luftigen und vor allen Dingen peinlich reinlichen Keller. Grade aus steht an der Wand : „Nicht rauchen ! Keine laute Unterhaltung ! " Und über einer Thür an der Seite : „ Zimmer für Frauen !" Die Tische find zwar nicht gedeckt , aber mit hübsch gemustertem , reinlichen Wachstuch überzogen. Auf dem Büffet an der Seite stehen weiß irdene Schüsseln , heute mit Erbsen und durchwachsenen Spec gefüllt, und hinter demselben eine Dame , ein Herr aus den beſſeren Ständen , die , beseelt von der erhabenen Idee , der Menschheit zu nüßen , abwechselnd des Mittags hierherkommen, die Aufsicht führen und schon durch ihre Gegenwart den Eirtretenden ein gewiſſes Ehrgefühl , eine gewiſſe Scheu einflößt Die ganze Schüffel für den Erwachsenen kostet 1 fgr. 9 pf. , die halbe Portion 1 fgr. Dafür genießt der Arme eine gut gekochte Speise, kann sich satt essen , und gewöhnt sich außerdem an den Comfort der Reinlichkeit so , daß er denselben auch in seiner dürf tigen Wohnung zu erstreben sucht. Und Alle, die hierher kommen, wenn sie auch ärmlich, ja dürftig gekleidet sind , sie benehmen sich anständig , verzehren still ihr Mittagbrod , und , klar bewußt oder nicht , fie fühlen die Wohlthat , durch die ihnen jede Beſchämung des Geschenkes erspart wird : ſie essen sich satt, und so verſchieden auch die Tonarten find , in denen sie beim Fortgehen „ Geſegnete

- 49 Mahlzeit!" sagen , es liegt immer ein Dank des Herzens darin . Daß auch Störungen vorkommen mögen , liegt wohl bei der Menge der Hülfsbedürftigen auf der Hand , doch die sind schnell vorübergehend , und werden das Wonnegefühl , wahrhaft wohlzuthun, den edlen Männern und Frauen nicht trüben, die das Werk in's Leben gerufen und erhalten. Was ist der Ruhm eines Krieges, in welchem Hunderttausende todt geschoffen werden , gegen den Segen einer einfachen Volksküche ? So effen die Armen, die arbeiten können und wollen , und gesund sind. Aber die Elenden Berlins , die essen nicht um 12 Uhr Mittags , sondern um sechs Uhr früh - im Polizei: gewahrsam , wohin sie das Laster, die Faulheit und Ausschweifung, manchmal wohl auch unverdientes namenloses Unglück geschickt hat. Der Himmel färbt sich im Osten heller , da liegen die Schläfer auf langen Banken des Gewahrsams , und reicht der Plaß nicht aus , auch daneben auf nackter Diele. Die Luft ist Nick , die trübe Gasflamme beleuchtet bleiche und aufgedunſene Gesichter, der wachthabende Beamte ſißt am Tisch in einer Ecke, und wartet des kommenden Tages mit müden Augen. Der Schläfer dort im Winkel mit seinem grauen Bart und zerlumptem Anzuge kam freiwillig ; er darf drei Nächte kommen , die vierte bleibt er im Thiergarten, und dann kommt er wieder drei Nächte. Er macht es schon so seit einigen Jahren , man duldet ihn , denn Ehre, Kraft und Gesundheit — es sind ihm fremde Dinge ge= worden, er vegetirt unschädlich. Daneben der Junge von neun Jahren, er ist aufgegriffen als obdachlos , stumpf hat er sich herführen lassen , er liegt und schläft wie in Abraham's Schooß ; seine Hose ist zerrissen , das schmußige Hemde ist vorn offen , der Heine Leib ist so geschwollen , zum Erschrecken geschwollen von der 4

50 ungesunden Nahrung des erbettelnden trockenen Brodes. Noch Viele liegen da mit ekelen Gesichtern , aus denen der Branntwein spricht , die meisten still , andere unruhig wie in qualvollen Träumen ; aber dort in der Ecke liegt ein junger Mensch mit einer Lorgnette und gutem Anzuge ! Er ist der Sohn eines achtbaren Kaufmanns aus Schlesien , er ist am Abend hier aufgegriffen, als er eben mit einem Theil der Kasse seines Vaters durchbrennen wollte; er schläft gesund und fest, Gewiſſensbiſſe quälen ihn nicht — armer Vater ! Dort ist eine Thür mit einer kleinen Deffnung. In dem Zimmer dahinter sind die obdachlosen Frauen. Die Einrichtung ist dieselbe , nur daß ein weiblicher Beamter die Aufsicht führt. Mitten im Zimmer liegt eine aufgegriffene Dirne ; sie hat ihr Kleid an den Nagel gehängt , und verschläft in makellosen , reingewaschenen Röcken und hohen zierlichen Stiefelchen auf der Diele vielleicht den Charapagnerrausch der lezten Nacht. Hinter ihr auf der Bank sigt ein hageres, bleiches , zerlumptes Weib, fie ist die einzige , die nicht schläft ; ihre brennenden Augen stieren verzweifelt vor sich hin, in jedem Arm hält sie ein unruhig schlafendes Kind , bald sieht sie das eine , bald das andere an , in namenlosem Schmerze, doch -— die Thräne iſt ihr längst verſtegt ; fie hofft und fürchtet nichts mehr ; ihr einziger Wunsch ist noch auf den kommenden Tag gerichtet , der ihren Kindern die Mahlzeit des Gewahrſams bringen soll ! So fißt sie da , schon die ganze Nacht , und über ihr hat das höhnende, herzlose Schicksal den Hut mit der Feder der ruhig schlafenden Dirne gehängt , der hundertmal größeren Werth hat , als die ganze Kleidung des bleichen Weibes und ihrer Kinder !

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Endlich ist es sechs Uhr. Die Schläfer werden geweckt ; Mancher steht auf und geht ohne Dank und Abschied, die meiſten bleiben und erhalten ihren Teller guter Mehlsuppe. Gierig wird fie genossen , alle sind still und gleichgültig , nur die Kinder der Frau sind die einzigen , deren Auge leuchtet vor Wonne , satt zu werden. Doch weg mit dem traurigen Bilde, weg von dem dunstigen Raum, hinaus in's Freie, d . h. in die freie Straße , wo die Luft frischer ist, und die Menschen nicht verzweifelt , nicht ſtumpf ſind. Wieder ist es Mittag geworden , die Sonne scheint prächtig auf das Trottoir, wo sich ein Pflasterer zwei mächtige Steine statt des weichen Kissens zu seiner Bequemlichkeit zurecht gelegt hat ; er läßt sich behaglich nieder , öffnet den Kober und packt aus . Ein halbes Zweigroschenbrod, zwei Kuhkäse und ein Pfund Wurst kommen hervor, dazu die unvermeidliche Kümmelflasche. Gemüthlich schneidet er sich eine zolldicke „ Stulle“ und überschaut den weiten Plaz , der vor ihm liegt. Da hält eine Droſchke, nicht weit von ihm. „I , guten Morgen Friße , wo kommst Du denn her ?" redet er den ihm bekannien Kutſcher an. „ Wo soll ick wohl herkommen ! Aus de Stadt komın ick, und warte hier uf't Mittag. Meine Olle muß in zehn Minuten hier find !" ist die Antwort. „Aha , immer nobel und warm eſſen ; na ja , Du kannst et ja" und dabei legt sich der Steinseßer einen halben Käſe auf sein Brod, bei Dein Jehalt jeht det." „Wat ? Bei mein Jehalt nobel ? Nanu wird's Tag ! Nobel bei funfzehn Dahler monatlich ?"

52 „Na natürlich, wenn Du Deinen Herrn funfzehn Dahler jiebst!" "Id ihm ? Er jiebt sie doch mir ! Oder willste vielleicht kißeln ?" „Ja, det will iď!“ „Finger weg, August, keene Politik, sonst kennst mir doch !" „Na , is ja jut ; aber weeßte , lachen däht ick doch , wenn Deine Olle nu so anjejappst kommt , un Du ſehſt ſie ſchon , un denn kommt Eener , un will fahren ; wat würdest Du denn da machen ?" "J8 nich! Kommt ooch Keener ! " antwortet der Kutscher vertrauensvoll. „Kutscher !" ruft ein feingekleideter Herr von der andern Seite der Droschke , „fahren Sie mich“ - und dabei wirft er

seine Reisetasche schon in den Wagen , „fahren Sie mich nach dem Hamburger Bahnhof. In einer guten halben Stunde find wir doch da ?" „Wird woll niſcht dran fehlen , " antwortet der Kutscher mit schlecht verbissenem Unmuth, „ weest Du Aujust , wenn meine Olle kommt mit's Essen , denn jrüß ihr man, un sage, ick wäre auf Reisen !" „Un wenn sie fragt wodrum ," sagt der Steinseßer , „denn werd ick sagen, weil Dir det Eſſen verſalzen is !" Der Fremde lacht herzlich , der Steinseßer auch , und der Kutscher stimmt mit ein. „Bestellen Sie ihr auch," sagt der Fremde , „ daß ihr Mann für die Reise noch zehn Groschen extra bekommt!" " So ?" sagt heiter der Kutscher , „ na denn bin ick ja schöne

raus; Proft Mahlzeit Friße ! Immer nobel ! -- Hüh Schimmel !“ -

Die architectonischen Wunder.

In Berlin kann man den Teufel tanzen ſehen und die Engel fingen hören. Wer dies bezweifelt , der gehe quer über den Gendarmen-Markt im Hundstags - Sonnenschein , oder sonst über einen größeren öffentlichen Plaz bei erhöhter Temperatur ; bei jedem Schritt werden seine Hühneraugen einen rühmlichen Kampf mit dem herrlichen Steinpflaster zu bestehen haben , so daß ihm ſeine anderen Augen übergehen, und er von der Welt nichts sieht und hört , als das Singen der Engel. Denn wisse , Fremdling, das Berliner Pflaster beruht auf mathematischer Berechnung : es muß laut Contract zwischen Steinmez und Stadtvätern eine bestimmte Anzahl Jahre halten. Wehe dem Stein, der eine Stunde über die gesezte Zeit hinaus seine Pflicht thun wollte ! Bergauf, 1 bergab geht's zwischen den spizköpfigen Dingern , und nur die starken , daran gewöhnten Nerven der Berliner Damen mit ihren dünnen Schuhen vermögen allein mit erheucheltem Gleichmuth über dieses Geröll hinweg zu balanciren , und das Einklemmen des Fußes zwischen den Klippen ohne Aufschreien zu ertragen.

