Über Theater

Zusammengestellt und redigiert von Werner Hecht

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Über Theater

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Bertolt B re ch t

THEA TER Reclam

BRECHT - ÜBER THEATER

SPRACHE UND LITERATUR Schriften und Notate

Brecht

UBER THEATER

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig

ZUSAMMENGESTELLT UND REDIGIERT VON WERNER HECHT

Auf dem Theater wird „gespielt“. Von einer Beschreibung dieses Spiels kann man einigen Ernst erwarten, da es für die Gesellschaft wichtig sein kann. Jedoch sollte man nicht vermuten, es werde zu leicht genommen, wenn in der Beschreibung und bei der Erörte­ rung des Technischen nicht immerfort die großen Begriffe in der Luft herumfliegen. Zu diesem Spiel, soll es künstlerisch sein, ge­ hören Ernst, Feuer, Heiterkeit, Wahrheitsliebe, Neugierde, Gefühl von Verantwortung. Aber hört man echte Forscher immerfort von der Wahrheitsliebe, echte Revolutionäre immerfort von der Be­ geisterung für die Gerechtigkeit reden? Derlei halten sie für selbst­ verständlich.

Die dialektische Dramatik

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Was ist wohl Dialektik? Es ist heute üblich, sich auf den Standpunkt zu stellen * - und beinahe alle berufsmäßigen Beurteiler des Theaters und der Dramatik stellen sich auf diesen Standpunkt daß man sich im Theater naiv einstellen muß, und man ist überzeugt davon, daß man dies kann. Versteht das Theater sein Handwerk, dann hat sich der Zuschauer le­ diglich einzufinden (und da die Kritiker dafür bezahlt werden, finden sie sich immer ein). Nun wäre vom Stand­ punkt des neuen Theaters aus gegen eine naive Einstel­ lung des Zuschauers wenig zu sagen, wenn eine solche möglich wäre. Es wird hier davon zu reden sein, daß sie unmöglich ist und warum sie unmöglich ist. Ist sie aber unmöglich, dann muß vom Zuschauer verlangt werden, daß er den (unbequemeren) Weg beschreitet, etwas zu lernen, bevor er im Theater sich einfindet. Dann muß der Zuhörer „im Bilde“, vorbereitet, „gelehrt“ sein. Selbst diese Vorbereitung aber ist schwierig genug. So wird im folgenden die Rede von „Dialektik“ sein müssen, ohne daß erklärt wird, was dies ist, da die Dialektik ein Be­ standteil nicht nur der proletarischen, sondern (wenigstens die idealistische) auch der bürgerlichen Bildung ist, wird ihre Kenntnis boshafterweise vorausgesetzt. 6

Es handelt sich auch im folgenden weniger um die aus­ führliche Erklärung der neuen Dramatik als einer dialek­ tischen (obgleich es sich auch, da dies noch nie betont wurde, darum handelt), auch nicht so sehr um die Dia­ lektik ihrer Entwicklung (diese zu zeigen, wäre die Auf­ gabe einer wirklichen Literaturwissenschaft), sondern hauptsächlich um einen primitiven Versuch, die revolutio­ nierende Wirkung zu zeigen, welche die Dialektik über­ all, wo sie eindringt, ausübt, ihre Rolle als beste Toten­ gräberin bürgerlicher Ideen und Institutionen.

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Dieser wichtige Nachweis gestattet es, ein Gebiet einige Seiten lang ernsthaft zu behandeln, das sonst eine solche Behandlung nicht eben herausfordert, ja sie kaum aus sich heraus rechtfertigt - das dramatisch-theatralische. Und so haben wir auf der einen Seite eine dramatische Produktion, die ihrer Natur nach aufs stärkste das kon­ krete Theater mit Haus, Bühne und Mensch betrifft, in­ dem sie es einschließlich des Zuschauers vollständig um­ zuwälzen nötig hat (diese Art des Nötighabens ist ja die dringendste, die es gibt), auf der andern Seite ein Thea­ ter, das lediglich Ware verlangt, Rohstoff, der durch den Apparat, wie er ist, wieder in Ware umzuwandeln sein muß. Auf der einen Seite eine Produktion, die, keineswegs ohne Tradition, quantitative Verbesserungen genug ad­ diert hat, um nun eine entscheidende qualitative Verbes­ serung des Gesamten in Angriff nehmen zu können, und den fortwährenden, aber nunmehr immer rascheren Um­ wälzungen des sozialen, politischen Unterbaus energisch genug gefolgt (oder entgegengekommen) ist, um nun die Konsequenzen ziehen zu dürfen, auf der andern Seite ein Haufen von Vergnügungsanzeigern, der in ihren Konse­ quenzen unbequeme, aber nur im Hinblick auf diese Kon­ sequenzen entstandene, Erklärung herausfordernde, aber von ihm unerklärliche Arbeiten mit einem andernorts nie­ mals verwendeten, veralteten Idealismus bekämpft, des­ 7

sen Konsequenz eben gerade gefordert wird. Was diese (in wessen Auftrag?) erwarten, wenn sie das Neue erwar­ ten, wäre eine Variante des Alten, eine Belieferung ihrer Apparate zum Ausnützen ihrer Apparate; was sie be­ kämpfen, ist ein Neues, dessen (abgelegte) Variante ihr Altes ist. Sie erwarten ein neues Drama, weil ihr altes so wenig zu ihnen paßt wie seine Ideologie zu ihrer Praxis. Und weil das alte Drama, dessen „Erneuerung“ sie ver­ langen, ein bürgerliches war und sie Bürger sind, erwar­ ten sie das neue wieder als bürgerliches Drama. Aber die großen Bürger, die das große bürgerliche Drama gemacht haben, haben es nicht für die kleinen Bürger geschrieben, die sie erzeugt haben, und es wird kein neues bürgerliches Drama mehr geben. Das, was wir dialektische Dramatik genannt haben, eine sicherlich halbe, ganz und gar unvollständige, weil auf ihre Konkretisierung angewiesene und nicht zu ihr kommende, sicherlich nicht fertige, weil mit einer andern Hälfte, nämlich der ihrer Fertigstellung begabte Drama­ tik ist gewiß bürgerlich (und nicht etwa „proletarisch“) ihrer Herkunft, vielleicht auch ihrem stofflichen Inhalt nach, aber nicht ihrer Bestimmung und Verwertbarkeit nach. Sie wird in einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung so wenig bedeuten wie die Anwendungen der großen materialistischen Dialektik auf die Physik, die Geschichte, die Physiologie und die Ökonomie.

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Grundgedanke: Anwendung der Dialektik führt zu revo­ lutionärem Marxismus Ein grober und flacher Realismus, der die tieferen Zu­ sammenhänge niemals aufdeckte und also besonders quä­ lend wurde, wo er auf tragische Wirkungen ausging, da er ja nicht, wie er glaubt, eine ewige und unveränder­ liche Natur darstellte. Man nannte diesen Stil den Naturalismus, weil er die 8

menschliche Natur natürlich, das heißt unvermittelt, so wie sie sich gab, (phonetisch) darstellte. Das „Mensch­ liche“ spielte eine große Rolle dabei , * es war das, was alle „einte“ (diese Art Einigung genügte nämlich). Und das „Milieu als Schicksal“ erzeugte Mitleid, jenes Gefühl, das „man“ hat, wenn man nicht helfen kann und wenig­ stens im Geiste „mit“-„leidet“. Das Milieu aber wurde als Natur betrachtet, als unveränderlich und unentrinn­ bar. Dennoch zerfiel hier - wichtigstes Fortschrittselement des bald liquidierten Neuen -, zum Teil weil diese Dramati­ ker unter dem Einfluß der großen bürgerlich-zivilisatori­ schen französischen Romane standen, hauptsächlich aber einfach, weil die Wirklichkeit selber hier zu regieren be­ gann, die dramatische Form des Dramas. Man mußte, um die Realität zum Sprechen zu bringen, eine epische Form wählen, was den Dramatikern sofort den Vorwurf einbrachte, sie seien keine Dramatiker, son­ dern verhüllte Romanciers. Man kann sagen, daß mit der „undramatischen“ Form auch die bestimmten realistischen Stoffe wieder verschwanden ** oder umgekehrt: die Dra­ matiker liquidierten ihre Versuche. Bevor die Bewegung, die mit Dichtung nur insoweit etwas zu tun hatte, als die betreffenden Werke von dich­ terisch begabten Leuten geschrieben wurden, bedeutende * Gerade im Jahrzehnt des entschlossensten Zugriffs in die prole­ tarische Substanz erzielte auf den Bühnen das Menschliche die höchsten Preise. Und zwar wurde dies Menschliche dem Menschen vom Schmerz erpreßt. Der physischen Ausbeutung des Armen folgte die psychische. Doppelte Ministergehälter wurden den Mi­ men ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten, und je dichter die Ausbeuter an dieser Ausstellung ihrer Opfer saßen, desto höher schraubten sie ihr gesellschaftliches Ansehen. In den Ekel über den Armeleute­ geruch michte sich die Rührung über das Mitleid des Autors. Von allen menschlichen Regungen war nur der Schmerz übriggeblieben. Es war eine Menschenfresserdramatik. ** „Im Tale klang sie, auf der Höhe nicht.“

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Werke hervorgebracht, dem Theater neue Stoffe urbar ge­ macht hätte, widerriefen ihre Intuitoren selber ihre Ma­ ximen und verbrachten den Rest ihres Lebens damit, ihre Ästhetik in Ordnung zu bringen. Gleichzeitig mit der „dramatischen“ Form war aber auch das Individuum als Mittelpunkt ins Wanken gekommen. Da die Künstler hier teilweise unter dem Einfluß der bürgerlichen impres­ sionistischen Malerei stehend - die „Naturobjekte“ nicht im Fluß und als selber handelnd, also undialektisch ge­ sehen hatten, Teile der „Natur“, tote Stücke, hatten sie die Lebendigkeit in die Atmosphäre gelegt, die Wirkung „zwischen“ die (niedrigen) Worte, und so statt Kenntnis­ sen „Erlebnisse“ vermittelt, so daß die „Natur“ zu einem Gegenstand des Genusses wurde (was dann die stockbür­ gerliche kulinarische Kritik eines Alfred Kerr usw. er­ zeugte) und man im gewissen Sinn eine rohe Menschen­ fresserdramatik hatte! * Um die Photographie zu beleben, da man mit ihr keine plastischen Wirkungen erzielte, um „Luft“ hineinzubringen und Valeurs zu erzeugen, half man sich mit Psychologie. Die kleinwüchsigen Figuren bekamen ein ungewöhnlich reizvolles Innenleben. Das Unteilbare, das Individuum, in seine Bestandteile zerfal­ lend, erzeugte die Psychologie, die den Bestandteilen nachging, natürlich ohne sie wieder zu einem Individuum zusammenzubringen. So zerfiel mit dem „Dramatischen“ das Individuum. * Vielleicht fehlt uns jüngeren Leuten hier wirklich etwas zum Verständnis, vor allem diese Erlebnissucht des untergehenden Bür­ gertums, diese krankhafte Sucht, sich noch an den Erlebnissen an­ derer zu bereichern und den Schmerz jeder erreichbaren Mutter mitzugenießen. Das Theater ist uns kein Ersatzamt für nichtgehabte Erlebnisse.

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Weg der dialektischen Dramatik DRAMA

THEATER

Naturalismus ergibt epische Form Dialektik

(-► Ökonomie)

FUNKTIONSWECHSEL DES THEATERS

| Haltung des Zuschauers

— unerreichbar Das Theater seine Ökonomie die naturalistisch dialektische Dramatik

Um es zusammenzufassen: Die naturalistische Drama­ tik übernahm vom französischen Roman das Stoffliche und zugleich die epische Form. Diese letztere (schwächste Seite der naturalistischen Dramatik!) übernahm die neuere Dramatik unter Verzicht auf die Stoffe - als rein forma­ les Prinzip. Mit dieser epischen Darstellungsweise über­ nahm sie jenes lehrhafte Element, das in der naturalisti­ schen Dramatik, .einer Erlebnisdramatik, doch schon steckte, brachte dieses Element selber aber erst einiger­ maßen rein zur Geltung, als sie die neue epische Form nach einer Reihe rein konstruktivistischer Versuche im li

leeren Raum nunmehr auf die Realität anwandte, wor­ auf sie die Dialektik der Realität entdeckte (und sich ihrer eigenen Dialektik bewußt wurde). Die Versuche im luftleeren Raum waren aber nicht einfacher Umweg ge­ wesen. Sie hatten zur Entdeckung der Rolle des Gesti­ schen geführt. Das Gestische war für sie eben das Dia­ lektische, das im Dramatisch-Theatralischen steckt. Dies ist natürlich nur ein Schema; es zeigt den ideolo­ gischen Gang im Zusammenhang, läßt aber ganz außer acht, daß natürlich neue Formulierungen keineswegs ein­ fach aus alten (etwa durch Erkenntnis der Fehler der alten) entstehen - also ohne Hinzutreten neuer „äußerer“, nämlich politisch-ökonomischer Momente! 5

Die Generation nach dem Kriege nahm an diesem Punkt die Arbeit wieder auf. Sie begann mit der Einfüh­ rung des dialektischen Gesichtspunktes. Die Wirklichkeit wurde bejaht, und nun setzt die Dia­ lektik voll ein. Wurde die Wirklichkeit bejaht, so mußten ihre Tendenzen bejaht werden. Aber die Bejahung ihrer Tendenzen schloß die Verneinung ihrer momentanen Ge­ stalt ein. Wurde der Krieg bejaht, so war die Weltrevo­ lution nicht zu verneinen. War das erste Notwendigkeit, so nur wegen des zweiten. Veranstaltete der imperialisti­ sche Kapitalismus eine ungeheure Probe seiner gewaltig­ sten Zusammenfassung riesigster Kollektive, so mußte es eine Generalprobe der Weltrevolution sein! Veranstaltete er eine Völkerwanderung am Platze, so war wohl gemeint die große vertikale Völkerwanderung des letzten Klas­ senkampfes ! Der Krieg zeigte die Rolle, die das Individuum in Zukunft zu spielen bestimmt war. Der einzelne als sol­ cher erreichte eingreifende Wirkung nur als Repräsentant vieler. Aber sein Eingreifen in die großen ökonomisch­ politischen Prozesse beschränkte sich auf ihre Ausbeutung. Die „Masse der Individuen“ aber verlor ihre Unteilbar12

keit durch ihre Zuteilbarkeit. Der einzelne wurde immer­ fort zugeteilt, und was dann begann, war ein Prozeß, der es keineswegs auf ihn abgesehen hatte, der durch sein Eingreifen nicht beeinflußt und der durch sein Ende nicht beendet wurde. Die materielle Größe der Zeit, ihre technischen Riesen­ leistungen, die gewaltigen Taten der großen Geldleute, selbst der Weltkrieg als ungeheure „Materialschlacht“, vor allem aber das Ausmaß von Chance und Risiko für den einzelnen - solche Wahrnehmungen bildeten die Pfei­ ler dieser jungen Dramatik, die eine völlig idealistische und völlig kapitalistische war. Die Welt, wie sie ist, sollte gezeigt und anerkannt, ihre eigene Schonungslosigkeit als ihre Größe schonungslos aufgewiesen werden: ihr Gott sollte sein „der Gott der Dinge, wie sie sind“. Dieser Ver­ such, eine neue Ideologie zu schaffen, die mit den Tat­ sachen direkt Zusammenhängen sollte, war gegen das Bür­ gertum gerichtet, dessen (als klein erkannte) Denkweise mit seiner (als groß angenommenen) Handlungsweise in einem krassen Widerspruch befindlich schien. Bei dieser Problemstellung war die Frage lediglich eine Generations­ frage. Es galt, die Vernünftigkeit des Wirklichen nachzu­ weisen. So nun entstand eine höchst eigentümliche Wirk­ lichkeit durch diese Dramatik. Einerseits hatte sie das Bewußtsein einer vorwiegend historischen Aufgabe. Sie sah eine große Zeit und große Gestalten und fertigte also Dokumente davon an. Dabei sah sie doch alles im Fluß („So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan. . .“). Baal und der Alexander des „Ostpolzugs“ waren historisch gesehen. D. h. nicht nur Baal selber etwa war als historische Persönlichkeit dar­ gestellt in seinen Wandlungen, seinem „Konsum“ und sei­ ner „Produktion“, seinen Wirkungen auf die ihm begeg­ nenden Menschen vor allem - auch seine literarische Exi­ stenz als ganz bestimmtes geistiges Phänomen war als historische Tatsache aufgefaßt. Seine „Sichtung“ war histo­ risch, hatte Ursachen und Folgen. Was Baal tat und was 13

er sagte, war Material über ihn, gegen ihn, sein Denken und sein Sein schien identisch, und sein Lebenslauf war für die Bühne so angeordnet, daß sogar das Interesse an ihm abnehmen mußte mit dem Interesse, das er bei seinen Mitmenschen auf der Bühne erregte. (Bei der Berliner Inszenierung sagte der Maler Neher: „Für die letzten Szenen mache ich keine besonderen Umstände. Der Bur­ sche kann kein besonderes Interesse mehr beanspruchen in dieser Verfassung. Da müssen ein paar Bretter genü­ gen.“ Und dies war ungeheuer richtig. Und an den An­ fang setzte er einige große Wände, auf die jene Figuren gemalt waren, die dann im Stück den Verkehr Baals aus­ machten, „die Opfer“, und sagte: „So, mit denen muß er auskommen. Hier herrschte der Gott der Dinge, wie sie sind.“) y Aber die Wirklichkeit, die so entstand, faßte die Wirk­ lichkeit außerhalb nur sehr unvollständig. Die realen Vor­ gänge waren lediglich spärliche Andeutungen für geistige Prozesse. Zwischen leeren Bühnenbalken, die nur die Elemente des Vorzustellenden zur Verfügung stellten. In der Szene „In den Jahren 19.. bis 19.. finden wir. . .“ be­ stand die Nehersche Dekoration aus einer kindlichen Landkarte - eigentlich nur die Darstellung einer Land­ karte, denn es war keine bestimmte Gegend -, wozu je­ doch eine Windmaschine Wind erzeugte. Es gab eine primitive Darstellung menschlicher „Kur­ ven“, und was von realen Vorkommnissen bemüht wurde, war nur Anschauungsmaterial (Eselsbrücke). Dagegen gab es viele Schriften zu lesen. Ebenso war es im „Ost­ polzug“, wo auch ein paar dürftige bürgerliche Vorgänge Handlungen und Aussagen des großen Typus ermöglichen sollten ... Übrigens darf nicht vergessen werden, daß in dem Augenblick, als das Theater wieder eine Denkstätte wurde und noch dazu eine aufsässige, eine scheußliche Luft von Feierlichkeit, die der Naturalismus und der Expressionis­ mus im Theater erzeugt hatten, rasch abstank und eine gewisse Heiterkeit und, wenn man will, Unerzogenheit 14

einkehrte, die zum Teil auch auf der Einsicht beruhte, daß das Theater auf dem Denkgebiet nicht die seriöse Rolle spielte, die es sich anmaßte. 6 Die dialektische Dramatik setzte ein mit vornehmlich formalen, nicht stofflichen Versuchen. Sie arbeitete ohne Psychologie, ohne Individuum und löste, betont episch, die Zustände in Prozesse auf. Die großen Typen, welche als möglichst fremd, also möglichst objektiv (nicht so, daß man sich in sie hineinfühlen konnte) dargestellt wur­ den, sollten durch ihr Verhalten zu anderen Typen ge­ zeigt werden. Ihr Handeln wurde als nicht selbstver­ ständlich, sondern als auffällig hingestellt: So sollte das Hauptaugenmerk auf die Zusammenhänge der Handlun­ gen, auf die Prozesse innerhalb bestimmter Gruppen hin­ gelenkt werden. Eine fast wissenschaftliche, interessierte, nicht hingebende Haltung des Zuschauers wurde also vor­ ausgesetzt (die Dramatiker glaubten: ermöglicht). Demzu­ folge wurde diese Bewegung zu einer auf die Umände­ rung des ganzen Theaters einschließlich des Zuschauers gerichteten. Nicht weniger als ein Funktionswechsel des Theaters als gesellschaftliche Einrichtung wurde verlangt. Man muß verstehen, daß es sich immer noch nur um einen technischen Vorstoß, keineswegs um irgendeine po­ litische Aktion handelt. Alles blieb in der Sphäre des Bür­ gerlichen, auch stofflich. Rein objektiv sollte das typische Verhalten des Menschen dieser Zeit den neuen Methoden der Betrachtung unterworfen werden; zunächst durchaus innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung, die durchaus als gegebene angesehen und nicht weiter disku­ tiert werden sollte. Die neue Dramatik stellte sich ledig­ lich die Aufgabe, den „Kurven menschlicher Geschicke“ zu folgen. Die alte (dramatische) Dramatik ermöglichte es nicht, die Welt so darzustellen, wie viele sie heute schon sehen. Der für viele typische Ablauf eines Men­ schenlebens etwa oder eines typischen Vorgangs unter 15

Menschen konnte in der bisher vorhandenen Form des Dramas nicht gezeigt werden. Die neue Dramatik ge­ langte zur epischen Form (übrigens unterstützt wieder von den Arbeiten eines Romanschreibers, nämlich Döblins). Da sie „alles im Fluß“ sah, hob sie den dokumentarischen Charakter dieser Darstellungsweise hervor. Der Zu­ schauer sollte das Theater in derselben Haltung betreten können, die er in anderen zeitgemäßen Unternehmungen einzunehmen gewohnt war. Diese Haltung war, wie er­ wähnt, eine Art wissenschaftliche Haltung. Im Planeta­ rium und im Sportpalast nahm der Mensch diese ruhig betrachtende, wägende und kontrollierende Haltung ein, die unsere Techniker und unsere Wissenschaftler zu ihren Entdeckungen und Erfindungen geführt hat. Nur waren es im Theater die Schicksale der Menschen und ihr Ver­ halten, das interessieren sollte. Der moderne Zuschauer, so wurde vorausgesetzt, wünscht nicht, irgendeiner Sug­ gestion willenlos zu erliegen und, indem er in alle mög­ lichen Affektzustände hineingerissen wird, seinen Ver­ stand zu verlieren. Er wünscht nicht, bevormundet und vergewaltigt zu werden, sondern er will einfach menschliches Material vorgeworfen bekommen, um es selber zu ordnen. Deshalb liebt er es auch, den Menschen in Situationen zu sehen, die nicht so ohne weiteres klar sind, deshalb braucht er weder logische Begründungen noch psychologische Moti­ vierungen des alten Theaters. Ein Mensch natürlich, der nichts von einem Forscher an sich hat, sondern der ledig­ lich ein Genießer ist, wird diese Stücke darum für unklar halten, weil sie die Unklarheit menschlicher Beziehungen gerade gestalten. Die Beziehungen der Menschen unserer Zeit sind unklar. Das Theater muß also eine Form finden, diese Unklarheit in möglichst klassischer Form, das heißt in epischer Ruhe darzustellen.

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Das Theater als öffentliche Angelegenheit 8

Funktionswechsel des Theaters

Die Gesamtheit des Theaters muß umgestellt werden, nicht nur der Text oder der Schauspieler oder selbst die ganze Bühnenaufführung - auch der Zuschauer wird ein­ bezogen, seine Haltung muß geändert werden. Diesem Wechsel der Haltung des Zuschauers entspricht die Darstellung von menschlichen Haltungen auf der Bühne; die Auflösung des mimischen Materials nach Ver­ hältnissen hin. Das Individuum fällt als Mittelpunkt. Der einzelne ergibt kein Verhältnis, es treten Gruppen auf, in denen oder denen gegenüber der einzelne bestimmte Hal­ tungen einnimmt, die der Zuschauer studiert, und zwar der Zuschauer als Masse. Also auch als Zuschauer fällt der einzelne und ist nicht mehr Mittelpunkt. Er ist nicht mehr Privatperson, die die Veranstaltung von Theater­ ,,besucht * leuten “, die sich etwas vorspielen läßt, die die Arbeit des Theaters genießt, er ist nicht nur mehr Kon­ sument, sondern er muß produzieren. Die Veranstaltung ohne ihn als Mitwirkenden ist halb (wäre sie ganz, so wäre sie jetzt unvollkommen). Der Zuschauer, einbezo­ gen in das theatralische Ereignis, wird theatralisiert. So findet weniger „in ihm“ und mehr „mit ihm“ statt, und so hat das zeitgenössische Theater lediglich als Geschäfts­ unternehmen, das aus dem Verkauf von Abendunterhal­ tung profitiert, hier ein Käuferkollektiv gebildet und so eine bloß quantitative Arbeit geleistet. Ein Schritt weiter, allerdings ein Schritt gegen den Grundcharakter des Un­ ternehmens, und es entstünde eine qualitative Verände­ rung dieses Kollektivs: seine Zufälligkeit verschwände. Jetzt kann die Forderung erhoben werden, daß der Zu­ schauer (als Masse) literarisiert wird, das heißt, daß er eigens für den Theaterbesuch“ ausgebildet, informiert 2 Über Theater

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wird! Nicht jeder Hereingelaufene kann, auf Grund eines Geldopfers, hier „verstehen“ in der Art von „konsumie­ ren“. Dies ist keine Ware mehr, die jedermann auf Grund seiner allgemeinen sinnlichen Veranlagung ohne weiteres zugänglich ist. Das Stoffliche ist zum Allgemeingut er­ klärt, es ist „nationalisiert“, Voraussetzung des Studiums; das Formale, als die Art der Benutzung, wird in Form von Arbeit, eben von Studium, ausschlaggebend. An die­ sem Punkt wird begreiflich, warum die Bearbeitung vor­ handener Stoffe eine Erleichterung der zu leistenden Ar­ beit bedeutet. Dies, daß in dieser Phase beinahe alle andern vorhergegangenen Elemente, welche in vorherge­ gangenen Phasen jeweils betont diese charakterisierten, enthalten sind, könnte sie dem, der die neue aus der al­ ten, statt umgekehrt die alte aus der neuen Phase ableitet, als rein eklektische erscheinen lassen - da er ja das ent­ scheidende Faktum des Funktionswechsels nicht beachtet. Hier, im Herausstellen des gestischen Gehalts eines be­ kannten Stoffes, können (für Hersteller und Benutzer) die Haltungen, auf die es ankommen soll, richtig gesetzt wer­ den, gegen den Stoff. Nun ist klar, daß diese Funktion des Theaters abhängt von einer beinahe absoluten Ge­ meinsamkeit aller Lebensinteressen aller Beteiligten. Ge­ rade das unbestrittene Primat des Theaters vor der dra­ matischen Literatur, ein technischer revolutionärer Fort­ schritt, bleibt als Primat der Produktionsmittel vor der eigentlichen Produktion selber (ein Verständnis der revo­ lutionären Ökonomie ist hier unerläßlich) ein Haupthin­ dernis gegen den großen Funktionswechsel, den es erst ermöglicht. Aufgefordert, eine nicht willenlose (auf Magie, Hyp­ nose beruhende), hingegebene, sondern eine beurteilende Haltung einzunehmen, nahmen die Zuhörer sofort eine ganz bestimmte, politische Haltung ein, nicht eine über den Interessen stehende, allgemeine, gemeinsame, wie die neue Dramatik gewünscht hätte. Ja die Aufführung selbst schien plötzlich kein bloßer „Einfall“ einiger Dramatiker mehr gewesen zu sein, sondern sie schien dem unausge18

sprochenen Diktat der Allgemeinheit zu entsprechen. Schien so ein Funktionswechsel des Theaters wieder mög­ lich, wenn auch nicht im Sinn dieser Dramatik, so wurde er nur um so unmöglicher durch diese unvorhergesehene Art seiner Möglichkeit. Das Theater, selber eine Sache, stand als Sache dem Funktionswechsel im Wege.

9 Das Theater als Produktionsmittel Das bürgerliche Theater hatte technisch vor allem durch Erfassung des Publikums in großem Maßstab als Abnehmertum bei der zwangsmäßigen stetigen Ausdehnung des Marktes, durch die hierdurch erfolgte Zerschlagung jener Salonclique, die vordem das Theater beherrschte, die technische Vorbedingung geschaffen für einen vollständi­ gen Funktionswechsel des Theaters. Sein Klassencharakter verhindert, daß es die Konse­ quenz zieht. So wie es seit langem einen absoluten Atheis­ mus praktisch betätigt, aber nicht wagen kann, ihn auch ideologisch zu vertreten. Hatte sich das Theater als ein unübersteigbarer und un­ veränderbarer Haufen von Produktionsmitteln herausge­ stellt und war so, von diesem konkreten Punkt her, die Frage nach der Umänderung dieses öffentlichen Instituts erweitert worden zur neuen (unlöslichen) Frage nach der Umänderung der ganzen Gesellschaftsordnung, die dieses Institut bedingt - so war, nicht unabhängig davon, son­ dern eben im Verlauf dieser Feststellungen und darauf hinzielender Untersuchungen die neue Dramatik auch auf ihrem Gebiet zu einer unvorhergesehenen heftigen Berührung mit der Wirklichkeit gelangt. Die Sichtung der Ökonomie hätte auf sie gewirkt wie die Entschleie­ rung der Bilder zu Sais. Sie stand zur Salzsäule erstarrt. In tiefes Grübeln versunken, betrachtet sie die Piscatorschen Versuche, die eben einsetzten und die, wie sie rasch erkannte, ihren eigenen Versuchen zuzuzählen wa­ 19

ren: Es waren dramatische mehr als theatralische, auf das Drama selber gerichtete Versuche; dramatisch in dem neuen, die Ganzheit des Theaters meinenden Sinn. Nun­ mehr wurde die Subjektivität der möglichen Sachlichkeit entdeckt: die Objektivität als Parteilichkeit. Das, was hier als Tendenz erschien, war die Tendenz der Materie selber (was als Tendenz auffiel, war schlimmstenfalls Notkonstruktion, wo die Materie noch nicht genügend erkannt war).

1931, fragmentarisch

DIALOGE AUS DEM „MESSINGKAUF “

DIE PERSONEN DES MESSINGKAUFS

DER PHILOSOPH wünscht das Theater rücksichtslos für seine Zwecke zu verwenden. Es soll getreue Abbilder der Vorgänge unter den Menschen liefern und eine Stel­ lungnahme des Zuschauers ermöglichen. DER SCHAUSPIELER wünscht, sich auszudrücken. Er will bewundert werden. Dazu dienen ihm Fabel und Charaktere.

DIE SCHAUSPIELERIN wünscht ein Theater mit erzieherischer gesellschaftlicher Funktion. Sie ist politisch.

DER DRAMATURG stellt sich dem Philosophen zur Verfügung und verspricht, seine Fähigkeiten und Kennt­ nisse zum Umbau des Theaters in das Theater des Philo­ sophen zur Verfügung zu stellen. Er erhofft sich eine Neu­ belebung des Theaters. DER BELEUCHTER gibt das neue Publikum ab. Er ist Arbeiter und mit der Welt unzufrieden.

Die erste Nacht

Auf einer Bühne, deren Dekoration von einem Bühnen­ arbeiter langsam abgebaut wird, sitzen auf Stühlen oder Versatzstücken ein Schauspieler, ein Dramaturg und ein Philosoph. Aus einem kleinen Korb, den der Bühnen­ arbeiter hingestellt hat, nimmt der Dramaturg Flaschen und entkorkt sie, und der Schauspieler gießt den Wein in Gläser und bietet sie den Freunden dar.

DER SCHAUSPIELER: Des vielen Staubes wegen macht der Aufenthalt auf einer Bühne durstig. Nehmt also alle einen tüchtigen Schluck! DER DRAMATURG mit einem Blick auf den Büh­ nenarbeiterz Wir müssen unsern Freund auch bitten, die Kulissen nicht allzu rasch abzubauen, da sonst zuviel Staub aufgewirbelt wird. DER ARBEITER: Ich baue ganz gemächlich ab. Aber weg müssen die Dinger, denn morgen wird etwas Neues probiert. DER DRAMATURG: Hoffentlich fühlt ihr euch wohl hier. Wir hätten uns auch in mein Büro setzen kön­ nen. Aber es ist kälter dort, denn ich bezahle ja keinen Eintritt wie das liebe Publikum, und dann starren mir die unzähligen ungelesenen Dramenmanuskripte vorwurfsvoll ins Gesicht dort. Andrerseits siehst du als Philosoph ja ganz gern hinter die Kulissen, und du als Schauspieler hast, wenn schon kein Publikum, so doch wenigstens seine Stühle im Rücken. Während wir über das Theater spre­ chen, können wir hier das Gefühl haben, dieses Gespräch vor einem Publikum zu führen, also selber ein kleines Stück aufzuführen. Auch haben wir die Gelegenheit, ab 23

und zu, wenn dies unsern Gegenstand klären sollte, einige kleine Experimente zu veranstalten. Beginnen wir also und am besten mit der Frage an unsern Freund, den Philosophen, was ihn am Theatermachen überhaupt inter­ essiert. DER PHILOSOPH: An eurem Theatermachen inter­ essiert mich, daß ihr mit eurem Apparat und eurer Kunst Vorgänge nachahmt, welche unter den Menschen stattfin­ den, so daß man sich bei euch dem wirklichen Leben ge­ genüber glauben kann. Da mich die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen interessiert, interessieren mich auch eure Nachahmungen desselben. DER DRAMATURG: Ich verstehe. Du willst etwas über die Welt erfahren, und wir zeigen es hier, was auf der Welt vorgeht. DER PHILOSOPH: Ich weiß nicht, ob du mich ganz verstanden hast., Ich weiß es nicht, weil ich in deinem Satz ein gewisses Unbehagen vermisse. DER DRAMATURG: Warum sollte ich denn Unbe­ hagen verraten, wenn du mir sagst, an unserm Theater­ machen interessiere dich, daß wir zeigen, was auf der Welt passiert? Das tun wir doch. DER PHILOSOPH: Ich sagte, ihr liefert Nachahmun­ gen, und sie interessieren mich, soweit sie dem Nachge­ ahmten entsprechen, denn am meisten interessiert mich das Nachgeahmte, nämlich das Zusammenleben der Men­ schen. Das sagend, erwartete ich, ihr würdet mich mit einigem Mißtrauen betrachten und euch fragen, ob ich mit einer solchen Einstellung ein guter Zuschauer sein kann. DER DRAMATURG: Warum solltest du da kein guter Zuschauer sein? Bei uns treten seit langer Zeit keine Götter, Hexen, Tiere oder Geister mehr auf. Das Thea­ ter hat in den letzten Jahrzehnten alles getan, um dem Leben den Spiegel vorzuhalten. Es hat für seinen Ehrgeiz, zur Lösung der sozialen Fragen beizutragen, die größten Opfer gebracht. Er hat gezeigt, wie falsch es ist, daß die Frauen nur als Spielpuppen benutzt werden, daß die Kämpfe der einzelnen auf den Märkten bis in die Wohnun­ 24

gen gedrungen sind und die Ehen zu Kriegsschauplätzen gemacht haben, daß das Geld, mit dem die Reichen ihre Kinder zu Kulturmenschen erziehen lassen, davon stammt, daß anderer Eltern Kinder an das Laster verkauft wer­ den und vieles mehr. Und es hat für diese Dienste, die es der Gesellschaft geleistet hat, damit bezahlt, daß es bei­ nahe alle Poesie eingebüßt hat. Es hat darauf verzichtet, auch nur eine einzige große Fabel hervorzubringen, die denen der Alten verglichen werden könnte. DER SCHAUSPIELER: Oder eine einzige große Fi­ gur. DER DRAMATURG: Aber wir zeigen Banken, Kli­ niken, Ölfelder, Kriegsschauplätze, Slums, Milliardär­ villen, Getreidefelder, Börsen, den Vatikan, Lauben, Schlösser, Fabriken, Konferenzzimmer, kurz, die ganze Wirklichkeit, die es gibt. Es werden bei uns Morde be­ gangen, Kontrakte abgeschlossen, Ehebrüche vollzogen, Heldentaten verrichtet, Kriege beschlossen, es wirld ge­ storben, gezeugt, gekauft, gelästert, geschoben. Kurz, es wird das Zusammenleben der Menschen von allen Rich­ tungen aus vorgeführt. Wir greifen nach jeder starken Wirkung, wir scheuen vor keiner Neuerung zurück, alle ästhetischen Gesetze sind längst über Bord geworfen. Die Stücke haben bald fünf Akte, bald fünfzig, mitunter sind auf einer Bühne gleichzeitig fünf Schauplätze aufgebaut, das Ende ist glücklich oder unglücklich, wir hatten Stücke, wo das Publikum das Ende wählen konnte. Außerdem spielen wir einen Abend stilisiert, den andern ganz natür­ lich. Unsere Schauspieler sprechen Jamben so geschickt wie den Jargon der Gosse. Die Operetten sind häufig tragisch, die Tragödien enthalten Songs. Den einen Abend steht auf der Bühne ein Haus, das in jeder Kleinigkeit, bis auf die letzte Ofenröhre, einem echten Haus nach­ gebildet ist, am nächsten deuten ein paar bunte Balken eine Weizenbörse an. Über unsere Clowns werden Tränen vergossen, vor unsern Tragöden hält man sich den Bauch. Kurz, bei uns ist alles möglich, ich möchte sagen: leider. DER SCHAUSPIELER: Deine Schilderung kommt 25

mir ein wenig verzweifelt vor. Sie klingt, als arbeiteten wir nicht mehr ernst. Aber ich kann versichern, wir sind keine leichtsinnigen Possenreißer. Wir sind hart arbei­ tende, streng kontrollierte, unser Bestes gebende Leute, schon da die Konkurrenz so ungeheuer ist. DER DRAMATURG: Unsere Darstellungen des wirk­ lichen Lebens waren denn auch mustergültig. Das Publi­ kum konnte bei uns die feinsten Seelenstimmungen stu­ dieren. Unsere Familieninterieurs waren minutiös ausge­ führt. Einzelne Ensembles spielten sich jahrzehntelang aufeinander ein, und so konnte man Darstellungen etwa des Abends einer Gutsbesitzerfamilie sehen, wo jede Be­ wegung jedes Darstellers echt war und man glaubte, den Rosenduft vom Garten zu riechen. Ich habe mich oft ge­ wundert, daß die Stückeschreiber immer noch eine neue seelische Verfassung, in die jemand kommen konnte, aus­ findig machten, als man schon glaubte, alle seien bekannt. Nein, so wie uns kein Bedenken hinderte, so wurde auch keine Mühe gespart. DER PHILOSOPH: So ist es also eure größte Be­ mühung, Vorgänge unter Menschen nachzuahmen? DER DRAMATURG: Ohne Vorgänge unter Men­ schen nachzuahmen, können wir unsere Kunst überhaupt nicht ausüben. Du könntest höchstens vorbringen, daß unsere Nachahmungen schlecht sind. Das würde heißen, daß du uns für schlechte Künstler hältst, denn unsere Kunst besteht darin, unsern Nachahmungen den Stempel der Wahrhaftigkeit zu verleihen. DER PHILOSOPH: Diesen Vorwurf will ich keines­ wegs erheben. Ich will nicht von eurer Kunst sprechen, wo sie schlecht, sondern wo sie gut ausgeübt wird. Und wo sie gut ausgeübt wird, verleiht sie tatsächlich der Nachahmung den Stempel der Wahrhaftigkeit. DER SCHAUSPIELER: Ich glaube nicht, daß es Größenwahn ist, wenn ich behaupte, daß ich dir jede nur denkbare Handlung, auch die allerunwahrscheinlichste, so darstellen kann, daß du sie ohne Zögern glaubst. Ich zeige dir, wenn du willst, wie der Kaiser Napoleon 26

Schuhnägel frißt, und ich wette, daß du es ganz natürlich finden wirst. DER PHILOSOPH: Sehr richtig. DER DRAMATURG: Erlaube mir, daß ich das als eine kleine Entgleisung bezeichne. Du schießt sozusagen über das Ziel hinaus. DER SCHAUSPIELER: Wieso ist das eine Entglei­ sung? Ich spreche von Schauspielkunst. DER PHILOSOPH: Ich halte es auch nicht für eine Entgleisung. In einer Beschreibung berühmter Exerzitien für Schauspieler , * welche dem Schauspieler ein natürliches Spiel beibringen sollen, finde ich folgende Übung: Der Schauspieler soll eine Mütze auf den Boden legen und sich so verhalten, als sei sie eine Ratte. Er soll so die Kunst des Glaubenmachens erlernen. DER SCHAUSPIELER: Eine sehr gute Übung! Wenn wir die Kunst des Glaubenmachens nicht beherrsch­ ten, wie sollten wir da mit ein paar Leinwandfetzen oder gar nur einer beschrifteten Tafel den Zuschauer glauben machen, er sehe jetzt das Schlachtfeld von Aktium, oder mit einigen altmodischen Kleidungsstücken und einer Maske, er sehe den Prinzen Hamlet? Je größer unsere Kunst, desto weniger brauchen wir Hilfsmittel aus der Wirklichkeit, um ein Stück Leben aufzubauen. Es ist voll­ kommen richtig, daß wir Vorfälle aus dem Leben nach­ ahmen, aber das ist doch nicht alles. Zum Teufel mit den Vorgängen! Es kommt doch darauf an, wozu wir sie nachahmen. DER PHILOSOPH: Nun, und wozu ahmt ihr sie also nach? DER SCHAUSPIELER: Um die Menschen mit Lei­ denschaften und Gefühlen zu erfüllen, um sie aus ihrem Alltag und ihren Vorfällen herauszureißen. Die Vorfälle sind da sozusagen das Gerüst, an dem wir unsere Kunst ausüben, das Sprungbrett, das wir benützen. DER PHILOSOPH: Ganz so. * Rapaport über die Schule Stanislawskis. 27

DER DRAMATURG: Dein „ganz so“ gefällt mir ganz und gar nicht. Ich kann mir denken, daß du dich mit den Gefühlen und Leidenschaften, mit denen du gefüllt werden sollst, kaum abfinden wirst. Du hast kein Wort davon gesagt, als du uns erklärtest, warum du zu uns ins Theater kommst. DER PHILOSOPH: Das muß ich zugeben. Es tut mir leid. Auf euer Wohl! DER DRAMATURG: Ich tränkelieber auf dein Wohl, offen gesagt. Denn wir wollten eigentlich darüber spre­ chen, wie gerade du durch Theatermachen zufriedenge­ stellt werden kannst, und nicht, wie wir dadurch zufrie­ dengestellt werden. DER SCHAUSPIELER: Er wird doch nicht behaup­ ten wollen, daß er dagegen ist, wenn wir sein träges Ge­ müt etwas in Bewegung bringen? Schön, er interessiert sich mehr für das, was wir nachahmen - ich weiß schon, die Vorfälle -, als er sich für uns interessiert, aber wie sollen wir ihm die Vorfälle nachahmen, wenn wir nicht unsere Gefühle und Leidenschaften mobilisieren? Bei einer kalten Darstellung würde er selber einfach davon­ laufen. Übrigens gibt es keine kalte Darstellung. Jeder Vorfall erregt uns, es sei denn, wir seien gefühllos. DER PHILOSOPH: Oh, ich habe nichts gegen Ge­ fühle. Ich stimme zu, daß Gefühle nötig sind, damit Dar­ stellungen, Nachahmungen von Vorfällen aus dem mensch­ lichen Zusammenleben zustande kommen können, und daß die Nachahmungen Gefühle erregen müssen. Was ich mich frage, ist nur, wie eure Gefühle und besonders die Bemühung, besondere Gefühle zu erregen, den Nachah­ mungen bekommen. Denn ich muß leider dabei bleiben, daß es die Vorfälle aus dem wirklichen Leben sind, die mich besonders interessieren. Ich möchte also noch einmal betonen, daß ich mich als Eindringling und Außenseiter hier fühle in diesem Haus voll von tüchtigen und unheim­ lichen Apparaten, als jemand, der hereingekommen ist, nicht um Behagen zu empfinden, ja sogar ohne Furcht Unbehagen erzeugen würde, da er mit einem ganz be28

sonderen Interesse gekommen ist, dessen Besonderheit man gar nicht genug unterstreichen kann. Ich fühle diese Besonderheit meines Interesses so stark, daß ich mir wie ein Mensch vorkomme, der, sagen wir, als Messinghänd­ ler zu einer Musikkapelle kommt und nicht etwa eine Trompete, sondern bloß Messing kaufen möchte. Die Trompete des Trompeters besteht aus Messing, aber er wird sie kaum als Messing verkaufen wollen, nach dem Wert des Messings, als soundso viele Pfund Messing. So aber suche ich hier nach meinen Vorfällen unter Men­ schen, welche ihr hier irgendwie nachahmt, wenn eure Nachahmungen freilich einen ganz anderen Zweck haben als den, mich zu befriedigen. Klipp und klar: ich suche ein Mittel, Vorgänge unter Menschen zu bestimmten Zwecken nachgeahmt zu bekommen, höre, ihr verfertigt solche Nachahmungen, und möchte nun feststellen, ob ich diese Art Nachahmungen brauchen kann. DER DRAMATURG: Ein wenig von dem Unbeha­ gen, das du dir erwartet hast, wie du sagst, beginne ich jetzt tatsächlich zu fühlen. Die Nachahmungen, die wir hier, wie du es ein wenig trocken bezeichnest, anfertigen, sind allerdings von besonderer Art, insofern sie ein be­ sonderes Ziel verfolgen. Es steht schon in der „Poetik“ des Aristoteles etwas darüber. Er sagt von der Tragödie, sie sei eine nachahmende Darstellung einer sittlich ern­ sten, in sich abgeschlossenen, soundso langen Handlung, in verschönter Rede, deren einzelne Arten in verschiede­ nen Partien gesondert verwandt werden, nicht erzählt, sondern von handelnden Personen aufgeführt, durch die Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung von sol­ chen Gemütsstimmungen bewirkend. Also handelt es sich um Nachahmungen deiner Vorfälle aus dem Leben, und die Nachahmungen sollen bestimmte Wirkungen auf das Gemüt ausüben. Das Theater hat sich, seit Aristoteles dies schrieb, oft gewandelt, aber kaum in diesem Punkt. Man muß annehmen, daß es, wandelte es sich in diesem Punkt, nicht mehr Theater wäre. DER PHILOSOPH: Du meinst, man kann eureNach29

ahmungen nicht gut von den Zwecken trennen, die ihr damit verfolgt? DER DRAMATURG: Unmöglich. DER PHILOSOPH: Ich benötige aber Nachahmungen von Vorfällen aus dem Leben für meine Zwecke. Was machen wir da? DER DRAMATURG: Von ihrem Zweck getrennt, ergäben die Nachahmungen eben nicht mehr Theater, weißt du. DER PHILOSOPH: Das wäre mir unter Umständen dann weniger wichtig. Wir könnten ja, was dann ent­ stünde, anders nennen, sagen wir: Thaeter. Alle lachen. Es wäre dann so: Ich engagierte einfach euch Künstler für eine unkünstlerische Aufgabe. Nirgends anderswo Leute findend, die in der Fertigkeit der Nachahmung von han­ delnden Menschen geübt sind, engagiere ich euch für meine Zwecke. DER DRAMATURG: Was sind denn das für geheim­ nisvolle Zwecke? DER PHILOSOPH lachend *. Oh, ich wage es kaum zu sagen. Sie werden euch vielleicht recht banal und pro­ saisch vorkommen. Ich dachte mir, man könnte die Nach­ ahmungen zu ganz praktischen Zwecken verwenden, ein­ fach, um die beste Art, sich zu benehmen, herauszufinden. Ihr versteht, man könnte aus ihnen so etwas machen, wie die Physik es ist (die es mit mechanischen Körpern zu tun hat), und daraus eine Technik entwickeln. DER DRAMATURG: Also wissenschaftliche Zwecke verfolgst du! Das hat allerdings mit Kunst nichts zu tun. DER PHILOSOPH hastig *. Natürlich nicht. Darum hieße ich es ja auch nur Thaeter. DER DRAMATURG: Schön, wir wollen dir in dei­ nem Gedankengang folgen. Irgend etwas wird da auch für uns herauskommen. Vielleicht gewinnen wir auf diese extreme Art ein paar Winke für die „Herstellung“ guter Nachahmungen, auf die wir ja durchaus aus sind, denn unsere Darstellungen wirken erprobtermaßen viel stär­ ker, wenn, was wir darstellen, wahrscheinlich ist. Wer 30

sollte schon Mitleid empfinden mit einer eifersüchtigen Frau, wenn wir behaupten, ihr Mann betrüge sie mit ihrer Großmutter? DER PHILOSOPH: Solche Profite für euch müßtet ihr allerdings, einmal von mir engagiert, so anstreben, daß ich keinen Nachteil davon habe. Zunächst hätte ich ja ernsthaft zu untersuchen, wie zu arbeiten ihr gewohnt seid, damit ich sehe, was an eurer Arbeitsweise zu ändern wäre, damit ich Nachahmungen bekomme, die mir passen. DER DRAMATURG: Vielleicht stellst du dabei so­ gar fest, daß unsere Nachahmungen gar nicht so unge­ eignet sind für deine Zwecke, selbst wenn wir sie auf die alte Art „anfertigen“. In der Tat, ich sehe absolut nicht ein, warum man in unsern Theatern nicht auch praktische Lehren bekommen können soll. DER PHILOSOPH: Ihr müßt wissen, mich verzehrt eine unersättliche Neugierde, die Menschen angehend; ich kann nicht genug von ihnen sehen und hören. Wie sie mit­ einander verkehren, Feindschaften und Freundschaften eingehen, Zwiebeln verkaufen, Feldzüge planen, Ehen schließen, wollene Anzüge machen, falsches Geld in Um­ lauf bringen, Kartoffeln ziehen, die Gestirne beobachten, wie sie einander betrügen, bevorzugen, belehren, ausquet­ schen, einschätzen, verstümmeln, unterstützen, wie sie Versammlungen abhalten, Vereine gründen, intrigieren. Ich will immer wissen, wie ihre Unternehmungen zustande kommen und ausgehen, und ich bin darauf aus, einige Gesetzlichkeiten darin zu erkennen, die mich instand set­ zen könnten, Voraussagen zu machen. Denn ich frage mich, wie ich selber mich benehmen soll, damit ich durch­ komme und möglichst glücklich bin, und dies hängt natür­ lich auch davon ab, wie die andern sich benehmen, so daß ich auch daran sehr interessiert bin, besonders für die Möglichkeiten, sie zu beeinflussen. DER DRAMATURG: Ich hoffe, daß du dir da bei uns dein Stück Fleisch herausschneiden kannst. DER PHILOSOPH: Ja und nein. Ich gestehe, daß ich 3i

gerade darum mit euch reden wollte. Ich bin nicht ganz glücklich bei euch. DER DRAMATURG: Wieso? Siehst du nicht genug bei uns? DER PHILOSOPH: Oh, ich sehe genug. Das ist es nicht. DER DRAMATURG: Vielleicht siehst du manches, was dir nicht richtig dargestellt scheint? DER PHILOSOPH: Ich sehe auch manches, was mir richtig dargestellt scheint. Ich glaube, es ist das, daß ich das Richtige vom Falschen bei euch nicht richtig unter­ scheiden kann. Ich habe mich noch nicht ganz beschrieben. Ich habe nämlich noch eine Leidenschaft außer der Neu­ gierde. Das ist die Streitsucht. Ich liebe es, alles, was ich sehe, sorgfältig zu begutachten und meinen Senf dazuzu­ geben, wie man sagt. Es ist da ein lustvoller Zweifel in mir. So wie arme Leute ihre Pfennige, drehe ich mensch­ liche Äußerungen oder Taten sozusagen gern zehnmal in der Hand herum. Und für diesen meinen Zweifel laßt ihr mir hier keinen Raum, das ist es. DER SCHAUSPIELER: Ach, Kritik! DER PHILOSOPH: Hm. Bin ich jemand auf den Fuß getreten? DER DRAMATURG: Wir haben nichts gegen ver­ nünftige Kritik. Wir bekommen zu wenig davon. DER SCHAUSPIELER: Beruhige dich. Ich verstehe das: Etwas Kritik wird sich immer melden müssen. DER PHILOSOPH: Ihr scheint jedenfalls nicht ent­ zückt von meinen Leidenschaften. Ich versichere euch aber, ich habe im Augenblick nicht im Sinn gehabt, eure Kunst herabzusetzen. Ich war nur damit beschäftigt, meine Unruhe zu erklären, die mich in euren Theatern erfüllt und mir einen großen Teil des Genusses raubt. DER SCHAUSPIELER: Ich hoffe, du suchst die Ur­ sache deiner Unruhe auch bei dir selber und nicht nur bei uns. DER PHILOSOPH: Natürlich. Ich kann euch da be­ friedigende Auskünfte erteilen. Zunächst können wir .die 32

Luft wieder reinigen, indem ich mich gar nicht so sehr mit der Art befasse, wie ihr die Dinge darstellt, das heißt ob ihr sie richtig oder falsch nachahmt, sondern mehr mit den Dingen selber, die ihr nachahmt. Sagen wir, ihr gebt eine gute Nachahmung eines Mordes. Meine Leidenschaft zur Kritik zwingt mich dann, den Mord selber sowie alle Einzelheiten desselben auf ihre Zweckmäßigkeit, Eleganz, Eigenart und so weiter nachzuprüfen. DER DRAMATURG: Und das kannst du bei uns nicht? DER PHILOSOPH: Nein. Ihr laßt mich nicht. Es liegt an der Art, wie ihr eure Nachahmungen, auch die besten, veranstaltet und vor mich bringt. Eine Zeitlang besuchte ich Freilichtaufführungen und rauchte während der Aufführungen. Ihr wißt, die Haltung des Rauchenden ist sehr angenehm für die Beobachtung. Man lehnt sich zurück, macht sich seine Gedanken, sitzt entspannt da, genießt alles von einem gesicherten Platz aus, gehört nur halb zur Sache. DER DRAMATURG: Nun, sahst du da besser? DER PHILOSOPH: Nein, meine Zigarre ging mir aus. DER SCHAUSPIELER: Bravo! Ein zweifaches Bra­ vo ! Für den Schauspieler, der dich in seinen Bann ziehen konnte, und für dich, der kein kalter Stockfisch war! DER PHILOSOPH: Halt! Ich muß protestieren. Ich kam nicht auf meine Rechnung. Das Experiment verun­ glückte. DER SCHAUSPIELER: Glücklicherweise, mein Lie­ ber, glücklicherweise! DER PHILOSOPH: Nun, ich war nicht befriedigt. DER SCHAUSPIELER: Soll ich dir sagen, wann du befriedigt gewesen wärest? Wenn die Burschen oben ihr Handwerk nicht verstanden und miserabel gespielt hätten. DER PHILOSOPH: Ich fürchte beinahe, so ist es. DER DRAMATURG: Was heißt, du fürchtest? DER PHILOSOPH: Nun, ist das nicht fürchterlich, wenn ich um so weniger zufriedenzustellen bin, je besser ihr spielt? Das klingt hoffnungslos. 3

Über Theater

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DER DRAMATURG Schauspieler: Patsche ihm nicht immer gönnerisch die Knie. Ich habe es erlebt, wie Leute nur deshalb den vernünftigsten Behauptungen wi­ dersprochen haben. DER PHILOSOPH: Es ist wahr, du bist ein ziemlich tyrannischer Mensch. Auch von der Bühne herab fühle ich mich ständig tyrannisiert. Ich soll immer, wie du willst, ohne daß ich Zeit habe, mir zu überlegen, ob ich will, wie du willst. DER DRAMATURG: Siehst du, jetzt fühlt er sich auch von der Bühne herab auf die Knie geklopft! Was sagte ich? DER PHILOSOPH: Ist nicht auch wirklich etwas dar­ an? Denkt nach! Ein Zuschauer sagt euch, er fühlt sich auf das Knie geklopft! Durchschaut, verstanden, besser als er sich versteht, auf geheimen Lüsten ertappt, darin befriedigt! Liegt darin nicht etwas Abscheuliches? DER SCHAUSPIELER: Jetzt laß es aber genug sein. Im Ärger kann man nicht diskutieren. Ich habe meine Hände schon in die Tasche gesteckt. DER PHILOSOPH: Wer sagt mir denn, daß du dis­ kutieren willst, mit oder ohne Ärger? Auf der Bühne je­ denfalls diskutierst du nicht. Du erzeugst die allerver­ schiedensten Leidenschaften, nur nicht die zur Diskus­ sion. Ja, du befriedigst sie nicht einmal, wenn sie vor­ handen ist. DER DRAMATURG: Entgegne nicht sogleich. Er spricht durchaus zur Sache. DER SCHAUSPIELER: Ja, ständig. Zur seinen. DER SCHAUSPIELER: Ganz offen heraus, ich habe nicht mehr den Eindruck, daß er ein Philosoph ist. DER DRAMATURG: Das mußt du aber begründen. DER SCHAUSPIELER: Ein Philosoph denkt über das nach, was ist. Da ist die Kunst. Darüber denkt er also nach. Sie ist so und so, und er erklärt unter Umstän­ den, wenn er genug Grütze hat, warum. Dann ist er ein Philosoph. 34

DER PHILOSOPH: Du hast vollkommen recht. Sol­ che Philosophen gibt es. Und auch solche Kunst. DER SCHAUSPIELER: Was für Kunst? DER PHILOSOPH: Kunst, die so und so ist und, da­ mit fertig. DER SCHAUSPIELER: Ach so, es gibt noch eine andere Kunst? Eine, die nicht so und so ist, die es also nicht gibt? | DER PHILOSOPH: Laß dir Zeit, du bist nicht ge­ wohnt, dir Zeit zu lassen, aber versuch es. DER SCHAUSPIELER: Ich werde also nachdenken. Er nimmt eine Pose an: Macht man es so? DER PHILOSOPH greift ihm an die Wadenmuskeln-. Nein. Die Muskeln müssen locker sein. Wir beginnen unser Nachdenken damit, daß ich ein Geständnis mache. Ich bin ein Philosoph, der zu dem Philosophieren, das du eben beschriebst, nicht genug Grütze hatte. DER SCHAUSPIELER: Hier mein Busen, weine dich aus! DER PHILOSOPH: Ich hätte lieber den unserer Freundin, offen gesagt, und mehr zum Michauslachen als zum Michausweinen. Aber was die Frage Philosoph und Grütze angeht: Seit einigen hundert Jahren, als einige Philosophen dazu übergingen, Erfindungen und Entdekkungen in der Natur zu machen, haben andere begonnen, darüber nachzudenken, ob sie genug Grütze hatten, ge­ wisse Behauptungen der Kirche und der übrigen Behör­ den zu begreifen und zu widerlegen. Es waren Behaup­ tungen darüber, daß alles, so wie es ist, gut und gesetz­ mäßig ist. Sie erschöpften sich in einer Kritik der Ver­ nunft. Sie hatten wirklich nicht genug Grütze oder sonst Eßbares, um so mächtige Institutionen wie die Kirche zu bekämpfen. Ich nun wiederum habe darüber nachgedacht, wie man ganz allgemein mehr Grütze bekommen könnte. DER SCHAUSPIELER lachend'. Ich meinte mit Grütze natürlich Verstand, nicht Essen. DER PHILOSOPH: Oh, da gibt es tiefe Zusammen­ hänge: Je mehr Grütze, desto mehr Grütze. 35

BRUCHSTÜCKE ZUR ERSTEN NACHT

DER NATURALISMUS

DER PHILOSOPH: Da ich genau so bin wie ihr, die Kälte hinter mir, vor mir den Zank und nie könnend, was ich kann, gehe auch ich in diese Rauschgiftbuden. Ich verschaffe mir dort etwas Vergessen und etwas Inter­ esse an der Welt. Denn ich bin abends ganz durcheinan­ der wie die Stadt, in der ich lebe. DER SCHAUSPIELER: Was, zum Teufel, habt ihr gegen den Rausch? Und wenn ihr was gegen ihn habt, was habt ihr für die Kunst? Selbst der schäbigste und beschädigteste Spießer wird zu einer Art Künstler, wenn er getrunken hat. Seine Phantasie erwacht. Die Wände sei­ nes Zimmers oder seiner Schnapsbutike fallen, besonders die vierte, von der wir hier gesprochen haben. Er be­ kommt Zuschauer und tritt auf. Der Packträger wirft die Bürden ab, die man ihm aufgeladen hat, und der Kommandierte setzt sich über seinen Vorgesetzten hin­ weg, denn er ist ein Aufrührer. Die zehn Gebote sieht er mit Humor an, der Ehrbarkeit greift er unter den Rock. Er philosophiert, ja er weint sogar. Meistens schwillt sein Rechtsgefühl an, er gerät in Zorn über Dinge, die nicht ihn selber betreffen. An den Mechanismen, die wider ihn sind, fallen ihm die Witzigkeiten auf. So stellt er sich über sie, solange ihn seine Beine tragen. Kurz, er wird in allem menschlicher und produziert. DER DRAMATURG: Die naturalistischen Auffüh­ rungen erweckten die Illusion, man befinde sich an einem realen Ort. DER SCHAUSPIELER: In ein Zimmer blickend, ver­ meinten die Zuschauer, den Geruch der Kirschgärten hin­ ter dem Haus zu riechen, in das Innere eines Schiffs blickend, den Druck des Sturms zu spüren. 36

DER DRAMATURG: Daß es sich nur um Illusion handelte, sah man deutlicher an den naturalistischen Stücken als an den naturalistischen Aufführungen. Die Stückeschreiber arrangierten natürlich die Vorgänge eben­ so fleißig wie die nichtnaturalistischen. Sie kombinierten, ließen weg, veranstalteten Zusammentreffen von Perso­ nen an unwahrscheinlichen Stellen, vergröberten die einen Vorgänge, verfeinerten die anderen und so weiter. Sie machten halt, wo die Illusion, man habe es zu tun mit der Realität, Gefahr lief, verletzt zu werden. DER SCHAUSPIELER: Du willst darauf hinaus, daß es sich nur um einen Gradunterschied handelt, um mehr oder weniger realistische Darstellungen? Aber der Grad­ unterschied ist eben entscheidend. DER DRAMATURG: Ich meine, es handelt sich um einen Gradunterschied der Illusion, man habe es mit der Realität zu tun, und ich halte es für ergiebiger, diese Illusion zu opfern, wenn man dafür eine Darstellung ein­ tauschen kann, die mehr von der Realität selber gibt. DER SCHAUSPIELER: Eine Darstellung, die unbe­ kümmert um die Aufrechterhaltung der Illusion, man habe es mit der Realität zu tun, arrangiert, kombiniert, wegläßt, zusammenzieht? DER PHILOSOPH: Bacon sagt: Die Natur verrät sich mehr, wenn sie von der Kunst gedrängt wird, als wenn sie sich frei überlassen bleibt. DER SCHAUSPIELER: Es ist euch wohl klar, daß man es dann nur noch mit den Meinungen der Stücke­ schreiber über die Natur zu tun hat und nicht mehr mit der Natur? DER DRAMATURG: Es ist dir wohl klar, daß man es bei den naturalistischen Stücken auch nur mit den Mei­ nungen der Stückeschreiber zu tun hatte? Die erste na­ turalistische Dramatik (der Hauptmann, Ibsen, Tolstoi, Strindberg) wurde mit Recht geradezu eine Tendenzkunst geschimpft.

