Beratung und Digitalisierung: Zwischen Euphorie und Skepsis [1. Aufl. 2019] 978-3-658-25527-5, 978-3-658-25528-2

Digitalisierung ist mit tiefgehenden Änderungen sozialer, psychologischer und kultureller Gewohnheiten verbunden. Dies b

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German Pages XI, 386 [387] Year 2019

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Beratung und Digitalisierung: Zwischen Euphorie und Skepsis [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-25527-5, 978-3-658-25528-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Front Matter ....Pages 1-1
Beratung unter Onlinebedingungen (Frank Engel)....Pages 3-39
Digitalisierung der Sozialen Arbeit (Nadia Kutscher)....Pages 41-56
Entwicklungspsychologische Aspekte der Digitalisierung: Medienwirkung und Medienkompetenz im Kindes- und Jugendalter (Thomas Möckel, Wienke Wannagat, Gerhild Nieding, Peter Ohler)....Pages 57-83
Digitalisierung und Kommunikation: Perspektiven und Herausforderungen für die Beratung (Martin Geisler)....Pages 85-108
Digitale Überwachung in China. Diktatur 2.0 oder nur effizienteres Regieren? (Andreas Schlieker)....Pages 109-128
Komplizen des Erkennungsdienstes (Andreas Bernard)....Pages 129-156
Front Matter ....Pages 157-157
Algorithmische Verhaltensmodifikation (Stephan Rietmann)....Pages 159-177
Erziehungsberatung und Digitalisierung: Modernisierungszwang oder Status quo? Institutionelle und konzeptionelle Perspektiven (Mathias Berg, Maik Sawatzki)....Pages 179-204
Professionalisierung von Fachkräften im Kontext von Digitalisierung (Markus Emanuel, Marc Weinhardt)....Pages 205-216
Chancen der Digitalisierung in der Beratung (Joachim Wenzel)....Pages 217-227
Fachliches Neuland: Psychosoziale Beratung in Communities (Heinz Thiery)....Pages 229-250
Facebook, WhatsApp und Co. – Digitale Medien in Familien und in der Sozialen Beratung (Susanne Eggert, Gisela Schubert)....Pages 251-268
Digitaler Knockout? Ursachen, Hintergründe und Beratungsansätze bei Cybermobbing (Iren Schulz)....Pages 269-285
Front Matter ....Pages 287-287
Systemische Beratung von Familien mit exzessiver Mediennutzung (Detlef Scholz)....Pages 289-305
Den digitalen Wandel begleiten – Medienspezifische Prävention als Aufgabe einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle (Mathias Berg, Ursula d‘Almeida-Deupmann)....Pages 307-323
Informatik von Gesundheitsapps (Stefan Buschner)....Pages 325-340
ESCapade: Interventionsprogramm für Familien und Kinder mit problematischer Mediennutzung (Julia Thormann, Kristina Tietze)....Pages 341-352
Reflexions-App als Beratungstool für das Betriebliche Gesundheitsmanagement in öffentlichen Verwaltungen (Malte Schophaus)....Pages 353-370
Blogs, Apps und EB? – Ein Digitalisierungsprojekt der Erziehungs- und Familienberatung (Stephan Rietmann, Maik Sawatzki)....Pages 371-379
Back Matter ....Pages 381-386

Citation preview

Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion

Stephan Rietmann · Maik Sawatzki Mathias Berg Hrsg.

Beratung und Digitalisierung

Zwischen Euphorie und Skepsis

Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion Band 15 Reihe herausgegeben von Karin Böllert, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland

Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion ist der Name und das Arbeitsprogramm einer Forschungsgruppe, die sich vor einiger Zeit im Arbeitsbereich Sozialpädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gegründet hat. Thematisch lässt sich das Programm der Forschungsgruppe wie folgt skizzieren. Mit Blick auf die öffentlich verantwortete Wohlfahrtsproduktion werden analytisch personenunabhängige und personenbezogene Formen unterschieden. Während sich personenunabhängige Formen der Wohlfahrtsproduktion vor allem auf die Organisation des Sozialen richten – und damit auf kollektive Risiken und Bedarfe –, ist das Wohlergehen einzelner AdressatInnen – bzw. individuelle Risiken, Bedarfe und Bedürfnisse – ein wesentlicher normativer Fluchtpunkt der personenbezogenen Wohlfahrtsproduktion. Die Prozesse einer Sozialen Arbeit als Wohlfahrtsproduktion werden als spannungsreiche Figuration der Interessen, Vorstellungen, Orientierungen und Potentiale der AdressatInnen, der Institutionen und der Profession erforscht. In ihrer Gesamtheit geht es den Arbeiten der Forschungsgruppe damit um eine systematische Analyse der durch die institutionellen Regulierungen eröffneten (oder verschlossenen) Lebenschancen, durch die von Professionellen und AdressatInnen je realisierten (Ko-)Produktionen und personenbezogenen Wohlfahrt sowie deren kulturell, sozial, ökonomisch und politisch strukturierten Bedingungsmöglichkeiten.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12192

Stephan Rietmann · Maik Sawatzki · Mathias Berg (Hrsg.)

Beratung und Digitalisierung Zwischen Euphorie und Skepsis

Hrsg. Stephan Rietmann Caritasverband Dekanat Borken e. V. Borken, Deutschland Mathias Berg Caritas Erziehungs- und Familienberatung Kerpen, Deutschland

Maik Sawatzki WWU Münster, Institut für Erziehungswissenschaft Münster, Deutschland

ISSN 2512-1480 ISSN 2512-1502  (electronic) Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion ISBN 978-3-658-25527-5 ISBN 978-3-658-25528-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort: Beratung und Digitalisierung – ­Zwischen Euphorie und Skepsis

Digitalisierung ist mit einer tiefgehenden Änderung sozialer, psychischer und kultureller Gewohnheiten verbunden. Anders als bei technologischen Innovationen sonst üblich, ändern sich bewährte Prinzipien auf fundamentale und nachhaltige Weise. Weit mehr als uns heute bewusst ist verändert sich die Art, wie wir als Personen über uns selbst denken, wenn beispielsweise ein Algorithmus mehr über uns weiß, als wir selbst. Es verändert sich die Art, wie wir Beziehungen führen, wenn die Allgegenwart des Smartphones mehr Aufmerksamkeit und Zeit bindet, als das jeweilige Gegenüber oder der digital vermittelte Markt potenzieller Lebenspartner grenzenlos wird. Es verändern sich bekannte Routinen in der Arbeitswelt, sodass auch von einer neuen industriellen Revolution die Rede ist. Erst allmählich entwickelt sich ein Bewusstsein, dass Digitalisierung gleich einer neolithischen Revolution eine Zeitenwende markiert, die Kinder, Jugendliche, Eltern ebenso mit neuen Chancen und Risiken konfrontiert, wie Institutionen und Organisationen. Wie in solchen Transformationen üblich, erleben Menschen eine noch wachsende Veränderungsgeschwindigkeit und Dynamik, persönliche Verunsicherung, Überraschung und Irritation über Prozesse, die kaum verstehbar sind. Viele Menschen bewegen sich in Ambivalenzen über neue Freiheiten und Möglichkeiten auf der einen Seite und Ängste und Überforderung auf der anderen Seite. Dieser Band ist im Dialog zwischen drei Beratern und wissenschaftlichen Praktikern entstanden, die in ihren Beratungsstellen tätig sind und jährlich Hunderte an Klient*innen treffen und feststellen, wie die Bedeutung digitaler Themen bei unterschiedlichen Beratungsanlässen stetig zunimmt. Im Herausgeberteam sind mit den Disziplinen der Psychologie, Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit unterschiedliche Grundprofessionen ebenso vertreten wie die Alterskohorten der digital immigrants und der digital natives.

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Vorwort: Beratung und Digitalisierung – Z ­ wischen Euphorie und Skepsis

Zielsetzung des Bandes ist es, einen Überblick zu den heterogenen Aspekten der Digitalisierung zu geben, wie sie für das Feld Sozialer Beratung von Bedeutung sind oder an Bedeutung gewinnen könnten. Als explorativer Band anlegt, geht es um eine erste Erkundung sich zeigender und auch vermuteter Bedeutungen und Wirkungen der Digitalisierung für Beraterinnen und Berater ebenso wie für deren Klient*innensysteme. Entsprechend unterschiedlich und theoretisch bewusst unverbunden, abstrakt oder praktisch sind die in diesem Band vertretenen Beiträge. Vom Allgemeinen zum Besonderen bewegt sich die Struktur des Werkes ausgehend von transdisziplinären Aspekten der Digitalisierung (I. Kapitel) über digitale Themen in Sozialer Beratung (II. Kapitel) hinweg, bis zu konkreten, digitalen Realisierungsformen in der Praxis Sozialer Beratung (III. Kapitel). Dabei werden jeweils skeptische Positionen aufgezeigt, Chancen beschrieben, Handlungsmöglichkeiten und –-erfordernisse für Beratung dargestellt und diskutiert. Den Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes danken wir, dass sie ihre Perspektiven und Ihr Wissen zur Verfügung stellen und diesen Band mit ihrem Engagement ermöglichen. Als Annäherung an das Thema und seine weitreichende Bedeutung ist der Prozess der Entwicklung des vorliegenden Bandes für das Herausgeberteam qualifizierend gewesen und hat ein tieferes Verständnis der stattfindenden digital vermittelten Herausforderungen für die Arbeit in der Sozialen Beratung erbracht. So wünschen wir auch den Leserinnen und Lesern dieses interessanten Bandes Anregung, Irritation und Impulse zur weiteren und intensiven Beschäftigung mit dem Thema. Köln und Münster im Mai 2019

Stephan Rietmann Maik Sawatzki Mathias Berg

Vorwort: Digitale Beratung in Zeiten der ­großen Transformation

Die Gesellschaft der Gegenwart befindet sich in einem wohl einmaligen, gigantischen und gleichsam weltumspannenden Experiment: Die Prozesse der Digitalisierung und die Nutzung sozialer Medien erfassen und transformieren in mal größerem, mal geringerem Ausmaß mehr oder minder alle Ebenen der menschlichen Existenz – von der Kommunikation und Information über die Formen der Wissensvermittlung und der Bildung bis zu den Weisen des Arbeitens, des Spielens, des Konsumierens und sogar des Liebens. Mehr noch, die Möglichkeiten und Eigendynamiken der digitalen Vernetzung transformieren die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins; sie verändern unsere Wahrnehmung des Raumes, der Zeit, des Verbundenseins mit anderen Menschen und darüber auch die Selbstwahrnehmung. Sie haben Einfluss auch darauf, wie wir begleiten, wie wir erziehen und wie wir beraten. Noch weiß niemand, was die Folgen und Resultate dieser großen Verwandlung sein werden: Neue menschliche Existenzformen bilden sich nicht mit einem Schlag und auch nicht in fünf oder zehn Jahren heraus; sie entwickeln sich allmählich und über multiple Prozess des Trial and Error. Wir können darauf vertrauen, dass menschliche Körper, menschliche Gehirne und menschliche Sozialität im Ganzen besehen überaus robust, anpassungsfähig und kreativ sind. Als im 19. Jahrhundert durch die Einführung der Eisenbahn Körper und Geist durch die (für damalige Verhältnisse) hohen Geschwindigkeiten visuell völlig überfordert wurden – beim Blick auf den Bahndamm wurde den Reisenden notwendig übel – entwickelte sich ganz von selbst, ohne Expertenhilfe, eine neue Sehtechnik, das panoramatische Sehen, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Blick den Nahbereich ignoriert und die Ferne fixiert; eine Technik, welche heute schon Kleinkinder beherrschen. Aber die Veränderungen, vor denen wir heute stehen, scheinen demgegenüber noch deutlich weitgehender, tiefschürfender und komplexer zu sein. Sie beschränken sich nicht auf einzelne Vorgänge wie die Fortbewegung, sondern berühren die

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VIII

Vorwort: Digitale Beratung in Zeiten der g ­ roßen Transformation

Fundamente personaler Identität wie humaner Sozialität. Die Konturen einer neuen, gelingenden Weise digitaler Existenz lassen sich derzeit noch nicht absehen, wohl aber zeichnet sich ab, dass überall in der Gesellschaft alte Formen und neue Möglichkeiten des Handelns und des Daseins unvermittelt aufeinanderprallen und dass daraus viele Wege, aber auch viele Irrwege und Sackgassen mit manchmal überraschend positiven, manchmal aber auch verheerend negativen Konsequenzen hervorgehen. In den Beratungsdiensten der Sozialen Arbeit und angrenzenden Bereichen bündeln sich viele der Transformationsprozesse wie in einem Brennglas: Die Lebenswelten der Beratenden wie der Beratenen, die auf unterschiedliche und jeweils spezifische Weise von den Prozessen der Digitalisierung berührt und verändert werden, stoßen in einem Umfeld – dem Beratungskontext – aufeinander, das seinerseits hoch dynamisch geworden ist. Verhandelt werden in diesem Kontext, und insbesondere in der Erziehungsberatung, alle Aspekte des Lebens: Wie sollen wir lernen? Wie können wir arbeiten? Wie sollen wir kommunizieren? Wie dürfen wir lieben? Und wie können Menschen einen Platz in der Welt finden? Die soziale Beratung ist ein geradezu prädestinierter Ort für die Aushandlung zukünftiger Handlungsweisen und Daseinsmöglichkeiten, neuer Routinen und Verlässlichkeiten. Weil hier die gesellschaftlichen und institutionellen Anforderungen (an Arbeit und Beruf, Familie und Erziehung etc.) und die Bedürfnisse, Hoffnungen und Befürchtungen der Subjekte unvermittelt aufeinanderstoßen und eben gerade vermittelt werden müssen, gehören die Beratungsdienste zu den zentralen Experimentierfeldern der Gesellschaft. Vor besondere Herausforderungen ist dabei ohne Zweifel die Erziehungsberatung gestellt: Hier kommt hinzu, dass sich die Erwartungen und Orientierungen unterschiedlicher Generationen gegenüberstehen – und dass sich dabei nicht nur die Frage stellt, welche Inhalte, Werte und Techniken einer künftigen Generation zu vermitteln sind, damit sie in einer Welt bestehen kann, deren Konturen noch gar nicht absehbar sind, sondern dass darüber hinaus die Techniken und Medien der Vermittlung umkämpft und umstritten sind: Zwischen den Generationen und zwischen den Experten sowieso. Vor diesem Hintergrund ist ein Buch wie dieses von höchster Wichtigkeit und von großer Dringlichkeit. Es wird die aufgeworfenen Fragen nicht beantworten können; wie auch. Aber es steckt doch umsichtig und kompetent den Umkreis dessen ab, was dabei jeweils auf dem Spiel steht, was zu bedenken ist, welche Möglichkeiten sich bieten, aber auch welche Gefahren und Risiken drohen. Und es macht die komplexen Zusammenhänge sichtbar. Das ist viel in dieser Zeit der Transformation! Hartmut Rosa

Inhaltsverzeichnis

Transdisziplinäre Aspekte von Digitalisierung Beratung unter Onlinebedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Frank Engel Digitalisierung der Sozialen Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Nadia Kutscher Entwicklungspsychologische Aspekte der Digitalisierung: Medienwirkung und Medienkompetenz im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Thomas Möckel, Wienke Wannagat, Gerhild Nieding und Peter Ohler Digitalisierung und Kommunikation: Perspektiven und Herausforderungen für die Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Martin Geisler Digitale Überwachung in China. Diktatur 2.0 oder nur effizienteres Regieren?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Andreas Schlieker Komplizen des Erkennungsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Andreas Bernard Digitale Themen in der sozialen Beratung Algorithmische Verhaltensmodifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Stephan Rietmann

IX

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Inhaltsverzeichnis

Erziehungsberatung und Digitalisierung: Modernisierungszwang oder Status quo? Institutionelle und konzeptionelle Perspektiven. . . . . . 179 Mathias Berg und Maik Sawatzki Professionalisierung von Fachkräften im Kontext von Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Markus Emanuel und Marc Weinhardt Chancen der Digitalisierung in der Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Joachim Wenzel Fachliches Neuland: Psychosoziale Beratung in Communities . . . . . . . . . 229 Heinz Thiery Facebook, WhatsApp und Co. – Digitale Medien in Familien und in der Sozialen Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Susanne Eggert und Gisela Schubert Digitaler Knockout? Ursachen, Hintergründe und Beratungsansätze bei Cybermobbing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Iren Schulz Digitalisierung in der Praxis sozialer Beratung Systemische Beratung von Familien mit exzessiver Mediennutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Detlef Scholz Den digitalen Wandel begleiten – Medienspezifische Prävention als Aufgabe einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle . . . . . . . . . . . 307 Mathias Berg und Ursula d‘Almeida-Deupmann Informatik von Gesundheitsapps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Stefan Buschner ESCapade: Interventionsprogramm für Familien und Kinder mit problematischer Mediennutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Julia Thormann und Kristina Tietze

Inhaltsverzeichnis

XI

Reflexions-App als Beratungstool für das Betriebliche Gesundheitsmanagement in öffentlichen Verwaltungen. . . . . . . . . . . . . . . 353 Malte Schophaus Blogs, Apps und EB? – Ein Digitalisierungsprojekt der Erziehungs- und Familienberatung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Stephan Rietmann und Maik Sawatzki Autor*innenverzeichnis: Beratung und Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . 381

Transdisziplinäre Aspekte von Digitalisierung

Beratung unter Onlinebedingungen Frank Engel

Zusammenfassung

Onlineberatung ist trotz ihrer zwanzigjährigen Geschichte noch nicht überall eine Selbstverständlichkeit. An vielen Orten wird sie zwar mit großer Routine praktiziert, an anderen weiterhin skeptisch und als defizitär betrachtet. Dabei verfügt Onlineberatung über ein eigenständiges elaboriertes im Vergleich zur Präsenzberatung differentes Handlungsprofil, hat einen ebenso elaborierten Theoriediskurs bewirkt und sich letztlich professionalisiert. Onlineberatung ist auch Teil der kommunikativen Praktiken im Internet mit einer ihr eigenen Thematisierungskultur. Die für das Beraten online noch immer bedeutsame textbasierte Beratung mit der Möglichkeit zur Anonymität sowie die Nutzung per Mobilmedien (Smartphone) führt im Vergleich zur Präsenzberatung zu neuen Beratungssettings, anderen beraterischen Abläufen und kann die Souveränität der Nutzer und Nutzerinnen im selbstbestimmten Umgang mit Beratung erhöhen. Die Frage ist, ob derartige Onlinepraktiken, die sich im Zuge neuer Nutzungsmustern und technischer Entwicklungen weiter verändern, ebenfalls auf die Präsenzberatung zurückwirken und somit zu interdependenten und neuen Formen des Beratens insgesamt führen können. Mit Blick auf die Digitalisierung von Beratung werden hierzu Fragen des zukünftigen Umgangs mit diesen Herausforderungen diskutiert.

F. Engel (*)  Ibfw-Beratung, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_1

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Schlüsselwörter

Onlineberatung · Präsenzberatung · Geschichte der Onlineberatung ·  Zugänge zur Beratung · Peer-Beratung · Beratungs- und Reflexionstempi ·  Digitalisierung und Beratung

1 Wohlberatenheit im Rahmen neuer Beratungsinterdependenzen Beratung – egal in welcher Breite oder Spezifik man sie thematisieren möchte – war und ist immer eine kulturelle Praxis. Sie verfügt über einen kommunikativen und interaktiven Kernbereich, zumeist in Form von Face-to-face-Begegnungen in höchst unterschiedlichen Settings entlang verschiedener Formalisierungsgrade von hoch strukturierten institutionalisierten Angeboten bis hin zu offenen Arrangements eingebettet in andere Professionsformen oder auch Alltage. So haben kulturelle Formen der Interaktion und Kommunikation zu allen Zeiten die Beratungen bestimmt1. Beratung greift aber nicht nur auf bestimmte kulturelle Handlungspraxen zurück, sondern ist auch immer in kulturelle Denkformen und Erklärungsansätze integriert. Die konnten – wenn man ganz weit bis in die Antike zurückgeht – auch schon mal eher aleatorisch und ludisch sein, sind aber spätestens seit Beginn der Moderne deutlich (zweck-)rational geprägt. Im Zuge dieser Entwicklungen gab es immer wieder ein Ringen darum, was denn einer Wohlberatenheit – ein Begriff aus der Nikomachischen Ethik von Aristotles – dienlich wäre, auch ließ sich ein Kernbereich beraterischen Handelns beschreiben, in dessen Zentrum der Umgang mit Fraglichem steht. Beratung in dieser Allgemeinheit bedeutet immer auf ein Fragliches oder Problematisches zu reagieren, einen entscheidungsaufschiebenden (Fuchs 2004) und reflektierenden Umgang mit dem Fraglichen oder Problematischen zu suchen – ggf. unter Zuhilfenahme Dritter – und das Treffen einer Entscheidung, selbstverständlich auch im Sinne einer Nichtentscheidung seitens der ratsuchenden Person. Auch das Beraten innerhalb sozialberuflicher, psychosozialer und gesundheits- oder bildungsbezogener Handlungsfelder unterliegt diesen allgemeinen beratungskonstitutiven Strukturprinzipien. Hinzukommen natürlich die jeweiligen spezifischen Themenfelder, deren Institutionalisierung sowie eine große Anzahl

1Einen

(2016).

beeindruckenden Überblick über die Geschichte der Beratung gibt Haiko Wandhoff

Beratung unter Onlinebedingungen

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handlungsorientierter Beratungskonzepte, die im Sinne obiger Wohlberatenheit, unterschiedliche Vorschläge für die professionellen Handlungspraxen empfehlen. Und nicht zuletzt sind unter einer allgemeinen psychosozialen Perspektive Prozessverläufe und beraterische Begleitungen zentral, aber auch sie bleiben eingebunden in eine Vielzahl kleiner Informations-, Reflexions- und Entscheidungsprozesse, die jede Beratung mehr oder weniger kennzeichnen. Aus dieser dialogisch zwischen Berater oder Beraterin und Ratsuchenden immer wieder herzustellenden fluiden und nicht deterministischen Melange ergeben sich eingebunden in alltagskulturelle und institutionelle Kontexte die verschiedenen und dennoch strukturähnlichen Praxen des Beratungshandelns. Beratung muss also „hergestellt“ werden, ist ein kommunikativer, interaktiver und relationaler Konstruktionsprozess zwischen zumeist zwei Personen. Wichtig ist der Begriff der Relation. Beratung impliziert immer eine Relation, eine Beziehung. Das gilt für das reflexive Sich-Beraten ebenso wie für das transitive Jemanden-Beraten, immer tritt jemand mit einer anderen Person oder mit sich selbst in Beziehung. Diese grob skizzierten beratungskonstitutiven Aspekte haben in unterschiedlichen historischen Epochen und in verschiedensten gesellschaftlich-kulturellen Bedingungskontexten zu unterschiedlich akzentuierten Formen des Beratens geführt. Wir haben auch heutzutage ein allgemeines Verständnis davon, was Beratung ist, wie sie fachlich und professionell zu gestalten ist und welche Wirkfaktoren wir benennen können. Dieses allgemeine Verständnis gilt zweifelsohne weiterhin, es bedarf aber mit Blick auf alltagskulturelle und technische Entwicklungen einer erneuten Überprüfung. Es stellt sich die Frage, ob wir mit fortschreitenden technischen Entwicklungen, die das Kommunizieren und Interagieren verändert haben, nicht auch einen „neuen“ Blick auf Beratung werfen sollten, denn die Vertrautheiten, die dieser Begriff über lange Zeit transportieren konnte, sind vielleicht zunehmend fraglich und fragil geworden. Die Praxen der Beratung heute sind nicht mehr (nur) die Praxen der Beratung vor vierzig Jahren, sie haben sich verändert, verändern sich weiterhin und haben insbesondere aufgrund von Digitalisierungsprozessen, die den gesamten Alltag durchdrungen haben und weiterhin durchdringen, neue Praxen und Settings hervorgebracht. Man mag das hybrid, plural oder divers nennen, deutlich wird an diesen Begriffen, dass Beratung erheblich komplexer, entgrenzter und letztlich gar unübersichtlicher geworden ist. Zur Beratung gehören neben offline-Settings zunehmend online-Settings. In der Gesamtheit bilden sich dadurch neue vielfältige und interdependente Strukturen potenziell vorhandener und somit nutzbarer Beratungsangebote mit unterschiedlichen Settings: online wie offline und damit schriftbasiert, telefonisch oder face-to-face, zeitgleich oder zeitverschoben, als ortsgebundene Interaktion oder

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quasi „ortslose“ Interaktion. Sie können mit hohen, niedrigen oder auch gar keinen Imaginationsanteilen versehen sein, mögen App-basiert und ggf. algorithmengesteuert, institutionalisiert oder entinstitutionalisiert, in „physikalischer“ Realität oder in einer Augmented Reality organsiert werden. Sie verfügen über formalisierte oder offene Settings, sind mit Wartelisten und festen Prozessstrukturen versehen oder als „easy in – easy-out“ organsiert, können in Form eines geplanten Beratungsprozesses oder in Form zufälliger Beratungsbegegnungen (online wie offline), unter Verwendung verschiedener Medien oder medienpuristisch, mit sprachbasierten Assistenzsystemen oder ohne solche, öffentlich in Selbstinszenierung oder „geflüstert“ im Chat gestaltet werden. Diese illustrierende, selbstverständlich keinesfalls trennscharfe Auflistung ließe sich beliebig fortsetzen und verdeutlicht, dass heutzutage eine weitaus größere Anzahl beratungskonstitutiver Bedingungsfaktoren das Beraten mitbestimmt. Diese Faktoren liefern in ihrer Gesamtheit ein fragil dynamisches kommunikatives und interaktives Geflecht, das jede Beratung rahmt und damit zugleich eine Vielzahl beratungsrelevanter Relationen formuliert. Uns umgeben heutzutage somit umfangreiche Netzwerke potenziell beratender Ressourcen. Sie existieren in großer Varianz, vielleicht nicht immer so passgenau oder alltags- wie lebensweltnah, wie es wünschenswert wäre, aber dennoch in größerer Breite als je zuvor. Selbstverständlich gibt es weiterhin die beratenden und hilfegebenden alltäglichen Helfer (Nestmann 1988, 2007), es gibt informelle Beratungschancen, gering strukturierte und in den Alltag einfach integrierbare Angebote – auch professioneller oder semiprofessioneller Art – und selbstverständlich eine umfangreiche Struktur professioneller und institutionalisierter Beratungsstellen. Aus der Perspektive Ratsuchender stellen sie in ihrer Gesamtheit ein interdependentes Geflecht aus Ressourcen zur Lösung alltäglicher Probleme dar und werden selbstverständlich genutzt, aber auch ignoriert oder möglicherweise auch gar nicht wahrgenommen. Es gab sie aber bis vor ca. zwanzig Jahren nur offline! Heutzutage gibt es sie mediatisiert, zunehmend digitalisiert und wohlmöglich zukünftig algorithmisiert: Es gibt sie also online sowie offline und zugleich in unterschiedlichen Durchmischungen. Beratung ist damit insgesamt in eine zunehmende Vielzahl von alten, tradierten, aber auch neuen Relationen eingebunden. Nicht im Sinne eines festen Containermodells, sondern als mehr oder weniger lose oder fest gekoppelte Beratungsangebote und -praxen innerhalb dynamischer, sich permanent verändernder, „fluider“ Relationen und Beziehungen2. Aufgrund dieser großen

2Der

Kontext, der sich hier hinsichtlich der Nutzungen von Beratungsmöglichkeiten gibt, ist nicht als einfache Umgebung zu verstehen, sondern ergibt sich aus den Nutzungen.

Beratung unter Onlinebedingungen

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Variationsbreite von Beratung stellt sich die Frage, welche Formen der anfangs erwähnten „Wohlberatenheit“ heutzutage möglich sind. Und es lässt sich fragen: Können aus den Praxen und Konzepten der Onlineberatung Impulse für eine Veränderung der Präsenzberatung unter den Bedingungen ihrer Digitalisierung gezogen werden? Bevor wir uns dieser Frage genauer und mit Blick auf beraterische MikroProzesse zuwenden können, erscheint es angebracht, kurz einen Blick auf Digitalisierungsprozesse zu werfen.

2 Digitalisierung und Digitalität Schon allein der Begriff der Digitalisierung ist sehr schillernd. Er kann als Transformation analoger Praktiken in ein binäres System verstanden werden, ebenso lässt er sich beispielsweise entlang der Grundbedingungen einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016) fassen, die entlang von Referenzialität, Gemeinschaft und Algorithmizität beschrieben werden kann. Gerade Felix Stalder geht es nicht darum, das Analoge vom Digitalen zu trennen, sondern ein „relationales Muster“ (S. 18) zu beschreiben, das für die Digitalität prägend ist. Referenzialität steht bei ihm für das Herstellen von Bezügen, die zuvor so nicht möglich waren, die zu neuen Kombinationen von Vertrautem führen: „Nicht die Brüche zwischen den Elementen der alten Ordnung stehen im Vordergrund, sondern deren Synthese in der Gegenwart“ (S. 99). Diese Synthese bleibt „allerdings nur temporär“ (S. 99), da auch sie letztlich das Material für neue Weiterverarbeitungen bereitstellt. Gemeinschaft verweist auf einen „vernetzten Individualismus“ (S. 143), in dem Menschen ihre Identität zunehmend über soziale Netzwerke, „in denen sie als Einzelne aktiv sind und als singuläre Personen wahrgenommen werden“ (S. 144) und weniger über andere stabile Kollektive wie Familie oder Arbeitsplatz definieren. Und Algorithmizität beschreibt laut Stalder letztlich den Einfluss hochgradig ­dynamischer

„Context isn’t just ‚there‘, but it is actively produced, mantained and enacted in the course of the activity at hand“ (Dourish 2004, S. 22). In einem derartigen Kontextmodell lassen sich Kontext und Aktivitäten nicht voneinander trennen (Heritage und Clayman 2010), sondern bilden eine Einheit. Mit Blick auf Beratung ließen sich hier höchst fluide und miteinander verwobenen Beratungskontexte formulieren, die sich mit den onlinebasierten Nutzungen immer wieder verändern. Eine Sichtweise, die nicht nur alten Container-Modellen von Kontexten überlegen ist, sondern die gerade für eine interdependente Verbindung von offline- und online-Kontexten notwendig und sinnvoll erscheint.

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sowie adaptiver Prozesse (vgl. S. 177) auf den Alltag mithilfe selbstlernender datenbasierter Systeme. Überträgt man diese Digitalitäts-Begriffe auf die Beratung, dann müssten sich auch für das Beraten neue Kombinationen von Vertrautem ebenso ergeben wie Synthesen als Basis für weitere Entwicklungen in Auge gefasst werden sollten. Entstehen also auch für Beratung neue temporäre „relationale Muster“? Welche neuen konzeptionellen und handlungspraktischen Bezüge sind denkbar? Wie realisiert sich schon jetzt mit Blick auf Beratung Gemeinschaft im Sinne eines „vernetzten Individualismus“? Und letztlich: Welcher Stellenwert kommt in Beratungen den Algorithmen, insbesondere algorithmisch basierten Entscheidungsprozessen und Assiszenzsystemen zu? Digitalisierung kann auch als ein gesellschaftlich-kultureller Rahmen gefasst werden, der zunehmend Formen der Singularisierung produziert. So betont Andreas Reckwitz (2017) in seiner grundlegenden Erarbeitung eines Singularisierungs-Begriffs als Grundlage gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, dass es immer das Besondere – also das Singuläre – ist, das erwartet wird (vgl. S. 1). Digitale Technologien transformieren hierbei „was es heißt, ein Subjekt zu sein“ (S. 244). „Im Netz lernt es – von klein auf -, dass es zu einem vollwertigen Wesen nur wird, wenn es im Aufmerksamkeits- und Valorisierungswettbewerb mit anderen an einer sichtbaren Besonderheit arbeitet. Das spätmoderne Subjekt ist also ein dramaturgisches, und seine Subjektivierung erfolgt primär dadurch, dass es sich in gelungener Weise vor anderen darstellt. Das Subjekt ist in der Spätmoderne mehr und mehr identisch mit seiner Performanz vor einem Publikum – und das Internet ist seine zentrale Arena“ (S. 246). Singularisierungsarbeit in einem „medialen Attraktivitätsmarkt“ (S. 252) wird zu einer tagtäglichen Herausforderung in der „Affektmaschine“ (S. 234), aus der das Internet zu einem erheblichen Teil besteht. Diese Affektmaschine kann erregen, unterhalten, freudig stimmen, entspannen, aufhetzen „oder bewirken, dass man sich angenehm aufgehoben fühlt“ (S. 234/235). Auch haben „die digitalen Objekte, welche Rezipienten und Produzenten in ihren Bann ziehen, zu großen Teilen keinen bloß kognitiven, sondern einen narrativen, ästhetischen, gestalterischen und ludischen Charakter“ (a. a. O., S. 235). In diesem Gefüge „omnipräsenter Visualität“, so Reckwitz weiter, „rücken (schrift-)sprachliche Texte im Internet an die zweite Stelle“ und auch sie unterliegen den Tendenzen einer „Entinformatisierung und Emotionalisierung“ (Ebenda). Auch hier stellt sich die Frage nach den Auswirkungen dieser Digitalisierungseffekte auf die Beratung, denn selbstverständlich beeinflussen diese kurz skizzierten Kommunikationsmuster nicht nur die Beratung online, sondern auch die Beratung offline. Bevor wir uns genauer mit der Onlineberatung und ihren möglichen Anregungen für eine neue Sicht auf die Präsenzberatung auseinandersetzen, bleibt festzuhalten:

Beratung unter Onlinebedingungen

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Beratung wird in ihren grundlegenden Praktiken von Digitalisierungsprozessen durchzogen. Diese führen neben der Herausbildung einer eigenständigen Beratungspraxis – der Onlineberatung – ebenso zu Vermischungen mit der Präsenzberatung. In der Folge entstanden, bzw. entstehen für Ratsuchende neue Beratungsformationen oder Beratungsfigurationen als Netzwerke und Kontexte, in denen Beratung vorfindbar, nutzbar und initierbar ist. Neben diesen neuen und erweiterten Interaktions- und Kommunikationsformen werden – so ist zu vermuten – algorithmische basierte Entscheidungssysteme in die Entscheidungspraxen der Beratung eingreifen können. Digitalität (Stalder 2016) ermöglicht die immer neue Vernetzung und Kombination von Vertrautem und vermeintliche Singularisierungs-Darstellungen kennzeichnen einen Großteil kommunikativer Internetpraktiken. Diese sehr grob skizzierten und keinesfalls vollständigen Beschreibungen digitalisierter Kultur und Gesellschaft gilt es im Hinterkopf zu haben, wenn nun ein Blick auf die Onlineberatung geworfen wird.

3 Welche Termini stehen uns zur Verfügung? Die Beschäftigung mit dem Thema Beratung verlangt immer eine Präzisierung darüber, um welche Beratung es gehen soll. Der Begriff Beratung war immer schon und ist auch weiterhin ein Großbegriff, ein Containerwort, ein Begriff, der unterschiedliche Inhalte, Handlungspraxen, Bedeutungsframes und insbesondere Vorstellungen kommunikativ-beruflichen Handelns zu erfassen versucht. Somit sei davor gewarnt, mit diesem Begriff leichtfertig und unreflektiert umzugehen und die jeweils eigene Interpretation zu verallgemeinern. Beratung also ein Begriff von großer semantischer Unbestimmtheit unter den Unterschiedliches subsummiert werden kann. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Philosophischen Untersuchungen mit Blick auf die Begriffe „Sprache“ und „Spiel“ von Familienähnlichkeit gesprochen, d.h. dass die Begriffe unscharfe Grenzen haben und sich der Verstand Beulen holt (PU § 119; Wittgenstein 1984, S. 301). Letzteres möchte ich im Folgenden und mit Blick auf Beratung selbstverständlich vermeiden. So hat Beratung zwar einen semantischen Kern, bleibt aber trotz grundlegender Strukturähnlichkeiten in den jeweiligen Thematisierungs- und Handlungspraxen höchst unpräzise. Mit Blick auf die folgende Thematisierung digitalisierter Beratung ist diese Problematik einfach zu verdeutlichen: Unter Beratung im Internet oder Onlineberatung kann man einfachste faktenbezogene Informationsanfragen ebenso subsummieren wie die mailbasierte Begleitung von Personen mit suizidalen Absichten. Beides findet unter dem Begriff „Beratung“ online statt und definiert damit Eckpunkte eines höchst diversen interaktiven und kommunikativen Kontinuums. Das, was unter Beratung online zu verstehen ist, ist also höchst

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unterschiedlich und ermöglicht unterschiedliche Lesarten. Schon Beratung offline hat trotz gewisser Strukturähnlichkeiten eine breite Semantik, online scheint dieser semantische Raum keinesfalls kleiner, wenn nicht gar größer zu sein. Letztlich entgrenzen derartig „familienähnliche“ Beschreibungsformen und Praktiken den Beratungsbegriff und lassen in ebenso vage wie unscharf erscheinen3. Das muss nun nicht nur von Nachteil sein, eröffnen sich mit diesen Unschärfen doch auch „Familienähnlichkeiten“ zu verwandten(!) Begriffen und Praxen, die Beratung schon immer ein potenziell niederschwelliges Potenzial gaben. Die Perspektive einer beratungsbegrifflichen Familienähnlichkeit wirft mit Blick auf die Thematisierung der Beratung in ihren diversen Onlinevarianten ein weiteres Problem auf, das wir kurz ansprechen sollten, bevor wir uns den eigentlichen Inhalten widmen. Lassen sich die beraterischen Handlungspraxen, die online vorliegen, mit den gleichen Begriffen fassen wie die Praxen offline? Es ist dieses eine grundsätzliche Frage im Umgang mit Digitalisierungsphänomen. Wir sind geneigt, das Neue und Andere, das Digitalisierungsprozesse mitbringen, mit den vertrauten Offline-Begriffen zu beschreiben. Das erscheint im Umgang mit dem Neuen und Unbekannten ein grundsätzlich probates Vorgehen zu sein und hat sämtliche Innovationen begleitet. Wir sprechen somit von Künstlicher Intelligenz(!), reden davon, dass Maschinen lernen(!), in sozialen Netzwerken werden Freunde(!) und likes(!) definiert, Daten werden in der Cloud(!) gespeicherte – um ein paar Beispiele zu nennen. Primär transportieren diese Begriffe Analogien oder haben metaphorischen Charakter denn, dass sie eine präzise Beschreibung liefern. Auch scheint ein alltagssprachlicher Animismus neue Aktualität zu gewinnen, wenn beispielsweise Maschinen denken(!). Beliebt ist es auch mehr oder weniger subtil digitale Überwachungs- oder Datengenerierungsformen mit euphemistisch wohlklingen Begriffen zu belegen wie „Assistenzsystem“ oder gar personifizierend von „deiner Assistentin, Begleiterin etc.“4 zu sprechen. Es bleibt also die grundsätzliche Frage, ob wir mit unseren offline-Begriffen der Spezifik der Online-Realitäten wirklich gerecht werden können und welche Bedeutungsframes wir hier möglicherweise unreflektiert übertragen oder ob wir perspektivisch nicht ein neues Vokabular benötigen, das präziser ist. Vorerst und momentan müssen wir mit diesen begrifflichen Unzulänglichkeiten leben und sie kritisch hinterfragen, aber eben ohne dass sich der „Verstand Beulen holt“. 3Hierbei

handelt es sich um ein Phänomen im Deutschsprachigen, das im englischen Sprachraum so nicht vorhanden ist, denn hier präzisiert der Begriff „Counseling“ deutlich mehr. 4In Zeiten der Selbstverständlichkeit einer gendergerechten Sprache mutet es höchst antiquiert an, digitale Assistenz-Systeme immer wieder mit weiblichen Vornamen zu benennen (Alexa, Siri oder Vivy etc.) während Baustellen-Apps ‚Atlas‘ genannt werden. Namengebende Klischeevorstellungen, die trotz der Technologie des 21. Jahrhunderts an das 19. Jahrhundert erinnern.

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4 Eine kurze Skizze zur Geschichte der Onlineberatung5 Unter der Perspektive der Digitalisierung von Beratung ist Onlineberatung ein „altes“ Phänomen. In dem Maße, wie das Informieren und Kommunizieren online zu einer Selbstverständlichkeit wurde, entstanden auch die ersten onlinebasierten Beratungsangebote in den sozialberuflichen, psychosozialen, bildungsund gesundheitsbezogenen Handlungsfeldern. Mit Blick auf Beratung waren die grundlegenden Praxen schon im telefonischen Beratungsangebot der Telefonseelsorge (TS)6 vorhanden und ließen sich auf die textbasierte Onlineberatung übertragen. Als wesentliche Merkmale der Telefonseelsorge beschreibt Joachim Wenzel (2008): Verschwiegenheit, Anonymität (auf beiden Seiten), keine Begrenzung auf spezifische Beratungsthemen, Kompetenz in medialer Beratung und Seelsorge, Beratung durch ausgebildete und medienspezifisch fortgebildete Telefonseelsorger, begleitende Supervision für die Telefonseelsorger, verlässliche Erstantworten innerhalb einer zuvor benannten Zeit, institutionelle Einbindung an Telefonseelsorgestellen vor Ort, weltanschauliche Offenheit (vgl. Wenzel 2008, S. 91). „Der TS geht es von Anfang an nicht um das Medium Telefon, ­sondern konsequent die medialen Möglichkeiten zu nutzen, um Menschen in Not niederschwellig erreichen zu können. Das mediale Kommunikationsangebot im Zusammenwirken mit Anonymität und Verschwiegenheit ermöglicht dabei die paradoxale Erscheinung „Nähe durch Distanz“ wodurch es Menschen möglich wird, über ihre Probleme zu reden, selbst wenn sie es unter anderen Umständen nicht tun würden“ (S. 90). So vertraut das Telefon im kommunikativen Alltag auch war, die beraterische Arbeit der Telefonseelsorge blieb mit Blick auf die Beratungsdiskussionen jedoch eher randständig7. Im Unterschied zu der aufkommenden Onlineberatung war sie in ein höchst vertrautes und technisch „altes“ aus dem 19. Jahrhundert stammendes Medium eingebunden, das in seinen kommunikativen Möglichkeiten und Grenzen bekannt war und weder kommunikative Innovationsbegeisterung noch beraterische Zukunftsfantasien auslösen konnte. Ganz anders die damalige allgemeine Sicht auf das sich quasi explosionsartig entwickelnde Internet mit seinen

5Nur

sehr grob und keinesfalls vollständig, eher als eine stark verkürzte Einführung zu betrachten. 6Die Telefonseelsorge existiert in Deutschland seit 1956. 7Sie erhielt bisher nicht die ihr gebührende beratungstheoretische und beratungskonzeptionelle Aufmerksamkeit.

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um die Jahrtausendwende diskutierten Versprechen auf eine völlig neue kommunikative vernetzte Zukunft. Christiane Eichenberg und Stefan Kühne beschreiben drei Institutionalisierungsphasen der Onlineberatung im Deutschsprachigen. Die erste Phase – von 1995 bis 2002 – lässt sich als eine „Vorstufe der Institutionalisierung“ (Eichenberg und Kühne 2014, S. 35) oder auch die erste Generation der Onlineberatung (vgl. Wenzel 2008) definieren. Sie wird von der Pionierarbeit hoch motivierter Akteure aus Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und weiteren engagierter Personen geprägt. In dieser Zeit gab es noch keine Ausbildungen in Onlineberatung und vieles in der beraterischen Praxis jener Zeit war vom Enthusiasmus und dem Engagement einer eher überschaubaren Anzahl von Akteuren getragen: eine onlineberaterische Start-up-Phase – jenseits von Garagen – in den Beratungseinrichtungen und bei Beratungsengagierten. Auch die technischen Standards waren weit von den heutigen entfernt, genutzt wurden beispielsweise unverschlüsselte E-Mail-Clients (Eichenberg und Kühne 2014, S. 36). Die zweite Phase der „annähernden Institutionalisierung“ beginnt mit dem Jahr 2003 und reicht bis in die Gegenwart. In diese Phase fallen viele prägende Entwicklungen, Gründungen sowie theoretische und konzeptionelle Auseinandersetzungen mit dem Thema Onlineberatung. Diese Phase war bzw. ist eingebettet in die Entwicklung der zunehmenden Bedeutung des Internets und der in und mit ihm möglichen Kommunikationsformen. Zeitgleich bekommt der Begriff „Internet 2.0“ Bedeutung. Während der Begriff „Internet 1.0“ auf das eher passive Konsumieren von Informationen verweist, wird mit dem „2.0“ der Fokus auf selbstständige Gestaltungen sowie interaktive Nutzungen gelegt. Eine allgemeine Entwicklung internetbasierter Kommunikation und Interaktion, die in der Folge auch die schon immer interaktive Onlineberatung rahmte. Neben weiteren onlinebasierten Beratungsangeboten diverser Anbieter aus den später 1990er Jahren8 entwickelten sich dann recht schnell zunehmend qualitätsgesicherte Praxen der Onlineberatung wie auch wissenschaftliche, theoretische und konzeptionelle Debatten über eben diese Qualität, ihre Wirkungsmöglichkeiten und Gestaltungsformen. So gründete sich 2005 die Deutsche G ­ esellschaft für Onlineberatung (später umbenannt in: Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung), als Open-Access-Angebot ging im gleichen Jahr

8Emily

Engelhard hat wichtigste Meilenstein dieser Entwicklung tabellarisch zusammengefasst (vgl. Engelhardt 2018, S. 19, 20).

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das e-beratungsjournal an den Start, das sich laut Selbstbeschreibung „als interdisziplinäres, deutschsprachiges Informations- und Diskussionsforum sowie als Veröffentlichungsplattform für Beiträge, die sich mit Theorie und Praxis von Onlineberatung und computervermittelter Kommunikation befassen“, versteht. Mit der Expansion der Praxis etablierte sich auch das wissenschaftliche Feld der Onlineberatung. Die dritte Phase wäre laut Eichenberg und Kühne von einer Art „„Bodenständigkeit“ (Sedimentierung)“ (S. 38) in der Institutionalisierung der Onlineberatung geprägt, d. h. sowohl beraterische Onlinepraxen wie auch theoretisch konzeptionelle Grundlagen wären durchweg anerkannt und selbstverständlich. Für diejenigen, die mit der Onlineberatung vertraut sind, mag diese Phase schon lange eine Selbstverständlichkeit sein, für die gesamte Beratungsöffentlichkeit gilt das leider noch nicht. Eine Sedimentierung im obigen Sinne ist sicherlich sinnvoll und notwendig, zu vergessen ist aber nicht, dass gerade die Onlineberatung wie aber auch die Beratung insgesamt immer wieder auf kommunikationstechnologische Veränderungen mit ggf. neuen und anpassenden Praxen reagieren muss. Ohne hier auf die eigentlichen Inhalte der Entwicklung der Onlineberatung einzugehen, bleibt aber festzuhalten, dass innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne sich im Deutschsprachigen sowohl ein hoch elaborierter Diskurs über das Beraten online und ebenso eine entsprechende Praxis durchsetzen konnte.

5 Onlineberatung heute Dennoch scheint der Beratung online noch immer in vielen Beratungsfeldern und Beratungsstellen die beraterische Selbstverständlichkeit zu fehlen, die sie anderen Orts aufgrund onlineaffiner Beratungskräfte schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten hat. So kann man sich Emily Engelhard (2018) anschließen, die sich in ihrem aktuellen Lehrbuch zur Onlineberatung wünscht, dass „auch die Onlineberatung in Zukunft ihren teils noch vorhandenen Exotenstatus verliert und als selbstverständliches Instrument das Portfolio psychosozialer Beratung ergänzt“ (Engelhardt 2018, S. 163). Dass nach zwei Jahrzehnten Entwicklung der Onlineberatung stellenweise immer etwas „exotisches“ anhaftet, ist einerseits verwunderlich, andererseits aber auch durchaus erklärbar. Es ist verwunderlich, weil sich unser aller Informations-, Kommunikations- und Interaktionspraktiken durch den Einsatz von Technologien geändert haben – für einige grundlegend, für andere peripher, von einigen mit Begeisterung begrüßt, von anderen abgelehnt. Mittlerweile hat sich aber jenseits einer trivialen

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Digitalisierungseuphorie und der ebenso trivialen Digitalsierungsablehnung längst ein kritischer und produktiver Diskurs entwickelt, der nicht grob mit schwarz-weiß Mustern argumentiert, sondern sehr differenziert die Vorteile und selbstverständlich auch die großen Risiken und Gefahren für Personen und letztlich auch Demokratien diskutiert (u. a.: Bridle 2018; Couldry und Mejias 2018; Lanier 2018; Zuboff 2018). In diesem aufgrund weiterer technologischer Entwicklungen immer komplexer werden Umfeld hat die Onlineberatung schon sehr für zu einer ebenso einfachen wie bestechend effektiven Praxis gefunden. Da Beratung in ihrem Kernbereich aus einer dialogischen Begegnung zwischen zumindest zwei Personen besteht, ließ sich dieses Setting einfach digitalisiert transformieren und damit in seinen konstitutiven Grundelementen medial reproduzieren. Mit der Beratung online wird kein Gespräch simuliert, sie ist auch nicht einem Beratungsgespräch vergleichbar, sie ist eine eigenständige zumeist textbasierte dialogische Interaktionsform, kann aus Texten sowie Textfragmenten bestehen und ist immer interaktiv ausgerichtet, denn sie wendet sich an einen oder mehrere Dialogpartner. Diese dialogisch gerichteten Texte lassen sich um Bilder, grafischen Zeichen (Emoticons, Emojis), letztlich um alles, was in digitaler Kommunikation möglich ist, ergänzen und so zu ganz eigenständigen Dialogformen zusammensetzen. Und auch diese sind höchst unterschiedlich, zumeist sind es E-Mail-basierte Dialoge, sie können aber auch die Form eines Einzel- oder Gruppenchats annehmen, als SMS konzipiert sein oder Messenger basiert als fortlaufender Dialog angelegt werden. Jede dieser Dialogformen greift in ihrem schriftbasierten Ablauf auf unterschiedliche Textformate sowie auf völlig verschiedenen Schreibsituationen von Ratsuchenden und Berater sowie Beraterinnen zurück. So kann etwa eine E-Mail als asynchrone Kommunikationsform zu jeder Zeit als reflektierter, vielfach überarbeiteter, aber ebenso als entlastender „runtergeratteter“9 Text erstellt werden. In einem Gruppen- oder Einzelchat, der eine Kopräsenz voraussetzt, sind entlang von konzeptioneller Mündlichkeit (man schreibt wie man spricht), ggf. jenseits grammatikalischer Konventionen und mit u­ nterschiedlichem Dialogtempo einzelne Sätze oder kurze Textfragmente vorherrschend. Eine SMS erlaubt ebenfalls einen schriftlichen Dialog entlang von Textfragmenten und ein Dialog in einem Messenger-Dienst erweitert den Umgang mit diesen nun nicht mehr zeichenbegrenzten Textfragmenten, zu einem kontinuierlichen, s­equenziellen Dialoggeschehen, das fortlaufend stattfinden kann, da es nicht beendet werden oder immer wieder neu initiiert werden muss. All diese Textformen sind nicht monologisch

9Mein

Dank geht hier an Frau Jording von der Mädchenberatung in Bielefeld, die mir ihre aktuelle Onlinepraxis lebhaft und kenntnisreich beschrieb.

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akzentuiert, sondern grundlegend dialogisch ausgerichtet und werden erstellt, um „Interaktionalität in die schriftliche Kommunikation zurückzuholen“ (Imo 2015, S. 31) wie von Wolfgang Imo am Beispiel der Messenger-Kommunikation diskutiert. Durch die Nutzung von Mobilmedien ist dieses zumeist schriftbasierte, aber auch telefonisch denkbare Kommunizieren an jedem beliebigen Ort – Empfang vorausgesetzt – möglich. Ratsuchende sind damit in der Wahl eines für sie geeigneten Ortes, an dem sie diesen beraterischen Kontakt aufnehmen oder an dem sie etwas schreiben möchten, vollkommen selbstbestimmt. Mit der Onlineberatung lassen sich somit unterschiedliche dialogorientiert kommunikative Praktiken realisieren, die weit mehr Settings und Kontexte zulassen als es in der traditionellen formalisierten Face-to-face-Beratung möglich ist. Das gilt für Berater wie Beraterinnen, aber selbstverständlich in einem noch viel größerem Maße für die Ratsuchenden. Letztere können beraterische Interaktionalität an jedem Ort und zu jeder Zeit herstellen10, können hinsichtlich des Kommunikationsformats wählen, verfügen über die Kontrolle zur Gestaltung des Beratungsprozesses, können dabei Beratung ebenso ausprobieren, unterbrechen wie abrupt beenden, können sich auf Beratungsseiten informieren oder aktiv in ein dialogisches Geschehen einsteigen. Die Onlineberatung verfügt damit schon seit ihren Anfängen über ein Settingspektrum, das von formalisierten bis hin zu völlig offenen Settings reicht. So betrachtet findet Beratung hier schon längst in den Alltagen und weit jenseits der Institutionen statt. Mochte noch in den Anfängen der Onlineberatung die Textkommunikation an einen PC oder ein Notebook gebunden sein, so haben die Mobilgeräte diese längst in ihrer Interaktionsqualität verdrängt. Insbesondere das Smartphone als nahezu kontinuierlich präsente „Nahkörpertechnologie“ (Kaerlein 2018) ist zentral geworden und wird zukünftig das onlinebasierte Beratungseschehen prägen. All diese interaktiven Praktiken geschehen aber nicht in räumlicher Kopräsenz und von Angesicht zu Angesicht, sondern sind unter den Bedingungen von Anonymität oder Pseudonymität möglich. Diese Anonymitätschancen gepaart mit anderen nicht gesprächsbasierten erweiterten und hybriden Dialogformen stellen aktuell die zentralen Charakteristika der Onlineberatung dar.

10Schon

allein, das Wissen um die Möglichkeit, mit den eigenen Netzwerken von jedem Ort aus Kontakt aufnehmen zu können, erzeugt auch ohne tatsächliche Smartphonnutzung positive Effekte wie Verbundenheit und Zugehörigkeit (Döbler 2013).

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6 Warum ist Onlineberatung noch immer „exotisch“? Dass Onlineberatung nach zwei Jahrzehnten noch immer „exotisch“ anmutet, ist mindestens drei Umständen geschuldet. Ein erster Grund ist ganz pragmatisch und jenseits aller theoretischer Debatten. Die formal-institutionelle Organisation von Beratung in sozialberuflichen, psychosozialen sowie bildungs- und gesundheitsbezogenen Handlungsfeldern war zuvor primär und ist auch offline weiterhin auf Nahräume, Einzugsgebiete etc. im Sinne von zuständigen Gebietskörperschaften bezogen. Derartige Grenzen der Zuständigkeit sind mit einem im Internet nutzbaren Angebot nicht ohne weiteres aufrecht zu erhalten. Zwar könnte man Zuständigkeiten und damit die Klientel räumlich begrenzen, es entspricht aber nicht den letztlich unbegrenzten Praktiken der Nutzung von Kommunikations- und Interaktionsangeboten im Internet und wird in einer anonymisierten Angebotsform vollends unmöglich. Ein zweiter Grund mag die Skepsis gegenüber Digitalisierungsprozessen und technischen Innovationen sein und die damit verbundenen Frage, der Angemessenheit von Onlineberatung. So kommen im Rahmen ihrer europaweiten Studie „Therapy 2.0 – Counseling and Therapeutic Interactions with Digital Natives“ (Drda-Kühn, K. et al. 2018)11 über Nutzungen und Einschätzungen von beraterischen und therapeutischen Onlineangeboten die Autorinnen zu dem Ergebnis, „dass Beraterinnen und Therapeuten in Deutschland Instrumenten der Online-Beratung und -Therapie immer noch distanziert gegenüberstehen“ (a. a. O., S. 27). Sie sind Onlineangeboten gegenüber skeptischer als ihre europäischen Kollegen und Kolleginnen, geben zu 28 % an, nicht zu wissen, wie man Online-Instrumente in der eigenen Arbeit anwenden kann, halten zu 51 % diese Kommunikationsform für zu unpersönlich, sind sich zu 43 % nicht sicher genug und formulieren zu 28 % ethische Bedenken (a. a. O., S. 32). Ihre Besorgnis äußern sie, indem sie die Gefahr von Missverständnissen benennen (74 %), in der überwiegenden Mehrzahl mit 85 % den Mangel an nonverbaler Kommunikation hervorheben sowie die Gefahr von Sicherheitslücken betonen (51 %). Aber es besteht bei den Befragten zugleich ein großes Interesse an Weiterbildung und Information. Selbst wenn diese Studie eher einen atmosphärischen Eindruck wiedergibt12 und nicht nur das Feld der Onlineberatung in Abgrenzung 11Befragt

wurden Praktiker und Praktikerinnen aus sieben europäischen Ländern. Autorinnen selbst bemerken einschränkend, dass sie das Ergebnis nicht „unter wissenschaftlich-empirischen Anforderungen“ (S. 36) durchführen konnten und mit 252 befragten zumeist weiblichen Fachkräften es primär „zur Validierung von Annahmen und

12Die

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zu psychotherapeutischen Angeboten untersucht13, so mögen diese Daten doch ein holzschnittartig grobes Bild davon zeichnen, wie von einigen Beratern und Beraterinnen über Onlineberatung heutzutage gedacht wird. Bemerkenswert ist an diesem Ergebnis, dass nach circa zwanzig Jahren Onlineberatung auch noch im Jahre 2018 diese aus der Offlineperspektive als defizitär (z. B. Mangel an nonverbaler Kommunikation) angesehen wird, also noch immer stellenweise aus einer Defizitperspektive statt einer Differenzperspektive (Engel 2002) argumentiert wird. Diese Einschätzungen verweisen auf einen weiteren und dritten Grund des noch immer vorfindbaren „Exotenstatus“ (Engelhardt 2018) der Onlineberatung: Zu sehr haben sich die kommunikativen und dialogischen Praktiken der Präsenzberatung als alleiniger Standard des Beratens etabliert. Sie sind das Synonym für Beratung schlechthin. Dieser Standard hat aber dort seine Grenze, wo sich entlang der Onlinepraxen von Beratung neue und konzeptionell eigenständige Settings mit den ihnen eigenen Qualitätskriterien entwickelt haben, die eben nicht mehr nur aus den Offlinepraxen ableitbar sind. Onlineberatung hat ein eigenes beraterisches Profil, das sich nicht eins zu eins einfach aus der Präsenzberatung ableiten lässt. Selbstverständlich gibt es eine Vielzahl konzeptioneller, theoretischer und auch beratungspraktischer Überschneidungen, aber es gibt eben auch gravierende Unterschiede. So muss eine fachlich anspruchsvolle Onlineberatung wie sie eingangs in ihren verschrifteten Praktiken skizziert wurde – ebenso erlernt werden wie das Beraten unter Präsenzbedingungen, sie ist keinesfalls ein verschriftetes Supplement der Präsenzberatung. Zu der schon sehr früh im Deutschsprachigen anzutreffenden hohen Fachlichkeit der Onlineberatung hat ebenfalls der Umstand beigetragen, dass sie auf ein öffentlich finanziertes und in der Nutzung kostenloses Netz an etablierten Beratungsangeboten aufbauen konnte. Diese beraterische Infrastruktur, geprägt von Trägern der freien Wohlfahrtspflege und weiteren gemeinnützigen Organisationen verfügt über große Akzeptanz und Anerkennung und damit über das insbesondere für internetbasierte Angebote notwendige Vertrauen der Öffentlichkeit in eben diese Angebote. Dass Vertrauen im Rahmen internetbasierter

Beobachtungen von Praktikern und Therapeutinnen an den beteiligten wissenschaftlichen Instituten (diente)“ (S. 36). Details sind unter https://www.ecounselling4youth.eu/de/needs/ einsehbar. 13Eine Unterteilung, die im Rahmen einer europäischen Betrachtung schwer wird, da die Begriffe Beratung und Psychotherapie je nach nationalen Konventionen, Angebotsformen und Ausbildungen anders zueinanderstehen als im Deutschsprachigen.

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Interaktion und Kommunikation von höchster Bedeutung ist, kann als eine ­Selbstverständlichkeit angesehen werden. Vertrauen muss aber ganz grundsätzlich in Beratungen und für Beratungsangebote immer – und immer wieder neu – hergestellt werden. Anthonny Giddens fasste dieses Erstellen von Vertrauen auch im Hinblick auf Institutionen mit dem Begriff des „aktiven Vertrauens“ (Giddens 1996), das nicht nur erworben werden muss, sondern das sich insbesondere auch bewähren muss, um seine Tragfähigkeit zu erreichen. Gerade in den Anfängen internetbasierter Beratungsformen war Vertrauen keine Selbstverständlichkeit. Onlineberatung konnte aber auf eine hohes Vertrauen genießende offlineBeratungsstruktur aufbauen, in die sich diese neuen digitalisierten Beratungsangebote integrieren ließen. Als Beispiel sei das Onlineberatungsangebot der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) zu nennen, das auf der hohen Akzeptanz und Selbstverständlichkeit eines bundesweitern Netzes von Beratungsstellen aufbauen und neben den Onlineangeboten auch immer auf vor Ort präsente Angebote verweisen konnte. Um die Bedeutung dieser Struktur würdigen zu können, stelle sich man vor, dass Beratung in den psychosozialen, sozialberuflichen und bildungs- wie gesundheitsbezogenen Feldern ausschließlich privatwirtschaftlich organisiert wäre, möglicherweise mit einem Verwertungsinteresse an erhoben Daten, eingebunden in intransparente Geschäftsmodelle und Plattformen, die denen der großen Onlineplattformen (Google, facebook etc.) entsprechen: Es wäre nicht nur insgesamt eine völlig andere Beratungslandschaft, sondern auch insbesondere auch eine völlig andere Onlineberatung14. Als ein erstes kleines Fazit zur aktuellen Situation der Onlineberatung ist also festzuhalten, dass sie sich einerseits zu einem eigenständigen und professionalisierten Feld der Beratung entwickelt hat und von den mit ihr vertrauten Beraterinnen und Beratern mit großer Selbstverständlichkeit und fachlicher Kompetenz angewandt wird. Andererseits gibt es noch immer mancherorts onlineberatungskritische Kontexte – ggf. auch seitens von Verwaltungen –, die ihr bestenfalls unter einer ökonomisierenden Perspektive positiv gegenüberstehen, sie aber ansonsten als fachlich inakzeptabel kritisieren15. In der Gesamtheit und

14Als

ein Randphänomen in jenen Jahren tauchten private Anbieter mit kostenpflichtigen Beratungsangeboten auf, nicht selten gepaart mit weiteren Verkaufsabsichten (etwa Kredite für junge Erwachsene). Aufgrund der sich aber sehr schnell entwickelnden kostenfreien beraterischen Infrastruktur, hatten diese Angebote keine Chance, sich zu etablieren. 15Interessanterweise scheint sich diese Entwicklung des Verhältnisses von Onlineberatung zur Präsenzberatung aktuell, wenn auch mit vollkommen anderen Akzentuierungen, im Bereich der Psychotherapie zu wiederholen. Denn die gesetzlich verankerte Psychotherapie erlebt im Deutschsprachigen – und mit viel zeitlichem Rückstand auf internationale

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beratungskonzeptionell betrachtet existieren aber schon längst zwei parallele Varianten der Beratung mit ihren jeweils eigenen beraterischen Charakteristika sowie Angebots- und Nutzungsformen. Längst gilt diese Differenzperspektive in sämtlichen Diskursen über die Onlineberatung als eine Selbstverständlichkeit und hat die oben skizzierten anfänglichen und heutzutage inhaltlich nicht mehr begründbaren Defizitbetrachtungen weitgehend abgelöst. Auch könnte man derartige Defizite ebenso aus der Perspektive der Onlineberatung hinsichtlich der Präsenzberatung formulieren, sie wäre dann defizitär aufgrund ihrer Ortsbindung, der notwendigen Kopräsenz, ihrer Verunmöglichung von Anonymität, ihrer ephemeren Dialogpraxis mit der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes und der damit einhergehenden unvollständigen Dokumentierbarkeit des dialogischen Prozesses etc. Bleiben wir aber noch ein wenig bei einer vergleichenden Betrachtung von Online- und Präsenzberatung. Würde man beide Beratungsformen mit Blick auf die obigen Beratungsfelder in ihren personal-, nutzungs- und kostenbezogenen Quantitäten sowie den beratungswissenschaftlichen Publikationen hinsichtlich ihrer Quantität vergleichen, dann würde sich der Onlinebereich als verschwinden klein ausnehmen. Eine Vergleichsperspektive, die aber nichts über die aktuelle und insbesondere zukünftige Relevanz der Onlineberatung aussagen kann, denn auch in anderen Digitalisierungsfeldern oder Bereichen mit technischer Innovation sind neue Praxen im Verhältnis zu tradierten erst randständig, haben aber die Chance, über die Zeit oder auch sehr schnell und einschneidend (disruptiv) einen neuen Standard zu definieren. Mit Blick auf die Onlineberatung könnte es wohl nur eine Generationenfrage sein, bis sich diese Quantitäten verändern. So konnten beispielsweise schon vor fünfzehn bzw. zwanzig Jahren Jugendliche erste Beratungserfahrungen mit speziell auf ihre Fragestellungen und Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten im Internet machen (z. B. kids-hotline oder die Jugendberatungsseiten der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung [bke]). Diese damaligen Nutzerinnen und Nutzer dieser Angebote sind heute in einem Alter, in dem sie als Erwachsene oder Eltern ebenfalls auf derartige Beratungsangebote – etwa der bke-Elternberatung – zurückgreifen können. Es gibt somit also längst eine Generation, die mit der Onlineberatung aufgewachsen ist, die

­ ntwicklungen – erst gegenwärtig ihre erste Digitalisierungsphase. Und trotz international E vorliegender umfangreicher Studien zur Evidenz onlinebasierter Vorgehensweise herrscht auch hier eine deutliche Skepsis derartigen Angeboten gegenüber wie sie oben im Rahmen der kleinen Studie zu „Therapy 2.0“ genannt wurden.

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möglicherweise nur diese Form der Beratung als selbstverständliche und vertraute Beratung kennt. So ließen sich ein wenig idealtypisch die „Onlineberatungs-Natives16“ als eine Gruppe von Personen beschreiben, die biografisch eine hohe Affinität und Selbstverständlichkeit zu dieser Beratungsform entwickeln konnte und die wohlmöglich nie eine Beratungsstelle aufsuchen würde. Diese „Natives“ verfügen mit den schriftbasierten Techniken des Mailschreibens, Chattens, des Posten von Forumsbeiträgen sowie des Bloggens über die schriftkommunikativen Kompetenzen und Voraussetzungen sich in diesem Feld selbstverständlich kommunikativ bewegen zu können. Auch schätzen sie vielleicht die Anonymität der Beratungen und das hoch attraktive „easy in-easy out“ einer onlinebasierten Beratung. Es bedarf keiner allzu großen Fantasie, zu vermuten, dass diese Gruppe weiter zunehmen und die Beratungsformen, so wie wir sie gegenwärtig kennen, herausfordern und zukünftig verändern wird.

7 Welche Bedeutung kann die Onlineberatung für die Beratung offline haben? Onlineberatung verfügt über ein großes Spektrum verschiedener Settings mit unterschiedlichen Kommunikationsformen, hat andere kommunikative und interaktive Abläufe, ist in ihren Abläufen anders akzentuiert und in ein technisches Medium eingebunden. Greifen wir die anfänglich aufgeworfene Frage auf: Hat Onlineberatung im Laufe der Zeit Praktiken entwickelt, die für die Präsenzberatung bedeutsam sein könnten? Gibt es also in den zur Präsenzberatung differenten und keinesfalls defizitären Praktiken der Onlineberatung und ihrer theoretischen Betrachtungen Ansatzpunkte für einen anderen Blick auf Beratung? Bisher dominierte eher ein Blick in die andere Richtung. So lassen sich trotz eigenständiger Beratungskonzipierungen wie beispielsweise dem Vier-Folien-Konzept von Knatz und Dodier (2003)17 sämtliche Beratungskonzepte online wiederfinden. Onlineberatung ist in ihren konzeptionellen Ausrichtungen beispielsweise ebenfalls systemisch, lösungs- oder ressourcenorientiert ausrichtbar. Dieser Blick, in dem aus der Präsenzberatung auch die Praktiken des ­Fragens,

16Marc

Prensky (2001) diskutiert die Begriffe „digital natives“ und „digital immigrants“ und prägte damit viel genutzte Schlagworte. 17Emily Engelhard (2018) verweist in diesem Zusammenhang auf weitere Strukturierungshilfen wie das „Integrative Qualitätssicherungsmodell (IQSM)“ oder das „14-Schritte-Programm zur Beantwortung einer Mail“ (S. 81 ff.).

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Zuhörens, sprich Lesens18, etc. auf Onlinepraxen übertragen werden, ist eine ebenso notwendige wie die Praxis bereichernde Selbstverständlichkeit. Es ist meines Erachtens aber an der Zeit, aus einer anderen Perspektive auf „DIE“ Beratung zu blicken – und zwar aus der Onlineperspektive und sich dabei die Frage zu stellen, welches beraterisch konzeptionelle, theoretische und selbstverständlich auch praktische Potenzial die Onlineberatung für eine neue Perspektive auf die Beratung offline bereit hält. Haben sich aufgrund der online selbstverständlichen Beratungssettings und -praxen nicht längst neue Formen des Beratens entwickelt, die auch jenseits der digitalen und technischen Einbindung offline nutzbar wären?19 Ermöglicht Onlineberatung somit einen ebenso vertrauten wie „fremden“ Blick auf die Präsenzberatung. Ein derartiger Blick ist notwendig, denn Onlineberatung ist nicht nur ein weiter zunehmender Beratungsbereich, sie ist aufgrund gering formalisierter Zugänge auch weiterhin einfacher erreichbar als eine traditionelle Beratungsstelle. Welche strukturellen Elemente der Onlineberatung könnten also den Blick auf die Beratungspraktiken der Präsenzberatung verändern und ggf. vereinfachen? Entlang der Beratungs- und Reflexionstempi, verstanden als der Umgang mit Zeit in und zwischen den Beratungen, dem Zugangsprinzip des „easy in easy out“ sowie den beratungswirksamen Resonanzmöglichkeiten online – auch und insbesondere von Peer-Beratungen – werden im Folgenden eher Fragen formuliert, denn dass Antworten vorgegeben werden.

8 Beratungs- und Reflexionstempi in Onlineberatung und Präsenzberatung Aufgrund von Synchronizität und Asynchronizität existieren in der Onlineberatung zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten des Beratens. Asynchronizität ermöglicht diejenigen Texte, die unter freier Zeiteinteilung geschrieben werden – wie etwa im Rahmen einer E-Mail. Diese Texte können in der Erstellungsphase mehrmals überarbeitet, gelesen, reflektiert und ggf. mit weiteren Personen diskutiert werden. Ratsuchende verfügen damit wie Berater und Beraterinnen über eine Form schriftbasierter Kommunikation, die nicht dem Tempo eines kopräsenten Dialogs unterliegt. Es entstehen viel größere Zeitrahmen, einerseits bei der Erstellung

18Dass es hierzu mit Blick auf E-Mails oder Chats, aber auch ganz grundsätzlich verschiedener Lesetechniken bedarf, verdeutlicht Engelhardt (2018). 19Zu umfangreich wäre hier eine ausführliche und detaillierte Betrachtung sämtlicher Vergleichsaspekte der Onlineberatung in Bedeutung für die Präsenzberatung.

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eines Textes, andererseits hinsichtlich der quasi Dialogizität. Selbst wenn es Zeitstandards für die Erstellung und Versendung einer Beratungsantwort gibt, vergehen Stunden oder ggf. Tage, bis der nächste kommunikativ-beraterische Turn folgen kann. Das ansonsten nicht oder nur begrenzt steuerbare Turntaking eines Dialogs ist damit zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber extrem verlangsamt. Hier entsteht also zwischen den einzelnen Turns mehr Zeit, die – wenn man einen Blick in die Beratungsgeschichte wirft (vgl. Wandhoff 2016) schon immer von großer beraterischer Bedeutung sein konnte20. Auch gehört es zur grundlegenden Typik der Beratung, dass sie immer eine Aufschiebung von Entscheidungen und Handlungen durch einen zwischengeschobenen Reflexionsprozess bewirkt. Das geschieht selbstverständlich auch in einer prozessorientierten Präsenzberatung zwischen und mit den jeweiligen Beratungsterminen, online hat dieser verlangsamte Umgang mit Zeit aber noch eine ausgeprägter Dimension, da hier einzelne kommunikative Turns verlangsamt werden und damit eine andere Intensität in den dazwischen liegenden Zeiträumen entfalten können. Onlineberatung entlang technologischer Entwicklungen hat somit den Faktor Zeit innerhalb des Beratungsgeschehens verändert. Es lassen sich viele kleine Beratungssequenzen über einen ausgedehnteren Zeitraum platzieren. Für die Ratsuchenden entsteht eine zuvor so nicht gekannte Zeitsouveränität in den beraterischen Mikroprozessen wie auch im Gesamtverlauf einer Beratung. Mit Blick auf den Umgang mit Zeit ist die Situation im Chat völlig anders. Hier findet die Produktion von Text oder Verschriftetem in einem ganz anderen Tempo statt. Statt einer mit der Textproduktion einhergehende Chance zur reflexiven Langsamkeit, herrscht hier nicht selten ein großes Tempo vor: „Von ruhig bis hitzig kann alles dabei sein“, so eine bke-Beraterin zum Tempo in einem Chat (Mundt 2017, S. 11). Hinsichtlich des Zeitrahmens ist die Beratungsform wieder näher an der Präsenzberatung. Auch der Chat erfordert kopräsente Kommunikation und lässt zwischen den Terminen Zeit, um über Inhalte zu reflektieren. Noch näher an die Zeitstruktur der Präsenzberatung rücken die medialen Beratungskontakte, die per Video stattfinden. Sie haben zwar auch ihre Typik mit Vor- und

20Bei Wandhoff (2016) finden wir beispielsweise einen Blick auf die Nutzung von Orakeln in der Antike. Mochte der Orakelspruch noch so interpretierbar oder unverständlich sein, er war eingebettet das Ritual, eine Orakelstätte aufzusuchen: „Schon die weite, lange dauernde Reise zu den Orakelstätten hatte ja nicht zuletzt den Effekt, dass man auf der Fahrt intensiv über seine Frage nachdenken oder sie gar mit Mitreisenden diskutieren konnte. (…). Der immense Zeitgewinn, der auf den ersten Blick als ein Zeitverlust erscheinen mag, ist seit Jahrtausenden ein, wenn nicht das Erfolgsrezept der Beratung“ (S. 309).

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Nachteilen21, sind aber in ihren Abfolgen der Präsenzberatung höchst ä­ hnlich – und im Vergleich zur Präsenzberatung tendenziell defizitär. Sie ermöglichen letztlich keine differente Form der Kommunikation, gleichen bestenfalls anders nicht zu überbrückende räumliche Distanzen aus und erscheinen damit beratungspraktisch durchaus relevant, beratungstheoretisch aber unbedeutend. Der Umgang mit Zeit, Taktung, und Turn-Koordination in Beratungsprozessen, die innerhalb eines Messengerdienstes stattfinden (könnten), ist nochmals anders. Hier kann sich eine Mischung aus synchroner und asynchroner Kommunikation – schriftlich und verbal sowie schriftlich oder verbal – ergeben, auch lassen sich hier sämtliche Textsorten von konzeptioneller Mündlichkeit bis hin zum reflektiert überarbeiteten Text integrieren, Icons, Bilder oder Töne, Videos sind ergänzbar, Tempo und die Turntaking kann bestimmt werden, möglich ist ein kurzer begrenzter Kontakt ebenso wie ein kontinuierlich fortlaufender Kommunikationsprozess – „continuing state of incipient talk“ (Imo 2015, S. 31). Selbst wenn gegenwärtig eine derartige Messenger basierte Beratungsform – insbesondere aufgrund von Datensicherheitsproblemen, die beispielsweise mit der Nutzung von WhatsApp verbunden sind – absolut keine Selbstverständlichkeit darstellt, ist zu vermuten, dass derartige zukünftig datensichere Angebote sich sehr schnell etablieren. Sie würden dann die zentrale alltägliche Online-Kommunikationspraxis nicht nur von Jugendlichen aufgreifen, ein Höchstmaß an kommunikativer Selbstbestimmung ermöglichen und wären ebenfalls pseudonym nutzbar. Zwei nicht zu unterschätzende Hindernisse mit Blick auf Zunahme von Zeit­ souveränität in der Beratung scheinen erwähnenswert. Zum einen muss Onlineberatung zukünftig zu einer neuen Mündlichkeit finden, will sie sich nicht selbst auf ein schriftexklusives Angebot reduzieren. Einerseits helfen hier schon jetzt automatische Transkriptionsprogramme, die das Gesprochene in Text umwandeln, auch können Sprachnachrichten versendet werden und es gibt weiterhin eben auch die Möglichkeit zu telefonieren. So erhält ebenfalls die eingangs erwähnte „alte“ Telefonberatung mit Angeboten wie „Nummer gegen Kummer“22 eine neue Bedeutung und ein hoch modernes und ebenfalls die

21Zu

den Vor- und Nachteilen der Videoberatung siehe Engelhardt (2018, S. 119 ff.). gegen Kummer“ hat es sich zum Ziel gesetzt, für alle Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern und andere Erziehungspersonen ein schnell erreichbares Gesprächsund Beratungsangebot in Deutschland zu etablieren. Die Anonymität der Telefonberatung macht es sowohl Kindern als auch Eltern oft erst möglich, sich Hilfe zu holen. Die Beratungsangebote der „Nummer gegen Kummer“ sind erster Ansprechpartner für alle Fragen, Probleme und in besonders kritischen Situationen. Bei Bedarf öffnen sie den Weg zu weiteren „Hilfen“. https://www.nummergegenkummer.de/ueber-uns.html.

22„Nummer

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jeweilige Zielgruppe erreichendes und ansprechendes Profil. Hier kann höchst selbstbestimmt Beratung ausprobiert und in der Form von peer-to-peer-Beratung erfahren werden. Perspektivisch ist die Reduktion der noch immer z­entralen Schriftbasierung von Onlineberatung ebenfalls die Voraussetzung, um hier zu wirklicher Niedrigschwelligkeit zu gelangen und nicht in großem Maße zu exkludieren und nur ein Angebot für schreibaffine Nutzerinnen und Nutzer zu bleiben. Ein weiterer Hinderungsgrund ist die personelle Umsetzung. Dass, was oben für Ratsuchende mit Souveränität einhergeht, könnte für Berater oder Beraterinnen in nur sehr schwer zu organisierenden Onlinearrangements münden. Laut Andreas Reckwitz gehört zu den Charakteristika der Digitalisierung eine „radikale Verzeitlichung der Kulturformate“ (Reckwitz 2017, S. 241), die damit eigene Zeitlichkeitsstrukturen entfalten. In etwas veränderter Form gilt das auch für die Onlineberatung, die ihre netzbasierte eigene und selbstständige Zeitlichkeit entwickelt hat. Synchronität ist nicht mehr notwendig, Asynchronität eine längst genutzte neue kommunikative und beraterische Chance. Gerade die Asynchronität der Kommunikation enthält beraterisch relevante Wirkfaktoren. Auch hier ist zu fragen, ob mit Blick auf den Umgang mit Zeit, die Präsenzberatung sich verändern könnte? Lassen sich ganz gezielt mit Blick auf die Zeitsouveränität unterschiedlicher Klientel wohl überlegte Mischformen aus Präsenz- und Onlineberatung finden, wie sie unter dem Stichwort „blended“ angesprochen werden? Kann man hier hinsichtlich der Wirksamkeit von Beratung zu gelingenderen Formen finden? Aber auch ganz grundsätzlich kann aufgrund der verschiedenen Zeitformen der Onlineberatung dieser Aspekt für die Präsenzberatung zu einem neuen notwendigen und beachtenswerten Thema werden. Wie ließe sich das von John Suler (2016) für asynchrone Formen der Onlineberatung formulierte „Time is on my side“ (S. 387) in der Präsenzberatung umsetzen, den Bedürfnissen von Ratsuchenden besser anpassen? Und nicht zuletzt: Wie lassen sich derartige Beratungsformen für Beraterinnen und Berater ohne zusätzlichen Arbeitsstress realisieren und für die jeweiligen Trägerorganisationen finanzierbar gestalten? Mit der Frage nach der Bedeutung von Zeit geht es keinesfalls um eine Ausdünnung institutionalisierter formalisierter Angebote, es geht aber um eine stärkere Berücksichtigung dieses Faktors in der Planung und Reflexion von Beratungsprozessen, sowohl hinsichtlich der angebotenen Beratungszeit wie auch der mit den Beratungen verbundenen kurzen oder längeren Zeitabläufe. Denn die Wahrnehmung und Organisierung von Zeit in Beratungen kann seitens der Ratsuchenden online völlig anders gestalten werden als das in einem tradierten Präsenzkontakt der Fall ist. Hier ist zukünftig nach unterschiedlichsten Antworten auf diese Fragen zu suchen.

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9 „Easy in – easy out“ als Zugangsprinzip zur Beratung Heutzutage sind die Onlineberatungsangebote ein mit großer Selbstverständlichkeit genutztes Angebot, auf das unterschiedliche Nutzergruppen zugreifen und in kürzeren oder längeren Beratungssequenzen sich Hilfe holen. Das beginnt beim einfachen Informieren oder Lesen von Forumsbeiträgen und endet in lang anhaltenden von intensiven Beziehungskontakten geprägten Onlineberatungen. Es gibt somit nicht die eine Praxis der Onlineberatung, sondern je nach individuellen Vorlieben und Angeboten ganz unterschiedliche Praxen, deren informationelle, beziehungsbezogene und beratungsorientierte Intensität vollkommen selbst und frei jeder Formalisierung gestaltet werden kann. „Easy in – easy out“ – gilt umfassend für alle Formate und Angebote, denn es bedarf nur ein paar Klicks oder kurzer pseudonymisierter Anmeldungen. Zumeist keine Wartezeiten, keine langwierigen Formalitäten, keine traditionellen Öffnungszeiten (Chats verlangen zwar schon das Einhalten von vorgegebenen Zeiten), keine kürzeren oder weiten Anfahrtswege – der Zugang bleibt somit auch unabhängig vom Wohnort – ländlich oder städtisch – vollkommen komfortabel selbstbestimmbar. Das in diesem Begriff liegenden „easy“ kann ebenfalls eine Orientierungsgröße sein, die aus der Onlineberatung weitere Impulse für die Präsenzberatung liefern könnte. Nun kann man sicherlich sagen, dass eine Diskussion der Lebensweltnähe und Niedrigschwelligkeit von Beratung nicht neu ist, sie erhält aber aufgrund der Einfachheit der Onlinepraktiken eine neue Bedeutung. Mit dem Zugangsprinzip „easy in – easy out“ gehen aber noch weitere Vereinfachungen einher, die in Onlineberatungen eine Selbstverständlichkeit darstellen. Es ist also nicht nur einfach, eine Beratung online aufzusuchen, bzw. zu beginnen, es ist auch einfach, sie zu beenden, es ist einfach, die jeweilige Thematisierungsintensität selbst zu bestimmen und damit eine weitaus größere Kontrolle über den Beratungsprozess zu haben. Ein einfacher Zugang zur Beratung ist immer ein lebensweltnaher Zugang und bedeutet auch in der Wahl der Kommunikationsformen über einfache und alltagsnahe wie alltagskulturell vertraute Zugänge zur Beratung zwischen den Polen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Koch und Österreicher 2007) zu verfügen. Wie schon vorne betont bedeutet „easy in – easy out“ keinesfalls umfassende Niedrigschwelligkeit, diese gilt bisher nur mit Blick auf den Zugang. Die Orientierung am geschriebenen Text bisheriger Onlineberatungsformen stellt zwar eine zentrale Chance dar, bleibt aber zugleich ihr höchst diskriminierender und exkludierender Faktor, der eine große Anzahl möglicher

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Nutzerinnen und insbesondere Nutzer ausschließt – wiewohl sich dieses Problem je nach beraterischen Handlungsfeldern unterschiedlich deutlich stellt: In der Sozialen Arbeit wird es bedeutsamer sein als etwa in der Studienberatung. Da Nutzern oder Nutzerinnen, die in ihren Alltagen nicht über die entsprechenden Schreib- und Thematisierungsfähigkeiten verfügen, diese Angebote weitgehend verschlossen blieben, könnten hier aber verschiedene Mischformen zwischen Online- und Präsenzberatung entstehen, die näher an die kommunikativen Praktiken der Lebenswelten rücken. Ein in diesem Sinne alltagsorientiertes „blended counselling“ könnte auch bedeuten, es nicht mit formalisierten, sondern ebenso mit offenen Präsenzangeboten der Beratung zu verbinden. Schon die Onlineberatung allein hat das Potenzial zu größere struktureller Alltagsnähe, sodass ihre Beratungspraktiken Elemente einer Alltagsberatung enthalten können. Frank Nestmann, der die Bedeutung alltäglicher Hilfe- und Beratungspraxen auf der Basis empirischer Studien diskutierte (1988, 2007), betont ebenfalls den Aspekt der Einfachheit: „Der Zugang zu alltäglichen Beratern ist mehr oder weniger offen und spontan unter Problemdruck möglich. Fremdheit und Anonymität einerseits oder Vertrautheit und Verschwiegenheit andererseits sichern die „Konsequenzenlosigkeit“ bzw. das Nicht-befürchten-müssen negativer Folgen einer Problemansprache“ (Nestmann 2007, S. 553). Zentral ist hierbei, dass die „alltägliche Helfer (…) dem Alltagleben der Betroffenen nicht „entrückt“ (sind) wie professionell Hilfeinstanzen“ und dass ihre „Wahrnehmung von außen „stigmafrei“ (bleibt) und … sich vom Aufsuchen zahlreicher professioneller und institutionalisierter Beratungseinrichtungen (unterscheidet)“ (S. 553). Mit Blick auf diese Beratungsund Hilfeformen ein deutliches Plädoyer für die Bedeutung und beratungskonzeptionelle Weiterführung eines „easy in – easy out“. Ebenfalls ergibt sich hier eine Nähe zu den in andere professionelle Tätigkeiten eingebetten Beratungsformen und insbesondere zu dem was wir landläufig als Beratung zwischen Tür und Angel bezeichnen (Knab 2013): einfach erreichbare und beraterisch nutzbare plurale lebensweltnahe Settings jenseits und „am Rande“ der Institutionen.

10 Peer-Beratung online als Egalisierungsprinzip Ein großer Teil der Beratung online23 hat sich zu einem jugendkulturell eingebundenen Beratungsangebot entwickelt. Selbstverständlich ist es trivial zu betonen, dass Onlinemedien – insbesondere Smartphones – den Alltag von 23Dass

es mittlerweile viele weitere Beratungsfelder online gibt, zeigt ein Blick auf die Seite des E-Beratungsinstituts; https://www.e-beratungsinstitut.de/.

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Jugendlichen prägen, aber auch in der inhaltlichen, sprachlichen und ästhetischen Gestaltung nehmen Beratungsangebote online deutlich Bezug zum kulturellen Alltag von Jugendlichen. So lassen sich schon in der Erstellung von Beratungssites alltagskulturelle Ästhetiken übernehmen, die damit eine niedrigschwellige Brücke zu den Ratsuchenden aufbauen können. Sie können etwa entlang von Verlinkungen zu beratungsinformativen YouTube Angeboten erfolgen wie beispielsweise mit „U25 peer TV“ umgesetzt24. Der Grat, der hier zwischen Hilfeangebot und jugendkulturellem Entertainment besteht, mag zwar schmal sein, es besteht aber die Möglichkeit, mit derartigen Angeboten alltagskulturelle Nähe und damit Beziehung visuell jenseits von Inszenierungen herzustellen. Obiges gilt auch auditiv mit Blick auf die gewählte Sprache. Jugendliche werden auf entsprechenden Beratungssites seitens der Berater und Beraterinnen aber insbesondere auch von Peers im vertrauten Alltagsjargon angesprochen und so quasi niederschwellig zur Beratung eingeladen. Hier gilt wirklich ein „easy in“, welches sich nicht von den alltäglichen kommunikativen Erfahrungen und Angeboten der jugendlichen Lebenswelten unterscheidet, es findet – um es mit Hans Thiersch zu sagen – auf der Vorderbühne der Lebenswelt statt. Diese alltagsästhetische Zielgruppenspezifität zieht selbstverständlich eine deutliche Grenze zu herkömmlichen beratungskulturell tradiert oder anders eingebundenen Angeboten. Hierzu addiert sich, dass der jugendkulturelle Rahmen in der anonymen bzw. pseudonymen Beratung genügend unscharf bleibt, um ihn imaginativ im eigenen Interesse oder entlang eigener Vorlieben auszuformen. Die Kommunikation findet eben nicht mit Frau XY statt, sondern beispielsweise mit „bkeLuisa“, „bke-Sven“ oder mit „bke-Anna“25. Es wird geduzt und nicht gesiezt und somit eine sprachliche Nähe erzeugt, die offline in der gleichen Form zwar möglich wäre, aber nicht den beratungskulturellen Gepflogenheiten entspricht. Sämtliche kommunikationskulturellen Elemente von Kids und Jugendlichen sind nutzbar (Emoticons, Emojs etc.). Die für die Beratung so wichtige Beziehung lässt sich schnell und „easy“ aufbauen. Man geht sicherlich nicht zu weit, wenn man hier von Parallelen zu anderen Vernetzungsstrukturen Jugendlicher spricht, von gewissen Ähnlichkeiten zu den anderen Onlinepraktiken: Die Onlineberatungsangebote können somit durchaus Community-Funktionen übernehmen, Zugehörigkeit vermitteln und damit zur Bildung von Beratung-Communities beitragen. ­Formalisierende und starr Rollen definierende Begriffe wie „Klient“ oder

24Verfügbar

unter: https://www.youtube.com/channel/UCbAUlTz-1jLTXJPyVWgdj_g. Kürzel bke (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung) benutzen die Onlineberater und -beraterinnen der entsprechenden Jugendberatungsseite.

25Das

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„Klientin“ sind hier jenseits eigener Vorstellungen wie Selbstzuschreibungen. Gerade die Peer-Beratung kann sich diesen jungendkulturellen Vorteil zu Nutzen machen und erhält damit online ein Alleinstellungsmerkmal, das keine andere Beratungsform für diese Zielgruppe in dieser Form gegenwärtig bieten kann. Auch herrscht in diesen Beratungs- und Gruppenangeboten ein völlig anderer Umgang mit Emotionen vor als beispielsweise in sozialen Netzwerken kommerzieller Plattformen. In der Onlineberatung muss eben nicht ein IdealIch präsentiert und entlang von optischen oder sprachlichen Filtern selbstvermarktungsgerecht bearbeitet werden. Texte müssen nicht in Richtung einer omnipräsenten „like-Ökonomie“ formuliert werden, da sie Informationen zur eigenen Situation übermitteln (müssen), können sie auch nicht ausschließlich inhaltsleer und rein phatisch gestaltet werden, wiewohl gerade der phatisch-emotionale Anteil, mit dem in einer Kommunikation Nähe, empathisches Verstehen und Gemeinsamkeit hergestellt werden kann (kommunikative Nähe bei räumlicher Distanz), höchst bedeutsam ist. Onlineberatung erschafft keine Selbstinszenierungsarenen, sondern ist eher ein Ort, an dem „eine Kultur des Scheiterns“ (Keupp 2018, S. 38) ihren Platz haben muss. Ein Ort, an dem dieses Scheitern nicht nur artikuliert werden kann, sondern dieses Scheitern der Ausgangspunkt für Lernprozesse ist „weil Scheitern die Chance zum Neuanfang enthält“ (S. 38). Diese Nähe zur Alltagkultur kann nicht nur mit Blick auf die Fragen des Alltags hergestellt werden und entfaltet ihre Wirkkraft, sondern ist auch in sehr schweren Krisensituationen wirksam, wie der Erfolg der online präsenten Beratungs- und Begleitungsangebote für suizidale Jugendliche zeigt. Gerade mit Blick auf diese Gruppe von Jugendlichen gelingt im Rahmen von Onlineberatung äußerst Hilfreiches, um nicht zu sagen Spektakuläres! Nicht ausgebildete psychotherapeutisch oder psychiatrisch ausgebildete Professionelle sind hier die Fachkräfte, sondern fachlich geschulte, aber insbesondere alltagsnah kommunizierende Peers, die Peers beraten und in Krisen begleiten. Diese Form der Peer-Beratung, wie beispielsweise im Rahmen von U25 und Youth-Life-Line seit Jahren erfolgreich angeboten, wird so stark genutzt, dass sie immer weiter ausgebaut wird. Sie ist so erfolgreich, weil auch sie lebensweltnah und alltagskulturell eingebettet ist. Es gilt auch hier das einfache Prinzip des „easy in – easy-out“, und auch hier bestimmt die ratsuchende Person das kommunikative Geschehen. Alles bleibt unter der eigenen Kontrolle: der Thematisierungsrahmen, die Thematisierungsintensität, auch das Tempo und der Umfang der schriftlichen Dialoge lassen sich vollkommen selbst bestimmen. Mit Blick auf die dialogische Gestaltung der beraterischen Interaktion bleiben also auch hier die dialogisch kommunizierbaren Intensitätsaspekte in der Verantwortung und Hand der Ratsuchenden. Sie geben vor, was und wie sie etwas ansprechen möchten. Sie verbleiben darüber hinaus aber auch in ihrem Alltagssetting, müssen keine fremde

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Räume aufsuchen, sich nicht einem alltagsfernen kommunikativen Prozess unterordnen, entgehen diagnostischer Etikettierung und werden nicht Teil eines möglicherweise formalisierten Kommunikations- und Interaktionsablaufs, man muss eben nicht „mit grauen Herren in schweren Sesseln“ (U25, Buer)26 sprechen, sondern kann mit „Vivien, Leonard oder Maren“ kommunizieren. Allein in diesem kleinen Zitat kommen die zentralen alltagskulturellen Unterschiede zum Ausdruck. Nein, es sind nicht die „grauen Herren“ einer anderen Generation, sondern die imaginierten Peers, die Gleichaltrigen, die vergleichbare Alltage leben und die insbesondere die gleiche Sprache sprechen. Und es sind auch nicht die „schweren Sessel“, mit der ihnen eingeschriebenen ortsgebunden Seriosität und „schweren“ Wichtigkeit, sondern es sind die offenen, fluiden, flüchtigen Formen einer dennoch höchst intensiven kommunikativen Begegnung. Die beratenden Peers können so die Funktion eines Alter Ego übernehmen, nah am eigenen Erleben und Empfinden, nah an den alltagskulturellen Praktiken und damit ebenfalls nah mit Blick auf den Aufbau einer höchst intensiven und wirksamen Beziehung27. Begünstigt werden derartige mediale Kontakte durch eine Reihe von Effekten, die das therapeutisch relevante Kommunizieren prägen. So beschrieb schon vor Jahren John Suler (2004) den Disinhibition-Effekt (Enthemmungseffekt) als bedeutsamen Faktor in E-Mailkontakten. In diesen Dialogen, die er „text talk“ oder „text relationship“ nennt, wirken eine Reihe von Faktoren: Anonymität (Du kennst mich nicht), Unsichtbarkeit (Du kannst mich nicht sehen), Solipsistische (Ich-bezogene) Introjektion (Es passiert alles in meinem Kopf), Status- und Autoritätsneutralisierung (Wir sind alle gleich), Asynchronität (Wir sehen uns später), dissoziative Imagination (Alles nur ein Spiel; da Onlinekommunikation als von anderen Kontakten getrennt und einem Onlinespiel vergleichbar erlebt werden kann) und wahrgenommen Privatheit (Es passiert nur zwischen uns) (vgl. Suler 2016, S. 95 ff.). Damit sind derartige Kontakte durchaus in der Lage, eine im Sinne des Kontextuellen Metamodells von Bruce Wampold (Wampold et al. 2015) wirksame „Echte Beziehung“ (S. 89) zu ermöglichen: Sie können auf der Basis von Vertrauen und Verständnis aufbauend Zugehörigkeit vermitteln und positive Erwartungen oder Hoffnung unterstützen – und damit zentrale Faktoren psychotherapeutisch relevanter Wirkfaktoren realisieren.

26Verfügbar

unter: https://www.youtube.com/watch?v=oryCbrtaTwo. Alexander Brunner (2009) diskutiert diese Aspekte entlang der Unterteilung in: mündlich/schriftlich, sinnlich/textlich, real/imaginär, personal/depersonal.

27Auch

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Die Peer-Beratung hat somit aufgrund der onlinebasierten Beratungspraxen eine große Bedeutung erhalten. Sie enthierarchisiert Beratung auf das Deutlichste. Das, was wir in Form einer „Egalisierung“ und „Enthierarchisierung der Kulturformate“ (Reckwitz 2017, S. 240) erleben, ist somit auch auf die Beratung übertragbar. Onlineberatung realisiert schon seit Jahrzehnten eine enthierarchisierte Praxis des Beratens und schafft damit eine vollkommen andere Rahmung beraterischer Prozesse. Auch hier stellt sich die Frage, ob derartige Praxen in die Präsenzberatung diffundieren oder ob sie mit der Präsentberatung zu koppeln sind, und damit ebenfalls ein erweitertes alltagskulturelles Beratungsangebot ermöglichen.

11 Fazit Onlineberatung als mediatisierte und digitalisierte Beratungsform ist zu einem festen Bestandteil der Beratung geworden28. Sie hat digitalisierte Praktiken der Kommunikation und Interaktion für das Beraten nutzbar gemacht. Damit einhergehend sind neue Settings entstanden, die in ihrer Gesamtheit für die Ratsuchenden neue interdependente Beratungsressourcen aus onlinebasierten und offlinebasierten Angeboten bilden. Beratung ist damit um ein Vielfaches diverser geworden und wie nie zuvor in die jeweiligen Alltagskulturen ihrer Klientel integrierbar. Hierbei beginnen sich die jeweiligen Beratungspraxen zu durchmischen und zu vernetzen. Zukünftig werden Ideen gefragt sein, die diese Prozesse des „blended counselling“ mit völlig neuen Inhalten füllen können, denn der „Mainstream wird diese Cross-Over-Variante präferieren“ (Reindl 2017, S. 37). In all diesen denkbaren Angebots- und Nutzungsformen von Beratung ist aber immer zu berücksichtigen, dass diese gerade für diejenigen Adressatengruppen, die sich nicht selbständig und mit großer Selbstverständlichkeit an Beratungsangebote online wie offline wenden, Angebote im Sinne „nicht exkludierender 28Beratung

ist damit längst – wie sich mit Blick auf Walter Benjamin (1977) formulieren ließ -, „im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ (Engel 2002) angekommen. Wiewohl sich entlang von Chatbots und automatisierten algorithmisch gesteuerten Kommunikationssystemen völlig neue Formen des Beratens oder der Simulation von Beratung ergeben können. Die Grenze zur Simulation von Beratung wird entlang der Emotionen laufen, denn Maschinen empfinden keine Emotionen und können diese nicht in die Beratung einbeziehen: Empathie ist dann nur simulierte Empathie jenseits menschlicher Authentizität. Im Sinne des Resonanzbegriffs von Hartmut Rosa (2016), herrscht hier keine Resonanz vor, sie wird nur simuliert. Und als solche mag sie zwar Wirkungen erzeugen, diese sind aber höchst problematisch wie Sherry Turkle (2007) am „Eliza Effekt“ diskutiert hat.

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Zugänge“ (Kutscher 2017) formulieren. „Alle Studien zu Onlineberatungsangeboten (…) verweisen auf digitale Ungleichheit in der Nutzung dieser Hilfen: Auch hier sind formal niedriger gebildete Adressatinnen und Adressaten unterrepräsentiert“ (S. 21). Digitale Angebotsformen allein, so Nadia Kutscher weiter, schaffen eben keine besondere Zugänglichkeit „die – neben der Ausweitung von Angeboten auf digital affine (und in der Regel weniger benachteiligte) Adressatengruppen – gerade denjenigen, die besonders hilfe- und beteiligungsbedürftig sind, im digitalen Raum erweiterte Teilhabe ermöglichen würde“ (S. 21). Beraterische Niederschwelligkeit muss hierbei aus den interaktiven und kommunikativen Alltagspraxen entwickelt werden, Digitalisierung allein, wie Nadia Kutscher zurecht betont, bewirkt hier gar nichts oder führt sogar zu neuen Ausgrenzungen. Onlineberatung ist ebenfalls zu einem kommunikativen Angebot in den kommunikativen Kulturen des Internets geworden, sie eröffnet aber einen „Gegenraum“, der eben nicht die kommunikativen Praktiken aus sozialen Netzwerkseiten oder auf großen Plattformen reproduziert. Es muss nicht ein kontinuierlich Aufmerksamkeit erheischendes „Profil-Subjekt“ (Reckwitz 2017, S. 203) mit immer neuen Akzentuierungen gestaltet und präsentiert werden. Beratung – online wie offline – wird sich zwar mit diesen Art und Weisen der Selbstinszenierung auseinandersetzen müssen. Sie muss weiterhin ein interaktiver und kommunikativer Ort sein und bleiben, der sich mit seinen Dialogpraxen der ansonsten im Internet vorherrschenden affirmativen Positivkultur entgegenstellt und somit ein Ort jenseits von like-Ökonomie, Zwang zur Inszenierung oder performativen Sichtbarmachung bleiben. In Beratungen geht es nicht um öffentlichkeitswirksame Bewertung und die permanente Beurteilung durch Dritte. Hier muss nicht – um es metaphorisch zu sagen – entlang von zig „Beauty- und Glättungsfiltern“ die subjektive Realität mit Blick auf eine positive endorphinisierende Rückmeldung gestaltet werden, sondern hier kann eine Kultur der offenen Direktheit und im wahrsten Sinne des Wortes der „ungeschminkten“ Realität herrschen29. Die Thematisierungsformate der Beratung sind eben nicht darauf angelegt, gegenüber Dritten ein geschöntes Bild der eigenen Person oder der jeweiligen Problematik zu erzeugen. Sie sind vielmehr Räume, in denen etwas vorsichtig gedacht und gemeinsam reflektiert werden kann, die empowern können, in denen Selbstwirksamkeit zurückgewonnen oder erlernt werden kann. Ziel ist die Unmittelbarkeit der eigenen Thematisierung jenseits all dieser medialen und disclosure-basierten Selbstpräsentationen.

29Man

stelle sich beispielsweise ein Beratungsgespräch im aufgeregten Sprachduktus einer stark frequentierten Youtuberin oder eines Youtubers vor.

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Hiermit bietet die Onlineberatung insbesondere für Jugendliche zugleich auch eine „Gesellungsform“ (Röll 2018), einen beratungsorientierten experimentellen Erfahrungsraum, in dem die Nutzer und Nutzerinnen sich präsentieren und ihre Entfaltungsmöglichkeiten von Beratung begleitet erproben und erweitern können. Ein Raum also, in dem Selbstnarrationen und Identitätskonstruktionen (McLeod 2013) möglich sind, ein Lern- und Erfahrungsraum, in dem fragmentierte Identitätsanteile zu einer vorerst „kohärenten sinnstiftenden und bedeutungsvollen Geschichte verdichtet werden“ (Röll 2018, S. 20). Eine Form der Gesellung entlang von Sprache, Texten, Bildern, Tönen und Videos, die die Chance enthält „an den Kernnarrationen der personalen Identität aktiv zu arbeiten, sowie (…) das eigene soziale Kapital zu erweitern“ (S. 20). Was John McLeod und Julia McLeod für die Beratung allgemein formuliert haben, gilt auch hier unter medialen Bedingungen: „At the heart of any form of counselling is making a place to talk it through“ (McLeod und McLeod 2007, S. 5). Dieser Ort ist ein Raum für Problemthematisierungen, für subjektive Konstruktionen ebenso wie für Stille und Zuhören. Es ist ein geschützter Raum, ein tentativer Raum, in dem Sinne, dass in ihm etwas ausprobiert werden kann. Mit Hartmut Rosa (2016) kann man eben diesen Raum als einen bezeichnen, in dem Resonanz entstehen kann, nicht durch das „Beherrschen und Verfügen“, sondern durch das „Hören und Antworten“ (S. 762), denn „.(w)enn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“ (S. 13). Wir wissen in Beratungen darum, wie bedeutsam es ist, etwas erstmals in Worte zu fassen, Unsortiertem eine erste vorläufige Struktur zu geben, Erleichterung über das Ausgesprochene zu empfinden, einen Zuhörer oder eine Zuhörerin zu haben und eben den (Resonanz-)Raum für die eigenen Themen zu finden. Das gilt für das gesprochene Wort wie für das geschriebene und ebenso auditiv wie für visuell Präsentiertes in Form von Bildern und Videos. Ebenfalls beantwortet werden muss die Frage, welches Entscheidungs­ verständnis sich in Beratung und den sie begleitenden Prozessen der Digitalisierung durchsetzen wird: „Wird zukünftig den „objektiven“ Daten und mathematischen Algorithmen mehr zugetraut als menschlichen Beurteilungen?“ (Beranek et al. 2018, S. 26)30. So gilt es auch für die Beratung zu klären, ob hiermit eine Degradierung des Beratungshandelns allgemein und insbesondere der 30Algorithmen

sind aber keine objektiven mathematischen Prozesse, sie sind immer von Menschen gemacht, beeinflusst von Intentionen und Kontexten, basieren auf ausgewählten Daten und konstruierten Prozessen, werden entlang ebenso ausgewählter Daten trainiert und ihre Ergebnisse werden wiederum von Personen interpretiert. Sie simulieren aber eine gewisse Objektivität, die sie mit Blick auf ihre Entstehungs- und verwendungsprozesse nicht erfüllen können. In medizinischen und naturwissenschaftlichen Zusammenhängen und Fragestellungen mag das anders sein.

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in Beratungen reflektierten Entscheidungsfindung einhergeht. Beratung als eine Form der Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungshilfe ist ja immer in Reflexions- und Aushandlungsprozesse eingebunden, die Entscheidungen vorbereiten und in der Folge seitens der Klientel zu wohlreflektierten Entscheidungen führen können. Wird diese beratungskonstitutive wie beratungsprofessionelle Basis, die die Beratungsprozesse in ihrem Kernbereich bestimmt, zukünftig technisch digitalisiert und algorithmisch ausgehebelt? Und wird in der Folge eine prozessorientierte kommunikative wie interaktive Beratung, die in der Lage ist, Kontingenz und Unbestimmtheit entscheidungsorientiert zu thematisieren „als fehlbare Profession gegenüber der Informatik als Leitwissenschaft, die davon überzeugt ist, leistungsfähige Produkte zu programmieren, die dem menschlichen Handeln weit überlegen sind“ (Beranek et al. 2018, S. 26) dargestellt?31 Als Gegenpol zu derart beratungsdystopisch32 anmutenden Quantifizierungsfantasien, die Kontingenz und Ungewissheit entlang großer Datenmengen und Rechenprozeduren reduzieren, lässt sich mit den Arbeiten von Gerd Giegerenzer eine deutliche Quantifizierungsskepsis benennen (Giegerenzer 2013). Hierbei müssen wir nicht unbedingt nur auf den von ihm theoretisch, konzeptionell und empirisch ausgearbeiteten Entwurf der Intuition – als erfahrungsgesättigtes und situativ nicht begründbares Empfinden in Entscheidungssituationen – zurückgreifen, sondern auf die von ihm hervorgehobenen Bedeutung von Heuristiken. Sie basieren eben nicht auf einer Vollständigkeit an Daten und sie sind auch nicht

31Das

in derartigen algorithmischen Prozessen liegende beratungsgefährdende Potential beschreiben Cathy O’Neil (2016) und Virginia Eubanks (2017) an Beispielen aus den sozialberuflichen und pädagogischen Handlungsfeldern. Hier erfolgen mit Blick auf die US-amerikanischen Bedingungen schon längst ebenso Beurteilungen von Fachlichkeit wie datenbestimmte Ausgrenzungen und Diskriminierungen entlang algorithmischer Verfahren. 32Dave Eggers (2013) entwarf mit seinem digitalisierungskritischen Roman „The Circle“ eine Digitalisierungsdystopie, die auf drei einfachen grundlegenden Regeln beruhte: „secrets are lies“, „sharing is caring“ und „privacy is theft“. Kürzer kann man Digitalisierungskritik nicht formulieren. Eine Perspektive, die Shosana Zuboff (2018) umfangreich entlang des Begriff „Überwachungskapitalismus“ ausarbeitet. Dieser ist in seinen Charakteristika beispiellos – „Das Beispiellose ist seinem Wesen nach nicht zu erkennen“ (S. 27), denn wir „sind die Quellen für den alles entscheidenden Überschuss des Überwachungskapitalismus – die Objekte einer technologisch fortgeschrittenen und zunehmend unentrinnbaren Operation zur Rohstoffgewinnung“ (S. 25), die in einer neuen instrumentarierten Machtform (Instrumentarismus) mündet. Dabei ist der Überwachungskapitalismus für Zuboff keine Technologie, „sondern vielmehr die Logik, die die Technologie und ihr Handeln beseelt“ (S. 30). Ähnlich auch der von Nick Couldry geprägte und ausgearbeitete Begriff des Daten-Kolonialismus (Couldry und Mejias 2018). Derartigen entmündigenden und enteignenden Entwicklungen gilt es nicht nur in der Beratung mit höchst kritischer Aufmerksamkeit entgegenzutreten.

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in Big-Data-Strukturen eingebunden, sie sind erworbene, erfahrungsbasierte pragmatische Denk- und Entscheidungsmuster, die situativ und lebensweltlich eingebettet zu durchaus begründeten Entscheidungen führen können. In Beratungen müssen sie diskutiert und reflektiert werden, damit sie zu robusten Entscheidungen in Situationen unter Ungewissheit werden können. In diesem Sinne erscheint eine reflexive Urteilkraft weitaus wichtiger als eine große Datenmenge. In Beratungen benötigen Klienten zweifelsohne Entscheidungsgrundlagen, aber ebenso auch Unbestimmtheit und Vagheit. Das, was Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki (2009) für die Bildung beschreiben, gilt somit auch für die Beratung: „Bildung lebt vom Spiel mit den Unbestimmtheiten. Sie eröffnet den Zugang zu Heterodoxien, Vieldeutigkeiten und Polymorphien33. Wird Bildung einseitig als Positivierung von Bestimmtheit, also z. B. als Überbetonung von Faktenwissen angelegt, so werden die Zonen der Unbestimmtheit eliminiert – und damit wird Bildung ausgehöhlt und blockiert“ (S. 21). Hinsichtlich der Beratung besteht dann die Gefahr, dass beraterische Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungsprozesse von daten-deterministischen Entscheidungsformen bis zu Unkenntlichkeit ausgehöhlt und blockiert werden. Eine in diesem Sinne datenbasierte und somit technisierte Beratung würde also den Grundprinzipen des Beratens völlig widersprechen. Sie widerspricht ebenso völlig den Strukturmaximen der Lebensweltorientierung, da Transparenz und Partizipation keine Rolle mehr spielen und die Subjekte auf datengenerierte Objekte in den Entscheidungs- und Beratungsprozessen reduziert werden. Es wird zukünftig die Aufgabe von Beratungspraxis und Beratungswissenschaft sein, diesen Entwicklungen deutlichst entgegen zu treten. Nicht mit der Perspektive einer Digitalisierungsverweigerung, aber mit einer kritischen Perspektive, die mittlerweile vielerorts zu finden ist. Nick Couldry und Ulises Mejias (2018) beschreiben beispielsweise die gesellschaftlichen Gefahren eines Big-Data-basierten Daten-Kolonialismus (Data Colonialism), der zur Enteignung des Sozialen und einem kolonialisiertem Selbst führt. Mit Blick auf Beratung sind vergleichbare Kolonialisierungen entlang von Datenprozessen und algorithmisch basierten Entscheidungsprozessen ebenfalls denkbar. Hier droht dann eine „Enteignung der Beratung“, die es als solche zu bennen gilt und der im Sinne obiger beratungskonstitutiver Prinzipen entgegenzutreten ist. Beratung in ihren online wie auch ihren Offlinepraxen steht unter Online- und Digitalisierungsbedingungen vor einer Vielzahl von Herausforderungen und muss möglicherweise zukünftig ihre Präsenzpraxis verteidigen. Denn wenn sich Onlinepraxen der Beratung großer Beliebtheit erfreuen sollten, wer möchte dann noch

33Im

Sinne von anderen Meinungen (Heterodixien) und Viel-Gestaltigem (Polymorphien).

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den Weg zu einer nicht völlig selbstbestimmten Beratungsform suchen? So fordert Sherry Turkle (Turkle 2015) als Fazit aus ihrer Forschung zu kommunikativen Online- und Offlinepraxen eine Zurückgewinnung des Gesprächs („Reclaiming Conversation“). Ein Gespräch lässt sich eben nicht derart kontrolliert gestalten wie etwa eine E-Mail und es ist ihrer Meinung nach notwendig, sich dieser dialogischen Herausforderung zu stellen. Mit Blick auf die in ihrer Forschung oft gehörte Phrase „I’d rather text than talk“, mit der das dialogische Sprechen am Telefon oder in der Face-to-face-Begegnung vermieden wird, fragt Turkle, was denn an einem Gespräch so falsch sei und erhält als Antwort beispielsweise von einem Studierenden: „What’s wrong with conversation? I’ll tell you whats wrong with conversation! It takes place in real time and you can’t control what you’re going to say“ (S. 22). Zu vermuten ist, so Sherry Turkle, dass die Kontrolle, die ein Dialog online ermöglicht, die Bereitschaft zu einem Gespräch, das von Unbestimmheit und Offenheit hinsichtlich seines Verlaufs und seiner Themen gekennzeichnet ist, abnimmt – und darin wäre bei all den beratungsinnovativen Aspekten, über die die Onlineberatung verfügt, kein Fortschritt für Beratung unter Onlinebedingungen zu erkennen. So bleibt die anfänglich erwähnte aristotelische „Wohlberatenheit“ auch unter Digitalisierungsbedingungen eine Herausforderung, um deren beratungsqualitative Gestaltung immer wieder zu ringen ist. Neu sind dabei vollkommen neue Settings und Beratungsmöglichkeiten, neu sind aber ebenso Gefahren einer digitalen Beratungs-Kolonialisierung durch digitale und algorithmische Prozesse. Coda Ich möchte mit einer durchaus ernstgemeinten kleinen Provokation enden: Warum haben wir im Deutschsprachigen in den psychosozialen, sozialberuflichen und bildungs- und gesundheitsbezogenen Beratungsfeldern nicht einen „Tag der Onlineberatung“ oder „Tag der offenen Beratung“? Ich weiß, es lassen sich hierfür bestimmt weitaus bessere Bezeichnungen finden! Einen Tag also, an dem Beratungsstellen sich mit Blick auf die Öffentlichkeit und ihre Klientel in beratungsbezogenen Aktionen – welcher Art auch immer – Gedanken darüber machen, wie sie Onlineangebote und offene Angebote konzeptionell und praktisch weiterführen, ggf. an neue kommunikative Onlinepraktiken angepassen und insbesondere für sämtliche Zielgruppen und Klientel niedrigschwellig – und insbesondere nicht schriftsprachlich fixiert – ausrichten können. Selbstverständlich würde es Widerstände und Kritik geben, die von „vollkommen unnötig“ bis zu „jetzt wird auch noch die Digitalisierung gefeiert“ reichen könnte. Nein, es geht, so die Argumentation, nicht um das Abfeiern einer teilweise entmündigenden, intransparenten, stellenweise völlig aus dem demokratischen Ruder gelaufenen Überwachungsdigitalisierung, sondern es geht in Anerkennung dieser intransparenten

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und dunklen Rückseite von Digitalisierungsprozessen darum, sich einfach an einem Tag im Jahr in jeder Beratungsstelle mit Blick auf die eigenen Beratungspraxen kreativ, fachlich, klientelsensibel, lebenswelt- und alltagsorientiert, gern auch ironisch sowie mit Witz und ganz viel Fantasie, darauf zu besinnen, dass es seit ungefähr zwanzig Jahren eine ohne die technischen, medialen und digitalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte undenkbare und vollkommen neue Form der Beratung gibt, die sämtliche zuvor bestehenden Beratungsformen und Beratungssettings um neue, interessante Praktiken ergänzt hat. Wichtig: Sie ergänzt, und ersetzt keinesfalls tradierte Praktiken des Beratens in den Beratungsstellen, nein, mit ihr lassen sich völlig neue, alltagsnahe und lebensweltorientierte Zugänge zu pluralen und höchst diversen Zielgruppen schaffen, sie öffnet also für eine Beratung jenseits des vorherrschenden Containermodells. Sie vergrößert die kommunikativen Möglichkeiten und Teilhabechancen für eben diese Zielgruppen und kann in der Konsequenz zu einer ebenso gerechteren wie demokratischeren Beratungslandschaft führen. Sie arbeitet mit anderen beraterischen Mitteln und Medien, bezieht Texte, Bilder und Filme, Videos in die unterschiedlichsten Formen dialogischer Beratung ein und verändert so auch die Dialogik der Präsenzberatung. Sie ist prozessorientiert, aber nicht formalisiert, favorisiert eine Prozesspluralität, ermöglicht den Ratsuchenden ein Höchstmaß an beraterischer Selbstbestimmung sowie Kontrolle, überlastet nicht Berater und Beraterinnen und ist in diesem Sinne eine höchst effektive und effiziente sowie im Sinne individueller Evidenz und Wirksamkeit – auch evidente Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungshilfe in den kleinen Fragestellungen des Alltags ebenso wie in den großen Krisen.