54 Aber noch schönere Wunderwerke bietet Berlin , über welche die fabrikmäßig gefertigten und gedruckten Fremdenführer zu 5 resp. 7½ Sgr. leider keine Auskunft geben, und deren Beschreibung hier zum Wohle und zum Staunen der wißbegierigen Menschheit eine Stelle finden mag. Es sind die architectonischen Wunder. Vor Allem gehört dazu die Akademie der Residenz. Berlin hat bewiesen , daß die stolzen Prachtbauten anderer Städte etwas zu tagtäglich sind, um das Ehrwürdige einer Akademie ausdrücken zu können. Still und einfach liegt dieselbe in gigantischer Nüchternheit ; ihre hohen Räume ziehen sich wie langgestreckte Bandwürmer durch das Gebäude , und der prachtvoll einfache, große, fogenannte Uhrſaal zeigt in ſeiner weißgetünchten Unſchuld nichts als die Rückseite der berühmten Uhr , die stets richtig geht , aber oft gestellt werden muß , die, wie Sachkenner behaupten, nicht zur Species Regulator , sondern zur Familie Regulandus gehört und daß sie die Urgroßmutter aller Damenuhren ist , die bekanntlich auch niemals richtig gehen. Das Licht , welches bei den Ausstellungen auf die Gemälde fällt , ist , besonders bei trübem Wetter, so mild und sanft, daß auch ein, aus Liebe zur Kunst der Augenklinik zu frühzeitig Entsprungener, ohne jeden durch zu grelle Sonnenstrahlen erzeugten Angenschmerz , hier gemüthlich ver weilen kann. Auf der Seite der Universitätsstraße führt eine eiserne Treppe in das zweite Stockwerk. Auch hier zeigen sich die Räume im weißgetünchten Unschuldskleide ; die Akademie Berlins hat die hohe Gnade gehabt , die ausgezeichnete Wagnersche Delgemäldesammlung huldreich anzunehmen, und deren Aufstellung in dieſe, wenigstens ſteben Fuß hohen Räume zu gestatten.

55 Die Hinterseite der Akademie besteht, wahrscheinlich als finnreiches Memento an den Pegasus, aus Pferdeställen für königlich preußische Cavallerie. Kann es wohl auf Erden eine schönere Harmonie geben , als unsere Akademie ? Sicherlich würden die dankbaren Berliner schon längst dem Präsidenten derselben für die Erhaltung dieses herrlichen Ensembles ihren Dank ausgesprochen haben , doch ist ihr Wohnungsanzeiger noch zu unvollständig und die Adreſſe eines solchen bis dato noch nicht aufzufinden. Erholen wir uns vom Betrachten dieses Kunstwerkes auf dem Wege von hier zum Polizei - Präsidium, um neue Kräfte für unser Staunen zu sammeln ; ruhen wir aus auf der Rinnsteinartigen Brücke, die den Bullenwinkel der Taubenstraße mit dem dunklen Durchgang des Hausvoigteiplahes verbindet , und ſtarren zur Beruhigung des Auges nur fünf Minuten in die schwarze schleimige Fluth des Modergrabens - Auge und Appetit wird beruhigt sein ! Dann vorwärts zum Molkenmarkt ! Was ist gegen dich , du Markt der Molke - wie passend ist der Name , wegen der dort versaurenden Milch der frommen Denkungsart manches Preßgefeß- Extravaganzlers ― was ist gegen dich ein Blick über den Markusplat in Venedig, wie verschwindet, mit dir verglichen, der Plaz vor St. Peter in Rom in seiner ermüdenden Ausdehnung , mit seinen Säulen im ewigen Einerlei ! Der Markt selbst wird durch keine gezwungenen graden Häuſerreihen begränzt ; jedes Haus und es giebt deren viele darauf, denn die meisten find engbrüftig steht ganz so , wie es ihm Spaß macht ; das eine blickt dahin , das andere dorthin . Und auf dem von ihnen eingeschlossenen Plaz halten die ehrsamen Droschken , und die

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edlen Roſſe davor haben selbst ein Gefühl von der Bedeutung des ihnen gegenüberliegenden Polizei- Präsidiums : denn mit ges knickten Vorderbeinen stehen sie demüthig da, mit bewundernswerther Geduld, ihre Häupter tief zu Boden gesenkt. Das herrliche Gebäude selbst spottet jeder Beschreibung ; seine Facade ist der Inbegriff des Unschönen ; kleine Fenster , große Fenster , das Mittelgebäude grün , der eine Seitenflügel gelb , der andere grau, zwischen dem rechten Seitenflügel und dem Hauptgebäude ein asthmatiſches Privathaus mit Trödelladen , und das Alles wahrscheinlich aus reiner Menschlichkeit, um den dahin geführten armen Sünder nicht auf einmal , ſondern erst nach und nach den Begriff des Ungemüthlichen seines künftigen Logis beizubringen . Die Facade aber ist noch das Edelste an dem hochwohllöblichen PolizeiPräsidium der königlich preußischen Residenz und Hauptstadt Berlin. Tritt ein , Unglücklicher, der Du auf gelben Concept die freundliche Einladung erhalten haſt , als Zeuge zu erscheinen ! Du eilst , denn es ist gleich zehn Uhr , die Zeit , zu welcher Du herbeschieden. Die Treppen , die Du in dem mystischen Halbdunkel hinauf klimmst , gleichen , wenn auch nicht versteinerten , so doch verhölzerten Wellen des Ozeans. Schon so mancher Fuß hat sie betreten, so manche Faser ist davon verschwunden, und Du wiegſt Dich hinauf, gehst durch Labyrinthe von Corridoren, in denen die brennende Gasflamme Dich vergessen läßt , daß es Mittag im Juli ist, und hast endlich das Wartezimmer gefunden . Es schlägt Zehn. Armer Erdgeborener ! Du wähnst , der Termin beginne jezt ! Danke den Unsterblichen und dem wachthabenden Schußmann, wenn in wenigen Stunden Dein Name ertönt. Bis dahin aber hast Du Zeit , über Deine Umgebung nachzudenken,

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verschiedene Abarten des menschlichen Antlißes zu studiren , haft vollkommen Muße, den edlen Duft dieses schmucklosen, durch schöne Einfachheit bezaubernden Salons durchzukosten , der die unverfälschten Gerüche von Kaserne , Aktenstaub und Armenhaus in höchster Concentration in sich schließt. Doch all die herrlichen Räume haben für die werdende Weltstadt nicht genügt ; schräg gegenüber liegt ein Polizei - Tochter - Haus ; fürchteſt Du, es nicht zu finden ? Das ist unmöglich ! Erreiche es nur vom Mühlendamm aus, und wenn Du eben unschlüssig bist, ob Du Dich vom herannahenden Omnibus überfahren , oder von dem Marktweibe mit ihrem Korbe umrennen lassen sollst, so wähle die kostbare Passage zwischen den vier Säulenpaaren. Sie ist 15 Zoll 2 Linien breit, Hlemme Dich hindurch , und - Du bist gerettet , stehst gerettet unter dem Portal der schüßenden Polizei . Diese vier Säulenpaare müssen einen unendlichen inneren Werth haben : der Balkon , den sie tragen , ist vollkommen unnüß ; die Straße ist so eng, der Verkehr so belebt, daß jede Crinoline dem Erstickungstode anheimfällt , aber dennoch stehen die Säulenpaare ; der Fluch keines Sängers der Gerichts- und anderer moquanter Zeitungen , hat sie bisjest umgeflucht ihr Werth ist also innerlich , davon ist Jeder überzeugt, und Niemand würde sich wundern , wenn , ob dieses unergründlichen innerlichen Werthes, eines schönen Morgens jede derselben mit einem Glasschranke umkleidet wäre ! Fremdling ! Was nüßt Dir Dein Fremdenbuch. Hat Dich schon eines derselben auf diese Herrlichkeit der Residenz aufmerksam gemacht ? Können die geistreichsten Abhandlungen über Berliner Geduld Dir dieselbe so klar vor die Augen führen , wie die schweigsamen vier Säulenpaare ?

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Schüttle den Staub vom Fuß , Fremdling , d. h. wenn es nicht regnet oder schon geregnet hat , denn sonst würdest Du besprißt sein müſſen , da Dir kein Plaz zum Ausweichen der Wagen geblieben, und komm nun mit, um freiere Luft zu athmen. Durch den Mühlendamm geht es zur Fischerbrücke. Venedigs Architectonik ist ein reines Nichts gegen diese Bauten. Unter der Straße fließt die Spree , und der Damm iſt eben nur im Stande , Berliner Pflaster zu tragen , das sich all ' ſeinen Launen fügt, bald hoch, bald niedrig ist, und, wenn's ſein muß, auch ganz fehlt. Von den Häusern selbst , welche an diesem Damm stehen, kann man bei Mangel an Briefpapier die Stubenwände benußen , ohne dabei in die Gefahr zu gerathen , doppeltes Porto zahlen zu müssen. Doch wir wollen freie Luft ; vorwärts also zur Fischerbrücke selbst. Ein kurzer , steiler , enger Weg führt hinauf , ein ebensolcher hinab , und es ist kaum glaublich , welchen Gefahren man hier ausgesetzt ist , wenn die Kutscher schwerbeladener Wagen unter Fluchen die Pferde hier hinauf , dort hinunter treiben ; die Brücke liegt wohl 10 Fuß höher als die Straße ; sage, Fremdling, hast Du je ein solches Kunstwerk gesehen ? Und noch dazu nicht die Nothwendigkeit hat es im ebenen , flachliegenden Berlin ent=\ stehen lassen , sondern wahrscheinlich das Genie eines höheren Geistes. Auch an andern schönen Wasserbauten ist Berlin nicht arm.