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DER DRAMATURG: Die Hauptwerke des Stanis­ lawski, der übrigens viel experimentierte und auch phan­ tastische Stücke aufführte, waren die seiner naturalisti­ schen Epoche. Man muß bei ihm von Werken sprechen, denn, wie es bei den Russen üblich ist, laufen einige sei­ ner Aufführungen nun schon über dreißig Jahre ganz un­ verändert, obwohl sie schon von ganz anderen Schau­ spielern gespielt werden. Seine naturalistischen Werke nun bestehen aus minutiös ausgeführten Gesellschafts­ schilderungen. Vergleichen kann man sie mit durch tiefe Spatenstiche gewonnenen Erdklößen, von Botanikern zum Studium auf den Untersuchungstisch gebracht. Die Handlung der Stücke ist minimal, der Ausmalung der Zustände ist alle Zeit Vorbehalten, es handelt sich um die Erforschung des Seelenlebens einiger Einzelpersonen, je­ doch kommen auch Gesellschaftsforscher auf ihre Rech­ nung. Als Stanislawski im besten Alter stand, kam die Revolution. Sein Theater wurde mit größtem Respekt be­ handelt. Zwanzig Jahre nach der Revolution konnte man auf diesem Theater wie in einem Museum, noch die Lebe­ weise inzwischen von der Bildfläche verschwundener Ge­ sellschaftsschichten studieren. DER PHILOSOPH: Warum sprichst du von Gesell­ schaftsforschern? Konnten nur die sich dort über die Struktur der Gesellschaft orientieren und nicht alle Zu­ schauer? DER DRAMATURG: Das möchte ich annehmen. Er war nicht Wissenschaftler, sondern Künstler, einer der größten seiner Zeit. DER PHILOSOPH: Ich verstehe. DER DRAMATURG: Es kam ihm auf die Natürlich­ keit an, und so schien alles bei ihm viel zu natürlich, als daß man sich dabei aufgehalten hätte, es eigens zu unter­ suchen. Du untersuchst ja für gewöhnlich auch nicht deine eigene Wohnung oder deine Eßsitten, nicht? Immerhin, ich sage dir ja, und das mag dir zu denken geben, seine Werke haben historischen Wert, wenn er auch kein Histo­ riker war. 38

DER PHILOSOPH: Ja, für Historiker haben sie hi­ storischen Wert, wie es scheint. DER DRAMATURG: Er scheint dich nicht zu inter­ essieren. DER PHILOSOPH: Oh, er mag manchem gesell­ schaftlichen Interesse dienen, aber kaum dem der Gesell­ schaftsforschung, wenngleich man ihn wohl auch diesem Interesse zuführen kann. Ihr wißt, einer, der einen Stein fallen läßt, hat noch nicht das Fallgesetz dargestellt, noch einer, der den Fall eines Steins lediglich genau beschreibt. Man kann vielleicht sagen, daß seine Aussagen der Wahr­ heit nicht widersprechen, aber wir wollen etwas mehr, wenigstens ich. Er scheint wie die Natur einfach zu sagen: Fragt mich aus! Aber wie die Natur wird er dem Frager auch die größten Hindernisse in den Weg legen. Und natürlich wird er nicht so gut sein wie die Natur selber. Das Abbild, mechanisch abgenommen und vielen Zwekken dienstbar gemacht, muß unbedingt ein sehr ungenaues sein. Sicher sind da Abkürzungen an den aufschlußreich­ sten Stellen, sicher ist da alles nur oberflächlich gemacht. Diese Abbilder bringen den Forscher für gewöhnlich in dieselbe Verlegenheit wie die „genau“ abgemalten Blu­ men. Den Bildern gegenüber helfen die Vergrößerungs­ gläser so wenig weiter wie alle andern Versuchsinstru­ mente. Dies zu ihrem Wert als Gegenstände der For­ schung. Auch hier wird der Gesellschaftsforscher seine Ausbeute eher in den Meinungen über die Zustände fin­ den als in den Zuständen selber. Aber die Hauptsache für uns ist, daß diese Art Kunst Forscher benötigt, um Ergebnisse in der uns interessierenden Richtung zu liefern. DER DRAMATURG: Und doch sind von Werken des Naturalismus gesellschaftliche Impulse ausgegangen. Das Publikum wurde dazu gebracht, eine ganze Menge un­ haltbarer Zustände - nun, zu fühlen, daß sie eben unhalt­ bar waren. Die Pädagogik in den öffentlichen Schulen, die Art, wie die Frauen verhindert wurden, sich selbstän­ dig zu machen, die Heuchelei in sexuellen Dingen und vieles mehr wurde gegeißelt. 39

DER PHILOSOPH: Das klingt gut. Das Theater muß durch das öffentliche Interesse, das es nahm, auch großes öffentliches Interesse gewonnen haben. DER DRAMATURG: Merkwürdigerweise gewann das Theater nicht viel durch seine aufopfernde Tätigkeit. Einige der Mißstände wurden beseitigt oder, häufiger, durch größere überschattet. Der Verschleiß der jeweili­ gen Substanz der Stücke war rapid, und es wurde oft nachgewiesen, daß die Darstellung der Theater sehr oberflächlich war. Und das Theater hatte so viel geopfert: alle Poesie, viel von seiner Leichtigkeit. Seine Figuren blieben nicht weniger flach, als seine Handlung banal blieb. Der künstlerische Tiefgang war nicht größer als der soziale. Von den Werken Stanislawskis blieben die weni­ ger eingreifenden mehr beschreibenden länger und wirk­ ten künstlerischer, offen gestanden auch sozial bedeuten­ der. Aber auch sie zeigten keine einzige große Figur und keine einzige Fabel, die denen der Alten an die Seite gestellt werden könnte.

DER DRAMATURG: Der Naturalismus konnte sich nicht sehr lange halten. Er wurde beschuldigt, den Politi­ kern zu flach und den Künstlern zu langweilig zu sein, und verwandelte sich in den Realismus. Der Realis­ mus ist weniger naturalistisch als der Naturalismus, wenn auch der Naturalismus als für nicht weniger realistisch gilt als der Realismus. Der Realismus gibt keine ganz und gar exakten Abbilder der Realität, das heißt, er ver­ meidet ungekürzte Wiedergabe von Dialogen, die in der Wirklichkeit stattfinden, und legt weniger Gewicht darauf, mit dem Leben ohne weiteres verwechselt zu werden. Da­ für will er die Realität tiefer fassen. DER SCHAUSPIELER: Unter uns: er ist nicht Fisch noch Fleisch. Er ist einfach unnatürlicher Naturalismus. Wenn die Kritiker nach realistischen Meisterwerken ge­ fragt werden, nennen sie immer naturalistische Werke. Wenn man ihnen das entgegenhält, verweisen sie auf ge­ wisse Willkür der Dramatiker, Arrangements der „Wirk­ 40

lichkeit“, Umbiegungen bei der „Wiedergabe“ und so weiter. Das zeigt nur, daß der Naturalismus niemals eine genaue Wiedergabe vornahm, sondern nur eine genaue Wiedergabe vortäuschte. Es ging mit den Naturalisten so: In ihre Vorstellungen kommend, glaubte man in eine Fabrik oder in einen Gutsgarten zu kommen. Man sah von der Wirklichkeit so viel (und fühlte auch ebensoviel), als man am Ort selbst sah (und fühlte), also sehr wenig. Man spürte etwa dumpfe Spannungen oder erlebte plötz­ liche Ausbrüche und so weiter, bekam also nicht mehr als außerhalb des Theaters. Darum fügten die Naturalisten dann meist einen sogenannten Raisoneur ein, eine Person, die die Ansichten des Dramatikers aussprach. Der Raisoneur war ein verhüllter, naturalisierter Chor. Oft besorgte der Held dieses Geschäft. Er sah und fühlte besonders „tief“, das heißt, er war über die geheimen Ab­ sichten des Dramatikers unterrichtet. Wenn der Zu­ schauer sich in ihn einlebte, fühlte er, wie er die Situa­ tionen „meisterte“. Damit der Zuschauer sich in den Hel­ den einleben konnte, mußte er eine ziemlich schematische Figur mit möglichst wenigen Einzelzügen sein, damit er möglichst viele Zuschauer „deckte“. Er mußte also un­ realistisch sein. Stücke mit solchen Helden nannte man dann realistische, da man von diesen Helden etwas über die Realität erfuhr, aber auf unnaturalistische Weise. DER PHILOSOPH: Aber selbst wenn der Zuschauer sich eindenken oder einfühlen kann in solche Helden, wird er doch noch nicht instand gesetzt, die Realität zu meistern. Ich werde doch kein Napoleon, indem ich mich in ihn einlebe! DER SCHAUSPIELER: Nein. Aber du fühlst dich als Napoleon. DER DRAMATURG: Ich sehe, der Realismus soll auch preisgegeben werden. DER PHILOSOPH: Davon war nicht die Rede, glaube ich. Es scheint nur das, was ihr Realismus nann­ tet, kein Realismus gewesen zu sein. Man hat einfach als realistisch erklärt, was bloße Wiedergabe photographi4i

scher Art der Realität war. Nach dieser Definition war der Naturalismus realistischer als der sogenannte Realis­ mus. Dann hat man ein neues Element hineingebracht, die Meisterung der Realität. Dieses Element sprengte den' Naturalismus, auf Grund dessen allein man von Realis­ mus gesprochen hatte. DER DRAMATURG: Wo liegt der Fehler? DER PHILOSOPH: Die Figur, welche für die Ein­ fühlung bereitgestellt wird (der Held), kann nicht reali­ stisch geschildert werden, ohne für die Einfühlung des Zuschauers verdorben zu werden. Realistisch geschildert, muß sie sich mit den Geschehnissen ändern, was sie für die Einfühlung zu unstet macht, und sie muß mit begrenz­ ter Blickweite ausgestattet sein, was zur Folge haben muß, daß ihr Standpunkt auch dem Zuschauer zu wenig Rundblick gewährt. DER DRAMATURG: Also ist Realismus auf dem Theater überhaupt nicht möglich! DER PHILOSOPH: Das sage ich nicht. Die Schwie­ rigkeit liegt darin: daß die Realität auf dem Theater wiedererkannt wird, ist nur eine der Aufgaben des echten Realismus. Sie muß aber auch noch durchschaut werden. Es müssen die Gesetze sichtbar werden, welche den Ab­ lauf der Prozesse des Lebens beherrschen. Diese Gesetze sind nicht auf Photographien sichtbar. Sie sind aber auch nicht sichtbar, wenn der Zuschauer nur das Auge oder das Herz einer in diese Prozesse verwickelten Person borgt.

DIE EINFÜHLUNG

DER DRAMATURG: Wir hatten Abbildungen. Die Abbildungen des Naturalismus führten zu einer Kritik der Wirklichkeit. DER PHILOSOPH: Zu einer ohnmächtigen. DER DRAMATURG: Wie sollten wir eine mächtige erzeugen? 42

DER PHILOSOPH: Eure naturalistischen Abbil­ dungen waren schlecht gemacht. Darstellend wähltet ihr einen Standpunkt, der keine echte Kritik ermöglicht. In euch fühlte man sich ein, und in der Welt richtete man sich ein. Ihr wart, wie ihr wart, und die Welt blieb, wie sie war. DER DRAMATURG: Du kannst nicht behaupten, daß wir auf keine Kritik treffen. Die Durchfälle! Die Verrisse! DER PHILOSOPH: Ihr trefft auf Kritik, wenn ihr die Illusion nicht herstellen könnt. Es geht euch wie dem Hypnotiseur, dem die Hypnose mißlingt. Dann kritisiert der Klient den Apfel, der eine Zitrone ist! DER DRAMATURG: Ach, du meinst, er sollte die Zitrone kritisieren? DER PHILOSOPH: So ist es. Da müßte aber die Zi­ trone eine Zitrone sein.

DER DRAMATURG: Für dich vollführen wir hier anscheinend barbarische Kriegstänze im Dienst obskurer und obszöner Kulte, faulen Zauber, Magie, Teufelsmes­ sen? DER SCHAUSPIELER: Die Darstellung der Nora eine Teufelsmesse! Der edlen Antigone ein barbarischer Kriegstanz! Des Hamlet ein fauler Zauber! Das liebe ich! DER PHILOSOPH: Ich muß euch mißverstanden ha­ ben. Ich gebe es zu. ' DER SCHAUSPIELER: Gründlich, mein Freund! DER PHILOSOPH: Es muß daher kommen, daß ich eure Reden ernst genommen habe und eure Ausdrucks­ weise nicht als Jux durchschaut habe. DER DRAMATURG: Was steckt da wieder dahin­ ter? Welche Ausdrucksweise? DER PHILOSOPH: Daß ihr „Diener des Wortes“ seid, eure Kunst einen „Tempel“ darstelle, der Zu­ schauer „gebannt“ sitzen solle, daß „etwas Göttliches“ in euren Darbietungen sei und so weiter und so weiter. Ich 43

glaubte wirklich, ihr wolltet einen alten Kult aufrechter­ halten. DER DRAMATURG: Das sind Ausdrucksweisen! Das bedeutet doch nur, daß es uns ernst ist. DER SCHAUSPIELER: Es grenzt uns gegen das Ge­ triebe des Marktes ab, gegen das niedere Amüsement und so weiter. DER PHILOSOPH: Natürlich, ich wäre nicht darauf hereingefallen, wenn ich nicht wirklich in euren Theatern „gebannte“ Zuschauer gesehen hätte. Nimm den heutigen Abend! Als dein Lear seine Töchter verwünschte, fing ein kahlköpfiger Herr neben mir an, so unnatürlich zu schnaufen, daß ich mich wunderte, warum er, sich ganz in deine wunderbare Darstellung der Raserei einlebend, nicht Schaum vor den Mund bekam! DIE SCHAUSPIELERIN: Er hatte schon bessere Abende!

DER DRAMATURG: Als die Stückeschreiber lange, ruhige Akte mit viel Seele bauten und die Optiker gute Gläser lieferten, nahm die Mimik einen heftigen Auf­ schwung. Jetzt passierte viel in den Gesichtern, sie wur­ den zu Seelenspiegeln und mußten darum möglichst still gehalten werden, so daß die Gestik verkümmerte. Es kam auf die Empfindungen an, die Leiber waren nur Ge­ fäße der Seelen. Die Mimik war wechselnd, von Abend zu Abend, sie konnte nicht garantiert werden, vielerlei hatte darauf Einfluß. Aber noch weniger organisiert wa­ ren die Gesten, sie spielten kaum eine größere Rolle als die der Orchestermusiker, die ja auch bei ihrem Musizie­ ren die verschiedensten Gesten vollführen. Die Schau­ spieler improvisierten oder versuchten zumindest diesen Eindruck hervorzurufen. Die russische Schule schuf eigene Exerzitien, die den Schauspieler dazu befähigen sollten, solange das Stück ging, diesen Geist des Improvisierens lebendig zu halten. Immerhin merkten sich die Leute ge­ wisse Töne, die ihnen einmal gelungen waren, indem sie diese Töne oder Ausdrücke „rechtfertigten“, das heißt 44

mit Gründen unterbauten, analysierten, mit Eigenschafts­ wörtern belegten. DER SCHAUSPIELER: Das System des Stanis­ lawski sucht für die Bühne die Wahrheit über die Wirk­ lichkeit zu gewinnen. DER PHILOSOPH: So hörte ich. Was ich sah an Nachbildungen, hat mich enttäuscht. DER SCHAUSPIELER: Schlechte Nachbildungen vielleicht. DER PHILOSOPH: Urteilt selbst! Ich hatte den Ein­ druck, es handelte sich eigentlich darum, Vorspiegelun­ gen einen Höchstgrad von Wahrheit zu verleihen. DER SCHAUSPIELER: Wie mir das Moralisieren zuwider ist! Den Mächtigen wird der Spiegel vorgehal­ ten! Als ob sie sich nicht durchaus gefielen darin! Und als ob, wie schon ein Physiker des siebzehnten Jahrhunderts gesagt hat, die Mörder, Diebe und Wucherer nur deshalb morden, stehlen und wuchern, weil sie nicht wissen, w’ie häßlich das ist! Und die Unterdrückten werden gebeten, mit sich selber um Gottes willen endlich Mitleid zu ha­ ben! Dieses säuerliche Getränk aus Tränen und Schweiß! Die Bedürfnisanstalten sind zu klein, die Armenhäuser haben rauchende Öfen, die Minister Rüstungsaktien, die Pfarrer Geschlechtsorgane! Gegen all das soll ich auftre­ ten. DIE SCHAUSPIELERIN: Fünfzigmal spielte ich die Frau eines Bankdirektors, die von diesem als Spielzeug mißbraucht wurde. Ich trat dafür ein, daß auch die Frauen Berufe haben dürften und an der allgemeinen Jagd teilnehmen könnten, als Jäger oder Gejagte oder beides. Bei den letzten Vorstellungen mußte ich mich betrinken, um das Zeug noch sprechen zu können. DER SCHAUSPIELER: In einem andern Stück pumpte ich von meinem Chauffeur die Hosen seines ar­ beitslosen Bruders und hielt markige Reden an das Prole­ tariat. Nicht einmal im Kaftan Nathans des Weisen war 45

ich so edel gewesen wie in diesen Hosen. Ich wies darauf hin, daß alle Räder stillstünden, wenn der starke Arm des Proletariats das wolle. In diesem Augenblick gingen Millionen von Arbeitern ohne Arbeit herum. Die Räder standen still, obwohl ihr starker Arm das gar nicht wollte. [ÜBER DIE UNWISSENHEIT]

Aus der „Rede des Philosophen über die Unwissenheit der vielen“ vor den Theaterleuten

DER PHILOSOPH: Laßt mich euch berichten, daß die Ursachen der Leiden und Gefahren der Unzahl der Leidenden und Gefährdeten unbekannt sind. Einer nicht kleinen Anzahl sind sie jedoch auch bekannt. Von ihnen wieder wissen nicht wenige sogar eine Menge über die Methoden der Peiniger. Nicht so viele aber sehen Metho­ den zur Beseitigung der Peiniger. Die Beseitigung der Peiniger kann nur erfolgen, wenn genügend Menschen Be­ scheid wissen über die Ursachen ihrer Leiden und Gefah­ ren, über den genaueren Vorgang, über die Methoden zur Beseitigung der Peiniger. Es kommt also darauf an, mög­ lichst vielen dieses Wissen zu übermitteln. Es ist nicht leicht, auf welche Weise immer man es versucht. Heute möchte ich mit euch, den Leuten vom Theater, darüber sprechen, was ihr tun könntet. DER PHILOSOPH: Wir alle haben sehr unklare Vor­ stellungen davon, wie unsere Handlungen sich auswirken, ja wir wissen nur selten, warum wir sie unternehmen. Die Wissenschaft tut wenig, um die Vorurteile auf diesem Gebiet zu bekämpfen. Als Hauptmotive werden immer wieder so fragwürdige genannt wie Habsucht, Ehrgeiz, Zorn, Eifersucht, Feigheit und so weiter. Blicken wir auf Geschehenes zurück, so glauben wir Berechnungen fest­ stellen zu können, gewisse Urteile über unsere Lage da­ mals, Pläne, Wahrnehmungen von Hindernissen, die außer unserem Machtbereich standen. Aber wir haben 46

diese Berechnungen gar nicht angestellt, wir schließen nur aus unserm damaligen Handeln auf solche Berech­ nungen. Unsere Abhängigkeit auf allen Seiten in allen Entscheidungen ist uns nur dumpf fühlbar. Irgendwie hängt alles zusammen, fühlen wir, aber wie, wissen wir nicht. So erfährt die Menge den Brotpreis, die Kriegs­ erklärung, den Mangel an Arbeit wie Naturereignisse, Erdbeben oder Überschwemmungen. Lange Zeit scheinen diese Naturereignisse nur Teile der Menschen zu betref­ fen oder den einzelnen nur in einem kleinen Teil seiner Gewohnheiten. Erst spät zeigt es sich, daß das alltägliche Leben unalltäglich geworden ist, und zwar das Leben aller. Irgend etwas ist unterlassen, irgend etwas falsch gemacht worden. Die Interessen großer Schichten sind bedroht worden, ohne daß diese großen Schichten sich als Interessenverbände in dieser Sache zusammengetan haben.

DER PHILOSOPH: Daß die Menschen so wenig über sich selber wissen, ist schuld daran, daß ihr Wissen über die Natur ihnen so wenig hilft. Sie wissen, warum der Stein so und nicht anders fällt, wenn man ihn schleudert, aber warum der Mensch, der ihn schleudert, so und nicht anders handelt, wissen sie nicht. So werden sie fertig mit den Erdbeben und nicht mit ihresgleichen selber. Jedes­ mal, wenn ich von dieser Insel wegfahre, fürchte ich, daß das Schiff im Sturm untergehen könnte. Aber ich fürchte eigentlich nicht das Meer, sondern die mich unter Umständen auffischen. DER PHILOSOPH: Da der Mensch heute in sehr großen Verbänden lebt und in allem von ihnen abhängt, und er lebt immer zugleich in mehreren Verbänden, muß er überallhin große Umwege gehen, um etwas zu errei­ chen. Nur scheinbar kommt es nicht mehr auf seine Ent­ scheidungen an. In Wirklichkeit sind die Entscheidungen bloß schwieriger geworden. DER PHILOSOPH: Die Alten haben das Ziel der Tragödie darin erblickt, daß Furcht und Mitleid erweckt 4?

werde. Auch jetzt wäre das ein gutes Ziel, wenn bloß unter Furcht Furcht vor den Menschen und unter Mitleid Mitleid mit Menschen verstanden würde und wenn also das ernste Theater mithülfe, jene Zustände unter den Menschen zu beseitigen, wo sie voreinander Furcht und miteinander Mitleid haben müssen. Denn das Schicksal des Menschen ist der Mensch geworden.

DER PHILOSOPH: Die Ursachen sehr vieler Tragö­ dien liegen außerhalb des Machtbereichs derer, die sie erleiden, wie es scheint. DER DRAMATURG: Wie es scheint? DER PHILOSOPH: Natürlich nur wie es scheint. Menschliches kann nicht außerhalb des Machtbereichs der Menschen liegen, und die Ursachen dieser Tragödien sind menschliche. DER DRAMATURG: Selbst wenn das so wäre, käme es für das Theater auf das gleiche hinaus. Früher traten die Gegner einander auf der Bühne gegenüber. Wie soll das jetzt geschehen? Ein Mann in Chikago mag einen Apparat in Bewegung setzen, der in Irland zwölf Men­ schen zerquetscht oder 12000. DER PHILOSOPH: So muß der Apparat zweifellos bis Irland reichen. Die Gegner können sich gegenüber­ treten auf der Bühne. Freilich muß sich in der Technik viel ändern. Viele menschlichen Eigenschaften und Lei­ denschaften, früher wichtig, sind belanglos geworden. Dagegen sind andere an ihre Stelle getreten. Jedenfalls kann ohne einen Blick hinaus über die einzelnen auf die großen kämpfenden Verbände wenig erkannt werden. DER PHILOSOPH: Es genügt zur Belehrung der Zu­ schauer nicht, daß ein Vorfall nur eben vorfällt. Er ist nicht verstanden, wenn er gesehen ist. DER DRAMATURG: Du willst also einen Kommen­ tar haben? DER PHILOSOPH: Oder irgendein kommentarisches Element in der Darstellung, ja. 48

DER DRAMATURG: Und wie ist es mit dem Ler­ nen aus dem Erleben? Denn auf dem Theater sieht man ja nicht nur, sondern man erlebt mit. Gibt es besseres Lernen? DER PHILOSOPH: Da müßten wir untersuchen, wie durch Erleben gelernt wird, ohne daß kommentarische Elemente in das Erleben eingehen. Zunächst gibt es viele Momente, die ein Lernen, also ein Klügerwerden beim Erleben hindern, zum Beispiel wenn gewisse Änderun­ gen der Lage zu langsam vorgehen, unmerklich, wie man dann sagt. Oder wenn durch gleichzeitige andere Vor­ fälle die Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Oder wenn die Ursachen in Vorfällen gesucht werden, die nicht die Ur­ sachen waren. Oder wenn der Erlebende starke Vorur­ teile hat. DER DRAMATURG: Kann er nicht auch diese durch gewisse Erlebnisse verlieren? DER PHILOSOPH: Wohl nur, wenn er reflektiert hat. Was immer noch auf die erwähnten Hindernisse ge­ stoßen sein kann. DER DRAMATURG: Aber ist denn nicht das Selbst­ machen die beste Schule? DER PHILOSOPH: Das Erlebnis, welches vom Thea­ ter vermittelt wird, ist kein Selbstmachen. Und man tut falsch, wenn man jedes Erlebnis für ein Experiment hält und alle Vorteile aus ihm ziehen will, welche ein Experiment ergeben kann. Es ist ein riesiger Unterschied zwischen einem Erlebnis und einem Experiment. DER SCHAUSPIELER: Tue mir den Gefallen, die­ sen Unterschied nicht umständlich zu erklären, ich kann ihn mir denken. DER DRAMATURG: Wie ist es mit den direkten Gemütsbewegungen, die sich übertragen? So, daß durch abscheuliche Handlungen Abscheu erzeugt wird oder durch Abscheu, den man miterlebt, der eigene Abscheu verstärkt wird? DER PHILOSOPH: Der Fall, daß durch abscheuliche Vorfälle (in der Wiedergabe) Abscheu erregt werden 4 Übet Theater

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kann, gehört nicht hierher, solange nicht, wie es auf dem Theater geschieht, dieser Abscheu auf der Bühne durch eine Person stark und ansteckend ausgedrückt wird. Dann gelten einige Erfahrungen, welche die neuere Physiologie gemacht hat. Kennt ihr die Experimente des Physiologen Pawlow mit den Hunden? DER SCHAUSPIELER: Heraus damit, das scheint wenigstens etwas Tatsächliches zu sein. DER PHILOSOPH: Es kann natürlich nur als ein Beispiel betrachtet werden. Menschen sind keine Hunde, wiewohl ihr auf dem Theater sie als solche behandelt, wie ihr sehen werdet. Pawlow warf Hunden Fleisch vor und schlug dabei eine Glocke an. Er maß die Speichel­ absonderung der Hunde, welche erfolgte, wenn sie das Fleisch sahen. Dann schlug er die Glocke an, ohne Fleisch zu geben. Die Messungen ergaben, daß die Hunde auch jetzt Speichel absonderten. Sie brauchen ihren Speichel nur zur Verdauung des Fleisches und nicht zum Ertragen der Glockenzeichen, aber sie bekamen ihn doch ins Maul. DER DRAMATURG: Und die Nutzanwendung? DER PHILOSOPH: Eure Zuschauer erleben sehr komplexe, vielfältige, reiche Vorfälle, die man denen der Hunde des Pawlow vergleichen kann: Fütterungen unter Glockengeläute. Es könnte sein, daß die erstrebten Reak­ tionen dann bei Vorfällen im Laben eintreten, welche nur bestimmte Elemente der bei euch erlebten enthalten, viel­ leicht die begleitenden Elemente. Ihr hättet sie dann krank gemacht, wie Pawlow seine Hunde. Aber dies gilt natürlich auch im Leben selber. Auch die echten Vorfälle erlebend, unterliegen die Menschen solchen Irreführun­ gen: sie lernen Falsches. DIE SCHAUSPIELERIN: Unser Star bittet um ein Beispiel. DER PHILOSOPH: Viele Kleinbürger reagieren auf Revolutionen so, als würden dabei nur ihre Ladenfenster zerschlagen. DER DRAMATURG: Daran ist etwas. Ich erinnere mich, daß wir einmal ein Stück über die Kommune auf50

führten. Es wurde ein Volksauflauf dargestellt. Zuerst zeigten wir realistisch, wie dabei eine Butike zerstört wurde. Dann unterließen wir das, da wir die Kommune nicht als Feindin der kleinen Geschäftsleute zeigen woll­ ten. Der Volksauflauf wurde so sehr unrealistisch. DER SCHAUSPIELER: Schlecht gewähltes Beispiel! Es hätte vollständig genügt, wenn man den Butiker als an diesem „Begleitumstand“ uninteressiert gezeigt hätte. DER DRAMATURG: .Unsinn. Kein Butiker hätte sich in ihn da eingefühlt. DER PHILOSOPH: Das fürchte ich auch. Nein, solche realistischen Züge müßt ihr streichen.

WAS DEN PHILOSOPHEN AUF DEM THEATER INTERESSIERT

DER DRAMATURG: Diderot, ein großer revolutio­ närer Dramaturg, hat gesagt, das Theater solle der Un­ terhaltung und der Belehrung dienen. Mir scheint, daß du das erste streichen willst. DER PHILOSOPH: Ihr habt das zweite gestrichen. Eure Unterhaltungen haben nichts Belehrendes mehr. Wir wollen sehen, ob meine Belehrungen nichts Unterhal­ tendes haben.

DER PHILOSOPH: Die Wissenschaft sucht auf allen Gebieten nach Möglichkeiten zu Experimenten oder pla­ stischen Darstellungen der Probleme. Man macht Mo­ delle, welche die Bewegungen der Gestirne zeigen, mit listigen Apparaturen zeigt man das Verhalten der Gase. Man experimentiert auch an Menschen. Jedoch sind hier die Möglichkeiten der Demonstration sehr beschränkt. Mein Gedanke war es nun, eure Kunst der Nachahmung von Menschen für solche Demonstrationen zu verwenden. Man könnte Vorfälle aus dem gesellschaftlichen Zusam­ menleben der Menschen, welche der Erklärung bedürftig sind, nachahmen, so daß man diesen plastischen Vorfüh51

rungen gegenüber zu gewissen praktisch verwertbaren Kenntnissen kommen könnte. DER DRAMATURG: Ich vermute, daß man diese Demonstrationen nicht einfach ins Blaue hinein veranstal­ ten kann. Irgendeine Richtung muß man haben, nach ir­ gendwelchen Gesichtspunkten muß man die Vorfälle aus­ wählen, zumindest Vermutungen müssen da sein. Wie ist es damit? DER PHILOSOPH: Es gibt eine Wissenschaft über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. Es ist eine große Lehre über Ursache und Wirkung auf die­ sem Gebiet. Sie kann uns die Gesichtspunkte liefern. DER DRAMATURG: Du meinst wohl die marxisti­ sche Lehre? DER PHILOSOPH: Ja. Aber ich muß eine Einschrän­ kung machen. Diese Lehre beschäftigt sich vornehmlich mit dem Verhalten großer Menschenmassen. Die Gesetze, welche diese Wissenschaft aufstellte, gelten für die Be­ wegungen sehr großer Einheiten von Menschen, und wenn auch über die Stellung des einzelnen in diesen großen Einheiten allerhand gesagt wird, so betrifft auch dies eben für gewöhnlich nur die Stellung des einzelnen eben zu diesen Massen. Wir aber hätten bei unseren Demonstra­ tionen es mehr mit dem Verhalten der einzelnen unter­ einander zu tun. Immerhin geben die Hauptsätze dieser Lehre auch für die Beurteilung des einzelnen sehr viel her, so der Satz, daß das Bewußtsein der Menschen von ihrem gesellschaftlichen Sein abhängt, wobei es für aus­ gemacht gilt, daß dieses gesellschaftliche Sein in ständiger Entwicklung begriffen ist und so auch das Bewußtsein ständig verändert. Eine große Menge handfester Sätze werden außer Kurs gesetzt, so die Sätze: Geld regiert die Welt und Die großen Männer machen die Geschichte und eins = eins. Sie werden keineswegs durch entgegengesetzte, ebenso handfeste Sätze ersetzt.

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Ausführungen des Philosophen über den Marxismus

DER PHILOSOPH: Es ist für euch wichtig, den Un­ terschied zwischen dem Marxismus, der eine bestimmte Art, die Welt anzuschauen, anrät, und dem zu erkennen, was man gemeinhin eine Weltanschauung nennt. Die marxistische Lehre stellt gewisse Methoden der Anschau­ ung auf, Kriterien. Sie kommt dabei zu gewissen Beur­ teilungen der Erscheinungen, Voraussagen und Winken für die Praxis. Sie lehrt eingreifendes Denken gegenüber der Wirklichkeit, soweit sie dem gesellschaftlichen Ein­ griff unterliegt. Die Lehre kritisiert die menschliche Pra­ xis und läßt sich von ihr kritisieren. Die eigentlichen Weltanschauungen jedoch sind Weltbilder, vermeintliches Wissen, wie alles sich abspielt, meist gebildet nach einem Ideal der Harmonie. Für euch ist der Unterschied, über den ihr euch anderweitig unterrichten könnt, wichtig, weil ihr eure Nachahmungen von Vorfällen beileibe nicht als Illustrationen zu etwaigen von den Marxisten aufgestell­ ten Sätzen bilden sollt, deren es, wie ich erwähnt habe, viele gibt. Ihr müßt alles untersuchen und alles beweisen. Die Klärung eurer Vorfälle kann nur durch andere Vor­ fälle geschehen. DER DRAMATURG: Gib ein Beispiel! DER PHILOSOPH: Nehmen wir das Stück „Wallen­ stein“ von dem Deutschen Schiller. Da begeht ein Gene­ ral Verrat an seinem Monarchen. Es wird nicht bewiesen in diesem Stück durch die Folge der Vorfälle, daß dieser Verrat zur moralischen und physischen Zerstörung des Verräters führen muß, sondern es wird vorausgesetzt. Die Welt kann nicht bestehen auf der Basis von Verrat, meint Schiller, er beweist es aber nicht. Er könnte so etwas auch nicht beweisen, denn dann gäbe es keine Welt. Er meint aber, es wäre nicht schön, in einer solchen Welt zu leben, wo Verrat geschieht. Er beweist natürlich auch dies nicht. DER DRAMATURG: Was würde ein Marxist ma­ chen? 53

DER PHILOSOPH: Er würde den Fall als histori­ schen Fall darstellen, mit Ursachen aus der Epoche und Folgen in der Epoche. DER DRAMATURG: Und die moralische Frage? DER PHILOSOPH: Die moralische Frage würde er ebenfalls als eine historische Frage behandeln. Er würde den Nutzen eines bestimmten moralischen Systems inner­ halb einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sein Funk­ tionieren beobachten und durch seine Anordnung der Vorfälle klarlegen. DER DRAMATURG: Würde er die moralischen An­ schauungen dieses Wallenstein also kritisieren? DER PHILOSOPH: Ja. DER DRAMATURG: Von welchem Standpunkt aus? DER PHILOSOPH: Nicht von dem seiner Moral.

DER DRAMATURG: Trotzdem denke ich es mir schwierig, in den alten Stücken, die tatsächlich nur mit ein paar Andeutungen, Reminiszenzen an die Wirklich­ keit, Emotionen erregen wollen, oder den anderen, natu­ ralistischen, diese neue Darstellungsweise zu erlernen. Vielleicht könnten wir so etwas wie echte Gerichtsfälle aus den Gerichtschroniken nehmen und einstudieren. Oder uns bekannte Romane zurechtzimmern. Oder histo­ rische Vorgänge in der Art der Karikaturisten wie all­ tägliche Vorgänge darstellen.

DER SCHAUSPIELER: Wir Schauspieler sind ganz von den Stücken abhängig, die man uns zum Spielen gibt. Wir sehen ja nicht einfach einige deiner Vorfälle und ahmen sie dann auf der Bühne nach. Also müßten wir erst auf neue Stücke warten, die eine solche Darstellung, wie du sie haben willst, möglich machen. DER PHILOSOPH: Das hieße unter Umständen bis zum Sankt Nimmerleinstag warten. Ich schlage vor, hier nicht vom Stückebau zu reden, wenigstens zunächst nicht. Im großen und ganzen stutzen eure Stückeschreiber solche 54

Vorfälle aus dem Leben, die genügend Interesse auch im Leben erwecken würden, so zu, daß sie auf der Bühne wirken. Auch wenn sie erfinden, erfinden sie, von den ganz phantastischen Stücken abgesehen, immer so, daß die Vorfälle aus dem Leben genommen scheinen. Alles, was ihr tun solltet, ist nur: die Vorfälle möglichst ernst nehmen und ihre Verwertung durch den Stückeschreiber möglichst leicht. Ihr könnt seine Interpretationen ja zum Teil wegstreichen, Neues einfügen, kurz, die Stücke als Rohmaterial verwenden. Und ich nehme von vornherein an, daß ihr nur Stücke wählt mit Vorfällen, die genügend öffentliches Interesse bieten. DER SCHAUSPIELER: Und der Sinn der Dichtung, das geheiligte Wort des Dichters, der Stil, die Atmo­ sphäre? DER PHILOSOPH: Oh, die Absicht des Dichters scheint mir nur soweit von öffentlichem Interesse, als sie dem öffentlichen Interesse dient. Sein Wort sei gehei­ ligt, wo es die richtige Antwort auf die Frage des Vol­ kes ist, der Stil hängt sowieso von eurem Geschmack ab, und die Atmosphäre soll eine saubere sein, durch oder gegen den Dichter. Hat er sich an die Interessen und die Wahrheit gehalten, so folgt ihm, wenn nicht, so verbes­ sert ihn! DER DRAMATURG: Ich frage mich, ob du wie ein kultivierter Mensch sprichst. DER PHILOSOPH: Jedenfalls wie ein Mensch, hoffe ich. Es gibt Zeiten, wo man sich entscheiden muß, ob man kultiviert oder menschlich sein will. Und warum diese üble Sitte mitmachen, nur diejenigen kultiviert zu nen­ nen, die schöne Kleider zu tragen verstehen, statt diejeni­ gen, die sie zu machen verstehen? DER SCHAUSPIELER: Seht ihr nicht, daß er Furcht hat, wir könnten eine beabsichtigte Unverschämtheit als Liebenswürdigkeit verkennen? Was, denkt ihr, hätte der Maler Gauguin gesagt, wenn jemand seine auf Tahiti ge­ malten Bilder nur betrachtet hätte, weil er sich für Tahiti 55

interessierte, sagen wir des Gummihandels wegen? Er konnte erwarten, daß man sich für Gauguin oder wenig­ stens für die Kunst im allgemeinen interessierte. DER PHILOSOPH: Und wenn jemand sich für Tahiti interessierte? DER SCHAUSPIELER: Konnte er anderes Material benutzen als Gauguins Kunstwerke. DER PHILOSOPH: Was, wenn es anderes Material nicht gäbe? Nehmen wir an, der Betrachter wollte nicht Ziffern, noch dürre Sachverhalte, sondern einen allgemei­ nen Eindruck, möchte zum Beispiel wissen, wie es sich dort lebt? Der Gummihandel schafft ja noch kein wirk­ lich tiefes und allseitiges Interesse an einer Insel wie Ta­ hiti, und ich habe gesagt, ich interessiere mich wirklich, also tief und allseitig an dem Gegenstand, den ihr nach­ ahmt. DER DRAMATURG: Aber Gauguin wäre dennoch der falsche Berichterstatter. Er gäbe für seine Zwecke zu wenig. DER PHILOSOPH: Möglich. Er hatte sie nicht im Auge. Aber könnte er einen richtigen Bericht geben? DER DRAMATURG: Vielleicht. DER SCHAUSPIELER: Wenn er seine künstlerischen Interessen opferte! DER DRAMATURG: Oh, das müßte nicht unbedingt geschehen. An und für sich könnte er auch als Künstler an der Aufgabe, die ihm unser Freund stellte, interessiert werden. Ich erinnere mich dunkel, daß Holbein für den englischen König Heinrich VIII. das Porträt einer Dame malte, die der König heiraten wollte, aber nicht kannte. DER SCHAUSPIELER: Ich sehe ihn malen. Die Hof­ leute um sich. Er spielt. „Maestro, Maestro! Sehen Sie wirklich nicht, daß Ihrer Hoheit Lippen feucht und üppig sind wie. . . und so weiter.“ - „Dulden Sie nicht, daß Dero Lippen sinnlich gemalt werden, Eure Hoheit! Den­ ken Sie an das neblige Klima in England!“ - „Abgesehen davon sind sie dünn, dünn, dünn. Wagen Sie nicht, den König hereinzulegen.“ - „Was S. M. wissen will, ist, wie 56

es mit dem Charakter der Dame beschaffen ist, er hat seine Erfahrungen gemacht. Nicht nur, ob die Dame ihn lockt, sondern auch, ob sie andere lockt!“ „Das schlimmste ist, daß er den Hintern überhaupt nicht sieht!“ - „Und viel zuviel Stirn!“ - „Maestro, vergessen Sie nicht, daß Sie hohe Politik machen! Belieben Sie, im Interesse Frankreichs etwas mehr grau in Ihren Pinsel zu geben!“ DIE SCHAUSPIELERIN: Weiß jemand, ob die Hei­ rat zustande kam? DER PHILOSOPH: Es steht jedenfalls nicht in den Kunstgeschichten. Die Ästheten, die sie schrieben, ver­ standen diese Art Kunst nicht. Unsere Freundin hier hätte sie wohl verstanden, wie ihre Frage beweist. DIE SCHAUSPIELERIN: Ach, die Dame ist tot, und ihr königlicher Bewerber ist ebenfalls Staub! Aber Holbeins Porträt hat seinen Sinn nicht eingebüßt, jetzt, wo nicht mehr geheiratet und nicht mehr Politik betrieben wird! DER DRAMATURG: Immerhin könnte das Bild eine ganz besondere, noch heute wahrnehmbare Qualität be­ kommen haben. Es hatte so viele wichtige Dinge über eine Frau auszusagen, Dinge, die heute noch interessant sind. DER PHILOSOPH: Wir irren ab, meine Freunde. Es genügt mir, festzustellen, daß das Porträt ein Kunstwerk wurde. Wenigstens über diese Seite der Angelegenheit besteht anscheinend kein Zweifel hier. DER SCHAUSPIELER: Der Auftrag bedeutete für Holbein lediglich den Anlaß, Kunst zu machen. DER DRAMATURG: Seine Künstlerschaft bedeutete aber auch für den König den Anlaß, ihn zu dem Dienst heranzuziehen, den er benötigte. DER SCHAUSPIELER steht auf-. Er ist kein Zu­ schauer. DIE SCHAUSPIELERIN: Was meinst du damit? DER SCHAUSPIELER: Er hat keinen Sinn für Kunst. Er ist hier fehl am Ort. Vom Standpunkt der 57

Kunst aus ist er ein Krüppel, ein armer Mensch, der einen ganz bestimmten Sinn nicht mitbekommen hat bei seiner Geburt: den Kunstsinn. Natürlich kann er durch­ aus respektabel sein im übrigen. Wo es gilt, herauszufin­ den, ob es schneit oder regnet, ob Hinz ein guter Mensch ist, ob Kunz denken kann und so weiter und so weiter, kann man auf ihn zählen, warum nicht? Aber von Kunst versteht er nichts, mehr noch: Kunst will er nicht, sie ekelt ihn an; sie soll nicht sein. Ich durchschaue ihn jetzt vollkommen. Er ist der dicke Mann im Parkett, der ins Theater gekommen ist, weil er einen Geschäftsfreund treffen wollte. Wenn ich mir oben mein Herz ausblute über Sein oder Nichtsein, sehe ich sein fischiges Auge auf meine Perücke gerichtet, wenn der Wald von Dunsinan heraufkommt gegen mich, sehe ich ihn nachschauen, wie er gemacht wird. Das höchste, wozu er sich aufschwingen kann, ist der Zirkus, davon bin ich überzeugt. Ein Kalb mit zwei Köpfen regt seine Phantasie am ehesten an. Ein Sorung aus einer Höhe von fünf Metern ist ihm der Inbe­ griff von Kunst. Das ist wirklich schwer, nicht wahr? Das könnten Sie nicht, das ist Kunst, nicht wahr? DER PHILOSOPH: Wenn Sie mich so dringend fra­ gen, muß ich zugestehen, daß ein Snrung aus fünf Meter Höhe mich tatsächlich interessiert. Ist das schlimm? Aber mich interessiert auch ein Kalb mit einem Kopf. DER SCHAUSPIELER: Gewiß, wenn es nur echt ist, das wirkliche Kalb, kein nachgemachtes, nicht wahr? Das Kalb selbst in seiner Beziehung zu seiner Umgebung mit besonderer Berücksichtigung seiner Ernährung. Herr, Sie sind fehl am Ort! DER PHILOSOPH: Aber ich versichere Ihnen, ich habe auch Sie ähnliches wie solche Sprünge machen sehen und mit großem Interesse. Auch Sie können, was ich nicht kann. Ich meine, ich habe ebensoviel Kunstsinn wie die meisten Menschen, das habe ich oft festgestellt, teils mit Befriedigung, teils mit Besorgnis. DER SCHAUSPIELER: Ausflüchte! Herumrederei! Was Sie unter Kunst verstehen, kann ich Ihnen sagen. 58

Es ist die Kunst, Kopien anzufertigen, Kopien von dem, was Sie die Wirklichkeit nennen. Herr, die Kunst ist sel­ ber eine Wirklichkeit! Die Kunst steht so hoch über der Wirklichkeit, daß man eher sie eine Kopie der Kunst nennen könnte. Und eine stümperhafte! DIE SCHAUSPIELERIN: Springst du jetzt mit der Kunst zusammen nicht etwas zu hoch?

Die zweite Nacht

REDE DES PHILOSOPHEN ÜBER DIE ZEIT

DER PHILOSOPH: Bedenkt, daß wir in einer finste­ ren Zeit Zusammenkommen, wo das Verhalten der Men­ schen zueinander besonders abscheulich ist und über die tödliche Wirksamkeit gewisser Menschengruppen ein fast undurchdringliches Dunkel gelegt ist, so daß es vielen Nachdenkens und vieler Veranstaltungen bedarf, wenn das Verhalten gesellschaftlicher Art ins helle Licht gezo­ gen werden soll. Die ungeheure Unterdrückung und Aus­ beutung von Menschen durch Menschen, die kriegerischen Schlächtereien und friedlichen Entwürdigungen aller Art über den ganzen Planeten hin haben schon beinahe etwas Natürliches bekommen. Die Ausbeutung etwa, die mit Menschen getrieben wird, scheint vielen so natürlich wie die, der wir die Natur unterwerfen, Menschen werden da wie Äcker betrachtet oder wie Rinder. Die großen Kriege scheinen unzähligen wie Erdbeben, als ob gar keine Men­ schen dahintersteckten, sondern nur Naturgewalten, de­ nen gegenüber das Menschengeschlecht ohnmächtig ist. Das natürlichste von allem vielleicht scheint uns die Art, wie wir unsern Lebensunterhalt erwerben, wie der dem ein Stück Seife, der dem einen Laib Brot, der dem seine Muskelkraft verkauft. Da, glauben wir, werden nur Dinge ausgetauscht, in freier Weise, aber jede genauere Untersuchung ergibt genau wie die schreckliche Erfah­ rung des Alltags, daß dieser Austausch nicht nur unter Menschen vor sich geht, sondern von gewissen Menschen beherrscht wird. Je mehr wir durch die Organisation der Arbeit und große Erfindungen und Entdeckungen der Natur abzwangen, desto mehr scheinen wir in Unsicher­ heit der Existenz geraten zu sein. Nicht wir beherrschen, 60

scheint es, die Dinge, sondern die Dinge beherrschen uns. Das kommt aber nur daher, weil die einen Menschen ver­ mittels der Dinge von den andern Menschen beherrscht werden. Wir werden erst von den Naturgewalten befreit sein, wenn wir von menschlicher Gewalt befreit sind. Unserer Kenntnis der Natur müssen wir die Kenntnis der menschlichen Gesellschaft hinzufügen, des Verhaltens der Menschen untereinander, wenn wir unsere Kenntnis der Natur menschlich ausnützen wollen.

REDE DES SCHAUSPIELERS ÜBER DIE DARSTELLUNG EINES KLEINEN NAZIS

DER SCHAUSPIELER: Folgend unsern losen Re­ geln, versuchte ich nicht, dieser Figur, um sie interessant zu machen, Unergründlichkeit zu verleihen, sondern ich versuchte, Interesse an ihrer Ergründlichkeit zu erwekken. Da es die Aufgabe war, von diesem Menschen ein Abbild zu geben, das seine Behandlung durch das die Gesellschaft repräsentierende Publikum unseres Theaters erleichtern würde, mußte ich ihn natürlich als einen im Grunde veränderlichen Charakter darstellen, wobei mir die besprochenen neuen Mittel der Schauspielkunst zu­ statten kamen. Ich hatte Einblicke in ihn von der Art zu ermöglichen, daß möglichst viele Eingriffe der Gesell­ schaft, die zu verschiedenen Zelten erfolgt waren, sichtbar wurden. Ich mußte auch den Grad seiner Änderbarkeit unter gegebenen Umständen ahnen lassen, denn die Ge­ sellschaft ist ja nicht in jedem Augenblick imstande, die Kräfte zu mobilisieren, jedes ihrer Mitglieder so zu än­ dern, daß es unmittelbar nützlich wird; sie muß sich mit­ unter damit begnügen, ein Mitglied unschädlich zu ma­ chen. Auf keinen Fall jedoch durfte ich so etwas wie „den geborenen Nazi“ gestalten. Vor mir hatte ich etwas Wi­ dersprüchliches, eine Art Atom des volksfeindlichen Volks, den kleinen Nazi, der in Masse den Interessen der Masse zuwiderhandelt, ein Vieh vielleicht, wenn un61

ter Nazis, oder ein größeres Vieh, wenn unter den Nazis, zugleich ein gewöhnlicher Mensch, das heißt also ein * Mensch. Schon durch seine Massenhaftigkeit genoß er eine gewisse Anonymität, zeigte nur die Charaktereigen­ tümlichkeiten einer Gruppe und diese neben durchaus Individuellem. Das ist ja eine Familie wie die andere und da ist keine Familie wie die andere. Jeden seiner Schritte hatte ich zu machen wie einen erklärlichen, und zugleich hatte ich auch einen andern Schritt ahnen zu lassen, der ebenfalls erklärlich wäre. Die Menschen dür­ fen nicht so behandelt werden, als könnten sie nur „so“; sie können auch anders. Die Häuser sind gefallen, sie könnten auch stehen.

BRUCHSTÜCKE ZUR ZWEITEN NACHT DIE WISSENSCHAFT

DER PHILOSOPH: Leute, die weder etwas von der Wissenschaft verstehen noch von der Kunst, glauben, daß das zwei ungeheuer verschiedene Dinge sind, von denen sie da nichts verstehen. Sie meinen der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen, wenn sie ihr erlauben, phantasielos zu sein, und die Kunst zu fördern, wenn sie jedermann davon abhalten, von ihr Klugheit zu verlangen. Die Men­ schen mögen in einem bestimmten Fach besondere Bega­ bung besitzen, aber sie sind in ihm nicht um so begabter, je unbegabter sie in allen andern Fächern sind. Wissen gehört zur Menschlichkeit ebenso wie Kunst, wenn sie sich auch in unseren verrotteten Gemeinwesen lange und oft ohne beide behelfen mußte. Ganz ohne Wissen ist niemand, und so ist niemand ganz ohne Kunst. * Das Ganze ist viehisch, aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die älteren grapschten, aber bei den jüngeren gab es wohl eine Art abgedumpften sozialen Träumens. 62

DER SCHAUSPIELER: Da wird bald kein Ende des Praktischen sein! Die Themen werden sein: Mängel der Schwemmkanalisation in der Goßstraße und „Kein nächtliches Radiohören bei offenem Fenster!“ Alles, was „nicht zur Sache gehört“, gestrichen! DIE SCHAUSPIELERIN: Und das anstelle von „Le­ bensüberdruß eines jungen Mannes wegen verweigertem Koitus“ oder „Mutter erfährt Wechselfälschung des ein­ zigen Sohns“ mit allen Details! DER DRAMATURG: Meines Wissens hat unser Freund bisher nichts geäußert, was darauf schließen ließe, daß in seinem Thaeter eines der vier von euch genann­ ten Themen nicht vorkommen könnte. Was die Wichtig­ keit des Themas betrifft, so ist die Gesellschaft, zu deren Vertreterin die Zuhörerschaft gemacht wird, durchaus imstande, darüber zu befinden. In ihr sind alle Inter­ essen vereinigt. DER PHILOSOPH: Ich glaube, der Einwand unseres Freundes, des Schauspielers, richtet sich gegen die Be­ schränktheit unserer sogenannten reinen Praktiker. Er befürchtet, wir könnten deren neunmalkluge, alle Pro­ bleme „resolut anpackende“, jede Frage im Handumdre­ hen lösende, jede unlösbare wegschiebende Art uns zu eigen machen. Aber warum sollten wir das? DER DRAMATURG: Man muß zugeben, daß wir die Kunst so ziemlich verabschiedet haben, indem wir sie als bloßes Mittel engagierten. Und es ist die Art der Kunst, die Frage aufzuwerfen, ohne daß eine Lösung gewußt wird, die Bedrückung auszudrücken, ohne daß die Fessel bekannt ist und so weiter. DER PHILOSOPH: Dies ist auch die Art der Wissen­ schaft, meine Freunde. DER DRAMATURG: Möglich, aber sie ist doch viel praktischer. Wenn sie vorlegt, was sie nicht versteht, so verzichtet sie doch nicht auf ein Verständnis. Die Kunst treibt einen Kult mit dem Unverständlichen. Sie be­ rauscht sich an dem „Faktum“, daß es Dinge gibt, die 63

über dem Verstand liegen, jenseits des Beherrschbaren sind. Sie steht auf Seiten des Schicksals. DER PHILOSOPH: Das tat die Wissenschaft auch in früherer Zeit und tut sie noch jetzt in bestimmten Bezir­ ken. Die Natur war nicht immer gleich beherrschbar, die Menschheit schickte sich nicht immer gleich willig in ihr Schicksal. DER SCHAUSPIELER: Auf dem Theater und auf dem Thaeter haben wir es mit der Natur des Menschen zu tun. Sie bereitet dem Menschen sein Schicksal. DER PHILOSOPH: Für diesen Teil der Natur gilt, was für die Natur selber und im ganzen gilt. Wir wollen nach Verabredung möglichst wenig von der Kunst, ihren eigenen Gesetzen, Beschränkungen, Vorzügen, Verpflich­ tungen und so weiter reden. Wir haben sie zum bloßen Mittel degradiert, mit Füßen getreten, vergewaltigt, ent­ rechtet und versklavt. Wir fühlen uns nicht mehr ver­ pflichtet, die dumpfen Ahnungen, unterbewußten Kennt­ nisse, übermächtigen Gefühle und so weiter auszudrükken. Aber unsere neue Aufgabe erfordert allerdings, daß wir, was zwischen den Menschen vorgeht, in aller Breite, Widersprüchlichkeit, in dem Zustand der Lösbarkeit oder Unlösbarkeit vorlegen. Es gibt nichts, was nicht zur Sache der Gesellschaft gehört. Die klaren bestimmten, be­ herrschbaren Elemente haben wir vorzuführen in ihrer Beziehung zu den unklaren, unbeherrschbaren, so daß also auch diese in unserm Thaeter vorkommen. DER DRAMATURG: Ich sehe, dir fehlt das Beson­ dere, Unterschiedliche, Auffällige. Aber wir bringen das doch auch. Wir tun keineswegs, als ob alle Wissen­ schaftler bei dieser Zumutung in Zorn verfielen. Wir können solche und solche darstellen. DER PHILOSOPH: Und wie macht ihr das? DER SCHAUSPIELER: Den Typ, der in Zorn ver­ fällt, lege ich eben von Anfang an so an. Der Anfall muß ja logisch kommen, mit anderen Äußerungen zusammen64

stimmen, aus dem Gang des Ganzen hervorgehen. Mein Mann verfällt in Zorn, das wird jedermann begreifen. DER PHILOSOPH: Und so wird denn passieren, was passiert. DER DRAMATURG: Du hast eine scheußliche Art, diesen Satz auszusprechen; als lieferten wir nur, was ge­ kauft wird, sagten nur, was gefällt. Aber der Satz muß heißen: Es geschieht, was geschehen muß. DER PHILOSOPH: Nehmen wir an, jemand wird zornig über eine Zumutung, durch die er sich in seiner Würde gekränkt fühlt. Ein Diener soll seinen Herrn ver­ raten oder ein Wissenschaftler seine Wissenschaft. Der Schauspieler wird zunächst nur so etwas Allgemeines her­ vorbringen wie eine Illustration des Gestus: Wofür hält man mich? Dieser Gestus ist von so ziemlich je­ dermann aufnehmbar, so ziemlich jedermann kann sich eine Situation vorstellen, wo er bei dem Gedanken: Wo­ für hält man mich? in Zorn verfällt. Natürlich wird der Schauspieler den Grundgestus für die Figur abwan­ deln, dem Diener geben, was des Dieners ist, dem Wis­ senschaftler, was des Wissenschaftlers ist. Die Zeit wird auch angedeutet sein, durch das Kostüm zumindest. Her­ auskommen wird: bei einer solchen Zumutung empöre ich mich und empörst du dich; empört sich der Diener und der Wissenschaftler, hat sich der Mensch immer empört und wird sich der Mensch immer empören. DER SCHAUSPIELER: Ganz so. Denn wir spielen jetzt, und von den Leidenschaften alter Zeiten haben wir die zu wählen, die noch existieren, und wir spielen vor Dienern und Wissenschaftlern zugleich. DER PHILOSOPH: Ja, und darum müßt ihr sorgen, daß der Zornanfall nicht auf Erstaunen stößt. Was pas­ siert, muß passieren können in dem Sinn, daß, was vor­ geht, durchgehen können muß.

DER PHILOSOPH: Es ist auch deswegen wichtig, daß der Schauspieler sein Wissen und das Betrachtetwer­ den zum Ausdruck bringt, weil der Zuschauer dadurch 5 übet Theater

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lernen kann, im gewöhnlichen Leben sich wie einer zu be­ nehmen, der betrachtet wird. In diesem Punkt ist der Schauspieler ein Vorbild. Der einzelne hat ungeheure Vorteile von dem Bewußtsein, betrachtet zu werden, und auch die Gesellschaft hat davon nur Vorteile. DER PHILOSOPH: Wenn wir auf der Bühne den Schmerz betrachten und zugleich mitempfinden, ist in diesem Betrachten auch darinnen, daß wir ihn zugleich betrachten. Wir sind schmerzvolle, aber zugleich solche, die einen Schmerz, den unsrigen, fast fremd betrachten, also wie solche, die ihn nidht haben, denn nur die kön­ nen ihn so fremd betrachten. So sind wir nicht ganz und gar aufgelöst in Schmerz, sondern noch etwas Festes ist in uns. Der Schmerz ist dem Nachdenken feindlich, er erstickt es in sich, und das Nachdenken ist ihm feind­ lich. DIE SCHAUSPIELERIN: Es kann eine Lust sein, zu weinen. DER PHILOSOPH: Das Weinen ist kaum der Aus­ druck des Schmerzes, eher der einer Lösung. Aber das Klagen, schon wenn es in Tönen, mehr noch, wenn es in Worten erfolgt, bedeutet eine große Befreiung, denn es ist eine Produktion, zu der der Leidende übergeht. Er vermischt den Schmerz schon mit einer Aufzählung der Schläge, er macht schon etwas aus dem ganz niederschmet­ ternden. Die Betrachtung hat eingesetzt.