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Digitalisierung der Sozialen Arbeit Nadia Kutscher

Zusammenfassung

Die digitale Transformation Sozialer Arbeit betrifft die Alltagspraktiken von Fachkräften und Adressat*innen. Sie ist verbunden mit einem gesellschaftlichen Digitalisierungsdiskurs und wirft verschiedene Fragen und Reflexionsbedarfe im fachlichen Zusammenhang auf, die auch das Feld der Beratung berühren. So bilden die Reproduktion von Ungleichheit im Kontext medialer Praktiken sowie die Datafizierung von Einschätzungs- und Entscheidungsprozessen, die Verschränkung privater und beruflicher Zusammenhänge und damit verbundene moralische Verantwortungsfragen einen Rahmen professionellen Handelns und organisationaler Strukturen, mit dem auch Beratung in digitalisierten Kontexten konfrontiert ist. Schlüsselwörter

Digitale Transformation · Digitalisierungsdiskurs · Big Data · Digitale Ungleichheit · Fachsoftware · Social media · Algorithmen · Ethik

N. Kutscher (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_2

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1 Dimensionen der digitalen Transformation Sozialer Arbeit Im Jahr 2017 formuliert die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: „Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft mit hoher Entwicklungsdynamik. Durch ihre alltägliche Präsenz prägen die digitalen Technologien zunehmend alle Lebensbereiche: die Art der Kommunikation und die Gestaltung sozialer Beziehungen, das Lernen und Arbeiten ebenso wie das Konsum- und Freizeitverhalten.“ (BAG FW 2017). Auch wenn bislang hierzu noch wenig empirisch abgesicherte Evidenz vorliegt, zeigt sich erfahrungsbasiert: Digitale Medien sind Teil des Alltags sowohl von Fachkräften als auch von Adressat*innen Sozialer Arbeit geworden. In diesem Zusammenhang verändern sich Anlässe, Formen und Rahmenbedingungen der Erbringung sozialer Dienste (vgl. Kutscher et al. 2015, S. 3). Während die (Online-)Beratung einen der ersten sich explizit digital organisierenden Bereiche Sozialer Arbeit darstellt, haben sich andere Erbringungsformen und Handlungsfelder erst zunehmend mit digitalen Formen verschränkt. Dieser Beitrag betrachtet die Digitalisierungskontexte Sozialer Arbeit, die einen Bezugsrahmen auch für Beratung darstellen und fokussiert dabei Dynamiken, Diskurse und Herausforderungen, die sich für Adressat*innen, Professionelle und Organisationen zeigen. Digitale Medien gehören mittlerweile sowohl auf der Ebene der Adressat*innen als auch der Fachkräfte und der Organisationen an vielen Stellen zum privaten Alltag sowie zu den Vollzügen sozialer Dienstleistungen. Während vor ca. 20 Jahren die Onlineberatung die expliziteste Form digitaler Angebote in der Sozialen Arbeit darstellte (vgl. Wenzel 2006) – deren erste Anbieter*innen die Telefonseelsorge und pro familia waren –, sind durch die zunehmende Verbreitung digitaler und insbesondere mobiler Medien im Zuge der Smartphone-Nutzung und der Etablierung eines Marktes an Social Software mittlerweile Fachsoftwareanwendungen aber auch aus nicht fachlichen Kontexten heraus entwickelte, in der Regel kommerzielle ‚Alltagsmedien‘ wie virtuelle soziale Netzwerke (Youtube, Facebook etc.) Kernbestandteile soziotechnischer Systeme im Kontext Sozialer Arbeit. Die folgende Abbildung stellt innerhalb der drei Dimensionen exemplarisch verbreitete Phänomene in diesem Zusammenhang dar. Dabei wird ersichtlich, dass sich in der Interaktion zwischen Adressat*innen, Professionellen und Organisationen digitale Medien auf vielfältige Weise mit den jeweiligen Alltagspraktiken und Erbringungsformen Sozialer Arbeit verknüpfen (vgl. Abb. 1).

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Adressat*innen Soziale Netzwerke und mobile Medien als Teil der Lebenswelt

Adressat*innen • „Aufsuchende Arbeit“ • Onlineberatung • Beratung & Kommunikaon über soziale Medien (SNS, Apps) • Parzipaonstools in FachSoware

• Informaonsseiten oder Apps zu spezifischen Hilfethemen/Maßnahmen • Social Media Markeng • Träger-Websites • E-Government

Professionelle

• Mailinglisten, • Fachforen • Soziale Netzwerke und mobile Medien als Teil der Lebenswelt

Professionelle

Selbsthilfe und Austausch über spezifische Websites, Foren, Chats

Organisaon Fach-Soware: • elektronische Fallakte mit Funkonen für fachliche Arbeit, Verwaltung und Steuerung (intra- und interorganisaonal), • Sowarebasierte Diagnosk & Gefährdungseinschätzungen

Organisaon

• Standardisierter Datenaustausch, • Algorithmenbasierte Auswertungen und Planungen

Abb. 1   Digitale Medien in der Sozialen Arbeit (Kutscher et al. 2014, erweitert)

In diesen Zusammenhängen zeigen sich neben der oben angesprochenen Veränderung von Anlässen (z. B. Mediennutzung als Erziehungs- und Beratungsthema), Formen (z. B. Onlineberatung, Apps) und Rahmenbedingungen (siehe 3.), sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten fachlicher Fragen und Phänomene. So verlagern sich Themen aus der „klassischen“ Debatte in der Sozialen Arbeit in einen digitalisierten Kontext: Fragen sozialer Ungleichheit (vgl. Kutscher und Otto 2014), von Autonomieförderung (vgl. Wagner und Eggert 2014, S. 30), wohlfahrtsstaatliche Kontextualisierungen und ihre Bedeutung für die Handlungsspielräume sozialer Dienste (vgl. Polutta 2015) stellen sich in digitalisierten Zusammenhängen ebenso. Im Zuge der Verbreitung mobiler Medien und virtueller sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram, WhatsApp, Youtube und anderen verschränken sich zunehmend die Alltagspraktiken von Professionellen wie Adressat*innen in medialen Bezügen zu einer Melange institutionell-beruflicher und privater Praktiken und Kommunikationsformen. Digitale Medien dienen dabei sowohl als Arbeitsmittel als auch als Organisationstechnologien. Diese Erscheinungsformen digitaler Bezüge Sozialer Arbeit sind eingebettet in eine gesellschaftliche Entwicklung, die als Rahmen Voraussetzungen dafür

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schafft, dass digitale Medien auch diesen Zusammenhang durchdringen. Dazu gehören sowohl technische Entwicklungen als auch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen, die die Nutzung digitaler Medien auch in sozialen Dienstleistungsbezügen als ‚normale‘, ‚notwendige‘ oder ‚erstrebenswerte‘ Praxis konstruieren. Digitalisierungsentwicklungen werfen eine Reihe von Fragen auf, wie sie Becka et al. formulieren • „Wie verändert sich die Leistungserbringung im Feld der Sozialen Arbeit für Klient_innen und Professionelle? Wie verändert sich professionelles Arbeitshandeln im Spannungsfeld zwischen digitalisierten und nicht digitalisierten Tätigkeiten? • Inwiefern stellt Digitalisierung auch Ermöglichungsspielräume bereit, die eine Chance für Enabling und Professionalisierung in der Sozialen Arbeit bedeuten können? Wie gestalten sich neue, digital geprägte Handlungsweisen anhand gegebener Technik-konfigurationen (und inwiefern werden betriebliche Mitbestimmungsmöglichkeiten in Bezug auf die Funktionalität der digitalisierten Prozesse realisiert und beispielsweisedurch Gewerkschafts- und Verbandsarbeit öffentlich diskutiert)? • Inwiefern kann eine reflexive Haltung der Beschäftigten in Lern- und Arbeitsprozesse eingebracht werden, um durch Digitalisierung getriggerte Problemstellungen zu erkennen (z. B. Inklusions- und Exklusionsmechanismen)?“ (Becka et al. 2017, S. 12).

2 ‚Digitalisierung‘ als diskursive und gesellschaftliche Rahmung Digitalisierung wird in öffentlichen Diskursen vielfach als unhintergehbare Entwicklung thematisiert, deren Chancen zu nutzen seien, wenn man sie nur richtig gestaltet – auch in Zusammenhängen Sozialer Arbeit. Dabei wird oft dethematisiert, dass Digitalisierung an sich zunächst weder „gut“ noch „böse“ ist, dass darin eingelagert jedoch Strukturen und Logiken etabliert sind, die unter bestimmten Umständen sowohl förderliche als auch (hoch)problematische Potenziale in sich tragen – und deren Entfaltung subjektiv nur begrenzt steuerbar ist. So ist zu unterscheiden, ob auf einer gesellschaftlichen Ebene Digitalisierungsdynamiken betrachtet und als Gestaltungsgegenstand von Politik verstanden werden oder ob auf institutioneller oder subjektiver Ebene Handlungsverantwortung und Gestaltbarkeitszuschreibungen verortet werden. Heidrun Allert et al. (2017,

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S. 9) weisen darauf hin, dass es sich bei der Digitalisierung um kulturelle Transformationen in der Gesellschaft handelt, die grundlegend auf einer „Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft“ basieren, welche nicht ohne Weiteres dem Zugriff der handelnden Menschen unterliegt. „Die Digitalisierung von Prozessen lagert also nicht nur Handlungsvollzüge an Maschinen aus, sondern führt zu neuen Figurationen des Individuums wie auch der Gesellschaft. Die Digitalisierung erfordert die Kategorisierung und Zuordenbarkeit von Ereignissen und Objekten und schreibt diese damit fest. Sie webt damit in gewisser Weise ihr eigenes Netz der Kategorien, Zeichen und Prozeduren. Diese existieren aber nicht losgelöst in einer ‚virtuellen‘ Sphäre, sondern sind immer schon auf die bestehenden Handlungsvollzüge bezogen“ (Allert et al. 2017, S. 10). Damit, so die Autor*innen, wäre es ein Irrtum, von einem instrumentellen sich der Technik Bedienen und damit von einer gestaltbaren „rationalen und reversiblen Logik“ auszugehen (Allert et al. ebd.). Unstrittig scheint zu sein, dass das, was Friedrich Krotz (2012) in seiner Definition des Mediatisierungsbegriffs beschreibt, auch und gerade auf Digitalisierungsentwicklungen zuzutreffen scheint: digitale Medien haben zeitlich, räumlich und sozial den Alltag durchdrungen. Dabei geht es, so Allert et al. (2017, S. 13) jedoch nicht nur um „die Software und die Hardware sowie die Modelle, auf denen diese basieren, sondern auch die (sozial geteilten) Vorstellungen darüber, was es zu berechnen und zu formalisieren gilt. Die Digitalisierung ist damit nicht loszulösen von allgemeinen Fragen der Formalisierungs- und Steuerbarkeit sozialer, gesellschaftlicher und ökologischer Prozesse. Das Digitale ist damit letztlich auch an den Diskurs gebunden, den wir darüber führen und die Figurationen des Subjekts, die uns in diesem Zusammenhang als legitim oder illegitim erscheinen“. Es gilt somit vor diesem Hintergrund, Digitalisierungsentwicklungen nicht als subjektiv bearbeitbare Phänomene zu begreifen, sondern als gesellschaftliche Transformation, als sozio-technische Systeme, die Subjekte, Artefakte, Organisationen etc. anders in Bezug zueinander setzen und nicht als pragmatisch steuerbar zu verstehen sind.

3 Besondere fachliche Herausforderungen im Kontext von Digitalisierungsentwicklungen Diese als digitale Transformation bezeichneten Veränderungen bergen potenziell in sich verschiedene und teils widersprüchliche Implikationen für professionelles Handeln, für organisationale Strukturen und Abläufe und für die Akteur*innen in der Sozialen Arbeit. So enthält die Einführung von Fachsoftware im Bereich der

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Falladministration und -dokumentation, in Feldern der Risikoabschätzung sowie für Controllingprozesse die Option, Handeln zurechenbarer, nachvollziehbar und potenziell nachhaltig dokumentierbar zu machen sowie entsprechende Daten vorzuhalten. Gleichzeitig verändern sich – so die These – „professionelle Wissensformen sowie Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster“ (Ley und Seelmeyer 2014, S. 55) in professionellen Entscheidungsprozessen und es sind damit neue Zugriffsmöglichkeiten verbunden. Die damit verbundenen Standardisierungsmöglichkeiten fachlichen Handelns versprechen eine höhere Verlässlichkeit und „Objektivität“ sensibler Entscheidungen und die Unterstützung komplexer fachlicher Entscheidungen. Jene ‚objektiven‘ Erscheinungsformen suggerieren Evidenz, Neutralität und Eindeutigkeit, verschleiern potenziell jedoch gleichzeitig die oftmals mehr oder weniger normativen Setzungen, die Kategorien in Gefährdungseinschätzungssoftware zugrunde liegen und die subjektiven Anteile in den Bewertungen, die jedem Klick im Rahmen beispielsweise einer Kindeswohlgefährdungssoftware vorausgehen. Zur Frage, wie sich das auf professionelle Entscheidungsverfahren auswirkt, liegen bislang uneindeutige Befunde vor (vgl. u. a. Ley 2019; Bastian 2017). Die im Feld der Sozialen Arbeit mittlerweile in vielen Kontexten genutzten ‚Alltagsmedien‘ wie Facebook, WhatsApp, Instagram, Youtube etc. beinhalten ebenfalls einerseits Optionen wie multimediale Informationswege, alltagsnahe und flexible Kommunikationsformen für Fachkräfte und Adressat*innen, eine potenzielle Anschlussfähigkeit dieser Angebotsformen an mediale Alltagspraktiken der Adressat*innen (und damit Niedrigschwelligkeit), neue Möglichkeiten der Beteiligung: bei Integration von Medienbildung als pädagogischer Aufgabe in den Institutionsalltag auch Qualifikationspotenziale. Es zeigen sich dabei jedoch auch neue Herausforderungen hinsichtlich fachlicher Standards in der Gestaltung von Interaktionsbeziehungen und der Absicherung struktureller Anforderungen, die die Voraussetzung dafür darstellen, inwiefern die genannten Chancen auch fachlich legitim genutzt und eingebettet werden können. Dabei spielt auch die eingangs dargestellte Dimensionierung von Digitalität als Transformation, die sich nicht im Blick auf eine instrumentelle Nutzung digitaler Medien erschöpft, sondern die vielmehr erfordert, die Verschränkungen mit der darin eingelagerten Konstitution von Subjekten, den Implikationen für Autonomie und Handlungsspielräume bzw. -begrenzungen und damit verknüpfte soziale Prozesse und Strukturen in den Blick zu nehmen. So bringt die Etablierung digitaler Medien in der Sozialen Arbeit erweiterte und potenziell innovative Formen und Räume für die Repräsentation von Akteur*innen, Informations-, Kommunikations- und Beteiligungsmöglichkeiten mit sich,

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eine F ­ lexibilisierung von Zeiten, Räumen, und personeller Verfügbarkeit und – zumindest teilweise (z. B. wenn Daten ausgewertet werden um Dienste zugänglich zu machen oder Inhalte und Interaktionen zu rekonstruieren) – eine erhöhte Zurechenbarkeit. Die in die Technik eingeschriebenen Logiken bringen jedoch auch damit verbundene und nicht unbedingt angesichts fachlicher Logiken und Anforderungen durchgehend legitime oder zumindest auch legitimationsbedürftige Prinzipien in das Feld Sozialer Arbeit. Softwarebasierte Falldokumentation bewegt sich in einem Spannungsfeld von „Vagheit“ und „Exaktheit“ (Ley und Seelmeyer 2014, S. 52) und bearbeitet dieses in spezifischen Formen von Kategorisierungen und Offenheit. Stefanie Büchner verweist darauf, dass digitale Falldokumentation Problemkomplexe wie „unterschiedliche Arten der „Bildgebung“, die Organisationen und Professionen vornehmen“, „Konkurrenz unterschiedlicher Ordnungen bzw. Geografien, in denen Fälle dargestellt werden“, „Einschreibung externer Rationalitätserwartungen an Fallsoftware“ und „Folgen, die mit digitaler Dokumentation für die Fehlerhaushalte von Organisationen verbunden sind“ (Büchner 2018a, S. 241 f.) mit sich bringt, die mindestens Reflexionsbedarfe aufwerfen1. Neben diesen potenziellen Transformationen dessen, wie Fallkonstitution im Kontext digitaler Artefakte erfolgt, verändern sich auch die Verhältnisse zwischen den Akteur*innen. So wird durch die zunehmende Verschränkung beruflicher und privater Formen und Räume im Zuge digitaler Mediennutzung die Frage der Trennung dieser Sphären virulent: Wann ist eine Fachkraft „im Dienst“, wenn das private Smartphone als Kommunikationsmedium auch in beruflichen Zusammenhängen genutzt wird? Was ist der private Anteil der Kommunikation über das eigene Facebook-Profil, wenn darüber auch Kontakt mit Adressat*innen gepflegt werden? Welche Erreichbarkeitsverpflichtungen sind in die Technik eingelagert und wie werden sie strukturiert oder begrenzt (vgl. Kutscher 2015)? Neben den vielen kommunikativen Möglichkeiten sind in sozialen Netzwerken wie Facebook-Diensten2 und damit praktizierten Nutzungsformen u. a. Prinzipien wie die Tendenz zur Veröffentlichung und zum Teilen, zur Ver-

1Dabei

macht Büchner deutlich, dass zu differenzieren ist zwischen den Erwartungen an den Einsatz von Technologie in Kontexten Sozialer Arbeit, den in der Technologie eingeschriebenen Potenzialitäten und einer reflexiven Einbettung des Handelns mit der Technologie (vgl. Büchner 2018a, S. 257). 2Dies umfasst neben der Plattform Facebook auch den Messenger WhatsApp und die Fotocommunity Instagram.

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letzung von Rechten (vgl. Kutscher und Bouillon 2018), Potenziale fürsorglicher Überwachung3 (ggf. ohne Opt-Out seitens der Adressat*innen), die Verknüpfung sensibler (Meta-)Daten mit globalen kommerziellen Datenmonopolisten und ihre Nutzbarkeit im Kontext von Datafizierung und Algorithmisierung sowie die (potenzielle) Reproduktion ungleicher Teilhabe eingeschrieben. Im Folgenden werden drei besondere Herausforderungen in diesem Zusammenhang dargestellt.

3.1 Digitale Ungleichheit Nachdem die um die Jahrtausendwende noch große digitale Kluft im Zugang zu Medien mittlerweile weitgehend nivelliert ist, bleibt allerdings das Problem der „digitalen Ungleichheit“, die sich in der ungleichen Ausdifferenzierung von digitaler Mediennutzung entlang der jeweiligen Ressourcenausstattung der Nutzer*innen an kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital (Bourdieu) und dem damit verbundenen Habitus und Feldkontext sowie deren Konsequenzen für gesellschaftliche und bildungsbezogene Teilhabe zeigt (vgl. Kutscher und Otto 2014). Die Reproduktion ungleicher Teilhabe in informellen Kontexten digitaler Mediennutzung ist mittlerweile breit erforscht (vgl. Paus-Hasebrink et al. 2019; Kutscher und Otto 2014; Iske et al. 2008; Zillien 2008). Empirische Befunde zu dieser Frage zeigen, dass vulnerable Zielgruppen nicht unbedingt durch den Einsatz digitaler Technologien besser erreicht werden, sondern es scheinen sich auch hier Exklusionsmechanismen zu reproduzieren, die aus nichtdigitalen Zusammenhängen bekannt sind: in der Onlineberatung sind sozial benachteiligte Zielgruppen unterrepräsentiert (vgl. Klein 2013), riskante und beeinträchtigende Medienerfahrungen machen Adressat*innen aus benachteiligten Bildungskontexten häufiger als andere (vgl. mpfs 2018, S. 62), bildungsinstitutionell anschlussfähige Mediennutzung wird eher von ressourcenprivilegierten Nutzer*innen praktiziert (vgl. DIVSI 2014, S. 100). Die im Zuge der Entwicklung in die technischen Konstrukte von Medien eingelagerten Annahmen über die zukünftigen Nutzer*innen, deren Voraussetzungen, Interessen, Fähigkeiten und Präferenzen tragen darüber hinaus in sich das Potenzial, Ungleichheiten zu verstärken, da die Nutzungsmöglichkeiten beispielsweise von Smartphones und all ihren Funktionalitäten sich erst vor dem Hintergrund eines vorhandenen Wissens

3Thomas

Ley und Udo Seelmeyer weisen darauf hin, dass auch in Fallsoftware „weitaus mehr dokumentiert [wird] als das, was rechtlich relevant und messbar ist (oder gemacht wird)“ (Ley und Seelmeyer 2014, S. 54).

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und damit verbundener entsprechender Fähigkeiten entfalten (vgl. Wijetunga 2014). Und auch wenn die „alte“ digitale Kluft im Zugang zu digitalen Medien und Internetverbindungen weitgehend überwunden ist, bergen die Entwicklungen rund um die Frage der Netzneutralität und die politisch häufig nur zurückhaltend erfolgende Steuerung des gleich schnellen und umfangreichen Zugangs zu Datentransport im Internet die Gefahr, dass auch hier wiederum benachteiligte Zielgruppen aufgrund ökonomischer und bildungsbezogener Gründe ins Hintertreffen geraten und damit faktisch Zugang zu Angeboten reduziert wird. Ein relativ neues Ungleichheitsproblem zeigt sich im Kontext der Metadatenauswertungen. Wolfie Christl spricht von unterschiedlich privilegierten Akteur*innen – „big data rich“ und „big data poor“ -, die durch den Wert ihrer Daten und deren Gewichtung im Zuge algorithmenbasierter Zugangssteuerungs- und Ratingprozesse ökonomische und gesellschaftliche Teilhabe in unterschiedlichem Ausmaß zugestanden bekommen (vgl. Christl 2017). Virginia Eubanks zeigt in diesem Zusammenhang anhand von Beispielen aus den USA, wie im Kontext von Gesundheits- und sozialen Hilfeleistungen die Anspruchsberechtigung und der Zugang zu selbigen mithilfe von Metadatenauswertungen gesteuert werden und daraus teils neue Formen ungleicher Teilhabe für sozial benachteiligte Zielgruppen resultieren (vgl. Eubanks 2018). Hier führt die Intransparenz von Algorithmensystemen zu nicht mehr nachvollziehbaren aber durchaus wirkmächtigen Formen potenziellen Ausschlusses, die gleichzeitig Objektivität suggerieren (vgl. Schneider und Seelmeyer 2018, S. 23).

3.2 Big Data Unter dem Stichwort „Big Data“ wird das Phänomen bezeichnet, dass heute eine „enorme Masse von Information, die nie zuvor gemessen, gespeichert, analysiert und verbreitet werden konnte, […] jetzt datafiziert“ wird (Cukier und Mayer-Schönberger 2013, S. 27). Damit verbunden ist a) die Möglichkeit der Analyse sehr großer Datenmengen bezogen auf ein konkretes Problem oder eine bestimmte Fragestellung, b) die Bereitschaft, eine gewisse Unschärfe der Daten zu akzeptieren und c) ein wachsender Respekt für Korrelationen (vgl. Cukier und Mayer-Schönberger 2013, S. 27 ff.). Diese Aspekte der Auswertung von Daten, „die zumeist im Rahmen einer Zweitverwertung zusammengeführt, verfügbar gemacht und ausgewertet werden“ (Weichert 2013, S. 133) führen dazu, dass auf der Basis zunächst scheinbar harmloser Einzeldaten, die durch algorithmische Berechnungen zusammengeführt und mithilfe statistischer Wahrscheinlichkeitsanalysen ausgewertet werden, sehr weitreichende problembezogene Analysen

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Abb. 2   Big Data und die potenziellen Folgen

durchgeführt, personenbezogene Aussagen über (potenzielles) Handeln in der Zukunft getroffen und Informationen und Leistungen zugänglich gemacht, vorstrukturiert oder verweigert werden. In Verbindung mit dem Zusammenführen von Daten aus unterschiedlichen Quellen entfalten Metadatenanalysen somit steuernde Funktion. Vorliegende empirische Analysen weisen seit Längerem darauf hin, dass Metadatenanalysen und algorithmenbasierte Entscheidungen vielfach zur Benachteiligung und Diskriminierung sozial benachteiligter Personengruppen führen (vgl. Favaretto et al. 2019). In Abb. 2 werden die Dimensionen, innerhalb derer Big Data Analysen benachteiligende Wirkung haben können, dargestellt. So kann die algorithmenbasierte „Vorhersage“4 künftigen Verhaltens dazu führen, dass Personen beispielsweise keinen Zugang oder nur zu teureren Konditionen zu Versicherungen oder Krediten erhalten oder zur Zielgruppe freiheitseinschränkender Interventionen

4Die

aus vorliegenden Verhaltensdaten Kausalketten ableitet und diese für prädiktive Aussagen nutzt.

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werden, sofern Gefährdungseinschätzungen – z. B. Rückfallgefährdung bei Delinquenten (vgl. Schierz 2015) oder im Kontext von Kindeswohlgefährdung (vgl. Ley 2019) in diesem Zusammenhang zu einer erhöhten Risikovorhersage führen. Dies betrifft auch den Bereich des sogenannten „predictive policing“, in dem metadatenbasiert Kriminalitätsvorhersagen vorgenommen werden – in Deutschland derzeit vorrangig bezogen auf Territorien (vgl. Gerstner 2017), in den USA bezogen auf konkrete, dann aufgrund dieser Datenbasis verdächtige Personen. Die hier dargestellten Metadatenanalysen betreffen zunächst alle Menschen, die digitale (Meta)Daten hinterlassen und diese im Zuge ihres Medienhandelns für entsprechende Auswertungen – bewusst oder unbewusst – zugänglich machen. Im Zusammenhang Sozialer Arbeit ist jedoch darüber hinaus relevant, dass jeder Kontakt zwischen Adressat*innen und beispielsweise dem Facebookprofil einer Institution oder WhatsApp-Kontakte zwischen Fachkräften und Adressat*innen entsprechende Metadaten produzieren und über die hier angesprochenen Dienste mit anderen Daten5 kombinierbar und für weitere Zwecke wie die in Abb. 2 benannten nutzbar machen. Dabei sind Metadaten wie die Tatsache, dass jemand Klient*in einer psychosozialen oder einer Schuldnerberatungsstelle ist, schon ohne Kommunikationsinhalte wertvolle Daten, die zur Folge haben können, dass die betreffenden Adressat*innen dann in entsprechende Kategorien „einsortiert“ werden, über die sie Einschränkungen in ihrem Alltag zu befürchten haben. Damit trägt die Verknüpfung von statistischer Wahrscheinlichkeitslogik und sensiblen personenbezogenen Daten das Potenzial von Prekarisierungsfolgen in sich, in deren Zusammenhang von einer ‚digitalen Vulnerabilität‘ der SAdressat*innen Sozialer Arbeit gesprochen werden kann und die – neben rechtlichen Datenschutzfragen – die Frage aufwirft, wie weit hier die Verantwortung von sozialen Organisationen und Fachkräften reicht.

3.3 Ethische Fragen im fachlichen Kontext Vor dem Hintergrund der hier umrissenen Entwicklungen stellen sich ethische Fragen für Organisationen und Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, die auch den Bereich der Beratungsangebote betreffen. Denn sofern Beratung im digitalen Kontext ihre Adressat*innen erreichen will, stehen Anbieter vor der Frage,

5Zur

Kombination von Daten aus verschiedenen Quellen und deren Folgen siehe das Papier von Wolfie Christl „Corporate Surveillance in Everyday Life. How Companies Collect, Combine, Analyze, Trade, and Use Personal Data on Billions“ (Christl 2017).

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inwiefern sie die meistverbreiteten digitalen Kanäle nutzen wollen, um erreichbar zu sein – und dann geht es auch um die Legitimität der Verortung von Angeboten in Facebook-Diensten (u. a. auch Instagram und WhatsApp) oder Google/ Alphabet-Infrastrukturen wie Youtube. Neben diesen Aspekten wird die in die Technik eingelagerte Logik der Veröffentlichung bzw. der Überwachung relevant für die Ausgestaltung von Verhältnissen zwischen Fachkräften und Adressat*innen. So ist eine neue Qualität, die in die Interaktionsbeziehungen – explizit oder im Hintergrund – hineinreicht, die Tatsache, dass über soziale Netzwerkverbindungen zusätzliche Informationen über Adressat*innen für die Fachkräfte verfügbar werden (etwa durch Facebook-Recherchen oder oftmals kaum reflektierte geteilte Nachrichten an den digitalen „Freundeskreis“ im Rahmen einer Statusmeldung per App). So erhalten Fachkräfte vielfach bewusst oder unbewusst Informationen über Gefühlszustand, Freizeitbeschäftigungen und Beziehungen ihrer Adressat*innen, die erst durch digitale Umgebungen für Fachkräfte zugänglich werden und tiefe Einblicke in das Privatleben ermöglichen. Diese Entwicklung und die damit zugänglichen Informationen können als hilfreich und pädagogisch verwertbar, als „praktisch“ betrachtet werden – sie werfen aber auch die ethische Frage auf, wie weit Fachkräfte „nebenbei“ (und jenseits von Datenschutzfragen) Einblicke in das private Leben von Adressat*innen erhalten dürfen bzw. sollen. Informationstechnologien transformieren somit auf diese Weise nicht nur die Wissens- und Entscheidungsbasis der Professionellen (vgl. Kutscher et al. 2015, S. 284). Aus ethischer Perspektive kann mit Bezug auf den von Zygmunt Bauman geprägten Begriff der Adiaphorisierung (vgl. Bauman und Lyon 2013) die Frage aufgeworfen werden, wie sich die moralische Reflexion auch darauf verändert, welche digital gestützten Praktiken innerhalb machtvoller Beziehungen in der Sozialen Arbeit legitim sind. Mit Adiaphorisierung bezeichnet er die zunehmende Befreiung des Handelns von der Reflexion moralischer Verantwortung im Zusammenhang technologischer Strukturen. Logiken der etablierten virtuellen sozialen Netzwerke und vieler Apps tragen in sich eingeschrieben, den Hiatus im Sinne eines Innehaltens und Hinterfragens des technisch so einfach vollzogenen Handelns auf seine ethische Legitimität hin zu eliminieren. Die digitale Dimension professioneller Ethik in der Sozialen Arbeit erfordert somit weitere Konkretisierungen in disziplinären wie praxisbezogenen Zusammenhängen (vgl. Kutscher 2019).

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4 Ausblick: Beratung im Kontext einer digitalisierten Sozialen Arbeit Die dargestellten Entwicklungen und Fragen im Kontext der Digitalisierung Sozialer Arbeit verweisen auf Reflexionsbedarfe auf professioneller und organisationaler Ebene. Dabei geht es um Fragen der Sicherung fachlicher Standards, der Verankerung von Datenschutz in Zusammenhängen, die Daten nur schwer dem Zugriff Dritter entziehen. Die Abgrenzung beruflicher bzw. öffentlicher von privaten Bereichen und die angesprochenen Verantwortungsfragen sind nur Beispiele für die verschiedenen Aspekte der Digitalisierung, die den Bedarf an konzeptionellen Orientierungen und Auseinandersetzungsprozessen sichtbar machen. Stefanie Büchner (2018b) weist daraufhin, dass Organisationen in der Digitalisierungsforschung zu wenig in den Blick geraten. Auch für die Praxis der Sozialen Arbeit und Beratung in diesem Zusammenhang kann dieser Befund übertragen werden: gerade im Kontext von Onlineberatung stellt sich die Frage nach der Rolle der Trägerorganisationen in der Gestaltung und Strukturierung von digitalisierten Beratungsangeboten a) in ihrer infrastrukturellen (finanziellen, technischen und personellen) Absicherung, b) der systematischen und konzeptionellen Verankerung fachlicher Standards und c) der qualifikatorischen Begleitung entsprechender digitalisierter Angebote. Hier bedarf es auch einer systematischen Befassung mit Schnittstellen zu anderen digitalisierten Anteilen im organisationalen Zusammenhang und den Implikationen, die diese potenziellen Verbindungen für Entscheidungsprozesse, Fallkonstitution, professionelle Beziehungsgestaltung und Qualitätssicherung haben. Während das Feld der (Online-)Beratung eine langjährige Praxis der Befassung mit digitalen Formen der Hilfeerbringung aufweist, die sich beispielsweise in einer Kontinuität der webbasierten datensicheren Strukturen bei seriösen Anbietern niederschlägt, steht auch dieses Handlungsfeld vor konkreten Fragen der lokalen und überregionalen Anbindung von Angeboten sowie der Nivellierung sozial ungleicher Zugänge zu Hilfe (vgl. Reindl 2018). Die angesprochenen Phänomene fordern das Feld der Beratung heraus, die vorhandenen Erfahrungen (Methoden im digitalen Setting, Datenschutzlösungen etc.) in die ethische Reflexion und die Weiterentwicklung fachlicher Diskurse und Standards unter den aktuellen – und digital-räumlich erweiterten – Digitalisierungsbedingungen einzubringen und zu verfolgen.

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Entwicklungspsychologische Aspekte der Digitalisierung: Medienwirkung und Medienkompetenz im Kindes- und Jugendalter Thomas Möckel, Wienke Wannagat, Gerhild Nieding und Peter Ohler

Zusammenfassung

Elektronische Medien spielen im persönlichen, schulischen oder beruflichen Umfeld von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen heutzutage eine wichtige Rolle. Sie werden gleichermaßen zu Kommunikations-, Informations- und Unterhaltungszwecken verwendet und sind allgegenwärtig. Aus dem Umgang mit Medien können sowohl positive als auch negative Wirkungen resultieren. Um positive Effekte zu verstärken und negative Folgen zu minimieren, ist es für Nutzer von zentraler Bedeutung, ein hinreichendes und adäquates Maß an Medienkompetenz zu besitzen. Die Entwicklung von Medienkompetenz beginnt bereits in der frühen Kindheit in Form von basalen Fähigkeiten. Um eine verantwortungsbewusste, kritische und selbstbestimmte Teilnahme an der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu ermöglichen, müssen daher

T. Möckel · W. Wannagat · G. Nieding (*)  Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Möckel E-Mail: [email protected] W. Wannagat E-Mail: [email protected] P. Ohler  Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_3

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bereits vor dem Schuleintritt Fertigkeiten im sinnvollen Umgang mit Medien erlernt und gefördert werden. Schlüsselwörter

Medienwirkung · Medienkompetenz · Förderprogramme · Training · Kinder ·  Jugendliche Erwachsene

Einleitung Entwicklungspsychologische Medienforschung befasst sich mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Personen in der Mediennutzung, -wirkung und -kompetenz über die Lebensspanne. Das vorliegende Kapitel fokussiert dabei auf Kinder und Jugendliche. Wir fassen Medien dabei als „durch Zeichensysteme binnenorganisierte externe Repräsentationssysteme“ (Nieding und Ohler 2008) auf. Diese Definition schließt viele verschiedene analoge und digitale Endgeräte und Informationsträger mit ein, also z. B. Laptop- und Tablet-Computer, Handys, Fernseher, Radio, Spielekonsolen, aber auch Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Alle diese Medien können unterschiedliche Inhalte repräsentieren und der gleiche Inhalt kann mithilfe oft unterschiedlicher Zeichensystemkombinationen über unterschiedliche Medien übertragen werden. Beispielsweise kann derselbe Film sowohl auf einem herkömmlichen Fernseher als auch auf einem Tablet abgespielt werden. Eine fiktionale Geschichte kann als Film oder als Computerspiel inszeniert sein und nutzt dann andere Zeichenkonfigurationen und Interaktionsmodi. Ein Zeitungsartikel kann als Printmedium, auf einem Tablet oder einem E-Book gelesen werden. Ein Lernstoff kann über ein lineares Medium oder einen Hypertext/ein Hypermedium zugänglich gemacht werden. Diese Vermischung von Endgerät, dominant zum Tragen kommenden Zeichensystemen und Inhalt erschwert pauschale Aussagen über die Wirkung einzelner Endgeräte, Zeichensysteme oder Inhalte.

1 Die Wirkung von Medien auf Kinder und Jugendliche Ein Blick auf Mediennutzungszahlen von deutschen Kindern und Jugendlichen zeigt, dass 98 % aller deutschen Haushalte inzwischen über einen Internetanschluss und meist mehrere internetfähige Endgeräte verfügt. Weiterhin besitzen etwa 30 % der 6- bis 13-Jährigen ein eigenes Smartphone; bei älteren Jugendlichen sind es 97 % (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2017, 2018). Auch ein Fernsehgerät ist in fast jedem Haushalt, oft auch im Kinderzimmer, zu finden.

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Doch wie wirkt sich diese umfangreiche Medienausstattung auf Kinder und Jugendliche aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Medienwirkungsforschung, die kognitive, soziale und emotionale Auswirkungen der Mediennutzung sowie etwaige Konsequenzen für Verhaltensweisen und Verhaltensdispositionen untersucht. Dabei zeigt sich, dass die Vielzahl der für Kinder und Jugendliche verfügbaren Medien sowohl positive als auch negative Wirkungen aufweisen, die im Folgenden exemplarisch behandelt werden sollen.

1.1 Die Wirkung gewalthaltiger Inhalte Eine relativ umfassend empirisch untersuchte Frage betrifft die Wirkung von Gewaltdarstellungen in Film- und Fernsehformaten und in Videospielen. Spiele am PC, am Smartphone oder über Spielekonsolen sind eine bei Kindern und Jugendlichen äußerst beliebte Freizeitbeschäftigung (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2017, 2018). Viele Unterhaltungsmedien enthalten Gewaltdarstellungen oder ermöglichen, im Fall von Videospielen, gewalttätige Aktionen (Gentile 2008). Speziell der Einfluss gewalthaltiger Video- und Computerspiele wird sowohl in der Öffentlichkeit als auch im akademischen Diskurs extrem kontrovers diskutiert. Weiterhin steht die Häufigkeit von Gewaltdarstellungen im Fernsehprogramm in einem eindeutigen Missverhältnis zur Realität (Anderson et al. 2015). Führt der Konsum dieser Inhalte dazu, dass Kinder und Jugendliche sich aggressiv verhalten oder gewalttätig werden? Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Annahme eines einfachen, direkten ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Konsum medialer Gewaltdarstellungen und aggressivem Verhalten eine unzulässige Vereinfachung darstellt. Viele weitere Variablen müssen als mögliche Ursachen für Aggressivität mitberücksichtigt werden. Theoretische Erklärungsmodelle schätzen dabei das Wirkpotenzial medialer Gewaltdarstellungen unterschiedlich ein. Das General Aggression Model (GAM; Anderson und Bushman 2002) erhebt den Anspruch durch Integration mehrerer psychologischer Theoriebausteine ein generelles Modell der Aggressionsentstehung zu liefern. In Anlehnung an die soziale Lerntheorie (Bandura 1977; Nieding und Ohler 2018) wird postuliert, dass auch Avatare als soziale Modelle fungieren können. Situative (Welche aggressiven Akte muss der Spieler vollziehen?) und personal-emotionale Komponenten triggern beim Computerspielen drei interdependente Reaktionspfade: kognitive Aktivierung, z. B. Priming (Voraktivierung) von aggressiven Scripten, E ­ rzeugung aggressiver Affekte (z. B. Wut) und Erhöhung des physiologischen Arousals

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(erhöhter Erregungszustand). Diese Veränderungen beeinflussen wiederum Bewertungs- und Entscheidungsprozesse in neuen Situationen außerhalb des Computerspiels. Neben kurzfristigen Effekten führt insofern nach dem GAM langfristiges Spielen von gewalthaltigen Computerspielen schließlich zur Internalisierung von aggressiven Wahrnehmungs- und Verhaltensscripten sowie zu Desensibilisierungsprozessen, die aggressive Verhaltensdispositionen verstärken. Hierdurch erhöht sich das Risiko aggressiven Verhaltens. Gewalthaltigen Computerspielen kommt nach dem GAM eine kausale Rolle bei der Aggressionsentstehung zu. Das Katalysator-Modell (Ferguson et al. 2008) geht, anders als das GAM, nicht davon aus, dass gewalthaltige Medien das Verhalten direkt beeinflussen, welches vielmehr eher durch die interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Aggressionsbereitschaft des Einzelnen bestimmt wird. Stattdessen nimmt dieses Erklärungsmodell an, dass neben genetischer Prädisposition, Variablen der Umwelt wie zum Beispiel die Familie die Wirkung gewalthaltiger Medien moderieren. Ein potenziell aggressives Verhalten auslösender Reiz in Form gewalt­ haltiger Medieninhalte wirkt somit nicht direkt kausal auf das Verhalten, sondern als Katalysator lediglich verstärkend. Nach Maßgabe des Katalysator-Modells ist die Wahrscheinlichkeit, sich aggressiv zu verhalten, erhöht, wenn Stressoren in der Umwelt wie z. B. finanzielle Probleme das Individuum bedrohen und Personen mit einer höheren Aggressionsbereitschaft besitzen hier eine niedrigere Schwelle. Gewalthaltigen Videospielen kommt nach dem Modell keine kausale Rolle bei der Aggressionsentstehung zu, sie fungieren lediglich u. U. als stilistische Katalysatoren (z. B. Kleidung eines Game-Charakters), aber stellen nicht die eigentliche Motivation dar, sich aggressiv zu verhalten. Das aggressive Verhalten wäre auch bei Nicht-Spielern aber ohne die Game-Signatur aufgetreten. Es wird jedoch zugestanden, dass Personen mit aggressiven Persönlichkeitszügen sich von gewalthaltigen Medien stärker angesprochen fühlen (vgl. Nieding und Ohler 2018). Inzwischen existieren mehrere Meta-Analysen, d. h. Studien, die die in vielen Einzelstudien zu einer Fragestellung gefundenen Effekte integrieren. Unter Berücksichtigung wichtiger Drittvariablen, wie Geschlecht, Persönlichkeitseigenschaften oder sozioökonomischem Status, weisen metaanalytische Auswertungen auf einen schwach positiven Zusammenhang zwischen Computer- und Videos­ pielen und Aggressivität hin (Anderson et al. 2010; Ferguson und Kilburn 2010). Vergleichbares wurde in Metaanalysen bereits in den 90er Jahren für Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen (Paik und Comstock 1994) gefunden und durch medienübergreifende Analysen (Bushman und Huesman 2006) bestätigt. Es bleibt festzuhalten, dass der Zusammenhang zwischen medialer Gewalt und menschlichem Erleben und Verhalten von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst

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wird. Nicht jede Person, die gewalthaltige Spiele spielt und gewalthaltige Fernsehsendungen konsumiert, wird selbst gewalttätig und es ist unwahrscheinlich, dass gewalthaltige Medien die einzige Ursache für aggressives Verhalten sind. Nichtsdestotrotz weist die Studienlage darauf hin, dass der Konsum gewalthaltiger Medien einen der möglichen Risikofaktoren für gewalthaltiges Verhalten darstellt. Dieser ist dann von besonderer Bedeutung, wenn er gleichzeitig mit weiteren Risikofaktoren wie z. B. einer genetischen Prädisposition auftritt.

1.2 Wirkungen auf die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung Neben medialen Gewaltdarstellungen existiert auch eine Vielzahl an Fernsehsendungen und Videospielen, die explizit Kinder und Jugendliche adressieren und mit der Intention produziert werden, sich förderlich auf die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung auszuwirken. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Sesamstraße, für die vor der ersten Staffel umfassende Bildungsziele sowohl für den sozial-emotionalen und moralischen Bereich als auch für den kognitiven Bereich formuliert wurden (Fisch 2004). Kognitive Aspekte  Ein wichtiger Aspekt ist die Sprachentwicklung. Diese beginnt schon im Mutterleib und erlebt nach der Geburt eine rasante Entwicklung. Durch Interaktion mit ihrer Umwelt erlernen Kinder u. a. die grammatikalischen Regeln (Syntax) ihrer Muttersprache und die Bedeutung von Wörtern (Semantik). Vor dem Hintergrund der Zunahme von Programmformaten für Säuglinge, Kleinstund Kleinkinder (z. B. „Baby Einstein“ oder „Teletubbies“) stellt sich die Frage nach dem positiven oder negativen Einfluss des Fernsehens speziell auf Sprachproduktion und -verständnis. Die existierende Befundlage lässt keine generelle Antwort zu, sondern zeigt, dass Effekte von verschiedenen Faktoren wie der zu erlernenden Sprachkomponente, Eigenschaften des Stimulusmaterials und dem Kontext der Mediennutzung abhängen (Diergarten und Nieding 2012). Es finden sich durchaus positive Effekte des Fernsehens bezogen auf die Erweiterung des Wortschatzes, jedoch eher nicht hinsichtlich der grammatischen Entwicklung. Syntaktische Aspekte der Sprachentwicklung sind möglicherweise stärker abhängig vom sozialen Austausch mit dem Umfeld. Gemeinsames Fernsehschauen mit einem Erwachsenen (sog. Co-Viewing) und Anschlusskommunikation kann zudem durch das Fernsehprogramm gesetzte Impulse unterstützen (vgl. Diergarten und Nieding 2012).

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Spätestens mit Eintritt in die Grundschule erlernen Kinder mit dem Lesen eine zentrale Kulturtechnik. Inwieweit speziell Fernsehkonsum die Lesekompetenz beeinflusst, ist vor dem Hintergrund der mittleren täglichen Sehdauer von 115 bis 165 min deutscher 6- bis 12-Jähriger (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2017) eine durchaus relevante Frage. Die gefundenen Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und Lesekompetenzen sprechen insgesamt eher für einen geringen negativen Zusammenhang (z. B. Comstock und Scharrer 1999). Zwei Erklärungen für diesen negativen Zusammenhang sind laut einer Längsschnittstudie (Ennemoser und Schneider 2007) am wahrscheinlichsten. Erstens steht die Zeit, die vor dem Fernseher verbracht wird, nicht für (Vor-)Leseaktivitäten zur Verfügung („Verdrängungshypothese“). Zweitens wird von manchen Kindern Lesen im Vergleich zum Fernsehen als weniger unterhaltsam wahrgenommen, was sich negativ auf die Lesemotivation auswirkt („Leseabwertungshypothese“). Der Verdacht, Fernsehen als vermeintlich „leichtes“ Medium, das wenig kognitive Anstrengung erfordere, würde auch die Anstrengungsbereitschaft beim Lesen negativ beeinflussen („Passivitätshypothese“) kann auf der Basis der vorhandenen empirischen Befundlage als unbegründet zurückgewiesen werden. Im Gegenteil kann Fernsehen sogar mit einer höheren mentalen Anstrengung verbunden sein als Lesen (z. B. Beentjes und van der Voort 1993). Unzureichend bestätigt ist auch die häufig vertretene Annahme, Fernsehen würde die Konzentrationsfähigkeit verringern („Konzentrationsabbauhypothese“) oder sogar zu Hyperaktivität führen (vgl. Nieding und Ohler 2018). Wie hoch der Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Lesekompetenzen ist, hängt auch von weiteren Merkmalen der Person und der Umwelt ab. So zeigen sich insbesondere dann negative Wirkungen, wenn es sich bei den Kindern um Vielseher handelte und bevorzugt Unterhaltungssendungen konsumiert wurden (Ennemoser und Schneider 2007). Im Kontrast zu den Befunden beim Fernsehen, weist die Forschungslage darauf hin, dass Internetnutzung die Lesefähigkeit bei 12- und 13-jährigen Nutzern zu fördern vermag (vgl. Jackson et al. 2011). Im Gegensatz zu Unterhaltungsformaten konnten für Bildungsprogramme im Fernsehen insgesamt positive Wirkungen gefunden werden. Je nach Programminhalten können neben sprachlichen Kompetenzen auch mathematische Fähigkeiten, Problemlösen und Kenntnisse in Naturwissenschaft und Technik sowie in Sozial, Heimat- und Sachkunde positiv befördert werden. Der Effekt scheint zudem nachhaltig zu sein. Kinder, die im Vorschulalter entsprechende Programme rezipierten, erzielen noch in der Highschool bessere Noten (Anderson et al. 2001). Vergleichbare Befunde lassen sich auch für PC-Spiele berichten. So konnte in einem Experiment gezeigt werden, dass mathematische PC-Spiele sich positiv auf die Mathematikfähigkeit der untersuchten Schüler auswirkten (Kebritchi et al. 2010).

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Auch wenn man natürlich die potenziell negativen Auswirkungen gewalthaltiger Videospiele individuell berücksichtigen muss, zeigen meta-analytische Auswertungen, dass aber auch diese Videospielformate mit positiven Wirkungen z. B. auf die Hand-Auge-Koordination und die visuell-räumliche Wahrnehmung einhergehen können (Ferguson 2007). Mit welchen Medien lernen Kinder und Jugendliche am besten? Diese Frage lässt sich mit sogenannten Medienvergleichsexperimenten beantworten, die bei gleichbleibendem Inhalt unterschiedliche Zeichensysteme, wie z. B. Text und Bild, oder verschiedene Sinnesmodalitäten, wie z. B. auditive und schriftliche Darbietung eines Textes, vergleichen. Aus der aktuellen Befundlage lassen sich keine Aussagen zugunsten einer generellen Überlegenheit eines Mediums treffen. Die empirische Befundlage zeichnet ein differenzielles Bild, wonach der Einfluss der medialen Präsentationsform vom kognitiven Entwicklungsstand der Lerner abhängt. Jüngere Kinder scheinen eher von audiovisuellen im Vergleich zu auditiven oder schriftlichen Texten zu profitieren (Wannagat et al. 2018). Ältere Lerner erzielen hingegen häufig sogar umgekehrt bessere Leistungen bei den anderen Darbietungsformen. Im Vergleich zu audiovisuellen Medien holen also Hörmedien und schließlich Schrift auf und erweisen sich dann im Jugend- und Erwachsenenalter als effektiver (vgl. Diergarten und Nieding 2016). Soziale-emotionale Aspekte  Längsschnittstudien, Experimente und Meta-­Analysen weisen auf einen moderat-positiven Zusammenhang des Konsums prosozialer Medieninhalte mit prosozialem Verhalten hin (z. B. Greitemeyer und Osswald 2010, Mares und Woodard 2005; Padilla-Walker et al. 2015), wobei prosoziales Verhalten als beabsichtigtes, freiwilliges Verhalten, das auf das Wohl anderer abzielt, gefasst ist. Für die Sesamstraße beispielsweise wurde – neben den bereits genannten Lernzielen für den kognitiven Bereich – die Vermittlung von Kompetenzen unter anderem in den Bereichen Freundschaft, Konfliktbewältigung, Kooperation, Diversity und (sozialer) Perspektivübernahme als Ziel definiert (Fisch et al. 1999). Die Befundlage spricht insgesamt dafür, dass diese Sendung auch kulturübergreifend diesen Erwartungen gerecht werden kann (Fisch et al. 1999; Mares und Pan 2013). Auch Sendungen ohne expliziten Bildungsauftrag, wie z. B. Sitcoms, können prosoziales Verhalten fördern, unter der Voraussetzung, dass etwaige moralische Botschaften verstanden werden (Rosenkoetter 1999). Zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen prosozialen Medieninhalten und prosozialem Verhalten eignen sich prinzipiell analoge theoretische Erklärungsmodelle, die beim Zusammenspiel gewalthaltiger Medieninhalte und aggressivem und gewalttätigem Verhaltens herangezogen werden. Somit wurde das General Aggression Model in Form eines General Learning Models (GLM) auf weitere Inhaltsbereiche, wie z. B. prosoziales Verhalten, erweitert. Dementsprechend

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wird angenommen, dass prosoziale Inhalte langfristig das Verhalten beeinflussen, indem Überzeugungen, Einstellungen, verhaltensbezogene Scripte verändert werden (Buckley und Anderson 2006; Prot et al. 2014). Ähnlich wie bei der Wirkung medialer Gewaltdarstellungen oder bei Medieneffekten auf kognitive Fähigkeiten, spielen beim Zusammenhang zwischen dem Konsum prosozialer Inhalte und prosozialem Verhalten Drittvariablen eine Rolle. Jüngere Kinder und Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status profitieren mehr von entsprechenden Programmen als ältere Kinder, was damit erklärt werden kann, dass mehr Sendungen mit explizit prosozialen Inhalten an jüngere Kinder adressiert und an der Darstellung der Lebensrealität eher wohlhabender Familien orientiert sind (vgl. Nieding und Ohler 2018). Inhaltsanalysen, zumindest für das US-amerikanische Fernsehprogramm, weisen darauf hin, dass prosoziales Verhalten aus didaktischen Gründen oft mit der Darstellung antisozialen Verhaltens kontrastiert wird, wodurch Sendungen, die aufgrund ihrer prosozialen Inhalte das Potenzial haben, prosoziales Verhalten zu fördern, auch Gewalt und aggressive Handlungen zeigen und somit gleichzeitig auch diese Scripte verstärken (z. B. Kunkel und Wilcox 2001). Medien können außerdem während der Kindheit und Jugend die Bewältigung von sog. Entwicklungsaufgaben unterstützen. Dazu gehören die Entwicklung der Identität und der Aufbau sozialer Beziehungen (Hannover et al. 2018). Die mit zunehmendem Alter immer wichtiger werdende soziale Unterstützung durch Peers (Skinner und Zimmer-Gembeck 2016) wird durch die ständige Verfügbarkeit des Freundeskreises über Instant-Messenger und soziale Netzwerke stark erleichtert. Diese ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit ist allerdings auch schon im Kindes- und Jugendalter mit einem erhöhten Stressempfinden und somit langfristig negativen Folgen für die Gesundheit assoziiert (Afifi et al. 2018; Lohaus et al. 2005; Klimmt et al. 2017). Zudem sind online stark vernetzte Kinder und Jugendliche besonders vulnerabel für Cyberbullying (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018). Unter Bullying (oder Mobbing) versteht man wiederholtes, gegen ein Opfer gerichtetes, aggressives Verhalten in Situationen, in denen die Täter ein Machtungleichgewicht ausnutzen. Diese Definition schließt sowohl körperliche als auch verbale (z. B. Beleidigungen) und beziehungsbezogene Gewalt (z. B. das Verbreiten von Gerüchten) mit ein (Olweus 1991; Smith und Sharp 1994; Waasdorp und Bradshaw 2015). Dieses Verhalten mithilfe elektronischer Endgeräte und innerhalb sozialer Online-Netzwerke auszuüben, bezeichnet man als Cyberbullying (Schäfer und Stoiber 2016). Für die Täter ist dadurch die Hemmschwelle gesenkt, da die im direkten sozialen Kontakt verfügbare emotionale Reaktion fehlt und für die Opfer wird die potenziell dauerhafte Verfügbarkeit von Online-Inhalten und die potenziell ständige Erreichbarkeit über Instant-Messenger oder soziale Netzwerke als besonders belastend erlebt (Kowalski et al. 2014).

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2 Medienkompetenz Im vorangegangen Teilkapitel wurde deutlich, dass Medien positive und negative Wirkungen hervorrufen können. Zur Maximierung positiver und gleichzeitiger Minimierung negativer Effekte sollten Nutzer entsprechend verantwortungsbewusst und reflektiert mit Medien umgehen. Diese Fertigkeit wird allgemein dem Bereich Medienkompetenz zugerechnet.

2.1 Was ist Medienkompetenz? Eine einheitliche Definition für Medienkompetenz existiert bislang nicht. Konsens besteht allerdings darin, dass Medienkompetenz ein Konstrukt ist, das aus verschiedenen Teilfähigkeiten besteht, die zu einer kritischen Nutzung und Betrachtung von Medien befähigen sollen (z. B. Hobbs 1997). Des Weiteren ist Medienkompetenz nicht angeboren (z. B. Walker et al. 2013), sondern entwickelt sich im Verlauf der Ontogenese von einfachen zu immer elaborierteren Teilkompetenzen. Medienkompetenz kommt für unser gesellschaftliches Zusammenleben eine große Bedeutung zu. So fordert beispielsweise die UNESCO zur Erarbeitung eines allgemeinen, internationalen und interkulturellen Schlüsselkonzepts von Medienkompetenz auf, welches zur verantwortungsvollen Partizipation an der demokratischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und somit zur politischen Teilhabe befähigen soll (Peréz Tornero und Varis 2010). Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Kultusministerkonferenz 2012 eine Erklärung zur Förderung von Medienbildung und -kompetenz veröffentlicht, welche anstrebt „Medienbildung als Pflichtaufgabe schulischer Bildung nachhaltig zu verankern sowie den Schulen und Lehrkräften Orientierung für die Medienbildung in Erziehung und Unterricht zu geben“ (Kultusministerkonferenz 2012, S. 3).

2.2 Die Entwicklung von Medienkompetenz im Kindesalter In der Literatur zur Medienkompetenz wird zwischen rudimentären (basalen) und gehobenen Fähigkeiten unterschieden (Potter 1998). Basale Fähigkeiten werden in der Kindheit erworben. Hierzu gehört im Besonderen das Verständnis medialer Zeichensysteme, das wir als mediale Zeichenkompetenz bezeichnen und nach unserem Modell der wichtigste zu erwerbende Aspekt von Medienkompetenz im

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Vorschul- und zu Beginn des Grundschulalters darstellt (Nieding et al. 2017). Sie beinhaltet das Verstehen der Zeichensysteme von Informations-, Lern- und Unterhaltungsmedien. Bildkompetenz  Zu verstehen, dass Zeichen oder Symbole für sich selbst und andere Dinge stehen (z. B. verweist das Foto eines Hundes gleichzeitig auf den realen Hund) wird repräsentationale Einsicht genannt (DeLoache 1995, 2000, 2004). Im Säuglingsalter scheinen Kinder noch nicht über diese Fähigkeit zu verfügen, da sie versuchen, Objekte aus Bildern „herauszuholen“ (DeLoache et al. 1998; Pierroutsakos und DeLoache 2003). Erst ab ungefähr dem 18. Lebensmonat verändert sich ihr Verhalten und sie reagieren auf präsentierte Bilder vermehrt mit Zeigegesten (Uttal und Yuan 2014; Völkel und Ohler 2013). Kurz darauf, circa im Alter von 2½ Jahren, können sie Fotos zum Auffinden von Objekten in Räumen verwenden (DeLoache 1991). Kinder können demnach ab diesem Alter gezielt Medien zum Lösen von Problemstellungen nutzen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie den Symbolcharakter von Bildern schon komplett verstanden haben. Wie beispielsweise eine Untersuchung von Myers und Liben (2008) zeigt, können Fünfjährige grafische Kartendarstellungen bereits interpretieren. Sie nehmen aber dennoch an, dass beispielsweise eine auf einer Karte rot eingezeichnete Straße auch in der Realität rot ist (vgl. Liben und Downs 1989). Bilderbücher werden von jüngeren Kindern ebenso gerne wie Comics angeschaut. Yannicopoulou (2004) fand heraus, dass schon Vorschüler entsprechende Konventionen, wie z. B. Sprechblasen oder besondere Darstellungen von Gesichtern zum Ausdruck von Gefühlszuständen, sehr gut verstehen. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich beim Verständnis japanischer Mangas, bei denen Emotionen, im Gegensatz zu westlichen Comics, hauptsächlich über bestimmte Augenformen und nicht über den Mund zum Ausdruck gebracht werden (Nakazawa 2005). Filmverständnis  Aufgrund der vergleichsweise größeren Wahrnehmungsnähe von Bewegtbildern (z. B. bei der Darstellung von Handlungsverläufen, Perspektivwechsel etc.) gegenüber statischen Bildern, lässt sich vermuten, dass sich das Verstehen der Zeichenfunktion von Filmen erst später entwickelt. Dies ist aber nicht der Fall (Nieding und Ohler 2018). Tatsächlich zeigen sich bei Filmen ähnliche Entwicklungsverläufe wie bei Bildern. Auch hier reagieren Kinder ab dem Alter von circa 15 Monaten bereits mit Zeigegesten auf präsentierte Inhalte (Pierroutsakos und Troseth 2003) und mit ungefähr 2½ Jahren können sie Videos zum Auffinden von Objekten in Räumen gezielt nutzen (Troseth und DeLoache 1998). Die medienvermittelte Darbietung von filmischen Inhalten können Kinder ­dieser Altersgruppe allerdings noch nicht vollständig nachvollziehen. So ­nehmen

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sie exemplarisch noch bis zu einem Alter von drei Jahren an, dass Popcorn aus einer gefilmten Popkorntüte verschüttet wird, wenn man das Fernsehgerät umdreht (Flavell et al. 1990). In diesem Zusammenhang erfolgt auch die ­Unterscheidung zwischen realen und fiktionalen Inhalten noch nicht sicher. Entgegen der langläufigen Annahme, dass Kinder den Fernseher als „magisches Fenster“ betrachten, durch welches sie alle Vorgänge in der Welt beobachten können und somit alle präsentierten Inhalte primär als real einstufen würden (Hawkins 1977), deuten andere Befunde darauf hin, dass eher das Gegenteil der Fall ist. So zeigte sich beispielsweise bei einer Untersuchung von Wright et al. (1994), dass Fünfjährige Inhalte von Nachrichtensendungen häufig als fiktiv einstufen weshalb sie schlussfolgern, dass insbesondere jüngere Kinder zu übergroßem Skeptizismus nach dem Prinzip „alles im Fernsehen gezeigte ist nicht real“ neigen. Das Filmverständnis der Kinder entwickelt sich stetig weiter und ab einem Alter von ungefähr vier Jahren beginnen sie, grundlegende filmische Editierregeln des Hollywood Continuity Systems (Mascelli 1965; d’Ydewalle und Vanderbeeken 1990; d’Ydewalle et al. 1998; Nieding und Ohler 2008) zu verstehen. Die Regeln dienen dem „Glätten“ von Filmschnitten und ermöglichen somit ein kohärentes Seherlebnis für die Zuschauer. Hierzu zählt unter anderem die Beibehaltung der Position von Personen und Gegenständen bei Änderung der Einstellungsgröße (z. B. von der Halbnahen zum Close-Up) oder die kohärente Bewegung von Akteuren über Schnittkanten hinweg (Munk et al. 2012a, b). Nach weiteren vier Jahren verfügen Kinder auch über das Verständnis von höhergeordneten Schnittprinzipien wie z. B. die Parallelmontage oder elliptische Auslassungen (Möckel 2013; Nieding und Ohler 2008). Die Fähigkeit zur Unterscheidung von Programmformaten bildet sich ebenfalls ab ungefähr dem 4. Lebensjahr heraus und Werbesendungen können nun bereits mit größerer Sicherheit identifiziert werden (Nieding et al. 2006). Über die persuasive Intention von Werbung sind sich Kinder jedoch erst ab ungefähr acht Jahren bewusst (Diergarten et al. 2014). Umgang mit rechnerbasierten Technologien Da in Industrienationen die elterlichen Haushalte nahezu komplett mit mobilen Endgeräten in Form von Smartphones und/oder Tablet-PCs ausgestattet sind, erscheint es nicht als verwunderlich, dass auch Kinder mit diesen Technologien in Kontakt kommen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2017; Rideout 2017). Geräte mit Touchscreen sind besonders bei jüngeren Kindern sehr beliebt, da ihnen die simple, fingergesteuerte Bedienung bereits sehr früh das Ausführen ­einfacher Aufgaben erlaubt (Neumann und Neumann 2014). Zwischen drei und sechs Jahren verbessert sich die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Tipp- und

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Ziehbewegungen erheblich (Vatavu et al. 2015). Ähnliches trifft auch auf dem Umgang mit Maus oder Joystick zu. Geschwindigkeit und Genauigkeit verbessern sich im Alter von vier bis zwölf Jahren ebenfalls enorm, wenngleich auch Geschicklichkeit und Genauigkeit ab ungefähr acht Jahren sich nur noch langsam steigern (Joiner et al. 1998). Die höchste Bediengeschwindigkeit unter den Eingabegeräten erreichen Dreijährige mithilfe des Joysticks, was allerdings zu einer höheren Fehlerquote im Vergleich zur Handhabung von Maus oder Trackball führt (Strommen et al. 1996). Da Drag & Drop Aufgaben gleichzeitig einen Tastendruck und die Bewegung der Maus erfordern, sind sie für Vorschüler noch relativ schwierig zu lösen. Allerdings können sie diese Technik in wenigen Trainingssitzungen erlernen (Lee 2009). Kinder erwerben somit bereits im Kindergarten- und Grundschulalter eine basale Form von Computer Literacy. Die meisten Studien zu rechnerbasierten Geräten fokussieren allerdings nur die Handhabung von verschiedenen Eingabegeräten und -techniken und liefern kaum Erkenntnisse bezüglich des inhaltlichen Verständnisses der Kinder. Diese Betrachtungsweise reicht aber nicht aus, denn gerade die zur Anwendung kommenden Zeichensysteme, wie z. B. der „bildhafte“ Charakter von Computerprogrammen, Apps und Videospielen sowie entsprechende Nutzeroberflächen weisen häufig Analogiebilder (Issing 1994) auf, die Elemente durch metaphorische Sachverhalte darstellen und demnach ein Verständnis von Ikonografie und Metaphorik voraussetzen (z. B. steht das Piktogramm einer Eule sinnbildlich für die Hilfefunktion, weil weise Eulen in Märchen oftmals helfen). Demnach sollten auch diese Aspekte bei zukünftigen Untersuchungen stärker berücksichtigt werden. Allerdings sind die prototypischen, formalen Mittel im rechnerbasierten Kontext nach wie vor noch nicht im gleichen Umfang wie filmische Mittel normiert und konventionalisiert, was ihre Erforschung aufwendiger macht (Klimmt 2004). So zeigte sich unter anderem bei einer Studie zum Icon-Verständnis bei Vorschülern, dass viele der anklickbaren Symbole zwar korrekt verwendet werden, jedoch die tatsächliche Bedeutung der Icons häufig missinterpretiert wird (Levy 2009). Eine weitere Komponente von Computer Literacy stellt der Umgang mit, beziehungsweise das Verständnis von Hypermedien und Hypertexten dar. Natürlich steigt die Internetnutzung erst mit dem Jugendalter stärker an (Subrahmanyam et al. 2002). Aber auch jüngere Kinder nutzen bereits das Internet (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015), um etwa Webseiten von Kindersendern aufzurufen. Für eine adäquate Navigation auf Internetseiten müssen Nutzer jedoch eine mentale Repräsentation bezüglich der oftmals assoziativ-hierarchischen Verknüpfungs-(„Link“-)struktur generieren (Nieding und Ohler 2008), was sich selbst für unerfahrene erwachsene Anwender noch als problematisch darstellen kann

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(Waniek et al. 2003). Ab wann Kinder diese Vernetzungsstrukturen verstehen, bleibt immer noch im hohen Maße offen. Auf Basis der aufgeführten Teildimensionen wurde eine eigene, sich über zwei Jahre erstreckende Längsschnittstudie mit 137, zu Beginn vier Jahre alten, Kindern durchgeführt (Nieding et al. 2017). Neben einem computerbasierten Online-Test zur Messung der medialen Zeichenkompetenz (MZK) mit zehn Skalen, die sich auf von der Zielgruppe häufig genutzte Medien beziehen (z. B. Film, Fernsehen, Computer, Hörspiele etc.), wurden zusätzlich weitere kognitive Variablen wie Intelligenz und mathematische sowie schriftsprachliche (Vorläufer-)Fähigkeiten erhoben. Unsere Befunde zeigten, dass die frühe MZK im Kindergartenalter spätere Vorläuferfähigkeiten des Leserechtschreib- und Mathematikerwerbs kurz vor der Einschulung positiv beeinflusste, auch wenn Intelligenz als für akademische Fähigkeiten hochrelevanter Faktor in das Vorhersagemodell einbezogen ist. Zudem wirkte sich eine höhere MZK lernförderlich auf medial vermittelte Lerninhalte aus (Diergarten et al. 2017). Mediale Zeichenkompetenz beeinflusst im Vorschulalter das Verständnis von wahrnehmungsnahen Zeichensystemen wie Bildern und Filmen und abstrakten Zeichensystemen wie Buchstaben oder Zahlen und hat zudem einen entscheidenden Einfluss auf das Verständnis von medienbasierten Inhalten. Mit einer weiteren Studie mit 150 Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren konnte zusätzlich demonstriert werden, dass Vorschulkinder mit einer höheren MZK Filme und Hypertexte in Lernprozessen effizienter nutzen können, als Kinder mit einer vergleichsweise geringer ausgeprägten MZK (Diergarten et al. 2017).

2.3 Medienkompetenz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Die Entwicklung der Medienkompetenz ist im Kindesalter keineswegs abgeschlossen. In der Literatur besteht vielmehr Übereinstimmung darin, dass es sich um ein Konstrukt handelt, das sich im Verlauf der Ontogenese von rudimentären (vornehmlich zeichenbezogenen) zu gehobenen Fähigkeiten kontinuierlich verändert und aus sozialen, emotionalen, kognitiven und ästhetischen Teilfähigkeiten besteht (vgl. Potter 1998, 2018; Groeben 2002, 2004; Nieding et al. 2017), die eine zunehmend kritischere und reflektiertere Betrachtung und Verwendung von Medien ermöglichen (z. B. Hobbs 1997). Die im Kindesalter erworbene MZK bildet somit die Basis für die ab der Jugend auszubauenden analytisch funktionalen Fähigkeiten, die das vertiefte Verstehen von, die kritische Auseinandersetzung mit und die eigene Produktion von Medienbotschaften umfassen (Potter 2018).

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Vor diesem Hintergrund entwickelten wir einen computerbasierten OnlineTest „Würzburger Medienkompetenztest“ (WMK) zur Leistungsmessung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Braun et al. 2018a, b). Der WMK basiert auf der vorhandenen Literatur zur Medienkompetenz und misst neben dem (gehobenen) Verständnis medialer Zeichensysteme die Fertigkeitsund Wissensbereiche: Realitäts-Fiktions-Unterscheidung, Medienwirkungswissen, Medienrecht und Produktionsfähigkeit. Nachfolgend sollen die einzelnen Teilkomponenten näher erläutert werden. Realitäts-Fiktions-Unterscheidung  Gerade in der heutigen Zeit scheinen medienbasierte Formate und Inhalte oftmals mit dem Realitätsgehalt von Informationen zu „spielen“ (Doku-Soaps und [Scripted] Reality Shows im Fernsehen, Fake News und Filter Bubbles im Internet etc.). Um Missinterpretationen zu vermeiden, ist es für Mediennutzer wichtig, adäquat zwischen faktischen und inszenierten Inhalten unterscheiden zu können. Dennoch weisen häufig selbst noch Erwachsene in diesen Bereichen Probleme auf. Verschiedene Untersuchungen demonstrieren, dass Jugendliche und Erwachsene beispielsweise durch gezielte Falschmeldungen in ihrer politischen Gesinnung unbewusst beeinflusst werden (z. B. Balmas 2014; Allcott und Gentzkow 2017) und dass ein häufiges Anschauen von Reality Shows ihr Aggressionspotenzial negativ beeinflusst (Ward und Carlson 2013; Behm-Morawitz et al. 2016). Ähnliche Wirkungen lassen sich bei Werbeformaten finden. Während Mädchen mit ihrem Körperbild deutlich unzufriedener sind, wenn sie Werbespots, in denen ein schlankes Schönheitsideal präsentiert wird, ansehen (Hargreaves und Tiggemann 2004) zeigen sich ähnliche Effekte bei männlichen Jugendlichen und Erwachsenen, wenn ihnen Werbefilme mit muskulösen Darstellern gezeigt werden (Agliata und Tantleff-Dunn 2004). Demnach scheinen besonders Jugendliche in Bezug auf ihre physische Selbstwahrnehmung durch Werbung stark beeinflussbar zu sein. Aus diesen Gründen wurde eine entsprechende Skala, bei der die Studienteilnehmer reale oder fiktive Medienformate, versteckte Werbebotschaften oder manipulierte Bilder identifizieren mussten, im WMK implementiert. Medienwirkungswissen  Dass aus der Nutzung von Medien spezifische Wirkungen resultieren, gilt als unbestritten. Demzufolge ist es interessant, ob, in welchem Ausmaß und in welcher Akkuratheit Jugendliche und junge Erwachsene derartige Zusammenhänge kennen und sich darüber bewusst sind. Zur Überprüfung des Medienwirkungswissens kam eine weitere Skala im Rahmen des WMKs zum Einsatz. Der Fragebogen enthält Schilderungen von Medieneffekten

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die entweder empirisch abgesichert oder widerlegt sind, was zu beurteilen war. Die Aussagen beziehen sich unter anderem auf die Wirkung von medial vermittelter Gewalt, Werbewirkung oder auf die Wissensvermittlung durch Medien (Braun et al. 2018b). Medienrecht  Wie bereits unter Abschn. 2.1 erwähnt, besteht eine der Hauptaufgaben in der Vermittlung von Medienkompetenz darin, Menschen die verantwortungsbewusste Teilnahme an der demokratischen Gesellschaft des 21.  Jahrhunderts inklusive politischer Partizipation zu ermöglichen (Peréz Tornero und Varis 2010). Dies bedeutet selbstverständlich auch, aktuelle Rechtsgrundlagen zu kennen. Um zu überprüfen, wie stark das Wissen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bezug auf geltende Gesetze ausgeprägt ist, wurde ein weiterer Fragebogen in den Test integriert, welcher sich inhaltlich auf medienbezogenes Urheberrecht oder Aussagen zum Datenschutz bezieht (Braun et al. 2018b). (Gehobene) mediale Zeichenkompetenz Die Grundlagen der MZK werden wie ausgeführt bereits im frühen Kindesalter erworben. Es ist davon auszugehen, dass dieses Domänenwissen mit ansteigender Mediennutzung in der Adoleszenz sowie im Erwachsenenalter weiterhin Zuwachs erfährt und in einem vertieften, kritischen Verständnis der symbolischen Konstruiertheit von medial vermittelten Botschaften mündet (Potter 2018). Aus diesem Grund enthält auch der WMK eine entsprechende Skala. Empirisch wurden die Inhalte aus den eigenen Vorarbeiten hergeleitet (vgl. Nieding et al. 2017), weshalb sich in den Teilaufgaben exemplarisch auch die Bereiche Bildkompetenz, Kartenverständnis, Wissen über filmische Montagetechniken und Umgang mit rechnerbasierten Technologien (teilweise erhoben durch einen modifizierten Teil des Inventars zur Computerbildung [INCOBI-R, Naumann et al. 2001; Richter et al. 2010]) wiederfinden lassen (Braun et al. 2018b). Produktionsfähigkeit  In den meisten Theorien und Modellen zu Medienkompetenz stellt die Anfertigung von eigenen, medienbasierten Produktionen eine der höchstmöglichen Ausprägungen von Medienkompetenz dar (z. B. Baacke 1999; Groeben 2004; Potter 2018). Die gestellten Aufgaben im WMK enthalten beispielsweise das Anlegen einer Wiedergabeliste zum Abspielen von Musik auf dem PC, das Zugänglichmachen eines Dropbox-Ordners für weitere Personen oder das Abändern der Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre bei einem nachgestellten Facebook-Profil. Um zu überprüfen, wie Medienkompetenz im Jugend- und Erwachsenenalter fortwirkt, beziehungsweise, ob sich ähnliche Effekte wie bei der MZK-Studie

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auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen wiederfinden lassen, wurden 101 Jugendliche (Durchschnittsalter 13 Jahre) und junge Erwachse (Durchschnittsalter 19 Jahre) untersucht (Braun et al. 2018a, b). In Ergänzung zum WMK wurden weitere kognitive Variablen wie Lesefähigkeit, mathematische Fähigkeiten, Schulerfolg sowie Intelligenz erfasst. Neben einem generellen Alterseffekt ergaben entsprechende Pfadanalysen unter anderem, dass Jugendliche und junge Erwachsene mit einer gut ausgeprägten Medienkompetenz bessere Ergebnisse bezüglich der Lesefähigkeit und Schulnoten erzielten, als Studienteilnehmer mit einer vergleichsweise geringeren Medienkompetenz. Des Weiteren wiesen medienkompetentere Erwachsene ebenfalls eine höhere Mathematikfähigkeit auf. Neben dem akademischen Leistungsbereich ergaben sich auch positive Zusammenhänge mit sozialen Aspekten wie dem Interesse an Politik und dem Selbstkonzept der Kompetenz in politischen Fragestellungen. Zudem wird die Ausprägung der Medienkompetenz durch die Medienbreite (Medienbesitz in Kombination mit Nutzungsdauer und -frequenz) positiv beeinflusst. Zusätzlich scheint eine hohe Medienkompetenz Risikofaktoren wie Computerspielsucht zu minimieren. Die Untersuchungen von Braun et al. (2018a, b) konnten somit empirisch demonstrieren, dass sich Medienkompetenz auch im Jugend- und Erwachsenenalter weiterhin ausbildet. Die Ergebnisse sprechen dafür, entsprechende Fördermaßnahmen sowohl bei Vor- und Grundschülern als auch bei Jugendlichen und Erwachsenen durchzuführen. Des Weiteren scheint der gefundene Zusammenhang mit politischem Interesse genau die Ziele widerzuspiegeln, welche auf nationaler und internationaler Ebene durch die Vermittlung von Medienkompetenz erreicht werden sollen (Bokova 2010; Peréz Tornero und Varis 2010; Kultusministerkonferenz 2012), was zusätzlich für eine Förderung spricht. Entsprechende Förderprogramme und Trainings sind zwar bereits vorhanden, jedoch fehlen oftmals, vor allem in Bezug auf Kinder, Studien zur Überprüfung ihrer empirischen Wirksamkeit.

2.4 Förderung von Medienkompetenz Im staatlichen Rahmen wurde für Deutschland durch die von der Kultusministerkonferenz 2012 veröffentlichte Empfehlung „Medienbildung in der Schule“ ein bedeutender Grundstein zur Förderung von Medienkompetenz im schulischen Bereich gelegt. Betrachtet man allerdings die deutschen Bildungspläne, so fällt relativ schnell auf, dass die Bundesländer in ganz unterschiedlichem Ausmaß das

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Thema Medienkompetenz im Vorschulalter akzentuieren. Während beispielsweise das Bayerische Curriculum (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2016) ein sehr ausführliches Kapitel zu Medien und Medienkompetenz beinhaltet, in welchem unter anderem genau aufgeführt wird, welche Medien (Hörspiele, Bilderbücher, Fernsehen, elektronische Spielgeräte, Computeranwendungen etc.) Kinder in welchem Alter wie nutzen können, wird im Sächsischen Bildungsplan (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2011) die Medienerziehung lediglich mit Literalität in einem gemeinsamen Unterabschnitt kurz angeführt. Als einziges elektronisches Medium wird der Computer erwähnt – eventuelle Förderungen in Bezug auf andere Medien werden gar nicht angesprochen. In anderen Ländern der Welt wird sich hingegen dem Thema Medienkompetenz viel intensiver gewidmet. So sollen beispielsweise laut Westaustralischem Curriculum, welches, trotz einiger größerer Novellierungen seit 2012, nach Komaya (2012) einen der weltweit umfangreichsten Bildungspläne darstellt, Kinder bis zum Alter von fünf Jahren bereits gezielt digitale Daten zum Lösen von Aufgabenstellungen verwenden können sowie ein Bewusstsein für ein sicheres Surfen im Internet entwickeln (Government of Western Australia, School Curriculum and Standards Authority 2017). Zudem bezieht sich das Curriculum nicht nur auf den Kindergarten, sondern schließt die Schullaufbahn mit ein. Solche internationalen Unterschiede könnten eventuell auch als Erklärung für das mittelmäßige Abschneiden deutscher Achtklässler bei der International Computer and Information Literacy Study 2013 (ICILS 2013; Eickelmann et al. 2014) dienen, bei der kanadische und australische Schüler den zweiten und dritten Rang nach der Tschechischen Republik erreichten. Ob sich ähnliche Ergebnisse ebenfalls bei der ICILS 2018 zeigen, bleibt abzuwarten (Ergebnisse werden ungefähr Ende 2019 erwartet). Neben staatlichen Institutionen existieren auch nichtstaatliche Initiativen zur Förderung von Medienkompetenz. Als exemplarische Vertreter für den Kinderund Jugendbereich können Medienkompetenz.training (https://medienkompetenz. training), Medienzentrum PARABOL e. V. (www.parabol.de), BITS 21 (www. bits21.de) sowie das Institut für Gewaltprävention, Selbstbehauptung und Konflikttraining (I-GSK; www.i-gsk.de) benannt werden. Zudem gibt es, neben wenigen Lernprojekten die auf Kinder ausgerichtet sind (z. B. Werbung in Videospielen [Hudders et al. 2016] oder Verständnis von Film und Fernsehen [MedienKompetenz Forum Südwest o. D.]), Trainings, die sich primär an Eltern (z. B. SCHAU HIN! o. D.) oder Jugendliche wenden und fast ausschließlich auf die Prävention von negativen Effekten ausgerichtet sind (z. B. ungesunde Ernährung oder Körperbildstörungen [Harris und Bargh 2009; Raich et al. 2010],

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aggressives Verhalten [Byrne 2009; Möller und Krahé 2013], Alkohol und Tabak [Banerjee und Greene 2007; Hindmarsh et al. 2015; Weintraub Austin et al. 2016], Gefahren des Internets [Lee und Chae 2012], etc.). Für das Jugend- und Erwachsenenalter liegt bereits eine hinreichende Anzahl von Studien zur Förderung von Medienkompetenz vor, sodass eine metaanalytische Untersuchung von entsprechenden Förderprogrammen eine Effektstärke von d = .37 ergab (Jeong et al. 2012; Scharrer und Ramasubramanian 2015; Ohler und Nieding 2014). Als wichtige Wirksamkeitskriterien erwiesen sich dabei die Anzahl der Sitzungen sowie die Anzahl der Komponenten der Programme. Allerdings fehlen (wie bereits erwähnt) besonders empirische Untersuchungen zum Kindesalter, die Medienkompetenztrainings im Sinne einer Maximierung positiver Effekte der Mediennutzung verstehen und erforschen. Aus diesem Grund wird aktuell von der Arbeitsgruppe um Gerhild Nieding und Peter Ohler, im Rahmen eines weiteren DFG-Projekts, ein Medientraining für Vorschüler entwickelt, welches sich über die gesamte Bandbreite von in Kindermedien vorkommenden medialen Zeichensystemen erstrecken soll. Als Grundlage dieses Trainings dient der unter Abschn. 2.2 vorgestellte MZK-Test.

3 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Kapitel wurde dargestellt, dass aus der Nutzung von Medien sowohl im Kindes- als auch im Jugend- und Erwachsenenalter positive und negative Wirkungen resultieren können. Sowohl gewalthaltige als auch für die sozial-emotionale oder die kognitive Entwicklung potenziell förderliche Medieninhalte wirken in einem Zusammenspiel mit weiteren Merkmalen der Person und der Umwelt, die somit bei einer Bewertung der Schädlichkeit oder Nützlichkeit verschiedener Medien mitberücksichtigt werden sollten. Durch medienkompetentes Handeln können positive Wirkungen zusätzlich verstärkt und negative Effekte minimiert werden. Empirische Untersuchen zeigten in diesem Zusammenhang, dass sich Medienkompetenz vom frühen Kindesalter über die Adoleszenz hinweg bis zum Erwachsenenalter weiterentwickelt und auch Wirkungen für andere Bereiche entfaltet. Allerdings läuft dieser Prozess weitestgehend nicht automatisch ab. Er muss durch gezieltes Erlernen von verschiedenen Teilfähigkeiten in unterschiedlichen (medienbasierten) Bereichen vorangebracht werden. Zusätzlich scheint ein positiver Zusammenhang zwischen Medienkompetenz und kognitiven Variablen wie z. B. akademischen Leistungen sowie gesamtgesellschaftlicher Partizipation (Interesse an Politik, politisches Selbstkonzept etc.)

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zu bestehen (Braun et al. 2018b). Die Funktion eines Schutzfaktors (z. B. in Bezug auf Computerspieleabhängigkeit) kann einer gut ausgeprägten Medienkompetenz ebenfalls zugeschrieben werden. Diese Ergebnisse sprechen somit klar dafür, Medienkompetenz über alle Altersgruppen hinweg intensiv zu fördern. Eine entsprechende Notwendigkeit wurde auf internationaler und nationaler Ebene erkannt, weshalb aktuell bereits mehrere staatliche und nichtstaatliche Fördermaßnahmen und Trainingsprogramme für Medienkompetenz existieren. Allerdings steht eine empirische Überprüfung und Evaluation der Wirksamkeit von Trainings gerade in Bezug auf Kinder weitestgehend noch aus, weshalb in diesem Bereich dringend weitere Studien benötigt werden. Dennoch sprechen erste Befunde deutlich für eine Förderung von Medienkompetenz ab dem frühen Kindesalter. Eine strikte Spitzer’sche Bewahrpädagogik wird hingegen nicht als zielführend erachtet (Ohler et al. 2012a, b; Appel und Schreiner 2014), denn Kindern und Jugendlichen den Zugang zu elektronischen Medien verwehren zu wollen, würde gleichzeitig bedeuten, ihnen eine Schlüsselkompetenz für eine verantwortungsbewusste Partizipation an der demokratischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts (Peréz Tornero und Varis 2010) als kritikfähiger, mündiger Bürger zu nehmen.

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Digitalisierung und Kommunikation: Perspektiven und Herausforderungen für die Beratung Martin Geisler

Zusammenfassung

Der Beitrag fokussiert das Phänomen Digitalisierung auf Ebene von Kommunikation und damit einhergehenden Veränderungen, Herausforderungen und Perspektiven für die Soziale Arbeit und die Beratung. Ausgehend von kommunikationstheoretischen Grundlagen sowie medienpädagogischen Aspekten, werden kritische und potentialversprechende Faktoren digitalisierter Kommunikation für die Soziale Arbeit generell und die Beratung im speziellen diskutiert. Schlüsselwörter

Digitalisierung · Kommunikation · Galaxienwandel · Medienpädagogik ·  Kommunikationsmodelle · Beratung · Soziale Arbeit

1 Einleitung Befasst man sich mit Digitalisierung innerhalb der Beratung durchläuft man verschiedene Phasen und Perspektiven. Einerseits gelten Sozialarbeiter*innen (ähnlich wie Lehrer*innen) nicht als besonders Medienaffin. Andererseits finden sich in fast allen Modulkatalogen ausbildender Hochschulen Angebote zur Kommunikation und Medienpädagogik. Einerseits gilt es lebensweltsorientiert auf Menschen zuzugehen (bzw. zuzuhören), für die digitale Medien oftmals große M. Geisler (*)  Ernst-Abbe-Hochschule Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_4

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Bedeutung und Anreiz haben (siehe: JIM Studie 2018), andererseits gilt es, sie vor nachteiligen Entwicklungen zu schützen und zur Kritik anzuregen. Einerseits erscheinen aktuelle Veränderungen derart tiefgreifend, dass man meint Grundlegendes neu erlernen zu müssen, andererseits zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass bekannte Grundsätze nach wie vor Gültigkeit besitzen. Einerseits werden euphorische Erwartungen mit der Digitalisierung verbunden, andererseits lösen sie Ängste und Zweifel aus. Einerseits genießen die Menschen die Vorteile und anscheinende Freiheit/Zugänglichkeit medialer Impulse, andererseits zeigen sich grundlegend ökumenische Dynamiken, die womöglich sogar Freiheiten einschränken. Einerseits gilt es Klient*innen zügig, vielleicht anonym auf sachlicher Ebene, zum Beispiel durch wichtige Informationen zu helfen, andererseits braucht es für die Bewältigung von Krisen oder einer tiefgreifenden Veränderung eine Vertrauens- und Beziehungsebene, welche kaum auf direkte interpersonelle Kommunikation verzichten kann. Auf der Website job-futuromat.iab.de des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Job Futuromat 2018) kann man sich die Frage beantworten lassen, ob der eigene Job durch einen Roboter erledigt werden könnte. Gibt man dort Sozialarbeiter*in/Sozialpädagog*in ein, lautet das Ergebnis: „Der Arbeitsalltag dieses Berufs besteht im Wesentlichen aus 6 verschiedenen Tätigkeiten1, 0 davon und somit 0 % könnten schon heute Roboter übernehmen.“ Dies mag nicht nur Tätige und Studierende in diesem Feld beruhigen, es gibt ebenso einen Hinweis, auf die aktuellen Grenzen der Digitalisierung innerhalb der Sozialen Arbeit. Gleichwohl darf sich auch die Soziale Arbeit nicht dem weitreichenden Kommunikationswandel verschließen. Vielmehr wachsen die Aufgabenbereiche, insb. in Hinblick auf die Medienpädagogik. Aber auch die Beratung, hier insbesondere als Schlüsselaufgaben der Sozialen Arbeit verstanden, erfährt Veränderungen. Zwar finden sich, zum Beispiel im Bündnis der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) zahlreiche Expert*innen, jedoch haben diese in der Breite zu geringen Einfluss auf alltägliche Praxis in der Beratung und können unmöglich den Bedarf befriedigen. Was benötigt wird ist eine Etablierung und Reflexion im Umgang mit digitalen Medien innerhalb von Beratungsprozessen. Dabei sollte betont werden, dass Digitalisierung in der Beratung nur ein Anteil der Digitalisierung in der Sozialen Arbeit ausmacht.

1„Sozialarbeiter*innen

bzw. Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen befassen sich mit der Prävention, Bewältigung und Lösung sozialer Probleme. Sie beraten und betreuen einzelne Personen, Familien oder bestimmte Personengruppen in schwierigen Situationen“ (Bundesagentur für Arbeit 2018).

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Im Kontext des Kinder- und Jugendmedienschutzes, Teilhabe von Senioren, Inklusion, Partizipation, Politische Bildung, Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Rassismus, Sexismus, Sport und Spiel, Jugendkulturen, Identitätsarbeit, Selbsthilfe, Pflege, Flucht und Migration, Sucht, Psychiatrie, Aus- Fort- und Weiterbildung von Fachkräften, Coaching aber auch Datenschutz u. v. a. nimmt Digitalisierung innerhalb der Sozialen Arbeit einen Faktor ein und bringt Herausforderungen mit sich. Hierzu sei auf den Beitrag von Nadia Kutscher „Digitalisierung der Sozialen Arbeit“ aufmerksam gemacht. Und selbst wenn man den Fokus auf die Herausforderungen in der Beratung eingrenzt, gibt es verschiedene Perspektiven. Allein aus Sicht der Medienpädagogik stellt sich die Frage, ob es eher um die Herausbildung von Nutzungs- oder Reflexionskompetenzen geht? Aber was genau meint Digitalisierung und welche Bedeutung nimmt dieser Prozess ein? Welche Veränderungen gehen vonstatten und welche Grundsätze der Kommunikation lassen sich mit der Digitalisierung verbinden bzw. widersprechen sich? Welche Rolle spielt dabei die Medienpädagogik und was könnte ihre Aufgabe innerhalb der einhergehenden Herausforderungen ein? Was sind die Potenziale der Digitalisierung und wo leistet sie einen positiven Beitrag für das Zusammenleben in modernen Gesellschaften? Was gilt es kritisch-reflektiert im Blick zu behalten und an welche Grenzen stößt Digitalisierung in diesem Kontext? Auf diese Fragen soll im folgenden Antwort gegeben werden. Der Beitrag bleibt dabei allgemein, deduktiv und dient als anregende Ergänzung zu den nachfolgenden und spezifischeren Ausführungen.

2 Der Galaxienwandel und seine Auswirkungen Kommunikation zwischen Menschen war immer schon vom Medium/Mittler der Informationsübertragung beeinflusst. Je nach Medienbegriff der gewählt wird, sind dies nicht nur technische Medien, sondern zählen auch Schrift, Körpersprache, Licht und sogar Luft dazu. Dabei gilt es den Grundsatz von Marshall McLuhan „The Medium is the Message!“ im Blick zu behalten. Denn natürlich hat das Medium der Übertragung nicht nur Einfluss auf die Botschaft, sondern ist teils selbst eine Botschaft bzw. wirkt sich auf größere Zusammenhänge aus. Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich permanent. Größere Umbrüche sind namensgebend für ganze Epochen. Die Industriegesellschaft erlebt nun ihre Transformationen zur Digitalgesellschaft, deren wesentliches Charakteristikum die Durchdringung durch Digitalisierung ist. „Konkret handelt es sich dabei zum einen um den breiten Einsatz Neuer (Digitaler) Medien, aber auch um sowohl mit diesen Medien als auch mit der Digitalisierung einhergehender wirkmächtiger

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Phänomene (z. B. Datafizierung, Quantified Self, maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz, Augmented/Virtual Reality, Robotik, Cyborgisierung usw.). Im Alltag begegnen uns die Neuen (Digitalen) Medien in Form von Smartphones, Laptops, Tablet-PCs, kurzum: als Computer“ (Damberger 2018). Es lässt sich nicht leugnen, dass aktuell ein enormer Umbruch geschieht, welcher auch und insbesondere durch Veränderungen der Informationsübertragung verläuft. Dieser Umbruch ist derart einschneidend, dass namhafte Wissenschaftler*innen den Vergleich zu einem Wandel von Galaxien heranziehen. Hintergrund dieses sogenannten Galaxienwandel sind Veränderungen, die sich im Zuge zweier bedeutender Umbrüche in der Kommunikation vollzogen haben bzw. vollziehen. Diese brachten und bringen dabei ebenfalls Veränderung von gesellschaftlichen Dynamiken mit sich. Wiederum Marshall McLuhan schrieb 1962 das Buch „The Gutenberg Galaxy“. Darin beschrieb er die Rolle und Wirkung der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um das Jahr 1450. Das geschriebene Wort sowie seine einfachere Vervielfältigung und Übertragbarkeit wirken sich deutlich auf Wissen und Wissenschaft, Lehre, Partizipation, Politik, Identität, Machtverhältnisse, Denkweisen und auch gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. 500 Jahre hat dieses Medium unsere Decodierung der Welt geprägt und dabei insbesondere das rationale Denken gefordert und gefördert. Im Sinne des Konstruktivismus und die Rolle der Kommunikation darin, hat die Gutenberg-Galaxie auch Auswirkungen auf Wirklichkeit, Ästhetik und Bildung. Denn „was wir als Wirklichkeit annehmen, ist nur das Ergebnis unserer subjektiven Interpunktionen“ (Hoffmann 2003, S. 62). Die Kulturtechniken der Gutenberg-Galaxie beruhen darauf, dass Menschen Zeichen hervorbringen, anschauen, umformen, interpretieren und löschen können, nur interagieren können sie mit ihnen nicht (Krämer 2002, S. 55). Schon McLuhan sah das Ende der Gutenberg-Galaxie im Zusammenhang mit dem Aufkommen elektronischer Medien. Manuel Castells nahm sich McLuhans Überlegungen an und beschrieb in seiner Trilogie „Das Informationszeitalter“ (1997) und „The Internet Galaxy“ (2001) die Internet-Galaxie. Er geht darin davon aus, dass die Entwicklung moderner Medien, insbesondere der Computer und die Art der Kommunikation ähnlich weitreichende Veränderungen mit sich bringen wie jene des Buchdrucks. Diese Veränderungen vollziehen sich aktuell und sorgen bisweilen für Kommunikationsstörungen, gesellschaftliche Spaltungen, Handlungsdruck aber auch für neue Entfaltungs- und Experimentierräume, Begegnungen und Chancen. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung verändern sich althergebrachte Ordnungen und Strukturen. Mitunter lösen sich diese sogar auf und andere treten an ihre Stelle. Raum und Zeit spielen in der Kommunikation durch und mithilfe der Neuen (Digitalen) Medien eine völlig andere Rolle, woraus u. a. das Phänomen einer umfassenden technischen, aber auch sozialen Beschleunigung

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erwächst. Sich fundamental verändernde Strukturen bedeuten indessen, dass bisher bestehende Regeln einer Überarbeitung bedürfen, seien es nun partnerschaftliche, familiäre oder berufliche (vgl. Damberger 2018). Es stellt sich nicht die Frage, ob wir diese Veränderungen wollen, lediglich wie wir sie gestalten und auch an welchen Punkten Bewährtes nach wie vor seine Gültigkeit hat. Die Veränderungen des Galaxienwandels vollziehen sich nicht reibungslos und bringen eine Vielzahl von Problemen und Orientierungsschwierigkeiten mit sich. Das Individuum muss Aus- und Abwählen. Dazu bedarf es Fähigkeiten, die weniger mit Wissen als vielmehr mit eigenen Stärken, mit Mut, Kritikfähigkeit, Vertrauen, Verantwortung etc. zu tun haben (vgl. Fuchs 2000, S. 80). Mentor*innen kennzeichneten sich dadurch aus, dass sich eine Person Fachwissen in einem bestimmten Gebiet aneignete und dieses Lernenden vermittelte. Wissen jedoch ist heute weitgehend zugänglich und weniger exklusiv. Via Computer und Internet werden Theorien, Anleitungen, Reparaturtipps, Rezensionen etc., vermittelt, diskutiert und aktualisiert. Wenn Fachwissen vorhanden und abrufbar ist, liegt die neue (und alte) Aufgabe von Mentor*innen darin, zum Wissenserwerb anzuregen, Neugier zu erzeugen, kritische Fragen zu stellen, Reflexion zu wecken, Themenverknüpfungen herzustellen, Entfaltung zu ermöglichen und das selbstständige Lernen zu begleiten. Mentor*innen wandeln sich im Zuge des Galaxienwandels von Fachmenschen zum Coach. So haben in Fragen der Klient*innenzentrierung und des Coachings Sozialarbeiter*innen bereits heute einen Vorteil: Zentral sind Lebensweltorientierung, Subjekt- und Handlungsorientierung (Thiersch 2002). Die Selbstbefähigung (Herriger 2006, S. 72) ist die Grundlage der Kulturellen Bildung, an der sich auch die pädagogische Arbeit mit Medien anlehnen sollte. Im Hinblick auf den Wandel von der normenregulierten zur präferenzbezogenen Haltung und Entwicklung von Individuen (Ziehe 2005, S. 74) werden insbesondere Fragen nach der individuellen Identitätsarbeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts relevant. Der Galaxienwandel in seiner Theorie aber auch die beraterische Praxis müssen unterschiedliche Erfahrungsräume und Weltaneignungsmechanismen berücksichtigen. Diese werden häufig auch entlang von Altersklassen und Generationen manifestiert. Tatsächlich wachsen Kinder und Jugendliche heute mit einem anderen Selbstverständnis im Umgang mit digitalen Medien auf. 2018 belegte die ARD/ZDF-Onlinestudie, dass Menschen in Deutschland ab dem 50. Lebensjahr durchschnittlich 123 min, ab dem 70. Lebensjahr 37 min täglich das Internet nutzen. Menschen zwischen dem 14. und 29. Lebensjahr hingegen nutzen das Internet im Schnitt 344 min am Tag (siehe: ARD/ZDF-Onlinestudie 2018). Zur Vereinfachung dieser Altersgruppen wird in vielen Publikationen zwischen „Digital Natives“ (digitalen Eingeborenen)

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und „Digital Immigrants“ (digitalen Einwanderern) unterschieden. Schon (1996) hatte John Perry Barlow diese Begriffe in der „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ verwendet. Weiter geprägt wurde diese Trennung von Marc Prensky, der im Artikel „Digital Natives, Digital Immigrants“ in der Zeitschrift „On The Horizon“ (2001) unterschiedliche Lernvoraussetzung für Kinder als „Digitale Natives“ beschrieb, die im Gegensatz zu „Digital Immigrants“ grundlegend anders denken und Informationen verarbeiten. Eine derartige Trennung erscheint bei genauerer Betrachtung jedoch fragwürdig und für die pädagogische Praxis problematisch. Bis heute finden wir diese Differenzierung. Teils werden gar Jahreszahlen als Grenze zwischen Natives und Immigrants formuliert. Auch die Behauptungen Digital Natives verfügen über geringere soziale und höhere technische Fähigkeiten erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht haltbar. Ausschlaggebend für die Geschicklichkeit und Nutzung mit und von Medien sind eher Interessen, Ausbildungen, Handlungsfelder und Hobbys. Eine alternative Beschreibung ließe sich mit den Begriffen „Digital Residents“ (digitale Bleibende) und „Digital Visitors“ (digitale Besuchende) formulieren. Dabei werden zunächst die Gewohnheiten und Vorlieben der Nutzenden in den Blick genommen. „Besuchende“ sind hier keineswegs weniger kompetent. Sie zeichnen sich durch klare Ziele und spezifisches Vorhaben aus. Sie nutzen die Werkzeuge und Informationen, die sie benötigen, und verlassen die Online-Räume wieder. Residents sind dagegen auch deshalb online, um das Netz selbst als Ort sozialer Interaktion zu verwenden. Eine wesentliche Herausforderung des Galaxienwandels mag darin bestehen, stets kommunikative Brücken herzustellen und Trennungen bzw. Ausdifferenzierungen abzubauen. Es gilt eher nach Gemeinsamkeiten als nach Unterschieden zu suchen. Die Umbrüche, welche sich durch den Galaxienwandel vollziehen, führen dennoch zu Skepsis anderen Menschen, Gruppen und Medien gegenüber. Soziale Arbeit hat das große Potenzial an Sehnsüchten, Wünschen und grundlegenden Bedürfnissen anzusetzen und Methoden der Selbstwirksamkeit aufzuzeigen. Dabei kann und sollte sie an ihren Grundlagen und Theorien andocken, sich jedoch auch selbst hinterfragen und als Teil jener Dynamiken verstehen, die sich ebenfalls verändern, von Kommunikationsmedien beeinflusst werden und diese für die Arbeit als Mittler gebrauchen. Auf diese Weise kann Soziale Arbeit, Kulturelle Bildung und Medienpädagogik wichtige Angebote bieten in einer durch Neuerungen und Umbrüchen geprägten Zeit. Wer sich und seine Umwelt reflektiert wahrnimmt, kritisch Prozesse und Interessen anderer und seiner eigenen Person hinterfragt, kann nicht nur sich selbst in einem präferenzorientierten Sinn entfalten, sondern sich zugleich in ein soziales, normatives System einbringen.

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3 Perspektiven der Medienpädagogik auf die Digitalisierung In diesem Wandel, im Prozess der Digitalisierung besteht eine wichtige ­Aufgabe darin, kritisch aber konstruktiv Medien, ihre Erscheinungsbilder und insbesondere ihre sozialen Auswirkungen zu betrachten und zu hinterfragen. Der Medienpädagogik, hier als Disziplin im Kontext der Sozialen Arbeit und der Kulturellen Bildung verstanden, kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Ein großes Problem besteht darin, dass politisch wie gesellschaftlich Medienpädagogik oder Medienbildung überwiegend als Profession in der Vermittlung von Nutzungskompetenzen angesehen wird. Es ist zwar richtig, dass ein großes Unwissen über die technologischen Prinzipien, die der Digitalisierung zugrunde liegen vorherrschen und das wenig bekannt ist, was Daten sind, welche Rolle sie ökonomisch spielen oder wie mithilfe von Daten in das Leben der Menschen eingriffen wird. Trotzdem geht es eben nicht zuerst darum wie Menschen neue Geräte bedienen können. Vielmehr geht es darum reflektiert sich und sein persönliches Mediennutzungsverhalten zu betrachten, nach Transfermechanismen auch in nicht-medialen Kontexten zu suchen und Medien als Werk- und Spielzeuge für einen genussvollen und gelingenden Lebensalltag zu verwenden. Hier scheint es jedoch Dynamiken zu geben, die dem nicht zwingend zustimmen. Simanowski formuliert kritisch, dass offenbar eine politische Entscheidung getroffen wurde, Medienbildung als Vermittlung von Mediennutzungskompetenz zu betreiben, kaum aber als Medienreflexionskompetenz (vgl. Simanowski 2018, S. 198). Dabei ist besagte Reflexion oder Kritik längst eine der Säulen in der Medienpädagogik und sollte im Zuge der Digitalisierung in der Ausbildung zur Beratung, Lehre und der Sozialen Arbeit Pflichtbestandteil werden. Bezogen auf die Auseinandersetzung mit Digitalisierung von Beratung noch einmal mehr, da Medienpädagogik immer schon auf den Theorien der Erziehungswissenschaft und Kommunikationswissenschaft fußt und somit die hier diskutierten Bereiche fusioniert. Medienpädagogik sieht sich dem Streben nach der Vermittlung von Medienkompetenzen verpflichtet. Sie stand und steht dauerhaft vor der ­Aufgabe, neue Entwicklungen der Gesellschaft und der Medien zu betrachten und eigene Positionen darzustellen (vgl. Süss et al. 2010, S. 60). Somit ist sie im Zuge der Digitalisierung an eine Schlüsselstellung gerückt. Tatsächlich wird Medienkompetenz häufig und von vielen Seiten als Antwort auf die aktuellen ­Herausforderungen formuliert. Es erscheint jedoch ebenso wichtig wie notwendig wiederkehrend auf das aufmerksam zu machen, was hinter dem Begriff Medienkompetenzen steht.

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Schon die Blickwinkel auf das medienpädagogische Verständnis können sich unterscheiden. Für Vertreter*innen, die Medienpädagogik eher als bewahrpädagogisch auffassen und verstehen, gilt es in erster Linie, Kinder und Jugendliche vor schädlichen Einflüssen in Medien zu schützen. Im Zusammenhang auf die Digitalisierung würde man demnach den Datenschutz, den Kinder- und Jugendmedienschutz sowie Gewalt- und Suchtwirkungen in den Fokus rücken. Gleichzeitig sieht sich insbesondere diese Auffassung – angesichts der enormen Zugänglichkeit und Komplexität – in den letzten Jahren einer gewissen Ohnmacht ausgesetzt. Ohne Frage ist diese Sichtweise zwar nach wie vor wichtig, kann jedoch nur sehr bedingt bei der Herausbildung von persönlichen Medienkompetenzen dienlich sein. Die kritisch-emanzipative Medienpädagogik lehnt sich an die Theorien der Frankfurter Schule und der kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno an. Sie steht für Aufklärung, Auseinandersetzung und kritisches analysieren von Medien, Medieninhalten und dem eigenen Medienagieren (vgl. Schiefner-Rohs 2013, S. 3). Allerdings werden Rezipient*innen dabei oftmals als passive Individuen nach dem Reiz-Reaktionsschemata aufgefasst. Vor allem Identitätsbildungsprozesse von Jugendlichen spielen hier eine große Rolle. Berücksichtigt man den enormen Einfluss sozialer Medien und die o. g. Herausforderungen des Galaxienwandels auf die Identitätsarbeit, wird deren Bedeutsamkeit offenbar. Insbesondere Politik und Wirtschaft nehmen häufig eine bildungstechnologische Perspektive auf die Medienpädagogik ein. Medien werden dabei danach betrachtet, welche Rolle sie im Einsatz von Lern-, Arbeits- und Bildungsprozessen spielen können. Es geht dabei um eine Verbesserung und Effizienz des Lernens und Arbeitens. Medien lassen sich dabei als nützlich und unnütz unterteilen entsprechend ihrer Potenziale. Im Zuge der Digitalisierung von Sozialer Arbeit wird diese Perspektive oftmals gewählt, wenn es darum geht, wie Beratung via Internet stattfinden kann. Tatsächlich bieten sich dabei neue Möglichkeitsräume. Es besteht jedoch das Risiko Medien lediglich als Werkzeuge und nicht als eigenständig wirkendes Element zu reduzieren sowie das Risiko den Bedarf der Klient*innen zu verfehlen. Anders ist dies bei der handlungsorientierten Medienpädagogik, die nicht etwa das Medium, sondern den Mensch im Fokus sieht, welcher Medien in sein soziales Handeln integriert (vgl. Schorb 1995, S. 75). Klient*innen dieser Medienbildung werden als gesellschaftliche Individuen gesehen, die ihre Lebenswelt mit Hilfe von Medien aktiv gestalten, die ihre eigenen Positionen

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a­usdrücken und von anderen Entwürfen profitieren bzw. partizipieren. Dabei ­kritisch zu sein, versteht sich eher im Sinne von (Selbst-)Reflexion. Da sich Technologien rasch wandeln mag eben hierin das langfristige Potenzial liegen. Dabei sollten auch Sozialarbeiter*innen ihre eigene Medienbiografie reflektieren und diese in Abgleich mit ihren Klient*innen bringen. Zunächst sollten sich demnach medienpädagogisch Aktive – und dabei handelt es sich zunehmend auch um Sozialarbeiter*innen und Lehrende – dieser Sichtweisen bewusst sein. Es liegt nahe, dass sich diese Perspektiven häufig nicht scharf voneinander abgrenzen lassen und vielmehr als Mischformen bestehen. Dennoch gilt es auch andere Auffassungen zu kennen bzw. die eigene argumentativ begründen zu können (Tab. 1).

Tab. 1   Übersicht der Medienkompetenzen (Hofmann 2006) Aufenanger (1997)

Baacke (1997b) Groeben (2002)

Moser (2000)

Tulodziecki (1997)

Technische Kompetenzen

Medienangebote sinnvoll auswählen und nutzen

Moralische Medien-Kritik Dimensionen

Medienspezifische NutzungsRezeptionsmuster Kompetenzen

Eigene Medienbeiträge gestalten und verbreiten

Soziale MedienDimensionen Nutzung

Medienbezogene Genussfähigkeit

Gestalterische Kompetenzen

Mediengestaltung verstehen und bewerten

Affektive Medien-­ Dimensionen Gestaltung

Medienbezogene Kritikfähigkeit

Reflexive Kom- Medieneinflüsse petenzen erkennen und aufarbeiten

Ästhetische Dimensionen

Selektion/Kombination von Mediennutzung

HandlungsDimensionen

Partizipationmuster

Kognitive Medien-Kunde Medienwissen/ Dimensionen Medialitäts bewusstsein

Anschlusskommunikationen

Bedingungen der Medienproduktion & -verbreitung erfassen

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Für die Praxis der Beratung erscheint es relevant einen genaueren Blick hinter die einzelnen Medienkompetenzen zu werfen. Oftmals fühlen sich Berater*innen diesbezüglich überfordert und neigen bisweilen dazu, einer vielleicht anstrengenden Auseinandersetzung mit ihnen dadurch aus dem Weg zu gehen, indem sie sich selbst jedwede Medienkompetenz absprechen und diese den Digital Residents zuschreibt. Dies wäre jedoch ebenso fahrlässig wie verkehrt. Zur Vereinfachung wird hier auf die populären Dimensionen eingegangen, die Dieter Baacke beschrieb. Dabei soll zugleich erörtert werden, ob die beschriebenen Kompetenzen, wie häufig vermutet, tatsächlich so eindeutig aufseiten der Kinder und Jugendlichen zu verorten sind. Fänden sich jedoch auch Ressourcen aufseiten der Beratenden, entstünden Schnittstellen und Ansatzpunkte zum Austausch und zur gegenseitigen Wertschätzung. Medienkritik meint die Analyse problematischer, gesellschaftlicher Vorgänge und die Auswirkungen auf die persönliche Haltung. Es geht um die Reflexion des eigenen Medienhandelns innerhalb der Gesellschaft. Man sollte davon ausgehen, dass Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und andere Multiplikator*innen durch ihre Ausbildung in der Lage sind, derartige Vorgänge kritisch zu betrachten und Kindern und Jugendlichen behilflich sein können dies ebenfalls zu leisten. Medienkunde zielt auf das Wissen über heutige Medien und Mediensysteme. Sie beschreibt die Fähigkeit neue Geräte und Technologien anwenden zu können, aber auch Kenntnisse über Entstehungsprozesse zu haben. In der Bedienung von digitalen Technologien mögen Kinder und Jugendliche, die mit ihnen aufgewachsen sind tatsächlich einen Vorteil haben. Dies gilt jedoch nicht zwangsläufig auch für die Auseinandersetzung mit deren Entstehungsprozessen. Mediennutzung beschreibt Kompetenzen in der eigenen persönlichen Programmoder Dienstnutzung. Dabei geht es sowohl um rezeptiv-anwendende Tätigkeiten als auch interaktive Handlungen. Die letzte Medienkompetenz nach Baacke ist die Mediengestaltung. Damit sind Fähigkeiten beschrieben, Medien zur eigenen innovativen und kreativen Ausdrucksweise zu verwenden (vgl. Baacke 1997a). Da dies keineswegs auf digitale Medien eingegrenzt ist, geht es nicht zuerst um das Bedienen von Technologien, sondern den Selbstausdruck. Gerade in der ­Kulturellen Bildung ist dieser Aspekt bedeutend und es darf davon ausgegangen werden, dass Anleitende Erfahrung und Kompetenzen mitbringen. Wollte man diese „Vergleichsrechnung“ auswerten, ergäbe sich eine spannende Pattsituation. Digital Residents und Digital Visitors, verfügen beide über Ressourcen hinsichtlich der Medienkompetenzen. Somit gilt es im Zuge der Digitalisierung von Beratung auch auf bereits vorhandene Fähigkeiten von Fachkräften aufmerksam zu machen und Ansatzpunkte für die Beschäftigung mit Medienkompetenzen zu finden. So zu tun als würde gänzlich neue Befähigungen

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benötigt werden ist falsch, zu einfach und darf nicht davor schützen sich diesen Aufgaben zu stellen. Zugleich stehen natürlich die zu Beratenden im Blickfeld. Nicht immer handelt es sich bei ihnen um Kinder und Jugendliche. Auch allen anderen ist ein Stück geholfen, wenn im Sinne des Empowerment auf bereits bestehende Kompetenzen aufmerksam gemacht wird. Die Kompetenzen und Voraussetzungen im Umgang mit Medien beziehen sich auch und insbesondere auf Grundlagen der Kommunikation.

4 Grundlagen zwischenmenschlicher Kommunikation in Bezug auf die Digitalisierung Die Namen Friedemann Schulz von Thun, Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don. D. Jackson, Niklas Luhmann, Carl Rogers u. v. a. sollten allen in der Sozialen Arbeit tätigen geläufig sein. Ihre Grundsätze und Axiome haben, insbesondere wenn sie als Haltung verinnerlicht sind, nach wie vor enorme Bedeutung für die beraterische Praxis, für die Gesprächsführung und jeder Art von zwischenmenschlicher Kommunikation. Dies gilt ebenso, wenn Beratung medial gestützt verläuft. Auch wenn oder gerade weil diese Grundlagen eher Bestandteil der Lehre niedriger Semester ist, lohnt es sich einen wiederholenden Blick darauf zu werfen, gedankliche Verknüpfungen herzustellen bzw. zu festigen und sie in ihrer Gültigkeit hinsichtlich der Digitalisierung von Kommunikation und Beratung zu überprüfen. Sollten sich Unvereinbarkeiten zwischen Kommunikationsgrundlagen und Digitalisierung ergeben, muss dies nicht automatisch die Richtigkeit der Aussagen o. g. Autor*innen infrage stellen, sondern könnte zur Entwicklung von Qualitätskriterien für die Digitalisierung in der Beratung führen. Ohne Gelegenheit zur Vertiefung, dafür mit dem Anspruch einer gewissen Vollständigkeit, sollen in der Folge Aspekte der nonverbalen, extraverbalen und verbalen Kommunikation betrachtet werden und dahingehend überprüft, ob eine Digitalisierung bzw. mediale Übersetzung stattfinden könnte bzw. unter welchen Umständen. Dazu sei der Fokus von Kommunikation auf die sozialen Prozess zwischen Menschen (Hoffmann 2003, S. 51) gelenkt und die animalische, biologische sowie maschinelle Kommunikation außen vor gelassen. Prinzipiell sei festgehalten, dass jede Form von Gemeinschaft oder sozialem System durch den Austausch von Mitteilungen, also Kommunikation ent- und besteht (Luhmann 1984, S. 218). Hierauf verweist sprachlich auch die lateinische Herkunft: communicatio  = Mitteilung/communio = Gemeinschaft/communicare = gemeinschaftlich beraten. In der Beratung nimmt selbstverständlich die interpersonale Kommunikation zwischen Individuen die bedeutendste Rolle ein.

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Im Verlauf wird jedoch deutlich, dass diese zwangsläufig und vor allem in Bezug auf nonverbale Aspekte auch von intrapersonaler Kommunikation (Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Selbstgespräche) beeinflusst ist. Häufig drückt sich intrapersonale Kommunikation körpersprachlich aus, die sich von geübten Berater*innen deuten lässt. So ist Kommunikation jede Form des Verhaltens zueinander, findet bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unbeabsichtigt, redend oder schweigend, zu- oder abgewandt statt. Menschliche Kommunikation ist also ein unabdingbarer und komplizierter Prozess. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Kommunikation in der Digitalisierung muss sich auch intensiv mit den bestehenden Kommunikationsmodellen auseinandersetzen. Hier sei lediglich erwähnt, dass das Transmissionsmodell der technischen Signalübertragung, von Claude E. Shannon und Warren Weaver (Shannon und Weaver 1976), obwohl aus der Mathematik stammend, dennoch in der Sozialen Beratung skizziert wird, für Beratungskontexte kaum ausreicht. Aufermann erweiterte das Transmissionsmodell um den Zeichenvorrat. Nur wenn eine gemeinsame Schnittmenge existiert, wird Kommunikation überhaupt möglich (Aufermann 1971, S. 13). Diese Schnittmenge kann (und sollte) niemals gänzlich übereinstimmen. Auch für die Auseinandersetzung mit digitalisierter Beratung wird dies in der Folge hohe Relevanz haben. Ebenso wie das Wechselmodell von Kron und Sofos (2003) das beschreibt, dass zwischenmenschliche Kommunikation permanent wechselseitig und vieldimensional stattfindet. Dabei wird deutlich betont, dass der Inhaltsaspekt von Beziehungsaspekt überlagert wird (2. Axiom nach Paul Watzlawick, Erstveröffentlichung 1967). Wenn sich die Beratung also nicht allein auf die Vermittlung von Sachinformationen beschränkt, geht es zuerst um Beziehungsarbeit. Menschen weisen ein individuelles Gedächtnis und Bewusstsein auf (Luhmann 1981, S. 26). Somit ist es unwahrscheinlich, dass der eine den anderen in dessen Gedankensinn versteht. Zuverlässige Kommunikation ist nach Niklas Luhmann also unwahrscheinlich. Gleichzeitig postuliert Paul Watzlawick, dass es nicht möglich ist nicht zu kommunizieren (1. Axiom nach Paul Watzlawick). Die beiden Prämissen gelten auch für digitalisierte Beratung. Selbst das Ausbleiben einer Nachricht kann gewertet werden und natürlich ist es ungewiss, ob sich Klient*innen und Berater*innen via Telefon, Mail, Voice over IP oder Webcam gänzlich verstanden haben. Es ist nicht nötig in die Esoterik abzugleiten um zwischenmenschliche ­Kommunikation auch als Sozialenergie zu verstehen. Fürsorge, Interesse, Verständnis, Liebe und Kritik sind wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung (Ammon 1982) und (non)verbale Zuwendung stärkt Selbstheilungskräfte. Um sich dieser Möglichkeiten und Verantwortung bewusst zu sein, ist es hilfreich sich aller Facetten von Kommunikation bewusst zu sein und sie zu nutzen. Im

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Gesamtspektrum zwischenmenschlicher Kommunikation nimmt die v­erbale Ebene erstaunlicherweise den kleinsten Anteil ein. Im sogenannten Eisbergmodell (Ruch und Zimbardo 1974, S. 367, in Anlehnung an Siegmund Freud), welches vereinfacht das Spektrum der face to face Kommunikation aufschlüsselt, werden nonverbale Anteile zu 55 % beschrieben, paraverbale Zeichen (Stimmklang, Stimmhöhe usw.) zu 38 % und lediglich 7 % der verbalen Ebene zugesprochen. Es wird demnach im Verlauf zu hinterfragen sein, inwieweit die Digitalisierung von Beratung in der Lage ist auch und insbesondere non- und paraverbale Anteile zu vermitteln bzw. inwieweit eine Reduktion nonverbaler Anteile vielleicht sogar von Vorteil sein kann. Wichtig bleibt dennoch festzuhalten, dass unser Körper ein Resonanzraum ist mit dem wir fortwährend Impulse senden und empfangen. Nonverbale Kommunikation Körpersprache ist die älteste und bedeutendste Kommunikationsform. Sie zu ersetzen ist auch im Zuge der Digitalisierung kaum das wünschenswerteste Ziel. Denn nonverbale Zeichen sind sehr viel effektiver als verbale Signale (Muccielli 1974) und deutlich glaubhafter. Das Bewusstsein über nonverbale Kommunikation (die eigene und die des Gegenübers) ist für Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen und Angehörige des Gesundheitswesens (Pflege) eine Schlüsselqualifikation (vgl. Janicek 1990). Dennoch ist Nonverbales und Verbales meist untrennbar vereint. Nonverbale Kommunikation leistet unter anderem die Bekräftigung des verbalen Kanals, kann im Widerspruch zu Gesagtem stehen, kann Worte ersetzen, kann Ausdruck affektiver Zustände sein und erlaubt Aussagen über die Beziehungen der Kommunikator*innen. Für eine Prüfung der Möglichkeiten von medialer Beratung, ist es hilfreich nonverbale Kommunikation nochmal auf ihre Bestandteile hin zu differenzieren. Nonverbales meint in diesem Zusammenhang zunächst Mimik, Gestik, Körperbewegungen & -haltung sowie Blickkontakt. Paraverbal umfasst wie angedeutet Stimmklang, Betonung, Sprechdauer, Stimmqualität, Rhythmus und Sprechstörungen. Dazu kommen noch extraverbale Bestandteile wie Tasten, Riechen, Schmecken, Raumverhalten (Proxemik) und das Erscheinungsbild (Kleidung, Schmuck etc.). Helfrich und Wallbott (1980) unterscheiden diesbezüglich zwischen motorischen Kanälen, physiochemische Kanälen (olfaktorisch, gustatorisch, taktil, thermal) und ökologische Kanälen (Territorialverhalten, interpersonale Distanz, Sitzverteilung, Möbelarrangement, Haare etc.). Nonverbale Signale sind stets mehrdeutig und nicht klar zu definieren. Sie in einem Beratungskontext zu digitalisieren und zu übertragen kann angesichts der Kanäle und Funktionen mit heutiger Technologie nicht verlustfrei gelingen.