Der Kupfergraben ist wegen seines balsamischen Hauches , wegen der Klarheit seiner Wogen weltberühmt. Doch das mächtige Vorwärts der Neuzeit hat auch ihn überflügelt. Naste , Fremdling, auf dem Köpnickerfeld , schau an einem schönen Abende von

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der Michaelskirche zum Wasserthor , und Du wirst fühlen , daß Du in einer schönen Stadt bist. In schöner Ebenmäßigkeit zieht fich der Kanal dahin , auf beiden Seiten brennen hunderte von Gasflammen , das Getöse der inneren Stadt belästigt nicht Dein Ohr , Du freust Dich über den herrlichen Anblick , da regt sich leise der Abendwind! Er hat gekoset mit den wohlbestäubten Fichten der Hasenhaide , er streicht über das Bassin am Wasserthor, er kommt bis zu Dir - wehe, Du Aermster ! Gerüche umnebeln Dich, legen sich Dir ekel auf die Zunge , daß Du entsezt zurückprallst und für heute den Appetit verloren hast. Doch dringe muthig vor bis zum Bassin am Wasserthor , und staune ! Träge ruht hier die Fluth , wie Jemand , der sich satt gegessen. Und gesättigt ist dieses Wasser auch ; todte Kazen, krepirte Hunde und manches Unbeschreibliche „wimmeln" hier. Langsam steigen die Blasen aus der trüben Fluth zur halbfesten Oberfläche , die Gaſe machen sich los , und der liebe Abendwind ſäuselt sie hinein in die Stadt zur Stärkung , zum Gedeihen der Berliner; sind sie aber zu faul zum Aufsteigen , nun , dann giebt es feuchte Kellerwohnungen genug , wo sie sich häuslich niederlaſſen können , wo fie Gesellschaft finden beim erschöpften Arbeiter mit seinem bleichen Weibe und ihren noch bleicheren, abgemagerten, zusammengepferchten Kindern . Genug dieser großstädtischen Wunder. Wenn Du sie aber beschauen willst, Fremdling, so nimm Dich in Acht. So manches. Mal wirst Du einen Auflauf finden , irgend eine Prügelei ist im besten Gange , irgend ein Spizbube wird festgehalten. Schußmann ! ertönt es von allen Seiten, doch der nächste steht zwei Straßen entfernt auf Posten , das Menschenknäuel wird immer

60 ― größer, versperrt die Paſſage, giebt Taschendieben Gelegenheit zw ihrem Geschäft. Warum ? Die Schußleute sind auf ihren Posten, aber ihre Anzahl ist eine wahrhaft homäopatiſche Dosis für die angehende Weltstadt. Im Thiergarten, im Friedrichshain, in der großen Friedrichstraße u. s. w. werden zu gewiſſen Zeiten Razzias gehalten , die immer eine recht hübsche Anzahl Hallunken liefern ; es geschieht , was nur möglich , aber wäre genug Polizei für die rapide anwachsende Stadt , so dürfte der folgende authentische Polizeibericht von einer Sonnabend ፡ Nacht wohl etwas kürzer ausgefallen sein. Er lautet: „Prügelei eines Zimmermeiſters mit Miethern eines Hauses der Anklamerstraße. Um 11 Uhr ein Anfall in der Fruchte straße , wobei ein Arbeiter von zwei unbekannten Männern einen Stich erhielt. - Um 12 Uhr Schlägerei am Heinrichsplaß zwischen Tischlergesellen , wobei einer derselben so stark beschädigt wurde, daß er nach Bethanien gebracht werden mußte. - Um 12 Uhr Schlägerei zwischen Civilperſonen in der Nähe des Hamburger Bahnhofes, allwo wiederum einige Personen Meſſerſtiche erhielten. Um 2 Uhr großer Straßenscandal in der Mohrenstraße , dadurch herbeigeführt , daß ein Dragoner einen Ingenieur mit der Faust in's Gesicht schlug. - Morgens 3 Uhr endlich große Schlägerei am Schönhauser Thor, wobei Conditor M. durch Stiche erheblich verlegt wurde. Wieviel Ohrfeigen und andere Geſellſchaftsspiele , wieviel Diebstähle u. s. w. mag es noch gegeben haben , die von der Polizei garnicht ad acta genommen werden konnten ! Berlin wird Weltstadt !

Der berliner Hausmenſch.

Unter Hausthier versteht man solches Vieh, welches seine eigene Natur zum Nußen und Frommen des Menschen theilweise verläugnet, und sich so an denselben und seine Hülfe gewöhnt hat, daß es ohne ihn nicht fertig wird. Unter Hausmensch aber versteht man ein solches Wesen, daß seine Natur auf Kosten Anderer zur Geltung bringt , troßdem aber jedem Hause , jeder Haushaltung unentbehrlich ist , nicht in demselben wohnt, sondern nur chronisch wiederkehrt. Hausthiere leben auf dem Lande, Hausmenschen in Berlin. Zu solchen gehören u. A.: der Barbier, die Waschfrau , der Schornsteinfeger. Der Barbier ist am meisten chronisch, denn er kommt alle Tage; dann folgt die Waſchfrau u. s. f. Welche wichtigen Einflüsse solche Hausmenschen auf den Haushalt ausüben , ist merkwürdig, oft kaum glaublich ; und da bei jedem Uebel nichts wichtiger ist, als seine Wurzel zu entdecken, wird es zweifelsohne äußerst nüßlich sein, sich mit der Naturgeschichte des Menschen vertraut zu machen. Also erstens der Barbier.

62 Wenn man der Ansicht sein sollte, den Barbier als eine einzige Species zu betrachten, so befindet man sich in gewaltigem Irrthum. Ein Premier - Minister kann nicht erhabener auf den Viceschreiber eines Winkelconſulenten herabsehen , als der Heilgehülfe erster Klasse herniederschaut auf den Barbiergehülfen. Der Heilgehülfe , dem ein gnädiger Gott bei seinem Eramen günstig gewesen, weiß den Werth der Heilkunst vollkommen zu würdigen, und läßt sich Doctor nennen. Er geht langsam und das ist einer der größten Unterſchiede vom Barbier - trägt ein dickes spanisches Rohr höchst gravitätisch , ist im Besig von sehr hohen. Halsbinden , und erscheint mit wohlwollender , ja herablaffender Miene am Bette des Kranken, den er auf Befehl des Arztes schröpfen soll. Er fühlt den Puls , stellt die üblichen ärztlichen Fragen mit leiser, weicher Stimme , erkundigt ſich nach den Verordnungen des Arztes , rümpft die Nase und macht überhaupt ein Gesicht, als wenn er sagen wollte : die Aerzte wiſſen alle nichts, ihr Verfahren ist viel zu verwickelt, doch — ich werde das schon machen ! Und er macht's , d . h. er sett Schröpfköpfe. Seine Würde wird nie angegriffen, denn wohin er gerufen wird, befinden fich die Angehörigen des Kranken in Angst. Jeder Arzt erscheint ihnen als rettender Engel, und das wohlwollende tröſtelnde Lächeln des Heilgehülfen erster Klasse stärkt sie , wie der Thau die Blumen. Er wird empfangen wie der Arzt und nach vollbrachter Arbeit zur Treppe geleitet ; der beste Beweis für ihn selbst, wie unentbehrlich er in der Weltgeschichte ist. Welch' himmelweiter Unterſchied zwiſchen ihm, denn im Geißt der Wissenschaft Gebadeten , und dem gewöhnlichen Barbier , der aus Poesie , Leichtsinn , oder vielmehr leichtem Sinn , und Unter-

63 haltungswuth zusammengesezt ist, den auch eine gütige Natur und ein strenger Meister vor jeder Ausschweifung im Wünschen und Hoffen auf Bequemlichkeit und Lurus bewahrt haben , der aber, wie die Spiralfeder, die zu sehr gedrückt, mit desto größerer Kraft aufschnellt, sich durch sein ungeahntes und doch tief in's Leben schneidendes Wirken als Hausmensch dafür zu entschädigen weiß. Er rasirt einen alten vertrockneten Junggesellen , der drei Treppen hoch wohnt, und monatlich für tagtägliche Visiten 15 Sgr. zahlt. Das Meer besteht aus Tropfen, denkt unser Barbier, und eilt die Treppen hinauf. Brummend wird er empfangen , es ist fünf Minuten über sieben Uhr, und er soll mit dem Schlage kommen. Das Brummen artet nach und nach in Schelten aus , es rührt den Hausmenschen nicht , er kennt die Wirkung des Einſeifens , der Alte muß still sein , das Messer sigt ihm , im wahren Sinne des Wortes , an der Kehle , und jezt perlen wie Silberglockentöne vom Munde des Hausmenschen Entschuldigungen', er weiß ja - wie der Alte sich darüber ärgert. Die Arbeit ist ge= than, mit ſyrupsüßem Lächeln verbeugt sich der Barbier ; ehe der Rafirte nur ein Wort erwidern kann, klappt schon der Hausmensch seinen Seifschaum aus der messingenen Büchse auf das Pflaster, nnd die Laune des Alten , des , von allen Verwandten ob ſeiner kinderlosen Aktien Vielgeliebten, ist dahin ! Alle Neffen und Nichten, die mit rührender, eifersüchtiger Liebe sich heute ihm nahen, werden unwirsch empfangen - fie ahnen nicht , daß der Hausmensch ihnen den schlechten Tag bereitet hat ! Und weiter trabt er die Straße entlang - er stürzt, ohne den Staub vom Fuße zu schütteln, zu einem Geheimen Rath, der wegen des nahenden Ordensfestes ganz vergessen hat , ihm sein

64 Honorar zu zahlen. Der Hausmensch kennt ihn durch und durch ; er hat ja den edlen Kopf alle Tage unter ſeinen eisigen, naßkalten Fingern , er weiß , für wie unfehlbar sich der Geheime Rath halten. Derselbe ſizt schon auf dem Stuhl ; er ſeift ein, das Messer blitt dem Opfer vor den Augen . „ Glauben der Herr Geheime Rath auch, daß wir Krieg bekommen ?" fragt der Hausmensch ganz gelaſſen , und ſeßt das Messer an. Keine Antwort ; das Messer arbeitet gerade auf den Stoppeln , die sich über der Halsader zeigen ― jedes Wort würde einen lebensgefährlichen Schnitt zur Folge haben. ,,Merkwürdig, Herr Geheim-Rath", fährt der Hausmensch ge laffen fort, „ alle meine Kunden können schlecht hören ; man muß ordentlich schreien , ehe sie verstehen ; Sie auch , Herr Geheimer Rath!" Mit erhobener Stimme hat er die leßten Worte gesprochen, dabei die Nase des Delinquenten gefaßt, der einen Ton, halb Seufzer, halb Grunzen, ausſtößt, und arbeitet auf der Oberlippe, so daß die Aussprache des einfachsten Consonnanten schon gefährlich wäre ; und so lange er barbiert , läßt er sich gründlich aus über Schwerhörigkeit und deren Folgen. Endlich ist die Operation vorbei, der Herr Geheime Rath trocknen das Geficht, und bauen innerlich eine kunstgerechte grobe Antwort. „ Empfehl' mich!" tönt es von der Thür her - der Hausmensch iſt verſchwunden, und wie der Teufel Schwefelgeruch , so hat er üble Laune zurückgelassen. Weiter geht's, Trepp auf, Trepp ab ; gegen seine Eile, ſeine Hast ist der Briefträger nur eine langsame Schildkröte , denn bis neun, höchſtens zehn Uhr muß er den ganzen Kreis seiner Patienten besucht und ſtoppelfrei gemacht haben, um von da an das