DER DRAMATURG: Deinen Zwecken am besten würde wohl eine Darstellung entsprechen von der Art, wie die Forscher sie etwa von den Sitten und Gebräuchen wilder Völkerschaften geben. Sie beschreiben in leiden­ schaftslosem Ton die aufgeregtesten Kriegstänze. Aller­ dings macht es da einen Unterschied aus, wenn die Dar­ stellung eine körperliche sein soll. Abgesehen davon, daß gewisse Bewegungen ohne gewisse Emotionen nur sehr schwer gemacht werden können, und auch davon abge­ sehen, daß gewisse Bewegungen gewisse Emotionen er­ 66

zeugen, wie soll der Darsteller das doch auch zu berich­ tende Merkmal des Leidenschaftlichen darstellen? DER PHILOSOPH: Wer mit Erstaunen die Eßsitten, die Gerichtspflege, das Liebesleben wilder Völkerschaf­ ten betrachtet hat, der wird auch unsere Eßsitten, unsere Gerichtspflege und unser Liebesleben mit Erstaunen be­ trachten können. Der armselige Spießbürger findet in der Geschichte immer nur die gleichen Triebfedern vor, die seinen. Und die nur, soweit er sie kennt, also nicht sehr weit. Der Mensch trinkt nachmittags Kaffee, ¡st eifersüchtig auf seine Frau, will in der Welt vorwärtskommen, und das tut er nur mehr oder weniger und bes­ ser weniger. „Der Mensch ändert sich nicht“, sagt er, und wenn er auch seiner Frau unangenehmer ist, als er ihr vor zwanzig Jahren war, so waren eben alle Menschen mit fünfundvierzig ihren Frauen unangenehmer als mit fünfundzwanzig Jahren. „Liebe hat es immer gegeben“, sagt er und wünscht nicht zu ahnen, was unter diesem Begriff einmal verstanden und praktiziert wurde. Er ändert sich nur wie der Bachkiesel, der von den andern Bachkieseln abgeschliffen wird. Und wie der Bachkiesel bewegt er sich vorwärts. Da er kein Ziel verfolgt, könnte er eigentlich alles tun, „unter Umständen“ zum Beispiel auch die Welt erobern wie Cäsar. Passieren kann ihm alles, in jeder Katastrophe fühlt er sich ganz heimisch. Wie Le ar hat er Undank geerntet, wie der Dritte Richard gewütet. Für seine Frau hat er auf allerhand verzichtet wie Antonius für Kleopatra, und zugesetzt hat er ihr mehr oder weniger wie Othello der seinen. Ein Unrecht blutig auszuwischen, zögert er wie Hamlet, und seine Freunde sind von der Art der Timon sehen. Er ist durchaus wie jederman, jedermann ist wie er. Un­ terschiede sind ihm nicht wesentlich, es ist ihm alles eins. In allen Menschen sieht er d e n Menschen, er, der nur ein Singular des Plurals Menschen ist. So steckt er mit seiner geistigen Armut alles an, womit er geistig in Berührung kommt. 67

DER PHILOSOPH: Auch unsere soziale Umwelt be­ trachten wir als ein Stück Natur, fast als Landschaft. Das Geld, das Zins bringt, sehen wir an wie den Birnbaum, der Birnen bringt. Die Kriege, welche ähnliche Wirkun­ gen haben und so unvermeidlich erscheinen wie Erdbe­ ben, sehen wir eben dann auch an wie Erdbeben. Sehen wir so etwas an wie die Ehe, so sagen wir: Das ist das Natürliche. Mit Erstaunen hören wir, daß an anderen Orten und an unserem Ort zu anderen Zeiten, andere Verbindungen von Mann und Weib als die natürlichen angesehen wurden. DER PHILOSOPH: Nicht daß man nicht alle Glieder der Kette sieht, ist schlimm, sondern daß man die Kette nicht sieht. Wir haben darüber geklagt, daß wir die Gegner so schwer auf ein und dieselbe Bühne bringen können. Wenngleich hier vermittels einer neuen Tech­ nik viel geschehen kann, so kommt es doch hauptsächlich darauf an, daß es nicht so scheint, als gäbe es keine sol­ chen Gegner. Oft schiebt der Dramaturg, wenn er den Gegner nicht sieht oder nicht sichtbar machen kann, ir­ gend etwas anderes vor, was „näherliegt“ und den Vor­ gang einigermaßen begründet. Charakterzüge seiner Hel­ den, besondere Ungunst gerade seiner Verhältnisse und so weiter. Und lückenlos fügt er dann seine Motivierun­ gen, während in Wirklichkeit, da ja die bewegenden Ur­ sachen außerhalb wirken, Wendungen erfolgen müßten, die aus dem vorne gegebenen Material nicht erklärbar sind. - Andrerseits, wenn schon die Gegner auf der Bühne plaziert werden, entsteht doch oft ein falsches Bild, zum Beispiel, wenn die Gegnerschaft als eine naturnot­ wendige scheint. In einem Stück „Die Weber“, das ein Stückeschreiber verfaßt hat, der erst später, als verkom­ mener Greis, unter dem Anstreicher eine unwürdige Rolle spielte, erschien der Fabrikant einfach als geiziger Mensch, und man konnte glauben, das Elend der Weber könne nur behoben werden, wenn man mit diesem Geiz fertig würde. Die Feindschaft zwischen dem Mann, der das 68

Kapital hatte, und den Menschen, die die Arbeit machten, schien eine natürliche, so natürlich wie die zwischen Löwe und Lamm. DER PHILOSOPH: Die Physiker sagen uns, daß ihnen bei der Untersuchung der kleinsten Stoffteilchen plötzlich ein Verdacht gekommen sei, das Untersuchte sei durch die Untersuchung verändert worden. Zu den Bewegungen, welche sie unter den Mikroskopen beob­ achten, kommen Bewegungen, welche durch die Mikro­ skope verursacht sind. Andrerseits werden auch die In­ strumente, wahrscheinlich durch die Objekte, auf die sie eingestellt werden, verändert. Das geschieht, wenn In­ strumente beobachten, was geschieht erst, wenn Men­ schen beobachten?

DER DRAMATURG: Du räumst dem Verstand eine sehr große Rolle ein. Es ist, als ob du nur solches ge­ statten wolltest, was durch das Filter des Gehirns gegan­ gen ist. Ich bin nicht der Meinung, daß der Verstand der Künstler kleiner ist als der anderer Leute (es gibt diese Meinung), aber sie haben mehr zur Verfügung als nur ihren Verstand, wenn sie arbeiten. Wenn du nur durch­ läßt, was sie im Gehirn registriert und dort mit einem Passierschein versehen haben, mag recht wenig auf die Bühne kommen. DER PHILOSOPH: Da ist Wahres dran. Die Men­ schen tun vieles, was verständig ist, ohne daß es durch ihren Verstand gegangen ist. Darauf kann man nicht gut verzichten. Da ist das Instinktive und da sind jene Hand­ lungsweisen, welche ein unlösbares Bündel der verschie­ densten und widersprechendsten Motive und Versuche sind. Ich sehe keine Gefahr darin, sie mit einem großen Schöpflöffel auf die Bühne zu plazieren. Es kommt nur darauf an, sie so darzubieten, daß eine Begutachtung möglich ist, und zwar eine Begutachtung, die ebenfalls In­ stinktives und Komplexes haben darf. Ihr wißt, daß man die Dinge auch anders plazieren kann. 69

DER DRAMATURG: Vielleicht sprechen wir kurz über das Moralische. Da gibt es auch solche Stempel „gut“ und „schlecht“. Soll denn alles diese Stempel tra­ gen? DER PHILOSOPH: Was nicht gar! Das wäre der Gipfel der Torheit. Eine gewisse Liebe zum Menschen muß natürlich beim Künstler da sein. Diese Freude am Menschlichen kann ihn gerade dazu bringen, daß ihn auch die bösen Regungen erfreuen, das heißt die Regun­ gen, die mit Recht oder Unrecht als der Gesellschaft schädliche bezeichnet werden. Ich denke, es genügt, wenn ihr den Standpunkt der Gesellschaft in ihrem weitesten Sinne, also nicht nur einer bestimmten, momentanen Form, vertretet. Ihr müßt nicht den einzelnen Menschen verfolgen, der so oft ein Verfolgter ist. Ihr müßt das Ganze im Auge haben und sorgen, daß es dem Zuschauer im Auge bleibt. ABBAU DER ILLUSION UND DER EINFÜHLUNG

DER DRAMATURG: Wie ist es mit der vierten Wand? DER PHILOSOPH: Was ist das? DER DRAMATURG: Für gewöhnlich spielt man so, als ob die Bühne nicht nur drei Wände, sondern viere hätte; die vierte da, wo das Publikum sitzt. Es wird ja der Anschein geweckt und aufrechterhalten, daß, was auf der Bühne passiert, ein echter Vorgang aus dem Leben ist, und dort ist natürlich kein Publikum. Mit der vierten Wand spielen heißt also so spielen, als ob kein Publikum da wäre. DER SCHAUSPIELER: Du verstehst, das Publikum sieht, selber ungesehen, ganz intime Vorgänge. Es ist ge­ nau, als ob einer durch ein Schlüsselloch eine Szene be­ lauscht unter Leuten, die keine Ahnung haben, daß sie nicht unter sich sind. In Wirklichkeit arrangieren wir 70

natürlich alles so, daß man alles gut sieht. Dieses Arran­ gement wird nur verborgen. DER PHILOSOPH: Ach so, das Publikum nimmt dann stillschweigend an, daß es gar nicht im Theater sitzt, da es anscheinend nicht bemerkt wird. Es hat die Illusion, vor einem Schlüsselloch zu sitzen. Da sollte es aber auch erst in den Garderoben klatschen. DER SCHAUSPIELER: Aber durch sein Klatschen bestätigt es doch gerade, daß es den Schauspielern ge­ lungen ist, so aufzutreten, als sei es nicht vorhanden! DER PHILOSOPH: Brauchen wir diese verwickelte geheime Abmachung zwischen den Spielern und dir? DER ARBEITER: Ich brauche sie nicht. Aber viel­ leicht brauchen die Künstler sie? DER SCHAUSPIELER: Für realistisches Spiel wird sie als nötig: angesehen. DER ARBEITER: Ich bin für realistisches Spiel. DER PHILOSOPH: Aber daß man im Theater sitzt » und nicht vor einem Schlüsselloch, ist doch auch eine Rea­ lität! Wie kann es da realistisch sein, das wegzuschminken? Nein, die vierte Wand wollen wir niederlegen. Das Ab­ kommen ist hiermit gekündigt. Zeigt in Zukunft ganz ohne Scheu, daß ihr alles so arrangiert, wie es für unsere Einsicht am besten ist. DER SCHAUSPIELER: Das heißt: wir nehmen also von euch von jetzt ab offiziell Notiz. Wir können her­ unterblicken auf euch und sogar mit euch sprechen. DER PHILOSOPH: Natürlich. Wo immer es der De­ monstration nützt. DER SCHAUSPIELER murmelnd *. Also zurück zu „Er spricht beiseite“, zu „Verehrtes Publikum, ich bin der König Herodes“ und dem Die-Beine-Werfen nach den Offizierslogen! DER PHILOSOPH murmelnd *. Kein schwierigerer Vormarsch als der zurück zur Vernunft! DER SCHAUSPIELER ausbrechend *. Herr, das Thea­ ter ist in mancher Hinsicht sehr heruntergekommen, das wissen wir. Aber bisher hat es doch noch die Formen 7i

gewahrt. So sprach es zum Beispiel nicht direkt die Be­ sucher an. So geistesschwach und korrupt es auch gewor­ den sein mag, es machte sich immerhin noch nicht gemein. Mit ihm mußte man immerhin noch auf gewissen Umwe­ gen verkehren. Herr, wir spielten hier bisher nicht für Krethi und Plethi, die sich ein Billett kaufen, sondern für die Kunst! DER ARBEITER: Wen meint er mit Krethi und Plethi? DER PHILOSOPH: Uns. DER SCHAUSPIELER: Für die Kunst. Herr! Und Sie sind schlicht und einfach lediglich Anwesende! Viel­ leicht bemühen Sie sich ein Haus weiter, wo Sie Etablisse­ ments finden, in denen die Mädchen Ihnen auf Wunsch den Hintern zeigen. DER PHILOSOPH: Und bei euch zeigen die Mäd­ chen den Hintern nur den Mitspielern, in die uns hinein­ zuversetzen vornehm anheimgegeben wird, wie? DER DRAMATURG: Meine Herren, Haltung! DER ARBEITER: Die Hintern hat er in die Debatte geworfen. DER PHILOSOPH: Dabei zeigen sie uns doch höch­ stens die Seelen! DER SCHAUSPIELER: Und Sie meinen, das kann man ohne Scham? Und was meinen Sie mit höchstens? ..DER DRAMATURG: Es ist schlimm, daß Sie jeden Streitapfel aufheben. Könnten Sie nicht wenigstens jetzt, nachdem Sie mit philosophischem Zorn reagiert haben, mit philosophischer Gelassenheit agieren?

DER PHILOSOPH: Unsere kritische Haltung kommt davon, daß wir nunmehr ein großes Vertrauen in die menschliche Arbeits- und Erfindungskraft gewonnen ha­ ben und ein Mißtrauen dagegen, daß alles bleiben muß, wie es ist, auch wenn es schlecht ist wie unsere staatlichen Einrichtungen. Der Zwang und die Unterdrückung mö­ gen einmal in der Geschichte große Arbeiten erzwungen, die Möglichkeit, Menschen auszubeuten, mag einmal Ge72

hirne zu Plänen in Bewegung gesetzt haben, welche auch der Allgemeinheit einen gewissen Nutzen brachten. Heute lähmt das alles. Darum könnt ihr Schauspieler nunmehr eure Figuren so darstellen, daß man sie auch anders han­ delnd sich vorstellen kann, als sie handeln, selbst wenn genügend Gründe vorliegen, daß sie ebenso handeln. So wie ein großzügigerer Ingenieur, der mehr Erfahrungen hat, die Zeichnungen seines Vorgängers korrigiert, neue Linien über die alten legt, Zahlen durchstreicht und durch andere ersetzt, kritische Bemerkungen und Kom­ mentare einschreibt, könnt auch ihr bei der Zeichnung eurer Figuren verfahren. Ihr könnt die berühmte erste Szene des „Lear“, in der er sein Reich unter die Töchter verteilt, nach dem Maß ihrer Liebe zu ihm, wobei er ein ganz trügliches Maß benutzt, so darstellen, daß der Zu­ schauer sich sagte: Er handelt falsch, wenn er nur dies nicht sagte oder nur das dort bemerkte oder doch nach­ dächte. DER PHILOSOPH: Um was für ein Denken handelt es sich nun? Und ist es ein Denken gegen das Fühlen, jenes bloße Ringen um Nüchternheit? Ein solcher Ruf nach Nüchternheit, ein solches: „Laßt uns nicht im Rausch Entscheidungen treffen!“ oder: „Schalten wir Überlegun­ gen ein!“ ist angesichts der Tätigkeit unserer Magier auf der Bühne recht angebracht, aber das ist nur eine niedere Stufe. Wir haben bereits gefunden, daß wir mit der Über­ zeugung aufräumen müssen, man nähere sich dem Kunst­ genuß erst, indem man sich von der Nüchternheit ent­ fernt und dem Rausch nähert - wir wissen schon, daß die ganze Skala von der Nüchternheit bis zum Rausch und daß der Gegensatz von Nüchternheit zum Rausch im Kunstgenuß gegenwärtig ist. - Ganz unnötig, ja hinder­ lich wäre es für unsere Zwecke, die Figuren und Auftritte einem kalten Zurkenntnisnehmen und Abwägen darbie­ ten zu wollen. Alle Ahnungen, Erwartungen, Sympathien, die wir Leuten in der Wirklichkeit entgegenbringen, mö­ gen wir auch hier aufbieten. Sie sollen nicht Figuren se­ 73

hen, die nur Täter ihrer Tat sind, das heißt eben noch ihre Auftritte ermöglichen, sondern Menschen: wan­ delnde Rohstoffe, unausgeformt und unausdefiniert, die sie überraschen können. Nur solchen Figuren gegenüber werden sie echtes Denken praktizieren, nämlich interessebedingtes, von Gefühlen eingeleitetes, begleitetes Denken, ein Denken in allen Stadien der Bewußtheit, Klarheit, Effektivität. DER SCHAUSPIELER: Bin ich nicht durch den Text des Stückeschreibers an Händen und Füßen gefesselt? DER PHILOSOPH: Du könntest den Text behandeln wie einen authentischen, aber vieldeutigen Bericht. Ein verschwommener Cäsar, erfährst du, habe, umringt von adeligen Attentätern, zu einem gewissen Brutus gemur­ melt: „Auch du, Brutus.“ - Der Hörer eines solchen Be­ richts, erhält er ihn nicht in seiner Stückzeile, sondern irgendwie sonst, hat nicht allzuviel erfahren, seine Kennt­ nis der Welt hat nicht beträchtlich zugenommen. Selbst wenn er geneigt ist, zu verallgemeinern, kann er dies in viele falsche Richtungen besorgen. Nun brichst du, der Darsteller, in diese vage, nebelhafte Vorstellung und re­ präsentierst das Leben selber. Wenn du fertig bist, sollte dein Zuschauer mehr gesehen haben als selbst ein Augen­ zeuge des ursprünglichen Vorgangs. DER DRAMATURG: Was mit den phantastischen Stücken? Geben die nicht nur Berichte über den Dichter? DER PHILOSOPH: Nein, nicht nur. Das sind für euch Berichte von Träumen oder Entwürfen, in denen der Stückeschreiber ebenfalls über die Wirklichkeit ver­ fügt. Selbst wenn ihr hier zu suchen habt, was er da gese­ hen haben mag, was die Absicht seiner Erzählung gewe­ sen sein kann und so weiter, bleibt für euch immer noch sehr viel Raum.

DER SCHAUSPIELER: Sicher doch, du willst nicht sagen, daß ich eine Figur nachahmen soll, in die ich mich nicht im Geiste hineinversetzt habe? 74

DER PHILOSOPH: Um die Figur aufzubauen, sind mehrere Operationen nötig. Für gewöhnlich ahmt ihr ja nicht Leute nach, die ihr gesehen habt, sondern müßt euch die Personen, die ihr nachahmen wollt, erst vorstel­ len. Ihr geht von dem aus, was der Text, den ihr zu spre­ chen habt, die Handlungen und Reaktionen, die euch vor­ geschrieben sind, die Situationen, in denen eure Figur sich entwickeln soll, euch in die Hand gibt. Ihr werdet wohl immer wieder euch in die Person, die ihr darstellen sollt, in ihre Lage, in ihre Körperlichkeit, in ihre Denk­ weise im Geist hineinversetzen müssen. Das ist eine der Operationen des Aufbaus der Figur. Es fördert durchaus unsere Zwecke, nur ist nötig, daß ihr es versteht, euch dann wieder hinauszuversetzen. Es ist ein großer Unter­ schied, ob jemand eine Vorstellung von etwas hat, wozu er Phantasie braucht, oder eine Illusion, wozu er Unver­ stand braucht. Wir brauchen für unsere Zwecke Phanta­ sie; auch dem Zuschauer wollen wir eine Vorstellung von einer Begebenheit vermitteln, nicht eine Illusion erzeu­ gen. DER SCHAUSPIELER: Ich glaube, du hast eine übertriebene Meinung, fast eine Illusion darüber, wie tief wir Schauspieler des alten Theaters uns in die RoL len einfühlen. Ich kann dir sagen, wir denken an aller­ hand beim Spielen des Lear, woran Lear kaum gedacht haben dürfte. DER PHILOSOPH: Ich zweifle nicht daran. Nämlich daran, wie ihr dies bringen und wie ihr das vermeiden könnt und so weiter. Auch ob das Requisit zurechtgelegt wurde und ob der Komiker nicht wieder plötzlich mit den Ohren wackeln wird, wenn ihr euren großen Satz habt. Aber das sind lauter Gedanken, die der Bemühung ge­ widmet sind, das Publikum nicht aus seiner Illusion auf­ wachen zu lassen. Sie mögen eure Einfühlung stören, aber sie vertiefen die des Publikums. Und es ist mir ja bei weitem wichtiger, daß die letzte nicht zustande kommt, als daß die eure nicht gestört wird. DER SCHAUSPIELER? Das Sichhineinversetzen in 75

die Person soll also nur bei den Proben vor sich gehen und nicht auch beim Spielen? DER PHILOSOPH: Ich bin jetzt in einiger Verlegen­ heit mit meiner Antwort. Ich könnte einfach antworten: Beim Spielen sollt ihr euch nicht in die Person hinein­ versetzen. Dazu wäre ich durchaus berechtigt. Einmal, da ich einen Unterschied zwischen Sicheinfühlen und Sichhineinversetzen gemacht habe, dann weil ich wirklich glaube, die Einfühlung ist ganz unnötig, vor allem aber, weil ich fürchte, durch eine andere Antwort, wie immer sie sei, dem ganzen alten Unfug wieder ein Türlein zu öffnen, nachdem ich das Tor vor ihm verschlossen habe. Gleichwohl zögere ich. Ich kann mir Einfühlung als Grenzfall vorstellen, ohne daß Schaden geschieht. Durch eine Reihe von Vorkehrungen könnte man Schaden ver­ meiden. Sie müßte unterbrochen werden und nur an be­ stimmten Stellen stehen oder ganz, ganz schwach sein und gemischt mit kräftigen andern Operationen. Ich habe tat­ sächlich schon ein solches Spiel gesehen, bei dem - es handelte sich um die letzte Probe nach sehr vielen Pro­ ben, alle waren müde, man wollte nur noch einmal den Text und die Stellungen memorieren, bewegte sich mecha­ nisch, sprach halblaut - ich über den Effekt befriedigt war, aber nicht zuverlässig feststellen konnte, ob bei den Schauspielern Einfühlung stattfand oder nicht. Ich muß aber sagen, daß die Schauspieler niemals wagen würden, so vor Publikum zu spielen, das heißt so wenig akzen­ tuiert und so lässig, was die Wirkung betrifft (weil so darauf konzentriert, was alle „Äußerlichkeiten“ betraf), so daß die Einfühlung, falls sie vorhanden war, wahr­ scheinlich nur deshalb nicht störte, weil eben das Spiel nicht belebt war. Kurz, wenn ich sicher sein könnte, daß ihr den ungeheuren Unterschied zwischen dem neuen Spiel und dem alten, das auf voller Einfühlung beruht, als kaum weniger ungeheuer sehen könntet, wenn ich ganz schwache Einfühlung für möglich erkläre, dann würde ich es tun. Die Meisterschaft aber würde ich be­ messen danach, mit wie wenig Einfühlung ihr auskommt 76

und nicht, wie es sonst geschieht, danach, wie viel ihr da­ von zustande bringt. DER DRAMATURG: Können wir so sagen: So wie man jetzt diejenigen Dilettanten heißt, die keine Einfüh­ lung zustande bringen, wird man vielleicht einmal die­ jenigen Dilettanten heißen, die nicht ohne sie auskom­ men? Sei ganz beruhigt. Du nimmst deiner Spielweise in unseren Augen ihr Befremdliches mit deinem weisen Zu­ geständnis nicht.

DER SCHAUSPIELER: Bedeutet Ausschaltung der Einfühlung Ausschaltung alles Gefühlsmäßigen? DER PHILOSOPH: Nein, nein. Weder soll die ge­ fühlsmäßige Anteilnahme des Publikums noch die des Schauspielers gehindert werden, weder die Darstellung von Gefühlen gehindert noch die Verwendung von Ge­ fühlen durch den Schauspieler vereitelt werden. Nur eine der vielen möglichen Gefühlsquellen, die Einfühlung, soll unbenutzt oder doch wenigstens zur Nebenquelle ge­ macht werden.

[DAS THEATER DES SHAKESPEARE]

DER DRAMATURG: Wenige Jahre, bevor Shake­ speares erstes Stück erschien, führte Marlowe den reim­ losen Jambenvers ein und veredelte damit die Volks­ stücke, so daß diese nunmehr die steifen Seneca-Imitatio­ nen der konventionellen Literaten auch bei den Kennern verdrängten. Das Ineinanderflechten zweier Handlungen, im „Kaufmann von Venedig“ so virtuos ausgeführt, war ein technisches Novum in dieser Zeit. Sie war voll von solchen schnellen, ungestümen und rücksichtslosen Fort­ schritten. Die Stücke bekamen eben den Charakter von Waren, aber die Eigentumsverhältnisse waren noch chao­ tisch. Weder die Gedanken noch die Bilder, Vorfälle, Einfälle, Erfindungen waren gesetzlich geschützt, die Bühne diente ebenso als Fundgrube wie das Leben. Die 77

großen Charaktere sind die groben Charaktere, die ver­ feinert sind, die kunstvolle Sprache ist die rohe Sprache, die veredelt ist. Was war Konzession an die Gebildeten in den Logen, was Konzession an die Stehparterres? Das College kontrollierte den Biergarten und der Biergarten das College. DER DRAMATURG: In einem Schauspielmanuskript von 1601 sind mehrere Varianten angeführt, und am Rand bemerkt der Verfasser: „Wählt die eine.oder andere die­ ser Änderungen, die euch am besten scheint“ und „Wenn diese Formulierung schwer verständlich oder nicht für das Publikum geeignet ist, kann die andere genommen wer­ den“. DER DRAMATURG: Im Theater sitzen schon Frauen, aber die Frauenrollen werden noch von Knaben gespielt. Da es keine Prospekte gibt, übernimmt der Dichter die Aufgabe, Landschaft zu malen. Der Bühnenraum hat kei­ nerlei Bestimmtheit, er kann eine ganze Heide sein. In „Richard III.“ (V, 3) tritt zwischen zwei Heerlagern mit Richards und Richmonds Zelten, für beide sichtbar und hörbar, im Traum der beiden ein Geist auf, der sich an beide wendet. Ein Theater voll von V-Effekten! DER DRAMATURG: Es wird auch geraucht in die­ sen Theatern. Im Zuschauerraum wird Tabak verkauft. Auf der Bühne sitzen also Snobs mit Pfeifen und betrach­ ten träumerisch, wie der Schauspieler den Tod des Mac­ beth darstellt. DER SCHAUSPIELER: Aber ist es nicht nötig, das Theater herauszuheben aus der Straße, dem Spielen einen besonderen Charakter zu verleihen - da es ja eben nicht auf der Straße und nicht zufällig und nicht durch Laien und nicht angeregt durch einen Vorfall stattfindet? DER PHILOSOPH: All diese Umstände heben es ge­ nügend heraus, denke ich. Alle diese Unterschiede, die zwischen Theater und Straße bestehen, sollen ja auch be­ 78

sonders herausgehoben werden. Da soll beileibe nichts weggeschminkt werden! Aber wenn man die beiden De­ monstrationen noch so sehr unterscheidet, so muß doch der theatralischen wenigstens etwas von der ursprüng­ lichen Funktion der alltäglichen bleiben. Gerade durch das Unterstreichen der Verschiedenheit, des Professionel­ len, Vorbereiteten und so weiter erhält man diese Funk­ tion frisch. DER DRAMATURG: Nichts zeigt uns so glücklich den profanen, nüchternen und gesunden Charakter des elisabethanischen Theaters wie das Studium der Kon­ trakte Shakespeares mit den Truppen, die ihm einen Ak­ tienanteil von einem Siebtel und einem Vierzehntel an den Einnahmen zweier Theater sichern, der Streichungen, die er in seinen Stücken vornahm, die ein Viertel bis zu einem Drittel aller Verse ausmachten, seiner Anweisun­ gen an die Schauspieler (im „Hamlet“), natürlich und zurückhaltend zu spielen. Wenn man dann noch weiß, daß unter offenem Himmel am Tag gespielt wurde (und natürlich auch geprobt!), meist ohne jede Andeutung des Schauplatzes und in größter Nähe der Zuschauer, die auf allen Seiten, auch auf der Bühne saßen, während eine Menge stand und herumging, bekommt man den richti­ gen Eindruck davon, wie irdisch, unheilig und zauberlos dies alles vor sich ging. DER SCHAUSPIELER: So wurde „Ein Sommer­ nachtstraum“ bei Tageslicht gespielt, und der Geist in „Hamlet“ trat bei Tageslicht auf? Und die Illusion? DER DRAMATURG: Es wurde Phantasie voraus­ gesetzt. DER DRAMATURG: Und die Tragik beim Shake­ speare? DER PHILOSOPH: Der Untergang der Feudalen ist dort tragisch gesehen. L e a r, befangen in partriarchalischen Vorstellungen; Richard IIL, der nicht Liebens­ werte, der sich fürchterlich macht; Macbeth, der Ehr­ geizige, den die Hexen täuschen; Antonius, der Woll79

lüstige, der die Weltherrschaft riskiert; Othello, den die Eifersucht umbringt - sie alle existieren in einer neuen Weit, an der sie zerschellen. DER SCHAUSPIELER: Vielen mag diese Erklärung die Stücke platt machen. DER PHILOSOPH: Aber was gibt es Vielfältigeres, Wichtigeres und Interessanteres als den Untergang großer herrschender Klassen? DER DRAMATURG: Die Dramen des Shakespeare sind ungemein lebendig. Sie scheinen nach den Rollen­ büchern gedruckt worden zu sein, mit den Extempores der Schauspieler und den Korrekturen bei den Proben. Die Notierung der Jamben zeigt, daß sie oft nach dem Gehör allein vorgenommen wurde. Der „Hamlet“ hat mich immer besonders interessiert aus folgendem Grund: Wir wissen, daß er die Bearbeitung eines älteren Stückes, verfaßt von einem gewissen Thomas Kyd, war, das einige Jahre zuvor einen großen Erfolg gehabt hatte. Es behan­ delte die Reinigung eines Augiasstalls. Der Held, Ham­ let, räumte in seiner Familie auf. Er scheint es ohne jede Hemmung getan zu haben, alles scheint auf den letzten Akt angelegt gewesen zu sein. Der Star von Shakespeares Globetheater war aber ein breiter, kurzatmiger Mann, so daß eine Zeitlang die Helden alle breit und kurzatmig sind, Macbeth sowohl als Lear. Für ihn und wohl auch durch ihn wurde die Handlung nun vertieft. Es wurden Stromschnellen eingebaut. Das Stück wurde so viel inter­ essanter, es sieht ganz so aus, als ob sie das Stück bis zum vierten Akt auf der Bühne modelten und umarbeiteten und dann vor der Schwierigkeit standen, mit diesem zögernden Hamlet zu dem rasanten Schlußblutbad zu kommen, das der Erfolg des älteren Stückes gewesen war. Im vierten Akt stehen mehrere Szenen, jede einzelne eine Lösung der Aufgabe. Vielleicht brauchte der Darstel­ ler sie alle zusammen, vielleicht aber auch nur eine da­ von, und die andern kamen dennoch ins Buch. Sie haben alle den Charakter von Einfällen. 80

DER SCHAUSPIELER: Vielleicht sind sie gemacht worden, wie heute Filme gemacht werden. DER DRAMATURG: Möglicherweise. Aber sie müs­ sen von einem literarisch sehr begabten Menschen für die Buchausgabe fixiert worden sein. DER SCHAUSPIELER: Nach deiner Beschreibung sieht man den Shakespeare jeden Tag eine neue Szene bringen. DER DRAMATURG: Richtig. Ich meine, sie ex­ perimentierten. Sie experimentierten nicht weniger als Galilei zur selben Zeit in Florenz und als Bacon in Lon­ don. Darum tut man auch gut, die Stücke experimentie­ rend aufzuführen. DER SCHAUSPIELER: Das wird als Sakrileg ange­ sehen. DER DRAMATURG: Die Stücke verdanken Sakri­ legen ihre Existenz. DER SCHAUSPIELER: Man setzt sich dem Vorwurf aus, sie nicht als vollkommen zu betrachten, wenn man sie ändert. DER DRAMATURG: Das ist eine falsche Vorstel­ lung von Vollkommenheit, nichts sonst.

DER PHILOSOPH: Die Experimente des Globetheaters wie die des Galilei, der den Globus in besonde­ rer Weise behandelte, entsprachen der Umbildung des Globus selber. Das Bürgertum machte seine ersten zö­ gernden Schritte. Seinem kurzatmigen Charakterspieler hätte Shakespeare die Hamlet-Rolle nicht auf den Leib schreiben können, wenn die feudale Familie sich nicht eben aufgelöst hätte. Das neue bürgerliche Denken des Hamlet ist eine Krankheit des Hamlet. Seine Experi­ mente führen geradewegs in die Katastrophe. DER DRAMATURG: Umwegs, nicht geradewegs. DER PHILOSOPH: Schön, umwegs. Das Stück hat etwas von der Dauerhaftigkeit des Provisorischen, und um es zu behalten, muß man es zweifellos auflösen, ich gebe dir recht. 6 Über Theater

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DER SCHAUSPIELER: Wir sollen also solche Dinge wie das Bis-hierher-und-nicht-weiter oder das Nicht-weiter-aber-bis-hierher zu zeigen ver­ suchen. Das ist allerdings etwas anderes als das grenzen­ lose Austoben bei den Alten, das mit dem Untergang ab­ schließt. Es ist da ein Verhältnismäßig darin, was du immer berücksichtigt haben willst, das hat natürlich nicht die gleiche starke Wirkung wie das Absolute. Wenn ich einen Mann verhältnismäßig ehrgeizig zeige, so geht man kaum so mit, als wenn ich ihn ganz und gar ehrgeizig zeige. DER PHILOSOPH: Aber im Leben sind die Leute eher verhältnismäßig ehrgeizig als ganz und gar ehrgeizig, nicht? DER SCHAUSPIELER: Vielleicht. Aber was mit der Wirkung? DER PHILOSOPH: Die mußt du eben mit dem erzielen, was im Leben eher vorkommt. Deine Sorge. DER SCHAUSPIELER: Ein netter Macbeth: einmal ehrgeizig, einmal nicht und nur verhältnismäßig ehrgei­ ziger als Duncan. Und dein Hamlet: recht zögernd, aber doch auch recht zu übereiltem Handeln neigend, wie? Und Klytämnestra: ziemlich rachsüchtig. Romeo: einiger­ maßen verliebt! DER DRAMATURG: Mehr oder weniger, ja. Du brauchst nicht zu lachen. Er ist beim Shakespeare schon verliebt, wenn er seine Julia noch nicht gesehen hat. Da­ nach ist er mehr verliebt. DER SCHAUSPIELER: Aha, gefüllte Samenstränge! Als ob das nicht mehr Leute hätten außer Romeo, und sie sind keine Romeos. DER PHILOSOPH: Immerhin, auch Romeo hat sie. Es ist ein großer realistischer Zug beim Shakespeare, daß er das bemerkt. DER SCHAUSPIELER: Und die Faszination des Dritten Richard, wie soll ich die bringen, wenn ich die Figur nicht ganz und gar damit anfülle? DER DRAMATURG: Du meinst in der Szene, wo er 82

die Witwe des von ihm Ermordeten so fasziniert, daß sie ihm verfällt? Ich habe zwei Lösungen. Entweder man zeigt, daß der Terror sie bezwingt, oder man macht sie häßlich. Aber wie immer man dieFaszinierung zeigt, man wird nichts gewonnen haben, wenn man nicht im weiteren Verlauf des Stückes zeigen kann, wie sie versagt. Also muß man eine verhältnismäßige Faszinierungskraft zei­ gen. DER PHILOSOPH: Oh, ihr zeigt es schon. Aber so zeigen Trompeter Messing und der Apfelbaum im Win­ ter Schnee. Ihr verwechselt zwei Dinge: daß man etwas bei euch findet und daß ihr etwas zeigt. DER DRAMATURG: So müssen wir alle die schö­ nen alten Stücke wegwerfen? DER PHILOSOPH: Ich denke nicht, daß ihr das müßt. DER SCHAUSPIELER: Was mit „King Lear“? DER PHILOSOPH: Dieses Stück enthält einen Be­ richt über das Zusammenleben der Menschen in alter Zeit; ihr braucht nur den Bericht zu vervollständigen. DER DRAMATURG: Viele sind dafür, daß solche Stücke aufgeführt werden, wie sie sind, und nennen jede Änderung daran barbarisch. DER PHILOSOPH: Aber es ist auch ein barbarisches Stück. Natürlich müßt ihr sehr achtsam vorgehen, daß ihr seine Schönheit nicht zerstört. Wenn ihr es nach den neuen Regeln spielt, so daß eure Zuschauer sich nicht rest­ los in diesen König einfühlen, könnt ihr beinahe das ganze Stück aufführen, mit geringen Zusätzen, welche die Zuschauer bei Vernunft bleiben lassen. Es darf nicht sein, daß die Zuschauer, selbst die Bediensteten unter ihnen, so die Partei des Lear nehmen, daß sie jubeln, wenn ein Diener, wie es in der vierten Szene des ersten Aktes ge­ schieht, geprügelt wird, weil er einen Befehl seiner Her­ rin ausführt. DER SCHAUSPIELER: Wie soll man das verhin­ dern? 83

DER DRAMATURG: Oh, er könnte geprügelt wer­ den, sich dabei aber einen Schaden zuziehen und mit allen Anzeichen großer Schmerzen hinauskriechen. Die Stim­ mung würde dann umschlagen. DER SCHAUSPIELER: Dann würde man, aus einem Grund, der aus ganz neuen Zeiten stammt, gegen den Lear Stellung nehmen. DER DRAMATURG: Nicht, wenn man diese Linie durchführt. Man kann die Bediensteten des überall ab­ gewiesenen Königs zeigen, ein kleines Häuflein, das nir­ gends mehr genährt wird und ihn verfolgt mit ihren stum­ men Vorwürfen. Ihr Anblick müßte Lear peinigen, und das würde einen guten Grund für seine Raserei abgeben. Die feudalen Verhältnisse müssen einfach gestaltet werden. DER SCHAUSPIELER: Da könnte man dann auch die Zerteilung des Reiches ernst nehmen und in der ersten Szene eine Karte zerreißen lassen. Lear könnte die Fet­ zen seinen Töchtern zuwerfen, im Glauben, sich ihre Liebe dadurch zu sichern. Besonders, wenn er den dritten Fetzen, der der Cordelia zugedacht war, noch einmal zer­ teilt, um die neuen Fetzen den andern Töchtern zuzuwer­ fen, würde man die Zuschauer zum Nachdenken bringen. DER DRAMATURG: Aber das Stück würde zer­ stört sein, denn damit würde etwas eingeleitet, was keine Fortführung erfährt. DER PHILOSOPH: Vieleicht gibt es eine Fortfüh­ rung. Man muß das Stück studieren. Übrigens würde es nichts schaden, wenn solche abnormen Stellen vorkämen, wenn man also auf solche Nester stieße, wo Unstimmig­ keiten ausgebrütet werden. Die alten Berichte sind voll von derlei. Für Zuschauer ohne jeden historischen Sinn kann man diese mittelalterlichen Stücke sowieso nicht aufführen. Da wäre nur Dummheit. Meiner Meinung nach würde der Shakespeare, der ein großer Realist ist, diese Prüfung gut bestehen. Er hat immer viel Rohmaterial auf die Bühne geschaufelt, unausgerichtete Schilderungen von Geschehenem. Und in seinen Werken sind jene wertvol­ len Bruchstellen, wo das Neue seiner Zeit auf das Alte 84

stieß. Auch sind wir die Väter neuer, aber die Söhne alter Zeit und verstehen vieles weit zurück und sind im­ stande, die Gefühle noch zu teilen, welche einmal über­ wältigend waren und groß erweckt wurden. Ist doch auch die Gesellschaft, in der wir leben, eine so sehr komplexe. Der Mensch ist, wie die Klassiker sagen, das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse aller Zeiten. Jedoch ist auch viel Totes in diesen Werken, Schiefes und Leeres. Es kann in den Büchern stehen bleiben, da man nicht weiß, ob es nicht nur scheintot ist, und da es andere Er­ scheinungen dieser vergangenen Zeit erklären mag. Ich möchte euer Augenmerk beinahe mehr noch auf das man­ nigfache Lebendige lenken, das in diesen Werken ent­ halten ist an scheinbar toten Stellen. Ein Winziges hinzu­ getan, und es lebt auf, gerade jetzt, gerade erst jetzt. Die Hauptsache ist eben, diese alten Werke historisch zu spie­ len, und das heißt: sie in kräftigen Gegensatz zu unserer Zeit zu setzen. Denn nur auf dem Hintergrund unserer Zeit erscheint ihre Gestalt als alte Gestalt, und ich be­ zweifle, ob sie ohne diesen Hintergrund überhaupt als Gestalt erschiene. DER DRAMATURG: Was mit den alten Meister­ werken? DER PHILOSOPH: Die klassische Haltung zeigte mir ein alter Arbeiter aus einer Spinnerei, der auf meinem Schreibtisch ein uraltes Messer liegen sah, Teil eines Bauernbestecks, mit dem ich Bücher aufschnitt. Er nahm das schöne Ding in seine große, rissige Hand, betrach­ tete mit zusammengekniffenen Augen den kleinen, silber­ beschlagenen Hartholzgriff und die schmale Klinge und sagte: „Das haben sie also doch schon machen können, als es noch Hexen für sie gab.“ Ich konnte deutlich sehen, daß er stolz auf die feine Arbeit war. „Den Stahl machen sie jetzt besser“, fuhr er fort, „aber wie es in der Hand liegt! Heute machen sie die Messer wie Hämmer, kein Mensch wiegt mehr den Griff gegen die Klinge ab. Frei­ lich, an so was hat einer vielleicht tagelang herumgebos85

seit. Das machen sie jetzt in nullkommafünf, nur könnte es besser sein.“ DER SCHAUSPIELER: Er sah alles, was dran schön war? DER PHILOSOPH: Alles. Er hatte diesen sechsten Sinn für Geschichte.

DAS THEATER DES PISCATOR

DER DRAMATURG: In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, bevor der Anstreicher kam, machte P i s c a t o r sein Theater in Berlin auf. Viele halten ihn für einen der größten Theaterleute. Er bekam das Geld von einem Bierbrauer, der in einem Theater mit seinen schwer kon­ trollierbaren Einnahmen und Ausgaben eine Möglichkeit sah, die Steuerbehörden an der Nase herumzuführen. Es waren mehr als eine Million Mark, was er für seine Ex­ perimente ausgab. Mit jedem Stück, das er aufführte, baute er das Theater, nicht nur die Bühne um. Aber die größten Änderungen traf er auf der Bühne. Er machte den Fußboden beweglich, indem er zwei breite Bänder darüber legte, die, von einem Motor getrieben, zum Lau­ fen gebracht werden konnten, so daß die Schauspieler marschieren konnten, ohne vom Fleck zu müssen. So konnte er ein ganzes Stück in Fluß bringen. Es zeigte den Marsch eines Soldaten zur Front, durch Rekrutierungs­ büro, Klinik und Kaserne, über Landstraßen, durch La­ ger, in Scheunen, in die Schlacht. Das Stüék zeigte, wie die Oberen den Soldaten in Marsch setzten, wie er aber ihre Pläne immerfort durchkreuzte und, obwohl er schein­ bar alle Befehle ausführte, niemals wirklich aufs Schlacht­ feld gelangte. Für dasselbe Stück verwendete er als Rück­ wand einen gezeichneten Film, in dem die Oberen ver­ spottet wurden. Überhaupt führte er den Film ins Theater ein und machte so die Kulisse zur Schauspielerin. In einem andern Stück baute er, auf zwei einander schnei­ denden Drehbühnen viele Schauplätze, auf denen mit86

unter zu gleicher Zeit gespielt wurde. Dabei senkte sich der Bühnenboden zugleich mit dem Dach: niemals hatte das Theater, noch ein anderes, Maschinen tragen müssen. DER DRAMATURG: Das Theater des Piscator, ge­ führt mit den Geldern eines Bierbrauers und eines Kino­ besitzers, von denen der eine eine Schauspielerin zur Freundin und der andere nur gesellschaftlichen Ehrgeiz hatte, wurde beinahe ausschließlich von Großbürgern, Proletariern und Intellektuellen besucht. Das Parkett war sehr teuer, die Galerie sehr billig; ein Teil der proleta­ rischen Zuschauer abonnierte die Vorstellungen. Dieser Teil war finanziell eine starke Belastung, da die Aus­ stattung der vielen Maschinerie wegen sehr teuer kam. Das Theater war aktuell, nicht nur, wo es Tages-, son­ dern auch wo es Jahrtausendfragen behandelte. Ein Kol­ lektiv von Dramatikern diskutierte auf der Bühne in einer Art Dauerdiskussion, und die Diskussion setzte sich fort durch die ganze große Stadt in den Zeitungen, Sa­ lons, Kaffeehäusern und Stuben. Es gab keine Theater­ zensur, und die gesellschaftlichen Gegensätze waren stark und wurden stärker. Die Großbürger fürchteten die Jun­ ker, welche immer noch in den Ämtern und beim Mili­ tär herrschten, und die Arbeiter wehrten sich gegen die kleinbürgerlichen Tendenzen in den eigenen Parteien. Das Theater des Piscator besorgte den Anschauungsunterricht. Hier konnte man sehen, wie die Revolution von 18 ge­ scheitert war, wie die Kämpfe um Märkte und Rohstoffe Kriege hervorriefen, wie die Kriege vermittels unwilli­ ger Völker geführt wurden, wie siegreiche Revolutionen gemacht wurden. Das Theater selber als Kunstinstitut veränderte sich gewaltsam mit jeder neuen Aufgabe, der es sich unterzog, es hatte zu Zeiten nur noch sehr wenig mit Kunst zu tun. Die einmontierten Demonstrationen aller Art zerrissen Fabel wie Charakterführung der Per­ sonen, und Alltagssprache wechselte brutal mit Deklama­ tion, Schauspiel mit Film, Referat mit Spiel. Der Hinter­ grund, ehemals und in den benachbarten Theatern noch 87

immer der unbewegte Geselle, wurde zum Star des Thea­ ters und spielte sich groß an die Rampe. Er bestand aus einer Filmleinwand. Aufnahmen von Tagesereignissen, den Wochenschauen der Kinos entrissen, waren auf sinn­ volle Art zusammengestellt und lieferten das dokumen­ tarische Material. Auch der Bühnenboden wurde beweg­ lich gemacht. Zwei von Motoren getriebene laufende Bänder gestatteten die Darstellung von Szenen auf der Straße. Es gab Sprech- und Singchöre auf der Bühne. Die Projekte waren so bedeutend wie das, was fertigge­ stellt wurde oder halbfertiggestellt, denn ganz Fertiges sah man nie. Ich will zwei anführen. Für ein Stück, das die Grausamkeit des Geburtenzwangs zeigte, sollte ein bestimmtes Haus in einem Slumquartier auf der Bühne genau abgebildet werden, so daß jedes geborstene Ab­ zugsrohr vertreten war. In den Pausen sollten genaue Be­ sichtigungen der Bühne durch das Publikum stattfinden. - Für ein Stück über die chinesische Revolution sollten mehrere große Transparente an Stöcken aufgestellt wer­ den, bemalt mit kurzen Schlagzeilen über die Lage („Die Textilarbeiter treten in Streik“ - „Unter den Kleinbauern finden revolutionäre Meetings statt“ - „Die Kaufleute kaufen Waffen“ und so weiter). Sie sollten auch auf der Rückseite Aufschriften tragen, so daß sie gedreht werden konnten und andere Schlagzeilen hinter den Vorgängen auf der Bühne standen („Streik zusammengebrochen“ „Die Kleinbauern formen bewaffnete Trupps“ und so weiter), welche die neue Lage andeuteten. Auf diese Weise konnte man immerfort sich ändernde Situationen kenntlich machen, zeigen, wie das eine Moment noch be­ steht, während sich das andere schon geändert hat und so * weiter. * Tatsächlich wurde dieses bewegliche Tabellarium bei der Auf­ führung des Stückes nicht vorgeführt. Die Papierstandarten waren zwar auf Vorder- und Rückseite beschrieben, jedoch nur, um zwi­ schen den Szenen ausgewechselt zu werden, so daß sie zweimal benutzbar waren. Während der ersten Aufführungen gingen Piscator und der Stückeschreiber im Hof herum, wie gewöhnlich während 88

Piscator war einer der größten Theaterleute aller Zei­ ten. Er hat das Theater elektrifiziert und fähig gemacht, große Stoffe zu bewältigen. Für die Schauspielkunst hatte er zwar nicht so wenig Interesse, wie seine Feinde be­ haupteten, aber doch weniger, als er selber sagte. Viel­ leicht teilte er ihre Interessen nicht, weil sie seine nicht teilten. Jedenfalls hat er ihnen keinen neuen Stil gegeben, wenn er auch nicht schlecht vorspielte, besonders die klei­ nen scharfen Rollen. Er gestattete mehrere Spielarten zu­ gleich auf seiner Bühne und zeigte dabei keinen besonde­ ren Geschmack. Es schien ihm leichter, die großen Stoffe kritisch zu bewältigen vermittels ingeniöser und gran­ dioser szenischer Prästationen als vermittels der Schau­ spielkunst. Seine Liebe zur Maschinerie, die ihm viele vorwarfen und einige allzuhoch anrechneten, zeigte er nur, soweit sie ¡hm gestattete, seine szenische Phantasie zu betätigen. Er bewies durchaus Sinn für das Einfache - was ihn auch veranlaßte, den Schauspielstil des Stücke­ schreibers als seinen Intentionen am besten dienend zu bezeichnen -, da das Einfache seinem Ziel entsprach, näm­ lich in großer Weise das Getriebe der Welt bloßzulegen und nachzubauen, so daß seine Bedienung erleichtert -würde. der ersten Aufführungen, und besprachen, was in den Proben er­ reicht und was verfehlt worden war, ziemlich unwissend, was drin­ nen nun passierte, denn es wurde viel noch im letzten Augenblick geändert, was jetzt improvisiert werden mußte. In diesem Ge­ spräch entdeckten sie das Prinzip des beweglichen Tabellariums, seine Möglichkeiten für die Dramatik, seine Bedeutung 'für den Darstellungsstil. So gab es oft Resultate der Experimente, welche das Publikum nicht zu Gesicht bekam, weil Zeit und Geld fehlte, aber sie erleichterten doch die weiteren Arbeiten und änderten wenigstens die Ansichten der Experimentatoren selber.

Die dritte Nacht

BRUCHSTÜCKE ZUR DRITTEN NACHT [DAS THEATER DES STÜCKESCHREIBERS]

DER DRAMATURG: Der Piscator machte vor dem Stückeschreiber politisches Theater. Er hatte am Krieg teilgenommen, der Stückeschreiber jedoch nicht. Die Um­ wälzung im Jahre 18, an der beide teilnahmen, hatte den Stückeschreiber enttäuscht und den Piscator zum Po­ litiker gemacht. Erst später kam der Stückeschreiber durch Studium zur Politik. Als ihre Zusammenarbeit begann, hatten beide ihre Theater, Piscator ein eigenes am Nollendorfplatz, der Stückeschreiber eines am Schiffbauer­ damm, in dem er seine Schauspieler trainierte. Der Stücke­ schreiber arbeitete für den Piscator die meisten großen Stücke durch, schrieb auch Szenen für sie, einmal einen ganzen Akt. Den „Schwejk“ machte er ihm ganz. And­ rerseits kam der Piscator auf die Proben des Stückeschrei­ bers und unterstützte ihn. Beide arbeiteten am liebsten kollektiv. Ihre Mitarbeiter teilten sie, so den Musiker Eisler und den Zeichner Grosz. Sie brachten beide große Artisten zur Zusammenarbeit mit Laienspielern und führ­ ten vor der Arbeiterschaft Revuen auf. Obwohl der Pis­ cator niemals ein Stück, kaum je eine Szene selber schrieb, bezeichnete ihn der Stückeschreiber doch als den einzigen fähigen Dramatiker außer ihm. Hat er nicht bewiesen, sagte er, daß man auch Stücke machen kann, wenn man anderer Szenen und Entwürfe montiert, inspiriert und mit Dokumenten und szenischen Prästationen versieht? Die eigentliche Theorie des nichtaristotelischen Theaters und der Ausbau des V-Effekts ist dem Stückeschreiber zuzuschreiben, jedoch hat vieles davon auch der Piscator verwendet und durchaus selbständig und original. Vor allem war die Wendung des Theaters zur Politik Pisca90

tors Verdienst, und ohne diese Wendung ist das Theater des Stückeschreibers kaum denkbar. DER DRAMATURG: Bevor der Stückeschreiber sich mit Theater befaßte, studierte er Naturwissenschaften und die Medizin. Die Künste und die Wissenschaften wa­ ren für ihn Gegensätze auf einer Ebene. Beide Beschäfti­ gungen hatten sich nützlich zu machen. Er verachtete nicht die Nützlichkeit der Künste wie viele seiner Zeit, so wie er den Wissenschaften gestattete, die Nützlichkeit außer acht zu lassen. Sie waren für ihn ebenfalls Künste.

DER DRAMATURG: Er war ein junger Mann, als der erste Weltkrieg zu Ende ging. Er studierte Medizin in Süddeutschland. Zwei Dichter und ein Volksclown be­ einflußten ihn am meisten. In diesen Jahren wurde der Dichter Büchner, der in den dreißiger Jahren geschrieben hatte, zum erstenmal aufgeführt, und der Stückeschreiber sah das Fragment „Woyzeck“, außerdem sah er den Dich­ ter Wedekind in seinen Werken auftreten, mit einem Stil, der im Kabarett entwickelt worden war. Wedekind hatte als Bänkelsänger gearbeitet, er sang Balladen zur Laute. Aber am meisten lernte er von dem Clown Valentin, der in einer Bierhalle auftrat. Er spielte in kurzen Skizzen renitente Angestellte, Orchestermusiker oder Photogra­ phen, die ihren Unternehmer haßten und lächerlich mach­ ten. Den Unternehmer spielte seine Assistentin, eine Volkskomikerin, die sich einen Bauch umschnallte und mit tiefer Stimme sprach. Als der Stückeschreiber sein erstes Stück aufführte, in dem eine halbstündige Schlacht vorkam," fragte er den Valentin, was er mit den Solda­ ten machen sollte: „Wie sind Soldaten in der Schlacht?“ Der Valentin antwortete, ohne sich zu besinnen: „Weiß sans, Angst hams.“ DER DRAMATURG: Das Theater des Stückeschrei­ bers war sehr klein. Nur wenige Stücke wurden aufge­ führt, nur wenige Schauspieler wurden ausgebildet. Die 9i

Hauptschauspielerinnen waren: die Weigel, die Neher und die Lenya. Die Hauptschauspieler waren: Homolka, Lorre und Lingen. Auch der Sänger Busch gehörte zu diesem Thea­ ter, trat aber nur selten auf der Bühne auf. Der Bühnen­ baumeister war Caspar Neher, nicht verwandt mit der Schauspielerin. Die Musiker waren Weill und Eisler. Das Publikum der ersten Republik besaß nicht die Kraft, Schauspielern wirklichen Ruhm zu verschaffen. So ging der Stückeschreiber darauf aus, jedem seiner Schau­ spieler so viel Ruhm als möglich bei sich selber zu ver­ schaffen. In einem kleinen Lehrgedicht riet er der Neher zum Beispiel, wie sie sich am Morgen zu waschen habe, wie eine berühmte Person und so, daß Maler davon Bil­ der gewinnen könnten. Sie waren alle ziemlich berühmt, traten aber auf der Bühne so vor das Publikum, als wä­ ren sie noch weit berühmter, nämlich mit Bescheidenheit.

DER DRAMATURG: Der Stückeschreiber unterschied sehr genau zwischen Fehlern, die durch Nichtachtung sei­ ner Regeln, und Fehlern, die trotz ihrer Beachtung oder sogar durch ihre Beachtung passierten. „Meine Regeln“, sagte er, „sind nur anzuwenden von Personen, die sich freies Urteil, Widerspruchsgeist und soziale Phantasie er­ halten sowie in Kontakt zu den fortschrittlichen Teilen des Publikums stehen, also selber fortschrittliche, voll­ sinnige, denkende Menschen sind. Ich kann nun dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden. So gibt es eine Reihe von Fehlern bei meinen Schauspielern, die keine Verstöße gegen meine Regeln bedeuten, weil ein Teil ihres Verhaltens von mir nicht geregelt wird. Selbst die Weigel brach an bestimmten Abenden bei ge­ wissen Stellen in Tränen aus, ganz gegen ihren Willen und nicht zum Vorteil der Darstellung. In einem Stück, wo sie eine spanische Bäuerin im Bürgerkrieg spielte, hatte sie ihren Sohn zu verfluchen und ihm den Tod zu wünschen, weil sie glaubte, er habe gegen die Generäle zu den Waffen gegriffen - in Wirklichkeit war er schon 92

von den Truppen der Generäle erschossen, und zwar beim friedlichen Fischen. Der Bürgerkrieg dauerte noch an während dieser Vorstellung. War es nun, weil der Krieg für die Unterdrückten eine schlimme Wendung nahm an dem betreffenden Tag oder weil die Weigel aus irgendeinem andern Grund besonders empfindlich ge­ stimmt war, jedenfalls kamen ihr die Tränen beim Spre­ chen dieser Verdammung des schon Ermordeten. Sie weinte nicht als Bäuerin, sondern als Darstellerin über die Bäuerin. Ich sehe da einen Fehler, aber ich sehe keine meiner Regeln verletzt.“ DER SCHAUSPIELER: Aber dieses Weinen war doch nicht gestaltet! Es war ganz privat! DER DRAMATURG: Gewiß. Aber der Stückeschrei­ ber lehnte den Anspruch des Publikums auf ein völliges Aufgehen der Schauspieler in ihrem Theaterspielen ab. Seine Schauspieler waren keine Kellner, die das Fleisch zu servieren hatten und deren persönliche, private Ge­ fühle unverschämte Belästigungen genannt wurden. Sie waren weder die Diener des Dichters noch die des Pu­ blikums. Seine Schauspieler waren keine Beamten einer politischen Bewegung und keine Priester der Kunst. Sie hatten als politische Menschen ihre soziale Sache vor­ wärtszubringen vermittels der Kunst und vermittels aller andern Mittel. Dazu kommt, daß der Stückeschreiber eine Zerreißung der Illusion mild beurteilte. Er war ge­ gen die Illusion. Es gab Späße privater Art, Improvisa­ tionen und Extempores auf seiner Bühne, die im alten Theater undenkbar waren. DER PHILOSOPH: Vielleicht erblickte er in einer solchen Milde gegen ein solches zufälliges, nicht gestalte­ tes, willkürliches Benehmen seiner Schauspieler auch ein Mittel zur Denunzierung ihrer Autorität? Sie hatten ja ihren Auffassungen nicht den Stempel des Unbestreit­ baren aufzudrücken, wenn ich richtig im Bild bin. DER DRAMATURG: Unter keinen Umständen.

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DER DRAMATURG: Ich habe mir deine Gedanken durch den Kopf gehen lassen, und sie haben einiges dort gesehen. Auf einer Reise geriet ich vor einigen Jahren in Paris in ein kleines Theater, und dort spielte eine win­ zige Truppe von exilierten Deutschen einige Szenen aus einem Stück, das die Zustände in ihrer Heimat zeigte. Nie habe ich eine Truppe erlebt, deren Mitglieder so ver­ schieden nach Herkunft, Ausbildung und Talent waren. Zusammen mit einem Arbeiter, der kaum je auf einer Bühne gestanden haben konnte und sich im Dialekt aus­ drückte, spielte eine große Artistin, die vielleicht nicht ihresgleichen hat, was Begabung, Material und Ausbil­ dung angeht. Gemeinsam hatten sie jedoch, daß sie alle aus ihrer Heimat vor den Horden des Anstreichers geflo­ hen waren, und einen gewissen Stil des Spielens. Dieser Stil muß der Art des Theatermachens sehr ähnlich sein, wie du es dir vorstellst. DER PHILOSOPH: Beschreib ihr Spiel! DER DRAMATURG: Das Stück, das sie aufführten, hieß „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Man sagte mir, es bestehe aus vierundzwandig kleinen Stücken, sie führten davon sieben oder acht auf. Diese Stücke zeigten, wie sich die Menschen in deiner Heimat unter der Stahl­ rute des Anstreichers verhalten. Man sah Menschen nahe­ zu aller Schichten und die Art ihrer Unterwerfung und Auflehnung. Man sah die Furcht der Unterdrückten und die Furcht der Unterdrücker. Es war wie eine große Sammlung von Gesten, artistisch genommen: der Blick des Verfolgten über die Schulter zurück (und der des Verfolgers); das plötzlich Verstummen; die Hand, die sich vor den eigenen Mund legt, der beinahe zuviel ge­ sagt hätte, und die Hand, die sich auf die Schulter des Ertappten legt; die erpreßte Lüge; die flüsternde Wahr­ heit; das Mißtrauen zwischen den Liebenden und vieles mehr. Aber das Außerordentliche war, daß die Spieler diese furchtbaren Vorfälle keineswegs so vorführten, daß die Zuschauer versucht waren, ein „Halt!“ auszurufen. Die Zuschauer schienen das Entsetzen der Personen auf 94

der Bühne überhaupt nicht zu teilen, und so kam es, daß im Zuschauerraum immerfort gelacht wurde, ohne daß dadurch der tiefe Ernst der Veranstaltung litt. Denn das Lachen schien die Dummheit zu betreffen, die sich hier zur Gewalt gezwungen sah, und die Hilflosigkeit zu mei­ nen, die da als Roheit auftrat. Prügelnde wurden betrach­ tet wie Stolpernde, Verbrecher wie solche, die Irrtümer begingen oder sich eben täuschen ließen. Das Lachen der Zuschauer hatte sehr viele Schattierungen. Es war ein glückliches Lachen, wenn die Verfolgten ihre Verfolger überlisteten, ein befreites, wenn ein gutes, wahres Wort geäußert wurde. So mag ein Erfinder lachen, wenn er nach langer Bemühung die Lösung gefunden hat: So ein­ fach war es, und er sah es so lange nicht! DER SCHAUSPIELER: Wie machten sie das? DER DRAMATURG: Das ist nicht so leicht zu sa­ gen, jedoch hatte ich nicht den Eindruck, daß es allzu schwierig zu machen war. Vor allem spielten sie so, daß das Interesse des Zuschauers immer auf den weiteren Verlauf gerichtet blieb, auf das Weitergehen, sozusagen auf den Mechanismus der Vorfälle. Auf das Spiel von Ursache und Folge.