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Dies bedeutet nicht, dass medial vermittelte und kommunikativ reduzierte Beratung nicht ihren eigenen Stellenwert einnehmen kann. Gerade in der Reduktion können auch Vorteile verortet werden. Gleichwohl sind Kommunikationsstörungen und ihre Bearbeitung häufig sowohl Anlass für Beratungsbedarfe als auch innerhalb eines Beratungskontextes relevant. Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt (3. Axiom nach Paul Watzlawick). Wenn Kanäle eingeschränkt werden, mag dies die Suche nach den verschiedenen Interpunktionen möglichweise erschweren und könnte im schlechtesten Fall zur Entwicklung neuer Kommunikationsstörungen führen. Dies lässt sich am besten dadurch vermeiden, indem sich beide Kommunikationspartner über die Möglichkeiten und Grenzen des jeweils eingesetzten Mediums bewusst sind. So sollte zum Bespiel ein Informationsangebot auf einer Website zwar leicht zu finden, verständlich und lesbar sein, es wird jedoch weder Kommunikator noch Rezipient davon ausgehen, dass Signale der Körpersprache dabei eine Rolle spielen. Die bisher eingeflochtenen Axiome lassen sich um zwei weitere ergänzen. Für die Auseinandersetzung von Digitalisierung der Beratung ist dabei vor allem das 4. Axiom von Bedeutung und kann sprachlich zu Irritationen führen. Darin beschreibt Watzlawick, dass menschliche Kommunikation sich digitaler und analoger Ausdrucksmittel bedient. Hier jedoch ist nicht etwa von der Digitalisierung im Sinne einer Übersetzung in 1 und 0 die Rede. Für Watzlawick galt die Sprache, also verbale Ausdrucksmittel als digitale Modalität. Nonverbale Ausdruckmittel bezeichnet er demnach als analog. Darin wird deutlich, dass digitale Kommunikation eine komplexe und vielseitig logische Syntax hat, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen hingegen besitzen dieses semantische Potenzial, ermangeln aber die für eindeutige Kommunikation erforderliche Syntax. Für die Digitalisierung von Beratung wird ausschlaggebend sein, welche Inhalte an welche Zielgruppe gerichtet sind. Zur Vollständigkeit sei auf das 5. Axiom aufmerksam gemacht. Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind demnach entweder symmetrisch oder komplementär. Auch dies ist für die beraterische Praxis zwingend zu berücksichtigen. Da Kommunikation fast immer kreisläufig verläuft (siehe Kommunikationsmodelle), beeinflusst die Kommunikation auch die Beziehung der Beteiligten zu einander. (Wenn die Kommunikation im Sinne einer reinen Information, z. B. auf einer Website einseitig verläuft, könnte man kritisch hinterfragen, ob hier überhaupt von Beratung im Sinne Sozialer Arbeit die Rede sein kann). Zwischen den Kommunikationspartnern gibt es entweder eine gleichberechtigte Beziehung oder eine mit unterschiedlichen Hierarchiestufen. Die gleichberechtigte nennt Watzlawick „symmetrisch“, die mit einem Machtgefälle

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Tab. 2   Vermittlung nonverbaler Kanäle durch Medien mediale Kanäle komm. Kanäle Körperhaltung Gestik Mimik Blickverhalten Stimmklang Betonung Sprechstörungen Territorialverhalten interpersonale Distanz Möbelarrangement Schmuck/Tattoos

Websites

möglich, / teilweise möglich,

Chat/Mail

Telefon/ Voice over IP

Webcam (Bild & Ton)

virtuelle Realität (VR)

aktuell nicht möglich

„komplementär“. Beide Formen sind im Kontext der Beratung anzutreffen und zu berücksichtigen. In der Digitalisierung werden Machtgefälle häufig im Sinne von Zugänglichkeit medialer Systeme, der Beherrschung in deren Anwendung und der Datennutzung offenbar. Es ist schwierig dies sowohl für Gesprächsinhalte als auch deren Metaebene (z. B.: den Gesprächsraum) hin aufzuschlüsseln. Um etwas Übersicht zu gewährleisten, lässt sich an dieser Stelle eine Tabelle einfügen, in welcher nonverbale Kanäle und verschiedene Medien (beides nur beispielhaft) auf ihre Vermittlungsmöglichkeiten hin überprüft werden. Die Beurteilung geht dabei davon aus, dass beide Kommunikationspartner*innen über die gleichen Ressourcen verfügen. So kann die Präsentation eines Bildes, eines Textes auf einer Website bzw. das Erfassen der Augenbewegungen oder der Stimme durch Sensoren, ohne Möglichkeit einer ähnlichen Reaktion bzw. Antwort nicht als erfüllendes Kriterium angesehen werden (siehe Kreismodell). Obwohl dabei zunächst die Reduktion bestimmter Medienkanäle deutlich wird, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass sie im Zuge von Beratung keine Rolle spielen (Tab. 2). Verbale Kommunikation Die Einschränkungen der nonverbalen Aspekte legen nahe, dass sich digitalisierte Beratung insbesondere verbaler und textlicher Kanäle bedient. Für den Austausch von Informationen mag dies durchaus zweckdienlich sein. Verbale Kommunikationsgrundlagen der Beratung sind gleichwohl sehr viel komplexer. Hier kann keine umfassende Darlegung verbaler Beratungstechniken vollzogen werden. Einige theoretische Ansätze sollen dennoch auf ihre Verwendung in der Digitalisierung überprüft werden.

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Kommunikation bedeutet Verständigung, Mitteilung, Interesse und Austausch. Sie ist daher eng mit der sozialen Interaktion verbunden. Lediglich im Falle misslingender Kommunikation fragen wir nach Kommunikationsregeln, -prinzipien und -mustern. Menschliche Kommunikation gliedert sich, wie beschrieben, in intrapersonale und interpersonale Kommunikation sowie Massenkommunikation. Viele der aktuellen „Beratungsangebote“ im Internet vollziehen sich als Massenkommunikation und dienen somit als Informationsangebote. Ohne Frage ist die Zugänglichkeit von Informationen ein wichtiger Bestandteil, auch der Sozialen Arbeit. Dennoch entspricht dies einer sehr ökonomischen Auffassung von Beratung, bei der die Verantwortung eines bestimmten Informationsstandes auf Seiten der Klient*innen gelegt wird. Gänzlich außen vor bleibt dabei jede Form der Beziehungsarbeit. Dieser emotionale Anteil jeder Kommunikation darf neben dem rationalen Informationsanteil nicht vergessen werden und nimmt gerade im Zusammenhang von Sozialer Arbeit den größeren Anteil ein. Wir schaffen mit Gesagtem stets eine emotionale Gesprächsatmosphäre, die Grundlage jeder weiteren Kommunikation und Sympathie ist. Der Beziehungsaspekt bestimmt den Inhalt. Beziehungen benötigen innere Beteiligung der Kommunizierenden. Dies geschieht normalerweise durch Wertschätzung, Empathie und Echtheit. Im Sinne der Aussage „Das Medium ist die Botschaft“ werden diese drei Aspekte auch durch die Wahl des Mediums vermittelt oder eben ausgelassen. Es macht einen Unterschied, ob man ein persönliches Gespräch führt, einen handgeschriebenen Brief erhält, einen Anruf führt oder eine künstliche Intelligenz auf Fragen antwortet. Eine gelingende Beratung hat auch die Aufgabe zunächst den bevorzugten Kommunikationskanal ihrer Klient*innen herauszufinden und deren Aufmerksamkeit zu fokussieren. Das bedeutet für Berater*innen: Das primäre Kommunikationssystem des Gesprächspartners zu erkennen und sich darauf einzustellen. Dabei lautet der einfache Grundsatz: Gesagt ist noch nicht gehört (Kanalorientierung). Gehört ist noch nicht verstanden (Feedbackregeln). Verstanden ist noch nicht einverstanden (Wechselwirkung). Für eine erfolgreiche Kommunikation ist zuerst der Sender und nicht der Empfänger verantwortlich. Da es stets dennoch zu Störungen kommen kann, gilt es, sich zu vergewissern, ob das Gegenüber die Mitteilung richtig verstanden hat. Dies kann bei reiner Informationsbereitstellung nicht erfolgen. Via Telefon, Mail, Webcam oder VR ist dies zwar etwas eingeschränkt aber gleichsam möglich. Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, dass der Sender für ein Missverständnis verantwortlich ist. So gilt es Rückkopplungen vorzunehmen, Nachfragen zu stellen und Missverständnisse zu klären. Gerade wenn wichtige Bereiche der Kommunikationskanäle eingeschränkt sind.

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Auch die Transaktionsanalyse von Eric Berne (1970) sowie das Innere Team und natürlich das Vier-Seiten-Modell (Schulz von Thun) sollten in ihrer Bedeutung und Rolle auf die Digitalisierung von Beratung überprüft werden. Letzteres sei hier lediglich kurz umrissen. Die vier Seiten (Sachinhalt, Beziehung, Appell und Selbstoffenbarung) sind Bestandteil jeder Kommunikation und lassen sich durch die Gesprächspartner subjektiv betonen bzw. deuten. Digital verlaufende Kommunikation, insbesondere wenn ohne Wechselwirkung verlaufend, legt jedoch den Schwerpunkt auf den Sachinhalt. Die Beziehung, also wie der Sender zum Empfänger steht, was er von ihm hält, wen er glaubt vor sich zu haben, wird vermutlich eingeschränkt. Die Art und Weise wie Menschen sich begegnen macht deutlich, was sie von einander halten. An dieser Stelle steht die gesamte Digitalisierung als Aussage unserer Epoche und kann Gegenstand philosophischer und anthropologischer Auseinandersetzungen werden. Die Appellebene besagt, dass eine Nachricht auch Einflussnahme intendiert. Der Versuch der Einflussnahme kann offen oder verdeckt erfolgen. Die Art wie und was jemand sagt, gibt (bewusst oder unbewusst) Auskunft über die momentane Stimmungslage. Damit ist die Selbstoffenbarung beschrieben. Der Empfangende zieht seine Schlüsse über den Sendenden auch aus den Informationen die die Wahl des Mediums betreffen. Eine der wohl wichtigsten und bekanntesten Beratungsgrundlagen ist das Aktive Zuhören (Rogers 1985). Mit dieser Methode soll der/die Klient*in befähigt werden selbst Lösungen für die eigenen Probleme zu finden. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Klient*innen Bedürfnisse, Gefühle, Empfindungen und Gedanken dem Beratenden nur verschlüsselt mitteilen (zusätzlich zur medialen Verschlüsselung). In vielen Fällen kann der oder die Klient*in in der Zeit einer Krise kaum den eigenen Bedarf artikulieren und benötigt schon bei der Problemverortung Hilfestellung. Beratende müssen demnach eine Vielzahl von Botschaften auf verschiedenen Ebenen entschlüsseln. Die Zugänglichkeit dieser Informationen, vor allem bei stark reduzierten nonverbalen Anteilen, steht hier infrage. Professionelle Berater*innen senden beim Aktiven Zuhören keine eigenen Botschaften, übernehmen nicht die Problemeigentümerschaft und, hier besonders wichtig, geben keine Ratschläge, Argumente, Meinungen, Tröstungen, Ablenkungen usw. Carl Rogers veranschaulicht den Prozess des Hörens und Verstehens in vier Stufen: wahrnehmen und erkennen (1), zuordnen (2), abwägen und beurteilen (3) sowie antworten (4). Hier wird abermals deutlich, dass Beratende ein möglichst komplexes Bild ihres Gegenübers benötigen. Rogers beschreibt für jene drei Axiome. 1. Empathische und offene Grundhaltung. 2. Authentisches und kongruentes Auftreten. 3. Akzeptanz und bedingungslose positive Beachtung der anderen Person (Rogers 1985).

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Es ließen noch viele weitere Grundsätze der Beratung ergänzen. Aber auch aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, einen digitalen Ersatz oder eine Beratung ausschließlich auf medialer Ebene kann kein direktes face to face Beratungsgespräch ersetzen. Allerdings ist dies meist auch nicht das angestrebte Ziel. So stellt sich die Frage, welchen positiven Beitrag Digitalisierung für das Zusammenleben in modernen Gesellschaften, konkret für Beratungsleistungen einnimmt?

5 Potenziale und Kritik bzgl. der Digitalisierung der Kommunikation und in der Sozialen Arbeit Auf den vergangenen Seiten wurden vielfältige Einschränkungen einer digitalisierten Beratung gegenüber der direkt-personalen Beratung offenbar. Berücksichtigt man jedoch, dass Anonymität, Scham, Ängste, zeitlich-regionale Unvereinbarkeiten u. v. a. Aspekte bisweilen eine große Hürde für face to face Gespräche sind, werden auch Potenziale einer medialen Beratung offenbar. Über dies lautet ein wichtiger Grundsatz der Sozialen Arbeit lebensweltorientiert (Thiersch 2002) zu agieren. Dies schließt ein, jene Kommunikationskanäle zu nutzen, die bestimmte Szenen oder Zielgruppen favorisieren. Auch die Medienpädagogik beinhaltet das Credo, dass es notwendig ist, sich aus pädagogischer bzw. sozialarbeiterischer Sicht mit der Mediatisierung (siehe: Krotz et al. 2017) und ihren Begleiterscheinungen auseinanderzusetzen. Das E-Mails, Chat, Server, Informationsrecherche usw. auch innerhalb von sozialen Organisationen inzwischen alltägliche Arbeitsmedien sind, trennt die Blickwinkel der Digitalisierung in der Sozialen Arbeit auf die Prozesse innerhalb des Mitarbeiter*innenkreises und zu Klient*innen. Zudem hat Soziale Arbeit stets auch eine politische Dimension. Mitunter ist es daher nötig und sinnvoll Massenmedien oder virale Medien zu Verbreitung von Statements einzusetzen (Abb. 1). In den sozialen Institutionen werden auch die Mitarbeiter*innen vernetzt. Dies führt nicht nur zu leichterer Archivierung, Zugänglichkeit und Sortierung von Daten, sondern kann auch das Zusammenspiel zu anderen Einrichtungen verbessern. In Hinblick auf die Grundlagen der Kommunikation geht es jedoch auch um Veränderungen im größeren und abstrakten Sinn. Wenn Kommunikation die Basis für Soziales und Konstruktives ist, dann wirken sich neue Medien auch auf die Art und Weise des Denkens, Arbeitens und Lebens aus. Die Digitalisierung kann dabei aktuell durchaus als ein Versatzstück der Ökonomisierung betrachtet werden und wird von Menschen in diesem Sinne gestaltet und verwendet. Eine

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Abb. 1   Bereiche der digitalisierten Kommunikation in der Sozialen Arbeit Kommunikaon mit Klient*innen

Kommunikaon in der Organisaon

Kommunikaon in der Öffentlichkeitsarbeit

Durchdringung ökonomischen Denkens, in welchem Begriffe wie Wachstum, Effektivität, Fehlerintoleranz, Gewinn und Nützlichkeit dominieren, darf dabei durchaus kritisiert werden. Im Kontext des Controllings von Mitarbeiter*innen geht es bedenklich oft um möglichst gewinnbringendes Arbeiten. Das Computer Menschen in ihrer Arbeit ersetzen mag im Sinne eines ökonomischen Denkens womöglich erwünscht sein. Wie eingangs jedoch formuliert, scheint dies zumindest in der Sozialen Arbeit noch in ferner Zukunft zu liegen. Gelänge es Digitalisierung insbesondere zur strukturellen und organisatorischen Transparenz einzusetzen, könnten Mitarbeier*innen, Klient*innen und Kostenträger sich auf unbürokratischere Aufgaben konzentrieren. Wichtig bleibt jedoch stets im Blick zu behalten: „Die Zielsetzungen Sozialer Arbeit kann nicht auf die Erfüllung bürokratischer Vorgaben, sondern muss auf die Lösung sozialer Probleme und damit den Nutzen für die Klient*innen sowie die Gesellschaft ausgerichtet sein. Diese Zielsetzung muss immer vor der Dokumentation, dem Controlling, der Struktur und bürokratischen Organisation stehen. Und dazu kann Digitalisierung positiv beitragen, wenn digitalisierbare Arbeiten sinnvoll durch digitale Technologien übernommen werden. Wenn das Ausfüllen und die Auswertung des Beobachtungsbogens in der Kita digital schneller gehen, bleibt mehr Zeit für die Begleitung des Kindes. Berichte kann man auch in stationären Settings – einen entsprechenden Datenschutz vorausgesetzt – remote (also von überall aus) verfassen, wodurch sich flexible Möglichkeiten der Arbeitsplatz- und Zeitgestaltung ergeben, damit einfach und ohne große Kosten Attraktivitätssteigerungen als Arbeitgeber hervortun.“ (Epe und Geyer 2018, S. 11)

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Abb. 2   Kommunikations- & Informationsmöglichkeiten für die Soziale Arbeit (Epe und Geyer 2018, S. 14)

Allerdings handelt es sich dann nur indirekt um den Einfluss der Digitalisierung auf die Beratung. Betrachtet man die Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit ergibt sich ein komplexes Bild (Abb. 2). In der Grafik wird auch auf Irritationspunkte hingewiesen. Tatsächlich sind Datenschutz und das Stichwort „BigData“ zwingend zu berücksichtigende Aspekte. Viele Sozialarbeiter*innen oder Einrichtungen sehen sich (teils durch Klient*innen) bewogen jene Tools für ihre Arbeit zu verwenden, die in der privaten Kommunikation zum Standard geworden sind. WhatsApp, Facebook Messenger, Instagram, Snapchat und Co. erfüllen jedoch überwiegend nicht die wesentlichen Datenschutzanforderungen. Nicht zuletzt deshalb, weil eben jene ausgetauschte Daten der zentrale Teil des Geschäftsmodells sind. So wird Datenschutz möglicherweise zukünftig eines der zentralen Unterscheidungskriterien

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zwischen dem Angebot von sozialen Dienstleistungen der freien Wirtschaft und dem Non-Profit-Bereich sein. Es ist keine Science-Fiction, dass Computersysteme mittels unterschiedlicher rezeptiver Technologien (z. B.: Sensoren im Smartphone: Kameras, Audioaufnahme, Hallsensor, Neigung, Gleichgewicht, Annäherung, Umgebungslicht, Gyroskop, Beschleunigung, Ortung [GPS], Kompass, Thermometer, Spannungsmesser, Augenbewegung, Fingerabdruck, Pulsmesser, Luftdruck, Tippgeschwindigkeit etc.) eigenständig und für den Nutzenden nicht zwangsläufig kontrollierbar in der Lage sind, vielzählige Daten zu erfassen und weiterzuleiten. Auch wohin diese Daten konkret gehen und welcher Rechtsprechung sie unterliegen ist selten transparent. Bekannt ist jedoch, dass sie insbesondere zu Werbe- und Verkaufszwecken genutzt werden. Auch viele Cloud-Systeme, auf denen Nutzende selbst Daten ablegen und mithilfe derer ortsunabhängig arbeiten können, sind häufig in Sachen Datenschutz fragwürdig. Die Kommunikation im digitalen Raum vollzieht sich somit oft zwischen den jeweiligen Menschen und zugleich zu einer eher unbekannten Entität. Die schiere Menge an Informationen macht es unwahrscheinlich, dass Daten dabei von anderen Menschen eingesehen oder bearbeitet werden (Einzelfälle ausgenommen). Vielmehr werden diese von Programmen und Algorithmen verarbeitet. In gewisser Weise findet so also tatsächlich eine Kommunikation mit Maschinen statt. Thomas Damberger formuliert dahingehend, dass diese Maschinen nur 1 oder 0, Sein oder Nichts und kein Dazwischen kennen. Aber „es ist aus bildungsphilosophischer Perspektive gerade der Raum zwischen Sein und Nichts, aus dem das Mögliche in die Welt hereinbrechen und damit wirklich werden kann. Jede zwischenmenschliche Beziehung – und für eine pädagogische Beziehung gilt das in besonderem Maße – muss dasjenige im Anderen im Blick haben, was nicht ist und dennoch nicht nicht ist. Sie darf nie auf das bloß Vorhandene, Messbare reduziert werden, denn eine solche Reduktion verfehlt den Anderen in der Möglichkeit seines Werdens.“ (Damberger 2018)

Dies gilt insbesondere auch für die Beratungsarbeit in sozialen Kontexten und unterstreicht nochmals die Ambiguität non-, para-, extra- und verbaler Kommunikation. Trotzdem. Digitalisierung lässt sich nicht oder nur sehr schwierig verneinen, schafft neue Erfahrungs-, Experimentier-, Spiel- und Erlebnisräume, birgt im Sinne der Internet-Galaxie zahlreiche Umbrüche die Gesellschaft betreffend und bringt dabei sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich. Soziale und beratende Institutionen können sich dem nicht verschließen und sind allein schon deshalb gezwungen, diesen Weg zu bestreiten, weil sich auch ihre Klient*innen,

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ein Teil ihrer Probleme aber auch mögliche Lösungsoptionen dort befinden. So wird, im Sinne der Medienpädagogik, der digitale Raum nicht nur zum Werkzeug, sondern zum eigenständigen Betrachtungsgegenstand. Die Fähigkeiten, die es dazu braucht und auch die Beweggründe für das Agieren in Medien, liegen jedoch, neben Nutzungskompetenzen, meist in non-medien Bereichen (Entfaltung, Wirksamkeit, Selbstorganisation, Akzeptanz). Medien machen hungrig, nicht satt. So genuss- und reizvoll „Digitalität“ ist, sie hat weder eine eigene Absicht noch steht sie unmittelbaren (nicht-medialen) Erfahrungen gegenüber. Auch missbräuchlicher Umgang mit Medien und Daten findet seinen Ursprung außerhalb der Digitalisierung. Die Frage nach dem „Warum“, nach den Motiven des Agierens ist in und außerhalb von Medien immer wieder bedeutsam. So bleibt vorerst den Weg der Digitalisierung kritisch, konstruktiv, lebensweltorientiert, offen, kulturoptimistisch, neugierig, lustvoll, menschlich und niemals losgelöst von nicht-digitalen Kontexten zu begleiten.

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Digitale Überwachung in China. Diktatur 2.0 oder nur effizienteres Regieren? Andreas Schlieker

Zusammenfassung

Die Volksrepublik China plant 2020 landesweit ein digitales Sozialkreditsystem einzuführen. Auf der Basis eines Punktesystems sollen alle Bürger, Unternehmen und Behörden erfasst und ihr soziales Verhalten bewertet werden. Die meisten Daten stammen aus digitalen Quellen, wie dem Surfverhalten im Internet. Hinzu kommen Erhebungen privater Unternehmen, Informationen aus staatlichen Einrichtungen und die Aufzeichnungen der allgegenwärtigen digitalen Überwachungssysteme, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Fragestellung dieser Abhandlung ist, ob die in den westlichen Medien dominierende Darstellung der Entwicklung in China zu einer neuen Form der digitalen Diktatur, einer dystopischen totalitären Gesellschaft, zutreffend ist. Oder ob der offiziellen chinesischen Sichtweise, die auch eine Reihe von Anhängern in den Reihen der Chinawissenschaftler in Europa hat, zuzustimmen ist, der zufolge es sich lediglich um eine effizientere, da digital gestützte Form der Verwaltung handele. Schlüsselwörter

Sozialkreditsystem/Social Credit System · China · Digitalisierung ·  Überwachung · Diktatur 2.0 · Gesichtserkennung/Face Recognition · Gesichtserkennungssoftware · Ali Baba · Überwachungskapitalismus

A. Schlieker (*)  London, Großbritannien © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_5

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Die öffentlichen Toiletten in Beijing waren immer schon ein Thema. Und bestimmt nicht, weil sie als besonders modern erschienen wären. Jahrzehntelang gab es weder Türen noch Toilettenpapier. Das hat sich nicht nur in der Hauptstadt geändert. Wer heute in China eine Toilette betritt, hat gute Chancen auf Türen zu treffen, die für eine gewisse Privatheit sorgen. Und auf Hightech Toilettenpapierspender, die mit einer Gesichtserkennungssoftware ausgestattet sind. Wer sich dem Automaten zuwendet, erhält genau abgemessene sechzig Zentimeter Klopapier. Jedenfalls wenn er in den letzten zehn Minuten nicht schon einmal denselben Spender in Anspruch genommen hat. Der Automat verhindert übermäßigen Klopapierverbrauch. Er ist unbestechlich. Er behandelt alle gleich. Die stillen Örtchen sind ein grotesker Aspekt der Implementierung digitaler Systeme in China. Das Beispiel soll auch nur die Allgegenwart von Gesichtserkennungssoftware beschreiben, ohne die Bedrohung, die von dieser Technik ausgehen kann, zu verniedlichen. Es geht um viel Größeres. Bereits ab dem Jahr 2020 sollen in China alle Bürger in ein sogenanntes „Soziales Kreditsystem“, (SKS, chinesisch: Shehui Xinyong Tixi), eingefügt werden. Jeder Bürger, jedes Unternehmen, jede Organisation, wird dann in einem zentralen digitalen Register mit einem Punktesystem erfasst und bewertet. Bisher existiert allerdings eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme. Einerseits solche, die sich mit tatsächlicher Kreditwürdigkeit befassen und der deutschen Schufa gleichen, oder dem amerikanischen Äquivalent FICO. Andererseits werden dezentral verschiedene sehr viel weitergehende Systeme in der Praxis getestet. Dahinter steckt die Absicht ein umfassendes System zu schaffen, mit dem alle Personen und alle Unternehmen und Behörden in China überwacht und bewertet werden können. Dieses soll bereits 2020 landesweit eingesetzt werden. Unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz und programmierten Algorithmen werden automatisch „scores“, also Punktezahlen, ermittelt. Diese Scores beruhen auf einer gigantischen Menge an Daten, die nicht nur staatliche Informationen umfassen werden, sondern auch solche, die private Unternehmen sammeln: „Zahlungsmoral, Strafregister, Einkaufsgewohnheiten, digitales Surf- und Kommunikationsverhalten, sowie das Sozialverhalten im Allgemeinen.“ (Kühnreich 2018, S. 63). So soll soziale Kontrolle automatisiert werden. Wer sich entsprechend der von Staat und Partei erwünschten Sozialmoral verhält, gilt als vertrauenswürdig und kann Gratifikationen erwarten. Wer hohe Punktzahlen erreicht, kann etwa per Handy-App einen Sofortkredit bekommen, muss beim Einchecken in Hotels keine Kaution hinterlegen, kann kostenlos Fahrräder ausleihen, er kann mit bevorzugter Beförderung am Arbeitsplatz ebenso rechnen wie mit dem Zugang zu diversen anderen Belohnungen. So können beispielsweise Sicherheitskontrollen für Topscorer am Flughafen abgekürzt werden. Und wer es nur auf niedrige Punktzahlen bringt, wird entsprechend sanktioniert.

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1 Ursprung in der Privatwirtschaft Die Anfänge des digitalen Sozialen Kreditsystems sind jedoch nicht ursprünglich politisch, die Idee stammt aus dem Internethandel und ist zuerst im Zuge der marktwirtschaftlichen Reformen ausprobiert worden. Das chinesische Bankensystem ist immer noch mangelhaft entwickelt. Eine Wirtschaftsauskunftsdatei wie die Schufa in Deutschland, die Auskunft über die Kreditwürdigkeit geben könnte, existiert bisher nicht. Die Einrichtung eines Sozialkreditsystems zur Bewertung von Unternehmen und deren Kreditwürdigkeit würde das Vertrauen der Bürger in die Unternehmen, und das der Unternehmen untereinander sicher stärken. Auch die Kreditfähigkeit der Bürger soll ermittelt und bewertet werden. Bis heute verfügen viele Millionen Chinesen nicht über ein Girokonto. In der sich mehr und mehr konsumistisch entwickelnden chinesischen Gesellschaft wäre das kein geringer Nachteil, gäbe es nicht die vielen Bezahlmöglichkeiten per Handy- App. Wer heute durch China reist, stellt erstaunt fest, dass Bargeld zum Bezahlen kaum noch genutzt wird. Aber auch Kredit- und andere Plastikkarten spielen kaum eine Rolle. Dabei wurden bis vor wenigen Jahren selbst große Summen immer noch bar bezahlt. Der größte Geldschein in China ist bis heute die rote 100 Yuan Note, die etwa 15 EUR entspricht. (Zahlen sie damit mal einen neuen Mercedes!) Seit ein paar Jahren aber kann in China jeder am Straßenrand gekaufte Imbiss, jeder Apfel auf dem Markt, jede Flasche Tsingtao Bier am Kiosk mit dem Handy bezahlt werden. Kaum jemand trägt noch Cash mit sich herum, selbst Bettlern wird per App gespendet, sie kommen nicht mehr ohne selbstgebastelte Pappschilder mit einem QR Code aus. Das elektronische Bezahlen hinterlässt milliardenfach aussagekräftige und speicherbare Spuren. Wer, was, wann, wo, wieviel kauft, ist von höchstem Interesse. Füttert man bestimmte Algorithmen mit diesen Daten, wird der Mensch dahinter sichtbar. Sein Bewegungsprofil, seine Vorlieben, seine Kaufkraft, seine Interessen. Big Data macht es möglich. Was vor vielleicht zehn oder zwanzig Jahren als dystopische Science Fiction Spinnerei durchgegangen wäre, ist in China heute Realität. Mit Big Data und dem Einsatz Künstlicher Intelligenz ist es möglich geworden, riesige Datenberge auszuwerten und zu verwalten. So lassen sich für jeden einzelnen Bürger Scores ermitteln, die auf weit mehr Information als die finanzielle Lage beruhen.

2 Alibaba und der Sesam Kredit Die Regierung stützt sich bei ihren Plänen ein allumfassendes Sozialkreditsystem aufzubauen vor allem auf Erfahrungen, die private Unternehmen mit digitalen Punktesystemen gemacht haben. Die funktionieren gar nicht viel anders als die

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auch hierzulande beliebten Kundenbonusprogramme wie „Payback“. „Wer sich für den Dienst anmeldet und damit der Freigabe, Nutzung und dem Verkauf seiner persönlichen Daten zustimmt, erhält im Gegenzug Vergünstigungen, die mit wachsendem Punktestand an Wert gewinnen“ (Kühnreich 2018, S. 67). Der Online Versandhändler Alibaba, der 2017 etwa 8,3 Mrd. US$ Umsatz machte und eines der größten Unternehmen weltweit ist, hat hierbei besonders viel Erfahrung. Alibaba betreibt mit Taobao Wang eine Art chinesisches Ebay, ist zu einem Drittel an der Mikroblogging Plattform Sina Weibo beteiligt (mit monatlich 380 Mio. Nutzern) und steckt zudem hinter der Bezahl-App Alipay, die auch in Europa immer weitere Verbreitung findet. Die Alibaba Tochter Ant Financial Sevices Group betreibt Sesame Credit, „ein freiwilliges Kreditbewertungs-Pilotprojekt“ (Ohlberg et al. 2018, S. 4), das eines der Vorbilder für den Aufbau des staatlichen SKS ist. Von Lucy Peng, der ehemaligen CEO von Ant Financial Systems, stammte die vielfach zitierte Aussage, Sesame Credit werde dafür sorgen, dass „schlechte Menschen in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr haben, an den sie gehen können, während gute Menschen sich frei und ohne Einschränkung bewegen können.“ (Hvistendahl 2017). Zwar gibt es 2019 landesweit noch keine einheitliche Bewertung der Bürgerinnen und Bürger. „Stattdessen experimentiert die Regierung mit diversen schwarzen Listen. Darauf landen zum Beispiel Chinesen, die einen Gerichtsbescheid mit Zahlungsaufforderung ignorieren“ (Ohlberg 2019). Oder Menschen, die sich an Bord der chinesischen Bahn daneben benehmen. Darauf beruhen bisher die Einschränkungen der Reisefreiheit, die schon heute in China massiv sind. Laut einer Meldung der South China Morning Post aus Hongkong wurde im vergangenen Jahr „etwa 17,46 Millionen ‚vertrauensunwürdiger‘ Bürgern nicht erlaubt Flugtickets zu kaufen und 5,47 Millionen wurde der Kauf von Tickets für die Hochgeschwindigkeitszüge verwehrt.“ (He, South China Morning Post, 17.02.2019).

3 Digitale Spuren Die vielen hundert Millionen Nutzer der verschiedenen Plattformen hinterlassen digitale Spuren. Daten, die Alibaba sammelt. Westliche Konzerne tun das ebenfalls. Ant Financial Services hat unter dem Namen Sesam Kredit System ein Scoringsystem eingeführt, das die Keimzelle des Sozialkreditsystems ist, wenn auch keineswegs mit diesem identisch. Jeder Nutzer erhält dementsprechend Punkte: Socialmedia- Dienste „liefern Informationen über deren Stimmungen, Vorlieben und ‚Freundschaften‘. (…) Mindestens ebenso wichtig sind Bezahlvorgänge und Suchanfragen, die mit Metadaten

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der Seitenabrufe und Bewegungsdaten angereichert werden. Das Scoring folgt dann innerhalb von fünf Bereichen: der Kredithistorie der Nutzerinnen und Nutzer, ihrer Liquidität, den persönlichen Angaben, Gewohnheiten, und Verhaltensmustern sowie ihren Kontakten in sozialen Netzwerken.“ (Kühnreich 2018, S. 67). Darin ähnelt Alibabas Sesam Kredit System, dem auch in Deutschland ­verbreiteten Bonus- und Kundentreuesystem von Payback, das die freiwillige Freigabe persönlicher Daten mit Vergünstigungen beim Einkauf honoriert. Fleißige Nutzerinnen von Alibaba SKS können „ab einem bestimmten Level etwa Sofortkredite in Anspruch“ nehmen oder Leihprodukte nutzen, ohne Kautionen zu hinterlegen. So belohnt Alibaba Vertrauen (Kühnreich 2018, S. 67). Alibabas Sesam Kredit System ist aber nicht zu verwechseln mit dem staatlichen Sozialkreditsystem.

4 Das Sozialkreditsystem in der Erprobung Planungen laufen in China langfristig. An Plänen für ein staatliches allumfassendes Sozialkreditsystem ist bereits seit mindestens 2005 geschmiedet worden. Seit 2014 ermöglichte es die Zentralregierung, Prototypen solcher Systeme in der Praxis an mehr als drei Dutzend ausgewählten Orten dezentral zu erproben. Diese „dezentralen Experimente“, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, sind für den Chinaexperten Sebastian Heilmann ein entscheidender Teil des chinesischen Erfolgsgeheimnisses: „Es gibt ein grundlegendes Muster der Politikgestaltung, das dauerhaft und wesentlich ist für die Herrschaft der kommunistischen Partei: politische Schlüsselentscheidungen werden zentral getroffen; die politischen Instrumentarien werden aber in der Regel lokal entwickelt und ausprobiert, und dann später auf nationaler Ebene umgesetzt.“ (Heilmann 2018, S. 14. Übersetzung vom Autor).

5 Rongcheng- ein Sozialkreditsystem auf Probe Zum Beispiel Rongcheng. Eine kleine Stadt in der Provinz Shandong an der chinesischen Ostküste mit 670.000 Einwohnern. Bisher gab es nicht viel Besonderes, Wikipedia erwähnt Schwäne aus Russland, die hier jedes Jahr ihr Winterquartier machen, und ein Atomkraftwerk im Bau. Und doch macht Rongcheng seit 2018 Schlagzeilen: In der Stadt gibt es ein „Amt für Ehrlichkeit“, das neulich in „Amt für Kreditwürdigkeit“ umbenannt wurde. Rongcheng ist ein Versuchslabor für das Sozialkreditsystem, eines von Dutzenden, die übers ganze Land verteilt wurden. Jedes Unternehmen und jeder

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Bürger in Rongcheng muss an dem Systemtest teilnehmen, alle werden jederzeit beobachtet und bewertet. Jede Bürgerin und jeder Bürger, jede Institution und jedes Unternehmen hat auf einem virtuellen Konto ein Startguthaben von 1000 Punkten (Strittmatter 2018, S. 184). Diese Zahl kann man durch willkommenes Verhalten erhöhen, oder eben verringern, wenn man etwas falsch macht. Man kann hochgestuft und abgewertet werden, entsprechend dem eigenen Verhalten – und der Programmierung der zugrundeliegenden Algorithmen. Die Bürger werden in Kategorien von AAA (top of the pops mit mehr als 1500 Punkten) bis C (unter 849) eingeteilt. Erreicht man gar ein „D mit weniger als 599 Punkten dann hat dich das System als unehrlich identifiziert. In dem Fall kommt dein Name auf eine schwarze Liste, die Öffentlichkeit wird über dich informiert, und Du wist zum ‚Objekt signifikanter Überwachung‘. So steht es im Handbuch der ‚Verwaltungsmaßnahmen zur Vertrauenswürdigkeit natürlicher Personen‘ der Stadtverwaltung Rongcheng.“ (Strittmatter 2018, S. 185). An anderen Test-Standorten arbeitet man mit öffentlicher Zurschaustellung. So hat beispielsweise das Überqueren eines Zebrastreifens bei Rot zur Folge, dass der Übeltäter sich sofort in riesiger Vergrößerung auf einem LED- Bildschirm wiederfindet. Und nicht nur die Scham über die öffentliche Bloßstellung per Bild greift hier. Die Gesichtserkennungssoftware ist in China so gut, dass in Echtzeit der Name des Übeltäters identifiziert werden kann und ebenfalls auf dem Monitor erscheint. In Rongcheng werden die Punktekonten der sozialen Top-Performer ebenso veröffentlicht wie diejenigen derer am Tabellenende der sozialen Kreditwürdigkeit. Derweil sammeln die Bürger, ob sie wollen oder nicht, weitere Plus- und Minuspunkte. Zu schnell gefahren? Fünf Punkte Abzug. Dein Hund verunreinigt einen öffentlichen Platz, ebenfalls fünf Punkte minus. Herr X hilft einer alten Dame beim Umzug. Fünf Punkte plus. Pluspunkte sammelt „wer Schnee schaufelt, mit den Alten zum Arzt geht, oder den Jungen beim Lernen hilft.“ (Strittmatter 2018, S. 186) beschreibt der langjährige Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in China Kai Strittmatter seine Erfahrungen in dem Buch „Die Neuerfindung der Diktatur“. 2013 wurde landesweit ein Gesetz eingeführt, dass es zur kindlichen Pflicht macht, sich um die greisen Eltern zu kümmern. Andernfalls drohen Strafen. Oder eben Punktabzüge. Das finden die meisten Rongchenger offenbar erst einmal gut. „Jetzt ist die Moral zurückgekehrt“, äußert dann auch der lokale Parteisekretär gegenüber Strittmatter (2018, S. 185). Dass diese Geisteshaltung weit verbreitet ist, belegt auch eine Studie der FU Berlin. In einer Online Befragung gelang es zwischen Februar und April 2018 insgesamt 2209 chinesische Bürgerinnen und Bürger zu befragen. „Etwa 80 % der chinesischen Internetnutzerinnen und -nutzer bewerten die staatlichen und kommerziellen Sozialkreditsysteme in ihrem Land als positiv“ (Kostka 2018).

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6 Tiefe Vertrauenskrise China leidet an einer tiefen Vertrauenskrise. Die Menschen trauen einander nicht, das Volk seinen Politikern nicht, und die Politiker schon gar nicht dem Volk. Das sind Phänomene, die auch in Europa 2019 alles andere als unbekannt sind. Aber in China geht das Misstrauen viel tiefer und ist sehr viel weiter verbreitet. „Chinese zu sein heißt heute, in einer von Misstrauen beherrschten Gesellschaft zu leben, in der jede Gelegenheit ein potenzieller Schwindel ist und in dem man mit jedem Akt der Großzügigkeit die Ausbeutung riskiert“, so die amerikanische Journalistin Amy Hawkins in der Zeitschrift ‚Foreign Policy‘ (Hawkins 2017). Das bestätigt auch ein Bericht der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) „über den ‚Seelenzustand der chinesischen Gesellschaft‘, der 2013 veröffentlicht wurde. Bei einer Umfrage der Shanghaier CASS-Filiale gaben 90 % der Befragten an, wer heute in China ehrlich und vertrauenswürdig handle, der habe davon automatisch Nachteile.“ (Strittmatter 2018, S. 181). Die Ursachen dafür sind vielfältiger Natur. Chinesen haben in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche politische Kehrtwenden erlebt. Gewalt und Willkür führten zum Verlust eines Sicherheitsgefühls, vor allem in der Kulturrevolution, als alle in der ständigen Angst vor Denunziation lebten, die tödlich enden konnte. Mit den politischen und wirtschaftlichen Reformen ab 1979 kam dann der Aufstieg des rasanten Kapitalismus, der das Land in bis dato unbekannter Geschwindigkeit veränderte. Er hat Hunderte Millionen von Chinesen aus der schlimmsten Armut befreit, er hat aber auch zu enormer ökonomischer und sozialer Ungleichheit geführt, das lange hochgehaltene Ziel einer klassenlosen Gesellschaft in weite Ferne rücken lassen. Hunderte Millionen von rechtlosen Wanderarbeitern sind in die Städte gezogen, während die privilegierten Städter immer größeren Reichtum angehäuft haben. Dazu die vielen Skandale der vergangenen Jahre: Kinder die an vergiftetem Milchpulver sterben, verpestete Luft und zahllose andere Umweltvergehen, Pfusch am Bau, die allgegenwärtige Korruption.

7 Sozialkreditsystem in der chinesischen Presse Das Sprachrohr der Partei, die Tageszeitung „Global Times“ (2018) attestiert die Ver­trauenskrise ebenfalls und geht scheinbar ganz offen um mit der zunehmenden Kritik am Sozialkreditsystem aus dem Westen. Sie berichtet sogar darüber, wie das chinesische Sozialkreditsystem im amerikanischen Fernsehen Gegenstand von Satire ist. Der Global Times zur Folge ist dies jedoch der typischen aus einem Mix von Unkenntnis und Boshaftigkeit resultierenden Verzerrung der Tatsachen

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durch „westliche“ Medien geschuldet, die reflexartig überall Totalitarismus witterten, wo doch lediglich mit modernen Regierungsmethoden experimentiert werde: „In der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft wird Vertrauenswürdigkeit nicht honoriert. Daher sehen wir ab und zu Korruption, abgelaufene Impfmittel, geschäftlichen Betrug, Steuerhinterziehung und akademische Täuschungen.“ Ein Fall von Brandstiftung, bei dem ein Kindermädchen eine Familie ausgelöscht hatte und damit große Schlagzeilen gemacht hatte, beweist für die Global Times die unbedingte Notwendigkeit, das SKS einzuführen: „Das war eine Tragödie, die durch das Fehlen des Sozialkreditsystems ausgelöst wurde.“ Und das könne doch nun wirklich niemand wollen. Derselbe Artikel argumentiert auch, dass es schließlich in anderen Ländern auch nicht anders sei. „Es gibt nicht viele Verkehrssünder in den USA, der Hauptgrund dafür ist, dass die Kosten für ein Verkehrsvergehen sehr hoch sind. Das findet sich in Kreditbewertungen wieder, beeinflusst Beschäftigung, Kredite, Miete, vielleicht sogar Heirat. So ein System ist aber in China nur mangelhaft ausgebaut, das bedeutet, dass das Brechen von Versprechen oder Betrug nicht in schweren Strafen oder anderen ernsthaften Konsequenzen resultiert.“ Und weiter: „Vor diesem Hintergrund hofft China ein umfassendes Sozialkreditranglistensystem zu etablieren, das es den Vertrauenswürdigen erlaubt, weitere Vorteile zu genießen, während es den in Misskredit Gekommenen erschwert, überhaupt irgendetwas zu unternehmen („making it hard for the discredited to do anything“). Dieser Schritt kann die Kreditwürdigkeit der Bürger mit zukünftigen Interessen und Risiken, Belohnungen und Bestrafungen verbinden. Es ist eine Antwort auf die Vertrauenskrise, eine innovative Maßnahme die Gesellschaft effektiver zu regieren. Die rapide Entwicklung der Internettechnologie stellt der Nation mehr technische Unterstützung und mehr Möglichkeiten zur Verfügung.“

Und schlussendlich: „Regieren ist nie leicht gewesen in China, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde.“ (Da muss man wohl dem auf Lebzeit zum Regierungschef ernannten Präsidenten Xi feste die Daumen drücken, dass er und die Algorithmen es schaffen.) Kritik aus dem Ausland ist derweil wohlfeil: „China mit westlichen Standards zu beurteilen ist einseitig verfälschend. Sozialkreditsysteme werden von Ländern überall ausprobiert. Warum soll China nicht moderne Technik benutzen, um diese System auszuprobieren? Werden in den USA Verkehrssünder nicht auch mit Kameras überwacht?“. Das klingt sehr verharmlosend angesichts der Fakten. In China sind Schätzungen zufolge jetzt schon mehr als 200 Mio. Kameras zur Überwachung installiert. Bei einer Reise in der hauptsächlich von Muslimen bewohnten Provinz Xinjiang im Westen Chinas konnte ich 2018 feststellen, dass Kameras selbst in Restaurants angebracht

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sind – aber nicht von den Besitzern, sondern den örtlichen Sicherheitsbehörden, die allzu gerne wissen wollen, wer sich wo mit wem zum Mittagessen trifft. „In manchen Landkreisen musst du einen staatlich überwachten GPS Sender in Dein Auto einbauen (…). Tanken darfst Du erst, wenn Du dein Gesicht hast scannen lassen (…). Wenn Du identifiziert bist als potenzieller Unruhestifter, dann schlagen in manchen Orten die Kameras Alarm, sobald du dich mehr als 300 m von der für dich festgelegten Sicherheitszone entfernst. Wenn du ein Handy besitzt, bist du verpflichtet darauf die App Jingwang („sauberes Netz“) zu installieren. Diese App hat Zugriff auf den Inhalt deines Handys (…). An den unzählige Checkpoints der Polizei (…) scannen Beamte mit ihren Smartphones dein Gesicht(…).“ (Strittmatter 2018, S. 174 f.)

Und so weiter. Und die Chance ist groß, sich in einem Umerziehungslager wiederzufinden. Laut Amnesty International befinden sich über eine Million muslimischer Chinesen zurzeit in Gewahrsam (Amnesty International 2018). Das sind etwa 10 % der Bevölkerung der Provinz Xinjiang. Es häufen sich Berichte von Folter und Misshandlungen. Aber nicht nur bei den Minderheiten, denen oft pauschal eine Neigung zu Separatismus und Terrorismus unterstellt wird, verschärft sich die Überwachung. Es gibt zahlreiche Beispiele für weitgehend schrankenlose Überwachung auch in anderen Teilen des Landes. Überwachung ist Teil des Alltags. Strittmatter berichtet beispielsweise von einer Schule im ostchinesischen Hangzhou, deren Klassenräume mit Kameras überwacht werden, sodass jedes Kind mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware unablässig kontrolliert wird. Die Kameras „erfassen nicht nur auf die Minute genau, wie oft in den acht Schulstunden eines Tages ein Schüler nicht bei der Sache war, sie analysieren auch Mimik und Gemütszustand (…) und senden die Daten direkt ans Terminal, das die Lerneinstellung der Schüler analysiert“ (Strittmatter 2018, S. 167). Und der chinesische Internetblog Sixthtone berichtet von einem Professor der Universität Sichuan der gleich zwei sehr im Trend liegende Technologien miteinander koppelt, um seine Studenten zu disziplinieren. Eine „handflächengroße Drohne“ kontrolliert im Verein mit Gesichtserkennungssoftware „das kollektive Betragen im Klassenraum, und bemisst die Zufriedenheit und das Aufmerksamkeitslevel der Studenten“ (Sixthtone 2018).

8 Technologische Lösung für gesellschaftliche Probleme Die kommunistische Partei ist sich des Vertrauensverlustes und der Schwierigkeit, Politik zu implementieren vollauf bewusst. Und die Vorgänger Xi Jinpings an den Schalthebeln der Macht haben immer wieder betont, dass China beizeiten durch

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rechtsstaatliche Reformen auf diese Vertrauens- und Institutionenkrise reagieren werde. Seitdem Xi 2012 die Führung übernommen hat, klingt das nun ganz anders: Rückkehr zur sozialistischen Disziplin im Verbund mit neuen technokratischen und technischen Lösungen soll es richten. Und im Zentrum der neuen Ausrichtung steht das „Sozialkreditsystem“.

9 Digitaler Leninismus Der Sinologe Sebastian Heilmann, bis 2018 Leiter der Chinadenkfabrik Merics in Berlin stellt fest: „Im Zuge der digitalen Transformation entsteht in China etwas Neues: ein ‚digitaler Leninismus‘. (…) Die Parteispitze meint, eine Lösung für die effektive Regulierung der Gesellschaft gefunden zu haben. Sie kommt damit dem alten kommunistischen Traum der perfekten, zentralisierten Kontrolle und einer planbaren Wirtschaft, die krisenfreier und stabiler funktionieren soll als die Marktwirtschaft, deutlich näher.“ (Heilmann, Interview 2018). Es gibt zwei wesentliche Ursachen dafür, dass eine technische Lösung für die schwerwiegende politische und gesellschaftliche Vertrauenskrise herangezogen wird. Einmal gilt die „liberale Demokratie des Westens“ immer weniger als Vorbild. Negative Entwicklungen vor allem in den USA (Stichworte: Irak Krieg, Guantanamo, Weltwirtschaftskrise, Brexit, das irrlichternde Gebaren des aktuellen Präsidenten), geben der chinesischen Führung Argumente, am eigenen Kurs festzuhalten. China schreckt vor demokratischen Reformen aber auch zurück, weil die Folgen schwer abzusehen sind. Technische Lösungen und die Rückkehr zu verschärfter zentralstaatlicher Kontrolle scheinen der sicherere Weg zu sein. Das System digitaler Überwachung schließt darüber hinaus an lange Tradi­ tionen zentralstaatlicher Kontrolle an. Im kaiserlichen wie im sozialistischen China der Mao-Zeit gab es vor-digitale Formen bürokratischer Kontrolle. Sie waren zwar handgeschrieben und auf Papier, doch auch sie arbeiteten teilweise mit Belohnungen. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte das verkürzt Hukou genannte System sein, das seit den 1950er Jahren der „strikten Wohnsitzkontrolle“ (Heilmann, Politisches System 2018, S. 240) dient und die Freizügigkeit im Land beschränkt. Laut Gesetz darf niemand ohne behördliche Zustimmung seinen Wohnort ändern, auf diese Weise sollten die „unkontrollierten Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte“ unterbunden werden. Während der maoistischen Hochzeit war dieses System Teil des Repressionsapparates, in der von Deng Xiaoping geprägten Reformära nach 1979 wurde es stark aufgeweicht. Millionen von Wanderarbeitern, die seitdem ihre ländliche Heimat verlassen haben, zeugen davon. 2017 waren es allein 288 Mio. Menschen (National Bureau of Statistics for China

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2019). Doch die in die Städte abgewanderten „hukou-losen“ Migranten haben weiterhin nicht die gleichen Rechte, wie die mit einem Hukou ausgestatteten „echten“ Stadtbewohner. Beispielsweise können ihre Kinder keine städtischen Schulen besuchen, keine Sozialleistungen (wie Wohngeld) in Anspruch nehmen und der Krankenhausbesuch ist nur am Ort des eigentlichen Wohnsitzes kostenlos. Politisches Ziel war es auch, dass „potenziell destabilisierende Teile der Bevölkerung (Wanderarbeiter, Kriminelle, politische Abweichler, ethnisch- religiöse Minderheiten etc.) besser kontrollierbar bleiben.“ (Heilmann 2016, S. 240). Und auch ein sozialistisches Belohnungs- und Belobigungssystem ist lange etabliert. Es funktioniert über Öffentlichkeit. Wer sich reinhängt bei der Maloche wird als Modellarbeiter ausgezeichnet, eine saubere Familie oder ein sauberer Betrieb wird zum Hygienevorbild. Die Eingänge chinesischer Betriebe sind voller roter Abzeichen und goldener Ehrenplaketten.

10 Gamification- Spiel des Lebens Die Popularität die das Sozialkreditsystem bisher in China geniest, soweit seine Existenz bisher von der chinesischen Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wird, rührt einerseits aus der Vorstellung, dass es tatsächlich größeres Vertrauen in Mitmenschen und Organisationen herzustellen vermag. Andererseits trägt aber auch eine starke spielerische Komponente dazu bei. Gamification ist das mit ‚Verspielung‘ mehr schlecht als recht übersetzbare Stichwort dazu, beschreibt „eine Technik, die im Rahmen der Entwicklung von Computerspielen eine wichtige Rolle spielt. Sie verfolgt das Ziel die Aufmerksamkeit der Spielerinnen und Spieler möglichst lange zu binden und zugleich positive Emotionen gegenüber dem Spiel zu erzeugen. Heute wird Gamification in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt- nicht zuletzt im Militär sowie in der Unternehmensführung und der Werbung.“ (Kühnreich 2018, S. 68). Appelliert wird dabei an den natürlichen Spieltrieb, indem motivierende Mini­ spielchen integriert werden und verschiedene Level erreicht werden k­önnen, so wie es heute fast jeder Neunjährige von Games auf der Playstation oder der X-Box kennt. Vor allem aber stellen die Scores Vergleichbarkeit her. Der Ansporn, der aus dem Wettbewerb um die Topwerte resultiert, ist genau der erwünschte Effekt, er bindet die zu Spielern gewordenen (gamifizierten) Mitglieder der Gesellschaft/Player an das System/Game. Dieses größte aller Spiele, an dem die ganze Gesellschaft teilnimmt, benötigt nicht einmal Werbung, um Mitglieder zu rekrutieren, die Teilnahme ist, wenn schon nicht freiwillig, so doch wenigstens kostenlos. Jede Chinesin und jeder

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Chinese muss mitspielen, ob er oder sie das will- oder lieber nicht. Die Spielregeln legen die chinesischen Bürgerinnen selbstverständlich nicht selber fest, und aus dem Spiel aussteigen können sie auch nicht. Im Gegenteil, Verweigerung führt zu den ersten negativen Scores und gefährdet eine Pole Position im Spiel des Lebens. Positiv ließe sich hier anführen, dass Vergleichbarkeit nicht nur tabellarische Ranglisten, sondern auch Transparenz herstellt. Aber wenn wir Rachel Botsman in Wired glauben, „werden wir nicht umhinkommen die Geburt eines schwarzen Marktes für Reputation zu erleben, auf dem unter dem Tisch Mittelchen verkauft werden um die Glaubwürdigkeit voranzubringen.“ (Botsman 2017). Je reicher eine oder einer ist, desto leichter wird es sein, die eigenen Scores zu verbessern. Und im Ergebnis wird sich eine gespaltene Gesellschaft ergeben, die Privilegierten und die Nicht- Privilegierten. Die Privilegierten werden bei der Jobvergabe und sozialen Aktivitäten bevorzugt behandelt werden, das Reisen wird ihnen erleichtert, der Zugang zu besserer Bildung gewährt, Kredite sind leichter zugänglich. Das sind (nicht nur) in China knappe Ressourcen. Letztlich ist es kaum vorstellbar, dass z. B. bei wichtigen Einstellungsentscheidungen nicht auf alle zugänglichen Daten zugegriffen werden sollte, angesichts der Tatsache, dass unfassbare Mengen von Daten über jeden Einzelnen vorhanden sein werden. Was vorhanden ist, wird genutzt. Wie Tschechow uns lehrt: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert“. Bei den oben aufgeführten Manipulationen sozialen Verhaltens innerhalb einer kleinen Kommune macht das System nicht halt. Die digitalen Möglichkeiten kennen fast keine Grenzen. In keinem Land der Welt sind so viel Smartphones in Gebrauch wie in China, 2019 sollen es mehr als 730 Mio. sein. Der größte Teil der Chinesen, mehr als 800 Mio., hat Internetzugang und geht regelmäßig online. Und wer sich im Internet bewegt, hinterlässt Spuren. Wer einen Browser nutzt, zieht einen Schweif aussagekräftiger Daten hinter sich her, jede Suchanfrage, jeder Aufenthalt auf einer Webseite offenbart ein Interesse und produziert Daten und Metadaten. Sie sind der Rohstoff des globalen Kapitalismus, überall, doch in China kann zudem der Staat sie sich zunutze machen.

11 Wie weit ist China heute schon? Beschäftig man sich mit dem Sozialkreditsystem kommt einem George Orwells’ Großer Bruder in den Sinn, „1984“, die literarische Blaupause für den Überwachungsstaat. Oder die Episode ‚Abgestürzt‘ aus der dritten Staffel der Netflixserie Black Mirror. Es stellt sich nun die Frage, ob es denn wirklich gerechtfertigt

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ist, Chinas Social Credit System, noch bevor es überhaupt landesweit eingeführt ist, in den schwärzesten Farben als eine besonders perfide Form gesellschaftlicher Dystopie zu beschreiben. Handelt es sich dabei nicht schlicht um eine neue Form des beliebten China- Bashing? Der Berliner China-Denkfabrik Merics hat im Herbst 2018 eine Studie veröffentlich, nach der die Mehrheit der „gut ausbildeten und urbanen Chinesen und Chinesinnen eine überwältigend positive Sicht haben auf die kommerziellen und staatlichen Systeme, die Vertrauenswürdigkeit der Bürger, der Unternehmen und von Organisationen bewerten. Anstatt sie als Instrumente der Überwachung zu verstehen, sehen sie in ihnen ein Mittel, um Konsumenten vor Lebensmittelskandalen oder Finanzbetrügereien zu schützen – und an Vergünstigungen zu gelangen, die mit einem hohen Score einhergehen.“ (Kostka 2018). Ist das denn nicht notwendig und begrüßenswert? Ist Kritik daran nicht einem verengten westlichen Blick geschuldet, der China nicht gerecht wird? Der Sinologe Rogier Creemers, der an den Universitäten Leiden in den Niederlanden und in Oxford lehrt, hat sich in seiner Forschung intensiv mit chinesischen Quellen zum Sozialkreditsystem befasst. Auf seiner Webseite veröffentlicht er ins Englische übersetzte chinesische Gesetzestexte und Veröffentlichungen des Staatsrates. Creemers hält viele Berichte, die ein „totalitäres Ungeheuer“ (Creemers 2018, S. 4) entstehen sehen für zu alarmistisch. Der Ausbau von Big Data und Artifizieller Intelligenz in China dient in seiner Lesart einem relativ harmlosen Sozialmanagement. China habe demnach in den vergangenen Jahrzehnten große Probleme mit der Implementierung von Politik gehabt. Das Land sei schlicht zu groß, um (auf herkömmliche analoge Art) überall eine einheitliche Politik durchzusetzen. Die neue Parteiführung um Xi Jinping sehe daher in der technologischen Lösung vor allem ein Mittel der „Kontrolle der Implementierung ihrer Politik“. (Creemers 2018, S. 1). Im entsprechenden Dokument des Staatsrates heißt es, ein Sozialkreditsystem etabliere auf der Ebene gesellschaftlicher Moral, „die Idee einer Kultur der Aufrichtigkeit, es fördert Ehrlichkeit und traditionelle Tugenden, es nutzt die Ermunterung zur Glaubwürdigkeit und Beschränkung der Unzuverlässigkeit als Mechanismen des Anreizes, sein Ziel ist die Hebung des Bewusstseins für Ehrlichkeit und des Levels der Glaubwürdigkeit der ganzen Gesellschaft.“ (State Council 2014). So könne China die massive Vertrauenskrise bekämpfen. Der Wissenschaftler Creemers stellt das SKS als einen kybernetischen Mechanismus vor, mit dem (ganz neutral) Individuen ebenso wie Organisationen und Unternehmen überwacht werden, damit sie „automatisch“ mit den Konsequenzen ihrer Handlungen konfrontiert werden können.

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Auch wenn die Kritik am vereinfachenden und zu Übertreibung neigenden Umgang mit dem Thema seine Berechtigung haben mag, bleibt doch die Frage, ob man ein solches technische Überwachungssystem quasi nur aufgrund seiner Effizienz beurteilen kann, und sich auf Aussagen über seinen Zweck stützt, die hauptsächlich von den Betreibern, der Kommunistischen Partei Chinas stammen? Ist es wirklich so, dass durch das SKS ein neutraler Prozess des „Self- management“ eingeführt wird? Zeugt eine solche Annahme nicht von einer erheblichen politischen Blauäugigkeit, sowohl was die Verbesserung der Moral durch Technologie angeht, als auch was das Gesamtbild der politischen Entwicklung in China betrifft? Mit der Machtübernahme durch Xi Jinping hat China sein repressives System verschärft. Es häufen sich Festnahmen und Verurteilungen von Menschenrechtsanwälten, Bloggern und politisch dissidenten Bürgern. Die Politik wird re-ideologisiert, die maoistische Vergangenheit mythifiziert und als überwunden gedachte Elemente des autoritären Sozialismus wurden in den letzten Jahren wiederbelebt, so der ausufernde Personenkult um Xi. Wie oben geschildert hat die Unterdrückung und Überwachung besonders in den von ethnischen Minoritäten bewohnten Regionen Tibet und Xinjiang zuvor unbekannte Ausmaße erreicht (Amnesty 2018).

12 Chinas digitale Strategie, Zukuntstechnologie KI Die Erfassung ungeheurer Massen an Daten hat für China aber noch eine andere sehr wichtige Bedeutung. Es geht um die Vorherrschaft bei der wohl wichtigsten Technologie der Zukunft, der Künstlichen Intelligenz. In seinem 2018 erschienen Buch „AI Superpowers. China, Silicon Valley and the New World Order“ beschreibt der aus Taiwan stammende ehemaliger Direktor von Google China, Kai-Fu Lee, den Kampf zwischen China und den USA um die Vorherrschaft bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI). China ist zwar in diesem Bereich der Zukunftstechnologie ein Spätstarter, führend waren dort bis vor kurzem die USA, Kanada und das Vereinigte Königreich (Lee 2018, S. 11). Der chinesische Staat konzentriert aber seine finanziellen, wissenschaftlichen und unternehmerischen Ressourcen zu einem ganz großen Teil auf die Entwicklung Künstlicher Intelligenz. Lee vergleicht den chinesischen Ehrgeiz mit den amerikanischen Anstrengungen im Wettlauf mit der Sowjetunion über die Führerschaft in der Weltraumtechnologie (space race). Der „Sputnik-Schock“ von 1957 führte zur Gründung der NASA. Der entscheidende Rohstoff, der die Entwicklung Künstlicher Intelligenz befeuert, sind Daten. Riesige Mengen davon. Je mehr Daten vorhanden sind

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und verarbeitet werden können, desto genauer lassen sich Algorithmen entwickeln, mit deren Hilfe Muster in den Datenwüsten erkennbar werden. Diese Algorithmen können sich dann weiter mit immer mehr Daten selber füttern und sich selbst damit optimieren. Deep Learning ist hier der Fachbegriff. Zum Einsatz kommt diese Technologie zum Beispiel bei selbstfahrenden Autos: Mithilfe von Deep Learning lernen die Autos die „Welt um sie herum zu sehen,- Muster in den Pixeln der Kamera zu erkennen (rote Achtecke), herauszufinden was diese bedeuten (Stoppschilder), diese Information zu benutzen, um Entscheidungen zu treffen (Druck auf die Bremse ausüben um langsam anzuhalten), um somit das erwünschte Ziel (sicher in der kürzesten Zeit nach Hause zu kommen) optimal zu erreichen.“ (Lee 2018, S. 11). Die Erkenntnisse aus der Entwicklung solcher deep learning Systeme lässt sich dann auf ganz andere Bereiche übertragen. Entscheidend ist: je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto effektiver arbeiten deep learning Systeme, desto feiner können die Algorithmen angepasst werden. Spätestens an diesem Punkt sollte die häufig „im Westen“ anzutreffende Arroganz gegenüber chinesischer Wissenschaft und Technologie, die vermeintlich nicht kreativ sei (es sei denn es geht darum, westliche Entwicklungen zu kopieren) verstummen. China ist in der Lage, gerade aufgrund seines autoritären politischen Systems große Mengen an Daten zu produzieren. Lee bezeichnet den Umbruchspunkt, an dem wir gerade angelangt sind, als den Übergang vom „Zeitalter der Expertise zum Zeitalter der Daten“ (from the age of expertise to the age of data). (Lee 2018, S. 12). Wenn die KI die Technologie der Zukunft ist, die entscheidende Vorteile auf wirtschaftlichem Gebiet, in der Produktion, der Logistik und in der Rationalisierung von Arbeit verspricht, oder entscheidende Vorteile bei der Entwicklung neuartiger Waffensysteme, dann ist die massenhafte Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten von allerhöchstem Wert.

13 Kritik an der Neutralität von Algorithmen: Weapons of Math Destruction Wie eigentlich jede neue Technologie wird auch Künstliche Intelligenz von den Chinesen im Allgemeinen willkommen geheißen. Bei meinen Aufenthalten in China sind mir bisher kaum Vorbehalte zu Ohren gekommen, zu verlockend klingt das Versprechen nach mathematischer Gerechtigkeit. Algorithmen sind neutral und unbestechlich, ganz anders als Parteikader oder Vorgesetzte, Algorithmen sind vertrauenswürdig. So sicher wie man auf mathematische Wahrheiten vertrauen kann, schließlich bezweifelt niemand, dass zwei mal zwei vier ist. Aber sind

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Algorithmen jemals wirklich neutral? Sind sie so gerecht und gegen Vorurteile so blind wie Justitia? In ihrem Buch „Angriff der Algorithmen“, warnt die Mathematikerin Cathy O’Neill davor, Algorithmen per se für vorurteilsfrei zu halten: „Sie definieren ihre eigene Realität und verwenden diese dann, um ihre Ergebnisse zu rechtfertigen. Diese Art von Modell erhält sich selbst am Leben, ist extrem schädlich – und kommt sehr häufig vor“ (O’Neill 2017, S. 15). O’Neill legt dar, dass Arme von Algorithmen benachteiligt werden, da sie zum Beispiel bei Bewerbungen öfter mit KI in Berührung kommen, als Privilegierte, die wegen der Bedeutung ihrer Positionen wohl eher in persönlichen Gesprächen „getestet“ werden. Und ein ebenso wichtiges Argument: man kann gegen die Entscheidung der Algorithmen nicht in Berufung gehen. Künstliche Intelligenz „hört nicht zu, sie gibt nicht nach. Sie reagiert nicht, weder auf Charme noch Drohungen, Bitten oder Betteln, ja nicht einmal auf Logik – selbst wenn es gute Gründe gibt, die Daten anzuzweifeln, auf denen ihr Urteil beruht.“ (O’Neill 2017, S. 18). O’Neill ist sicher, dass mathematische „Modelle- obwohl sie den Ruf haben, unparteiisch zu sein- bestimmte Ziele und Ideologien reflektieren. (…). Unsere eigenen Wertvorstellungen und Wünsche beeinflussen unsere Entscheidungen, angefangen bei der Auswahl der Daten, die zu sammeln wir uns entscheiden, bis hin zu den Fragen, die wir stellen. Modelle sind in Mathematik eingebettete Meinungen. Ob ein Modell funktioniert oder nicht, ist ebenfalls Ansichtssache, denn schließlich ist ein zentraler Bestandteil eines jeden Modells, sei es nun formal oder formlos, seine Definition von Erfolg. … In jedem Fall müssen wir nicht nur fragen, wer das Modell konzipiert hat, sondern auch, was diese Person oder Firma damit erreichen will.“ (O’Neill 2017, S. 34)

14 Überwachungskapitalismus Auf gute Intentionen der chinesischen Führung zu vertrauen, und die chinesische Entwicklung (vorerst) als eher von verwaltungspraktischer Natur zu halten, scheint doch recht naiv. Bevor aber der anklagende Zeigefinger allein in Richtung China zeigt, ist doch zu bedenken, dass wir uns im „Westen“ keineswegs auf einem so völlig anderen Weg befinden, als dem von China beschrittenen. Sicher, unsere Institutionen sind nicht in der Hand einer einzigen Partei. Es gibt demokratische Kontrollmechanismen, eine freie Presse. Die viel geschmähte EU hat sich in den vergangenen Jahren nach und nach daran versucht, die überwältigende Macht, der Socialmediakonzerne und der digitalen Großunternehmen wenigstens etwas einzuschränken.

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Dennoch ist die Gefahr groß, dass „wir“ im Westen, bei aller berechtigten Kritik am chinesischen Umgang mit privaten Daten, vergessen wie sehr wir ebenfalls immer weiter überwacht werden. „Lassen wir das chinesische Beispiel außen vor für eine Weile, dann wird uns klar, dass in einer zunehmend quantifizierten Gesellschaft der Zugang zu Dingen von sozialem Wert sehr leicht von Daten über uns bestimmt werden kann, über die wir kaum Kontrolle haben. Letztlich muss es nicht einmal der Staat sein, der diese Macht ausübt. (…) Die disziplinierenden (Neben-) Effekte der Überwachung in der digitalen Lebenswelt sind in ihrer Gesamtheit nur schwer zu erfassen. Wenn man wüsste, dass jede Reise, jeder Kauf, jede persönliche Mitteilung, jede politische Äußerung, oder jeder Akt der Rebellion für alle Zeiten festgehalten und bewahrt wird, würden wir uns noch auf die selber Art verhalten?“ (Susskind 2018, S. 140 f.)

Während China vor allem an Überwachung, politischer Kontrolle und Machterhalt gelegen ist, geht es den westlichen Konzernen vor allem um Vorhersagbarkeit. Befinden wir uns bereits in einem „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“? So lautet der Titel des vor kurzem erschienenen Buches der Harvard Professorin Shoshana Zuboff (Zuboff 2018). Sie zeichnet darin ein düsteres Bild. Die Verbindung zwischen Kapitalismus und Datensammelwut hat dazu geführt, dass Daten der wichtigsten Rohstoffe des digitalen Kapitalismus sind. Mithilfe von Algorithmen und KI lassen sich die Daten so exakt auswerten, dass die mächtigen Unternehmen die Menschen besser kennen als diese sich selbst, und in der Lage sind nicht nur Voraussagen zu treffen über künftiges Verhalten, sondern auch Verhalten gezielt zu steuern. „Der Überwachungskapitalismus ist keine Technologie; er ist vielmehr die Logik, die die Technologie und ihr Handeln beseelt. Der Überwachungskapitalismus ist eine Marktform, die außerhalb des digitalen Milieus unvorstellbar ist, aber ist nicht mit ‚dem Digitalen‘ gleichzusetzen“ (Zuboff 2018, S. 30). Es handelt sich um einen „aus dem Ruder gelaufenen Kapitalismus“ (Zuboff 2018, S. 33) einen „Putsch von Oben (…); es ist kein Umsturz des Staates, sondern vielmehr ein Umsturz der menschlichen Souveränität“ (Zuboff 2018, S. 38), der letztlich zum schleichenden Verfall der liberalen Demokratien beitrage. Der Rahmen dieses Aufsatzes zum chinesischen Sozialkreditsystem lässt weitere Ausführungen zum Überwachungskapitalismus nicht zu. Der abschließende Hinweis auf den Überwachungskapitalismus ist nur gedacht als Warnung davor, sich im demokratischen „Westen“ bei aller notwendiger Kritik am Wesen des chinesischen Überwachungsstaates nicht all zu sicher zu fühlen vor den weitreichenden Folgen der weltweiten digitalen Datensammelwut. Vielleicht bleibt vorerst nur der Trost, dass China wohl doch noch nicht so weit ist, wie der Plan es vorsieht: „Fest steht: Eine einheitliche Bürgerbewertung

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auf nationaler Ebene, die für alle Chinesen gleichermaßen gilt und zentral gelenkt ist, wird es bis 2020 nicht geben.“ (Ohlberg 2019). Dennoch: sollte es in ein paar Jahren so weit sein, und das System sich als erfolgreich erweisen, hat China wohl einen Exportschlager mehr. Diktaturen mit Interesse an effizienter Totalüberwachung gibt es ja mehr als genug. Latest News Nicht nur die menschlichen Bewohner des Planeten werden zukünftig mit Gesichtserkennungssoftware vom Großen Bruder überwacht, auch das speckliefernde Borstenvieh auf der, haha, Animal Farm kann sich dem Fortschritt nicht mehr entziehen (Chen 2018). Im Zuge der Modernisierung der Fleischproduktion werden Schweine in Betrieben in Südsichuan nun in Kooperation mit dem Techriesen Alibaba per Künstlicher Intelligenz überwacht. Zu dem Zwecke werden individuelle Dateien angelegt (Wurf, Geburtsdatum, Gewicht, Ernährung und Aktivitäten) und ständig Updates vorgenommen. Das Fress- und Sozialverhalten wird registriert, der Gesundheitszustand und die Bewegung des Tieres ebenfalls. Aus dem Gesichtsausdruck der Schweine lässt sich der Gemüts- und Gesundheitszustand ablesen, Schmerzen können erkannt werden. Hustende Schweine können identifiziert werden bevor sie andere anstecken. Kranke und unproduktive Schweine können rechtzeitig ausgesondert werden. Das vorbildliche Schweineüberwachungssystem wird nun auch in britischen Sauställen zur Anwendung kommen (BBC, 19.03.2019). „Wissenschaftler sammeln 2D und 3D-Abbilder der gebärfähigen Sauen. Diese Bilder werden an der Universität von West England (UWE Bristol) verarbeitet und dort werden Techniken entwickelt um automatisch unterschiedliche Emotionen (bei den Schweinen, A.S.) zu identifizieren“ (BBC, 19.03.2019). Laut Auskunft der Uni kann ein individuelles Schwein mit 97 prozentiger Wahrscheinlichkeit korrekt identifiziert werden. „Unser nächster Schritt ist nun, zum ersten Mal, das Potential zu untersuchen, das der Gebrauch von Maschinen bei der automatischen Erkennung von Gesichtsausdrücken der identifizierten Schweine hat, die mit wesentlichen Emotionen verbunden sind, wie Glücklichsein oder Leid“.

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Komplizen des Erkennungsdienstes Die ‚Quantified Self‘-Bewegung und die Vermessung des eigenen Körpers Andreas Bernard Zusammenfassung

Der folgende Beitrag fokussiert die ‚Quantified-Self-Bewegung‘ und den damit einhergehenden Trend, personenbezogene Gesundheits- und Fitnessdaten von sich selbst zu erfassen (z. B. über Smartwatches und Wearables). Neben einer grundsätzlichen Betrachtung und entstehungsgeschichtlichen Einordnung dieses Phänomens, wird insbesondere der Aspekt der Daten­ erzeugung und die Möglichkeiten der Nutzung und Verwendung kritisch im Kontext einer digitalisierten Gesellschaft diskutiert. Schlüsselwörter

Quantified self · Selbstvermessung · Self-Tracking · Fitbit · Datenerzeugung ·  Introspektion · Fitnessdaten · Vermessung · Klassifikation

1 Einleitung Der neue Wille zur Selbstvermessung resultiert aus dem Wissen um die Unzulänglichkeit des Menschen. Dies ist zumindest der Ausgangspunkt jenes Essays, der die aufkommende Praxis des ‚Self-Trackings‘ in der digitalen Kultur einem breiten Publikum bekannt gemacht hat. Im April 2010 veröffentlicht der ­Technikjournalist Gary Wolf, zwei Jahre zuvor Mitbegründer der ‚Quantified Self‘-Bewegung, einen Artikel im New York Times Magazine, der die Kluft zwischen der Objektivität A. Bernard (*)  Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_6

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maschinell ermittelter Körperdaten und der Fehlerhaftigkeit subjektiver Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen ins Zentrum der Argumentation stellt. „Viele Probleme des Menschen“, schreibt er, „entstehen einfach dadurch, dass uns die Instrumente fehlen, um uns besser zu verstehen. Wir haben ein schlechtes Erinnerungsvermögen; wir unterliegen einer Vielzahl von Vorurteilen; und wir können unsere Aufmerksamkeit nur ein oder zwei Dingen gleichzeitig widmen. Uns gehen also sowohl die körperlichen als auch die geistigen Mittel ab, um eine gültige Bestandsaufnahme unserer selbst vorzunehmen.“ Und aus dieser ernüchterten Diagnose zieht er den Schluss: „Wir brauchen die Hilfe von Maschinen.“1 Wolf betont in seinem vieldiskutierten Text, dass das Vertrauen in die ­Beweiskraft von Zahlen in wissenschaftlichen, ökonomischen oder politischen Zusammenhängen von jeher unbestritten sei – allein das „behagliche Refugium des persönlichen Lebens“ habe sich bis vor kurzem gegen dieses Erkenntnisinstrument gesträubt. Jede Art von Selbstdokumentation im Privaten, die über das Führen eines Tagebuchs hinausgeht, gelte als abseitig. Diese Anschauung erfahre laut Wolf nun aber eine radikale Korrektur. In den letzten Jahren sei eine „Explosion des Self-Trackings“ zu beobachten; persönliche Daten über „Schlaf, Sport, Sex, Essen, Stimmung, Aufmerksamkeit, Produktivität, den eigenen Standort, sogar über das spirituelle Wohlbefinden werden aufgespürt und gemessen, geteilt und veröffentlicht“. Der Essay erwähnt eine Vielzahl aktueller Anwendungsbeispiele, von ‚Quantified Self‘-Anhängern, die jeden ihrer Schritte zählen oder fortwährend ihren Blutdruck aufzeichnen, die die Erholsamkeit ihrer Nächte durch ein Ensemble von Körpermessungen überprüfen oder ihren Gemütszustand minutiös dokumentieren. Allesamt sind es Personen, die, wie Wolf schreibt, vor kurzem noch als bizarre Einzelfälle abgetan worden wären, heute aber als Pioniere einer aufstrebenden Bewegung gelten. Sie ziehen „den Launen der Intuition die Verlässlichkeit der gewonnenen Daten“ vor, ersetzen den „lückenhaften Fluss“ des psychischen Lebens durch die klar voneinander zu scheidenden, benenn- und vernetzbaren Elemente eines „quantifizierten Selbst“.2 Als Grund für die Konjunktur dieser Selbstvermessungspraktiken führt Wolf vier technologische Entwicklungen der vergangenen Jahre an: das Aufkommen kleinerer und leistungsstärkerer Sensoren, die umfassende Etablierung von mobilen Kleinstcomputern in Form des Smartphones, die Sozialen Medien als Ort des Teilens von Messergebnissen und der praktisch grenzenlose, über die Kapazi-

1Wolf,

Gary (2010), The Data-Driven Life; in: New York Times Magazine, nytimes. com/2010/05/02/magazine/02self-measurement-t.html, S. 12. 2Ebd., S. 2, 3.

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tätsgrenzen des einzelnen Geräts erhabene Datenspeicher der ‚Cloud‘. Diese vier Dispositionen der digitalen Kultur hätten dafür gesorgt, dass die Gewinnung von Daten über den eigenen Körper, die eigene Psyche – bis vor kurzem eine aufwendige Prozedur, medizinischen oder wissenschaftlichen Laboren vorbehalten – heute selbstständig möglich sei, allein mithilfe des Smartphones, in dem sich eine Vielzahl einst separater Identitätsbezeugungen vereinigen: Tagebuch, Gesundheitspass, Krankenakte, Personalausweis. Die Erkennbarkeit des Menschen durch Vermessung: Gary Wolf setzt dieses Verfahren in Opposition zu einer anderen Technik, der er die Hoheit über das Wissen vom Selbst über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg zuweist. „Vor hundert Jahren“, schreibt er, „hätte ein kühner Forscher, fasziniert vom Rätsel der menschlichen Persönlichkeit, vermutlich auf die neuen psychoanalytischen Konzepte von ‚Verdrängung‘ und ‚Unterbewusstsein‘ zurückgegriffen – Ideen, die von Leuten entwickelt wurden, die Sprache liebten. Heute sind diese therapeutischen Konzepte des Selbst allgemein verbreitet und in popularisierter Form zugänglich, doch auch sie“, so Wolf weiter, „haben den etwas weitschweifigen literarischen Humanismus ihrer Erfinder beibehalten. Vom schmachtenden Bekenntnis auf der Couch des Analytikers bis hin zu den Geschwätzigkeiten eines Selbsthilfe-Ratgebers vertrauen die bestimmenden Formen der Selbsterforschung darauf, dass der Weg zur Wahrheit über Worte führt.“ Die Quantified-Self-Bewegung setzt diesem Sprachvertrauen „einen neuen Weg“ entgegen: „Anstatt die Innenwelt durch Reden und Schreiben zu befragen, benutzen wir Zahlen“3 – eine Dichotomie, die sich auch als Gegenüberstellung von Konzepten der Tiefe und der Oberfläche äußert. Gary Wolf grenzt die Erkenntnisweisen und Ziele der Selbstvermessung scharf von den Ansprüchen der Therapiekultur ab: „Wenn wir uns selbst quantifizieren“, heißt es in seinem Aufsatz, „gibt es kein Bestreben, hinter unserem alltäglichen Leben eine tiefere Wahrheit zu entdecken. Anstatt dessen geht es uns darum, unsere trivialsten, beiläufigsten Gedanken und Handlungen, die wir ohne technische Hilfe nicht einmal bemerken würden, als das Selbst zu verstehen, das wir besser kennenlernen sollten.“4 Was Gary Wolf hier übersieht oder bewusst ausblendet, ist der Umstand, dass die Bevorzugung messbarer Daten gegenüber aufrichtigen Worten natürlich keinen radikal „neuen Weg“ der Menschenkenntnis bedeutet, sondern die Neuauflage eines alten anthropologischen Zwiespalts. Die Frage, ob die Lesbarkeit des Menschen eher über Sprach- oder Körperzeichen möglich ist, hat die modernen

3Ebd., 4Ebd.,

S. 7. S. 12.

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Wissenschaften vom Menschen von Beginn an beschäftigt. Freuds ‚talking cure‘ setzt in der Geschichte des Wissens vom Selbst daher nicht, wie Wolf nahelegt, ein referenzloses Gründungsparadigma; eher ist die psychoanalytische Methode in der Zeit um 1900 als mächtige Etappe in einer langen wissensgeschichtlichen Auseinandersetzung zu verstehen, die sich im berühmten ‚Physiognomik-Streit‘ zwischen Johann Caspar Lavater und Georg Christoph Lichtenberg in den 1770er Jahren wohl zum ersten Mal verdichtet. Lichtenberg schrieb in seinen Aphorismen und Abhandlungen gegen die physiognomische Lehre an, seelische Regungen und Charaktereigenschaften aus den Gesichtszügen von Menschen entziffern zu können, aber sein Beharren auf der anthropologischen Erkenntnis­ kraft von Sprache („zehn Wörter aus der Sprache eines Volks sind mir mehr wert als 100 ihrer Sprachorganen in Weingeist“5) erwies sich im gesamten 19. Jahrhundert, im Zuge der neu entstehenden Humanwissenschaften und ihrer einflussreichen Repräsentanten, als zunehmend randständige Position. Galls Phrenologie, Brocas Schädelkunde, Lombrosos Kriminalanthropologie, Fechners und Wundts Psychophysik oder Galtons und Bertillons Anthropometrie zementierten vielmehr den Glauben an die objektive Vermessbarkeit des Menschen, seines Körpers und seiner Psyche; Prozesse der Normierung, Klassifizierung und Diskriminierung wurden auf der Basis dieser Vermessungsergebnisse beglaubigt. Und auch als sich die Psychoanalyse als Instrument der Selbsterkenntnis etablierte, nahm sie nicht, wie Wolf schreibt, eine exklusive, beinahe monopolartige Stellung im Wissen über das Individuum ein; konkurrierende Disziplinen wie die Psychotechnik oder später der Behaviorismus, die dem Innern des Menschen über Messwerte anstatt über Worte beikommen wollten, entfalteten im Lauf des 20. Jahrhunderts ähnliche Wirkungsmacht. Es ist also nicht zuletzt aus diesen Gründen aufschlussreich, die Konjunktur der Selbstvermessungstechniken in der digitalen Kultur, die seit einem knappen Jahrzehnt reüssierenden Schlagwörter wie ‚Quantified Self‘ oder ‚Life-Logging‘, auf ihre wissensgeschichtliche Genealogie hin zu befragen. Der Ursprungsrhetorik ihrer Sprecher zum Trotz kommen diese Bewegungen keineswegs aus dem Nichts. Ihre konkrete Praxis geht zweifellos auf die technologischen Bedingungen der letzten 15 Jahre zurück, aber in den zugrundeliegenden Erkenntnisweisen werden die Muster früherer Vermessungswissenschaften sichtbar. Eines dieser Muster betrifft die Überzeugung der Self-Tracker, dass es zwischen den Körpern und den

5Lichtenberg,

Georg Christoph (1778/1972), Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis; in: ders., Schriften und Briefe. Herausgegeben von Wolfgang Promies. Dritter Band. München, S. 256–295, 288.

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Daten einen jederzeit verlässlichen, gewissermaßen natürlichen Übersetzungscode geben muss. Die Messergebnisse sprechen die Wahrheit über das Selbst, und der Kanal, der das dunkle, amorphe Innere eines ‚Körpergefühls‘ oder einer ‚Stimmung‘ ins Licht der Zahlen und Kurven überführt, ist frei von Störgeräuschen, Irrtümern und Fehllektüren. Maschinell erzeugte Daten weisen keine Geschichte, keine Kontingenzen auf: Dieses Vertrauen leitet die ‚Quantified Self‘-Bewegung, so wie es auch für die Vermessungslehren der Humanwissenschaften seit ihren Anfängen konstitutiv gewesen ist. Grundsätzlich stellen die Aktivitäten des Self-Trackings jene Fragen nach dem Status des Subjekts in der digitalen Kultur, die etwa auch für den ‚Profil‘-Begriff oder der sich ausbreitenden Nutzung von Ortungstechnologie gelten. Was an diesen Verfahren ist als Emanzipation des Selbst zu verstehen und was als Unterwerfung? Wolf spricht in seinem Aufsatz von der Ambition, das Wissen über den eigenen Körper mithilfe von Smartphones und frei zugänglichen digitalen Vermessungsinstrumenten zu „demokratisieren“. Aber diesem Versuch steht eine andere Tendenz, eine andere Konstellation gegenüber, die er in einer beiläufigen Bemerkung selbst anreißt. Es ist von einem „Polizisten in unseren Köpfen“6 die Rede, der sich durch die unentwegte Erfassungslust der Self-Tracker gebildet habe. Es bleibt also die Frage, wie sich der emanzipatorische und der polizeiliche Blick auf das Selbst ergänzen oder inwiefern sie kollidieren.

2 Fitbit Gary Wolf erwähnt in seinem Artikel auch ein junges Unternehmen aus San ­Francisco, das im Herbst 2009, nach zweijähriger Planungszeit, ein Gerät auf den Markt gebracht habe, welches die Schritte des Trägers zählen, den Kalorienverbrauch errechnen und die Qualität des Schlafs messen könne. Die ‚Fitbit‘-Tracker haben zu dieser Zeit noch ausschließlich die Form einer Klammer und werden an der Hosentasche oder am Gürtel befestigt. Erst 2013 beginnt das Unternehmen, den Sensor auch in bunten Plastikarmbändern unterzubringen, was die Verbreitung der mit einer zugehörigen App auf dem Smartphone verbundenen Geräte noch e­ inmal stark erhöht und sie zu einem Erkennungszeichen der wachsenden ‚Quantified Self‘-Bewegung macht. Heute ist Fitbit, im Juni 2015 mit einem Marktwert von rund sechs Milliarden Dollar an der Börse eingeführt,

6Wolf

(2010, S. 11, 12).

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das unbestrittene Aushängeschild der sogenannten ‚Wearables‘-Branche; im Jahr 2016 hat das Unternehmen ein Viertel der über hundert Millionen weltweit verkaufter Geräte abgesetzt.7 Das Fitbit-Sortiment umfasst inzwischen rund zehn Modelle, vom einfachen Clip bis zur digitalen Waage. Als beliebteste Geräte gelten das displaylose Armband ‚Flex‘, das in Deutschland für 99 EUR erhältlich ist, und die Smart Watch ‚Charge‘, für 159 EUR. Der Bewegungssensor, technisches Kernelement aller Produkte, wird beim ‚Flex‘-Modell in das mitgelieferte Armband hineingeschoben und misst die absolvierte Schrittzahl in Gestalt von aufleuchtenden Punkten (ein Punkt entspricht 2000, die vollen fünf Punkte dem Tagessoll von 10.000 Schritten). Zur Kontrolle der Schlafqualität, die das Armband über die Bewegungen des ruhenden Körpers in der Nacht erfasst, muss der Nutzer die Fitbit-App aufrufen; dort werden die Aufzeichnungen des Trackers in Kurven und Tabellen übersetzt. Gleiches gilt für die Darstellung des Kalorienverbrauchs. Das aufwendigere Modell ‚Charge‘ präsentiert die meisten Messergebnisse direkt auf dem Bildschirm der Armbanduhr; neben der aktuellen Schrittzahl und der Kalorienverbrennung sind auch zusätzliche Daten wie spezifische Bewegungswerte bei verschiedenen Sportarten oder die konstante Messung der Herzfrequenz am Handgelenk abrufbar. Die Selbstortung des Trägers per GPS, etwa zur Überprüfung der Joggingstrecke, ist möglich, wird aber nur auf dem synchronisierten Smartphone des Nutzers angezeigt. Was genau macht die Anziehungskraft der Fitbit-Produkte für so viele Millionen Menschen aus? Wie unterscheiden sich ihre Anwendungsweisen von früheren Geräten zur Messung und Verbesserung des eigenen Gesundheits- oder Fitnesszustandes? Wenn man sich die Website von Fitbit ansieht oder Äußerungen der ‚Quantified Self‘-Anhänger über die Bedeutung der ‚Wearables‘, dann fällt ­zuallererst ein bestimmtes, oft wiederholtes Argument ins Auge: die Lückenlosigkeit der Aufzeichnungen, die durch die Armbänder zum ersten Mal gewährleistet sei. Mobile Self-Tracker sollen „immer am Körper getragen werden, zu jeder Zeit“, betonte schon Gary Wolf, und die Kundenansprache auf der Website des Unternehmens konzentriert sich genau auf diese Omnipräsenz. „Das ist die Idee, auf der Fitbit beruht: dass es bei Fitness nicht nur um die Zeit im Fitnessstudio geht. Es geht um jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Fitness ist überall.“ Bestand die Ambition eines gesunden Lebensstils in den vergangenen Jahrzehnten darin, der trägen urbanen Arbeitsexistenz, zwischen Büro, Berufsverkehr und Fern-

7Vgl. zu diesen Zahlen Neff, Gina und Nafus, Dawn (2016), Self-Tracking. Cambridge, S. 1, und cnet.com/news/fitbit-sold-more-wearables-in-2016-than-apple-and-samsung-combined/.

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sehsofa, möglichst produktive Zwischenphasen abzutrotzen – der morgendliche Joggingparcours, das Fitnessstudio, die Nutzung von Treppen statt Fahrstühlen –, verspricht Fitbit nun, diese punktuelle Achtsamkeit auf das eigene Wohlbefinden in einen dauerhaften Zustand zu überführen. Das am Körper angebrachte Instrument dient dabei gleichermaßen der ständigen Kontrolle wie dem ständigen Ansporn. „Fitness folgt heute keinem Rezept mehr. Sie ist einfach die Summe deines Lebens“, heißt es in einer Selbstbeschreibung des Unternehmens. Illustriert wird dieser Anspruch durch jene internationale Werbekampagne, die das Unternehmen 2014 auch in Deutschland endgültig bekannt gemacht hat und die aus einer Vielzahl von Wortkombinationen mit der Endsilbe ‚-fit‘ besteht. Nicht nur ‚racefit‘ oder ‚hikefit‘ soll der Nutzer durch das Tragen der Produkte werden, sondern auch ‚lovefit‘, ‚kissfit‘, ‚dadfit‘; Bereiche wie Liebe, Zärtlichkeit, Verantwortung, Zuneigung zu den eigenen Kindern werden ebenso als Bestandteile eines gesunden Lebensstils aufgefasst. Der Hashtag zu dieser Kampagne heißt folgerichtig ‚#itsallfit‘. Ziel des Unternehmens ist also die vollständige und im Sinne der Fitness interpretierte Erfassung der? Existenz, die nicht mehr unterscheidet zwischen Arbeit und Familie, Körper und Seele, bewusst investierten und beiläufig verstrichenen Stunden, nicht einmal mehr zwischen wachem Zustand und Schlaf. Denn „wenn es um das Erreichen deiner Fitnessziele geht“, so das Firmencredo, „sind Schritte erst der Anfang. Fitbit trackt alle Aspekte des Tages wie Aktivitäten, Training, Ernährung, Gewicht und Schlaf, um dir zu helfen, fit zu werden.“8 In der Betonung dieser Nahtlosigkeit wird eine technologische Konstellation sichtbar, die durch den allgemeinen Gebrauch von Smartphones und durch flächendeckende WLAN-Sphären seit einem knappen Jahrzehnt kennzeichnend für die digitale Kultur geworden ist. Die Rede von der Ubiquität der Vernetzung gehört in den gegenwärtigen Medientheorien zu den wichtigsten Vokabeln, und in der Anpreisung der Self-Tracking-Geräte wird diese Durchdringung besonders anschaulich. Denn das Tragen des Fitbit-Produkts verhält sich zur Nutzung eines Laufbands im Fitnessstudio so wie der dauerhafte Aufenthalt in den WLAN-Umgebungen von heute zum punktuellen ‚Einwählen‘ in das Internet des Modem- und Desktop-Zeitalters. Und genau in dieser ubiquitären Vernetzung liegt auch ein zentraler Unterschied zwischen digitalen Fitnessarmbändern und früheren Verfahren und Geräten der Selbstvermessung wie etwa der Badezimmerwaage, die zwar seit ihrer Etablierung in den 1920er Jahren eine ähnliche Verbindung zwischen Daten,

8Wolf (2010, S. 7), youtube.com/watch?v=ec31n6HFxJg, fitbit.com/de/whyfitbit (14.09.2016).

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Körpern und Optimierungssehnsüchten, eine ähnliche Auslagerung des Selbstgefühls an technische Apparaturen geschaffen haben mag, deren Quantifizierungsleistung aber auf das flüchtige, nur für den Einzelnen sichtbare Aufscheinen der Messwerte begrenzt war. Fitbit- und ähnlichen Self-Tracking-Instrumenten hingegen geht es gerade nicht um die Abgeschiedenheit privater Selbstvermessung, auch nicht um die Versunkenheit des Leistungssportlers, der seinen einsamen Weg zu neuen Rekorden aufzeichnet. Angeregt wird vielmehr der soziale und technologische Austausch der Mitglieder; Körperbewusstsein und Kommunikation sind im Quantified-Self-Kosmos unauflösbar ineinander verwoben. Diese Allianz zeigt sich in den Werbevideos von Fitbit auf zweierlei Weise: Zum einen sind darin kaum einzelne Menschen zu sehen, sondern Paare, Familien, eine Gruppe von Freunden oder Bürokollegen, die gemeinsam Sport treiben, spazieren gehen oder gesundes Essen zubereiten. Zum anderen machen diese kurzen Filme immer wieder darauf aufmerksam, dass die Fitbit-Produkte neben Messinstrumenten auch Kommunikationsmedien sind, die etwa auf dem synchronisierten Smartphone eingehende Anrufe und Textnachrichten anzeigen können. Bereits das Basismodell ‚Flex‘ erfüllt diese Funktion über ein Signal der fünf blinkenden Punkte. „Bleibe beim Workout mit deinen Freunden verbunden!“9, heißt es einem der Videos, und regelmäßig sieht man, wie die Protagonisten ihre Fitnessübungen oder ihr power walking unterbrechen, um zum Telefon zu greifen. Die Vernetzung mit anderen hat bei Fitbit vor allem auch deshalb einen so hohen Stellenwert, weil das Unternehmen seine Nutzer ständig dazu auffordert, die eigenen Messwerte zu ‚teilen‘. Gary Wolf zählte zu den technologischen Voraussetzungen für den Erfolg der Quantified-Self-Bewegung auch die Etablierung Sozialer Netzwerke. Fitbit bestätigt diesen Befund, indem die Verfahren der Selbstvermessung und Selbstaufzeichnung hier ganz an die Praxis des Veröffentlichens und Vergleichens innerhalb einer Gemeinschaft gebunden sind. Unter dem Stichpunkt ‚Motivation und Freunde‘ heißt es auf der Website: „Per Facebook und E-Mail kannst du Fitbit-Freunde finden und dich mit ihnen verbinden, um motivierende Nachrichten zu senden, Statistiken zu teilen und euch gegenseitig anzufeuern.“ Das Netzwerk, das jedes Fitbit-Mitglied nach und nach aufbauen soll, ist dabei gleichermaßen sozial wie kompetitiv. „Bleibe in Bewegung und nutze deine Schritte, um dir auf der Bestenliste einen Namen zu machen, oder miss dich mit Freunden und Familienmitgliedern bei Fitbit-Herausforderungen“10, empfiehlt

9www.fitbit.com/de/app 10Ebd.

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das Unternehmen. Die ‚Community‘ der Fitbit-Mitglieder ist also einerseits eine Gemeinschaft von Freunden und Verwandten, andererseits aber auch eine Gemeinschaft von Konkurrenten; dass Fitbit „alle Aspekte deines Tages trackt“, geschieht im Zeichen eines spielerisch präsentierten, aber dauerhaften Wettbewerbs. Diese Verschmelzung des Spielerisch-Sozialen und Kompetitiven gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem die Verfahren digitaler Selbstvermessung, über die individuelle oder auf eine Gruppe persönlich Bekannter begrenzte Nutzung hinaus, in einen breiteren Kontext eingebettet werden. Eine solche Einbettung findet inzwischen statt, vor allem im Bereich der Krankenkassen und Versicherungsagenturen, die ihre Mitgliedsbeträge, Leistungen und Rabatte zunehmend an die Auswertung der Self-Tracking-Instrumente ihrer Kunden koppeln. In diesem Moment zeigt sich die doppelte Funktion der ‚Wearables‘ auf unmissverständliche Weise. Die immanente Rhetorik der Quantified-Self-Bewegung steht ganz im Zeichen der Selbstermächtigung. Dank der einfachen und verlässlichen Aufzeichnung der eigenen Körperfunktionen, so das Argument in zahlreichen Blogs und Foren, können die herkömmlichen Instanzen der Gesundheitskontrolle weitgehend ausgespart werden, Orte wie Arztpraxen, Labore, Apotheken, deren Leistung überteuert und deren Fürsorge für den Einzelnen oft nachlässig ist. An die Stelle des paternalistischen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient tritt der emanzipierte Selbstvermesser: „Die neuen Smartphone-Apps und Tracking-Geräte“, schreibt der bekannte Wissenschaftsblogger Richard MacManus, „haben dafür gesorgt, dass die Menschen zum ersten Mal wirklich die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten gewonnen haben. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der wir endlich selbst verantwortlich sind für unsere eigene Gesundheit oder zumindest für deren Vermessung und regelmäßige Überwachung.“11 Dieses Autonomieversprechen soll allerdings aus einem Ensemble von Daten hervorgehen, das, wie die Werbeanzeigen für Fitbit oder ähnliche Geräte namens Jawbone, DirectLife, Nike+ oder Sony SmartBand verdeutlichen, ganz auf Durchlässigkeit und Vernetzungskraft berechnet ist. „Selbsterkenntnis durch Zahlen“, so der Leitspruch der Quantfied-Self-Bewegung, vollzieht sich also innerhalb eines möglichst offenen und anschlussfähigen Geflechts, das genauso zur Erkenntnis des Self-Trackers durch andere beiträgt. Größtmöglicher Souveränitätsgewinn bei größtmöglicher Identifizierbarkeit: Zwischen diesen Polen bewegt sich das Menschenbild digitaler Selbsterfassung. Besonders deutlich wird diese Ambivalenz im Hinblick auf die jüngsten Neuerungen im Versicherungswesen, die unter dem Schlagwort ‚Smart Insurance‘

11MacManus,

Richard (2014), Health Trackers. How Technology is Helping us Monitor and Improve Our Health. Auckland, S. 13.

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kursieren. Seit Juli 2016 bietet die Firma Generali, mit rund 14 Mio. Kunden der zweitgrößte Versicherungskonzern in Deutschland, das Zusatzprogramm ‚Vitality‘ an, das in Verbindung mit einer Risikolebens- oder Berufsunfähigkeits-Versicherung abgeschlossen werden kann. Die Höhe des Jahresbeitrags und der Anspruch auf Rabatte und Sonderleistungen bemessen sich dabei nach der Zahl der ‚Vitality-Punkte‘, die der Versicherte im Jahr zuvor gesammelt hat. Nach Vertragsabschluss füllen neue Mitglieder einen Gesundheitstest auf dem Kundenportal der Versicherung aus und laden die ‚Vitality-App‘ auf ihrem Smartphone herunter, die mit einem Fitnessarmband synchronisiert werden muss. Jeder Schritt, jede sportliche Betätigung kommt dem Vitality-Punktekonto zugute (seit 2018 gilt dies auch für den Einkauf gesunder Lebensmittel in den Filialen einer beteiligten Supermarktkette, die den Barcode der Produkte an der Kasse erfassen und weiterleiten). Wenn ein neuer Klient alle Kriterien des Gesundheitstests „innerhalb der medizinischen Empfehlung“12 durchläuft, beginnt seine Mitgliedschaft mit dem Status ‚Bronze‘. Hohe Tageswerte des Schrittzählers, Besuche im Fitnessstudio, das die Daten wie die Supermarktfilialen weiterleitet, ernährungsbewusste Einkäufe und regelmäßige präventive Gesundheitsuntersuchungen bei den Partner-Apotheken von Generali erhöhen diese Punktezahl. Bei 30.000 Punkten, dem ‚Gold‘-Status, sinkt der Versicherungsbeitrag des Mitglieds bis zu elf Prozent, bei 45.000 Punkten und ‚Platin‘ bis zu 16 %. Weitere Partner der Versicherung, etwa Adidas, Galeria Kaufhof oder das Online-Reisebüro Expedia, gewähren den ‚Gold‘-Mitgliedern außerdem Rabatte bis zu 20 %, den ‚Platin‘-Mitgliedern bis zu 40 %. Am Ende jedes Beitragsjahres verfallen die gesammelten Punkte; der Versicherte beginnt jedoch in dem Status, den er zuvor erreicht hat. ‚Bewusst machen‘, ‚Aktiv leben‘, ‚Belohnt werden‘ lautet der Dreisatz von Generali-Vitality, dem ersten Versicherungsprogramm dieser Art in Kontinentaleuropa (in den USA und in Großbritannien sind sie schon etwas länger bekannt). „Ziel ist es, Kunden zu einem gesundheitsbewussten Leben zu motivieren sowie deren Fortschritte dabei zu belohnen. So wird Versicherung in Deutschland neu definiert.“ Auch gesetzliche Krankenkassen wie die AOK und die Techniker-­ Krankenkasse planen, ähnliche Bonusprogramme innerhalb des vorgeschriebenen Rahmens aufzubauen.13 Die angestrebte Neudefinition von Versicherung besteht vor allem darin, von jedem Klienten eine bislang ungekannte, ständig aktualisierte

12www.generali-vitalityerleben.de/noch-fragen.html#tests 13www.presseportal.de/pm/108395/3360582; zu den Plänen der gesetzlichen Krankenkassen vgl. versicherungsbote.de/id/4844671/Techniker-Krankenkasse-Fitnesstracker-Bonusprogramm/.

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Fülle von Daten zur Verfügung gestellt zu bekommen, über seine Bewegungsfreudigkeit, seine Ernährungsgewohnheiten, über Details seines Gesundheitszustands wie den Blutzuckerwert oder den Cholesterinspiegel, die bei den präventiven Untersuchungen ermittelt werden. „Hier zählt jeder Schritt, den Sie gehen. Und genau diese sollen auch alle erfasst werden“14, heißt es auf der Website des Vitality-Programms, in ganz ähnlicher Diktion wie in den Werbeanzeigen für die Fitnessarmbänder. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass sich der spielerische Wettbewerb auf der Fitbit-Website, mit seinen virtuellen Abzeichen und freundschaftlichen Wettkämpfen, im Kontext einer Lebens- oder Berufsunfähigkeits-Versicherung in handfeste ökonomische Realität verwandelt, die über Beitragszahlungen und Vergünstigungen entscheidet. Mit der unablässigen Quantifizierung von Wohlbefinden geht eine neue Form der Individualisierung von Versicherung und Gesundheitsvorsorge einher. Die ‚Vitality-Punkte‘ (und vergleichbare Konzepte wie der von dem Schweizer Unternehmen Dacadoo entworfene ‚Health Score‘, der den körperlichen und mentalen Zustand jedes Nutzers auf einer ständig aktualisierten Skala zwischen 1 und 1000 messen will15) sollen das komplexe Gebilde Gesundheit in einen präzise berechenbaren, vom Individuum selbst zu regulierenden Wert verwandeln, dessen Ausschläge fast in Echtzeit auf klar zu benennende Ursachen wie Bewegung oder Ernährung zurückzuführen sind. Die Rede von der Selbstermächtigung greift hier in elementare, seit über einem Jahrhundert wirksame Funktionsweisen der Sozialund Gesundheitspolitik ein; das Konzept des ‚Vorsorgestaats‘, wie es sich im späten 19. Jahrhundert in Europa entwickelt hat, beginnt sich in ein Konzept des ‚Vorsorgeselbst‘ zu verwandeln. Auf diese Weise verstärken die Quantified-Self-Praktiken und ihre Anwendungen im Versicherungswesen eine Tendenz, über die Soziologen wie Ulrich Bröckling und Thomas Lemke schon vor gut zehn Jahren Erhellendes geschrieben haben – ein neues Verständnis von Gesundheit als eigenständig zu sicherndem, selbst zu verantwortendem Gut. Krankheiten und Beeinträchtigungen werden dementsprechend weniger als Verhängnis oder als Effekte gesellschaftlicher Konstellationen bewertet, sondern als persönliche Fahrlässigkeit, als Manko der ‚Motivation‘, als Versäumnis rechtzeitiger ‚Vorsorge‘. (Brust- oder Darmkrebs-Erkrankungen etwa gelten heute nicht mehr in erster Linie als Schicksalsschlag; sie rufen vielmehr die Frage hervor, warum der Betroffene es soweit hat kommen lassen). Auf der Website von Generali-Vitality ist in dieser Hinsicht ein frei zugänglicher Fragebogen interessant, den jeder Besucher ausfüllen kann, um

14www.generali-vitalityerleben.de/noch-fragen.html 15Vgl.

die Website www.dacadoo.com.

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sein ‚Vitality-Alter‘ bewerten zu lassen. Die ersten Seiten des Tests fragen Körperdaten, Ernährungs- und Trainingsgewohnheiten ab, bevor Auskünfte über ‚Mentales Wohlbefinden‘ erbeten werden: „Wie oft fühlten Sie sich während der letzten 30 Tage wertlos“ oder „so niedergeschlagen, dass nichts Sie aufmuntern konnte?“16 Die Gestaltung dieses Fragebogens macht deutlich, dass Lebensstil, körperlicher Zustand und seelische Verfassung in der Logik des Versicherungsprogramms eine untrennbare, von klaren Ursache-Wirkung-Verhältnissen bestimmte Einheit bilden; wer sich falsch ernährt oder zu wenig bewegt, verschlechtert nicht nur seinen Blutdruck oder Cholesterinspiegel, sondern auch seinen Lebensmut. Self-­TrackingInstrumente ermöglichen ein lückenloses Protokoll dieses Lebensstils, und es bestätigt den umfassenden, durchdringenden Anspruch der Selbsterfassung, dass zwischen den physiologischen und psychischen Auswirkungen der Messwerte keinerlei Unterschied gemacht wird.

3 Genealogien des Self-Trackings Die Vermessung des Menschen: Im Verständnis der Quantified-Self-Bewegung erfüllt sie die Funktion, das autonome Wissen über den eigenen Gesundheitszustand, das eigene Wohlbefinden zu fördern. Wenn ‚Profile‘ in der digitalen Kultur die Präsentation der Biografie ermöglichen und GPS-Technologien die Orientierung im Raum, sollen die Geräte und Verfahren der Selbstvermessung der besseren Kenntnis des eigenen Körpers dienen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, nach der Geschichte der Geräte und Verfahren zu fragen: Wann und unter welchen Umständen wurde damit begonnen, den Körper des Menschen zu vermessen, seine festen Strukturen wie den Schädel- und Knochenbau genauso wie die unscheinbarsten physiologischen Äußerungen, die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Atmung, die Schweißproduktion? Wer waren die Messenden und wer die Probanden der Vermessung? Und welche Aussagekraft wurde diesen Messwerten zugestanden? In den Aufsätzen und Büchern, die in den letzten Jahren über die Quantified-Self-Kultur entstanden sind, erwähnen die Autoren zu Beginn meistens einige ‚Vorläufer‘ dieser Bewegung in früheren Jahrhunderten, rigorose Selbstbeobachter wie etwa den amerikanischen Gründervater Benjamin Franklin, dessen Tagebücher angefüllt sind mit detaillierten Verhaltensplänen, oder den fettleibigen Arzt John Lining aus South Carolina, der 1740 über ein Jahr lang jede seiner Mahlzeiten, Getränke und Ausscheidungen wog und sie

16www.generalivitality.de/vmp/bewusst_machen/vitality_alter

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mit Werten wie der Außen- und Raumtemperatur, der Tageszeit und dem Luftdruck in Beziehung setzte, um Aufschlüsse über seinen Stoffwechsel zu erhalten. Diese Protagonisten sollen die gegenwärtigen Self-Tracking-Methoden in eine längere Tradition stellen – „sich selbst vermessen ist nichts Neues“17, heißt es in einer dieser Studien –, führen aber auf eine schwache, wenn nicht falsche genealogische Fährte. Ein vergleichbares Augenmerk auf dem eigenen Körper und der Protokollierung seiner Äußerungen mag bestehen. Doch die Diaristen und Selbstinquisitoren des späten 17. und 18. Jahrhunderts gehen in vielerlei Hinsicht von anderen Voraussetzungen und Zielen aus als die heutigen Träger der ‚Wearables‘. Erstens gründet sich ihre Tätigkeit auf der Auseinandersetzung mit calvinistischen und puritanischen Grundsätzen – eine religiöse Moral, die als Antriebskraft verschwunden oder zumindest vollkommen untergeordnet ist. Zweitens finden die Selbstvermessungen und Aufzeichnungen in geschützten Räumen statt, dem eigenen Haus und dem privaten Tagebuch, und treten allenfalls in der Form der wissenschaftlichen Abhandlung in Austausch mit anderen. Damit ist drittens das Wissen der Vermesser um die Besonderheit ihrer Position verbunden, ein Selbstverständnis, das sich entweder, wie bei Franklin, als außergewöhnliche Tugendhaftigkeit äußern kann oder auch im Bewusstsein der eigenen Exzentrik und Idiosynkrasie. Diese Idiosynkrasie steht aber in genauem Gegensatz zu dem unbedingten Willen zum Vergleich, zur Konkurrenz, auch zum Erreichen von Normwerten, dem die ‚Quantified Self‘-Bewegung von Anfang an verpflichtet ist. Bei einem Vortrag auf der bekannten ‚TED‘-Konferenz im Jahr 2011 projizierte Gary Wolf vier Adjektive an die Wand, um die Ziele der neuen Vermessungskultur zu veranschaulichen: ‚thin‘, ‚rich‘, ‚happy‘, ‚smart‘. Es sei die Aufgabe der Selbsterfassung, sagte er, „uns in jeder Hinsicht zu besseren Menschen zu machen, also dünn, reich, glücklich und intelligent“, und die neuen Geräte und Verfahren würden an dieser „Optimierung der menschlichen Existenz“18 arbeiten. Bei ‚Quantified Self‘ geht es also nicht um die Beobachtung eines einzigartigen Individuums, sondern um Datensätze, die sich vergleichen und in Beziehung zu Normvorgaben setzen lassen. Und genau deshalb ist es methodisch unergiebig, die Geschichte des Self-Trackings, wie es gerade so häufig geschieht, als Abfolge von Einzelpersonen zu erzählen, die in den vergangenen Jahrhunderten ihren eigenen Körper analysiert und vermessen haben. Diese Geschichte setzt vielmehr erst in dem Moment ein, in dem es standardisierte, systematisch durchgeführte

17Neff/Nafus

(2016, S. 15).

18www.youtube.com/watch?v=YN_MjyNq3Z8,

bei Minute 3:10 bis 3:30.

vgl. zur hier zitierten Passage die Sequenz

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Techniken ermöglichen, die körperlichen Messwerte von Menschen aufzuzeichnen, aufeinander zu beziehen und zu interpretieren. Die Frage, wer vermisst, die vermessene Person selbst oder eine andere, ist für die genealogische Analyse zunächst nachrangig, denn die Geräte und Verfahren der heutigen ‚Quantified Self‘-Kultur entstammen gerade jenen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen die Kluft zwischen den Messenden und den Probanden besonders schroff war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird in unterschiedlichen Wissenskontexten das Bestreben deutlich, Aussagen über den Menschen – über sein inneres Leben, seine biologische Disposition, seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, seine unverwechselbare Identität – durch exakte Quantifizierungen zu treffen. Eine Vielzahl neuer Apparate, Aufzeichnungstechniken und Messverfahren soll diese bislang eher spekulativ verhandelten Fragen an den Menschen mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit beantworten. Die Verfahren lassen sich vor allem zwei Erkenntnisbereichen zuordnen. Zum einen etablieren sich anthropologische Lehren, die große Kohorten von Menschen durch die Vermessung ihrer Körper klassifizieren und hierarchisieren, wie es Paul Brocas kraniometrische Schädelkunde oder Cesare Lombrosos kriminalanthropologische Bestimmung des ‚geborenen Verbrechers‘ ab den 1860er Jahren tun. Diese Erfassung des menschlichen Körperbaus führt zwanzig Jahre später, in dem von Francis Galton angeregten und vom Pariser Polizeibeamten Alphonse Bertillon ausgearbeiteten System der Anthropometrie, auch zu einer verlässlichen Erkennungsmethode rückfälliger Straftäter, die sich bis zur Durchsetzung der Fingerabdrücke als unverwechselbarem Kennzeichen jedes Menschen als polizeiliches Identifizierungsverfahren in den europäischen Städten bewährt. Zum anderen gewinnen zu dieser Zeit neue physiologische Messtechniken an Bedeutung, die genauere Aufschlüsse über die Lebensfunktionen des Menschen geben sollen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen Apparate wie der Sphygmograf und der Kymograf, die Pulsschlag und Blutdruck messen, der Pneumograf, der die Bewegung der Atmung im Brustkorb aufzeichnet, oder der Plethysmograf zur Messung des schwankenden Blutvolumens innerhalb eines Organs. Diese Quantifizierungsverfahren sollen nicht, wie die Vermessungen Brocas, Lombrosos oder Bertillons, die dauerhaften physischen Strukturen großer Menschengruppen ermitteln, sondern die flüchtigen, dynamischen Körperäußerungen des Einzelnen. Rasch weitet sich das Interesse an diesen Apparaturen von der somatischen Medizin auf andere Disziplinen aus. In den 1860er Jahren setzt eine neue Wissenschaft namens ‚Psychophysik‘ mentale Reaktionsmuster mit genau dosierbaren körperlichen Reizen in Beziehung; 1879 gründet Wilhelm Wundt in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie und versucht, mithilfe der Gerätschaften physikalischer oder medizinischer Labore Aufschlüsse über die Funktionsweise

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des Bewusstseins zu erhalten, die zuvor, wie sein Schüler Hugo Münsterberg schreibt, „nur der exklusiven Sphäre der philosophierenden Psychologie vorbehalten waren“. Das Innenleben des Menschen – seine Gefühle, Sehnsüchte, Fantasien – soll in den Kurven der Puls- und Blutdruckschreiber abbildbar werden. Münsterberg selbst, ab den 1890er Jahren in den USA lehrend, kommt für die Verbreitung und Wirkungskraft dieser Versuche eine bedeutsame Rolle zu. In seinem psychologischen Labor an der Universität Harvard, nach eigener Auskunft „27 Räume, mit elektrischen Leitungen übersät“, bemüht er sich, die Erkenntnisse seines Lehrers über das Verhältnis von Körperäußerungen und Bewusstseinsvorgängen in praktische Zusammenhänge wie das Wirtschaftsleben, die Pädagogik oder die Strafjustiz zu überführen. Diese angewandte Experimentalpsychologie, von Münsterberg und anderen ‚Psychotechnik‘ genannt, erinnert in ihrem Vermessungsoptimismus an die Rhetorik der heutigen Quantified-Self-Bewegung: „Mit Elektroden und dem Galvanoskop“, heißt es in seinem Hauptwerk Gründzüge der Psychotechnik von 1914, „können wir zeigen, wie die Schweißdrüsentätigkeit von Veränderungen im Bewußtsein abhängt, mit dem Sphygmograf und dem Pneumograf können wir feststellen, wie die Schwankungen der Gemütsbewegung auf Puls und Atmung einwirken.“19 Exakt berechnete Körperströme als Medien der Wahrheitsproduktion: Im ausgehenden 19. Jahrhundert werden die Fundamente einer humanwissenschaftlichen Anschauung gelegt, auf denen die heutigen Self-Tracker, die aus den Daten der Instrumente ihre Fitness, ihre Stimmung, ihre Normalität ableiten, noch immer stehen. Kennzeichnend für diese Fundamente ist aber der Umstand, dass die Vermessung des Menschen in den Jahrzehnten um 1900 in erster Linie die Vermessung des Abweichenden und Randständigen meint. Paul Brocas Schädelmessungen und die daraus resultierenden Rückschlüsse auf die Größe des Gehirns sollen vor allem als wissenschaftliche Legitimation der Hypothese dienen, dass dunkelhäutige Menschen von ihren Anlagen her mit einem geringeren Maß an Intelligenz ausgestattet sind als weiße. Cesare Lombrosos Kriminalanthropologie wiederum möchte anhand der anatomischen Untersuchung von tausenden Verbrecherschädeln, die er über die Jahre hinweg von den Gefängnissen und Friedhöfen Turins zur Verfügung gestellt bekommt, den Nachweis erbringen, dass kriminelles Verhalten auf atavistische Fehlbildungen zurückzuführen sei. Mit den Worten seines deutschen Übersetzers und Epigonen Hans Kurella: „Lombroso findet beim Verbrecher die

19Münsterberg,

Hugo (1908/1923), On the Witness Stand. Essays on Psychology and Crime. New York, S. 3, 6, Münsterberg, Hugo (1914/1920), Gründzüge der Psychotechnik. 2. Auflage. Leipzig, S. 236.