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Geschäft zu Hause en detail gegen 6 Pf. pro Stück oder mit Baschwasser und reinem Handtuch gegen 1 Sgr. fortzuseßen. Haftig und lustig ist sein Wahlspruch ! Einen wahrhaft heiligen Schauer empfindet aber die Hausfrau, wenn die Waschfrau so gnädig gewesen, eine zusagende Antwort in Betreff ihrer Hülfe zur bevorstehenden Wäsche zu ertheilen. In wie weite, neblige Ferne verschwinden die Begriffe Gatte und Liebe bei dem Bewußtsein : Morgen früh kommt die Waſchfrau ! Das Morgenhäubchen wird an diesem Höllenfestvorabend gar nicht abgesezt , und mit eisigen Zügen dem Manne während der Mahlzeit das beflügelte Wort : " Morgen kommt die Waſchfrau!" zugerufen. " Schon wieder ?" ſtöhnt der Unglückliche ents ſeßt; aber ungerührt antwortet sie : „Ja, schon wieder! Schon wieder ? So , also schon wieder ! Schon wieder , nach einem Vierteljahr!" Der Gatte schweigt , schon widert ihn eine solche Unterhaltung an, und über die Stirne der Gattin ziehen die Gedanken an Lauge und Seife, die Zahlen der zu waschenden Servietten , Strümpfe u. s. w. , der Zweifel, ob dem Dienstmädchen zu gestatten sei, außer ihrer Wäsche auch noch zwei Steppröcke mitwaschen zu dürfen , erfordert Stunden des ernſteſten Nachdenkens. Aber ein liebessonniger Blick für den Gatten? der ist in's Reich der Träume verseßt. Der Mann fügt sich ; was soll er auch machen? Ja noch mehr, er tröstet sich und seiner Zunge entgleiten die gewagten , dumpfgesprochenen Worte : „ Dann werde ich morgen Abend etwas lange bleiben!" . Das kannst Du !""" ist die staunenswerth ruhige Antwort. Wo wäre eine solche zu Friedenszeiten möglich ? Waschfrau ! Du hast die Bande der Liebe zerrissen; die Herzen gesunden erst wieder , wenn deine laugenIII. 5

- 66 hafte Gestalt längst entschwunden , wenn der Aerger über die. quittegelbe Wäsche durch den Balsam der Zeit gemildert , wenn die neben dem Waſchen verschwundene Seife verschmerzt , wenn der Waschschrank endlich ganz gefüllt , und endlich der Gedanke : dies Alles ist mir unterthänig ! wieder menschliches Rühren in das bis dahin mit Berliner Blau, Stärke und Scheelseife gefüllte Herz der Waschfrau hat einziehen lassen. Waschfrau ! Du bist der schlimmste, gefährlichste aller chronischen Hausmenschen ! Sie kommt, die Rothfingerige , ehe die rosenfingerige Aurora ihre Morgenpromenade angetreten ; sie ist im Beſiß des Hausschlüssels ; vor vier Uhr Morgens ist sie da , aber das Leiden hat schon früher begonnen , denn schon dreimal ist der Gatte aus füßen Träumen geweckt, schon dreimal hat die Gattin gefragt : „Haft Du nicht die Hausthür gehen hören ?" Endlich meldet das Dienſtmädchen die Ankunft der Ersehnten. Ist auch der Kaffee für sie fertig, und die Schrippen geschmiert ?" fragt fast ängstlich die Hausfrau. „ Alles in Ordnung ! " ist die Antwort ; Mädchen und Waschfrau gehen in das Waschhaus , etwas beruhigt sucht die Hausfrau den verlorenen Schlaf wieder einzuholen , und der geweckte Gatte seufzt den empörenden , nur mit seinem Halbschlaf zu entschuldigenden Gedanken : Warum bin ich nicht Waschfrau geworden, dann brauchte ich nie auf den Kaffee zu warten. Rietsch ! Rietsch ! Rietsch ! tönt es aus den geheiligten Räumen des Waſchhauses ; die Seife ſprigt und der Keſſel brodelt , aber diese Musik bildet nur die Brummstimme für den Sopran der waschfräulichen Zunge. Tief beschämt gestehen wir dem Leser, daß eine in allen Theilen genügende Beschreibung dieser Mordwaffe vollkommen über unseren Horizont geht ! Ein Vergrößerungs-

67 glas stärkster Art verhält sich zu ihr, wie die Mücke zum Elephanten'; eine durch das Prisma zum Aeußersten verzerrte, an sich schon schreckliche Carrikatur ist eine Raphael'sche Madonna gegen die Bilder, wie fie die Zunge der Waschfrau von ihrer Kundschaft entwirft. Berlin wird Weltstadt ! ruft der kurzsichtige Bethörte. Mensch , der du das sagst, du hast keinen Begriff von einer ächten Berliner Waſchfrau, keinen Begriff von der affenartigen Geschwindigkeit , mit welcher fie Neuigkeiten in's Ohr gehen läßt , sie auf dem kurzen Wege vom Ohre zum Munde zerarbeitet, und dann als ungeahnte Phönire entfleuchen läßt. So lange das edle Geschlecht der Waschfrauen eristirt, bleibt Berlin die größte kleine Stadt! Vor dem Kammerdiener giebt es keinen Helden , und vor dem Dienstmädchen keine unberedtbare Herrschaft. Aus voller Brust tönen ihre Klagen hinüber zu ihrem Vis-à-vis am Waschfaß, leicht finden sie da Eingang, der durch keine üppigen Formen erschwert wird ; das Herz der Waschfrau ist gerührt ; sie tröstet und erzählt, wie schauerlich es andern Dienstmädchen geht , wie Frau Schulz nach ihrem Dienstmädchen mit heißer Kasserolle geworfen (ſie hatte in Wirklichkeit dieselbe wegen des heißen Griffes fallen laſſen), wie bei Müllers das Mädchen rein verhungern müßte (dieselbe hatte beim leßten Damenkaffee keinen Kuchen in die Küche bekommen), u. dgl. „Meine Madame ist nicht besser“, seufzt das Mädchen. „Das weiß ich schonst lange !" erwidert die Waſchfrau. Und da kommt sie , die Hausfrau, über den Hof, unſchuldig wie ein Bäppelkind ; fie ahnt nichts von dem Gericht , das über fte gehalten, sie hat früher Vater und Mutter des Mannes halber verlaſſen, jeßt läßt sie Mann und Kinder im Stich , nur wegen III. 5*

68 der Waschfrau, hat alſo um diese : Vater, Mutter, Mann, Sohn und Tochter verlassen ! lächelnd bringt sie das sorgfältig bereitete Essen, den Kaffee, die Butterbrode, ängstlich studirt sie das Gesicht der alternden Najade, um nur gar keine Unzufriedenheit hervorzurufen, um nicht den geringsten Anlaß zur Rederei zu geben dreimal und viermal gesegnete Unschuld! So ist die Waschfrau als Hausmensch, doch als Mensch betrachtet , welch' himmelweiter Unterschied ! Morgens um drei Uhr steht sie auf, Abends um neun Uhr kehrt sie heim, so einen Tag wie alle Tage. Als sie jung war und ſtarke, schmucke Köchin, da hat sie einen Weber geheirathet. Tüchtig und wie geschaffen war sie zum Wirthschaften , aber was war da zum Wirthschaften ? Fast Nichts ! Sie schenkte ihrem Gatten ein Töchterchen, er quälte und arbeitete bis er ruhen konnte - im stillen Grabe, und ließ sie allein mit dem Kinde , mit den Sorgen in der weiten, öden Welt. Das Kind war ihr Augapfel , war ihr Alles ; sie wurde Waschfrau, die Liebe zum Kinde ließ sie nicht ermüden, bis die Gewohnheit der harten Arbeit ihr zur zweiten Natur geworden. Das Kind wuchs heran , aber troß der Liebe zu ihm, konnte kein Schulmeiſter ſtrenger ſein wie die Mutter ; fte kannte ja gründlich die Welt, wußte ja, wie schwer es ist, in der großen Stadt ein armes hübsches Mädchen vor Unheil zu bewahren. Und das Kind liebte die Mutter , und lernte fleißig und nähte. Als sie eingesegnet werden sollte , da hatte sie ihre Kleidchen selbst verdient , und als der hochwichtige Tag kam, da nahm die Mutter keine Arbeit an , keine Arbeit mitten in der Woche ! Das war seit dem Tode ihres Mannes , seit vierzehn Jahren noch nicht vorgekommen ! Und als am Vorabend das

69 Mädchen mit leuchtenden Augen ihren Anzug mußterte, da zog die Mutter leise ein schönes neues Umschlagetuch, ein Paar glänzend blendende Ohrringe aus der alten Kommode hervor, und eine Broche von Stahl. Und das Kind jauchzte auf und weinte, und die Mutter auch, die Mutter, der seit vierzehn Jahren der Kampf mit dem Leben keine Zeit zur Thräne gelassen ! Als am andern Tage die Sonne hell vom Himmel lachte, da gingen die Beiden still zur Kirche Hand in Hand ; so stolz, so glücklich war wohl keine andere Mutter, die mit geschmückter Tochter in schöner Karosse zur Kirche fuhr. Und als die Orgel erklang, da weinte die Alte wieder ; war ihr doch , als wenn ihr seliger Mann auf fie herabblickte , und fte weinte während des ganzen Gottesdienstes, war's Freude , war's Schmerz , war's ein Gebet zu Gott, wer kann das wissen ? Kaffee und Kuchen gab's dann zu Hause, und alte und junge Freundinnen kamen und plauderten bis spät in den Abend. Als aber die Alte endlich zu Bett ging, war ihr so eigen, fast be Hlommen zu Muth fie hatte ja einen ganzen, lieben, langen Wochentag garnichts gewaschen, garnichts gethan ! "Morgen kommt der Schorschtenfeger !" dröhnt es durch das friedlich stille Haus. Merkwürdige Wirkungen! Das ganze Gebäude ist mit dem alten Salzkuchen eines Vogelliebhabers zu ver gleichen, in welchem er Mehlwürmer groß zieht. Wie die Berührung deſſelben wirkt dieser Ruf im Hauſe . Aus jedem Loche kommt ein Kopf hervor , aber kein stillschweigender Madenkopf, ſondern ein räſonnirender Mädchen , resp. Frauenkopf. „Was ? schon wieder? Det wär nett! Na ooch noch ! Paßt mir nich,

70 is nich ! " sind die kurzen aber deutlichen Entzückungsrufe der rothwangigen Köchin des ersten Stockwerkes , „ jestern det janze Kupper jeſchauert, un morgen der Schorschtenfeger ? Ei wei ! foll blos kommen !" Mit höhnischem Lächeln wirft sie das Fenster zu, fest entschlossen morgen mit Aufbietung aller ihrer Kräfte den angesagten Besuch zu hintertreiben. „Det müssen Sie mit'n Wirth abmachen“, antwortet ruhig der Schornsteinfeger. "Morgen die Schornsteinfeger ?" ruft ein kleines , schmalbäkkiges Frauchen aus der Corridorthür, „ gut, kommen Sie nur, aber das lezte Mal haben Sie meine Maſchine in der Küche verstopft, ſtatt rein gemacht ; ich bezahle keinen Dreier!" „Det müſſen Sie mit'n Wirth abmachen!" „Morgen sind wir Alle nicht zu Hause," sagt Frau GeheimRath, wir fahren über Land !" „Det müssen Sie mit'n Wirth abmachen !" So geht's durch's ganze Haus . Gründe gegen Schornsteinfeger giebt's hier wie Brombeeren. Alle Miether sind jeßt informirt, noch einmal geht der schwarze Hiobsbote mitten auf den Hof und ruft nun generaliter noch einmal für's allgemeine Beste : „Morgen kommt der Schorschtenfegär !! " und aus Gewohnheit und Uebung brummt er ruhig hinterdrein „det müſſen Sie mit'n Wirth abmachen !" Und weshalb ruhig und gelaſſen ? Morgen komint er doch , und Keiner darf's ihm wehren, und das blanke Kupfer wird doch rahmig, die Maschine bleibt doch verstopft und bei Geheim-Raths ist doch Jemand zu Hauſe ; ſein Geld bekommt er auch und obenein die mißmuthigſten Gesichter, die ungaſtfreund : lichsten Redensarten. Doch was thut's ? Daran ist er gewöhnt ,

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ja, er freut sich darüber, und als die keifende Köchin behauptet, der Schornstein sei noch ganz rein, er solle sich scheeren, da blizen ſeine weißen Zähne durch das lachende rußige Gesicht : „Nee Mamsellken", sagt er, det muß ick wiſſen, un wenn Sie alle Dage so ' ne Maſſe Qualm loslassen , wie jezt alleben , denn muß ich noch öfters bei Sie kommen ! "

Ein Blick in's alte

Berlin.