DER DRAMATURG: Mir scheint, daß wir uns durch deine Vorliebe für die volkstümlichen Bilder ein wenig von dem Wunsch der Zuschauer, etwas zu wissen, auf den du dein Theaterspielen bauen willst, entfernt haben. Diese Bilder wollen Grausen erzeugen. Über die Erd­ beben, Brände, Greueltaten, Schicksalsschläge. DER PHILOSOPH: Wir haben uns nicht entfernt, sondern sind nur zurückgegangen, das Element dieser Volkskunst ist die Unsicherheit. Der Boden schwankt und öffnet sich. Das Dach steht in Flammen eines Tages. Die Könige werden vom Wechsel des Glücks bedroht. Und die Unsicherheit ist auch die Wurzel des Wunsches nach Wissen. Die Fingerzeige für die Rettung und die Abhilfe mögen reichlicher oder ärmlicher sein, je nachdem die Menschheit sich helfen kann. 95

DER DRAMATURG: Da wäre also Freude an der Unsicherheit? DER PHILOSOPH: Bedenkt das englische Sprich­ wort: Das ist ein übler Wind, der keinem Gutes bringt. Und dann wünscht der Mensch auch so unsicher gemacht zu werden, als er tatsächlich ist. DER DRAMATURG: Dieses Element der Unsicher­ heit willst du also nicht ausmerzen aus der Kunst? DER PHILOSOPH: Keinesfalls. Keinesfalls. DER SCHAUSPIELER: Also doch wieder Furcht und Mitleid? DER PHILOSOPH: Nicht so eilig! Ich erinnere mich da an eine Photographie, die eine amerikanische Stahl­ firma im Anzeigenteil der Zeitungen veröffentlichte. Sie zeigte das durch ein Erdbeben verwüstete Yokohama. Ein Chaos von zusammengeschüttelten Häusern. Aber dazwischen ragten noch einige Eisenzementgebäude, die ziemlich hoch waren. Darunter stand „Steel stood“, Stahl blieb stehen. DER SCHAUSPIELER: Das ist schön. DER DRAMATURG zum Arbeiter-. Warum lachen Sie? DER ARBEITER: Weil es schön ist. DER PHILOSOPH: Diese Photographie gab der Kunst einen deutlichen Fingerzeig. DER SCHAUSPIELER: Dieses eifrige Selbststudium und Zurückgreifen auf die eigene Erfahrung mag einen leicht dazu verführen, den Text zu verändern. Wie stehen Sie dazu? DER PHILOSOPH: Was berichtet der Stückeschrei­ ber? DER DRAMATURG: Die Schauspieler sind meist sehr eigensüchtig bei ihren Änderungen. Sie sehen nur ihre Rollen. So kommt es, daß sie nicht etwa nur Ant­ worten auf Fragen, sondern auch Fragen ändern, so daß die Antworten dann nicht mehr stimmen. Wenn das Än­ dern gemeinsam geschieht, und nicht weniger interessiert 96

und begabt als das Stückeschreiben selber, gereicht es dem Stück zum Vorteil. Man darf nicht vergessen, daß nicht das Stück, sondern die Vorstellung der eigentliche Zweck aller Bemühungen ist. Das Ändern erfordert sehr viel Kunst, das ist alles. DERJPHILOSOPH: Der letzte Satz scheint mir tat­ sächlich genug Schranken zu setzen. Ich möchte noch auf die Gefahr hinweisen, daß eine zu große Neigung, zu ändern, das Studium des Textes leichtsinnig machen kann; aber die Möglichkeit, zu ändern, und das Wissen, daß es nötig sein kann, vertieft wiederum das Studium. DER DRAMATURG: Wichtig ist, daß man, wenn man ändert, den Mut und die Geschicklichkeit haben muß, genügend zu ändern. Ich erinnere mich an eine Auf­ führung der Schillerschen „Räuber“ im Theater des Piscator. Das Theater fand, daß Schiller einen der Räuber, Spiegelberg, als Radikalisten für das Publikum ungerech­ terweise unsympathisch gemacht habe. Er wurde also sympathisch gespielt, und das Stück fiel buchstäblich um. Denn weder Handlung noch Dialog gaben Anhaltspunkte für Spiegelbergs Benehmen, die es als ein sympathisches er­ scheinen ließen. Das Stück wirkte reaktionär (was es nicht ist, historisch gesehen), und Spiegelbergs Tiraden wirkten nicht revolutionär. Nur durch sehr große Änderungen, die mit historischem Gefühl und viel Kunst hätten vorgenom­ men werden müssen, hätte man eine kleine Aussicht ge­ habt, Spiegelbergs Ansichten, die radikaler sind als die der Hauptperson, als die fortgeschritteneren zu zeigen.

DER DRAMATURG: Wie wir erfahren haben, zer­ schneidet der Stückeschreiber ein Stück in kleine selbstän­ dige Stückchen, so daß der Fortgang der Handlung ein sprunghafter wird. Er verwirft das unmerkliche Ineinan­ dergleiten der Szenen. Wie nun schneidet er, nach wel­ chen Gesichtspunkten? Er zerschneidet so, daß der Ti­ tel, der einer Einzelszene gegeben werden kann, einen historischen oder sozialpolitischen oder sittengeschicht­ lichen Charakter hat. 7 Über Theater

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DIE SCHAUSPIELERIN: Ein Beispiel! DER DRAMATURG: „Mutter Courage zieht als Ge­ schäftsfrau in den Krieg“ oder „Mutter Courage hat Eile, da sie fürchtet, der Krieg könne schnell .wieder aufhören“ oder „Während sie den Feldwebel labt, führt der Werber ihren Sohn weg“. DER SCHAUSPIELER: Wieso hat der letzte dieser Titel einen historischen oder sozialpolitischen oder sitten­ geschichtlichen Charakter? DER DRAMATURG: Es wird als Charakteristikum der Zeit gezeigt, daß gutherzige Handlungen teuer zu stehen kommen. DER SCHAUSPIELER: Das ist auch ein Charakteri­ stikum unserer Zeit, und wo war eine Zeit, die anderes sah? DER DRAMATURG: Eine solche Zeit kann in unse­ rer Vorstellung sein.

DER DRAMATURG: Der Stückeschreiber nahm einen Film von der Weigel beim Schminken. Er zerschnitt ihn, und jedes einzelne Bildchen zeigte einen vollendeten Ausdruck, in sich abgeschlossen und mit eigener Bedeu­ tung. „Man sieht, was für eine Schauspielerin sie ist“, sagte er bewundernd. „Jede Geste kann in beliebig viel Gesten zerlegt werden, die alle für sich vollkommen sind. Da ist eines für das andere da und zugleich für sich sel­ ber. Der Sprung ist schön und auch der Anlauf.“ Aber das wichtigste schien ihm, daß jede Muskelverschiebung beim Schminken einen vollkommenen seelischen Aus­ druck hervorrief. Die Leute, denen er die Bildchen zeigte und die Frage vorlegte, was die verschiedenen Aus­ drücke bedeuteten, rieten bald auf Zorn, bald auf Heiter­ keit, bald auf Neid, bald auf Mitleid. Er zeigte ihn auch der Weigel und erklärte ihr, wie sie nur ihre Ausdrücke zu kennen brauchte, um die Gemütsstimmungen ausdrükken zu können, ohne sie jedesmal zu empfinden.

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DER V-EFFEKT

DER PHILOSOPH: So wie die Einfühlung das be­ sondere Ereignis alltäglich macht, so macht die Verfrem­ dung das alltägliche besonders. Die allerallgemeinsten Vorgänge werden ihrer Langweiligkeit entkleidet, indem sie als ganz besondere dargestellt werden. Nicht länger flüchtet der Zuschauer aus der Jetztzeit in die Historie; die Jetztzeit wird zur Historie.

DER PHILOSOPH: Der Hauptgrund dafür, daß der Schauspieler einen deutlichen Abstand von der Figur ha­ ben muß, die er darstellt, ist folgender: Um dem Zu­ schauer den Schlüssel zu ihrer Behandlung oder Perso­ nen, die ihr gleichen oder deren Situation der ihrigen gleicht, den Schlüssel zu ihrem Problem auszuhändigen, muß er auf einem Punkt stehen, der nicht nur außerhalb der Sphäre der Figur, sondern auch weiter vorn in der Entwicklung liegt. Die Klassiker haben gesagt, daß der Affe sich am besten vom Menschen aus, seinem Nachfol­ ger in der Entwicklung, begreifen lasse. DER DRAMATURG: Der V-Effekt bleibt aus, wenn der Schauspieler, ein fremdes Gesicht schneidend, sein eigenes völlig verwischt. Was er tun soll, ist: das Sichüberschneiden der beiden Gesichter zeigen.

Die Schauspielerin spielt einen Mann. DER PHILOSOPH: Ein Mann, der diesen Mann ge­ spielt hätte, hätte das gerade Männliche daran kaum so herausgearbeitet, und viele Einzelheiten, die uns als allgemein-menschlich erscheinen, sahen wir, als eine Frau jetzt den Mann spielte, genauer gesagt, den Vorfall spielte, nun als typisch männliche. Wo es sich also um ge­ schlechtliche Dinge handelt, muß der Schauspieler, ist er ein Mann, etwas von dem bringen, was eine Frau dem Mann mitgeben würde, und, ist er eine Frau, etwas von dem, was ein Mann der Frau mitgeben würde. 99

DER SCHAUSPIELER: Tatsächlich habe ich kaum je so frauenhafte Frauen gesehen als im Krieg an der Front, wo die Frauen von Männern dargestellt wurden. DIE SCHAUSPIELERIN: Und Erwachsene muß man von Kindern gespielt sehen! Wieviel da als befremd­ lich und sonderbar auffällt an dem Benehmen der Er­ wachsenen! In einer Schule sah ich, wie Kinder das Stück „Mann ist Mann“ spielten. Da wird ein Elefant verkauft. Dieser Vorgang, unmöglich unter Kindern, bekam plötz­ lich auch im Stück etwas von diesem „Unmöglichen“, zu­ mindest erschien er nur noch „möglich“, eben noch denk­ bar, unter gewissen vergänglichen Bedingungen vielleicht vorstellbar. DER DRAMATURG: Ein anderes Beispiel des VEffekts sah ich in einem amerikanischen Film. Ein sehr junger Schauspieler, der bisher immer proletarische Jun­ gens gespielt hatte und wohl auch einer gewesen war, spielte einen Bourgeoisjungen, der für seinen ersten Ball einen Smoking bekommt. Es wurde keineswegs kein bür­ gerlicher Junge, sondern ein ganz besonders bürgerlicher Junge, was er spielte. Viele sahen wohl nur, daß es ein besonders jungenhafter Junge war. Tatsächlich ist der Un­ terschied zwischen dem Jungen und Alten ein anderer in den beiden Klassen. In bestimmter Hinsicht ist der pro­ letarische Junge erwachsener als der bürgerliche, in an­ derer kindlicher. DER DRAMATURG: Verwendet nicht auch der Surrealismus in der Malerei eine Verfremd ungstechnik? DER PHILOSOPH: Gewiß. Diese komplizierten und raffinierten Maler sind sozusagen die Primitiven einer neuen Kunstform. Sie versuchen den Betrachter zu schokkieren, indem sie seine Assoziationen aufhalten, enttäu­ schen, in Unordnung bringen, etwa dadurch, daß eine Frau an der Hand statt Finger Augen hat. Sowohl dann, wenn es sich um Symbole handelt (Frau sieht mit Hän­ den), als auch dann, wenn nur einfach die Extremität ioo

nicht der Erwartung nach ausläuft, tritt ein gewisser Schock ein, und Hand und Auge werden verfremdet. Ge­ rade indem die Hand keine Hand mehr ist, entsteht eine Vorstellung Hand, die mehr mit der gewöhnlichen Funktion dieses Instruments zu tun hat als jenes ästheti­ sche Dekorativum, das man auf zehntausend Gemälden angetroffen hat. Oft freilich sind diese Bilder nur Reak­ tionen auf die untotale Funktionslosigkeit der Menschen und Dinge in unserem Zeitalter, das heißt sie verraten eine schwere Funktionsstörung. Auch die Klage darüber, daß alles und jedes zu funktionieren habe, also alles Mittel und nichts Zweck sei, verrät diese Funktions­ störung. DER DRAMATURG: Warum ist es eine primitive Verwertung des V-Effekts? DER PHILOSOPH: Weil auch die Funktion dieser Kunst unterbunden ist in gesellschaftlicher Hinsicht, so daß hier einfach auch die Kunst nicht mehr funktioniert. Sie endet, was die Wirkung betrifft, in einem Amüsement durch den besagten Schock.

DER PHILOSOPH: Nehmen wir den Tod des Schur­ ken! Die Vernichtung des Asozialen, durch welche Leben gerettet werden. In irgendeiner Weise muß doch wohl diese Vernichtung in ihrer Notwendigkeit auch bestritten werden. Zu solch letzter Maßnahme greifend, hat doch wohl die Gesellschaft andere Maßnahmen versäumt! Das Recht auf Leben, so plump durchgesetzt durch die Gesell­ schaft, daß sie es leugnen muß, indem sie es durchsetzt, ist das Urrecht selber, auf das alle andern Rechte bezo­ gen werden müssen. Im Kampf um dieses Leben, ein ganz nacktes, von allen gesellschaftlichen Verbreiterun­ gen und Anreicherungen abstrahiertes Schnaufen, im Kampf um den bloßen Stoffwechsel, um das Vegetieren müssen wir dem Sterbenden doch wieder beistehen. Seine so aufs äußerste reduzierte Menschlichkeit - er will nicht sterben, er will nicht kein Mensch mehr sein - müssen wir doch respektieren als eben dies, was wir mit ihm gemeinIOI

sam haben, nehmen wir doch auch an seiner Unmensch­ lichkeit teil, eben jetzt, indem wir ihn töten oder tot ha­ ben wollen. Oh, da ist noch viel Gemeinsames, auch jetzt noch. Etwas von unserer Hilflosigkeit ihm gegenüber war auch in ihm. Wenn Leben wertvoll sind, sind sie es für die Gesellschaft und durch sie. DER PHILOSOPH: Angenommen, ihr habt ein Stück, wo in der ersten Szene ein Mann A einen Mann B zur Richtstätte führt, in der letzten Szene aber der Zug in umgekehrter Richtung gezeigt wird, indem jetzt, nach allerlei gezeigten Vorfällen, der Mann A von dem Mann B zur Richtstätte geführt wird, so daß also in einem und demselben Vorgang (Zug zur Richtstätte) A und B ihre Stellungen (Henker und Opfer) vertauscht haben. Da werdet ihr bestimmt bei der Anordnung der ersten Szene so vorgehen, daß die Wirkung der letzten Szene so groß wie nur möglich wird. Ihr werdet dafür sorgen, daß die erste Szene sofort erinnert wird beim Ansehen der letz­ ten, daß die Gleichartigkeit auffällt, und auch dafür, daß das Verschiedene nicht übersehen werden kann. DER DRAMATURG: Natürlich gibt es solche Vor­ kehrungen. Vor allem darf dann die erste Szene nicht als Passage zu einer andern gespielt werden, sie muß beson­ deres Gewicht haben. Jede Bewegung darin muß in Be­ zug auf dieselbe (oder andere) der letzten Szene entwor­ fen sein. DER PHILOSOPH: Und der Schauspieler, der weiß, daß er später am Abend den Platz seines Mitspielers wird einnehmen müssen, spielt auch anders, als wenn er das nicht weiß, denke ich. Er wird den Henker anders darstellen, wenn er daran denkt, daß er auch das Opfer wird darzustellen haben. DER DRAMATURG: Das ist ganz klar. DER PHILOSOPH: Nun, die letzte Szene verfremdet die erste (sowie die erste die letzte verfremdet, was der eigentliche Effekt des Stückes ist.) Der Schauspieler trifft Vorkehrungen, welche V-Effekte hervorbringen. Und nun 102

braucht ihr nur diese Darstellungsart in Stücken anzuwen­ den, die diese letzte Szene nicht haben. DER DRAMATURG: Also alle Szenen im Hinblick auf mögliche andere Szenen spielen, meinst du? DER PHILOSOPH: Ja.

DER PHILOSOPH: Der Zuschauer kann um so leich­ ter abstrahieren (Lear handelt so, handle ich so?), je konkreter ein Fall ihm vorgestellt wird. Ein ganz beson­ derer Vater kann der allgemeinste Vater sein. Die Beson­ derheit ist ein Merkmal des Allgemeinen. Man trifft ganz allgemein Besonderes. DER PHILOSOPH: Der Wunsch, der Gesellschaft gewisse Vorgänge von der Seite zu zeigen, wo die Ge­ sellschaft gewisse Lösungen von Unstimmigkeiten treffen kann, darf uns nicht dazu verführen, das außerhalb ihrer Einflußzone Liegende zu vernachlässigen. Es ist auch nicht so, daß wir nur Rätsel aufzugeben hätten, lösbare und unlösbare. Das Unbekannte entwickelt sich nur aus dem Bekannten. DER PHILOSOPH: Man kann die Komplettheit eines Gesetzes an der Komplettheit der angegebenen Begren­ zungen erkennen. Ihr müßt die Gesetzmäßigkeiten nicht an allzu willfährigen, allzu „passenden“ Typen nachwei­ sen, sondern eher an (in normalem Maße) widerstreben­ den Typen. Also die Typen müssen etwas Annäherndes haben. Meint ihr zum Beispiel, daß ein Bauer unter den angegebenen Umständen eine bestimmte Handlung vornimmt, so nehmt einen ganz bestimmten Bauern, der nicht nur nach seiner Willfährigkeit, gerade so zu han­ deln, ausgesucht oder konstruiert ist. Besser noch, ihr zeigt, wie das Gesetz sich bei verschiedenen Bauern durch­ setzt, in verschiedener Weise. In Gesetzen habt ihr nur höchst allgemeine Richtlinien, Durchschnitte, Résumées. Der Begriff Klasse zum Beispiel ist ein Begriff, in dem viele Einzelpersonen begriffen, also als Einzelpersonen 103

ausgelöscht sind. Für die Klasse gelten gewisse Gesetz­ lichkeiten. Sie gelten für die Einzelperson so weit, als sie mit der Klasse identisch ist, also nicht absolut; denn man ist ja zu dem Begriff Klasse gekommen, indem man von bestimmten Eigenheiten der Einzelperson absah. Ihr stellt nicht Prinzipien dar, sondern Menschen.

DER DRAMATURG: Zwischen einer wissenschaftli­ chen Darstellung eines Nashorns, zum Beispiel einer Zeichnung in einem Werk über Naturkunde, und einer künstlerischen besteht der Unterschied, daß die letztere etwas von den Beziehungen verrät, welche der Zeichner zu diesem Tier hat. Die Zeichnung enthält Geschichten, auch wenn sie nur eben das Tier darstellt. Das Tier scheint faul oder zornig oder verfressen oder listig. Es sind einige Eigenschaften hineingezeichnet, welche zum blo­ ßen Studium des Knochenbaus zu wissen überflüssig sind. DER DRAMATURG: Nehmt die Stelle, wo Le ar stirbt! Dies „Pray you, undo this button: thank you, Sir“! In die Verwünschungen drängt sich ein Wunsch, das Le­ ben ist unerträglich, und dann drückt noch die Kleidung; was gelebt hat, war ein König, was stirbt, ist ein Mensch. Er ist ganz zivil („thank you, Sir“). Das Thema wird voll abgehandelt, im kleinen und im großen. Der Ent­ täuschte stirbt, Enttäuschung und Sterben werden gezeigt, sie decken sich nicht ganz. Es wird keine Verzeihung ge­ währt, aber Freundlichkeiten werden entgegengenommen. Der Mann ist zu weit gegangen, der Dichter geht nicht zu weit. Die Vernichtung des Lear ist vollständig, der Tod wird noch überraschend als Spezialschrecken demonstriert, Lear stirbt wirklich. DER SCHAUSPIELER: Aber zu den größten Lei­ stungen der Künste gehört es, daß ihre Abbildungen nicht gemacht sind nach den Erörterungen des Nutzens, be­ rücksichtigend die moralischen Forderungen der Zeit, be­ stätigend die herrschenden Anschauungen. 104

DER DRAMATURG: Halt! Wenn die Abbildungen die herrschenden Anschauungen nicht bestätigen, das heißt die Anschauungen der Herrschenden ignorieren, können sie doch dennoch Erörterungen des Nutzens fol­ gen! Viel leichter sogar. DER SCHAUSPIELER: Die Künste gehen aber wei­ ter oder weniger weit, wenn du willst. Sie sind imstande, die Majestät, Kraft und Schönheit des reißenden Stroms genießbar zu machen, der ganze Dörfer überschwemmen mag. Sie holen Genuß aus der Betrachtung asozialer In­ dividuen, zeigend die Lebenskraft der Mörder, die Schlauheit der Betrüger, die Schönheit der Harpyen. DER PHILOSOPH: Das ist in Ordnung, diese Un­ ordnung ist in Ordnung. Solange die überschwemmten Dörfer nicht versteckt, die Gemordeten nicht beschuldigt, der Betrug nicht entschuldigt und die Kralle der Harpye nicht lediglich als ein ingeniöses Werkzeug dargestellt werden, ist ja alles in Ordnung. DER SCHAUSPIELER: Ich kann nicht den Metzger und das Schaf darstellen. DER DRAMATURG: Du machst nicht allein Theater. DER PHILOSOPH: Du kannst nicht den Metzger und das Schaf zugleich darstellen, aber doch den Metzger des Schafes, denke ich. DER SCHAUSPIELER: Entweder appelliere ich an den Schaffleischesser in meinem Zuschauer oder an den Schuldner der Banken. DER PHILOSOPH: Der Schaffleischesser kann ein Schuldner der Banken sein. DER SCHAUSPIELER: Richtig, nur kann der Appell nicht gleichzeitig an beide Eigenschaften gehen. Nein, ich rede zu dem einzelnen Menschen nur als einem Mitglied der gesamten Menschheit. Sie, als Gesamtheit, ist inter­ essiert an der Lebenskraft an und für sich, ganz gleich, wie sie sich auswirkt. DER DRAMATURG: Jede Figur wird aus den Be­ ziehungen zu den andern Figuren aufgebaut. Der Schau­ 105

Spieler ist also an dem Spiel des Partners ebenso inter­ essiert wie an seinem eigenen. DER SCHAUSPIELER: Das ist nichts Neues. Ich lasse meinen Partner immer zur Geltung kommen. DIE SCHAUSPIELERIN: Manchmal. DER DRAMATURG: Nicht darum handelt es sich. DER DRAMATURG: Beachtet ja die Unterschiede zwischen stark und grob, locker und schlaff, schnell und hastig, phantasievoll und ab­ schweifend, durchdacht und ausgetüftelt, gefühlvoll und gefühlsselig, widerspruchs­ voll und ungereimt, deutlich und eindeutig, nützlich und profitlich, pathetisch und groß­ mäulig, feierlich und pfaffenmäßig, zart und schwach, leidenschaftlich und unbeherrscht, natürlich und zufällig.

DER PHILOSOPH: Wenn der Ehemann, nach Hause kehrend, das Tier mit den zwei Rücken erblickt, wird er eine Vielfalt von Empfindungen verspüren und zeigen, welche einheitlich und nicht einheitlich sind. Den Triumph des Entdeckers („Da bin ich ja zur rechten Zeit gekommen!“); den Unwillen, etwas zu entdecken, das ihm nicht gefällt („Kann ich mich da noch irren?“); den Abscheu vor der Fleischeslust („Wie animalisch!“); das wehmütige Verständnis für die Notdürfte („Sie muß das haben“); das Gefühl der verächtlichen Entsagung („Was verliere ich da schon, wenn das so ist!“); den Durst nach Rache („Das soll ihr was kosten!“) und so weiter und so weiter. DER DRAMATURG: Woher kommt es, daß dem Messingkäufer immerfort von den Bürgerlichen Mangel an Gefühl vorgeworfen wurde, eine Sucht, das Gefühls­ mäßige zugunsten des Verstandesmäßigen auszurotten? DER PHILOSOPH: Das Vernünftige bei ihm löste in ihren Seelen keine Gefühle aus. Ja, ihr Gefühl rebellierte

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gegen ihn und seine Vernunft. Er war ihnen bei weitem zu kritisch. Dabei appellierte er nie an ihre Vernunft, nur an die ihrer Feinde. Auch war bei ihm Kritik nur ein Teil der praktischen Änderungsmaßnahmen. Die Klagen über den Lauf von Flüssen und Geschmack von Früch­ ten sammelte er als einen Teil der Arbeit, deren anderer Teil die Abdämmung von Flüssen und die Veredelung der Obstbäume war. Seine Kritik war etwas Praktisches und damit unmittelbar auch Gefühlsmäßiges, während das, was sie als Kritik kannten, ins Ethische ging, anstatt ins Praktische, das heißt im Gefühlsmäßigen verblieb. So war ihre Kritik größtenteils unfruchtbar, und mit dem Brandmal der Unfruchbarkeit stempelten sie so alles Kritische überhaupt, auch das Kritische bei ihm. DER DRAMATURG: Ich dachte, es war nur das Mißverständnis, daß man seine Einwände gegen die Ein­ fühlung in der Kunst für Einwände gegen die Gefühle in der Kunst hielt. DER PHILOSOPH: Nein, das Mißverständnis hatte tiefere Tiefen. Die Bürger seiner Zeit riefen den aufstän­ dischen Massen immerfort zu, sie verständen in ihrer Ge­ fühlsverwirrung nicht die Vernünftigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung, und den Führern der Massen, sie rechneten nur mit der kalten Vernunft, anstatt mit dem jahrtausendlang gewachsenen Gefühlsleben des Volkes, seinen religiösen, sittlichen, familiären Gefühlen,

Die vierte Nacht

REDE DES STÜCKESCHREIBERS ÜBER DAS THEATER DES BÜHNENBAUERS CASPAR NEHER

Manchmal beginnen wir zu probieren, ohne etwas über die Dekoration zu wissen, und unser Freund fertigt uns nur kleine Skizzen von den Vorgängen an, die wir darzu­ stellen haben, sagen wir sechs Leute, sitzend um eine Arbeiterin, die ihnen Vorwürfe macht. Wir finden im Text dann vielleicht nur fünf Leute im ganzen, denn unser Freund ist kein Pedant, aber er zeigt uns, worauf es an­ kommt, und eine solche Skizze ist immer ein delikates kleines Kunstwerk. Wo auf der Bühne die Sitzgelegen­ heiten für die Frau, ihren Sohn und ihre Gäste sein sol­ len, finden wir selber heraus, und unser Freund stellt sie an diesem Ort auf, wenn er die Dekoration baut. Manch­ mal bekommen wir von vornherein seine Bilder, und er hilft uns dann, bei den Gruppierungen und Gesten und nicht selten bei der Charakterisierung der Personen und der Art, wie sie sprechen. Seine Dekoration ist getränkt mit dem Geist des betreffenden Stückes und erregt den Ehrgeiz der Schauspieler, in ihr zu bestehen. Die Stücke liest er in souveräner Weise. Dafür nur ein Beispiel. In der sechsten Szene des ersten Aktes von Shakespeares „Macbeth“ loben König Duncan und sein Feldherr Banquo, von Macbeth in sein Schloß eingeladen, dieses Schloß in berühmten Versen:

„. . . Der Sommergast, die Schwalbe, nistend An Tempeln, zeigt durch ihre Nester die Himmlische Luft hier . . .“

Neher bestand auf einem halbzerfallenen grauen Ka­ stell von auffallender Ärmlichkeit. Die rühmenden Worte der Gäste waren nur Höflichkeiten. Die Macbeth’ waren 108

für ihn kleine schottische Adlige von krankhaftem Ehr­ geiz! Seine Dekorationen sind bedeutende Aussagen über die Wirklichkeit. Er verfährt dabei groß, ohne durch un­ wesentliches Detail oder Zierat von der Aussage abzulen­ ken, die eine künstlerische und denkerische Aussage ist. Dabei ist alles schön und das wesentliche Detail mit großer Liebe gemacht. Wie sorgsam wählt er einen Stuhl, und wie bedachtsam placiert er ihn! Und alles hilft dem Spiel. Da ist ein Stuhl kurzbeinig und auch der Tisch dazu von studierter Höhe, so daß die an ihm essen, eine ganz besondere Haltung einnehmen müssen, und das Gespräch der tiefer als ge­ wöhnlich gebückten Esser bekommt etwas Besonderes, den Vorgang deutlicher Machendes. Und wie viele Wir­ kungen ermöglichen seine Türen von sehr verschiedener Höhe! Dieser Meister kennt alle Handwerke und sorgt dafür, daß die Möbel kunstvoll gezimmert sind, auch die arm­ seligen, denn die Wahrzeichen der Armseligkeit und Bil­ ligkeit müssen ja mit Kunst angefertigt werden. So sind die Materialien, Eisen, Holz, Leinwand, fachkundig be­ handelt und richtig gemischt, sparsam oder üppig, wie das Stück es verlangt. Er geht in die Werkstatt des Schmieds, um die Krummschwerter schmieden zu lassen, und in die Werkstatt der Kunstgärtner, um sich blecherne Kränze schneiden und flechten zu lassen. Viele der Re­ quisiten sind Museumsstücke. Diese kleinen Gegenstände, die er den Schauspielern in die Hand gibt, die Waffen, Instrumente, Geldtaschen, Bestecke und so weiter, sind immer echt und halten der genauesten Untersuchung stand, aber in der Architektur, das heißt, wenn dieser Meister Innenräume oder Außen­ räume aufbaut, begnügt er sich mit Andeutungen, arti­ stischen und poetischen Darstellungen einer Gegend oder einer Hütte, die seiner Beobachtung ebensoviel Ehre an­ tun wie seiner Phantasie. Sie zeigen in schöner Vermi­ schung seine Handschrift und die Handschrift des Stücke­ 109

Schreibers. Und es gibt bei ihm keinen Bau, Hof oder Werkstatt oder Garten, der nicht auch sozusagen noch die Fingerabdrücke der Menschen trägt, die da gelebt oder daran gebaut haben. Da werden handwerkliche Fer­ tigkeiten und Wissen der Bauenden sichtbar und der Wohnenden Wohngewohnheiten. Unser Freund geht bei seinen Entwürfen immer von „den Leuten“ aus und von dem, „was mit ihnen und durch sie passiert“. Er macht keine „Bühnenbilder“, Hin­ tergründe und Rahmen, sondern er baut das Gelände, auf dem „Leute“ etwas erleben. Nahezu alles, was sonst das Gewerbe der Bühnenbauer ausmacht, das Ästhetische, Stilistische, erledigt er mit der linken Hand. Selbstver­ ständlich war das Rom Shakespeares anders als das Rom Racines. Er baut die Bühne der Dichter und sie strahlte. * Er vermag, wenn er will, mit verschiedenen Graus und Weiß in verschiedener Struktur Reicheres zu gestalten als viele andere mit der ganzen Palette. Er ist ein großer Maler. Aber vor allem ist er ein ingeniöser Erzähler. Er weiß wie keiner, daß alles, was einer Geschichte nicht dient, ihr schadet. So begnügt er sich stets mit Andeutun­ gen bei allem, was „nicht mitspielt“. Freilich sind diese Andeutungen Anregungen. Sie beleben die Phantasie des Zuschauers, welche durch „Vollständigkeit“ gelähmt wird. Er benutzt oft eine Erfindung, die seither zu interna­ tionalem Gemeingut geworden und ihres Sinns gemeinhin beraubt worden ist. Es ist die Zweiteilung der Bühne, eine Anordnung, durch die vorn ein Zimmer, ein Hof, eine Arbeitsstätte halbhoch aufgebaut ist und dahinter projiziert oder gemalt eine weitere Umgebung, wechselnd mit jeder Szene oder stehend durch das ganze Stück. Die­ ses weitere Milieu kann auch aus dokumentarischem Ma­ terial bestehen oder einem Bild oder Teppich. Eine solche Anordnung bereichert natürlich die Erzählung, und * Bei der Armseligkeit unserer Lichtanlagen können die photo­ graphischen Aufnahmen leider den Glanz jeder Neherschen Deko­ ration nicht wiedergeben.

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zugleich erinnert sie die Zuschauer ständig, daß der Büh­ nenbauer eine Bühne gebaut hat: Er bekommt die Dinge anders zu sehen als außerhalb des Theaters. Dieses Verfahren, so wandelbar es ist, ist natürlich nur eines unter vielen, die er anwendet; seine Dekoratio­ nen unterscheiden sich ebenso wie die Stücke. Im Grunde hat man die Vorstellung sehr leicht hingebauter, schnell veränderlicher, schöner und dem Spiel nützlicher Gerüste, welche die Geschichte des Abends beredt erzählen helfen. Erwähnt man noch den Schwung, mit dem er baut, seine Verachtung für das Niedliche und Harmlose und die Hei­ terkeit seiner Bauten, hat man vielleicht eine Andeutung gegeben von der Bauweise des größten Bühnenbauers un­ serer Zeit.

[REDE DES DRAMATURGEN ÜBER ROLLENBESETZUNG]

DER DRAMATURG: Man besetzt die Rollen falsch und gedankenlos. Als ob alle Köche dick, alle Bauern ohne Nerven, alle Staatsmänner stattlich wären. Als ob alle, die lieben und alle die geliebt werden, schön wären! Als ob alle guten Redner eine schöne Stimme hätten! Natürlich ist so vieles zu bedenken. Zu diesem Faust paßt dieser Mephisto und dieses Gretchen. Es gibt Schauspieler, denen man schwer einen Prinzen glaubt; es gibt sehr verschiedene Prinzen, aber zumindest sind sie alle erzogen worden, zu befehlen; und Hamlet ist ein Prinz unter Tausenden. Dann ist es nötig, daß die Schauspieler sich entwickeln können. Da ist ein junger Mensch, der ein besserer Troilus sein wird, nachdem er einen Amtsdiener Mitteldorf gespielt hat. Dieser Schauspielerin fehlt für das Gretchen des letzten Akts das Laszive: kann sie es bekommen, wenn sie die Cressida spielt, der die Situationen es abnö­ tigen - oder die Grusche, der sie es ganz verwehren? Sicher liegen jedem Schauspieler gewisse Rollen mehr in

als andere. Und doch ist es für ihn gefährlich, wenn er in ein Fach gezwängt wird. Nur die Begabtesten sind fähig, einander ähnliche Figuren darzustellen, sozusagen Zwillinge, erkennbar als solche und doch unterscheidbar. Ganz albern ist es, Rollen nach körperlichen Merkma­ len zu besetzen. „Der hat eine königliche Gestalt!“ Was ist damit gemeint? Müssen die Könige ausschauen wie Eduard VII.? - „Aber der hat kein gebietendes Auftre­ ten!“ Wie wenige Arten zu gebieten gibt es eigentlich? „Die sieht zu vornehm aus für die Courage!“ Man sehe sich die Fischweiber an! Kann man nach der Gemütsart gehen? Man kann es nicht. Auch das heißt, sich die Sache leicht machen. Freilich gibt es sanfte Menschen und aufbrausende, ge­ walttätige. Aber es ist auch wahr, daß jeder Mensch alle Gemütsarten hat. Und je mehr Schauspieler er ist, desto mehr trifft für ihn der Satz zu. Und die bei ihm zurück­ gedrängten Gemütsarten ergeben oft, herausgeholt, be­ sonders starke Wirkungen. Zudem haben die groß ange­ legten Rollen (auch die kleinen davon) außer kräftigen Merkmalen auch Spielraum für Addierungen; sie gleichen Landkarten mit weißen Stellen. Der Schauspieler muß alle Gemütsarten in sich pflegen, weil seine Figuren nicht leben, wenn sie nicht von ihrer Widersprüchlichkeit le­ ben. Es ist sehr gefährlich, eine große Figur auf eine Eigenschaft hin zu besetzen.

BRUCHSTÜCKE ZUR VIERTEN NACHT DIE FRÖHLICHE KRITIK

DER SCHAUSPIELER: Man kann verstehen, daß das Mitfühlen der Gefühle der dramatischen Personen und das Im-Geiste-Mitmachen ihrer Handlungen Genuß bereiten kann. Wie soll aber die Kritik daran Genuß bereiten? 112

DER PHILOSOPH: Mir hat das Mitmachen der Handlungen eurer Helden oft Verdruß bereitet und das Mitfühlen ihrer Gefühle wahren Abscheu. Dagegen amü­ siert mich das Spielen mit euren Helden, das heißt, mich unterhalten die Vorstellungen anderer Handlungsweise und der Vergleich der ihrigen mit der von mir vorgestell­ ten, ebenfalls möglichen. DER DRAMATURG: Aber wie sollen sie anders handeln, so seiend, wie sie sind, oder zu dem gemacht, zu dem sie gemacht sind? Wie kannst du dir also anderes Handeln von ihnen vorstellen? DER PHILOSOPH: Ich kann es. Und dann kann ich sie ja auch mit mir vergleichen. DER DRAMATURG: So ist Kritik-Üben nichts rein Verstandesmäßiges? DER PHILOSOPH: Natürlich nicht. Ihr könnt eure Kritik keineswegs auf das Verstandesmäßige begrenzen. Auch die Gefühle nehmen an der Kritik teil, vielleicht ist es gerade eure Aufgabe, die Kritik durch Gefühle zu or­ ganisieren. Die Kritik, erinnert euch, entsteht aus den Krisen und verstärkt sie. DER DRAMATURG: Wir könnten allerdings nicht genug wissen, um auch nur die kleinste Szene aufzufüh­ ren. Was dann? DER PHILOSOPH: Man weiß in sehr verschiedenen Graden. Wissen steckt in euren Ahnungen und Träumen, in euren Besorgnissen und Hoffnungen, in der Sympathie, im Verdacht. Vor allem aber meldet sich Wissen im Bes­ serwissen, also im Widerspruch. Das alles ist euer Ge­ biet.

DER SCHAUSPIELER: Also der erhobene Zeigefin­ ger! Nichts wird vom Publikum mehr gehaßt. Es soll wieder auf die Schulbank! DER PHILOSOPH: Eure Schulbänke scheinen ja ent­ setzlich zu sein, wenn sie solchen Haß einflößen. Aber 8 Über Theater

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was gehen mich eure schlechten Schulbänke an? Schafft sie ab! DER DRAMATURG: Niemand hat etwas dagegen, daß in einem Stück Sinn steckt, aber er soll nicht immer­ fort heraustreten. Die Belehrung sollte unmerklich sein. DER PHILOSOPH: Glaubt mir: die die unmerkliche Belehrung wollen, wollen keine Belehrung. Etwas ande­ res ist es mit dem Sinn, der nicht immer heraustreten soll.

DER DRAMATURG: Wir haben jetzt nach bestem Vermögen die mannigfaltigen Anweisungen studiert, durch welche du die Theaterkunst ebenso belehrend ma­ chen willst, wie es die Wissenschaft ist. Du hattest uns eingeladen, uns in deinem Thaeter zu betätigen, das ein wissenschaftliches Institut sein sollte, Kunst zu machen sollte nicht unser Ziel sein. In der Tat aber haben wir, um deine Wünsche zu erfüllen, unsere ganze Kraft auf­ bieten müssen. Offen gestanden, spielend, wie du es willst, und zu dem ✓Zweck, den du willst, machen wir doch Kunst. DER PHILOSOPH: Das ist auch mir aufgefallen. DER DRAMATURG: Es genügte, daß du, der so viel, was für die Ausübung von Kunst allgemein für nötig gehalten wird, gestrichen hast, ein einziges aufrecht­ erhieltst, scheint es mir jetzt. DER PHILOSOPH: Was? DER DRAMATURG: Was du die Leichtigkeit dieser Betätigung nanntest. Das Wissen, daß dieses Etwas-Vorgeben, für das Publikum Zurechtmachen nur in einer heiteren, gutmütigen Stimmung vor sich gehen kann, einer Stimmung, in der man zum Beispiel auch zu Späßen ge­ neigt ist. Du hast den Ort der Kunst richtig bestimmt, als du uns so auf den Unterschied zwischen der Arbeit eines Mannes, der fünf Hebel an einer Maschine bedient, und einem Mann, der fünf Bälle auffängt, aufmerksam mach­ test. Und diese Leichtigkeit hast du verbunden mit einem großen Ernst der Aufgabe gesellschaftlicher Art. DER SCHAUSPIELER: Am meisten hat mich an­ 114

fangs deine Forderung, einzig und allein mit dem Ver­ stand zu arbeiten, verstimmt. Du verstehst, das Denken ist etwas so Dünnes, im Grund Unmenschliches. Selbst wenn man es gerade das Menschliche nennen will, macht man hier einen Fehler, denn dann fehlte mir an ihm eben das Tierische. DER PHILOSOPH: Und wie steht es jetzt damit? DER SCHAUSPIELER: Oh, dieses Denken scheint mir jetzt nicht mehr so dünn. Es steht in gar keinem Ge­ gensatz zum Fühlen. Und was ich den Zuschauern errege, sind nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle. Das Denken scheint mir jetzt einfach eine Art Verhalten, und zwar ein gesellschaftliches Verhalten. An ihm nimmt der ganze Körper mit allen Sinnen teil. DER PHILOSOPH: In einem russischen Stück sah ich, wie Arbeiter einem Räuber ein Gewehr anvertrauten, damit er sie gegen Räuber beschütze bei der Arbeit. Das Publikum lachte dabei und weinte zugleich. - Auf dem alten Theater gab es gegenüber dem Helden die Charge. Die Karikatur ist die Form, in der die Einfühlung erzeu­ gende Darstellung Kritik bringt. Hier kritisiert der Schauspieler das Leben, und der Zuschauer fühlt sich in seine Kritik ein. - Das epische Theater kann Karikaturen wohl nur bringen, wenn es das Karikieren zeigen will. Die Karikaturen treten dann auf wie Masken auf einem Maskenball, den die Bühne zeigt. - Die gleitende, wei­ tergehende, vorbeiziehende (aber nicht mitreißende) Dar­ stellung ist auch nötig, weil doch jede Äußerung jeder Fi­ gur auffällig gemacht wird, so daß es auch nötig ist, den Verlauf, Zusammenhang, Prozeß aller Äußerungen auf­ fällig zu machen. Echtes Verständnis und echte Kritik Ist nur möglich, wenn das einzelne und das Ganze und auch die jeweilige Beziehung des einzelnen zum Ganzen ver­ standen und kritisiert werden können. Die Äußerungen der Menschen sind ja notwendig widerspruchsvoll, es ist also nötig, den ganzen Widerspruch zu haben. - Der Schauspieler braucht keine völlig austerminierte Figur zu H5

geben. Er könnte es nicht und er braucht es nicht. Er gibt ja nicht nur die Kritik über die Sache, sondern auch noch und vor allem die Sache. Er braucht nicht über alles, was er gibt, ausgearbeitete Meinungen zu haben. Er schöpft aus einem Reservoire von Gesehenem und Erlebtem.

DER SCHAUSPIELER: Immer noch steht deinem Thaeter unser Theater sehr im Weg, lieber Freund. Die Verwertung unserer Fähigkeiten, die im Theater für das Theater ausgebildet wurden, wird dadurch leiden, daß wir außer dem, was du brauchen kannst, noch einiges können, was du kaum benötigst. Es ist nämlich ebenso hinderlich, daß wir in gewisser Hinsicht mehr können, als daß wir weniger können, als benötigt wird. DER PHILOSOPH: Was könnt ihr mehr? DER SCHAUSPIELER: Du hast uns den Unterschied zwischen einem Seher und einem prüfend Schauen­ den deutlich auseinandergesetzt. Du gabst uns zu ver­ stehen, daß der erstere durch den letzteren ersetzt werden muß. Weg mit der Ahnung, her mit dem Wissen! Weg mit dem Verdacht, her mit der Überführung! Weg mit dem Gefühl, her mit dem Argument! Weg mit dem Traum, her mit dem Plan! Weg mit der Sehnsucht, her mit dem Entschluß! Die Schauspielerin klatscht Beifatl. DER SCHAUSPIELER: Warum klatschst du nicht? DER PHILOSOPH: Ich habe mich kaum so entschie­ den ausgesprochen, was die Aufgabe der Kunst im allge­ meinen betrifft. Ich habe mich gegen die umgekehrten Losungen gewendet: Weg mit dem Wissen, her mit der Ahnung und so weiter. Ich habe mich dagegen gewendet, daß die Kunst für die Grenzgebiete reserviert bleiben soll. In den Werken bewegter Epochen und progressiver Klassen haben diese Losungen keine Gültigkeit. Aber be­ trachtet unsere Zeit! Wieviel künstlerischer ausgeführt sind bei uns Werke, aus denen die von mir bekämpften Losungen gezogen werden können! Die Ahnungen werii6

den mit viel mehr Kunst gebracht als die Kenntnisse! Auch in Werken mit klaren Gedanken findet man das Künstlerische in anderem, Unklarem; ich meine, man sucht es nicht nur dort, sondern man findet es auch dort. DER DRAMATURG: Du meinst, für das Wissen gibt es keine künstlerische Form? DER PHILOSOPH: Das fürchte ich. Warum sollte ich die Sphäre des Geahnten, Geträumten, Gefühlten stillegen wollen? Die gesellschaftlichen Probleme werden von den Menschen auch so behandelt. Ahnung und Wis­ sen sind keine Gegensätze. Aus Ahnung wird Wissen, aus Wissen Ahnung. Aus Träumen werden Pläne, die Pläne gehen in Träume über. Ich sehne mich und mache mich auf den Weg, und gehend sehne ich mich. Die Gedanken werden angedacht, die Gefühle angefühlt. Aber da gibt es Entgleisungen und Kurzschlüsse. Es gibt Phasen, wo die Träume nicht zu Plänen werden, Ahnungen nicht Wis­ sen werden, Sehnsucht sich nicht auf den Weg macht. Für die Kunst sind das schlechte Zeiten, sie wird schlecht. Die Spannung zwischen Ahnen und Wissen, welche die Kunst ausmacht, reißt ab. Das Feld entlädt sich sozusagen. Mich interessiert im Augenblick weniger, was mit den Künst­ lern passiert, welche in Mystik versinken. Mehr interessie­ ren mich diejenigen, welche, sich ungeduldig von der plan­ losen Träumerei abwendend, zu einem traumlosen Plan übergehen, einem gleichermaßen leeren Planen. DER DRAMATURG: Ich verstehe. Gerade wir, be­ strebt, der Gesellschaft zu dienen, der wir angehören, sollten alle Sphären des menschlichen Trachtens voll durchmessen! DER SCHAUSPIELER: Wir sollen also nicht nur zeigen, was wir wissen? DIE SCHAUSPIELERIN: Auch was wir ahnen. DER PHILOSOPH: Bedenkt, daß manches, was ihr nicht wißt, der Zuschauer erkennen mag!

DER SCHAUSPIELER: Sagte der Stückeschreiber etwas über seinen Zuschauer? H7

DER PHILOSOPH: Ja, folgendes: Neulich habe ich meinen Zuschauer getroffen. Auf staubiger Straße Hielt er in den Fäusten eine Bohrmaschine. Für eine Sekunde Blickte er auf. Da schlug ich schnell mein Theater Zwischen den Häusern auf. Er Blickte erwartungsvoll. In der Schenke Traf ich ihn wieder. Er stand an der Theke. Schweißüberronnen trank er, in der Faust Einen Ranken Brot. Ich schlug schnell mein Theater auf. Er Blickte verwundert. Heute Glückte es mir von neuem. Vor dem Bahnhof Sah ich ihn getrieben mit Gewehrkolben Unter Trommelgeräuschen in den Krieg. Mitten in der Menge Schlug ich mein Theater auf. Über die Schulter Blickte er her: Er nickte. DER PHILOSOPH: Die Gegner des Proletariats sind keine einheitliche, reaktionäre Masse. Auch der Ein­ zelmensch, der den gegnerischen Klassen angehört, ist kein einheitlicher, ganz und gar feindlich abgestimmter und ausgerechneter Korpus. Der Klassenkampf erstreckt sich in ihn hinein. Seine Interessen zerreißen ihn. In der Masse lebend, ist er, wenn auch noch so isoliert, doch auch Teil­ haber am Masseninteresse. Vor dem Sowjetfilm „Panzer­ kreuzer Potemkin“ beteiligten sich selbst gewisse Bour­ geois an dem Beifall des Proletariats, als die Matrosen ihre Schinder, die Offiziere, über Bord warfen. Dieses Bürgertum hatte, obwohl es von seiner Offizierskaste vor der sozialen Revolution geschützt worden war, doch diese Kaste nicht unter sich gebracht. Es befürchtete und erlitt dauernd „Übergriffe“ - gegen sich selber. Gegen den Feudalismus stimmten eben die Bourgeois mit den 118

Proletariern gelegentlich. Und dabei, in solchen Momen­ ten, gerieten diese Bourgeois in einen echten und lust­ vollen Kontakt mit den vorwärtstreibenden Elementen der menschlichen Gesellschaft, den proletarischen Ele­ menten; sie fühlten sich als ein Teil der Menschheit im ganzen, die da gewisse Fragen groß und gewaltig löste. So kann die Kunst doch eine gewisse Einheit ihres Publi­ kums herstellen, das in unserer Zeit in Klassen gespalten ist.

DER PHILOSOPH: Wieviel immer wir aufgeben wollen von dem, was für unentbehrlich an der Kunst des Theatermachens gehalten wird, um unsere neuen Zwecke zu bedienen, so müssen wir, denke ich, doch etwas unbe­ dingt bewahren, das ist seine Leichtigkeit. Sie kann uns nicht hinderlich sein, aber wenn wir sie aufgeben wür­ den, müßten wir unser Mittel überanstrengen und ver­ derben. Im Theatermachen liegt nämlich seiner Natur nach etwas Leichtes. Dieses sich Schminken und einstu­ dierte Stellungen Einnehmen, dieses Nachbilden der Welt mit wenigen Anhaltspunkten, dieses eine Vorstellung von Leben Geben, diese Pointen und Abkürzungen - all das muß seine natürliche Heiterkeit behalten, soll es nicht albern werden. In dieser Leichtigkeit ist jeder Grad von Ernst erreichbar, ohne sie gar keiner. So müssen wir allen Problemen die Fassungen geben, daß sie im Spiel erörtert werden können, auf spielerische Weise. Wir hantieren hier mit einer Goldwaage, in abgemessenen Bewegungen, mit Eleganz, gleichgültig, wie sehr uns der Boden unter den Füßen brennen mag. Es mag ja auch beinahe anstö­ ßig erscheinen, daß wir hier jetzt, zwischen blutigen Krie­ gen, und keineswegs, um in eine andere Welt zu flüchten, solche theatralischen Dinge diskutieren, welche dem Wunsch nach Zerstreuung ihre Existenz zu verdanken scheinen. Ach, es können morgen unsere Gebeine zerstreut werden! Wir beschäftigen uns aber mit dem Theater, ge­ rade weil wir ein Mittel bereiten wollen, unsere Angele­ genheiten zu betreiben, auch damit. Aber die DringlichII9

keit unserer Lage darf uns nicht das Mittel, dessen wir uns bedienen wollen, zerstören lassen. Hast hilft ja nicht, wo Eile not tut. Dem Chirurgen, dem schwere Verant­ wortung aufgebürdet ist, muß das kleine Messer doch leicht in der Hand liegen. Die Welt ist gewiß aus den Fugen, nur durch gewaltige Bewegungen kann alles ein­ gerenkt werden. Aber es kann unter manchen Instrumen­ ten, die dem dienen, ein dünnes, zerbrechliches sein, das leichte Handhabung' beansprucht. DER PHILOSOPH: Ein Theater, in dem man nicht lachen soll, ist ein Theater, über das man lachen soll. Humorlose Leute sind lächerlich. Mit der Feierlichkeit versuchen manche einer Sache eine Bedeutung zu verleihen, die sie nicht hat. Hat eine Sache Bedeutung, so entsteht die genügende Feierlichkeit, indem dieser Bedeutung Rechnung getragen wird. Auf den Photographien, welche die Bestattung Lenins durch das Volk zeigen, sieht man etwas Feierliches im Gange. Zunächst scheinen nur Menschen einem Menschen noch ein Stück zu folgen, den sie ungern hergeben wollen. Es sind aber sehr viele, und es kommt dazu, daß es „ge­ ringe“ Leute sind und daß ihr Mitgehen eine Demonstra­ tion gegen einige ist, wenige, die diesen, der da gebracht wird, lange weggewünscht haben. Eine solche Besorgung machend, muß man nicht für Feierlichkeit besorgt sein.

DEFINITION DER KUNST

DER PHILOSOPH: Wir haben genug darüber ge­ sprochen, wozu man Kunst verwenden, wie man sie ma­ chen kann und wovon Kunstmachen abhängt, und wir haben auch Kunst gemacht in diesen vier Nächten, so daß wir ein paar vorsichtige Äußerungen abstrakter Art über dieses eigentümliche Vermögen des Menschen riskieren können, hoffend, sie werden nicht selbständig und nur für sich, ganz abstrakt verwertet. Man könnte also vielleicht 120

sagen, Kunst sei die Geschicklichkeit, Nachbildungen vom Zusammenleben der Menschen zu verfertigen, welche ein gewisses Fühlen, Denken und Handeln der Menschen erzeugen können, daß der Anblick oder die Erfahrung der abgebildeten Wirklichkeit nicht in gleicher Stärke und Art erzeugen. Aus dem Anblick und der Erfahrung der Wirklichkeit hat der Künstler eine Abbildung zum Anblicken und Erfahren gemacht, welche sein Fühlen und Denken reproduziert. DER DRAMATURG: Unsere Sprache hat einen gu­ ten Ausdruck: Der Künstler produziert sich. DER PHILOSOPH: Er ist ausgezeichnet, wenn man ihn so versteht, daß im Künstler der Mensch sich produ­ ziert, daß es Kunst ist, wenn der Mensch sich produziert.

DER SCHAUSPIELER: Aber sicher ist das nicht alles, was die Kunst kann, denn das wäre nicht genug, was ist mit den Träumen der Träumer, der Schönheit mit dem Terror darinnen, dem Leben auf allen Registern? DER DRAMATURG: Ja, wir müssen auf den Genuß zu sprechen kommen. Du, der alle Philosophie darin er­ blickt, das Leben genußvoller zu machen, scheinst die Kunst so haben zu wollen, daß sie, gerade sie kein Ge­ nuß ist. Das Essen einer guten Speise setzt du so hoch; diejenigen, die dem Volk Kartoffeln vorsetzen, verurteilst du. Aber die Kunst soll nichts von einem Essen oder Trinken oder Lieben haben. DER PHILOSOPH: So ist die Kunst ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit, welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin. Die Kunst als das Reich des Schönen zu bezeichnen, heißt allzu sammelnd und rezeptiv vorgehen. Die Künst­ ler entwickeln Geschicklichkeit, das ist der Anfang. Das Schöne an den künstlichen Dingen ist, daß sie geschickt gemacht sind. Wenn man einwendet, daß bloße GeUI

Schicklichkeit keine Kunstgegenstände hervorbringen kann, so hat man mit dem Ausdruck „bloße“ eine einseitige, leere, auf einem „Gebiet“ etablierte, anderen Gebieten der Kunst fehlende Geschicklichkeit im Auge, also eine im moralischen oder wissenschaftlichen ungeschickte Ge­ schicklichkeit. Die Schönheit in der Natur ist eine Quali­ tät, welche den menschlichen Sinnen Gelegenheit gibt, geschickt zu sein. Das Auge produziert sich. Das ist kein selbständiger Vorgang, kein Vorgang, „bei dem es bleibt“. Und keiner, der in andern Vorgängen -nicht vorbereitet ist, nämlich gesellschaftlichen Vorgängen, Vorgängen an­ derweitiger Produktion. Wo bleibt die Weite des großen Gebirgs ohne die Enge des Tals, die ungestaltete Gestalt der Wildnis ohne die gestaltete Ungestalt der großen Stadt? Dem Ungesättigten sättigt das Auge sich nicht. Dem Erschöpften oder „in die Gegend Verschlagenen“ erzeugt, sofern er ihr ohne Möglichkeit des Gebrauch­ machens gegenübergeworfen ist, die „großartigste“ Ge­ gend nur einen trüben Reflex, die Unmöglichkeit dieser Möglichkeiten ist es, was da trübend wirkt. Der Ungebildete hat den Eindruck der Schönheit oft, wenn die Gegensätze sich verschärfen, wenn das blaue Wasser blauer, das gelbe Korn gelber, der Abendhim­ mel röter wird. DER PHILOSOPH: Wir können sagen, daß wir, vom Standpunkt der Kunst aus, folgenden Weg zurückgelegt haben: Wir haben jene Nachbildungen der Wirklichkeit, welche allerhand Leidenschaften und Gemütsbewegungen auslösen, ohne jede Rücksicht auf diese Leidenschaften und Gemütsbewegungen zu verbessern versucht, indem wir sie so anlegten, daß derjenige, der sie gewahrt, in­ stand gesetzt ist, die nachgebildete Wirklichkeit tätig zu beherrschen. Wir haben gefunden, daß durch die genaue­ ren Nachbildungen Leidenschaften und Gemütsbewe­ gungen ausgelöst werden, ja daß Leidenschaften und Ge­ mütsbewegungen der Beherrschbarkeit der Wirklichkeit dienen können. 122

DER DRAMATURG: Es ist eigentlich nicht mehr merkwürdig, daß die Kunst, einem neuen Geschäft zuge­ führt, nämlich der Zerstörung der Vorurteile der Men­ schen über das gesellschaftliche Zusammenleben der Men­ schen, zunächst beinahe ruiniert wurde. Wir sehen jetzt, daß dies passierte, weil sie das neue Geschäft in Angriff nahm, ohne ein Vorurteil, das sie selber betraf, aufzuge­ ben. Ihr ganzer Apparat diente dem Geschäft, die Men­ schen mit dem Schicksal abzufinden. Diesen Apparat rui­ nierte sie, als plötzlich in ihren Darbietungen als Schick­ sal des Menschen der Mensch auftrat. Kurz, sie wollte das neue Geschäft betreiben, aber die alte Kunst bleiben. So tat sie alles zögernd, halb, egoistisch, mit schlechtem Ge­ wissen, aber nichts steht der Kunst weniger an. Erst als sie sich selber aufgab, gewann sie sich selber wieder. DER SCHAUSPIELER: Ich verstehe, was als un­ künstlerisch erschien, war nur etwas, was der alten Kunst nicht gemäß war, nicht etwas, was der Kunst überhaupt nicht gemäß war. DER PHILOSOPH: Daher auch kehrten einige, als die neue Kunst so schwach, besser gesagt, geschwächt, nämlich durch die neuen Aufgaben geschwächt schien, ohne daß die neuen Aufgaben befriedigend bewältigt wurden, reumütig zurück und gaben lieber die neuen Aufgaben auf. DER SCHAUSPIELER: Diese ganze Idee von den praktikablen Definitionen hat für mich etwas Kühles und Kahles. Wir werden nichts bringen als gelöste Probleme. DER DRAMATURG: Auch ungelöste, auch unge­ löste! DER SCHAUSPIELER: Ja, damit sie auch gelöst werden! Das ist nicht mehr das Leben. Man mag es als ein Geflecht von gelösten - oder ungelösten - Problemen anschauen können, aber Probleme sind nicht das Leben. Das Leben hat auch Unproblematisches an sich, abgese­ hen von den unlösbaren Problemen, die es auch gibt! Ich will nicht nur Scharaden spielen. 123

DER DRAMATURG: Ich verstehe ihn. Er will den „tiefen Spatenstich“. Das Erwartete vermischt mit dem Unerwarteten, das Verstehbare im Unverstehbaren. Er will den Schrecken mischen mit dem Beifall, die Heiter­ keit mit dem Bedauern. Kurz: er will Kunst machen.

DER SCHAUSPIELER: Ich hasse all das Gerede von der Kunst als Dienerin der Gesellschaft. Da sitzt groß­ mächtig die Gesellschaft, die Kunst gehört gar nicht zu ihr, sie gehört ihr nur, sie ist nur ihre Kellnerin. Müssen wir unbedingt alle lauter Diener sein? Können wir nicht lauter Herren sein? Kann nicht die Kunst eine Herrin sein? Schaffen wir die Diener ab, auch die der Kunst! DER PHILOSOPH: Bravo! DER DRAMATURG: Was soll dieses Bravo? Du ruinierst alles, was du gesagt hast mit diesem unbeherrsch­ ten Beifallsgeschrei. Irgend jemand braucht nur sich vor dir unterdrückt melden und sogleich bist du auf seiner Seite. DER PHILOSOPH: Hoffentlich bin ich das. Ich ver­ stehe ihn jetzt. Er hat Sorge, wir könnten ihn in einen Staatsbeamten verwandeln, in einen Zeremonienmeister oder Sittenprediger, der „mit den Mitteln der Kunst“ arbeitet. Beruhige dich, das ist nicht die Absicht. Die Schauspielkunst kann nur als eine elementare menschliche Äußerung betrachtet werden, die ihren Zweck in sich hat. Sie ist da anders als die Kriegskunst, die ihren Zweck nicht in sich hat. Die Schauspielkunst gehört zu den ele­ mentaren gesellschaftlichen Kräften, sie beruht auf einem unmittelbaren gesellschaftlichen Vermögen, einer Lust der Menschen in Gesellschaft, sie ist wie die Sprache sel­ ber, sie ist eine Sprache für sich. Ich schlage vor, daß wir uns erheben, um dieser Anerkennung etwas Dauer in unserm Gedächtnis zu verleihen. Alle erheben sich. DER PHILOSOPH: Und nun schlage ich vor, daß wir die Gelegenheit, daß wir uns erhoben haben, noch dazu ausnützen, zu gehen und unser Wasser abzuschlagen. 124

DER SCHAUSPIELER: Oh, damit ruinierst du alles. Ich protestiere. DER PHILOSOPH: Wieso? Auch hier folge ich einem Trieb, beuge mich ihm, ehre ihn. Und zugleich sorge ich dafür, daß die Feierlichkeit einen würdigen Abschluß findet im Banalen. Es tritt eine Pause eu£.