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enorme Entwicklung der Brauenbogen, die Dicke der Knochen, die Schiefheit des Hinterhauptes wieder, die der Neanderthal-Schädel zeigt.“ Straffällig Gewordene sind in diesem Verständnis „Rückfälle der Evolution“, deren biologische Anlagen zwangsläufig delinquente Biografien hervorbringen. In den späten Abhandlungen Lombrosos und den Arbeiten seiner zahlreichen Schüler führt diese Grundannahme zu einem weitverzweigten Klassifikationssystem des Devianten, das fast ein Dutzend Typen des ‚geborenen Verbrechers‘ mit spezifischen Körper- und Verhaltensanomalien in Beziehung setzt.20 Alphonse Bertillons Anthropometrie schließlich definiert sich schon durch ihre polizeiliche Einsatzpraxis als eine Vermessung von abweichenden Subjekten. Das neue Identifizierungssystem ist laut Bertillon eine Reaktion auf die „leere Hoffnung“ der erst kurz zuvor angelegten polizeilichen Fotoarchive, in die jeder Straftäter in den europäischen Großstädten aufgenommen wird. Die über 100.000 Verbrecherfotos, die etwa die Pariser Polizei bis 1880 gesammelt hat, ermöglichen längst keine praktikable Sortierung und Klassifizierung mehr; zudem sind Fotografien unzulängliche Datenträger, wenn es darum geht, die dauerhafte, weder durch Alter noch durch willkürliche Korrekturen des Äußeren veränderbare Identität rückfälliger Verbrecher festzustellen. Bertillon beseitigt diese Mängel, indem er bei jedem verdächtigen Straftäter rund ein Dutzend Körpermessungen vorzunehmen beginnt, an Stellen, die im Erwachsenenalter ein Leben lang unverändert bleiben. Unter anderem vermisst er, in der Reihenfolge der Berechnungssicherheit, die Länge des Unterarms, die Länge des Mittel- und des kleinen Fingers, die Länge und Breite des Schädels, die Länge des Fußes, die Spannweite der Arme und teilt die Werte jeweils in drei verschiedene Gruppe ein, ‚groß‘, ‚mittel‘ und ‚klein‘. Auf diese Weise entsteht das ‚anthropometrische Signalement‘ jedes Delinquenten, das seine Identität einer derart genauen Rasterung unterzieht, dass in den Polizeidienststellen der europäischen Großstädte die Frage, ob ein Verdächtiger an diesem Ort schon einmal straffällig geworden ist, ab den 1880er Jahren mit größerer Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit beantwortet werden kann. Denn die Werte der vermessenen Körperstellen unterscheiden sich, wie Bertillon angibt, so stark, dass auf „60.000 Personen nur ein Dutzend kommen, die annähernd dieselbe Maße vorweisen“. Aus der amorphen, nicht zu bändigenden Masse von Verbrecherfotos ist ein feinmaschiges, in hunderte Fächer aufgeteiltes Archiv geworden, von denen jedes einzelne Fach nur noch wenige Kärtchen mit identischen Messwerten erhält, die dann, im Abgleich mit herkömmlichen

20Kurella, Hans (1892), Cesare Lombroso und die Naturgeschichte des Verbrechers. ­ amburg, S. 11, Gould, Stephan Jay (1981/1994), Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt H am Main, S. 131; zu den Verbrechertypen vgl. Kurella (1892, S. 39).

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Erkennungszeichen wie Name und Fotografie, die Identität des Gesuchten offenbaren. „Die meisten der wiederverhafteten Verbrecher“, sagt Bertillon, „geben die Hoffnung auf, dass ihre, wenn auch noch so wohlberechneten Schliche unentdeckt bleiben könnten“.21 Eine Genealogie des quantifizierten Selbst muss genau diese Konstellation im Blick behalten: dass das Aufkommen der Vermessungstechniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untrennbar damit verbunden ist, Devianzen sichtbar zu machen. „Die Frage der Identität ist die Frage nach der Erkennbarkeit der Abweichung“, hat Manfred Schneider in seinem Buch über das Verhältnis von moderner Autobiografie und den Wissenschaften vom Menschen geschrieben, und für Verfahren wie die Kraniometrie, das anthropometrische Signalement oder auch die psychotechnischen Experimente ein Vierteljahrhundert später trifft diese Einschätzung vollständig zu. Wenn Bertillon am Ende eines Vortrags nicht ohne Stolz bilanziert: „Mit einem Worte, das Hauptwesen der neuen Methode besteht in der Aufgabe, die Persönlichkeit eines Jeden fest zu bestimmen, jedem Einzelnen eine zuverlässige, dauerhafte, unveränderliche Individualität zu sichern“, dann ist diese „Persönlichkeit“ am Ende des 19. Jahrhunderts gleichbedeutend mit einem Ensemble von Daten, das den Menschen im Grenzbereich des Normalen und sozial Verträglichen verortet und unter besondere Beobachtung stellt. Die Körpervermessungen nehmen in dieser Hinsicht eine ähnliche Bedeutung ein wie die ersten pädagogischen und psychologischen ‚Profile‘ Anfang des 20. Jahrhunderts. Erkenntnistheoretisch legitimiert wird diese Methode dadurch, dass die Anthropologen, Kriminologen und Psychophysiker von unbestreitbaren Zusammenhängen zwischen äußeren Merkmalen und inneren Zuständen, zwischen körperlichen Degenerationen und den zugehörigen geistigen, seelischen und moralischen Anomalien ausgehen. Broca und Lombroso nehmen, mit den Worten Marcus Krauses, eine „absolut transparente Repräsentationsbeziehung“ zwischen Schädel, Hirn und psychischer Disposition an (so wie es schon die Phrenologie Anfang des 19. Jahrhunderts getan hat, allerdings auf spekulativere Weise, ohne den Anspruch auf exakte Vermessung), und auch die Experimente Münsterbergs ordnen jede Erhöhung des Blutdrucks, jede Beschleunigung des Pulsschlags einer inneren Stockung zu.22

21Bertillon, Alphonse (1890), Das anthropometrische Signalement. Neue Methode zu ­Identitäts-Feststellungen. Berlin, S. 4, 11, S. 4/5. 22Schneider, Manfred (1986), Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, S. 23, Bertillon (1890, S. 30/31), Krause, Marcus (2008); ­Einleitung Sektion 5: Messen; in: ders. u. a (Hg.), Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. Frankfurt am Main, S. 355–390, S. 362.

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4 Vermessung, Klassifikation, Diskriminierung Dass der Fokus der Vermessungstechniken in den Humanwissenschaften auf der Erkenntnis der Abweichung liegt, führt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert schließlich zu dem vielfach wahrnehmbaren Ehrgeiz, ganze Bevölkerungsteile durch die Quantifizierung ihrer Körper zu diskreditieren und auszugrenzen. Der Wissenschaftshistoriker Stephen Jay Gould hat diesem wirkungsmächtigen Versuch vor 35 Jahren die berühmt gewordene Studie Der falsch vermessene Mensch gewidmet: eine zornige Grundlagenkritik des ‚biologischen Determinismus‘ Brocas, Lombrosos und der wissenschaftlichen Väter der Intelligenztests im 20. Jahrhundert. „Das ganze Unterfangen, Gruppen nach ihrem biologischen Wert einzuordnen“, möchte Gould in seinem Buch „als das brandmarken, was es ist: als irrelevant, geistig unredlich und in höchstem Maße schädlich“. Seine Analysen kreisen dabei vor allem um zwei fundamentale Trugschlüsse bei der Messung von Intelligenz, wie Kraniometrie und quantifizierende Psychologie sie Gould zufolge vornehmen: zum einen die wissenschaftliche Praxis, „abstrakte Begriffe in Wesenheiten zu verwandeln“, und zum anderen die Vorgehensweise, „komplexe Variationen auf einer allmählich ansteigenden Skala einzuordnen“. Diese doppelte Reduktion eines heterogenen Phänomens wie Intelligenz auf ein „einheitliches Ding“, das dann innerhalb von Rangordnungen konkret beziffert werden kann, würde zur titelgebenden „falschen Vermessung des Menschen“ führen. Stephen Jay Gould hält diese methodischen Unzulänglichkeiten allerdings insofern für konsequent, als es der Kraniometrie oder den Massenintelligenztests Goddards und Termans ohnehin nicht um den Versuch objektiver Erkenntnis gehe, sondern um die wissenschaftliche Beglaubigung sozialer Vorurteile und die „Veranschaulichung von Apriori-Schlüssen“. Die Rangordnung ‚WeißerSchwarzer-Affe‘ oder ‚Unbescholtener-Verbrecher-Affe‘ stehe im sozialdarwinistisch geprägten Denken von Broca oder Lombroso bereits von Anfang an fest, bevor die Vielzahl der Vermessungen nur vermeintliche Indizien für eine ideologisch motivierte Grundhypothese liefern würde.23 Auch wenn Goulds Vorgehen seinerseits methodische Fragen aufwirft, indem er ebenfalls eine a priori gesetzte Hypothese mit einer Sammlung von Indizien belegen will und an manchen Stellen einfach die kritisierten historischen Messergebnisse durch genauere eigene zu übertrumpfen versucht, ist sein Buch ein wichtiger Bezugspunkt für die hier verhandelten Fragen. Zuallererst macht es die

23Gould

(1981/1994, S. 132, S. 18/19, S. 74/75).

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Differenzen sichtbar, die zwischen den mächtigen Vermessungswissenschaften in den Jahrzehnten um 1900 und den Techniken der Selbsterfassung in der digitalen Kultur bestehen. Die Quantified-Self-Anhänger von heute betrachten sich zwar wie die von Gould beschriebenen Forscher als „Diener ihrer Zahlen“24; die Nutzung dieser Messwerte zur Erklärung sozialer Schichtung und zur Ausgrenzung von Gruppen spielt aber überhaupt keine Rolle. Besonders deutlich wird dieser Unterschied am Begriff der ‚Disposition‘. Für die Kraniometriker und die amerikanischen Popularisierer des Intelligenztests sind die biologischen – und nach den Durchbrüchen des Vererbungswissens in den 1880er Jahren auch die genetischen – Anlagen jedes Menschen der entscheidende Faktor für dessen Entwicklung und sozialen Status. Das Sein des Straftäters oder des problematischen Schülers ist alles, niedergelegt in seiner Schädelform, seinem Gehirnvolumen, seiner Erbmasse; das von äußeren, dynamischen Faktoren geprägte Werden ist zu vernachlässigen. Gould bezeichnet die von ihm analysierten Vermessungswissenschaften daher mit einem schönen Begriff als „Theorien der Grenze“25: Sie besagen, dass die quantifizierbaren Unterschiede zwischen Ethnien, Geschlechtern oder Populationen nicht nur angeboren, sondern vor allem unabänderlich seien. Diese naturbedingte, für das Individuum nicht zu überwindende Klassifikation widerspricht aber allen Grundsätzen der Quantified-Self-Kultur, der es ja um die permanente Verschiebung und Optimierung von Grenzen geht, um die Tag für Tag, Schritt für Schritt näherrückende Wunschvorstellung eines gesünderen, leistungsstärkeren, erfüllteren Lebens. Von der datengestützten Zementierung der Grenzen zwischen Gruppen zur datengestützten Erweiterung der Grenzen von Individuen: Dieser weite Bogen scheint die früheren Vermessungswissenschaften von den Self-Trackern der Gegenwart zu trennen. Und dennoch fallen bei näherer Betrachtung einige Ähnlichkeiten der Verfahren und Motivationen ins Auge, die diese Distanz wieder schrumpfen lassen. In Goulds Buch werden Kategorien wie der ‚Schädelindex‘ oder der ‚Intelligenzquotient‘ deshalb zum Gegenstand scharfer Kritik, weil sie ein vielschichtiges Phänomen in eine „messbare Wesenheit“26 verwandeln. Könnte man Konzepte wie die ‚Vitality-Punkte‘ des neuen Versicherungsprogramms von Generali oder den ‚Health Score‘ der Schweizer Firma Dacadoo nicht als ebensolche Reduktionen begreifen? Komplexe, von Person zu Person unterschiedlich formierte Gebilde wie ‚Gesundheit‘ oder ‚Stimmung‘ erscheinen

24Ebd.,

S. 19. S. 164. 26Ebd., S. 173. 25Ebd.,

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hier als präzise berechenbares, für jeden gleichermaßen gültiges Quantum. Die beiden methodischen „Trugschlüsse“, die Gould für die historische Vermessung von Intelligenz nachzuzeichnen versucht, „Verdinglichung“ und „Skalierbarkeit“, könnten also mit ähnlichem Recht auch für die heutige Vermessung von Gesundheit oder Wohlbefinden gelten. Im Zuge dessen verschiebt sich auch die Sorge um das Individuum, die das Quantified-Self-Projekt auf den ersten Blick leitet, in Richtung eines Zugriffs auf Kollektive. Es geht nicht, wie bei Broca, Lombroso oder Goddard, um die biologische Legitimation der sozialen Minderwertigkeit von Frauen, Schwarzen, Verbrechern oder Armen. Was die neuen, durch digitale Selbsterfassung gestützten Versicherungs- und Krankenkassen-Programme jedoch ermöglichen sollen, ist die genauere Bestimmung und Differenzierung der Gruppen von Gesunden und Kranken, Wohltrainierten und Ermatteten, Vorsorgebewussten und Fahrlässigen. Es ergeben sich neue Hierarchien, die zwar keine naturgegebenen Klassifikationen darstellen sollen, in einem wichtigen Aspekt aber den früheren Vermessungswissenschaften entsprechen: in der Aussparung sozialer und ökonomischer Faktoren. Lewis Terman, Entwickler des Stanford-Binet-Tests, äußerte vor hundert Jahren die Überzeugung, „daß Klassengrenzen durch angeborene Intelligenz gezogen seien“.27 Wenn Gary Wolf seine vier Begriffe ‚dünn‘, ‚reich‘, ‚glücklich‘, ‚intelligent‘ präsentiert und sie zu den Leitzielen des Self-Trackings macht, nimmt er ebenfalls eine absolute Instanz im Innern des Menschen an – nicht mehr, wie Terman, die körperliche Anlage, sondern den unbedingten Willen, der stärker sei als jede gesellschaftliche Kraft. In Termans Argumentation bleibt derjenige arm und dumm, der über eine niedrige Intelligenz verfügt, in Wolfs Argumentation derjenige, der nicht genug Leistungsbereitschaft und Erfassungsdisziplin aufbringt – gewiss keine kategorisch unterschiedlichen Positionen. Der Sozialdarwinismus der Schädel- und Hirnvermesser erscheint heute als eine Art Mentalitätsdarwinismus, und in diesem Sinne ist es kein Zufall, dass eine der jüngsten Werbeanzeigen des Unternehmens Fitbit die Genese seiner Self-Tracking-Geräte an die berühmte evolutionsgeschichtliche Tafel ‚The March of Progress‘ anlehnt. Wenn es den einflussreichsten Konzernen der digitalen Kultur tatsächlich um die Schaffung eines neuen Menschen geht, macht das Anzeigenmotiv – mehr als eine bloße spielerische Referenz – diesen Anspruch mit ungewöhnlicher Deutlichkeit klar. Die Gemeinschaft der Selbstvermesser bringen solche Genealogien in eine missliche Lage. Bekanntlich handelt es sich um eine Community

27Ebd.,

S. 201.

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voller politisch-moralischer Sensibilität, mit dezidiert antirassistischen und antisexistischen Grundsätzen. Doch sie führt im frühen 21. Jahrhundert Vermessungspraktiken fort, die im späten 19. Jahrhundert im Namen des Sexismus, Rassismus und der sozialen Diskriminierung entstanden sind.

5 Introspektion und Datenerzeugung Wenn Gary Wolf in seinem Gründungsmanifest der Quantified-Self-Bewegung die Vermessung des Körpers vom „weitschweifigen literarischen Humanismus“ der Psychoanalyse abgrenzt und deren Sprachbohrungen in den Tiefenschichten des Bewusstseins die technische Aufzeichnung der „trivialsten, beiläufigsten Gedanken und Handlungen“ entgegenhält, wiederholt er einen Methodenstreit in der Erkenntnis des Menschen, der sich genau in den Jahren um 1900 zuspitzt. Freud und Breuer demonstrieren in ihren ersten Fallgeschichten die Macht der ‚talking cure‘, die hysterische Körpersymptome heilbar macht, indem der Analytiker die richtigen Erinnerungen, die richtige Erzählung im Patienten hervorruft und den neurotischen Komplex dadurch lösen kann. Das Selbst ist in dieser therapeutischen Vorstellung ein Ensemble von besser oder schlechter verarbeiteten biografischen Eindrücken, und die Kunst der Psychoanalyse besteht darin, über das Medium der Sprache an den Ursprung der ‚verdrängten‘, leidbringenden Eindrücke in der Vergangenheit zu gelangen. Diesem hermeneutischen Zugang zum Innenleben des Menschen, dieser gewissermaßen vertikalen Perspektive auf seine Geheimnisse und Rätsel, steht in den Humanwissenschaften an der Wende zum 20. Jahrhundert aber eine mindestens ebenso einflussreiche horizontale Verfahrensweise gegenüber. Disziplinen wie die experimentelle Psychologie und die daraus hervorgehenden Schulen der Psychotechnik und des Behaviorismus interessieren sich weniger für den sprachlichen Zugang zum Menschen oder die biografischen Ursprünge von Störungen, sondern befassen sich mit der Hervorbringung und Aufzeichnung körperlicher Oberflächenäußerungen. Anstelle der Introspektion des Patienten steht die Vermessung, anstelle der Produktion von Erinnerungen und Worten die Produktion von Körperströmen und Daten, anstelle des verzögerten Ausbruchs latenter Komplexe die sofortige Reaktion auf Reize. Diese Reaktionen und Ströme sind allerdings so fein, dass sie mit menschlichen Sinneswerkzeugen zumeist nicht mehr registriert werden können. Der „Nachweis“, schreibt etwa Hugo Münsterberg 1914, „daß auch die leichtesten Gefühlsschwankungen sich in Veränderungen des Blutkreislaufs, in unwillkürlichen Muskelbewegungen, in Hautdrüsentätigkeit bekunden“, bedarf technischer Hilfsinstrumente, um die körperlichen Äußerungen

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seelischer Regungen „auch da wahrnehmbar zu machen, wo sie dem gewöhnlichen Bewußtsein des Beschauers entgehen würden.“28 Für die quantifizierende Psychologie ist die Assistenz von Apparaturen und technischen Medien daher von Anfang an eine Notwendigkeit. Pulsschreiber, Blutdruckschreiber, Pneumografen müssen jene Aufgabe übernehmen, für die der Analytiker nur Ohren, Stift und Papier benötigt. In dem Maße, in dem die Humanwissenschaften also den Glauben verlieren, dass der Mensch aus sich selbst heraus, durch die Mittel der Erinnerung und Sprache, die Wahrheit über sein Inneres preisgeben könnte, erhöht sich der technologische Aufwand, um diese Wahrheit aus den fragmentierten Signalen seines ­Körpers zusammenzutragen. Eine der schärfsten Kritikerinnen des hermeneutischen Zugangs zum Innenleben des Menschen ist in dieser Zeit, neben Münsterbergs Psychotechnik, die in den USA aufkommende behavioristische Psychologie. Wo sich die experi­ mentelle Schule Wilhelm Wundts seit den 1870er Jahren um exakte ­Messungen menschlicher Bewusstseinsregungen bemüht, geht John Watson, der Begründer des Behaviorismus, noch einen Schritt weiter und schafft die Kategorie des Bewusstseins grundsätzlich ab. In seinem Aufsatz Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht von 1913 heißt es: „Die Zeit scheint gekommen zu sein, da die Psychologie jeden Bezug auf das Bewußtsein aufgeben muß und sich nicht mehr der Illusion hingeben darf, daß sie Bewußtseinszustände zum Gegenstand ihrer Beobachtung macht.“ Die Erneuerungsleistung der ­experimentellen Psychologie, schreibt er, hätte „lediglich darin“ bestanden, „daß das Wort ‚Seele‘ durch die Bezeichnung ‚Bewußtsein‘ ersetzt wurde“. John Watson möchte dieser Fahndung nach einer ephemeren, gleichwie bezeichneten psychischen Essenz des M ­ enschen schlicht die pragmatische Erforschung seiner Verhaltensweisen und ­Aktivitäten entgegensetzen. Er studiert, wie die experimentellen Psychologen, das Verhältnis von ‚Reiz‘ und ‚Reaktion‘, von äußeren Impulsen und inneren Transformationen menschlicher Handlungen – aber ganz ohne den Anspruch, dieses Innere zu erhellen, sondern nur mit dem Interesse an wiederkehrenden Verhaltensmustern. Der Behaviorismus möchte nichts als Effekte beobachten und messen; der Ursprung dieser Effekte, in den subjektiven Regungen des P ­ robanden, ist ihm gleichgültig. „Ihr thematisches Ziel“, sagt John Watson über die neue Wissenschaft, „ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten.“29

28Münsterberg (1914/1920, S.  236); vgl. auch die ganz ähnlichen Passagen S. 507, ­Münsterberg (1908/1923, S. 82). 29Watson, John (1913/1968), Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht; in: ders., Behaviorismus. Köln, S. 13–28, S. 17; Watson, John (1925/1930), Der Behaviorismus. Berlin/Leipzig, S. 22, Watson (1913/1968, S. 13).

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Die aufstrebende Methode des Behaviorismus, auf viele Jahrzehnte hinaus eine der einflussreichsten psychologischen Schulen in den USA, ist gleichbedeutend mit einer Kritik der Repräsentationsweisen sprachorientierter Psychologie. Worte sind in dieser Anschauung fragwürdige Botschafter innerer Zustände; die Kultur der Sprache erscheint als ein zu verschlungener Umweg, um die instantanen Verhältnisse von Reiz und Reaktion adäquat abzubilden. Burrhus Frederic Skinner, dessen Studien die große Karriere der Behaviorismus ab den 1930er Jahren maßgeblich zu verdanken ist, betont diese Inkongruenz zwischen emotionalem Innenleben und sprachlichem Ausdruck immer wieder. „Wir können Gefühle einfach als Reaktionen auf Reize auffassen“, schreibt er, „aber die Berichte über sie sind das Ergebnis der besonderen sprachlichen Kontingenzen, die durch eine Gesellschaft bereitgestellt sind.“ Nicht der formulierbare „Begriff der Empfindung oder Wahrnehmung“ müsse deshalb Sache der Psychologie sein, sondern der messbare „Vorgang der Reizselektion“.30 Die Bezüge aktueller Quantified-Self-Verfahren auf psychotechnische und ­behavioristische Perspektiven fallen hier klar ins Auge. Sprache ist auch den heu­ tigen Selbstvermessern ein unzulängliches Medium für die Erkenntnis des Menschen; die Fitnessarmbänder, Smart Watches oder die Apps zur Quantifizierung der eigenen Stimmung sollen Auskünfte über den Nutzer durch die Daten seiner Körperäußerungen geben. Ulrich Raulff hat die Etablierung der quantifizierenden Psychologie in der Zeit um 1900 einmal mit dem Satz beschrieben, „dass man sich von den Wesensfragen ab- und den Wirkungsfragen zuwendet.“31 Genau diese Konstellation treibt die Self-Tracking-Kultur mit ihren ubiquitären Aufzeichnungen voran – allerdings mit einem bedeutsamen Unterschied, der für das Menschenbild digitaler Selbsterfassung zentral ist. Behavioristen wie Watson und Skinner betonten in ihren Abhandlungen stets, dass die Verschiebung des psychologischen Interesses vom ‚Bewusstsein‘ zum ‚Verhalten‘ an eine radikale Kritik des autonomen Subjekts gebunden sei. In seiner Psychologie, schreibt Skinner, sei die Vorstellung eines „selbständigen Handlungsträgers“ nicht vorgesehen. Der Mensch müsse vielmehr als ein Kreuzungspunkt verstanden werden, „an dem zahlreiche genetische Zustände und Umweltbedingungen zusammentreffen und eine gemeinsame Wirkung haben“. Und er unterstreicht: „Ein Selbst, das der Urheber oder Initiator seines Handelns wäre, findet in u­ nserer wissenschaftlichen

30Skinner,

Burrhus Frederic (1974/1978), Was ist Behaviorismus? Reinbek bei Hamburg, S. 40, S. 22. 31Raulff, Ulrich (1985), Münsterbergs Erfindung oder Der elektrifizierte Zeuge; in: Freibeuter 24, S. 33–42, S. 39.

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Theorie keinen Raum.“32 Dies ist eine auffällige Paradoxie der Self-TrackingKultur: Sie übernimmt die ­erkenntnistheoretischen Grundsätze der Psychotechnik und des Behaviorismus, betrachtet den Menschen als Produzenten von Oberflächendaten, dessen ­ Inneres unergründet bleiben muss, aber zieht aus ihren ­Praktiken ganz andere Schlüsse für den Status des Subjekts. Das ‚Quantified Self‘ – indem es seine Blutdruck-, Puls- und Bewegungsschreiber selbst anlegt und verwaltet – soll mit besonderer Emphase zu jenem „Urheber und Initiator seines Handelns“ werden, den Skinner verabschiedet hat. Es zeigt sich hier genau dieselbe Diskontinuität, die etwa auch die Transformation der elektronischen Fußfessel zum GPS-fähigen Smartphone kennzeichnet: das technische Ensemble ist beinahe identisch, die Grundfunktion der Erfassung bleibt bestehen, aber die ehemaligen Kontrollinstrumente haben sich in Werkzeuge der Selbstermächtigung verwandelt.

6 Das Lüften des Schleiers Um die Frage zu klären, warum die Quantified-Self-Bewegung gerade auf Wissenschaften beruht, die den Status des vermessenen Subjekts als möglichst passiv beschreiben, ist es vielleicht angebracht, ein letztes Mal auf Gary Wolfs Essay von 2010 zurückzukommen. In diesem Text zitiert er einen Self-­Tracker, der sein Verlangen nach Alkohol seit Jahren akribisch in einem elektronischen Journal auflistet und davon spricht, dass ihm die aufrichtige Rechenschaft gegenüber einer Datenbank leichter falle als gegenüber anderen Menschen. Wolf kommentiert das Bekenntnis des Mannes mit den Worten: „Es wäre ja auch dumm, eine Maschine zu täuschen.“33 Diese Aussage markiert das prinzipiell unproblematische Verhältnis zur Wahrheit in der Self-Tracking-Kultur. Wenn der messende und der vermessene Mensch identisch sind, gibt es keinerlei Grund, die Bereitwilligkeit des Probanden, verlässliche Daten zu produzieren, anzuzweifeln; Innenleben und Körperzeichen des Vermessenen stehen in einer harmonischen Beziehung. Der Leiter der Untersuchung und ihr Gegenstand sind Komplizen. In dieser Komplizenschaft aber besteht einer der entscheidenden Unterschiede zwischen der gegenwärtigen Selbsterfassungslust und ihren wissensgeschichtlichen Referenzen. Das Verhältnis von Anthropometriker und Straftäter, Psychotechniker und Patient, Verhaltenselektroniker und Proband ist im Gegenteil eines

32Skinner 33Wolf

(1974/1978, S. 175, S. 191, S. 253/54). (2010, S. 11).

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der Rivalität; die Apparate und Methoden, die in der Zeit um 1900 entwickelt wurden, sollten verheimlichtes Wissen sichtbar machen. „Sowohl Ärzte wie Juristen“, schreibt Hugo Münsterberg, „haben unter bestimmten Bedingungen ein Interesse daran, verborgen gehaltene Gedanken oder Stimmungen ans Licht zu zerren.“34 Hinter diesem Schleier liegt die Wahrheit der psychischen Störung, der Schuld oder der geheim gehaltenen Identität, die von den Untersuchten zwar nicht freiwillig ausgesprochen, aber durch die Kombination ihrer Knochenlängen oder die Graphen ihrer Körperströme offenbart werden. Es geht in den Vermessungswissenschaften also immer um die Selbstwiderlegung der Probanden: Was die Zunge nicht sagt, soll der Schädeldurchmesser oder die Pulsfrequenz beweisen. Genau diese Konfrontation ist der Quantified-Self-Bewegung aber unbekannt. Körperäußerungen und Vorstellungsinhalt sind in ihrer Rhetorik immer kongruent. Wenn man sich fragt, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts zu dieser Konjunktur der Wahrheitsfindungsapparate gekommen ist, dann spielt die anschwellende Rede von der Unzuverlässigkeit der Zeugenaussage eine zentrale Rolle. Sie treibt die Allianz von angewandter Psychologie und Strafjustiz voran. Hans Gross’ Handbuch für Untersuchungsrichter, das Gründungsbuch der Disziplin ‚Kriminalistik‘, ist vor allem ein Effekt der Krise des Zeugen um 1900. Auch Hugo Münsterberg schreibt: „Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich seit kurzem eine eigene Spezialwissenschaft gebildet hat, die sich allein mit der Zuverlässigkeit von Erinnerung beschäftigt.“35 Der Forschungsbeitrag der Psychotechnik besteht vor allem darin, Verfahren und Apparate zu konstruieren, die dieser mangelnden Zuverlässigkeit nicht mehr bedürfen, „Prothesen der Wahrheitsfindung“36, die stabiler sind als die brüchigen Aussagen von Zeugen oder die unter der Androhung und tatsächlichen Ausführung von Gewalt erpressten Geständnisse von Verdächtigen. „Das tägliche Leben“, schreibt Münsterberg, „bringt jeglichem die Gelegenheit zu beobachten, wie sich Gefühle unabsichtlich und oft gegen die Absicht der Individuen in ihrem unwillkürlichen Verhalten und Benehmen oder in den wahrnehmbaren Funktionen ihres Blutgefäßsystems oder ihren Drüsen bekunden. Wenn wir sehen, wie eine Person bei einen bestimmten Namen errötet oder erblaßt, wie Tränen in die Augen treten oder die Sprache stockend wird oder die Hand zittert, so nehmen wir es als

34Münsterberg

(1914/1920, S. 237). (1908/1923, S. 45/46). 36Vgl. Raulff (1985, S. 36). 35Münsterberg

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Anzeichen einer inneren Erregung“.37 Es geht also um eine verlässliche Semiotik der Schuld, die, wie bei Broca oder Lombroso ein knappes halbes Jahrhundert zuvor, auf einer klaren Repräsentationsbeziehung zwischen körperlichen Signalen und inneren Zuständen beruht, nun allerdings nicht mehr im Sinne einer unumstößlichen biologischen Disposition, die Münsterberg ablehnt, sondern bezogen auf den flüchtigen Seelenzustand im Augenblick der Befragung. Ausgehend von der Überzeugung, dass das Erblassen und Erröten des Probanden, die Frequenz seines Herzschlags, die Schnelligkeit seiner Atmung untrügliche, genau übersetzbare Zeichen seines Innenlebens sind, konstruiert Hugo Münsterberg, wie er vor allem in seinem Buch On the Witness Stand von 1908 beschreibt, einen sogenannten ‚Polygrafen‘, das Urmodell des Lügendetektors. Zurückgehaltene Wahrheit und verheimlichte Schuld – innere Komplexe, die Freud zur gleichen Zeit durch Erzählungen aufzuspüren und zu lösen sucht – sollen sich mithilfe des Apparats offenbaren, wobei der Code der Übersetzung klar ist: Regelmäßige Frequenzen und ruhige Kurven bedeuten Aufrichtigkeit und Unschuld; jede Stockung, jedes heftige Ausschlagen ist verdächtig und weist auf einen inneren Zwiespalt. Hugo Münsterberg ist zwar so vorsichtig, dass er die Gefahr der Fehlinterpretation in Betracht zieht und konstatiert, dass „Symptome der bloßen Aufregung, wie sie die Gerichtsverhandlung auch für den Unschuldigen mit sich bringt, als Anzeichen der Schuld mißdeutet werden“. Dieser Einschränkung zum Trotz erkennt er im Polygraphen aber eine Apparatur, die zuverlässiger ist als die früheren, zum Beispiel durch Anwendung von Folter vollzogenen „Versuche, den verheimlichten Tatbestand der Seele des Angeklagten zu entreißen“38. Bis zu seinem Tod 1916 arbeitet Hugo Münsterberg regelmäßig als psychologischer Sachverständiger in Gerichtsprozessen; seine polygrafischen Studien werden in den Jahren rund um den Ersten Weltkrieg von verschiedenen Forschern weitergeführt und erhalten durch spektakuläre Einsätze im amerikanischen Justizsystem ab den 1930er Jahren große Prominenz. Der Ruf des ‚Lügendetektors‘ in dieser Zeit ist der eines unerbittlichen Apparats, der noch das bestgehütete Geheimnis gegen alle Widerstandsversuche zum Vorschein bringt, und dementsprechend gering ist die Bereitschaft von Verdächtigen oder zweifelhaften Zeugen, sich dieser Körperbefragung auszusetzen. („Ich weiß zwar nichts über Polygrafen, aber dass die Leute eine Höllenangst davor haben“, soll noch Richard Nixon zu Beginn der Watergate-Affäre gesagt haben39). Durch Aufbietung vereinter Kräfte

37Münsterberg

(1914/1920, S. 506/07). (1914/1920, S. 502) (siehe ganz ähnlich auch S. 512), S. 502. 39Zitiert bei Raulff (1985, S. 33). 38Münsterberg

Komplizen des Erkennungsdienstes

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müssen die Delinquenten an die Wahrheitsmaschine geschnallt werden; die Messungen sind in diesem Kontext nur als ein erzwungenes, sich über den Willen des Probanden hinwegsetzendes Unterfangen denkbar. Ein solches Ensemble der Körper steht in größtem denkbaren Widerspruch zu jenem anderen, zeitgleich etablierten Ritual der Wahrheitsfindung, das die psychoanalytische Sitzung darstellt. Ulrich Raulff hat diese beiden emblematischen Szenen der Humanwissenschaften im frühen 20. Jahrhundert in einer großartigen Passage seines Essays über Hugo Münsterberg nebeneinander gehalten. Im Behandlungszimmer des Psychoanalytikers liegt der Patient auf dem Sofa, hinter ihm sitzt der Analytiker in seinem Sessel und notiert – bequeme Körperhaltungen, weiche Materialien, kein unmittelbarer Blick- oder Körperkontakt zwischen den beteiligten Personen. Auf der anderen Seite die Szene der Polygrafie, in einem kargen, grell beleuchteten Raum, mit funktionellen Möbeln; der Untersuchungsleiter und der Proband sitzen einander gegenüber, Mitarbeiter halten ihn vielleicht fest, und dazwischen steht das Gerät, das mit dem Vermessenen durch viele Leitungen verbunden ist. „Wenn du“, schreibt Raulff über dieses zweite Emblem, „die Wahrheit nicht sagen kannst oder willst –, vielleicht wirst du sie ausschwitzen? Damit soll nicht gesagt sein, die Sprache spiele hier keine Rolle mehr. Nur ist es nicht mehr die eines langen Ringens um den Sinn, sondern eher die einer verbalen Vivisektion: gleich kleinen Lanzetts oder Dornen werden hier Stichwörter gegen einen Körper geführt, der angebohrt werden muß, auf daß das Sekret der Wahrheit austrete“.40 Aus heutiger Perspektive ist es aufschlussreich, dass Ulrich Raulff diese Gegenüberstellung in seinem gut dreißig Jahre alten Essay ohne Zögern als Opposition von Freiwilligkeit und Zwang, Gespräch und Verhör inszenieren konnte. Die Psychoanalyse geschieht im Einvernehmen zwischen Arzt und Patienten; die Vermessung am Polygrafen ist ein Kampf, in dem sich der lügende Delinquent der Wahrheitskraft des Apparats beugen muss. Im Zeitalter des ‚Quantified Self‘ stehen sich inzwischen zwei eigenmächtig betriebene Verfahren gegenüber. So wie die Klienten eines Analytikers in der Regel freiwillig in die Praxis kommen und mit ihm kooperieren, schnallen die Selbstvermesser ihre kostspielig erworbenen Fitbit-Armbänder aus eigenem Antrieb um. Der Mensch wird zwar weiterhin, wie Gary Wolf schreibt, als Mängelwesen empfunden, aber es ist nicht mehr der Mangel an Ehrlichkeit oder Geständnisbereitschaft, der die Notwendigkeit der Vermessungsgeräte hervorbringt, sondern der Mangel an Aufmerksamkeit, was die eigene Fitness, das eigene Wohlbefinden betrifft. In der digitalen Kultur sind wir zu Komplizen des Erkennungsdienstes geworden.

40Raulff

(1985, S. 42). Ein Schreibfehler im Original wurde getilgt.

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Literatur Bertillon, Alphonse (1890), Das anthropometrische Signalement. Neue Methode zu IdentitätsFeststellungen. Berlin Gould, Stephan Jay (1981/1994), Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt am Main Krause, Marcus (2008); Einleitung Sektion 5: Messen; in: ders. u. a. (Hg.), Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. Frankfurt am Main, S. 355–390 Kurella, Hans (1892), Cesare Lombroso und die Naturgeschichte des Verbrechers. Hamburg Lichtenberg, Georg Christoph (1778/1972), Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis; in: ders., Schriften und Briefe. Herausgegeben von Wolfgang Promies. Dritter Band. München, S. 256–295 MacManus, Richard (2014), Health Trackers. How Technology is Helping us Monitor and Improve Our Health. Auckland Münsterberg, Hugo (1908/1923), On the Witness Stand. Essays on Psychology and Crime. New York Münsterberg, Hugo (1914/1920), Gründzüge der Psychotechnik. 2. Auflage. Leipzig Neff, Gina/Nafus, Dawn (2016), Self-Tracking. Cambridge Raulff, Ulrich (1985), Münsterbergs Erfindung oder Der elektrifizierte Zeuge; in: Freibeuter 24, S. 33–42 Schneider, Manfred (1986), Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München Skinner, Burrhus Frederic (1974/1978), Was ist Behaviorismus? Reinbek bei Hamburg Watson, John (1913/1968), Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht; in: ders., Behaviorismus. Köln, S. 13–28 Watson, John (1925/1930), Der Behaviorismus. Berlin/Leipzig Wolf, Gary (2010), The Data-Driven Life; in: New York Times Magazine, nytimes. com/2010/05/02/magazine/02self-measurement-t.html, S. 12 www.fitbit.com/de

Digitale Themen in der sozialen Beratung

Algorithmische Verhaltensmodifikation Weshalb Digitalisierung ein zentrales Thema für Beratung ist Stephan Rietmann Zusammenfassung

Digitalisierung ist ein gesellschaftlicher Großtrend, der zunehmend alle Lebensbereiche verändert. In diesem Beitrag werden mögliche Folgen dieser Entwicklung für professionelle Beratung in Form von Hypothesen und Denkangeboten diskutiert. Postuliert werden Veränderungen insbesondere im Selbstbild von Menschen, in der Art Beziehungen zu gestalten, in der Konfliktkultur und der Weise, wie wir Zeit gestalten. Schlüsselwörter

Algorithmus · Beratung · Digitalisierung · Verhaltensmodifikation ·  Psychologische Folgen · Soziale Kontrolle

„Und wir wollen nicht zurück in die vordigitale Zeit, sondern vorwärts in eine Zeit, in der digitale Technik wirklich der Entfaltung der Menschlichkeit dient, der Demokratie, der Aufklärung, der Geschwisterlichkeit, der Gerechtigkeit und der Freiheit. Das ist, unter den Bedingungen, die wir nun beschreiben werden, nicht unbedingt absehbar. Unmöglich aber ist es nicht.“ (Metz und Seeßlen 2018, S. 9)

Einleitung Digitalisierung ist zwar in aller Munde und digitale Endgeräte in Händen vieler Menschen, gleichwohl ist die Befassung mit dem Thema, dessen Bedeutung und bereits heute beobachtbaren Folgen in Beratungsstellen erstaunlich zurückhaltend. S. Rietmann (*)  Caritasverband Dekanat Borken e. V., Borken, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_7

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Dies mag sich darin begründen, dass etwa zweidrittel der Mitarbeiterschaft in Erziehungsberatungsstellen älter als 40 Jahre sind (siehe dazu den Band von Rietmann und Sawatzki 2018) und somit in die Kategorie der digital immigrants fallen. Wenn man in Beratungsstellen über Digitalisierung spricht, verbindet sich dies vielfach mit der Auffassung, man arbeite bereits intensiv mit digitalen Medien, weil man Onlineberatung betreibt oder eine elektronische Klientenakte führt. Eine kritische, nicht selten ablehnende Sicht auf die Nutzung von Smartphones, Computerspielen und die fortschreitende Digitalisierung wird bei dieser Gruppe der Fachkräfte oftmals durch eigene Praxiserfahrungen im Beratungsalltag unterstützt. Denn wer mit Kindern, Jugendlichen und Institutionen wie Schulen arbeitet, kommt täglich mit problematischen sozialen Folgen der Digitalisierung in Kontakt, weniger mit digital- und medienkompetenten Zielgruppen. Dass es sich hierbei nicht ausschließlich um eine fachlich erklärbare Verzerrung handelt, sondern das Thema durchaus substanzielle Befassung verdient, wird durch empirische Arbeiten untermauert. Forschungsbefunde zeigen nämlich, dass die psychosozialen Folgen der voranschreitenden Digitalisierung teilweise problematisch sind. Tatsächlich kann die exzessive Nutzung des Internets als Ersatz für unerreichte Ziele und unerfüllte Wünsche neue Verhaltenssüchte, Vereinsamung und Verwahrlosung entstehen lassen (te Wildt 2016). Beratungsanlässe, die sich auf digitale Themen beziehen oder diese berühren, wie beispielsweise exzessive Mediennutzung oder Cybermobbing, werden in Beratungsstellen dementsprechend oft in Störungen der Impulskontrolle, pubertäre Entwicklungsdynamiken, konflikthafte Beziehungen und dergleichen mehr eingebettet gesehen, allerdings nicht primär der Digitalisierung zugeschrieben. Digitalisierung durchdringt spürbar nahezu alle Lebensbereiche und der Nutzen dieser Technik ist an vielen Stellen ausgesprochen hoch. Online verfügbare Information erleichtert den Alltag, Navigationshilfen optimieren Reiserouten, Preisvergleiche unterstützen Kaufentscheidungen und Messenger Dienste erleichtern es in vorher nie gekannter Weise, soziale Kontakte zu unterhalten. Kaum jemand würde auf heilende medizinische Behandlung verzichten, nur weil sie digital statt analog vermittelt wird. Auf der anderen Seiten geraten mit der Digitalisierung einhergehende Gefahren stärker in den Blick: die seit Edward Snowden publik gewordene Möglichkeit der Massenüberwachung, der allseits bekannte Umstand, dass man die Bequemlichkeit bei der Nutzung digitaler Dienste mit personenbezogenen Daten und daraus resultierender Verhaltensmanipulation durch große Internetkonzerne bezahlt oder das in diesem Band von Andreas Schlieker vorgestellte Massenüberwachungsprogramm in der Volksrepublik China; siehe dazu auch Strittmatter (2018). Immer mehr gerät in den Blick, welch gleichzeitig offensichtlicher und tiefenwirksamer Einfluss durch digitale Technik ausgelöst wird.

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Mit der Digitalisierung eröffnet sich ein Chancen-Risiken-Feld, das hier mit Blick auf psychosoziale Beratung und in Form von Arbeitshypothesen skizziert werden soll. Dazu werden Thesen mit bewusst vorläufigem Charakter formuliert, die jeweils darlegen, welche Änderungen sich im Alltag und damit für die Beratung ergeben könnten. Diese Thesen stützen sich auf die dazu jeweils angegebene Literatur und Alltagsbeobachtungen aus der Beratungspraxis. Zunächst werfen wir noch einen Blick auf mögliche soziale und psychologische Auswirkungen der Digitalisierung. Mögliche soziale und psychologische Folgen von Digitalisierung „Die digitale Revolution verändert das Leben der Menschen auf dieser Welt, keine Insel und keine Festung wird dagegen bestehen. Aber natürlich verändert sie das Leben der Reichen anders als das Leben der Armen, das Leben der Nutzer anders als das der Benutzten.“ (Metz und Seeßlen 2018, S. 8)

Digitalisierung ist ein gesellschaftlicher Megatrend, der wahrscheinlich alle Lebensbereiche erreichen und verändern wird. Die damit einhergehende Transformation wird hinsichtlich der erwarteten Auswirkungen oftmals mit dem Zeitalter der beginnenden Industrialisierung verglichen, sodass man auch vom second machine age spricht (Brynjolfsson und McAfee 2014). Die Autoren erwarten infolge einer allumfassenden Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt und umreißen die Merkmale des zweiten Maschinenzeitalters mit drei wirkenden Kräften: eine anhaltende exponentielle Weiterentwicklung der Computertechnik, unerhört große Mengen an digitalen Daten und Innovation durch Neukombination. „Die Fortschritte, die wir in den letzten Jahren beobachten konnten – selbstfahrende Autos, brauchbare humanoide Roboter, Spracherkennungs- und – synthesesysteme, 3D-Drucker, Rechner als Jeopardy!-Gewinner – sind nicht die krönenden Höhepunkte des Computerzeitalters. Sie sind erst der Anfang.“ (Brynjolfsson und McAfee 2014, S. 112). Diese Einschätzung wird auch von anderen Wissenschaftlern geteilt: Harari (2017) ist Historiker und schreibt die Menschheitsgeschichte prognostisch in die Zukunft fort. Im Kern sieht sich demnach der moderne Mensch geprägt von der Aufklärung: „Seit Jahrhunderten macht uns der Humanismus weis, dass wir der eigentliche Quell allen Sinns sind und dass unser freier Wille deshalb die oberste Autorität darstellt. Statt auf irgendeine äußere Instanz zu warten, die uns erklärt, was Sache ist, können wir auf unsere eigenen Gefühle und Wünsche vertrauen.“ (Harari 2017, S. 304).

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Dieses Menschenbild ist bedeutender Teil einer wesentlichen und meist unausgesprochenen Grundlage moderner Beratung, die nämlich in einer Person die Autorenschaft und Autorität für das eigene Leben sieht. Die Person erhält in den Formaten Beratung, Coaching oder Psychotherapie Angebote der Reflexion, des Trainings oder anderweitige Unterstützung, wenn auf dem Lebensweg zeitweilig oder wiederkehrend innere oder äußere Hindernisse oder Probleme auftauchen. Infolge der Digitalisierung könnten nun tiefgreifende Veränderungen auftreten, die die Sicht des Menschen auf sich selbst massiv erschüttern. Dazu noch einmal Harari (2017, S. 445): „Nun könnte die Technologie des 21. Jahrhunderts allerdings dafür sorgen, dass externe Algorithmen die Menschheit „hacken“ und viel besser über mich Bescheid wissen, als ich selbst. Sobald das der Fall ist, wird der Glaube an den Individualismus zerbrechen, und die Macht wird von den einzelnen Menschen auf vernetzte Algorithmen übergehen. Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend der eigenen Wünsche führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden. Damit es so weit kommt, bedarf es keines externen Algorithmus, der mich durch und durch kennt und nie irgendwelche Fehler macht; es reicht, wenn dieser externe Algorithmus mich besser kennt als ich mich selbst und weniger Fehler begeht als ich. Dann nämlich wird es tatsächlich sinnvoll sein, diesem Algorithmus immer mehr meiner Beschlüsse und Lebensentscheidungen zu übertragen.“

Welche Folgen mag die prognostizierte Entwicklung für Menschen und die von ihnen genutzten Beratungsangebote haben? Auf was sollte sich Beratung einstellen und welche Phänomene werden an Bedeutung gewinnen oder verlieren? Beratung, Coaching und Psychotherapie sind professionelle Sozialtechniken aus der analogen Welt, deren innerer Wesenskern sich durch ein menschliches Beziehungsangebot für eine andere Person kennzeichnet. Menschliche Probleme, die jemand in Beratung und Therapie führen, so das Grundverständnis, sind im Kern Probleme in Beziehung zu anderen Menschen oder auch in Beziehung zu sich selbst (z. B. Gilligan 2008). Aus neurobiologischer Sicht wird diese Perspektive unterstützt, denn „den Menschen als Einzelwesen gibt es ebenso wenig wie ein Gehirn ohne Körper“ (Hüther 2018a, S. 78). Der Autor fährt fort, dass Menschen andere Menschen brauchen, Menschen brauchen Gemeinschaften, „deren Mitglieder einander als Subjekte begegnen, statt sich gegenseitig zu Objekten ihrer Erwartungen und Bewertungen, Ihrer Ziele und Absichten, ihrer Maßnahmen und Anordnungen zu machen“ (Hüther 2018a, S. 78). In der digitalen Welt verändert sich die Art des Kontaktes zwischen diesen Subjekten deutlich.

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Wenn man über die rasanten technologischen Entwicklungen in bislang dem Menschen vorbehaltenen Kompetenzfeldern wie Gesichtserkennung und deep learning spricht, verbindet sich dies vielfach mit der kleinlaut anmutenden Frage, was die Kompetenzen des Menschen und seines Gehirns eigentlich noch von Computern unterscheidet, die schnell, fehlerfrei und nun auch noch lernfähig sind. Auch wenn einem dann naheliegende Aspekte wie die spezifisch menschliche Bindungs-, Beziehungs- und Liebesfähigkeit einfallen, sind die enormen Leistungen digitaler Technik irritierend und haben Auswirkungen auf das Bild, das Menschen über sich selbst haben. Das Fortschreiten der Digitalisierung verunsichert und irritiert viele Menschen. Hüther (2018a, S. 78) ordnet die stattfindenden Änderungen klar und unmissverständlich als problematisch ein: „Mit den von uns selbst geschaffenen technologischen Entwicklungen haben wir die wahrscheinlich schwierigste Phase der Menschheitsgeschichte in Gang gesetzt.“ Als mit dem Aufkommen der Psychoanalyse der Blick zunehmend in die Innenwelt ging und mit Freud die Erkenntnis aufkam, der durch Unbewusstes beeinflusste Mensch sei nicht Herr im eigenen Hause, wurde dies mit Verunsicherung und Irritation aufgenommen. Digitalisierung, die sich in Felder wie Gesichts-, Sprach- und Musterkennung entwickelt und rasante Fortschritte erzeugt, führt uns erneut die Notwendigkeit einer grundlegenden Positionsbestimmung unseres eigenen Menschbildes vor Augen. Die Aussagen von Brynjolfsson und McAfee (2014) und von Harari (2017) weisen darauf hin, dass Digitalisierung nicht alleine eine neue Technik ist, sondern ein Prozess der bereits jetzt tiefgreifende soziale und psychologische Änderungen, Irritationen und Ängste ausgelöst hat. Die grundlegende Funktionsweise des menschlichen Gehirns unterscheidet sich zwar erheblich von derjenigen von Algorithmen, es verfolgt als soziales Organ nämlich die Strategie, Zusammenhänge zu verstehen. Dies ist die große Stärke menschlichen Denkens. „Es lernt keine Informationen auswendig und speichert sie dann ab, sondern es organisiert Wissen.“ (Beck 2017, S. 39). Dies ändert an den genannten tiefgreifenden Auswirkungen der Digitalisierung jedoch nichts. Blickt man auf die Mensch-Maschine-Interaktion und die dabei auftretenden Effekte digitaler Technik, kommen auch die sozialen und intrapsychischen Alltagseffekte in den Blick, die mit der Nutzung einhergehen. Auch informatikaffine Fachleute beschäftigen sich inzwischen intensiv mit der Interaktion von Menschen mit digitaler Technik. Jaron Lanier ist Kenner der Technologieszene und Begründer von Begriffen wie virtual reality oder Avatar, die inzwischen in aller Munde sind. In einer seiner aktuellen Schriften (Lanier 2018) begründet er den Wirkungsgrad von Sozialen Medien, Smartphones und anderer digitaler Technologien insbesondere

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mit deren konsequenter Anwendung behavioristischen Insiderwissens. In der digitalen Welt kommen demnach Methoden zum Einsatz, für die verantwortungsbewusste kognitive Verhaltenstherapeutinnen und – therapeuten jahrelange Ausbildungen durchlaufen. Treffend spricht Lanier (2018) von „algorithmischer Verhaltensmodifikation“ (a. a. O., S. 11) und bezeichnet die Social-Media-Imperien als „Verhaltensmodifikations-Imperien“ (a. a. O., S. 15). Lanier gilt als einer der Vordenker des Internets und ist mit grundlegenden Techniken und Prinzipien gut vertraut und beschreibt, wie Social Media Menschen mit behavioristischen Methoden manipuliert, ohne dass es Nutzer selbst merken. „Diverse Algorithmen saugen Daten über dich auf, jede Sekunde, ununterbrochen. Auf was für Links klickst Du? Was für Videos siehst Du Dir bis zum Ende an? Wie schnell springst Du von einer Sache zur nächsten? Wo befindest du dich, während du das tust? Mit wem hast du Kontakt, persönlich und online? Welchen Gesichtsausdruck machst du? Wie verändert sich deine Hautfarbe in verschiedenen Situationen? Womit warst du gerade beschäftigt, als du beschlossen hast, etwas zu kaufen oder nicht zu kaufen? Zu wählen oder nicht zu wählen?“ (Lanier 2018, S. 11 f.).

Digitalisierung fordert, wie die verschiedenen hier referierten Autoren nahelegen, eine grundlegende neue Klärung unseres Menschbildes heraus, wer oder was der Mensch ist, was ihn auszeichnet. Für den Kontext von Führungsprozessen in Unternehmen weist Sprenger (2018) darauf hin, Digitalisierung als Herausforderung zu verstehen, die weniger mit Technologie, sondern vielmehr mit Menschen zu tun hat. Dazu brauche es einen Kulturwandel vom Ich zum Wir – culture first, technology second. Diese einleitenden Perspektiven verdeutlichen, dass Beratungsstellen der Digitalisierung ihre vollständige Aufmerksamkeit geben sollten, da sich für alle Zielgruppen – Kinder, Jugendliche, Eltern und auch Fachkräfte – Einflüsse und Wechselwirkungen auf makro-, meso- und mikrosystemischer Ebene gleichzeitig bilden. Im folgenden beschäftigt sich dieser Beitrag somit nicht damit, wie Beratung durch den Einsatz digitaler Techniken, wie etwa der Onlineberatung, der Chatberatung, der Therapie von Phobien mittels virtual reality Brillen oder der Aufbereitung fachlichen Wissens in Online-Tutorials selbst zu einem Anwendungsort des Digitalen wird. Vielmehr sollen in diesem Beitrag die Schnittstellen individueller Psychologie – des Denkens, Erlebens und Verhaltens von Menschen – und gesellschaftlich maßgebender Entwicklungen mit Blick auf deren mögliche Auswirkungen für Beratung und die Menschen, die dieses Angebot nutzen, betrachtet werden. Dazu werden vorläufige Hypothesen und Denkangebote formuliert, die pointieren sollen, welche beobachtbaren Änderungen stattfinden, auf die sich Beratung einstellen sollte.

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1 Digitalisierung ändert den Fokus unserer Aufmerksamkeit Menschliches Erleben entsteht durch die Fokussierung von Aufmerksamkeit, sodass man in der Erickson’schen Hypnotherapie bei Klienten Orientierungs-, Such- und Findeprozesse in Richtung adaptiver Lösungen auslöst (Schmidt 2018). Die Hilfe bei der Umfokussierung auf Lösungen, Ressourcen und erwünschte Zustände ist eine Kernleistung von Beratung, um unerwünschte Zustände wie Ängste, Probleme und Unruhe aufzulösen oder neu zu bestimmen. Bereits zu Zeiten des französischen Mathematikers, Physikers und Philosophen Blaise Pascal, der von 1623 bis 1662 lebte, scheinen Ablenkung, Unruhe und Zerstreuung für viele Menschen typisch gewesen zu sein. Ihm wird das Zitat zugeordnet: „Das ganze Unglück der Menschen rührt alleine daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“. Für Menschen ist es eine alltägliche Grunderfahrung, dass es mehr Information als Aufmerksamkeit gibt. Was jemand aus dieser Angebotsvielfalt in den Fokus der Aufmerksamkeit nimmt, entspricht einer bewussten oder unbewussten individuellen Auswahl, die von Bedürfnissen, Motiven, Werthaltungen und subjektiven Entscheidungen abhängt. Im Zeitalter der Digitalisierung ist verfügbare Information massiv angestiegen und diese konkurriert um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Mit Einzug von Smartphones, die SMS, Messenger Dienste, Skype, Facebook, Emails, Telefonate, Push-Nachrichten und weitere Informationsangebote bereit halten, dürfte sich die von Pascal beschriebene Situation noch weiter zugespitzt haben. Messenger Dienste mit ihren vielfältigen Emoticons haben die Schwelle abgebaut, irrelevante Informationen in Sekundenschnelle in ganze Gruppen zu senden. Was schnell gesendet ist, hat oft flüchtigen Charakter und ist in der Regel auch zum baldigen Vergessen vorgesehen. Für den Moment fordert es jedoch psychische Energie, Aufmerksamkeit und Zeit, Information wahrzunehmen. Die Aufmerksamkeit, die sich bei der Nutzung von Messenger Diensten auf den aktuellen Moment bündeln, unterscheidet sich von dem, was man gemeinhin mit Präsenz oder Gegenwärtigkeit verbindet. Vielmehr werden Aufmerksamkeit und Lebensenergie absorbiert, die für andere Dinge nicht mehr zur Verfügung stehen. Es entsteht Selbstbezogenheit, man bleibt in seiner Eigenwelt, wie in einer Blase. Während die Dinge in der Welt außerhalb augenscheinlich zunehmend außer Kontrolle geraten, suggeriert das Wischen auf dem Smartphone, man habe alles selbst unter eigener Kontrolle. Es verbindet sich die exzessive digitale Absorbierung von immer mehr Menschen mit dem Ende der großen Erzählungen und einer eigenartigen

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Zukunftslosigkeit insbesondere westlicher Gesellschaften. „Ist der Erhalt des Status quo das Beste, worauf wir hoffen können?“ fragt Blom (2017, S. 18) und stellt fest: „Viele Menschen wollen zurück in eine bessere Vergangenheit, Mauern bauen, sich wieder sicher fühlen“ (a. a. O., S. 19). Man muss keine Mauern bauen, wenn man primär mit seinem digitalen Endgerät mit der Welt verbunden ist – wer access hat und wegwischen kann, was nicht in das eigene Vorverständnis passt, benötigt keine Mauern. Wer Nachrichten sozialer Partner_innen erhält, wird in wirkungsvolle Feedbackschleifen sozialer Anerkennung eingebunden: „Wir müssen Dir sozusagen ab und zu einen kleinen Dopamin-Kick verpassen, weil jemand ein Foto oder ein Posting oder sonst was geliked oder kommentiert hat.“ Dieses Zitat stammt von Sean Parker, dem ersten Präsidenten von Facebook. Digitalisierung ermöglicht die Manipulation von Menschen und deren Aufmerksamkeitsausrichtung unter Nutzung neurobiologischer Prinzipien – etwa der zitierten Dopaminausschüttung –, durch Erzeugen suchtähnlichen Verhaltens und natürlich auch durch die Erzeugung echten Nutzens (Lanier 2018). So funktionieren digitale Mitfahrgelegenheiten oder Dating-Apps: gerade wenn eine App erst einmal funktioniert, entstehen Netzwerkeffekte, durch die alle auf diese App angewiesen sind. Je mehr Menschen sie nutzen, desto nützlicher, desto abhängiger. Menschen bewegen sich an dieser Stelle in einem Spannungszustand – auf der einen Seite suchen sie soziale Zugehörigkeit und Anschluss, wie dies im digitalen Leben Messenger-Gruppen bieten. Auf der anderen Seite wollen sie den damit verbundenen Zumutungen und Zudringlichkeiten entgehen und ihre Ruhe haben. Die digital vermittelte Steuerung von Aufmerksamkeit kann wie eine Psychotherapie keine Verhaltensergebnisse garantieren. Allerdings erhöht sie die Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmten Verhaltens. „Die Steigerung der Engagementrate ist das wichtigste Ziel, dem alles andere untergeordnet ist“ (Lanier 2018, S. 30).

2 Digitalisierung erzeugt neue Risiken für Jugendliche Die Flut an Informationen bindet Zeit für deren Sichtung, Gewichtung und ggfs. Beantwortung. Zudem fehlt es an strukturellen Auszeiten. Zu Zeiten, als es nur drei öffentliche Fernsehsender gab, wurde zum Sendeschluss ein Testbild geschaltet, das bis zum Sendebeginn am kommenden Tag eine technisch gesetzte und individuell nicht änderbare Auszeit markierte. Statt eines verbindlich gesetzten Sende- und Empfangsschlusses obliegt es nun jeder einzelnen Nutzerin und

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jedem einzelnen Nutzer, Auszeiten zu definieren oder dauernd online zu bleiben. Dass diese Eigenentscheidung offenbar keine leichte Aufgabe ist, zeigt sich im öffentlichen Raum, in dem Menschen mit verschiedenen digitalen Geräten befasst sind, die deren Aufmerksamkeit anscheinend stärker bindet, als andere Bereiche der lebendigen Umwelt. Dies ist besonders für Jugendliche eine relevante Herausforderung: „Entscheidend ist, dass die letzte Gehirnregion, die es (in Bezug auf Synapsenzahl, Myelinisierung und Stoffwechsel) zu endgültiger Reife bringt, der frontale Kortex ist, der erst mit Mitte zwanzig vollständig online geht.“ (Sapolsky 2017, S. 205 f.). Die Aufgaben des präfrontalen Cortex stehen im Zusammenhang mit bewussten Leistungen wie Aufmerksamkeit, Handlungsplanung, Nachdenken, Entscheidungsfindung und Alltagsorganisation – alles wesentliche Aspekte unserer Persönlichkeit. Insbesondere ältere Teenager erleben Emotionen intensiver als Kinder oder Erwachsene (Sapolsky 2017, S. 212) und die neurobiologischen Grundlagen unseres Verhaltens decken sich mit der Alltagserfahrung, dass Pubertät eine besonders instabile Lebensphase ist. Ausgerechnet in dieser Phase findet das im Lichte der referierten neurobiologischen Erkenntnisse bedenkliche flächendeckende Feldexperiment statt, in dem man Jugendlichen digitale Endgeräte zur grenzenlosen Nutzung an die Hand gibt, für deren Handhabung ihnen noch die nötige Reife fehlt. Um die weitreichende Bedeutung dieser Phase hervorzuheben sei hier noch einmal Sapolsky (2017, S. 206), ein Neurobiologe der Standford University, zitiert: „Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter sind die Lebensabschnitte, in denen die Wahrscheinlich am größten ist, dass man tötet, getötet wird, sein Zuhause für immer verlässt, eine Kunstform erfindet, mitwirkt am Sturz eines Diktators, ein Dorf „ethnisch säubert“, sich um Bedürftige kümmert, drogenabhängig wird, außerhalb seiner Gruppe heiratet, die Physik verwandelt, einen scheußlichen Modegeschmack entwickelt, sich bei Freizeitaktivitäten das Genick bricht, sein Leben Gott widmet, eine alte Dame beraubt … Mit anderen Worten, es ist der Lebensabschnitt, in dem wir wie in keinem anderen Risiken eingehen, neue Herausforderungen suchen und uns Gleichaltrigen anschließen. Und all das nur, weil unser frontaler Kortex noch nicht ausgereift ist.“

Lanier (2018, S. 22), einer der Vordenker des Internets und Vertreter des ursprünglich damit verbundenen libertären Zeitgeistes gibt den Hinweis, dass gerade unter den Fachkundigen ernste Befürchtungen gegenüber der fortschreitenden Digitalisierung bestehen, sodass sie ihre Kinder davor schützen: „Viele der Kinder aus meinem Bekanntenkreis im Silicon Valley besuchen Waldorfschulen, an denen elektronische Geräte prinzipiell verboten sind.“

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Man muss zugestehen, dass das Digitale vergleichsweise neu ist, vielfach ausgesprochen faszinierend, nützlich und es deshalb funktioniert, weil es grundlegende Bedürfnisse bedient. Weil es so neu ist, fehlt es an bewusst bewährten, an etablierten Routinen, an Bestimmtheit und individueller und kultureller Reife. In Deutschland sind die Anschnallpflicht mit dem Sicherheitsgurt im Kraftfahrzeug oder das Rauchverbot erst spät eingeführt worden – viele Jahre nachdem massive Schäden nicht mehr geleugnet werden konnten. So wie – zumindest in den hier genannten Hinsichten fortschrittliche Länder – wie Großbritannien den erwiesenermaßen schädlichen Zuckerkonsum politisch eindämmt oder wie Frankreich in 2018 ein Verbot von Smartphones an Schulen ausgesprochen hat, lässt sich hoffen, dass das Prinzip Vorsorge vor Heilung auch hierzulande die verschiedenen Bereiche digitaler Unmündigkeit zu einer höheren individuellen und gesellschaftskulturellen Reife bringt.

3 Digitalisierung verändert unser Selbstbild Der Nutzen digitaler Technologie ist täglich erfahrbar, wenn man mit dem Smartphone in einer fremden Stadt nach dem Weg sucht, sich bei der Planung des Kurzurlaubs kundig macht, wie die Wetterprognose ist oder die Banking-App Auskunft über die aktuellen Finanzressourcen gibt, wenn man unterwegs darüber nachdenkt, ein Schnäppchen zu kaufen. Diese angenehme Bequemlichkeit hat ihren Preis, indem die Anbieter des jeweiligen Service weitreichende Auskünfte über Lebensgewohnheiten der Nutzenden erhalten. Anbieter erhalten eine Fülle an Daten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse erlauben Wissen über Nutzer der Technik, die diese Nutzer oft selbst nicht haben. „In mancher Hinsicht wissen die sozialen Netzwerke mehr über Dich, als Du selbst“ (Lanier 2018, S. 38). Yogeshwar (2017) beschreibt verschiedene Beispiele, die zeigen, dass ein Algorithmus bereits präzise Daten über den Zustand einer Person haben kann, noch bevor diese Person selbst im eigenen subjektiven Erleben relevante Abweichungen oder Störungen bemerkt. Alltägliches digitales Handeln, so banal es uns vorkommen mag, liefert weitreichende Hinweise und ermöglicht, daraus bemerkenswerte Schlussfolgerungen zu ziehen. „Während Sie im Internet surfen, Mails schreiben oder online Einkaufen, übermittelt ein weiterer Datenstrom, während Sie Buchstabe für Buchstabe eingeben, Ihre persönlichen Tippsequenzen. Die feinen zeitlichen Unterschiede, mit denen Sie zum Beispiel nach einem „e“ ein „r“ tippen, werden übermittelt und sind überraschend aussagekräftig. Gibt es ein typisches Tagesmuster? Sind Sie morgens

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schneller als am Nachmittag? Ist der Leistungsabfall groß, oder behalten Sie ihr Tempo bei? Verändert sich Ihre Tippfrequenz vielleicht im Laufe von Wochen und Monaten? Und wie sieht es mit Ihrer Fehlerquote aus? Könnte vermehrtes Vertippen ein Hinweis auf Übermüdung oder gar auf eine Krankheit sein?“ (Yogeshwar 2017, S. 195 f.).

Die bisher gültige Leitidee aufgeklärter, informierter, selbstbestimmter Individuen erfährt hier augenscheinlich eine Veränderung, indem Steuerung, vermittelt durch digitale Technik Schritt für Schritt Selbstbestimmung verändert, zumindest in deutlicher Weise die Frage neu stellt, wie „selbst“-bestimmt unser Handeln tatsächlich ist. Lanier (2018, S. 11) geht soweit zu behaupten: „Du verlierst Deinen freien Willen“. Man muss dieser Einschätzung nicht folgen. Verhalten wird nicht zwingend fremdbestimmt, in jedem Fall wird jedoch durch algorithmische Verhaltensmodifikation die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es zu einem bestimmten, vom Anbieter gewünschten Zielverhalten kommt.

4 Digitalisierung verändert Prinzipien sozialer Kontrolle und unsere Autonomie Blickt man auf das staatliche Sozialkredit-Programm in der Volksrepublik China (siehe den Beitrag von Andreas Schlieker in diesem Band), dann zeigt sich, wie die Zusammenführung separater Daten von Nutzern sich zu einem Gesamtscore verdichten lassen. Ein hoher Score erzeugt Vergünstigungen bei der Wohnungssuche, beim Stellenwechsel oder der Kreditvergabe. Ein niedriger Score begünstigt soziale Marginalisierung. Durch Gesichtserkennung kann das System das Fehlverhalten einer Person im Straßenverkehr erkennen, was zu einem Punktabzug führt. Der Gesamtscore bestimmt schließlich über die soziale Teilhabe oder den sozialen Ausschluss eines Menschen. Was aus Sicht eines demokratisch gesteuerten Gemeinwesens als totale Überwachung aufgefasst wird, sehen viele Menschen in China als Beitrag zur Förderung von Lebensqualität. Bernard (2017) überzeugt mit seinem kulturwissenschaftlichen Blick auf das Selbst in der digitalen Kultur mit der Beschreibung, dass viele der heute verbreiteten Standards in digitalen Technologien ursprünglich aus Kontexten der Normierung und Kontrolle stammen. Das Konzept des Profils, wie es heute als Bewerbungsprofil oder das persönliche Profil auf der Dating-Plattform Verbreitung gefunden hat, stammt ursprünglich auf den Feldern der Psychiatrie oder Kriminologie. Daten, die Menschen heute freiwillig und zum Gewinn von Bequemlichkeit von sich preisgeben, erfüllten in ihrem vorherigen Entstehungskontext normative und kontrollbezogene Funktionen.

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Eine bedeutsame Veränderung durch Digitalisierung betrifft den Bereich des quantified self (Bernard 2017), bei dem sich Körperfunktionen und -prozesse quantitativ erfassen und darstellen lassen. Ein verbreitetes Beispiel dafür ist der Schrittzähler am Smartphone, der Auskunft über die Gesamtzahl täglicher Schritte und Wegstrecken gibt, dessen Sensoren Höhenunterschiede wie bei Treppen erfassen können bei dem über Zeitreihenvergleiche Gewohnheiten einer Person sichtbar werden. Auch ein vermeintlich einfacher Schrittzähler erlaubt Erkenntnisse, die alles andere als banal sind: zu welcher Tageszeit legt eine Person welche Strecke zurück? Wird immer dieselbe Strecke gegangen oder finden Wechsel statt? Wie verändert sich die Zeit, die für Strecken benötigt wird und welche Rückschlüsse auf Fitnesszustand und etwaig sich anbahnende Störungen erlaubt dies? Bereits die Tatsache, dass eine alltägliche Aktivität wie Gehen erfasst und quantifiziert wird, erzeugt und unterstützt das Paradigma der kontinuierlichen Selbstoptimierung. Man kann das tägliche Gehen erfassen, man kann Unterschiede im eigenen Gehen in dieser Woche mit dem Pensum der vergangenen Woche, des vergangenen Jahres und mit dem Pensum relevanter Bezugspersonen oder einem ansonsten vollkommen irrelevanten Anderen vergleichen. Die in der Vergangenheit erreichten Zahlen oder die Daten anderer Personen können implizit dafür sorgen, Benchmarks mit anderen oder sich selbst zu erzeugen. Die Kernaussage ist: es geht immer noch schneller, mehr und besser. Die ursprünglich zweifellos sinnvolle Zielsetzung eines feedbackgebenden Schrittzählers, Bewegung und damit Gesundheitsverhalten und Gesundheit zu fördern, schafft damit in struktureller Weise einen Kontrollmechanismus, den die datensammelnden Unternehmen im Sinne eigener Interessen steuern und der das Verhalten des spazierenden Individuums steuern und nicht zuletzt sein Selbstbild verändern kann. Selftracker für tägliche Schritte sind nur ein Beispiel. Die Erfassung von Aktivität, Achtsamkeit, Ernährung und Schlaf erlaubt eine geradezu unübersehbare Differenzierung. Ernährung? Wollen Sie Ballaststoffe, Biotin, Chlorid oder einfach ungesättigte Fette betrachten? Oder lieber Eisen, Folat, den Gesamtfettanteil oder Jod? Oder die Nahrungsenergie, die B-Vitamine oder das Wasser? Oder alles zusammen, damit keine Details verloren gehen? Es kann im Einzelnen ein wertvoller individueller Nutzen durch verbesserte Selbstbeobachtung gegeben sein. Man kann die tägliche Schrittzahl objektivieren und damit identifizieren, ob man eher ein Bewegungsmuffel ist oder die empfohlene tägliche Schrittzahl geht. Daraus folgt jedoch, dass man im Schadens- ergo: Krankheitsfall jederzeit objektivieren kann, dass chronischer Bewegungsmangel eine mitverursachende Rolle spielen könnte. Es ist weithin bekannt, dass Bewegungsmangel schädlich ist. Es gibt Geräte, die diese Daten erfassen können. Du hättest Dich selbst kontrollieren und ändern können. Es ist Deine Verantwortung.

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In jedem Fall liegt nahe anzunehmen, dass die gesammelten Daten den Interessen der Unternehmen dienen, die diese Geräte produzieren und betreiben. Wenn bekannt ist, dass Bewegungsmangel der Gesundheit statistisch gesehen schadet, liegt nahe, dass ein Bewegungsmuffel höhere Krankheitskosten erzeugt und im Vergleich zu einem optimierten Bewegungsverhalten höhere Krankenkassentarife zahlen müsste. Der Mangel an Transparenz, wer diese Daten sammelt, zu welchen Zwecken und mit welchen subtilen Manipulationen uns neue Angebote unterbreitet werden, kann Unbehagen und Sorgen nähren.

5 Digitalisierung verändert Beziehungen Apps wie Tinder sollen für geschätzte 50 Mio. Nutzer Partnerschaften auf dem Markt der Möglichkeiten anbahnen. Die Grammatiken sozialer Bindungen und des Begehrens haben sich voneinander gelöst: der Sexus, befreit von der Verstrickung aus Scham und Sünde ist Zeichen psychischer und physischer Gesundheit und wird emanzipiert von Ansprüchen des Gefühls sowie von Zugehörigkeit, Romantik und Lebensgemeinschaft (Illouz 2018). Man wischt auf seinem Smartphone das Profil eines Interessenten oder einer Interessentin weg, wenn man nicht interessiert ist. In letzter Konsequenz sorgt dies dafür, dass andere Personen benutzt und zum Objekt eigener Absichten, Ziele und Erwartungen gemacht werden. „Nicht die Bewahrung der eigenen Würde, sondern die Sicherung eigener Vorteile und Gewinne auf Kosten anderer bestimmt das Leben und Zusammenleben sehr vieler Menschen. Und die schrecken deshalb auch nicht davor zurück, andere Menschen – in ähnlicher Weise wie sie das mit ihren Geräten und Maschinen und ihren Nutz- und Haustieren machen – wie Objekte zur Realisierung ihrer Absichten und Ziele zu benutzen“ (Hüther 2018a, b S. 122). Es ist in der digitalen Welt bequem, einfach und ökonomisch geworden, zielgerichtet kurzfristigen eigenen Bedürfnissen folgen zu können. Gleichzeitig erzeugt diese Tendenz massiven Schaden in der grundlegend sozialen Struktur des Menschen. Dazu noch einmal Hüther (2018a, b S. 123): „Wer von anderen Personen benutzt und zum Objekt von deren Absichten und Zielen, Erwartungen und Bewertungen, Belehrungen und Unterweisungen oder gar Maßnahmen und Anordnungen gemacht wird, fühlt sich zutiefst in seiner Subjekthaftigkeit und damit in seiner Würde bedroht. Als Objekt behandelt zu werden, verletzt sowohl das zutiefst menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit als auch das nach Autonomie und Freiheit.“ Über diese essenzielle Auswirkung hinaus, kann das schnelle Wischen auch innere Prozesse im Umgang mit intrapsychischen Spannungen ändern. Die Fähigkeit

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zu Selbstkontrolle und Belohnungsaufschub wird nicht nur gemindert, sondern systematisch abgebaut. Wenn sich jemand nicht interessiert, bleibt es beim Wegwischen, ohne dass die Person einen Anspruch auf Feedback hat oder eine Gelegenheit dazu erhält. Ähnlich ergeht es bereits Kindern. Peers, die man nicht zum Geburtstag einladen möchte, kann ein Kind aus dem Messengerdienst entfernen oder es automatisch blockieren. Soziale Zurückweisung und Ablehnung hat es auch vor digitalen Medien gegeben, nie war es jedoch so einfach, soziale Interaktion einseitig zu steuern. Der Andere wird damit regelrecht zum Objekt, man begegnet sich nicht mehr als Subjekt (z. B. Hüther 2018a, b). Damit verändern sich Beziehungen. Wenn ein potenzieller Partner nicht in Betracht kommt, wird er weggewischt, genau so wie man einen zu teuren Stromanbieter im raschen Onlineverfahren wechseln kann. Soziale Beziehungen können den Charakter einer Ware bekommen. Das eigentlich Menschliche geht möglicherweise sogar vollkommen verloren: „Wenn Sie von Ihrer Bank einen Kredit haben wollen, so wird Ihr Antrag wahrscheinlich von einem Algorithmus und nicht von einem Menschen bearbeitet … Wenn sich die Bank weigert, Ihnen einen Kredit zu gewähren, und Sie fragen: „Warum?“, so erwidert die Bank: „Der Algorithmus hat Nein gesagt.“ Sie fragen: „Warum hat der Algorithmus Nein gesagt? Was stimmt nicht mit mir?“ Und die Bank wird antworten: „Wir wissen es nicht. Kein Mensch versteht diesen Algorithmus, denn er basiert auf fortgeschrittenen maschinellen Lernen. Aber wir vertrauen unserem Algorithmus, deshalb gewähren wir Ihnen keinen Kredit.““ (Harari 2018, S. 105).

Die digital vermittelte Messung von Beliebtheit und Kundenzufriedenheit erlaubt es, einen Eindruck von der Beliebtheit, Zuverlässigkeit oder anderen Qualitäten von jemand, beispielsweise eines Anbieters bei einem Ferienwohnungsportal zu bekommen, ohne ihn bereits selbst zu kennen. Das Verhältnis von Nähe und Distanz verändert sich, wenn man sich auf Bewertungen anderer verlässt. Dieses Prinzip wirkt auch dann, wenn man diesen Anderen nicht kennt und nicht zuverlässig weiß, wie zuverlässig die Bewertungen tatsächlich sind. Da es keine verbindlichen Standards der Evaluation gibt, lässt sich die Zuverlässigkeit der Bewertungen letztlich gar nicht nachvollziehen. Ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen digitaler Technik auf menschliche Beziehungen betrifft das Phänomen sozialer Bezugnahme. Wenn eine Mutter Nachrichten auf ihrem Smartphone erhält, die starke positive oder negative Emotionen auslösen – Kurznachrichten des Partners oder von Kollegen, Push-Nachrichten der Zeitungsapp oder ein negativer Saldo auf der Bankingapp – drückt sie körpersprachlich und mimisch Emotionen aus. Der Säugling, der mit dieser Mutter in Kontakt ist, wird die Mimik, Gestik und Körpersprache der Mutter

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wahrnehmen, diese in dem gemeinsamen Kontext möglicherweise aber gar nicht sinnvoll einordnen können. Der Einfluss digitaler Medien hat alltägliche Interaktionen fortschreitend verändert, ohne dass deren langfristige Tiefendimension bereits bekannt oder erkannt wäre. Täglich kann man beobachten, wie Menschen zusammen treffen und dabei ihre Smartphones nutzen – im Gespräch, beim Essen, in beruflichen Meetings. Jeder Griff zum Smartphone enthält auch die Beziehungsbotschaft, dass gerade etwas anderes höhere Priorität erhält, als die gemeinsame Interaktion. Dabei erzeugen digitale Messenger eine eigenartige soziale und interaktionelle Paradoxie: man ist persönlich und nah, ohne wirklich persönlich und nah zu sein.

6 Digitalisierung verschiebt Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit Mit der Idee von Privatheit ist verbunden, mit personalen Grenzen achtungsvoll umzugehen und die intime Sphäre einer Person zu schützen. Aus diesem Grund stehen Kontakte zu Berufsgruppen wie Ärzten, Anwälten, Priestern und Psychotherapeuten unter dem Schutz der Vertraulichkeit. Diskretionszonen in öffentlichen Räumen, wie beispielsweise in Banken, sollen Distanz zwischen Menschen gewährleisten, um individuelle Grenzen zu schützen. Auch wenn in medizinischen, juristischen, religiösen oder therapeutischen Diskretions- und Vertrauenszonen üblicherweise ähnliche Themen und Probleme bearbeitet werden, erwarten Menschen zurecht, dass ihre spezifische Meinigkeit, das Eigene und Persönliche des jeweiligen Problems in Würde, Respekt und Vertrauen behandelt wird. Im Zeitalter der Digitalisierung kommt es in dieser Hinsicht zu Grenzverschiebungen. So wird man in einem Zug oder in der Schlange eines Supermarkts nicht selten Ohrenzeuge vertraulicher Gespräche über Probleme in Partnerschaften, erfolgreiche oder erfolglose Geschäftsabschlüsse oder medizinische Probleme. Auf der Bühne der Öffentlichkeit werden mit den verschiedenen digitalen Assistenzgeräten Details des Innen- und Erfahrungslebens Mitreisender oder anderer Wartender erörtert oder preisgegeben, die sich penetrant in den Fokus der eigenen Aufmerksamkeit schieben. Wer es sich leisten kann und dies will, bucht im Zug die Ruhezonen, in denen Handyverbot besteht, nutzt die Stöpsel eigener digitaler Geräte oder kauft sich einen der populären Kopfhörer mit „noise-cancelling“ Funktion, die den Lärm der Welt abhält und eine auch nach außen hin sichtbare Grenze im öffentlichen Raum bildet. Die Person mit dem Kopfhörer will nicht gestört sein, sie will im öffentlichen Raum in ihrer Eigenwelt sein und bleiben.

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7 Digitalisierung verändert unsere Konfliktkultur Die räumliche Distanz zu einer Person kann verhindern, etwas über deren Erleben und Gefühle zu erfahren. Mimik, Gestik und Stimme sind evolutionär entstandene Systeme, mit denen Menschen innere Zustände, Bedürfnisse und Beziehungsqualität kommunizieren. Digitale Medien sind in der Lage, intensive positive oder negative Affekte und Gefühle auszulösen, ohne dass ein Sender die Reaktion eines Empfängers zwingend und zuverlässig erfahren muss – etwa wenn man durch automatisches Blockieren Kontaktmöglichkeiten einseitig unterbindet. Die Möglichkeit Kontakte zu blockieren, schafft zudem einen Abstand, aus dem heraus Botschaften versendet werden können, ohne sich mit deren Wirkungen konfrontieren zu müssen. Möglicherweise sendet man eine Botschaft, ohne überhaupt ein Feedback über deren Wirkung zu erhalten. Lernt man in lebendiger sozialer Interaktion eigene und fremde Erwartungen und Muster kennen, so ermöglicht Digitalisierung eine rein nutzergesteuerte und ggfs. unidirektionale Interaktion. Spielt in einer persönlichen Begegnung Empathie eine Rolle, einfühlendes Verstehen des Anderen, so kann dieser Aspekt bei digitalen Medien vollends ausgeblendet werden. So wie man Lieferanten wechselt, wenn es an anderer Stelle bessere Angebote gibt, kann man unerwünschte Personen blockieren, aus Gruppen ausschließen und den Zugang verweigern und das bei Konsumentscheidungen adaptive Verhalten auch auf ausgewählte persönliche Sozialkontakte ausdehnen. Die ursprüngliche Funktion sozialer Konflikte, Entwicklung, Veränderung und Wachstum zu ermöglichen, wird darauf reduziert, technisch unterstützt aus dem Felde zu gehen oder den Anderen des Feldes zu verweisen. Abgesehen davon, dass dabei die sozialen Entwicklungs- und individuellen Reifungsfunktionen von Konflikten nicht genutzt werden, fehlt es damit an Übung, Konfliktlösekompetenzen zu entwickeln, diese zu trainieren und resultierende Spannungen auszuhalten. Unser Lebensumfeld ist von Dutz und Paech (2018) treffend als „Bequemokratie“ beschrieben worden. Die Geschichte unseres ökonomischen Fortschritts erzählen die beiden wie folgt: „Erst kommt die Befreiung von Unmündigkeit, Knappheit und Not, dann der Überfluss und zunehmend grenzenlose Selbstverwirklichung, irgendwann wird die Zeit zum Engpassfaktor und die Konsumverstopfung leitet zum Burn-Out über. Am Ende mausert sich die Depression zur Zivilisationskrankheit Nummer eins – ausgerechnet in prosperierenden Wohlstandsgesellschaften.“ (Dutz und Paech 2018, S. 54). Unsere Gesellschaft dürfte einen Typus ausgesprochen verwöhnter Menschen hervorbringen, die als Kund_innen gewohnt sind, Ansprüche zu formulieren und durchzusetzen, die umfassende und umgehende Bedürfniserfüllung bei maximal

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verkürztem Belohnungsaufschub erwarten und wenig Bereitschaft zeigen, sich in irgendeiner Weise einzuschränken oder Verzichtsleistungen zu erbringen. In einer spannungsreichen Welt, die zukünftig eher mehr als weniger Kooperation benötigt, um einen massiv gewachsenen Problemdruck zu bewältigen, ist dies kritisch. Das Akronym VUCA beschreibt unsere Welt mit den vier Begriffen volatility, uncertainty, complexity und ambiguity. In dieser Welt dürfte es künftig eher mehr als weniger Konfliktanlässe geben, die sich nicht alleine durch Wegwischen aus der Welt schaffen lassen werden.

8 Digitalisierung verändert unseren Umgang mit Zeit Wer einmal kurz im Internet surft und etwas recherchiert, stellt nach einiger Zeit oft erstaunt fest, dass viel mehr Zeit als geplant vergangen ist. Auch ein bekannter Zeitforscher (Rosa 2012) zielt nicht primär auf Entschleunigung ab, denn schnelles Internet, rasche Hilfe von Notarzt und zügige Mobilität haben klare Vorteile. Vielmehr besteht das Paradoxon der modernen Welt darin, dass wir durch technische Unterstützung zwar Zeit gewinnen, dennoch immer weniger davon haben. Dieses Paradoxon forciert sich im Zeitalter der Digitalisierung offenbar noch weiter. Die durch die oben beschriebenen Prinzipien gelenkte Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass Menschen im Internet in stimmungskongruenten Angeboten verbleiben. Man erhält algorithmisch vermittelte Angebote, die zu der Stimmung passen, in der man sich gerade befindet. Die Verdichtung von Informationen, der Umstand, dass digitale Kopien keine weiteren Kosten für den Hersteller erzeugen, sorgt dafür, dass es weit mehr Information als Aufmerksamkeit gibt. Wie Menschen ihre Zeit verbringen hängt wesentlich von Lebensentscheidungen ab. Man weiß, dass Wahlmöglichkeiten gut für Menschen und man weiß auch, dass mehr Wahlmöglichkeiten nicht besser sind (Schwartz 2004). Je mehr Menschen wählen können, umso mehr Zeit benötigen sie für die Auswahl, was Verhaltenskosten, Investition und Anstrengung erzeugt. Schließlich ist eine getroffene Wahl eine verantwortliche Entscheidung einer Person. Du hast selbst gewählt! Du hättest auch anders wählen können. Digitale Assistenzsysteme multiplizieren Wahlmöglichkeiten ins Unermessliche. Auch bei maximalem Zeiteinsatz sind die zur Auswahl stehenden Angebote an potenziellen Partnern, an Produkten, an Dienstleistungen zunächst einmal Verhaltensmöglichkeiten. Und man kann in begrenzter Zeit nur begrenzte Optionen realisieren. Dies zu erfahren und zu erleben, dass Entscheiden nicht nur Wählen, sondern auch Verzichten bedeutet, geht einher mit Trauer. Entscheidungen zu treffen bedeutet, eine Option auszuschließen, eine

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Lebensmöglichkeit nicht wahrzunehmen, sich buchstäblich von Möglichkeiten zu trennen. Kluges Entscheiden erfordert einen Zugang zu inneren Bedürfnissen, Autonomie- und Bindungsfähigkeit und Selbstintegration. Man benötigt diesen inneren Kompass als Grundlage, echte Zeitsouveränität zu erleben, was wiederum ein Fundament dafür ist, Zeit als Lebenskunst (Klein 2010) zu verbringen. Zusammenfassung und Ausblick Beratung ist eine professionelle Dienstleistung, bei der zumeist soziale Beziehungen und persönliches Denken, Erleben und Verhalten thematisiert werden. Es ist nach den hier dargestellten Perspektiven wahrscheinlich, dass Digitalisierung unser Leben bereits verändert hat und zukünftig noch in tiefgreifender Weise verändern wird – unser Selbstbild, unsere sozialen Beziehungen, unsere Zeitökonomie und weitere Bereiche mehr. Veränderungen gehen mit Gewinne und Verlusten einher und sind somit ein Chancen-Risiko-Feld für die Nutzergruppen professioneller Beratung ebenso wie für die Fachkräfte selbst. Beratung als Ort der Reflexion individuellen Erlebens wird digitale Technologien voraussichtlich intensiver als bisher einsetzen, beherrschen und mitgestalten müssen, um auch künftigen Erwartungen von Nutzerinnen und Nutzern besser zu entsprechen und neue Möglichkeiten zu bieten. Apps, Online-Tutorials, Social Media, Chat- und Onlineberatung, Virtual Reality Tools und dergleichen dürften Einzug finden in das Methodenrepertoire von Beratungsstellen und lassen erweiterte oder neue Qualifikationsprofile professioneller Beratungsfachkräfte erwarten. Beratung wird sich überdies zukünftig vermehrt mit psychosozialen Auswirkungen und Folgen des digitalen Wandels beschäftigen müssen. Als ein wichtiger fachlicher Akteur in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern sollten Beratungseinrichtungen hier eine fundierte, kritische und würdigende Stimme sein. Beratungsstellen und deren Dach- und Trägerverbände benötigen dazu dringend eine digitale Agenda, geeignete Qualifizierungsangebote und einen aktiven Fachdiskurs.

Literatur Beck, H. (2017). Irren ist nützlich! Warum die Schwächen des Gehirns unsere Stärken sind. Hanser. Bernard, A. (2017). Komplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur. S. Fischer Wissenschaft. Blom, P. (2017). Was auf dem Spiel steht. Carl Hanser Verlag. Brynjolfsson, E. & McAfee, A. (2014). The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. Plassen Verlag.

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Dutz, K. & Paech, N. (2018). Wege aus der Bequemokratie – Loslassen will gelernt sein. In: Rietmann, S. & Sawatzki, M. (2018). Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? Springer VS S. 45–71. Gilligan, S. G. (2008). Therapeutische Trance. Das Prinzip Kooperation in der Ericksonschen Hypnotherapie. Carl-Auer Verlag. Harari, Y. N. (2017). Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. C.H. Beck. Harari, Y. N. (2018). 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. C.H. Beck. Hüther, G. (2018a). Beziehungsgestaltung und Erziehungsberatung im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung. In: Rietmann, S. & Sawatzki, M. (2018). Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? Springer VS. S. 73–82. Hüther, G. (2018b). Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Knaus. https://www.axios.com/sean-parker-unloads-onfacebook-2508036343.html Klein, O. G. (2010). Zeit als Lebenskunst. Wagenbach Illou, E. (2018): Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Suhrkamp. Lanier, J. (2018). Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hoffmann und Campe. Metz, M. & Seeßlen, G. (2018). Schnittstelle Körper. Matthes & Seitz. Berlin. Rosa, H. (2012). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Sapolsky, R. (2017). Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Hanser Schmidt, G. (2018). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. CarlAuer Verlag. Schwartz, B. (2004). The paradox of Choice. Harper Collins Publishers. Sprenger, R. K. (2018) Radikal digital: Weil der Mensch den Unterschied macht – 111 Führungsrezepte. Deutsche Verlags-Anstalt. Strittmatter, K. (2018). Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper. Te Wildt, B. (2016). Digital Junkies: Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. Droemer TB. Yogeshwar, R. (2017). Nächste Ausfahrt Zukunft: Geschichten aus einer Welt im Wandel. Kiepenheuer & Witsch.

Erziehungsberatung und Digitalisierung: Modernisierungszwang oder Status quo? Institutionelle und konzeptionelle Perspektiven Mathias Berg und Maik Sawatzki

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag fokussiert die institutionelle Erziehungsberatung im Kontext gesellschaftlicher und fachpolitischer Digitalisierungsprozesse. Dabei wird neben der grundsätzlichen Darstellung dieses Handlungsfeldes und der digitalen Entwicklung von Beratung, retrospektiver Bezug auf bisher etablierte digitale Produkte in der Erziehungsberatung und deren fachlicher Bedeutung genommen. Ausgehend hiervon werden institutionelle und konzeptionelle Perspektiven, Ideen und Potenziale – sowohl auf struktureller, arbeitsorganisatorischer Ebene, als auch mit Blick auf Angebotsgestaltung und Zielgruppenadressierung – der Erziehungsberatung im Sinne einer multiperspektivischen Digitalisierungsstrategie kritisch diskutiert. Schlüsselwörter

Erziehungsberatung · Familienberatung · Digitalisierung · Institution ·  Konzeption · Zielgruppen · Onlineberatung · Digitalisierungsstrategie ·  Organisation · Fachkräfte · Adressat*innen · Digitale Produkte · Medien

M. Berg (*)  Caritas Erziehungs- und Familienberatung, Kerpen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Sawatzki  WWU Münster, Institut für Erziehungswissenschaft, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_8

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Erziehungsberatung (EB) könnte als Urgestein einer sozialen Beratungsszene im deutschsprachigen Raum bezeichnet werden. Als Vorläufer der heutigen Institution Erziehungs- und Familienberatungsstelle wurden bereits um die Jahrhundertwende im medizinischen und psychoanalytischen Milieu Erziehungsberatungsdienste gegründet (1903 in Hamburg, 1906 in Berlin), noch lange bevor das erste Jugendwohlfahrtgesetztes 1922 im deutschen Reich eingeführt wurde (vgl. Hundsalz 1995, S. 22). Eine mehr als hundertjährige Tradition also, die EB vorweisen kann, in der sich das Angebot der Beratungsstellen sukzessive den Bedarfen und Erfordernissen der jeweiligen Gesellschaft angepasst hat. Die rasante Entwicklung des Digitalen, die sich in der postindustriellen Gesellschaft bereits seit Jahrzehnten abzeichnet, kann bei einer Transformation von Beratung als besondere Herausforderung betrachtet werden (vgl. Engel in diesem Band). Insbesondere in den letzten 20 bis 25 Jahren hat sich vor allem in Familien mit Kindern und Jugendlichen, die zu den hauptsächlichen Adressat*innen von EB zählen, durch Endgeräte wie Computer, Konsole und Smartphone sowie der anhaltenden Entfaltung des Internets, das Alltagsleben zunehmend digitalisiert. In diesem Beitrag soll EB daher in Bezug gesetzt werden zu den digitalen Entwicklungen der Gegenwart. Hierzu gilt es auszuloten, auf welche Weise Beratungsstellen zukünftig davon profitieren könnten, den digitalen Wandel zu gestalten, anstatt ihn als unbequeme Anpassungsleistung wahrzunehmen (vgl. Abschn. 4). Dabei sollen unter anderem ein diskursiver Blick über den Tellerrand, bezüglich des Einzugs des Digitalen in die Soziale Arbeit und die soziale Beratung (vgl. Abschn. 2) sowie ein kurzer Rückblick auf bereits etablierte digitale Angebote im Feld der EB erfolgen (vgl. Abschn. 3).

1 Erziehungsberatung Seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) 1991 gehört EB in Deutschland zu den Hilfen zur Erziehung (§28 SGB VIII). Personensorgeberechtigte, meist die Eltern, haben einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung für sich und ihr Kind, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§27 Abs. 1 SGB VIII). Speziell in der institutionalisierten EB jedoch gehören auch andere Personengruppen, wie pädagogische Fachkräfte und im weiteren auch Institutionen – meist innerhalb der Jugendhilfe und des Bildungswesens – zu deren Adressat*innen (vgl. Menne 2017). EB erfolgt in den überwiegenden Fällen freiwillig und ohne Einbezug des Jugendamts, sodass junge Menschen, genau wie ihre Eltern ihren

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Anspruch auf Beratung ohne weitere Voraussetzungen einlösen können. Die Anlässe eine Beratungsstelle aufzusuchen weisen eine große Bandbreite auf und reichen von Problemen in der Schule (z. B. Mobbing, Verhaltensauffälligkeiten etc.) bis hin zu Beziehungs- und Paarthematiken, welche das Familienleben in unterschiedlicher Weise tangieren können. Zu den Aufgaben von Erziehungsund Familienberatungsstellen zählen klassischerweise Beratung und Therapie, Information, Prävention und Vernetzung sowie das (Mit-)Gestalten des Sozialen durch Gremienarbeit in Verbänden und Politik (vgl. Berg 2019, S. 24–31). Die in Beratungsstellen beschäftigten Fachkräfte haben in der Regel ein psychologisches, pädagogisches oder sozialarbeiterisches Studium absolviert und sind in anerkannten Beratungs- und/oder Therapieverfahren weitergebildet (vgl. Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. [BKE] 2016). Auch approbierte Psychotherapeut*innen, vor allem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen arbeiten in der EB, sodass diese Hilfe zur Erziehung in ihrer Ausgestaltung mancherorts eine große Nähe zur Psychotherapie aufweist (vgl. Menne 2015; Hensen und Körner 2005; Sawatzki 2016). Beratungsprozesse dauern im Schnitt fünf Monate, können aber auch nur einzelne Termine umfassen oder sich in anderen Fällen über mehrere Jahre erstrecken (vgl. Berg 2019, S. 26–27). Die grundsätzliche konzeptionelle Offenheit von EB wird eingerahmt durch Prinzipien, die sich einerseits aus gesetzlichen Anforderungen, andererseits aus fachlich-wissenschaftlichen Maximen herleiten. Als zentral für die (Beratungs-)Tätigkeit gilt dabei eine ausgesprochene Orientierung am Wohl des Kindes, eine Alltags- und Lebensweltorientierung in Bezug auf die Adressat*innen, eine hohe Bedeutung des Einbezugs der Familie in die Hilfe sowie die Grundsätze der Niederschwelligkeit, Kostenfreiheit und Vertraulichkeit (ebd.). EB befindet sich fortwährend in einem Modernisierungsprozess – und dies nicht nur aufgrund von kontinuierlichen Veränderungen in der Sozialgesetzgebung. Ebenso wie sich familiäres Leben und gesellschaftliche Trends ändern, modifiziert sich auch die Praxis der EB. Dabei sind sowohl Angebote und Anliegen in Beratungsstellen gemeint, als auch deren methodische Ausgestaltung und Beantwortung. Ein Beispiel dafür wäre die deutliche Zunahme an präventiven, aufsuchenden und sozialräumlich ausgerichteten Angeboten der EB, welche mittlerweile die traditionelle Komm-Struktur flankieren (vgl. Zimmer und Schrapper 2006). Viele Themen, welche die EB in den letzten Jahren begleiten und immer wieder zu Modernisierungen herausfordern, wurden vom nationalen Fachverband der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) aufgegriffen. Sie betreffen unter anderem Armut von Kindern und Familien (vgl. BKE 2004a), Migration und Flucht (vgl. BKE 2000, 2017) oder eben Digitalisierung in ­Familien (vgl. BKE 2011) und von Beratung (vgl. BKE 2018a). Digitalisierung

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kann dabei nicht als passageres Zeitphänomen eingeordnet werden, sondern als Veränderungsprozess, welcher Gesellschaften, Beziehungen, Probleme und ebenso Interventionen basal und nachhaltig transformiert (vgl. exemplarisch die Beiträge von Schlieker; Kutscher; Engel in diesem Band). Um diese Einflussnahme des digitalen Wandels auf EB zu plausibilisieren und nachvollziehbar zu gestalten, verorten wir Beratung im Folgenden innerhalb des Funktionssystems der Sozialen Arbeit1 (vgl. Kutscher 2018a). Um weitere Perspektiven für eine digitale Praxis der EB zu entwickeln, erscheint es uns daher notwendig, zunächst die diskursiven Stränge innerhalb der Sozialen Arbeit aufzugreifen und auf die Beratungstätigkeit zu fokussieren.

2 Digitalisierung: Soziale Arbeit und Beratung Digitalisierung greift als gesellschaftlicher Megatrend auf das Funktionssystem der Sozialen Arbeit und ihre Handlungsfelder (z. B. der Beratung) zu, was konsequenterweise ein reflexives Nachdenken über institutionelle, professionelle und angebotsbezogene Entwicklungen notwendig macht. Erfreulich und beruhigend aus Perspektive der Professionellen: Soziale Berufe, die im Wesentlichen zwischenmenschliche, subjekt- und einzelfallbezogene Kompetenzen erfordern, sind perspektivisch durch Automatisierungs- und Rationalisierungsprozesse (aufgrund zunehmender Digitalisierung und Maschinisierung vieler Berufe) nicht tangiert (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017), somit werden „[s]ozialpädagogische, therapeutische und beratende Tätigkeiten […] den durch die Digitalisierung ausgelösten Veränderungen im Arbeitsmarkt erwartungsgemäß am ehesten standhalten“ (ebd., S. 244). Umso attraktiver scheint die diskursive Auseinandersetzung mit Chancen, Möglichkeiten aber auch herausfordernden Entwicklungen im Handlungsfeld der Sozialen Arbeit zu sein. Im Zuge der anhaltenden Digitalisierungsimpulse gilt es daher zu klären, inwiefern, durch die alltägliche Relevanz digitaler Medien in der Lebenswelt sozialpädagogischer Adressat*innen, auch die Soziale Arbeit – und deren Handlungsfelder – gefragt sind, jene digitalen Räume zur Zielgruppenerreichung zu nutzen? (vgl. Kutscher und Seelmeyer 2017).

1Soziale Arbeit wird von uns verstanden als Profession, d. h. als Realisierungsraum der „Orte und Institutionen der Praxis“ (Thole 2012, S. 20), der „weiterhin die Aufgabe zu[fällt], Subjekte und Lebenswelten, die mit ihren eigenen Ressourcen Lebenskrisen und Verunsicherungen nicht oder kaum aufzufangen vermögen, zu unterstützen und biografische Verunsicherungen als Folge von Desintegration aufzufangen“ (ebd., S. 54).

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Bertsche und Como-Zipfel (2017) fragen nach der thematischen Relevanz von Digitalisierung im sozialpädagogischen Fach- und Praxisdiskurs. Unproblematisch, aber relevant und weitgehend akzeptiert zeigt sich die Digitalisierung Sozialer Arbeit u. a. auf bürokratischer Ebene (z. B. Nutzung von Verwaltungssoftware) sowie als Instrument sozialpädagogischer Angebotsgestaltung (z. B. Onlineberatung). Als – im sozialpädagogischen Sinne – problematisch und relevant offenbaren sich u. a. psychisch und sozial fragwürdige Nutzungsformen und Phänomene (z. B. Cybermobbing) (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017). Insofern lässt sich Digitalisierung nicht als neues Phänomen innerhalb sozialpädagogischer Diskurse bezeichnen. Dennoch: Digitalisierungsprozesse innerhalb der Sozialen Arbeit sind für deren Träger u. a. mit Fragen nach Veränderungen und Anpassungen (z. B. bezogen auf trägerinterne Strukturen, politische Steuerung aber auch das professionelle Handeln) verbunden (vgl. Kutscher 2018a). Welche Konsequenzen sich dabei für die EB ergeben, werden wir im Verlauf dieses Beitrages noch erörtern (vgl. Abschn. 4). Zunächst gilt es jedoch die Relevanz der Digitalisierung für die Soziale Arbeit im Allgemeinen und für die Beratung im Speziellen zu verdeutlichen. Dies wird lediglich basal erfolgen, da die digitalisierten Perspektiven auf das Handlungsfeld der EB im Zentrum stehen sollen. Der Digitalisierungsdiskurs in der Sozialen Arbeit wird in einem stetigen Wechselspiel aus Technikeuphorie und Technikskepsis geführt (vgl. Kutscher 2018b). Jene Strömung fokussiert vor allem die neuen Möglichkeiten digitaler Produkte in der Sozialen Arbeit (z. B. Flexibilität, Beteiligungsmöglichkeiten), diese eher die damit verbundenen Herausforderungen, Risiken und Gefahren (z. B. Datenschutzfragen, Entgrenzung von Arbeit) (vgl. Kutscher 2018a, b). Dabei zeigen sich die Chancen digitaler Kommunikationswege in der Sozialen Arbeit als durchaus vielfältig: Auf Ebene der Adressat*innen werden gesteigerte und verbesserte Zugänge erwartet; auf Ebene der Organisation und der Fachkräfte eine kohärentere und flüssigere, kommunikative Vernetzung. Gleichwohl werden vielfach auch Effekte der Rationalität und Effizienzoptimierung assoziiert. Insbesondere letzterer Aspekt ist kritisch im sozialpädagogischen Fachdiskurs zu reflektieren (vgl. Kutscher 2018b). Digitalisierungsprozesse in der Sozialen Arbeit vollziehen sich also auf drei Ebenen: Erstens werden Sozialen Medien und Netzwerke verstärkt, im Sinne eines pragmatischen Kommunikationskanals zwischen Adressat*innen und Fachkräften, genutzt, was u. a. auf die lebensweltliche Relevanz dieser Dienste im Alltag zurückgeführt werden kann; Zweitens werden digitale Angebote innerhalb von Organisationen, z. B. zur Falldokumentation oder Kommunikation, genutzt; Drittens werden digitale Angebote und Leistungen seitens spezieller Institutionen vorgehalten (z. B. Onlineberatung) (vgl. Kutscher 2018a, b). All jene Dimensionen durchziehen, strukturell gesehen,

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sämtliche Handlungsfelder der Sozialen Arbeit und der Kinder- und Jugendhilfe, wenngleich auch gezeigt werden kann, dass die Digitalisierung in jenen Feldern durchaus als different bezeichnet werden kann: So gilt der Bereich der Jugendarbeit im Gegensatz zum Bereich der Kindertagesbetreuung als deutlich progressiver, was z. B. die Nutzung von Apps oder mobilen Medien in der Arbeit angeht. Der Bereich der Onlineberatung gilt hingegen als etabliert (vgl. Kutscher und Seelmeyer 2017). Was bedeutet dies nun für Beratung? Wie sehen digitale Entwicklungen in diesem Bereich aus? Welche sind zu erwarten? Der digitale Diskurs hat im Kontext der Beratungsfelder in gewisser Weise Tradition – wenngleich vorwiegend auf Angebots- und Leistungsebene, z. B. in Form von (z. T. psychotherapeutischer) Onlineberatung, E-Mail Beratung, Chats oder Foren (Thiery 2015; Engel 2008, S. 140–155; Weinhardt 2008; Eichenberg und Kühne 2014; Engelhardt 2018). Organisationelle Digitalprodukte zeigen sich jedoch zunehmend – wenngleich in seiner Qualität und Aktualität, insbesondere im Vergleich zu anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit (z. B. der Altenhilfe) deutlich differenter – als Bestandteil institutionell-professioneller Arbeitsabläufe, z. B. in Form von Fallverarbeitungs-, Statistikund Diagnostiksoftware (vgl. Merchel und Tenhaken 2015; Kreidenweis 2014; BKE 2004b). Die geringere Nutzung digitaler Medien von professionellen Beratungsfachkräften lässt sich letztlich nur multiperspektivisch erklären: Mit einem skeptischen Medienkonservatismus (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017, S. 248–249), mit biografischen (vgl. Weinhardt 2018, S. 494) und/oder generational-altersbedingten Hintergründen (vgl. Sawatzki und Ruttert 2018, S. 201–202), zunehmender, fachlicher Verantwortung und daraus resultierenden Unsicherheiten (vgl. Kutscher 2018a, S. 6–7), einer drohenden Deprofessionalisierung (z. B. durch softwarebedingte Beschneidung der Fachkompetenz) (vgl. Kutscher und Seelmeyer 2017, S. 235–236) oder der Sorge nach erhöhten Steuerungs-, Controlling-, und Wirksamkeitsoptionen (vgl. Kreidenweis 2014; Polutta 2015; Kutscher und Seelmeyer 2017). Primär scheint somit die angebots- und leistungsorientierte Perspektive auf Digitalisierung im Kontext sozialer Beratung relevant zu sein. Im Spektrum dieser Angebote kommt der Onlineberatung eine zentrale Bedeutung zu – warum? Durch die Etablierung diverser Online-Angebote (z. B. Diskussionsforen, Gruppenchats und Mailberatung) wird versucht, Angebote auch für jene Zielgruppen vorzuhalten, die meist weniger erreicht werden (z. B. Jugendliche) (vgl. BKE 2013). Auch der 14. Kinder- und Jugendbericht bescheinigt der Onlineberatung eine zunehmende Relevanz. Sie leistet einen zentralen Beitrag weitere Zielgruppen von Beratung zu erreichen. Allerdings belegen aktuelle Studien, dass, z. B. innerhalb der Gruppe der Jugendlichen, überwiegend jene mit einem formal höheren Bildungsgrad, die Angebote eigenständig nutzen (vgl. Bundesministerium für Familie, ­ Senioren,

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Frauen und Jugend [BMFSFJ] 2013, S. 305): „Die These der prinzipiellen Niedrigschwelligkeit von Onlineberatungsangeboten kann somit nicht unhinterfragt bestätigt werden“ (ebd.). Die Auffassung, dass die Gruppe der Nutzer*innen von Onlineberatung keinesfalls als homogen, und Onlineberatung somit nicht als pauschal niedrigschwellig und erreichbar, angesehen werden kann, gilt somit als vielfach belegt (vgl. Kutscher und Otto 2014; Vossler und Seckinger 2018; Weinhardt 2010). Laut Kutscher und Otto (2014) kann die Ungleichheit der Zugänge zu digitalen Medien zwar als gelöst betrachtet werden. Wohingegen die eigentliche, digitale Ungleichheit, sich in der konkreten Nutzung dieser Medien konstruiert. Diese sei – in Anlehnung an Bourdieu – von den offline verfügbaren, kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitalien, welche auch die habituellen sowie strukturellen Möglichkeitsräume bestimmt, abhängig (vgl. Kutscher und Otto 2014). Auch im Internet werden daher gesellschaftlich-strukturelle Machtverhältnisse repräsentiert, rekonstruiert und verhandelt (vgl. ebd.). Soziale Ungleichheiten, d. h. gesellschaftlich-strukturell bedingte Exklusions- und Distinktionspraktiken, werden – entgegen vieler und z. T. unreflektierter Positionen – nicht im digitalen Raum, qua prinzipieller Verfügbarkeit jeglicher Internetinhalte für Ratsuchende, aufgehoben (vgl. Kutscher 2018b). Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass „habituelle Distinktionsmechanismen auch im Nerz wirken, und gesellschaftliche Grenzen nur bedingt im virtuellen Raum überschritten werden“ (ebd.). Somit gilt es auch für Beratungsinstitutionen die tatsächliche Zugangs- und Barrierefreiheit ihrer Angebote zu prüfen (vgl. Kutscher und Otto 2014) und in einen politisch-­ gesellschaftlichen Verhältnis-Diskurs zu integrieren (Anhorn et al. 2018; Rietmann und Sawatzki 2018). Abschließend bleibt die Frage zu stellen, inwiefern vor diesem Hintergrund Konzepte der Onlineberatung als hinreichend im Kontext der Digitalisierungs­ dynamiken und -entwicklungen von Beratungsdiensten betrachtet werden k­ önnen? Dass dies nicht der Fall ist, bescheinigen u. a. Vossler und Seckinger (2018), die in Onlineangeboten von Erziehungsberatungsstellen ein sinnvolles aber ergänzendes Angebot, sehen (vgl. Vossler und Seckinger 2018, S. 174). Somit wird die Digitalisierung von Beratung und Beratungsstellen über rein technische Perspektiven hinaus gehen müssen: „Die Etablierung niedrigschwelliger Beratungsangebote, die sozial heterogenen Nutzerinnen und Nutzern weiterführende Hilfe und Unterstützung bei der Bearbeitung persönlicher Sorgen und Problemen eröffnen, bleibt demnach auch in Zeiten des Internets vorrangig kein technisches, sondern ein professionelles Projekt“ (BMFSFJ 2013, S. 305). Neben jenen Fragen nach Zugänglichkeit und sozial-digitaler Ungleichheit stellen sich weitere, diskursive Herausforderungen für die Onlineberatung, die an dieser Stelle nur skizziert werden sollen. Zum einen sehen Anbieter von

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Onlineberatungsangeboten sich im Wesentlichen mit dem Spannungsfeld von Zielgruppenerreichung und Datenschutz konfrontiert (vgl. Kutscher 2018b), d. h. das eine wird durch das andere (wechselseitig) beeinflusst. Zum anderen stellt sich die Frage der Angemessenheit der angesprochenen Kommunikationsmedien: Stationäre Empfangsgeräte (z. B. PC, Festnetztelefon) verlieren im Zuge der gleichzeitig zunehmenden Relevanz von mobilen Geräten (z. B. Smartphone) zunehmend an Bedeutung, weshalb vielfach auch von einer mobilen Revolution die Rede ist (vgl. Eichenberg und Kühne 2014). Wie nun eine umfassende Digitalisierungsstrategie von Beratungsdiensten aussehen kann, soll im Weiteren mit Blick auf die EB diskutiert werden (vgl. Abschn. 4). Im Folgenden gilt es zunächst einen Überblick über Digital-Angebote in der EB – im Sinne eines aktuellen Status quo – darzustellen.