Eine heutige berliner Hochzeit bei reichen Leuten ist leicht zu beschreiben und nicht schwer zu Stande zu bringen. Der reiche Banquier , welcher ſo glücklich ist , eine Tochter zu beſißen, die noch glücklicher ist , einen noch reicheren Banquier als Bräutigam gefangen zu haben , er, wie die Tochter verlieren noch kein Schweißtröpfchen um den wichtigen Lebenstag. Papa schickt den wohlbetreßten Bedienten zu Arnim oder zum Hôtel de Rome, um eine große Hochzeit ," Couvert 5 Thlr. ohne Wein für 200 Personen zu bestellen. Das Töchterchen läßt anſpannen, macht sich die schreckliche Mühe zu Gerson zu fahren , wählt den bescheidenen Brautanzug für einige Hundert Thaler , und der Bräutigam endlich hat bei dem größten Jouvelier unter den Linden die Qual des Aussuchens eines „niedlichen Schmuckes " für einige Tausend Thaler. Hiltl, der Hoſtapezier und Genossen haben das Ihrige gethan , die Wohnung für das junge Paar „wohnbar“ zu machen , am Hochzeitstage Kirchgang , Mittagessen , Ball , Verschwinden des Brautpaares und - die Geschichte ist aus. Nicht mit der breiten Beschreibung einer solchen Berliner Hochzeit , die Du alle Tage sehen , vielleicht auch mitgenießen kannst, lieber Leser, sollst Du hier geplagt werden , auch sollst Du

73 nicht sehen , wie Armuth und Entbehrung den glücklichsten Tag im menschlichen Leben mit dem Schleier der Schwermuth umgiebt, nein, eine reiche , recht reiche Berliner Hochzeit soll's ſein , aber nicht von heute! Eine Hochzeit , wie sie 1419 Anno Domini ge= feiert ist in der Stadt Berlin , alſo grade vor 450 Jahren. Da aber Berlin noch nicht ganz so ausgesehen hat , wie heute , da weder Arnim's Urgroßvater schon Hotelbefizer war , da ſelbſt das Trottoir unter den Linden noch fehlte , auch noch kein Gas dort brannte - einfach, weil's noch keine Linden gab , mußt Du schon verzeihen , lieber Leser , wenn Du nicht gleich die Glocken der alten Nicolaikirche zum Hochzeitsfeſte läuten hörst , sondern sollßt erst, wenn auch mit flüchtigem Blick, Berlin überſchauen. Geh von den Werderschen Mühlen nach der Petrikirche, von da durch den Mühlendamm nach der Waisenkirche , die neue Friedrichstraße entlang , durch die Rosenstraße über den Neuen Markt , von da über die Spree nach der alten Börſe und von hier wieder nach den Werderschen Mühlen und Du bist um zwei Städte von 1419 gegangen, um Berlin und Cölln ! In beiden Städten , die durch mächtige Thürme und Wälle und Fallgatter geschüßt sind, denke Dir ungefähr 8000 Menschen , die das hocherhabene Glück genießen durch 250 Mönche und Pfaffen über das Leben im Jenseits ganz genau belehrt zu werden, und -- Du hast ein Bild von den Schweſterstädten , deren Häuſergiebel nach der Straßenseite gekehrt , wo die Räume zwischen den Häuſern Pfüßen waren , wo die Schlächterjungen noch nicht das Unglück hatten , wegen Betreten des Bürgersteiges mit der Molle vom Schußmann notirt zu werden , da es weder Bürgersteige noch Schußmänner gab , wo das Rauchen in den Omnibuſſen noch

74 nicht verboten und das Publikum mit täglich neuen Tarifen ge= ärgert wurde, wo endlich man denke, wie schrecklich es noch nicht einmal ein Herrenhaus gab ! Nur Berliner Bürger und Rath lebten in den engen Mauern , aber ehrhaft und wehrhaft, treu und derb, mit kleinem Geist, großen Magen und stets durstiger Kehle . Die 450 Jahre , die zwischen damals und heute liegen, mögen die derben Sitten unserer Vorfahren nicht zu rauh erscheinen lassen. Die Ansichten sind verändert ! Damals wäre die Frau , welche heute getrost mit ihrem Gatten Bier trinken geht, öffentlich an den Pranger gestellt , und unsere Vorfahren würden fich baß verwundert haben , wenn sie gesehen , wie wir mit dem Hemde uns schlafen legen , und dasselbe nicht fein ſäuberlich ausziehen und für feſtliche Gelegenheiten in der Truhe bewahren. Es war ein schöner Maimorgen . Die Sonne lachte vom Himmel herab und gab sich unsägliche Mühe , durch die kleinen, runden Hornscheiben in die Stuben der Berliner zu dringen ; wurde auch nicht bös , daß so viele ihrer freundlichen Strahlen auf fast ebensoviele Dunghaufen fielen , die sich neben und vor den Häusern durchaus nichts an Plaz abgehen ließen. In der Straße der schwarzen Brüder , nicht weit vom Dominikanerkloster selbst , welches damals auf dem heutigen Schloßplaß gelegen, stand vor seiner Hausthür der wohlgenährte Knochenhauermeister Peter Klaus. Die Sonne schien ihm aufs Vollmondsgesicht und seine beiden Hände ruhten gemächlich auf dem wohlgepflegten Leibe , wie dies eben nur bei Leuten der Fall sein kann , die mit vollem Geldbeutel hinter sich ', sorglos vor sich in die Zukunft schauen können. War die Straße ihm auch durchaus nicht

75 neu , konnte er selbst in der Dunkelheit jeder Pfüße aus dem Wege gehen - er schaute doch mit größtem Ernst nach links und rechts, wie er es schon seit vierzig Jahren alle Morgen zur ſelben Stunde gethan - das Lesen der Morgen Zeitung war ja noch nicht erfunden - und so mußte er sich mit den Neuigkeiten begnügen, die unmittelbar unter seinen Augen sich ereigneten. Und heute ereignete sich etwas ganz Außergewöhnliches . Durch das Gertraudtenthor kam auf hübschem, aber ermüdetem Pferde ein junger Mann langsam die Straße heraufgeritten . Von seinem Sammetbaret wehte lustig die Feder , sein knappes , geschlittes Wamms war vom feinsten Tuch , wenn auch der Staub recht tüchtig darauf lag , das kurze Schwert in schönem Gehänge verrieth den Edelmann, und das Bündel hinten am Sattel bezeugte, daß er nicht vom Spazierritt , sondern von einer Reiſe kam. Gar große Augen machte Herr Peter Klaus , als er den Reiter sah ; noch größere aber, als der junge Herr grade vor ihm anhielt und kurz fragte : „Wohnt hier Peter Klaus ?“ „Zu dienen, lieber Herr," erwiderte derselbe, " der steht vor Euch !" Ueber das Gesicht des jungen Mannes flog ein heiteres Lächeln ; er stieg ab , reichte dem Alten treuherzig die Hand und sagte: Gott zum Gruß ! Ich komme aus Nürnberg. Mein Vater heißt Tyde von Wartenſtein, der schickt den Brief hier.“ „Poz Bliz !" antwortete Klaus , „ Tyde von Wartenſtein, mein alter Freund und Gönner ! Und Ihr, Herr, ſeid ſein Sohn ? Wie die Zeit vergeht ! Das ist brav von Tyde , daß er meiner nach 30 Jahren noch gedenkt. Doch vor allen Dingen, tretet ein in mein Haus und seid willkommen. " „Doch mein Pferd ? — “

- 76 „Wird aufgehoben und ſoll guten Hafer bekommen. Heda, Steffen, führe das Pferd des jungen Herrn in den Stall ! " Peter und sein Gaſt traten in's Haus ; der gepflasterte Flur diente als Laden und dahinter lag die Wohnstube. Der Gaſt fah das Zimmer mit erstaunten Augen an; er hatte fich die Wohnung eines reichen Berliner Bürgers anders gedacht. Nur matt ſchien die helle Sonne durch die trüben Scheiben , Stühle , Tiſche und Bänke waren rothbraun gestrichen , nur der mächtige Wandſchrank war von künſtlich geſchnißtem Eichenholz ; neben dem großen ſchwarzen Ofen ſtand ein Tiſchchen mit Weihwaſſer und Crucifix und als einziger Schmuck hing an den weiß getünchten Wänden eine Sturmhaube , ein mächtiges Schwert und darüber , dicht an der Decke , wie dazu gehörig , drei lederne , roth gestrichene Feuereimer. Lächelnd ſah Klaus das Staunen des Gaſtes. „Nun,“ ſagte er, „ daheim in Nürnberg ſieht's wohl anders aus , als hier bei uns groben Märkern ? Doch ſeid guten Muthes ; iſt's Fell auch rauh uud ſchwielig, das Herz haben wir doch auf der rechten Stelle. Sezt Euch und theilt unsern Morgen - Imbiß. Heda, Cathrine, wir haben einen Gaſt ! Komm herein!" Frau Klaus ließ nicht lange auf sich warten. Ihre Körperfülle harmonirte vollkommen mit der ihres Ehegeſponſtes , und die kleinen , aber freundlichen Augen wollten fast aus dem Kopje springen vor Neugierde ob des unerwarteten Gaſtes. „Hier, Cathrine“, sagte Klaus , „ist der Sohn meines werthen Herrn Tyde von Wartenstein , den ich , wie Du ja oft gehört, vor nun 30 Jahren bei Bernau traf, als er sich eben mit den Strauchräubern fazbalgte. Ha , ha , junger Mann ! Hättet dabei sein sollen , wie Euer Vater dem einen Hallunken den Schädel