DAS AUDITORIUM DER STAATSMÄNNER

DER PHILOSOPH: Unser Thaeter wird sich vom Theater, diesem allgemeinen, alterprobten, berühmten und unentbehrlichen Institut außerordentlich unterschei­ den, wie wir gesehen haben. Ein wichtiger Unterschied, einer, der euch beruhigen dürfte, wird der sein, daß es nicht für ewige Zeiten eröffnet werden soll. Nur der Not des Tages, gerade unseres Tages, eines düsteren zweifel­ los, soll es dienen. DER PHILOSOPH: Es kann nicht länger verheim­ licht werden, unmöglich es euch noch zu verschweigen: Ich habe keine Mittel, kein Haus, kein Theater, nicht ein Kostüm, nicht ein Schminktöpfchen. Hinter mir stehen der Garniemand und der Gehherda. Für eure An­ strengungen, die größer sein müßten als alle eure bisheri­ gen, könnte kein Geld bezahlt werden; aber auch des Ruhmes willen können wir euch nicht bitten. Denn auch Ruhm können wir nicht verleihen. Da sind keine Zei­ tungen, die uns unsere Helfer berühmt machten. Pause. DER SCHAUSPIELER: So bliebe es also bei der For­ derung: die Arbeit tun um der Arbeit willen. DER ARBEITER: Das ist eine sehr schlechte Forde­ rung. Das würde ich von niemandem verlangen, denn das höre ich auch immer. „Freut dich denn nicht die Ar­ beit selber?“ fragen sie enttäuscht, wenn ich meinen Lohn 125

verlange. „Tust du denn nicht die Arbeit um der Arbeit willen?“ Nein, wir würden auf jeden Fall bezahlen. Wenig, da wir wenig haben, aber nicht nichts, da Arbeit bezahlt werden muß. DER DRAMATURG: Ich glaube, ihr bekämet eher Künstler, wenn ihr gar nichts gebt, als wenn ihr Pfennige anbietet. Das, wenn sie umsonst spielen, macht sie wenig­ stens zu Gebern. DER SCHAUSPIELER: Also, ihr würdet immerhin Pfennige bezahlen? Nun, ich würde sie dann nehmen. Auf jeden Fall. Es ordnet unsere Beziehung und macht sie zu einer gewöhnlichen, einer Donnerstagvormittagsbe­ ziehung. Und einem geschenkten Gaul würdet ihr wo­ möglich nicht ins Maul schauen, und schließlich soll es ja gerade eine Kunst sein, der man ins Maul soll schauen können. Ich habe das verstanden: Diesem Gaul muß dar­ an liegen, daß ihm ins Maul geschaut wird. Die finan­ zielle Seite ist damit durchgesprochen, im Prinzip. DER DRAMATURG: Der Leichtsinn der Künstler scheint euch da zugute zu kommen. Er vergißt ganz, daß er auch noch darauf verzichten muß, sich allabendlich in einen König zu verwandeln. DER SCHAUSPIELER: Dafür scheine ich in diesem neuen Theater meine Zuschauer in Könige verwandeln zu dürfen. Und nicht in scheinbare, sondern in wirkliche. In Staatsmänner, Denker und Ingenieure. Was für ein Pu­ blikum werde ich haben! Vor ihre Richterstühle werde ich, was auf der Welt vorgeht, bringen. Und was für ein erlauchter, nützlicher und gefeierter Platz wird mein Theater sein, wenn es dieser vielen arbeitenden Menschen Laboratorium sein wird! Auch ich werde nach dem Satz der Klassiker handeln: Ändert die Welt, sie braucht es! DER ARBEITER: Es klingt ein wenig großspurig. Aber warum sollte es nicht so klingen dürfen, da ja eine große Sache dahintersteht?

GEDICHTE AUS ¡DEM MESSINGKAUF (WÜNSCHE DES STÜCKESCHREIBERS)

[DIE MAGIER]

Aber sind die Magier nicht groß, ziehen sie nicht alle in ihren Bann? Sie erlauben keinem, anders zu fühlen, als sie fühlen, sie stecken alle an mit ihren Gedanken. Ist das nicht eine große Kunst? Das Hypnotisieren ist gewiß ge­ schickt gemacht, vielleicht kunstvoll, und vielleicht ist noch Kunst dabei, wenn die Magier in Trance sind, aber das Erlebnis, das sie verschaffen, ist minderwertig, schwächt und erniedrigt.

Seht, mit wundervoller Bewegung Zieht der Magier ein Kaninchen aus einem Hut Aber auch der Kaninchenzüchter Könnte wundervolle Bewegungen haben. Geht mit einem Stöckchen auf die Bühne und schlagt sie an die Wadenmuskeln, während sie zaubern, und ihre Kraft wird verschwinden. Denn ihre Muskeln sind angespannt bis zum Krampf, so schwer ist es, uns das Unglaubliche glauben zu machen, die Dummheit als Klug­ heit zu verkaufen, die Niedrigkeit als Erhabenheit, die Schönfärberei als Schönheit.

[DAS UNFERTIGE]

Viele gehen davon aus, daß der Mensch eine fertige Sache ist, so und so aussehend in diesem Licht, so und so in jenem, dies und das sagend in dieser Lage, dies und das in jener, und so versuchen sie von Anfang an diese Figur zu erfassen und ganz zu werden. Es ist aber bes9 über Theater

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ser, den Menschen als eine unfertige Sache zu betrachten und ihn langsam entstehen zu lassen, von Aussage zu Aussage und von Handlung zu Handlung. Freilich mögt ihr euch beim Rollenstudium fragen, was für ein Mensch grade dies sagt und jenes dazu, aber ihr müßt auch wis­ sen und darauf bauen, daß der besondere Mensch ent­ standen und sichtbar geworden sein wird, wenn alle seine Aussagen und Handlungen, folgerichtig verbunden, in ausdrucksvoller und glaubwürdiger Weise dargestellt sind. Indem er ja sagt, indem er nein sagt Indem er schlägt, indem er geschlagen wird Indem er sich hier gesellt, indem er sich dort gesellt So bildet sich der Mensch, indem er sich ändert Und so entsteht sein Bild in uns Indem er uns gleicht und indem er uns nicht gleicht.

So sollen wir nicht einen darstellen, fragt ihr, der sich gleichbleibt, indem er in den verschiedenen Situationen verschieden auftritt? Aber soll es denn nicht ein Bestimm­ ter sein, der sich ändert, in einer bestimmten Weise, an­ ders als ein anderer sich ändert? Die Antwort ist: es wird ein Bestimmter sein, wenn ihr nur alles der Reihe nach gut ausführt und euch auch an Menschen erinnert, die ihr beobachtet habt. Es ist so viel möglich, ein Be­ stimmter ändert sich in einer bestimmten Weise und bleibt der Bestimmte lange Zeit, und eines Tages ist er ein an­ derer Bestimmter, das kann vorkommen. Ihr sollt nur nicht einem Gesicht nach jagen, einem, das alles von An­ fang an in sich hat und nur seine Karten ausspielt, je nach Gelegenheit. Erledigt nur alles der Reihe nach, stu­ diert alles, wundert euch über alles, macht alles leicht und wahrscheinlich, und es wird schon ein Mensch, ihr seid ja selber Menschen.

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LEICHTIGKEIT

Wenn ihr fertig seid mit eurer Arbeit, soll sie leicht aussehen. Die Leichtigkeit soll an die Mühe erinnern; sie ist die überwundene Mühe oder die siegreiche Mühe. Nun, gleich zu Beginn eurer Arbeit müßt ihr jene Hal­ tung einnehmen, welche auf die Erzielung der Leichtig­ keit losgeht. Ihr müßt nicht die Schwierigkeiten auslassen, sondern ihr müßt sie sammeln und sie euch durch eure Arbeit leicht machen. Denn nur jene Leichtigkeit hat Wert, welche eine siegreiche Mühe ist.

Seht doch die Leichtigkeit Mit der der gewaltige Fluß die Dämme zerreißt! Das Erdbeben Schüttelt mit lässiger Hand den Boden. Das entsetzliche Feuer Greift mit Anmut nach der vielhäusrigen Stadt Und verzehrt sie behaglich: Eine geübte Esserin.

Es gibt eine Haltung des Beginnens, welche für die Erzielung der Leichtigkeit günstig ist. Sie kann erlernt werden. Ihr wißt, die Meisterschaft besteht darin, daß man gelernt hat, zu lernen. Wenn man alle Kräfte auf­ bieten will, muß man sie schonen. Man darf nichts tun, was man nicht kann, noch nicht, was man noch nicht kann. Man muß seine Aufgabe so zerteilen, daß man die Teile leicht bewältigt, denn der Überanstrengte erwirbt keine Leichtigkeit. O Lust des Beginnens! O früher Morgen! Erstes Gras, wenn vergessen scheint Was grün ist! O erste Seite des Buchs Des erwarteten, sehr überraschende! Lies Langsam, allzuschnell Wird der ungelesene Teil dir dünn! Und der erste Wasserguß 131

In das verschweißte Gesicht! Das frische Kühle Hemd! O Beginn der Liebe! Blick, der wegirrt! O Beginn der Arbeit! Öl zu füllen In die kalte Maschine! Erster Handgriff und erstes Summen Des anspringenden Motors! Und erster Zug Rauchs, der die Lunge füllt! Und du Neuer Gedanke! [ÜBER DIE NACHAHMUNG]

Der nur Nachahmende, der nichts zu sagen hat Zu dem, was er da nachahmt, gleicht Einem armen Schimpansen, der das Rauchen seines Bändigers nachahmt Und dabei nicht raucht. Niemals nämlich Wird die gedankenlose Nachahmung Eine wirkliche Nachahmung sein.

ÜBER ALLTÄGLICHES THEATER

Ihr Künstler, die ihr Theater macht In großen Häusern, unter künstlichen Lichtsonnen Vor der schweigenden Menge, sucht zuweilen Jenes Theater auf, das auf der Straße sich abspielt. Das alltägliche, tausendfache und rühmlose Aber so sehr lebendige, irdische, aus dem Zusammenleben Der Menschen gespeiste Theater, das auf der Straße sich abspielt. Hier macht die Nachbarin den Hauswirt nach, deutlich zeigt sie Seine Redeflut vorführend Wie er versucht, das Gespräch abzubiegen Von der Wasserleitung, die geborsten ist. In den Anlagen Zeigen die Burschen den kichernden Mädchen Abends, wie sie sich wehren und dabei 132

Geschickt die Brüste zeigen. Und jener Betrunkene Zeigt den Pfarrer bei seiner Predigt, die Unbemittelten Auf die reichen Auen des Paradieses verweisend. Wie nützlich Ist doch solches Theater, ernsthaft und lustig Und wie würdig! Nicht wie Papagei und Affe Ahmen diese nur nach der Nachahmung willen, gleichgültig Was sie da nachahmen, nur um zu zeigen, daß sie Gut nachahmen können, sondern sie Haben Zwecke im Auge. Mögt ihr Großen Künstler, meisterhaften Nachahmer, darin Nicht unter ihnen bleiben! Entfernt euch Wie immer ihr eure Kunst vervollkommt, nicht allzuweit Von jenem alltäglichen Theater, das Auf der Straße sich abspielt. Seht dort den Mann an der Straßenecke! Er zeigt, wie Der Unfall vor sich ging. Gerade Überliefert er den Fahrer dem Urteil der Menge. Wie der Hinter der Steuerung saß, und jetzt Ahmt er den Überfahrenen nach, anscheinend Einen alten Mann. Von beiden gibt er Nur so viel, daß der Unfall verständlich wird, und doch Genug, daß sie vor euren Augen erscheinen. Beide Zeigt er aber nicht so, daß sie einem Unfall nicht zu entgehen vermöchten. Der Unfall Wird so verständlich und doch unverständlich, denn beide Konnten sich auch ganz anders bewegen, jetzt zeigt er, wie nämlich Sie sich hätten bewegen können, damit der Unfall Nicht erfolgt wäre. Da ist kein Aberglauben An diesem Augenzeugen, er gibt Nicht den Gestirnen die Sterblichen preis, sondern Nur ihren Fehlern.

Beachtet auch Seinen Ernst und die Sorgfalt seiner Nachahmung. Dieser Weiß, daß von seiner Genauigkeit vieles abhängt, ob der Unschuldige Dem Verderben entrinnt, ob der Geschädigte Entschädigt wird.. Seht ihn Jetzt wiederholen, was er schon einmal gemacht hat. Zögernd Seine Erinnerung zu Hilfe rufend, unsicher Ob er auch gut nachahmt, einhaltend Und einen andern auffordernd, er möge Dies oder jenes berichtigen. Dies Betrachtet mit Ehrfurcht! Und mit Staunen Mögt ihr eines betrachten: daß dieser Nachahmende Nie sich in einer Nachahmung verliert. Er verwandelt sich Nie zur Gänze in den, den er nachahmt. Immer Bleibt er der Zeigende, selbst nicht Verwickelte. Jener Hat ihn nicht eingeweiht, er Teilt nicht seine Gefühle Noch seine Anschauungen. Er weiß von ihm Nur wenig. In seiner Nachahmung Entsteht kein Drittes, aus ihm und dem andern Etwas aus beiden Bestehendes, in dem Ein Herz schlüge und Ein Gehirn dächte. Seine Sinne beisammen Steht der Zeigende und zeigt Den fremden Nachbarn. Die geheimnisvolle Verwandlung Die auf euren Theatern angeblich vor sich geht Zwischen Ankleideraum und Bühne: ein Schauspieler Verläßt den Ankleideraum, ein König Betritt die Bühne, jener Zauber Über den ich die Bühnenarbeiter, Bierflaschen in Händen So oft habe lachen sehen, passiert hier nicht. B4

Unser Zeigender an der Straßenecke Ist kein Schlafwandler, den man nicht anrufen darf. Er ist Kein Hoher Priester beim Gottesdienst. Jederzeit Könnt ihr ihn unterbrechen: er antwortet euch Ganz ruhig und setzt Wenn ihr mit ihm gesprochen habt, seine Vorführung fort. Ihr aber sagt nicht: der Mann Ist kein Künstler. Eine solche Scheidewand aufrichtend Zwischen euch und aller Welt, werft ihr euch Nur aus der Welt. Hießet ihr ihn Gar keinen Künstler, so könnte er euch Gar keinen Menschen heißen, und das Wäre ein größerer Vorwurf. Sagt lieber: Er ist ein Künstler, weil er ein Mensch ist. Wir Mögen, was er macht, vollendeter machen und Darum geehrt werden, doch, was wir machen Ist etwas Allgemeines und Menschliches, stündlich Im Gewimmel der Straße Geübtes, beinahe So Beliebtes wie Essen und Atmen dem Menschen.

Euer Theatermachen Führt so zurück auf Praktisches. Unsere Masken, sagt Sind nichts Besonderes, soweit sie nur Masken sind: Dort, der Shawlverkäufer Setzt sich den steifen, runden Hut des Herzenbezwingers auf Hakt einen Stock ein, ja klebt sich ein Bärtchen Unter die Nase und geht hinter seinem Stand Ein paar wiegende Schritte, so Die vorteilhafte Veränderung weisend, die Durch Shawls, Schnurrbärte und Hüte Männer bewirken können. Und unsere Verse, sagt Habt ihr doch auch: die Zeitungsverkäufer Rufen die Meldungen in Rhythmen aus, so Die Wirkung steigernd und die oftmalige Wiederholung Sich erleichternd! Wir Sprechen fremden Text, aber die Liebenden 135

Und die Verkäufer lernen auch fremde Texte, und wie oft Zitiert ihr Aussprüche! So wird Maske, Vers und Zitat gewöhnlich, ungewöhnlich aber Groß gesehene Maske, schön gesprochener Vers Und kluges Zitieren. Aber damit wir uns verstehen: selbst wenn ihr verbessertet Was der Mann an der Straßenecke macht, machtet ihr weniger Als er, wenn ihr Euer Theater weniger sinnvoll machtet, aus geringerem Anlaß Weniger eingreifend in das Leben der Zuschauer und Weniger nützlich.

REDE AN j DÄNISCHE ARBEITERSCHAUSPIELER ÜBER DIE KUNST DER BEOBACHTUNG

Hergekommen seid ihr, um Theater zu spielen, aber jetzt Sollt ihr gefragt werden: was soll das? Ihr seid gekommen, euch zu zeigen vor den Leuten Was ihr alles könnt, also ausgestellt zu werden Als Sehenswerte . . . Und die Leute, so hofft ihr Werden euch Beifall klatschen, fortgerissen von euch Aus ihrer engen Welt in eure Weite, ebenfalls durchkostend Den Schwindel auf dem hohen Grat, die Leidenschaften in ihrer Größten Stärke. Und jetzt werdet ihr gefragt: was soll das?

Hierorts nämlich, auf den niederen Bänken Eurer Zuschauer ist ein Streit ausgebrochen: beharrlich 136

Fordern einige, ihr solltet Keinesfalls nur euch zeigen, sondern Die Welt. Was nützt das, sagen sie . Wenn wir immer aufs neue zu sehen bekommen, wie der dort Traurig sein kann und die dort herzlos oder was für einen Bösen König der da hinten abgäbe, was soll dieses Immerwährende Ausstellen von Grimassen und Agieren Einiger Leute, die im Griff ihres Schicksals sind?

Lauter Opfer spielt ihr uns vor und tut, als wäret¿hr Hilflose Opfer fremdartiger Mächte und eigener Triebe. Die Freuden werden ihnen, als wären sie Hunde, von unsichtbaren Händen plötzlich zugeworfen wie Brocken, und ebenso Plötzlich legen sich Schlingen um ihre Hälse, die Sorgen, die Von oben kommen. Wir aber, die Zuschauer Auf den niederen Bänken, sitzen verglasten Auges und glotzen Nunmehr in eurem Griff, auf eure Grimassen und Zuckungen Etwas nachempfindend geschenkte Freude und Unhemmbare Sorge. Nein, sagen wir Unzufriedenen auf den niederen Bänken Genug! Das genügt nicht! Habt ihr denn Nicht gehört, daß es ruchbar geworden ist Wie dieses Netz von Menschen gestrickt und geworfen ist? Überall schon von den hundertstöckigen Städten Über die Meere, durchfurcht von menschenreichen Schiffen In die entfernten Dörfer wurde gemeldet Daß des Menschen Schicksal der Mensch ist! Darum B7

Fordern wir nun von euch, den Schauspielern Unserer Zeit, Zeit des Umbruchs und der großen Meisterung Aller Natur, auch der menschlichen, euch Endlich umzustellen und uns die Menschenwelt So zu zeigen, wie sie ist: von den Menschen gemacht und veränderbar.

So ungefährt kommt’s von den Bänken. Freilich nicht alle dort Stimmen da zu. Mit hängenden Schultern Hocken die meisten und Stirnen, durchfurcht wie Immer wieder vergeblich gepflügte Steinäcker. Erschöpft Von den unablässigen Kämpfen des Alltags erwarten sie Gierig gerade, was jene andern verabscheun: etwas Knetung Ihrer erschlafften Gemüter. Etwas Spannung Abgespannter Nerven. Billiges Abenteuer, den Griff magischer Hände Der sie entführt aus der 'aufgegebenen Nicht meisterbaren Welt. Wem also von euren Zuschauern Sollt ihr folgen, Schauspieler? Ich schlage euch vor: Den Unzufriedenen. Wie aber Nun dies anstellen? Wie Dieses Zusammenleben der Menschen abbilden, so Daß es verstanden werden kann und beherrschbar wird? Wie Nicht nur sich selbst zeigen und andre nicht nur Wie sie sich aufführen, wenn sie Ins Netz gefallen sind? Wie Zeigen jetzt, wie das Netz des Schicksals gestrickt und geworfen wird? Und von Menschen gestrickt und geworfen? Das erste Was ihr zu lernen habt, ist die Kunst der Beobachtung. Du, der Schauspieler 138

Mußt vor allen anderen Künsten Die Kunst der Beobachtung beherrschen. Nicht wie du aussiehst nämlich ist wichtig, sondern Was du gesehen hast und zeigst. Wissenswert Ist, was du weißt. Man wird dich beobachten, um zu sehen Wie gut du beobachtet hast.

Aber Menschenkenntnis erwirbt nicht Wer nur sich selbst beobachtet. Allzuviel Verbirgt er selbst vor sich selbst. Und keiner ist Klüger als er selbst. Also muß eure Schulung beginnen unter den Lebendigen Menschen. Eure erste Schule Sei euer Arbeitsplatz, eure Wohnung, euer Stadtviertel. Sei Straße, Untergrundbahn und Laden. Alle Menschen dort Sollt ihr beobachten. Fremde, als seien es Bekannte, aber Bekannte, als seien sie euch fremd. Da ist der Mann, der die Steuer zahlt, und der gleicht nicht Jedem Mann, der die Steuer zahlt, auch wenn Jeder sie ungern zahlt. Ja, nicht einmal Sich selbst gleicht er immer bei diesem Geschäft. Und der Mann, der sie eintreibt: Ist er wirklich ganz anders als der, der die Steuer zahlt? Nicht nur zahlt er auch selbst die Steuer, so manches Hat er mit jenem gemeinsam, den er bedrängt. Und die Frau dort Sprach nicht immer so hart, nicht zu jedem k Spricht sie so hart, noch ist jene dort Lieblich zu jedem. Und der herrische Gast Ist er herrisch nur, ist er nicht auch voll Furcht? Aber das mutlose Weib, das dem Kind keine Schuhe hat?

Wurden nicht Reiche erobert nur mit dem Rest ihres Mutes? Seht, sie ist wieder schwanger! Und habt ihr des kranken Mannes Blick gesehen, als er erfuhr, daß er nicht mehr gesund wird? Daß er aber gesund würd, wenn er nicht Arbeiten müßte? Nun blättert er, seht doch Diesen Rest seiner Zeit in dem Buch, wo zu lesen ist Wie aus der Welt ein bewohnbarer Stern zu machen wär. Und auch die Bilder vergeßt nicht auf Leinwand und Zeitungsblatt! Sehet sie reden und gehen, die Herrschenden Die eures Schicksals Fäden halten in weißen und grausamen Händen. Solche sollt ihr genau ansehn. Und jetzt Stellt euch vor, was um euch herum vorgeht, all diese Kämpfe So im Bilde ganz wie historische Vorgänge Denn so sollt ihr sie darstellen dann auf der Bühne: Kampf um den Arbeitsplatz, süße und bittre Gespräche Zwischen dem Mann und der Frau, Diskussion über Bücher Verzicht und Auflehnung, Versuch und Mißgeschick Werdet ihr darstellen dann als historische Vorgänge. (Selbst was hier geschieht, eben jetzt, bei uns, könnt ihr So als Bild betrachten: Wie euch der landflüchtige Stückschreiber unterweist in der Kunst der Beobachtung.) Um zu beobachten Muß man vergleichen lernen. Um zu vergleichen Muß man schon beobachtet haben. Durch Beobachtung Wird ein Wissen erzeugt, doch ist Wissen nötig Zur Beobachtung. Und: Schlecht beobachtet der, der mit dem Beobachteten Nichts zu beginnen weiß. Schärferen Auges überblickt Der Obstzüchter den Apfelbaum als der Spaziergänger. 140

Keiner aber sieht den Menschen genau, der nicht weiß, daß der Mensch das Schicksal des Menschen ist.

Die Kunst der Beobachtung Angewandt auf die Menschen, ist nur ein Zweig der Kunst der Menschenbehandlung. Eure Aufgabe, Schauspieler, ist es Forscher zu sein und Lehrer in der Kunst der Behandlung der Menschen. Kennend ihre Natur und sie zeigend, lehrt ihr sie Sich zu behandeln. Ihr lehrt sie die große Kunst Des Zusammenlebens. Wie aber, höre ich euch fragen, sollen wir Getretenen und Gehetzten, Absgenutzten und Abhängigen In Unwissenheit Gehaltenen, unsicher Lebenden Jene große Haltung einnehmen der Forscher und Pioniere Die ein fremdes Land auskunden, es auszubeuten und es sich Zu unterwerfen? Waren wir doch immer nur Gegenstand des Handelns anderer, Glücklicherer. Wie Sollen wir, immer nur die Obsttragenden Bäume, nun selbst die Gärtner werden? Das eben Scheint mir die Kunst, die ihr lernen müßt, die ihr Schauspieler Und Arbeiter zugleich seid.

Nicht unmöglich kann sein Zu lernen, was Nutzen bringt. Gerade ihr, in eurer täglichen Beschäftigung Bildet Beobachtung aus. Die Schwächen und Fähigkeiten des Vorarbeiters zu erkennen, eurer Kollegen Gewohnheiten und Denkungsart 141

Genau zu bedenken, ist euch nützlich. Wie Euren Klassenkampf kämpfen ohne Menschenkenntnis? Ich sehe euch Alle, die Besten von euch, schon gierig nach Kenntnissen greifen Jenem Wissen, das die Beobachtung schärft, welche wieder zu Neuem Wissen führt. Und schon studieren Viele von euch die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens, schon Schickt eure Klasse sich an, ihre Schwierigkeiten zu meistern und damit Die Schwierigkeiten der Gesamten Menschheit. Und da könnt ihr Schauspieler der Arbeiter, lernend und lehrend Mit eurer Gestaltung eingreifen in alle Kämpfe Von Menschen eurer Zeit und so Mit dem Ernst des Studiums und der Heiterkeit des Wissens Helfen, die Erfahrung des Kampfs zum Gemeingut zu machen und Die Gerechtigkeit zur Leidenschaft.

SUCHE NACH DEM NEUEN UND ALTEN

Wenn ihr eure Rollen lest Forschend, bereit zu staunen Sucht nach dem Neuen und Alten, denn unsere Zeit Und die Zeit unserer Kinder ist die Zeit der Kämpfe Des Neuen mit dem Alten. Die List der alten Arbeiterin Die dem Lehrer sein Wissen abnimmt Wie eine zu schwere Hucke, ist neu Und muß wie Neues gezeigt werden. Und alt Ist die Angst der Arbeiter im Krieg Die Flugblätter mit dem Wissen zu nehmen; es muß Als Altes gezeigt werden. Aber

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Wie das Volk sagt: zur Zeit des Mondwechsels Hält der junge Mond den alten Eine Nacht lang im Arme. Das Zögern der Fürchtenden Zeigt die neue Zeit an. Immer Setzt das Noch und das Schon. Die Kämpfe der Klassen Die Kämpfe zwischen alt und neu Rasen auch im Innern des einzelnen. Die Bereitschaft des Lehrers zu lehren: Die der Bruder nicht sieht, die Fremde Sieht sie. Alle Regungen und Handlungen eurer Figuren durchsucht Nach Neuem und Altem! Die Hoffnungen der Händlerin Courage Sind den Kindern tödlich; aber die Verzweiflung Der Stummen über den Krieg Gehört zum Neuen. Ihre hilflosen Bewegungen Wenn sie die rettende Trommel aufs Dach schleppt Die große Helferin, sollen euch Mit Stolz erfüllen, die Tüchtigkeit Der Händlerin, die nichts lernt, mit Mitleid. Lesend eure Rollen Forschend, bereit zu staunen Erfreut euch des Neuen, schämt euch des Alten!

DIE VORHÄNGE

Auf den Großen Vorhang malt die streitbare Friedenstaube meines Bruders Picasso. Dahinter Spannt die Drahtschnur und hängt Mir die leicht flatternde Gardine auf Die, zwei Gischtwellen, übereinanderfallend Die Flugblätter verteilende Arbeiterin Und den abschwörenden Galilei verschwinden machen. Je nach den wechselnden Stücken kann sie M3

Aus grobem Leinen sein oder aus Seide Oder aus weißem Leder oder aus rotem, was weiß ich. Nur zu dunkel macht sie mir nicht, denn auf sie Sollt ihr die Titel der folgenden Vorgänge werfen, der Spannung wegen und daß Das Richtige erwartet wird. Und macht mir Meine Gardine halbhoch, sperrt mir die Bühne nicht ab! Zurückgelehnt werde der Zuschauer Der geschäftigen Vorkehrungen gewahr, die für ihn Listig getroffen werden, einen zinnernen Mond Sieht er herunterschweben, ein Schindeldach Wird da hereingetragen, zeigt ihm zuviel nicht Aber zeigt etwas! Und laßt ihn gewahren Daß ihr nicht zaubert, sondern Arbeitet, Freunde.

DIE BELEUCHTUNG

Gib uns doch Licht auf die Bühne, Beleuchter! Wie können wir Stückeschreiber und Schauspieler bei Halbdunkel Unsre Abbilder der Welt vorführen? Die schummrige Dämmerung Schläfert ein. Wir aber brauchen der Zuschauer Wachheit, ja Wachsamkeit. Laß sie In der Helle träumen! Das bißchen Nacht Ab und zu gewünscht, kann mit Monden oder Lampen Angedeutet werden, auch unser Spiel Kann die Tageszeiten erkennbar machen Dann, wenn es nötig ist. Über die abendliche Heide Schrieb uns der Elisabethaner Verse Die kein Beleuchter erreicht, noch Die Heide selber! Also beleuchte Was wir erarbeitet, daß die Zuschauer Sehen können, wie beleidigte Bäurin Sich auf den tavastländischen Boden setzt Als wär’s der ihrige! M4

DIE GESÄNGE

Trennt die Gesänge vom übrigen! Durch ein Emblem der Musik, durch Wechsel der Beleuchtung Durch Titel, durch Bilder zeigt an Daß die Schwesterkunst nun Die Bühne betritt. Die Schauspieler Verwandeln sich in Sänger. In anderer Haltung Wenden sie sich an das Publikum, immer noch Die Figuren des Stücks, aber nun auch offen Die Mitwisser des Stückeschreibers. Nana Callas, die rundköpfige Pächterstochter Auf den Markt gebracht wie eine Henne Singt das Lied vom bloßen Wechsel der Herren, unverständlich ohne Hüftedrehen Maßnahmen des Gewerbes, das Ihre Scham zur Narbe gemacht hat. Und unverständlich Das Lied der Marketenderin von der Großen Kapitulation, ohne Daß der Zorn des Stückeschreibers Zum Zorn der Marketenderin geschlagen wird. Aber der trockene Iwan Wessowtschikow, der bolschewistische Arbeiter, singt Mit der metallenen Stimme der unschlagbaren Klasse Und die freundliche Wlassowa, die Mutter Berichtet im Lied mit der eigenen, der behutsamen Stimme Daß die Fahne der Vernunft rot ist.

DIE REQUISITEN DER WEIGEL

Wie der Hirsepflanzer für sein Versuchsfeld Die schwersten Körner auswählt und fürs Gedicht Der Dichter die treffenden Wörter, so Sucht sie die Dinge aus, die ihre Gestalten Über die Bühne begleiten. Den Zinnlöffel 10 Über Theater

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Den die Courage ins Knopfloch Der mongolischen Jacke steckt, das Parteibuch Der freundlichen Wlassowa und das Fischnetz Der anderen, der spanischen Mutter oder das Erzbecken Der staubsammelnden Antigone. Unverwechselbar Die schon rissige Handtasche der Arbeiterin Für die Flugblätter des Sohns und die Geldtasche Der hitzigen Marketenderin! Jedwedes Stück Ihrer Waren ist ausgesucht, Schnalle und Riemen Zinnbüchse und Kugelsack, und ausgesucht ist Der Kapaun und der Stecken, den am Ende Die Greisin in den Zugstrick zwirlt Das Brett der Baskin, auf dem sie das Brot bäckt Und der Griechin Schandbrett, das auf dem Rücken getragene Mit den Löchern, in .denen die Hände stecken, der Schmalztopf Der Russin, winzig in der Polizistenhand, alles Ausgesucht nach Alter, Zweck und Schönheit Mit den Augen der Wissenden Und den Händen der brotbackenden, netzestrickenden Suppenkochenden Kennerin Der Wirklichkeit.

DARSTELLUNG VON VERGANGENHEIT ÜND GEGENWART IN EINEM

Das, was ihr darstellt, pflegt ihr so darzustellen Als geschehe es jetzt. Entrückt Sitzt die schweigende Menge im Dunkeln, entführt Ihrem Alltag: Jetzt Bringt man der Fischersfrau den Sohn, den Die Generäle getötet haben. Selbst was vordem geschah In dieser Stube, ist ausgelöscht. Was hier geschieht, geschieht Jetzt und nur einmal. So zu spielen Seid ihr gewohnt, und nun rate ich euch

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Zu dieser Gewohnheit noch eine andere zu fügen. In eurem Spiel Gleichzeitig auszudrücken, daß dieser Augenblick Auf eurer Bühne oft wiederholt wird, gestern erst Spieltet ihr ihn, und auch morgen soll Sind da nur Zuschauer, wieder die Vorstellung sein. Auch sollt ihr über dem Jetzt das Vorher und Nachher Nicht vergessen machen, nicht einmal alles, was Außerhalb des Theaters geschieht eben jetzt und von ähnlicher Art ist Nicht einmal, was gar nichts zu tun damit, sollt ihr Ganz vergessen machen. So nur hervorheben Sollt ihr den Augenblick und nicht verbergen dabei Das, aus was ihr ihn da hervorhebt. Eurem Spiel verleiht Jenes Hintereinanderweg, jenes Gehabe des Auf arbeitens des Vorgenommenen. So Zeigt ihr den Fluß des Geschehens zugleich mit dem Ablauf Eurer Arbeit und gestattet dem Zuschauer Dieses jetzt vielfältig zu erleben, aus dem Vorher kommend und ins Nachher gehend und manches andere Jetzt Neben sich habend. Er sitzt nicht nur In eurem Theater, sondern auch In der Welt.

ÜBER DAS URTEILEN

Ihr Künstler, die ihr zu Lust und zu Kummer Euch dem Urteil der Zuschauer ausliefert, laßt euch bewegen nun Auszuliefern von nun an dem Urteil der Zuschauer auch Die Welt, die ihr darstellt. Darstellen sollt ihr, was ist; aber auch Was sein könnte und nicht ist und günstig wär, sollt ihr andeuten 147

Wenn ihr darstellt, was ist. Denn aus eurer Nachbildung Lerne der Zuschauer das, was da nachgebildet, behandeln. Dieses Lernen sei lustvoll. Als eine Kunst Werde das Lernen gelehrt, und auch das Behandeln der Dinge und Menschen Lehret als Kunst, und Kunst auszuüben ist lustvoll. Freilich, ihr lebt in finsterer Zeit. Den Menschen Seht ihr als Spielball übler Gewalten Hin- und hergeworfen. Ohne Besorgnis Lebt nur der Törichte. Schon ist gezeichnet zum Untergang Wer ohne Argwohn ist. Was waren Erdbeben Der grauen Vorzeit gegen die Heimsuchungen Der Städte, die wir erfahren? Was die Mißernten Gegen den Mangel, der uns verheert inmitten der Fülle?

ÜBER DIE KRITISCHE HALTUNG

Die kritische Haltung Gilt vielen als nicht fruchtbar. Das kommt, weil sie im Staat Mit ihrer Kritik nichts erreichen können. Aber was da eine unfruchtbare Haltung ist Ist nur eine schwache Haltung. Durch bewaffnete Kritik Können Staaten zerschmettert werden.

Die Regulierung eines Flusses Die Veredelung eines Obstbaumes Die Erziehung eines Menschen Der Umbau eines Staates Das sind Beispiele fruchtbarer Kritik. Und es sind auch Beispiele von Kunst. 148

THEATER DER GEMÜTSBEWEGUNGEN

Unter uns, es erscheint mir ein verächtliches Gewerbe Durch Theaterspielen lediglich Die trägen Gemüter zu bewegen. Wie Masseure Kommt ihr mir da vor, die in die allzu fetten Weichen wie in Teig greifen, so den Faulen Den Schmer abknetend. Flüchtig zusammengestellte Situationen sollen den Zahlenden zu Zorn angeilen Oder zu Schmerz. Der Zuschauer Wird so zum Voyeur. Der Übersättigte Sitzt neben dem Hungrigen. Die Gefühle, die erzeugt werden, sind dumpf und unrein Allgemein und verschwimmend, nicht weniger falsch Als Gedanken sein können. Stumpfe Schläge auf das Rückgrat Und der Unrat der Seele steigt an die Oberfläche. Mit glasigen Augen Schweißiger Stirn und gespannter Wade Folgen die vergifteten Zuschauer Euren Exhibitionen.

Kein Wunder, daß sie die Billette Paarweise kaufen, und kein Wunder Daß sie gern im Dunkeln sitzen, das sie verbirgt.

DAS THEATER, STÄTTE DER TRÄUME

Vielen gilt das Theater als Stätte der Erzeugung von Träumen. Ihr Schauspieler geltet als Verkäufer von Rauschmitteln. In euren verdunkelten Häusern Wird man verwandelt in Könige und vollführt Ungefährdet heroische Taten. Von Begeisterung erfaßt Über sich selber oder von Mitleid zu sich Selber sitzt man in glücklicher Zerstreuung, vergessend 149

Die Schwierigkeiten des Alltags, ein Flüchtling. Allerhand Fabeln mischt ihr mit kundiger Hand, so daß Unser Gemüt bewegt wird. Dazu verwendet ihr Vorkommnisse aus der wirklichen Welt. Freilich, einer Der da mitten hineinkäme, noch den Lärm des Verkehrs im Ohr Und noch nüchtern, erkennte kaum Oben auf eurem Brett die Welt, die er eben verlassen hat. Und auch tretend am Ende aus euren Häusern, erkennte er Wieder der niedrige Mensch und nicht mehr der König Die Welt nicht mehr und fände sich Nicht mehr zurecht-im wirklichen Leben. Vielen freilich gilt aber dieses Treiben als unschuldig. Bei der Niedrigkeit Und Einförmigkeit unsres Lebens, sagen sie, sind uns Träume willkommen. Wie es ertragen ohne Träume? So wird, Schauspieler, euer Theater aber Zu einer Stätte, wo man das niedrige und einförmige Leben ertragen lernt und verzichten auf Große Taten und selbst auf das Mitleid mit Sich selber. Ihr aber Zeigt eine falsche Welt, achtlos zusammengemischt So wie der Traum sie zeigt, von Wünschen verändert Oder von Ängsten verzerrt, traurige Betrüger.

REINIGUNG DES THEATERS VON DEN ILLUSIONEN

Nur mehr in euren zerfallenen Häusern erwarten die Menschen Süchtig das glückliche Ende irgendwelcher Verwicklungen Um wenigstens hier aufzuschnaufen oder doch im schrecklichen Ende UO

Etwas Glückliches, Einverständnis mit dem Unglück. Überall anderswo Sind die Menschen schon bereit, ein solches glückliches Ende zu bereiten den Verwicklungen, welche sie erkannt haben Als von Menschen bereitet, also von Menschen beendbar. Der Unterdrückte, für den ihr, zusammen mit Eintrittsgeld Den Hut herumreichend, einige Tränen sammelt, berät schon Wie den Tränen zu entgehen ist. Und erwägt Große Taten zur Schaffung einer Gesellschaft, die Große Taten ermöglicht. Schon schlägt der Kuli Dem Wirt das Opium aus der Hand, und der Pachtbauer kauft Zeitungen statt Kartoffelschnaps, und ihr mischt noch In den unreinen Topf die alte billige Rührung. Eure schlechtgeleimte Welt, bestehend aus ein paar Beim Häuserbau überschüssigen Brettern, zeigt ihr Hypnotische Bewegungen vollführend in magischer Beleuchtung Herzklopfen zu erzeugen. Da ertappe ich einen, wie er Um Mitleid bettelt mit einem Unterdrücker. Dort täuschen zwei Eine Liebesszene vor mit innigen Seufzern, die sie Ihren gequälten Dienstboten abgelauscht haben müssen. Diesen sehe ich einen Feldherrn vorstellen, von Leid verzehrt Und es ist jenes Leid, das er selber empfand, als ihm Die Gage verringert ward. Ach euer Tempel der Kunst hallt wieder vom Geschrei der Händler. Diesen sehe ich mit den Gebärden eines Priesters Zwei Pfund Mimik verkaufen, zusammengerührt im Dunklen Mit schmutzigen Händen vom Geldwechseln 151

Aus allerhand Abfall, der Nach vergangenen Jahrhunderten stinkt, und dieser Zeigt euch dummdreist einen Bauern Den er als Knirps gesehen hat, nicht auf einem Acker, sondern Auf einer Wanderbühne. In der natürlichen Scham der Kinder Die Verstellung ablehnen beim Theater spiel Und im Unwillen der Arbeiter Sich wild zu gebärden, wenn sie Die Welt zeigen wollen, wie sie ist Damit wir sie verändern können Kommt zum Ausdruck, daß es unter der Würde des Menschen ist Zu täuschen. ’Fragmentarisch

DAS ZEIGEN MUSS GEZEIGT WERD EN

Zeigt, daß ihr zeigt! Über all den verschiedenen Haltungen Die ihr da zeigt, wenn ihr zeigt, wie die Menschen sich aufführen Sollt ihr doch nicht die Haltung des Zeigens vergessen. Allen Haltungen soll die Haltung des Zeigens zugrund liegen. Dies ist die Übung: Vor ihr zeigt, wie Einer Verrat begeht oder ihn Eifersucht faßt Oder er einen Handel abschließt, blickt ihr Auf den Zuschauer, so als wolltet ihr sagen: Jetzt gib acht, jetzt verrät dieser Mensch, und so macht er es. So wird er, wenn ihn die Eifersucht faßt, so handelte er Als er handelte. Dadurch Wird euer Zeigen die Haltung des Zeigens behalten. 152

Des nun Vorbringens des Zurechtgelegten, des Erledigens Des immer Weitergehens. So zeigt ihr Daß ihr es jeden Abend zeigt, was ihr da zeigt, es oft schon gezeigt habt Und euer Spiel bekommt was vom Weben des Webers, etwas Handwerkliches. Auch, was zum Zeigen gehört Daß ihr nämlich immer bemüht seid, das Zusehen Recht zu erleichtern, in alle Vorgänge die beste Einsicht zu gewähren, macht das sichtbar! Dann wird Dieses Verrat-Begehen und Handel-Abschließen und Von-Eifersucht-erfaßt-Werden etwas bekommen von einer Täglichen Verrichtung, wie vom Essen, vom Grüßen und vom Arbeiten. (Denn ihr arbeitet doch?) Und hinter euren Figuren bleibt ihr selber sichtbar, als die, welche Sie vorführen.

ÜBER DIE EINFÜHLUNG

Ihr könnt feststellen, daß ihr schlecht gespielt habt Daran, daß die Zuschauer sich räuspern Wenn ihr euch räuspert.

Sie stellen einen Bauern dar, indem sie sich In einen solchen Zustand mangelnder Urteilskraft versetzen Daß sie selber glauben, sie seien Wirklich ein Bauer, und so Glauben auch die Zuschauer, sie seien Wirklich Bauern im Augenblick Aber Schauspieler und Zuschauer Können glauben, sie seien Bauern, wenn Was sie fühlen, gar nicht das ist

Was ein Bauer fühlt. Je echter ein Bauer dargestellt ist Desto weniger kann der Zuschauer meinen Daß er selber ein Bauer ist, denn desto verschiedener Ist dieser Bauer von ihm selber, der Eben kein Bauer ist.

Niemals sollt ihr vom Bauern abstreifen Was da Bauer ist, noch vom Pachtherrn Was da Pachtherr 'ist, damit sie Schlechthin Menschen werden wie du und ich Und ihre Gefühle so teilbar von dir und von mir. Auch du und ich sind nicht gleiche Und auch Menschen nur, indem wir Bauer sind oder Pächter Und wer sagt, daß Gefühle geteilt werden müssen? Laß den Bauer Bauer sein, Schauspieler Und bleib du Schauspieler auch! Und laß ihn Auch noch verschieden sein von jedem anderen Bauern Und auch der Pachtherr unterscheide sich füglich Von allen anderen Pachtherrn, denn so verschieden Werden sie doch ihren Bauern, die auch so verschieden sind Ein sehr ähnliches Schicksal bereiten oder von ihnen Zu gegebener Zeit ein ähnliches Schicksal bereitet bekommen So daß da wieder der Bauer ein Bauer, der Pachtherr ein Pachtherr ist. Fragmentarisch SPRECHÜBUNG FÜR SCHAUSPIELER

Aus Frage und Antwort Entstehe ich, fragend und antwortend. Sie bauen auf mich und verändern mich

Indem ich sie aufbaue und verändere. (In die erblaßte Schläfe jagt das neue Wort Neue Röte, ach, aber auf mein Reden eben War solches Schweigen, daß mein Gesicht Eingebrochen sein muß wie ein Fleck Boden, unter dem Einst ein Brunnen war, und jetzt Trat ein Fuß in ihn ein.) Als ich auftrat, war ich nichts Als ich redete, kannte man mich Als ich abtrat, trat nichts ab. Aber ich habe doch sorgfältig Die Wörter abgeliefert, die mir anvertraut waren Die Bewegungen ausgeführt, die dem Sinne entsprachen, und Pünktlich Wie es ausgemacht war, bin ich gestanden. Wie wir es besprochen hatten, habe ich geredet Und mit meinem Tod habe ich mir Mühe gegeben. Zwischen der dritten und der vierten Zeile Habe ich einen Augenblick lang gehalten Die Lüge anzudeuten, habe ich also nicht vergessen Auch mein Ächzen war nicht zu laut, und ich fand Gleich auf das erste Mal die Stelle im Fallen, wo das Licht ist. (In der dritten Rede an der Mauer machte ich eine Änderung Aber nach langem Nachdenken und probeweise.)

Nach besten Kräften habe ich dem Sinn gedient. Immer bedachte ich, was ich sagte Mich selbst hielt ich außerhalb. Was ich machte, überantwortete ich dem Staunen. Selber staunend zeigte ich das Anvertraute. Gleichsam widersprechend sprach ich. Als ich groß sein sollte, habe ich mich nicht lustig gemacht Über die Kleineren und mischte 155

Kleines in meine Größe. Ebenso, als ich klein war Vergaß ich nicht den Respekt und blieb nicht ohne Größe Das Große und Kleine setze ich vom Größeren ab und vom Kleineren. Niemals Setzte mein Widerspruch aus, so wenig wie Mein Herzschlag.

Immer verlasse ich der Kontrolle wegen Meine Partei: ich verrate sie niemals. So spiele ich: Niedergeworfen von meinem Feind Falle ich um wie ein Brett. Liegend schreie ich laut Um Erbarmen schreie ich, wie ich kann: Aber jetzt Ohne Absetzen stehe ich auf. Leicht erhebe ich mich. Auf einen Niedergeworfenen Trete ich zu mit federndem Schritt Und verweigere seinem Geschrei mein Gehör. Sondern hebe den Fuß, ihn niederzutreten Und träte auch, wenn ich nicht jetzt Schon wieder läge, lautlos würgend, weiter zu sterben Wie’s mir bestimmt ist. Dennoch war ich nicht gleichgültig und entschied mich Immerfort, während ich sprach, und immer fürs Bessere. Beauftragt von den Morgigen, war ich Einverstanden mit morgen. Aber Auf den Zuschauenden habe ich keinen Zwang ausgeübt. Er war nicht ich, ich war nicht er. Ich schämte mich nicht, ich wurde nicht gedemütigt. Das Große brachte ich groß, das Kleine klein. 156

Aus nichts machte ich nicht etwas, aus etwas nicht nichts. Als ich ging, wünschte ich nicht zu bleiben Vor nicht alles gesagt war, ging ich nicht. Also verschwieg ich nichts und setzte nichts hinzu: Gutes Werkzeug, peinlich gehalten, oftmals nachgeprüft In genauer Übung.

DIE SCHAUSPIELERIN IM EXIL

Helene Weigel gewidmet

Jetzt schminkt sie sich. In der weißen Zelle Sitzt sie gebückt auf dem ärmlichen Hocker Mit leichten Gebärden Trägt sie vor dem Spiegel die Schminke auf. Sorgsam entfernt sie von ihrem Gesicht Jegliche Besonderheit: die leiseste Empfindung Wird es verändern. Mitunter Läßt sie die schmächtigen und edlen Schultern Nach vorn fallen, wie die es tun, die Hart arbeiten. Sie trägt schon die grobe Bluse Mit den Flicken am Ärmel. Die Bastschuhe Stehen noch auf dem Schminktisch. Wenn sie fertig ist Fragt sie eifrig, ob die Trommel schon gekommen ist Auf der der Geschützdonner gemacht wird Und ob das große Netz Schon hängt. Dann steht sie auf, kleine Gestalt Große Kämpferin In die Bastschuhe zu treten und darzustellen Den Kampf der andalusischen Fischersfrau Gegen die Generäle.

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BESCHREIBUNG DES SPIELS DER H. W.

Wiewohl sie alles zeigte Was nötig war, eine Fischersfrau Zu verstehen, verwandelte sie sich doch nicht restlos In diese Fischersfrau, sondern spielte So, als sei sie außerdem noch beschäftigt mit Nachdenken Gleichsam, als fragte sie stets: Wie war es doch? Wenngleich man nicht immer Ihre eigenen Gedanken über die Fischersfrau Erraten konnte, so zeigte sie doch Daß sie solche dachte, und lud so ein Solche zu denken.

LIED DES STUCKSCHREIBERS

Ich bin ein Stückschreiber. Ich zeige Was ich gesehen habe. Auf den Menschenmärkten Habe ich gesehen, wie der Mensch gehandelt wird. Das Zeige ich, ich der Stückschreiber.

Wie sie zueinander ins Zimmer treten mit Plänen Oder mit Gummiknüppeln oder mit Geld Wie sie auf den Straßen stehen und warten Wie sie einander Fallen bereiten Voller Hoffnung Wie sie Verabredungen treffen Wie sie einander aufhängen Wie sie sich lieben Wie sie die Beute verteidigen Wie sie essen Das zeige ich. Die Worte, die sie einander zurufen, berichte ich. Was die Mutter dem Sohn sagt Was der Unternehmer dem Unternommenen befiehlt US

Was die Frau dem Mann antwortet Alle die bittenden Worte, alle die herrischen Die flehenden, die mißverständlichen Die lügnerischen, die unwissenden Die schönen, die verletzenden Alle berichte ich. Ich sehe da auftreten Schneefälle Ich sehe da nach vorn kommen Erdbeben Ich sehe da Berge stehen mitten im Wege Und Flüsse sehe ich über die Ufer treten. Aber die Schneefälle haben Hüte auf Die Erdbeben haben Geld in der Brusttasche Die Berge sind aus Fahrzeugen gestiegen Und die reißenden Flüsse gebieten über Polizisten. Das enthülle ich. Um zeigen zu können, was ich sehe Lese ich nach die Darstellungen anderer Völker und anderer Zeitalter. Ein paar Stücke habe ich nachgeschrieben, genau Prüfend die jeweilige Technik und mir einprägend Das, was mir zustatten kommt. Ich studierte die Darstellungen der großen Feudalen Durch die Engländer, reicher Figuren Denen die Welt dazu dient, sich groß zu entfalten. Ich studierte die moralisierenden Spanier Die Inder, Meister der schönen Empfindungen Und die Chinesen, welche die Familien darstelien Und die bunten Schicksale in den Städten. Und so schnell wechselte zu meiner Zeit Das Aussehen der Häuser und Städte, daß ein Wegfahren für zwei Jahre Und ein Rückkehren eine Reise in eine andere Stadt war Und in riesiger Masse wandelten die Menschen ihr Aussehen In wenigen Jahren. Ich sah 159

Arbeiter in das Tor der Fabrik treten und das Tor war hoch Aber als sie herauskamen, mußten sie sich bücken. Da sagte ich zu mir: Alles wandelt sich und ist nur für seine Zeit. Also gab ich jedem Schauplatz sein Kennzeichen Und brannte jedem Fabrikhof seine Jahreszahl ein und jedem Zimmer Wie die Hirten dem Vieh seine Zahl einbrennen, daß es erkannt wird.

Und auch den Sätzen, die da gesprochen wurden Gab ich ihr Kennzeichen, so daß sie wurden wie Aussprüche Der Vergänglichen, die man aufzeichnet Damit sie nicht vergessen werden. Was da die Frau sagte im Arbeitskittel Über die Flugblätter gebeugt, in diesen Jahren Und wie die Börsenleute mit ihren Schreibern sprachen Die Hüte im Genick, gestern Das versah ich mit dem Zeichen der Vergänglichkeit Ihrer Jahreszahl. Alles aber übergab ich dem Staunen Selbst das Vertrauteste. Daß die Mutter dem Kinde die Brust reichte Das berichtete ich wie etwas, das keiner mir glauben wird. Daß der Pförtner vor dem Frierenden die Tür zuschlug Wie etwas, das noch keiner gesehen hat. Fragmentarisch

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DER NACHSCHLAG

Meine Sätze spreche ich, bevor Der Zuschauer sie hört; was er hört, wird Ein Vergangenes sein. Jedes Wort, das die Lippe verläßt Beschreibt einen Bogen und fällt Dann ins Ohr des Hörers, ich warte und höre Wie es aufschlägt, ich weiß Wir empfinden nicht das nämliche und Wir empfinden nicht gleichzeitig.

ÜBERLEGUNG

Freilich würden wir, wenn wir Könige wären Handeln wie Könige, aber indem wir wie Könige handelten Würden wir anders handeln als wir.

SCHMINKE

Mein Gesicht ist geschminkt, gereinigt von Aller Besonderheit, leer gemacht, zu spiegeln Die Gedanken, nunmehr veränderlich wie Stimme und Gestus. * LOCKERER KÖRPER

So ist mein Körper gelockert, meine Glieder sind Leicht und einzeln, alle Haltungen, die vorgeschrieben sind Werden ihnen angenehm sein. * Die Weigel schminkte sich in manchen Stücken vor jeder Szene um, so daß es, trat sie in einer Szene nicht ungeschminkt auf, zur besonderen Wirkung wurde. 11

Über Theater

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ABWESENDER GEIST

So ist mein Geist abwesend, was ich zu machen habe Mache ich auswendig, mein Verstand Geht ordnend dazwischen herum. * SELBSTGESPRÄCH EINER SCHAUSPIELERIN BEIM SCHMINKEN

Ich werde eine Trinkerin darstellen Die ihre Kinder verkauft In Paris, zur Zeit der Kommune. Ich habe nur fünf Sätze.

Aber ich habe auch einen Gang, die Straße hinauf. Ich werde gehen wie ein befreiter Mensch Ein Mensch, den außer dem Sprit Niemand befreien wollte, und ich werde Mich umsehen, wie die Betrunkenen, die fürchten Daß man sie verfolgt, ich werde mich Nach dem Publikum umsehen.

Ich habe meine fünf Sätze geprüft wie Dokumente Die man mit Säuren wäscht, ob nicht unter den offenkundigen Schriftzügen Noch andere liegen. Ich werde jeden einzelnen Sprechen wie einen Anklagepunkt Gegen mich und alle, die mir zusehen. Wäre ich gedankenlos, dann schminkte ich mich Einfach wie eine alte Säuferin Eine verkommene oder kranke. Aber ich werde * Es ist vorteilhaft, in den Spielpausen zu lesen. Die Konzen­ tration muß eine natürliche sein, die Anteilnahme eine wechselnd starke, je nach dem Gegenstand. Da der Zuschauer nicht einem Zwang unterworfen werden soll, darf auch der Schauspieler sich keinem Zwang unterwerfen. 162

Als eine schöne Person auftreten, die zerstört ist Mit gelber, einst weicher Haut, nun verwüstet Einst begehrenswert, nun ein Abscheu Damit jeder fragt: Wer Hat das gemacht?

SPARSAMES AUFTRETEN DER MEI STER SCHAU SPIELER i

Im Theater der Vorstädte, folgend einer Anregung des Dialektikers Spielten die Meisterschauspieler für gewöhnlich nur eine Szene. Diese Bauten sie aus an diesem Abend, nachdem sie oft genug Die Spieler darin gesehen hatten, welche ihrerseits Dem Muster folgten, das die Meisterschauspieler Bei den großen Stellproben geformt hatten. Durch diese Selbstkritik Blieb die Gestaltung der Rolle im Fluß und das gesamte Werk Hielt sich in ständiger Bewegung, aufblitzend An verschiedenen Stellen, immerfort neu und immerfort Sich selbst widerlegend.

BEGRÄBNIS DES SCHAUSPIELERS (AUS DEN „VORSTELLUNGEN“)

Als der Wandelbare gestorben war Legten sie ihn in die kleine geweißnete Kammer Mit dem Ausblick auf Pflanzen für die Besucher Legten ihm zu Füßen auf den Boden Sattel und Buch, Trankmischer und Schminkkasten Hängten an die Wand den eisernen Haken Zum Aufspießen der Zettel mit den Notierungen Unvergessener Freundlichkeiten des Toten und Ließen die Besucher ein. 163

Und eintraten seine Freunde (Auch die ihm wohlwollten unter seinen Anverwandten) Seine Mitarbeiter und seine Schüler, abzuliefern Die Zettel mit den Notierungen Unvergessener Freundlichkeiten des Toten.

Als sie den Wandelbaren ins Totenhaus trugen Trugen sie ihm voraus die Masken Seiner fünf großen Gestaltungen Der drei vorbildlichen und zwei bestrittenen. Aber zugedeckt war er mit der roten Fahne Geschenk der Arbeiter Für seine Leistungen in den Tagen der Umwälzung.

Auch verlasen an der Tür zum Totenhaus Die Vertreter der Räte den Text seiner Entlassung Mit der Beschreibung seiner Verdienste, der Tilgung Aller Verweise und der Ermahnung an die Lebendigen Ihm nachzueifern und Seinen Platz auszufüllen.

Dann begruben sie ihn im Stadtpark, da wo die Bänke Für die Liebenden stehn.

ÜBUNGSSTÜCKE FÜR SCHAUSPIELER AUS DEM „MESSINGKAUF“

Parallelszenen

Die folgenden Übertragungen der Mordszene aus „Macbeth“ und des Streits der Königinnen aus „Maria Stuart“ in ein prosaisches Mi­ lieu sollen der Verfremdung der klassischen Szenen dienen. Diese Szenen werden auf unsern Theatern längst nicht mehr auf die Vor­ gänge hin gespielt, sondern nur auf die Temperamentsausbrüche hin, welche die Vorgänge ermöglichen. Die Übertragungen stellen das In­ teresse an den Vorgängen wieder her und schaffen beim Schauspieler außerdem ein frisches Interesse an der Stilisierung und der Verssprache der Originale, als etwas Besonderem, Hinzukommendem.

DER MORD IM PFÖRTNERHAUS

Zu Shakespeares „Macbeth“, zweiter Akt, zweite Szene

Ein Pförtnerhaus. Der Pförtner, seine Er au und ein schla­ fender Bettler. Ein Chauffeur hat ein großes Paket ge­ bracht.