3 Der digitale Status quo in der Erziehungsberatung Im Feld der EB hat sich die Digitalisierung, vergleichbar mit zahlreichen anderen sozialpädagogischen Handlungsfeldern, analog zur Darstellung Kutschers (vgl. 2018a, S. 6) zunächst auf der ersten und zweiten Ebene realisiert: Moderne Rechner, zentrale Serveranlagen und digitale Kommunikation ersetzten die älteren, noch nicht vernetzten Computer, die zuvor häufig als reine Schreibwerkzeuge verwendet wurden. Gleichsam verschwanden und verschwinden papierbasierte Klientenakten, da diese in Beratungsstellen zunehmend durch eine digitale Aktenführung abgelöst werden. Die Möglichkeiten des Web 2.0 stellt für die beraterische Fachkraft eine schier unermessliche Vielfalt an Informations- und Kommunikationsoptionen bereit – nicht zuletzt um in der Beratung die Lebenswelt ihrer, häufig jungen, Adressat*innen präziser erfassen zu können (vgl. Wenzel 2018). Weiterhin unterstützt spezielle Software die Fachkräfte der EB schon seit Jahren beim Auswerten von psychologischen Testverfahren und mediengestützte Beratungsangebote wie Marte Meo (vgl. Hawellek 2005) bereichern die Angebotslandschaft. Sondiert man den gegenwärtigen Zustand der Digitalisierung im Feld EB, so fällt auf, dass es sich dabei vielfach um eine Mediatisierung bzw. um eine Antwort auf eine mediatisierte Umwelt in Familien handelt (vgl. Eggert/Schubert in diesem Band; Kutscher und Seelmeyer 2017; Wahl 2011; Wenzel 2018). Ein Gros der Angebote und Entwicklungen der EB sind insofern als ein reaktives, denn proaktives Vorgehen zu verstehen. Vor allem auf der dritten Ebene, bezogen auf die spezifischen Angebote zur Digitalisierung (vgl. Kutscher 2018a), konnten sich in der EB diverse adressat*innenbezogene Leistungen etablieren. Der dargestellte

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Überblick unterteilt diese in die drei übergeordneten Kategorien 1) Onlineberatung, 2) Online-Erziehungsratgeber und digitale Wissensvermittlung sowie 3) Prävention und Intervention. Die erste nutzt die digitale Technik als Beratungsmedium, die zweite nutzt den niederschwelligen Zugang zu Websites, um – teils interaktiv – Wissen und Hilfe anzubieten und die dritte Kategorie beschäftigt sich mit der Prophylaxe und Bearbeitung von Problemen im Zuge der Digitalisierung der Alltagswelt von Adressat*innen. 1. Onlineberatung Onlineberatung ist in gewisser Weise eine logische Folge von Digitalisierungsprozessen in der sozialen Beratung (vgl. Engel in diesem Band; Thiery 2015). Beratung wird in der EB seit geraumer Zeit ergänzend zur Face-to-Face-­ Kommunikation auch online bereitgestellt. Dabei existieren unterschiedliche Angebote, die wir der gebotenen Kürze halber, analog zu anderen ­Autor*innen, unter Onlineberatung subsummieren (vgl. exemplarisch Engelhardt 2018). In Beratungsstellen kann basal zwischen mailbasierter Beratung, Chatbera­ tung, Forenberatung unterschieden werden (vgl. ebd.). Eine der häufigsten ­Formen der Onlineberatung in der EB dürfe dabei über eine textbasierte asynchrone Onlinekommunikation stattfinden bzw. dementsprechend als Mail-Beratung (vgl. Weinhardt 2008) in einem geschützten virtuellen Raum. Sowohl die BKE als auch die freien Träger von Erziehungs- und Familienberatungsstellen, wie Caritas und Diakonie, haben diesbezüglich eigene Onlineberatungssysteme und -plattformen etabliert. Die Zahlen zur Onlineberatung in der EB, weisen diese Form der Hilfe und Unterstützung dabei als Wachstumsmarkt aus, der jedoch noch weiter ausbaufähig scheint (vgl. BMFSFJ 2013; BKE 2018b). Onlineberatungsformate wie Chatberatung finden in der EB noch weitgehend abseits von mobiler Kommunikation in Messengern (z. B. WhatsApp) und sozialen Netzwerken (z. B. Facebook) statt, wie sie zahlenmäßig am häufigsten sowohl von Kindern und Jugendlichen als auch von deren Eltern genutzt werden. Auch Videoberatung (videogestützte Onlineberatung) oder online Peer-Beratungen konnten in der EB noch nicht Fuß fassen. 2. Online-Erziehungsratgeber und digitale Wissensvermittlung Neben der Onlineberatung ziehen Adressat*innen der EB bei Erziehungs- und Familienfragen ebenso das Internet als Quelle für Informationen zurate. In einer modernen Wissensgesellschaft (vgl. Kübler 2009) scheint dabei die nächste passende Information nur einen Klick weit entfernt. Neben größer angelegten Pro-

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jekten wie dem Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) ist auch die Website Eltern im Netz des Bayrischen Landesjugendamtes (BLJA) hinsichtlich seröser Online-Erziehungsratgeber erwähnenswert. Internetportale dieser Art stellen Informationen zu diversen Familienthemen rund um Kinder und Jugendliche zusammen. Die einzelnen Artikel sind meist in Ratgeberform geschrieben. So werden z. B. häufig vorkommende Fragen beantwortet und es wird mit Erziehungsmythen aufgeräumt. Auch medial-digitale Themen werden behandelt und reichen von Beiträgen wie „Kinder surfen im Internet – Ein kleines 1×1 für Erziehungsberechtigte“ (Münsterer 2011) bis hin zu Sexting (vgl. Zentrum Bayern Familie und Soziales [ZBFS]/BLJA o. J.). Eine unter anderem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Elternratgeber-Website mit dem Titel SCHAU HIN! befasst sich sogar ausschließlich mit Medien im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit digitalen Medien wie Games, Apps und sozialen Netzwerken. Einen Schwerpunkt auf den Aspekt Sicherheit, u. a. Daten- und Jugendschutz legen z. B. die Websites von klicksafe (vgl. Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz [LMK] und Landesanstalt für Medien NRW o. J.) und der Arbeitsgemeinschaften/Landesstellen für Kinder- und Jugendschutz in den einzelnen Bundesländern (vgl. exemplarisch Arbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. [AJS NRW] o. J.). Die genannten und weiteren vergleichbaren Websites werden nicht nur von den Adressat*innen der EB aufgesucht. Auch Fachkräfte der EB, so unsere These, beziehen über solche Internetportale neue Kenntnisse für ihre professionelle Beratungstätigkeit, bestellen Informationsmaterial für ihre Klient*innen oder empfehlen digitale Inhalte, wie Apps und Links, weiter. Wichtige Untersuchungen, wie die Basisuntersuchungen zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen (vgl. JIM-Studie; KIM-Studie; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest [MPFS] o. J.) oder der DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A; Deutsches Jugendinstitut [DJI] o. J.) sind am einfachsten online zu recherchieren und können Berater*innen wichtige Anhaltspunkte für pädagogische Einschätzungen und Empfehlungen geben. Sofern Sie online keine eigenen thematischen Erziehungsinformationen bereitstellen, empfehlen zudem Verbände wie die BKE und auch einzelne Erziehungsberatungsstellen auf ihren Websites die zuvor genannten Portale und Seiten, sodass ihre Adressat*innen schneller zu den gewünschten Informationen finden. Als problematisch ist dabei zu bewerten, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Adressat*innen zu ihrer jeweils besonderen Situation oder Problemlage keine passenden Informationen im Internet bekommen. Da die Fülle an potenziell hilfreichen Ratgeber-Websites es den Adressat*innen erschwert, qualifizierte

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und professionelle Unterstützung zu erhalten, darf die Niederschwelligkeit dieser Art von Hilfe und Wissenstransfer hinterfragt werden. Der auf unterschiedlichen Websites verbreitete Selbsttest des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) zum Thema Bin ich internetsüchtig? mag dafür ein gutes Beispiel sein. Auch ein wissenschaftlich entwickelter und evaluierter Selbsttest wie dieser kann, genutzt von einem psychosozial belasteten Jugendlichen, ohne die entsprechende Einordnung der Ergebnisse durch eine Fachkraft, unerwünschte Effekte erzeugen. In diesem Sinne besitzt jeder Online-Erziehungsratgeber gewissermaßen das Potenzial, Eltern und Kinder irritierter oder verunsicherter zurückzulassen, als sie es zuvor waren. 3. Prävention und Intervention zu digitalen Medien/Themen Die dritte Angebotskategorie umfasst jene präventiven und beraterischen – mitunter auch psychotherapeutischen – Leistungen, welche bislang in Erziehungsberatungsstellen wesentlich durch die Beratungsanlässe und -anliegen der Adressat*innen mitbestimmt werden. Fachkräfte der EB leisten dabei vornehmlich medienpädagogische Beratung und Vermittlung von Medienkompetenz. Die aufgeworfenen Themen der unterschiedlichen Adressat*innen sind vielfältig und variabel, ranken sich nach unserer Erfahrung jedoch meist um Fragestellungen zu Entwicklungsrisiken bei (frühem) Medienkonsum, zum Nutzungsverhalten (z. B. Suchtgefahr) junger Menschen von digitalen Medien, wie Smartphone, Tablet, Konsole und Computer, zur Nutzung bzw. Nicht-Nutzung im Kindes- und Jugendalter omnipräsenter Apps und Games (wie z. B. Instagram, YouTube oder Fortnite), zu sozialen Phänomenen und Problemen zwischen Peers wie Cybermobbing und -stalking oder allgemein zu Sicherheit und Schutz im Netz aufgrund von kinder- und jugendgefährdenden Nachrichten, Blogs, Bildern oder Videos im Zusammenhang mit Gewalt und/oder Pornografie. Es sind demnach digitale Themen, die durch die Verbreitung von digitalen Medien im Alltag von Familien, zu spezifischen Fragen und Problemanliegen in der Beratung führen. Zur Beantwortung dieser Fragen und Anliegen nutzen die Fachkräfte der EB teilweise speziell konzipierte Programme und Beratungsansätze (vgl. z. B. Thormann/Tietze in diesem Band; Moll und Thomasius 2019; Scholz 2014; Wenzel 2018). Dort wo diese fehlen, können Beratungsstellen auch im präventiven Sinne aktiv werden, dabei steht die Vermittlung von Medienkompetenz an erster Stelle. So werden über medienpädagogische Angebote, wie Vorträge und Elternabende in Kindertagesstätten und Schulen oder präventive Gruppenarbeit mit Kindern (vgl. Berg/d’Almeida-Deupmann in diesem Band) Kompetenzen vermittelt, die im Medienalltag dringend benötigt werden.

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Alles in allem wirkt der gegenwärtige Zustand der Digitalisierung in der EB unverbunden und wenig systematisch. Der Digitalisierungsdiskurs innerhalb der Wissenschaft Sozialer Arbeit wird in der Praxis der EB kaum reflektiert, obschon sich unserer Beobachtung nach auch hier das Wechselspiel von Technikeuphorie und Technikskepsis (Kutscher 2018b) abzeichnet. Obwohl die Digitalisierung längst auf unterschiedlichen Ebenen die Beratungszimmer von Erziehungsberatungsstellen erreicht hat, fehlt es in der Institution einer echten Digitalisierungs-Strategie. Ansätze für eine ebensolche strategisch digitale Ausrichtung der EB soll das nächste Kapitel aufzeigen.

4 Institutionelle und konzeptionelle Perspektiven Was bedeuten Digitalisierung und der damit einhergehende gesellschaftliche und fachliche Wandel für Soziale Arbeit und Beratung, nun konkret für die Erziehungsberatung? Wie kann eine Digitalisierungs-Strategie, welche den Dynamiken und Anforderungen offen, konstruktiv, aber auch kritisch-reflexiv gegenübersteht, in den kommenden Jahren aussehen? Wir konnten vorausgehend die digitalen Traditionen und Angebote der EB vorstellen und somit zeigen, dass diese seit Beginn der Mediatisierung und Digitalisierung fachlich und fachpolitisch von Relevanz sind. Aber: Wie umfassend – im Sinne einer digitalen Haltung – sind diese Diskurse? Vorwiegend scheinen Onlineangebote primär als ergänzende, optionale Leistung angesehen zu werden, die zugleich, fachpolitisch, als hinreichender Beitrag zur Digitalisierung der EB-Stellen angeboten werden: „Die Beratung im Internet stellt einen ergänzenden, niedrigschwelligen Zugang zum Leistungsangebot von Beratungsdiensten dar. Sie ermöglicht bei Bedarf sowohl eine Überleitung zur Face-to-Face-Beratung als auch deren Begleitung und/oder Nachbetreuung“ (BKE 2010, S. 15). Onlineberatung stellt unseres Erachtens einen wichtigen Beitrag dar, darf jedoch nicht als hinreichender Digitalisierungsbeitrag missverstanden werden: Denn das Potenzial der EB ist deutlich größer! Im Verlauf wird daher der Frage nachgegangen, wie institutionelle und konzeptionelle Perspektiven der EB mit Blick auf den Megatrend Digitalisierung aussehen können. Zur diskursiven Analyse eines Digitalisierungskonzepts der EB möchten wir eine Heuristik nutzen, die sich im Wesentlichen an Grundlagen der Adressat*innenorientierung (vgl. Graßhoff 2015; Bitzan und Bolay 2017), der Organisations- und Dienstleistungssoziologie (vgl. Klatetzki 2010a), Mediatisierungs- (vgl. Kutscher in diesem Band; Kutscher et al. 2015; Kutscher 2015; Kutscher und Seelmeyer 2017, S. 230) und Kommunikationsmodellen (vgl. Eichenberg und Kühne 2014) orientiert und miteinander verbindet. So kann der

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Komplexität des Themas Digitalisierung in der EB fachlich Rechnung getragen werden. Dieses Modell wird in Abb. 1 dargestellt. In Grundsätzen lehnt sich unser Modell an dem der Mediatisierungsdimensionen Sozialer Arbeit an (Kutscher und Seelmeyer 2017). Damit wird dem Umstand entsprochen, dass neben der zunehmenden Bedeutung der Mediensozialisation – sowohl für Adressat*innen als auch für Fachkräfte der Sozialen Arbeit – parallel auch eine Mediatisierung sozialpädagogischer Arbeitsvollzüge festzustellen ist, welche Auswirkungen auf das akteurs- und interaktionsbezogene Verhältnis zwischen Institutionen, Fachkräften und Adressat*innen mit sich bringt (vgl. ebd.). Ergänzt wird dieses Modell um die Adressaten*orientierung2 – als interaktionistischen Ansatz Sozialer Arbeit (Graßhoff 2015; Bitzan und Bolay 2017). Eine adressatenorientierte Soziale Arbeit fokussiert primär die Adressat*innen als zentrale Akteure im Hilfesystem statt institutionelle und professionelle Einflüsse, sieht diese dennoch in einem Wechselverhältnis (vgl. Graßhoff 2015). Auf Ebene der Organisation/Institution scheint es bedeutsam, auf dienstleistungsorientierte, organisationssoziologische Perspektiven (Klatetzki 2010b) zurück zu greifen, um den Charakter dieser Einrichtungen (in diesem Fall die Erziehungsberatungsstelle), zu verdeutlichen (vgl. ebd.). Was macht soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen also aus? „Wenn […] von sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen die Rede ist, so geht es […] um soziale Einrichtungen und Dienste, die Individuen bilden, sozialisieren, therapieren, rehabilitieren, pflegen und/oder ihnen einen bestimmten sozialen Status zuweisen“ (ebd., S. 10). Final wird das Modell um digitale Kommunikationsformen (Eichenberg und Kühne 2014) ergänzt. Eichenberg und Kühne (2014) differenzieren vier unterschiedliche Kommunikationsformen in Relation zu der Anzahl an Sendern und Empfängern. Diese können im Zuge eines relational gedachten Digitalisierungsprozesses an verschiedenen Stellen jeweils unterschiedlich stark relevant werden. So wird differenziert in: Erstens Individualkommunikation (zwischen Individuum und Individuum, z. B. bei Kommunikation über E-Mail, Chat, SMS oder

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Adressatenorientierung lässt sich als normatives Einstellungs- und Haltungsmuster beschreiben, welches sich insbesondere in Anlehnung an die theoretischen Diskurse zur Lebensweltorientierung und die kritischen Debatten um Expertokratisierung der Sozialpädagogik, speist. Damit verbunden sind neben normativen auch ethische Setzungen, die orientiert sind am Ziel der sozialen Gerechtigkeit sowie eine kritische Analyse bestehender Angebote und Institutionen vor jenem Hintergrund (vgl. Graßhoff 2015, S. 12).

Digitale Medien (wie z.B. soziale Netzwerke) als Teil des Alltags der Ratsuchenden

Ratsuchende (Familien, päd. Fachkräfte)

und Informationsvermittlung

Informationsmedien (z.B. Blog, App) zu diversen Themen (z.B. Erziehung, Entwicklung) Für mobile Endgeräte kompatible Homepage mit aktuellen, relevanten Themen und einfachem digitalen Zugang zur Hilfe (z.B. Onlineberatungsportal) Nutzung sozialer Medien (z.B. Twitter,









Beratung und Begleitung im Web 2.0 und über mobile Medien (z.B. in sozialen Netzwerken) Onlineberatung (z.B. Chatberatung, Videoberatung etc.) Digitale (spiel-)therapeutische (z.B. kreative) Angebote für Kinder und Jugendliche Digitale Kontaktaufnahme und Kommunikation (z.B. über Messenger, Netzwerke, Apps)

Digitale Kommunikation und Intervention

„relationales Verhältnis“

Kommunikationsformen: Individualkommunikation Gruppenkommunikation Unikommunikation Massenkommunikation (vgl. Eichenberg/Kühne 2014)

Beratungsstelle/Träger

„digitale Haltung“ Digitales Wissen/Können Fort- und Weiterbildung

Berater*innen

Digitale Ermöglichung und Nutzung • Social Media (dienstl. Smartphone, Tablet etc.) in der Beratung; Diagnostik, Beratung, Therapie mittels digitaler Technik (z.B. Genogramm-App, Auswertungstools etc.) • Zurverfügungstellung und Nutzung des (mobilen) Internets in der Beratung • Digitale Aktenführung, Statistik, Controlling etc. • Datenschutzkonforme Onlineberatung über diverse Zugänge (mobil, Videoberatung, Apps etc.)

STRATEGIE

Ungleichheit); Zielgruppenerreichung;

Digitale Infrastruktur digitale Steuerungs- und Strategieplanung;

Abb. 1   Heuristisches Analysemodell konzeptioneller Digitalisierungsprozesse in Erziehungsberatungsstellen. (In Anlehnung an Kutscher und Seelmeyer 2017; eigene Darstellung; vgl. Graßhoff 2015; Klatetzki 2010a; Kutscher et al. 2015; Eichenberg und Kühne 2014)







Digitale Niedrigschwelligkeit, Informations- und Wissensvermittlung

DIGITALISIERUNGS

„sozial, personenbezogen, dienstleistungsorientiert“ (vgl. Klatetzki 2010b)

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Telefon); Zweitens Gruppenkommunikation (zwischen Gruppenmitglieder und Gruppenmitglieder, z. B. bei Kommunikation über einen E-Mail-Verteiler oder in Videokonferenzen); Drittens Unikommunikation (zwischen Individuum und einem diversem Publikum, z. B. bei Kommunikation über eine persönliche Homepage oder einen Webblog); Viertens Massenkommunikation (zwischen Organisation und einem diversem Publikum, z. B. bei Kommunikation über Webseite einer Organisation, Zeitung, Film) (vgl. ebd.). Diese Formen offenbaren die kommunikativen Möglichkeiten im Rahmen digitaler Kommunikation innerhalb des Wechselverhältnisses aus Organisation, Fachkräften und Adressat*innen. Im weiteren Verlauf soll dieses Modell nun mit konkreten Inhalten gefüllt werden, um die Frage einer umfassenden Digitalisierungsstrategie der EB zu beantworten. Dimension I: Organisation (Beratungsstelle und Träger) Erziehungsberatungsstellen sehen sich mit Herausforderungen konfrontiert, der lebens- und alltagsweltlichen Bedeutung digitaler Medien in ihren Angeboten (z. B. Onlineberatung) und ihren internen Strukturen gerecht zu werden (vgl. Kutscher und Seelmeyer 2017). Grundsätzlich ergeben sich als zentrale Herausforderungen seitens der Beratungsstelle und des Trägers Fragen des standardisierten Datenaustauschs zwischen verschiedenen Beratungsstellen, Kooperationspartnern oder Trägern. Vereinbarungen und transparente Verträge (z. B. durch Dach- und/oder Trägerverbände) sind hier relevant. Digitale Steuerung- und Strategieplanung sind auf dieser Ebenen angesiedelt: D. h. die Frage nach technischen Ressourcen, Möglichkeiten und Bedarfen einerseits, und die der relevanten Zielgruppen, gesellschaftlich bedingten Themen und Problemlagen andererseits. Weitere Aufgaben ergeben sich in der Relation zu den Professionellen (also dem EB-Team und dem/der einzelnen Berater*in). Hier gilt es Fragen der digitalen Ver­ netzung zwischen Beratungsstelle und weiteren Diensten des Trägers zu klären, sowie innerhalb des Beratungsstellenteams. Hinzu kommen Vereinbarungen zur ­Nutzung von Fachsoftware. Neben Lizenz- und Kostenfragen gilt es insbesondere den Verwertungssinn – mit Blick auf Möglichkeiten der wirkungsorientierten Steuerung und Effizienzoptimierung – transparent zu kommunizieren. Fraglich bleibt in diesem Zusammenhang, wie das subjektive Fallhandeln von Berater*innen, durch die zunehmenden Nutzung digitaler Produkte (z. B. Software zur Fallbearbeitung), verändert wird und welche Herausforderungen sich professionstheoretisch für die ­Hilfeerbringung ergeben (vgl. ebd; Kutscher 2018b). In Relation zu den Adressat*innen ist eine konkrete Social Media Marketing-Strategie im Rahmen organisationaler Öffentlichkeitsarbeit relevant: Wie und über welche Kommunikationsformen (i. d. R. über Uni- und Massenkommunikation) werden welche Themen für welche Zielgruppe kommuniziert?

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Jenseits der klassischen Träger-Homepage, die ebenfalls Teil der Öffentlichkeitsarbeit ist, gilt es weitere und zeitgemäßere Verbreitungsoptionen (auch zur digitalen Wissensvermittlung) zu diskutieren, wie z. B. Blogs oder Apps, die von Fachkräften (auch in Kooperation zu anderen Organisationen) gepflegt werden (vgl. Rietmann/Sawatzki in diesem Band). Für die Nutzung von Beratungssoftware, Kommunikationsprogrammen und Apps auf mobilen Endgeräten ist es unabdingbar, dass der Träger der Beratungsstelle eine sowohl für die Adressat*innen als auch für die Berater*innen, gangbare Lösung den Datenschutz betreffend findet. Viele in der digitalisierten Lebenswelt der Adressat*innen einfache Kommunikationsmöglichkeiten (z. B. Messenger wie WhatsApp) stehen Fachkräften der Beratung in ihrem professionellen Umfeld nicht zur Verfügung. Nicht selten scheitert es – jenseits der Datenschutzhürde – bereits an entsprechender Hardware und Technologie, wie mobiles Internet und mobilen Arbeitsgeräten (z. B. Smartphone oder Tabletcomputer). Dimension II: Fachkräfte (Berater*innen) Die Berater*innen einer Erziehungsberatungsstelle sind als Fachkräfte (z. B. in Kooperation mit anderen Fachkräften, u. a. des Jugendamtes) mit Digitalisierungsfragen beschäftigt: So findet professioneller Austausch zunehmend über Mailinglisten – also per Gruppenkommunikation – (z. B. über Dach- und Fachverbände, regionale Arbeitsgruppen) sowie in Fachforen statt. Zugleich sind Fachkräfte zunehmend im eigenen privaten und beruflichen Raum mit Digitalisierungsphänomenen konfrontiert. Dabei korreliert die private Relevanz nicht zwangsläufig mit der beruflichen (vgl. Emanuel/Weinhardt in diesem Band), weshalb die Frage nach einer digitalen Haltung gestellt werden sollte: Wie ist meine eigene Einstellung gegenüber Neuen Medien und digitalen Produkten? Wie nutze ich diese in meinem privaten, wie in meinem beruflichen Alltag? Wo und wieso ergeben sich Unterschiede? Interessant dürften die Nutzungspräferenzen und -kompetenzen sein. Daran anknüpfend zeigt sich im Professionalisierungsdiskurs die Frage nach Qualifikation im Sinne eines digital-reflexiven Wissens und Könnens von Fachkräften: Digitalisierung löst somit auch Fragen nach Fort- und Weiterbildungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten aus. Innerhalb des Teams sollten daher, in Verantwortung der Leitung, Personalentwicklungsbedarfe in dieser Hinsicht geprüft und geplant werden (vgl. Sawatzki und Ruttert 2018). In Relation zur Organisation stellt sich für Fachkräfte die Aufgabe, welche digitalen Produkte, auf welche Art und Weise in die Arbeitsabläufe eingebunden werden können und sollten. Hierzu zählen u. a. der Einsatz von Beratungssoftware z. B. zur Erstellung und Verwaltung von Genogrammen, Bild- und Videoaufnahmen aus Beratungssitzungen, digitale Aktenführung. Zwangsläufig ergeben

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sich Anforderungen an Hardware: Welche PC-Systeme werden genutzt? Welche erleichtern die Arbeitsabläufe? Wie gestalten sich die digitalen Schnittstellen (z. B. wie smart gelingt der Transfer von Bildern/Videos)? Insofern ergibt sich die Frage nach der entsprechenden Aktualität der Hardware-Ausstattung. Auf dem digitalen Markt der Endgeräte hat sich in den letzten Jahren vieles, eher weg vom Arbeitsplatz PC, entwickelt: „Mobilgeräte wie Tablet-PCs mit sicherer Funkverbindung ermöglichen […] Online-Informationszugriffe und Informationserfassung ohne lokale Datenspeicherung. Mit der integrierten Kamera können Papierdokumente eingescannt oder Fotos erstellt werden und unmittelbar in die Falldokumentation abgelegt werden. Die Handschrift-Funktion kann etwa für Gesprächsnotizen genutzt werden. Die schlanken Geräte werden dabei weder von SozialarbeiterInnen noch von den Klienten als ‚Technik‘ wahrgenommen, die […] Livestylegeräte werden eher mit Notizblöcken als mit sperrigen PCs assoziiert“ (Kreidenweis 2014, S. 486).

Die Nutzung aktueller, zeitgemäßer Soft- und Hardware könnte u. a. die S ­ enkung des Arbeitsaufwandes im Bereich Dokumentation, Steuerung und Planung zur Folge haben. Diese Zeitersparnis käme schließlich dem primär im Fokus stehenden Hilfeprozess zugute (vgl. ebd.). Verbunden damit sind stets datenschutzbedingte Herausforderungen, die im Arbeitsalltag häufig zu Verunsicherungen führen können. Zu betonen ist, dass sämtliche Sicherheitseinstellungen, aber auch Hard- und Softwareausstattung nur so gut funktionieren, wie der/die Anwender*in (also der/die Berater*in) geschult und kompetent in deren Anwendung ist (vgl. BKE 2004b). Dies wäre erneut ein Plädoyer für die Planung von Fort- und Weiterbildungen, um fachliche Standards sicherzustellen. Diese Fortbildungen befassen sich notwendigerweise mit Themen rund um Medienerziehung und -sozialisation. Gleichwohl dürfen Aspekte wie u. a. digitales Wissen/Können, Reflexion der eigenen, digitalen Haltung, Technik- und Bedienkompetenz nicht vernachlässigt werden. Besonders für die Etablierung einer fachlichen, kritisch-reflexiven Haltung gegenüber digitalen Medien im Kontext der Sozialen Arbeit, besteht für sozialpädagogische Fachkräfte weiterhin Aus -und Weiterbildungsbedarf (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017). Um weiterhin hilfreiche und authentische Beratung anbieten zu können, hat die BKE u. a. damit reagiert, Themen der Neuen Medien und Digitalisierung stärker im eigenen Fortbildungsprogramm zu berücksichtigen. Da diese Themen häufig quer zu den Hauptanlässen und -anliegen verlaufen, lässt sich jenes Wissen nicht auf einzelne Personen im Team spezialisieren, sondern erfordert von jedem/jeder Berater*in eine gewisse Grundkompetenz (vgl. BKE 2012). Speziellere Themen (z. B. Cybermobbing, exzessives Gaming bzw. exzessive Mediennutzung) haben

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diesbezüglich in den Unterstützungsangeboten der Kinder- und Jugendhilfe noch keinen festen Platz gefunden – ebenso wenig wie in analogen Hilfesystemen (z. B. Suchthilfe). Viele dieser Problematiken werden erst offenbar, wenn Berater*innen sich medienkompetent erweisen und gezielt nach dem Umgang mit digitalen Medien und entsprechenden Phänomenen fragen. In Relation zu den Adressat*innen stellt sich neben den konkreten digitalen Interventionen zunächst die Frage der digitalen Haltung. So reproduzieren sich skeptische oder gar feindselige Haltungen – auch wenn sie subjektiv begründet erscheinen – auf die Beziehung zu den Adressat*innen (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017). So formulieren Kutscher und Seelmeyer (2017) dazu treffend: „Mit Blick auf mediensozialisatorische Effekte ist aufseiten der Professionellen in der Sozialen Arbeit einerseits davon auszugehen, dass hier medien- und technikkritische Haltungen stark verbreitet sind und sich sowohl durch die fachliche Differenz als auch durch technikskeptische Positionierungen entsprechende Distanz zeigt“ (Kutscher und Seelmeyer 2017, S. 233). Vor dem Hintergrund der Verbindung aus Person und Werkzeug, gilt es insbesondere biografisch-informelle Anteile der Professionalisierung von Berater*innen mit zu bedenken (vgl. Weinhardt 2018)3 – auch und gerade in Fragen von Digitalisierung und Mediatisierung. Problematisch erscheinen monokausale, aber smart und kompakt anmutende Erklärungsmuster, wie sie u. a. in fach-polemischen und semi-wissenschaftlichen Veröffentlichungen (z. B. Manfred Spitzer: Cyberkrank. Wie das digitalisierte Leben unsere Gesellschaft ruiniert) zu finden sind. Diese reduzieren – nachweislich komplexe und multikausale Problemlagen (wie z. B. Schulprobleme oder körperliches Übergewicht) – auf den Medienkonsum. Da diese Publikationen und daraus resultierende Haltungen durchaus auch bei Pädagog*innen, Eltern und Lehrern anzutreffen sind, gilt es hier ein kritisch-reflektiertes Bewusstsein zu implementieren (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017). Die digitale Selbstreflexion, das Dekonstruieren versimplifizierter, monokausaler Vorannahmen und die gleichzeitige Beibehaltung einer kritischen Haltung, bleiben zentrale professionsbezogene Aufgaben von Fachkräften in der EB. Neben Veränderungen, die sich durch die Digitalisierung von Interventionen ergeben, offenbaren sich Herausforderungen auch auf Ebene digitaler Kommunikation: Die Nutzungsmöglichkeit digitaler Produkte (wie z. B. Messenger)

3Weinhardt

(2018) weißt z. B. auf die Gefahr der erfahrungsbasierten Beeinflussung von Beratungsanliegen und -themen hin: „Schul- und Familienfragen (Bauer und Weinhardt 2017) laden geradezu dazu ein, eigene biografische Erfahrungen mit den Beratungsanliegen von Adressat_innen unreflektiert zu vermischen“ (Weinhardt 2018, S. 494).

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erzeugt – neben positiven Nutzungsoptionen – auch im Verhältnis zwischen Fachkräften und Adressat*innen neue Unsicherheiten und Abgrenzungsfragen: Zwischen beruflichem und privaten Raum, dienstlicher und freier Zeit (z. B. bzgl. der Erreichbarkeit). Damit verbunden sind zwangsläufig auch Datenschutz­ fragen (z. B. die Sammlung kommunikativ-dienstlicher Daten bei Unternehmen wie Google, Facebook und Co.) (vgl. Kutscher 2018b). Fachkräfte sind somit an dieser Stelle massiv herausgefordert, die Möglichkeiten digitaler K ­ ommunikation (z. B. zur Vereinfachung der Terminvereinbarung), zu nutzen, und ­gleichzeitig entsprechende Abgrenzungshaltungen zu installieren, gemäß eines angemessenen Nähe-Distanz-Verhältnisses. Spannend erscheint vor diesem Hintergrund auch die transparente Bewertungskultur (wie z. B. über Google Maps möglich), die es Adressat*innen erlaubt Organisationen, jedoch auch mit Referenz auf eine bestimmte Fachkraft, im Internet – öffentlich einsehbar für aktuelle und ­ potenzielle Adressat*innen – zu bewerten. Welche neuen Herausforderungen ergeben sich für Organisationen aber insbesondere für Fachkräfte? ­Schließlich führt diese neue Transparenz zu einer Offenlegung des Beratungsprozesses und seiner Ergebnisse und Erfolge in den öffentlichen Raum: Eine Erfahrung, die angesichts der hohen Arbeitsautonomie, starken Komm-Struktur und ­closed-shop-Mentalität, für viele Berater*innen neu sein wird. Hier braucht es neben fachlichen Antworten (wie z. B. Supervision, einem konstruktiven Beschwerdemanagement) vor allem weitere Forschung. Dimension III: Adressat*innen (Ratsuchende) Die Adressat*innen selbst agieren in ihren digitalen Lebenswelten. Medien und digitale Produkte sind im Alltag und den Sphären des Lebens von Familie über Freundschaft bis zum Beruf schon lange keine Utopie mehr, sondern phänomenologische Realität. Dieser Lebenswelt, im Sinne einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit, nicht gerecht werden zu wollen oder zu können, scheint mit Blick auf die gesellschaftliche Verschränkung von Beratung und Adressat*innen bzw. beratungsrelevanten Themen (vgl. Rietmann und Sawatzki 2018; Engel et al. 2014) aussichtslos und wenig hilfreich: „Eine Welt im Wandel braucht Beratung, aber eine Beratung, die diesem Wandel Rechnung trägt!“ (Engel et al. 2018, S. 85–86). Neben der lebensweltlichen Relevanz digitaler Themen (z. B. im Rahmen von Medienerziehung und -nutzung) zeigt sich daneben auch eine Tendenz der digitalen Selbsthilfe und Problembewältigung, quasi auf smartem Wege – über Websites, Foren und Chats. Qualitativ sind jedoch nur wenige Angebote auf fachlichem Niveau (vgl. Abschn. 3). Hier verhält es sich ähnlich wie beim googlen von Krankheiten und Diagnosen: Bei weitem nicht alles, was im Internet zu finden ist, ist auch seriös, geschweige denn angemessen und hilfreich. Somit stellt sich

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die Frage: Wie können jene Lücken im Netz, mit fachlichen Angeboten gefüllt werden? In der Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat*innen zeigt sich die Herausforderung, dass digitale Medien weiterhin an Relevanz im alltäglichen Leben gewinnen und insofern auch von Fachkräften berücksichtigt werden sollten (z. B. bei Onlineberatung), zugleich ergeben sich daraus jedoch Anforderungen an Fragen des Datenschutzes und der Datenspeicherung (vgl. Kutscher und Seelmeyer 2017, S. 231). Dadurch wird jener Spannungszustand erzeugt, den wir bereits thematisiert haben: Gemäß einer WIN-LOSE-Logik scheinen sich digitale Interventionsangebote und der Datenschutz zu bedingen und punktuell auszuschließen. Ein Aspekt den es weiterhin kritisch zu diskutieren und auszuloten gilt. Analog zeigt sich hinsichtlich digitaler Kommunikation (z. B. über Messenger) zwischen Fachkräften und Adressat*innen für diese die Herausforderung, dass persönliche Daten und Details des Hilfeprozesses (z. B. Thema, Anliegen) bei großen Internetkonzernen gespeichert werden. Die Frage des Datenschutzes ist somit keine Einbahnstraße, sondern als relationale Aufgabe zwischen den beteiligten Akteuren zu denken. Aus Sicht der Adressat*innen gilt es nach ansprechenden, d. h. möglichst niedrigschwelligen und barrierefreien, digitalen Interventionen zu fragen: Welche Optionen gibt es jenseits der klassischen Onlineberatung per E-Mail? Welche Möglichkeiten können videogestützte Verfahren liefern (z. B. die Beratung über Dienste wie Skype o. ä.) insbesondere mit Blick auf die Distanzüberbrückung (z. B. im Rahmen von Trennungs-/Scheidungsberatung, wenn ein Elternteil örtlich verzogen ist)? Auch medienpädagogische Angebote im Internet (vgl. Abschn. 3) für Eltern können stärker und zielgerichteter in der Beratungsarbeit genutzt werden. Denkbar wären Angebote der Psychoedukation oder der Selbsthilfe, z. B. für Kinder und Jugendliche, so wie es die Websites von NACOA Deutschland (www. nacoa.de) oder Self Help for Trauma (www.selfhelpfortrauma.org) vormachen. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sind Fragen des Einbezugs digitaler Medien in den Beratungsprozess zu prüfen: Gibt es Möglichkeiten (z. B. im Rahmen spieltherapeutischer Angebote) mediale Produkte (wie z. B. Spielkonsolen, Tablets) zu nutzen und über diverse Spiele ins Gespräch zu kommen? Wie können die neuen Möglichkeiten und Potenziale digitaler Medien in der Arbeit mit Kindern integriert werden? Zu nennen sind u. a. kindgerechte Apps, Tablet-Mikroskope (z. B. zur Untersuchung und Entdeckung von Gegenständen), sowie die kreative Arbeit mit Bild- und Videomaterialien (z. B. über Green Screens, Foto-Safari, Foto-Rätsel, Stop-Motion Filme oder kreative Mal- und Zeichenprogramme) oder Audiomaterialien (z. B. Nutzung von Big Points zur Aufnahme von Geschichten) (vgl. u. a. Wentzel o. J.).

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Zugleich verändert sich das Verhältnis zwischen den Adressat*innen und Fachkräften – bei Nutzung digitaler Kommunikationskanäle „insofern, als die Autonomie der Adressatinnen in der digitalisierten Kommunikation zunimmt. Sie können prinzipiell leichter Kontakt aufnehmen oder sich einem Hilfeprozess entziehen, und Professionelle sind vor diesem Hintergrund deutlich anders gefordert, adressat*innenbezogen reflexiv zu handeln“ (Kutscher 2018b, S. 1436). Die Digitalisierung sozialer Beratungsangebote könnte somit zu einer punktuellen Verschiebung im funktionalen Machtgefüge der Helferbeziehung (Widulle 2012) führen, die – je nach Perspektive – für die Akteure Chancen und Herausforderungen beinhalten kann, wenn die Entscheidung und Kontrolle über den Beratungsprozess tendenziell stärker in Richtung der Adressat*innen verschoben wird (vgl. Kutscher 2018b). In Relation zur Organisation ergeben sich u. a. Fragen der lebensweltnahen Ansprache durch Öffentlichkeitsarbeit und Social Media Marketing. In Zusammenwirken von Organisation und Fachkräften kann so an Angeboten gearbeitet werden, die auf Ebenen präventiver Leistungsbereiche (z. B. allgemeine Informationen, Ratgeber) angesiedelt sind. Aus Perspektive der Adressat*innen sind Formen der Partizipation, der Rückmeldung und Evaluation zu prüfen: Inwiefern können Eltern, Kinder, Jugendliche und/oder andere Fachkräfte (z. B. über Befragungen), ausgehend von deren Bedürfnissen und Bedarfen, an der Gestaltung beteiligt werden? Anschlussfähig könnte an dieser Stelle auch ein digitales Beschwerdemanagement sein, welches kritische Rückmeldungen innerhalb eines institutionellen Gefüges erlaubt. Diese erscheinen in jedem Fall handhabbarer und hilfreicher als öffentliche Bewertungsplattformen (wie z. B. Google Maps), wo Frust, Ärger und Unzufriedenheit über Hilfeprozesse i. d. R. nicht konstruktiv aufgearbeitet und für Anpassungen genutzt werden kann. Letztendlich kann ein ansprechender Online-Auftritt, der diverse, hilfreiche Informationen, und Verknüpfungen zu digitalen Interventionsangeboten (wie der Onlineberatung) für Ratsuchende bereithält, einen Beitrag zur Verbesserung des familiären Alltags leisten. Entsprechend einer Vorreiter- und Vorbildfunktion sind die einzelnen Organisationen und Träger, Trägerorganisationen, sowie Dach- und Fachverbände der Beratung gefragt, entsprechende Internetpräsenzen vorzuhalten.

5 Ausblick Neue Medien tauchen mit immer größerer Selbstverständlichkeit in der EB auf. Viele Eltern, aber auch Kinder und Jugendliche selbst, haben Fragen rund um die Mediennutzung. So wird die EB perspektivisch weiterhin gefordert sein,

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sich mit dieser Thematik auseinander zu setzen. Gerade deshalb ist eine neugierige, akzeptiere Haltung der Berater*innen besonders wichtig, um hilfreiche Beratung anbieten zu können (vgl. BKE 2012). Dabei leistet die Onlineberatung einen notwendigen, aber aus unserer Perspektive keinen hinreichenden Teil im Kanon der Digitalisierungsmöglichkeiten. Aus diesem Grund haben wir mithilfe eines Analysemodells die EB mit ihren beteiligten Akteuren insgesamt in den Blick genommen, um weitere Entwicklungsperspektiven und Möglichkeiten in diesem Kontext aufzuzeigen. Deutlich geworden ist nicht nur das enorme Potenzial, welches von Erziehungsberatungsstellen vielfach in dieser Form noch nicht genutzt wird, sondern auch die thematische Relevanz für ratsuchende Adressat*innen, Fachkräfte und Organisationen. Digitalisierung erfordert neben einer kritischen und zugleich chancenorientierten Abwägung (z. B. im Hinblick auf datenschutzrelevante Fragen) eine ganzheitliche Strategie, da alle Dimensionen synergetisch ineinanderwirken. Andernfalls besteht die Gefahr, digitale Produkte rein oberflächlich auf Angebotsebene vorzuhalten und eher symbolpolitisch auf gesellschaftliche Phänomene einzugehen. Perspektivisch ist eine Digitalisierung der EB gleichzeitig auch als Modernisierung zu denken: Sowohl auf Ebenen der administrativen Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit und jeweiligen Arbeitsorganisation, als auch auf Ebene beraterisch-therapeutischer Prozesse (z. B. durch die Integration digitaler Tools und Methoden). Erste Ansätze und Potenziale konnten wir in diesem Beitrag aufzeigen. Wie insbesondere etablierte Status-quo-Angebote von EB-Stellen und der BKE zeigen, wurden in der Vergangenheit und Gegenwart positive und erfolgreiche Ansätze etabliert. Nun gilt es die Vorreiterrolle auch in der Zukunft weiterhin durch moderne Angebote und ganzheitliche, digitale Strategien auszubauen.

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Professionalisierung von Fachkräften im Kontext von Digitalisierung Markus Emanuel und Marc Weinhardt

Zusammenfassung

Der Beitrag behandelt die Frage der Professionalisierung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit im Kontext von Digitalisierung. Am Beispiel der Hilfeform Internetberatung lässt sich zeigen, dass derzeit noch unklar ist, wie Kompetenzen für eine gelingende Soziale Arbeit im Internet beschrieben und wie und wo diese vermittelt werden können. Feststellbar ist, dass sich im aktuellen Diskurs ein einseitiger Schwerpunkt in der Frage der methodisch-technischen Handhabung von Internetberatung zeigt und Aspekte digitaler Selbst- und Systemkompetenz wenig thematisiert werden. Schlüsselwörter

Digitalisierung · Kompetenzmodell · Professionalisierung · Onlineberatung ·  Internetberatung · Digitale Soziale Arbeit

M. Emanuel (*)  Evangelische Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Weinhardt  Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_9

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1 Einleitung Der vorliegende Artikel widmet sich einer bisher wenig bearbeiteten Teilfragestellung im Kontext von Digitalisierung in der Sozialen Arbeit (Stadler 2018; Welskop-Deffaa 2018), nämlich der Frage der Professionalisierung von Fachkräften. Als Professionalisierung verstehen wir all diejenigen Lern- und ­Bildungsprozesse, die Fachkräfte in der Sozialen Arbeit durchlaufen, um ihre Angebote mit der geforderten Qualität zu erbringen. Professionalisierung umfasst sowohl eine Strukturperspektive, in der zu diskutieren ist, welches Wissen, welche Fertigkeiten und welche Kompetenzen notwendig sind, als auch eine Prozessperspektive, die Lernen und Bildung auf der Ebene einzelner Fachkräfte im Kontext formaler, non-formaler und informeller Bildung in den Blick nimmt. Aus dieser Sicht stellt sich der Umgang mit Digitalisierung als aktuelles, aber nicht untypisches Beispiel allgemeiner Professionalisierungsfragen Sozialer Arbeit dar, das nicht wenige widersprüchliche Aspekte enthält (Roeske 2018). Trotz dieses Verweises auf allgemeine Professionalisierungsnotwendigkeiten und der damit mitlaufenden Frage, welches Wissen für Soziale Arbeit notwendig und wie es zu vermitteln ist (Müller 2012), hält der Professionalisierungsfall Digitalisierung einige besondere Herausforderungen bereit. Um nur einige zu nennen: Das reine Faktenwissen, das benötigt wird, um Digitalisierungsprozesse, die auf Soziale Arbeit einwirken zu verstehen oder in ihrem Sinne zu gestalten, hat eine außerordentlich geringe Halbwertszeit. Zu fragen ist dann, an welchen Stellen im Kontext von Studium und Weiterbildung eine Befassung mit der Wissensbasis von Digitalisierung sinnvoll erscheint und wie der Umgang mit einem Wissen zu organisieren ist, dessen auf Dauer gestellte Nichtabgeschlossenheit bei sehr raschem Wandel besonders virulent ist. Des Weiteren betrifft der Umgang mit Digitalisierung den zentralen Komplex der normativen Grundlagen Sozialer Arbeit und den daraus folgenden Konsequenzen für fachliche Logiken (Kutscher 2018). Hier verbinden sich die bereits per se komplexen Fragen der Letztbegründung Sozialer Arbeit mit dem ebenfalls normativ hoch aufgeladenen Themenkomplex der Digitalisierung und den darin eingeschrieben Fragen nach der Bedeutung von Technologien und der affirmativen oder kritischen Bewertung damit einher gehender Innovationsimpulse. Gerade weil es im Kontext der Digitalisierung zunächst um konkrete Phänomene im Umgang mit Hard- und Software geht, stellen sich auf dieser praktischen Ebene sofort die einschlägigen Fragen beispielsweise von Individualität in der Fallbearbeitung, der technologisch nicht greifbaren Subjekthaftigkeit menschlicher Existenz etc. Diese Aspekte zeigen sich deutlich in den Diskussionen über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Big Data Applikationen (z. B. bei Fragen der Prävention und Diagnostik von

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Kindeswohlgefährdung) oder Robotik (z. B. in der Pflege) und gehen über Fragen der Mediatisierung (Helbig 2017; Kutscher et al. 2016; Sagebiel und Pankofer 2018; Tiedemann 2017) hinaus. Fragen der Digitalisierung weisen dabei besonders in ihrer normativen Bedeutung auf das gleichzeitige Vorhandensein unterschiedlich digitalisierungsaffiner Fachkräftegenerationen in der Sozialen Arbeit hin, die sich zudem noch in eine große Heterogenität unterschiedlicher Milieus separiert. Gerade weil diese Differenzen aber durch die vermeintlich alltägliche Nutzung vieler digitaler Dienste verdeckt werden (Hammerschmidt et al. 2018), erscheinen manche Diskussionen besonders verschärft. Aus einer Lebenswelt- und Bewältigungsperspektive heraus (Thiersch und Böhnisch 2014) werden sich aber keine Argumente gewinnen lassen, die auch bei kritischer Lesart ein Verschließen gegenüber dem gesellschaftlichen Megatrend Digitalisierung zulässig erscheinen lassen. Vielmehr stellt sich die Frage, welches Wissen und welche Reflexionsleistungen Fachkräfte in der Sozialen Arbeit vorhalten müssen, um solche Fragen sinnvoll zu bearbeiten. Im vorliegenden Beitrag beschränken wir uns dabei exemplarisch auf das Thema des Sammelbandes, nämlich auf das Arbeitsfeld Beratung. Digitalisierungsfragen entlang dieser Hilfeform zu klären ist besonders reizvoll, da Beratung eine der ersten Hilfeformen war, die in der massiven Ausbreitung von Onlineberatungsdiensten (Weinhardt 2013) in den letzten Dekaden umfassend von der Digitalisierung betroffen war und ist und dabei häufig auch Innovationspotenzial entfaltet (Weinhardt 2014, 2015; Eichenberg und Kühne 2014). Im vorliegenden Beitrag versuchen wir, der Komplexität von Professionalisierungsfragen bezogen auf Digitalisierung gerecht zu werden, indem wir Digitalisierung zunächst als tiefgreifenden kulturellen Wandel beschreiben, der sowohl die Lebenswelt von AdressatInnen als auch die Arbeits- und Lebenswelt von Fachkräften verändert. Daran schließt sich die Betrachtung der Strukturperspektive von Wissen und Können an, die wir mit dem Handlungskompetenzmodell von Maja Heiner (Heiner 2010) in den Blick nehmen. Dieses Modell ist dabei für den Bereich der Präsenzberatung bereits spezifiziert und mit Inhalten gefüllt (Stimmer und Weinhardt 2010), nicht jedoch für Beratung im Kontext von Digitalisierung. Entlang der Heuristik des Kompetenzmodells analysieren wir dann, welche Anforderungen sich bezogen auf Digitalisierung für das fachliche Handeln in der Beratung beschreiben lassen. Dabei gehen wir davon aus, dass unsere auf diesem Weg entfalteten Gedanken wiederum exemplarisch verstanden werden müssen und unser Text eher Fragen aufwirft und schärft, anstatt abschließende Antworten zu geben. Hierzu wären systematische, empirische Untersuchungen notwendig, in denen dann z. B. auch trennscharf zwischen domänenübergreifenden, also die ganze Soziale Arbeit betreffenden, als auch domänenspezifischen, also arbeitsfeldbezogenen Erfordernissen, unterschieden

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werden kann. Gerade am Beispiel von Beratung lässt sich nämlich zeigen, dass der zusammengehörige Komplex aus gesamtgesellschaftlich relevanten Digitalisierungsprozessen und arbeitsfeldbezogenen Detailfragen bisher weitgehend unverbunden und partikularisiert bearbeitet wird. So existiert ein zunehmend wachsender Korpus an Lehrbüchern und Studien, die Interaktions- und Kommunikationsphänomene bearbeiten (also wer wie unter welchen Umständen digitale Beratungsformate nutzt bzw. nutzen könnte und welche Effekte hieraus entstehen). Wenig bis gar nicht diskutiert werden hingegen übergeordnete Fragen wie: Was bedeuten die enormen Fortschritte im Bereich Künstlicher Intelligenz für die Beratung? Wird es bald Unterstützungssysteme geben, die menschliche BeraterInnen in Diagnostik und Intervention ergänzen oder sogar ersetzen? Wie gehen wir mit Befunden um die zeigen, dass intelligent programmierte und adaptive Beratungs- und Therapieprogramme ähnlich effektiv sein könnten wie menschliche Fachkräfte (Berger und Krieger 2018; Kählke et al. 2019)? Welche ethischen und datenschutzrechtlichen Konsequenzen hat dies alles? Nach der Entfaltung dieser Fragen gehen wir im abschließenden Fazit darauf ein, wie sich diese Professionalisierungsanforderungen in einem ersten vorsichtigen Zugriff kanonisieren lassen und welche möglichen Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung in der Beratung denkbar sind.

2 Digitalisierung als kultureller Wandel und ihr Bezug zu Sozialer Arbeit Digitalisierung ist ein stark strapaziertes Buzz-Word. Sozialpolitik, Praxis und Wissenschaft befeuern sich gegenseitig zu einem ausufernden und kaum mehr inhaltlich präzise fassbaren Diskursfeld, insbesondere dann, wenn es nicht nur um das Phänomen an sich, sondern um konkrete Bezüge in der Lebenswelt geht. Während im engen Sinne Digitalisierung lediglich die Erfassung analoger Daten wie Bilder, Geräusche, Temperatur etc. in eine für Computer lesbare Form meint, zielt der aktuelle Digitalisierungsbegriff auf etwas weitaus umfassenderes: nämlich jene kulturellen Veränderungen, die mit der starken und alltäglichen Verbreitung sehr unterschiedlicher Geräte und Software verbunden sind. Geräte, z. B. Smartphones, Tablets oder andere tragbare oder fest installierte Computer und die zugehörigen Programme, sind dabei aber nur die Oberfläche dieser kulturellen Transformation. Digitalisierung in der Sozialen Arbeit bedeutet also gerade nicht, mit einer kurzsichtigen Perspektive im Sinne eines Hard- und Softwarefetischismus lediglich auf konkrete Anwendungen zu fokussieren. Die Nutzung von Softwareprogrammen zur Terminvereinbarung, zur

Professionalisierung von Fachkräften im Kontext …

209

Dokumentation, zur Evaluation und möglicherweise auch zur Diagnostik ist in die­sem Sinne noch keine Digitalisierung Sozialer Arbeit, sondern zunächst bloße Techniknutzung. Diese kann stellenweise innovative Elemente enthalten, indem Dinge einfacher oder sicherer werden, verfehlt jedoch den Kern einer als kulturelle Transformation gemeinten Digitalisierung und stellt bestenfalls eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine umfassende Beschäftigung Sozialer Arbeit mit Digitalisierung dar. Bleibt es also lediglich bei der Ersetzung der Papierhandakte durch ein Tablet, und verweilt Hard- und Software durch einen intendierten Skeuomorphismus absichtlich in dieser einfachen Ersetzungslogik, gelingt der Zugang zu den eigentlich interessanten Tiefenphänomenen von Digitalisierung nicht. Diese liegen, wie dies Castells in seiner klassischen Trilogie der Netzwerkgesellschaft (Castells 2002, 2003, 2004) beschrieben hat, in einer fundamentalen Verschiebung der Bedeutung von Raum und Zeit für die menschliche Existenz. Beispielsweise besitzen im Internet sozialräumliche Planungs- und Erbringungslogiken Sozialer Dienste zunächst keine Geltung. Am Bespiel der Implementierung von Onlineberatung zeigt sich dabei, dass gerade durch die digitale Erbringungsform AdressatInnen sich im deutschsprachigen Internet dahin wenden, wo sie sich die beste Hilfe erhoffen, und nicht, wohin sie sozialplanungsräumlich zugeteilt sind. Dieser ent-räumlichten Logik von Digitalisierung entspricht das Aufweichen von Zeitphänomenen, denn wiederum am Beispiel digital erbrachter Beratungsangebote lässt sich zeigen, dass Anfragen nicht nur von jedem Ort, sondern auch zu jeder Zeit gesendet werden können. An der Schnittstelle zwischen AdressatInnen und Angeboten Sozialer Arbeit zeigt sich die Widersprüchlichkeit digitaler Phänomene, denn die durch die digitale Darreichungsform erzielte Flexibilität und AdressatInnenorientierung kann nur mühsam und bisweilen gar nicht mit den vorhandenen organisationalen und institutionellen Mitteln aufgefangen werden. Insofern muss Digitalisierung als umfassende soziale, technologische und ökonomische Transformation begriffen werden, deren sozialmodifizierenden Effekte sich gerade erst abzuzeichnen beginnen (Bertsche und Como-Zipfel 2016). Neben der Entgrenzung von Zeit und Raum ist eine Konvergenz von Medien und Inhalten feststellbar (Helbig 2017). Die Auswirkungen der Digitalisierung lassen sich demnach auf den drei Ebenen Anlass, Form und Rahmenbedingungen fassen (Kutscher et al. 2016). Für die Beratung verändern sich die Beratungsgegenstände wie z. B. Cyberbulling, Cybergrooming, exzessiver Gebrauch von Internetangeboten etc. Die Handlungsmodi der fachlichen Tätigkeit selbst unterliegen ebenfalls einem Wandel, so zeigt die Onlineberatung als professionelles Handlungsmuster eigene konstitutive Merkmale, die sich von der Präsenzberatung unterscheiden (Eichenberg und Kühne 2014; Engelhardt 2018; Engelhardt und Reindl 2016; Hintenberger

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M. Emanuel und M. Weinhardt

und Kühne 2012; Knatz und Dodier 2003; Weinhardt 2009). Letztlich ändert sich auch der Handlungskontext der Beratung, da sich institutionelle Rahmenbedingungen (Finanzierung, Zuständigkeiten, Organisationsformen, Nutzung neuer Datentypen für die Planung etc.) transformieren werden. Ob im Rahmen der Digitalisierung diese Veränderungen evolvieren oder disruptiv zutage treten, bleibt abzuwarten (Kubon-Gilke et al. 2019). Neben diesen aus Sicht einer Fachkraft eher außengelagerten Veränderungen, ist es mindestens ebenso wichtig die eigene Positionierung als professionelle Haltung zum Thema Digitalisierung zu entwickeln. Eine nicht selten anzutreffende medienkonservative Grundhaltung bei Fachkräften der Sozialen Arbeit, kann im Beratungsprozess direkte negative Rückwirkungen auf die methodische Gestaltung der professionellen Interaktion haben (Bertsche und Como-Zipfel 2016; Weinhardt 2009). Die Fachkräfte haben nicht nur Möglichkeiten über Problemstellungen, die aus der Digitalisierung erwachsen zu beraten oder die Beratung selbst in digitalen Formaten anzubieten, sondern sie müssen sich selbst digitale Medien und die neuen Themen aneignen. Dabei ist es zentral, nicht im Sinne normativer Medienkompetenzen schon vorher zu wissen, was für die AdressatInnen richtig, gut oder tauglich ist. Insofern ist gefordert, dass Fachkräfte die AdressatInnen in ihrem lebensweltlichen Medienhandeln als kompetent wahrnehmen (Witzel 2018), insbesondere deshalb, weil diese in der Onlineberatung über wesentlich mehr Autonomie über den Beratungsprozess verfügen (Weinhardt 2009, S. 165).

3 Kompetenzerfordernisse für eine professionelle Digitalisierung Sozialer Arbeit Maja Heiner hat mit ihrem Kompetenzmodell für die Soziale Arbeit (Heiner 2010) eine Heuristik entwickelt, die die Spezifika der unterschiedlichen Arbeitsfelder als hierzu gehörige Kompetenzmuster entlang einer Matrix darstellbar und analysierbar macht. Die Matrix stellt sicher, dass diese Spezifika immer auf den allgemeinen Rahmen von Kompetenzerfordernissen in der Sozialen Arbeit bezogen bleiben. Das Kompetenzmodell wurde für alle Arbeits- und Berufsfelder durchdekliniert, jedoch sind bisher keine digitalisierungsspezifischen Inhalte eingegangen (für die Beratung vgl. Stimmer und Weinhardt 2010). Heiner unterscheidet in ihrem Kompetenzmodell zwei zentrale Dimensionen: Prozessbezogene Kompetenzen differenzieren sich in Planungs- und Analysekompetenz, Interaktions- und Kommunikationskompetenz sowie Reflexions- und Evaluationskompetenz. Bereichsbezogene Kompetenzen werden in Selbstkompetenz, Fallkompetenz und Systemkompetenz unterschieden (Abb. 1).

Professionalisierung von Fachkräften im Kontext … prozessbezogen bereichsbezogen

Planungs- und Analysekompetenz

Selbstkompetenz (Weiter)Qualifizierung, Iden tätsentwicklung, Selbstregula on

generelle und arbeitsfeldspezifische Digitalisierungsphänomene auf fachliches Selbst beziehen

Fallkompetenz Fallanalyse und Fallbearbeitung

Systemkompetenz Angebotsermiˆlung und-koordina on, Organisa onsentwicklung

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Interak ons- und Kommunika onskompe tenz

Reflexions- und Evalua onskompetenz

digitale Kanalvielfalt und Präferenzen von AdressatInnen wert schätzen

eigene digitalisierungsaffine und kri sche Anteile permanent reflek eren

Mediengebrauch der AdressatInnen an zipieren und berücksich gen

sachgerecht in digitalen Formaten interagieren können, Fachwissen zu Themen der Digitalisierung

adressatInnenbezogene digitalisierungsaffine- und kri sche Anteile im Fallgeschehen iden fizieren

SoŠ- und Hardware zielgerichtet auswählen, digitale Formen der Zusammenarbeit innerhalb und zwischen Organisa onen entwickeln, eigene digitale Präsenz überdenken

digitale Formen der Zusammenarbeit prak zieren

Angebote auf Aktualität und Sicherheit bewerten können und hinsichtlich neuer Herausforderungen und Megatrends reflek eren

Abb. 1   Handlungskompetenzmodell nach Heiner, erweitert mit Vorschlägen zu Herausforderungen bezüglich Wissen und Können im Kontext digitaler Beratung

Wir haben für den Fall digitalisierter Beratung dieses Kompetenzmodell mit Inhalten gefüllt. Wie bei vielen kategorisierenden Systematiken ist dabei zu beachten, dass sich die Kategorien mit den Kompetenzmustern überlappen und wechselseitig auf sich verweisen. In diesem Sinne als Reflexionshilfe gewendet, erschließen sich dann unmittelbar handlungsleitende Fragen, die sowohl auf der Ebene der Lern- und Bildungsprozesse einzelner Fachkräfte als auch für die Entwicklung von Curricula hilfreich sein können. Bezogen auf die Selbstkompetenz, die im Digitalisierungsdiskurs häufig übersehen wird, weil durch die Alltagsnähe vieler digitaler Medien und Phänomene nur wenige Reflexionsimpulse aus der Sache heraus entstehen, stellen sich dann Fragen wie: Wie positioniere ich mich selbst zu digitaler Beratungsarbeit? Weshalb und mit welchen Argumenten? Wie setze ich solche arbeitsfeldspezifischen Digitalisierungsimpulse in Bezug zu digitalen Megatrends wie dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Big Data? Habe ich genügend Informationen nicht nur über meinen eigenen Mediengebrauch, sondern auch über den meiner AdressatInnen und kann ich diesen wertschätzend, auch in Differenz zu meinen Vorlieben, in meiner Beratungsinteraktion einbeziehen? Kann ich bei all diesem Geschehen digitalisierungskritische und digitalisierungsaffine Anteile des fachlichen Selbstbildes permanent reflektieren?

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M. Emanuel und M. Weinhardt

Auf der Ebene der Fallkompetenz spiegeln sich diese Kompetenzerfordernisse dann in der unmittelbaren Arbeit mit den AdressatInnen: Kann ich dem Mediengebrauch von AdressatInnen kompetent entgegen treten und beispielsweise auch solche digitalen Formate nutzen, die mir selbst nicht aus dem Alltag bekannt sind? Kenne ich den aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis, was gekonnte Interaktions- und Kommunikationspraxen in digitalen Formaten betrifft? Und kann ich wiederum besonders kritische und affirmative Anteile aufseiten der AdressatInnen in Bezug auf das Fallgeschehen analysieren? Sind mir die neuen mit der Digitalisierung erst entstehenden Phänomene, die Hilfebedürftigkeit auslösen ausreichend bekannt? Und schließlich gibt es die Ebene der Systemkompetenz, in der Beratungsfachkräfte herausgefordert sind, ihre Dienste und Organisationen aktiv auf die Digitalisierung einzustellen. Leitende Fragen sind hier, ob Soft- und Hardwareerfordernisse bekannt sind, aber auch neue Formen digitaler Kollaboration bedacht werden können und ihr Einsatz gezielt und überlegt zum Wohle der AdressatInnen erfolgt. Und schließlich gehört auch zur Systemkompetenz ein ausgeprägter reflexiver Anteil, der hinsichtlich Organisation und Institution fragt, ob Dienste noch aktuell sind, Sicherheitsrisiken eingehegt und vertretbar sind etc. In der Gesamtbetrachtung wird nun aus unserer Sicht deutlich, dass es unterschiedlich intensiv bearbeitete Teilkompetenzen im Bereich der Digitalisierung von Beratung gibt. Während ein wachsender Korpus guter Lehrbücher und empirischer Befunde vor allem das Fallgeschehen thematisiert, also wie entlang bestimmter beraterischer Fragen und AdressatInnengruppen wie interagiert werden kann und soll und welche Effekte dies hat, steht das digitale Selbst der Fachkräfte und die Systemebene weniger im Fokus. Ersteres vermutlich, weil über digitale Medien aufgrund ihrer vermeintlichen Alltagsnähe – fast jeder nutzt täglich zahlreiche digitale Dienste – eine gezielte Reflexion hinsichtlich von Fachlichkeit ausbleibt. Dies ist besonders relevant, da sich im Sinne der Lebensweltorientierung hierin eine mögliche Borniertheit im Alltag der Fachkräfte selbst zeigt (Witzel 2018). Zweiteres hingegen deshalb, weil die meisten Träger Sozialer Arbeit große Organisationen sind, deren sozialräumliche Planung quer zu den Möglichkeiten und Erfordernissen digitaler Dienste steht und diese sich in einem Koopkurrenzverhältnis mit anderen Anbietern befinden (Emanuel 2015). Dieses Spannungsfeld in den Kompetenzmustern zu Digitalisierung in der Beratung zeigen auch die Ergebnisse einer aktuellen Studie zur beruflichen und privaten Mediennutzung von Beratungsfachkräften (Engelhardt et al. 2019). In der in Abb. 2 dargestellten Studie wurden BeraterInnen im Rahmen einer anonymen Onlinebefragung gefragt, welche Dienste sie jeweils in welcher Intensität privat und beruflich nutzen. Die Daten zeigen eindrücklich, dass

Professionalisierung von Fachkräften im Kontext …

213

Abb. 2   Berufliche und private Internetnutzung von Beratungsfachkräften (Engelhardt et al. 2019)

Kompetenzen zwar vorhanden sind, wenn man diese dem Befund eines recht intensiven privaten Gebrauchs unterstellt. Sie werden allerdings kaum auf das Arbeitsfeld Beratung bezogen. Mit Blick auf die Kompetenzmatrix ist damit genau die Frage gestellt, welche Prozesse hinsichtlich von Selbstkompetenz und Organisationskompetenz hier hineinspielen und welche Formen von Wissensvermittlung sinnvoll sind, um diese digitalen Kompetenzlücken zu füllen. Fazit Zur Erlangung eines ausgeglichenen und gut gefüllten Kompetenzprofiles für digitale Beratung scheinen uns zwei Überlegungen zentral: Das Thema Digitalisierung erfasst einen großen Bereich dessen, den die Medienforschung mit der Ubiquität digitaler Medien umschreibt. Weil vieles im Alltag vorhanden ist und genutzt wird, findet eine aktive reflexive Auseinandersetzung im fachlichen Kontext zu wenig statt. Lern- und Bildungsangebote müssen also auf der Ebene des digitalen Selbstbildes ansetzen, bevor – für Beratung nicht untypisch – zu schnell auf die Techniken und Methoden der Interaktion fokussiert wird (Weinhardt 2016). Ein zweiter Ansatzpunkt ergibt sich auf der Ebene der Systemkompetenz. Auf dieser wird ersichtlich, dass digitale Beratungsformate gerade nicht naturwüchsig in die Logik der großen Anbieter der Trägerlandschaft Sozialer Arbeit

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M. Emanuel und M. Weinhardt

eingepasst werden können. Das Fehlen von sozialräumlichen Grenzen und die Notwendigkeit, auf ent-räumtlichte und ent-zeitlichte Logiken Rücksicht nehmen zu müssen, erfordern spezifische systembezogene Planungs- und Reflexionskompetenzen. Mit der Identifikation dieser Lern- und Bildungserfordernisse ist zugleich auch die Frage gestellt, wo und wie diese vermittelt werden sollen. Akzeptiert man, dass Digitalisierung ein Querschnittsthema moderner Sozialer Arbeit ist, so imponieren zunächst die Fehlstellen in den einschlägigen Curricula, z. B. der DGSA. Hier wäre zu fordern, dass die Beschäftigung mit Digitalisierung ein selbstverständlicher Bestandteil von Studiengängen wird, der aufgrund der schnellen Wandlung der Inhalte besonders sorgfältig aufgegriffen werden muss, um nicht die Tragik manchen schulischen Informatikunterrichtes zu wiederholen, in dem nach jahrzehntelanger Planung Kinder mit veralteter Hard- und Software unterrichtet werden. Neben dem Bereich der grundständigen Qualifikation wird die wissenschaftliche Weiterbildung ein zentraler Akteur in der Wissensbildung für Digitalisierung sein. Hier stellt sich aufgrund des raschen Wandelns von Inhalten aus der Sache heraus die Frage, wie die Beschäftigung mit Digitalisierung im Kontext Lebenslangen Lernens gut gelingen kann. Spätestens hier sollte sich die Digitalisierung als Gegenstand auch in der Form wiederfinden: Es wäre nämlich ideal, das Thema vor allem in unterschiedlichen, bedarfsgerecht ausdifferenzierten ­digitalen Lernformaten anzubieten und damit die hoffentlich im Studium angestoßenen Lernprozesse fortzuführen. Und schließlich könnten auf der Systemebene lernender Organisationen Innovations- und Kreativlabore ein sinnvoller Ansatz zur Wissensbildung sein, z. B. als unternehmenseigene Labore mehrerer Träger oder als forschungs- und hochschulnahe transdisziplinäre Einrichtungen (Schmidt und Brinkhoff 2013).

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Professionalisierung von Fachkräften im Kontext …

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Chancen der Digitalisierung in der Beratung Joachim Wenzel

Zusammenfassung

Die Digitalisierung bringt neue Chancen für die Beratung mit sich. So können mittels Onlineberatung Menschen über das Internet erreicht werden, die sonst keinen Zugang zum Beratungssystem finden würden. Darüber hinaus verändert sich die Beratungsarbeit inhaltlich, indem Themen und Problemen, die aus der Digitalisierung entstanden sind, bearbeitet werden. Auch für die Face-to-face-Beratung eröffnen sich neue interessante Möglichkeiten, indem sich die Beratungsmethodik durch die digitalen Medien weiterentwickelt. Diese Entwicklungen werden überblicksartig dargelegt und die Chance für die Beratung herausgearbeitet. Schlüsselwörter

Digitalisierung · Beratung · Onlineberatung · Blended Counseling · Neue Medien · Psychosoziale Beratung · Beratungsstelle · Chancen

Die Digitalisierung wird häufig in Bezug auf die damit einhergehenden Risiken und Gefahren betrachtet. Diese sollen hier nicht ausgeklammert werden, der Fokus wird aber auf die sich aus der Digitalisierung ergebenden Chancen in der Beratung gerichtet. Da menschliche Kommunikation grundlegende Voraussetzung für Gesellschaft ist, verändern gerade die neuen digitalen Kommunikationsformen die Lebenswelten radikal. Diese Entwicklungen kann man kritisch sehen

J. Wenzel (*)  spi – Systemische Praxis und Institut Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_10

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J. Wenzel

oder sich von ihnen treiben lassen. Aus beratungsfachlicher Sicht ist es jedenfalls sinnvoll, sich aktiv damit zu befassen und mögliche Chancen zu eruieren und nutzbar zu machen. Die Veränderungen der Kommunikation und der Lebenswelten der Zielgruppen von Beratung wie Familien, Kinder, Jugendliche oder exklusionsgefährdete Menschen bringen neue Herausforderungen für die Beratungsarbeit mit sich. Dadurch sind die Fragen, Probleme und Erwartungen an die Beratungsund Hilfsangebote nicht mehr dieselben wie noch vor einigen Jahren. Zwar geht es im Kern nach wie vor um die altbekannten Themen wie Beziehungskonflikte und Unterstützung in der Bewältigung von Krisen. Diese erscheinen durch die Digitalisierung jedoch vielfach in neuer Gestalt, und somit bedarf es einer Weiterentwicklung der professionellen Handlungsansätze. Dabei ist die Beratungsarbeit selbst in Bezug auf ihre Methodik, Interventionen und organisatorischen Verarbeitungsweisen in einen radikalen Wandel begriffen. Hier ermöglichen Neue Medien nicht nur neue Zugänge zur Beratung, sondern helfen interne Kommunikation zu vernetzen und treiben sogar eine Weiterentwicklung der Beratungssettings voran. In der heutigen Mediengesellschaft ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, die zusammenhängenden Entwicklungen insgesamt in den Blick zu nehmen und davon ausgehend ein Gesamtkonzept der Beratung zu entwickeln, das die herkömmliche Trennung virtuell versus real überwindet. So ist eine Beziehung, die per Internet begonnen hat, nicht weniger real als die eines Paares, das sich vor Ort kennengelernt hat. Schriftliche Hasstiraden per Mail müssen nicht weniger schmerzlich sein, als vor Ort ausgesprochene Beschimpfungen. Statt einer künstlichen Zweiteilung gilt es vielmehr die konkreten Lebenswelten der Ratsuchenden und die Kontexte der Fragestellungen in den Blick zu nehmen, unabhängig davon, über welche Medien sie vermittelt werden. Bei einer übergreifenden Betrachtung der Beratung als Kommunikation, unabhängig in welcher Weise sie umgesetzt wird, würde Beratung als einheitlicher Kommunikationsprozess verstanden werden. Dieser würde sich über unterschiedliche Medien vollziehen, um Menschen und soziale Systeme bei ihrer Selbstorganisation in Co-Evolution zu den digitalen Entwicklungen zu unterstützen. Um die Verknüpfung von Face-to-face-Beratung mit digitalen Kommunikationsformen zu verstehen und fachlich einordnen zu können, gilt es drei Kategorien von Medien in den Blick zu bringen, die in der Beratung relevant sind (Abb. 1). Für jegliche menschliche Kommunikation sind die Körpermedien, die in der Medienforschung auch als „Primärmedien“ (Pross 1972) bezeichnet werden, grundlegend und werden auch bei der Verwendung von Objektmedien oder ­Elektronischen Medien genutzt (Wenzel 2013). Insofern ist der Mensch mit seinen

Chancen der Digitalisierung in der Beratung

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MEDIENKATEGORIE

BESONDERHEIT

BEISPIEL

Körpermedien

Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers

Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, Gestik, Mimik, Sprechen, Klatschen, Skulpturarbeit.

Speicherung und Nutzung von Kommunikationsinhalten ohne technische Entschlüsselung

Tagebuch, Flipchart, Metaplanwand, Systembrett

Entschlüsseln der Daten durch technische Medien notwendig, Hochgeschwindigkeitstransfer möglich über sehr weite Strecken

Telefon, Smartphone, Tablet, Mail, Chat, Foren, Video, Multimediaplattform

(Primärmedien)

Objektmedien (Sekundärmedien) Elektronische Medien (Tertiär- und Quartärmedien)

Abb. 1   Kategorien von Medien

Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten immer Ausgangs- und Zielpunkt der Beratungskommunikation. Die Elektronischen Medien sind heute überwiegend digitale Medien, die mit der Internettechnologie verknüpft sind. Durch die mobilen Endgeräte wie Smartphones und Tablets wird die Kommunikation ortsunabhängig und Beratungskommunikation wird somit prinzipiell von jedem Ort aus möglich, sofern sie nicht ausschließlich face-to-face durchgeführt wird. Die sich aus den verschiedenen medialen Verknüpfungen ergebenden Chancen sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, wie nachfolgend beschrieben wird.

1 Bearbeitung neuer Themen und Probleme Die Neuen Medien bringen neben einer Vielfalt an Möglichkeiten und Chancen natürlich auch neue Fragen und Probleme der Menschen mit sich, die in unterschiedlicher Weise in der Beratung ankommen. Durch den immer häufiger werdenden Wegfall herkömmlicher Rituale in Familien wie etwa gemeinsames Essen, Singen oder Vorlesen und einer immer diffuseren Mediennutzung treten schon bei jungen Menschen neue Fokussierungsbedarfe zutage, die in der Beratung aufgegriffen werden können. So zeigen sich Aufmerksamkeitsdefizite durch mediale Reizüberflutung und es stellt sich die Frage, was die Funktion von Ritualen ersetzen kann, die immer mehr werdenden Eindrücke des Alltags zu verarbeiten. Seit einigen Jahren ist in der ARD/ZDF-Onlineforschung von „Second Screen“ die Rede (Busemann und Tippelt 2014). Das heißt, neben dem Fernsehbildschirm wird parallel noch ein

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J. Wenzel

weiterer Bildschirm genutzt, wie etwa der des Smartphones. Mittlerweile werden im Alltag des Öfteren mehr als zwei Bildschirme zeitgleich genutzt, und die Aufmerksamkeit liegt meist nicht mehr auf einem Medium allein. Das regelmäßige Unterbrechen von Handlungen wurde aber bereits als Stressauslösend belegt (Mark et al. 2008), was auch für weniger fokussierte Mediennutzung bedeutsam sein dürfte. Beratung bedeutet demgegenüber immer auch eine Fokussierung in Bezug auf die Themen und Handlungsweisen während der Beratung. Dabei wird gerade bei komplexen Fragen und Problemstellungen jeweils ein bestimmter Aspekt herausgegriffen und mithilfe fachlicher Beratungsmethodik bearbeitet. So stellt Beratung eine Fokussierung dar, die in früheren Gesellschaften vielfach durch gemeinsame Rituale – wie Versammlungen am Lagerfeuer oder Familienkonferenzen am Esstisch – ermöglicht wurde. Beratung kann den Ratsuchenden nun dabei helfen, mit der Fülle von Eindrücken umzugehen, die Komplexität des Alltags angemessen zu reduzieren und bei Bedarf Prioritäten in der Problembearbeitung zu setzen. Die Orientierungsfunktion von Beratung erstreckt sich dabei über die inhaltlichen Fragen hinausgehend, auch auf den Umgang mit den vielen medialen Eindrücken selbst, die es zu verarbeiten gilt. Bei der Beratung mittels elektronischer Medien besteht nun eine Chance darin, im Medium selbst Metakommunikation darüber zu führen, ob und wie gerade eine Fokussierung möglich ist. Der bewusste Umgang mit Aufmerksamkeitsfokussierung dürfte in Zukunft bei Fragen der digitalen Entwicklungen noch an Bedeutung gewinnen. Ebenso kommt es durch die zunehmende Digitalisierung zu neuen Kommunikationsstörungen, wie etwa zu Missverständnissen durch die parallele aber zeitversetzte Nutzung verschiedener Kommunikationsmedien. So kann ein Kommunikant per Mail oder über die Mailbox weitere Inhalte benannt haben, was vom Empfänger aber bei seiner Reaktion über einen Social-Media-Chat jedoch noch nicht berücksichtigt wurde. Somit ist in der Kommunikation durch die Parallelnutzung von Medien immer häufiger unklar, wer bei einer Reaktion über welche Informationen verfügt, das heißt, auf was genau geantwortet wird. Außerdem treten neue Suchtformen auf, wie der Begriff „Internetsucht“ deutlich macht, hinter dem sich aber sehr unterschiedliche Phänomene verbergen wie etwa Computerspielsucht, Onlinesexsucht, Onlinekommunikationssucht und Informationssammelsucht (Scholz 2014). Auch im Umgang mit neuen medialen Gewaltphänomenen wie Cybermobbing bedarf es neuer professioneller Konzepte. Nicht zuletzt bringen auch neue Formen der Beziehungsgestaltung wie das Online-Dating oder intime mediale Kommunikation veränderte Problemkonstellationen mit sich. Die Chancen von Beratung liegen dabei in der konsequenten Weiterentwicklung beraterischer Kommunikationskompetenzen, vor dem Hintergrund digitaler Entwicklungen. Indem die Beratenden zunehmend digitale Kommunikation und

Chancen der Digitalisierung in der Beratung

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Beratung realisieren und reflektieren, nähern sie sich den Lebenswelten ihrer Klientel weiter an. Ein weiteres Feld in dem sich derzeit großer Wandel vollzieht stellt die Polaritiät Privatheit versus Öffentlichkeit dar. Die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre ist grundsätzlich je nach Gesellschaft unterschiedlich angelegt. Während es in archaischen Gesellschaften kaum Privatsphäre im heutigen Verständnis gab, ist diese Trennung für moderne Gesellschaften grundlegend und kann bis hin zu völlig anonymen Lebensweisen in Großstädten führen. Die medialen Entwicklungen der Digitalisierung ändern diese Grenzziehung jedoch grundlegend. Während sich viele Menschen im Internet anonym und sicher fühlen, ist davon auszugehen, dass die meisten alltäglichen Kommunikationen abgehört werden können. Die Spannbreite des Umgangs mit persönlichen Daten ist dabei sehr groß, da die einen in sozialen Medien Intimstes preisgeben und andere versuchen, möglichst wenig Datenspuren zu hinterlassen. Diese aktuellen Entwicklungen hin zu einer neuen Ausgestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit haben auch Auswirkungen auf die Konzeption von Beratung. Dabei eröffnet sich das Spannungsfeld zwischen gut gesicherten und verschlüsselten Beratungsangeboten auf der einen und „Internet-Streetwork“ auf der anderen Seite. Während im ersten Fall auf eine klassische Kommstruktur gesetzt wird, gehen Beratende auf der anderen Seite in sozialen Medien außerhalb geschützter Beratungsräume aktiv auf die jeweilige Zielgruppe zu, um sie wie beim Streetworking dort zu erreichen, wo sie auch tatsächlich unterwegs sind. Die Chance besteht nun darin, nicht ein Setting oder Konzept dem anderen vorzuziehen, sondern vielfältige bedarfsgerechte Konzeptionen zu entwickeln, die verschiedenste potentielle Zielgruppen auch erreichen können.

2 Neue Zugangsmöglichkeiten zum Beratungssystem Die Neuen Medien ermöglichen neue Zugänge zur Beratung, die für viele Menschen niedrigschwelliger sind als herkömmliche Zugangswege. Dadurch können Menschen frühzeitig durch Beratungsangebote erreicht werden. Allerdings gibt es dabei keine allgemeingültige Stufung von Hoch- bzw. Niedrigschwelligkeit, vielmehr ist dies sehr individuell vom Einzelnen abhängig. Jedoch werden durch eine Fixierung auf bestimmte Zugangsweisen und engführende Anmeldeprozeduren, wie etwa eine obligatorische Anmeldung per Telefon, Menschen aus dem Beratungssystem ausgeschlossen. Niedrigschwelligkeit wird demgegenüber erst durch vielfältige Zugangsmöglichkeiten erreicht (Wenzel 2013). So gibt es

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Menschen, die sich niemals per Telefon für eine Beratung anmelden würden und für andere wäre eine Mailanmeldung undenkbar. Die Chancen der Digitalisierung liegen hier in einer erweiterten Vielfalt der Zugangsmöglichkeiten, sofern keine neuen Engführungen in Richtung ausschließlich digitale Anmeldung dem entgegenwirken. Zeitlich und räumlich ist eine moderne Gesellschaft völlig anders verfasst als in früheren Zeiten. Waren in archaischen Gemeinschaften die im Alltag relevanten Kommunikationspartner in der Regel noch vor Ort – im sozialen Nahraum – angesiedelt, so ist das heute gerade nicht mehr der Fall. Aber auch die zeitlichen Abläufe werden in einer Mediengesellschaft immer asynchroner, nicht zuletzt durch immer größere Entstandardisierung und Flexibilisierung des Alltags. Es bedarf immer häufiger arrangierter Vereinbarungen wann, wie, was und über welches Kommunikationsmedium kommuniziert werden soll. Um Kommunikation möglich zu machen, bedarf es somit neuer Synchronisationsprozesse. Dementsprechend können in Beratungsstellen an die jeweiligen Bedarfe angepasste digitale Kalenderfunktionen implementiert werden, die auch ein kurzfristiges Buchen von Chat oder Face-to-face-Sitzungen ermöglichen, etwa, wenn ein Termin kurzfristig abgesagt wird. Durch die digitale Kommunikation geschieht Beratung immer häufiger crossmedial, das heißt es werden verschiedene Medien miteinander verknüpft und es gibt hintereinandergeschaltete bzw. parallele Kommunikationsmedien. In welchem Setting die Beratung startet wird somit immer weniger relevant. Wichtig wird vielmehr, dass mindestens ein passender und nicht zu hochschwelliger Zugang vorhanden ist.

3 Haltungsveränderungen Bei der Digitalisierung kann niemand mehr die gesamte Bandbreite der vielfältigen Entwicklungen überblicken. Der digitale Technikmarkt wird dabei zur beschleunigenden Kraft und immer unübersichtlicher. Es bedarf hier neuer Ansätze und Haltungen im Umgang mit Wissen und Kompetenzen. Wie Erziehende und Lehrende brauchen auch Beratende hier nicht alle wichtigen Inhalte in Bezug auf Medien zu wissen. Sie sollten sich aber einen Überblick verschaffen über die relevanten Aspekte der digitalen Entwicklungen. Dabei gilt es im Sinne einer aufklärerischen Funktion, zentrale Punkte in den Blick zu bringen, die es den Ratsuchenden ermöglichen, ihre Wissensbestände selbst zu reflektieren und ihre Kompetenzen in Selbstorganisation weiterzuentwickeln. Vielfach kennt sich die jüngere Generation mit technischen Neuerungen besser aus als die ältere, kennt

Chancen der Digitalisierung in der Beratung

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aber oft die Begrenztheit des eigenen Wissens nicht. Das bringt Chancen mit sich, die es zu nutzen gilt. Die neuen Kompetenzbemächtigungen der jüngeren Generationen können dabei als Chancen für die Beratung genutzt werden. Indem die ältere Generation nicht mehr einseitig die Kulturtechniken an die jüngere Generation weitergibt, ist hier generationsübergreifend ein dialogisches Verhältnis denkbar, das in der Beratung aufgegriffen und gestärkt werden kann. Allerdings bedarf es dann von den verschiedenen Seiten einer neuen Haltung, die digitalen Medien interessiert und zugleich konstruktiv-hinterfragend in den Blick zu ­ nehmen. Beratende können den Medienumgang der Klienten nutzen, um Hintergründe zu deren Lebenswelten zu erfahren. So kann es etwa diagnostisch sinnvoll und ­effizient sein, über Rollenspiele der Ratsuchenden von deren Identitätsarbeit zu erfahren. Das heißt aber nicht, dass alles, was Medien angeht, unkritisch bestätigt wird. Vielmehr können im Medienumgang Muster identifiziert werden, die bei der Problembearbeitung im Beratungsprozess auch zu anderen Themen – jenseits des Digitalen – nützlich sein können. Gerade bei Beratungsprozessen mit hohem Informations- und Fachberatungsanteil, bietet die Internettechnik Chancen, kostengünstig Inhalte bereitzustellen, die Klienten selbst nutzen und sich aktiv aneignen können. Dabei kann es sich um eigene oder fremde Inhalte der Beratungseinrichtung handeln, die durch Links verfügbar gemacht werden. Die Verknüpfung von externen Kommunikationsangeboten (Internet) mit Informationsseiten und internen Kooperations- und Dokumentationssystemen (Intranet) stellt einen schonenden Umgang mit Ressourcen dar, insbesondere wenn durch übergreifende Kooperationen Synergien geschaffen werden. Die Chance für Beratung liegt darin, relevante Themen und Fragestellungen zu identifizieren, die zu Hilfethemen medial aufbereitet werden, etwa in Form von FAQs. Diese Kommunikationsverknüpfungen gilt es dann aus fachlicher Perspektive zu gestalten. Hier ist allerdings zu bedenken, dass häufig nicht die Inhalte das Zentrale sind, um Menschen in schwierigen Situationen weiterzuhelfen. So zeigt Lanzen (2019) bei der Verschuldung von jungen Erwachsenen auf, dass es nicht das fehlende Wissen im Umgang mit Geld sein muss, das in Überschuldung führt. Vielmehr stellt sich die Frage, wie Partizipation über ein Beziehungsnetzwerk erfolgen kann. Das soziale Beziehungsgefüge wird somit relevant im Umgang mit Exklusionsrisiken. Das Beziehungsangebot in der Beratung und der Blick auf den sozialen Kontext bleiben somit zentral für die Bearbeitung von Problemen, auch wenn dabei spezialisiertes Wissen benötigt wird. Gerade hier bietet die digitale Kommunikationstechnik aber auch neue Chancen, Menschen niedrigschwellig zu erreichen, die vielfach enttäuscht oder gar beschämt wurden. Die erlebte Selbstwirksamkeit, bei Bedarf die digitale Kommunikation jederzeit abbrechen zu können, erleichtert vielen den Zugang. Sie können so in

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eigener Verantwortung entscheiden, welchen Schritt sie als nächstes gehen möchten oder auch nicht und erleben dabei oft eine stärkere Kontrollmöglichkeit als im Face-to-face-Kontakt. Der Respekt vor diesen Selbststeuerungsmöglichkeiten in der digitalen Beratung ist eine zentrale Haltung, wobei die Freiheitsrechte und Selbstorganisationskräfte der Klienten im Mittelpunkt sind.

4 Weiterentwicklung der Beratungsmethodik Seit Mitte der 1990er Jahre verändert sich die Beratungsmethodik in vielerlei Hinsicht dadurch, dass nach dem Telefon auch weitere technische Medien als neue Beratungsformen hinzukommen. In mittlerweile über zwei Jahrzehnten hat sich für die internetbasierte Mail-, Chat- und Forenberatung der Begriff Onlineberatung etabliert und sich ein sehr differenziertes Feld mit speziellen Interventionen und Ansätzen herausgebildet (Engelhardt 2018; Reindl 2018; zur Wirksamkeit: Eichenberg und Küsel 2016). In den letzten Jahren kommen vermehrt auch audio-visuelle Beratungsformate etwa mittels Videokonferenzsoftware hinzu, die allerdings nur teilweise unter den Begriff Onlineberatung subsumiert werden. Wie diese neuen Möglichkeiten von Beratung in die Beratungsangebote integriert werden, stellt sich vielgestaltig dar wie Abb. 2 zeigt. Die älteste Form institutionalisierter Beratung ist die Face-to-face-Beratung vor Ort. Wie zu sehen ist, gibt es demgegenüber auch ausschließliche Beratung über elektronische Medien. Diese kann anonym stattfinden, aber auch personenbezogen, etwa unter Bekanntgabe von Namen oder anderen Daten. Es gibt jedoch auch Beratungsangebote, die Face-to-face-Beratung mit Beratung über

BERATUNGSFORM

KONKRETISIERUNG

UNTERSCHEIDUNGEN

Ausschließlich Face-to-face

Beratung vor Ort in Beratungsstelle oder Praxis

Beratung ausschließlich über elektronische Medien

Ohne Verknüpfung zu Beratungsstelle vor Ort

personenbezogen

Blended Counseling

Verknüpfung von Face-to-face mit elektronischen Beratungsformaten

seriell

anonym

parallel anlassbezogen

Abb. 2   Beratung und elektronische Medien

Chancen der Digitalisierung in der Beratung

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e­ lektronische Medien konzeptionell verbinden. Für diese zukunftsweisende Verknüpfung von Face-to-face-Settings mit anderen Formen medialer Kommunikation hat sich mittlerweile der Begriff „Blended Counseling“ herausgebildet (Hörmann 2018; Hörmann et al. 2019). So kann die erste Kontaktaufnahme per Internet stattfinden, die danach zur Face-to-face-Beratung führt und vielleicht durch eine elektronische Nachsorge beendet wird (seriell). Zudem gibt es auch die zeitgleiche Nutzung der verschiedenen Beratungsformen etwa von Mails, neben dem Face-to-face-Kontakt (parallel). Weiterhin existiert das Konzept, dass lediglich punktuell crossmedial beraten wird, wobei im Prozess zu bestimmten Fragen ein Medienwechsel genutzt wird (anlassbezogen). Ein weiteres Potential elektronischer Medien für die Beratung wird bei der Betrachtung der neuen Chancen und Möglichkeiten oft übersehen. Dies ist die Tatsache, dass elektronische Medien nicht nur zur Ermöglichung von Fernkommunikation genutzt werden können, also um räumliche Distanzen und Zeitunterschiede zu überwinden, sondern auch beratungsmethodisch. Das ist etwa der Fall, wenn im Rahmen von Face-to-face-Settings, neben den Körpermedien und Objektmedien auch elektronische Medien (z. B. Onlinetagebuch, Videos, Internetseiten) methodisch genutzt werden. Als Beispiel kann hier eine Familienberatung genannt werden, in deren Verlauf zwischen den Sitzungen vor Ort zusätzlich ein Internetforum zur familiären Beratungskommunikation einbezogen wird, auf das, neben allen Familienmitgliedern, auch die Familienberaterin Zugriff hat. Gerade tabuisierte oder sehr schambesetzte Themen, die in den Familiensitzungen leicht untergehen, können darüber bearbeitbar gemacht werden (Wenzel 2018). So kann etwa eine nichtverarbeitete Trauer eines Jugendlichen, der bei der Beerdigung des Großvaters nicht dabei war, ans Tageslicht kommen. Gerade wenn die anderen Familienmitglieder selbst emotional betroffen sind, besteht die Gefahr, dass es Einzelnen schwer fällt das Thema in einer Familiensitzung vor Ort zu benennen. Methodisch kann ein schriftliches Forum aber auch bei Einzelklienten sinnvoll sein, weil es manchen Menschen schwerfällt, bestimmte Thema ins gesprochene Wort zu bringen, obwohl sie einen Sachverhalt nicht verschweigen wollen. Diesbezüglich berichten Klienten der Onlineberatung immer wieder, dass sie bereits vor Ort in Beratung oder Therapie sind, ein bestimmtes Thema dort aber nicht ansprechen, weil es ihnen nicht über die Lippen kommt. Die medialen Kommunikationsformen erweitern somit auch in der Face-to-face-Beratung die kommunikativen Möglichkeiten und stellen Chancen für die Weiterentwicklung der Beratungsmethodik dar. Bei Beratungsanfragen, die als Erstzugänge über das Internet kommen, wird immer wieder deutlich, dass es bei den Ratsuchenden häufig zunächst einen Clearingbedarf gibt, da sie sich im psychosozialen Hilfesystem nicht auskennen.

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Häufig wird zu Beginn die Frage „Bin ich hier richtig?“ gestellt. Darüber zeigt sich, dass über eine frühzeitige Klärung auf elektronischem Wege passgenaue Beratung wahrscheinlicher werden kann. In Bezug auf die Beratungsinstitution oder anderweitige Hilfemöglichkeiten ist ein vorgeschaltetes optionales Clearing für alle Beteiligten hilfreich und kostengünstig. Weitergehend gilt es dann differenziert auszuloten, welche Beratungsfragen mittels welcher Medien hilfreich bearbeitet werden können. In den ersten Jahren der zunehmenden Digitalisierung der Beratungsarbeit waren die Risiken sehr stark im Blick, die neue Medien mit sich bringen können. In dieser Zeit wurde teilweise in Frage gestellt, ob auf dem digitalen Wege überhaupt sinnvoll und fachlich qualifizierte Beratungsarbeit möglich sei. Das hat sich mittlerweile deutlich geändert. Dass emotionale Beziehungskommunikation auf dem Schriftwege und digital übermittelt möglich ist, steht heute außer Frage. Allerdings sind nach wie vor die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen für digitale Beratungsarbeit nicht gegeben. Es gibt nach wie vor keine flächendeckende Regelfinanzierung von Onlineberatung und Blended Counseling. Während die Chancen der Digitalisierung der Beratung bekannt und vielfach wissenschaftlich belegt sind, bedarf es künftig einer größeren Entschiedenheit von Verbänden und Politik diese zum Wohle der Menschen umzusetzen. In Bezug auf die Medienkompetenzen gilt auch im Feld der Beratung, was in einer aktuellen Grundlagenstudie (DIVSI 2018) des SINUS-Instituts Heidelberg im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit (DIVSI) für Jugendliche herausgearbeitet wurde: „Grundsätzliche Chancenorientierung, aber persönliche Angriffe, Falschinformationen und technische Unklarheiten sorgen für eine erhöhte Risikosensibilität unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen“. (DIVSI 2018, S. 105)

Insofern gilt es auch in der Beratung die Medienkompetenzen der beteiligten Akteure zu entwickeln, um Risiken und neue Problemfelder der Digitalisierung realistisch einschätzen zu können und die Chancen aktiv zu nutzen.

Literatur Busemann K. & Tippelt, F. (2014). ARD/ZDF-Onlinestudie. Second Screen: Parallelnutzung von Fernsehen und Internet. In Media Perspektiven 7–8/2014, 408–416. Zugriff am 24.02.2015. Verfügbar unter http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/ Onlinestudie_2014/PDF/-2014_Busemann_Tippelt.pdf.

Chancen der Digitalisierung in der Beratung

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DIVSI (2018). DIVSI U25-Studie: Euphorie war gestern. Die „Generation Internet“ zwischen Glück und Abhängigkeit. Eine Grundlagenstudie des SINUS-Instituts Heidelberg im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit (DIVSI). Zugriff am 25.03.2019. Verfügbar unter: https://www.divsi.de/wp-content/uploads/2018/11/DIVSI-U25-Studie-euphorie.pdf. Eichenberg, C. & Küsel, C. (2016). Zur Wirksamkeit von Online-Beratung und Online-Psychotherapie. Resonanzen, 4(2), 93–107. Engelhardt, E. (2018). Lehrbuch Onlineberatung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hörmann, M. (2018). Blended Counseling. Mediennutzung und Potenzialeinschätzung in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In: Soziale Arbeit, Juni 2018, S. 202–209. Hörmann, M., Aeberhardt, D., Flammer, P., Tanner, A., Tschopp, D., Wenzel, J. (2019). Face-to-Face und mehr. Neue Modelle für Mediennutzung in der Beratung. Olten: Hochschule für Soziale Arbeit FHNW (HSA FHNW). Zugriff am 25.03.2019. Verfügbar unter: http://www.blended-counseling.ch/forschung_entwicklung/2019_FacetoFace_ und_mehr_Schlussbericht.pdf. Lanzen, V. (2019). Verschuldung von jungen Erwachsenen. Biographische Verläufe im Kontext von Partizipation und Risiko. Weinheim: Beltz Juventa. Mark, G., Hausstein, D., Klocke, U. (2008). The cost of interrupted work. More speed, more stress. In Burnett, M., Costabile, M. F., Catarci, T., de Ruyter, B., Tan, D., Czerwinski, M., Lund, A. (Hrsg.), Proceedings of the 2008 ACM conference on Human Factors in Computing Systems (CHI 2008), 107–110. New York: ACM Press. Zugriff am 25.03.2019. Verfügbar unter https://www.ics.uci.edu/~gmark/chi08-mark.pdf. Pross, H. (1972). Medienforschung. Darmstadt: Habel. Reindl, R. (2018): Zum Stand der Onlineberatung in Zeiten der Digitalisierung. e-beratungsjournal.net. Fachzeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation, 14(1), 16–26. Scholz, D. (2014). Systemische Interventionen bei Internetabhängigkeit. Heidelberg: CarlAuer. Wenzel, J. (2013). Wandel der Beratung durch Neue Medien. Göttingen: V & R Unipress. Wenzel, J. (2018). Familien im Medienzeitalter. Digitalisierung in der Beratungspraxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Fachliches Neuland: Psychosoziale Beratung in Communities Heinz Thiery

Zusammenfassung

Communities sind spezielle Netzgemeinschaften, die sich zu allen erdenklichen Themen bilden. Ihre Kommunikationsbedingungen sind labil und das sichtbare Kommunikationsverhalten hinterlässt häufig einen paradoxen Eindruck. Anhand von zehn ausgewählten Merkmalen werden Besonderheiten der in Communities gepflegten Kommunikation sowie die veränderten raum-zeitlichen Bedingungen telemedialer Kommunikation vorgestellt. Die Abhandlung betont die emanzipierende Wirkung telemedialer Settings. Die den Beratungsprozess moderierenden Fachkräfte sehen sich mit veränderten Rollenerwartungen und den erheblich anderen Wirkungen schriftlicher Kommunikation konfrontiert. Kompetenzen im Umgang mit Text sind vorgängig, wenn es zu Überlegungen kommt, welche Interventionstechniken in den Schriftraum übersetzt (transponiert) werden sollen. Schlüsselwörter

Communities (Netzgemeinschaften) · Telemediale Kommunikation ·  Emanzipation aus der Klientrolle · Online-Beratung als Setting · Metaphorik der Digitalität

H. Thiery (*)  Dudenhofen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_11

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Einleitung Als Folge der flächigen Etablierung von Digitalmedien haben sich in vielen sozialen Bereichen die kommunikativen Routinen verändert. Aus dieser Entwicklung abzuleiten, telemediale Kommunikation stehe daher schon länger im Fokus der beratenden Profession, wäre verfehlt. Im Gegenteil ist eine seit Jahren anhaltende Skepsis gegenüber dem Einsatz von Digitalmedien zu Beratungszwecken festzustellen. Noch immer fußt die Modellbildungen innerhalb der Schulmethoden prototypisch auf direkter Interaktion (f2f), beratende Kommunikation mit physisch Abwesenden findet in den universitären Curricula und denen der methodenorientierten Ausbildungsinstitute keine Beachtung. Solange psychosoziale Fachkräfte ausschließlich auf f2f-Interaktion sozialisiert werden, muss Hilfestellung im weltweiten Netz befremdlich anmuten. Die Vorstellung, ausschließlich über zeitversetzt ankommende, unterspezifizierte Texte kommunizieren zu müssen, gilt als Verlust von Authentizität und Informationsfülle. Diese mit Vermisstheitsakzenten (Luhmann 2009) aufgeladene Skepsis trägt dazu bei, das professionelle Selbstverständnis gegen technisch bedingte Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikation zu immunisieren. Will psychosoziale Beratung gesellschaftliche Relevanz beanspruchen, muss sie mit den Lebenswirklichkeiten der Menschen korrespondieren. Lebenswirklichkeit und Kommunikation sind untrennbar miteinander verbunden, psychosoziale Beratung vor ‚digitaler‘ Kontamination schützen zu wollen, dürfte ein aussichtloses Unterfangen sein. Trotz der beobachtbaren Zurückhaltung gegenüber Telemedien wird man im Jahr 2019 nicht mehr erklären müssen, worum es sich bei Chats und Foren handelt. So kann sich diese Abhandlung auf Aspekte konzentrieren, die verdeutlichen, wo fachliches Neuland betreten wird.

1 Was sind Communities? 1.1 Von der Gruppe zur virtuellen Gemeinschaft Unter psychotherapeutischen Gruppen versteht man die Ansammlung einer limitierten Anzahl von Personen, die in einem dafür geeigneten Raum unter fachlich-methodischer Anleitung lernen, über sich zu sprechen. Ziel ist die gemeinschaftliche Erzeugung hilfreicher Ressourcen. Psychosoziale Gruppen können entlang soziodemografischer Merkmale wie Geschlecht, Alter und Belastungsfaktoren (z. B. Scheidungsgruppe) zusammengestellt sein. Häufigkeit und Dauer der Treffen, die maximale Anzahl der Teilnehmenden und den Ort bestimmt die verantwortliche Fachkraft. Ihre besondere Stellung wird durch ihre Fachkompetenz legitimiert.

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Damit die Gruppe die gesetzten Ziele erreichen kann, nutzt die Fachkraft ihre Person als Handwerkszeug (Antons und Keller 1979). Sie hilft der Gruppe bei der Entwicklung des gruppenspezifischen Wir-Gefühls und hält es über die Laufzeit stabil. Gänzlich andere Verhältnisse kennzeichnen das Miteinander in Communities, weshalb telemedial interagierende Gruppen nicht auf der Basis kopräsenter Merkmale beschrieben werden können. Es fehlt der gemeinsam geteilte Ort, die Gruppe trifft sich im ortlosen Cyberspace. Findet die Diskussion im Chat statt, müssen die Beteiligten zeitgleich ‚anwesend‘ sein, im Gegensatz zum Forum und der dort gepflegten a-synchronen Kommunikation. Räumliche Außengrenzen und daran geknüpfte Bedingungen der Mitgliedschaft entfallen, weshalb Communities von mal zu mal anders zusammengesetzt sein können. Ihr Hausrecht kann die Fachkraft nur im Rahmen der softwareseitig bereit gestellten Möglichkeiten ausüben. Während im Chat die zur Verfügung stehende Zeit limitiert ist, bleibt in Foren offen, wie lange sich Mitglieder an der Diskussion beteiligen oder Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden. Vorgaben zu Alter oder Geschlecht führen zu Gruppenbildungen mit homogener Zusammensetzung. Für Communities können ebenfalls Teilnahmevoraussetzungen formuliert werden, ob die bei der Registrierung eingegebenen Merkmale den Tatsachen entsprechen, kann seitens der Fachkraft nicht verifiziert werden. Zudem schützen viele Beratungsangebote die Realidentität der Ratsuchenden durch die Möglichkeit der anonymen Teilnahme, indem lediglich ein Nickname gewählt werden muss, weitere Angaben zur Person sind freiwillig. Das Miteinander in Communities zeichnet sich durch hohe Dynamik aus. Exaltierte Verhaltensweisen können konstruktive Diskussionsverläufe ebenso stören wie häufiges und ausdauerndes Abschweifen (‚off-topic‘) bzw. hartnäckiges Infragestellen des Sinns der jeweiligen Diskussion. Community-Mitglieder lernen unter fachlicher Anleitung, Provokationen zu ignorieren und Störungen produktiv zu wenden.

1.2 Von der örtlichen Gruppe zur Netzgemeinschaft Zur adäquaten Beschreibung neuartiger sozialer Erscheinungen bedarf es angemessener Begrifflichkeiten. Wo als neuartig deklarierte Erscheinungen sich mit bekannten Phänomenen überlappen, ist die Nutzung eingeführter Metaphern naheliegend, die Kennzeichnung der Unterschiede erfolgt über qualifizierende Attribute. Rheingold (1994) etikettiert die neuartigen Netzgemeinschaften als ‚Communities‘, weil sie amerikanischen Nachbarschaftsstrukturen ähneln. Zur

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Kennzeichnung der medialen Unterschiede benutzt er das Attribut ‚virtuell‘: der Neologismus „virtual communities“ war geboren. Beratungs-Communities hinterlassen einen paradoxen Eindruck. Auf der einen Seite wird Individualität als Freiheit vom Zwang gesellschaftlicher Normen gefeiert, auf der anderen Seite wird das Verschwinden eines verbindlichen Wir-Gefühls als Verlust von ‚Gemeinschaft‘ beklagt. Gesellschaft und Gemeinschaft sind nicht zur Deckung zu bringen, wie das folgende Zitat belegt: „In der Gemeinschaft bleibt man trotz aller Trennungen verbunden, in der Gesellschaft bleibt man trotz aller Verbundenheit getrennt“ (Prisching 2008, S. 39). Gemeinschaft (lat.: communitas) definiert sich über die Selbstverpflichtung zum Geben (lat.: munus) ohne Erwartung einer Gegenleistung (R. Esposito 2004). Studien zur Internetselbsthilfe belegen die grundsätzliche Orientierung an dieser (Selbst-) Verpflichtung (Kardorff 2008), das Miteinander wird vom Imperativ des ‚first give, then take‘ (Schachtner und Winkler 2005, S. 243) geprägt. Dem scheint die Beobachtung zu widersprechen, dass viele Dialoge sich egozentrisch aufführen und alle Aktivitäten ausschließlich am eigenen Anliegen orientiert sind. Bewertet man die Diskussionen nicht von ihrem Verlauf, sondern vom Ertrag her, wird sichtbar, dass das Miteinander dennoch – wenn auch nicht durchgängig – von der Haltung des Geben-Wollens motiviert ist, eine Haltung, die egozentrische Ausfälle und rigide Ich-Orientierungen verkraftet. Communities sind temporäre Gemeinschaften, sie bilden sich ebenso schnell wie sie sich auflösen. Sie etablieren das Miteinander als Event: spielerisch, sanktionsfrei, ohne soziale Nachteile befürchten zu müssen – und immer auf dem Umweg über Andere zu sich selbst. Communities etablieren ein soziales Experimentierfeld für gemeinschaftliche, wenn auch paradox erscheinende Kommunikation. Genau dieser Umstand macht Communities für die Soziale Arbeit interessant und in Bezug auf die zu gewinnenden Erkenntnisse wertvoll. Festzuhalten bleibt, dass die Metapher ‚Community‘ Gruppen im Netz angemessen repräsentiert. Definiert werden Communities als medial inszenierte Netzgemeinschaften, deren Zustandekommen und Funktionieren auf Computertechnik angewiesen ist. Computertechnik eröffnet Möglichkeiten der Interaktion mit physisch Abwesenden. Weil im deutschen Sprachgebrauch ein Verweis der Metapher ‚Communities‘ auf vordigitale Erscheinungsformen fehlt, kann auf das Attribut ‚virtuell‘ verzichtet werden, zumal der inflationäre Gebrauch des Attributs zur Entstehung problematischer Metaphern beiträgt, dazu mehr im folgenden Abschnitt.

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1.3 Exkurs: Zur Metaphorik der Digitalität Welche Art der Veränderung von Realität soll durch die Verwendung des Attributs ‚virtuell‘ angezeigt werden? Allgemein wird mit dem Substantiv ‚Virtualität‘ die Simulation von Räumlichkeiten und Verhältnissen beschrieben, in denen die Grenze zwischen Symbolischem und Außersymbolischem verschwimmt. ‚Virtuell‘ kennzeichnet reale Erscheinungsformen, die sich von physikalischen1 Erscheinungsformen unterscheiden lassen. Dreidimensional verfasste Realität wird als ‚physikalisch‘ markiert, zweidimensionale als ‚virtuell‘. Alles, was von den physisch abwesenden Community-Mitgliedern sichtbar wird, präsentiert sich auf einem zweidimensionalen Bildschirm, alles was erlebt wird, entspringt der eigenen Imagination. ‚Virtuell‘ und ‚online‘ können synonym benutzt werden, weil mit dem Attribut ‚online‘ das Dazwischentreten der Telemedien und das Außerkraftsetzen der direkten Interaktion angezeigt wird. Obwohl als Gegensätze charakterisiert, werden virtuelle Verhältnisse auf der Grundlage einer Semantik der Präsenz beschrieben, weil Gesellschaft noch immer nicht anders als anwesend gedacht werden kann (Schlögl 2004). In einer symbolisierten (virtualisierten) Welt kann Präsenz adäquat nur als semiotische Repräsentation vorgestellt werden (Krämer 2000, S. 108), zur Vermeidung unangemessener und fehlleitender Implikationen. Werden symbolisch repräsentierte Verhältnisse mit den Attributen ‚virtuell‘ oder ‚online‘ ausgeschmückt, sollte kritisch geprüft werden, ob die Verknüpfung einen Bedeutungsmehrwert erzeugt oder aber tautologischen, bedeutungsleeren Begriffsbildungen Vorschub leistet.

2 Kommunikation in Communities Wer über praktische Erfahrungen mit psychotherapeutischen Gruppen verfügt, kennt die vielfältigen Anforderungen an die Leitung: ständiges, genaues Beobachten des Verhaltens der Teilnehmenden, Analyse und Interpretation der Beziehungen, Re-Interpretation der Aussagen der Mitwirkenden zur eigenen Person und zu anderen Gruppenmitgliedern, Verteilung der Redezeiten (turn taking), ohne hilfreiche Dynamiken zu unterbrechen, Priorisierung von Wortmeldungen,

1Funiok

und Schmälzle (1999). Mit der Wahl des Antonyms ‚physikalisch – virtuell‘ wird die Problematik des Begriffspaares ‚real – virtuell‘ umgangen, das zur Bildung der (bedeutungsleeren) Tautologie ‚reale Realität‘ beitrug und im allgemeinen Sprachgebrauch dazu führte, ‚virtuell‘ mit ‚irreal‘ gleichzusetzen.

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wenn dies aus methodischen Gründen geboten scheint. Bereits die Länge der Aufzählung wirft Fragen auf: Wie soll dies in Gruppen möglich sein, deren Mitglieder der Beobachtung entzogen sind, wo Redezeiten weder durch gestische noch mimische Hinweise geregelt werden können, weil im Chat und im Forum jede/r schreibt, wann es ihr oder ihm gerade in den Sinn kommt? Wer mit Jugendlichen arbeitet, kann sich nur schwer vorstellen, wie aus der räumlichen Distanz heraus die produktive und ressourcenfördernde Moderation der Dynamik der Adoleszenz gelingen soll.

2.1 Kommunikative Merkmale der Interaktion in Communities Wie gelingt die Moderation von Gruppen, die sich aus physisch Abwesenden zusammensetzt? Welche gegenseitigen Erwartungen bestehen seitens der Community-Mitglieder und welche Erwartungen bestehen an die Rolle und Funktion der Fachkraft? Regeln  Community-Mitglieder erwarten Regeln (Netiquette), die das Verhalten aller Beteiligten orientieren. Regeln werden an prominenter Stelle erwartet, z. B. dort, wo die Chattermine ausgewiesen oder die Forenthemen gelistet sind. Flankiert wird die Netiquette durch technische Sanktionsmöglichkeiten (z. B. ‚stumm‘ stellen, kicken, sperren etc.). Mitglieder erwarten Hinweise, wann Anbieter aus rechtlichen Gründen verpflichtet sind, problematische Vorkommnisse an die Strafverfolgungsbehörden zu melden (Thiery 2014). Erfüllen die ausgewiesenen Regeln ihre Funktion nicht (mehr), wird deren Verschärfung oder Lockerung gefordert, was zeitintensive Diskussionen über die organisatorischen Rahmenbedingungen initiiert und den inhaltlichen Dialog temporär belastet und/oder aussetzt. Jugendliche fordern im Konfliktfall strenge und konsequente Sanktionierung, weil sie um ihre überschießende Emotionalität wissen und diese von der Moderation begrenzt sehen wollen. Toleranz  Erwartungen an Toleranz gegenüber verbalen Ausfällen und Exaltiertheiten sind in Communities höher als in kopräsenten Gruppen. Einerseits resultiert die Erwartung aus der Unterstellung, die an der Diskussion Beteiligten wüssten aus eigenen Belastungserfahrungen um die problematischen Folgen von Gefühlsschwankungen und deren Auswirkungen auf das Mitteilungsverhalten. Andererseits unterstellen alle, dass Zumutungen dieser Art wegen der aufschiebenden Wirkung telemedialer Kommunikation gemildert werden, weil das

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Verfassen einer Antwort auf einen Zeitpunkt verschoben werden kann, zu dem die beim Lesen aufsteigende negative/belastende Emotion abgeklungen ist. Erlauben egozentrische Orientierungen die Ausbildung eines stabilen Miteinanders? Durch den Selbstbezug im Fremdbezug (Opielka 2006) werden eigene Interessen an den Intentionen der Anderen orientiert. Auch wenn sich dieser Umweg zum Ich nicht immer bewusst vollzieht, erzeugt diese Orientierung eine soweit stabilisierende Wirkung, um das Auseinanderbrechen der Community bei Konflikten zu verhindern. Fachkräfte müssen sich auf ein Verhalten der Mitglieder einstellen, das zwischen stabilisierender Toleranz und bestandsgefährdendem Egozentrismus oszilliert. Sie müssen Routinen entwickeln, mittels derer das temporäre Eingrenzen egozentrischer Verhaltensweisen einzelner Mitgliedern gelingt, um die Diskussion zügig an das gemeinsam verhandelte Thema rückbinden zu können. Orientierung am Abweichenden In Beratungs-Communities wird Abweichendes thematisiert, d.  h. die vorgetragenen Anliegen müssen ausreichend ‚eckig‘ ­(Baecker 2007, S. 83) sein, um das Interesse anderer Mitglieder zu provozieren und den Einsatz von qualifizierten Fachkräften zu rechtfertigen. Obwohl ein erheblicher Hilfebedarf vorliegt, sehen sich Online-Ratsuchende nicht in der Rolle eines Klienten (siehe Abschn. 4), sondern vielmehr als Kunden, die temporär und entlang persönlicher Vorstellungen und Vorlieben fachliche Hilfe in Anspruch nehmen. Sie wissen, dass sie mit ihren Anliegen nicht alleine auf der Welt sind, durch die Nutzung des Verbreitungsmediums ‚Internet‘ werden ihnen viele vergleichbare Anliegen bekannt, die das eigene Anliegen als normal erscheinen lassen – mit der Ausnahme, dass man zu denen gehört, die etwas ändern wollen. Ziel ist der Wiederanschluss an den Ich-Entwurf inklusive der diesen orientierenden Narrative (Thiery 2015). Einschätzungen der Mitglieder zu den vorgetragenen Gründen und dem Ausmaß der Kränkung können aus Sicht des betroffenen Mitglieds zu neuen Kränkungen führen, indem das vorgestellte Anliegen als nicht gravierend eingestuft wird. Diskussionen über die vorgestellten Anliegen bewegen sich zwischen Mitleid und verweigerter Solidarität. Aushalten lässt sich diese Zumutung nur deshalb, weil jedes Mitglied sich immer dann zurückziehen kann, wenn die Diskussion bedrohliche Züge annimmt. Aufgabe der Fachkraft ist es, kontinuierlich zu verdeutlichen, wie die Möglichkeiten der telemedialen Kommunikation eigenproduktiv genutzt werden können. Anonyme Kommunikation Im Schutz der Anonymität kommt es schneller zu umfänglicher Offenlegung auch stark tabuisierter oder schambesetzter Anliegen.

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Selbst strafbewehrtes Verhalten wird direkt und ohne Umschweife benannt (z. B. Drogendelikte, sexuelle Gewalt). An die Stelle der Realidentität treten frei gewählte Nicknamen, die als Kommunikationsadresse dienen. Nicknamen sind keine beliebigen Konstruktionen, sie ‚verkörpern‘ die virtuelle Identität der Besitzerin. Die Wahl eines ‚sprechenden‘, das Anliegen beschreibenden Nicknamens erlaubt der Besitzerin die gewünschte Selbstinszenierung. Nicknamen erfüllen ihre Adressfunktion nur, wenn sie eindeutig und über die Zeit der Mitgliedschaft gleich bleiben. Eindeutigkeit kann technisch sichergestellt werden2, die geforderte Stabilität liegt dagegen in der Verantwortung des Mitglieds. Es entspricht einem regelgerechten und von allen erwarteten Verhalten, einen notwendig werdenden Wechsel des Nicknamens anzukündigen und ggf. zu begründen. Medienspezifische Praktiken Community-Mitglieder unterstellen die Kenntnis medienspezifischer Praktiken bei den Teilnehmenden, so z. B. die Darstellung gebräuchlicher Adressierungsformen (@-Zeichen) sowie Kenntnisse der Bedeutung gängiger Akronyme (z. B. afk = away from keyboard). Abkürzungen dieser Art sind probate Mittel, beim Schreiben Zeit zu sparen, besonders in der Simultansituation des Chattens. Emoticons bebildern die emotionale Verfassung bzw. die Art und Weise, wie der Beitrag verstanden werden soll (z. B. Witz, Ironie). Erfahrene Community-Mitglieder gehen Neulingen gerne ‚an die Hand‘3, wenn es um die Einführung in medienspezifische Gepflogenheiten ‚getippter‘ Kommunikation geht. Steuerung des Tempos Durch den willentlichen Zeitversatz, mit dem auf Beiträge geantwortet wird, kann das Tempo der Diskussion im Forum be- oder entschleunigt werden. Tempounterschiede ergeben sich auch aus individuell unterschiedlichen Kompetenzen das Lesen und Schreiben betreffend. A-synchrone Kommunikationsformate (z. B. Forum) eignen sich zum Zweck der Entschleunigung besser als simultane Formate (Chat), die einem gesprochenen Dialog ähneln, indem ausbleibende Reaktionen zur Verunsicherung der Beteiligten führen, weil bis zur Aufklärung unklar bleibt, ob es sich um Nichtbeteiligung oder um ein technisches Problem handelt. Im Gegensatz zum gesprochenen Dialog erlaubt der Chat den Rückgriff auf bereits vertextete Äußerungen durch Scrollen.

2Indem

bei der Registrierung geprüft wird, ob der gewünschte Nickname bereits existiert. Metapher bleibt auch bei telemedialer Kommunikation passend, weil es die Hand ist, die schreibt.