-77 spaltete , so gerade durch die Nase und wie ſie Alle davonliefen, als ich dem andern einen Backenstreich gegeben , daß er gleich zum Tafel gefahren ! War 'ne schöne Zeit ," fügte er seufzend hinzu , „wo ich noch soviel Kraft hatte , daß ich mit bloßer Faust ſo einen Schlingel zu Boden schlug. Doch ſezt Euch, ſeßt Euch! Mutter! bringe das Eſſen!" „Nun , ich nehm's mit Dank an ! " sagte der junge Mann und setzte sich. „ Bin heute schon fünf Stunden geritten, da fühlt man den Magen!" Frau Klaus war flink auf den Beinen ; bald stand ein dampfender Hirsebrei auf dem Tiſch. Fleiſch mit Brühe , und Klaus selbst füllte die mächtigen Zinn-Kannen mit bestem Bernauer Bier. "„ Eure Stadt ist ein merkwurdig Ding !" sagte der Ritter, indem er kräftig zulangte. „Reite ich da durch's Gertraudtenthor und kann kaum durch die Menge von Buben und Weibern kommen ; glaub', sie standen um einen Käfig , konnte aber nicht sehen, was darin war. Sagt 'mal Meister, habt Ihr denn wilde Thiere hier ?" Klaus und seine Frau lachten aus vollem Halse. „Ja wahrlich," sagte Klaus endlich , „wilde Thiere ſind's , aber sie werden zahm , sobald die Sonne ihnen ordentlich auf die Naſe brennt. Was Ihr da geschen habt , das ist die Narrenkiste. Wer des Nachts betrunken auf der Gaſſe gefunden wird , den bringen ſte dahinein, da kann er ausschlafen , ohne daß Strolche ihn beſtehlen aber närrisch schaut's schon aus , wenn er am Morgen , ſtatt daheim im Bette , hinter dem Holzgatter aufwacht und nicht weiß, wo er hergekommen, und die Buben pfeifen und schreien davor!" " Also ist's wohl ' ne Schande ?" fragte der Ritter.

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„Gewiß ist's eine ! " erwiderte Meister Klaus. „Zu viel trinken kann Jeder ; denn ich wollt's meinen Gästen gewaltig krumm nehmen , wollte auch nur Einer beim Nachhauſegehen grade aufrecht stehen, ohne zu wanken ; wozu wär' denn sonst der Schmaus, und würden nicht die Leute sagen , daß ich geknausert hätte mit dem Bier? Bei Leibe nicht ! Unter den Tisch müssen sie Alle ; aber nicht nach Hauſe finden können -- das ist eine Schande!" Der junge Mann schien über dieſe Logik nachzudenken , ließ es ſich aber dabei trefflich ſchmecken. Frau Klaus hatte noch kein Wort gesprochen, aber desto freundlicher erglänzte ihr volles Gesicht über den gesegneten Hunger des Gastes. „Sagt , lieber Meister ," fuhr derselbe nach einer Weile fort, „in Eurer Stadt scheint es doch anders herzugehen , als daheim der Vater hat mir gesagt, Ihr würdet's mir schon weisen." „Das will ich, Herr Ritter „Nicht doch !" fiel ihm dieser in's Wort, „nennt mich kurzweg Curt, so heiße ich." "1 Gut also , Herr Curt , das will ich. Und Ihr seid grade zur rechten Zeit gekommen, um unsere schmucken Dirnen im besten Staate zu sehen, denn morgen giebt's Hochzeit, und das bei mir!“ „Bei Euch ?" fragte Curt erstaunt. „Ja bei uns !" ſagte lebhaft die Hausfrau. „ Unsere Tochter Dorothee heirathet morgen , auch einen vom Viergewerk, ist auch Knochenhauer, ein stattlicher Mann. “ „Das ist ja herrlich ! " rief Curt. „Also eine Hochzeit , na, da wird doch getanzt ?" „Und getrunken !" fügte der Meiſter hinzu.

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„Und gegessen , so viel Jeder will , je mehr , je besser !" er gänzte die Mutter. „Herrlich !" rief Curt , indem er innerlich über die leibliche Fürsorge lachte. „ Doch sagt , Meister , Euer Schwiegersohn ist auch vom Viergewerke ? Was ist das ?“ „Das ist etwas sehr Wichtiges ! " entgegnete Klaus mit würdevoller Miene , „ſeht , unsere Stadt ist nicht groß , aber das Raubgesindel mehrt sich von Tag zu Tag. Nun, einen Einzelnen schlagen sie todt , halten wir aber zuſammen , so kann uns Keiner was anhaben , selbst der Kaiser nicht. Da haben sich nun die vier Hauptgewerke zusammengethan , die Knochenhauer , Wollenarbeiter , Schuster und Bäcker , und bilden ordentliche Zünfte, müſſen uns beiſtehen , wenn's Noth thut , achten auch darauf, daß Jeder von uns kein Saufsack wird , und ordentlich bleibt und nicht mit ehrlosen Menschen umgeht , z . B. mit Gauklern , dem Scharfrichter, dem Schinder, dem Hirten oder dem Todtengräber ; ja die Weber sind noch strenger wie wir ; steht eine gar harte Strafe in ihrer Zunft darauf, wenn einer mehr als drei Pfennige des Tages verjubelt ! Nun , wir vier Zünfte halten zusammen und darum haben wir auch mitzusprechen , so gut wie die Ge= schlechter , d. h. die Adligen , die in die Stadt gezogen und auch das Bürgerrecht erworben. „ Nun , Frau Meiſterin, wenn Ihr ein Töchterlein habt , darf man sie denn sehen ?" sagte Curt. „Wenn fie Euch ähnelt, muß fie eine schmucke Dirne sein !" Frau Klaus lachte laut auf vor Vergnügen. „ Dörthe !" rief fie, Dörthe, komm herunter ! " Dorothea kam. Wie sah sie aus ? Nun , wie heut zu Tage

--- 80 eine hübsche dralle Kuhmagd aussehen würde, nur etwas ſchüchter: ner. Ihr Anzug war einfach und wie zur Arbeit gemacht ; die Röcke aufgeschürzt , doch das volle flachsblonde Haar zierlich geflochten, die Hände derb und fest, unbekannt mit den Glacé's unseres Jahrhunderts und die hübschen, großen, blauen Augen züchtig zur Erde gesenkt. "„ Gott zum Gruß , schönes Kind!" sagte der Ritter und erhob sich. " Willkommen Herr Ritter!" antwortete das Mädchen und bot ihm treuherzig die Hand. „Laßt es Euch gut schmecken , und wenn der Hirsebrei nicht mundet, so ist Schinken und Wurst vollauf in der Kammer!" „Recht ſo , Dörthe ," sagte Klaus , „bring ' noch etwas her! Freund Curt mag unsere Wurst probiren !" Lezterer hatte genug zu reden, um die Familie von fernerem Auftischen abzuhalten und hoch und theuer zu versichern , daß er vollkommen genug habe. Da ging die Thür auf , und herein trat ein langer , hagerer Mann, einen dicken, ungeschickten Blumenstrauß auf dem Wamms, gefolgt von vier halbwachsenen, baarhäuptigen Jungen, die gleich: falls ihre Brust nach ihrer Art mit Blumen geschmückt hatten. „Da kommt der Schulgesell mit seinen Bacchanten , Freund Curt!" sagte Klaus. „Freund Hieronymus," fuhr er zu dem Eintretenden gewendet , fort , „ habt Ihr brav Umzug gehalten und Keinen vergessen ?" „ Gewiß nicht , Meister !" erwiderte der Lange - zu allen Zeiten scheinen die Schulmeister dünn und die Mönche dick

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geweſen zu ſein – „gewiß nicht ! Bin bei Allen heut zum dritten Male gewesen. War eine große Arbeit, denn es sind viele!" „Hat wohl auch 'was eingebracht ?" meinte Klaus schmunzelnd. "I Gewiß , Meister ! Hab' wohl dreißig Pfund Wurſt im Ganzen bekommen, und meine vier Bacchanten haben einen ganzen Sack voll Backobst!" „Bacchanten nennt Ihr die Buben ? " fragte Curt. heißt das, mit Verlaub ?"

„Was

„Der Herr ist hier wohl fremd ?" fragte Hieronymus neugierig. Doch ich will's gern erklären. Der Oberste von der Schule in Berlin ist der Scholafticus , das ist jeßt der Prior von den schwarzen Brüdern , er hat die Oberaufsicht ; der stellt den Vicarius an, das ist der Vorsteher der Schule, und der hat wieder fünf Schulgesellen , wovon ich einer bin. Wir geben den Unterricht -" "„ Wenn Ihr Zeit habt!" fiel ihm Klaus in's Wort. „Wer kann dafür ?“ ſagte Hieronymus entſchuldigend, „wenn wir bei Hochzeiten einladen und vorschneiden müſſen , wenn wir bei Kindelbier und Todtenschmaus mithelfen sollen , da bleibt freilich nicht viel Zeit zum Unterricht in einer so großen Stadt. Doch dafür haben wir die Bacchanten , das sind die ältesten Schüler, " die schon etwas wissen „Was Rechts wissen sie!" fiel Klaus eifrig ein , „ drei oder vier lateinische Lieder , die der Teufel verstehen mag ; fingen auf der Straße, betteln und bestehlen die Räucherböden, aber Leſen und Schreiben - davor fürchten sie sich, wie der Teufel vor einer

guten Seele !" I.