DER CHAUFFEUR: Geben Sie ja acht, das Zeug zerbricht leicht. DIE FRAU es nehmend'. Was ist es denn? DER CHAUFFEUR: Soll ein chinesischer Glücksgott sein. DIE FRAU: Schenkt sie es ihm? DER CHAUFFEUR: Ja, zum Geburtstag. Die Mäd­ chen holen es bei Ihnen ab, Frau Fersen, sagen Sie denen noch extra, daß sie drauf aufpassen müssen, es ist mehr wert als das ganze Pförtnerhaus hier. Ab. DIE FRAU: Wozu brauchen die einen Glücksgott, wenn sie Geld wie Heu haben, möcht ich wissen! Wir brauchten einen. 167

DER PFÖRTNER: Klag nicht immer, sei froh, daß wir die Stelle haben, das ist Glück genug, trag ihn in die Kammer. DIE FRAU mit dem Paket zur Tür gehend und über die Schulter zurücksprechend'. Es ist eine Schande. Die können Glücksgötter kaufen, die mehr wert sind als ein ganzes Haus, und wir haben kein Dach überm Kopf, wenn wir nicht Glück haben, und dabei arbeiten wir den ganzen lieben langen Tag. Man könnte eine Wut kriegen. Sie stolpert beim Versuch, die Tür zu öffnen, und das Pa­ ket entfällt ihr. DER PFÖRTNER: Paß auf! DIE FRAU: Es ist kaputt! DER PFÖRTNER: Teufel! Warum kannst du nicht aufpassen! DIE FRAU: Das ist furchtbar, sie jagen uns hinaus, wenn sie das sehen. Der Kopf ist ab. Ich bring mich um. DER PFÖRTNER: Ein Zeugnis kriegen wir nicht auf das hin. Wir können grad so gut gleich mit dem da zeigt auf den Bettler, der aufgewacht ist ziehen. Das kannst du nicht verantworten. DIE FRAU: Ich bring mich um. DER PFÖRTNER: Davon wird der nicht mehr ganz. DIE FRAU: Was sollen wir nur sagen? DER BETTLER schlaftrunken'. Ist was passiert? DER PFÖRTNER: Halt dein Maul. Zur Frau: Da gibt’s nichts zu sagen. Er ist uns übergeben worden, und jetzt ist er hin. Was willst du sagen? Pack lieber. DIE FRAU: Vielleicht können wir doch was sagen. Irgendwas. Daß er schon kaputt war. DER PFÖRTNER: Er ist seit zehn Jahren da. Sie glauben ihm mehr als uns. DIE FRAU: Wir sind zwei. Zwei Aussagen gegen eine. DER PFÖRTNER: Das ist ja Unsinn. Meine Aus­ sage gilt doch gar nicht, da ich doch nur der Ehemann bin. Ich kenne die Gnädige. Sie läßt uns unsere paar 168

Klamotten überm Kopf weg verauktionieren, schon aus Rache. DIE FRAU: Wir müssen was finden. Es klingelt draußen. DER PFÖRTNER: Sie kommen. DIE FRAU: Ich versteck’s. Sie läuft damit in die Kammer, kommt zurück. Über den Bettler, der wieder schläft: War er wach? DER PFÖRTNER: Ja, ganz kurz. DIE FRAU: Hat er „es“ gesehen? DER PFÖRTNER: Ich weiß nicht, warum? Es läutet wieder. DIE FRAU: Bring ihn in die Kammer. DER PFÖRTNER: Ich muß aufmachen, sonst fällt es auf. DIE FRAU: Halt sie auf draußen. Auf den Bettler: Er hat’s gemacht. Drinnen. Wir wissen nichts, wenn sie kommen. Rüttelt den Bettler auf: He du! Der Pförtner will hinaus. Die Frau drängt den schlaf­ trunkenen Bettler in die Kammer. Kommt zurück und geht durch eine andere Tür gegenüber ah. DER PFÖRTNER zurück mit zwei Mädchen vom Gutshaus'. Kalt heute, und ihr habt nicht einmal etwas übergezogen. DIE HAUSHÄLTERIN: Wir wollen nur rasch das Paket holen. DER PFÖRTNER: Wir haben es in die Kammer gebracht. DIE HAUSHÄLTERIN: Die Gnädige kann es schon nicht mehr erwarten, wo ist es? DER PFÖRTNER: Ich werde es am besten selber hinübertragen. DIE HAUSHÄLTERIN: Machen Sie sich keine Um­ stände, Herr Fersen. DER PFÖRTNER: Ich mache es gern. DIE HAUSHÄLTERIN: Das weiß ich, Herr Fersen. Aber es ist nicht nötig. Ist es hier herinnen? 169

DER PFÖRTNER: Ja, das große Paket. Sie geht hinein. Das soll ja ein Glücksgott sein? DAS MÄDCHEN: Ja, die Gnädige ist wütend, daß der Chauffeur ihn nicht schon vor einer Stunde gebracht hat. Man tut es ihr zum Possen, sie kann sich auf nie­ mand verlassen, jeder denkt nur an seine eigene Bequem­ lichkeit, und keiner will es gewesen sein, wenn etwas nicht klappt und so weiter. Na ja, alle lassen sich nicht in Stücke reißen für so eine Herrschaft. Habe ich recht? DER PFÖRTNER: Ja, so ist es, es sind nicht alle gleich. DAS MÄDCHEN: Meine Tante sagte immer: Wer mit dem Teufel frühstückt, muß einen langen Löffel ha­ ben. > DIE HAUSHÄLTERIN aus der Kammer. Das ist schrecklich. DER PFÖRTNER UND DAS MÄDCHEN: Was ist los? DIE HAUSHÄLTERIN: Das muß jemand mit Ab­ sicht getan haben! Der Kopf ist einfach abgerissen! DER PFÖRTNER: Abgerissen? DAS MÄDCHEN: Der Glücksgott? DIE HAUSHÄLTERIN: Schaut euch das an, ich merke gleich, wie ich es aufhebe, daß es zwei Stücke sind. Ich überlege noch, ob ich es aufmachen soll und nehme nur das Papier etwas weg, und der Kopf fällt heraus! Der Pförtner und das Mädchen hinein. DIE HAUSHÄLTERIN: Das Geburtstagsgeschenk, und wo sie so abergläubisch ist. DIE FRAU tritt ein-. Was ist los? Sie sind ja so aufge­ regt. DIE HAUSHÄLTERIN: Frau Fersen, ich möcht’s Ihnen am liebsten gar nicht sagen, ich weiß, daß Sie eine so ordentliche Frau sind. Aber der Glücksgott ist kaputt­ gegangen. DIE FRAU: Was? Kaputt? In meinem Haus? DER PFÖRTNER mit dem Mädchen zurück'. Ich

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kann es überhaupt nicht begreifen, wir sind erledigt, da vertraut man uns eine solche Sache an, und dann passiert das! Ich kann ja der Gnädigen überhaupt nicht mehr ins Gesicht schauen! DIE HAUSHÄLTERIN: Wer ist denn schuld? DAS MÄDCHEN: Es muß der Bettler gewesen sein, der Hausierer. Er stellt sich, als ob er schliefe und plötz­ lich aufwache, aber er hatte den Bindfaden noch auf dem Schoß. Wahrscheinlich wollte er in dem Paket nachsehen, ob was zum Stehlen drin war. DER PFÖRTNER: Teufel, ich hätte ihn nicht hinaus­ werfen sollen! DIE HAUSHÄLTERIN: Warum haben Sie ihn nicht festgehalten? DER PFÖRTNER: Ich versteh mich selber nicht, aber wer kann schon gleich immer' an alles denken? Kein Mensch! Die Wut ist einfach mit mir fortgelaufen. Da liegt der Glücksgott, der Kopf einen Meter weg von dem Ding, und auf der Bank dieser Mensch und tut, als wisse er von nichts, ich dachte überhaupt nur an die Gnädige. DIE HAUSHÄLTERIN: Den wird die Polizei schnell aufgegriffen haben. DIE FRAU: Mir ist ganz schlecht. DER STREIT DER FISCHWEIBER Zu Schillers „Maria Stuart“, dritter Akt I

Straße. Frau Zwillich und ihr Nachbar auf dem Weg. FRAU ZWILLICH: Nein, ich bring’s nicht über mich, Herr Koch. Ich kann mich nicht so demütigen. Es ist mir nicht viel geblieben, aber meinen Stolz hab ich noch. Mit Fingern möchten sie auf mich deuten am Fischmarkt: Das ist die, die der Scheit, diesem falschen Monstrum, die Schuh geleckt hat!

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HERR KOCH: Sie dürfen nicht so aufgeregt sein, Frau Zwillich, hin müssen Sie zur Scheit, wenn der ihr Neffe vor Gericht gegen Sie aussagt, kriegen Sie vier Mo­ nate hinaufgebrummt. FRAU ZWILLICH: Aber ich hab nicht falsch ausge­ wogen, alles ist Lüge. HERR KOCH: Natürlich, Frau Zwillich, wir wissen das, aber weiß es die Polizei? Die Scheit ist Ihnen an Schlauheit weit über, der sind Sie nicht gewachsen. FRAU ZWILLICH: Gemeine Tricks. HERR KOCH: Kein Mensch sagt, daß es korrekt von der Scheit ist, Ihnen ihren sauberen Neffen auf den Hals zu schicken, daß er Ihnen eine Flunder abkauft und dann damit zum Polizisten geht, damit die auf der Poli­ zei nachwiegen! Natürlich wissen sie auf der Polizei, daß die Scheit Sie nur als Konkurrenz loskriegen wollte. Aber an den zwei Pfund von der Flunder fehlte eben leider doch dieses verhängnisvolle Deka! FRAU ZWILLICH: Weil ich beim Abwiegen mit dem Neffen geredet hab und nicht genau nachgewogen hab. Ich hab mich durch meine Freundlichkeit mit einem Kunden hineingebracht! HERR KOCH: Ihre Freundlichkeit loben alle, da ist nur eine Meinung. FRAU ZWILLICH: Freilich sind die Kunden zu mir gegangen und nicht zu ihr. Weil ich aufmerksam bin und eine persönliche Note hineinbring. Das hat sie wild ge­ macht. Aber daß ich nicht nur meinen Stand von der Gewerbepolizei abgenommen bekommen hab und nicht mehr verkaufen darf, daß mir der Neffe auf ihren Befehl auch noch ein Gerichtsverfahren aufhängt, das ist zuviel. HERR KOCH: Und ganz vorsichtig müssen Sie noch sein, das sag ich Ihnen. Ganz vorsichtig. Wählen Sie Ihre Worte! FRAU ZWILLICH: „Wählen Sie Ihre Worte!“ Weit ist es gekommen. Daß ich zu einer solchen dreckigen Per­ son, wo ins Kriminal gehört wegen Ehrabschneidung, meine Worte wählen soll! 172

HERR KOCH: Sorgfältig! Es ist schon viel, daß sie erlaubt hat, daß ich Sie zu ihr bring, Frau Zwillich. Ver­ derben Sie jetzt nicht wieder alles durch Ihr Tempera­ ment und Ihre berechtigte Empörung. FRAU ZWILLICH: Herr Koch, ich kann’s nicht. Ich fühl’s, ich kann’s nicht. Den ganzen Tag hab ich auf ihren Bescheid gewartet, ob sie so gnädig sein will und mich anhören will. Nimm dich zusammen, hab ich zu mir ge­ sagt, sie kann dich ins Kittchen bringen. Alles hab ich mir vorgestellt, wie ich ihr gut zureden würde und sie rüh­ ren möchte. Aber jetzt kann ich’s nicht. Ich weiß nur, daß ich sie haß, die Person, die ausgeschämte, und ihr die Augen auskratzen möcht. HERR KOCH: Sie müssen sich beherrschen, Frau Zwillich, ich bitt Sie. Sie müssen sich Gewalt antun. Sie hat Sie in der Hand. Sagen Sie ihr, sie soll großmütig sein. Lassen Sie jetzt um Gottes willen allen Stolz weg, dafür ist jetzt nicht die Zeit. FRAU ZWILLICH: Ich versteh, daß Sie’s gut meinen. Ich will auch hingehen. Aber glauben Sie mir, es kommt nichts Gutes dabei heraus. Wir sind wie Hund und Katze. Sie hat mich auf die Zehen getreten, und ich möcht ihr die Augen . . . Sie gehen weg. z Fischmarkt am Abend. Nur noch ein einziges Fischweib, Frau Scheit, sitzt da. Neben ihr ihr Neffe.

FRAU SCHEIT: Nein, ich red nicht mit ihr, warum auch? Jetzt, wo ich sie endlich los habe. Eine himmlische Stille war das gestern und heut auf dem Fischmarkt, seit sie weg ist mit ihrem falschen Getue: Ein hübscher Aal, die Gnädige, der Herr Gemahl wohlauf, nein, wie gut Sie heut wieder aussehen! Jedesmal ist mir die Galle hochgekommen. EINE KUNDIN: Jetzt hab ich mich ganz vertratscht, und was koch ich jetzt zu Abend? Ein bißchen klein ist der Hecht, nicht? 173I

FRAU SCHEIT: Dann fischens Ihnen einen großen, Madam. Ich kann nichts dafür, daß er nicht älter gewor­ den ist. Wenn Sie ihn nicht wollen, dann lassen Sie ihn eben liegen, ich werd mir nicht die Haare ausreißen. DIE KUNDIN: Seien Sie doch nicht gleich beleidigt, ich hab doch nur gesagt, daß er ein wenig klein aussieht. FRAU SCHEIT: Und einen Schnurrbart hat er auch nicht. Da ist er eben nichts für Sie und damit basta. Hugo, pack die Körb ein, Feierabend. DIE KUNDIN: Ich nehm ihn schon, seien Sie doch nicht so wild. FRAU SCHEIT: Eins dreißig. Gib ihn ihr. Zum Nef­ fen: Da kommen die Leute nach Feierabend und sind dann noch wählerisch. Das hab ich gern. Und jetzt gehen wir. DER NEFFE: Aber du wolltest doch noch mit der Frau Zwillich reden, Tante. FRAU SCHEIT: Ich hab gesagt: Nach Feierabend, und ist sie da? Frau Zwillich und Herr Koch kommen und bleiben in einigem Abstand stehen, DER NEFFE: Da ist sie schon. FRAU SCHEIT als bemerkte sie Frau Zwillich nicht: Die Körbe pack zusammen. Heut haben wir gar nicht schlecht verkauft, das Doppelte vom vorigen Donnerstag. Aus der Hand haben sie’s mir gerissen. „Mein Mann sagt immer, der Karpfen ist von Frau Scheit, das merk ich auf der Zung.“ Die Leut sind wirklich ganz närrisch. Als ob nicht ein Karpfen wie der andere wär! FRAU ZWILLICH zu Herrn Koch, schaudernd: So redet eine nicht, die noch einen Funken Mitgefühl hat! FRAU SCHEIT: Wollen die Herrschaften vielleicht eine Flunder kaufen? DER NEFFE: Das ist doch die Frau Zwillich, Tante. FRAU SCHEIT: Was? Wer bringt mir die aufs Ge­ nick? DER NEFFE: Jetzt ist sie doch nun einmal da, Tante. In der Schrift heißt’s doch auch: Liebe deinen Nächsten! HERR KOCH: Machen Sie eine gute Miene zum 174

schlechten Spiel, Frau Scheit. Sie haben eine unglückliche Person vor sich. Sie traut sich gar nicht, Sie anreden. FRAU ZWILLICH: Ich kann’s nicht, Herr Koch. FRAU SCHEIT: Was sagt sie? Haben Sie’s gehört, Herr Koch? Eine unglückliche Person, die einen Gefallen haben will und Tag und Nacht sich die Augen ausheult, hab ich verstanden. Daß ich nicht lach! Hochmütig ist sie! Frech wie immer! FRAU ZWILLICH: Schön. Ich will auch das noch schlucken. Zu Frau Scheit: Sie haben’s geschafft. Sie kön­ nen Ihrem Gott danken. Aber jetzt übertreiben Sie’s nicht. Geben Sie mir die Hand, Frau Scheit. Sie streckt die Hand aus. FRAU SCHEIT: Sie sind in die Lag gekommen, in die Sie sich selber hineinmanövriert haben, Frau Zwil­ lich. FRAU ZWILLICH: Frau Scheit, denken Sie dran, daß das Glück wechseln könnt. Auch Ihrs. Für mich hat’s schon gewechselt, und schließlich hören uns Leut zu. Und Kolleginnen waren wir auch. So was hat’s ja aufm Fischmarkt noch nicht gegeben! Lieber Gott, stehens doch nicht wie ein Felsbrocken! Ich kann doch nicht mehr, als Sie auf den Knien bitten. Schlimm genug, daß ich ins Kittchen soll, wenn ich Sie nicht rühr. Aber mir bleibt ja das Wort im Hals stecken, wenn ich Sie nur an­ schau. FRAU SCHEIT: Fassens Ihnen kurz, wenn ich bitten dürft. Ich hab keine Lust, daß mich die Leut mit Ihnen sehn. Ich hab nur als Christenmensch eingewilligt. Sie haben mir zwei Jahr lang die Kunden weggefischt. FRAU ZWILLICH: Ich weiß nicht mehr, was ich sa­ gen soll. Wenn ich die Wahrheit sag, sind Sie beleidigt. Denn Sie haben nicht fein gehandelt an mir. Mit Ihrem Neffen seinem Flunderkauf haben Sie mich nur hinein­ legen wollen. So was hab ich Ihnen und niemand zuge­ traut. Niemals. Ich hab nicht anders Fisch verkauft hier als Sie. Und jetzt schleppens mich vor Gericht. - Schauens, ich will alles einen Zufall nennen. Sie sind nicht schuldig.

Ich bin nicht schuldig. Wir haben Fisch verkaufen wollen, und die Kunden sind zwischen uns gestanden. Ihnen er­ zählt man das, mir das. Sie hätten gesagt, meine Fische stinken, ich, Sie haben ein bissel ein falsches Gewicht oder umgekehrt. - Jetzt steht keiner mehr zwischen uns. Wir könnten grad so gut Schwestern sein. Sie die ältere, ich die jüngere. Es wär nie so weit gekommen, wenn wir uns rechtzeitig ausgesprochen hätten. FRAU SCHEIT: Da hätt ich eine schöne Schlange am Busen genährt! - Sie gehören nicht aufn Fischmarkt! Sie sind unredlich! Sie gönnen niemand ein Geschäft als sich selber! Sie haben mir einen Kunden nach dem andern weggeangelt mit Ihrem falschen Wesen und Ihrem süß­ lichen „Noch ein Buttchen, Madam?“, und wenn ich’s Ihnen gesagt hab, haben Sie mir eine Beleidigungsklag angedroht. Aber jetzt trifft’s Sie! FRAU ZWILLICH: Ich steh in Gottes Hand, Frau Scheit. Sie werden sich nicht so versündigen wollen. FRAU,SCHEIT: Wer sollt mich hindern? Sie haben zuerst von der Polizei geredet mit Ihre Beleidigungs­ klagen! Wenn ich Sie loslaß und sag meinem Neffen, daß er die Klag zurückziehen soll, sitzen Sie morgen wieder hier, ich kenn Sie doch. Nicht Reu werden Sie zeigen, sondern einen Lippenstift werden Sie sich kaufen, da­ mit der Kellner vom Roten Löwen Ihnen Ihren Schell­ fisch abnimmt! Das wird sein, wenn ich Gnad vor Recht ergehen laß. FRAU ZWILLICH: Behaltens den Fischmarkt! Ver­ kaufens allein Fisch in Gottes Namen! Ich geb meinen Stand auf für ewig. Sie haben’s geschafft mit mir. Sie haben mich gebrochen. Ich bin nur noch ein Schatten von der Zwillichen, die ich gewesen bin. Jetzt machens ein End mit der Verfolgung und sagens ihr schon: Gehens in Frieden, ich hab Ihnen gezeigt, was eine Harke ist, und jetzt zeig ich Ihnen, wie sich ein Christenmensch benimmt. Sagen Sie das, und ich sag Dankeschön und mein’s auch. Aber lassens mich nicht zu lang warten auf das Wört­ chen. Wenn Sie’s nicht sagen und gehn zur Polizei - ich

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möcht nicht für alles in der Welt in Ihre Schuh stehen vor die Leut! FRAU SCHEIT: Sehens endlich, daß ich Sie am Bo­ den hab? Sind Ihnen Ihre Tricks ausgegangen? Ist der Polizist vom Marktplatz ein bissel abgekühlt? Habens keine Ritter mehr? Sie gehen ja mit jedem ins Kino, der Ihnen eine Bestellung vermittelt, und wenn er zehnmal verheiratet ist! FRAU ZWILLICH: Jetzt muß ich mich aber wirklich beherrschen, Sie gehn zu weit. FRAU SCHEIT nachdem sie sie lang verächtlich be­ trachtet hat-. Das ist also die Frau Zwillich, wo immer so freundlich ist, Hugo? Auf die alle fliegen und neben der unsereins nur ein altes Monstrum ist, so ein alter Dreckhaufen am Marktplatz, um den man herumgeht! Eine ganz gewöhnliche Hur ist sie. FRAU ZWILLICH: Das ist zuviel! FRAU SCHEIT höhnisch lachend-. So, das ist ihr wah­ res Gesicht! Jetzt ist ihr die hübsche Larv herunterge­ rutscht. FRAU ZWILLICH zornglühend, aber mit Würde-. Herr Koch, ich geb zu, ich bin jung und hab meine Feh­ ler. Ich hab einen vielleicht ab und zu freundlich ange­ schaut, wenn er bei mir gekauft hat, aber ich hab nichts heimlich gemacht. Wenn das mein Ruf ist, kann ich nur sagen, ich bin besser als mein Ruf. An Sie kommt’s schon noch, Frau Scheit! Sie decken’s zu, was Sie für Vergnü­ gungen haben. Der ganze Markt weiß, daß Sie in keiner guten Haut stecken. Ihre Mutter war nicht umsonst im Kriminal seinerzeit! HERR KOCH: Um Gotteswillen! Jetzt ist alles aus! Sie haben ¿ich nicht beherrscht, Frau Zwillich, wie Sie’s versprochen haben! FRAU ZWILLICH: Beherrschung ist gut, Herr Koch. Ich hab geschluckt, was irgendein Mensch schlucken kann. Jetzt red ich. Jetzt pack ich aus. Alles. HERR KOCH: Sie ist ganz aus dem Häuschen, sie weiß nicht, was sie sagt, Frau Scheit! 12

Über Theater

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DER NEFFE: Hör nicht hin auf sie, Tante! Komm, wir gehen! Ich nehm schon die Körb! FRAU ZWILLICH: Stinkende Fisch hat sie in den Roten Löwen geschickt! Ein Schandfleck ist sie für den ganzen Fischmarkt! Den Stand hat sie nur gekriegt, weil ihr sauberer Bruder einen Saufkumpan bei der Markt­ polizei hat!

Zwischenszenen

Die Zwischenszenen für Shakespeares „Hamlet“ und „Romeo und Julia“ sollen nicht etwa in Aufführungen dieser Stücke eingefügt, sondern nur von den Darstellern auf Stückproben gespielt wer­ den. Die Fährenszene für den Hamlet, einzuschieben zwischen die dritte und vierte Szene des vierten Aktes, und die Rezitation des Schlußberichts sollen eine heroisierte Darstellung des Hamlet ver­ hindern. Die bürgerliche Hamlet-Kritik begreift für gewöhnlich das Zaudern Hamlets als das interessante neue Moment dieses Stückes, hält jedoch die Schlächterei des fünften Aktes, das heißt die Abstreifung der Reflexion und den Übergang zur „Tat“ für eine positive Lösung. Die Schlächterei ist aber ein Rückfall, denn die Tat ist eine Untat. Das Zaudern des Hamlet erfährt durch die kleine Übungsszene eine Erklärung: Es entspricht der neuartigen bürgerlichen Verhaltungsweise, die bereits auf dem politisch-sozia­ len Gebiet verbreitet ist. Die Zwischenszenen für „Romeo und Ju­ lia“ sollen natürlich nicht den schlichten Satz „Des einen Lust ist des andern Leid“ belegen, sondern die Darsteller des Romeo und der Julia instand setzen, diese Charaktere widerspruchsvoll aufzu­ bauen.

FÄHRENSZENE

Zu spielen zwischen der dritten und vierten Szene des vierten Aktes von Shakespeares „Hamlet“

Eine Fähre. Hamlet und der Fährmann. . Ein Vertrauter Hamlets. HAMLET: Was ist das für ein Gebäude dort am Ufer? FÄHRMANN: Das ist ein Kastell, Eure Hoheit, ge­ baut für die Küstenwache. 179

HAMLET: Aber was soll die Holzrinne zum Sund herunter? FÄHRMANN: Auf ihr werden die Fische auf die Boote verladen, die nach Norwegen fahren. HAMLET: Ein sonderbares Kastell. Wohnen denn Fische drin? FÄHRMANN: Sie werden dort eingesalzen. Euer durchlauchtigster Vater, der neue König, hat einen Han­ delsvertrag mit Norwegen abgeschlossen. HAMLET: Früher gingen unsere Soldaten dorthin. Man hat sie also jetzt einsalzen lassen? Sonderbarer Krieg. FÄHRMANN: Da ist kein Krieg mehr. Wir haben nachgegeben und auf den Küstenstrich verzichtet, und sie haben sich verpflichtet, unsere Fische abzunehmen. Seitdem haben wir dort mehr zu sagen als früher, wirk­ lich, Herr. HAMLET: Dann sind wohl die Fischer sehr für den neuen König? FÄHRMANN: Sie sagen: Der Kriegslärm macht die Mägen nicht voll, Herr. Sie sind für den König. HAMLET: Aber der Gesandte meines durchlauchti­ gen ersten Vaters, den müßt Ihr von dem zweiten unter­ scheiden, ist, höre ich, am norwegischen Hof auf die Backe geschlagen worden. Ist das jetzt ausgelöscht? FÄHRMANN: Euer durchlauchtigster zweiter Vater, Herr, so zu sprechen, soll gesagt haben, der Herr Ge­ sandte habe zu viel Backe für den Gesandten eines Lan­ des, das zu viel Fische hat. HAMLET: Eine weise Zurückhaltung. FÄHRMANN: Wir hatten ein halbes Jahr schwere Sorgen hier an der Küste. Der König zauderte mit der Unterschrift. HAMLET: Wirklich, zauderte er? FÄHRMANN: Er zauderte. Einmal wurde die Wache im Kastell sogar verstärkt. Alle sagten: Es gibt Krieg und nicht Fischhandel. Oh, wie es hin und her ging, Hoff180

nung und Verzweiflung! Aber Gott leitete den guten Kö­ nig, und er schloß den Vertrag ab. DER VERTRAUTE HAMLETS: Und die Ehre? HAMLET: Aufrichtig gesprochen, darin sehe ich keine Verletzung der Ehre. Die neuen Methoden, Freund. Das trifft man jetzt allenthalben. Das Blut riecht nicht mehr gut, ein Wandel des Geschmacks. DER VERTRAUTE: Unkriegerische Zeiten, schwäch­ liche Geschlechter. HAMLET: Warum unkriegerisch? Vielleicht kämpfen jetzt die Fische? Ein amüsanter Gedanke, die Soldaten einzusalzen. Ein wenig Schande und viel Ehre. Und wer den Gesandten auf die Backe schlägt, muß den Fisch kaufen. Die Schande gräbt ihm das Grab, und die Ehre ißt gern Fisch. So auch bringt sich neuerdings der Mörder in gute Erinnerung, indem er sich lächelnd die Backe reibt, und der schlechte Sohn zeigt auf das Geld für gut verkaufte Fische. Seine Skrupeln dem Mörder gegenüber, nicht die dem Ermordeten gegenüber, fangen an, ihn zu ehren, seine Feigheit ist seine beste Seite, er wäre ein Schurke, wenn er kein Schurke wäre und so weiter, und so heißt es: sich schlafen legen, damit der Fischfang nicht gestört wird. Der Handel blüht, das üppige Grab zerfällt. Oh, wieviel mehr anklagend, wenn zerfallend! Ein Handel ist nicht abgeschlossen, doch Den Schlußstrich ziehend, streichst du einen neuen Voreilig durch, vielleicht gibt’s auch nacheilig? Jedoch’ein Schurke atmet auf? Und wird, Fast schon ein guter Mann, scheint’s nicht nur, ist’s! Und du reiß ein, was aufgebaut wird, weil’s Auf Trümmern steht (und wächst und Früchte bringt!) Füll das Kastell mit Schlächtern wieder, kehr zurück Zur blutigen Tat, weil jener mit ihr anfing! Oh, hätt er doch gezaudert! Hätt er doch!

Schlußbericht Und so, sorgsam benutzend Schall zufälliger Trommeln Den Schlachtruf unbekannter Schlächter gierig aufnehmend Schlachtet er, durch solchen Zufall endlich ledig Seiner so menschlichen und vernünftigen Hemmung In einem einzigen, schrecklichen Amoklauf Den König, seine Mutter und sich selbst. Rechtfertigend seines Nachfolgers Behauptung Er hätte sich, wäre er hinaufgelangt, sicher Höchst königlich bewährt.

DIE BEDIENTEN Zu spielen zwischen der ersten und zweiten Szene des zweiten Aktes von Shakespeares „Romeo und Julia“

I

Romeo und einer seiner Pächter.

ROMEO: Ich sagte dir schon, Alter, ich brauche das Geld und nicht für eine schlechte Sache. PÄCHTER: Aber wo sollen wir hingehen, wenn Eure Lordschaft das Grundstück jetzt so plötzlich verkaufen? Wir sind zu fünft. ROMEO: Kannst du dich nirgends verdingen? Du bist doch ein guter Arbeiter, von mir bekommst du die besten Zeugnisse. Ich muß das Geld haben, ich habe Ver­ pflichtungen, davon verstehst du nichts, oder soll ich dir erklären, daß ich eine Dame, die mir alles gegeben hat, nicht ohne jedes Präsent auf die Straße setzen kann? Adieu, mein Lieb, und sonst nichts? Willst du, daß ich eine solche Gemeinheit begehe? Dann bist du nichts als ein schäbiger Schuft, ein selbstsüchtiger Hund. Und Ab­ schiedspräsente kosten. Und sie sind wahrhaftig selbst­ los, das mußt du zugeben, man bekommt nichts mehr da­ für. Ist es so, alter Freund? Sei kein Spielverderber. Wer 182

hat mich auf den Knien geschaukelt und mir den ersten Bogen geschnitzt, wenn nicht du? Soll es heißen: Selbst Gobbo versteht mich nicht mehr, läßt mich kalt im Stich, wünscht mich einen Schubiak? Mensch, ich liebe! Ich würde alles opfern. Ich würde selbst eine Untat begehen für sie, die ich liebe, einen Mord. Ich würde darauf stolz sein, das verstehst du nicht. Du bist zu alt, alter Gobbo, vertrocknet. Verstehst du, ich muß die andere loswerden. Und nun habe ich dich in mein Vertrauen gezogen, und jetzt frage ich dich: Bist du noch der alte Gobbo, der du warst, oder nicht? Antworte! PÄCHTER: Herr, ich bin kein Redner. Aber ich weiß nicht, wohin mit meinen Leuten, wenn Sie mich von Ihrem Grundstück jagen. ROMEO: Armer alter Gobbo. Er versteht nicht mehr. Ich sage ihm, daß ich in Flammen stehe, und er murmelt etwas von einem Grundstück. Habe ich ein Grundstück? Ich habe es vergessen. Nein, ich habe kein Grundstück, oder doch, es muß weg, was weiß ich von Grundstücken: ich verbrenne. PÄCHTER: Und wir hungern, Herr. ROMEO: Dummkopf. Kann man nicht vernünftig re­ den mit dir! Könnt ihr Tiere nicht fühlen? Dann weg mit euch, je bälder, desto besser. PÄCHTER: Ja, weg mit uns. Da, wollen Sie auch noch meine Jacke? Er zieht sie aus. Meinen Hut? Die Stiefel? Sind wir Tiere? Dann müssen wir doch fressen. ROMEO: Ah, so also kommst du mir. Das ist dein wahres Antlitz? Das du fünfundzwanzig Jahre versteckt hast wie einen Flecken Aussatz? Das ist der Lohn, daß ich menschlich mit dir rede? Schau, daß du wegkommst! Sonst vergreif ich mich noch an dir, du Tier. Er jagt ihn fort, aber während der Liebesszene lungert der Pächter noch hinten herum. ROMEO: Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.

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Julia und ihre Dienerin, JULIA: Und du liebst deinen Thurio? Wie liebst du ihn? DIENERIN: Wenn ich nachts schon das Vaterunser hinter mir habe und die Amme schon schnarcht, mit Ver­ laub, stehe ich noch einmal auf und gehe barfuß zum Fenster, Fräulein. JULIA: Nur, weil er vielleicht unten stehen könnte? DIENERIN: Nein, nur weil er schon einmal unten gestanden ist. JULIA: Oh, wie ich das verstehe. Ich schaue den Mond gern an, weil wir ihn zusammen angesehen haben. Aber sage mir noch mehr darüber, wie du ihn liebst. Wenn er zum Beispiel in Gefahr käme . . . DIENERIN: Meinen Sie, wenn er zum Beispiel ent­ lassen würde? Ich würde stracks zu seinem Herrn laufen. JULIA: Nein, wenn sein Leben bedroht wäre . . . DIENERIN: Ach, wenn Krieg wäre? Da würde ich so lange in ihn hineinreden, bis er sich krank stellte und einfach nicht aus dem Bett aufstünde. JULIA: Aber das wäre feige. DIENERIN: Ich würde schon erreichen, daß er feige wäre. Wenn ich mich zu ihm legte, bliebe er schon im Bett. JULIA: Nein, ich meinte, wenn er in Gefahr käme und du könntest ihn retten, indem du selber dein Leben opfertest. DIENERIN: Meinen Sie, wenn er die Pestilenz be­ käme? Ich würde ein Tüchlein mit Essig in den Mund nehmen und ihn pflegen, sicher. JULIA: Würdest du überhaupt noch an das Tüchlein denken? DIENERIN: Wie meinen Sie das? JULIA: Und es hilft doch auch nicht. DIENERIN: Nicht viel, aber etwas doch. 184

JULIA: Jedenfalls würdest du also dein Leben für ihn aufs Spiel setzen, und das würde ich für meinen Romeo auch. Aber noch etwas: wenn er zum Beispiel in den Krieg ginge und zurückkäme und es fehlte ihm etwas? DIENERIN: Was? JULIA: Das kann ich nicht sagen. DIENERIN: Ach so, das! Da würde ich ihm die Augen auskratzen. JULIA: Warum? DIENERIN: Weil er in den Krieg gezogen ist. JULIA: Es wäre also aus zwischen euch? DIENERIN: Ja, wäre es denn nicht aus? JULIA: Du liebst ihn überhaupt nicht. DIENERIN: Was, das nennen Sie nicht Liebe, wenn ich so gern mit ihm zusammen bin? JULIA: Aber es ist eine irdische Liebe. DIENERIN: Das ist schön, irdische Liebe, nicht? JULIA: Das schon. Aber ich liebe meinen Romeo mehr, das kann ich dir sagen. DIENERIN: Meinen Sie, weil ich so gern mit meinem Thurio zusammen bin, liebe ich ihn nicht so? Aber viel­ leicht vergebe ich ihm sogar das, von dem Sie gesprochen haben. Ich meine, wenn die erste Aufregung vorüber wäre. Sicher. Ich liebe ihn doch zu stark. JULIA: Aber du hast gezaudert. DIENERIN: Das war aus Liebe. JULIA umarmt sie: Das ist auch wahr. Du mußt heute abend zu ihm gehen. DIENERIN: Ja, wegen der andern. Ich bin so froh, daß Sie mir frei geben. Wenn er sie trifft, ist alles aus. JULIA: Und du bist sicher, daß du ihn an der Hinter­ tür an der Mauer abfangen kannst? DIENERIN: Ja, da muß er heraus. Und er sollte sie erst um elf Uhr treffen. JULIA: Wenn du hier jetzt weggehst, kannst du ihn nicht versäumen. Hier, nimm dieses Kopftuch, das ist hübsch, und was hast du für Strümpfe an? DIENERIN: Meine besten. Und ich will das freund185

lichste Lächeln aufsetzen und netter zu ihm sein, als ich je gewesen bin. Ich liebe ihn sehr. JULIA: War das nicht ein Zweig, der knackte? DIENERIN: Es war, als ob jemand von der Mauer gesprungen wäre. Ich will nachsehen. JULIA: Aber versäume nicht deinen Thurio. DIENERIN am Fensterz Wer, glauben Sie, ist von der Mauer gesprungen und wer steht unten im Garten? JULIA: ’s ist Romeo! Oh, Nerida, ich muß ihn vom Balkon aus sprechen. DIENERIN: Aber der Türschließer schläft unter Ih­ rem Zimmer, Fräulein. Er wird alles hören. Plötzlich wird niemand mehr hier im Zimmer herumgehen, aber auf dem Balkon, und draußen wird gesprochen werden. JULIA: Dann mußt du hier auf- und abgehen und an der Schüssel rücken, als ob ich mich wüsche. DIENERIN: Aber dann werde ich meinen Thurio nicht treffen, und alles wird für mich aus sein. JULIA: Vielleicht wird er auch abgehalten heute abend, er ist doch ein Bediensteter. Geh hier hin und her und rück an der Waschschüssel. Liebe, liebe Nerida! Laß mich nicht im Stich, ich muß ihn sprechen. DIENERIN: Kann es nicht schnell geschehen? Bitte, machen Sie es schnell ab. JULIA: Sehr schnell, Nerida, sehr schnell, geh hier im Zimmer auf und ab. Julia erscheint auf dem Balkon. Die Dienerin geht auf und ab und rückt mitunter an der Schüssel während der Liebesszene. Als es elf Uhr schlägt, fällt sie in Ohnmacht.

Rundgedichte

Eine gute Übung ist das Aufsagen von Rundgedichten wie Ein Hund ging in die Küche Und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch das Hackbeil Und schlug den Hund entzwei. Da kamen die andern Hunde Und gruben ihm ein Grab Und setzten ihm einen Grabstein Der folgende Inschrift hat: Ein Hund ging in die Küche. . .

Die Achtzeiler werden jeweils verschieden im Gestus auf­ gesagt wie von verschiedenen Charakteren in verschiede­ nen Situationen. Die Übung kann auch noch zur Erler­ nung der Fixierung der Vortragsart benutzt werden.

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Der Wettkampf des Homer und Hesiod ist der altgriechischen Homerlegende entnommen und stützt sich auf eine Übertragung von Wolfgang Schadewaldt („Legende von Homer, dem fahrenden Sänger“, Verlag Eduard Stichnote, Pots­ dam). Das Übungsstück gibt die Gelegenheit, das Sprechen von Versen zu studieren und zugleich den Charakter zweier ehrgeiziger Greise zu zeichnen, die einen gestenreichen Kampf vorführen. Mitarbeiterin: Ruth Berlau.

VORLESER: Es begab sich, daß.auf der Insel Euboia Ganyktor die Leichenfeier für seinen Vater, König Amphidamas, begehen wollte. Da lud er alle Männer, welche sich in Leibeskraft und Schnelligkeit, doch auch durch Kunst und Wissen hervortaten, zu Wettspielen nach sei­ ner Stadt Chalkis und stiftete ihnen zu Ehren kostbare Preise. Da machte sich auch Homer auf den Weg und traf von ungefähr, so wird berichtet, in Aulis mit dem Sänger Hesiodos zusammen, und beide fanden sich mit­ einander in Chalkis ein. Zu Kampfrichtern waren edle chalkidische Herren bestellt, darunter des toten Königs Bruder, Panedes. Da lieferten ‘die beiden Sänger sich einen herrlichen Kampf, Sieger aber, so erzählt man, blieb Hesiod, und das kam so. Hesiod trat in den Ring und legte Homer Frage um Frage vor, und Homer mußte antworten. Und Hesiod be­ gann:

HESIOD: Lieber Bruder Homer, man rühmt dich, weil du der Dichtung Große Gedanken vermengst. So los denn, laß uns Ge­ danken Haben! Sag uns zuerst: Was wär den Menschen das Beste? Und was wär, fürsorglich gedacht, das Nächste des Be­ sten ? 188

HOMER: Nimmer geboren sein, das wär den Menschen das Beste! Einmal geboren jedoch, alsbald zum Hades zu fahren! HESIOD: Schön. Etwas finster vielleicht. .. HOMER: Nicht sehr. HESIOD: Doch ein wenig. So sag uns: Was wär, deines Bedünkens, das Köstlichste unter der Sonne? HOMER: Das: Wenn Fröhlichkeit rings in der Stadt die Gemüter erfüllet. Und dann schmausen die Gäste im Saal und lauschen dem Sänger Bank an Bank, in Reihn, und rundum über den Tischen Türmen sich Brot und Fleisch, und der Mundschenk schöpft aus dem Mischkrug Keinem fehlenden Wein und bringt ihn und füllet die Becher: Das ist köstlich, ist mir bei weitem das Schönste auf Erden. VORLESER: Als diese Verse verklungen waren, rie­ fen sie die helle Bewunderung der Griechen hervor, der­ gestalt, daß man sie die „Goldenen Sprüche“ hieß und noch heutzutage mit ihnen die Schmäuse und Spenden beginnt bei den gemeinsamen Opferfesten. Den Hesiod aber verdroß es, daß Homer einen so gu­ ten Tag hatte. So ging er zu verfänglichen Fragen mit Doppelsinn über. Er sprach eine Reihe von Versen, die sich närrisch ausnahmen, und verlangte, daß Homer stets so einfallen sollte, daß etwas Verständiges daraus wurde.

HESIOD: Rindfleisch gab es zum Mahl und die damp­ fenden Hälse der Pferde HOMER: Lösten sie unter dem Joch; sie hatten sich müde gestritten. HESIOD: Keiner ist so voll Eifers an Bord wie der Phryger, der Faulpelz 189

HOMER: Ruft man die Mannen am Strande zur Nacht, das Essen zu fassen. HESIOD: Der war tapfer vor allen im Kampf und immer in Ängsten HOMER: Bangte die Mutter um ihn; ist Krieg doch hart für die Frauen. HESIOD: Sie aber schmausten von früh bis spät, und hatten doch gar nichts HOMER: Mitgebracht, doch der Wirt gewährte es ihnen in Fülle. HESIOD: Rüstig packten sie an mit der Hand die lo­ dernde Feuerglut HOMER: Gar nicht achtend, ihr Brot ins löschende Wasser zu ziehen. HESIOD: Als sie nun aber gespendet und ausgetrunken die Salzflut HOMER: Abermals zu befahren bereit mit gebordeten Schiffen HESIOD: Rief Agamemnon laut zu den Göttern allen: Verderbt uns HOMER: Nicht auf dem Meer! HESIOD: So betete er, und wieder begann er: Laßt es euch schmecken, ihr Männer, unbesorgt: keiner von uns wird Je das ersehnte Gestade der Heimaterde erreichen HOMER: Wund und siech, nein, heil und gesund kehrt jeder nach Hause! Sicher, das ist’s, was du meintest, du reichtest mir treff­ lich den Ball hin!

VORLESER: Allein Hesiod wollte es dem Homer nicht gönnen, daß er durchaus das Feld behaupten sollte, und begann von neuem: HESIOD: Sage mir dann und füg’s in den Vers, oh, Sprosse des Meles:

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Wie und in welcherlei Geist gedeihen die Völker am besten? HOMER: Wenn sie nicht dulden, daß einer verdient an Geschäften, die andern Irgend Verluste bringen. Und wenn sie den Preis auf die Tugend Statt auf das Laster setzen, das heißt, wenn sie Tugend ertragreich Laster hingegen gefahrvoll und teuer zu machen ver­ stehen. HESIOD: So, daß stets der Gemeinnutz geh vor dem Eigennutz, meinst du? HOMER: Nein, mein Freund, es muß alles so eingerich­ tet im Staat sein Daß der Eigennutz immer auch gleich den Gemeinnutz bedeutet. HESIOD: Also bist du dafür, daß man selbisch ist, Sänger der Götter? HOMER: Daß man, erkennend sein Wohl, es allzeit gut mit sich selbst meint. HESIOD: Bringt so Gemeinsinn nichts zustande oder zu wenig? HOMER: Doch, Freund, viel und genug und ist, wenn gemeinsam, natürlich. HESIOD: Gibt es nicht einen, dem doch selbst du Ver­ trauen gewährtest? HOMER: Ja, wenn mit seinem Geschäft er ganz die gleiche Gefahr läuft. HESIOD: Was aber gilt als Gipfel des Glücks den sterb­ lichen Menschen? HOMER: Wenn man nur wenig gelitten und viel sich im Leben gefreut hat.

VORLESER: Als auch dieser Gang geendet war, ver­ langten die Griechen einhellig, daß man den Homer zum Sieger krönen sollte. Doch König Panedes ordnete an, die beiden Sänger sollten ein jeder noch das schönste 191

Stück aus ihren eigenen Dichtungen sprechen. Da begann Hesiod und sprach aus den „Werken und Tagen“:

HESIOD: Wenn sich im Siebengestirn die Atlastöchter erheben Also beginne die Mahd; das Pflügen, wenn sie versinken! Vierzig Nächte sind jene und vierzig Tage verborgen Jeglichem Aug, doch dann im Lauf der rollenden Jahrzeit Steigen sie wieder empor mit dem frühesten Schärfen des Eisens. Das ist im Flachland der Brauch, ob nah dem offenen Meere Draußen der Landmann wohnt, ob er tief in den Gründen der Berge Fern der brausenden See auf trächtigem Boden sein Korn baut.

VORLESER: Darauf Homer aus der „Ilias“: HOMER: Und nun schlossen sie rings die Reihn um die beiden Aianten Fest: da hätte nicht Ares, der Gott, einen Makel gefun­ den Pallas nicht, die Völker-Erregerin, sondern die Besten Waren erlesen den Troern zu stehn und dem göttlichen Hektor Fugten den deckenden Schild an den Schild und Lanze an Lanze Rand aber drängte den Rand, Mann Mann, und Sturm­ hut den Sturmhut Buschige Helme berührten mit blinkenden Bügeln ein­ ander Wenn sie nickten: so dicht aufeinander standen die Mannen. Übers Gefilde der Schlacht, der männermordenden, sträubten 192

Lang sich Lanzen empor, zum Stoß erhoben. Geblendet Ward das Auge vom Strahl, dem ehernen, glänzender Helme Frischgeglätteter Brünnen und widerscheinender Schilde Als einander man kam.

VORLESER: Wieder waren die Griechen über Ho­ mer verwundert, priesen es, wie kunstgerecht seine Verse geraten seien, und verlangten, daß man ihm den Sieg zu­ sprechen sollte. Allein König Panedes drückte den Kranz Hesiodos aufs Haupt, denn es sei recht und billig, er­ klärte er, daß dem Manne der Sieg gehöre, welcher zu Landbau und Friedensarbeit rufe, statt Kriege und Schlachten zu schildern.

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Über Theater

NACHTRÄGE ZUR THEORIE DES „MESSINGKAUFS“

[Erster Nachtrag zur Theorie des „Messingkaufs“] Die Theorie ist verhältnismäßig einfach. Betrachtet wird der Verkehr zwischen Bühne und Zuschauerraum, die Art und Weise, wie der Zuschauer sich der Vorgänge auf der Bühne zu bemächtigen hat. Das Theatererlebnis kommt, wie schon in der „Poetik“ des Aristoteles konsta­ tiert, vermittels eines Einfühlungsaktes zustande. Unter den Elementen, aus denen sich das Theatererlebnis, so zustande gekommen, zusammensetzt, kann sich Kritizis­ mus nicht befinden, je weniger, desto besser die Einfüh­ lung funktioniert. Kritizismus wird in bezug auf das Zu­ standekommen der Einfühlung erzeugt, niemals in bezug auf die Vorgänge, die der Zuschauer auf der Bühne ab­ gebildet sieht. Es ist nicht ganz gerechtfertigt, beim ari­ stotelischen Theater von „Vorgängen, die der Zuschauer auf der Bühne abgebildet sieht“, zu sprechen. In Wirk­ lichkeit sind Spiel und Fabel des aristotelischen Theaters nicht dazu bestimmt, Abbilder von Vorgängen im Leben zu geben, sondern das ganz festgelegte Theatererlebnis (mit gewissen Katharsiswirkungen) zustande zu bekom­ men. Handlungen, die an das wirkliche Leben erinnern, werden dazu allerdings benötigt, und sie müssen einiger­ maßen wahrscheinlich sein, damit die Illusion zustande kommt, ohne welche die Einfühlung nicht gelingt. Je­ doch ist es keineswegs nötig, daß etwa auch die Kausa­ lität der Vorgänge in Erscheinung tritt, es genügt voll­ ständig, wenn sie nicht bezweifelt zu werden braucht . * * Im Prinzip ist es möglich, mit einer vollständig irreführenden Darstellung eines Vorgangs aus dem Leben ein komplettes Thcatererlebnis herbeizuführen. 197

Nur derjenige, welcher hauptsächlich an den Vorgängen des Lebens selber interessiert ist, auf die in den Thea­ tern angespielt wird, sieht sich in der Lage, die Vorgänge auf der Bühne als Abbilder der Wirklichkeit anzusehen und zu kritisieren. Solches tuend, verläßt er den Bezirk der Kunst, denn die Kunst sieht ihre Hauptaufgabe nicht in der Verfertigung von Abbildern der Wirklichkeit schlechthin. Wie gesagt ist sie nur an ganz bestimmten Abbildern, das heißt Abbildern mit bestimmter Wirkung interessiert. Der Einfühlungsakt, den sie produziert, würde durch ein kritisches Eingehen des Zuschauers auf die Vorgänge selber lediglich gestört. Die Frage ist nun, ob es überhaupt unmöglich ist, die Abbildung der wirk­ lichen Vorgänge zur Aufgabe der Kunst zu machen und damit die kritische Haltung des Zuschauers zu den wirk­ lichen Vorgängen zu einer kunstgemäßen Haltung. Bei dem Studium dieser Frage ergibt sich, daß zur Herbei­ führung dieser großen Wendung die Art des Verkehrs zwischen Bühne und Zuschauerraum geändert werden müßte. Die Einfühlung verlöre ihre beherrschende Stel­ lung in der neuen Kunstausübung. Dagegen wird nun­ mehr der Verfremdungseffekt (V-Effekt) hervorgebracht, der ebenfalls ein Kunsteffekt ist und zu einem Theater­ erlebnis führt. Er besteht darin, daß die Vorgänge des wirklichen Lebens auf der Bühne so abgebildet werden, daß gerade ihre Kausalität besonders in Erscheinung tritt und den Zuschauer beschäftigt. Emotionen kommen auch durch diese Kunst zustande, und zwar ist es die Meiste­ rung der Wirklichkeit, welche, durch diese Vorführungen ermöglicht, den Zuschauer in Emotion versetzt. Der VEffekt ist ein altes Kunstmittel, bekannt aus der Ko­ mödie, gewissen Zweigen der Volkskunst und der Praxis des asiatischen Theaters.

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Zweiter Nachtrag zur Theorie des „Messingkauf's“

Einige Punkte können das Auftreten der materialistischen Dialektik in der Theorie zeigen: 1

Die Selbstverständlichkeit, das heißt die besondere Ge­ stalt, welche die Erfahrung im Bewußtsein angenommen hat, wird wieder aufgelöst, wenn sie durch den V-Effekt negiert und dann in eine neue Verständlichkeit verwan­ delt wird. Eine Schematisierung wird hier zerstört. Die eigenen Erfahrungen des Individuums korrigieren oder bestätigen, was es von der Gesamtheit übernommen hat. Der ursprüngliche Findungsakt wird wiederholt. 2 Der Widerspruch zwischen Einfühlung und Distanzie­ rung wird vertieft und wird ein Element der Darstellung. 3

Bei der Historisierung wird ein bestimmtes Gesellschafts­ system vom Standpunkt eines anderen Gesellschafts­ systems aus betrachtet. Die Entwicklung der Gesellschaft ergibt die Gesichtspunkte. Wichtiger Punkt: die aristotelische Dramaturgie berück­ sichtigt nicht, das heißt gestattet nicht, zu berücksichtigen die objektiven Widersprüche in den Prozessen. Sie müß­ ten in subjektive (im Helden verlagerte) umgewandelt werden.

Dritter Nachtrag zur Theorie des „Messingkaufs“ Das Bedürfnis des Zuschauers unserer Zeit nach Ablen­ kung vom täglichen Krieg wird ständig vom täglichen Krieg wieder reproduziert, streitet aber ebenso ständig mit dem Bedürfnis, das eigene Schicksal lenken zu kön­ nen. Die Scheidung der Bedürfnisse nach Unterhaltung 199

und nach Unterhalt ist eine künstliche, in der Unterhal­ tung (der ablenkenden Art) wird der Unterhalt ständig bedroht, denn der Zuschauer wird nicht etwa ins Nichts geführt, nicht in eine Fremde, sondern in eine verzerrte Welt, und er bezahlt seine Ausschweifungen, die ihm nur als Ausflüge vorkommen, im realen Leben. Nicht spur­ los gehen die Einfühlungen in den Gegner an ihm vor­ über, er wird sein eigener Gegner damit. Der Ersatz be­ friedigt das Bedürfnis und vergiftet den Körper, die Zu­ schauer wollen zugleich abgelenkt werden und zugelenkt werden, und beide müssen sie wollen, aus dem täglichen Krieg heraus. Das neue Theater ist einfach ein Theater des Menschen, der angefangen hat, sich selbst zu helfen. 300 Jahre Tech­ nik und Organisation haben ihn gewandelt. Sehr spät vollzieht das Theater die Wendung. Der shakespearische Mensch ist seinem Schicksal, das heißt seinen Leiden­ schaften hilflos ausgeliefert. Die Gesellschaft bietet ihm keine Hand. Innerhalb eines durchaus fixierten Bezirks wirkt sich Großartigkeit und Vitalität eines Types dann aus. Das neue Theater wendet sich so an den gesellschaft­ lichen Menschen, denn der Mensch hat sich gesellschaft­ lich geholfen in seiner Technik, Wissenschaft und Politik. Der einzelne Typus und seine Handlungsweise wird so bloßgelegt, daß die sozialen Motoren sichtbar werden, denn nur ihre Beherrschung liefert ihn dem Zugriff aus. Das Individuum bleibt Individuum, wird aber ein gesell­ schaftliches Phänomen, seine Leidenschaften etwa werden gesellschaftliche Angelegenheiten und auch seine Schick­ sale. Die Stellung des Individuums in der Gesellschaft verliert ihre „Naturgegebenheit“ und kommt in den Brennpunkt des Interesses. Der V-Effekt ist eine soziale Maßnahme.

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[Vierter] "Nachtrag zur Theorie des „Messingkaujs 1

Bei der aristotelischen Stückkomposition mit der dazuge­ hörigen Spielweise (die beiden Begriffe sind eventuell umzustellen) wird die Täuschung des Zuschauers über die Art und Weise, wie die Vorgänge auf der Bühne sich im wirklichen Leben abspielen und dort zustande kommen, dadurch gefördert, daß der Vortrag der Fabel ein abso­ lutes Ganzes bildet. Die Details können nicht einzeln mit ihren korrespondierenden Teilen im wirklichen Leben konfrontiert werden. Man darf nichts „aus dem Zusam­ menhang reißen“, um es etwa in den Zusammenhang der Wirklichkeit zu bringen. Das wird durch die verfrem­ dende Spielweise abgestellt. Die Fortführung der Fabel ist hier diskontinuierlich, das einheitliche Ganze besteht aus selbständigen Teilen, die jeweils sofort mit den kor­ respondierenden Teilvorgängen in der Wirklichkeit kon­ frontiert werden können, ja müssen. Ständig zieht diese Spielweise alle Kraft aus dem Vergleich mit der Wirk­ lichkeit, das heißt, sie lenkt das Auge ständig auf die Kausalität der abgebildeten Vorgänge. 2

Um den V-Effekt zu setzen, muß der Schauspieler die restlose Verwandlung in die Bühnenfigur aufgeben. Er zeigt die Figur, er zitiert den Text, er wiederholt einen wirklichen Vorgang. Der Zuschauer wird nicht völlig „in Bann gezogen“, seelisch nicht gleichgeschaltet, nicht in eine fatalistische Stimmung dem vorgeführten Schicksal gegenüber gebracht (Er kann Zorn empfinden, wo die Bühnenfigur Freude empfindet usw. Es ist ihm freige­ stellt, mitunter sogar nahegelegt, sich einen andern Ver­ lauf vorzustellen oder einen andern Verlauf zu suchen usw.) Die Vorgänge werden historisiert und sozial milieurisiert. (Das erstere findet natürlich vor allem bei Vorgängen der Gegenwart statt: Was ist, war nicht immer und wird nicht immer sein. Das zweite stellt ständig die 201

momentane Gesellschaftsordnung in Frage und zur Dis­ kussion.) Die Setzung des V-Effekts ist eine Technik, die in den Grundzügen gelehrt wird. 3 Um Gesetzlichkeiten festzustellen, muß man die natür­ lichen Vorgänge sozusagen verwundert aufnehmen, das heißt, man muß ihre „Selbstverständlichkeit“ auflösen, um zu ihrem Verständnis zu gelangen. Um die Gesetz­ lichkeit beim Fall eines geschleuderten Körpers ausfindig zu machen, muß man für ihn in der Phantasie noch an­ dere Möglichkeiten setzen; unter den gedachten Mög­ lichkeiten ist die natürliche, tatsächliche dann die rich­ tige, und die gedachten anderen Möglichkeiten stellen sich als Unmöglichkeiten heraus. Das Theater, das mit seinem V-Effekt eine solche staunende, erfinderische und kritische Haltung, des Zuschauers bewirkt, ist, indem es eine Haltung bewirkt, die auch in den Wissenschaften eingenommen werden muß, noch kein wissenschaftliches Institut. Es ist lediglich ein Theater des wissenschaft­ lichen Zeitalters. Es verwendet die Haltung, die sein Zuschauer im Leben einnimmt, für das Theatererleb­ nis. Anders ausgedrückt: die Einfühlung ist nicht die ein­ zige, der Kunst zur Verfügung stehende Quelle der Ge­ fühle.

4 Im Begriffskreis des aristotelischen Theaters wäre die beschriebene Spielweise nur eine Stilangelegenheit. Sie ist viel mehr. Jedoch verliert das Theater mit ihr keines­ wegs seine alten Funktionen der Unterhaltung und Be­ lehrung, sondern erneuert sie geradezu. Die Darstellung wird wieder eine völlig natürliche. Sie kann die verschie­ denen Stile aufweisen. Die Beschäftigung mit der Wirk­ lichkeit setzt die Phantasie erst in den rechten genuß­ vollen Gang. Heiterkeit und Ernst leben in der Kritik auf, die eine schöpferische ist. Im ganzen handelt es sich um eine Säkularisierung der alten kultischen Institution.

KLEINES ORGANON FÜR DAS THEATER

Kleines Organon für das Theater

Vorrede

In der Folge wird untersucht, wie eine Ästhetik aussähe, bezogen von einer bestimmten Art, Theater zu spielen, die seit einigen Jahrzehnten praktisch entwickelt wird. In den gelegentlichen theoretischen Äußerungen, Ausfällen, technischen Anweisungen, publiziert in der Form von Anmerkungen zu Stücken des Verfassers, wurde das Ästhetische nur beiläufig und verhältnismäßig uninter­ essiert berührt. Eine bestimmte Spezies Theater erwei­ terte und verengte da seine gesellschaftliche Funktion, vervollständigte oder siebte seine artistischen Mittel und etablierte oder behauptete sich in der Ästhetik, wenn darauf die Rede kam, indem es die herrschenden morali­ schen oder geschmacksmäßigen Vorschriften mißachtete oder für sich anführte, je nach der Kampf läge. Es ver­ teidigte etwa seine Neigung zu gesellschaftlichen Tenden­ zen, indem es gesellschaftliche Tendenzen in allgemein anerkannten Kunstwerken nachwies, unauffällig nur da­ durch, daß sie eben die anerkannten Tendenzen waren. In der zeitgenössischen Produktion bezeichnete es die Ent­ leerung von allem Wissenswerten als ein Verfallsmerk­ mal: es beschuldigte diese Verkaufsstätten für Abend­ unterhaltung, sie seien herabgesunken zu einem Zweig des bourgeoisen Rauschgifthandels. Die falschen Abbil­ dungen des gesellschaftlichen Lebens auf den Bühnen, eingeschlossen die des sogenannten Naturalismus, ent­ lockten ihm den Schrei nach wissenschaftlich exakten Ab­ bildungen und der abgeschmackte Kulinarismus geistloser Augen- oder Seelenweiden den Schrei nach der schönen Logik des Einmaleins. Den Kult des Schönen, der be­ trieben wurde mit der Abneigung gegen das Lernen und 205

der Verachtung des Nützlichen, lehnte es verächtlich ab, besonders, da nichts Schönes mehr hervorgebracht wurde. Angestrebt wurde ein Theater des wissenschaftlichen Zeit­ alters, und wurde es seinen Planern zu beschwerlich, aus dem Zeughaus der ästhetischen Begriffe genug auszulei­ hen oder zu stehlen, womit sie sich die Ästheten der Presse vom Leibe halten konnten, drohten sie einfach die Absicht an, „aus dem Genußmittel den Lehrgegenstand zu entwickeln und gewisse Institute aus Vergnügungsstät­ ten in Publikationsorgane umzubauen“ („Anmerkungen zur Oper“), das heißt aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren. Die Ästhetik, das Erbstück einer depravierten und parasitär gewordenen Klasse, befand sich in einem so beklagenswerten Zustand, daß ein Theater so­ wohl Ansehen als Bewegungsfreiheit gewinnen mußte, wenn es sich lieber Thaeter nannte. Dennoch war, was als Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters praktiziert wurde, nicht Wissenschaft, sondern Theater, und die Häufung von Neuerungen bei dem Fortfall praktischer Demonstrationsmöglichkeiten in der Nazizeit und im Krieg legen nun den Versuch nahe, diese Spezies Theater auf seine Stellung in der Ästhetik hin zu prüfen oder jedenfalls Umrisse einer denkbaren Ästhetik für diese Spezies anzudeuten. Es wäre zu schwierig, etwa die Theo­ rie der theatralischen Verfremdung außerhalb einer Ästhe­ tik darzustellen. Es könnte ja heute sogar eine Ästhetik der exakten Wis­ senschaften geschrieben werden. Galilei schon spricht von der Eleganz bestimmter Formeln und dem Witz der Ex­ perimente, Einstein schreibt dem Schönheitssinn eine ent­ deckerische Funktion zu, und der Atomphysiker R. Op­ penheimer preist die wissenschaftliche Haltung, die „ihre Schönheit hat und der Stellung des Menschen auf Erden wohl angemessen scheint“. Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern, nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich nie­ 206

derzulassen. Behandeln wir das Theater als eine Stätte der Unterhaltung, wie es sich in einer Ästhetik gehört, und untersuchen wir, welche Art der Unterhaltung uns zusagt! 1

Theater besteht darin, daß lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Men­ schen hergestellt werden, und zwar zur Unterhaltung. Dies ist jedenfalls, was wir im folgenden meinen, wenn wir von Theater sprechen, sei es von altem oder neuem. 2

Um noch mehr unterzubringen, könnten wir auch Ge­ schehnisse zwischen Menschen, und Göttern hinzufügen, aber da es uns nur um eine Bestimmung des Minimums zu tun ist, kann derlei unterbleiben. Selbst wenn wir etwa diese Erweiterung vornähmen, müßte jedoch die Be­ schreibung der allgemeinsten Funktion der Einrichtung Theater als einer Vergnügung dieselbe bleiben. Es ist die nobelste Funktion, die wir für Theater gefunden haben.