3Die

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Professionelle Distanz im Schriftraum Professionelle Distanz stellt sich nicht automatisch als Folge physischer Distanz ein, in der Online-Beratung wird sie ausschließlich über die Qualität der ausgetauschten Texte repräsentiert. So wie es im direkten Kontakt fachlich unangemessenes (übergriffiges) Verhalten gibt, gibt es in der Online-Beratung ‚übergriffigen Text‘. Durch unsachgemäße Transformationen von Prozessvariablen wie ‚Empathie‘ und ‚Echtheit‘ in den Schriftraum können sich individuelle Schreibstile ausbilden, die die gebotene Distanz gegenüber den Ratsuchenden unterlaufen und auf Seiten der Gruppenmitglieder Überlegungen auslöst, welche (Eigen-)Zwecke die Fachkraft mit diesen Annäherungsformen verfolgt. Im Zusammenhang mit der Beratung Jugendlicher entsteht bei dieser Zielgruppe schnell der Eindruck, die Fachkraft biedere sich an, mit negativen Folgen für den weiteren Prozess und die autoritative Stellung der Fachkraft. Wie eine tragfähige und zugleich distanzierte Beratungsbeziehung über räumliche Distanzen hinweg mit Mitteln des Textes aufgebaut und stabil gehalten werden kann, ist Inhalt einschlägiger Fortbildungen zur Online-Beraterin (siehe Abschn. 5). Stigmatisierung  Community-Mitglieder reagieren sensibel auf Etikettierungen (Labeling), sei es in Form von Ferndiagnosen oder Typisierungen von Persönlichkeitsmustern. Community-Mitglieder kritisieren solches Vorgehen zu Recht als übergriffig, weil Aussagen dieser Reichweite ohne die Möglichkeit direkter Beobachtung (Validierung) fachlich problematisch sind. Werden Etikettierungen von der Fachkraft zum Zweck der Provokation genutzt, bedarf es probater und eingeübter Routinen, um Missverständnisse zu vermeiden. Wahl des Grades an Intimität Forum und Chat bieten unterschiedliche Grade von Intimität. Fällt die Wahl auf ein Forum, das Mitlesen ohne vorausgehende Registrierung erlaubt, stimmen die Community-Mitglieder zu, dass ihre Beiträge ins weltweite Netz emergieren. Frei zugängliche Schilderungen persönlicher Verhältnisse fungieren als Einladung an Unbekannte, sich an der Diskussion zu beteiligen. Forendiskussionen sind von der Hoffnung getragen, durch unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen unterschiedlicher Beteiligter vielfältige und brauchbare Ressourcen zu generieren. Zugunsten einer möglichst zahlreichen Beteiligung wird auf Begrenzung der Teilnahme – zugunsten einer größeren Intimität – verzichtet. Mit der Wahl des Chats wird das Bedürfnis nach geschützter Diskussion zum Ausdruck gebracht, denn im Regelfall steht das Chatlog nach Beendigung des Chats nur der Fachkraft zur Verfügung. Obwohl ein Chatverlauf technisch problemlos aufgezeichnet werden kann, kommt es äußerst selten zu Veröffentlichungen. Alle Beteiligten fühlen sich dem Schutz aller verpflichtet, weil nur unter

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Einhaltung dieser Selbstverpflichtung der Chat sich als geschlossener (intimer) Raum präsentiert, aus dem nichts unabgestimmt nach außen dringt. Unterschiedliche Kommunikationsprodukte Forendiskussionen produzieren frei zugängliche und über lange Zeit verfügbare Netz-Ressourcen, die auch nach Ende der Diskussion zur Verfügung stehen. Ein Vorteil für jene, die sich nicht beteiligen konnten oder wollten (Lurker). Chats dagegen erlauben den Mitvollzug der Bedeutungsherstellung (Schwitalla 1997), das Produkt (Chatlog) steht den Beteiligten dagegen nachträglich (im Regelfall) nicht zur Verfügung. Der Zugriff ist nur temporär möglich, nämlich genau so lange, wie der Chatraum geöffnet ist. Mit der Aufzählung der vorstehenden Merkmale sind Unterschiede benannt, die verdeutlichen, wo fachliches Neuland betreten wird und worauf sich Fachkräfte einstellen müssen, wenn sie Chats oder Foren moderieren wollen. In Chaträumen oder Foren zu beraten heißt, sich auf paradoxe Verhältnisse einzustellen. Einerseits zeigen sich die Teilnehmenden hilfebedürftig und suchen nach professioneller Begleitung und Hilfestellung, andererseits widerstreiten sie den Stigmatisierungen, denen sie sich durch Arbeitsweise und Angebotsformen der institutionalisierten Sozialen Arbeit ausgesetzt sehen. Deutlich geworden ist auch, dass die Moderation von Beratungsforen einer Beratung in der Netzöffentlichkeit gleichkommt.

2.2 Stabilitätserwartungen bei labilen Kommunikationsbedingungen Communities kommunizieren unter labilen Bedingungen. Häufig sich ändernde Zusammensetzungen von Chatgruppen bzw. neue Aktive im Forum erfordern das kontinuierliche Ausloten gegenseitiger Erwartungen. Medienbedingte Unsicherheiten treten auf, wenn Mitglieder schweigen. Reden oder Schweigen sind das Mitteilungsverhalten betreffende Selektionen. Schriftliche Beteiligung zeigt an, dass das Mitglied online ist, fehlende Reaktionen lassen offen, ob das Mitglied wegen technischer Probleme offline ist oder aber schweigt. Im Rahmen schriftlicher Kommunikation muss (paradoxer Weise) mitgeteilt werden, ob und ggf. wie lange man zu schweigen gedenkt. Hat sich ein zeitstabiler Kern von Aktiven herausgebildet, erfolgt das Ausloten der Erwartungen neu Hinzukommender dezent, d. h. ohne nennenswerte Belastung des Prozesses. Überschreitet die Anzahl der Neulinge eine kritische Schwelle, kann es zu temporären Unterbrechungen der Orientierung am Thema

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kommen, weil das gegenseitige Kennen-lernen-wollen Zeit verbraucht, die aufgebracht werden muss. Schließlich wollen alle wissen, mit wem man es zu tun hat, um einschätzen zu können, wie belastbar die weitere Kommunikation in der neu zusammengesetzten Gruppe sein wird. Jedes Treffen (Chat) und jeder neue Beitrag (Forum) kann einen unerwarteten Fokuswechsel provozieren, alle Beteiligten müssen thematische Diskontinuitäten akzeptieren. Zustimmung zu oder Ablehnung eines Themas werden ­schriftlich ausgehandelt. Die Art und Weise sowie das Ergebnis der Aushandlung können zu einem eigenständigen (Konflikt-)Thema werden. Schriftliche Kommunikation erzeugt hohe kommunikative Last, die von allen toleriert und ausgehalten werden muss, soll die Kommunikation nicht zum Erliegen kommen. Erwartungen an die Fachkraft können über längere Phasen unterbestimmt bleiben, ohne negative Auswirkungen für die zu führende Kommunikation. Einerseits sichert dieser Umstand der Fachkraft einen größeren Handlungsspielraum, andererseits ist der Spielraum vorsichtig zu nutzen, weil ohne Regeln offen bleibt, wann Äußerungen der Fachkraft als Hilfestellung erlebt werden, wann als Einmischung oder Störung. Allen Unwägbarkeiten zum Trotz erleben Community-Mitglieder die OnlineKommunikation nicht als nachteilig oder defizitär. Im Gegenteil empfinden sie räumliche Distanz und Reduktion der Mitteilung auf den Schriftkanal als Stärke, weil die mittlerweile verfügbare computervermittelte Kommunikation die Leistungen von Sozialsystemen nachahmt (simuliert) (Giesecke 1998). Worin liegt der Vorteil dieser Nachahmung? Nachahmung erzeugt Kopien, die für experimentelle Zwecke genutzt werden können, ohne das Original zu gefährden. Vermittels Kopien gelingt eine variantenreiche(re) Vorstellung von Persönlichkeitsanteilen, die der direkten Interaktion entzogen bleiben, weil sie nicht gefahrlos präsentiert werden können. Kopien dagegen gestatten die weitestgehend gefahrlose Prüfung, wie Andere auf die Präsentation reagieren und welche Konsequenzen das gleiche Verhalten in der direkten Interaktion nach sich ziehen würde. Stabilisierend wirkt der Wegfall der Aufladung mit einer nur bedingt beherrschbaren Symptomfülle (Gebhardt 2008), eine Aufladung, die jede direkte Interaktion begleitet und wegen der zeitlichen Dynamik der f2f-Interaktion nur bedingt kontrollierbar ist. Schriftgestützte Kommunikation erlaubt den kontrollierten Zugang zum eigenen Bewusstsein durch die Möglichkeit des zeitversetzten Lesens aus der Fremdperspektive. Gleiches gilt für die Verarbeitung der in der Reaktion der Fachkraft enthaltenen Symptomfülle, die sich über wiederholtes Lesen aus verschiedenen Perspektiven erschließt. In ihrer Antwort können Ratsuchende mitteilen, welche Perspektive für die Anschlusskommunikation gewählt wurde und welche dagegen – auch ganz bewusst – abgewählt wurde. Über den

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‚Umweg‘ der Schrift wird beiden Parteien der Zugang zur persönlichen Interaktionsordnung mit ihren handlungsleitenden Implikationen eröffnet. Ebenfalls stabilisierend wirkt die Möglichkeit, die eigene Biografie samt der sie leitenden Narrative vorstellen zu können, ohne sich dabei zeigen zu müssen: Man bleibt von Fremdbeobachtung entlastet. Während im f2f-Kontakt niemand der Parteilichkeit des Auges (Waldenfels 1998) entkommt, entlastet Schrift von der Verpflichtung, vorgestellte Merkmale mit der eigenen Erscheinung (zumindest irgendwie) in Deckung bringen zu müssen. Der mühsame, oft schmerzhafte Prozess ungeschönter Selbstauskunft lässt sich unter telemedialen Bedingungen besser aushalten.

2.3 Physische Präsentation versus Imagination Warum fällt es Fachkräften schwer, Texte als vollwertige Re-Präsentation des Psychischen anzuerkennen? Gibt es überhaupt Psychisches jenseits von Text, wenn bereits Freud (1975) in seinen Überlegungen zum Wunderblock von Einschreibungen ins Psychische als einer Art Gravur spricht, die im Gedächtnis Dauerspuren hinterlässt? Texte erregen deshalb Verdacht, weil sie unabweisbar mit Imagination verbunden sind: Lesen ohne sich einstellende Imagination ist unmöglich (Ong 1988). Imaginationsprodukte sind Willkürakte, die von Person zu Person anders ausfallen, übersubjektiv gültige Erzeugungsregeln sind weder benennbar noch zu beobachten. Gerade weil dem so ist, stellen Texte eine hervorragende Quelle der Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung dar. Text besitzt die besondere Eigenschaft, sich von der Autorin distanzieren zu können, das Niedergeschriebene kann von der Außenperspektive (Fremdreferenz) her beobachtet und analysiert werden (Ong 1988). Machen Fachkräfte von dieser Lesart Gebrauch, wird sichtbar, dass und wo Wörter die Funktion von Schlüsselreizen übernehmen, die bestimmte und sich wiederholende (habitualisierte) Vorwegnahmen der Fachkraft über die psychische Verfassung des Gegenüber auslösen. Texte eignen sich zur Prüfung persönlich habitualisierter Verstehensmechanismen. Schriftliche Kommunikation demonstriert außerdem, warum im direkten Kontakt die Prüfung, was verstanden wurde, häufig suspendiert ist: Wir neigen dazu, uns gestisch und mimisch zu versichern, verstanden zu haben, anstatt uns explizit zu vergewissern, was genau verstanden wurde. Missverstehen bleibt unter diesen Bedingungen und trotz

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‚kanalreicher‘ Kommunikation4 nicht aus. Vielmehr gilt umgekehrt: Kopräsente Beratungskommunikation nimmt unsichere Kommunikationsbedingungen in Kauf, wenn sie vorgibt, auf synchrone Kommunikation nicht verzichten zu können, weil nur eine an Kanälen ‚reiche‘ Kommunikation den Zugang zur psychischen Verfassung des Gegenüber erlaube. Imaginatives und Faktisches gelten als Gegensätze. Mit der Begrifflichkeit ‚Fakt‘ werden beweisbare, überindividuell gültige Sachverhalte bezeichnet, wohingegen Imaginationen semiotische, d. h. sprachliche Repräsentationen kognitiver Vorgänge sind. Im Gegensatz zum Faktischen gestattet Imagination das Überschreiten physischer Bindungen an das Hier und Jetzt; sie gestattet, Zukunft vorwegzunehmen (Junge 2002) und Ordnung vorzudenken, wo aktuell (psychische) Unordnung herrscht. Unter fachlich-methodischer Anleitung eine bessere Zukunft zu entwerfen ist das alle Beratungsmethoden verbindende Metaprogramm und das imaginative Moment jeder Beratung. Was eine Fachkraft einem Text ‚entnimmt‘, ist ihre kreative Eigenleistung. Die Metapher ‚entnehmen‘ verschleiert, dass Lesen dem Originaltext einen weiteren Text hinzufügt: das Imaginat. Unterbestimmte Bereiche im Text (Leerstellen, Iser 1984) werden mit Kon-Text aufgefüllt, verstanden als lektüreleitendes Motiv der Fachkraft, das die Umschrift des Originaltextes bewirkt. Die Lektüre eines Textes unter dem Motiv des Helfen-Wollens zeitigt andere Implikationen als die Lektüre eines Fachartikels über das Helfen.

3 Raum-zeitliche Unterschiede zwischen Chat und Forum Der Ort der Chatkommunikation wird mit Raum-Metaphern beschrieben, wie sie auch zur Beschreibung dreidimensionaler Räume Anwendung finden. ChatRäume bieten Schutz vor neugierigen Zuschauern (Mitlesenden) und erzeugen ein Raumerleben, das dem in dreidimensionalen Räumen ähnelt. Weshalb die Metapher vom ‚Chat-Raum‘ eine zutreffende Beschreibung darstellt.

4Shannon

und Weaver (1976) betonen in ihrer technisch-mathematischen Kommunikationstheorie, dass jeder Kanal eine potentielle Störquelle ist. Folglich ist die f2f-Kommunikation wegen des gleichzeitigen Einbezugs aller Kanäle (media richness) störanfälliger als die auf den Schriftkanal ‚reduzierte‘ Kommunikation. Reduktion führt nicht zwangsweise zu defizitären Verhältnissen, sondern zu reduzierter Komplexität.

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Foren überschreiten räumliche Begrenzungen, weil die Diskussion in der Netzöffentlichkeit stattfindet und Foren sich als frei5 zugängliche ‚Orte‘ präsentieren. Orte können Ausgangs- oder Zielpunkt sein. Foren, als virtuelle Ausgangs-Orte, führen zu neuen Informationen durch die Möglichkeit, über Hyper-Links auf die verstreut im Netz gelagerten Informationen zu verweisen und dadurch eine hypertextuelle Lesart zu initiieren. Dabei kann jeder Ziel-Ort erneut Ausgangspunkt für weitere Netzrecherchen sein. Hyper-Links führen zu Ablenkungen, Abschweifung und Vervielfältigungen, die für elektronische Medien – im Gegensatz zu Printmedien – ‚natürlich‘ sind (Bolter 2010). Foren gleichen Marktplätzen (griech.: Agora), die erzeugten Produkte werden im weltweiten Netzes feilgeboten. In Foren treffen jene, die Hilfe suchen, auf solche, die Hilfe anbieten. Es obliegt den Ratsuchenden, aus den angebotenen Ressourcen das für sie Passende zu wählen. Erst durch Nachfrage wird ein ­ Angebot als bedarfsgerecht bestätigt. Beratung in Foren ereignet sich im Rahmen netzökonomischer Mechanismen (Priddat 2014), die Metapher ‚Agora‘ symbolisiert Foren als offene Netz-Orte, die einen inkludierenden Informationsaustausch ermöglichen – im Gegensatz zum exklusiven Austausch in Chaträumen, der alle ausschließt, die nicht dabei waren. Unterschiede sind auch hinsichtlich der zeitlichen Bedingungen festzustellen. In Foren wird a-synchron kommuniziert. A-Synchronität bedeutet nicht nur Zeitversatz zwischen Veröffentlichung und Antwort, sondern impliziert eine generelle Ungewissheit: wird der Beitrag wahrgenommen und wenn ja, erweckt er genügend Interesse, um Reaktionen zu provozieren? Chatkommunikation dagegen erfolgt simultan. Simultaneität setzt die zeitgleiche Anwesenheit der Beteiligten am Computer sowie eine kontinuierliche Textproduktion voraus. Letztere repräsentiert die ‚Anwesenheit‘. Doch im Unterschied zur synchronen Kommunikation fehlen die paraverbalen (Mimik, Gestik) und paralinguistischen (Stimmlage, Stimmführung) Informationskanäle. Zeitliche Abläufe haben Einfluss auf die zwischen den Beteiligten entstehende Beziehung. Im Forum ist der Eröffnungstext das einzige Beziehungsangebot, weil a-synchrone Kommunikation erst mit der Veröffentlichung der ersten Antwort zustande kommt. Erfolgt während des Zeitraums der Beobachtung keine Reaktion, bewertet die Autorin die Beziehungsaufnahme zur Community als fehlgesschlagen. Verspätete Reaktionen können seitens der Autorin

5Ausnahmen bilden Foren, die nur den Startbeitrag zeigen, während das Lesen der Antworten eine Registrierung erfordert.

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unbemerkt bleiben. Im Chat bestimmen die Reaktionszeiten und die Häufigkeit der Textproduktion das Empfinden, ob und wie intensiv sich die Beteiligten aufeinander beziehen. Erfolgt für längere Zeit keine Reaktion, kann dies als Schweigen oder Verweigerung der Kommunikation bewertet werden bzw. als Folge eines technischen Problems.

4 Emanzipative Fernkommunikation Soziale Arbeit orientiert ihr Handeln an der Leitdifferenz Hilfe/Nicht-Hilfe. Einerseits inkludiert sie Personen als Klienten, setzt sie damit aber andererseits Stigmatisierung und Exklusion aus (Eugster 2000). Beratungsbeziehungen sind von der unaufhebbaren Kluft zwischen Hilfeempfängerinnen und Hilfeleistenden überformt. Sichtbar wird diese Kluft in Selbstbeschreibungen, bei denen Verben wie ‚behandeln‘6, ‚diagnostizieren‘ oder ‚therapieren‘, Substantive wie ‚Fall‘ oder ‚Klient‘ zum Einsatz kommen. Fachkräfte etikettieren sich als jene, die wissen, was Klienten benötigen und welche Zumutungen diese mit Blick auf den Beratungserfolg auszuhalten haben. Erfolge werden dem eigenen Können zugeschrieben, Misserfolge dagegen dem Unvermögen oder der Abwehr der Klienten (Schnoor 2013; Dorst 2000). Metaphern wie ‚Fall‘ und ‚Klient‘ dienen der Reduktion der Komplexität menschlicher Verhältnisse, weil (auch) Soziale Arbeit mit dieser Komplexität überfordert wäre (Schmitt 2017). Den Betreuten werden diese Metaphern nicht gerecht7, wie Eugster betont. Werden im Zusammenhang mit telemedialer Kommunikation seitens der Fachkräfte fehlende direkte (direktive?!) Einflussmöglichkeiten beklagt, muss unterstellt werden, dass der Machtverlust beklagt wird, den virtuelle Konstellationen in Bezug auf die Stellung der Fachkräfte mit sich bringen. Communities verstehen sich als Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder auf Etikettierungen sensibel reagieren. Zwar bleiben sie auch im Netz de facto Hilfeempfänger, fühlen sich jedoch befreit von Erwartungen an ihre Rolle als Klienten, von der sie erwarten, dass Fachkräfte sie erwarten (Erwartungserwartung), ohne dass sie wüssten, was genau von ihnen erwartet wird. Als Folge dieser Entlastung respektive Entgrenzung ist ‚unangepasstes‘ Kommunikationsverhalten beobachtbar: Keiner der Beteiligten muss sich entlang sozialer Normierungen verhalten,

6„Schon 7„Der

allein das Wort ‚behandeln‘ impliziert eine Ungleichheit“ (Yalom 2003, S. 310). Klientbegriff wird keinem Menschen gerecht“ (Eugster 2000, S. 97).

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alle d­ürfen ungeschminkt zeigen, wie sich Rat- und Hilflosigkeit anfühlt. Nur durch Schrift verbunden, erleben sich alle Teilnehmenden gleich weit voneinander entfernt (Stegbauer 2000) und in einer egalitären Stellung zueinander (Stichwort: Beratung auf Augenhöhe). Darüber hinaus verstehen sich Community-Mitglieder als informierte Laien. Sie haben im weltweiten Netz Zugriff auf Informationen, die lange Zeit nur Fachleuten zugänglich war und erfahren, dass Soziale Arbeit ihnen die Rolle der ‚Expertinnen für die eigene Sache‘ (Preß und Gmelch 2014, S. 40) zuschreibt. Zu Recht erwarten sie von Fachkräften ein Verhalten, das im Einklang mit dieser Zuschreibung steht. Schrift sorgt, wie kein anderes Medium, für reziproke Verhältnisse, nicht nur wegen des für alle Beteiligten gleichen physischen Abstandes, sondern weil alle ‚zwischen den Zeilen‘8 lesen können. ‚Zwischen-den-Zeilen-Lesen‘ ist eine Form des Schreibens, die dem Text die beim Lesen auftauchenden Vermutungen über ‚geheime‘ Informationen (Unbewusstes, Abwehrt etc.) hinzufügt. Unterbestimmte Textstellen, so genannte ‚Leerstellen‘ (Iser 1984, S. 284), können benannt und der Gruppendiskussion zugeführt werden. Geheimen Text im Sinne eines ‚Textes hinter dem Text‘ zu unterstellen, erfolgt indes unter eigentümlichen Voraussetzungen: Unterstellt wird, die Ratsuchenden ‚verhüllten‘ bestimmte Informationen bewusst, um der Fachkraft die Gelegenheit zu geben, der Wahrheit9 auf die Spur zu kommen. Mit dem Auftritt der Fachkraft schlägt den Ratsuchenden dann die Stunde der Wahrheit (Iser 1984). Abschließend bleibt festzuhalten, dass Online-Beratung die programmatische Orientierung am Fall zwar nicht gänzlich aufhebt, jedoch eine deutlich egalitärere Kommunikationskultur etabliert, bei der der Fachkraft die Stellung einer ‚prima inter pares‘ zugestanden wird. Alle sind auf die gleichen Texte verpflichtet, und alle sind der kommunikativen Last verpflichtet, die Konsistenzprüfungen in der kanalreduzierten Kommunikation immer wieder aufs Neue und unabwendbar nach sich ziehen (Stegbauer 2000).

8Etymologisch

geht die Metapher vermutlich auf das Verhalten der Mönche zur Zeit des Mittelalters zurück, die die deutsche Übersetzung lateinischer Ausdrücke zwischen die Zeilen zu schreiben pflegten. 9Die hier formulierten Einschränkungen gelten auch für gesprochene (Beratungs-)Kommunikation, wenn in Anspruch genommen wird, im Anderen lesen zu können wie in einem Buch. Es gilt: jede/r liest anders.

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5 Anforderungen an eine qualitätsorientierte Online-Beratung Zentraler Bestandteil einer qualifizierten Fortbildung muss das Einüben schreibender Selbsterfahrung sein. Autobiografisches Schreiben führt (sprichwörtlich) vor Augen, mit welchen Mühen die Selektion jener Informationen verbunden ist, die hinreichend symptomatisch das Anliegen vorzustellen vermögen, um diese dann in einer zeitlich konsistenten Erzählperspektive vorzutragen (Jung 2001). Übungen dieser Art führen vor, wie man durch Schreiben zum Subjekt seiner eigenen Selbstbebilderung wird, da man beim Schreiben die erlebten Situationen vor Augen hat – im Gegensatz zur lesenden Seite, die sich ihr eigenes Bild machen muss (Imagination). Autobiografisches Schreiben (Ortheil 2014) muss durch Einüben einer Lesart komplettiert werden, bei der selbst verfasste Texte aus der Fremdperspektive beobachtet werden. Diese Art des Lesens verdeutlicht, dass es keinen abschließenden Sinn gibt: Jede erneute Lektüre verändert das zuvor Verstandene und führt vor, dass jede/r anders liest. Ritualisiert ‚psychologisierende‘ Lesarten können aufgeklärt und ihrem (fortwährend) unbedachten Einsatz kann vorgebeugt werden. Um es erneut zu betonen: Was einem Text ‚entnommen‘ wird, sind Deutungen, keine Tatbestände. Fortbildungen zur Online-Fachkraft sollten die persönlichen Deutungsschemata bewusst machen. Unzulässige Deutungen können prekärer Wirkung sein, wenn sie soziale und existenzielle Bedeutung haben (Jung 2001), was im Falle von psychosozialer Beratung regelmäßig der Fall sein dürfte. Textarbeit bewegt sich – vereinfacht gesagt – zwischen hermeneutischen und de-konstruktivistischen Zugängen. Aus Platzgründen können die Unterschiede10 nicht ausgeführt werden. Fortbildungen in Online-Beratung dienen der Förderung der Einsicht, dass nicht jede beim Schreiben eingenommene Perspektive von den Adressaten erkannt und verstanden wird: die intendierte Wirkung wird verfehlt (Iser 1984). Fachkräfte können nicht zweifelsfrei wissen, was die Begriffe, mit denen die Ratsuchenden sich und ihre Situation beschreiben, ‚tatsächlich‘ bedeuten. Jeder Versuch einer ‚restlos‘ Aufklärung führt in einen endlosen Regress, weil die gleichen Wörter in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutung haben und Sprache nur unter Inkaufnahme dieser Instabilität funktioniert (De Shazer 1996). Einer ‚psychologisierenden‘ (ritualisierten) Lesart ist schon deshalb vorzubeugen, weil der Antworttext ‚verrät‘, wie inten-

10Einen

Überblick über die wichtigsten Methoden liefert Tepe (2011).

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siv bzw. ­oberflächlich sich die Leserin mit dem Äußerungen der Autorin auseinandergesetzt hat. In Foren kommt es schnell zu kritischen Anmerkungen über ritualisierte, oberflächliche Leseweisen, die in den Augen der Ratsuchenden die gebührende Wertschätzung vermissen lassen. Einem adäquaten Verständnis von Online-Kommunikation sind grundlegende medientheoretische Kenntnisse vorausgesetzt. Noch immer zeigen sich die beratungsrelevanten Disziplinen medienvergessen. Telemediale Interaktion wird auf der Grundlage von Kommunikationsmodellen beschrieben, die prototypisch an direkter Interaktion orientiert sind. Probleme bereitet insbesondere die diesen Modellen entlehnte Semantik, die telemediale Interaktion mit Begrifflichkeiten und Metaphern der direkten Interaktion zu beschreiben versucht. Auch gilt es, rezeptförmigen Anleitungen zu widerstehen, die die Komplexität schriftgestützter Kommunikation auf schablonenhafte Handlungsempfehlungen (z. B. schematisierte Rezeptionsanleitungen) reduzieren. Eine solche Herangehensweise unterschlägt die Herausforderungen an das Sinnverstehen durch den Einsatz neuer Medien (Jung 2001). Online-Beratung kann aus fachlichen wie berufsethischen Gründen nur verantwortet werden, wenn Fachkräfte eine spezifische Qualifikation für dieses medial überformte Setting nachweisen können.

6 Konkurrenz oder Koexistenz? Eine Beantwortung der Frage setzt die Klärung voraus, was unter Online-Beratung verstanden werden soll. Online-Beratung ist aus Sicht des Autors keine Methode, sondern ein alternativer Zugang zu Beratungsleistungen und insofern ein alternatives organisationales Setting (DGOB 2018). Zwar können die unterschiedlichen Zugänge zueinander in einem konkurrierenden Verhältnis stehen, jedoch nicht zu den Beratungsmethoden (Schulmethoden). Mit der Entscheidung für einen der beiden Zugänge (Chat oder Forum) teilen Ratsuchende mit, in welchem Medium sie beraten werden wollen und (noch) nicht, mit welcher Methode sie beraten werden wollen. Während die Entscheidung über die Methode in der Hoheit der Fachkraft liegt, liegt die Entscheidung über den Zugang zu Beratungsleistungen in der Hoheit der Ratsuchenden. Alternativlos ist Online-Beratung nur dann, wenn Präsenz-Beratung aus persönlichen Erwägungen (z. B. Schamgrenzen) grundsätzlich nicht infrage kommt. Unterbleibt die Bereitstellung des Zugangs ‚Online-Beratung‘, bleiben diese Personengruppen unversorgt. Immer wieder wird betont, Online-Beratung könne bestehende Angebote nicht ersetzen. Es stellt sich die Frage, warum das Verschwinden der kopräsenten Beratung befürchtet wird und warum im Gegenzug Präsenz-Beratung als prototypische Angebotsform zementiert werden soll, wenn Online-Beratung lediglich

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einen alternativen Zugang zu Beratungsleistungen bietet? Dass das f2f-Setting in nächster Zukunft vollständig abgelöst werden könnte, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil schriftliche Kommunikation nicht für alle Ratsuchenden das geeignete Medium zur Ergründung der eigenen Psyche darstellt. Ebenfalls häufig anzutreffen sind Hinweise zu Grenzen der Online-Beratung. Jede Beratungsmethode hat Grenzen, einerseits, weil ohne Abgrenzungen keine Unterscheidungen zwischen den Schulmethoden möglich wären, andererseits, weil unklar bliebe, wie sich psychosoziale Hilfe von Unterstützungsformen unterscheidet, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Sozialen Arbeit fallen. Auffällig ist, dass Grenzen vor allem gegenüber Online-Beratung in Stellung gebracht werden. So findet sich beispielsweise im von der Deutschen Gesellschaft für Beratung veröffentlichten Beratungsverständnis11 kein Hinweis auf Grenzen der Präsenz-Beratung. Grenzen einseitig gegenüber Online-Beratung in Anschlag zu bringen, führt zu deren Entwertung. Online-Beratung ist keine Konkurrenz zur Präsenzberatung, sondern eine versorgungstechnisch sinnvolle und zeitgemäße Ergänzung. Als ‚Beratung 4.0‘, ist sie die angemessene Antwort auf veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen in einer sich weiter flexibilisierenden Ökonomie (Arbeit 4.0, Ülger und Thiery 2017). Fazit und Ausblick Ziel der Abhandlung war die Darstellung ausgewählter (Thiery 2015) Merkmale, die exemplarisch die Unterschiede zur Beratung in kopräsenten Gruppen beleuchten. Ursächlich ist der Wechsel von der Stimme zur Schrift. Stimme und Schrift eignen sich gleichermaßen für beratende Kommunikation, jedoch gilt es zu beachten, dass sich schriftliche Kommunikation anders er-eignet. An Qualität orientierte Online-Beratung setzt daher die vorgängige Qualifizierung der eingesetzten Fachkräfte in schriftlicher Kommunikation voraus. Kommen technische Medien als Mittler zum Einsatz, müssen Fachkräfte außerdem über hinreichendes Technikwissen verfügen, um die Vertraulichkeit der Beratung durch geeignete technisch-organisatorische Maßnahmen (TOMs) sicher zu stellen. Online-Beratung ist der Stachel im Fleisch einer Profession, die Beratung prototypisch als direkte Interaktion definiert und sich mit Digitalisierung schwer tut, zumal das Thema ‚Digitalisierung‘ eher als Phantom, denn als praktische Herausforderung begriffen wird. Eine vorurteilsfreie, auf Sachfragen konzentrierte

11https://www.dachverband-beratung.de/dokumente/Beratung.pdf

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Annäherung an die Technisierung des Sozialen wird darüber hinaus durch die Verwendung einer ‚vordigitalen‘ Semantik behindert. Die genaue Bedeutung von Begriffspaaren wie ‚real versus virtuell‘ und ‚analog versus digital‘ bleibt häufig unbestimmt, ihre Einordnung in medientheoretische Denkmodelle offen. Als Folge dieser Offenheit wird beliebigen, sich widersprechenden Verwendungsweisen der Schlüsselwörter Vorschub geleistet. Unzutreffende Beschreibungen des Gegenstandes führen jedoch zu unzutreffenden Schlussfolgerungen. Unter diesen Vorzeichen ist die Soziale Arbeit denkbar schlecht aufgestellt, sich aktiv in den Technisierungsprozess (Digitalisierung) einzumischen, um zu beeinflussen, was noch beeinflusst werden kann. Die dafür Verantwortlichkeiten sind schnell benannt: die Methodenfachverbände, für die Transformation der Interventionsmethoden in den Schriftraum verantwortlich sind, die Träger und die Sozialpolitik für die Initiierung und Finanzierung von Online-Angeboten, vor allem aus der Verpflichtung heraus, den Versorgungsauftrag umfassend (!) zu erfüllen. Dass Online-Beratung auch jene Zielgruppen erreicht, für die, trotz erheblichem Hilfebedarfs, eine f2f-Beratung nicht infrage kommt, ist hinreichend belegt12. Ohne den flächigen Einsatz von Online-Beratung lassen sich bestehende Versorgungslücken nicht schließen. Es ist an der Zeit, Online-Beratung als eigenständigen und vollwertigen Zugang zu Beratungsleistungen zu verstehen, dessen mediale Besonderheiten regulärer Inhalt der Hochschul- und Methodenausbildung werden muss.

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12z. B. durch das von den 16 Bundesländern finanzierte Online-Beratungsangebot für Eltern und Jugendliche (www.bke-beratung.de).

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H. Thiery

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Facebook, WhatsApp und Co. – Digitale Medien in Familien und in der Sozialen Beratung Susanne Eggert und Gisela Schubert

Zusammenfassung

Für Fachkräfte in der Erziehungsberatung sind digitale Medien, deren Stellenwert in Familien und ihre Bedeutung für die Familienmitglieder ein zunehmend wichtiges Thema. Sie spielen in allen Beratungssituationen eine Rolle, auch wenn sie zunächst nicht im Vordergrund stehen. In der Regel wird dabei von den Eltern der aus ihrer Sicht problematische Medienumgang ihrer Kinder thematisiert. Die Fachkräfte stellen fest, dass Schwierigkeiten in der Medienerziehung einerseits oft mit dem fehlenden Bewusstsein der Eltern für Ihre Vorbildrolle zusammenhängt, diese andererseits häufig Ausdruck für grundsätzliche Erziehungsschwierigkeiten sind. Fachkräfte fühlen sich oft nicht ausreichend kompetent, um Problematiken im Zusammenhang mit digitalen Medien in Beratungssituationen souverän zu bearbeiten. Hier sind kontinuierliche, strukturell verankerte, zielgruppenspezifische Unterstützungsformate notwendig. Schlüsselwörter

Digitale Medien · Familie · Erziehungsberatung · Eltern · Kinder und Jugendliche · Mediatisierung · Qualitative Forschung · Beziehungsgestaltung

S. Eggert (*) · G. Schubert  JFF – Institut für Medienpädagogik, München, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Schubert E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_12

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Digitale Medien spielen auch in der Sozialen Beratung eine zunehmend wichtige Rolle. Unabhängig davon, aus welchen Anlässen Familien Beratungseinrichtungen aufsuchen, werden digitale Medien, ihre Rolle in der Familie und ihre Bedeutung für die einzelnen Familienmitglieder in der Regel im Laufe der Beratung zum Thema. Dabei geht es in den meisten Fällen zunächst um den Medienumgang der Kinder und die Herausforderungen und Sorgen, die für die Eltern damit verbunden sind. Oftmals stellt sich aber schnell heraus, dass das Verhalten der Kinder in einem Zusammenhang einerseits mit dem Medienverhalten der Eltern und andererseits mit deren Medienerziehung steht. Digitale Medien gehören zum Alltag von Familien. Sie sind jederzeit verfügbar und werden ohne groß darüber nachzudenken in vielen Situationen genutzt. Kinder nehmen digitale Medien als Bestandteil ihrer Umgebung von Anfang an wahr und für Eltern ist die Begleitung ihrer Kinder bei der Entwicklung eines kompetenten Umgangs mit den digitalen Medien ein selbstverständlicher Teil ihrer Erziehungsaufgabe (vgl. Wagner et al. 2016, S. 88). Wenn es dabei um die Medienerziehung junger Kinder geht, fühlen sich die meisten sicher und kompetent und ihrer Aufgabe gewachsen (vgl. mpfs 2017b). Da eine selbstständige Mediennutzung in den ersten Lebensjahren noch nicht möglich ist, sind Kinder darauf angewiesen, dass andere, in den meisten Fällen die Eltern, ihnen den Zugang zu digitalen Medien ermöglichen und ihnen bestimmte Angebote zur Nutzung bereitstellen oder diese mit ihnen gemeinsam nutzen. Vor diesem Hintergrund wissen die Eltern sowohl welche Medienangebote ihre Töchter und Söhne nutzen, als auch wie lange sie die Medien nutzen. Mit zunehmendem Alter und damit verbundenen entwicklungsbedingten Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder werden diese auch in ihrem Medienumgang selbstständiger. Damit einhergehend haben die Eltern weniger Einblick in den Medienumgang ihrer Kinder und es fällt ihnen schwerer, diesen zu kontrollieren. In manchen Fällen führt dies dazu, dass sie sich ihrer Erziehungsaufgabe nicht mehr gewachsen fühlen und sich an familienunterstützende Beratungseinrichtungen wenden. Fachkräfte aus der Familienberatung sehen unterschiedliche Ursachen für die Probleme von Eltern hinsichtlich des Medienumgangs ihrer Kinder. Eine wichtige Rolle spielt dabei aus ihrer Sicht die Medienerziehung im frühen Kindesalter (Wagner et al. 2016, S. 43 ff.).

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1 Neue Herausforderungen in der familiären Medienerziehung Die Bedeutung von Medien in Familien und der Medienumgang im familiären Alltag haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Noch vor wenigen Jahren wurden jeweils verschiedene Geräte genutzt, um verschiedene Bedürfnisse zu befriedigen: Fotos wurden mit dem Fotoapparat aufgenommen, das Telefon wurde zum Telefonieren benutzt, handelte es sich dabei um ein Handy, wurden damit auch SMS verschickt, wer Musik hören wollte, tat dies über den MP3Player usw. Wer heute telefonieren, Nachrichten verschicken, Musik hören oder fotografieren will, nimmt dafür sein Smartphone zur Hand, das alle diese und außerdem viele weitere Funktionen in sich vereint und jederzeit und an jedem Ort verfügbar ist. Ein weiterer Vorteil des Smartphones ist seine einfache Bedienbarkeit. Dank der Touchscreen-Technologie von Smartphones und Tablet-Computern gelingt es auch schon den Jüngsten, hier etwas zu bewirken (Aufenanger 2015, S. 12). Eine Besonderheit des Smartphones besteht außerdem darin, dass es in aller Regel das persönliche Gerät seiner Besitzerin oder seines Besitzers ist und es folglich für Eltern schwieriger wird, die Mediennutzung ihres Kindes (mit) zu verfolgen, sobald dieses über ein eigenes Smartphone verfügt. Die skizzierten Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf die familiäre Medienerziehung.

2 Digitale Medien in Familien Der Stellenwert digitaler Medien in Familien zeigt sich in zahlreichen unterschiedlichen Situationen und Zusammenhängen. An erster Stelle stehen hierbei die Kommunikation und Kontaktmöglichkeiten zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Ihr erstes Smartphone bekommen die meisten Kinder, wenn sie auf eine weiterführende Schule wechseln. Der Schulweg wird länger und insgesamt vergrößert sich der Aktionsradius der Kinder. Den Eltern ist es ein Anliegen, dass sie dennoch für ihre Kinder erreichbar sind und umgekehrt auch sie mit ihren Töchtern und Söhnen jederzeit in Kontakt treten können1 (Wagner et al. 2016, S. 17). Aber auch schon jüngere Kinder kommen mit digitalen Medien in Kontakt. Im Familienalltag mit Kleinkindern gibt es immer wieder Situationen, in denen die Eltern bestimmte Tätigkeiten erledigen müssen (Arbeiten im Haushalt,

1Ausführlicher

siehe Abschn. 5.2.

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organisatorische Aufgaben etc.) oder eine (kurze) Erholungsphase brauchen. Da es ungleich schwieriger ist, sich gleichzeitig mit ihren Kindern zu beschäftigen, greifen manche Eltern in diesen Situationen auf Medien zurück, um diese Zeiten zu überbrücken. In einigen Fällen wird die Mediennutzung von Kleinkindern zu diesem Zweck ritualisiert und die Kinder wissen, dass sie bspw. immer, wenn die Mutter oder der Vater das Essen zubereitet, fernsehen oder ein Spiel auf dem Tablet spielen dürfen (Oberlinner et al. 2018, S. 18). Diese Rituale bleiben oft über lange Zeit bestehen und in manchen Fällen ist der Grund für die Einführung des Rituals später nicht mehr vorhanden oder nicht mehr bekannt (ebd., S. 28 ff.). Auf diese Weise erhalten digitale Medien in vielen Familien nachhaltig Platz auch wenn sie die ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen.

3 Die Studie „MoFam – Mobile Medien in der Familie“ Das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis beschäftigt sich seit 2015 mit der Frage, welche Rolle mobile digitale Medien und das Internet im Alltag von Familien spielen, welche Haltungen Eltern gegenüber diesen Medien einnehmen, mit welchen Herausforderungen sie in ihrer Erziehungspraxis konfrontiert sind und inwiefern sie sich hierbei Unterstützung wünschen. Ergänzend zu den Familien werden familienunterstützende Institutionen in den Blick genommen. Auch hier liegt der Fokus darauf, welche Rolle mobile digitale Medien und das Internet in diesen Zusammenhängen spielen und welchen Unterstützungsbedarf die Fachkräfte hierbei haben2.

3.1 Untersuchungsanlage und methodisches Design Der erste Teil der Studie „MoFam – Mobile Medien in der Familie“ war modular aufgebaut und bestand aus mehreren Teilstudien (vgl. Abb. 1). Den Auftakt bildete die Erarbeitung einer Expertise, deren Ziel darin bestand, die Rolle der Medien für Heranwachsende von der Geburt bis zum Alter von 16 Jahren differenziert im Altersverlauf herauszuarbeiten. Dafür wurde Wissen

2Ein

Überblick über die MoFam-Studie findet sich unter www.jff.de/mofam. Dort stehen alle Publikationen zum Download zur Verfügung.

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Abb. 1   Überblick über die erste Teilstudie. (MoFam – Mobile Medien in der Familie, © JFF)

aus der Entwicklungspsychologie systematisch mit Ergebnissen aus der Medienaneignungsforschung in Beziehung gesetzt. Die Expertise wurde unter dem Titel „Grundlagen zur Medienerziehung in der Familie“ veröffentlicht (Eggert und Wagner 2016). Auf der Grundlage der Ergebnisse der Expertise wurden anschließend parallel zwei qualitative Teilstudien durchgeführt. Dabei handelte es sich zum einen um Gruppendiskussionen sowie Interviews mit Elternpaaren von acht- bis 14-jährigen Kindern, in denen es darum ging herauszufinden, welche Einstellungen und Haltungen die Eltern gegenüber digitalen mobilen Medien haben, welche Sorgen sie mit Blick auf ihre Kinder mit dem Thema verbinden, worin für sie die Herausforderungen in ihrer Medienerziehung bestehen und welcher Unterstützungsbedarf damit verbunden ist. Insgesamt wurden 53 Eltern befragt. In einer zweiten, zeitgleich stattfindenden Erhebung standen Fachkräfte der Erziehungsberatung im Fokus. Diese setzten sich zu einem größeren Anteil (31 Personen) aus Fachkräften aus Beratungsstellen zusammen, mit denen Gruppendiskussionen geführt wurden. Außerdem fanden mit vier weiteren Fachkräften aus stationären bzw. teilstationären Einrichtungen Einzelinterviews statt. Analog zu den Eltern konzentrierten sich die Fragen hier darauf, mit welchen Herausforderungen Eltern im medienerzieherischen Alltag konfrontiert sind und inwiefern sie dabei auf Unterstützung angewiesen sind. Darüber hinaus wurde aber auch der Unterstützungsbedarf der Fachkräfte erhoben. Es wurde deutlich,

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dass sich die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Fachkräfte je nach ihrem Arbeitsfeld zum Teil unterscheiden. So ermöglicht die Tätigkeit als Beraterin oder Berater in einer Beratungsstelle einen distanzierteren Blick auf die Situationen in den Familien als die Rolle einer Erzieherin bzw. eines Erziehers in einer (teil-)stationären Einrichtung. Die (teil-)stationär eingesetzten Fachkräfte s­tellen ein Bindeglied zwischen der Einrichtung und den Eltern dar. Sie stehen im regelmäßigen Austausch mit den Eltern, um diese zu unterstützen und zu beraten. Darüber hinaus übernehmen sie zum Teil die erzieherischen Aufgaben der Eltern und begleiten die Kinder und Jugendlichen und sind dabei mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie die Eltern. Dabei sind sie stärker als die Eltern dazu verpflichtet, sich bspw. an Vorgaben des Jugendschutzes zu halten. Vor diesem Hintergrund unterliegt auch die Nutzung digitaler Medien und des Internets starken Beschränkungen. Werden diese nicht eingehalten, drohen Strafen. Aus der Perspektive der Einrichtung haben diese Beschränkungen eine schützende und stabilisierende Funktion. Von den Kindern und Jugendlichen werden sie oft als starke Einschränkungen empfunden, durch die sie daran gehindert werden, an der Alltagskommunikation ihrer Peergroup teilzuhaben (vgl. Kutscher und Kreß 2016).

4 Herausforderungen in der Medienerziehung aus der Perspektive von Fachkräften Beraterinnen und Berater beobachten, dass Probleme in der Medienerziehung mit zunehmender Tendenz ein Grund dafür sind, wenn Familien Beratungsstellen aufsuchen. Auch wenn Medienerziehung zunächst scheinbar im Hintergrund steht und damit zusammenhängende Probleme von allgemeinen Kommunikations- und Beziehungsproblemen in der Familie überlagert sind, zeigt sich im Laufe der Beratung regelmäßig, dass es hier in den meisten Familien Schwierigkeiten gibt, die das Verhältnis von Eltern und Kindern stark belasten.

4.1 Medien und Medienerziehung in der Beratung Grundlage für die Beratungsarbeit der Fachkräfte sind ein umfangreiches Wissen über Erziehung sowie profunde Kenntnisse der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und der damit verbundenen Entwicklungsaufgaben. Vor diesem Hintergrund nehmen sie auch Medien und Medienerziehung in den Blick und versuchen, Erklärungszusammenhängen für unterschiedliche Problemkonstellationen zu entwickeln.

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Zunächst stellen sie fest, dass Eltern, die fachliche Erziehungsberatung mit Blick auf Medienthemen in Anspruch nehmen, unabhängig von Schichtzugehörigkeit und Bildungshintergrund oft kritisch und reflektiert sind, jedoch die Sorge haben, dass ihnen der Medienumgang ihrer Kinder zunehmend entgleitet. Sie fühlen sich überfordert und reagieren darauf zum Teil mit Resignation. F ­ achkräfte aus (teil-)stationären Einrichtungen zeichnen hier ein etwas anderes Bild. Die Beratung und Unterstützung von Eltern macht den geringeren Teil ihrer Arbeit aus und in den wenigen Situationen, in denen sie mit den Eltern ins Gespräch kommen, kommt das Thema Medienerziehung oft nicht zur Sprache, weil weil damit zusammenhängende Schwierigkeiten im Vergleich zu anderen Probleme weniger zentral sind. Lediglich dann, wenn die Fachkräfte nachfragen, welche Medien und Medienangebote zu Hause zur Verfügung stehen bzw. genutzt werden, rücken das Thema Medienerziehung und damit verknüpfte Fragen stärker in den Vordergrund.

4.2 Veränderungen der medialen Bedingungen fordern Eltern und Kinder Nicht immer sind es die Eltern, die eine Beratungsstelle aufsuchen, in manchen Fällen sind es auch Kinder oder Jugendliche, die die Initiative ergreifen. Die Schwierigkeiten in der Familie, die sie ansprechen, sind häufig mit der Nutzung von Medien verknüpft. Auf der einen Seite thematisieren sie Konflikte mit ihren Eltern, in denen es häufig darum geht, wie viel Zeit sie mit Computerspielen verbringen oder aber um Regeln und Verbote, die sie nicht verstehen und die in ihren Augen unangemessen sind. Darüber hinaus sind sie der Meinung, dass ihre Eltern oft überängstlich reagieren, wenn es beispielsweise um das Teilen von Fotos im Internet geht oder auch um Online-Mobbing. Auf der anderen Seite äußern die Jugendlichen aber auch – wie die Eltern – die Sorge, sie könnten mediensüchtig werden oder es bereits sein. Sie wollen wissen, „ob sie an der Grenze zur Sucht sind, weil sie eigentlich gar nicht mehr ohne sein können“ (Wagner et al. 2016, S. 33). In ihren Schilderungen wird deutlich, dass die Jugendlichen hier oft in einem Dilemma stecken: Sie wollen eine Abhängigkeit vermeiden und würden deshalb ihren eigenen Medienkonsum gern reduzieren. Andererseits haben sie die Sorge, den Anschluss an die Peergroup zu verlieren, wenn sie nicht ständig erreichbar sind.3 Gerade in der Pubertät hat die Peergroup 3Die

Angst, nicht mehr mitzubekommen, was die Peergroup macht und über kurz oder lang nicht mehr dazuzugehören, wird mit dem Begriff des „Fear of Missing Out“ (FoMO) beschrieben (vgl. Przybylski et al. 2013, S. 1841). Zur Bedeutung des FoMO im Rahmen der Handynutzung Jugendlicher vgl. Knop et al. (2015, S. 41 ff.).

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einen besonderen Stellenwert. Sie dient zur Orientierung bei der Ausbildung einer eigenen Identität mit dem Ziel, ein „Gefühl der Kohärenz“ zu entwickeln (Lenzen 2005, S. 802 nach Gudjons 2008, S. 135). Darüber hinaus ist die Peergroup ein Ort zur Abgrenzung von den Eltern (vgl. Eggert und Wagner 2016, S. 23 ff.). Aus der Perspektive der Fachkräfte scheint es plausibel, dass die Angst vor einer Abhängigkeit sowohl mit der Besorgnis der Eltern zusammenhängt wie auch mit der medialen Aufmerksamkeit, die diesem Thema zuteil wird. Es wird jedoch deutlich, dass die veränderten medialen Bedingungen im Rahmen ihrer entwicklungsbedingten Aufgaben Herausforderungen für Kinder und Jugendliche bereithalten. Um diese bearbeiten zu können, sind sie auf Unterstützung angewiesen. Konkret stellen die Berater*innen fest, dass (vgl. ebd., S. 33) • Zwänge und Verpflichtungen von außen an Jugendliche herangetragen werden, die die ständige Nutzung der digitalen Geräte erfordern. Hier spielen Erwartungen der Peergroup eine Rolle, aber auch innerfamiliäre Absprachen oder die Organisation bspw. schulischer Abläufe. • Jugendliche mit Herausforderungen konfrontiert sind, die mit Angeboten, Anwendungen oder Plattformen in Verbindung stehen. Sie sind gefordert, sich mit diesen auseinanderzusetzen, eine Haltung zu finden, sich entsprechendes (Struktur-)Wissen anzueignen sowie einen souveränen Umgang mit den Angeboten zu entwickeln. • manche Jugendliche befürchten, sie könnten die Kontrolle über ihr eignes Nutzungsverhalten verlieren. In Beratungssituationen spielen diese Herausforderungen, mit denen Kinder und Jugendliche konfrontiert sind und die insbesondere mit der orts- und zeitunabhängigen Verfügbarkeit der mobilen Geräte zusammenhängen, oft eine wichtige Rolle. Die veränderte Medienlandschaft und die fortschreitenden technischen Entwicklungen haben aber auch Auswirkungen auf den Medienumgang der Eltern. Auch diese sind oft ständig erreichbar ohne dies in Frage zu stellen. Zum Teil ist es ihnen auch gar nicht bewusst und sie reagieren überrascht oder auch verärgert, wenn sie auf ihr Verhalten aufmerksam gemacht werden. So stellen die Beraterinnen und Berater fest, dass Eltern zum Teil auch in Beratungsgesprächen keine Veranlassung sehen, ihr Smartphone auszuschalten. Es ist für sie normal geworden, erreichbar zu sein und die Aufforderung, ihr Gerät beiseitezulegen oder es stummzuschalten, betrachten sie als Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte. Den Zusammenhang zwischen dem Vorbild ihres eigenen Verhaltens und dem Medienumgang ihrer Kinder nehmen die Eltern oft nicht wahr.

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4.3 Medien können die Eltern-Kind-Beziehung beeinflussen Den hohen Stellenwert digitaler Medien für Kinder und Jugendliche beobachten die Fachkräfte auch in ihrem Arbeitsalltag. Sie nehmen zum einen steigende Nutzungszeiten wahr und beobachten zum anderen, dass das Handy zunehmend in unterschiedlichen Alltagssituationen herangezogen wird und andere Gegenstände und Nutzungsmöglichkeiten ersetzt; es dient als Uhr, Wörterbuch, Spielgerät, zur Kontaktaufnahme usw. Die Eltern können mit der technischen Entwicklung von Geräten, Tools und Apps oft nicht mithalten und wissen nicht, welche Angebote ihre Kinder nutzen und wozu sie diese nutzen. Gleichzeitig fällt es ihnen schwer, Regeln für die Mediennutzung ihrer Kinder aufzustellen und auf eine konsequente Einhaltung von Regeln und Grenzen zu achten. Medien werden dann in vielen Fällen zum Auslöser für Konflikte, denen eigentlich andere Ursachen zugrunde liegen. Häufig handelt es sich dabei um eine Störung der Beziehung zwischen Eltern und Kind, die in innerfamiliären Konflikten, äußeren Einflüssen oder Pathologien bei den Kindern oder den Eltern begründet sind. Wenn mehrere dieser Faktoren zusammenkommen, kann dies ein vertrauensvolles Verhältnis von Eltern und Kindern beeinträchtigen. Eine stabile Beziehung ist aber wiederum die Voraussetzung für gelingende Erziehung, zu der auch Regeln und Absprachen, die gemeinsam getroffen werden, gehören. Insbesondere wenn die Kinder in die Pubertät kommen, nimmt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen Eltern und Kindern wie auch das Risiko, den Kontakt zueinander zu verlieren zu. Die Jugendlichen sind gefordert, die anstehenden Entwicklungsaufgaben zu erfüllen, an erster Stelle ihre Persönlichkeit zu entwickeln und sich von den Eltern zu lösen mit dem Ziel, eine eigene Identität auszuformen. Hierbei spielen die digitalen Medien und das Internet eine wichtige Rolle. Soziale Netzwerkdienste, Messenger oder digitale Spiele eröffnen den Jugendlichen verschiedene Möglichkeiten, sich selbst zu präsentieren und zu inszenieren, in der Kommunikation mit anderen ihre Selbstwirksamkeit zu testen oder sich beim Spielen zu beweisen (vgl. Wagner und Eggert 2013, S. 20 ff.). Die mobilen Medien bieten den Jugendlichen darüber hinaus Wege, diese Handlungsoptionen spontan und unmittelbar, unabhängig von Ort und Zeit und unbeobachtet von den Eltern oder anderen Erwachsenen umzusetzen. Damit geht einher, dass persönliche Begegnungen weniger werden und die Betroffenen gefordert sind, die Entscheidung für gemeinsame Situationen bewusst zu treffen.

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Problematische Veränderungen familiärer Beziehungssituationen sehen die Fachkräfte in allen Alters- und Entwicklungsstufen: • Mit Blick auf jüngere Kinder erkennen sie in manchen Familien sich verändernde Einschlafrituale, wenn bspw. die Eltern den Kindern kurze Videos auf dem Tablet oder Smartphone anbieten oder Musik über smarte Lautsprecher (z. B. Amazon Echo Alexa) abspielen lassen (vgl. Oberlinner et al. 2018, S. 13), statt sich selbst mit ihnen zu beschäftigen, indem sie ihnen bspw. vorlesen. • In Familien mit älteren Kindern und Jugendlichen beobachten sie zunehmend eine dauernde, vereinzelte, mediale Kommunikation der Familienmitglieder. Sie beobachten, dass es sowohl Kindern wie auch Eltern schwerfällt, die mobilen Geräte wegzulegen und sich auf die momentane Familiensituation einzulassen. Die wechselseitige Beeinflussung von medienbezogenen Problematiken und anderen Erziehungsthemen wird in Beratungsgesprächen bspw. dann deutlich, wenn die Eltern Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihrem Kind damit begründen, dass ihre Tochter oder ihr Sohn sich in Medienwelten bewegt, die sie nicht verstehen und damit die Verantwortung für ihre Probleme von sich schieben. Auf der anderen Seite machen die Beraterinnen und Berater aber auch die erzieherischen Fachkräfte in den (teil-)stationären Einrichtungen die Erfahrung, dass Kinder und Jugendliche zum Teil unsicher sind mit Blick auf ihre eigene Mediennutzung, zum Beispiel dann, wenn sie Filme sehen oder Computerspiele spielen, die für ihr Alter eigentlich noch nicht freigegeben sind. Hier sind die Kinder auf eine klare Haltung und das erzieherische Eingreifen der Eltern angewiesen (vgl. Wagner et al. 2016, S. 31 f.).

5 Digitale Medien im Beratungsalltag Die medienbezogenen Themen und Problemlagen, mit denen Fachkräfte in ihrer beratenden oder erzieherischen Arbeit konfrontiert werden, sind vielfältig. Nachfolgend werden einzelne Aspekte detaillierter betrachtet. Dabei werden jeweils die Perspektiven der Fachkräfte aus den Beratungsstellen wie auch derer aus (teil-)stationären Einrichtungen integriert.

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5.1 Familienmedienhandeln und Eltern als Vorbilder Fachkräfte in pädagogischen oder beratenden Kontexten erleben Eltern und Kinder in Interaktion mit oder über digitale Medien. Sie erleben, dass Eltern ihrem Kind oft bereits im Kleinkindalter mobile Geräte zur Verfügung stellen. Für viele Mütter und Väter ist es Alltagshandeln, ihrem Kind Smartphone oder Tablet zum Spielen zu geben: zur Beschäftigung oder Beruhigung, um in dieser Zeit selbst einer anderen Tätigkeit nachzugehen. Entscheidend ist aus der Perspektive der Fachkräfte, dass Smartphones nicht nur einfach zu handhaben, sondern zudem so gut wie immer verfügbar sind. Zudem wurde thematisiert, dass Eltern vielfach kein Problembewusstsein mit Blick auf die Nutzung mobiler Medien ihrer kleinen Kinder haben und insbesondere entwicklungsbedingte Fragestellungen nicht in Zusammenhang mit Medien reflektieren. In der Wahrnehmung der Fachkräfte haben Eltern selbst einen unkritischen Umgang mit den Medien (vgl. Wagner et al. 2016, S. 43 f.). In diesem Zusammenhang wird die Sorge formuliert, dass Eltern, vertieft in ihr eigenes Medienhandeln, weniger sensibel für die Reaktionen ihres kleinen Kindes sind und für die Bedürfnisses ihres Kindes nicht oder unzureichend aufnahmefähig sind und kritische Situationen (zu) spät wahrnehmen. In den Diskussionsbeiträgen der Fachkräfte wurde außerdem deutlich, dass viele Eltern nicht wahrnehmen, welchen Anteil sie am Nutzungsverhalten ihres Kindes und an der Dynamik im Familienalltag haben und oftmals keinen kritischen Blick auf die Risiken und Gefahren entwickeln (können), die sich für Kinder und Jugendliche in diesem Zusammenhang stellen.

5.2 Das erste eigene Gerät – ab wann? Bei Familien mit jüngeren Kindern ist die Frage, ab wann ein eigenes Smartphone sinnvoll ist, ein bestimmendes Thema. Oft ist der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule Anlass zu Überlegungen und für die Entscheidung von Eltern, für ihr Kind ein Smartphone anzuschaffen. Während die Kinder in der Grundschulzeit noch kein eigenes Gerät brauchten oder mit dem Handy ohne Internetzugang zufriedengestellt werden konnten, wird der wichtige Schritt des Übertritts auf eine weiterführende Schule mit einem neuen Gerät markiert und damit „das mobile Tor zum Internet aufgestoßen“ (Wagner et al. 2016, S. 33). Mit dem Schulwechsel werden Smartphones vor allem wichtig, um an der Kommunikation der Peergroup teilnehmen zu können. Im Grundschulalter verfügen viele Kinder, wenn sie schon ein Mobiltelefon besitzen oder nutzen, noch über ein ein einfaches Handy (mpfs 2017a). Die Fachkräfte sehen aber eine Bewegung

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d­ ahingehend, dass zunehmend auch Grundschulkinder ein Smartphone besitzen. Und während bei Jugendlichen die permanente Erreichbarkeit zu konfliktgeladenen Diskussionen führt, ist dies bei Heranwachsenden im Grundschulalter noch nicht das bestimmende Thema in den Beratungen.

5.3 Regulierung der Dauer statt Begleitung von Inhalten Während bei der Beratung von Familien mit Heranwachsenden bis vor einiger Zeit noch Inhalte im Mittelpunkt standen, wenn es um Medien ging, nehmen Fachkräfte hier eine Veränderung wahr. Sie erleben in ihrer Beratungsarbeit, dass Heranwachsende offenbar von ihren Eltern rund um die Uhr Internetzugang fordern und ebenso ihr Smartphone permanent zur Verfügung haben wollen. Für Eltern scheint es jedoch nicht in erster Linie wichtig zu sein, dass die Heranwachsenden dabei möglicherweise im Netz mit Inhalten in Berührung kommen, die sie nicht einordnen können, die sie schockieren oder Angst hervorrufen, wie z. B. Videos, in denen Gewalt gegen Menschen oder Tiere dargestellt wird oder sie ungewollte und unangenehme Kontaktanfragen erfahren. Für sie zählt vor allem die Frage nach der zeitlichen Begrenzung. Aus Sicht der Fachkräfte ist dies problematisch. Eine nicht altersgerechte oder gefährdende Nutzung nehmen sie außer im Zusammenhang mit Videos bei Online-Streaming-Plattformen oder Filmen im Allgemeinen besonders oft bei digitalen Spielen wahr. Der Zugang dazu wird Heranwachsenden meist von männlichen Familienmitgliedern ermöglicht, auch ältere Geschwisterkinder spielen hier eine Rolle. Begünstigend ist darüber hinaus die weitgehend unkontrollierte Nutzung von YouTube-Videos mit mobilen Geräten. Durch Let’s Play-Videos können sich Heranwachsende über Spiele, deren Optik, die geeigneten Spieltaktiken etc. informieren, ohne das Spiel selbst spielen zu müssen. Diese Form des Zugangs bietet gerade Jüngeren die Möglichkeit, Einblick in für ihr Alter noch nicht zugelassene Spiele zu bekommen (vgl. Wagner et al. 2016, S. 38 f.).

5.4 Medienregeln als Familienregeln? Nicht allen Eltern gelingt es, Regeln aufzustellen und durchzusetzen. Eine große Schwierigkeit sehen die Fachkräfte darin, dass viele Eltern resigniert haben und nicht an ihre Selbstwirksamkeit glauben (vgl. ebd., S. 36). Dies führt dazu, dass Regeln nicht klar abgesprochen werden und ihre Einhaltung inkonsequent ist. In Familien, die sie begleiten und beraten, erfahren Fachkräfte, dass Medien als

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durchsetzungsstarkes Erziehungsinstrument eingesetzt werden. Radikale Maßnahmen wie Belohnen durch die Erlaubnis der Nutzung oder Bestrafen durch Entzug der mobilen Geräte ist aus Sicht der Eltern oftmals die einzige wirksame erzieherische Maßnahme und sie sind erleichtert, einen Hebel gefunden zu haben. Wie nachhaltig und konstruktiv diese Maßnahme ist, stellen die Fachkräfte infrage. Denn zugrunde liegt häufig ein Kommunikationsproblem zwischen den beteiligten Familienmitgliedern, das nicht thematisiert und bearbeitet wird. Dabei kann der Einsatz digitaler, mobiler Medien als Sanktionsmittel zu einer Verschärfung des Konflikts führen, weil Sanktionen und Verbote oftmals nach kürzester Zeit, aufgrund der dagegen rebellierenden Jugendlichen, zurückgenommen werden und als Ergebnis keine Konsequenz für die Heranwachsenden haben. Vielmehr zeigt sich darin die elterliche Überforderung. Geht es im Rahmen einer Konfliktlösung darum, Vereinbarungen zum Medienumgang in der Familie zu erarbeiten, funktioniert dieses Vorgehen mit Blick auf die Kinder. Wenn es aber darum geht, wie Eltern ihr Medienhandeln verändern müssen, erscheinen Mütter und Väter häufig beratungsresistent und wollen sich aus dem Regelwerk herausnehmen. Sie sind wenig bereit, ihr alltägliches Verhalten zu hinterfragen und in einem nächsten Schritt auch zu verändern (vgl. ebd., S. 44 f.).

5.5 Intensive Mediennutzung potenziert familiäre Mehrfachbelastungen Die Beraterinnen und Berater sehen eine Tendenz dahingehend, dass für Heranwachsende aus Familien mit Mehrfachbelastungen eine intensive Mediennutzung die Funktion der Ablenkung hat (vgl. ebd., S. 39 f.). Häufig müssen erst viele andere „Problemschichten“ abgetragen werden, um eine Grundlage zu schaffen, die Problematik, die im Zusammenhang mit mobilen Medien entsteht, anzupacken und dafür tragfähige Lösungen zu entwickeln. Vorhandene Pathologien können hier in Verbindung mit einer intensiven Mediennutzung die Komplexität der Situation steigern. Gleichzeitig beobachten die Fachkräfte, dass die Konflikte im Umgang mit mobilen internetfähigen Geräten für alle Beteiligten sehr anstrengend sind und eine zusätzliche Belastung darstellen.

5.6 Familienkonstellationen Bei getrennt lebenden Elternteilen führen auch unterschiedliche Erziehungsansichten gegenüber der Mediennutzung zu Problemen (vgl. ebd., S. 41). Kinder,

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vielfach jüngere, werden in den verschiedenen Haushalten mit unterschiedlichen Regelungen konfrontiert und Eltern gelingt es nicht, sich auf gemeinsame Ziele und Vorgehensweisen zu einigen sowie diese in den Familienmedienalltag zu integrieren. Aus Sicht vieler Fachkräfte sind insbesondere bei getrennten lebenden Eltern der Austausch und die Abstimmung über Anschaffungen eines mobilen Gerätes sehr wichtig. Nur dann sehen sie eine Chance, tragfähige und nachhaltige Regelungen für einen verantwortungsbewussten Umgang mit mobilen Medien zu finden.

5.7 Eltern unter Druck Fachkräfte beobachten, dass Eltern unter hohem sozialem Druck stehen, sie wünschen sich für ihr Kind einen möglichst hohen und möglichst guten Schulabschluss als Basis für dessen erfolgreiche berufliche Zukunft. So werden Schulschwierigkeiten häufig sehr schnell in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang mit intensiver Mediennutzung gebracht, woran sich nicht selten heftige Konflikte entzünden. Dabei begeben sich Eltern mitunter in Vergleichssituationen mit anderen Eltern oder Familien und setzen damit zunächst sich selbst unter Konkurrenzdruck – in einem zweiten Schritt erfolgt häufig, wenn auch unterbewusst, eine Übertragung auf das Kind. Eltern stehen also unter hohem Druck, ihre Tochter oder ihren Sohn bestmöglich zu fördern und zu unterstützen sowie vor, aus ihrer Sicht, gefährdenden Einflüssen fernzuhalten und demgegenüber gleichzeitig die persönliche Entwicklung und individuelle Interessen zu fördern sowie Autonomiebestrebungen zuzulassen (vgl. ebd., S. 46).

6 Unterstützungsbedarf und Ansatzpunkte zur Unterstützung von Familien Erziehungsberaterinnen und Erziehungsberater kommen in ihrer Arbeit mit sehr unterschiedlichen Eltern in Kontakt und erfahren vielfach Extreme: Jene, die überbesorgt sind, stark sanktionieren und einschränken oder anders gewendet: die zu viel wissen, als dass sie unbefangen sein könnten. Diesen gegenüber steht die Gruppe der Eltern, die mobile Medien selbst intensiv oder exzessiv nutzen und darin keinerlei Probleme sehen. Dazwischen gibt es aber auch sehr verantwortungsvolle Eltern, die darauf achten, wie ihr Kind das Internet und mobile Geräte nutzt und die zum Teil selbst einen pädagogischen Hintergrund haben. Dennoch sind Eltern, die sich gut auskennen oder über mehr Hintergrundwissen verfügen als ihre Kinder eine Ausnahme. Nur vereinzelt erleben Fachkräfte gut

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informierte Eltern, die im Umgang mit mobilen Medien souverän agieren und auch geeignete Sicherheitseinstellungen vornehmen können – in der Regel dann, wenn sich ein Elternteil beruflich damit beschäftigt. Mit Blick auf die diversen Problematiken, die in den Beratungen formuliert werden, ist es aus Sicht von Fachkräften sehr wichtig, zunächst die dahinterliegenden Bedürfnisse der Heranwachsenden – und ggf. der Eltern – aufzudecken. Einer der wichtigsten Ansatzpunkte ist dabei, Eltern verständlich zu machen, warum ihre Kinder bestimmte Medien konsumieren, dass unter anderem die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben Einfluss auf das Medienhandeln hat oder Anerkennung in der Peergroup für Heranwachsende enorm bedeutungsvoll ist. Zunächst geht es also vor allem darum, zu eruieren, welche Funktion mobile Geräte im Alltag noch haben, außer den technischen und alltagspraktischen Einsatzmöglichkeiten. In Beratungsgesprächen wird in kleinen Schritten und häufig auch mit allen Beteiligten, Eltern und Kindern, gearbeitet. Radikale Entscheidungen, wie der komplette Entzug eines Mediums, werden eher vermieden. Vielmehr geht es darum, Verständnis für die Verhaltensweisen der Einzelnen zu entwickeln, um basierend darauf zu tragfähigen Lösungen zu kommen. Das können moderate Regelungen sein, die nachhaltig durchgesetzt und eingehalten werden können, was auch die Selbstwirksamkeit der Eltern stärken kann. Zu Ressourcen innerhalb des familiären Systems zählt aus Sicht der Beraterinnen und Berater unter anderem auch eine unterstützende und positive Kommunikation mittels sozialer Medien. So sind soziale Netzwerke vielfach Teil der Kommunikationskanäle innerhalb der Familie. Eltern nutzen Messenger-Dienste und mobile Anwendungen sozialer Netzwerkdienste, um in Kommunikation mit ihrem Kind zu bleiben. Nicht nur alltagsorganisatorische Informationen wie „Essen ist fertig“ werden via WhatsApp mitgeteilt, es werden auch Gespräche mit ernsthaftem Inhalt geführt, die zum Teil erst durch das Medium möglich wurden. Der Vorteil liegt darin, dass den Jugendlichen der Umgang mit dem Medium leicht fällt und so auch leichter ein Gespräch mit den Eltern geführt werden kann. Häufig sind Eltern mit ihrem Kind zum Beispiel über Social Media-Kanäle verbunden und sehen dies als probates Mittel, um zumindest halbwegs darüber Bescheid zu wissen, wofür ihr Kind sich interessiert und mit wem es befreundet ist. Andererseits können Eltern solche Anwendungen auch dazu nutzen, um Heranwachsende zu kontrollieren. Aus den Aussagen der Eltern zu ihren Wünschen und Vorstellungen zur Unterstützung ihrer Medienerziehung wird deutlich, dass die Eltern zum einen ihre Verantwortung sehr ernst nehmen und zu großen Teilen bereit sind, selbst dazuzulernen, um ihre Kinder möglichst gut zu unterstützen. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass sie glauben, diese Aufgabe nicht allein meistern zu können und sich ­deshalb mehr externe Unterstützung wünschen (vgl. ebd. 2016, S. 52 ff.).

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Bildungs- und Beratungseinrichtungen sind gefordert, diesen Auftrag ernst zu nehmen, um die Kooperation mit Eltern in Hinblick auf Medienerziehung besser zu gestalten. Basierend auf ihrer Arbeit mit Familien unterscheiden auch die Fachkräfte verschiedene Unterstützungsbedarfe für Eltern. Dabei geht es um entwicklungspsychologisches Wissen, (medien-)erzieherisches Handeln und medienspezifisches Wissen. Ergänzend dazu stellen sie fest, dass normative Orientierungen zur Privatsphäre und zum Schutz eigener Daten den Eltern Sicherheit geben würden, bspw. wenn es um die Einsicht in potenziell problematische oder gefährdende Kommunikationsinhalte in WhatsApp-Gruppen oder anderen OnlineKommunikations-Anwendungen auf dem Gerät des Kindes geht.

7 Welche Unterstützung brauchen Beratende? Nicht nur die Familien, sondern auch die Fachkräfte selbst haben Informationsund Unterstützungsbedarf und ziehen verschiedene Quellen heran, um ihr Wissen zu erweitern und sich auf Beratungssituationen vorzubereiten. Oftmals profitieren sie dabei in ihrem medienpädagogischen und medienerzieherischen Wissen stark von Erfahrungen ihrer eigenen Familien. Daneben stehen üblicherweise einrichtungsinterne sowie externe Ressourcen zur Verfügung, um sich grundsätzlich oder auch für einen konkreten Fall Unterstützung zu holen. In der Regel gibt es in den Einrichtungsteams mindestens eine Person, die bezüglich Fragen zu Medienthemen einen Wissensvorsprung hat oder eine spezifisch medienorientierte Fortbildung oder Fachveranstaltung besucht hat. Vielfach haben diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ein persönliches Interesse an Medienthemen, sind medienaffin oder begeistern sich für ein bestimmtes Angebot. Als problematisch empfinden es Fachkräfte jedoch, wenn Fortbildungen bereits einige Zeit zurückliegen, da Wissen und Informationen aufgrund der (technischen) Weiterentwicklungen innerhalb des Medienensembles schnell veraltet sind. Interne Fachtage oder der Einbezug von Heranwachsenden als Expertinnen und Experten für ihre eigene Medien- und Lebenswelten, sind weitere Wissensquellen. Für Eltern und Kinder in Beratungsprozessen zu nachhaltig wirksamen Lösungen zu gelangen, ist der Anspruch. Wenn digitale Medien im solchen Beratungsprozessen relevant sind und zum Thema wird, Heranwachsenden innerhalb der Familie einerseits bis zu einem gewissen Grad die Freiheit zu lassen, eigene Erfahrungen im Umgang mit den mobilen Medien zu machen, ihnen dafür andererseits trotzdem einen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen sie diese Erfahrungen sammeln können, bedarf es ein stückweit Hintergrundwissen

Facebook, WhatsApp und Co. – Digitale Medien in Familien …

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zu digitalen Medien und mobilem Internet sowie Interesse dafür, welche Apps oder Games bei Jugendlichen aktuell angesagt sind. Fachkräften wie Eltern ist bewusst, dass sie nur über eingeschränktes Wissen verfügen. Beraterinnen und Berater thematisieren ihren Wunsch nach Informationen und Wissen gerade in Bezug auf mobile Medien und die damit verbundenen aktuellen Entwicklungen. Sie haben mehr und mehr das Gefühl, nicht auf dem Laufenden zu sein und nicht Schritt halten zu können mit der heranwachsenden Generation. Für die Qualifizierung der Fachkräfte kommt es darauf an, die bestehenden Strukturen gezielter und systematischer mit medienpädagogischem Input zu versorgen, um dem Bedarf der Fachkräfte nachzukommen und Eltern über diese Strukturen besser zu erreichen. Zertifizierte Fortbildungen und mehr Austausch innerhalb der eigenen Profession zum Themenfeld Medienbildung und Medienerziehung sind hier zwei konkrete Anliegen der Fachkräfte. Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass auch Kooperationen zwischen pädagogischen Fachkräften und Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge zu forcieren wären, da viele Eltern allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigungen für ihre Kinder befürchten. Diesen Sorgen um das Wohlergehen der Kinder kann nur mit einem ganzheitlichen Ansatz begegnet werden (vgl. ebd., S. 62 ff.).

8 Schlussfolgerungen Ein bewusster Umgang mit digitalen Medien sowie deren gezielte Nutzung für eine souveräne Alltags- und Lebensgestaltung ist das Ziel von Medienerziehung (vgl. Schorb und Wagner 2013). Für Eltern bedeutet dies, regelmäßig mit Herausforderungen konfrontiert zu sein und immer wieder an Grenzen zu stoßen. Der Erziehungsberatung und Familienhilfe durch Fachkräfte, die medienerzieherisches Wissen mit familienunterstützender und erziehungsberaterischer Kompetenz verbinden, kommt deshalb eine wichtige Bedeutung zu. Damit Fachkräfte in der sozialen Beratung eine kompetente Unterstützung von Eltern und Familien gewährleisten können, sind Strukturen vonnöten, die es ihnen ermöglichen, sich das notwendige medienpädagogische Wissen anzueignen und ihren Wissensstand regelmäßig zu überprüfen. Dafür sind Maßnahmen erforderlich, die auf drei Ebenen liegen: • Auf der Ebene der Ausbildung ist es unerlässlich, medienpädagogische Grundlagen in den Curricula der einschlägigen Studiengänge zu verankern. • Darauf aufbauend müssen regelmäßig fachspezifische medienpädagogische Fort- und Weiterbildungsangebote zur Verfügung stehen. Diese dienen zum

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einen der Aktualisierung und Erweiterung vorhandenen Wissens wie auch dem (Erfahrungs-)Austausch. • Ergänzend ist die Entwicklung und Bereitstellung zielgruppenspezifischer Materialien sowohl in Printform als auch online unabdingbar.

Literatur Aufenanger, Stefan. 2015. Wie die neuen Medien Kindheit verändern. Kommunikative, soziale und kognitive Einflüsse der Mediennutzung. merz | medien + erziehung, 59. Jg. Nr. 2: 10–16. Eggert, Susanne und U. Wagner. 2016. Grundlagen zur Medienerziehung in der Familie. Expertise. www.jff.de/mofam. Zugegriffen: 25. Januar 2019. Gudjons, Herbert. 2008. Pädagogisches Grundwissen: Überblick – Kompendium – Studienbuch. 10. aktualisierte Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Knop, Karin, D. Hefner, S. Schmitt und P. Vorderer. 2015. Mediatisierung mobil. Handyund mobile Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen. LfM-Schriftenreihe Medienforschung Bd. 77. Leipzig: VISTAS. Kutscher, Nadia und L.-M. Kreß. 2016. “Internet is the same like food” – An empirical study on the use of digital media by unaccompanied minor refugees in Germany. In: Transnational Social Review, S. 200–203. doi: 10.1080/21931674.2016.1184819. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. 2017a. FIM-Studie 2016. Familie, Interaktion, Medien. Untersuchung zur Kommunikation und Mediennutzung in Familien. Stuttgart. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. 2017b. KIM-Studie 2016. Kindheit, Internet, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. Oberlinner, Andreas, S. Eggert, G. Schubert, V. Jochim und N. Brüggen. 2018. Medienrituale und ihre Bedeutung für Kinder und Eltern. Erster Bericht der Teilstudie „Mobile Medien und Internet im Kindesalter – Fokus Familie“. München: JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. www.jff.de/mofam. Zugegriffen: 5. Februar 2019. Przybylski, Andrew K., K. Murayama, C. R. DeHaan und V. Gladwell. 2013. Motivational, emotional, and behavioral correlates of fear of missing out. Computers in Human Behavior, 29 (4), 1841–1848. Schorb, Bernd und Wagner, Ulrike 2013. Medienkompetenz – Befähigung zur souveränen Lebensführung in einer mediatisierten Gesellschaft. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Medienkompetenzförderung für Kinder und Jugendliche. Eine Bestandsaufnahme. http://www.landkreis-coburg.de/files/medienkompetenzfoerderung_2013.pdf. Zugegriffen: 01. März 2019. Wagner, Ulrike und S. Eggert 2013. Das Medienhandeln von Heranwachsenden – Konstanten und Veränderungen. Materialien zum 14. Kinder- und Jugendbericht. https://www. dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/14-KJB-Expertise-Wagner-ua.pdf. Zugegriffen: 5. Februar 2019. Wagner, Ulrike, S. Eggert und G. Schubert. 2016. MoFam – Mobile Medien in der Familie. www.jff.de/mofam. Zugegriffen: 25. Januar 2019.

Digitaler Knockout? Ursachen, Hintergründe und Beratungsansätze bei Cybermobbing Iren Schulz

Zusammenfassung

Cybermobbing ist ein gesellschaftlich relevantes Phänomen, dass sich auf systematisch und langfristig ausgeübte Formen psychischer und physischer Gewalt bezieht. Bekannte Mobbingphänomene werden mittels digitaler Medien ausgeübt und sind mit veränderten Rollenkonstellationen, gesunkenen Hemmschwellen und dramatischen Konsequenzen verbunden. Studien verweisen auf Cybermobbing als ein ernstzunehmendes Phänomen in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, dem Erwachsene, Eltern und Pädagog*innen alarmiert gegenüberstehen. Inzwischen exisitieren gute Angebote für die Beratung und die (medien)pädagogische Arbeit zum Thema Cybermobbing, die es zukünftig auszubauen und zu systematisieren gilt. Schlüsselwörter

Cybermobbing · Sexting · Mobbing · Smartphone · Soziale Netzwerke · Gewalt und Medien · Sozialisation · Medienkompetenz · Aktive Medienarbeit · Beratung

I. Schulz (*)  Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_13

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1 Einführung Was habe ich eigentlich falsch gemacht? Bin ich zu hässlich oder zu dick? Trage ich die falschen Klamotten oder höre nicht die richtige Musik? Wie hätte ich das alles verhindern können und was soll ich jetzt tun? Zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen Ausgrenzung beginnt, lässt sich kaum fassen und ist für die Opfer von Cybermobbing ein diffuses, ohnmächtiges Gefühl. Es gibt nicht „den einen Fehler“, oder „die eine Eigenschaft oder Äußerlichkeit“, die sich als Ursache und Auslöser benennen lässt – Cybermobbing kann jede und jeden treffen und mit dramatischen Konsequenzen verbunden sein. Vor allem für Kinder und Jugendliche, die in der Phase des Heranwachsens besondere Schutz- und Entwicklungsräume benötigen, erleben Formen psychischer und physischer Gewalt, die immer auch einen Bezug zu den digitalen Medien aufweisen und mit veränderten Kommunikationsmechanismen, Hemmschwellen und Rollenkonstellationen einhergehen. Im Folgenden werden grundlegende Begrifflichkeiten zu Cybermobbing geklärt und aktuelle Studien vorgestellt, die einen Überblick über die Ausmaße und Facetten des Phänomens bieten. Anschließend werden entwicklungspsychologische und medienpädagogische Erklärungszusammenhänge hergestellt, bevor ausführlich auf mögliche Beratungsansätze eingegangen und daran anknüpfend ein abschließendes Fazit gezogen wird.

2 Cybermobbing: Begriffe, Definitionen und Daten Mobbing stammt vom englischen Begriff „mob“ (Meute) ab, wobei „to mob“ so viel bedeutet wie anpöbeln, bedrängen, attackieren und angreifen. In unserer Gesellschaft ist Mobbing keineswegs ein neues Phänomen und bezeichnet die absichtliche psychische und/oder physische Schädigung eines anderen Menschen in einer Beziehung mit einem Machtungleichgewicht. Solche Verletzungen werden von einem oder mehreren Täter*innen ausgeübt, treten in einer gewissen Regelmäßigkeit und über einen längeren Zeitraum auf (Wachs et al. 2016; A. Dutschmann 2004). Mobbing äußert sich in Gewaltpraktiken wie Hänseln, Beschimpfen, Bloßstellen und Erpressen, aber auch Schlagen sowie sexueller Belästigung oder gar Töten (Grimm und Rhein 2007; Grimm 2008). Während Kinder und Jugendliche sich in Schule und Freizeit mit Mobbing konfrontiert sehen, findet dieses Gewaltphänomen auch in der Berufswelt der Erwachsenen immer wieder einen Nährboden.

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Heute stehen mediatisierte Mobbingformen im Mittelpunkt sozialer Besorgnis und öffentlicher Debatten. Das sogenannte Cybermobbing (oder Cyberbully­ ing) bezeichnet ein aggressives Verhalten, das mithilfe digitaler Medien und den Möglichkeiten der Onlinekommunikation, oftmals anonym, ausgeübt wird. Auch hier geht es um Beleidigungen und Belästigungen, um Gerüchte, Provokation und offene Gewaltandrohungen sowie um Identitätsmissbrauch oder Passwortklau. Vor allem Bild- und Videoveröffentlichungen in sozialen Netzwerken und per Smartphone, versehen mit herabsetzenden Onlinekommentaren, aber auch das Anlegen von Fake-Profilen sowie das bewusste Ausschließen aus Chatgruppen sind in diese medienbezogenen Mobbingattacken eingebunden (Pfetsch et al. 2012; Festl 2014; RSPH 2018, S. 11 ff.). Cybermobbing findet über private Kommunikationswege zwischen zwei Personen, in Kommunikationsgruppen, aber auch über Portale und Plattformen statt, die öffentlich und für jede(n) einsehbar sind. Dabei vermischen sich „reale“ und medienbezogene Attacken, insofern das Mobbing auf dem Schulhof oder in der Freizeiteinrichtung dann per Smartphone weitergeführt wird und umgekehrt. Diese orts- und zeitunabhängige Verknüpfung von gewaltbezogenen Erfahrungen in der Online- und Offline-Welt verstärken die Auswirkungen von Cybermobbing auf die Betroffenen, weil es keinen Grenzen und keinen Ausweg zu geben scheint: Sticheleien in der Hofpause werden in der WhatsApp-Gruppe fortgesetzt und über Instagram mit Bildmaterial ausgebaut, was dann am nächsten Tag in der Schule für neue Häme sorgt. Mit Blick auf die Forschungslage zeigen repräsentative Studien auch im Langzeitvergleich, dass bei Heranwachsenden und ihren Eltern die Sensibilität für onlinebezogene Risiken wie Cybermobbing in den vergangenen Jahren gestiegen ist (JIM-Studie 2018; DIVSI-Studie 2018) Dabei scheinen die Befragten häufiger Fälle im Bekannten- und Freundeskreis zu beobachten, als selbst davon betroffen zu sein. So berichtet die repräsentative JIM-Studie (2018, S. 62 ff.), dass immerhin schon jede(r) fünfte Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren persönlich erlebt hat, wie (unbewusst oder beabsichtigt) falsche oder beleidigende Inhalte über die eigene Person online verbreitet wurden. Der größere Anteil der Betroffenen findet sich jeweils unter den Jungen, den 16- bis 17-Jährigen und den Jugendlichen mit formal niedrigerem Bildungshintergrund. Mit Blick auf den Bekanntenkreis kennen die befragten Mädchen (34 %) öfter als die Jungen (30 %) Personen, die Opfer von Cybermobbing geworden sind, wobei auch hierbei die 16- bis 17-Järigen im Fokus stehen, sich aber keine Unterschiede in den Bildungsniveaus abzeichnen. Auf die Frage, ob die Jugendlichen selbst schon einmal im Internet fertiggemacht wurden, stimmen neun Prozent der Mädchen und sechs Prozent der Jungen zu. Befragte mit formal niedrigerem Bildungsniveau sind etwas häufiger betroffen als Gymnasiast*innen (ebd.). In der DIVSI-U25-Studie

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klafft die Schere zwischen eigenen und beobachteten Erfahrungen ähnlich weit auseinander: Während 36 % der Befragten zwischen 14- und 24 Jahren angeben, dass Mobbingrisiko zu kennen, berichten 14 % von einer eigenen Betroffenheit. In der ersten Erhebungswelle 2014 sind es sogar nur drei Prozent, die selbst Opfer von Mobbingattacken wurden (DIVSI-U25-Studie 2018, S. 79 f.). Hier kristallisiert sich die Rolle der „Bystander“ heraus, die als vermeintlich unbeteiligte Zuschauer über eine Vielzahl von Cybermobbing-Fällen berichten und dabei eine enge Verbindung zwischen Online- und Offline-Handlungen herstellen (Pfetsch 2011). In den qualitativen Gruppeninterviews mit 30 Berliner Jugendlichen wurden am häufigsten Beleidigungen und Beschimpfungen genannt und von sexualisierten Ausdrücken berichtet, die Mädchen u. a. als „Schlampe“ und Jungen als „schwul“ bezeichnen. Zudem werden Mädchen eher sozial degradiert, während Jungen eher physisch ausgerichteten Aggressionen ausgesetzt sind (ebd.). In der Rolle der „Bystander“ greifen Jugendliche zu Handlungsoptionen, die vom Ignorieren der Taten über Kontakt zu und Mitgefühl mit dem Opfer, bis hin zu aktivem Reagieren auf bzw. gegen die Schikanen reichen. Passiv blieben die Interviewten dann, wenn sie befürchteten, selbst Opfer zu werden, wenn sie dem Täter nicht noch mehr Aufmerksamkeit schenken wollten oder ratlos waren, was zu tun sei. Aktive Unterstützung ist vor allem dann eine Option für „Bystander“, wenn Jugendliche mit dem Opfer befreundet sind oder das Ausmaß des Vorfalls gravierend ist (ebd.). In Bezug auf die Eltern von Kindern und Jugendlichen bestätigt der Jugendmedienschutzindex der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM), dass Cybermobbing ein ernstzunehmendes Phänomen ist, das auch von Müttern und Vätern mit Besorgnis wahrgenommen wird (Brüggen et al. 2017, S. 18 ff.). Im Kontext onlinebezogener Risiken befürchten 23 % der Befragten, dass ihr Kind Opfer von Cybermobbing werden könnte, wobei Eltern von Mädchen größere Ängste hegen (26 %) als Eltern von Jungen (20 %). Die Sorge, dass das eigene Kind als Täter auftritt, ist demgegenüber deutlich geringer. Nur fünf Prozent der Eltern von Jungen und drei Prozent der Eltern von Mädchen bestätigen eine solche Befürchtung (ebd.). In Ergänzung der Elternperspektive zeigt der zweite Teil des Jugendmedienschutzindex (Gebel et al. 2018), dass Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte einen weiteren Blick auf Cybermobbing und insbesondere die Täterrolle haben. Dass von Heranwachsenden Mobbing ausgeht, nehmen sie ebenso wahr wie die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche gemobbt werden. Hier geben immerhin 86 % der befragten Pädagog*innen an, dass unter den Kindern, mit denen sie arbeiten, bereits Mobbing vorgekommen ist (ebd., S. 40 f.). Entsprechend hoch schätzen sie auch den Bedarf ein, pädagogischen Lehr- und Fachkräften Kompetenzen zu vermitteln, um mit derartigen

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onlinebezogenen Risiken umgehen und pädagogisch sinnvoll agieren zu können. Eine wichtige Aufgabe kommt ihrer Meinung nach nicht nur den Eltern, sondern auch der Schule und den außerschulischen Bildungseinrichtungen zu (ebd., S. 135).

3 Exkurs Sexting Sexting setzt sich aus den Wörtern „sex“ und „texting“ zusammen und beschreibt das Versenden oder Verbreiten von erotischen Nachrichten, Fotos oder Videos über das Smartphone1. So werden unter anderem Bilder mit freiem Oberkörper, im Bikini, in Unterwäsche oder in erotischer Pose (sog. „Sexts“) mit der Kamera bzw. der Videofunktion des Smartphones aufgenommen und per Messenger App oder in sind sozialen Netzwerken „getextet“. Besonders beliebte Anwendungen sind in diesem Zusammenhang WhatsApp, Instagram oder Snapchat. Idealerweise sind an dieser Form der Kommunikation neben dem Versender und dem Empfänger keine weiteren Personen beteiligt, weil es sich um einen höchst privaten und intimen Austausch handelt. Mit Blick auf die Jugendphase gehören erste Formen von Flirten, Daten und Posen als eine wichtige Entwicklungsaufgabe dieser Lebensphase selbstverständlich dazu (Hurrelmann 2016). Neu ist die Verbindung von Flirtpraktiken mit den Möglichkeiten digitaler Medien, die für Heranwachsende besonders reizvoll erscheinen, weil sie aus vermeintlich sicherer Distanz erste Annäherungs- und Distanzierungsversuche ermöglichen. Im Kontext von Cybermobbing wird Sexting dann zum Problem, wenn im Vertrauen ausgetauschtes Bild- und Videomaterial an andere weitergereicht oder in sozialen Netzwerken veröffentlicht wird. Dies kann aus Versehen, aber auch bewusst und aus Rache passieren. Ein solcher Vertrauensmissbrauch kann mit dramatischen Folgen für die abgebildeten Personen einhergehen, wie der weltweit bekannt gewordene Fall von Amanda Todd eindrucksvoll zeigt2. Darüber hinaus ist Sexting dann problematisch, wenn Mädchen private Fotos oder Videos verschicken, weil sie sich von ihren männlichen Zeitgenossen unter Druck gesetzt fühlen. Mit Argumentationen wie „Hab dich doch nicht so. Das machen doch alle.“ oder:

1https://www.lmz-bw.de/medien-und-bildung/jugendmedienschutz/sexualitaet-und-porno-

grafie/was-ist-sexting/#/medien-und-bildung/jugendmedienschutz/sexualitaet-und-pornografie/was-ist-sexting/#c34907 (Letzter Zugriff: 16.01.2019). 2https://www.stern.de/panorama/stern-crime/fall-amanda-todd--wie-ein-cyber-stalker-einjunges-maedchen-in-den-tod-trieb-7379148.html (letzter Zugriff 16.01.2019).

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„Wenn du mich liebst, machst du das für mich!“ werden die Jugendlichen dazu animiert, Dateien zu erstellen und zu versenden, die sie eigentlich nicht weitergeben möchten. Auch wenn die Umsetzung von Studien aufgrund des privaten, durchaus schambehafteten Kontextes schwierig ist, gibt es Ergebnisse, die in diese Richtung weisen (u. a. Walrave et al. 2014; Ouytsel et al. 2015). Ein dritter problematischer Aspekt ist die Orientierung an den öffentlichen Auftritten der Youtube- und Instagram-Stars, die mit freizügigen, oftmals sexualisierten Fotos Maßstäbe für Heranwachsende setzen und als Vorbild fungieren. Tatsächlich strafbar machen sich Personen, die Fotos oder Videos von Jugendlichen unter 14 Jahren mit explizit pornografischem Inhalt auf ihren mobilen Geräten speichern oder weiterschicken3.

4 Erklärungszusammenhänge: Aufwachsen in einer mediatisierten Gesellschaft Worüber entsteht die Besonderheit und Brisanz von Cybermobbing? Zunächst lassen sich drei medienbezogene Entwicklungslinien nachzeichnen, über die sich das bekannte „Offline-Mobbing“ gewandelt und in seiner Problematik ausgeweitet und verschärft hat. Erstens geht es um die Medienausstattung und die Möglichkeiten der Produktion und Verbreitung von Inhalten. Alle Jugendlichen und die Mehrheit der Kinder besitzt ein eigenes Smartphone mit Internetflatrate und einem umfangreichen App-Angebot. Sie sind jederzeit und überall verfügbar, permanent online und bewegen sich selbstverständlich auf Social Media-Plattformen (v. a. Instagram, Snapchat und Youtube), in Instant-Messaging-Diensten (v. a. WhatsApp) oder Spielechats (z. B. bei Fortnite). Dabei lassen sich mit wenigen Klicks und ohne besonderes technisches Wissen Text-, Foto- und Videodateien erstellen, up- und downloaden, kommentieren und bearbeiten. In diesem Zusammenhang vermischen sich Formen von face-to-face-Kommunikation und Erlebnisse aus der Offline-Welt mit onlinebasierten Vergemeinschaftungen, Inszenierungen und Re-Präsentationen (Schulz 2012) Diese mediatisierten Kommunikationsformen bieten einen Nährboden für Cybermobbing, insofern Heranwachsende ihre alltäglichen Handlungspraktiken immer auch medial für ein (oftmals unbestimmtes) Publikum aufbereiten und über diese Datenspuren angreifbar werden bzw. Andere verletzen können. Der ethisch-verantwortungsvolle Umgang mit den eigenen Daten und denen von Anderen ist hier eine bedeutsame Forderung.

3https://www.handysektor.de/artikel/ist-sexting-strafbar/

(letzter Zugriff 16.01.2019).

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Zweitens sinken mit diesen medientechnischen Voraussetzungen und kommunikativen Entwicklungen auch die Hemmschwellen von Mobbing. Beleidigende Kommentare unter Fotos auf Instagram, weitergeleitete Partyvideos oder das Erstellen eines Fake-Profils bedürfen nur weniger Klicks und erfordern keine direkte Konfrontation mit dem potenziellen Opfer. Vielmehr lassen sich medienbezogene Mobbingattacken im Verborgenen ausführen und potenzieren das Machtverhältnis der Ausführenden. Dieser Zusammenhang wird darüber verstärkt, dass es sehr schwierig ist, die Produktions- und Verbreitungswege solcher Inhalte nachzuvollziehen und zu kontrollieren. Daneben existieren Mobbingsituationen, die sich beiläufig entwickeln, aus Langeweile entstehen und mit Unwissenheit über die eigentliche Ernsthaftigkeit der Umstände einhergehen. Was im Spaß an der Bushaltestelle oder in der Schultoilette beginnt, kann ernstzunehmende Folgen nach sich ziehen, wenn peinliche Fotos und diffamierende Kommentare per WhatsApp oder Instagram die Runde machen. Zudem ist es höchst schwierig bzw. nahezu unmöglich, einmal geteilte oder online gestellte Daten in ihren Verbreitungswegen ausfindig zu machen und wieder zurückzuholen. Damit ist als dritte Entwicklungslinie die Veränderung des Verhältnisses zwischen Opfer und Täter angesprochen. Oftmals zirkulieren beleidigende, diffamierende oder bewusst gefälschte Inhalte über eine Person, ohne dass diese davon Kenntnis besitzt: „Nicht zu wissen, wer die Täter sind, kann einem Opfer Angst machen und es verunsichern, weil es nicht genau weiß, wer es belästigt.“4 Über das anonyme, grenzüberschreitende Agieren im Verborgenen und ohne direkte Konfrontation mit dem Opfer erhalten Täter einen Machtvorsprung, der sich in Handlungssicherheit und kommunikativer Ausdauer niederschlägt (Katzer 2014). Dabei sind die Reaktionen der Betroffenen auf verletzende Inhalte und Aussagen für den Mobber nicht unmittelbar sichtbar, sodass auch keine Reflexionen über das eigene Gewalthandeln angestoßen werden (ebd.). Vielmehr geht es um Macht, Imagegewinn und Aufmerksamkeit im eigenen sozialen Netzwerk (Pfetsch et al. 2012). Darüber hinaus zeigen Studien, dass Cybermobbing-Täter in der Langzeitperspektive auch im Kontext von generellem Gewalthandeln und Drogenmissbrauch auffällig werden. Aus der Perspektive der Opfer erscheinen solche Attacken zeitlich und räumlich allgegenwärtig, weil die Erreichbarkeit über Smartphone und entsprechende Apps kontinuierlich gegeben ist: Das Ende der Hofpause oder des Schultages, das Verlassen der Party oder das Einschließen zu Hause – prinzipiell erscheinen diese Versuche wirkungslos. Darüber

4https://www.klicksafe.de/themen/kommunizieren/cyber-mobbing/cyber-mobbing-was-istdas/ (letzter Zugriff 16.01.2019).

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v­erstärkt sich zudem das Ohnmachtsgefühl der Betroffenen: Nicht zu wissen, wer hinter den Nachrichten und Fotos steckt, wer schon alles Bescheid weiß und wo die Daten überall hingelangt sind, sorgt in der Reaktion für Schamgefühle, Vertrauensverlust und Rückzugsbestrebungen in der Online- und Offline-Welt (Katzer 2014; Pfetsch et al. 2012). Langzeitfolgen schlagen sich dann unter anderem in depressiven Gefühlen sowie Angstsymptomen, aber auch geringem Selbstwertgefühl bis hin zu Suizidgedanken nieder. Problematisch ist zudem die Tatsache, dass Opfer von Cybermobbing oftmals auch zu Tätern werden, wenn sie die Chance erhalten, auf die Machtseite zu wechseln und „zurückzuschlagen“. Neben diesen medienbezogenen Linien finden sich in der entwicklungspsychologischen und medienpädagogischen Forschung wichtige Erklärungszusammenhänge zu Cybermobbing. Ein grundlegender Zugang ist hier das Konzept der Entwicklungsaufgaben, in dem lebensphasenspezifische Herausforderungen beschrieben sind, die über biologische, soziale und individuelle Kontexte entstehen und die jeder Mensch „bewältigen“ muss, um sich weiterentwickeln zu können (Havighurst 1972). In der Lebensphase der mittleren Kindheit und im Jugendalter stehen vor allem solche Aufgaben an, die sich um Beziehungen und Persönlichkeitsentwicklung drehen. Dazu gehört insbesondere das Ausdifferenzieren von Peer-Beziehungen und das Ausprobieren erster partnerschaftlicher Beziehungen, aber auch das Erlernen männlichen und weiblichen Rollenverhaltens sowie das Verstehen und Akzeptieren der eigenen Körperlichkeit. Es geht also um Prozesse der Zuordnung und Abgrenzung, um das Überschreiten von sozialen und individuellen Grenzen oder um Mutproben sowie um das Positionieren in einem gesellschaftlichen Gefüge. Bei diesen kommunikativen Aushandlungen spielen immer auch (digitale) Medien eine wichtige Rolle, insofern Heranwachsende Serienfiguren, Filme und Musik, aber auch WhatsApp oder Youtube benutzen, um Orientierungen und Antworten auf wichtige Fragen zu finden (Schulz 2012, S. 85 ff.). Provokante Selfies, Schlussmachen per WhatsApp oder Instagram-Challenges5 gehören zu aktuellen entwicklungsbezogenen Praktiken, die dann problematisch werden, wenn mit den eigenen Daten oder denen von Andern nicht mehr verantwortungsvoll umgegangen wird und in Cybermobbing oder Sexting münden.

5Instagram-Challenges

sind Mutproben im Netz, bei den Nutzer*innen weltweit aufgefordert werden, sich bestimmten Herausforderungen zu stellen, nicht selten gefährlich für die Gesundheit und beeinträchtigend für die Entwicklung sind. Sie auch https://www. klicksafe.de/service/aktuelles/news/detail/gefaehrlicher-trend-challenges-im-netz/ (letzter Zugriff 16.01.2019).

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Aus der bisherigen Forschung zu Gewalt und Medien ist bekannt, dass Erfahrungen im sozialen Umfeld sowie das Erleben von Chancen- und Perspektivlosigkeit in der Gesellschaft dazu beitragen, dass Gewalt als ein Mittel und Medien als ein Ventil wahrgenommen werden, um Konflikte zu lösen (Schulz 2012, S. 123 ff.; Schell 2007). Jugendliche mit eigenen Gewalterfahrungen haben zu medialen Gewaltdarstellungen eine besondere Affinität, befürworten die in den Medien als Mittel der Konfliktlösung präsentierte Gewalt eher und haben dementsprechend große Schwierigkeiten bei der Verarbeitung. Mangelndes Selbstbewusstsein sowie die Unfähigkeit, mit Gefühlen und Bedürfnissen angemessen umzugehen, tragen dazu bei, dass diese Heranwachsenden zu gewalttätigen Handlungen greifen, um ihre Positionen zu festigen und das Gefühl von Stärke und Kontrolle zu entwickeln, sich selbst und andere zu beherrschen. Vor allem sozial unterprivilegierte, bildungsbenachteiligte männliche Jugendliche waren bisher von diesem Problem betroffen (Schell 2007). Heute müssen diese Argumentationen aktualisiert und erweitert werden, insofern die oben beschrieben Studien zeigen, dass nahezu alle Jugendlichen schon in irgendeiner Form damit zu tun hatten. Zudem sind Cybermobbing und Sexting mit mediatisierten Gewaltpraktiken verbunden, die aus einem mangelnden Problembewusstsein und einer fehlenden kritischen Auseinandersetzung resultieren. Dabei zeichnet sich eine Vereinfachung, Zunahme und Diversifizierung des eigenen Gewalthandelns ab. Zwar hat es Gewaltformen wie das Auslachen, Bloßstellen oder Rächen sowie Prügeleien unter Jugendlichen schon immer und vor allem im Schulkontext gegeben. Verändert haben sich jedoch die Ausmaße und Konsequenzen solcher Gewaltakte, insofern sie nun auf einfachste Weise und zum Teil extra für das Smartphone, mittels Apps und im Social Web inszeniert, produziert und verbreitet werden. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Erwachsene und insbesondere Pädagog*innen selten einen Einblick in die gewaltbezogenen Kommunikationspraktiken der Jugendlichen haben und dementsprechend auch kaum über angemessene erzieherische und pädagogische Konzepte verfügen.

5 Ansatzpunkte für soziale Beratung: Elternhaus, Schule und Medienarbeit Was wünschen sich Heranwachsende, um Cybermobbing zu vermindern? In der Studie von Pfetsch werden an erster Stelle die Freunde genannt, die Trost spenden und aktive Unterstützung liefern können, gefolgt von Eltern oder Lehrenden (Pfetsch 2011, S. 3 f.). Darüber hinaus können sie sich vorstellen, Cybermobbing als Unterrichtsthema zu behandeln und schulische Interventionsmöglichkeiten

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auszubauen. Wichtig ist den Interviewten dabei, dass sie in ihrer Wahrnehmung ernst genommen und bei der Lösungssuche beteiligt werden. Vor diesem Hintergrund hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland ein vielschichtiges Netz an Informations-, Beratungs- und Aktionsangeboten entwickelt, dass Kinder und Jugendliche selbst, aber auch ihre Familien sowie Pädagog*innen und Multiplikator*innen dabei unterstützt, Cybermobbing intervenierend und präventiv zu begegnen. Gerahmt werden diese Angebote von einem rechtlichen Gerüst, in dem sich Fälle von Cybermobbing verorten lassen. Auch wenn es bisher kein explizites Cybermobbing-Gesetz in Deutschland existiert, können je nach Fall verschiedene Paragrafen des Strafgesetzbuches zum Tragen kommen. Dazu gehören unter anderem Verleumdung, Üble Nachrede, Nachstellung oder Beleidigung6. Zudem hält das Zivilrecht Handlungsmöglichkeiten bereit, zu denen unter anderem Abmahnung, Unterlassungsklage oder einstweilige Verfügung gehören (Weitzmann 2017). Darüber hinaus gibt es relevante Bezüge zum Kunsturhebergesetz (Recht am eigenen Bild). Jenseits dieser rechtlichen Regularien ist es jedoch von Bedeutung, Kommunikationsräume und -möglichkeiten bereit zu stellen, in denen Beratung für Opfer, Täter und Beteiligte stattfinden kann. Ist ein Fall von Cybermobbing im Gange bzw. wird bekannt, lassen sich mit Blick auf die Opfer und die Täter folgende allgemeine, erste Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen realisieren: Tipps für die Unterstützung der Opfer • Beweise sammeln: Was? Wann? Wo? Mit wem? Mit welchen Mitteln und Medien? Screenshots oder Ausdrucke anfertigen! Den Betreiber der Plattform bzw. des Angebots informieren! • Teufelskreis durchbrechen: Nicht mehr auf die Attacken reagieren! Profil und Inhalte dem Betreiber melden! Identität des Mobbers herausfinden! Gegeben falls eigenes Profil vorübergehend löschen. • Hilfe holen: Einschalten einer Vertrauensperson in der Schule oder zu Hause oder im Freundeskreis! Eventuell und nach ersten Gesprächen muss die Polizei eingeschaltet werden. Tipps für die Auseinandersetzung mit Täter(n) • Nicht wegschauen! Täter (mit Unterstützung) identifizieren und stoppen! Situationen rekonstruieren und Facetten von Mobbing identifizieren.

6https://www.klicksafe.de/themen/kommunizieren/cyber-mobbing/was-sagt-das-gesetz/ (letzter Zugriff 16.01.2019).

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• Handeln überdenken: Wieso wird jemand zum Gewalttäter? Welche Gründe gibt es, andere zu mobben? Welche Ursachen finden sich im sozialen Umfeld und der persönlichen Konstitution der Täter? • Lösungen finden: Gespräche mit Beratungslehrern, Streitschlichtern, Erziehungsberatungsstellen, evtl. auch Freundeskreis und Familie! Was würde beim Täter für einen Ausgleich und für Anerkennung sorgen? Mit Blick auf die Zielgruppe Eltern und Familie ist die Bundesinitiative „SCHAU HIN! was dein Kind mit Medien macht“ ein wichtiger Ansprechpartner. Die gemeinsame Initiative von Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Das Erste, ZDF und TV SPIELFILM wurde 2003 ins Leben gerufen und bietet Eltern und Erziehenden praktische Orientierung in der Medienwelt. Neben Informationen zu den Mechanismen und Konsequenzen von Cybermobbing auf der Website www.schau-hin.info haben Eltern die Möglichkeit, ihre konkreten Fragen über ein Chatfenster zu stellen oder Kontakt mit den Mediencoaches der Initiative aufzunehmen. Des Weiteren stehen kurze, erklärende Videoclips in der Rubrik „nachgefragt“ zur Verfügung und es finden digitale Elternabende statt, die auf dem Youtube-Kanal der Initiative abgerufen werden können. Generell nimmt „SCHAU HIN!“ eine vermittelnde Position ein, betont die Vorbildrolle der Eltern beim sozialen Miteinander und unterstreicht deren Verantwortung bei der Vermittlung von Werten und Regeln. Wesentliche Eckpunkte der Argumentationen sind7: • Respekt vermitteln: Wichtig ist, Chatregeln zu vereinbaren, die Netiquette zu achten und respektvoll zu sein. Hinter jedem Nutzer stehen echte Menschen – ein höflicher Umgang gilt auch in Chats. Aber auch Persönliches muss man schützen. Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche nicht zuviel von sich oder anderen preisgeben, auch um keine Angriffsfläche zu bieten. • Courage zeigen: Werden andere online gemobbt, können Kinder auch selbst Courage zeigen und sich gegen Hetze aussprechen und für andere einsetzen. Allerdings sollten sie behutsam und überlegt vorgehen, um sich nicht selbst zu gefährden. • Vertrauensbasis schaffen: Eltern sollten gemeinsam mit ihrem Kind das Internet entdecken und über mögliche Belästigungen sprechen, schon bevor etwas passiert ist.

7https://www.schau-hin.info/artikel/umgang-mit-cybermobbing-elternwissen-kompakt/

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• Unterstützung anbieten: Gut, wenn das Kind weiß, dass es jederzeit mit seinen Eltern über alle Erlebnisse im Internet reden kann und sich auf die vorwurfsfreie Unterstützung seiner verlassen kann. Eltern sollten sensibel und verständnisvoll auf etwaige Verhaltensänderungen des Kindes reagieren. • Ernstnehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen: Kinder müssen wissen, dass sie mit ihren Anliegen ernst genommen werden und Hilfe erfahren. Falls Eltern konkrete Schritte unternehmen wollen, sollten sie mit ihrem Kind darüber sprechen und ihren Sohn oder ihre Tochter in die Lösungsversuche einbeziehen. • Nicht bestrafen: Ein Smartphone- und Internetverbot ist nicht sinnvoll. Cybermobbing ist in der Regel nicht einem Fehlverhalten des Kindes geschuldet. Auch unabhängig von dessen eigener Internet- und Smartphonenutzung können Inhalte über das betroffene Kind veröffentlicht werden. • Schule kontaktieren: Hilfreich kann es auch sein, die Schule des Kindes anzusprechen, damit Cybermobbing zum Thema gemacht wird. • Online und Offline Position beziehen: Sich gegen Cybermobbing auszusprechen, ist selbstverständlich. Auch größere Aktionen wie ein Aktionstag an der Schule oder im Sportverein gegen Cybermobbing hilft und sensibilisiert für das Thema. In Bezug auf Handlungsmöglichkeiten und Ansatzpunkte für schulische Kontexte hat die EU-Initiative „Klicksafe“ ein Interventionsprogramm zu Cybermobbing entwickelt8, das von umfangreichen Zusatzinformationen und -materialien zum Thema flankiert wird. Das dazu veröffentlichte Handbuch gibt Einblick in einzelne Fallbeispiele und erläutert Methoden der Intervention bei Cybermobbing in der Klassen- bzw. Schulgemeinschaft. Dabei richtet sich die Wahl der Methode nach der konkreten Problemstellung im sozialen System, setzt eine entsprechende Aus- bzw. Fortbildung der Leiter*innen voraus und zielt darauf ab, das Mitgefühl und die intrinsische Motivation bei Kindern und Jugendlichen zu fördern, sich prosozial zu verhalten (Hilt et al. 2018). Während der „No Blame Approach“ lösungsorientiert ausgerichtet ist und auf Bestrafungen und Schuldzuweisungen verzichtet, ist die „FARSTA-Methode“ ein Ansatz, der die Mobbing-Akteure im Rahmen einer eigens etablierten Arbeitsgruppe mit ihren Handlungen konfrontiert (S. 67 ff.). Die Systemische Kurzintervention (SKI) ist in sehr kurzer Zeit durchführbar (zwei Unterrichtsstunden), handelt im Auftrag der Klassen- oder

8https://www.klicksafe.de/themen/kommunizieren/cyber-mobbing/cyber-mobbing-was-istdas/modul-was-tun-bei-cybermobbing/

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Schulleitung und bezieht die gesamte Klasse mit ein. Es geht um einen schnellen Eingriff, bei dem das schikanierende Verhalten, nicht die Täter selbst als schuldige Personen im Mittelpunkt stehen. Hauptanliegen ist die Re-Aktualisierung des Normen- und Wertegefüges in der Klasse sowie das Etablieren sozialer Kontrolle. Die Systemische Mobbingintervention (SMI) ist das wirksamste Instrument zur Bearbeitung von Cybermobbing-Fällen und bezieht die gesamte Klasse nachhaltig wirksam ein. Mit dem Einverständnis der Betroffenen und aller Beteiligten wird die Situation grundlegend analysiert, Verhaltensaufhänger ausfindig gemacht und prosoziales Handeln etabliert. Weniger geeignet ist diese Methode, wenn die Opfer psychisch labil sind, große Schamgefühle haben und von seitens der Eltern kein Einverständnis vorliegt (ebd.). Neben diesen Interventionsansätzen gibt es Webseiten, auf denen umfangreiche Materialien für die Bearbeitung des Themas Cybermobbing gebündelt sind. Dazu gehören unter anderem Lehrer-Online9, Mobbing Schluss10 damit und die Polizei-Beratung11. Neben familienbezogener Sensibilisierung sowie schulischer Prävention und Intervention bietet die projektbezogene Medienarbeit kreative Anknüpfungspunkte, um sich mit dem Thema Cybermobbing auseinanderzusetzen. Die Aktive Medienarbeit ist eine Methode der handlungsorientierten Medienpädagogik, in der (digitale) Medien als Mittel der Artikulation und der Reflexion eingesetzt werden (Hüther & Schorb 2005; Schell 1989; Sander et al. 2008, S. 75 ff.; Rösch 2017, S. 9). Im Mittelpunkt steht das handelnde, exemplarische Lernen, das an einem Thema mit konkretem Lebensweltbezug der Zielgruppe ansetzt. Über die Kleingruppenarbeit haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, eigene Stärken und Kompetenzen unter Beweis zu stellen und sich in einem weitestgehend herrschaftsfreien Raum zu bewegen. Das Bearbeiten eines gemeinsamen Projekts fördert Facetten sozialen Lernens, stärkt die Teamfähigkeit und trägt zum Erleben von Selbstwirksamkeit bei. Während es für die Teilnehmenden vor allem um das Ergebnis des Projekts geht – also beispielsweise die Erstellung eines medialen Produkts wie z. B. ein Film, ein Comic oder ein Hörbeitrag, steht aus medienpädagogischer Perspektive der Prozess im Mittelpunkt: Welche Reflexionen stößt die Erstellung eines Storyboards zu einem Fall von Cybermobbing an? Soll es ein Happy End geben und warum? Wer soll Opfer sein und wie spielt man einen Täter? Solche und ähnliche Fragen stellen sich während des Projektverlaufs und befördern das Nachdenken über Kontexte,

9https://www.lehrer-online.de/ 10https://mobbing-schluss-damit.de/schule 11https://www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/gefahren-im-internet/cybermobbing/

tipps-fuer-lehrer/

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Strukturen und Konsequenzen von Cybermobbing. Darüber hinaus sind Projekte der Aktiven Medienarbeit zeitlich flexibel umsetzbar und können mit technischem Minimalaufwand realisiert werden. Mittels mobiler Endgeräte (Smartphone, Tablet) und entsprechenden Anwendungen lassen sich in kurzer Zeit überzeugende Ergebnisse erzielen. Beispielsweise eignet sich die App „Comic Life“ (für Android, iOS und auch als Desktop-Anwendung) dazu, eine Foto-Hate-Story zu erstellen. Mit der App „Stop Motion“ (iOS) produzieren die Projektteilnehmenden einen Kurzfilm, indem sie von Fotos mit Figuren (z. B. Lego) oder echten Menschen zum Leben erwecken. Generell beginnt jede Projektphase mit einem Brainstorming zum Thema. Dafür können filmische Anregungen genutzt (Zum Beispiel „Let’s fight it together“ oder „Create no hate“) oder über begriffliche Assoziationen (Wortwolken, z. B. www.wortwolken.com) Zugänge erleichtert und thematische Hemmschwellen abgebaut werden. Nach einer anschließenden Sondierungsphase unterstützt ein Drehbuch (Storyboard) dabei, die Geschichte in zeitlichem Umfang und visuellem Ablauf zu planen. Nach der Materialproduktion werden die Fotos entsprechend bearbeitet mit Text und/oder Ton bzw. Geräuschen untersetzt und die Stories fertiggestellt. In der abschließenden und besonders wichtigen Reflexionsphase wird noch einmal auf den Prozess der Auseinandersetzung mit dem Thema Bezug genommen: Was waren Knackpunkte? Was hat sich gut angefühlt? Was war schwierig? Was lässt sich in den Alltag mitnehmen? Besonders schön und motivierend ist für Teilnehmende von Medienprojekten, wenn sie ihre Ergebnisse ausstellen oder vorstellen können – beispielsweise in der Schulaula, bei einem Tag der Offenen Tür oder einem Elternabend. Hier bietet sich noch einmal die Möglichkeit, Prozess und Ergebnis zur Diskussion zu stellen, Fragen zu beantworten und Positionen zu begründen. Hilfreiche Tipps und unterstützende Materialien für die Umsetzung von Projekten der Aktiven Medienarbeit finden sich vor allem im Medienpädagogik Praxis Blog12 und bei der Bundeszentrale für politische Bildung13.