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82 „Meister!" sagte Curt lachend , ereifert Euch doch nicht so sehr. Fahrt fort , lieber Schulgesell. Was thun denn nun die Bacchanten? „Die haben den Hauptunterricht," antwortete Hieronymus bedächtig , die unterrichten die jüngeren Buben und halten auf Ordnung!" „Auf Ordnung ?" lachte Klaus. 11, Wißt Ihr, Curt, was bei

denen Ordnung heißt ? Sie schicken die jüngeren zum Betteln und Stehlen, und wenn sie ihre Beute dann heim bringen , müſſen sich die Buben den Mund ausspülen , und findet der Meister Bacchant etwa Fleischreste oder sonst etwas im Spülwasser, woraus er fleht, daß die Buben genascht, so walkt er ſeine Zöglinge tüchtig durch und rauft ihnen die Haare aus. Hätt' ich einen Jungen, ich schickte ihn wahrlich nicht zur Schule. Was soll er da ? Lesen und Schreiben lernt er nicht , und was verſchlägt's, wenn er's nicht kann ? Ich kann's auch nicht ; in unserem Gewerk können's nur zwei und — ich bin doch alt geworden und ein rechtschaffener berliner Bürger ! Doch, Freund Hieronymus “, fügte er gutmüthig hinzu, wehe thun wollt' ich Ench nicht , wisst ja doch , daß ich große Stücke auf Euch halte ; seid ja ein rechtſchaffener Mann und ein spaßiger Kerl bei allen Festlichkeiten." Hieronymus schlug freundlich in die dargebotene Rechte; er mußte dergleichen Erpectorationen wohl schon gewohnt sein. "Freund Curt," sagte Klaus, ich habe einen Vorschlag. Ihr seht , bei uns ist Manches anders , wie bei Euch in Nürnberg ; wie wär's, wenn ich Euch unsere Stadt zeigte ? Die Weibsen haben noch zu thun mit Scheuern und Pußen, und Ihr Hiero : nymus bleibt noch hier. Mutter ! Bring' Käse und Bier , da

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mögt Ihr effen, soviel Ihr wollt, auch eine Kanne trinken ; Euch Bacchanten brauch' ich wohl nicht erst zu nöthigen ?" Ein allgemeines Lach-Gewieher der Bacchanten war die zuftimmende Antwort. Topp !" sagte Curt, „ Ihr sprécht mir aus der Seele ; kommt und zeigt, was Ihr Sehenswerthes habt. " Meister Klaus seßte sein einfaches Baret auf den Kopf, schnallte den Schwertdegen um , und Beide machten sich, nach freundlichem Abschied von den Uebrigen, auf den Weg. Sie gingen die Brüderstraße hinauf, am Kloster der schwarzen Brüder vorbei (welches auf dem heutigen Schloßplaße ſtand) zur Langen Brücke. Lang war sie auch, denn damals bildete die Spree noch zwei Arme ; der eine floß im heutigen Bett, der andere die jeßige Heiligegeiftstraße entlang, und so ging die Brücke von dem einen Ufer über die Insel zwischen den Spreearmen hinweg, bis zum andern Ufer. "Seht," sagte Meister Klaus, „das Gebäude dort mitten auf der Brücke mit seinen schönen Malereien und Versen an den Giebeln, das ist das Rathhaus. Die Berliner wollten's in Berlin haben, die Cöllner in Cölln, und so hat man's denn mitten auf die Brücke gebaut , mit dem Hauptgiebel nach der Spree, damit weder Cölln noch Berlin bevorzugt ist.“ „ Ihr scheint ſehr eifersuchtig auf einander zu ſein¼" lachte Curt. „Nụn , so etwas , ja “ , meinte Klaus ; „ ist auch ganz in der Ordnung, das Einer dem Andern auf die Finger ſieht." Was ist das da drüben , hart an der Spree, für eine Bude ?" Da wohnt der Bader." „ Sp ! Hier auf dem weiten , öden Plaz vor dem Kloster? 6*

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Der kann wohl nichts verdienen ; wer wird denn zum Vergnügen durch diesen Sand und Schlamm so weit laufen !" „Zum Vergnügen freilich nicht, " meinte Klaus, „ aber zu thun hat er doch vollauf. Denn seht, wenn's auf dem Rathhaus hart hergeht, und die Schöffen, ſich zanken, dann geht's hier auf dem Plaze noch heißer zu. Cölln ſagt Ja ! Berlin ſagt Nein ! Derbe Kerle find's Alle und nicht lange dauert's , dann hat der Bader soviel blutige Köpfe zu verbinden , daß er sich fein d'ranhalten muß, um fertig zu werden." Während dieses Gespräches waren Beide langſam über die Brücke gekommen nach dem Heiligengeiſt - Viertel (Der jeßigen linken Seite der Königsstraße). "Hört Ihr nicht, Meister ?" "„Was denn ?" „Mich däucht, ich höre Gekreisch von Weibern und Geſchrei; wollen wir nicht hin, vielleicht können wir Jemandem helfen ?" "Wollen sehen," sagte Klaus , „doch ich glaub' an nichts Schlimmes ; wird wohl nur am Kaak wieder was los ſein !“ Und so war's auch. Am Berliner Rathhause , welches noch heur seine alte Stelle behalten, war oder ist vielmehr noch jezt der Kaak, ein roh aus Stein gemeißelter Vogel mit Menschenkopf. Da war auch der Pranger, und Jeder, der einen Diebstahl unter drei Schilling an Werth begangen hatte, wurde dort zur Erheiterung der lieben Jugend ausgestellt, die ihn dann aus Dankbarkeit auch reichlich mit faulen Eiern versorgte. Doch jezt wurde eine andere, damals übliche Strafe vollstreckt. Zwei Weiber hatten sich weidlich gezankt, und der Schöffe, der von diesem Aergerniß erfahren, hatte sie zum Kaaksteintragen verdammt. Beide mußten

85 vom Kaak aus den schweren sogenannten Kaakstein zusammen durch die Gaſſen tragen , und an jeder Gassenecke zum unglaublichen Jubel von Jung und Alt, unter Aufsicht des Büttels , genau ihre Schimpfwörter wiederholen , durch welche sie ein öffentliches Aergerniß gegeben hatten. Klaus lachte , daß ihm die Thränen von den Backen liefen, und auch Curt mußte einstimmen , als er die beiden Weiber sich mit dem Steine schleppen sah, wie sie sich wüthend ansahen und aus voller Ueberzeugung an der nächsten Ecke ihre Schimpfwörter wiederholten. Weiter führte Klaus seinen Gast und zeigte ihm Straßen und Pläge ; doch würde es uns zu weit führen, wollten wir ihnen folgen. Nur so viel , daß ſie ſchließlich am Gertraudtenthor im Bernauer Keller ausruhten, und daß Curt, ungewohnt des starken Gebräues, sanft einschlummerte und nur mit Mühe vom kräftigen Klaus nach Hause geschleppt werden konnte, um erst am andern Morgen, dem Hochzeitsmorgen, zu erwachen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er sich vom Lager erhoben und von seinem sauberen, weiß getünchten Giebelftübchen in die Wohnstube herunter ging. Diese war festlich ge= schmückt, Blumen und Laubgewinde schmückten die Wände, und der schlohweiße Sand, der von jeher heimisch in der Mark, war über den Estrich- Fußboden gestreut, daß der Fuß bei jedem Schritte knirschte. Die fünf Gesellen des Meisters standen am Fenster und schauten im festlichen Anzuge die Straße hinunter , nnd der Meister selbst saß würdevoll im Lehnstuhl, die Hände auf dem wohlbehäbigen Bäuchlein gefaltet. Also doch schon ?" lachte er, glaubte wahrlich, Ihr würdet

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den ganzen Tag schlafen ! Gott zum Gruß ! Der Bräutigam wird wohl nicht lange mehr bleiben ; sezt Euch zu mir hierher!" „Sie kommen, sie kommen ! " riefen die Gefellen. Und wirklich, der Bräutigam kam im vollen Staate die Straße herauf, gefolgt von seiner ganzen Sippe, Vater , Mutter , Basen , Muhmen, Brüdern, Schwestern und allen Verwandten und Freunden. Die Thür that sich auf. Einer nach dem Andern trat ein, und Meiſter Klaus hatte vollauf zu thun, die dargebotenen Hände zu schütteln. Die Männer blieben, aber die Frauen und Mädchen gingen in's Brautgemach. Nicht lange währte es, so kamen auch die andern Gäste und die Stube konnte ihre Zahl kaum faſſen. Hieronymus, Plazmeister !" rief Klaus, sind meine werthen Gäste, Gevattern und Lieben alle da ?" "Jezt fehlt keiner mehr!" sagte Hieronymus feierlich. „ Nun, so mach die Thür auf!" Gravitätisch ging Hieronymus zur Thür des Brautgemaches, öffnete sie und rief: „ Jungfer Braut, alle Freunde, Gevattern und Liebden find da und der Bräutigam auch !" Still und langsam traten alle Frauen und Mädchen ein, voran die geschmückte Braut, doch noch ohne Kranz. Der Bräutigam ging ihr entgegen, gab ihr einen derben Kuß, der von bedeutender Uebung beider Theile in dieser edlen Kunst zeugte, und nahm aus zwei großen Körben , die vier Bacchanten trugen, für jede Frau und jedes Mädchen ein Paar Schuh und ein Paar Pantoffeln, natürlich für die Braut die schönsten. Ob fie wohl alle gepaßt haben ? Schwerlich, doch damals kam es auf einen Zoll zu lang, auch wohl auf zwei , nicht so genau an. Allgemeiner Dank folgte in allgemeinen Redensarten. Jeder

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suchte sein Erstaunen und seine Freude auf seine Art auszudrücken, obgleich Jeder dieses Geschenk , als alt hergebrachte Sitte, er wartet hatte. Jeht war die Reihe des Schenkens an der Braut. Zwei Gesellen sezten eine Truhe vor sie hin , und jedem männlichen Verwandten machte sie ein Geschenk mit - einem Hemde ! Ein seltsames Geschenk, besonders in jener Zeit, in der Hemden keineswegs zum eigentlichen Bedürfniß gehörten ! Man trug ste gewöhnlich nur beim Baden, und vielleicht bei beſonders feſtlichen Gelegenheiten, dann aber zog man sie Abends zum Schlafengehen wieder aus. Im Hemd zu schlafen , wäre ein unerhörter Lurus gewesen, man legte sich à la Adam in's Bett, auch wenn, wie dies häufig geschah, zwei bis drei Personen in einem Bett schliefen. Nach vollbrachtem Austausch dieser Geschenke ordnete sich die Gesellschaft , mit den nöthigen Rippenstößen des hochwichtigen Schulgesellen, zum Festzug, die Brüderstraße entlang zum Krögel, um ein Bad zu nehmen. Voran schritten die Musikanten, die Lungen und Finger bestens anstrengten , um so viel Spectakel wie möglich zu machen —denn Musik konnte man den Lärm nach unseren Begriffen kaum nennen . Die Gäste folgten, die Frauen zuerst mit ihren neuen Schuhen, dann die Männer mit dem Badehemde über der Schulter. Bald vor, bald neben dem Zuge liefen die Spaßmacher, die bei keiner großen Hochzeit fehlen durften. Da kommt ein harmloser Schneider die Straße entlang - schwapp ! hat er eins mit der Narrenpeitsche, daß er die Engel im Himmel pfeifen hört. Alle Welt lacht ob des guten Wißes, und das Schneiderlein denkt : wirst heute Abend hingehen und dir eine Kanne Bier ausbitten !