3

Seit jeher ist es das Geschäft des Theaters wie aller an­ dern Künste auch, die Leute zu unterhalten. Dieses Ge­ schäft verleiht ihm immer seine besondere Würde; es be­ nötigt keinen andern Ausweis als den Spaß, diesen frei­ lich unbedingt. Keineswegs könnte man es in einen höhe­ ren Stand erheben, wenn man es etwa zu einem Markt der Moral machte; es müßte dann eher zusehen, daß es nicht gerade erniedrigt würde, was sofort geschähe, wenn es nicht das Moralische vergnüglich, und zwar den Sin­ nen vergnüglich machte - wovon das Moralische aller­ dings nur gewinnen kann. Nicht einmal zu lehren sollte ihm zugemutet werden, jedenfalls nichts Nützlicheres, als wie man sich genußvoll bewegt, in körperlicher oder 207

geistiger Hinsicht. Das Theater muß nämlich durchaus etwas Überflüssiges bleiben dürfen, was freilich dann be­ deutet, daß man für den Überfluß ja lebt. Weniger als alles andere brauchen Vergnügungen eine Verteidigung. 4

So ist, was die Alten nach dem Aristoteles ihre Tragö­ die tun lassen, weder etwas Höheres noch etwas Niedri­ geres zu nennen, als die Leute zu unterhalten. Wenn man sagt, das Theater sei aus dem Kultischen gekommen, so sagt man nur, daß es durch den Auszug Theater wurde; aus den Mysterien nahm es wohl nicht den kultischen Auftrag mit, sondern das Vergnügen daran, pur und simpel. Und jene Katharsis des Aristoteles, die Reini­ gung durch Furcht und Mitleid, oder von Furcht und Mitleid, ist eine Waschung, die nicht nur in vergnüglicher Weise, sondern recht eigentlich zum Zwecke des Ver­ gnügens veranstaltet wurde. Mehr verlangend vom Thea­ ter oder ihm mehr zubilligend, setzt man nur seinen eige­ nen Zweck zu niedrig an. 5

Selbst wenn man spricht von einer hohen und einer niedrigen Art von Vergnügungen, schaut man der Kunst in ein eisernes Gesicht, denn sie wünscht, sich hoch und niedrig zu bewegen und in Ruhe gelassen zu werden, wenn sie damit die Leute vergnügt. 6 Dagegen gibt es schwache (einfache) und starke (zusam­ mengesetzte) Vergnügungen, bereitbar durch das Theater. Die letzteren, mit denen wir es bei der großen Drama­ tik zu tun haben, erreichen ihre Steigerungen, etwa wie der Beischlaf sie in der Liebe erreicht; sie sind verzweig­ ter, reicher an Vermittlungen, widersprüchlicher und fol­ genreicher. 208

7 Und die Vergnügungen der verschiedenen Zeiten waren natürlich verschieden, je nach der Art, wie da die Men­ schen gerade zusammenlebten. Der von Tyrannen be­ herrschte Demos des hellenischen Zirkus mußte anders unterhalten werden als der feudale Hof des vierzehnten Ludwig. Das Theater mußte andere Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens liefern, nicht nur Abbil­ dungen anderen Zusammenlebens, sondern auch Abbil­ dungen anderer Art. 8 Je nach der Unterhaltung, welche bei der jeweiligen Art des menschlichen Zusammenlebens möglich und nötig war, mußten die Figuren anders proportioniert, die Situa­ tionen in andere Perspektiven gebaut werden. Geschich­ ten sind sehr anders zu erzählen, damit diese Hellenen sich mit der Unentrinnbarkeit göttlicher Gesetzlichkeiten, deren Unkenntnis nicht vor Strafe schützt, amüsieren können, diese Franzosen mit der graziösen Selbstüberwin­ dung, die der höfische Kodex der Pflichten von den Gro­ ßen der Erde erheischt, die Engländer der elisabethani­ schen Ära mit der Selbstbespiegelung des sich frei austo­ benden neuen Individuums. 9

Und man muß sich vor Augen halten, daß das Vergnü­ gen an den Abbildungen so verschiedener Art kaum je­ mals von dem Grad der Ähnlichkeit des Abbilds mit dem Abgebildeten abhing. Unkorrektheit, selbst starke Unwahrscheinlichkeit störte wenig oder gar nicht, sofern nur die Unkorrektheit eine gewisse Konsistenz hatte und die UnWahrscheinlichkeit von derselben Art blieb. Es genügte die Illusion eines zwingenden Verlaufs der je­ weiligen Geschichte, * welche durch allerhand poetische und theatralische Mittel geschaffen wurde. Auch wir über14

Über Theater

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sehen gern derlei Unstimmigkeiten, wenn wir an den see­ lischen Waschungen des Sophokles oder den Opferakten des Racine oder den Amokläufen bei Shakespeare schma­ rotzen dürfen, indem wir versuchen, der schönen oder großen Gefühle der Hauptpersonen dieser Geschichten habhaft zu werden.

10 Denn von all den vielerlei Arten von Abbildungen be­ deutender Geschehnisse unter Menschen, die seit den Al­ ten auf dem Theater gemacht worden sind und die un­ terhalten haben trotz ihrer Unkorrektheiten und Unwahr­ scheinlichkeiten, gibt es heute noch eine erstaunliche Menge, die auch uns unterhalten.

11 Wenn wir nun unsere Fähigkeit konstatieren, uns an Ab­ bildungen aus so verschiedenen Zeitaltern zu ergötzen, was den Kindern dieser kräftigen Zeitalter kaum mög­ lich gewesen sein dürfte, müssen wir da nicht den Ver­ dacht schöpfen, daß wir die speziellen Vergnügungen, die eigentliche Unterhaltung unseres eigenen Zeitalters gar noch nicht entdeckt haben?

12 Und unser Genuß im Theater muß schwächer geworden sein, als der der Alten war, wenn auch unsere Art des Zusammenlebens der ihren immer noch genügend gleicht, daß er überhaupt zustande kommen kann. Wir bemächti­ gen uns der alten Werke vermittels einer verhältnismäßig neuen Prozedur, nämlich der Einfühlung, der sie nicht allzuviel geben. So wird der Großteil unseres Genusses aus anderen Quellen gespeist als solchen, die denen vor uns sich so mächtig geöffnet haben müssen. Dann halten wir uns schadlos an sprachlichen Schönheiten, an der Ele­ ganz der Fabelführung, an Stellen, die uns Vorstellungen 210

selbständiger Art entlocken,, kurz an dem Beiwerk der alten Werke. Das sind gerade die poetischen und theatra­ lischen Mittel, welche die Unstimmigkeiten der Geschichte verbergen. Unsere Theater haben gar nicht mehr die Fähigkeit oder die Lust, diese Geschichten, sogar die nicht so alten des großen Shakespeare, noch deutlich zu erzählen, das heißt die Verknüpfung der Geschehnisse glaubhaft zu machen. Und die Fabel ist nach Aristoteles - und wir denken da gleich - die Seele des Dramas. Mehr und mehr werden wir gestört durch die Primitivität und Sorglosigkeit der Abbildungen menschlichen Zusammen­ lebens, und dies nicht nur bei den alten Werken, sondern auch bei zeitgenössischen, wenn sie nach alten Rezepten gemacht sind. Unsere ganze Art zu genießen beginnt un­ zeitgemäß zu werden. 13

Es sind die Unstimmigkeiten in den Abbildungen der Geschehnisse ‘unter Menschen, was unsern Genuß im Theater schmälert. Der Grund dafür: wir stehen zu dem Abgebildeten anders als die vor uns. 14

Wenn wir nämlich Umschau halten nach einer Unterhal­ tung unmittelbarer Art, einem umfassenden, durchgehen­ den Vergnügen, das unser Theater uns mit Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens verschaffen könnte, müssen wir an uns als an die Kinder eines wissenschaft­ lichen Zeitalters denken. Unser Zusammenleben als Men­ schen - und das heißt: unser Leben - ist in einem ganz neuen Umfang von den Wissenschaften bestimmt. 15 Vor einigen hundert Jahren haben einige Leute, in ver­ schiedenen Ländern, jedoch korrespondierend, gewisse Experimente angestellt, vermittels derer sie der Natur 211

ihre Geheimnisse zu entreißen hofften. Angehörend einer Klasse von Gewerbetreibenden in den schon mächtigen Städten, gaben sie ihre Erfindungen weiter an Leute, die sie praktisch ausnützten, ohne sich von den neuen Wis­ senschaften viel mehr zu versprechen als persönliche Ge­ winne. Gewerbe, die sich mit Methoden, durch tausend Jahre nahezu unverändert, beholfen hatten, entfalteten sich nun ungeheuer, an vielen Orten, die sie durch den Wettbewerb miteinander verbanden, allerorten große Menschenmassen in sich sammelnd, welche, auf eine neue Art organisiert, eine riesige Produktion begannen. Bald zeigte die Menschheit Kräfte, von deren Ausmaß sie zu­ vor kaum zu träumen gewagt hatte. 16

Es war, als ob sich die Menschheit erst jetzt bewußt und einheitlich daranmachte, den Stern, auf dem sie hauste, bewohnbar zu machen. Viele seiner Bestandteile, wie die Kohle, das Wasser, das Öl, verwandelten sich in Schätze. Wasserdampf wurde beordert, Fahrzeuge zu bewegen; einige kleine Funken und das Zucken von Froschschen­ keln verrieten eine Naturkraft, die Licht erzeugte, den Ton über Kontinente trug und so weiter. Mit einem neuen Blick sah der Mensch sich allerorten um, wie er lange Gesehenes, aber nie Verwertetes zu seiner Be­ quemlichkeit anwenden könnte. Seine Umgebung verwan­ delte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr, dann von Jahr zu Jahr, dann beinahe von Tag zu Tag. Ich, der dies schreibt, schreibe es auf einer Maschine, die zur Zeit meiner Geburt nicht bekannt war. Ich bewege mich in den neuen Fahrzeugen mit einer Geschwindigkeit, die sich mein Großvater nicht vorstellen konnte; nichts bewegte sich damals so schnell. Und ich erhebe mich in die Luft, was mein Vater nicht konnte. Mit meinem Vater sprach ich schon über einen Kontinent weg, aber erst mit mei­ nem Sohn zusammen sah ich die bewegten Bilder von der Explosion in Hiroshima. 212

17 Haben die neuen Wissenschaften so eine ungeheure Ver­ änderung und vor allem Veränderbarkeit unserer Um­ welt ermöglicht, kann man doch nicht sagen, daß ihr Geist uns alle bestimmend erfülle.’ Der Grund dafür, daß die neue Denk- und Fühlweise die großen Men­ schenmassen noch nicht wirklich durchdringt, ist darin zu suchen, daß die Wissenschaften, so erfolgreich in der Ausbeutung und Unterwerfung der Natur, von der Klasse, die ihnen die Herrschaft verdankt, dem Bürger­ tum, gehindert werden, ein anderes Gebiet zu bearbeiten, das noch im Dunkel liegt, nämlich das der Beziehungen der Menschen untereinander bei der Ausbeutung und Un­ terwerfung der Natur. Dieses Geschäft, von dem alle ab­ hingen, wurde ausgeführt, ohne daß die neuen Denk­ methoden, die es ermöglichten, das gegenseitige Verhält­ nis derer klarlegten, die es ausführten. Der neue Blick auf die Natur richtete sich nicht auch auf die Gesellschaft.

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In der Tat sind die gegenseitigen Beziehungen der Men­ schen undurchsichtiger geworden, als sie je waren. Das gemeinsame gigantische Unternehmen, in dem sie enga­ giert sind, scheint sie mehr und mehr zu entzweien, Stei­ gerungen der Produktion verursachen Steigerungen des Elends, und bei der Ausbeutung der Natur gewinnen nur einige wenige, und zwar dadurch, daß sie Menschen aus­ beuten. Was der Fortschritt aller sein könnte, wird zum Vorsprung weniger, und ein immer größerer Teil der Produktion wird dazu verwendet, Mittel der Destruktion für gewaltige Kriege zu schaffen. In diesen Kriegen durch­ forschen die Mütter aller Nationen, ihre Kinder an sich gedrückt, entgeistert den Himmel nach den tödlichen Er­ findungen der Wissenschaft.

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Wie den unberechenbaren Naturkatastrophen der alten Zeiten stehen die Menschen von heute ihren eigenen Un­ ternehmungen gegenüber. Die bürgerliche Klasse, die der Wissenschaft den Aufschwung verdankt, den sie in Herr­ schaft verwandelte, indem sie sich zur alleinigen Nutz­ nießerin machte, weiß gut, daß es das Ende ihrer Herr­ schaft bedeuten würde, richtete sich der wissenschaftliche Blick auf ihre Unternehmungen. So ist die neue Wissen­ schaft, die sich mit dem Wesen der menschlichen Gesell­ schaft befaßt und die vor etwa hundert Jahren begründet wurde, im Kampf der Beherrschten mit den Herrschen­ den begründet worden. Seitdem gibt es etwas vom wis­ senschaftlichen Geist in der Tiefe, bei der neuen Klasse der Arbeiter, deren Lebenselement die große Produk­ tion ist: die großen Katastrophen werden von dort aus als Unternehmungen der Herrschenden gesichtet. 20

Es treffen sich aber Wissenschaft und Kunst darin, daß beide das Leben der Menschen zu erleichtern da sind, die eine beschäftigt mit ihrem Unterhalt, die andere mit ihrer Unterhaltung. In dem Zeitalter, das kommt, wird die Kunst die Unterhaltung aus der neuen Produktivität schöpfen, welche unsern Unterhalt so sehr verbessern kann und welche selber, wenn einmal ungehindert, die größte aller Vergnügungen sein könnte.

21 Wenn wir uns nun dieser großen Leidenschaft des Produ­ zierens hingeben wollen, wie müssen unsere Abbildun­ gen des menschlichen Zusammenlebens da aussehen? Welches ist die produktive Haltung gegenüber der Natur und gegenüber der Gesellschaft, welche wir Kinder eines wissenschaftlichen Zeitalters in unserm Theater vergnüg­ lich einnehmen wollen?

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Die Haltung ist eine kritische. Gegenüber einem Fluß be­ steht sie in der Regulierung des Flusses; gegenüber einem Obstbaum in der Okulierung des Obstbaums, gegenüber der Fortbewegung in der Konstruktion der Fahr- und Flugzeuge, gegenüber der Gesellschaft in der Umwälzung der Gesellschaft. Unsere Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens machen wir für die Flußbauer, Obst­ züchter, Fahrzeugkonstrukteure und Gesellschaftsumwäl­ zer, die wir in unsere Theater laden und die wir bitten, ihre fröhlichen Interessen bei uns nicht zu vergessen, auf daß wir die Welt ihren Gehirnen und Herzen ausliefern, sie zu verändern nach ihrem Gutdünken.

23 Das Theater kann eine so freie Haltung freilich nur ein­ nehmen, wenn es sich selber den reißendsten Strömungen in der Gesellschaft ausliefert und sich denen gesellt, die am ungeduldigsten sein müssen, da große Veränderungen zu bewerkstelligen. Wenn nichts anderes, so vertreibt der nackte Wunsch, unsere Kunst der Zeit gemäß zu entwikkeln, unser Theater des wissenschaftlichen Zeitalters so­ gleich in die Vorstädte, wo es sich, sozusagen türenlos, den breiten Massen der viel Hervorbringenden und schwierig Lebenden zur Verfügung hält, damit sie sich in ihm mit ihren großen Problemen nützlich unterhalten können. Sie mögen es schwierig finden, unsere Kunst zu bezahlen, und die neue Art der Unterhaltung nicht ohne weiteres begreifen, und in vielem werden wir lernen müs­ sen, herauszufinden, was sie brauchen und wie sie es brauchen, aber wir können ihres Interesses sicher sein. Diese nämlich, die der Naturwissenschaft so fern zu stehen scheinen, stehen ihr nur fern, weil sie von ihr ferngehalten werden, und müssen, sie sich anzueignen, zunächst selber eine neue Gesellschaftswissenschaft ent­ wickeln und praktizieren und sind so die eigentlichen Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters, und sein Thea-

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ter kann nicht in Bewegung kommen, wenn sie es nicht bewegen. Ein Theater, das die Produktivität zur Hauptquelle der Unterhaltung macht, muß sie auch zum Thema machen, und mit ganz besonderem Eifer heute, wo der Mensch allenthalben durch den Menschen gehin­ dert wird, sich zu produzieren, das heißt seinen Unterhalt zu ergattern, unterhalten zu werden und selber zu unter­ halten. Das Theater muß sich in der Wirklichkeit enga­ gieren, um wirkungsvolle Abbilder der Wirklichkeit her­ stellen zu können und zu dürfen. 24

Dies erleichtert es aber dann dem Theater, so nahe an die Lehr- und Publikationsstätten zu rücken, wie ihm mög­ lich ist. Denn wenn es auch nicht behelligt werden kann mit allerhand Wissensstoff, mit dem es nicht vergnüglich werden kann, so steht ihm doch frei, sich mit Lehren oder Forschen zu vergnügen. Es macht die praktikablen Abbil­ dungen der Gesellschaft, die dazu imstande sind, sie zu beeinflussen, ganz und gar als ein Spiel: für die Erbauer der Gesellschaft stellt es die Erlebnisse der Gesellschaft aus, die vergangenen wie die gegenwärtigen, und in einer solchen Weise, daß die Empfindungen, Einsichten und Impulse genossen werden können, welche die Leiden­ schaftlichsten, Weisesten und Tätigsten unter uns aus den Ereignissen des Tages und des Jahrhunderts gewinnen. Sie seien unterhalten mit der Weisheit, welche von der Lösung der Probleme kommt, mit dem Zorn, in den das Mitleid mit den Unterdrückten nützlich sich verwandeln kann, mit dem Respekt vor der Respektierung des Menschlichen, das heißt Menschenfreundlichen, kurz mit all dem, was die Produzierenden ergötzt. 25

Und dies gestattet es dem Theater auch, seine Zuschauer die besondere Sittlichkeit ihres Zeitalters genießen zu las­

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sen, welche aus der Produktivität fließt. Die Kritik, das heißt die große Methode der Produktivität, zur Lust’ machend, gibt es auf dem sittlichen Gebiet für das Thea­ ter nichts, was es tun muß, und viel, was es tun kann. Selbst aus dem Asozialen kann die Gesellschaft so Ge­ nuß ziehen, wofern es vital 'und mit Größe auftritt. Da zeigt es oft Verstandeskräfte und mancherlei Fähigkei­ ten von besonderem Wert, freilich zerstörerisch einge­ setzt. Auch den katastrophal losgebrochenen Strom ver­ mag ja die Gesellschaft frei in seiner Herrlichkeit zu ge­ nießen, wenn sie seiner Herr zu werden vermag: dann ist er ihrer. 26

' Für ein solches Unternehmen werden wir allerdings das Theater, wie wir es vorfinden, kaum belassen können. Gehen wir in eines dieser Häuser und beobachten wir die Wirkung, die es auf die Zuschauer ausübt. Sich umblikkend, sieht man ziemlich reglose Gestalten in einem eigen­ tümlichen Zustand: sie scheinen in einer starken Anstren­ gung alle Muskeln anzuspannen, wo diese nicht erschlafft sind in einer starken Erschöpfung. Untereinander verkeh­ ren sie kaum, ihr Beisammensein ist wie das von lauter Schlafenden, aber solchen, die unruhig träumen, weil sie, wie das Volk von den Alpträumern sagt, auf dem Rücken liegen. Sie haben freilich ihre Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren, wie sie auch nicht hören, son­ dern lauschen. Sie sehen wie gebannt auf die Bühne, wel­ cher Ausdruck aus dem Mittelalter stammt, der Zeit der Hexen und Kleriker. Schauen und Hören sind Tätigkei­ ten, mitunter vergnügliche, aber diese Leute scheinen von jeder Tätigkeit entbunden und wie solche, mit denen etwas gemacht wird. Der Zustand der Entrückung, in dem sie unbestimmten, aber starken Empfindungen hin­ gegeben scheinen, ist desto tiefer, je besser die Schauspie­ ler arbeiten, so daß wir, da uns dieser Zustand nicht ge­ fällt, wünschten, sie wären so schlecht wie nur möglich. 217

2Z Was die Welt selber betrifft, die dabei abgebildet wird, aus der da Ausschnitte genommen sind für die Erzeugung dieser Stimmungen und Gefühlsbewegungen, so tritt sie auf, erzeugt aus so wenigen und kümmerlichen Dingen wie etwas Pappe, ein wenig Mimik, ein bißchen Text, daß man die Theaterleute bewundern muß, die da mit einem so dürftigen Abklatsch der Welt die Gefühle ihrer gestimmten Zuschauer so viel mächtiger bewegen kön­ nen, als die Welt selber es vermöchte.

28 Auf jeden Fall sollten wir die Theaterleute entschuldi­ gen, denn sie könnten die Vergnügungen, die ihnen mit Geld und Ruhm abgekauft werden, weder mit genaueren Abbildungen der Welt bewirken, noch ihre ungenauen Abbildungen auf weniger magische Weise anbringen. Wir sehen ihre Fähigkeit, Menschen abzubilden, allenthalben am Werk; besonders die Schurken und die kleineren Fi­ guren zeigen Spuren ihrer Menschenkenntnis und unter­ scheiden sich voneinander, aber die Mittelpunktsfiguren müssen allgemein gehalten werden, damit der Zuschauer sich mit ihnen leichter identifizieren kann, und jeden­ falls müssen alle Züge aus dem engen Bereich genommen sein, innerhalb dessen jedermann sogleich sagen kann: Ja, so ist es. Denn der Zuschauer wünscht, in den Besitz ganz bestimmter Empfindungen zu kommen, wie ein Kind sie wünschen mag, wenn es sich auf eines der Holzpferde eines Karussells setzt: der Empfindung des Stolzes, daß es reiten kann und daß es ein Pferd hat; der Lust, daß es getragen wird, an andern Kindern vorbei; der abenteuer­ lichen Träume, daß es verfolgt wird oder andere verfolgt und so weiter. Damit das Kind all das erlebe, spielt die Pferdeähnlichkeit des Holzvehikels keine große Rolle, noch stört die Beschränkung des Rittes auf einen kleinen Kreis. Alles, worauf es den Zuschauern in diesen Häu­ sern ankommt, ist, daß sie eine widerspruchsvolle Welt

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mit einer harmonischen vertauschen können, eine nicht besonders gekannte mit einer träumbaren. 29

Solcherart ist das Theater, das wir für unser Unterneh­ men vorfinden, und es zeigte sich bisher wohl imstande, unsere hoffnungsvollen Freunde, von uns die Kinder des wissenschaftlichen Jahrhunderts genannt, in eine einge­ schüchterte, gläubige, „gebannte“ Menge zu verwandeln.

30 Es ist wahr: seit etwa einem halben Jahrhundert haben sie etwas getreuere Abbildungen des menschlichen Zu­ sammenlebens zu sehen bekommen sowie Figuren, die ge­ gen gewisse gesellschaftliche Übelstände oder sogar gegen die Gesamtstruktur der Gesellschaft rebellierten. Ihr In­ teresse war stark genug, daß sie zeitweilig eine außeror­ dentliche Reduzierung der Sprache, der Fabel und des geistigen Horizonts willig erduldeten, denn die Brise wis­ senschaftlichen Geistes brachte die gewohnten Reize bei­ nahe zum Abwelken. Die Opfer lohnten nicht besonders. Die Verfeinerung der Abbildungen beschädigte ein Ver­ gnügen, ohne ein anderes zu befriedigen. Das Feld der menschlichen Beziehungen wurde sichtbar, aber nicht sich­ tig. Die Empfindungen, erzeugt auf die alte (die ma­ gische) Art, mußten selber alter Art bleiben.

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Nach wie vor waren nämlich die Theater Vergnügungs­ stätten einer Klasse, die den wissenschaftlichen Geist auf dem Gebiet der Natur festhielt, nicht wagend, ihm das Gebiet der menschlichen Beziehungen auszuliefern. Der winzige proletarische Teil des Publikums aber, nur unwesentlich und unsicher verstärkt durch apostatische Kopfarbeiter, benötigte ebenfalls noch die alte Art der 219

Unterhaltung, welche ihre festgesetzte Lebensweise er­ leichterte.

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Dennoch, schreiten wir fort! Gefallen wie gesprungen! Wir sind offenbar in einen Kampf gekommen, kämpfen wir also! Haben wir nicht gesehen, wie der Unglaube Berge versetzt hat? Genügt es nicht, daß wir ausgefunden haben, es wird uns etwas vorenthalten? Vor dem und je­ nem hängt ein Vorhang: ziehen wir ihn auf! 33 Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beein­ flußbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum). Ödi­ pus, der sich gegen einige Prinzipien, welche die Gesell­ schaft der Zeit stützen, versündigt hat, wird hingerichtet, die Götter sorgen dafür, sie sind nicht kritisierbar. Die großen Einzelnen des Shakespeare, welche die Sterne ihres Schicksals in der Brust tragen, vollführen ihre ver­ geblichen und tödlichen Amokläufe unaufhaltsam, sie bringen sich selbst zur Strecke, das Leben, nicht der Tod wird in ihren Zusammenbrüchen obszön, die Katastrophe ist nicht kritisierbar. Menschenopfer, allerwege! Barba­ rische Belustigungen! Wir wissen, daß die Barbaren eine Kunst haben. Machen wir eine andere!

34 Wie lange noch sollen unsere Seelen, im Schutz der Dun­ kelheit die „plumpen“ Körper verlassend, eindringen in jene traumhaften oben auf dem Podium, teilzuhaben an ihren Aufschwüngen, die uns „ansonsten“ versagt sind? Was für eine Befreiung ist das, da wir doch am Ende all dieser Stücke, das glücklich ist nur für den Zeitgeist (die gehörige Vorsehung, die Ordnung der Ruhe), die traum­ hafte Exekution erleben, welche die Aufschwünge als 220

Ausschweifungen ahndet! Wir kriechen in den Ödipus, denn da sind immer noch die Tabus, und die Unkenntnis schützt nicht vor Strafe. In den Othello, denn die Eifer­ sucht macht uns immer noch zu schaffen, und vom Besitz hängt alles ab. In den Wallenstein, denn wir müssen frei sein für den Konkurrenzkampf und loyal, sonst hört er auf. Diese Inkubusgewohnheiten werden auch gefördert in Stücken wie „Gespenster“ und „Die Weber“, in denen immerhin die Gesellschaft als „Milieu“ problematischer auftaucht. Da wir die Empfindungen, Einblicke und Im­ pulse der Hauptpersonen aufgezwungen bekommen, be­ kommen wir in bezug auf die Gesellschaft nicht mehr, als das „Milieu“ gibt.

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Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Ein­ blicke und Impulse ermöglicht, die das jeweilige histo­ rische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Ge­ danken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen. 36 Das Feld muß in seiner historischen Relativität gekenn­ zeichnet werden können. Dies bedeutet den Bruch mit unserer Gewohnheit, die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen vergangener Zeitalter ihrer Verschiedenheiten zu entkleiden, so daß sie alle mehr oder weniger wie das unsere aussehen, welches durch diese Operation etwas im­ mer schon Vorhandenes, also schlechthin Ewiges bekommt. Wir aber wollen ihre Unterschiedlichkeit belassen und ihre Vergänglichkeit im Auge halten, so daß auch das unsere als vergänglich eingesehen werden kann. (Hierfür kann natürlich nicht Kolorit oder Folklore dienen, welche von unsern Theatern gerade dazu verwendet werden, die Gleichheiten in der Handlungsweise der Menschen in 221

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den verschiedenen Epochen um so stärker hervortreten zu lassen. Wir werden die theatralischen Mittel später an­ deuten.) 37

Bewegen wir unsere Figuren auf der Bühne durch gesell­ schaftliche Triebkräfte und durch verschiedene, je nach der Epoche, dann erschweren wir unserm Zuschauer, sich da einzuleben. Er kann nicht schlechthin fühlen: „So würde ich auch handeln“, sondern kann höchstens sagen: „Wenn ich unter solchen Umständen gelebt hätte“; und wenn wir Stücke aus unserer eigenen Zeit als historische Stücke spielen, mögen ihm die Umstände, unter denen er handelt, ebenfalls besonders vorkommen, und dies ist der Beginn der Kritik. 38

Die historischen Bedingungen darf man sich freilich nicht denken (noch werden sie aufgebaut werden) als dunkle Mächte (Hintergründe), sondern sie sind von Menschen geschaffen und aufrechterhalten (und werden geändert von ihnen): was eben da gehandelt wird, macht sie aus. 39

Wenn nun eine Person historisiert, der Epoche entspre­ chend antwortet und anders antworten würde in andern Epochen, ist sie da nicht jedermann schlechthin? Je nach den Zeitläuften oder der Klasse antwortet hier jemand verschieden; lebte er zu anderer Zeit oder noch nicht so lang auf der Schattenseite des Lebens, so antworteteerun­ fehlbar anders, aber wieder ebenso bestimmt und wie jedermann antworten würde in dieser Lage zu dieser Zeit: Ist da nicht zu fragen, ob es nicht noch weitere Un­ terschiede der Antwort gibt? Wo ist er selber, der Le­ bendige, Unverwechselbare, der nämlich, der mit seines­ gleichen nicht ganz gleich ist? Es ist klar, daß das Abbild

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ihn sichtbar machen muß, und das wird geschehen, indem dieser Widerspruch im Abbild gestaltet werden wird. Das historisierende Abbild wird etwas von den Skizzen an sich haben, die um die herausgearbeitete Figur herum noch die Spuren anderer Bewegungen und Züge aufwei­ sen. Oder man denke an einen Mann, der in einem Tal eine Rede hält, in der er mitunter seine Meinung ändert oder lediglich Sätze spricht, die sich widersprechen, so daß das Echo, mitsprechend, die Konfrontation der Sätze vornimmt. 40

Solche Abbilder erfordern freilich eine Spielweise, die den beobachtenden Geist frei und beweglich erhält. Er muß sozusagen laufend fiktive Montagen an unserm Bau vor­ nehmen können, indem er die gesellschaftlichen Trieb­ kräfte in Gedanken abschaltet oder durch andere ersetzt, durch welches Verfahren ein aktuelles Verhalten etwas „Unnatürliches“ bekommt, wodurch die aktualen Trieb­ kräfte ihrerseits ihre Natürlichkeit einbüßen und handel­ bar werden. 41

Dies ist, wie der Flußbauer einen Fluß sieht, zusammen mit seinem erstmaligen Bett und manchem fiktiven Bett, das er hätte haben können, wäre die Neigung des Pla­ teaus verschieden oder die Wassermenge anders. Und während er in Gedanken einen neuen Fluß sieht, hört der Sozialist in Gedanken neue Arten von Gesprächen bei den Landarbeitern am Fluß. Und so sollte unser Zu­ schauer im Theater Vorgänge, die unter solchen Land­ arbeitern spielen, mit diesen Skizzenspuren und Echos ausgestattet finden.

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Die Spielweise, welche zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg am Schiffbauerdamm-Theater in Berlin aus­ probiert wurde, um solche Abbilder herzustellen, beruht auf dem Verfremdungseffekt (V-Effekt), Eine verfrem­ dende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt. Das antike und mittelalterliche Theater verfrem­ dete seine Figuren mit Menschen- und Tiermasken, das asiatische benutzt noch heute musikalische und pantomi­ mische V-Effekte. Die Effekte verhinderten zweifellos die Einfühlung, jedoch beruhte diese Technik eher mehr denn weniger auf hypnotisch suggestiver Grundlage als diejenige, mit der die Einfühlung erzielt wird. Die ge­ sellschaftlichen Zwecke dieser alten Effekte waren von den unsern völlig verschieden. 43

Die alten V-Effekte entziehen das Abgebildete dem Ein­ griff des Zuschauers gänzlich, machen es zu etwas Unab­ änderlichen; die neuen haben nichts Bizarres an sich, es ist der unwissenschaftliche Blick, der das Fremde als bi­ zarr stempelt. Die neuen Verfremdungen sollten nur den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie heute vor dem Ein­ griff bewahrt.

44 Das lange nicht Geänderte nämlich scheint unänderbar. Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständ­ lich ist, als daß wir uns bemühen müßten, es zu verste­ hen. Was sie miteinander erleben, scheint den Menschen das gegebene menschliche Erleben. Das Kind, lebend in der Welt der Greise, lernt, wie es dort zugeht. Wie die Dinge eben laufen, so werden sie ihm geläufig. Ist einer kühn genug, etwas nebenhinaus zu wünschen, wünschte 224

er es sich nur als Ausnahme. Selbst wenn er, was die „Vorsehung“ über ihn verhängt, als das erkennte, was die Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, müßte ihm die Ge­ sellschaft, diese mächtige Sammlung von Wesen seines-' gleichen, wie ein Ganzes, das größer ist als die Summe seiner Teile, ganz unbeeinflußbar vorkommen - und den­ noch wäre das Unbeeinflußbare ihm vertraut, und wer mißtraut dem, was ihm vertraut ist? Damit all dies viele Gegebene ihm als ebensoviel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müßte er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und ver­ stünde es nicht von ihnen, wodurch er dann auf die Gesetzmäßigkeiten kam. Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muß das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren. Es muß sein Publikum wundern machen, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten. 45

Welche Technik es dem Theater gestattet, die Methode der neuen Gesellschaftswissenschaft, die materialistische Dialektik, für seine Abbildungen zu verwerten. Diese Methode behandelt, um auf die Beweglichkeit der Ge­ sellschaft zu kommen, die gesellschaftlichen Zustände als Prozesse und verfolgt diese in ihrer Widersprüchlichkeit. Ihr existiert alles nur, indem es sich wandelt, also in Uneinigkeit mit sich selbst ist. Dies gilt auch für die Ge­ fühle, Meinungen und Haltungen der Menschen, in denen die jeweilige Art ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens sich ausdrückt. 46

Es ist eine Lust unseres Zeitalters, das so viele und man­ nigfache Veränderungen der Natur bewerkstelligt, alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können. Da ist viel 15

Über Theater

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im Menschen, sagen wir, da kann viel aus ihm gemacht werden. Wie er ist, muß er nicht bleiben; nicht nur, wie er ist, darf er betrachtet werden, sondern auch, wie er sein könnte. Wir müssen nicht von ihm, sondern auf ihn ausgehen. Das heißt aber, daß ich mich nicht einfach an seine Stelle, sondern ihm gegenüber setzen muß, uns alle vertretend. Darum muß das Theater, was es zeigt, ver­ fremden. 47

Um V-Effekte hervorzubringen, mußte der Schauspieler alles unterlassen, was er gelernt hatte, um die Einfühlung des Publikums in seine Gestaltungen herbeiführen zu können. Nicht beabsichtigend, sein Publikum in Trance zu versetzen, darf er sich selber nicht in Trance versetzen. Seine Muskeln müssen locker bleiben, führt doch zum Beispiel ein Kopfwenden mit angezogenen Halsmuskeln die Blicke, ja mitunter sogar die Köpfe der Zuschauer „magisch“ mit, womit jede Spekulation oder Gemütsbe­ wegung über diese Geste nur geschwächt werden kann. Seine Sprechweise sei frei von pfäffischem Singsang und jenen Kadenzen, die die Zuschauer einlullen, so daß der Sinn verlorengeht. Selbst Besessene darstellend, darf er selber nicht besessen wirken; wie sonst könnten die Zu­ schauer ausfinden, was die Besessenen besitzt? 48

In keinem Augenblick läßt er es zur restlosen Verwand­ lung in die Figur kommen. Ein Urteil: „Er spielte den Lear nicht, er war Lear“, wäre für ihn vernichtend. Er hat seine Figur lediglich zu zeigen oder, besser gesagt, nicht nur lediglich zu erleben; dies bedeutet nicht, daß er, wenn er leidenschaftliche Leute gestaltet, selber kalt sein muß. Nur sollten seine eigenen Gefühle nicht grund­ sätzlich die seiner Figur sein, damit auch die seines Pu­ blikums nicht grundsätzlich die der Figur werden. Das Publikum muß da völlige Freiheit haben. 226

49 Dies, daß der Schauspieler in zweifacher Gestalt auf der Bühne steht, als Laughton und als Galilei, daß der zei­ gende Laughton nicht verschwindet in dem gezeigten Ga­ lilei, was dieser Spielweise auch den Namen „die epische“ gegeben hat, bedeutet schließlich nicht mehr, als daß der wirkliche, der profane Vorgang nicht mehr verschleiert wird - steht doch auf der Bühne tatsächlich Laughton und zeigt, wie er sich den Galilei denkt. Schon indem es ihn bewunderte, vergäße das Publikum natürlich Laugh­ ton nicht, auch wenn er die restlose Verwandlung ver­ suchte, aber es ginge dann doch seiner Meinungen und Empfindungen verlustig, welche vollkommen in der Fi­ gur aufgegangen wären. Er hätte ihre Meinungen und Empfindungen zu seinen eigenen gemacht, so daß also tatsächlich nur ein einziges Muster derselben heraus­ käme: er würde es zu dem unsrigen machen. Um diese Verkümmerung zu verhüten, muß er auch den Akt des Zeigens zu einem künstlerischen machen. Um eine Hilfs­ vorstellung zu benutzen: wir können die eine Hälfte der Haltung, die des Zeigens, um sie selbständig zu machen, mit einer Geste ausstatten, indem wir den Schauspieler rauchen lassen und ihn uns vorstellen, wie er jeweils die Zigarre weglegt, um uns eine weitere Verhaltungsart der erdichteten Figur zu demonstrieren. Wenn man aus dem Bild alles Hastige herausnimmt und sich das Lässige nicht nachlässig denkt, haben wir einen Schauspieler vor uns, der uns sehr wohl unsern oder seinen Gedanken überlassen könnte. 50 Noch eine andere Änderung in der Übermittlung der Abbildungen durch den Schauspieler ist nötig, und auch sie macht den Vorgang „profaner“. Wie der Schauspieler sein Publikum nicht zu täuschen hat, daß nicht er, son­ dern die erdichtete Figur auf der Bühne stehe, so hat er es auch nicht zu täuschen, daß, was auf der Bühne vor­ 227

geht, nicht einstudiert sei, sondern zum erstenmal und einmalig geschehe. Die Schillersche Unterscheidung, daß der Rhapsode seine Begebenheit als vollkommen ver­ gangen, der Mime die seinige als vollkommen gegenwär­ tig zu behandeln habe , * trifft nicht mehr so zu. Es soll in seinem Spiel durchaus ersichtlich sein, daß „er schon am Anfang und in der Mitte das Ende weiß“, und er soll „so durchaus eine ruhige Freiheit behalten“. In lebendiger Darstellung erzählt er die Geschichte seiner Figur, mehr wissend als diese und das Jetzt wie das Hier nicht als eine Fiktion, ermöglicht durch die Spielregel, setzend, sondern es trennend vom Gestern und dem andern Ort, wodurch die Verknüpfung der Begebnisse sichtbar wer­ den kann. 5i

Dies ist besonders wichtig bei der Darstellung von Mas­ senereignissen oder wo die Umwelt sich stark verändert, wie bei Kriegen und Revolutionen. Der Zuschauer kann dann die Gesamtlage und den Gesamtverlauf vorgestellt bekommen. Er kann zum Beispiel eine Frau, während er sie sprechen hört, im Geist noch anders sprechen hören, sagen wir in ein paar Wochen, und andere Frauen eben jetzt anderswo anders. Dies wäre möglich, wenn die Schauspielerin so spielte, als ob die Frau die ganze Epoche zu Ende gelebt hätte und nun, aus der Erinne­ rung, von ihrem Wissen des Weitergehens her, das äußerte, was von ihren Äußerungen für diesen Zeitpunkt wichtig war, denn wichtig ist das, was wichtig wurde. Eine solche Verfremdung einer Person als „gerade dieser Person“ und „gerade dieser Person gerade jetzt“ ist nur möglich, wenn nicht die Illusionen geschaffen werden: der Schauspieler sei die Figur und die Vorführung sei das Geschehnis. * Briefwechsel mit Goethe, 26. 12. 1797.

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Nun hat aber schon in diesem eine weitere Illusion aufge­ geben werden müssen: die, als handelte jedermann wie die Figur. Aus dem „ich tue das“ wurde ein „ich tat das“, und jetzt muß aus dem „er tat das“ noch ein „er tat das, nichts anderes“ werden. Es ist eine zu große Vereinfachung, wenn man die Taten auf den Charakter und den Charakter auf die Taten abpaßt; die Widersprüche, welche Taten und Charakter wirklicher Menschen aufweisen, lassen sich so nicht aufzeigen. Die gesellschaftlichen Bewegungs­ gesetze können nicht an den „Idealfällen“ demonstriert werden, da die „Unreinheit“ (Widersprüchlichkeit) gerade zu Bewegung und Bewegtem gehört. Es ist nur nötig -dies aber unbedingt -, daß im großen und ganzen so etwas wie Experimentierbedingungen geschaffen werden, das heißt, daß jeweils ein Gegenexperiment denkbar ist. Wird doch die Gesellschaft überhaupt hier so behandelt, als mache sie, was sie macht, als ein Experiment. 53

Wenn auch beim Probieren Einfühlung in die Figur be­ nutzt werden kann (was bei der Vorführung zu vermei­ den ist), darf dies doch nur als eine unter mehreren Me­ thoden der Beobachtung angewendet werden. Sie ist beim Probieren von Nutzen, hat sie doch selbst in der maßlosen Anwendung durch das zeitgenössische Theater zu einer sehr verfeinerten Charakterzeichnung geführt. Jedoch ist es die primitivste Art der Einfühlung, wenn der Schauspieler nur fragt: wie wäre ich, wenn mir dies und das passierte? wie sähe es aus, wenn ich dies sagte und das täte? - anstatt zu fragen: wie habe ich schon einen Menschen dies sagen hören oder das tun sehen? um sich so, hier und da allerhand holend, eine neue Figur aufzubauen, mit der die Geschichte vor sich ge­ gangen sein kann - und noch einiges mehr. Die Einheit der Figur wird nämlich durch die Art gebildet, in der sich ihre einzelnen Eigenschaften widersprechen. 229

54 Die Beobachtung ist ein Hauptteil der Schauspielkunst. Der Schauspieler beobachtet den Mitmenschen mit all seinen Muskeln und Nerven in einem Akt der Nachah­ mung, welcher zugleich ein Denkprozeß ist. Denn bei bloßer Nachahmung käme höchstens das Beobachtete her­ aus, was nicht genug ist, da das Original, was es aussagt, mit zu leiser Stimme aussagt. Um vom Abklatsch zur Abbildung zu kommen, sieht der Schauspieler auf die Leute, als machten sie ihm vor, was sie machen, kurz, als empfählen sie ihm, was sie machen, zu bedenken. 55 Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbil­ dungen machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen, was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammen­ leben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mit­ kämpft. Dies mag manchem wie eine Erniedrigung vor­ kommen, da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Ent­ scheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften; im „Äußern“, nicht in den Köpfen. Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann. Die Gesellschaft hat kein gemeinsames Sprachrohr, solange sie in kämpfende Klassen gespalten ist. So heißt unparteiisch sein für die Kunst nur: zur herrschenden Partei gehören.

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So ist die Wahl des Standpunkts ein anderer Hauptteil der Schauspielkunst, und er muß außerhalb des Theaters gewählt werden. Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der Gesellschaft ein Befreiungsakt, 230

und es sind die Freuden der Befreiung, welche das Thea­ ter eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte. 57

Schreiten wir fort, indem wir untersuchen, wie zum Bei­ spiel der Schauspieler, von diesem Standpunkt aus, seine Rolle zu lesen hat. Es ist da wichtig, daß er nicht zu schnell „begreift“. Wenn er auch gleich den natürlichsten Tonfall seines Textes ausfindig machen wird, die be­ quemste Art, ihn zu sagen, so soll er doch die Aussage selbst nicht als die natürlichste betrachten, sondern da zögern und seine allgemeinen Ansichten heranziehen, an­ dere mögliche Aussagen in Erwägung ziehen, kurz, die Haltung des sich Wundernden einnehmen. Dies nicht nur, um nicht zu früh, nämlich bevor er alle Aussagen und besonders die der anderen Figuren registriert hat, eine bestimmte Figur festzulegen, der dann vieles einge­ stopft werden müßte, sondern auch, und dies hauptsäch­ lich, um in den Aufbau der Figur das „Nicht-Sondern“ hineinzubringen, auf das so viel ankommt, wenn das Pu­ blikum, das die Gesellschaft repräsentiert, die Vorgänge von der beeinflußbaren Seite einsehen können soll. Auch muß jeder Schauspieler, anstatt nur das ihm Gemäße als „das schlechthin Menschliche“ an sich zu ziehen, beson­ ders nach dem ihm nicht Gemäßen, Speziellen langen. Und er muß, mit dem Text, diese seine ersten Reaktio­ nen, Vorbehalte, Kritiken, Verblüffungen memorieren, damit sie in seiner Endgestaltung nicht etwa vernichtet werden, indem sie „aufgehen“, sondern bewahrt und wahrnehmbar bleiben; denn die Figur und alles muß dem Publikum weniger eirigehen als auffallen. 58

Und das Lernen des Schauspielers muß zusammen mit dem Lernen der anderen Schauspieler, sein Aufbau der Figur mit dem Aufbau der andern Figuren vorgenommen 231

werden. Denn die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, sondern zwei Menschen. Auch im Le­ ben bauen wir uns gegenseitig auf. 59

Hier ist einiges aus der Unsitte unserer Theater zu ler­ nen, daß der herrschende Schauspieler, der Star, sich auch dadurch „hervortut“, daß er sich von allen andern Schau­ spielern bedienen läßt: er macht seine Figur fürchterlich oder weise, indem er die Partner zwingt, die ihren furcht­ sam oder aufmerksam zu machen und so weiter. Schon um diesen Vorteil allen zu gewähren und dadurch der Fabel zu dienen, sollten die Schauspieler die Rollen auf den Proben mit ihren Partnern mitunter tauschen, damit die Figuren voneinander bekommen, was sie voneinander brauchen. Es ist aber für die Schauspieler auch gut, wenn sie ihren Figuren in der Kopie begegnen oder auch in anderen Gestaltungen. Von einer Person anderen Ge­ schlechts gespielt, wird die Figur ihr Geschlecht deut­ licher verraten, von einem Komiker gespielt, tragisch oder komisch, neue Aspekte gewinnen. Vor allem sichert der Schauspieler, indem er die Gegenfiguren mitentwickelt oder zumindest ihre Darsteller vertritt, den so entschei­ denden gesellschaftlichen Standpunkt, von dem aus er seine Figur vorführt. Der Herr ist nur so ein Herr, wie ihn der Knecht es sein läßt und so weiter. 60

An der Figur sind natürlich schon zahllose Aufbauakte vollzogen worden, wenn sie unter die andern Figuren des Stücks tritt, und der Schauspieler wird seine Vermutun­ gen, die der Text darüber anregt, zu memorieren haben. Aber nun erfährt er weit mehr über sich aus der Behand­ lung, welche die Figuren des Stücks ihm widerfahren las­ sen. 232

6i Den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zuein­ ander einnehmen, nennen wir den gestischen Bereich. Kör­ perhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen Gestus bestimmt: die Figuren beschimp­ fen, komplimentieren, belehren einander und so weiter. Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Men­ schen, gehören selbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichen Schmerzes in der Krankheit oder die religiösen. Diese gestischen Äußerun­ gen sind meist recht kompliziert und widerspruchsvoll, so daß sie sich mit einem einzigen Wort nicht mehr wie­ dergeben lassen, und der Schauspieler muß achtgeben, daß er bei der notwendigerweise verstärkten Abbildung da nichts verliert, sondern den ganzen Komplex ver­ stärkt. 62

Der Schauspieler bemächtigt sich seiner Figur, indem er kritisch ihren mannigfachen Äußerungen folgt sowie de­ nen seiner Gegenfiguren und aller anderen Figuren des Stücks. 63

Gehen wir, um zum gestischen Gehalt zu kommen, die Anfangsszenen eines neueren Stückes durch, meines „Le­ ben des Galilei“. Da wir auch nachsehen wollen, wie die verschiedenen Äußerungen Licht aufeinander werfen, wollen wir annehmen, es handle sich nicht um die erste Annäherung an das Stück. Es beginnt mit den morgend­ lichen Waschungen des Sechsundvierzigjährigen, unter­ brochen durch Stöbern in Büchern und eine Lektion für den Knaben Andrea Sarti über das neue Sonnensystem. Mußt du nicht wissen, wenn du das machen sollst, daß wir schließen werden mit dem Nachtmahl des Achtund­ siebzigjährigen, den eben derselbe Schüler für immer ver­ lassen hat? Er ist dann schrecklicher verändert, als diese 233

Zeitspanne es hätte zuwege bringen können. Er frißt mit haltloser Gier, nichts anderes mehr im Kopf, er ist sei­ nen Lehrauftrag auf schimpfliche Weise losgeworden wie eine Bürde, er, der einst seine Morgenmilch achtlos ge­ trunken hat, gierig, den Knaben zu belehren. Aber trinkt er sie wirklich ganz achtlos? Ist sein Genuß an dem Ge­ tränk und der Waschung nicht eins mit dem an den neuen Gedanken? Vergiß nicht: er denkt der Wollust wegen! Ist dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Ich rate dir, da du im ganzen Stück darüber nichts der Gesellschaft Nachteiliges finden wirst, und besonders, da du doch sel­ ber, wie ich hoffe, ein tapferes Kind des wissenschaft­ lichen Zeitalters bist, es als etwas Gutes darzustellen. Aber notiere es deutlich, viel Schreckliches wird in dieser Sache passieren. Daß der Mann, der hier das neue Zeit­ alter begrüßt, am Ende gezwungen sein wird, dieses Zeit­ alter aufzufordern, daß es ihn mit Verachtung von sich stoße, wenn auch enteigne, wird damit zu tun haben. Was die Lektion anlangt, magst du übrigens entscheiden, ob bloß, dem das Herz voll ist, das Maul überläuft, so daß er zu jedem davon reden würde, selbst zu einem Kinde, oder ob das Kind ihm das Wissen erst entlocken muß, indem es, ihn kennend, Interesse zeigt. Es können auch zwei sein, die sich nicht enthalten können, der eine zu fragen, der andere zu antworten; solch eine Brüderschaft wäre interessant, denn sie wird einmal böse gestört wer­ den. Freilich wirst du die Demonstration des Erdumlaufs mit einer Hast vornehmen wollen, da sie nicht bezahlt wird, denn nun tritt der fremde, wohlhabende Schüler auf und verleiht der Zeit des Gelehrten Goldwert. Er zeigt sich nicht interessiert, aber er muß bedient werden, ist Galilei doch mittellos, und so wird er zwischen dem wohlhabenden Schüler und dem intelligenten stehen und seufzend wählen. Er kann den Neuen nicht viel lehren, so läßt er sich von ihm belehren; er erfährt vom Teleskop, das in Holland erfunden worden ist: In seiner Weise ver­ wendet er die Störung des Morgenwerks. Der Kurator der Universität kommt. Galileis Eingabe um Erhöhung 234

des Gehalts ist abgeschlagen worden, die Universität zahlt nicht gern für physikalische Theorien, was sie für theo­ logische bezahlt, sie wünscht von ihm, der sich schließlich auf einer niedrig angesetzten Ebene der Forschung be­ wegt, Nützliches für den Tag. Du wirst an der Art, wie er seinen Traktat anbietet, bemerken, daß er die Zu­ rück- und Zurechtweisungen gewohnt ist. Der Kurator verweist ihn darauf, daß die Republik die Freiheit der Forschung gewährt, wenn auch schlecht bezahlt; er er­ widert, daß er mit dieser Freiheit wenig anfangen kann, wenn er nicht die Muße hat, die gute Bezahlung ver­ schafft. Da wirst du gut tun, seine Ungeduld nicht allzu herrisch zu finden, sonst kommt seine Armut zu kurz. Denn du triffst ihn kurz darauf bei Gedanken, die eini­ ger Erklärung bedürfen: Der Verkünder eines neuen Zeit­ alters der wissenschaftlichen Wahrheiten erwägt, wie er die Republik um Geld betrügen kann, indem er ihr das Teleskop als seine Erfindung anbietet. Nichts als ein paar Skudi, wirst du erstaunt sehen, sieht er in der neuen Er­ findung, die er lediglich untersucht, um sie sich anzueig­ nen. Gehst du aber weiter, zur zweiten Szene, wirst du entdecken, daß er, die Erfindung an die Signoria von Venedig mit einer durch ihre Lügen entwürdigende Rede verkaufend, dieses Geld schon beinahe vergessen hat, weil er neben der militärischen noch eine astronomische Bedeutung des Instruments ausgefunden hat. Die Ware, die herzustellen man ihn erpreßt hat - nennen wir es doch jetzt so -, zeigt eine hohe Qualität für eben die For­ schung, die er unterbrechen mußte, um sie herzustellen. Wenn er während der Zeremonie, die unverdienten Eh­ rungen geschmeichelt entgegennehmend, dem gelehrten Freund die wunderbaren Entdeckungen andeutet - über­ spring da nicht, wie theatralisch er das tut -, wirst du einer viel tieferen Erregung bei ihm begegnen, als die Aussicht auf den geldlichen Gewinn bei ihm auslöste. Wenn jedoch, so betrachtet, seine Scharlatanerei nicht sehr viel bedeutet, zeigt sie doch an, wie entschlossen die­ ser Mann ist, den leichten Weg zu gehen und seine Ver­ 235

nunft in niedriger wie in hoher Weise zu verwenden. Eine bedeutsamere Prüfung steht bevor, und macht nicht jedes Versagen ein weiteres Versagen leichter? 64

Solch gestisches Material auslegend, bemächtigt sich der Schauspieler der Figur, indem er sich der Fabel bemäch­ tigt. Erst von ihr, dem abgegrenzten Gesamtgeschehnis aus, vermag er, gleichsam in einem Sprung, zu seiner endgültigen Figur zu kommen, welche alle Einzelzüge in sich aufhebt. Hat er alles getan, sich zu wundern über die Widersprüche in den verschiedenenen Haltungen, wis­ send, daß er auch sein Publikum darüber zu wundern haben wird, so gibt ihm die Fabel in ihrer Gänze die Möglichkeit einer Zusammenfügung des Widersprüch­ lichen; denn die Fabel ergibt, als begrenztes Geschehnis, einen bestimmten Sinn, das heißt sie befriedigt von vielen möglichen Interessen nur bestimmte. . 65

Auf die Fabel kommt alles an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung. Denn von dem, was zwi­ schen den Menschen vorgeht, bekommen sie ja alles, was diskutierbar, kritisierbar, änderbar sein kann. Auch wenn der besondere Mensch, den der Schauspieler vorführt, schließlich zu mehr passen muß als nur zu dem, was ge­ schieht, so doch hauptsächlich deswegen, weil das Ge­ schehnis um so auffälliger sein wird, wenn es sich an einem besonderen Menschen vollzieht. Das große Unter­ nehmen des Theaters ist die Fabel, die Gesamtkomposi­ tion aller gestischen Vorgänge, enthaltend die Mitteilun­ gen und Impulse, die das Vergnügen des Publikums nun­ mehr ausmachen sollen.

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Jedes Einzelgeschehnis hat einen Grundgestus: Richard Gloster wirbt um die Witwe seines Opfers. Vermittels eines Kreidekreises wird die wahre Kindsmutter ausge­ funden. Gott wettet mit dem Teufel um die Seele des Doktor Faust. Woyzeck kauft ein billiges Messer, seine Frau umzubringen und so weiter. Bei der Gruppierung der Figuren auf der Bühne und der Bewegung der Grup­ pen muß die erforderliche Schönheit hauptsächlich durch die Eleganz gewonnen werden, mit der das gestische Ma­ terial vorgeführt und dem Einblick des Publikums aus­ gesetzt wird. 67

Da das Publikum ja nicht eingeladen werde, sich in die Fabel wie in einen Fluß zu werfen, um sich hierhin und dorthin unbestimmt treiben zu lassen, müssen die einzel­ nen Geschehnisse so verknüpft sein, daß die Knoten auf­ fällig werden. Die Geschehnisse dürfen sich nicht un­ merklich folgen, sondern man muß mit dem Urteil da­ zwischenkommen können. (Wäre gerade die Dunkelheit der ursächlichen Zusamenhänge interessant, müßte eben dieser Umstand genügend verfremdet werden.) Die Teile der Fabel sind also sorgfältig gegeneinander zu setzen, indem ihnen ihre eigene Struktur, eines Stückchens im Stück, gegeben wird. Man einigt sich zu diesem Zweck am besten auf Titel wie die im vorigen Abschnitt. Die Titel sollen die gesellschaftliche Pointe enthalten, zu­ gleich aber etwas über die wünschenswerte Art der Dar­ stellung aussagen, das heißt je nachdem den Ton der Titel einer Chronik oder einer Ballade oder einer Zei­ tung oder einer Sittenschilderung nachahmen. Eine ein­ fache verfremdende Darstellungsart ist zum Beispiel die­ jenige, welche sonst Sitten und Gebräuche erfahren. Einen Besuch, die Behandlung eines Feindes, das Treffen von Liebenden, Abmachungen geschäftlicher oder politischer Art kann man bringen, als ob man lediglich eine Sitte 237

darstellte, die an diesen Orten herrscht. So dargestellt, bekommt der einmalige und besondere Vorgang ein be­ fremdliches Aussehen, weil er als Allgemeines, zur Sitte Gewordenes erscheint. Schon die Frage, ob er oder was von ihm tatsächlich zur Sitte werden sollte, verfremdet den Vorgang. Den poetischen Historienstil kann man in den Jahrmarktsbuden, Panoramen genannt, studieren. Da das Verfremden auch ein Berühmtmachen bedeutet, kann man gewisse Vorgänge einfach wie berühmte darstellen, als seien sie allgemein und seit langem bekannt, auch in ihren Einzelheiten, und als bemühe man sich, nirgend gegen die Überlieferung zu verstoßen. Kurz: es sind viele Erzählungsarten denkbar, bekannte und noch zu erfin­ dende.

68 Was und wie dieses zu verfremden ist, hängt ab von der Auslegung, die dem Gesamtgeschehnis gegeben werden soll, wobei das Theater kräftig die Interessen seiner Zeit wahrnehmen mag. Wählen wir als Beispiel für die Aus­ legung das alte Stück „Hamlet“. Angesichts der blutigen und finsteren Zeitläufe, in denen ich dies schreibe, ver­ brecherischer Herrscherklassen, eines verbreiteten Zwei­ fels an der Vernunft, welche immerfort mißbraucht wird, glaube ich, diese Fabel so lesen zu können: Die Zeit ist kriegerisch. Hamlets Vater, König von Dänemark, hat in einem siegreichen Raubkrieg den König von Norwe­ gen erschlagen. Als dessen Sohn Fortinbras zu einem neuen Krieg rüstet, wird auch der dänische König er­ schlagen, und zwar von seinem Bruder. Die Brüder der erschlagenen Könige, nun selbst Könige, wenden den Krieg ab, indem den norwegischen Truppen erlaubt wird, für einen Raubkrieg gegen Polen dänisches Gebiet zu queren. Nun ist aber der junge Hamlet vom Geist seines kriegerischen Vaters aufgerufen worden, die an ihm ver­ übte Untat zu rächen. Nach einigem Zaudern, eine blu­ tige Tat durch eine andere blutige Tat zu beantworten, ja schon willig, ins Exil zu gehen, trifft er an der Küste den 238

jungen Fortinbras, der mit seinen Truppen auf dem Weg nach Polen ist. Überwältigt durch das kriegerische Bei­ spiel, kehrt er um und schlachtet in einem barbarischen Gemetzel seinen Onkel, seine Mutter und sich selbst, Dänemark dem Norweger überlassend. In diesen Vor­ gängen sieht man den jungen, aber schon etwas beleibten Menschen die neue Vernunft, die er auf der Universität in Wittenberg bezogen hat, recht unzulänglich anwenden. Sie kommt ihm bei den feudalen Geschäften, in die er zurückkehrt, in die Quere. Gegenüber der unvernünfti­ gen Praxis ist seine Vernunft ganz unpraktisch. Dem Wi­ derspruch zwischen solchem Räsonieren und solcher Tat fällt er tragisch zum Opfer. Diese Lesart des Stücks, das mehr als eine Lesart hat, könnte, meines Erachtens, unser Publikum interessieren. 69

Alle Vormärsche nämlich, jede Emanzipation von der Natur in der Produktion, führend zu einer Umgestaltung der Gesellschaft, alle jene Versuche in neuer Richtung, welche die Menschheit unternommen hat, ihr Los zu bes­ sern, verleihen uns, ob in den Literaturen als geglückt oder mißgeglückt geschildert, ein Gefühl des Triumphs und des Zutrauens und verschaffen uns Genuß an den Möglichkeiten des Wandels aller Dinge. Dies drückt Ga­ lilei aus, wenn er sagt: „Es ist meine Ansicht, daß die Erde sehr nobel und bewundernswert ist, angesichts so vieler und> verschiedener Änderungen und Generationen, welche unaufhörlich auf ihr vorkommen.“

70 Die Auslegung der Fabel und ihre Vermittlung durch ge­ eignete Verfremdungen ist das Hauptgeschäft des Thea­ ters. Und nicht alles muß der Schauspieler machen, wenn auch nichts ohne Beziehung auf ihn gemacht werden darf. Die Fabel wird ausgelegt, hervorgebracht und ausgestellt 239

vom Theater in seiner Gänze, von den Schauspielern, Bühnenbildnern, Maskenmachern, Kostümschneidern, Musikern und Choreographen. Sie alle vereinigen ihre Künste zu dem gemeinsamen Unternehmen, wobei sie ihre Selbständigkeit freilich nicht aufgeben. 7i

Den allgemeinen Gestus des Zeigens, der immer den be­ sonderen gezeigten begleitet, betonen die musikalischen Adressen an das Publikum in den Liedern. Deshalb soll­ ten die Schauspieler nicht in den Gesang „übergehen“, sondern ihn deutlich vom übrigen absetzen, was am be­ sten auch noch durch eigene theatralische Maßnahmen, wie Beleuchtungswechsel oder Betitelung, unterstützt wird. Die Musik muß sich ihrerseits durchaus der Gleich­ schaltung widersetzen, die ihr gemeinhin zugemutet wird und die sie zur gedankenlosen Dienerin herabwürdigt. Sie „begleite“ nicht, es sei den mit Komment. Sie begnüge sich nicht damit, sich „auszudrücken“, indem sie sich ein­ fach der Stimmung entleert, die sie bei den Vorgängen befällt. So hat zum Beispiel Eisler vorbildlich die Ver­ knüpfung der Vorgänge besorgt, indem er zu der Fast­ nachtsszene des „Galilei“, dem Maskenzug der Gilden, eine triumphierende und bedrohliche Musik machte, welche die aufrührerische Wendung anzeigt, die das nie­ dere Volk den astronomischen Theorien des Gelehrten gab. Ähnlicherweise entblößt im „Kaukasischen Kreide­ kreis“ eine kalte und unbewegte Singweise des Sängers, der die auf der Bühne pantomimisch dargestellte Rettung des Kindes durch die Magd beschreibt, die Schrecken einer Zeit, in der Mütterlichkeit zu selbstmörderischer Schwäche werden kann. So kann sich die Musik auf viele Arten und durchaus selbständig etablieren und in ihrer Weise zu den Themen Stellung nehmen, jedoch kann sie auch lediglich für die Abwechslung in der Unterhaltung sorgen. 240

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Wie der Musiker seine Freiheit zurückbekommt, indem er nicht mehr Stimmungen schaffen muß, die es dem Publikum erleichtern, sich haltlos den Vorgängen auf der Bühne hinzugeben, so bekommt der Bühnenbildner viel Freiheit, wenn er beim Aufbau der Schauplätze nicht mehr die Illusion eines Raumes oder einer Gegend erzielen muß. Da genügen Andeutungen, jedoch müssen sie mehr geschichtlich oder gesellschaftlich Interessantes aussagen, als es die aktuale Umgebung tut. Im Moskauer Jüdischen Theater verfremdete ein an ein mittelalterliches Taber­ nakel erinnernder Bau den „König Lear“; 'Neher stellte den „Galilei“ vor Projektionen von Landkarten, Doku­ menten und Kunstwerken der Renaissance; im Piscatortheater verwendete Heartfield in „Tai Yang erwacht“ einen Hintergrund von drehbaren beschrifteten Fahnen, welche den Wandel der politischen Situation notieren, der den Menschen auf der Bühne mitunter nicht bekannt war.