6 Fazit Resümierend ist festzuhalten, dass Cybermobbing nicht nur „ein Problem“ unter Heranwachsenden, sondern vor allem auch gesellschaftlich gerahmt ist. Kinder und Jugendliche leben in einem Sozialgefüge, das von Leistungsdruck,

12https://www.medienpaedagogik-praxis.de/

(letzter Zugriff 16.01.2019). (letzter Zugriff: 16.01.

13http://www.bpb.de/lernen/grafstat/mobbing/46516/cybermobbing-b3

2019).

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Individualismus und Extraversion geprägt ist und in dem physische und psychische Gewaltformen in den Medien legitimiert werden: Spott und Häme bei Kandidat*innen in TV-Formaten wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“, Übertragungen von Kriegsszenarien und Terrorschauplätzen in offiziellen Nachrichtenformaten oder nackte Körper auf Werbeplakaten gehören dazu. Dementsprechend hoch ist auch der Druck auf diejenigen Instanzen und Einrichtungen, die im Sozialisationsprozess von Kindern und Jugendlichen als Weichensteller und Verantwortungsträger fungieren. Dazu gehören Eltern und Familie, aber auch Schule, Freizeiteinrichtungen und Beratungsstellen. Mit der Aufmerksamkeit für Cybermobbing und der wissenschaftlichen Erforschung der damit verbundenen Ursachen und Zusammenhänge ist inzwischen eine solide Basis entstanden, auf der pädagogische und psychologische Unterstützungsangebote aufsetzen können. Die bisher umgesetzten Bemühungen, Maßnahmen und Projekte gilt es zukünftig zu systematisieren sowie vor allem transparent und verbindlich zu gestalten. Dazu gehört auch die grundlegende Integration von medienbezogenen Themen wie Cybermobbing und deren pädagogische Bearbeitung in die Fort- und Ausbildung von Fachkräften und Multiplikator*innen. Auch wenn in Bezug auf Cybermobbing vor einer Dramatisierung und einseitigen Betrachtung gewarnt werden sollte, muss es auch zukünftig darum gehen, Kinder und Jugendliche für Phänomene sozialer Ausgrenzung zu sensibleren, ihre darauf bezogenen Abwehrkräfte zu stärken und sie auf ihren Pfaden durch mediatisierte Lebenswelten zu begleiten – und da müssen alle ran!

Literatur Brüggen, Niels; Dreyer, Stephan; Drosselmeier, Marius; Gebel, Christa; Hasebrink, Uwe; Rechlitz, Marcel (2017). Jugendmedienschutzindex: Der Umgang mit onlinebezogenen Risiken – Ergebnisse der Befragung von Eltern und Heranwachsenden. Herausgegeben von: FSM – Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e. V. https://www. fsm.de/sites/default/files/FSM_Jugendmedienschutzindex.pdf [letzter Abruf 16.01.2019]. Dutschmann, Andreas (2004). Mobber leben gefährlich! http://www.drdutschmann.de/ Mobbing.html [letzter Zugriff 16.01.2019]. Gebel, Christa; Brüggen, Niels; Hasebrink, Uwe; Lauber, Achim; Dreyer, Stephan; Drosselmeier, Marius; Rechlitz, Marcel (2018). Jugendmedienschutzindex: Der Umgang mit onlinebezogenen Risiken – Ergebnisse der Befragung von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften. Herausgegeben von: FSM – Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e. V. https://www.eukidsonline.de/wp-content/uploads/FSM_Jugendmedienschutzindex_2018.pdf [letzter Abruf 16.01.2019].

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Bündnis gegen Cybermobbing (2017). Cyberlife II. Spannungsfeld zwischen Faszination und Gefahr. Cybermobbing bei Schülerinnen und Schülern. Zweite empirische Bestandsaufnahme bei Eltern, Lehrkräften und Schülern/ innen in Deutschland. https://www.buendnis-gegen-cybermobbing.de/fileadmin/pdf/studien/cybermobbingstudie_2013.pdf [letzter Abruf 16.01.2019]. DIVSI U25-Studie (2018). Euphorie war gestern: Die „Generation Internet“ zwischen Glück und Abhängigkeit. Eine Grundlagenstudie des SINUS-Instituts Heidelberg im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI). Hamburg. https://www.divsi.de/wp-content/uploads/2014/02/DIVSI-U25-Studie.pdf [letzter Abruf 16.01.2019]. Festl, Ruth (2014). Täter im Internet. Eine Analyse individueller und struktureller Erklärungsfaktoren von Cybermobbing im Schulkontext. Wiesbaden: Springer VS. Grimm, Petra (2008). Prügeln für die Kamera. Über den Umgang Jugendlicher mit Gewaltvideos auf dem Handy. In: Pöttinger, Ida/Ganguin, Sonja (Hrsg.), Lost? Orientierung in Medienwelten – Konzepte für Pädagogik und Medienbildung. Bielefeld: GMK, S. 24–34. Grimm, Petra/Rhein, Stefanie (2007). Slapping, Bullying, Snuffing! Zur Problematik von gewalthaltigen und pornografischen Videoclips auf Mobiltelefonen von Jugendlichen. Berlin: VISTAS. Havighurst, Robert J. (1972). Developmental Tasks and Education. New York: McKay. Hilt, Franz; Grüner, Thomas; Schmidt, Jürgen; Beyer, Anna; Kimmel, Birgit; Rack, Stefanie; Tatsch, Isabell (2018). Was tun bei (Cyber)Mobbing? Systemische Intervention und Prävention in der Schule. https://www.klicksafe.de/themen/kommunizieren/cyber-mobbing/cyber-mobbing-was-ist-das/modul-was-tun-bei-cybermobbing/ [letzter Abruf 16.01.2019]. Hurrelmann, Klaus (2016). Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung (Grundlagentexte Soziologie). Weinheim: Beltz. Juventa. Hüther, Jürgen; Schorb, Bernd (Hrsg.). Grundbegriffe Medienpädagogik. 4., vollständig neu konzipierte Auflage. München 2005. Katzer, Catarina (2014). Cybermobbing – Wenn das Internet zur W@ffe wird. Berlin/ Heidelberg: Springer Spektrum. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2018). JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien, Basisuntersuchung zum Medienumgang 12-bis 19-Jähriger. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2018/Studie/JIM_2018_Gesamt.pdf [letzter Zugriff 16.01.2019]. Van Ouytsel, Joris; Van Gool, Ellen; Walrave, Michel; Ponnet, Koen; Peeters, Emilie (2015). Sexting: adolescents’ perceptions of the applications used for, motives for, and consequences of sexting. Journal of Youth Studies, Volume 20, 2017 – Issue 4, S. 446– 470. https://doi.org/10.1080/13676261.2016.1241865 [letzter Zugriff 16.01.2019]. Pfetsch, Jan (2011). Studie „Bystander von Cyber-Mobbing“. https://www.paedpsy.tu-berlin.de/fileadmin/fg236/Jan_Pfetsch/Pfetsch_Kurzbericht_Studie_Bystander_von_ Cyber-Mobbing.pdf [letzter Zugriff 16.01.2019]. Pfetsch, Jan; Mohr, Sonja; Ittel, Angela (2012). Cyber-Mobbing: Formen, Funktionen und Auswirkungen im Leben Jugendlicher. In: Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Nr. 2/48. Jahrgang, S. 4–7. https://www.ajs-bw.de/media/files/ajs-info/2012/AJSInfo_2_2012_Archiv.pdf [letzter Zugriff 16.01.2019].

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Digitalisierung in der Praxis sozialer Beratung

Systemische Beratung von Familien mit exzessiver Mediennutzung Detlef Scholz

Zusammenfassung

Was genau sollte in Bezug auf den familiären Umgang mit digitalen Medien in den Blick genommen werden? Wie lässt sich verhindern, dass Leidenschaft oder Gewohnheit in eine Suchtentwicklung münden? Mit welchen Themen und Fragen könnte sich eine systemische Beratung in Bezug auf den Bildschirmmedienumgang auseinandersetzen? Im folgenden Beitrag werden entsprechende Aspekte diskutiert und abschließend einige Übungen und Experimente vorgestellt, durch die digital irritierte Familien zu einem neuen Miteinander angeregt werden können. Schlüsselwörter

Medienerziehung · Familienberatung · Exzessive Mediennutzung · Systemische Übungen · Mediensucht · Familientherapie · Smartphonenutzung · Erziehung im digitalen Zeitalter · Systemisches Elterncoaching

Das Internet erweitert unsere Möglichkeiten, nach Antworten auf unsere existenziellen Fragen zu suchen: Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? Wie kann ich mich mit anderen verbinden? Auf welche Weise kann ich gut wachsen? Wo ist mein Platz in dieser Welt?

D. Scholz (*)  Kompetenzzentrum und Beratungsstelle für exzessiven Mediengebrauch und Medienabhängigkeit, Schwerin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_14

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Einige finden die Antworten im virtuellen Raum tatsächlich eher als im physischen, manche glauben, sie gefunden zu haben und wieder andere jagen ihnen ein Leben lang vergeblich nach – immer neu hoffend auf den nächsten Tag. Ein Klient äußerte kürzlich seine Vorstellung eines paradiesischen Lebens: das über Elektroden mit einem Computer verbundene Gehirn steuert direkt alles Erleben in einer imaginären Welt. So wäre der persönliche Energiebedarf auf ein Minimum gesenkt und das Spektrum an Erfahrungen nur noch durch die eigene Vorstellungskraft beschränkt. Auch dieser Klient war also zur Überzeugung gelangt, niemand anderen außer sich selbst zu brauchen – vielleicht gespeist durch die wärmende Gewohnheit der einsamen Tage und Nächte vor dem Rechner und mitunter verstärkt durch die Erinnerung an frustrierende Begegnungen. Die psychologische Forschung sammelt allerdings immer mehr Indizien dafür, dass die gelingenden Beziehungen zu Freunden, Eltern, Kindern, Nachbarn, Kollegen oder Gleichbegeisterten unser eigentliches Lebenselixier sind. Nutzen wir die virtuelle Suche also vor allem zur Gestaltung dieser Beziehungen, hält das Internet Großartiges für uns bereit. Die Kunst besteht nun darin zu erkennen, was, wann, wofür, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen hilfreich ist. Wie so häufig sind auch hier die Grenzen fließend. Lebendigkeit und Schönheit empfinden und wahrnehmen zu können, hängt meist mit Begeisterungsfähigkeit zusammen. Und diese Begeisterung ist oft an einen Lerneffekt gekoppelt – eine sehr sinnvolle Verknüpfung, die die Natur eingerichtet hat, da der Mensch auf diese Weise immer bestrebt ist, sich zu entwickeln und seine Fähigkeiten zu erweitern. Jede Mutter, jeder Vater kennt die Begeisterung seines Kindes, wenn ihm die ersten Schritte gelungen sind. Trotz der vielen missglückten Versuche und der zahllosen kleinen Stürze, wird es immer wieder aufstehen und es neu probieren. Und jeder weitere geglückte Schritt entlockt ihm ein erfülltes Jauchzen. Das Kind spürt, dass ihm die neue Fortbewegung einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem bisherigen Krabbeln und Kriechen bietet. Die Möglichkeit, jeden Punkt seiner Umgebung zu erreichen, ist ein verlockendes – hierbei noch unbewusstes – Ziel. Das sich neu einstellende Körpergefühl verstärkt das positive Erleben. Eigentlich könnte es nun ein Leben lang so weitergehen. Wir entdecken etwas, das wir gern können oder besser verstehen wollen und investieren mit Begeisterung Zeit und Energie bis sich unsere Fähigkeiten oder unser Verständnis erweitert haben. Allerdings gibt es Bedingungen, die diesen Prozess irritieren. Dazu gehören regelmäßige Frustrationen und permanent erlebte Abwertungen. (Manche Forscher meinen, es gäbe einen markanten Zeitpunkt, ab dem diese Irritationen in unserer Gesellschaft besonders massiv auftreten: die Einschulung). Wenn wir nicht mehr selbst bestimmen dürfen, was, in welchem Tempo und mit welchem Ziel wir gerade lernen wollen, nimmt die Begeisterung kontinuierlich ab.

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Kinder und Jugendliche entdecken ihre Begeisterungsfähigkeit nicht selten dann wieder, wenn sie eine Vorstellung davon bekommen, welche Möglichkeiten sich ihnen im Internet bieten. Eine großartige und wichtige Erfahrung. Wir als Eltern sind mitverantwortlich dafür, dass unsere Kinder so viel Begeisterndes wie möglich erleben, wobei die dadurch erzeugte Lebendigkeit möglichst tief greifend und andauernd sein sollte. Und das lässt sich nur erreichen, wenn die Aktivitäten vielfältig und ausgewogen bleiben. Wenn die manchmal aus einer anfänglichen Begeisterung erwachsende Leidenschaft sich nicht verdrängend auf andere wichtige Lebensbereiche auswirkt und so mitunter der Boden für eine Suchtentwicklung bereitet wird. Die Aufgabe von Eltern ist es also zum einen, zu verstehen, was ihre Kinder begeistert. Zum anderen ist es hilfreich, auf ein ausbalanciertes Handeln der Kinder zu achten und so ihre Lebendigkeit zu erhalten (die massive Fixierung auf eine Aktivität macht i. d. R. vulnerabel – psychisch anfällig). Kinder brauchen für ihre glückliche und glückende Entwicklung die Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrungen: Berührungen, Blickkontakte, Hören von Vertrautem, Schmecken, Riechen. Sie brauchen Freiheit als Sprungbrett zum Abenteuer, um mit ihren Ängsten umgehen zu lernen und ihren Mut zu stählen. Durch das Erleben von Abenteuern stärken sie ihre Widerständigkeit. In der Natur herrscht ein großes Maß an Freizügigkeit – hier können Kinder wirksam sein. Und sie können in den Beziehungen zu Pflanzen und Tieren intuitiv Verbundenheit erleben. Darüber hinaus ist die Natur ein mitmenschlicher Begegnungsraum. Natur ist also Freiraum, Spielraum, Entdeckungsraum, Gestaltungs-, Selbsterfahrungs- und Rückzugsraum – alles, was Kinder suchen und brauchen (vgl. Hüther und Renz-Polster 2013). Kindern Naturerfahrungen zu ermöglichen, scheint allerdings in der heutigen Zeit nicht gerade einfach zu sein. In Großstädten braucht es mitunter etwas mehr Aufwand als in vergangenen Zeiten, um einen Park, einen Spielplatz oder den Stadtrand zu erreichen. Besonders in der Kindheit und Jugend werden Kompetenzen erworben (oder verhindert), die ein genussvolles, erfülltes Leben ermöglichen und damit vor Suchtentwicklung schützen. Selbstkontrolle und Verantwortungsübernahme sind solche Fähigkeiten, die im Alltag gelernt werden sollten. Wichtig dafür ist das Aushalten von Bedürfnisaufschub, was schon von kleinen Kindern gelernt werden kann. Jede Tätigkeit, die Freude macht und bis zum Ende durchgehalten wird, fördert die Selbstkontrolle. Auch wenn Kinder bis zum Grundschulalter die Konsequenzen ihres Handelns noch nicht einschätzen können, ist es für sie hilfreich, mit Geduld und auch mal mit Langeweile (oder besser: Muße) umgehen zu können.

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Bei einer sinnvollen Integration von Medien in den familiären Alltag geht es darum, die Bedingungen zu ermitteln, die eine optimale Fähigkeitsentwicklung begünstigen. Das kann mal mit, mal ohne Medien besser gelingen. Früher ausgiebiger Bildschirmmedienkonsum lässt allerdings kaum Raum für die Entwicklung von Kreativität. Kinder brauchen Umwelten, in denen sie frei und selbst organisiert gestalten können. Mit Raum für Bewegung, Erforschung und Begegnung. Ein Freiraum, in dem Aktivität und Aufmerksamkeit selbst reguliert werden kann – vielfältig anregend und zur Heimat taugend. Medien liefern das scheinbar für einige in z. T. optimierter Mischung. In einem virtuellen Draußen. Das eigentliche Grundbedürfnis nach einem selbstbestimmten Draußensein in einer unstrukturierten Umwelt ist vielfach kaum noch erfüllbar. So werden die medialen Streifzüge zur bedeutendsten täglichen Aktivität. Die meisten Erziehungsfragen basieren auf Fragen nach Liebe und Angst. Und ihrem entsprechenden Maß. Dem möglichen Maß der Liebe zu uns selbst, zu unserem Partner, zu unseren Kindern. Dem Maß der Angst vor Ausgrenzung, Veränderung, Krankheit und Tod. Die wesentlichen Grundbedürfnisse eines Kindes lassen sich also einfach formulieren: ein Kind muss Liebe empfangen dürfen und lernen können, wie es mit seinen existenziellen Ängsten umgeht. Eltern sind die wichtigsten Vorbilder für ein bewegtes Leben. Bewegung fördert die Hirndurchblutung und die Vernetzung der Hirnzellen. Ausreichende Bewegung in sauerstoffreicher Umgebung ist eine entscheidende Voraussetzung, um Gelerntes nachhaltig zu verfestigen. Kinder lernen am besten durch Begeisterung – verstärkt durch Lob und gemeinsame Freude, wenn dies echt und nicht aufgesetzt wirkt. Daraus folgt, dass vor allem im Vorschulalter kaum Zeit für Bildschirmmedien bleiben sollte. Richard Powers (2002) beschreibt in „Schattenflucht“, wie ein intelligentes, aufgewecktes und neugieriges Kind den ersten Kontakt mit einem Computer(-spiel) erleben könnte: „Die elf Jahre, die es auf der Welt war, hatten das Kind schon verbittert. Das Leben war nichts weiter als eine eintönige Plage, in der alles vorhersehbar war, ein sehr begrenzter Lohn für grenzenlose Entbehrungen. Fernsehen war ein sadistischer Trick, … Sport war ihm unbegreiflich, Mädchen blieben ihm ein Rätsel, Essen ein notwendiges Übel. Aber das hier: … Das war Erlösung. In so einer Welt hatte er immer leben wollen. Er stand am Basislager unbegrenzter Möglichkeiten. … Er blickte zu seinem Vater, hilflos vor Glück“.

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In den Beratungsgesprächen wird oft deutlich, wie tief und einschneidend der erste Kontakt mit einem Computer in früher Jugend erlebt wurde. All das, worauf gerade Jungen in der Adoleszenz hoffen: eigene Entscheidungsräume, Unbekanntes, Herausforderndes, Abenteuer, die Möglichkeit, seine Kräfte zu entwickeln und seinen Verstand zu schärfen, Wettstreit, Anerkennung und der Ausbau von Macht als Beweis eigener Omnipotenz, ist in der virtuellen Welt zu finden. Die präsenten spürbaren Bedürfnisse können durch einen einzigen Knopfdruck so umfassend, bequem und risikofrei gestillt werden, dass ein als natürlich empfundener Drang entsteht, so oft wie möglich das Medium zu nutzen. Durch die rasante Entwicklung der Kleincomputer mit Telefonoption, den Smartphones, gilt dieses in ähnlichem Maße für Mädchen. Für sie steht das Bedürfnis nach Kommunikation und einem gesicherten Platz in der Gemeinschaft im Vordergrund. Auch sie bekommen mitunter nach und nach das Gefühl, diese Bedürfnisse nahezu ausschließlich mithilfe digitaler Technik befriedigen zu können. Mit dem Wissen um das Gefährdungspotenzial exzessiver Mediennutzung ist es hilfreich, sich als Eltern zu gegebener Zeit über die eigene Perspektive und die familiäre Verantwortung in Bezug auf eine konstruktive Persönlichkeitsentwicklung Klarheit zu verschaffen. So können ungünstige Entwicklungen vermieden oder rechtzeitig erkannt werden, um ein glückliches Familienerleben dauerhaft zu ermöglichen. Keinem Zehnjährigen würden Eltern den ausgiebigen Konsum von Erdbeerlikör zumuten, bei dem das Kind selbst herausfinden sollte, wie viel ihm gut tut. Kein achtjähriges Kind würde von verantwortungsvollen Eltern mit dem Fahrrad ohne Helm und ohne jegliche Kenntnis der Verkehrsregeln auf die Straßen einer Großstadt geschickt werden. Im Internet surfen schon Sechsjährige. Eine aktuelle Studie des Bundesfamilienministeriums weist nach, dass ein Drittel der 3- bis 8-Jährigen im Internet agiert – dabei sind zehn Prozent der Dreijährigen schon virtuell aktiv. Eltern könnten die Altersangemessenheit digitaler Geräte und medialer Angebote für ihr Kind prüfen, indem sie einschätzen, ob die Voraussetzungen für eine adäquate und förderliche Nutzung gegeben sind. Sie könnten sich fragen: Verfügt mein Kind über altersangemessene Alltagskompetenzen? Auf welche Weise balanciert es seine Stimmung? Wie hoch ist der aktuelle Selbstreflektionsgrad? Besitzt mein Kind ein angemessenes Risikobewusstsein? Wenn die Entscheidung dann für eine entsprechende Mediennutzung fällt, sollten sich Eltern bewusst sein, dass ihre eigene Art des Medienumganges die entscheidende Prägung für das Kind bzw. den Jugendlichen darstellt – unabhängig von allem pädagogisch-erzieherischem Engagement. Die entspannte Vereinbarung familiärer Regeln und die Verabredung zu einer anfänglichen Begleitung lassen

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die Chancen auf einen dauerhaft gelassenen familiären Medienumgang erheblich steigen. So können die Möglichkeiten und Gefährdungen gemeinsam erkundet und ausgelotet werden. Konkrete Vereinbarungen sollten dann regelmäßig auf ihre Stimmigkeit überprüft werden. Umso älter die Jugendlichen werden, desto mehr spielen außerfamiliäre Faktoren eine Rolle. Dann hängt viel davon ab, wie ein Jugendlicher seine vulnerable Phase und seinen Selbstwert erlebt, wie er mit Ängstlichkeit, Loyalität und depressiven Stimmungen umgeht, wie viel Neugier und Begeisterung er entwickeln kann und welche Gewohnheiten sich etabliert haben. Die grundlegenden Voraussetzungen werden allerdings auch hierfür durch das familiäre Erleben gelegt. Kinder und Jugendliche wollen und müssen verrückte Dinge tun. Je mehr realweltliche Verbote ihren Abenteuergeist in die Flasche pressen, desto mehr könnte ihnen das Internet als Märchenland erscheinen. So ist der Geist für die Außenwelt in der Flasche gefangen und doch frei im virtuellen Wunderland. Können Eltern für sich Verrücktes zulassen, fällt es ihnen auch bei ihren Kindern viel leichter. In Beratungsgesprächen ließe sich also fragen: Was könnten Sie im Moment mit Ihrem Kind Verrücktes erleben? Was war das Verrückteste, das Sie im vergangenen Jahr gemeinsam unternommen haben? An welche verrückte Begebenheit erinnern Sie sich immer mal wieder und erzählen begeistert davon? Für die aktuelle familiäre Mediensituation sollte geprüft werden: Kann die Art und Weise sowie Dauer und Inhalt der Mediennutzung des Kindes im Moment für irgendetwas hilfreich sein? Dazu gehören beispielsweise Entwicklungsaufgaben, Ablösungsprozesse, Kontaktanbahnung, Unglücksverarbeitung, Ablenkung oder die Entwicklung von Kreativität. Dementsprechend lassen sich durch die Beantwortung folgender Fragen viele Entscheidungen in Bezug auf den Umgang mit digitalen Medien vereinfachen: Welche Wünsche sind mit der angestrebten Mediennutzung verbunden? Lassen sich diese auch auf andere Weise erfüllen? Welche attraktiven, lustvollen, gemeinsamen Alternativen bestehen zur Medienzeit? Welche verantwortungsvollen Aufgaben meistert das Kind bzw. der Jugendliche zur Zeit? Welche Ansprüche stellen die Eltern an die Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes? Nach meiner Erfahrung gelten zwei nahezu banale Grundsätze:

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Grundsatz I Je früher sich Eltern über eine konstruktive Mediennutzung in der Familie Gedanken machen, desto einfacher wird es später. Grundsatz II Es ist nie zu spät, den Medienumgang nachhaltig günstig zu gestalten. Orientierung bieten auch die Ergebnisse der Resilienzforschung (vgl. Berndt 2013), also jener Forschung, die ergründen will, welche Faktoren für eine hohe psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber den Unbilden des Lebens sorgen. Wir brauchen Menschen, die uns gern haben und auf die wir uns verlassen können. Wir sollten uns für einen liebenswerten Menschen halten und respektvoll mit uns und anderen umgehen. Und wir sollten überzeugt sein, Probleme bewältigen und uns selbst steuern zu können. Daraus folgt als erste wichtige Aufgabe für Eltern: für eine gute Beziehung zu sich selbst und zum Partner zu sorgen. Die zweite wichtige Aufgabe ist die Gestaltung einer guten Beziehung zum Kind. In Bezug auf die Stressbewältigung sollten wir lernen, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können und eine klare Trennung von Beruf und Freizeit vornehmen (uns beispielsweise nicht abends von den elektronischen Endgeräten vereinnahmen lassen). Stress ist als Ansporn und Energie für Kreativität und Produktivität natürlich wichtig – er wird dann ungünstig, wenn er zu lange anhält und nicht mehr ausreichend durch Müßiggang, Bewegung und Entspannung abgelöst wird. Auch eine ständige Reizüberflutung führt zu Stress. Wir sollten uns auf das besinnen, was uns wichtig ist, und mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Der Schlüssel zu seelischer Stärke ist das Bindungserleben – wir brauchen Bezugspersonen, die auf unsere Bedürfnisse reagieren, Grenzen setzen und Orientierung bieten, Geborgenheit geben, Fähigkeiten fördern, Fortschritte anerkennen und uns unabhängig von Leistung und Wohlverhalten lieben. Das Erziehungsklima sollte warm und akzeptierend sein, Normorientierung und Kontrolle bieten, dosierte Anforderungen und Verantwortung ermöglichen (vgl. Juul und Lauritsen 2012). Kinder und Jugendliche auf einen nachhaltig hilfreichen Umgang mit digitalen Medien vorzubereiten, ist unbestreitbar eine besonders wichtige Erziehungsaufgabe. In Familien, in denen sich eine ungünstige Nutzung etabliert hat, wurde dies oft über eine lange Zeit nicht gesehen oder die Eltern fühlten sich damit von Beginn an überfordert. Kinder und Jugendliche verhalten sich solange „auffällig“ bis sie ihren Bedarf an Zuwendung und Autonomieentwicklungsmöglichkeiten als gestillt erleben.

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Sie lernen vor allem von den Beziehungen ihrer Eltern: zu sich selbst, zum Partner, zu deren Eltern, Freunden und Bekannten und zur Welt. Die entscheidende Erziehungsfrage heißt also: Wie geht es den Eltern mit sich selbst? Welche Hoffnungen verbinden sie mit dem, was sie tun? Welches Interesse haben sie an ihren Mitmenschen und neuen Eindrücken? Welche Ängste sind ihre Begleiter? Worin können sie den Sinn ihres Lebens erkennen? Eltern könnten sich fragen, wie viel Zeit sie selbst in Ihrer Freizeit mit digitalen Medien verbringen. Wann, wie lange und was genau sie tun. Warum sie gerade dafür digitale Medien nutzen und was das Bereichernde an ihrer Mediennutzung für sie ist. Die Stärkung des Selbstbewusstseins und die Verringerung der Ängstlichkeit ist die beste Prophylaxe in Bezug auf eine ungünstige Mediennutzung. Wer sich in der Welt geborgen fühlt, besitzt Vertrauen in die Unterstützung durch andere und kann sein eigenes Selbstvertrauen entwickeln. Kinder sehen bei ihrer Mediennutzung oft v. a. den Spaß. Sie treffen Gleichgesinnte, erfahren Belohnung und Anerkennung. Auf Dauer etabliert sich jedoch mitunter eine nachhaltige Leere. Wichtige Bedürfnisse können dann nicht vollständig ausgelebt werden: die Entdeckung weiterer Begabungen, Grenzerfahrungen und die Stärkung des Selbstvertrauens. Hinweise auf eine ungünstige (mitunter süchtige) Entwicklung sind ständige Übermüdung, Unkonzentriertheit, unsicheres Auftreten, Einschränkung der aktiven Hobbys, einsame Mahlzeiten vor einem Bildschirm, Kontrollverlust, schwindendes Interesse am Familiengeschehen, verringerter Kontakt zu Freunden und Bekannten, schwindendes Interesse an der Entwicklung eigener Fähigkeiten. Je spannender und reichhaltiger das Leben ist, desto weniger verführen digitale Medien. Eine erfolgreiche Navigation im Virtuellen erfordert Orientierung und Regeln (wie bei allem gemeinschaftlichen Handeln) – als Bedingung für die Freiheit. Regeln funktionieren nur auf der Grundlage funktionierender Beziehungen. Umso älter die Kinder sind, umso mehr sollten sie in die Regelvereinbarungen einbezogen werden. Für einen entspannten familiären Umgang ergeben sich daraus einige grundsätzliche Empfehlungen (vgl. Scholz 2016): 1. Das Wichtigste ist der Kontakt, die Verbindung, die regelmäßige Kommunikation und das Verständnis für die Anforderungen, denen sich das Kind bzw. der Jugendliche ausgesetzt sieht. 2. Eltern sollten den Mut aufbringen, sich selbst zu hinterfragen: Wie versuche ich, mein Glück zu finden? Wie pflege ich meine Beziehungen? Wie anregend gestalte ich meine Freizeit? Wie erfüllend ist mein Beruf?

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3. Als Eltern ist es bedeutsam, sich die grundsätzlichen Intentionen und den emotionalen Gewinn des Kindes beschreiben zu lassen und zu versuchen, es zu verstehen. 4. Es ist hilfreich, wenn Eltern den eigenen Umgang mit Computer, Internet, Tablet, Smartphone und Fernseher für sich immer wieder prüfen. 5. Gemeinsame Regeln mit Konsequenzen können in der Familie lustvoll festgelegt werden – für ein bereicherndes Miteinander und Leben – nicht gegen die Medienwelt. 6. Der regelmäßige Abgleich, welche virtuellen und haptischen Neuentdeckungen gut und angenehm waren und wie die Rahmenbedingungen für eine förderliche Entwicklung gestaltet werden können, ist oft sehr nützlich. Die Aufgabe eines Familienberaters oder -begleiters wäre dementsprechend die Unterstützung der Familie bei der Umsetzung dieser Punkte. So anspruchsvoll und kreativ dieser Prozess sein kann, so humorvoll und zuversichtlich sollte er gestaltet werden. Zur elterlichen Selbstreflexion könnten beispielsweise folgende Fragen genutzt werden: Wie steuern Sie selbst Ihre emotionalen Berg- und Talfahrten? Wie beruhigen Sie sich, wenn mal wieder alles zu viel wird? Wie werden Sie Ihre innere Unsicherheit für einen Moment am besten los? Wie können Sie entspannen, wenn Sie sich durch Ihren Partner oder Ihre Kinder gestresst fühlen? Auf welche Weise verlängern Sie den Zustand der inneren Balance und Zufriedenheit? Wie erlebt Ihr Kind Ihren Umgang mit Emotionen? Welche Möglichkeiten hat es für seinen emotionalen Drahtseilakt schon adaptiert? Welche Strategien werden gerade von Ihrem Kind entwickelt? Welche Rolle spielen Sie dabei? Welche Alternativen zur aktuellen Emotionssteuerung gibt es? Was könnte dazu in der Familie ausprobiert werden? Welche Menschen könnten noch einbezogen werden? Woran hätten alle in der Familie für einen Moment so viel Spaß, dass sie alles andere vergessen würden? Angenommen, Eltern vermuten, dass das Verhalten ihres Kindes suchtartige Züge aufweist, könnte ein Berater Bezüge zum früheren Erleben der Eltern herstellen (vgl. Scholz 2014): Gab es in Ihrem Leben – oder im Leben eines Ihnen nahen Menschen – einmal eine Zeit, in der etwas trotz aller Widerstände von außen und sich abzeichnender negativer Folgen immer wieder in derselben Art getan wurde? Welche Gedanken gingen Ihnen – oder dem Betreffenden – damals durch den Kopf? Welche Gefühle waren bestimmend? Welche Unterstützung hätte es geben können?

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Kann Ihr Kind die möglicherweise ungünstigen Konsequenzen seines Handelns erkennen? Welche Haltung hat es dazu? Welche Menschen waren ihm vor der Phase der exzessiven Mediennutzung besonders wichtig? Welche Abwertungen und welche Ermutigungen erfährt Ihr Kind für sein aktuelles Verhalten? Für wie berechtigt halten Sie und Ihr Kind diese Statements? Was wäre hilfreich, um das Verständnis Ihres Kindes für Ihre Sorgen und Befürchtungen zu erhöhen? Auf welche Weise ließe sich Ihr Verständnis für die Ängste, Nöte und Hoffnungen Ihres Kindes vertiefen? Ähnliches ließe sich für die Strategien zur seelischen Balance der Eltern und des Kindes ergründen: Welche Zufluchtsorte nutzen Sie als Eltern? Wie oft ziehen Sie sich zurück? Wie gestalten Sie diesen Ort oder diese Situation? Welche Menschen laden Sie das eine oder andere Mal mit ein? Was ist für Sie das Entscheidende am Zufluchtsgefühl oder -erleben? Wie verteidigen Sie diesen Ort bzw. Zustand? Wie erlebt das Ihr Kind? Gibt es zwischen Ihnen als Paar Konfliktdauerbrenner? Wie erlebt Ihr Kind Ihre Lösungsversuche? Könnte es sich auf sein Geborgenheitsgefühl auswirken? Gelingt es Ihnen manchmal, Unstimmigkeiten mit abgekühltem Gemüt zu diskutieren? Wie gut gelingt es Ihnen, Ihrem Kind zu helfen, seine Konflikte zu lösen ohne dabei zu moralisieren? Welche Zufluchtsorte hat Ihr Kind? Wo fühlt es sich besonders wohl? Wohin zieht es sich zurück, wenn es ihm nicht gut geht? Wie gefährdet ist dieser Bereich? Welche Menschen können das Erleben eines Heimatgefühls verstärken? Welche Menschen irritieren dieses Erleben eher? Wie gelingt es Ihnen als Eltern, Ihrem Kind beim immer wieder neuen Finden seiner Zuflucht zu unterstützen? Was ließe sich eventuell dafür (noch mehr) tun? Was würde Ihr Kind sagen, wenn es nach seinem liebsten Ort gefragt wird? Was macht diesen Ort für Ihr Kind so besonders? Fällt ihm das Herstellen von Gemeinschaft eher leicht? Was ist das Besondere an Ihrem Kind? Wie erlebt es diese Besonderheit? Wie könnten Sie es von Zeit zu Zeit organisieren, dass es seine Besonderheit als Stärke erfährt? Da wir Menschen von Natur aus neugierig sind und viele demzufolge das Abenteuerliche lieben, könnte in der Beratung dieser Aspekt genauer untersucht werden: Was war für Sie in Ihrer Kindheit und Jugend besonders abenteuerlich? Wie haben Sie die Aufregung vor dem Unbekannten empfunden? War es eher ein freudiges Kribbeln oder ein etwas unbehagliches Angstgefühl? Auf welche Weise haben Sie Ihre Angst überwunden? Was waren Ihre Gedanken und Empfindungen nach einem bestandenen Abenteuer? Mit wem haben Sie Ihr größtes oder

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zweitgrößtes Abenteuer erlebt? Was verbindet Sie heute mit diesem Menschen? Erinnern Sie sich manchmal gemeinsam an die aufregenden Zeiten? Von welchem Ihrer Erlebnisse wäre Ihr Kind wahrscheinlich am meisten überrascht? Welche Abenteuer würde Ihr Kind Ihnen zutrauen? Welche abenteuerlichen Situationen haben Sie schon gemeinsam mit Ihrem Kind gemeistert? Was glauben Sie, wie Ihr Kind an diese Momente zurückdenkt? Welche Abenteuer möchte Ihr Kind vielleicht irgendwann einmal in seinem Leben bestehen? Auf welche Weise werden Sie es dabei unterstützen können? Welche kleinen und großen Abenteuer besteht Ihr Kind gerade? Was hat es in letzter Zeit Unerwartetes entdeckt? Mit wem hat es Freundschaft geschlossen? Welche Bindung hat sich gerade überraschend wieder gelöst? Was hat es Neues erkundet und was hat sein forschendes Interesse geweckt? (Lassen Sie dabei alle haptischen und virtuellen Erlebnisse Revue passieren). Welches Abenteuer möchten Sie demnächst mit Ihrem Kind bestehen? Wie wird Ihr Partner dieses Vorhaben unterstützen? Wie werden Sie dieses Abenteuer vorbereiten? Werden noch andere dabei sein? Wie ließe sich die Abenteuerlichkeit des Vorhabens bis zum Äußersten vergrößern – ohne dass es unabsehbar gefährlich wird? (Trauen Sie Ihrem Kind mindestens so viel zu wie Sie sich selbst zutrauen würden!). Punkt 4 der Empfehlungen ließe sich folgendermaßen diskutieren: Wie beeinflusst die Mediennutzung Sie selbst? Welche wünschenswerten Eigenschaften werden gefördert, welche eher eingeschränkt? Unter welchen Umständen scheint Ihnen ein Eintauchen in die virtuelle Welt ­(einschließlich Smartphone und Fernseher) als beste aller Möglichkeiten? Wann geht es Ihnen danach besonders gut? Aus welchen Gründen würden Sie rückblickend Ihre Bildschirmmedienzeit lieber für andere tolle Dinge genutzt haben? Für die Erziehung spielen gesellschaftliche Werte ebenfalls eine wichtige Rolle. Im Industriezeitalter brauchte die Gesellschaft disziplinierte, folgsame und pünktliche Arbeitskräfte. Das Erziehungsideal wurde dementsprechend auf diese Werte ausgerichtet. Welche menschlichen Eigenschaften und Überzeugungen wären für das Fortbestehen der modernen kapitalistischen Gesellschaft günstig? Welche zu vermittelnden Werte würden dem entsprechen? Welche aktuellen Erziehungsziele ergeben sich daraus?

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Was denken Sie über diese Ziele? Welche Erziehungsziele verfolgen Sie als Elternteil? Wie wichtig ist Ihnen Ihre Beziehung zu Ihrem Kind – als wichtige Grundlage seines Werdens? Wodurch wäre eine förderliche Beziehung charakterisiert? Wäre Erziehung einfacher, wenn Sie über einiges etwas weniger erschöpfend nachzudenken versuchten? Wie wichtig waren für Sie Naturerfahrungen? Auf welche Weise gönnen Sie diese Ihrem Kind? Neben dem ehrlichen Ausloten von gesellschaftlichen Dimensionen im Beratungskontext gehört für mich ebenso die Betrachtung der konkreten Vorstellungen von Glück und Sinn: Worauf möchten Sie in fünf Jahren zurückschauen? Was wird Sie besonders gestärkt haben? Welche Momente werden besonders wichtig gewesen sein? Woran sind glückliche Momente zu erkennen? Wer hat in der Familie zurzeit die meisten Glücksmomente? Wie werden diese organisiert? Was ist dabei hilfreich? Woran sind glückliche Menschen zu erkennen? Welche Ihrer eigenen Aktivitäten tragen zum Wohlergehen welcher Menschen bei? Welche sinnvollen Aktivitäten haben Sie schon aufgeschoben? Warum? Bei welchen Herausforderungen haben Sie manchmal das Gefühl, sie nicht meistern zu können? Was wäre hilfreich? Welche Unterhaltungen der vergangenen Wochen (Monate) waren besonders bedeutsam? Woran lässt sich die Wichtigkeit erkennen? Was hat wer heute oder gestern für sich und andere getan, dass er sagen könnte, es war ein sinnvoller (guter) oder glücklicher Tag? Konzentrieren wir uns darauf, was das Erleben von Liebe eher verstärkt und irrationale Ängste eher verringert. Dann wird es möglich, die Brauchbarkeit virtueller Aktivitäten im Hinblick auf Umfang, Frequenz und Inhalt abzuschätzen. Abschließend nach diesen eher inhaltlichen Aspekten werden einige Übungen, Abenteuer und Forschungsaufträge beschrieben, die von Beratern und Therapeuten mit Familien besprochen und ggf. vorbereitet und ausgewertet werden können.

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Das Internet heizt die Ungeduld an. Wir verlernen das Warten. Geschieht etwas nicht sofort, werden wir unruhig oder fühlen uns gereizt. Unser Körper wird unnötigerweise in einen Alarmzustand versetzt. Wenn wir über ausreichend Geduld verfügen, können wir uns diese überflüssigen Stresszeiten ersparen. Aus dem Warten-Können kann sich darüber hinaus sogar große Stärke entwickeln. Da Geduld trainiert werden sollte wie ein Muskel, hier die Anregung zu einer täglichen Geduldsübung – online und offline. Online 1. Wählen Sie eine mediale Tätigkeit, die Sie mehrfach täglich ausführen: z. B. Check von Gesprächsnachrichten oder eines E-Mail-Postfaches, Nutzen eines Nachrichten- oder Kaufportals. 2. Legen Sie für sich maximal 3 Zeiten pro Tag fest, zu denen Sie künftig in dieser Form medial aktiv werden. Dies können Sie auch durch die Nutzung von Software bzw. Apps, die Ihren Internetzugang für eine festgelegte Zeitdauer kappen, unterstützen. 3. Wenn Sie aus guter alter Gewohnheit auch zu weiteren Zeiten den entsprechenden medialen Drang verspüren: entspannen Sie sich, atmen Sie tief durch und genießen Sie, dass Sie jetzt noch Zeit für etwas anderes Schönes haben. (Schalten Sie in jedem Fall die Nachrichten-Töne auf Ihrem Handy oder Computer ab – die ständige Ablenkung ist Gift für Aufmerksamkeit und Produktivität). 4. Wenn Sie erleben, wie gut Ihnen diese Entschleunigung tut, können Sie mit einer weiteren Verringerung der täglichen Anzahl experimentieren. Offline 1. Wählen Sie eine (regelmäßig wiederkehrende) Situation, die Ihnen meist mehr Geduld abverlangt als Sie in dem Moment besitzen: z. B. bei kleinen Kindern – das Wartenkönnen beim Anziehen, bei 9–14jährigen – das Wartenkönnen auf das Erledigen von Haushaltspflichten, bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen – Geduld beim Abschluss von benannten Vorhaben oder beim Finden des eigenen Weges. 2. Jedes zweite Mal, wenn der Unmut in Ihnen wieder wächst, sagen Sie sich: das nächste Mal ärgere ich mich schon jetzt – und zwar mit voller Kraft, aber heute bin ich frei. Heute gönne ich mir diesen Moment, um mal ganz in Ruhe auf die Welt da draußen oder die Welt in mir zu schauen. Welche guten Begegnungen sind heute möglich? Was werde ich am Ende dieses Tages alles erlebt haben?

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3. Beobachten Sie, wie sich Ihre gezeigte Geduld auf Ihre Beziehungen auswirkt. Experimentieren Sie mit dem Wartenkönnen in weiteren Bereichen Ihres Lebens: in Bezug auf den Partner, auf Freunde oder die Arbeit. Dabei kann es anfänglich durchaus noch etwas kribbeln (Sie sind ja eigentlich nicht der geduldige Typ). Interpretieren Sie es als Vorfreude auf ein gelasseneres und genussvolleres Leben. 4. Versuchen Sie, sich für einen Moment in die Lage Ihres Gegenübers – v. a. Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes – zu versetzen. Wie sieht die Welt mit den Augen Ihres Gegenübers aus? Welche momentanen Nöte erlebt sie oder er gerade? Welches Bedürfnis kommt zu kurz, sodass Ihre Geduld so strapaziert wird? Feiern Sie sich am Abend für eine gelungene Geduldsübung, ein gutes Gespräch mit Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn, ein harmonisches Abendessen, die gelungene Zubereitung einer Speise, … Abenteuer 1 Weltentdeckung Wenn wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, unsere Umgebung achtsam wahrzunehmen, werden wir viel mehr von der Welt entdecken. Jeden Moment könnte sich eine neue Frage ergeben, die es zu untersuchen lohnt. 1. Nehmen Sie sich 5 min Zeit. 2. Schauen Sie sich um oder aus dem Fenster. Wählen Sie einen Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier oder eine Naturerscheinung und denken Sie drei Minuten darüber nach. 3. Formulieren Sie eine Frage, die Sie sich so noch nie beantwortet haben. 4. Loben Sie die Fragestellung als familiären Forschungsauftrag der nächsten 1 bis 2 Wochen aus. 5. Entscheiden Sie, ob jeder für sich forscht oder alle gemeinsam. Bei gemeinsamer Forschung könnte jeder eine andere Quelle auswerten (ggf. eigene Beobachtung mit Hilfsmitteln – z. B. Smartphonekamera, Anfrage an Bekannte, Bibliothek, Internet, Anfrage bei Ämtern usw.). 6. Feiern Sie die Beantwortung als neue Entdeckung. Hier einige Anregungen: Wie entsteht heute Papier? Warum schnurrt eine Katze und wie erzeugt sie den Schnurrton? Wie viel Energie verbraucht eine Suchmaschinenanfrage?

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Wie schwer ist eine Wolke? Wie heiß wird ein Googleserver? Wie viel Wasser(dampf) kann maximal in einem Kubikmeter durch die Luft schweben? Welche Form haben Regentropfen? Wie viele Server muss eine Mail im Durchschnitt passieren, bis sie ankommt? Wie verteilt sich ein Tropfen Milch im Kaffee? Wie schwer ist ein Spatz? Wie viele Zellen hat ein Apfel? Wie viel Energie verbrauchen derzeit alle Mobiltelefone zusammen auf der Welt? Welche Tierart wurde als letztes entdeckt? Wie viele verschiedene Tiere und Pflanzen leben auf einem Quadratmeter im eigenen Garten oder auf der nächsten Wiese? Ist eine unbekannte Art darunter? Abenteuer 2 Familienemotionsforschung Wie in allen Beziehungen geht es allen Familienangehörigen mal besser und mal weniger gut miteinander. Bewusst wahrzunehmen, welche Voraussetzungen eher zum einen oder anderen Zustand führen, hilft, sich gelassen immer wieder aufeinander einzulassen. 1. In welcher Stimmung sollte wer mindestens eine halbe Stunde in Ruhe gelassen werden? 2. Bei welchen gemeinsamen Aktionen fühlen sich (meist) alle wohl? 3. Wem gelingt es, besonders behutsam mit den anderen umzugehen? 4. Wie erhebend ist es für wen, wenn eine Herausforderung gemeistert wurde? Wie lässt sich das gemeinsam feiern? 5. Wann ist es gut, Unterstützung anzubieten? 6. Wer erlebt derzeit die meisten Abenteuer? 7. Welche kleine oder größere Krise wurde zuletzt gemeistert? Wie ist das gelungen? 8. Wer hat die tollsten Konfliktlösungsstrategien? Was könnten andere davon übernehmen? 9. Welche Herausforderung, welches Abenteuer könnte die Familie demnächst erwarten? Mit welchen Gefühlen wird das für den Einzelnen verbunden sein? Forschungsauftrag 1: Spielkreationen Es gibt unzählige großartige Computerspiele, Brettspiele, Kartenspiele, Bewegungsspiele, Denkspiele, Sportspiele usw. Und doch sind die selbst kreierten

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oder modifizierten für eine Weile die besten. Als Kind haben Sie sicher auch das eine oder andere Spiel mit Freunden gespielt, das so in keinem Spielebuch steht. Wie ging das noch? Und wie haben Sie es erfunden? Ein möglicher Weg für die Kreation eines Spieles: 1. Spielumgebung festlegen – Wiese, Wald, Hof, Wohnung, Tisch etc. 2. Spielart festlegen – Abenteuer, Bewegung, Denken, Geschicklichkeit, Rätsel, Konstruktion, Strategie, Glück etc. 3. Was könnte von den zur Verfügung stehenden Materialien verwendet werden? 4. Welche Dinge in der Umgebung bekommen eine andere Bedeutung oder Funktion? 5. Wird ein Spielfeld benötigt? Welche Elemente soll es enthalten? 6. Welches Ziel soll erreicht werden? 7. Welche Mitspieler spielen miteinander, welche gegeneinander? 8. Welche Vorbereitungen sind noch zu treffen? Forschungsauftrag 2: Spieltests Im Freien bestimmen die Gegebenheiten die Art der Spiele: Balancierspiele, Wurf- und Fangspiele, Kletter- Rangel- oder Versteckspiele. Auf Reisen oder innerhalb von Räumen mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit können Denk- oder Aufmerksamkeitsspiele ein wunderbarer Zeitvertreib sein. Hier einige Anregungen: 1. Ein Aufmerksamkeitsspiel. Jeder Mitspieler merkt sich für eine Minute alle möglichen Dinge seiner Umgebung und/oder Beobachtungen aller Art. Anschließend notiert jeder in zwei Minuten, was er sich gemerkt hat. Dann werden die Listen ausgetauscht und Stichpunkt für Stichpunkt reihum wechselnd verlesen. Für jeden gültigen Stichpunkt erhält der Mitspieler einen Punkt. 2. Kombinationsspiele. Fußball auf dem Tennisplatz – nach selbstgewählten Regeln. Segelscheibe über ein Volleyballnetz. Jump- and Run-Spiele (Computerspiele, bei denen man hauptsächlich springt und läuft und dabei Hindernisse überwindet) in der freien Natur mit einem natürlichen oder inszenierten Parcours. Im Spiel können wir einen Ausgleich zu den produktiven Phasen unseres Lebens spüren. Während wir spielen müssen wir nichts schaffen – wir dürfen einfach nur sein. „Wir sind hier, um Freude zu haben und zu spielen – das ganze Leben

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hindurch. Spielen ist nicht nur Zeitvertreib für Kinder. Es ist unsere Lebenskraft. Spielen erhält uns im Herzen jung, gibt uns Motivation für unsere Arbeit und hilft uns in unseren Beziehungen“ (Kübler-Ross und Kessler 2003, S. 177). Also spielen Sie, so oft Sie können. Mal virtuell und mindestens so häufig mit möglichst vielen haptischen Komponenten.

Literatur Berndt, C. (2013): Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. München (dtv). Hüther, G. & H. Renz-Polster (2013): Wie Kinder heute wachsen. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Weinheim und Basel (Beltz). Juul, J. & P. W. Lauritsen (2012): Frag Jesper Juul. Gespräche mit Eltern. Weinheim/Basel (Beltz). Kübler-Ross, E. & D. Kessler (2003): Geborgen im Leben. München (Knaur). Powers, R. (2002): Schattenflucht. Frankfurt a. M. (S. Fischer). Scholz, D. (2014): Systemische Interventionen bei Internetabhängigkeit. Heidelberg (Carl Auer). Scholz, D. (2016): #Familie. Entspannter Umgang mit digitalen Medien. Heidelberg (Carl Auer).

Den digitalen Wandel begleiten – Medienspezifische Prävention als Aufgabe einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle Mathias Berg und Ursula d‘Almeida-Deupmann Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt die Entwicklungen einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle, die ihr Beratungsangebot dauerhaft und stärker auf den Themenkomplex „digitale Medien“ ausgerichtet hat. Einleitend wird aufgezeigt, dass eine thematische Beschäftigung mit digitalen Medien und ihren Potenzialen für die Erziehungsberatung eine Folge der anhaltenden Veränderung der familialen Lebenswirklichkeit darstellt. Beispielhaft werden sodann vier Entwicklungen und Angebote innerhalb der Beratung beschrieben: Mediensprechstunden, Elterntreffen, Netzwerkarbeit und Klassenstunden. Das Konzept der präventiven Klassenstunden, als medienpädagogische Gruppenarbeit mit einer Schulklasse, wird dabei detaillierter vorgestellt und seine Auswirkungen für die Beratungstätigkeit reflektiert. Schlüsselwörter

Digitale Medien · Erziehungsberatung · Prävention · Medienpädagogik ·  Familienberatung · Mediatisierung · Smartphone · Schule

M. Berg (*) · U. d‘Almeida-Deupmann  Caritas Erziehungs- und Familienberatung, Kerpen, Deutschland E-Mail: [email protected] U. d‘Almeida-Deupmann E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_15

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1 Einleitung Der digitale Wandel ist gesellschaftlich in vollem Gange. Auch wenn digitales Arbeiten in Beratungsstellen und Bildungseinrichtungen wie Schulen bisweilen nur partiell und dosiert Einzug zu halten scheint, spielt sich in der privaten Wirklichkeit der Fachkräfte, wie auch in der von Schülerinnen und Schüler, längst ein vielschichtiger digitaler Konsum sowie eine digitale Kommunikation ab (vgl. Eggert/Schubert i. d. Band; Hugger 2014). Erziehungs- und Familienberatung (EB) ist dabei als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in unterschiedlicher Weise mit der Digitalisierung der Lebenswelt ihrer Adressat*innen beschäftigt (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. [BKE] 2012; Berg/Sawatzki i. d. Band). In diesem Beitrag interessieren uns vor allem die Auswirkungen der Digitalisierung in Form von Mediatisierung des Alltags von Familien – Kindern, Jugendlichen und Eltern und die präventiven Möglichkeiten im Rahmen der Praxis einer Beratungsstelle. Beispielhaft wird daher das Konzept der präventiv ausgerichteten Klassenstunden vorgestellt, welches in einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle entwickelt und erprobt wurde.

2 Die digitale Wirklichkeit von Schüler*innen in Deutschland Zwei nicht unrealistische Szenarien: Erster Fall – Im fünften Schuljahr einer Gesamtschule, eine neue Klasse findet sich zusammen. Nicht nur im Unterricht, auf dem Schulhof, in den Pausen, sondern auch und vor allem in den sozialen Medien. Schätzungsweise 90 % der Schüler*innen nutzen auf ihrem Smartphone WhatsApp, Instagram, Snapchat und Co. – um sich untereinander zu vernetzen, sich zusammen zu tun, aber auch abzugrenzen, einzelne zu blockieren und wieder neue Gruppen zu bilden. Zweiter Fall – Sechstes Schuljahr einer Realschule, in der Pause wird ein Smartphone herum gereicht, auf dem ein Horrorvideo abgespielt wird. Ein Schüler hat es zugeschickt bekommen, und zwischen Entsetzen und Faszination kommen einige Mitschülerinnen und Mitschüler nicht davon ab sich das Video anzusehen. Anderen reicht schon ein kleiner Blick und das gerade gezeigte Horrorbild bleibt im Kopf hängen. Schlaflose Nacht, Ekelgefühle, die Angst das Bild nicht mehr loszuwerden, plagt das ein oder andere Kind. Aktuellen Studien zufolge besitzen 97 % der Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ein Smartphone. In der Alterskategorie der 6- bis 13-jährigen, bei den älteren Kindern, immerhin mehr als die Hälfte (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest [MPFS] 2017, 2018). Die Zahlen sowohl der

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JIM-Studie als auch der KIM-Studie zeigen weiterhin, dass eine Beschäftigung mit digitalen Medien (Smartphone/Handy, Online-Videos, digitale Spiele, Musik hören via Internet) einen großen Stellenwert im Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen besitzt. Das Smartphone ist dabei sowohl bei Mädchen (88 %) als auch bei Jungen (71 %) das am häufigsten eingesetzte Gerät um das Internet zu nutzen, noch weit vor anderen Geräten wie Computer, Laptop oder Tablet. Smartphones spielen heute in nahezu allen bedeutsamen Lebensbereichen von jungen Menschen – aber auch von vielen Erwachsenen – eine gewichtige Rolle, insbesondere in der Familie (vgl. Wagner et al. 2016) und machen diesbezüglich auch nicht vor schulischen Bereichen halt1. Schulen und Bildungsministerien haben dabei noch keine einheitliche Digitalisierungsstrategie entwickelt und schwanken zwischen der (kreativen) Nutzung von mobilen Digitalgeräten im Unterricht bis hin zu einem Teil- oder Komplettverbot von Smartphones. Unabhängig davon werden Mobiltelefone von ihren jungen Besitzern sowohl als (Status-)Symbol genutzt sowie als alltägliches Kommunikationsgerät, welches für die Digital Natives auch bei Nichtanwesenheit von immenser Bedeutung ist (vgl. Schulz 2014). Wenn Schulen, Lehrer*innen und Eltern aufgrund des Umgangs der Kinder und Jugendlichen mit Sozialen Netzwerken und Messenger-Apps (z. B. WhatsApp), mit Videoportalen wie YouTube und Netflix oder mit Online-Games und digitalen Spielen an Grenzen stoßen, suchen Sie in vielen Fällen den Kontakt zu einer Beratungsstelle. Der Umgang mit solchen Anliegen und Problemkonstellationen ihrer Adressat*innen gestaltet die EB durchaus unterschiedlich (vgl. Felling 2018; Wahl 2011). Grundsätzlich sind Beratungsleistungen immer individuell angepasst und situationsgerecht ausgerichtet. Demnach ist es für das Vorgehen der Fachkraft von entscheidender Bedeutung, ob es sich bei dem Problemanliegen um exzessives Medienverhalten, Cybermobbing oder Fragen nach Datenschutz und Alters- bzw. Nutzungsgrenzen von Medienangeboten für Kinder handelt. Dass Fragestellungen und Problemkonstellationen dieser Art im Kontext von Familienberatung zunehmen, kann als natürliche Folge der Digi­ talisierung und Mediatisierung der Kindheit verstanden werden (vgl. Tillmann 2014). Die derzeitige Elterngeneration darf immer noch in wesentlichen Teilen als Digital Immigrants bezeichnet werden, die bezüglich digitaler Medien nur mit wenigen Kenntnissen, geschweige denn tief reichenden eigenen Erfahrungen ausgestattet ist. Unsicherheiten in pädagogischem und elterlichem Handeln sind

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sei denn es besteht ein generelles Verbot für Smartphones und Handys an Schulen wie dies in Bayern beschlossen wurde (vgl. https://www.km.bayern.de/eltern/was-tun-bei/rechte-und-pflichten.html).

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häufig die Folge. Doch auch die Kinder und Jugendlichen selbst können, wie das Beispiel eingangs des Textes verdeutlichen sollte, innerhalb der digitalen Welt – so wie im Leben jenseits digitaler Medien auch – verunsichert, ausgegrenzt, bedroht, gemobbt, gehasst, geliebt, gefeiert, bestärkt und vieles mehr werden. Der teilweise destruktive und exzessive Gebrauch von digitalen Medien, lässt dann nicht nur Eltern ratlos zurück, auch die jungen Menschen selbst wirken bei Problemen dieser Art stark belastet, suchen nach Orientierung und kompetenter Hilfe. Die Caritas Erziehungs- und Familienberatung Kerpen registrierte seit längerem entsprechende Bedarfe ihrer Adressat*innen auf lokaler Ebene und initiierte innerhalb des Teams der Beratungsstelle im Jahr 2010 eine Arbeitsgruppe Digitale Medien. Damit reagierte die Institution auf die veränderten und sich in ständiger Veränderung befindlichen Familienwelten indem medienspezifische Präventionsangebote entwickelt und in den Leistungskatalog der Beratungsstelle aufgenommen wurden. Im Zuge der Arbeit dieser Fachgruppe, zu der auch die Autorin und der Autor selbst gehören, etablierten sich einige Tätigkeiten und Angebote über einen längeren Zeitraum hinweg, weshalb diese im Folgenden näher vorgestellt werden sollen.

3 Präventive Angebote zu digitalen Medien als Reaktion auf veränderte familiale Realitäten Prävention gehört neben anderen Tätigkeiten (vgl. Scheuerer-Englisch 2018) zu den basalen Aufgaben der EB (§ 16 SGB VIII). Dabei kann schon Beratung in der Jugendhilfe selbst, ihrem Wesen nach, als präventive Maßnahme angesehen werden. Vossler und Seckinger konkretisieren allerdings: „Angebote in den Bereichen Prävention und Information sind in der Regel einzelfallübergreifend angelegt und werden in unterschiedlicher Form sowohl für Eltern als auch für Kinder und Jugendliche vorgehalten“ (2018, S. 173). Beispiele dafür können Angebote zur Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern oder Informationsangebote der EB in Schulen und Kindertagesstätten sein. Auch Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzungstätigkeit wird bisweilen im Rahmen einer Präventionsstrategie durchgeführt (ebd.). Die präventiven Tätigkeiten im Kontext digitaler Medien der Erziehungsberatungsstelle in Kerpen können dabei in vier Gruppen differenziert werden: Sprechstunden, Elterntreffen, Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Klassenstunden.

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3.1 Mediensprechstunden Das Konzept der offenen Mediensprechstunde fußt auf dem bereits etablierten wöchentlichen Angebot einer allgemeinen offenen Sprechstunde bei Erziehungsund Familienfragen. Die Mediensprechstunde soll das allgemeine Beratungsangebot der Beratungsstelle ergänzen und ein sichtbares Signal in Richtung der Adressat*innen senden. Das offene Gesprächsangebot findet dabei einmal monatlich statt und richtet sich sowohl an Eltern/Sorgeberechtigte und junge Menschen als auch an pädagogische Fachkräfte, die Fragen und Anliegen rund um das Thema digitale Medien haben. Inhaltlich gibt es innerhalb der offenen Mediensprechstunde keine fachlichen Beschränkungen oder thematische Grenzen. Ebenso wie sich thematisch nicht-gebundene Beratungsprozesse im weiteren Verlauf als medienspezifische Beratung entwickeln, werden in Mediensprechstunden Themen digitaler Medien verhandelt, aus denen sich, ab einem bestimmten Zeitpunkt grundsätzlichere Problematiken herauskristallisieren. Tendenziell nehmen wir jedoch wahr, dass die Mediensprechstunde häufiger als Möglichkeit der Einmalberatung zu digitalen Themen genutzt wird und Berater*innen vermehrt als Expert*innen für spezielle Fragen zur Mediennutzung (wie lange?, wie oft?, ab welchem Alter?, ist das noch normal/erlaubt?, wie sollen wir damit umgehen?) fungieren. Dazu hält die Beratungsstelle eine breite Palette an Informationsmaterial, Broschüren und Flyern bereit, welche die Adressat*innen über eine Vielzahl an Themen rund um digitale Medien kundig machen soll.

3.2 Medienpädagogische Elterntreffen Gruppenangebote für Eltern/Sorgeberechtigte, wie Elterntreffen und -abende, sind ein klassisches präventives Angebot von Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Die Intention ist dabei im Wesentlichen Eltern zu informieren sowie die niederschwellige Kontaktaufnahme mit Elternteilen, die potenziell Fragen zu einem bestimmten Thema haben. Thematische Elterntreffen im Spektrum digitaler Medien stellen in diesem Sinne ein besonderes Angebot der Beratungsstelle dar. Dabei werden häufige Fragen von Adressat*innen (z. B. aus medienspezifischen Beratungsprozessen) aufgegriffen und relevante Informationen für die Zielgruppe zusammengestellt. Elterntreffen werden in der überwiegenden Mehrheit dort durchgeführt, wo Eltern ihre Kinder betreut und beschult wissen, also in Kindertagesstätten, Schulen und offenen Ganztagsschulen. Sie können

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aber auch in anderen Einrichtungen wie Jugendzentren oder in der Beratungsstelle selbst angeboten werden. Häufig gibt es für ein medienpädagogisches Elterntreffen einen Anlass oder ein sonstiges Interesse, dass dann den Schwerpunkt des Vortrags bzw. der Präsentation bestimmt. So kann es sich z. B. um mobile Messenger-Apps wie WhatsApp, Instagram und Co. drehen, um Themen wie Jugendschutz im Internet oder um Empfehlungen für die pädagogische oder altersangemessene Nutzung von digitalen Geräten und Spielen. Die Liste ließe sich hier beliebig fortsetzen. Ersichtlich wird, dass Themenstellungen rund um digitale Medien häufig ineinandergreifen und dieselben Aspekte aus verschiedenen Richtungen berühren.

3.3 Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit Unerlässlich erscheint im Themenkomplex digitale Medien die Vernetzung mit anderen Institutionen und Arbeitskreisen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten und Auswirkungen von Medien beschäftigen. Dabei sind insbesondere die Vernetzungsaktivitäten in den Bereich der Suchtprävention und -hilfe zu nennen. Die problematische Nutzung digitaler Medien wird dort vor allem unter Perspektiven wie Onlinesucht, Internetsucht oder Computerspielabhängigkeit diskutiert. Partiell betreffen die Symptome auch die Beratung von Familien, weshalb ein Erfahrungsaustausch und vertrauensvolle professionelle Kontakte hier sinnvoll erscheinen. Dabei sind sowohl Kontakte zu lokalen Institutionen (z. B. örtliche Drogenhilfe) als auch in übergreifende Fachverbände geknüpft worden. Auch der Öffentlichkeitsarbeit kommt im Zuge von digitalen Medien eine entscheidende Rolle zu. Daher war es eines der Erfordernisse innerhalb der Arbeitsgruppe eine Strategie zur gezielten Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln. Infolgedessen wird die offene Mediensprechstunde der Beratungsstelle online beworben2 und es wurden zeitgemäße Flyer im Postkartenformat – in unterschiedlichen, gendergerechten Versionen für Kindertagesstätten, Grundschulen und weiterführende Schulen – angefertigt, die in all diesen Institutionen des Versorgungsgebiets der Beratungsstelle verteilt und ausgelegt wurden (vgl. Abb. 1). Ein weiteres Beispiel für eine gelungene Kombination aus Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit stellt der vor einigen Jahren entstandene Arbeitskreis Kerpen gegen Cybermobbing dar, welcher durch die Beratungsstelle mitinitiiert wurde und

2Vgl. https://www.beratung-caritasnet.de/eltern-kinder-und-jugendliche/erziehungs-und-familien-

beratung/unsere-beratung-vor-ort/familienberatung-in-kerpen/mediensprechstunde/.

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Abb. 1   Flyer/Postkarte (Vorderseite) der Caritas Erziehungs- und Familienberatung Kerpen zur Mediensprechstunde (Version für Kindertagesstätten)

an dem vor allem die Kerpener Schulen regelmäßig teilnehmen. Ende des Jahres 2017 ist so gelungen, dass sich in einer öffentlichkeitswirksamen Informationsveranstaltung zum Thema Cybermobbing mehr als 400 Teilnehmende in den Räumlichkeiten des Gymnasiums der Stadt Kerpen zusammenfanden.

3.4 Präventive Klassenstunden Das Konzept der präventiven Klassenstunden erscheint zunächst etwas ungewöhnlich im Tätigkeitsprofil einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle. Die Idee zu dieser Präventionsmaßnahme entstand, als Fälle – wie im obigen Beispiel skizziert – aus unterschiedlichen weiterführenden Schulen in der EB beträchtlich zunahmen. Bei der Bearbeitung dieser Beratungsfälle rund um die Nutzung von Sozialen Netzwerken und Messengern von Schüler*innen auf Smartphones, zeigten sich redundante Strukturen, sodass es sinnvoll erschien – auch aus systemischer Perspektive – mit mehreren beteiligten Schüler*innen zu

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arbeiten, anstatt nur die Betroffenen und deren Familien zu beraten (vgl. auch Klicksafe 2018). Das Konzept der von uns entwickelten Klassenstunden wird im Folgenden detailliert vorgestellt. Es handelt sich dabei um ein zugehendes Angebot für komplette Schulklassen, dass von uns bisher von der vierten Klasse in Grundschulen bis zur siebten Klasse in weiterführenden Schulen eingesetzt wurde, bei dem die Fachkräfte der EB mit den Klassenlehrer*innen gemeinsam in und mit der Klassengemeinschaft arbeiten.

4 Das Konzept der präventiven Klassenstunden Das für die Beratungsstelle entwickelte Angebot Klassenstunde – Smartphone und Co. wurde und wird kontinuierlich modifiziert und auf die Bedarfe der unterschiedlichen Schulklassen angepasst. Allen Klassenstunden gemeinsam ist, dass es darum geht, • mit Kindern ohne den moralischen oder pädagogischen Zeigefinger ins Gespräch zu kommen, • Kindern ein Forum zu bieten, bei dem die eigenen Erlebnisse unbedarft erzählt werden können, • Kindern bewusst zu machen, was durch die Nutzung der sozialen Medien passiert, • den Kindern Hintergrundabläufe im Internet verständlich und sichtbar zu machen, • Kinder auf Gefahren und vorgegebene Regeln im Internet aufmerksam zu machen, • Kindern Handwerkszeug mitzugeben, um mit nicht gewünschten Inhalten und Kontakten geschickt umzugehen, • der ganzen Klasse zu einer Netiquette zu verhelfen, also eine gemeinsame Verabredung im Umgang miteinander, wenn sie in den digitalen sozialen Medien unterwegs sind, • den Klassenlehrer*innen somit zu einem Start zu verhelfen, um die Kinder hilfreich im Umgang mit digitalen Medien zu begleiten, • den Lehrer*innen weitere praktische Anregungen für die gemeinsame Netiquette an die Hand zu geben. Praktisch werden diese Vorhaben in unterschiedliche Module übersetzt, die je nach Bedarf eingesetzt werden können und modifizierbar sind.

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4.1 Die Module Präventive Klassenstunden in Schulen werden grundsätzlich von zwei Berater*innen durchgeführt. Wie es gelingen kann gemeinsam zusammenzuarbeiten und sich zu ergänzen, können die Klassen so direkt am Vorbild erleben. Abgesehen davon sind die nachfolgend aufgeführten Module häufig für die Schulklassen eine ungewohnte Art der Zusammenarbeit. Die geforderte hohe Aufmerksamkeit und das didaktische Geschick lassen sich durch zwei Fachkräfte wesentlich besser erbringen, genauso wie durch zwei unterschiedliche Berater*innen die eigenen, unterschiedlichen Kenntnisse zu den umfangreichen digitalen Themen ergänzend genutzt werden können. Jede Schule und jede Klasse setzt sich anders zusammen. Entsprechend wurden durch uns im Vorhinein verschiedene Module entwickelt, die entsprechend der Fragen und Erlebnisse der Kinder und der ersten Eindrücke der Berater*innen eingesetzt werden können. Der folgende gemeinsame Austausch dazu fällt dann unterschiedlich umfangreich aus. Voraussetzung für die Durchführung einer Klassenstunde ist stets die Teilnahme mindestens der Klassenlehrer*in (zudem gelingt es häufig eine weitere Person, wie z. B. die Schulsozialarbeiter*in zu integrieren). Das Konzept geht dabei bewusst nicht von einer frontalen Arbeit an den Klassentischen der Schüler*innen aus, sondern nutzt den offenen Stuhlkreis, um teilweise stehend in Übungen oder auf imaginären Zahlenskalen im Raum zu arbeiten. Der Interventionszeitraum beträgt in der Regel 90 min, die für gewöhnlich jedoch kaum ausreichend sind. Die Klassenstunde dient für die Schulen als erste Einheit, um selbstständig und regelmäßig weiter an dem Thema zu arbeiten. Als Ergebnis wird immer eine schriftlich verfasste „Netiquette“ festgehalten. Im Folgenden sollen der Aufbau einer Klassenstunde und somit die einzelnen Module im Detail vorgestellt werden. 1. Warming up-Übung, um direkt interaktiv, live, miteinander und kommunikativ zu sein. Beispiele: A-So-Ko; 1-2-3; zick zack zoom. 2. Skalierungen oder auch „lebendige Statistiken“, indem die Kinder sich im Raum aufstellen. Dazu geben die Berater*innen Inhalte vor: „Wer besitzt ein Smartphone, wer nicht? Wie viele Nachrichten pro Tag bekommt ihr ungefähr?“ Nachfragen seitens der Berater*innen gelten vor allem der Zufriedenheit der Kinder. Während manchmal die Kinder dabei Konkurrenzen aufleben lassen (protzen mit den meisten Nachrichten pro Tag), ist es für die Fachkräfte wichtig, selbst komplett neutral zu den Einordnungen der Kinder zu bleiben. Wer stolz auf viele Nachrichten ist, darf dies sein. Wer froh ist, in

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keiner Social-Media-Gruppe zu sein oder von den Eltern aus noch kein eigenes Smartphone besitzen und nutzen zu dürfen, wird damit genauso akzeptiert. Die Aufgabe der Berater*innen besteht darin, den Kindern aufzuzeigen, dass alles in Ordnung ist, solange sie selbst damit zufrieden umgehen können. 3. Analoges Netzwerk in Sozialen Medien. Mithilfe von verschiedenfarbigen runden Moderationskarten legen die Berater*innen stellvertretend für typische Gruppen in sozialen Netzwerken einige Kreise auf den Boden (z. B. blaue für die Hausaufgaben- oder Klassengruppe, rote für die Familiengruppe, gelbe für die Vereinsgruppe, weiße für die Freundschaftsgruppe, usw.). Das, was unsichtbar im Internet mit den Nachrichten passiert, wird nun anhand von kleinen vorbereiteten Zettelchen dargestellt. Darauf abgebildet ein Emoji, ein Wort oder ein Bild als Nachricht. Stellvertretend wird diese Nachricht auf die Karten gelegt und landet bei den anderen Gruppen. Als Server dient sinnbildlich ein großes Glas, in das jeweils auch ein gleiches Zettelchen geworfen wird. Die sichtbare vereinfachte Version, wie Nachrichten weiter wandern, führt zu vielen Gesprächen rund um das Thema: – Positive/Negative/Bilder-Nachrichten: „Ich weiß nicht mehr, was in den nächsten Gruppen mit meiner eigenen Nachricht passiert. Wie kriege ich doch Einfluss? Wo habe ich keinen mehr?“ – Server: Daten werden über Jahre gespeichert. Wären die Kinder als Erwachsene auch noch einverstanden, was damals geschrieben/gepostet/ gesendet wurde? – Erfahrungen der Schüler*innen treten zutage. Wie sie selbst in der Klasse Ausgrenzungen erlebt haben. Wer warum wen blockiert hat. Wie die Einzelnen sich dabei gefühlt haben. Erstaunlich offen legen die Kinder die gemeinsamen Erlebnisse dar. 4. Als weiteres Symbol wird die gezeichnete Darstellung eines Smartphones auf Papier an die Klassentür geheftet. Damit wird das Internet symbolisiert: sobald ich damit verbunden bin, ist es wie ein Türöffner zur Welt. Sichtbar öffnen und schließen die Berater*innen die symbolische Internet-Tür und vergleichen es mit der eigenen Haus- bzw. Wohnungstür. „Warum wird sie geschlossen? Wer muss darauf aufpassen? (meistens die Eltern). Wie wäre es, wenn sie immer aufstünde?“ Die Übertragung auf die Welt im Internet gelingt den Kindern sehr schnell. In der Folge erzählen die Kinder den Berater*innen häufig, wie sie schon fremde Nummern in gemeinsamen Chatgruppen fanden. Dass sie Kettenbriefe mit scheußlichen Drohungen und Angstmacherei erhielten. Gemeinsam erarbeitet die Gruppe nach Aufforderung der Fachkräfte dann dazu gute Ideen, um sich zu schützen. Die Kinder tragen erstaunlich viel selbst bei, dass sie z. B. sofort Ihren Eltern Unangenehmes zeigen, dass sie

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Kettenbriefe sofort löschen, dass die Erwachsenen sichere Seiten eingerichtet haben. Die Berater*innen eröffnen nun auch weitere Fragen, wie z. B.: „Nachdem wir nun viel mehr wissen, wer sagt im Nachhinein, ich habe etwas ins Netz gestellt oder weitergeschickt, was ich besser nicht geschickt hätte? Wer traut sich zu sagen, was es war…“ Auch dabei zeigen die Kinder eine große Offenheit. Es wirkt wie entlastend, dass auch Erwachsene, wie auch sie selbst, Fotos gesendet und geteilt haben oder Nachrichten geschickt haben, für die sie sich im Nachhinein schämen. Auch dazu überlegt die Klasse gemeinsam, was heute möglich ist: die Nachricht selbst löschen, die Freunde persönlich ansprechen und darum bitten es zu löschen und auf keinen Fall weiter zu schicken. Im weitern Verlauf des gemeinsamen Austauschs ranken sich die Themen um Feststellungen der Kinder wie: – Was wir im Netz machen, ist viel öffentlicher als gedacht. – Die Reaktion des Gegenübers bekomme ich nicht direkt mit, Mimik und Gestik gar nicht. (Überrascht hat uns immer wieder, dass die Kinder selbst herausfanden: Bei Konflikten zwischen Einzelnen ist es besser, wenn es am nächsten Tag direkt miteinander in der Schule geklärt wird.) – Sobald ich eine Nachricht schicke, habe ich keine Kontrolle mehr. Alles kann weitergeschickt werden und alles kann zu mir gesendet werden. – Nachrichten werden zum Selbstläufer. Wie bei der Stillen Post können sich Nachrichten verändern oder anders weitergegeben werden. Andere sind in der Lage Freundschaften durch Unterstellungen zu stören. (Dabei erleben wir seit einigen Jahren, wie beim Austausch die Kinder eine immer klarere Strategie benennen können. Wie Sie beginnen in Gruppen bei Fehlverhalten einzelne direkt zu kontaktieren und bitten mit etwas aufzuhören – oder eben auch blockieren.) – Meine gesendeten Stoppsignale (z. B. „lass mich in Ruhe“, „hör auf“) können ignoriert werden. Es wird nachgekartet und andere schließen sich dem Schikanieren an. (Auch dabei kommen hilfreiche Anregungen meistens aus den Klassen selbst: sich Unterstützung untereinander oder von Erwachsenen holen. Bemerkenswert ist, dass von den Klassen Elternchatgruppen oft argwöhnisch aufgenommen werden. Schnell durchschauen die Kinder, wenn die Eltern genauso unbedacht und diffamierend kommunizieren.) – Meine Vorbilder und Idole aus dem öffentlichen Medienleben leben teilweise eine Beleidigungskultur vor. Diese wird jedoch zunächst als kompetent und cool angesehen. Die Sensibilisierung für das Verhalten und die Aussagen von Prominenten und Infuenzer im Netz ist für Kinder besonders wichtig. Berater*innen sollten hier Stellung beziehen.

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– Kettenbriefe arbeiten mit Angstmache und dringender Aufforderung zu handeln. Berater*innen tragen die Erkennungsmerkmale zusammen und erklären, dass jede Antwort auf einen solchen Kettenbrief sinnlos ist und dieser Viren/Trojaner verbergen kann. Eine hilfreiche Strategie ist es hingegen für Kinder, den Eltern oder Lehrer*innen die Nachricht zu zeigen und dann zu löschen. 5. Verabredungen zu einer Netiquette: Die Netiquette gilt als gemeinsame Verabredung zum Umgang im Internet miteinander, insbesondere bei den sozialen Medien. Soweit nicht schon im bis dato stattgefundenen Austausch klar wurde, was als gute oder schlechte Nachrichten erlebt wird, sammeln wir gemeinsam an der Tafel. Welche Nachrichten findet Ihr gut, welche nicht? – Es werden willkürlich vier Kleingruppen durch die Berater*innen gebildet, unabhängig von Freundschaften und Geschlechtszugehörigkeit. Jede Kleingruppe erhält den Auftrag zu folgenden vier Fragen mindestens eine bis drei Antworten zu finden: „Was wollen wir erlauben? Was wollen wir nicht erlauben? Was tue ich, wenn ich mich selbst nicht an die Netiquette (die Verabredungen zu den ersten zwei Fragen) gehalten habe? Was tue ich, wenn ich mitbekomme, dass sich Andere nicht an die Netiquette gehalten haben?“ – Zum Abschluss werden die Antworten auf großen Flipchartblättern zusammengetragen. Durch die Unterschrift aller Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrpersonen bekommt sie für Alle mehr Gewicht. Mitunter greifen die Lehrpersonen diese Aktion später im Unterricht auf, weil es viel Zeit beansprucht. Die gemeinsame Entscheidung für die ausgesuchten Antworten wird durch die Berater*innen nicht mehr infrage gestellt. Die entstandene Netiquette sollte nicht mehr übermäßig diskutiert werden. Stattdessen erhalten die Lehrpersonen eine Handreichung als Empfehlung zur Verfügung. Sie gibt Hinweise zur regelmäßigen Reflexion bezüglich der Netiquette. Die Berater*innen zeigen darin weitere Aufstellungsmethoden auf sowie eine demokratische Überprüfung und Weiterentwicklung der Netiquette. 6. Trotz des digitalen Themas ist es unsere Erfahrung, dass die Schülerinnen und Schüler dennoch etwas Handfestes für sich mitnehmen möchten. Dazu eignen sich insbesondere je nach Alter kleine Flyer, z. B. Unsere Tipps fürs digitale (Über)Leben (klicksafe), Im Netz bin ich am liebsten! Wo ist das Problem? (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) oder ähnliches. Die meisten Flyer sind kostenlos zu beziehen.

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4.2 Die Elternarbeit Der Einbezug der Eltern ist für präventive Klassenstunden obligatorisch. Die Erfahrung zeigt, dass dies nach Einzugsgebiet der Schule sehr unterschiedlich gelingt. Die einfachste Form Eltern zunächst zu informieren, sind gedruckte (nicht digitale) Briefe. Mit Einverständnis der jeweiligen Schule richtet die Beratungsstelle die Briefe direkt an die Eltern. Mit dem Hinweis, dass es an den Schulen zwischen den Kindern immer wieder zu fragwürdigen Vorfällen im Internet kommt, appellieren die Berater*innen, dass diesbezüglich Eltern ebenso wie Schulen gefragt sind. Es wird die Wichtigkeit betont Kinder im Umgang im Internet aktiv zu begleiten. Zudem werden dem Brief ein entsprechender Flyer zum Thema und die oben erwähnte Postkarte zur Mediensprechstunde beigefügt. Die Verteilung der Briefe erfolgt über die Mitgabe an die Schüler*innen vor den geplanten Klassenstunden. In den Klassenstunden berichten einige Kinder, dass ihre Eltern nun mehr ihre Aktivitäten mit dem Smartphone kontrollieren würden, was nicht in allen Fällen zu Begeisterung bei den Kindern führt. Andere äußern hingegen, dass sie dies gut fänden und sich nun sicherer fühlen würden. Weiterhin werden in den Briefen Elterntreffen zum Thema Digitale Medien angekündigt und diese auf die Klassenstunden des Kindes bezogen. Dabei liegt der Fokus der Veranstaltung neben der Informationsvermittlung auf dem offenen vertrauensvollen Gespräch mit den Eltern. Die Berater*innen nehmen mit den Eltern das eigene Medienverhalten unter die Lupe und reflektieren ihr eigenes Vorbild für die Kinder. Es werden gemeinsam Ideen entworfen, wie Eltern Interesse zeigen können, was ihr Kind im Internet macht und wie beide Generationen sich als gemeinsam Lernende begreifen können. Die Fachkräfte ermuntern Eltern die Gespräche mit ihren Kindern zu suchen, was diese selbst erleben und sie darin zu unterstützen, angemessen auf z. B. Nachrichten zu reagieren. Der Blick wird weiterhin auf Bildschirmzeiten im Verhältnis zu gemeinsamen bildschirmfreien Zeiten innerhalb der Familie gerichtet.

4.3 Reflexion der Wirkungen Nach mehreren Jahren, in denen wir bereits die Klassenstunden durchführen, erleben wir Veränderungen. Die Anfragen dazu stammen längst nicht mehr ausschließlich aus den weiterführenden Schulen, sondern vermehrt aus den Grundschulen. Die Kinder, die sich im Internet und den sozialen digitalen Medien bewegen, werden jünger, so unser Eindruck.

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Zunächst wirkte die Nutzung von Messenger-Apps und der Umgang in sozialen Netzwerken der Schüler*innen auf uns eher unkontrolliert und chaotisch, ohne eine Idee, was ihnen selbst guttut. Mittlerweile sind wir beeindruckt, wie von Jahrgang zu Jahrgang mehr und mehr Selbstregulation einsetzt. Nie in der großen Masse, aber immer häufiger scheuen sich Einzelne nicht mehr sich abzugrenzen: „Ich bin aus der Gruppe raus gegangen, das war mir zu blöd“. „Ich hatte keine Lust mehr auf so viele sinnlose Nachrichten.“ „Ich will mich wieder mehr mit meinen Freunden/Freundinnen nachmittags verabreden“. „Ich habe geschrieben, die sollen ihre Streitigkeiten ohne uns morgen auf dem Schulhof direkt klären.“ Die Halbwertzeit der Themen ist vergleichsweise kurz. Zu Beginn unseres Angebots vor ein paar Jahren war das Thema hauptsächlich „das Netz vergisst nichts“ unter dem Aspekt von Beleidigungen und ähnlichem. Es wandelte sich mehr dazu, achtsam zu sein bei der Veröffentlichung von Fotos und Filmen. Jetzt tauchen vermehrt die Fragen auf, wie man sich vor der Flut an Nachrichten schützen kann. Längst beschränkt sich der Themenkreis nicht mehr auf die Klassenbildung, die beim Start für Viele an der weiterführenden Schule im Fokus war. Eltern zu sensibilisieren ist sicherlich eine bleibende Herausforderung für die EB. Denn Schüler*innen berichten beschämt von Bildern, die von ihnen als Baby und Kleinkind (z. B. bei Facebook) veröffentlicht wurden, die ihnen heute peinlich sind. Ebenso finden junge Menschen ihre Eltern peinlich bis unmöglich, wenn diese in eigenen Messenger-Gruppen Klassenkonflikte mit anderen Eltern austragen und sich daraus wieder neue Elternkonflikte entspinnen. Der Schneeballeffekt bis hin zu Differenzen zwischen Lehrpersonen und Elternkreisen wirkt dabei wie ein zusätzlicher Stressor. Wir starteten die Klassenstunden auch mit der Idee eines Multiplikatoreneffektes und dem Wunsch, dass medienpädagogische Arbeit in den Schulen standardisiert würde. Leider findet dies unserer Beobachtung nach, wenn überhaupt, nur zögerlich statt. Medienkompetenz selbstverständlich im Schulprogramm zu etablieren scheint offensichtlich mühsam. Mehrfach stellten wir uns die Frage, ob unsere Klassenstunden unter diesem Aspekt überhaupt sinnvoll sind. Zu erwähnen seien ebenso kleine Einschränkungen. Schwierigkeiten im digitalen Miteinander kommen selten allein. Es gibt Klassenlehrer*innen, die während der Klassenstunden mental wenig präsent wirken. Prompt verlaufen Klassenstunden unruhiger, weil wir selbst mehr Aufwand für die gemeinsame Disziplin betreiben müssen. Oft sind damit einhergehend die ungebremsten Social-MediaErfahrungen in der Klasse vehementer und weniger sozialverträglich verlaufen. Unser Eindruck: Weniger Blick für das Miteinander im direkten Miteinander führt dazu, dass die Kinder eben auch im virtuellen Miteinander allein gelassen sind.

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Ähnlich zeigen dies einzelne Kinder, die im Umfeld wenig begleitet erscheinen und sich entsprechend ungezügelt mit wenig Reflexionswillen im digitalen Netz austoben und das auch gerne zur Schau stellen. Unklar bleibt, ob wir diese im Einzelnen erreichen können. Unbenommen davon erkennen wir doch Vorteile: Die Bewusstwerdung bei den Klassen, dass sie nicht schutzlos dem Treiben im Internet ausgesetzt sind, ist sinnvoll. Eigene Einflussmöglichkeiten zu erkennen und umzusetzen sind tendenziell positiv bewertet worden. Auch das Klassenklima verbessert sich überwiegend positiv. Wir kündigen vorher an, dass nach ca. sechs Monaten eine kurze schriftliche Nachbefragung an die jeweiligen Klassen der weiterführenden Schulen folgt. Meistens nutzen die Klassenlehrer*innen diese, um mit der Klasse die Netiquette erneut zu überprüfen. Die Ergebnisse der Fragebögen bestätigen bisher den Erfolg der Klassenstunden.

5 Fazit Die digitalen Medien als Teil der Lebenswirklichkeit für die Kinder brauchen genauso wie alle anderen Lebenswirklichkeiten der Kinder Begleitung und Antworten in Schule, Freizeit und Zuhause. Digitales und reales Leben sind nicht mehr getrennte Welten und isoliert zu betrachten, sondern finden für die Kinder in einer gemeinsamen Welt statt. Sie durchdringen das gesamte Kinder- und Familienleben. Für die EB lohnt es sich daher, ihre eigenen Angebote hinsichtlich der Bedarfe ihrer Adressat*innen zu überprüfen. Können Kinder und Jugendliche mit medienspezifischen Problemen in einer Beratungsstelle landen? Treffen sie auf Fachkräfte, die wissen wovon Kinder und Jugendliche sprechen, die in digitalen Welten unterwegs sind, und falls nicht, zumindest die Möglichkeit haben sich diese zeigen zu lassen? Die in diesem Beitrag vorgestellten präventiven Angebote, einschließlich der Klassenstunden, sind als singuläre Entwicklungen einer Arbeitsgruppe von Berater*innen zu verstehen, die sich bislang noch in keine übergeordnete Strategie zum Umgang mit Digitalisierung der Institution EB integrieren lassen (vgl. Berg/Sawatzki i. d. Band). Die praxisbezogenen Erfahrungen, die bislang mit den einzelnen Angeboten im Rahmen unserer Arbeit gemacht wurden, stimmen uns hoffnungsvoll, dass digitale Themen ein selbstverständlicher Teil der Beratungsarbeit im Feld der EB werden. Insbesondere die präventiven Klassenstunden zeigen, wie hilfreich eine Vernetzung zwischen Schule und Beratungsstelle vor allem bei medienbezogenen Problemen von jungen Menschen sein kann. EB sollte sich aus unserer Perspektive zwingend der digitalisierten Wirklichkeit ihrer Adressat*innen öffnen und ihre Angebote stärker

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danach ausrichten. Offene Mediensprechstunden sowie Schulklassen- und Elternveranstaltungen können in diesem Sinne nur ein Anfang sein. Viel mehr bräuchte es eine systematische Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte für diesen Arbeitsbereich, ähnlich wie es bei anderen EB relevanten Themen der vergangenen Jahre (z. B. Beratung von hochkonflikthaften Eltern im Zuge des FamFG) auch sukzessive erfolgt ist. Weiterhin wäre auch eine digitale Kommunikationsausstattung für Berater*innen sinnvoll, die mit Eltern, Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dies fängt bei Terminabsprachen über das mobile Internet via Chat- und Messenger-Dienste an und endet bei digitalen Spielen oder Apps, die von Kindern, Jugendlichen und Berater*innen gemeinsam gespielt/entdeckt/genutzt werden könnten. Videoberatungen gemeinsam mit anwesenden und physisch nicht anwesenden Elternteilen sind eine weitere überlegenswerte Option. Bis dahin scheint es noch ein längerer Weg. Doch auch wenn das Bildungswesen und die Jugendhilfe noch einige Jahre brauchen werden, um digitale Medien angemessen zu registrieren und zu integrieren, so werden diese Themen, rund um Digitalisierung, nicht weniger werden und hoffentlich auch immer wieder neue Lösungen produzieren.

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Scheuerer-Englisch, H. (2018). Die Kernaufgabe von Erziehungsberatungsstellen: Beratung als Hilfe zur Erziehung im Einzelfall für Kinder, Jugendliche, junge Menschen und Erziehungsberechtigte. In: Witte, S. (Hrsg.): Erziehungsberatung. Standpunkte, Entwicklungen, Konzepte. (S. 63–90). Freiburg i. Br.: Lambertus. Tillmann, A. (2014). Mediatisierte Kindheit – Aufwachsen in mediatisierten Lebenswelten. In: Tillman, A., Fleischer, S. & Hugger, K.-U. (Hrsg.). Handbuch Kinder und Medien (S. 31–45). Wiesbaden: Springer VS. Vossler, A. & Seckinger, M. (2018). Erziehungsberatung im Angebots- und Anforderungsprofil. Vielfalt aktueller und potentieller Tätigkeitsfelder, Angebote und Leistungen. In: Rietmann, S. & Sawatzki, M. (Hrsg.): Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? (S. 165–184). Wiesbaden: Springer VS. Wagner, U., Eggert, S. & Schubert, G. (2016). MoFam – Mobile Medien in der Familie [Studie. Langfassung]. München. Abrufbar unter: http://www.institut-medienpaedagogik.de/fileadmin/user_upload/Projekte_Material/mofam/JFF_MoFam_Studie.pdf [13.3.2019]. Wahl, J. (2011). Medienkompetenz in der Erziehungsberatung. In: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. (BKE) (Hrsg.): Generation digital. Neue Medien in der Erziehungsberatung. (S. 221–236). Fürth: bke-Eigenverlag.

Informatik von Gesundheitsapps Grundlagen und Beispiele Stefan Buschner

Zusammenfassung

Der Artikel liefert eine Herleitung der Architektur von Gesundheitsapps, damit diese insbesondere die Anforderungen für die Unterstützung bei psychischen Erkrankungen erfüllen. Dazu werden Beispiele für entsprechende Apps für Depressionspatienten und bei Tinnitus beleuchtet. Der Aufbau der Apps muss dabei den gesetzlichen Grundlagen der IT-Sicherheit, des Datenschutzes und des Medizinproduktegesetzes genügen. Es wird gezeigt, dass Apps, deren Funktion es ist, Daten für die Diagnose, Therapieunterstützung oder Monitoring des Patienten zu erfassen und zu sammeln, immer eine Telematik-Komponente benötigen, über die die Daten an zentrale Systeme übertragen werden, auch wenn viele Ärzte, Therapeuten und Patienten Vorbehalte gegen solche zentralen Speicher haben. Schlüsselwörter

Gesundheitsapp · IT-Sicherheit und Datenschutz · Medizinproduktegesetz (MPG) · Zentrale Datenspeicher · Tinnitus · Depression · eHealth · Telematik

S. Buschner (*)  C/o Governikus KG, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_16

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1 Einleitung Gesundheitsapps liegen im Trend, das Selbstmonitoring und die Selbstoptimierung sind ein beliebter Sport geworden, und so gibt es eine Vielzahl von solchen Anwendungen in den App-Stores von Google und Apple. Aber jenseits dieser Mode: Wie steht es um Apps für echte Krankheiten, gar für psychische Erkrankungen? Welche Anforderungen müssen solche Apps erfüllen? Wie sicher sind dabei meine Daten? Gerade psychische Erkrankungen sind heute immer noch sehr stigmatisierend, sodass das Thema lieber totgeschwiegen wird, und die Kollegen von der Arbeit oder Freunde aus dem Tennisclub auf keinen Fall erfahren sollen, dass man an Depressionen oder Schizophrenie leidet. Welche besonderen Bedingungen ergeben sich damit gerade für solche Apps? Und bin ich als Patient bei solchen Apps noch Herr meiner Daten, oder muss ich sie an zentrale Datenbanken abgeben, ohne sie noch kontrollieren zu können? Kann ich die Apps auf meinem Smartphone nutzen, oder muss ich das „Schizophrenie-Phone“ verwenden? Diese und weitere Fragen werden in diesem Beitrag beleuchtet. Dabei werden sowohl die rechtlichen Hintergründe, als auch die informatischen Grundlagen – unabhängig von der konkreten Technologie – erläutert, und es wird gezeigt, welche Aspekte noch wesentlich sind und bei der Konzeption einer Gesundheitsapp berücksichtigt werden müssen.

2 Grundlagen Soll Software angeboten werden, die den Patienten monitort, um bei der Diagnose zu helfen, die Therapie zu unterstützen oder den Krankheitsverlauf zu überwachen, so handelt es sich bei der Anwendung um ein Medizinprodukt mit allen rechtlichen Konsequenzen. Für das Monitoring des Patienten ist das Gerät der Wahl sein Smartphone, das mit den Sensoren gekoppelt wird, die den Patienten „vermessen“, oder auf dem Handy werden Masken angezeigt, über die der Patient Tagebuch führen kann oder sonstige Einträge vornimmt. Wenn aber der Patient sein eigenes Handy benutzt, wie sieht es dann mit den Anforderungen der IT-Sicherheit aus, und wo werden die Daten, die erfasst werden, ausgewertet? Ist dafür das Smartphone ausreichend? Es zeigt sich, dass der Ansatz „bring your own device“ gut ist, aber das Handy des Patienten nur ein Baustein in der benötigten IT-Infrastruktur sein kann. Dies ergibt sich zum einen aus Gründen der IT-Sicherheit, und ist zum anderen auch wegen der Datenauswertung so. Bei vielen kommt an dieser Stelle das Unbehagen auf, dass das in

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der Konsequenz bedeutet, seine Gesundheitsdaten „hergeben zu müssen“ an eine Serveranwendung. Wenn es um Gesundheitsdaten geht, werden zentrale Systeme gerne verteufelt, weil „sie ja unsicher sind“. Stimmt das überhaupt? Bereits heute gibt es große zentrale Speicher von Gesundheitsdaten der Deutschen. Die Krankenkassen bekommen diese Daten nämlich über die Krankmeldungen der Versicherten, die Rezepte, die von den Apothekern zur Abrechnung eingereicht werden, und über die Abrechnungen der Krankenhäuser. Da aber die IT der Krankenkassen sehr sicher ist und dazu auch noch verschiedenste Maßnahmen des Datenschutzes umgesetzt werden, hat es in all den Jahren hier noch keinen Datenskandal gegeben. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben einen ebensolchen Datenbestand der Deutschen über die Abrechnung der ambulanten Versorgung. Auch hier ist noch nie etwas nach außen gedrungen. Wird also die IT-Sicherheit richtig umgesetzt und der Datenschutz ernst genommen – bei diesen beiden Dingen handelt es sich nämlich um ganz unterschiedliche Themen – dann sind zentrale Speicher sicherer, als Daten auf einem Handy. Will man aber die Vertraulichkeit gewährleisten, so darf man sich nicht auf die Daten fokussieren, sondern muss das gesamte System im Auge haben. Deshalb ist eben „bring your own device“ ein guter Ansatz, und auch das Thema der Sensoren fürs Monitoring des Patienten darf nicht nur aus medizinischen oder technischen Blickwinkeln betrachtet werden, sondern ist für das Thema Stigmatisierung entscheidend.

3 IT-Sicherheit Für Gesundheitsapps ist der Schutz der Gesundheitsdaten von zentraler Bedeutung. Dabei werden allerdings meist verschiedene Dinge verwechselt. Zum einen muss zwischen IT-Sicherheit und Datenschutz unterschieden werden [1]. Zum anderen gibt es häufig falsche Vorstellungen von IT-Sicherheit [2]. IT-Sicherheit verfolgt drei Ziele, die das magische Dreieck der IT-Sicherheit bilden (s. Abb. 1). Die drei Ecken werden gebildet von der Vertraulichkeit, der Authentizität und der Verfügbarkeit der Daten. Alle drei Ziele müssen dabei gleichzeitig verfolgt werden, und die Methoden zur Zielerreichung des einen Ziels dürfen nicht zulasten eines der anderen beiden Ziele gehen. Im Folgenden werden die drei Ziele genauer betrachtet [3].

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Abb. 1   Dreieck der IT-Sicherheit

3.1 Vertraulichkeit Die meisten denken bei IT-Sicherheit in erster Linie an die Vertraulichkeit der Daten. Häufig wird aber Vertraulichkeit mit Abschottung verwechselt. Das darf nicht passieren. Daten, die erhoben werden, müssen auch für ihren Zweck verfügbar sein, sonst dürften sie gar nicht erst erhoben werden. Vertraulichkeit darf also auf keinen Fall zulasten der Verfügbarkeit hergestellt werden. Um Verfügbarkeit und Vertraulichkeit gleichzeitig zu gewährleisten, sind Maßnahmen zu ergreifen. Bei den Maßnahmen sind Verschlüsselung und Authentifikation die bekanntesten. Das sind wesentliche Mechanismen, um IT-Sicherheit herzustellen, allerdings sind sie nicht hinreichend. So kann z. B. eine sicher verschlüsselte Nachricht trotzdem noch „lesbar“ sein. Außerdem muss immer die Frage beantwortet werden, was alles die zu schützende Information trägt. So mag zwar der Inhalt einer Nachricht hinreichend geschützt (weil richtig verschlüsselt) sein, allerdings kann die Existenz der Nachricht selbst schon vertraulich sein. Die meisten psychischen Erkrankungen sind potenziell stigmatisierend. Folglich muss verhindert werden, dass durch IT-Systeme bekannt wird, wer eine psychische Erkrankung hat. Wenn also eine App für z. B. Schizophrenie-Patienten angeboten wird, die die Patienten in ihrem privaten Umfeld auf ihrem Smartphone nutzen sollen, so sind natürlich die Daten, die die App erhebt und z. B. an ein auswertendes System sendet, zu schützen. Die wesentliche Information liegt allerdings schon in der App selbst. Wenn also ein Dritter auf das Smartphone des Patienten schaut und dort die Schizophrenie-App sieht, ist die zu schützende Information schon bekannt geworden. Medizinapps sind also unauffällig zu gestalten und sollten im Hintergrund laufen.

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Das gleiche gilt an dieser Stelle für Sensoren, mit denen der Patient überwacht wird. Es ist schon peinlich, wenn in einem voll besetzten Bus plötzlich der Kompressor eines 24-h-Blutdruckmessgerätes losdröhnt. Einen Depressionspatienten mittels einer EEG-Haube in der Öffentlichkeit zu überwachen, scheidet völlig aus, auch wenn sich aus den EEGs sehr schnell und einfach schließen lässt, ob die nächste depressive Episode im Anzug ist. Folglich müssen in solchen Fällen andere Wege gegangen werden, auch wenn das zu einem erheblichen Mehraufwand führt. Das Thema Verschlüsselung ist dabei am einfachsten zu lösen. Das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) gibt technische Richtlinien heraus, die vorschreiben, mit welchen Algorithmen in welchem Modus mit welchen Schlüssellängen welche Daten zu verschlüsseln sind. Damit ist an dieser Stelle die Sicherheit gewährleistet. Für die Telematikinfrastruktur der Gesundheitskarte hat das BSI dabei ganz offiziell den gesetzlichen Auftrag, durch technische Richtlinien dem Gesundheitswesen hier Vorgaben zu machen. Dies steht in § 291b SGB 5. Darüber hinaus ist es sehr sinnvoll, diesen Richtlinien zu folgen [4, 5]. Bei dem Thema Authentifikation sind zwei Bereiche zu unterscheiden: die Anmeldung von Sensoren an einer App, oder einer App an einem zentralen Datenspeicher, gegenüber der Anmeldung des Patienten oder des Arztes mit Zugriff auf die Daten. Das Thema Anmeldung von Personen an einem System wurde durch die EU mit der eIDAS-Verordnung 2016 neu geregelt. Es gibt gemäß der Verordnung drei Sicherheitsniveaus: normal, substanziell und hoch. Für den Zugang zu medizinischen Daten ist mindestens das Niveau substanziell erforderlich [6, 7]. Um zu verstehen, wie sich die Niveaus unterscheiden, ist der Begriff des Faktors wesentlich. Gemäß BSI gibt es drei Faktoren: Wissen (z. B. Passwörter oder PINs), Besitz (i. d. R. nicht kopierbare Hardware) und Biometrie (Fingerabdrücke, Iris-Scan).1 Bei dem Faktor Besitz ist der entscheidende Punkt, dass eine bestimmte Hardware im Besitz des Anwenders sein muss, um sich gegenüber dem System zu authentifizieren. Hierbei ist es so, dass in dieser Hardware ein Geheimnis eingebracht ist, das nicht auslesbar ist, aber die Hardware gestattet die Benutzung des Geheimnisses für Berechnungen. Bei einem Einmalpasswortgenerator wird

1Im Bankenbereich sind sogar 4 Faktoren bekannt. Der vierte Faktor ist Verhalten (Verhaltensschema des Anwenders, z. B. regelmäßiges Einkaufen beim Supermarkt um die Ecke samstags früh).

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einem z. B. nach dem Drücken eines Buttons eine 4- oder 6-stellige Zahl auf einem Display angezeigt. Das Geheimnis, nach dem diese Zahlen berechnet werden, kann aber nicht ausgelesen werden, auch wenn der Generator geknackt wird und der Angreifer direkten Zugriff auf die Chips im Generator hat (Abb. 2). Beim Faktor Biometrie ist es entscheidend, dass die Information tatsächlich vom richtigen lebenden Objekt abgelesen wird, also tatsächlich der Fingerabdruck vom richtigen, noch lebenden Finger und nicht von einer Silikonschicht über einem anderen Finger kommt. Da das System, bei dem sich der Anwender anmelden möchte, nicht nur das richtige Fingerprintimage benötigt, sondern auch wissen muss, dass der Sensor tatsächlich eine richtige Lebenderkennung vornehmen kann, scheidet der Faktor Biometrie für die meisten Anwendungen aus. Auf Flughäfen, wo die Scanner unter Aufsicht von Zoll- und Bundespolizeibeamten stehen, sieht das anders aus. Eine Authentifikation auf substanziellem oder hohem Niveau setzt dabei immer eine 2-Faktor-Authentifikation (2FA) voraus, d. h. eine Authentifikation unter dem Einsatz von zwei verschiedenen Faktoren. Das bedeutet also: den Einsatz von Besitz und Wissen. Beispiel hierfür sind z. B. die Authentifikation mit dem Personalausweis, der durch seine PIN freigeschaltet werden muss, oder die Kombination aus Passwort und mTAN – eine Nummer, die per SMS an ein Handy geschickt wird und dann auf der Anmeldemaske eingegeben werden muss. Die entscheidende Hardware hierbei ist die SIM-Karte des Handys, die den Sicherheitsanker für die SMS-Zustellung bildet. Viele Apps werben damit, dass sie eine starke Authentifikation bieten. Das ist Augenwischerei. Eine starke Authentifikation ist nämlich der doppelte Einsatz eines Faktors. Da die verschiedenen Faktoren unterschiedliche Angriffsszenarien abwehren, ist eine starke Authentifikation im Vergleich zur 2FA nur eine schwache Authentifikation. Eine Schwachstelle der meisten Authentifikationsverfahren sind allerdings die Prozesse, die für den Fall, dass das Passwort vergessen oder die Hardware verloren Abb. 2   Faktor Besitz – Einmalpasswort-Generator

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wurde, eingerichtet wurden. Diese Prozesse stehen nämlich immer im Spannungsbogen zwischen Usability oder Bequemlichkeit der User auf der einen Seite und dem geforderten oder gewünschten Sicherheitsniveau auf der anderen Seite.

3.2 Datenintegrität Bei der Datenintegrität geht es darum, dass die richtigen Daten unverfälscht ins System kommen, dort vor Manipulation geschützt sind und bei Bedarf die Speicherung beweiswerterhaltend erfolgt. Das bedeutet, dass natürlich nur berechtigte Personen für einen Patienten Daten in das System eintragen dürfen und auch nur die richtigen Sensoren oder Umsysteme Daten hinzufügen können. Damit ist die Datenintegrität ein weiterer Anwendungsfall für die Authentifikation von Personen oder Systemen. Bei der Übertragung von Daten ist dabei darauf zu achten, dass sie z. B. durch technische Fehler nicht verfälscht, sondern korrekt übertragen werden. Dies geschieht i. d. R. durch die Codierung der Daten. In einfachen Fällen kommen hierbei Checksummen zum Einsatz, wie z. B. bei den IBAN-Nummern der Bankkonten; für andere Anwendungen werden auch fehlerkorrigierende Codes verwendet, wie z. B. auf Musik-CDs. Die Datenauthentizität stellt die Steigerung der Datenintegrität dar. Hierbei geht es nicht nur darum, dass ein Datum im System unverfälscht ist, sondern dass auch eindeutig bestimmbar ist, wer es eingestellt und wer es weiterverarbeitet hat. Je nach Anwendungsfall können hierfür auch kryptografische Verfahren wie die elektronische Signatur zum Einsatz kommen. Die höchste Steigerungsstufe ist dabei die Rechtsverbindlichkeit. Hierbei handelt es sich um Daten, die eine qualifizierte elektronische Signatur tragen. Z. B. kann es sich hier um einen elektronischen Arztbrief in einer Patientenakte handeln. Die qualifizierte elektronische Signatur ist der persönlichen Unterschrift gleichgestellt und nach § 126a BGB schriftformersetzend. Kryptografisch gesicherte Daten haben allerdings den Nachteil, dass ihr mathematischer Schutz durch den technischen Fortschritt der IT-Technik mit der Zeit abnimmt. Deshalb muss der Beweiswert dieser Daten sichergestellt werden. Dies gilt insbesondere für rechtsverbindliche Daten, da diese mit der Zeit ihre Rechtsverbindlichkeit verlieren. Deshalb sind beweiswerterhaltende Systeme für die Speicherung dieser Daten einzusetzen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat für die Beweiswerterhaltung eine technische Richtlinie erlassen, die den passenden Namen TR ESOR trägt. Insbesondere sind Anwendungen, die Kranken- oder Patienten-

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akten enthalten, mit Systemen nach TR ESOR zu sichern, wenn sich darin Arztbriefe befinden. Passierte das nicht, wäre das so, als wenn aus papierbasierten Arztbriefen nach ein paar Jahren die Unterschriften herausgeschnitten würden [8].

3.3 Verfügbarkeit Die Verfügbarkeit (der Daten) ist ein Sicherheitsziel, das häufig vergessen wird. Die Daten, die von Gesundheitsapps erhoben werden, sind für die Diagnose, Therapieunterstützung oder Überwachung des Krankheitsverlaufs wichtig. Deshalb müssen sie der Auswertung zugeführt werden können und dürfen nicht verloren gehen. Um die Datensicherung zu gewährleisten, ist dabei immer ein zentraler Speicherort für die Patientendaten notwendig. Davon unbenommen können die Daten auch im Handy des Patienten gespeichert sein. Um die Notwendigkeit eines zentralen Backups der Daten gibt es oft Diskussionen, da viele Nutzer Vorbehalte gegen zentrale Speicher haben. Werden die Daten nur auf dem Smartphone des Patienten, mit dem die Sensoren zu dessen Überwachung gekoppelt sind oder auf dem das Patiententagebuch läuft, gespeichert, so können sie jederzeit durch Gerätedefekt, Diebstahl des Handys oder eine volle Speicherkarte beschädigt werden oder verloren gehen. Ein korrektes Datenbackup auf einem USB-Stick oder einer SDD-Karte ist den Patienten nicht zuzumuten und würde selbst bei technisch versierten Patienten über längere Zeit nicht funktionieren, da es über die gesamte Nutzungsdauer viel Disziplin und Logistik erfordert. Außerdem stellen die Back-up-Medien ein Sicherheitsrisiko dar, da sie in die Hände von unbefugten Dritten gelangen könnten, sodass die Vertraulichkeit nicht mehr gewährleistet wäre. Trotzdem besteht bei vielen Anwendern gegenüber der zentralen Speicherung der Daten ein Unbehagen, sodass der Schaden durch Datenverluste kleingeredet wird. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Daten für die Diagnose, Therapieunterstützung oder Überwachung des Krankheitsverlaufs dringend benötigt werden, da sie nach Datenschutzgesetz sonst gar nicht erhoben werden dürften.

4 Datenschutz Der Datenschutz erfasst im Gegensatz zur IT-Sicherheit ganz andere Bereiche. Zwei wesentliche Bestandteile des Datenschutzes sollen hier näher erklärt werden. Der Datenschutz hat als zentrale Kernthemen die Datensparsamkeit und dazu das informelle Selbstbestimmungsrecht des Nutzers, also des Patienten [9].

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Die Datensparsamkeit sagt, dass nur die Daten des Patienten erhoben werden dürfen, die wirklich für die Diagnose, Therapieunterstützung oder Überwachung des Krankheitsverlaufs des Patienten notwendig sind. Dabei ist es unerheblich, ob die Daten über Sensoren erfasst werden oder ob sie auf der Selbstauskunft des Patienten in einem Patiententagebuch basieren. Besonders heikel wird das Thema Datenschutz, wenn in dem System Fotos gespeichert werden sollen, die den Patienten zeigen. Daneben gibt es allerdings auch Apps, die Daten in einer deutlich größeren Breite erfassen. Dabei handelt es sich dann um Apps für Forschungsvorhaben. Es liegt in der Natur der Forschung, dass man vorher noch nicht weiß, was hinterher herauskommt. Deshalb ist natürlich auch unklar, welche Daten tatsächlich erhoben werden müssen. Korrelationen lassen sich nur finden, wenn die Datenbasis groß ist. Solche Apps dürfen aber nicht einfach unter dem Deckmantel der Forschung in Umlauf gebracht werden, sondern bedürfen eines aufwendigen Genehmigungsverfahrens eines Ethikrates einer Universität oder Forschungsanstalt. Die informelle Selbstbestimmung hat verschiedene Aspekte. So hat der Patient ein Auskunftsrecht darüber, welche Daten über ihn gespeichert werden. Deshalb ist es immer sinnvoll, solche Gesundheitsapp-Systeme mit einem Portalzugang für die Patienten zu versehen, über den sie Einblick in ihre zentrale Patientenakte bekommen können. Außerdem kann der Patient über ein solches Portal auch die Daten anderen zur Verfügung stellen, also z. B. einem weiteren Arzt, von dem er sich eine Zweitmeinung einholen möchte. Im Datenschutzrecht stehen auch Artikel zu Löschpflichten. So kann bei vielen Anwendungen der Bürger verlangen, dass die über ihn erhobenen Daten wieder gelöscht werden. Dies ist bei medizinischen Anwendungen nicht so, da es Dokumentationspflichten gibt. Sind allerdings die Aufbewahrungsfristen erreicht und werden die Daten nicht mehr benötigt, so sind auch hier die Daten zu löschen. Da, wie oben ausgeführt, eine Gesundheitsapp ohne eine zentrale Speicherung nicht auskommt, muss der Patient nach Datenschutzgesetz vor der Nutzung der App schriftlich seine Einwilligung zur Datenverarbeitung erteilen. Es ist also bei seriösen Gesundheitsapps nicht damit getan, sie sich einfach von einem AppStore herunterzuladen.

5 Medizinische Softwareentwicklung Apps oder auch jede andere Software, die der Diagnose, Therapieunterstützung oder Überwachung des Krankheitsverlaufs dienen, stellen nach dem Medizinproduktegesetz (MPG) ein Medizinprodukt dar. Das MPG stellt dabei die

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d­ eutsche Umsetzung der europäischen Richtlinie 90/385/EWG sicher. Und das MPG, zusammen mit den nachgeordneten Verordnungen, ist nicht zu unterschätzen, denn es macht nicht nur Vorgaben zur Entwicklung und Inverkehrbringung von Medizinprodukten, sondern es enthält auch sechs Strafvorschriften (bis hin zu Freiheitsstrafen), falls sich ein Softwareanbieter nicht an die Vorgaben hält, und stellt so ein Nebenstrafrecht dar [10, 11]. Für die IT und die Softwareentwicklung im Speziellen gibt es eine Reihe von ISO-Standards, die Prozesse beschreiben und Terminologien festlegen. Sich bei der Entwicklung von Apps an die Standards zu halten, ist sinnvoll, aber nicht zwingend. Bei der medizinischen Softwareentwicklung sieht das anders aus: Die Verordnungen des MPG spiegeln sich in dem Standard IEC 62304 wider, der somit für die medizinische Softwareentwicklung einzuhalten ist. Dies drückt sich schon dadurch aus, dass IEC 62304 auf europäischer Ebene eine Norm ist [11, 12]. Zwei wesentliche Punkte der IEC 62304 sollen hier näher erläutert werden. Der erste Aspekt ist die Traceability. Hierbei geht es um die Nach- oder Rückverfolgbarkeit. Und zwar wird gefordert: eine unterbrechungsfreie Kette von der fachlichen bzw. medizinischen Anforderung an die Software über die Berücksichtigung in der Architektur, die Realisierung durch die Beschreibung eines technischen Features der Software, die Implementierung des Features, die Markierung des Features im Code, die Testfall-Spezifikation für die Anforderung, die Testfallimplementierung zur Testung des Features bis zum bestandenen Test und dem entsprechenden Vermerk in einem Testprotokoll. Dies gilt sowohl für die Entwicklungsprozesse der Software, als auch für die Wartungsprozesse. Ein derart akribisches Vorgeben erhöht natürlich deutlich die Entwicklungskosten für die Gesundheitsapps. Deshalb versuchen einige Hersteller, das MPG zu umgehen (s. u.). Reifung der Software beim Kunden, wie es bei vielen Apps heutzutage üblich ist, ist für Gesundheitsapps tabu. Eine weitere Forderung von IEC 62304 ist ein Risikomanagement für die gesamte Software. Damit soll z. B. verhindert werden, dass es durch einfache Fehlbedienung von Arzt oder Patient zu falschen Diagnosen oder einer Beeinträchtigung der Therapieunterstützung bzw. der Überwachung des Krankheitsverlaufs kommt. Dies kann z. B. dazu führen, dass die Gesundheitsapp eine Alarmfunktion bekommt, die aktiviert wird, wenn das Handy, auf dem die App läuft, abends nicht an der Steckdose hängt. Kommuniziert nämlich die App mit vielen Sensoren, so wird die Akkuladung des Handys gerade für einen Tag halten, sodass es allabendlich aufgeladen werden muss. Viele Gesundheitsapps, die heute aus den Stores herunterladbar sind, umgehen das MPG. Das MPG lässt hier eine Hintertür offen. Ein Medizinprodukt wird nämlich nicht durch seine Funktion zum Medizinprodukt, sondern durch die

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o­ ffizielle Zweckbestimmung der Software. Sagt der Hersteller, dass hiermit nur der Patient bei der Dokumentation seiner Symptome unterstützt werden soll, so handelt es sich nicht um ein Medizinprodukt (Papier und Bleistift sind schließlich auch keine Medizinprodukte). Werden laut Hersteller die Daten aber erfasst, um einen Krankheitsverlauf anzuzeigen, den Arzt bei der Diagnose zu unterstützen oder die Therapie zu überwachen, so handelt es sich um ein Medizinprodukt. Für die Nutzer, ob Ärzte, Therapeuten oder Patienten, sollte aber klar sein, dass die Gesundheitsapps, die das MPG umgehen, zwar günstiger und schneller am Markt angeboten werden können, sie sich aber damit zu Versuchskaninchen der Softwareentwickler machen, die an ihnen die App erst reifen lassen.