88 „Eine Judenhere, eine Judenhere ! " schreien ein Paar Gäste und zeigten auf eine alte, in Lumpen gehüllte Frau, die, tief gebeugt, fich auf einen Knaben stüßt, deſſen orientalische Züge den Israeliten verrathen. Ein Spaßmacher ist sogleich bei der Hand, zieht eine Düte Ruß aus der Tasche und bläst es der Alten in's Gesicht und in die Augen, daß sie laut jammert. Alle lachen aus vollem Halse und freuen sich, daß eine verfluchte Jüdin ihr Theil bekommen. Finster blickt der Junge auf den vergnügten Zug, ſeine Hände ballen sich, doch verstohlen , und seine zusammengepreßten Lippen murmeln : " Mutter, sei ruhig, sie schlagen Dich ſonſt ; komm, ich werde Dich bringen nach Hanſe und Deine Augen waschen mit Milch ; Mutter, ſei ſtill, ſei ſtill !" Und in ihr hartes Schicksal ergeben, läßt sich die Alte führen zum Geckhol, dem Judenviertel am Ende der Klosterstraße, wohin kein ehrlicher Chriſt sich verirrt, wo Jammer und Elend wohnt unter den Lumpen, wo so mancher Seufzer zum Himmel steigt , den die Härte der frommen , von den Pfaffen und Mönchen in Demuth und Duldſamkeit auferzogenen Chriſten erzeugt, wohin nie Liebe, nie Mitleid gedrungen, wo die armen, geplagten Juden ſich ſchon glücklich fühlen , wenn man ſie allein läßt mit ihrem Jammer, allein mit ihrem nie wankenden Gottvertrauen, wo sie zu Jehovah beten : „Herr ! bewahre uns vor dem Haß der alleinſeligmachenden Kirche!" Der Zug geht weiter unter derben Späßen und kommt auf einigen Umwegen , damit ihn auch recht viele Neugierige sehen, zum Badehaus. Dort theilt sich die Geſellſchaft , ſie iſt ſelbſt für die beiden geräumigen Badezimmer zu groß. Während die Ersten baden , thun sich die Anderen an einem derben Frühstück gütlich.

89 Glückliche Zeiten , wo man noch vor dem Bade tüchtig einhauen durfte. Vom Bade ging derselbe Zug wieder nach Hauſe in derselben Ordnung. Hatte es schon vorher geschmeckt , ſo ſchmeckte es jezt noch besser. Essen konnten sie Alle , hatte doch die Brautmutter, wie üblich, auf jeden der Gäſte vier Pfund Fleiſch auf die Mahlzeit gerechnet. Als das Essen vorbei , wurden die Verlobten in zwei aneinderstoßende Zimmer geführt , und dort er von seinen Freunden, sie von ihren Freundinnen ausgekleidet , darauf fand der Wechsel der Hemden statt. Eine alte Muhme der Dorothee reichte durch die knapp geöffnete Thür dem Bräutigam das Hemd , welches die Braut getragen, und empfing das ſeinige - ein Zeichen, daß die Vatermörder damals noch nicht an der Tagesordnung waren. Bald war der Brautanzug vollendet, die Gesellschaft vereinte sich wieder und der Bräutigam schenkte nun der Braut einen schönen Kranz von Rosmarin, mit Goldschnur durchflochten, welchen ihr die Brautjungfern auf's Haupt hefteten ; gleich darauf befestig= ten sie ein Schlüſſelbund an ihren Gürtel , zum Zeichen , daß sie von nun an Herrscherin in ihrem Haushalt sein solle. Ein Becher mit Wein wurde der Braut gereicht ; die Braut leerte ihn zur Hälfte und reichte ihn dem Bräutigam , der ihn austrank. Dann ordnete sich die Gesellschaft von Neuem zum Festzuge ; allen Männer waren jezt mit Hochzeitskränzen , welche fie von der Braut erhalten, geschmückt. Auch Dienstboten hatten solche Kränze , während aber die der Gäste mit Goldfäden durchwirkt waren , trugen die ihrigen nur den Schmuck von Silberfäden oder Federn.

90 Der Zug ging zur Nicolaikirche , die große Glocke ertönte, die Trauung wurde vollzogen , und zurück ging's nach dem Hochz zeitshaus zum Bettsprung, der wichtigsten Ceremonie der Hochzeit Im großen, mit Blumen geschmückten Giebelzimmer, wohin eine Stiege führte , die durchaus nicht für Crinolinen eingerichtet war , stand das Brautbett. Die Neuvermählten mußten sich jezt, unter allgemeiner Heiterkeit, angekleidet niederlegen, und das Deckbett hinaufziehen. Darauf kamen alle Gäste , einer nach dem anderen, und begrüßten die Liegenden mit zierlichen, auf den neuen Ehestand bezüglichen Scherzen , so zierlich , daß wir sie dem Leser zu lesen nicht zumuthen können ! Doch Frauen und Mädchen waren damals an Derbheit gewöhnt , ste nahmen's nicht allzu scharf mit dem Zartgefühl. Jezt war das junge Paar erst wirklich verehelicht. Wäre der Bräutigam zwischen Trauung und Bettsprung gestorben : seine Braut hätte nicht als Wittwe gegolten , auch nicht seinen Namen tragen dürfen. denn jeder Abendessen und Tanz auf dem Rathhause reiche Bürger feierte seine Hochzeit auf dem Rathhauſe - schloß den ersten Tag. Polonaise, Quadrille à la Cour u. s. w. ſtanden nicht auf der Tanzordnung , wohl aber der Capriolentanz , der Drehtanz, der Zäuner, der Taubentanz und der Todtentanz . Den letteren wollen wir, als fast den einzigen, deſſen Schilderung wir kennen, beschreiben. Beim Todtentanz paarten sich die Gäſte , Alt und Jung, und begannen luftig springend unter Jubel und Gelächter ; plöß, lich aber hört die Musik mit einem schrillen Tone auf, und tiefe Stille tritt ein ; gleich darauf ertönt eine leise melancholiſche

91 Melodie , welche in einen Trauermarsch , wie bei Begräbniſſen übergeht. Ein junger Mann aus der Gesellschaft muß sich nun auf dem Boden ausstrecken und den Todten spielen. Frauen und Mädchen umtanzen ihn mit zierlichen Sprüngen , indem sie sich bemühen , die Trauer um den Todten möglichst komisch auszudrücken , sie singen eine Trauermelodie , aber so lustig , daß ein anhaltendes allgemeines Gelächter entſteht. Nach der Vollendung des Gesanges treten Frauen und Mädchen , eine nach der anderen an den Todten und küſſen ihn, bis endlich eine Ronde der ganzen Gesellschaft den ersten Theil des Tanzes schließt. Der zweite Theil ist wie der erste , nur tanzen dies Mal die Männer um eine Todte. Wenn's da an's Küssen geht , ist der Jubel groß, denn die Tänzer bemühen sich so zärtlich und komisch wie möglich zu küssen. Beim Abendessen wurde von Meister Klaus der höchste , irgend erlaubte Lurus aufgeboten. Alle mußten satt werden , Gäste, Diener, Musikanten und Umbitter, und das war keine Kleinigkeit. Auch die Armen wurden gespeist , denn schon damals waren die Berliner wegen ihres Wohlthätigkeitsfinnes bekannt. Beim Essen selbst wurde die strengste Festordnung zum größten Bedauern Curts bewahrt. Die Männer und verheiratheten Frauen ſaßen, nach ihrem Rang geordnet , an einer Tafel ; die geladenen , jungen Mädchen hatten ihren Jungferntisch , auch die Mägde des Hauses , die Dienstboten und Musikanten ſpeiſten alle an besonderen Tiſchen. Zum Schluß kam das Schauessen. Der Gubener Wein und das Bernauer Bier hatten schon alle Gemüther erheitert , da kam der Bratenmeister mit einem ledernen Braten , der Küchenjunge

92 mit aufgeblasener Wurſthaut, und ſo Alle, die beim Kochen thätig. Jeder wurde mit lautem Jubelruf empfangen, trat zu den Gästen und erhielt von Allen ein kleines Geschenk. Den Schluß bildete die Armenbüchse , welcher an großen Hochzeitstagen immer reich liche Gaben zufloſſen. So endete der erste Tag, und Jeder suchte, so gut er konnte, seinen Weg nach Hause durch die dunkeln, pfüßenreichen Straßen. Der zweite Tag wurde für den eigentlichen Hochzeitstag ge= halten, und dieſer ſollte den ersten an Feſtjubel noch überbieten. Mit dem frühesten Morgen - und Curt hatte genug zu thun , sich an das frühe Aufstehen zu gewöhnen - übergab der junge Gatte ſeiner Frau ein kostbares ſeidenes Kleid als Morgen: gabe. Das Ehepaar kleidet sich darauf festlich , legte sich aber angekleidet wieder in's Bett , um den Besuch der Hochzeitsgäste zu empfangen, die auch nicht lange auf sich warten ließen. Jeder Besuchende brachte ein Geschenk und legte es mit einem Scherze auf die Bettdecke. Waren schon die Scherze am vergangenen Tage nicht besonders fein gewesen , ſo läßt sich wohl denken , daß die heutigen sich noch weniger durch Zartheit auszeichneten. Unter den Geschenken waren am zahlreichsten die Brauthähne vertreten , gebratene Hähne , welche auf einer mehr oder weniger kostbaren Schüssel zerlegt waren. Es war der Glaube , daß Hahnfleisch jungen Eheleuten beſonders dienlich ſei, und so waren denn die 43 Brauthähne , die die junge Frau unter anderen Geschenken erhielt , gewiß geeignet , ihren , wenn auch noch so ausschweifenden Appetit zu befriedigen. Nachdem die Hochzeitsgäste alle erschienen waren , ſtand das Ehepaar auf. Man band der jungen Frau ihre herunterhängen

93 den Zöpfe auf, bedeckte dieselben mit einer Haube , und

fie

war jeßt „ unter die Haube“ gekommen. Wieder ging's im fröhlichen Zug nach der Kirche. Eine Messe , abermalige Einsegnung des Brautpaares , Besprengung desselben mit Weihwasser , und dann Festzug zurück in's Brauthaus. Dort Mittagsmahl , dann wieder auf's Rathhaus zum Abendessen und Tanz . So verging der zweite Tag ebenso die folgenden drei , denn fünf Tage Hochzeit war dazumal nichts Ungewöhnliches. Curt hatte fie alle mitgenossen. Endlich , am sechsten Tage nahm er Abschied von seinen freundlichen Wirthen, zog heim gen Nürnberg und hatte beim Ritt durch den tiefen , märkischen Sand vollkommen Muße , über Kopfweh , verdorbenen Magen und Gastfreundschaft der Berliner nachzudenken.

-2004-

Inhalt. Seite 1

Ein Blick in's Orpheum . Lust und Leid in Moabit

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Ein Sinfonie : Concert Berliner Mittagbrod

24

Die architektonischen Wunder Der berliner Hausmensch · Ein Blick in's alte Berlin ·

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Druck von J. Dräger's Buchdruckerei ( C. Feicht ) in Berlin.

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