6 Architekturen für Gesundheitsapps Wird eine Gesundheitsapp für die Patienten entwickelt, sei es für die Therapieunterstützung oder die Überwachung des Krankheitsverlaufs, so ist heute Stand der Technik, dass diese App auf den üblichen Handys (Smartphones) lauffähig ist, da das Handy das am weitesten verbreitete Userinterface im privaten Bereich ist. Außerdem kann es natürlich technisch notwendig sein, ein Handy zu verwenden, damit zum Beispiel mit Sensoren, die der Patient an sich trägt, kommuniziert werden kann, um die Daten zu übernehmen. Wie bereits im Kapitel zur Verfügbarkeit erwähnt wurde, wird das gesamte System aber nicht nur aus der App auf dem Handy bestehen, da die Daten gesichert werden müssen. An dieser Stelle soll noch ein weiterer Aspekt beleuchtet werden, warum zur App ein zentrales System gehört: das Powermanagement. Kommuniziert das Handy den ganzen Tag über mit Sensoren und zeichnet ihre Daten auf, so wird damit der Akku bereits stark belastet. Zwar haben moderne Smartphones eine enorme Rechenpower, sodass auch die meisten Auswertungsalgorithmen zu diesen Daten auf dem Handy lauffähig wären, doch müsste dann das Handy mehrmals am Tag nachgeladen werden. Deshalb ist es energiesparender fürs Handy, die Daten an das zentrale System zu übertragen, wo sie neben der Sicherung auch der Auswertung zugeführt werden. Die Ergebnisse werden dann wieder ans Handy zurückgesendet. In der nachfolgenden Abbildung wird der schematische Aufbau einer Gesundheitsapp gezeigt, der die oben beschriebenen Anforderungen umsetzt (Abb. 3). Die Gesundheitsapp auf dem Handy empfängt die Daten von den Sensoren, die den Patienten überwachen. Dieses Monitoring kann dabei z. B. über Fitness-Armbänder oder ähnlich unauffällige Sensoren im Alltag des Patienten passieren. Die Daten werden dann ans zentrale System weitergeleitet, wo sie in

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Abb. 3   Gesamtsystem einer Gesundheitsapp

der Patientenakte abgelegt werden. Periodisch werden die Daten dort von den Auswertungsalgorithmen verarbeitet. Die Ergebnisse werden an die Gesundheitsapp zurückgeschickt. Die App kann dabei, wenn kritische Zustände des Patienten erkannt werden, z. B. den Patienten warnen oder gar einen Notruf absetzen. Gleichzeitig werden die Daten und Ergebnisse an das Arztsystem übertragen. Den Praxissystemen der niedergelassenen Ärzte oder Therapeuten sowie den Krankenhaussystemen wird eine Übernahmeschnittstelle angeboten, sodass die Ärzte die Informationen in ihrer gewohnten IT-Infrastruktur erhalten können. Über das Web-Frontend kann der Patient die Daten einsehen oder an andere Ärzte weiterleiten. In diesem Schema sind wegen der Übersichtlichkeit die Module, die für die Verschlüsselung, die Authentifikation oder die Erhaltung des Beweiswertes der Daten sorgen, nicht abgebildet. Auch ist das Administrations-Frontend für die Registrierung der Patienten, die Kopplung mit den Smartphones und die Setzung des Rollen- und Rechtemodells weggelassen. Wird die Gesundheitsapp in einem Forschungsprojekt verwendet, so werden vom zentralen System die Daten an ein Forschungsinstitut weitergeleitet. Das Forschungsinstitut bekommt dabei aber nicht die Originaldaten, sondern diese werden dazu vorher auf dem zentralen System aggregiert und anonymisiert. Dies ist in Forschungsprojekten Standard, unabhängig davon, ob es sich um psychische Erkrankungen oder andere handelt.

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7 Anwendungen und Nicht-Anwendungen In den App-Stores gibt es hunderte Gesundheitsapps, allerdings haben nur ganz wenige die Zulassung nach dem MPG. Ist eine App von ihrer Funktion her eindeutig ein Medizinprodukt, allerdings nach der Zweckbestimmung des Herstellers keines, sollte der Nutzer sehr vorsichtig mit dieser App umgehen. Der Patient benötigt schließlich eine Software, die am Ende auch hält, was sie verspricht und dementsprechend nach Qualitätsstandards entwickelt wurde. Was nützt einem schließlich eine App, deren Algorithmen am Ende gar nicht in der Lage sind, den Gesundheitszustand richtig zu beurteilen? Daneben gibt es aber noch zwei Arten von Gesundheitsapps, die auch keine Zulassung nach MPG haben, aber trotzdem seriös sind. Die eine Art sind Gesundheitsapps, die tatsächlich kein Medizinprodukt sind, sondern wirklich nur der Dokumentation, Information und Vernetzung des Patienten dienen. Auch solche Apps können schon einen großen Nutzen entfalten. Ein Beispiel für diese Art ist das Tool ifightdepression (s. hierzu https://tool.ifightdepression.com/de-AD/ einloggen?languageswitch=1) [13]. Ein andres Beispiel ist hier die App „Track your Tinnitus“ der Universität Ulm, die noch einen weiteren Zweck verfolgt und detaillierter im nächsten Kapitel beschrieben wird. Dort wird auch Tinnitracks besprochen, eine Gesundheitsapp für die Tinnitus-Therapie. Eine andere Art von Apps sind solche, die wissenschaftliche Forschungen begleiten. Hiervon gibt es einige. In einem folgenden Kapitel wird die STEADY-App näher betrachtet, die Patienten mit einer rezidivierenden unipolaren Depression monitoren soll. Diese App hat eindeutig den Anspruch, ein Medizinprodukt zu sein, ist aber derzeit noch an das Forschungsvorhaben gebunden.

7.1 Beispiel 1: Track your Tinnitus und Tinnitracks Wurden als Beispiele bisher immer psychische Erkrankungen genannt, mag es einige überraschen, dass hier der Tinnitus betrachtet wird. Die Ohrgeräusche können verschiedene Ursachen haben (z. B. einen Hörsturz), aber meist haben sie mit den Ohren gar nichts zu tun. Tinnitus ist auch unter Gehörlosen verbreitet, und selbst nach Durchtrennung des Hörnervs bleibt der Dauerton bestehen. Der Ton entsteht also im Gehirn. Als Therapie gegen Tinnitus gibt es eine Gesundheitsapp, die als Medizinprodukt zugelassen ist. Diese App heißt Tinnitracks, und eine Reihe von Krankenkassen bezahlen die Therapie mit dieser App. Die App bietet dabei zwei

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verschiedene Therapien an: einmal eine Onlineschulung per Smartphone, mit deren Hilfe der Patient Gelassenheit im Umgang mit seinem Tinnitus lernen soll. Die andere Therapie richtet sich nur an hörende Tinnitus-Patienten. Bei ihr wird nämlich der Patient über die App per Kopfhörer mit speziell gefilterter Musik beschallt, um die Wahrnehmung der Lautstärke des Tinnitus-Tons zu verringern. Weitere Details s. https://www.tinnitracks.com/de/unternehmen [14]. Die App „Track your Tinnitus“ hat einen anderen Fokus. Hier geht es nicht um eine Therapie, und die App ist auch kein Medizinprodukt. Die App geht aus einem Forschungsprojekt der Universität Ulm hervor und sammelt Daten über Selbstauskünfte der Tinnitus-Patienten. Diese Selbstauskünfte werden in einem Patiententagebuch gesammelt, wodurch der Patient feststellen kann, in welchen Lebenssituationen sein Tinnitus besonders stark ist oder was ihm Erleichterung bringt. Die App hat ein zentrales Back-up, wie in Abschn. 6 beschrieben, das benutzt wird, um wissenschaftliche Auswertungen über die Einträge der Patienten durchzuführen. Da die App weltweit im Einsatz ist, können dabei z. B. regionale oder kulturelle Unterschiede im Umgang mit Tinnitus erkannt werden. Außerdem lassen sich so Muster erkennen, über Handlungen oder anderes Verhalten, das bestimmten Patientengruppen Erleichterung vom Tinnitus verschafft. Dieses Verhalten kann dann als Vorschlag den anderen Patienten weitergegeben werden. Weitere Details s. https://www.trackyourtinnitus.org/de/ [15].

7.2 Beispiel 2: STEADY Bei STEADY handelt es sich um eine App auf dem Smartphone zur Überwachen von Patienten mit einer rezidivierenden unipolaren Depression. Ziel des Projektes ist es, den Beginn einer depressiven Episode zu erkennen, ehe sie sich manifestiert, um so die Dauer und Tiefe der Episode minimieren zu können. Das Projekt findet unter der medizinischen Leitung der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig und der Stiftung Deutsche Depressionshilfe statt. Projektleiter ist Herr Prof. Hegerl [16]. Der schematische Aufbau der App bzw. des Gesamtsystems bei STEADY entspricht der Beschreibung aus Abschn. 6. Depressive Episoden ließen sich schon in sehr frühen Stadien sehr einfach durch EEGs, die mit Hilfe von EEG-Hauben aufgenommen werden können, feststellen. Da aber STEADY das Ziel hat, die Patienten in ihrem Alltag zu Hause zu monitoren, ist dieser Sensoransatz für den Patienten unbrauchbar, da er eine sehr schlechte Usability hat (der Patient

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müsste sich mehrmals täglich mit der Haube auf dem Kopf irgendwohin für die EEG-Messung zurückziehen), und zu stigmatisierend, da die EEG-Haube sich vor Kollegen oder Dritten kaum verstecken lässt. Deshalb wurde für die Überwachung auf normale Fitnessarmbänder und Schlafsensoren gesetzt. Der medizinische Hintergrund ist hier, dass depressive Episoden bereits in ihrer Anfangsphase mit einem erhöhten Stresslevel und Änderungen im Schlafrhythmus einhergehen. Allerdings sind diese Abweichungen aus den Messdaten nur schwer herauszulesen, weshalb es einer sehr aufwendigen Algorithmik bedarf. Die Algorithmen für die Auswertung werden in diesem Projekt vom Institut für angewandte Informatik (InfAI) der Universität Leipzig entwickelt. Die Leitung hat hier Frau Prof. Ivanova. Im Fall von STEADY ist es sogar so, dass unabhängig vom Powermanagement die Algorithmen auf dem zentralen System ausgeführt werden müssen, da sie deutlich mehr Rechenleistung benötigen, als selbst High-end-Smartphones zur Verfügung haben. Dadurch, dass neben den externen Sensoren auch die internen Sensoren des Smartphones verwendet werden, um die körperliche Aktivität der Patienten zu kontrollieren, ist das Powermanagement bei diesem System ein kritischer Punkt. Nähere Informationen zu dem Projekt finden sich unter folgendem Link: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/aktuellestudien/ steady-studie.

8 Fazit Ausgehend von der IT-Sicherheit und dem Datenschutz wurde in diesem Artikel das Grundschema einer Architektur für Gesundheitsapps hergeleitet, das allerdings anders aussieht, als es sich IT-Laien vorstellen. Aus dem Sicherheitsziel Verfügbarkeit geht der Schutz vor Datenverlust hervor. Dieses Thema ist häufig unbekannt bzw. wird unterschätzt. Viele Apps rund um das Thema Gesundheit in den App-Stores von Google und Apple haben hier klare architektonische Defizite, allerdings wiegt noch viel schwerer, dass dem Patienten eine Funktionalität angeboten wird, die eigentlich nur Medizinprodukte bereitstellen dürfen; diese Apps besitzen aber keine Zulassung nach dem Medizinproduktegesetz. Wenn eine App nicht der bloßen Dokumentation dient, gehen seriöse Gesundheitsapps entweder aus einem Forschungsprojekt hervor oder sind als Medizinprodukt zugelassen.

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Literatur https://www.datenschutzbeauftragter-info.de/unterschiede-zwischen-datenschutz-datensicherheit-informationssicherheit-oder-it-sicherheit/ https://de.wikipedia.org/wiki/Informationssicherheit https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/ITGrundschutz/ITGrundschutzAbout/ITGrundschutzSchulung/WebkursITGrundschutz/Schutzbedarfsfeststellung/Schutzbedarfskategorien/schutzbedarfskategorien_node.html https://www.bsi.bund.de/DE/Publikationen/TechnischeRichtlinien/technischerichtlinien_ node.html https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__291b.html https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/DigitaleGesellschaft/eIDAS/eIDAS_node.html https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:32014R0910 https://www.bsi.bund.de/DE/Publikationen/TechnischeRichtlinien/tr03125/index_htm.html https://de.wikipedia.org/wiki/Datenschutz https://de.wikipedia.org/wiki/Medizinproduktegesetz https://www.johner-institut.de/blog/regulatory-affairs/software-als-medizinproduktdefinition/ https://webstore.iec.ch/preview/info_iec62304%7Bed1.0%7Den_d.pdf https://tool.ifightdepression.com/de-AD/einloggen?languageswitch=1 https://www.tinnitracks.com/de/unternehmen https://www.trackyourtinnitus.org/de/ https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/aktuellestudien/steady-studie

ESCapade: Interventionsprogramm für Familien und Kinder mit problematischer Mediennutzung Julia Thormann und Kristina Tietze

Zusammenfassung

Der familienorientierte Beratungsansatz ESCapade – Hilfe bei Gefährdung durch problematische Mediennutzung beruht auf einem humanistischen Menschenbild und orientiert sich an lösungs- und zielorientierten Beratungsmethoden. Die Familiensitzungen sind stets darauf ausgerichtet, gemeinsame Lösungen zu finden und umzusetzen, statt Probleme nur zu analysieren. Der Fokus liegt auf der Aktivierung von verlorengegangenen Ressourcen und der Unterstützung der Selbstwirksamkeit jedes einzelnen Familienmitglieds. Dieser Interventionsansatz ist bei der Problematik angezeigt, da er neben den individuellen Problemlagen des Jugendlichen auch die familiären Konflikte einbezieht. Psychoedukative, erlebnispädagogische und kommunikationsfördernde Elemente ermöglichen die Erarbeitung von systemischen und individuellen Lösungsstrategien und begünstigen eine langfristige Stabilisierung des gesamten Systems. Die Zielsetzung von ESCapade ist es, die psychosozialen Auffälligkeiten des Jugendlichen sowie die erlebte Belastung aller Familienmitglieder zu reduzieren. Die Erarbeitung neuer Kommunikationsstrukturen ermöglicht die Umsetzung konkreter Handlungsalternativen und die Änderung des Mediennutzungsverhaltens.

J. Thormann (*)  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Tietze  Hürth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_17

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Schlüsselwörter

Beratung · Präventionsansatz · Digitalisierung · Mediennutzungsverhalten ·  Systemisch · Familienberatung · Kommunikation · Lösungsorientiert · Regeln und Vereinbarungen · Lösungsstrategien

1 Entstehung eines familienorientierten Interventionsangebots bei exzessiver Mediennutzung – von der Idee zum Programm ESCapade ist ein familienorientiertes Interventionsprogramm. Es richtet sich an Familien mit Kindern im Alter von 12 bis 18 Jahren. Basierend auf bereits gesammelten Erfahrungen der Drogenhilfe Köln durch ein Präventionsprojekt zum Thema Onlinesucht aus dem Jahr 2007, entstand die Idee für diesen familienorientierten Interventionsansatz bei exzessiver Mediennutzung. Maßgebend war die Erfahrung, dass problematisches Mediennutzungsverhalten von Jugendlichen Auswirkungen auf das gesamte familiäre System hat und häufig alle Beteiligten von Beeinträchtigungen in ihrer schulischen/beruflichen und/ oder sozialen Teilhabe betroffen sind (te Wildt 2016, S. 46 ff.). Basierend auf dem Grundgedanken die individuellen Problemlagen der Jugendlichen sowie die daraus resultierenden familiären Konflikte mit einzubeziehen, sollen systemische und individuelle Lösungsstrategien für die gesamte Familie erarbeitet werden. Im Oktober 2010 startete das Bundesmodellprojekt „ESCapade – Hilfe bei Gefährdung durch problematische Mediennutzung“ unter der Koordination der Fachstelle für Suchtprävention der Drogenhilfe Köln. Mithilfe einer Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit konnte das Projekt ESCapade bundesweit mit den Standorten Köln, Berlin, Freising, Lörrach und Schwerin durchgeführt werden. Koordiniert von der Drogenhilfe Köln und durch Evaluation der unabhängigen, externen katholischen Hochschule Köln (KatHo) entstand ein wissenschaftlich fundierter Beratungsansatz bei exzessivem Medienkonsum. Hauptziel der Evaluation war es, die Wirksamkeit der familienorientierten Interventionen bei Jugendlichen mit problematischer Mediennutzung zu untersuchen. ESCapade sollte primär die Reduzierung der psychosozialen Folgeerscheinungen des Mediennutzungsverhaltens sowie die Verminderung der erlebten Belastung aller Familienmitglieder bewirken. Die Modellphase bestand somit im Wesentlichen darin, ein angemessenes Beratungs- und Hilfsangebot für Familien mit problematischer Mediennutzung zu entwickeln und auf seine Wirksamkeit hin zu untersuchen. Die wissenschaftlichen Ergebnisse samt Katamnese ein halbes Jahr nach der Intervention sowie die Erfahrungen des Projektverlaufs wurden bis Ende

ESCapade: Interventionsprogramm für Familien und Kinder …

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2012 in einem ausführlichen Abschlussbericht zusammengefasst und auf der Seite des Bundesministeriums für Gesundheit veröffentlicht. ESCapade hat sich als geeignetes und erfolgreiches Präventionsprogramm erwiesen. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung zeigen, dass sich durch die Teilnahme am Programm sowohl die Situation der Jugendlichen als auch der Familiensysteme positiv verändert hat. Die Rückmeldungen der Familien beziehen sich vermehrt auf die Reduzierung des Nutzungsverhaltens, verbesserte Kommunikationsstrukturen sowie einer Verminderung psychosozialer Folgeerscheinungen (z. B. Leistungsabfall in der Schule, sozialer Rückzug, etc.). Die Implementierung von ESCapade an den fünf Projektstandorten hat gezeigt, dass sich das Konzept sowohl in das Angebot von Suchtberatung als auch Suchtprävention einfügen lässt. Im Rahmen der Akquise und Öffentlichkeitsarbeit zeigten sich auch Erziehungs- und Familienberatungsstellen sehr interessiert an der Thematik und schilderten uns ihren Bedarf. Aufgrund der positiven Auswirkungen des Konzepts wurde vonseiten der Drogenhilfe Köln ein Transfer von ESCapade bundesweit in Beratungs- und Präventionsstellen angestrebt. Im Februar 2013 startete die durch das Bundesministerium für Gesundheit geförderte einjährige Transferphase. Nach der Auswertung der wissenschaftlichen Evaluationsergebnisse des Bundesmodellprojektes und einer daran ausgerichteten Modifikation des Konzepts, wurde im Rahmen der Transferphase die bundesweite Implementierung des Präventionsprogramms vorgenommen. Innerhalb des Zeitraums Mai bis Oktober 2013 wurden in acht Bundesländern insgesamt 129 Beraterinnen und Berater aus Sucht-, Erziehungs- und Familienberatungsstellen im ESCapade – Programm geschult. Im Rahmen dieser Implementierung wurde die Qualität des Programms durch eine standardisierte Fortbildung sichergestellt. Die Qualifizierung ist Voraussetzung für die Umsetzung von ESCapade an den jeweiligen Standorten und wurde mit einem Zertifikat abgeschlossen. Darüber hinaus wurde durch die Erweiterung des Konzepts um eine zusätzliche, „schlankere“ Version für Beratungsstellen mit geringeren personellen Ressourcen die Möglichkeit geschaffen, das ESCapade – Programm flexibel an die Voraussetzungen der Praxisstellen anzupassen.

2 Programmskizze 2.1 Zielgruppe und Rahmenbedingungen Erfahrungsgemäß sind Familien mit Kindern in der Altersspanne von 12 bis 18 Jahren besonders häufig von der Problematik eines exzessiven/problematischen Mediennutzungsverhaltens betroffen. Sie stellen daher unsere Kernzielgruppe dar.

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Um die Wirksamkeit des Beratungskonzepts zu gewährleisten, bedarf es einiger Teilnahmevoraussetzungen. Hierzu zählt das Vorhandensein eines problematischen Mediennutzungsverhaltens in den letzten zwölf Monaten sowie daraus resultierende psychosoziale Folgeerscheinungen wie z. B. Leistungsabfall in der Schule, sozialer Rückzug und/oder Konflikte in der Familie. Darüber hinaus muss mindestens ein Elternteil, respektive ein gesetzlicher Vormund bereit sein, an der Beratung teilzunehmen. Nicht zuletzt sollten nach dem Clearinggespräch alle Akteure ihre Zustimmung zur Teilnahme am ESCapade – Programm erteilen.

2.2 Ziele des Programms Die Zielsetzung von ESCapade besteht primär darin, die psychosozialen Auffälligkeiten von betroffenen Jugendlichen zu reduzieren und eine Veränderung des Mediennutzungsverhaltens einzuleiten. Letztlich ist jedoch das gesamte Familiensystem durch die exzessive Mediennutzung erheblich belastet und benötigt eine bedarfsgerechte Beratung. Das Programm ESCapade als familienorientiertes Interventionsprogramm setzt hier konkret an und berücksichtigt neben den individuellen Problemlagen der Jugendlichen auch mögliche Störungen der gesamten Familie. Mithilfe systemischer Lösungsstrategien richtet sich der Fokus auf alle Familienmitglieder und ermöglicht eine Entlastung des Jugendlichen als vermeintlicher Störungsursprung des Systems. Der systemische Ansatz von ESCapade erlaubt es, den Jugendlichen als etwaigen Symptomträger zu identifizieren und auf mögliche innerfamiliäre Schwierigkeiten hinzuweisen. Die individuell erlebte Belastung der einzelnen Familienmitglieder soll mittels des Programms reduziert werden. Die gemeinsame Erarbeitung und Implementierung von Regeln und Vereinbarung in Bezug auf das Nutzungsverhalten aller Familienmitglieder schafft Orientierung und Sicherheit im täglichen Miteinander. Hierbei wird stark darauf geachtet, dass dies gemeinsam herausgearbeitet und von allen Familienmitgliedern akzeptiert und mitgetragen wird. Nur so ist eine Einhaltung der erarbeiteten Familienregeln nachhaltig und eine langfristige Veränderung innerhalb des Familiensystems möglich.

2.3 Haltung und Menschenbild Das Konzept von ESCapade beruht auf einem humanistischen Menschenbild. Dies umfasst die Haltung, dass alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen über ein konstruktives Inneres verfügen, welches sie dazu veranlasst das eigene Leben

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selbstbestimmt zu leben und diesem Ziel und Sinn zu geben. Um diese innere Kraft in ihrer Konstruktivität zu fördern, orientiert sich die Vorgehensweise von ESCapade an lösungs- und zielorientierten Beratungsansätzen sowie an der motivierenden Gesprächsführung. Folglich steht bei der Durchführung des Programms statt einer Problemfixierung sowie Problemanalyse stets das Finden und Erschaffen von Lösungen im Vordergrund. Hierfür werden die Teilnehmenden im Verlauf des Programms beispielsweise dazu eingeladen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und ihre eigenen, sowie die Ressourcen des gesamten Familiensystems wahrzunehmen und sie somit für sich nutzbar zu machen. Die angewandten Methoden sowie die Gesprächsführung fokussieren sich stark auf die Aktivierung von sowohl bewussten als auch unbewussten Ressourcen und die Unterstützung der Selbstwirksamkeit eines jeden Familienmitglieds.

2.4 Die Module Das familienorientierte Interventionsprogramm ESCapade besteht aus vier Modulen: • Clearinggespräch • Erstgespräch • Familienseminartag • Individuelle Familiengespräche Das Clearinggespräch ist der erste persönliche Kontakt zwischen der Familie und den Mitarbeitenden im Projekt. Es dient der Abklärung des Hilfebedarfs der Ratsuchenden sowie der Überprüfung, ob das Programm als Intervention dem Bedarf der Familie entspricht. Vorrangig geht es um eine kurze Sozialanamnese sowie eine Anamnese zum Mediengebrauch. Der konkrete Beratungsbedarf wird erfasst und die Voraussetzungen für die Teilnahme am Programm werden überprüft. Bei Erfüllung der Voraussetzungen und einer positiven Abgleichung des Bedarfs wird der geplante Programmablauf erläutert. Zum Ende eines jeden Clearinggesprächs wird die Entscheidung über die Teilnahme an ESCapade getroffen und entsprechend ein Termin für das Erstgespräch oder eine Weitervermittlung in andere Hilfen vereinbart. Der Hinweis auf die Notwendigkeit zur aktiven Mitarbeit aller am Prozess beteiligten Familienmitglieder erhöht die Bereitschaft der Jugendlichen zur Mitarbeit am Beratungsprozess. Ein ausführliches Clearing sorgt häufig für das Auflösen anfänglicher Widerstände und Bedenken. Nach dem Clearinggespräch und der Entscheidung der Familie zur Teilnahme an dem Programm ESCapade, folgt nun das Erstgespräch. Während

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das Clearinggespräch zum Filtern des Hilfebedarfs teilweise nur mit den Eltern stattfindet, sollte ab diesem Zeitpunkt die gesamte Familie anwesend sein. Die Teilnahme aller Familienmitglieder an ESCapade und am Erstgespräch ist aus systemischer Sicht der erfolgversprechendste Weg. Im Erstgespräch werden anhand einer ausführlichen Bedürfnisabfrage die Teilnahmebereitschaft der Familien gefördert, eine Vertrauensbasis geschaffen und weitere Informationen erfasst. Das Anliegen jedes einzelnen Familienmitglieds wird angesprochen und gemeinsame Ziele in Bezug auf den Mediengebrauch skizziert. Erfahrungsgemäß zeigt sich in vielen Familien, die in die Beratung kommen, zu Beginn ein destruktiver Kommunikationsstil und eine Überforderung mit der Problemlage. Emotionale und aggressive Auseinandersetzungen, nicht zuletzt aufgrund des exzessiven Medienkonsums, haben zu einer angespannten Familienatmosphäre geführt. Im ESCapade -Erstgespräch werden aus diesen Gründen Gesprächsregeln für die Kommunikation miteinander während des gesamten Programms vereinbart. Auf diese Weise spielt sich eine konstruktivere Gesprächsführung nach und nach ein. Zirkuläre Fragen bringen die Familienmitglieder zum Nachdenken und zum Betrachten der Situation aus einem anderen Blickwinkel. Somit wird das Entwickeln von neuen Lösungsstrategien ermöglicht. Zum Ende des Gesprächs sollte genug Zeit bleiben, die Hausaufgaben zu besprechen. Diese fördern die Weiterbearbeitung des Themas und dienen der Vorbereitung des Familienseminars. Väter und Mütter bekommen den Auftrag ihr Kind/ihre Kinder möglichst wertfrei und interessiert mindestens für zehn Minuten bei der Mediennutzung zu beobachten. Falls die Familienatmosphäre und der Umgang der Eltern mit ihrem Kind/ihren Kindern ein konfliktfreies gemeinsames Agieren zulassen, können sie die Hausaufgabe auch um das Beobachten des Nutzungsverhaltens unter der Anleitung des Kindes erweitern. Dieser Auftrag sollte bis zum nächsten Treffen erfüllt werden. Die Jugendlichen haben die Aufgabe, je nach Mediennutzung ihren Avatar (virtuellen Stellvertreter) oder ihr Profil auszudrucken oder einen Screenshot von ihrer derzeitigen Anwendung zu machen und zum Familienseminar mitzubringen. Die Anzahl der Gespräche vor dem Familienseminartag sollte der Berater oder die Beraterin dem Bedarf der Familie anpassen. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass insgesamt nicht mehr als zehn Kontakte über den gesamten Prozess stattfinden. Da es sich hierbei um ein Beratungs- und kein Therapieangebot handelt, sollten die Familien im Vorfeld über diese Abgrenzung aufgeklärt werden. Der Familienseminartag bietet die Gelegenheit, dass Eltern sich mit anderen Betroffenen austauschen, Jugendliche auf Gleichgesinnte treffen und sich Familien begegnen. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, die sich in ähnlichen schwierigen Situationen befinden, einander Unterstützung geben können. Die Familien werden eingeladen, mit erlebnispädagogischen, psychoedukativen

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und kommunikationsfördernden Methoden, die momentane familiäre Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Am Ende des Tages werden lösungsorientierte Impulse für die konkrete Vereinbarung von Regeln gegeben und Termine für die individuellen Familiengespräche vereinbart. Die individuellen Familiengespräche sollten im Abstand von einer Woche nach dem Seminartag terminiert werden. Ausgangssituation für das erste Familiengespräch sind die vereinbarten fünf Familienregeln, die aufgegriffen und gemeinsam noch einmal überprüft werden. Ebenso kann der Prozess der Regelerstellung thematisiert werden, um gemeinsam zu erarbeiten an welchen Punkten in der Vergangenheit das meiste Konfliktpotenzial bestand und somit auch in Zukunft zu erwarten ist. Für die Beratung ist besonders interessant, wie der Konflikt gelöst wurde und an welchen Punkten in zukünftigen Situationen die Problemlösung noch verbessert werden kann. Konflikte gehören zum normalen Familienalltag und können, sofern sie gemeinsam gelöst werden, die Familienatmosphäre positiv beeinflussen und den Zusammenhalt untereinander stärken. Bei einem Mangel an adäquaten Konfliktlösungsstrategien oder Vermeidungsverhalten in Konfliktsituationen kann hieraus jedoch eine dauerhafte Stressbelastung für alle Familienmitglieder resultieren. Aus diesem Grund werden Regeln und Vereinbarungen nicht ausreichend diskutiert und in der Folge meist auch nicht eingehalten. Am Familienseminartag wird dieses Thema bereits allgemein behandelt. Da die Strategie im Umgang mit Konflikten in den Familien unterschiedlich verlaufen, bieten die individuellen Familiengespräche nun die Gelegenheit, auf die konkrete Situation in der Familie einzugehen und gezielte Vorgehensweisen und Lösungen anzuregen. Im Mittelpunkt der individuellen Familiengespräche steht zum einen die Überprüfung der getroffenen Regeln und Absprachen der Familienmitglieder untereinander. Zum anderen soll konkret anhand aufgetretener Konfliktsituationen, zum Beispiel im Rahmen der Aushandlung der fünf Familienregeln, eine Überprüfung und Überarbeitung der familiären Lösungsstrategien bei auftretenden Konfliktsituationen stattfinden. Das zweite individuelle Familiengespräch findet im Abstand von ein bis zwei Wochen statt. Die Familien sollen genügend Zeit haben, um die Regeln zu erproben und anzuwenden. In diesem Gespräch können die Erfahrungen bei der Umsetzung thematisiert werden. Die Regeln werden geprüft und gegebenenfalls korrigiert. Entsprechend dem Bedarf der jeweiligen Familie finden insgesamt bis zu fünf individuelle Familiengespräche statt. Das Abschlussgespräch findet mit einem größeren Abstand, nach ca. sechs Wochen statt. Eine längere Phase der Umsetzung in der Familie zeigt, ob die Regeln ausreichen oder gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Im Abschlussgespräch kann gemeinsam mit den Teilnehmenden resümiert, mögliche Veränderungen benannt und eventuell weiterführende Unterstützungsangebote besprochen werden.

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3 Fallbeispiel: Familie M. Frau M. meldet sich telefonisch in unserer Jugendberatungsstelle und berichtet kurz von ihrer derzeitigen Situation zu Hause. Sie wünscht zunächst ein Beratungsgespräch mit ihrem 13 – jährigen Sohn Nico, der ihrer Ansicht nach „mediensüchtig“ sei. Kurzerhand wird ein gemeinsamer Termin vereinbart und eine Woche später findet das erste Gespräch in der Beratungsstelle statt. Frau M. kommt in Begleitung ihres Mannes und ihres Sohnes Nico zum vereinbarten Termin. Nach einigen Informationen zur Beratungsstelle, den Rahmenbedingungen zu Schweigepflicht, Datenschutz und Kostenfreiheit seitens der Beraterin, stellt sich jedes einzelne Familienmitglied auf Nachfrage kurz vor. Frau M. (43 J.) sei gelernte Friseurin, jedoch seit 13 Jahren Hausfrau und kümmere sich ausschließlich um den Haushalt und die Kinder. Im Erstkontakt wirkt sie zunächst fordernd, laut und stark belastet. Darüber hinaus wird deutlich, dass Frau M. hinsichtlich der familiären Situation sehr besorgt ist, da viele ihrer bisherigen Bemühungen nicht erfolgreich waren. Auffällig ist ihr starkes Übergewicht, welches sie direkt zur Sprache bringt und im späteren Beratungsprozess erneut thematisiert wird. Herr M. (44 J.) arbeite als Anlagenmechaniker in Schichtarbeit bei einem Automobilkonzern und trainiere in seiner Freizeit die Fußballmannschaft seines Sohnes Nico. Er zeigt sich eher ruhig und zurückhaltend. Im Phänotyp unterscheidet Herr M. sich mit einer sehr sportlichen Figur deutlich von seiner Frau. Nico M. (13 J.) besuche die 7. Klasse einer Kölner Hauptschule, spiele mehrmals die Woche Fußball und interessiere sich vor allem für das Computerspiel „Fortnite“. Nico ist für seine 13 Jahre klein gewachsen und hat eine sportliche Figur. Er wirkt schüchtern, kindlich und im Erstkontakt eher unbeteiligt. Zur Familie gehöre außerdem der 5 – jährige Leo, der jedoch nicht an dem Gespräch teilnimmt. Die Familie lebe in einem von Frau M. geerbten Einfamilienhaus in einem mittelständischen Kölner Stadtteil. Bei Abklärung der derzeitigen familiären Situation und Abfrage des konkreten Beratungsbedarfs, führt nahezu ausschließlich Frau M. die Problembeschreibung an. Sie berichtet, dass ihr Sohn Nico jede freie Minute zwischen der Schule und dem Fußballtraining nutze, um am PC oder Tablet „Fortnite“ zu spielen. Er vernachlässige die Schule und vor allem die Hausaufgaben, was sich bereits negativ auf seine Leistungen ausgewirkt habe. Darüber hinaus zeige er weniger Interesse am Familienleben und ziehe sich sozial immer stärker zurück. Frau M. fühle sich mit den Erziehungsaufgaben stark überfordert und allein gelassen, da ihr Mann aufgrund des Schichtdienstes tagsüber schlafe. Auf Nachfrage der Beraterin stimmt Herr M. den Aussagen seiner Frau zu. Nico hingegen erkennt in seinem

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Mediennutzungsverhalten kein Problem, leide jedoch unter der täglichen Gereiztheit seiner Mutter und den damit einhergehenden Auseinandersetzungen. Nachdem das Programm ESCapade von der Beraterin vorgestellt wird, erklären sich alle Familienmitglieder mit der Teilnahme einverstanden. Bis zum nächsten Termin bekommt Nico die Aufgabe seine Mediennutzungszeiten in einem Tagebuch zu dokumentieren. Es finden in den folgenden Wochen insgesamt drei weitere Familiengespräche statt. Die Auswertung des Mediennutzungstagebuchs verschafft allen Beteiligten eine Übersicht über die tatsächliche Spielzeit und soll als Basis für die Zielvereinbarungen dienen. Alle sind sich einig, dass sie sich weniger Streitigkeiten zu Hause wünschen. Gemeinsam werden einige Ziele formuliert, die im Rahmen des ESCapade -Programms erreicht werden sollen. Hierbei achtet die Beraterin darauf, dass alle Beteiligten dieser Vereinbarung zustimmen. Familie M. verständigt sich darauf, dass zukünftig gemeinsame, medienfreie Mahlzeiten stattfinden sollen, eine Reduktion und Regulation der Spielzeiten implementiert werden und es insgesamt weniger Streit über das Thema Medien zu Hause gibt. Langfristig erhofft sich die Familie davon eine positive Auswirkung auf die schulischen Leistungen von Nico. Bei dieser Vorgehensweise ist seitens des Beratenden darauf zu achten, dass diese Zielformulierungen SMART formuliert werden. Dies bedeutet, dass die Vereinbarungen spezifisch formuliert, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert sind. S: Sind diese hinreichend konkret und präzise formuliert? Sind sie eindeutig und widerspruchsfrei? M: Woran erkennen die Beteiligten, dass die Ziele erreicht wurden? A: Sind sie für alle, insbesondere für Nico, erstrebenswert und attraktiv? R: Wie realistisch und umsetzbar sind die Zielformulierungen im aktuellen Kontext? T: Bis wann sollen die Ziele umgesetzt werden? Gibt es eine explizite Terminierung? Im weiteren Beratungsverlauf werden der Familie Informationen über Suchtentstehung und Suchtentwicklung vermittelt und eigene Konsummuster jedes einzelnen Familienmitglieds thematisiert. Diese Vorgehensweise verhilft der Familie zwischen einer genussvollen, missbräuchlichen oder gar einer abhängigen Mediennutzung zu unterscheiden. Herr und Frau M. schauen zum ersten Mal kritisch auf ihr eigenes Nutzungsverhalten und erkennen, dass auch bei ihnen Verbesserungspotenzial besteht. Dies bildet nicht zuletzt die Grundlage zur Formulierung einiger Regeln in Bezug auf die Mediennutzung aller Familienmitglieder und verhilft Nico aus dem Problemfokus zu treten. Bei genauer Betrachtung der Motivationen

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und Bedürfnisse in Bezug auf den Medienkonsum stellt sich heraus, dass Nico die Medien oftmals als Rückzugsmöglichkeit nutzt, um elterlichen Streitigkeiten auszuweichen. Eine angespannte und gereizte Stimmung zwischen Herrn und Frau M. wird sichtbar und seitens der Eheleute thematisiert. Herr M. berichtet, dass er seit der Geburt des jüngsten Sohnes Leo in einem separaten Zimmer im Keller schlafe. Frau M. leide seit circa sechs Jahren an Depressionen und habe im Laufe der Ehe etwa 35 kg zugenommen. Die ehelichen Probleme machten eine gemeinsame Kindererziehung in den letzten Jahren kaum möglich. An dieser Stelle wird die Notwendigkeit der systemischen Betrachtungsweise sichtbar, denn Nico nimmt in diesem Kontext auch die Rolle des Symptomträgers ein. Sein exzessiver Medienkonsum als vermeintliches Hauptanliegen in der Beratung ist nicht zuletzt ein Ausdruck für die innerfamiliäre Schieflage. Nach den drei Familiengesprächen findet der geplante Familienseminartag statt. Hierzu erscheinen Herr und Frau M. gemeinsam mit ihrem Sohn. Neben Familie M. nehmen noch drei weitere Familien teil. Bei einer „Warming– up“-Methode lernen sich die Familien untereinander besser kennen und es entwickelt sich schnell eine gute Atmosphäre. Mithilfe erlebnispädagogischer, psychoedukativer und kommunikationsfördernder Methoden haben die Familien die Chance ihre Situation auch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Sie entwickeln eine eigene Haltung und können auf dieser Basis am Ende des Tages die erarbeiteten Regeln und Vereinbarungen überprüfen und bei Bedarf verändern. Herrn und Frau M. gelingt es nach langer Zeit mal wieder sich gemeinsam über Erziehungsfragen auszutauschen. Der Austausch mit Anderen schafft etwas Entlastung für alle Beteiligten und fördert die Motivation für die anstehenden individuellen Familiengespräche. Nach einer Pause von vier Wochen findet das erste individuelle Familiengespräch statt. Familie M. hatte ausreichend Zeit die gemeinsam erarbeiteten Regeln in der Alltagspraxis zu überprüfen. Ein gemeinsamer Rückblick mit kurzem Feedback zum vergangenen Familienseminartag macht deutlich, dass die Familie viel mitgenommen hat und auch im Anschluss einige Erkenntnisse gewinnen konnte. Der Familie ist es gelungen, täglich 30 min gemeinsam zu essen und in dieser Zeit weder aktiv noch passiv Medien zu nutzen. Nico erhält nach Absprache eine wöchentliche Mediennutzungszeit von insgesamt 14 h, die er je nach Bedarf einsetzen kann. In diesem Rahmen hat er sich an folgende Absprachen zu halten, die wir gemeinsam erarbeiten und implementieren konnten: • Die tägliche Nutzungsdauer darf nicht mehr als vier Stunden betragen. • Ab 21 Uhr werden alle Mediengeräte abgeschaltet. • Nachts befinden sich alle Mediengeräte außerhalb von Nicos Zimmer.

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Nach sechs Wochen findet das gemeinsame Follow-up-Gespräch in der Beratungsstelle statt. Beim ersten Eindruck der Familie wird deutlich, dass im Vergleich zu vorherigen Treffen direkt eine angenehmere Atmosphäre herrscht. Frau M. berichtet, dass die gemeinsam erarbeiteten Regeln und Vereinbarungen weites gehend von alle Familienmitgliedern gut umgesetzt wurden. Allen voran sorge die neuvereinbarte wöchentliche Nutzungszeit für weniger Diskussionen. Nico berichtet, dass sich die Stimmung zu Hause verbessert habe und er seine Hausaufgaben in der Nachmittagsbetreuung der Schule erledige. Dies führe zu einer Entlastung bei Frau M. und wirke sich positiv auf das familiäre Klima aus. Dennoch benötige Nico weiterhin Unterstützung von seinen Eltern beim Zeitmanagement. Er finde oftmals kein pünktliches Ende ohne daran erinnert zu werden. An dieser Stelle sind Herr und Frau M. weiterhin gefordert, klare Strukturen vorzugeben und diese konsequent einzuhalten. Seitens der Schule berichtete Nicos Klassenlehrer über eine positive Entwicklung im Unterricht. Er erlebe Nico deutlich aufmerksamer als zuvor. Zum Ende des Gesprächs teilen Herr und Frau M. mit, dass sie darüber hinaus einen Termin bei einer Eheberatung vereinbart haben. Vorerst endet zu diesem Zeitpunkt in Absprache mit Familie M. ihre Teilnahme am ESCapade Programm.

4 Ausblick Insgesamt ist festzuhalten, dass pathologisches Mediennutzungsverhalten die Entwicklung von Problemlösekompetenzen bei Kindern und Jugendlichen behindert (Griffiths und Wood 2000, S. 199 ff.; Grüsser et al. 2005, S. 188 ff.). Dies wiederum gilt als Risikofaktor für die Genese von Abhängigkeitserkrankungen im Erwachsenenalter. Die zu beobachtenden und weiterhin zu erwartenden technologischen Entwicklungen, die eine noch breitere Verfügbarkeit bei gesteigerter Intensität des Internets ermöglichen und neue Spielanreize schaffen werden, erhöhen das Risikopotenzial. Es ist daher sicher davon auszugehen, dass es weiterhin zu einem starken Anstieg der Betroffenen kommen wird. ESCapade ist ein positiv evaluiertes, fachgebietsübergreifendes Interventionsprogramm für Familien bei exzessiver (nicht pathologischer) Mediennutzung. Im Beratungsalltag wird deutlich, dass die Anfragen von Eltern für immer jüngere Kinder (unter 12 Jahren) gestellt werden. Folglich ist zu überprüfen, ob ESCapade für diese Zielgruppe geöffnet oder ein ergänzendes Programm erarbeitet werden sollte.

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Literatur Griffiths, M.D., Wood, R.T.A. (2000): Risk factors in adolescence. The case of gambling, video-game playing and the internet. Journal of Gambling Studies, 16: 199–225. Grüsser, S., Thalemann, R., Albrecht, U., Thalemann, C.N. (2005): Exzessive Computernutzung im Kindesalter: Ergebnisse einer psychometrischen Erhebung. Wiener Klinische Wochenschrift 117: 188–195. te Wildt, B. (2016): Digital Junkies: Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. München: Droemer TB.

Reflexions-App als Beratungstool für das Betriebliche Gesundheitsmanagement in öffentlichen Verwaltungen Malte Schophaus Zusammenfassung

Demografischer, technischer und politischer Wandel führen zu neuen Herausforderungen hinsichtlich der Gesunderhaltung der Mitarbeitenden im öffentlichen Dienst. Bestehende Angebote des betrieblichen Gesundheitsmanagements können durch neue digitale Angebote wirkungsvoll ergänzt werden. In diesem Beitrag wird eine App skizziert, die ein niedrigschwelliges, zeitlich und räumlich unabhängiges und anonymes Angebot des Gesundheitsmanagements bietet. Die Reflexions-App basiert auf vier Säulen: Diagnose, E-Selbstcoaching (Selbstreflexion), E-Coaching (durch digital vermittelte persönliche Coaches) und Vermittlung zu persönlichen face-to-face Berater*innen. Bislang vorliegende digitale Apps und Internet-Plattformen führen vor allem zwei Defizite mit sich. Viele Apps bieten nur singuläre Funktionen und ihre Wirksamkeit wurde nicht überprüft Eine systematische und durch Arbeitgeber*innen unterstützte Gesundheitsförderung erfordert integrierte und wirksamkeitsgeprüfte Tools. Schlüsselwörter

Reflexion · Beratungs-App · Online-Beratung · E-Coaching ·  Gesundheitsmanagement · Öffentliche Verwaltung

M. Schophaus (*)  Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_18

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1 Einleitung Cyber-Supervision, Technology Enhanced Coaching, online-Beratung, Digital Counselling, Beratungs-App, computer mediated communication, etc. Die Angebote, die Digitalisierung und Beratung verbinden wollen, nehmen zu und werden zugleich unübersichtlicher. Die Ziele der unterschiedlichen technischen Entwicklungen sind vielfältig. Suchen die einen pragmatisch nach hilfreichen Tools, um etwa Beratungen unaufwendiger vor- und nachzubereiten, kann anderen unterstellt werden, dass sie durch Automatisierung einzelner Beratungsangebote Zeit und Kosten sparen wollen, und wieder andere visionieren von Künstlicher Intelligenz, die Beratung und Therapie bald zielführender als ein menschliches Gegenüber durchführen können soll. Für die Nutzer*innen und Berater*innen ist die Funktionalität und Wirksamkeit angebotener technischer Hilfsmittel bislang nicht immer einfach einzuschätzen. Ein einheitliches konzeptionelles Fundament für digitale Beratungsangebote liegt nicht vor. Die wissenschaftliche Literatur weist darauf hin, dass eine Medientheorie fehlt, die für die Orientierung bei der Entwicklung von digitaler Beratung erforderlich wäre (Geißler 2018). Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass medienvermittelte Beratung auch nichts Neues ist, sondern schon immer Medien – wenngleich nicht immer digitale Medien – in Beratung, Coaching und Therapie eingesetzt werden. So wurde schon früh in der Supervision mit schriftlichen Zusammenfassungen des Anliegens gearbeitet, das die Klient*in vorab an die Supervisor*in schickte, oftmals wird das Telefon oder eine Email für die erste Auftragsklärung genutzt, oder Tiere werden als Medium im Coaching oder der Therapie eingesetzt. In der Tat verändern sich aber derzeit die Art der eingesetzten Medien wie auch das Ausmaß ihrer Nutzung. Insbesondere der vollständige Verzicht auf die Berater*in ist neu. Der vorliegende Beitrag möchte für ein spezifisches Anwendungsfeld, nämlich das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) von öffentlichen Verwaltungen, die digitalen Möglichkeiten zur Selbstreflexion eruieren. Er untersucht Möglichkeiten, die Reflexion beruflichen Handelns durch eine digitale Applikation („Reflexions-App“) zu unterstützen. Insbesondere in Arbeitsbereichen mit hohen psychischen Herausforderungen soll so die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Mitarbeitenden sowie die Professionalität ihres Handelns gesichert werden. In sozialen und in Gesundheitsberufen ist regelmäßige Reflexion durch Supervision üblich. Anders ist es im Berufsfeld des öffentlichen Dienstes. In der allgemeinen Verwaltung der Kommunen und im Polizeidienst ist systematische Reflexion nicht die Regel.

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Dabei sind die Arbeit in vielen Bereichen der kommunalen Verwaltung und besonders im Polizeidienst durch hohe psychische und physische Arbeitsbelastungen geprägt. Im Bereich der Polizei hindert zudem eine als männlichkeitsorientiert beschriebene Polizeikultur (Behr 2008) oftmals die Inanspruchnahme von Hilfs- und Beratungsangeboten bei der Verarbeitung von belastenden Einsätzen. Aber auch in den Verwaltungsbereichen mit Bürger*innenkontakt wird seit einigen Jahren eine Zunahme von Belastungen beschrieben. Einerseits kommt es zur Verdichtung der Arbeit durch Personalmangel, der sich durch den demografischen Wandel weiter zuspitzt. Andererseits kommt es durch schwierig vorauszuplanende gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen zu quantitativen und qualitativen Mehrbelastungen für die Mitarbeitenden. Zu nennen sind hier in den letzten Jahren vor allem die Herausforderungen der Migration, aber auch etwa Umweltkatastrophen wie Hochwasser. Weiter wird im Bürger*innenkontakt eine Abnahme von Respekt gegenüber den Beamten sowie ein zunehmendes Maß an Gewalt beschrieben (s. u.). Die beschriebenen Entwicklungen stellen wachsende Anforderungen an ein Betriebliches Gesundheitsmanagement im öffentlichen Dienst. Digitale Instrumente liegen für das spezifische Anwendungsfeld kommunaler Verwaltung und Polizei bislang nicht vor. Sie könnten ein niedrigschwelliges Angebot bieten, um die Reflexion in der Berufspraxis zu verankern. Im Folgenden werden die Möglichkeiten der Integration einer mobilen Reflexions-App in das Gesundheitsmanagement eruiert und ein erstes Konzept für ein modulares System vorgestellt. Dazu wird zunächst in den Bedarf der öffentlichen Verwaltungen – allgemeiner Verwaltungsdienst und Polizei – eingeführt (2) und die Chancen der durch eine digitale Applikation unterstützten Reflexion für das BGM herausgearbeitet (3). Anschließend werden vorliegende digitale Angebote im Bereich Beratung systematisiert und nach digital unterstützter Reflexion mit und ohne persönliche Beratung unterschieden (4). Auf dieser Grundlage skizziere ich ein Konzept, wie eine Reflexions-App zur Unterstützung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements modular aufgebaut werden kann (5). Abschließend werden Voraussetzungen für zukünftige Entwicklungen der Reflexions-App diskutiert (6).

2 Herausforderungen an das BGM in öffentlichen Verwaltungen Die Herausforderungen an das Betriebliche Gesundheitsmanagement ergeben sich neben den Erkrankungen der Mitarbeitenden durch Veränderungen in der Personalstruktur, die auf den demografischen Wandel, den Fachkräftemangel und weitere aktuelle Entwicklungen in den Verwaltungen zurückzuführen sind.

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Die Notwendigkeit von Betrieblichem Gesundheitsmanagement begründet sich auf eine ganze Reihe von gesundheitlichen Herausforderungen. So nehmen etwa Stoffwechselerkrankungen zu, Übergewicht und Adipositas und damit einhergehende Erkrankungen werden häufiger (Treier und Uhle 2016). Für den hier besprochenen Bereich ist aber vor allem die gravierende Zunahme an psychischen Erkrankungen relevant. Das Risiko für psychische Störungen, insbesondere depressive und Angststörungen, nimmt zu. Die Erkrankungen gehen oft einher mit Leistungseinschränkungen, Schlafstörungen, Erschöpfung, oder funktionellen Beschwerden im Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Bereich. Neben den individuellen Belastungen zieht das enorme Folgen für die Arbeitswelt nach sich. Leistungseinbußen, lange Krankheitsphasen, Frühverrentung und entsprechend erhöhte Arbeitsbelastungen für das verbleibende Personal sind die Folgen. Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist in den letzten zehn Jahren konstant angestiegen, zwischen 2007 und 2017 um mehr als 65 %. Außerdem führen diese Erkrankungen zu deutlich längeren, oftmals doppelt so langen Ausfallzeiten als bei anderen Krankheitsursachen (Badura et al. 2018; vgl. auch Techniker Krankenkasse 2015). Neben den Krankheiten kommt es zu Personalengpässen und damit verbunden zu erhöhten Arbeitsbelastungen durch den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel. Das Renteneintrittsalter steigt, das statistische Risiko für chronische Langzeiterkrankungen steigt, das Personalmanagement muss demografieorientiert ausgerichtet werden. Die Folgen des Fachkräftemangels sind unbesetzte Stellen, die zum Teil durch Mehrarbeit, Überstunden und Arbeitsverdichtung der Mitarbeitenden ausgeglichen werden müssen. Dieses führt wiederum zu Stressbelastungen und letztendlich zum Anstieg von Krankheiten. In den kommunalen Verwaltungen und der Polizei kommen spezifische aktuelle Herausforderungen hinzu, die weitere Anforderungen an das Gesundheitsmanagement stellen. In den vergangenen Jahren sind schwierig vorherzusehende Themen und Krisen hinzugekommen, die punktuell zu enormen Arbeitsbelastungen führen. Dazu gehören etwa die sogenannte Flüchtlingskrise, die zu enormen Arbeitslasten in den Ausländerämtern geführt hat, aber auch Naturkatastrophen, wie etwa Hochwasser und Stürme, die neue Belastungsspitzen auch im öffentlichen Dienst erzeugen. Weiter wird seit einigen Jahren ein Kulturwandel beschrieben, der neue Belastungen im öffentlichen Dienst bewirkt. Demnach nimmt der Respekt der Bürger*innen gegenüber den Beamten ab. Es kommt zu verbaler und auch körperlicher Gewalt gegen Verwaltungsmitarbeitende, etwa in Jobcentern

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(Sirsch et al. 2014), gegen Mitarbeitende des Ordnungsamtes oder gegen Feuerwehrleute1 sowie gegen Polizeibeamte (Bundeskriminalamt 2018). Die Gewalt in Verwaltungen ist bislang meist anhand von Einzelfällen untersucht und es können nur ungenaue Angaben über Quantitäten gemacht werden. So zeigt die Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung im Jahr 2017 386 Fälle von Unfällen in allgemeinen Verwaltungen auf, die auf gewalttätige Fremdeinwirkung zurückzuführen sind. Das sind 2,6 % aller registrierten Unfälle. Es muss hier aber von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, da nur sehr spezifische Umstände als Unfall registriert werden können (vgl. dazu Statistiken der Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. – DGUV 2018, S. 78). Hingegen ist die Gewalt gegen Polizeibeamte sehr viel systematischer untersucht. Die Berufsgruppe der Polizist*innen ist überdurchschnittlich häufig und besonders hohen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Belastende Einsätze und sogar traumatische Ereignisse, Nachtschichten und Überstunden, Eintönigkeit in langen Bereitschaftsphasen und zunehmend Gewalt bereits bei niedrigschwelligen Einsätzen sind Stichworte für die Vielzahl von Auslösern, die ohne psychosoziale Unterstützung die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit von Polizist*innen dauerhaft einschränken können (Weber 2017). Das Lagebild des Bundeskriminalamtes zeigt einen Anstieg von Gewalttaten gegen Polizeivollzugsbeamte (PVB) auf. Die Anzahl der Fälle von im Bundesgebiet im Jahr 2017 erfassten versuchten und vollendeten Gewalttaten gegen PVB sind zwar im Vergleich zum Vorjahr leicht um 0,9 % zurückgegangen, haben im Zweijahresvergleich zum Jahr 2015 aber insgesamt um etwa 9 % zugenommen (Bundeskriminalamt 2017, S. 15, 2018, S. 20). Die Handlungen umfassen etwa verbale Beleidigungen, Schubsen und Bespucken über Tritte und Faustschläge bis hin zum Bewerfen mit Gegenständen. In geringerer Häufigkeit kommen auch Angriffe mit Stich-, Hieb- und Schusswaffen vor. Aktuelle Befragungsergebnisse des DGB-Index Gute Arbeit (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2017) belegen die emotionalen Risiken von Polizist*innen: 55 % der Polizist*innen sind sehr häufig oder oft Konflikten mit Klient*innen ausgesetzt, während nur 13 % aller branchenübergreifend befragten Beschäftigten diese Angabe machen (S. 1). Auch die respektlose Behandlung durch Bürger*innen kommt überdurchschnittlich häufig vor. Jede*r vierte befragte Polizist*in erfährt im Beruf sehr

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eine Chronologie von Einzelfällen vgl. das Projekt der Jugendorganisation des Deutschen Beamtenbundes NRW: https://www.angegriffen.info/ (01.02.2019).

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häufig oder oft eine respektlose Behandlung – überwiegend durch Bürger*innen. Im Durchschnitt bei allen Beschäftigten sind es hingegen nur 10 %, die durch Kund*innen bzw. Bürger*innen respektlos behandelt werden (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2017, S. 3). Für das Ansprechen der vulnerablen Personengruppe ist weiterhin die Frage zentral, wie Polizist*innen mit der hohen Belastung umgehen. Die Anforderung, die eigenen Gefühle zu verbergen, ist im Polizeiberuf deutlich stärker ausgeprägt als bei anderen Beschäftigten (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2017, S. 4). Studien zur Polizeikultur zeigen darüber hinaus, dass durch die männliche Organisationskultur, die bei der Polizei vorherrscht, das Sprechen über Gefühle (Szymenderski 2012) und die aktive Inanspruchnahme von Unterstützung (Behr 2008) bei der Polizei selten vorkommen. Das bisherige Angebot des Gesundheitsmanagements für Verwaltungsmitarbeitende und für die Polizei bietet keine digitale Applikation, die zusätzlich zu anderen Angeboten eine niedrigschwellige Unterstützung bietet. Die mit einem solchen Angebot verbundenen Vorteile werden im Folgenden benannt.

3 Chancen der digitalen Reflexion und Beratung für das BGM Die Chancen der digitalen Unterstützung von Reflexion können vor allem im Bereich der Zugänglichkeit von Beratungsangeboten gesehen werden. Der Zugang ist niedrigschwellig, kann anonym geschehen und ist orts- und zeitunabhängig. Das Risiko, das oftmals von Kritiker*innen formuliert wird, ist das Ziel der finanziellen Einsparungen. Damit ist die Sorge verbunden, das face-to-face Angebote nicht ergänzt, sondern ersetzt werden, um Personal und Ressourcen einzusparen. Die Unterstützungsangebote würden somit nicht erweitert, sondern verringert. Betrachtet man Entwicklungen in anderen Bereichen der Digitalisierung, so wird zurecht auf dieses Risiko hingewiesen. Zahlreiche Beispiele, in denen Dienstleistungen digitalisiert wurden, gingen mit Personalabbau und letztendlich einer Übertragung von Aufgaben an die Nutzer*innen einher. Dieses Risiko ist aber nicht dem Konzept digitalisierter Angebote zwingend inhärent und wird daher im Folgenden nicht betrachtet. Vielmehr soll hier danach gefragt werden, wie ein ergänzendes digitales Beratungsangebot konzipiert werden kann. Das Potenzial der Anonymisierung von Angeboten des Gesundheitsmanagements ist für die Arbeitsfelder der öffentlichen Verwaltung nicht zu unterschätzen. In den Verwaltungen und der Polizei haben die meisten Mitarbeitenden

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Beamtenstatus. So besteht bei Beamten auf Probe etwa die Sorge, dass durch die Inanspruchnahme von psychosozialer Beratung der Dienstherr aufmerksam wird und eine Prüfung der Eignung veranlassen könnte. Die befürchtete Folge ist der Ausschluss der Verbeamtung auf Lebenszeit. Ähnlich wird die Sorge auch von bereits langfristig verbeamteten Personen beschrieben, dass diese durch dokumentierte psychische Probleme als dienstunfähig eingestuft werden könnten. Unterstützung zur Bearbeitung von Stress, Konflikten und anderen psychische Belastungen wird daher nicht ohne weiteres in Anspruch genommen. Dort, wo diese Belastungen personenbezogen sichtbar werden können, besteht eine Hemmschwelle der Hilfesuche, da berufliche Konsequenzen erwartet werden – oft unabhängig davon, ob diese Sorge beamtenrechtlich tatsächlich gerechtfertigt ist. Daher gibt es etwa bei einzelnen Polizeidienststellen mittlerweile Vereinbarungen mit externen Beratungsstellen, die ein gewisses Kontingent an anonymen Beratungsstunden umfassen. Ein*e Polizist*in kann sich also ohne über den Dienstweg zu gehen an diese Beratungsstelle wenden und sich beraten lassen, ohne dass für die Abrechnung seine/ihre Daten an den Dienstherrn weitergegeben werden. Diese Form der anonymen Angebote sind aber bislang noch nicht in allen Ländern und nicht in allen Dienststellen möglich. Für die erste Phase der Reflexion, in der sich der/die Mitarbeitende orientieren kann, ob und in welcher Form er/sie Bedarf an weiterer Unterstützung hat, wäre eine anonyme digitale App ein sehr hilfreiches und niedrigschwelliges Angebot. Die Niedrigschwelligkeit ist in einigen Berufsgruppen noch aus weiteren Gründen notwendig. So wird etwa die Kultur der Polizei weiterhin als männlich orientiert beschrieben (Behr 2008). Mit Arbeitsanforderungen nicht klar zu kommen oder Hilfe zu benötigen wird oftmals als eigene Schwäche wahrgenommen. Dadurch gibt es eine Hemmschwelle, individuelle gesundheitsförderliche Unterstützungsangebote anzunehmen. Die Orts- und Zeitunabhängigkeit einer Reflexions-App mag die Schwelle noch weiter herabsetzen. Auch wenn Mitarbeitende im öffentlichen Dienst noch nicht bereit wären, an einem gesundheitsförderlichen Angebot teilzunehmen oder einen Beratungstermin zu vereinbaren, könnte eine erste Auseinandersetzung mit einer belastenden beruflichen Situation anhand der jederzeit verfügbaren App frühzeitig ausprobiert werden. Eine digitale Reflexions-App würde daher eine hilfreiche Ergänzung zu bestehenden Angeboten des Gesundheitsmanagements oder der psychosozialen Beratung bieten, die zu einer niedrigschwelligeren und somit früheren Auseinandersetzung mit beruflichen Herausforderungen führen kann.

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4 Systematisierung vorliegender Apps im Bereich BGM und Beratung Ein systematischer Überblick über Apps im Bereich Beratung im weitesten Sinne liegt bislang nicht vor, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Entwicklung neuer Apps seit einigen Jahren sehr dynamisch ist und digitale Reflexions- und Beratungstools sowohl in der angewandten Forschung, von öffentlichen Einrichtungen sowie von privaten Unternehmen entwickelt werden. Das führt dazu, dass es bislang keine einheitlichen Distributionswege gibt – wie wir es etwa von Beratungsbüchern oder psychologischen Tests kennen. Auch haben sich die entsprechenden größeren Fachgesellschaften für Coaching und Supervision dem Thema noch nicht oder nur punktuell angenommen, sodass von dieser Seite noch keine Empfehlungen und Aussagen zur Qualität von digitalen Beratungstools vorliegen. Im Folgenden wird daher eine Systematisierung vorgenommen. Dafür werden unterschiedliche Formen des Coachings unterschieden. Die Varianten sind in Tab. 1 dargestellt. Zur Nutzung im Coaching werden Kommunikationstechnologien für synchron (Telefon- und Videocoaching sowie Avatare, vgl. Ghods und Boyce 2013; Bredl et al. 2017) oder asynchron (E-Mail-Coaching, vgl. Ribbers und Waringa 2015) vermittelte auditive, audiovisuelle und textliche Kommunikation genutzt. Für unseren Zweck ist es wichtig zwischen demjenigen Medieneinsatz zu unterscheiden, der den Coachingsprozess durch neue zusätzliche Problemlösungstools anreichert und demjenigen, der die Anwesenheit eines Coaches ersetzt (Kluge und Hagemann 2016). Tab. 1   Reflexion und Coaching mit und ohne Anwesenheit eines Coaches Präsenz-Coaching

E-Coaching

E-Selbstcoaching

• Face to face • Anwesenheit eines Coaches

Synchron: • Telefon • Videokonferenz • Chat • Avatar Asynchron • Email

Nicht-interaktiv • Information • Hinweise/Ratschläge Interaktiv • Reaktion auf Nutzer-Eingabe aufgrund von Eingabe-Aufforderungen (z. B. Leitfragen, Fragebögen) • Künstliche Intelligenz/Algorithmen

Blended Coaching: Verbindung der drei Ansätze

Reflexions-App als Beratungstool für das Betriebliche …

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Zur klaren Unterscheidung können drei Begrifflichkeiten genutzt werden: • Präsenz-Coaching: der face-to-face Dialog zwischen Coach und Coachee. • E-Coaching: die gemeinsame Arbeit zwischen Coach und Coachee via Telefon, Videokonferenz, Avatar, Chat (synchron) oder E-mail (asynchron). • E-Selbstcoaching: Angebote, die ohne persönliches Gegenüber durch ein Computerprogramm oder eine App den Selbstreflexionsprozess anleiten. Dabei lassen sich nochmals interaktive und nicht-interaktive Anwendungen unterscheiden. Nicht-Interaktive Anwendungen stellen etwa Informationen bereit oder geben Anregungen zur individuellen Reflexion, z. B. anhand vordefinierter Reflexionsfragen. Solche Reflexionsanregungen, wie Leitfragen, Fragebögen, Tests oder Übungsanleitungen, können aber auch interaktiv eingebunden werden. Antworten und Ergebnisse werden durch die Nutzer eingegeben und führen anhand von programmierten Entscheidungsbäumen zu weiterführenden Reflexionsschritten. Solche Angebote sind bislang meist textbasiert, können aber auch Bilder und Videos nutzen. Weitergehende interaktive Anwendungen verarbeiten die Inputs der Nutzer anhand künstlicher Intelligenz. Durch Algorithmen wird auf die Eingaben reagiert. Positive Erfahrungen mit interaktiven Anwendungen liegen im Bereich der Psychotherapie spezifischer Störungsbilder (z. B. Depression, Schlafstörungen, Essstörungen) vor (Klein et al. 2016), werden aber im Coaching noch nicht systematisch genutzt. Untersucht wurde der Einsatz solcher technischer Mittel bislang ausschließlich im Blended-Coaching, d. h. in der Kombination von Präsenz- oder E-Coaching mit Elementen des E-Selbstcoachings. Alle drei genannten Varianten des Coachings können im Sinne eines Blended-Coachings miteinander kombiniert werden. Das Interesse des vorliegenden Beitrags ist es, den Nutzen des alleinstehenden E-Selbstcoachings weiter zu untersuchen. E-Selbstcoaching bietet sich besonders an, wenn man a) eigenständig seine Arbeit reflektieren möchte, b) prüfen will, ob Hilfe von außen notwendig ist oder das Problem selbstständig durch Selbstreflexion bearbeitet werden kann, c) sich auf ein Präsenz-Coaching systematisch vorbereiten will, um im Erstgespräch genau sagen zu können, was die Problematik ist und welche Ziele man verfolgt, d) die Zeit zwischen den Coachingsitzungen nutzen möchte, um die Thematik eigenständig weiterzuentwickeln, oder e) ein abgeschlossenes Präsenz-Coaching nacharbeiten möchte (Helm 2009, S. 6). Somit geht mit dem Angebot des E-Selbstcoachings eine Reduzierung des Betreuungsaufwands durch einen erhöhten Grad an Selbstorganisation und Eigeninitiative einher. Übergreifende Statistiken über die ausschließliche Nutzung von E-Selbstcoachings liegen nicht vor.

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Umfragen zeigen, dass auch E-Coachings in Deutschland weiterhin einen geringen Anteil ausmachen und dabei vor allem Telefoncoaching genutzt wird (Middendorf 2016). Die Anzahl der Coaching-Apps nimmt aber kontinuierlich zu (Kanatouri 2016), empirische Wirkungsprüfungen liegen bislang nur vereinzelt vor (Geißler 2017).

5 Konzept für eine integrierte Reflexions-App für das BGM im öffentlichen Dienst Die Idee der Reflexions-App fokussiert auf das E-Selbstcoaching und verbindet darüber hinaus Angebote für das E-Coaching. Optional kann ein Modul integriert werden, das zum face-to-face Coaching weitervermittelt. Die bislang vorliegenden Apps bieten in den meisten Fällen nur singuläre Funktionalitäten. Z. B. gibt es Achtsamkeits-Apps, die Information über Achtsamkeitsübungen verbunden mit einer Kalenderfunktion zur Erinnerung an die Übungen anbieten. Andere Apps vernetzen Personen mit spezifischen Gesundheitsbedarfen in Foren, in denen sie sich mit anderen Betroffenen austauschen können, etc. Die hier vorgestellte Idee der Reflexions-App zielt darauf ab, ein modulares System zu entwickeln, in dem eine Vielzahl an Funktionalitäten kontext- und bedarfsbezogen (z. B. berufsbildspezifisch) integriert werden. Entsprechende Module werden im Folgenden vorgestellt und anhand ausgewählter Beispiele veranschaulicht. Die Module der App sind in Abb. 1 dargestellt. Die Applikation sollte idealerweise vier Modulsäulen haben: a) Diagnostik, b) E-Selbstcoaching, c) E-Coaching und d) Vermittlung und Vernetzung mit face to face Berater*innen und organisationalen Unterstützungssystemen. Situationsanalyse/Diagnostik Eine Diagnostik im umfassenden Sinne, wie es etwa die berufsfachlichen Standards der Psychotherapie vorsehen, ist digital nicht möglich. So weist etwa die

Abb. 1   Module der Reflexions-App

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Psychotherapeutenkammer in Ihrem Standpunktepapier zur Internet-Therapie darauf hin, dass Diagnostik unter anderem zwingend auf direkter Interaktion, unter Einbezug von Mimik und Gestik, beruhe (Bundespsychotherapeutenkammer 2017, S. 10). Auch Video-Telefonate seien dafür nicht ausreichend. Psychotherapeutische Diagnostik erfordert also immer eine face-to-face Situation. Betrachtet man allerdings die psychologische Subdisziplin Diagnostik, so zeigt sich eine Test-Fokussierung, die methodologisch ja gerade darauf fokussiert, die Testung beobachterunabhängig zu gewährleisten. Nicht ohne Grund beschreiben Wottawa und Hossiep (1997, S. 11) die Diagnostik als „wissenschaftsgestützte Technologie“. Bestimmte Testverfahren ließen sich daher auch für eine digitalisierte Version adaptieren. Coaching muss die genannten Standards nicht erfüllen, zielt es ja auch nicht auf die Behandlung psychischer Störungen ab. Allerdings liegen für die Diagnostik im Coaching bislang auch kaum systematische Zugänge vor (s. für einen Überblick Möller und Kotte 2018). Für das Coaching eignet sich zunächst ein breites Verständnis von Diagnostik, nämlich „das systematische Sammeln und Aufbereiten von Informationen, mit dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen zu begründen […]“ (Jäger und Petermann 1999, S. 11). Die Diagnose im Coaching erfordert eine differenzierte Zielklärung sowie eine individuelle Analyse der Ausgangsbedingungen (Möller und Kotte 2018, S. 106). Möller und Kotte (2018) unterscheiden in ihrem Diagnose-Konzept die drei Ebenen: a) Inhalt, b) Instrument und c) Informationsquelle. Im E-Selbstcoaching fällt auf Ebene des Instruments der Coach als Interaktionspartner weg. Als Instrumente kommen daher vor allem standardisierte Testverfahren und Leitfäden infrage. Als Informationsquelle dient ausschließlich der Coachee. Fremdeinschätzungen, sei es durch den Coach oder durch organisationale Akteure, kommen hier nicht infrage. Für das E-Selbstcoaching geht es also um eine robuste Selbsteinschätzung der Nutzer*in hinsichtlich ihres Anliegens. Dieses kann vielfältig sein und alle Bereiche des Arbeitslebens betreffen. Inhalte können Stress oder Konflikte am Arbeitsplatz sein, ebenso kann es die Arbeitsmotivation, das Selbstmanagement hinsichtlich der Arbeitsorganisation und Leistungserbringung, oder etwa Kompetenzerwerb betreffen. Eine Herausforderung für eine App zum E-Selbstcoaching ist es, dass auch gravierende psychische Störungen bei einer Nutzer*in vorliegen können, die anhand der App nicht diagnostizierbar sind und mithilfe der App nicht behandelt werden können. Für diese Fälle müssen Lösungen gefunden werden, die Nutzer*in zielgerichtet und verantwortungsvoll zu entsprechenden Unterstützungsangeboten weiterzuleiten. In Bezug auf die Zielgruppe der

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­ erwaltungsmitarbeitenden und Polizist*innen wäre das etwa bei TraumatisierunV gen aufgrund von Einsätzen der Fall. Für die Selbsteinschätzung bieten sich vor allem auf das Individuum bezogene Tests mit unterschiedlichem inhaltlichem Fokus an, etwa zur Persönlichkeit, zum Führungsverhalten, zur emotionalen Intelligenz, zur Stressresistenz oder Motivfragebögen. Für vorformulierte Reflexions-Leitfäden verweisen Geißler et al. auf die Wichtigkeit von a) der Qualität der vordefinierten Coachingfragen sowie b) der Vorgabe, dass die Klient*innen ihre Zwischenergebnisse schriftlich fixieren (Geißler et al. 2014). E-Selbstcoaching Die Säule des E-Selbstcoachings kann in mindestens vier Bereiche unterteilt werden. Mögliche Aufgaben werden im Folgenden jeweils anhand von Beispielen dargestellt. Als Beispiel werden aktuell bereits betriebene Apps benannt, die mögliche Formate veranschaulichen sollen. Die Wirksamkeit dieser Apps wurde vom Autor nicht überprüft und leider auch nicht von den Anbietern nachgewiesen. Bei der Entwicklung weiterer und umfassender Applikationen für das E-Selbstcoaching ist es zwingend geboten, Wirksamkeitsprüfungen vorzunehmen. Information  Die erste Intervention einer Reflexions-App ist die Bereitstellung von Information zu einem möglichst zielgruppengenauen und breiten Spektrum von Themen des Gesundheitsmanagements. Diese Information kann durch instruktive Kurztexte, durch Verweise/Links zu externen Ressourcen und durch Filme präsentiert werden. Ein Beispiel für berufliche Informationsressourcen zum Thema Stressmanagement ist etwa die App „Moving Forward“2. Diese App ist vom U.S. Department for Veterans Affairs für Kriegsveteranen entwickelt worden, eignet sich aber ebenso für andere Personen, die sich über Stress informieren möchten, ihre Stresswahrnehmung und den Umgang mit Stress verbessern möchten. Hier wird beispielsweise Information zu körperlichen, verhaltensbezogenen, kognitiven und emotionalen Anzeichen für Stress vermittelt. Anhand von Übungen kann aber auch ein veränderter Umgang mit Stress eingeübt werden. Selbstreflexion  Zur Selbstreflexion können durch die App systematisch aufeinander aufbauende Fragen und Hinweise präsentiert werden. Die thematische Auswahl kann die Nutzer*in selbst steuern. Inhaltsbereiche werden aufgrund der Anliegenklärung in der Phase der Diagnose/Selbsteinschätzung vorgeschlagen.

2Vgl.

https://mobile.va.gov/app/moving-forward (01.03.2019).

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Zur Sicherung der Reflexion werden Zeiträume für die Auseinandersetzung festgelegt, Erinnerungssignale können eingestellt werden und die Nutzer*in wird aufgefordert, Reflexionsschritte und Ergebnisse schriftlich zu dokumentieren. Ein Beispiel ist etwa eine Ressourcenbaum App der Firma CIA3. Fragegeleitet können eigene Ressourcen gesammelt, strukturiert und reflektiert werden. Durch visuelle Unterstützung können die Ressourcen geordnet und in Zusammenhang gebracht werden. Die App kann in Entscheidungssituationen oder bei Themen der beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung genutzt werden. Aus Erfahrungen mit Coaching und kollegialer Beratung mit der Zielgruppe der öffentlichen Verwaltung und der Polizei wäre es immens hilfreich, eine standardisierte Anleitung für die individuelle Fallreflexion zu entwickeln und anzubieten. Ein solches Tool liegt bislang noch nicht vor, allerdings gibt es bereits digitale Angebote für kollegialen Austausch (s. u.). Kompetenztraining  Eine Reihe von Angeboten unterstützen bei dem Erwerb von Kompetenzen. Diese gehen über das oben genannte Informationsmodul hinaus und versuchen, Wissen auf eigene Handlungsprobleme anzuwenden und erste Schritte der Handlungsveränderung zu planen und zu erproben. Apps liegen etwa für die Kompetenzbereiche des Stressmanagements, des Selbstmanagements oder des Kognitionstrainings vor. Ein Beispiel ist die App „Skimio – Digital. Learning. Coach“4. Diese App fungiert als digitaler Coach für die persönliche Weiterentwicklung von Mitarbeitenden in Organisationen. Anhand von Lernanregungen wird in vier Phasen die Aneignung von Kompetenzen unterstützt. Die Phasen werden als Think – Read – Talk – Do beschrieben. Anhand einer Frage (z. B. Was motiviert mich?) wird über das Themenfeld und mögliche Kompetenzziele nachgedacht. Durch Texte oder Videos wird Wissen vermittelt. Die nächste Einheit geht über den Ansatz des Selbstcoachings hinaus. Über ein Austauschmodul besteht hier die Möglichkeit, sich über Kompetenzziele mit Kolleg*innen auszutauschen und auch ein externes Feedback einzuholen. Im Schritt Do werden eigenständig Handlungspläne erstellt, die später ausprobiert werden können, wodurch der Transfer in die Alltagspraxis hergestellt werden soll. Entspannung  Ein breites Angebot an Apps gibt es bereits für den Bereich der Entspannung, Meditation und Achtsamkeit. In diesem Bereich ist das Angebot unübersichtlich und die Qualität der Apps für die Nutzer*innen schwer zu

3Vgl. 4Vgl.

https://www.cai-world.com/apps (01.03.2019). https://skimio.com/ (01.03.2019).

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beurteilen. Weiter sind die Apps in der Regel thematisch auf ein einziges Thema begrenzt. Die Entwicklung einer umfassenden App für Gesundheitsmanagement sollte bestehende Konzepte für Entspannung integrieren und Qualitätsmerkmale (z. B. durch wissenschaftliche Studien zur Achtsamkeit) transparent machen. Ein Beispiel ist die App „Mindfulness Coach“ des U.S. Department for Veterans Affairs.5 Neben Information bietet die App angeleitete Übungen zum Achtsamkeitstraining. Erinnerungs- und Dokumentationsfunktionen ermöglichen die Übersicht über absolvierte Übungseinheiten und eigene Fortschritte. E-Coaching Eine weitere Säule der App sollte die Einbeziehung von Personen – Coaches oder Peers – ermöglichen. Diese würden digital vermittelt den Coachingprozess gestalten. Zwei Varianten können dabei unterschieden werden, das OnlineCoaching und das Online-Peer-Coaching. Online-Coaching  Über diese Funktion kann bei Bedarf Kontakt zu einem Coach aufgenommen werden. Die App muss dazu an einen Coach-Pool für OnlineCoaching angeschlossen werden. Das Coaching kann dann via Email, Chat oder als Video-Coaching durchgeführt werden. Hier bietet sich die Kooperation mit Verbänden für Online-Beratung an, um die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Diese geben etwa technische Standards vor, die insbesondere für den Datenschutz unverzichtbar sind (DGOB – Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung 2018). Technisch könnte eine entsprechende Plattform für das Online-Coaching in die App integriert oder aber an bestehende Plattformen weitergeleitet werden. Ein Beispiel für das videobasierte Online-Coaching ist das U.S.-amerikanische „VA Video Connect“6, eine Plattform, über die nach aktuellen Datenschutzbestimmungen (in den USA) Beratung über unterschiedliche Devices mit Internetzugang (PC, Tablet, Smartphone) ermöglicht wird. In Deutschland hat etwa die Caritas ein umfassendes System für Email-Beratung aufgebaut.7 Hier kann – anders als bei Video-Coaching – auch anonym Beratung in Anspruch genommen werden.

5Vgl.

https://www.ptsd.va.gov/appvid/mobile/mindfulcoach_app.asp (01.03.2019). https://mobile.va.gov/app/va-video-connect (01.03.2019). 7Vgl. https://www.caritas.de/hilfeundberatung/onlineberatung/allgemeine-sozialberatung/ (01.03.2019). 6Vgl.

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Online-Peer-Coaching  Eine hilfreiche Ergänzung des E-Selbstcoachings im betrieblichen Gesundheitsmanagement ist die Vernetzung der Nutzer*innen mit Kolleg*innen. Eine niedrigschwellige Variante ist ein informeller Austausch mit Gleichgesinnten im Rahmen eines online-Forums. Hier können Fragen gestellt und Rückmeldungen gegeben werden. Aufwendiger ist die Übertragung der Methode der Kollegialen Fallberatung (Tietze 2018) in eine online-Variante. Hier werden Personen über die App online mit Peers aus vergleichbaren Berufsfeldern vernetzt. Für die Umsetzung dieser Kollegialen Online-Beratung bedarf es – zumindest einführend – eines Facilitators. Nutzer*innen-Foren zur Gesundheitsförderung sind bereits heute in den Bereichen von Sport, Entspannung und Zielerreichung verbreitet. Beispielsweise die App „Coach Me“ unterstützt die Zielformulierung und -erreichung.8 Um soziale Kontrolle zu erzeugen ermöglicht sie es, in einem Forum seine eigenen Ziele (z. B. zur beruflichen Weiterentwicklung oder zur gesunden Ernährung) zu veröffentlichen und somit Rückmeldungen zur Verstärkung aus der Community zu erhalten. Ein Konzept und eine Plattform zur Kollegialen Fallberatung online bietet etwa die Internet-Plattform „KOBEO – Kollegiale Beratung Online“9 (Jordaan et al. 2016). Sie ist für Schulen entwickelt worden. Lehrer*innen stellen fest, dass schulische Strukturen das regelmäßige Zusammentreffen der Gruppe erschweren. Die Plattform KOBEO dient daher als Ergänzung zu den Vor-Ort-Treffen. Vermittlung und Vernetzung Eine vierte Säule der Reflexions-App betrifft die Vermittlung von face-to-face Coaches oder die Weiterleitung an organisationale Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Diese Säule muss folgendes leisten: integriert in die drei vorhergehenden Säulen müssen immer wieder Abfragen und Prüfpunkte eingebaut sein, ob eine persönliche Beratung erwünscht ist oder empfohlen wird. Von jeder Stelle innerhalb der App-Angebote ist also der Zugang zur zielgerichteten Vermittlung an persönliche Berater*innen möglich. So wird sichergestellt, dass bei schwierigeren Anliegen frühzeitig eine angemessene Beratung gewährleistet wird. Die Vermittlung zu Coaches anhand von Coach-Pools und Vermittlungs-Services (etwa durch telefonische Vorgespräche) ist bereits bei mehreren online-Coaching Anbietern üblich. Das Betreiben der App müsste nach einem solchen Prinzip

8Vgl. 9Vgl.

https://www.coach.me/ (01.03.2019). https://www.kobeo-lehrer.de (01.03.2019).

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mit entsprechenden Anbietern zusammenarbeiten. In bestimmten Bereichen des öffentlichen Dienstes sind auch bereits Coach-Pools etabliert, auf die per App zugegriffen werden könnte. So verfügen etwa die Landespolizeien in der Regel über Coaching-Angebote im Rahmen ihrer psychologischen Dienste.

6 Diskussion und zukünftige Perspektiven Demografischer Wandel, technischer und politischer Wandel sowie abnehmender Respekt von Bürger*innen gegenüber Verwaltungsmitarbeiter*innen und Polizist*innen führen zu neuen Herausforderungen hinsichtlich der Gesunderhaltung der Mitarbeitenden im öffentlichen Dienst. Bestehende Angebote des betrieblichen Gesundheitsmanagements können durch neue digitale Angebote wirkungsvoll ergänzt werden. In diesem Beitrag wurde eine App vorgeschlagen, die ein niedrigschwelliges, zeitlich und räumlich unabhängiges und bei Bedarf anonymes Angebot des Gesundheitsmanagements bietet. Die Reflexions-App baut auf vier Säulen: Diagnose, E-Selbstcoaching (Selbstreflexion), E-Coaching (durch digital vermittelte persönliche Coaches) und Vermittlung zu persönlichen faceto-face Berater*innen und anderen Unterstützungsstrukturen des Gesundheitsmanagements. Mit diesem modularen Aufbau einer Reflexions-App liegt ein Konzept vor, für das mögliche Funktionen sowie zu lösende Herausforderungen definiert sind. Es zeigt sich, dass eine ganze Reihe digitaler Angebote bereits vorliegt, an die angeknüpft und die im Rahmen einer Reflexions-App integriert werden könnten. Die bereits vorliegenden digitalen Apps und Internet-Plattformen führen aber vor allem zwei große Defizite mit sich. Einerseits sind zahlreiche Apps im Umlauf, die singuläre und sehr eingeschränkte Funktionen anbieten. Um auf ein angemessenes Angebotsspektrum zur Gesundheitsförderung zugreifen zu können, müssten Nutzer*innen mehrere Apps herunterladen und für einzelne Funktionen zwischen diesen hin und her springen. Andererseits ist die Wirksamkeit der allermeisten Angebote nicht überprüft worden bzw. es wird auf den entsprechenden Angebots-Webseiten nicht auf Überprüfungen hingewiesen. Eine systematische und durch Arbeitgeber*innen unterstützte Gesundheitsförderung erfordert Tools, deren Wirksamkeit überprüft ist. Das hier vorgelegte Konzept für die Reflexions-App stellt einen ersten Schritt auf dem Weg zu einem integrierten und wirkungsorientierten Angebot im Rahmen des Gesundheitsmanagements öffentlicher Verwaltungen dar.

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Blogs, Apps und EB? – Ein Digitalisierungsprojekt der Erziehungs- und Familienberatung Stephan Rietmann und Maik Sawatzki

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag skizziert eine Projektierung zur reflektierten Implementierung digitaler Produkte in die institutionelle Konzeption von Erziehungsberatungsstellen einschließlich der kritischen Analyse möglicher Chancen und Risiken. Neben der Grundidee werden Relevanz von Digitalisierung sowie Projektverlauf und -konzeption vorgestellt. Ziel ist es einen konstruktiven Beitrag zur zukünftigen, auch digitalen Angebotsgestaltung und Zielgruppenadressierung von Erziehungsberatungsstellen zu leisten. Schlüsselwörter

Digitalisierung · Erziehungsberatung · Familienberatung · Kooperation · Apps ·  Blogs · Adressierung · Angebotsgestaltung

S. Rietmann (*)  Caritasverband Borken e. V., Borken, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Sawatzki  WWU Münster, Institut für Erziehungswissenschaft, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2_19

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S. Rietmann und M. Sawatzki

1 Projektanlass und Grundidee verbandlicher Kooperation Digitalisierung ist ein Megatrend, der die Zukunft unserer Gesellschaft maßgeblich beeinflussen und bestimmen wird. Die Geschäftsführungen der caritativen Verbände im der Diözese Münster haben sich daher in einem Dialogprozess verständigt, Lösungen zur Gestaltung von Digitalisierung im Bereich ihrer Dienste und Einrichtungen anzustreben und eine digitale Agenda aufzustellen. Hier setzt das Projektkonzept an, das konkrete Schritte in die digitale Zukunft der Erziehungsund Familienberatung vorschlägt und beschreibt. Digitalisierung und Mediatisierung lassen sich dabei als zwei Größen innerhalb einer Fülle pluraler und postmoderner, gesellschaftliche Entwicklungsströmungen bezeichnen. Hinsichtlich der entstehenden Unübersichtlichkeit und partiellen Überforderung der aufmerksamkeitsfokussierten Informationsverarbeitung konstatieren Dutz und Paech (2018) beispielsweise eine zunehmende Oberflächlichkeit: „An die Stelle lustvoller Ausschöpfung tritt das buchstäblich oberflächliche Prinzip einer Aneignung, nämlich das Scannen und Surfen auf einem Ozean der Möglichkeiten, in den an keiner Stelle mehr eingetaucht werden kann“ (Dutz und Paech 2018, S. 53). Im Zeitalter scheinbar unendlicher Möglichkeiten und gleichzeitig gesteigerter Entscheidungszwänge und Versagensrisiken, braucht es auch für Anbieter professioneller Beratung sowohl kritisch-reflektierte Distanz als auch kompetenz- und befähigungsorientierte Begegnung mit diesem Phänomen, welches sich nicht nur als gesellschaftlich-kulturelles Faktum erweist, sondern sich auch perspektivisch als zentraler Entwicklungsimpulsgeber zeigen wird. Nach unserer Auffassung trifft dies auch Beratungsstellen als Institution (vgl. Berg/Sawatzki in diesem Band) und Soziale Dienste im Allgemeinen sowie Fragen der zeitmäßigen (Zielgruppen-)Adressierung und Angebotsgestaltung, jenseits der reinen, beraterisch-therapeutischen Fokussierung dieser Thematik auf Ebene von Prävention und Intervention (vgl. Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. 2011). Gerade an diesem Ort individueller Reflexion bedarf es digitaler Kompetenz und Bildung, um wirksame Prozessbegleitung zu ermöglichen. Zwecks praxisnaher Annäherung an jene organisationsbezogenen Digitalisierungsherausforderungen von Erziehungs- und Familienberatungsstellen und konkreter Praxisschritte auf der digitalen Agenda wurde diese Projektkonzeption als Ergebnis einer bereits langjährigen Kooperation zwischen zwei Erziehungsberatungsstellen konzipiert. In der Zusammenarbeit bündeln sich, im Sinne einer fachlichen Multiperspektivität, für die Erziehungs- und Familienberatung fruchtbare und diverse ­Perspektiven:

Blogs, Apps und EB? – Ein Digitalisierungsprojekt …

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• Diskursebene zwischen einem jungen Erziehungsberater und einem langjährigen Leiter einer EB • Diskursebene zwischen Leitungsperspektive und Mitarbeiterperspektive • Diskursebene zwischen den Disziplinen Psychologie und Erziehungswissenschaft • Diskursebene zwischen Praktikern, die in engem Kontakt zur Wissenschaft tätig sind • Diskursebene zwischen Verhaltensebene und Verhältnisebene, die sich eine politisch offensivere und engagiertere Erziehungsberatung wünscht. Erstere fokussiert auf die Beseitigung individueller Störungen, zweitere zielt darauf ab, Erziehungsberatung als aktiven Akteur gesellschaftlicher Gestaltung zu betrachten. Diese Perspektiven sollen eine gegenstandsangemessene Entwicklung der digitalen Agenda für tägliches Beratungshandeln fundieren.

2 Digitale Akzeptanz und thematische Relevanz Als Ausgangsfrage vor der Projektkonzeption war zu klären, inwiefern digitale Akzeptanz für Beratungsstellen überhaupt ein Erfolgsfaktor sein kann. Dabei war ein Blick auf die aktuelle Situation hilfreich, wie wir sie in vielen uns bekannten Erziehungsberatungsstellen in ähnlicher Weise vorfinden. Digitale Produkte – bzw. genauer digital vermittelte Techniken – haben in den letzten Jahren Einzug in die soziale Beratung genommen. Beispiele dafür sind elektronische Klientenakten oder die inzwischen langjährig bewährte Onlineberatung, die in den meisten Beratungsstellen vorzufinden ist (vgl. Kutscher 2018; Kreidenweis 2014; Merchel und ­Tenhaken 2015). Diese Technologien sind selten auf Betreiben der Erziehungsberatung selbst, sondern eher durch externe Impulse und Anforderungen, beispielsweise von Kostenträgern oder Dachverbänden implementiert worden. Dementsprechend wird diesen Instrumenten und Forderungen nach weiterer Digitalisierung in der Mitarbeiterschaft tendenziell kritisch-ablehnend, zurückhaltend und zögerlich begegnet. Gerade in der Erziehungsberatung ist ein Großteil der Mitarbeitenden jenseits des 40. Lebensjahres (vgl. Sawatzki und Ruttert 2018) und daher eher digital immigrant. Dies steht zwar durchaus im Kontrast zu einer vielfach intensiven privaten Nutzung von Smartphones, Messenger Diensten und dem Internet. Die Akzeptanz von Digitalisierung in der sozialen Beratung schätzen wir dennoch derzeit als tendenziell gering ein. Verbunden damit sind u. a. auch medienskeptische und medienkonservative Haltungen bei Fachkräften, die

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mitunter den Zugang zu bestimmten Zielgruppen und den Beratungsprozess selbst erschweren können (vgl. Bertsche und Como-Zipfel 2017, S. 248–249; Kutscher und Seelmeyer 2017, S. 233). Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch: Caritative Arbeit findet in einem gesellschaftlichen Kontext statt, der sich zunehmend und mit forcierter Geschwindigkeit digitalisiert. Eine der Hauptzielgruppen der Erziehungsberatung, Kinder und Jugendliche, sind digital natives und wollen angemessen, zeitgemäß und zielgruppengerecht angesprochen werden. Eltern und Familien sowie Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, Familienzentren und Schulen erwarten mit Recht eine informierte Beratung, mithin also eine kritische, konstruktive und reflektierte Antwort von professionellen Fachkräften, wenn es um die begründete Beurteilung digitaler Entwicklungschancen und – risiken geht. Nicht zuletzt kann eine ablehnende Haltung von Fachkräften Beziehungen zu einzelnen dieser Zielgruppen behindern und belasten. Institutionen der Sozialen Arbeit wie Beratungsstellen haben im Sinne einer Adressat*innenenorientierung (vgl. Graßhoff 2015, S. 12; Bitzan und Bolay 2017) die Aufgabe, Angebote und Leistungen so zu gestalten, dass diese auf die diversen Adressat*innen ausgerichtet und an dort stattfindende Diskurse, Handlungs-, Interaktions- und Erwartungsmuster anschlussfähig sind. Adressat*innenenorientierung lässt sich dabei als normatives Einstellungs- und Haltungsmuster beschreiben, welches sich insbesondere in Anlehnung an die theoretischen Diskurse zur Lebensweltorientierung und die kritischen Debatten um Expertokratisierung der Professionen Sozialer Arbeit und Psychologie, speist. Damit verbunden ist, neben normativen auch ethische Setzungen, die orientiert sind am Ziel der sozialen Gerechtigkeit, eine kritische Analyse bestehender Angebote und Institutionen vor jenem Hintergrund (vgl. Graßhoff 2015, S. 12). Den Wechselbezug zwischen gesellschaftlicher Veränderungsdynamik und institutionellen Anpassungsbedarfen stellen Engel et al. (2014) auch mit Blick auf Beratung her: „wenn die Welt sich verändert, muss sich auch Beratung verändern“ (Engel et al. 2014, S. 39). Wenn Beratungskräfte Menschen in Veränderungsprozessen glaubwürdig und kompetent begleiten wollen, sollten sie selbst bewegungs- und veränderungskompetent sein – in der hier thematischen Situation also digital informiert sowie urteils- und medienkompetent sein. In unserem Zusammenhang sehen wir es als bedeutsam an, dass sich unser gesellschaftlicher Kontext gerade in der Folge bisheriger digitaler Produkte und Prozesse bereits spürbar verändert hat, mit sozialen Auswirkungen auf Arbeit, Familie und Beziehungen. Es fehlt in vielen dieser verschiedenen Lebenszusammenhänge zunehmend an Routinen, krisenfreien Zeiten und Bereichen des Normalen. Dies kann dazu verleiten, sich fremdbestimmt zu fühlen, statt

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selbstbestimmt eigene Werte und Ziele zu verfolgen. Dabei können Gefühle des Ungenügens und des ständigen Hinterherlaufens entstehen. Menschen sind dann gefährdet, wohltuende Orientierungen einzubüßen und den Blick auf Wesentliches aus dem inneren Auge zu verlieren. Das Erleben von Überforderung, Erschöpfung, Burn-out, Angst und (Arbeits-)Sucht sind typische selbsthypnotische Antworten auf ein Leben in einer Welt voller Unberechenbarkeit und Wandel. Aus diesen Zusammenhängen leiten wir die Notwendigkeit ab, einen spezifisch caritativen Zugang zur Gestaltung digitaler Chancen einerseits und der Neutralisierung digitaler Risiken anderseits zu finden. Dies sehen wir als vorrangige Gestaltungsaufgabe, da caritative Arbeit im Kontext der Erziehungs- und Familienberatung vielfach mit Zielgruppen arbeitet, die nicht unbedingt zu Gewinnern gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse gehören (vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik [AKJstat] 2018). Da wir diesen Aspekt als erfolgskritisch sehen, ist die Akzeptanzförderung zentraler Bestandteil des Konzepts. Ziel soll es sein, gemeinsam eine fachlich fundierte, für Zielgruppen und Fachkräfte nachhaltig unterstützte Entwicklung zu leisten, die transferierbaren Nutzen bzw. Produkte auch für andere Beratungsstellen erzeugt.

3 Projektphasen und -verlauf Die Projektkonzeption sieht ein mehrstufiges Vorgehen vor:

Einführung eines fachlich fundierten Blogs zu Themen der Erziehungsberatung

Differenzierung des Blogs nach Nutzergruppen (Kinder, Jugendliche, Eltern, Fachkräe)

Entwicklung eines geeigneten digitalen Produkts (z.B. App)

Kommunikaon und Transfer der Projektergebnisse

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Kontinuierlich und projektbegleitend findet ein digitaler Dialog statt, den wir von seiner Funktion her als Entwicklungs-, Informations-, Klärungs- und Akzeptanzphase sehen. Die kritische Reflexion beispielsweise von Chancen, Risiken, Abneigungen und Befürchtungen im Umgang mit Digitalisierung finden sich in Familien und Unternehmen ebenso, wie in den Teams von Beratungsstellen. Daher kommt einem fachlichen Diskurs zentrale Bedeutung zu, denn darin sollen sich informierte und begründete Einstellungen bilden, eigene Vorurteile sichtbar werden, Vor- und Nachteile erörtert und ein für die einzelnen Fachkräfte und das Team stimmiger Bildungsprozess organisiert werden. Damit die bestehenden Perspektiven in einen fruchtbaren und ergebnisoffenen Dialog gehen können, soll dieser extern moderiert und begleitet werden, um Konsens, Dissens und Handlungsspielräume heraus zu arbeiten.

3.1 BLOG Der Blog stellt aus unserer Sicht einen sinnvollen Einstieg in aktives digitales Arbeiten dar. Erziehungsberatung ist vertraut mit der themenbasierten Kommunikation mit Zielgruppen, beispielsweise im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit oder Vorträgen. Wir sehen drei Hauptzielgruppen: • Fachkräfte und sozialräumliche Partner • Eltern • Kinder und Jugendliche Die Grundidee besteht darin, zu übergeordneten Themen wie beispielsweise Erziehung, Kinderschutz oder Lebensführungskompetenzen längerfristige, aufeinander aufbauende Reihen zu gestalten und anlassbezogene Blogs zu aktuellen Themen zu entwickeln. Eine Reihe zum Kinderschutz könnte beispielsweise unter Rückgriff auf bereits in der analogen Arbeit bestehende Netzwerke mit Fachleuten aus den Bereichen Medizin, Jugendhilfe, Justiz und Polizei bestehen (Rietmann 2018a). Mit diesen Akteuren könnten beispielsweise zielgruppengerecht aufbereitete Interviews geführt werden. Andere Themen könnten über eigene Arbeiten in Elterntrainings, aus Vorträgen und Projekten genutzt werden. Qualitätserwartungen an die Blog-Texte sind deren Originalität und Aktualität, eine präzise Problembeschreibung mit lösungsorientierten, motivierendem Verlauf sowie eine wissenschaftliche Fundierung mit praxisorientierten Impulsen für die jeweilige Leserschaft. Welche Zielgruppe vorrangig und erstrangig angesprochen werden soll, ist Gegenstand der Klärung im Projekt. Weitere Schritte sind erwünscht und denkbar:

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• Fundgrube für geprüfte Literatur • Hinweis auf Veranstaltungen wie Filme, Theaterstücke, etc. zum Thema • Praktisches, Nützliches, Übungen zum Probieren und Reflektieren

3.2 Differenzierung des Blogs Zielgruppen erwarten eine spezifische, zielgruppengerechte, anschlussfähige Kommunikation und glaubwürdige Information. Diesbezügliche Erwartungen sind bei Eltern anders als bei Kindern, Jugendlichen oder Fachkräften. Hier wird im Projektverlauf die Festlegung einer geeigneten Vorgehensweise erfolgen, welche Zielgruppe im Schwerpunkt und im ersten Schritt angesprochen werden soll. Darüber hinaus wird eine zielgruppenspezifische Binnendifferenzierung der Struktur des Blogs vorgenommen, dass die Kommunikation die Bedürfnisse der Zielgruppen trifft und mit der Arbeitsökonomie der Beratungsstellen vereinbar ist. Hier ist in den nachfolgenden Schritten geplant, weitere Beratungsstellen in die Entwicklung des Blogs einzubeziehen, die dann unter Redaktion eines definierten Projektteams einen gemeinsamen Auftritt miteinander weiterentwickeln.

3.3 Entwicklung eines digitalen Produkts (z. B. App) Als nächster Projektschritt wird die Entwicklung eines zeitgemäßen digitalen Produkts angestrebt. Hier ist geplant, ein federführend von einer der beteiligten Beratungsstellen mitkonzipiertes Instrument technisch als App weiter zu entwickeln. In einem europäischen Verbundprojekt (www.vocis.org) ist ein Fragebogen entwickelt worden, der die berufliche Selbststeuerung in Selbsteinschätzung erfasst und dazu nach Eingabe der Antworten automatisch ein Ergebnis generiert (Rietmann 2018b). Dieses wird in Form eines Ampelsystems dargestellt und bei Ergebnissen, die persönliche Entwicklungsbedarfe zeigen, werden Übungen zur eigenen Anwendung vorgeschlagen.

3.4 Kommunikation und Transfer der Projektergebnisse Die Projektergebnisse sollen einerseits den projektbeteiligten Verbänden digitale Entwicklungsschritte ermöglichen und verbindlich neue Produkte implementieren. Darüber hinaus ist angestrebt, Ergebnisse von transferierbarem Nutzen

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zu erzeugen, um die mit Digitalisierung verbundenen Skaleneffekte zu nutzen. Sobald der Entwicklungs- und Herstellungsaufwand geleistet ist, kosten Kopien keinen nennenswerten zusätzlichen Aufwand.

4 Perspektive Digitalisierung haben wir in der Einleitung dieses Beitrags als zukunftsbestimmenden gesellschaftlichen Megatrend beschrieben. Die dynamische Entwicklung, die bereits an vielen Stellen erfahrbar ist, hat Erziehungsberatung noch weitgehend außen vor lassen können. Dies wird sich künftig ändern, denn als Institution, die sich in täglicher Kooperation mit Kindern, Jugendlichen, deren Eltern und pädagogischen Fachkräften befindet, braucht es für die Mitgestaltung der digitalen Zukunft ein Mehr an Qualifikation, kritisch konstruktive Reflexion des Chancen-Risikofeldes und fachliche Fundierung im Umgang mit aktuellen und kommenden Themen der digitalen Wirklichkeit. Der hier vorgestellte konzeptionelle Ansatz nutzt gezielt die in Erziehungsberatung vorhandenen Kompetenzen und Erfahrungen, um diese in ein digitales Format zu bringen. In einem dazu parallelen digitalen Dialog werden Fragen der Akzeptanz und Anschlussfähigkeit an Werte und Ethos caritativer Erziehungsberatung geklärt. Die Aufgabenstellung, die wir mit der hier vorgestellten Konzeption sehen ist es, die Rolle des gesellschaftlichen Gestaltungsakteurs, den Erziehungsberatung in einigen Feldern heute innehat, an die digitalen Modernisierungserfordernisse anzupassen und weiter zu entwickeln.

Literatur Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJstat) (2018): Monitor Hilfen zur Erziehung 2018 – Datenbasis 2016. Lebenslagen. Transfergeldbezug. URL: http://hzemonitor.akjstat. tu-dortmund.de/3-lebenslagen/32-transferleistungsbezug/ [Stand: 17.12.2018]. Bertsche, Oliver/Como-Zipfel, Frank (2017): Sozialpädagogische Perspektiven auf die Digitalisierung. In: Soziale Passagen 8, 2, S. 235–254. Bitzan, Maria/Bolay, Eberhard (2017): Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. (bke) (2011): Generation digital. Neue Medien in der Erziehungsberatung. URL: https://www.bke.de/content/application/shop. download/1324387610_Generation_digital_Band_19.pdf [Stand: 17.12.2018]. Dutz, Katharina/Paech, Niko (2018): Wege aus der Bequemokratie – Loslassen will gelernt sein. In: Rietmann, Stephan & Sawatzki, Maik (Hrsg.): Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? Wiesbaden: Springer VS, S. 45–72.

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Engel, Frank/Nestmann, Frank/Sickendiek, Ursel (2014): „Beratung“ – Ein Selbstverständnis in Bewegung. In: Nestmann, Frank/Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Tübingen: dgvt-Verlag, S. 33–44. Graßhoff, Gunther (2015): Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Kreidenweis, Helmut (2014): IT-Nutzung in der Erziehungshilfe. In: Hiller, Stephan/Esser, Klaus & Macsenaere, Michael (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. s.l.: Lambertus Verlag, S. 482–486. Kutscher, Nadia (2018): Digital und professionell!? Implikationen der Digitalisierung für fachliche Logiken in der Sozialen Arbeit. In: Sozial extra Zeitschrift für soziale Arbeit 42, 3, S. 6–7. Kutscher, Nadia/Seelmeyer, Udo (2017): Mediatisierte Praktiken in der Sozialen Arbeit. In: Hoffmann, Dagmar/Krotz, Friedrich & Reißmann, Wolfgang (Hrsg.): Mediatisierung und Mediensozialisation. Wiesbaden: Springer VS. Merchel, Joachim/Tenhaken, Wolfgang (2015): Dokumentation pädagogischer Prozesse in der Sozialen Arbeit: Nutzen durch digitalisierte Verfahren? In: Kutscher, Nadia/Ley, Thomas & Seelmeyer, Udo (Hrsg.): Mediatisierung (in) der sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH, S. 171–191. Rietmann, Stephan (2018a): Erziehungsberatung – Dialogpartner im interdisziplinären Kinderschutz. In: Rietmann, Stephan & Sawatzki, Maik (Hrsg.): Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? Wiesbaden: Springer VS, S. 283–296. Rietmann, Stephan (2018b): Training selbstregulativer Kompetenzen. Ein EU-Projekt der Erziehungsberatung. In: Rietmann, Stephan & Sawatzki, Maik (Hrsg.): Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? Wiesbaden: Springer VS, S. 309–320. Sawatzki, Maik/Ruttert, Tobias (2018): Personalmanagement und -entwicklung in der Erziehungsberatung. In: Rietmann, Stephan & Sawatzki, Maik (Hrsg.): Zukunft der Beratung. Von der Verhaltens- zur Verhältnisorientierung? Wiesbaden: Springer VS, S. 185–235.

Autor*innenverzeichnis: Beratung und Digitalisierung

Berg, Mathias, Dr., Soziale Arbeit M.A., Dipl. Sozialpädagoge: Stellvertretender Leiter der Caritas Erziehungs- und Familienberatung Kerpen, Lehrbeauftragter im Fachbereich Sozialwesen an der Katholischen Hochschule NRW, Systemischer (Lehr-)Therapeut und Berater (DGSF). Vorstandsvorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Erziehungsberatung NRW. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Psychosoziale Diagnostik und Beratung in der Kinder- und Jugendhilfe, Bindungsforschung, Systemische Konzepte in Sozialer Arbeit und Therapie, Klinische Sozialarbeit. Kontakt: [email protected] Bernard, Andreas, Prof., Dr.: Gastwissenschaftler*in im „Centre for Digital Cultures“ der Leuphana Universität Lüneburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Digitale Kulturen, Kulturwissenschaften, Digitale Medien. Kontakt: ­[email protected] Buschner, Stefan,  Dr., Dipl. Mathematiker, Dipl. Physiker: Promoviert hat er am Forschungszentrum Borstel, bevor er für die Österreichische Akademie der Wis­ senschaften tätig wurde. Seit fast 20 Jahren setzt er IT-Projekte mit den Schwerpunkten IT-Sicherheit, Smartcards und elektronische Signaturen um, wobei sein fachlicher Fokus seit 15 Jahren im Bereich eHealth liegt. In diesem Bereich sind ihm auch schon mehrere Preise für die von ihm entwickelten Lösungen verliehen worden. Kontakt: [email protected] d‘Almeida-Deupmann, Ursula, Dipl. Heilpädagogin: Supervisorin (DGSv), zahlreiche Fort- und Weiterbildungen in Therapie- und Beratungsmethoden, Mitarbeiterin der Caritas Erziehungs- und Familienberatung Kerpen, freiberuflich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Rietmann et al. (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 15, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25528-2

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Autor*innenverzeichnis: Beratung und Digitalisierung

in Fort-, Weiterbildung, Moderation und Supervision tätig (www.mobibildung. de) – insbesondere zum Thema digitale Medien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Netzwerke in der Sozialen Arbeit, Familienleben im Medienwandel, Elternbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe, Soziale Arbeit und Digitalisierung. Kontakt: [email protected] Eggert, Susanne, Dr.: Stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Arbeits- und For­ schungsschwerpunkte: Familie und Medien, Medien in der frühen Kindheit, Medienaneignung von Kindern und Jugendlichen, Inklusion und Medien. Kontakt: [email protected] Emanuel, Markus, Prof., Dr.: EH Darmstadt, Professur für Theorien, Forschung und Handlungsansätze der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Erziehung und Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe, Kommunale/­Regionale Bildungsplanung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Leistungen und andere ­Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, insbes. Schulsozialarbeit, Bildung und Soziale Arbeit, Ökonomik der Sozialen Arbeit, Digitalisierung und Soziale Arbeit, Jugendhilfeplanung, Sozialplanung und Sozialberichterstattung. Kontakt: [email protected] Engel, Frank,  Dipl. Pädagoge: Wissenschaftlicher Geschäftsführer der ibfw-beratung. Kontinuierliche Veranstaltungen zur Beratung an der FH Bielefeld, Fachbereich Sozialwesen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen von Beratung, Entinstitutionalisierung und Öffnung von Beratung. Kontakt: [email protected] Geisler, Martin,  Prof., Dr.: Professor für den Bereich Kultur und Medien mit den Schwerpunkten Medienpädagogik, interkulturelle Kommunikation und Kulturpä­ dagogik. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Digitale Spiele in der Bildung, Soziales in Computerspielwelten/Kunst und Computerspiel, Medienpädagogik und Medienkompetenzen, Spielpädagogik/Spieltheorien/Spieldidaktik, Theaterpäda­ gogik/Improvisationstheater, Fotopädagogik/Fotokunst, Humor als Medium in der Sozialen Arbeit, Kulturelle Bildung, Nonverbale und verbale Kommunikation, Tiergestützte Arbeit, Ästhetik, Wahrnehmung, Rezeptive Film- und Computerspielanalyse, Präsentationstechniken/Rhetorik. Kontakt: [email protected]

Autor*innenverzeichnis: Beratung und Digitalisierung

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Thormann, Julia, Erziehungswissenschaftlerin B.A., Rehabilitationswissenschaf­ tlerin M.A., systemisch-humanistische Beraterin, NLP-Practitioner: Suchtberaterin, Fachreferentin für Suchtprävention, Projektleitung ESCapade Köln. Kontakt: [email protected] Kutscher, Nadia, Prof.’in, Dr., Dipl. Pädagogin, Dipl. Sozialpädagogin (FH): Professorin für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit an der Universität zu Köln. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit, Digitale Medien in Kindheit, Jugend und Familie, Bildungsungleichheit, ethische Fragen in der Sozialen Arbeit, Fluchtmigration und digitale Medien. Kontakt: [email protected] Möckel, Thomas,  Dr.: Akademischer Rat, Geschäftsführer des Zentrums für Medi­ endidaktik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Entwicklung und Medien, Erwerb von Medienkompetenz ab dem Vorschulalter, Konzeption und Implementierung von Trainings- und Lernsoftware, Kognitive Filmpsychologie. Kontakt: [email protected] Nieding, Gerhild, Prof.’in, Dr.: Lehrstuhlinhaberin der Professur für Entwicklungspsychologie und Leiterin des Zentrums für Mediendidaktik der Juli­ us-Maximilians-Universität Würzburg. Arbeits- und ­ Forschungsschwerpunkte: Entwicklung des Textverstehens und des Gedächtnisses, Entwicklung und Medien, Erwerb von Medienkompetenz ab dem Vorschulalter, Entwicklung von Raumkognitionen und mathematischen Kompetenzen, Frühförderung mathematis­cher Kompetenzen, Medienwirkung und Lernen mit Medien, Laborexperimentelle Methoden zur Messung von Medieneffekten bei Kindern und Erwachsenen, Entwicklung der Spielformen, Kognitive Filmpsychologie. Kontakt: nieding@psy­chologie.uni-wuerzburg.de Ohler, Peter,  Prof., Dr.: Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medienfor­ schung und Lehrstuhlinhaber der Professur Medienpsychologie der Technischen Universität Chemnitz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kognitive Medienpsychologie, Kognitive und emotionale Medienwirkungen, Laborexperimentelle Methoden, Kinder und Medien, Computer Game Studies, Virtuelle Umgebungen. Kontakt: [email protected]

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Autor*innenverzeichnis: Beratung und Digitalisierung

Rietmann, Stephan,  Dr., Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut (DGSF), Klinische Hypnose (M.E.G.): Leiter der Psychologischen Beratungsstelle beim Caritasverband Borken. Homepage: www.dr-rietmann.de, Kontakt: [email protected] Rosa, Hartmut, Prof., Dr.: Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung. Kontakt: [email protected] Sawatzki, Maik, Erziehungswissenschaftler/Sozialpädagoge M.A., systemischer Berater (SG): Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft im Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Universität Münster, Berater in der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche des Caritasverbandes Ahlen e. V., laufende Promotion zum Thema „Professionalität in der Erziehungsberatung“. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe/Hilfen zur Erziehung, Erziehungs- und Familienberatung, Adressat*innen Sozialer Arbeit, Professionalität in der Beratung, Professionstheorien Sozialer Arbeit, gesellschafts- und sozialpolitische Aspekte Sozialer Arbeit, Therapeutisierung und Entpolitisierung von Beratung. Kontakt: [email protected] Schlieker, Andreas:  Jahrgang 1967. Studium der Sinologie, Politischen Wissenschaften und Kulturwissenschaften in Bochum, Shanghai und an der Fernuni Hagen. Langjährige Asienaufenthalte. Organisation und Leitung von Studienreisen nach Asien. Veröffentlichungen in deutschsprachigen Medien Scholz, Detlef, Dr., Dipl. Pädagoge, Erziehungswissenschaftler, Systemischer Therapeut und Supervisor (SG), Systemischer Körperpsychotherapeut (GST): Leiter des Kompetenzzentrums und der Beratungsstelle für exzessive Mediennutzung und Medienabhängigkeit in Schwerin der Ev. Suchtkrankenhilfe MV gGmbH. Tätig in der Weiterbildung von TherapeutInnen, Erziehungs- und SuchtberaterInnen, Präventionsfachkräften sowie von LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. Kontakt: [email protected] Schophaus, Malte, Prof., Dr., Dipl. Psychologe: Professor für Psychologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Bielefeld. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Nachhaltige Personalentwicklung und Partizipation,

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Reflexionskompetenz und Peer-Coaching, wissenschaftliche Politikberatung, Forschungsevaluation. Mitgründer der umweltpsychologischen Beratungsgenossenschaft e-fect – dialog evaluation consulting eG. Aktuelle Entwicklung einer digitalen Reflexions-App. Kontakt: [email protected] Schubert, Gisela, Kommunikations- und Erziehungswissenschaftlerin M.A.: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Medienpädagogische Evaluationsforschung, Jugendliche und deren Partizipationsmöglichkeiten durch digitale Medien, Familie und Medien. Kontakte: [email protected] Schulz, Iren,  Dr., Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin: Selbständige Kommunikationswissenschaftlerin und Medienpädagogin mit den Schwerpunkten Medienaneignung, Medienkompetenz und Medienbildung. Kontakt: [email protected] Thiery, Heinz, Dipl. Pädagoge: Geschäftsführer DGOB (Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Online-Beratung). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Medientheoretische Verortung von Online-Beratung, Curriculumentwicklung/Fortbildungskonzepte, Begleitung von Modellprojekten ‚Online-Beratung‘, Folgen der Digitalisierung für die Soziale Arbeit. Kontakt: [email protected] Tietze, Kristina,  Sozialpädagogin B.A., NLP-Practitioner: Suchtberaterin, Fachreferentin für Suchtprävention. Kontakt: [email protected] Wannagat, Wienke, Dr.: Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Entwicklungspsychologie der Julius-Maximilians-Universität. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kognitive Prozesse beim Text- und Bildverstehen im Entwicklungsverlauf. Kontakt: [email protected] Weinhardt, Marc, Prof., Dr.: EH Darmstadt, Professur für psychosoziale Beratung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Professionalisierung von psychosozialen Fachkräften (Hochschul- und Weiterbildungswirkungsforschung), Psychosoziale Beratung unter besonderer Berücksichtigung systemischer Konzepte, Digitalisierung in der psychosozialen Versorgung, Lehren, Lernen & Forschen in Simulationsumgebungen, qualitative und quantitative Bildungsforschung, Didaktik der Sozialpädagogik unter besonderer Berücksichtigung kasuistischer Zugänge, Freiwilligendienste, Mentoring und Peerberatung. Kontakt: [email protected]

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Autor*innenverzeichnis: Beratung und Digitalisierung

Wenzel, Joachim, Dr., Dipl. Pädagoge, lehrender systemischer Therapeut/ Familientherapeut, Berater, Coach und Supervisor (DGSF): Langjährige Beratungs- und Leitungstätigkeit in der Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden und der daran angeschlossenen Krisenberatungsstelle in Mainz (Face to Face-, Mail- und Telefonberatung). Mehrjährige Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und als Lehrender an verschiedenen Hochschulen, am ifs Essen und praxis-institut Süd in Hanau. Selbstständig in eigener Praxis in Mainz als Trainer/Dozent, Berater/Therapeut und Supervisor/Organisationsentwickler. Promotion zum Thema „Wandel der Beratung durch Neue Medien“, Entwicklung des webbasierten Onlineberatungsansatzes und von Datenschutzkonzepten in der Beratung. Kontakt: [email protected]