73 Auch die Choreographie bekommt wieder Aufgaben rea­ listischer Art. Es ist ein Irrtum jüngerer Zeit, daß sie bei der Abbildung von „Menschen, wie sie wirklich sind“, nichts zu tun habe. Wenn die Kunst das Leben abspie­ gelt, tut sie es mit besonderen Spiegeln. Die Kunst wird nicht unrealistisch, wenn sie die Proportionen ändert, sondern wenn sie diese so ändert, daß das Publikum, die Abbildungen praktisch für Einblicke und Impulse ver­ wendend, in der Wirklichkeit scheitern würde. Es ist frei­ lich nötig, daß die Stilisierung das Natürliche nicht auf­ hebe, sondern steigere. Jedenfalls kann ein Theater, das alles aus dem Gestus nimmt, der Choreographie nicht entraten. Schon die Eleganz einer Bewegung und die An­ mut einer Aufstellung verfremdet, und die pantomimische Erfindung hilft sehr der Fabel. 16

Über Theater

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So seien all die Schwesterkünste der Schauspielkunst hier geladen, nicht um ein „Gesamtkunstwerk“ herzustellen, in dem sie sich alle aufgeben und verlieren, sondern sie sol­ len, zusammen mit der Schauspielkunst, die gemeinsame Aufgabe in ihrer verschiedenen Weise fördern, und ihr Verkehr miteinander besteht darin, daß sie sich gegen­ seitig verfremden. 75

Und hier, noch einmal, soll erinnert werden, daß es ihre Aufgabe ist, die Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters zu unterhalten, und zwar in sinnlicher Weise und heiter. Dies können besonders wir Deutschen uns nicht oft genug wiederholen, denn bei uns rutscht sehr leicht alles in das Unkörperliche und Unanschauliche, worauf wir anfan­ gen, von einer Weltanschauung zu sprechen, nachdem die Welt selber sich aufgelöst hat. Selbst der Materialismus ist bei uns wenig mehr als eine Idee. Aus dem Geschlechts­ genuß werden bei uns eheliche Pflichten, der Kunstgenuß dient der Bildung, und unter dem Lernen verstehen wir nicht ein fröhliches Kennenlernen, sondern daß uns die Nase auf etwas gestoßen wird. Unser Tun hat nichts von einem fröhlichen Sich-Umtun, und um uns aus­ zuweisen, verweisen wir nicht darauf, wieviel Spaß wir mit etwas gehabt haben, sondern wieviel Schweiß es uns gekostet hat. 76

Zu sprechen ist noch von der Ablieferung des in den Pro­ ben Aufgebauten an das Publikum. Es ist da nötig, daß dem eigentlichen Spiel der Gestus des Aushändigens von etwas Fertigem unterliegt. Vor den Zuschauer kommt jetzt das Oftgehabte von dem Nichtverworfenen, und so müssen die fertiggestellten Abbildungen in völliger Wach242

heit abgeliefert werden, damit sie in Wachheit empfan­ gen werden können. 77

Die Abbildungen müssen nämlich zurücktreten vor dem Abgebildeten, dem Zusammenleben der Menschen, und das Vergnügen an ihrer Vollkommenheit soll in das hö­ here Vergnügen gesteigert werden, daß die zutage getre­ tenen Regeln in diesem Zusammenleben als vorläufige und unvollkommene behandelt sind. In diesem läßt das Theater den Zuschauer produktiv, über das Schauen hin­ aus. In seinem Theater mag er seine schrecklichen und nie endenden Arbeiten, die ihm den Unterhalt geben sollen, genießen als Unterhaltung, samt den Schrecken« seiner unaufhörlichen Verwandlung. Hier produziere er sich in der leichtesten Weise; denn die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst.

1948

Nachträge zum „Kleinen Organon“

Es handelt sich nicht nur darum, daß die Kunst zu Ler­ nendes in vergnüglicher Form vorbringt. Der Widerspruch zwischen Lernen und Sichvergnügen muß scharf und als bedeutend festgehalten werden - in einer Zeit, wo man Kenntnisse erwirbt, um sie zu möglichst hohem Preis weiterzuverkaufen, und wo selbst ein hoher Preis denen, die ihn zahlen, noch Ausbeutung gestattet. Erst wenn die Produktivität entfesselt ist, kann Lernen in Vergnügen und Vergnügen in Lernen verwandelt werden.

Wenn jetzt der Begriff „episches Theater“ auf gegeben wird, so nicht der Schritt zum bewußten Erleben, den es nach wie vor ermöglicht. Sondern es ist der Begriff nur zu ärmlich und vage für das gemeinte Theater; es braucht genauere Bestimmungen und muß mehr leisten. Außer­ dem stand es zu unbewegt gegen den Begriff des Drama­ tischen, setzte ihn oft allzu naiv einfach voraus, etwa in dem Sinn: „Selbstverständlich“ handelt es sich immer auch um direkt sich abspielende Vorgänge mit allen Merkmalen oder vielen Merkmalen des Momentanen! (In derselben, nicht immer ungefährlichen Art setzen wir auch bei allen Neuerungen immer naiv voraus, daß es immer noch Theater bleibt - und etwa nicht wissenschaft­ liche Demonstration wird!)

Auch der Begriff „Theater des wissenschaftlichen Zeit­ alters“ ist nicht weit genug. Im „Kleinen Organon für das Theater“ ist, was wissenschaftliches Zeitalter genannt wer­ den kann, vielleicht hinreichend ausgeführt, aber der Ter­ 244

minus allein, in der Form, wie er gemeinhin gebraucht wird, ist zu sehr verschmutzt.

Der Genuß an alten Stücken wird um so größer, je mehr wir uns der neuen, uns gemäßen Art der Vergnügungen hingeben können. Dazu müssen wir den historischen Sinn - den wir auch den neuen Stücken gegenüber benötigen zu einer wahren Sinnlichkeit ausbilden. *

In den Zeiten der Umwälzung, den furchtbaren und fruchtbaren, fallen die Abende der untergehenden Klas­ sen mit den Frühen der aufsteigenden zusammen. Dies sind die Dämmerungen, in denen die Eule der Minerva ihre Flüge beginnt.

Das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters vermag die Dialektik zum Genuß zu machen. Die Überraschun­ gen der logisch fortschreitenden oder springenden Ent­ wicklung, der Unstabilität aller Zustände, der Witz der Widersprüchlichkeiten und so weiter, das sind Vergnü­ gungen an der Lebendigkeit der Menschen, Dinge und Prozesse, und sie steigern die Lebenskunst sowie die Lebensfreudigkeit. Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst.

Es ist für unsere Generation nützlich, der Warnung, bei der Aufführung Einfühlung in die Figur des Stücks zu vermeiden, Gehör zu schenken, so apodiktisch sie auch sein mag. So entschlossen sie dem Rat auch folgte, sie könnte ihn kaum ganz befolgen, und so kommt *es am ehesten zu jener wirklich zerreißenden Widersprüchlich­ keit zwischen Erleben und Darstellen, Einfühlen und * Unsere Theater pflegen, Stücke aus anderen Epochen aufführend, das Trennende zu verwischen, den Abstand aufzufüllen, die Unter­ schiede zu verkleben. Aber wo bleibt dann die Lust an der Über­ sicht, am Entfernten, am Verschiedenen? Welche Lust zugleich die Lust am Nahen und Eigenen ist! 245

Zeigen, Rechtfertigen und Kritisieren, welche gefordert wird. Und darin zu der Führung des Kritischen. Der Widerspruch zwischen Spielen (Demonstrieren) und Erleben (Einfühlen) wird von ungeschulten Köpfen so aufgefaßt, als trete in der Arbeit des Schauspielers nur das eine oder das andere auf (oder als werde nach dem „Kleinen Organon“ nur gespielt, nach der alten Weise nur erlebt).-In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um zwei einander feindliche Vorgänge, die sich in der Arbeit des Schauspielers vereinigen (das Auftreten enthält nicht nur ein bißchen von dem und ein bißchen von jenem). Aus dem Kampf und der Spannung der beiden Gegen­ sätze, wie aus ihrer Tiefe, zieht der Schauspieler seine eigentlichen Wirkungen. Einige Schuld an dem Mißver­ ständnis muß man der Schreibweise des „Kleinen Orga­ non“ geben. Sie ist oft dadurch irreführend, daß vielleicht allzu ungeduldig und ausschließlich die „hauptsächliche Seite des Widerspruchs“* gegeben wurde.

Und doch wendet sich die Kunst an alle und träte mit ihrem Lied dem Tiger entgegen. Und nicht selten läßt er mit sich singen! Neue Ideen, als fruchtbar erkennbar, ganz gleichgültig, wem sie Früchte tragen würden, kom­ men nicht selten von den aufsteigenden Klassen nach „oben“ und dringen in Gemüter ein, die eigentlich, zur Beibehaltung ihrer Vorteile sich ihnen verwehren müß­ ten. Denn die Angehörigen einer Klasse sind nicht im­ mun gegen Ideen,'die ihrer Klasse nichts nützen. Ebenso wie die Angehörigen unterdrückter Klassen den Ideen ihrer Unterdrücker verfallen können, so verfallen Ange­ hörige der unterdrückenden Klasse den Ideen der Unter­ drückten. Zu bestimmten Zeiten ringen die Klassen um die Führung der Menschheit, und die Begierde, zu deren Pionieren zu gehören und vorwärts zu kommen, ist mäch* Mao Tse-tung, „Über den Widerspruch“: Von den beiden Seiten eines Widerspruchs ist eine unbedingt die hauptsächliche.

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tig in den nicht völlig Verkommenen. Es wirkte nicht nur Gift als Reiz, wenn der Hof von Versailles dem Figaro Beifall klatschte. Die Fabel entspricht nicht einfach einem Ablauf aus dem Zusammenleben der Menschen, wie er sich in der Wirk­ lichkeit abgespielt haben könnte, sondern es sind zurecht­ gemachte Vorgänge, in denen die Ideen des Fabelerfin­ ders über das Zusammenleben der Menschen zum Aus­ druck kommen. So sind die Figuren nicht einfach Abbil­ der lebender Leute, sondern zurechtgemacht und nach Ideen geformt. Zu den zurechtgemachten Vorgängen und Figuren be­ findet sich das Wissen der Schauspieler aus Erfahrung und Buch in vielem Widerspruch, und diesen Wider­ spruch müssen sie feststellen und beim Spiel aufrecht­ erhalten. Sie müssen zugleich aus der Wirklichkeit und aus der Dichtung schöpfen, denn wie in der Arbeit der Stückeschreiber muß in ihrer Arbeit die Wirklichkeit reich und aktual vorkommen, damit das Besondere oder Allgemeine der Dichtung wahrnehmbar herausgeholt wird. Das Studium der Rolle ist zugleich ein Studium der Fa­ bel, besser gesagt, es soll zunächst hauptsächlich ein Stu­ dium der Fabel sein. (Was passiert dem Menschen? Wie nimmt er es auf? Was macht er? Welchen Meinungen begegnet er? Und so weiter.) Hierzu muß der Schauspieler seine Kenntnis der Welt und der Menschen mobilisieren, und zudem muß er seine Fragen als Dialektiker stellen. (Gewisse Fragen stellt nur der Dialektiker.) Beispiel: Ein Schauspieler soll den Faust spielen. Fausts Liebesbeziehungen zu Gretchen nehmen einen verhäng­ nisvollen Verlauf. Die Frage erhebt sich: Würden sie das nicht, wenn Faust Gretchen heiratete? Für gewöhnlich wird diese Frage nicht gestellt. Sie erscheint als zu banal, niedrig, spießig. Faust ist ein Genius, ein hoher Geist, 247

der Unendliches anstrebt; wie kann man auch nur die Frage stellen: Warum heiratet er nicht? Aber die einfa­ chen Leute stellen diese Frage. Das allein muß den Schauspieler dazu bewegen, sie ebenfalls zu stellen. Und nach einigem Nachdenken wird der Schauspieler merken, daß diese Frage eine sehr nötige, sehr nutzbringende Frage ist. Es muß natürlich zunächst festgestellt werden, unter welchen Bedingungen diese Liebesgeschichte stattfindet, wie sie zur ganzen Fabel steht, was sie für die Hauptidee bedeutet. Faust hat sich von „hohen“, abstrakten, „rein geistigen“ Bemühungen, zum Lebensgenuß zu gelangen, abgewandt und wendet sich nun „rein sinnlichen“ irdi­ schen Erfahrungen zu. Dabei werden seine Beziehungen zu Gretchen verhängnisvoll, das heißt, dabei gerät er in Konflikt mit Gretchen, verwandelt sich seine Vereinigung in eine Entzweiung, wird der Genuß zum Schmerz. Der Konflikt führt zur völligen Vernichtung Gretchens, und diese trifft Faust schwer. Jedoch ist dieser Konflikt rich­ tig darzustellen nur durch einen andern, weit größeren Konflikt, der das ganze Werk beherrscht, beide Teile zu­ sammen. Faust hat sich aus dem leidvollen Widerspruch zwischen „rein geistigen“ Abenteuern und den nicht be­ friedigten, nicht zu befriedigenden „rein sinnlichen“ Be­ gierden gerettet, und zwar mit Hilfe des Teufels. In der „rein sinnlichen“ Sphäre (der Liebesgeschichte) stößt sich Faust an der Umwelt, vertreten durch Gretchen, und muß sie vernichten, um sich zu retten. Die Lösung des Hauptwiderspruchs kommt am Ende des ganzen Stückes und macht erst die Bedeutung und Stellung der minde­ ren Widersprüche klar. Faust muß seine rein konsumie­ rende, parasitäre Haltung aufgeben. In der produktiven Arbeit für die Menschheit vereinigt sich geistige und sinn­ liche Tat, und in der Produktion von Leben ergibt sich der Genuß am Leben. Zurückkehrend zu unserer Liebesgeschichte, können wir sehen, daß eine Heirat, wie spießig immer, unmöglich dem Genius, widersprechend seiner Laufbahn, doch in 248

relativem Sinn das Bessere, da Produktivere gewesen wäre, denn dies wäre die zeitgebende Vereinigung, in der die Geliebte hätte entwickelt anstatt vernichtet wer­ den können. Faust wäre dann allerdings kaum Faust, bliebe im (wie sich plözlich ergibt) Kleinen stecken und so weiter und so weiter. Der Schauspieler, der die Frage der einfachen Leute be­ herzt stellt, wird aus dem Nichtheiraten eine abgegrenzte Phase der Entwicklung Fausts machen können, während er anders, wie es gewöhnlich geschieht, nur zeigen hilft, daß eben auf Erden unänderbar Schmerzen bereiten muß, wer höher steigen will, daß die Tragik des Lebens unauf­ hebbar darin besteht, daß Genüsse und Entwicklung et­ was kosten, kurz den spießigsten und brutalsten Satz, daß Späne fliegen, wo gehobelt wird. Die Darstellungen des bürgerlichen Theaters gehen im­ mer auf die Verschmierung der Widersprüche, auf die Vortäuschung von Harmonie, auf die Idealisierung aus. Die Zustände werden dargestellt als so, wie sie gar nicht anders sein können; die Charaktere als Individualitäten, nach dem Wortsinn Unteilbarkeiten von Natur aus, aus „einem Guß“, als sich beweisend in den verschiedensten Situationen, eigentlich auch ohne alle Situationen beste­ hend. Wo es Entwicklung gibt, ist sie nur stetig, niemals sprunghaft, und immer sind es Entwicklungen in einem ganz bestimmten Rahmen, der niemals gesprengt werden kann. Das entspricht nicht der Wirklichkeit und muß also von einem realistischen Theater aufgegeben werden.

Echte, tiefe, eingreifende Verwendung der Verfrem­ dungseffekte setzt voraus, daß die Gesellschaft ihren Zu­ stand als historisch und verbesserbar betrachtet. Die echten V-Effekte haben kämpferischen Charakter.

Daß die Szenen in ihrer Reihenfolge, aber ohne viel Rücksicht auf die folgenden oder sogar den Gesamtsinn 249

des Stücks, zunächst einfach gespielt werden, mit den Erfahrungen, die aus dem Leben kommen, das hat für das Zustandekommen einer echten Fabel große Bedeu­ tung. Diese entwickelt sich dann nämlich in widerspruchs­ voller Weise, die einzelnen Szenen behalten ihren eige­ nen Sinn, ergeben (und schöpfen aus) eine Vielfalt von Ideen, und das Ganze, die Fabel, wird echt entwickelt, in Wendungen und Sprüngen, und vermieden wird jene ba­ nale Durchidealisierung (ein Wort gibt das andere) und Ausrichtung von unselbständigen, rein dienenden Einzel­ teilen auf einen alles befriedenden Schluß. Zitieren wir Lenin: „Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer ,Selbstbewegung4, in ihrer spontanen Entwicklung, in ihrem lebendigen Sein ist die Erkenntnis derselben als Einheit von Gegensätzen.“* Es ist vollkommen gleichgültig, ob es der Hauptzweck des Theaters ist, Erkenntnis der Welt zu bieten, Tat­ sache bleibt, daß das Theater Darstellungen der Welt ge­ ben muß, und diese Darstellungen dürfen nicht irrefüh­ rend sein. Wenn Lenin nun recht hat mit seiner Behaup­ tung, können solche Darstellungen ohne Kenntnis der Dialektik - und ohne Dialektik zur Kenntnis zu brin­ gen - nicht befriedigend ausfallen. Einwand: Lind was mit der Kunst, die Wirkungen aus schiefen, fragmentarischen/ dunklen Darstellungen zieht? Was mit der Kunst der Wilden, der Irren und der Kin­ der? Es ist vielleicht möglich, so viel zu wissen und festzu­ halten, was man weiß, daß man auch aus solchen Dar­ stellungen Gewinn ziehen kann, aber für uns besteht der Verdacht, allzu subjektive Darstellungen der Welt er­ zielten asoziale Wirkungen. * Lenin, Zur Frage der Dialektik.

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VERTEIDIGUNG DES „KLEINEN ORGANON“

In der etwas kühleren Spielweise wird eine Abschwächung der Wirkung gesehen, welche mit dem Abstieg der bürgerlichen Klasse in Zusammenhang gebracht wird. Für das Proletariat wird starke Kost gefordert, das „blut­ volle“, unmittelbar ergreifende Drama, in dem die Ge­ gensätze krachend aufeinanderplatzen und so weiter und so weiter. In meiner Jugend galt freilich bei den armen Leuten der Vorstadt, in der ich aufwuchs, der Salzhering für eine kräftige Nahrung.

„KATZGRABEN“-NOTATE

Politik auf dem Theater

Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkennt­ nisse, aufschlußreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muß die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren. Unsere Zuschauer müs­ sen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern auch sich in der Lust schulen, ihn zu befreien. Alle die Lüste und Späße der Erfinder und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier müssen von unserem Theater gelehrt werden.

Zum Stück

ERWIN STRITTMATTERS „K ATZ G R AB EN“

Erwin Strittmatter gehört zu den neuen Schriftstellern, die nicht aus dem Proletariat aufstiegen, sondern mit dem Proletariat. Er ist der Sohn eines Landarbeiters aus der Niederlausitz, durchlief viele Berufe, war Landarbeiter, Bäcker, Pelzfarmer und so weiter, wurde nach 1945 Bür­ germeister auf dem Dorf, Volkskorrespondent, Schrift­ steller. Ohne die Deutsche Demokratische Republik wäre er nicht nur nicht der Schriftsteller geworden, der er ist, sondern vermutlich überhaupt kein Schriftsteller. Sein Roman „Ochsenkutscher“ stellte ihn sogleich in die nicht zu große Reihe bedeutender deutscher Schriftsteller: durch Gestaltungskraft, Originalität, Gesinnung, Wissen und Sprachgewalt. Seine Bauernkomödie „Katzgraben“’ zeigt ihn in rapider Entwicklung begriffen. Er geht neue Wege, nicht ohne Kenntnis der alten. Die deutschen Bauern kamen auf die Bühne in Stücken von Anzengruber, Ruederer und Thoma und in Dialekt­ stücken, die nur lokal bekannt sind. „Katzgraben“ ist meines Wissens das erste Stück, das den modernen Klas­ senkampf auf dem Dorf auf die deutsche Bühne bringt. Es zeigt Großbauer, Mittelbauer, Kleinbauer und Par­ teisekretär nach der Vertreibung der Junker in der Deut­ schen Demokratischen Republik. Die Gestalten des Stücks sind voller Individualität, mit köstlichen Einzel­ zügen, liebens- oder hassenswert, widerspruchsvoll und zugleich eindeutig, Gestalten, die sich den bekannten Gestalten der dramatischen Literatur würdig gesellen. Die Sprache des Stücks ist außerordentlich plastisch, bil­ derreich und kräftig, voll von neuen Elementen. Ich zitiere: 255

(Die Bäuerin Kleinschmidt erzählt von ihrem ersten Pflügen mit dem neuen Ochsen.) BÄUERIN:

Ein Jammer war’s: Zweimal ums Feld, so tief, wie du’s verlangst, da liegt er auf der Schnauze. GÜNTER:

Da war der Pflug zu leicht. BÄUERIN:

Was du schon weißt. Ich schneid mir eine Rute, denk, leicht braucht der Feuer unterm Schwanz. Auch mit der Rute ging es nur bis zum Rain. Da wurd er freilich bienenfleißig und hat sich über deine Hecken hergemacht. Stampft ein, reißt aus, verschlingt sie mit der Wurzel. Wie schön warn die schon angewachsen, nicht? KLEINSCHMIDT:

Der Deiwel soll ... - Das Joch war ihm zu eng. Das hat ihm weh getan. Bei mir trabt’ er heut morgen wie ein Rennpferd. BÄUERIN:

Ja, dreimal um die Scheune. Da zog auch der Heuduft in der Nase mit. Dem tut nur eins weh, und das ist sein Magen. Ich habe mich mit ihm durchs Dorf geschämt; holterdiepolter über Wegrand und Graben, wo nur ein Grünhalm stand, da mußt er hin. Ich mußt vom Wagen. Ganz zuletzt drückt er um eine einz’ge Unkrautstaude den Gartenzaun beim Nachbar Klappe ein. (Der Grubenarbeiter und Parteisekretär Steinert ermutigt die Neu­ bauern durch einen Hinweis auf Traktoren.) STEINERT:

Ochse! Ochse! Ochse! Ist so ein Vieh der Mittelpunkt der Welt? Denkt noch daran, wir schaffen jetzt Stationen, wo man sich einen Traktor leihen kann, und ihr, ihr klammert euch an Ochsenschwänze. Warum nicht mit der Nase Furchen ziehn! Ein Ochse darf für uns doch nur Behelf sein, der Kuhablöser, solang’s an Traktoren mangelt.

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Im Vorjahr saht ihr noch kein Ochsenhaar, jetzt seht ihr nur noch Ochsen; die Partei sieht längst Traktoren pflügen.

Wie man sieht, ist das Stück in Jamben geschrieben. Wohl zum erstenmal in der deutschen Literatur finden wir eine jambisch gehobene Volkssprache. (Die Bauern im „Zerbrochnen Krug“ sprechen das Deutsch ihres Schöpfers Kleist.) Die Verse sind nicht durchwegs fünf­ füßig wie im klassischen Drama: Sie werden dadurch er­ staunlich beweglich. Soll das so bleiben hier? Das Krötendasein in den Ackerfurchen in eurem Hinterm-Mond-Loch? Ach, ihr Bauern, ihr!

x

Der Neubauer erklärt, warum man in Katzgraben nicht die Methoden der Sowjetunion anwenden könne: Auf den Akazienbäumen Linsen, und die Quecken tragen Weizen, Kirschen wie kleine Äpfel groß - nicht in Katzgraben! Von Jahr zu Jahr wird ’s Wasser bei uns knapper. Sogar in einem nassen Jahr wird keine Feldmaus mehr in ihrem Loch ersaufen.

Der Dialog gewinnt durch die Versifizierung schöne Schlagkraft: KLEINSCHMIDT:

Ich würde heut nicht an die Straße rühren. STEINERT:

Gerade. Ohne Straßen gibt’s kein Wasser. KLEINSCHMIDT:

Und die bau’n ohne Wasser keine Straße. (Der Großbauer Großmann greift den Parteisekretär Steinert an.) GROSSMANN:

Im Krieg bist du den Russen zugelaufen. STEINERT:

Ganz schnell sogar. Der Pest enteilt man. GROSSMANN:

Mit solchen Kerlen sollte man gewinnen! 17

Über Theater

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STEINERT: Daß du gewinnst - grad das mußt’ man verhindern. GROSSMANN: Mit solchen Kerlen sollte man Großdeutschland halten! STEINERT: Großbauerndeutschland meinst du - deine Pfründe!

Das Stück ist voll glücklicher Prägungen. BÄUERIN:

Die neue Straße muß gepflastert werden. STEINERT: Womit denn pflastern? BÄUERIN:

Wüßte schon, womit. Man könnt’ die Mauer rings ums Gut abreißen, die düngt mit ihren Schatten nur die Nesseln. Und muß der Park jetzt noch ummauert sein? MAMMLER:

Die Mauer - die gehört dem Gutsherrn. STEINERT:

Ja? Gehört sie ihm? MAMMLER:

Hat ihm gehört. STEINERT:

Ach so.

Die Bäuerin Kleinschmidt (eine der schönsten Figuren der neueren deutschen Literatur) fragt in bezug auf das Grubenwasser und anderes: Muß dreckig bleiben, was da dreckig ist?

Ihre Tochter, die die Mutter nicht allein in der Fron des Großbauern lassen will, schickt sie auf die Agronomen­ schule mit den Worten: Studier ihn tot, den Hund!

Ihrem Mann, der in der Frage der Straße umgefallen ist, sagt sie: 258

Gackert von Fortschritt, aber legt kein Ei!

Dem Parteisekretär Steinert gibt die junge Agronomin einen Rat zurück, den er ihr in einer privaten Angelegen­ heit gegeben hat, und er sagt lachend: Jetzt hätt ich beinah was von mir gelernt!

Die Schauspieler benutzten auf den Proben dauernd Zi­ tate aus dem Stück. Ich halte es für eine bedeutende Errungenschaft, daß wir unsere Arbeiter und Bauern auf der Bühne sprechen hö­ ren wie die Helden Shakespeares und Schillers. Auch die Fabel des Stücks ist in großer Weise gestaltet. Wir bekommen Katzgraben in zwei aufeinanderfolgen­ den Jahren und dann noch ein halbes Jahr später zu se­ hen. Diese Zeitsprünge zerschneiden jedoch die Hand­ lung keineswegs. Ein und dasselbe Thema geht durch und entwickelt sich folgerichtig, und der Klassenkampf er­ klimmt immer höhere Stufen. Der Neubauer muß sich 1947 in der Angelegenheit einer Straße, die Katzgraben enger mit der Stadt verbinden soll, dem Großbauern beugen, weil er noch dessen Pferde für die Erfüllung des Anbauplans benötigt; Um Doppelernten zu bekommen, muß er tief pflügen. 1948 haben ihm seine Doppelernten einen Ochsen eingebracht, und er ist in der Lage, gegen den Großbauern die Straße durchzusetzen. Aber der Ochse ist sehr mager, und es fehlt Futter. 1949 wird der Grundwassermangel vordringlich; ohne eine Lösung des Problems ist alle bisherige Arbeit in Frage gestellt. Auch dieses Problem ist ein politisches, und im Nachspiel wird die Lösung auf breitester Grundlage in Angriff genom­ men: Der Traktor ersetzt den Ochsen. Dies alles ist dich­ terisch gestaltet. Aus so „prosaischen“ Dingen wie Kar­ toffeln, Straßen, Traktoren werden poetische Dinge! Das Wichtigste freilich sind Strittmatter die neuen Men­ schen seines Stücks. „Katzgraben“ ist ein Hohelied ihrer neuen Tugenden. Ihrer Geduld ohne Nachgiebigkeit, ihres erfinderischen Muts, ihrer praktischen Freundlich259

keit zueinander, ihres kritischen Humors. Sprunghaft verändert im Laufe des Stücks das soziale Sein ihr Be­ wußtsein. Die Bauern, die der ersten Voraufführung bei­ wohnten, erkannten sich wieder in diesem Stück und dis­ kutierten freundlich mit dem Autor seine Ansichten. Das Stück zeigt nicht nur. Es zieht den Zuschauer mäch­ tig in den großen Prozeß der produktiven Umwandlung des Dorfes, angetrieben durch den Dynamo der soziali­ stischen Partei der Deutschen Demokratischen Republik, Es erfüllt ihn mit dem Geist des kühnen Fortschreitens. Lernt und verändert, lernt daraus aufs neue und ändert wieder!

IST „KATZGRABEN “ EIN TEN D EN Z STÜ CK ?

B. Ich sehe es nicht als Tendenzstück an. Wolfs „Cyan­ kali“ ist ein Tendenzstück, übrigens ein sehr gutes. Es ist zur Weimarer Zeit geschrieben, und der Verfasser ver­ langt in ihm das Recht der proletarischen Frauen auf Ab­ treibung im Kapitalismus. Das ist ein Tendenzstück. So­ gar Hauptmanns „Weber“, ein Stück voll von Schönhei­ ten, ist ein Tendenzstück, nach meiner Meinung. Es ist ein Appell an die Menschlichkeit der Bourgeoisie, wenn auch ein skeptischer Appell. „Katzgraben“ hingegen ist eine historische Komödie. Der Verfasser zeigt seine Zeit und ist für die fortschreitenden, produktiven, revolutio­ nären Kräfte. Er gibt manche Hinweise für Aktionen der neuen Klasse, aber er geht nicht darauf aus, einen be­ stimmten Mißstand zu beseitigen, sondern demonstriert sein neues, ansteckendes Lebensgefühl. So müssen wir auch das Stück aufführen, wir müssen einem proletari­ schen Publikum Lust machen, die Welt zu verändern (und ihm einiges dafür nötiges Wissen vermitteln).

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DER NEUBAUER, DER'MITTELBAUER,

DER GROSSBAUER

X. Wird man nicht sagen, ein Autor, der einen Klein­ bauern namens Kleinschmidt, einen Mittelbauern namens Mittelländer und einen Großbauern namens Großmann auftreten läßt, verfahre allzu schematisch? B. Ja, vielleicht wird man das sagen. X. Sie selber haben ein solches Stück weder geschrieben noch inszeniert. B. Nein. Wenn ich Sie recht verstehe, stoßen Sie sich nicht an der Benamung, das ist in der Komödie durchaus legitim. Was Ihren Einwand gegen Schematismus betrifft, habe ich mir den natürlich auch überlegt. Ich untersuchte das Stück sehr genau daraufhin, ob die Figuren, wie es beim Schematismus üblich ist, gesichtslos, blutleer und nur Formeln für soziale Typen waren, ich fand aber aus­ geprägte Individualitäten, echte Rollen, Bauern aus Strittmatters Bekanntschaft sozusagen. Vertreter ihrer Klassen sind sie wie im alten Volksmärchen. Oder in Raimundschen Stücken. X. Schön, aber es ist doch etwas an dem Stück, was nicht ganz . . . B. So ist es. X. Wir siedeln den Realismus gern in nächster Nähe des Naturalismus an. B. Was nicht übel ist. - Ich war nie Naturalist, liebte nie Naturalismus, sehe in ihm aber bei allen Mängeln doch den Durchbruch des Realismus in der modernen Literatur und auf dem modernen Theater. Es ist ein fatalistischer Realismus, das entwicklungsgeschichtlich Unwesentliche überwuchert alles, das Bild, das er von der Wirklichkeit gibt, ist nicht praktikabel, das Poetische etwas verkümmert, und so weiter und so weiter, aber doch kommt durch ihn die Wirklichkeit in Sicht, gibt es bei ihm noch Rohstoff, der nicht durchidealisiert ist. Eine große Epoche der Literatur und des Theaters trotz allem, nur übertreffbar durch eine des sozialistischen Realismus! 261

X. Und „Katzgraben“? B. Der sozialistische Realismus wird viele Spielarten ha­ ben oder ein Stil bleiben und bald durch Monotonie ein­ gehen (weil zu wenige Bedürfnisse befriedigend). Wir müssen aufmerksam verfolgen, was entsteht. Was ent­ steht, müssen wir entwickeln. Es hat keinen Sinn, eine Ästhetik aufzustellen, auszudenken, aus Bekanntem zu­ sammenzukleben und zu erwarten, die Stückeschreiber lie­ fern dann, was die Ästheten ausgedacht haben. Besonders schlimm ist es, sich am Schreibtisch ein Modell ^^Kunst­ werks zusammenzubrauen. Dann untersucht man Kunst­ werke nur noch daraufhin, ob sie das Modell verkör­ pern. X. Soll das heißen, daß wir einfach zu akzeptieren haben, was die Stückeschreiber herbeibringen? B. Nein.

Zur Aufführung

BESETZUNG DER HAUPTROLLEN

Für die Besetzung der Hauptrollen hatten die Dramatur­ gen, die Regisseure und das Büro Vorschläge gemacht. Die Regie entschied nach folgenden Gesichtspunkten. Für die Rolle des Neubauern Kleinschmidt kam nur ein Schauspieler in Frage, bei dem die Freude am Experi­ mentieren nicht als bizarre Verschrobenheit wirken würde. Bei aller Anlage dazu wird Kleinschmidt hauptsächlich durch seine Lage zum Ausprobieren neuer Methoden ver­ anlaßt. Sein Vertrauen auf die Wissenschaft mußte ge­ nügend auffällig für einen Bauern sein, das Buch in sei­ ner Hand etwas fremd. Es wurde der Schauspieler Gnass gewählt. Für die Rolle des Grubenarbeiters und Parteisekretärs Steinert kam nur ein Schauspieler in Frage, der einen rei­ fen Mann darstellen konnte. Bei einem jungen Steinert würde das Publikum seine gelegentlichen Fehler nur auf seine Unerfahrenheit schieben. Der Darsteller mußte auch imstande sein, die besondere Art von Müdigkeit zu spielen, welche Steinerts Unermüdlichkeit zeigt: Hier baut die Arbeiterschaft mit abgezweigten Kräften auch noch eine neue Landwirtschaft auf. Als Darsteller wurde Kleinoschegg gewählt. Für die Rolle der Bäuerin Kleinschmidt setzte das Berli­ ner Ensemble Angelika Hurwicz ein, die Darstellerin der stummen Kattrin und der Marte Schwerdtlein. Die Hur­ wicz ist gleich gut in der Darstellung stiller und emp­ findsamer Mädchen wie resoluter reifer Frauen. Sie ver­ mag nicht nur komisch, sondern auch lustig zu sein. Für die Rolle ihrer Tochter Elli wurde eine Schauspie­ lerin benötigt, die die Umwandlung eines Bauernmäd­ 263

chens in eine Agronomin des neuen Staats darstellen konnte. Sie hat das Bauernmädchen im ersten Akt zu spielen, im zweiten nicht aufzutreten und im dritten die junge Agronomin zu zeigen. Die Ausbildung, die sie auf der städtischen Schule erhält, mißt der Stückeschreiber nicht an ihren Leistungen oder Meinungen ab, sondern an ihrer Wirkung auf einen Bauernjungen, der sie im ersten Akt überhaupt nicht bemerkt und im dritten so­ gleich auf sie „fliegt“. Die Rolle wurde der Lutz gege­ ben. Auf der ersten Kostümanprobe stellte es sich her­ aus, daß sie das von der Regie erwartete „mausgraue, unscheinbare Geschöpf“ nicht werden würde. Sie war ein kleiner, noch ungestalter Brocken, erotisch nicht attrak­ tiv, jedoch sehr lebendig. B. Das ist lehrreich. In jedem Fall konnte sie nicht nur so sein oder so (mausgrau oder ungestalt). Sie mußte das Entscheidende spielen. Jetzt wird sie eben anstatt „un­ scheinbar“ zu spielen, „unattraktiv“ spielen. Das ist so­ gar besser. Für die Rolle des ewig schwankenden opportunistischen Kleinbauern Mammler war zuerst ein kleiner, schwäch­ lich aussehender Darsteller in Aussicht genommen. Die Regie entschied sich aber dann für einen großen und kräf­ tigen Mann (Kaiser). B. Es ist interessanter, wenn ein Turm schwankt, als wenn ein Grashalm schwankt. Es war das Bestreben der Regie, die vier jungen Leute (Elli, Hermann, Günther, Erna) möglichst jung zu hal­ ten.

DEKORATION

Die erste Frage war: Wie kann man den zeitgeschicht­ lichen Charakter dieser Komödie zum Ausdruck brin­ gen? B. Die Bühnenbilder müssen authentischen Charakter haben. Wir zeigen den Städtern die Vorgänge auf dem

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Land. Ich sage mit Bedacht nicht „die Zustände“. Zeit­ geschichtlich, das ist: dies und das spielt sich eben jetzt ab, war gestern anders und wird morgen anders sein. Wir müssen alles „festhalten“, später wird man es schwer re­ konstruieren können, es ist aber geschichtlich wichtig. Es wurde die Entscheidung getroffen, den Bildern doku­ mentarischen Anstrich zu geben, also sie so zu malen, daß sie an Photographie erinnerten. Und, natürlich, echte Mo­ tive zu nehmen. Der Bühnenbildner von Appen und Palitzsch fuhren mit Strittmatter in die Lausitz und wählten die Motive aus. Es wurde mehreres kombiniert, um auf das Wesentliche zu kommen, das die pure einzige Photo­ graphie nicht geben kann. Großen Wert legte Brecht darauf, daß das Finstere, Un­ schöne und Ärmliche des preußischen Dorfes herauskam, die „Unbewohnbarkeit“ dieser von den Junkern und der Verwaltung ausgesogenen und kujonierten Gebiete. Das war das Land, das die Bauern unter der Führung der Kommunisten wohnlich zu machen hatten, das alte schlechte Milieu mit den neuen Menschen. Es sollten Prospekte verwendet werden, vor die man die Möbel stellen konnte. Durch Prospekte wurden leichte Verwandlungen möglich, und das Stück konnte leichter Abstecher aufs Land machen. Um noch einmal die Asso­ ziation an dokumentarische Photographie hervorzurufen, sollte ein Rahmen für die Prospekte gebaut werden, der an einen Passepartout erinnert. Natürlich waren auch die Kostüme streng aus ganz na­ turalistischen Grundfiguren zu entwickeln. Erst wenn diese beschafft waren, konnte der künstlerische Prozeß der Typisierung vorgenommen werden.

PROBENBEGINN

Das Stück war im vorigen Sommer in Brechts Buckower Gärtnerhaus gründlich bearbeitet worden. (Teilnehmer: Strittmatter, Brecht, Berlau, Hubalek, Palitzsch, Rülicke.) 265

Szene für Szene war analysiert und umgebaut worden, Strittmatter waren mitunter rohe Skizzen von Dialogen übergeben worden. Strittmatter, der vordem noch kein Stück geschrieben hatte, arbeitete schnell und ohne Un­ willen um, das letztere, weil, wie B. glaubte, die Argu­ mente nie rein politisch und nie rein ästhetisch waren. Während der Arbeit brachte Strittmatter unvermittelt einen halben Akt in „merkwürdigen Rhythmus“, wie er sich ewas schuldbewußt entschuldigte. B. identifizierte den Rhythmus als Jamben, allerdings hatten die Blank­ verse nicht die üblichen fünf Füße, sondern waren da ganz irregulär. Als Strittmatter übrigens später reguläre Blankverse schrieb, war B. nicht immer zufrieden und ließ die unregelmäßigen, ja sogar Prosastellen, wo die ihm kräftiger erschienen. Die Proben begannen ziemlich formlos, wie gewöhnlich im Berliner Ensemble. Die Textbücher waren ausgeteilt worden, und im Probenhaus fand eine kleine Diskussion darüber statt. Ein Hauptdarsteller, dem die Rollen des Parteisekretärs Steinert, eines älteren Grubenarbeiters, und die Rolle des Großbauern zur Wahl vorgelegt wor­ den waren, ließ sich darüber aus, daß die positiven Hel­ den so weit weniger interessant seien als die mehr nega­ tiven Rollen. Er hatte sich für den Großbauern entschie­ den. B. Was verstehen Sie unter „interessant“? G. Nun farbig, mit individuellen Zügen. B. Ich schlage vor, zu untersuchen, woraus die Farben bei Rollen bestehen. Das Wort bedeutet eigentlich nur, daß verschiedene Tönungen da sind, das heißt, daß nicht alles „grau in grau“ ist, schematisch, eintönig, langweilig und so weiter. Das ist doch bei den neuen Figuren, die wir positiv nennen, auch möglich. Es darf eben nur nicht „der“ Parteisekretär sein, ein Extrakt aller Parteisekre­ täre, ein Muster von einem Parteisekretär, eine Figur ohne alle Züge als parteisekretärischen. Die Figur Stei­ nert ist durchaus individuell komponiert, es ist ein schon älterer Mensch, ein Kumpel, der die Bauern nicht beson266

ders schätzt, der sich auch mit ihnen nicht besonders aus­ kennt, mit allerhand Parteierfahrung und mit sogenann­ tem einfachem gesundem Menschenverstand privater Prägung und so weiter und so weiter. Und so steht es auch mit dem Neubauern Kleinschmidt, mit seiner Frau und seiner Tochter - alles positive Hel­ den. G. Es handelt sich nicht nur um verschiedene Farben, sondern auch um kräftige Farben. Die neuen sind für gewöhnlich eben blaß. B. Ich glaube, es kommt auf die Palette des Darstellers an, ob die Farben kräftig, klar, leuchtend auf dem Bild erscheinen. Und da kommen wir auf die Wurzel Inter­ esse in dem Wort interessant. Interessant ist doch, was einem Interesse dient; das Interesse ist dem Künstler vielleicht nicht immer gegenwärtig, wenn er dies oder das in seiner Rolle oder in einer Situation interessant findet, aber es ist doch da oder war da. In „Katzgraben“ wer­ den nun die Interessen einer neuen Klasse angesprochen, einer Klasse, die bisher nicht in der Lage war, sich des Theaters zu bedienen. Ihrem Interesse dient und ihr er­ scheint interessant ganz anderes, als was bisher auf dem Theater dargestellt wurde. Daß zum Beispiel ein klei­ ner Bauer im Gemeinderat, wenn über eine neue Straße zur Stadt verhandelt wurde, gegen seine Meinung und gegen seinen Vorteil mit dem Großbauern stimmen mußte, der die Straße ablehnte, nur weil er von diesem ökonomisch abhängig war, konnte lange Zeit kein er­ regender, wichtiger, auffallender Vorgang auf dem Thea­ ter sein, es war zu selbstverständlich, gewöhnlich, da gewohnt, platt, fade. Vor dem neuen Publikum ist das ganz anders. Für das neue Publikum ist die Demütigung des Bauern ebenso interessant, wie für das alte die De­ mütigung eines Feldherrn war, der, besiegt, seinem Feind dienen mußte. Auch was die individuellen Züge betrifft, die einen Charakter interessant machen, gilt es, daß ganz andere Züge für das neue Publikum interessant, das heißt sein Interesse treffend sind als diejenigen, aus denen bis­

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her die Charaktere zusammengesetzt wurden. Sie gilt es in den neuen Stücken aufzusuchen und zu gestalten. Einige Tage später begann B., unterstützt von Strittmat­ ter und jungen Assistenzregisseuren, aber auch von dem Dresdener Bühnenbildner von Appen, ohne vorherige Leseprobe das Stück in großen Linien zu arrangieren.

Erster Akt

GESCHEHNISSE DES ERSTEN AKTS

B. Was geschieht im ersten Akt? Beginnen wir mit dem ersten Bild. A. Eine Straße zur Stadt soll gebaut werden. B. Auf wessen Betreiben? A. Der SED. B. Nein. A. ? B. Das kommt erst im dritten Bild heraus. Im ersten steht hinter dem Projekt das Gemeindeamt. - Weiter. A. Der Neubauer Kleinschmidt ist für diese Straße. B. Warum? A. Es ist die große Verbindung zur Stadt mit ihrem Wis­ sen, ihrer Technik, ihrer Arbeiterpartei, die für die Klein­ bauern ist. B. Die Arbeiterpartei wird noch nicht genannt, das ha­ ben wir doch vorhin auch gefunden. - Warum wartet übrigens der Stückeschreiber mit der Aufklärung dar­ über, daß die SED hinter der Aufforderung des Ge­ meindeamts steckt? A. Der Spannung wegen? B. Sicher nicht. Spannung kann nur eintreten, wenn ge­ spannt ist. Hier wird etwas einfach weggelassen, ohne daß durch das Weglassen eine Frage entsteht. Der Stücke­ schreiber nennt vermutlich die SED nicht, weil er zu­ nächst und zuvorderst das nackte Interesse der Klein­ bauern selbst an der Straße zeigen will. A. Gut, ich habe die SED fälschlich erwähnt, obgleich sie erst später im Stück auftaucht. Wirkt sich dergleichen auf die Inszenierung aus? B. Bestimmt. Ein Regisseur, der so schlampig vorgeht, 269

wird die SED im dritten Bild dann mehr oder weniger nebensächlich auftauchen lassen und nicht als etwas Be­ sonderes, eben nicht selbstverständlich Vorhandenes. Gehen wir weiter in der Fabel! A. Der Neubauer muß gegen die Straße stimmen, weil der Großbauer Großmann dagegen ist und er von diesem abhängt. B. In welcher Weise abhängt? A. Er braucht dessen Pferde zum Pflügen. Warum ist das wichtig für die Fabel? B. Im zweiten Akt kann er selber einen Ochsen kaufen und wird dadurch selbständig. Gibt es irgendeine Bezie­ hung zwischen den Punkten, daß er den Anbauplan erfül­ len und für die Straße stimmen soll? A. Sind Sie unbefriedigt, wenn es keine gibt? B. Ja. - Sie haben den Grund undeutlich genannt, warum der Neubauer nicht für die Straße stimmen kann. A. Ich sagte: Er braucht seine Pferde zum Pflügen. B. ? A. ? B. Er braucht mehr denn je und länger denn je seine Pferde, weil er noch tiefer pflügen muß, wenn er im Rah­ men des Anbauplans hochkommen soll. Der Grund, war­ um er nicht für die Straße stimmen kann, ist, daß er den Anbauplan ausnutzen muß. - Weiter. A. Die Tochter des Neubauern wird zum Studium der Agronomie in die Stadt geschickt. Sie liebt den Zieh­ sohn des Großbauern. B. Das kann bis zum dritten Bild höchstens geahnt wer­ den, und alles, was Sie über das Mädchen sagen, gehört nicht hierher, nicht zur Haupthandlung. Sie erzählen mi­ serabel. A. Meinen Sie, die Haupthandlung geht weiter mit dem Anbauplan, den der Neubauer kritisiert? B. Allerdings. Ja. Denn dadurch kann er im nächsten Jahr (und Akt) den Ochsen kaufen, der ihn befreit. Frei­ lich nicht, indem er ihn kritisiert, sondern indem er ihn nach einigen Zweifeln akzeptiert und - was? 270

A. Nichts. Man erfährt nicht, was er damit anfängt. Er gibt nur den Hinweis der Tochter auf die Doppelernten in der UdSSR. B. Richtig. - Zweites Bild. A. Man könnte sagen, der Inhalt des zweiten Bildes sei, daß der Mittelbauer Mittelländer von seiner Frau über­ führt wird, versucht zu haben, die junge Magd zu ver­ führen. B. Sie sind vorsichtig geworden. Man könnte sagen, aber man kann es nicht. Man müßte zumindest sagen, es werde gezeigt, daß das patriarchalische Verhältnis zwi­ schen Dienstherr und Gesinde sich lockert - die FDJ emanzipiert die junge Magd. Aber es ist nicht die Haupt­ handlung, Sondern? A. Sondern, daß Mittelländers den Anbauplan mit Ver­ achtung behandeln und es versäumen, die angebotene neue Kartoffelsorte zu erwerben. Sie pflanzen statt dessen Tabak an. B. Und? A. Der Mittelbauer ist gegen die Straße. B. Das ist auch noch nicht genug. A. Er ist gegen die Straße, weil der Großbauer dagegen ist. B. Und was haben Sie bei der Schilderung des für die Fabel wenig wichtigen Ehekrachs weggelassen? A. Daß er wegen der Tabakstrünke entsteht, die der Bauer verkaufen will. Tabak ist dieses Jahr das große Ge­ schäft. B. So ist es. Und ein Regisseur, der das übersieht und also unterspielen läßt, lenkt den Zuschauer im ganzen Bild auf eine Nebenfährte. - Drittes Bild. A. Hinter dem Straßenprojekt hat die SED gestanden. Die Straße ist niedergestimmt worden, und der Partei­ sekretär Steinert und einige Kleinbauern, die der Partei angehören, machen sich gegenseitige Vorwürfe. Steinert verweist auf den Neubauern Weidling, der trotz des großbäuerlichen Zornes für die Straße gestimmt hat und also Charakter hat. Die Bauern antworten ihm, daß er 271

bald keinen Hof mehr haben wird. Nebenhandlung: Die Tochter des Neubauern Kleinschmidt liebt den Ziehsohn des Großbauern, der sie jedoch verschmäht. B. Sie ist ihm nicht attraktiv genug. A. Warum formulieren Sie das so? B. Weil hier die Anknüpfung an den dritten Akt erfolgen kann. - Wir kommen jetzt zur vierten Szene. A. Der Großbauer Großmann ist in Siegerstimmung. Er hat die neue Straße von den ihm verpflichteten Bauern niederstimmen lassen und wird auch den Anbauplan sa­ botieren. Jedoch läßt er sich von dem Kleinbauern Mammler die neue Kartoffelsorte abtreten, welche die Behörde an Kleinbauern und Mittelbauern abgibt. Der Mittelbauer Mittelländer, der sich mit dem Großbauern über den Anbauplan lustig macht, nimmt davon kaum Kenntnis. B. Großmann fällt auch ein Todesurteil. A. Ja. Er wird den Neubauern Weidling, der für Stei­ nert stimmte, um seinen Hof bringen. Er schüchtert da­ durch Mammler gehörig ein, versinkt aber selbst in Ge­ danken an Weidling in düsteres Sinnen. Ist die Ein­ schüchterung Mammlers so wichtig? B. Ja. Weil sie im nächsten Jahr durch bestimmte Ent­ wicklungen unwirksam gemacht werden wird. Noch was? A. Am Ende des Bildes buttert Hermann, der Ziehsohn, für den schwarzen Markt, und die Großbäuerin deckt den Lärm durch Harmoniumspielen zu. B. Fügen Sie ein: Hermann, der zu allem willige Zieh­ sohn. A. ? B. Das ist ein Hauptpunkt in dieser kleinen Schlußszene, da Hermann nicht immer willig bleiben wird. Und was ist der andere Hauptpunkt? A. Großmann handelt gegen den Staat. B. Sie sind ungenau. A. Ach, richtig! Ein Mann aus der Stadt kommt und bet­ telt um Kartoffeln. Ich hätte sagen müssen: Großmann 272

handelt asozial, gegen die Interessen der meisten andern Menschen, die er hungern läßt. B. Seien Sie noch genauer! A. Er macht Geschäfte daraus, daß es zu wenig Kartof­ feln gibt. B. Verknüpfen Sie das mit der Fabel! A. Der Anbauplan ist nötig für die Stadt. B. Können Sie die Episode, die immerhin am Schluß des Akts steht, mit der anderen Hauptlinie der Fabel, dem Straßenbau, verknüpfen? A. Ich weiß nicht, wie. B. Es ist tatsächlich schwierig. Der Text gibt keine Hand­ habe. Auch nicht für das obige.

ARRANGIEREN DER SZENEN

B. stellte das Stück sehr schnell. Er hatte kein Regiebuch, jedoch hatte er im Hinterkopf, wie er sagte, einige Vor­ stellungen besonders prägnanter Vorgänge, etwa im ersten Bild eine Gruppe (Neubauer, Tochter, junger Bergmann) und die Bäuerin, sich daraus entfernend und wortlos zum Herd gehend. (Das ist, wenn sie erfährt, daß die Toch­ ter das Examen bestanden hat und zur Agronomieschule in der Stadt gehen wird, wodurch noch mehr Arbeit auf ihre Schultern fallen wird.) Ich weiß also, sagte B., daß die Arbeitsbank des Bauern möglichst weit vom Herd stehen muß. Nein, ich gebe sonst darauf nicht besonders acht, stelle nicht alle Vor­ gänge vorher, um zu dieser Gruppe zu gelangen. Aber nicht lange, bevor es zu der Eröffnung kommt, wo ich die Gruppe gern zusammen hätte, lasse ich den jungen Berg­ mann vom Tisch aufstehen und hinüber zu dem Mädchen gehen, die bei ihrem Vater sitzt, ihm bei der Arbeit zu helfen. Er geht hinüber, um zu fragen, wie es in der Stadt gegangen ist. W. Die schönen Gruppierungen werden bei Ihnen zuwei­ len angegriffen. Sie wirken, sagt man dann, formalistisch. 18 Über Theater

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B. Das kann nur jemand sagen, der sie nicht auf ihre ge­ sellschaftliche Bedeutung hin betrachtet hat. Im Alltag kann die Bäuerin neben dem Bauern stehen, das Mäd­ chen neben dem Jungen sitzen, wenn die Eröffnung ge­ macht wird. Aber der Widerspruch der Interessen wird deutlich, wenn die andern die Mutter Weggehen sehen, in eine Ecke, wo sie ihr Gesicht nicht mehr sehen kön­ nen. Jeder Historienmaler komponiert so, daß das We­ sentliche, der historische Augenblick herauskommt. Als Junge sah ich ein großes, übrigens miserabel gemaltes Bild „Begegnung von Bismarcks mit Napoleon III. auf der Straße von . . Napoleon hat um die Begegnung nachgesucht, er wünscht zu kapitulieren. Bismarck kommt zu Pferd, Napoleon zu Fuß. Bismarck hat das Gesicht dem Beschauer zugewendet, Napoleon sieht man über die Schulter. Nicht viel Unklarheit da, wer der Sieger ist! Und der Maler läßt nicht beide im Profil auftreten, er wählt die Diagonale, Bismarck kommt von hinten rechts geritten, Napoleon von links vorne gestiefelt: das Schick­ sal reitet auf den Kaiser zu. - Das Theater für dialek­ tische Stücke benötigt besonders dringend solche Bilder, die im Gedächtnis bleiben, weil es in ihnen Entwicklung gibt und der Zuschauer die früheren Stadien im Gedächt­ nis bereit halten muß, um sie den neuen gegenüberzu­ stellen. Das erinnert mich übrigens, daß wir für wilde Aufforderungen der Kleinbäuerin an ihre Tochter, den Großbauern betreffend: „Studier ihn tot, den Hund!“ noch kein einprägsames Bild gefunden haben. Über­ legen Sie sich eines! Die Abstände der Möbel, Türen und Fenster voneinan­ der sind bei den Arrangierproben B.s noch keinesfalls fixiert, auch das Bühnenbild ist erst in der Entwicklung begriffen, wenn die Gruppierungen, welche „die Fabel erzählen sollen“, entwickelt werden.

PHASEN DER REGIE

P. In einem Notat wird unter anderem das erste Bild analysiert. Wie inszenieren Sie nun so ein Bild? B. Erstens einmal: schichtweise. P. Meinen Sie, das Grobe, Große, den Umriß zuerst? Das scheint mir nicht zu stimmen. Ich erinnere mich, daß $ie mitunter bei der ersten Stellprobe schon feine Details angeben oder vom Schauspieler akzeptieren. B. Ja. P. Kennen Sie die Sklaven von Michelangelo? Das sind Marmorblöcke, ganz roh zugehauen, aber dann kommt plötzlich ein Knie heraus, feinstens ausmodelliert, fertig. Er muß also das Ganze genauestens mit allen Proportio­ nen im Kopf gehabt haben, bevor er anfing. B. Das kann ich aber von mir nicht sagen; ich bin an­ scheinend kein Michelangelo. So im Kopf habe ich das Ganze nicht, ich lasse mich eher vom Interesse leiten, auch vom Momentanen. Die Einzelheiten geben oft den Geist des Werks und locken an, das ist alles. Vielleicht hatte übrigens Michelangelo auch keine so feste Vorstel­ lung beim Beginnen. Er machte eben einmal zunächst ein Knie; das beeinflußte dann die Proportionen des übri­ gen. Das Knie mußte eben möglich sein. Ich glaube, man sollte weder eine zu rohe, noch eine zu genaue Vorstel­ lung haben. Wo bleibt sonst die Überraschung? P. Schichtweise, sagten Sie. B. Im großen und ganzen geht man natürlich vom Gro­ ben ins Feinere, aber nicht pedantisch. Die Hauptsache beim schichtweisen Arbeiten ist, daß man nicht immer alles sagt, was man zu sagen hätte, das heißt, daß man die Phase der Proben berücksichtigt und nur sagt, was in die Phase gehört. Das ist wichtig für junge Regis­ seure. P. Was gehörte zur ersten Schicht beim ersten Bild? B. Wir nehmen an, daß die Fabel analysiert ist und die Hauptpunkte gefunden sind. Im ersten Bild handelt es sich, ganz grob gesehn, darum, daß ein fortschrittlicher 275

Neubauer an einer neuen Straße zur Städt interessiert ist und für sie in der Gemeindeversammlung stimmen will und daß seine Tochter ihm einen Anbauplan für das lau­ fende Jahr bringt, den er nur ausnutzen kann, wenn er gegen die Straße stimmt. Fügen Sie jetzt gleich die „in­ nere Geschichte“ hinzu. P. Der Neubauer legt großen Wert auf den Fortschritt. Er hat sich vor Familie und Nachbarn auf die Straße fest­ gelegt und muß, auf Befehl des Großbauern, dessen Pferde er für den Anbauplan noch benötigt, gegen einen Fortschritt stimmen. Er verliert sein Gesicht, er muß sich von seiner Frau sagen lassen: „Gackert vom Fortschritt und legt kein Ei“. Nun die erste Schicht. B. Natürlich müssen wir jetzt vergessen, was ich machte. Ich habe soundso viel Erfahrung und machte mehreres zugleich; aber Sie wollen ein Rezept, und ich will also einen jungen Regisseur inszenieren lassen - oder einen alten, der für solche Stücke keine Erfahrungen hat. Er stellt, setzt und bewegt seine Figuren am besten zunächst nur so, daß die Hauptvorgänge der Fabel klar heraus­ kommen. Das Wesentliche davon muß bildhaft heraus­ kommen, aber die Gruppierungen müssen doch ganz na­ türlich sein. P. Sie meinen, keine symbolischen Gruppierungen? Etwa in der „Maria-Stuart“-Aufführung des Deutschen Thea­ ters: Elisabeth kommt auf einer Bühnenschrägung immer mehr nach unten zu stehen, Maria Stuart immer mehr nach oben, wodurch „bildhaft“ der moralische Auf- und Abstieg der kämpfenden Königinnen angedeutet werden soll. B. Um Gottes willen. Ich meine einfach solche Dinge: Auftreten der Neubauer und ein junger Grubenarbeiter. Der Neubauer setzt sich auf eine Bank, an der er an­ scheinend für gewöhnlich arbeitet, der Grubenarbeiter auf ein Sofa am Tisch. Das zeigt, er ist der Gast. Aber nehmen wir, da wir bei der ersten Schicht halten, besser einen Hauptvorgang: den Umfall. Wir lassen den Neu­ bauern umfallen im Kreis seiner Familie, am Eßtisch, 276

während ein Nachbar von der Arbeitsbank aus zuschaut und der Sendbote des Großbauern von der Tür aus, in seinem Rücken. P. Warum von der Tür aus? B. Das zeigt, er ist nur „beiläufig“ hereingekommen, im Vorbeigehn, noch zu andern abhängigen Kleinbauern unterwegs. P. Topographie. Sie teilen für das erste (und fünfte) Bild den Raum, die Wohnküche der Kleinschmidts, ein in drei Inseln, i) Die Arbeitsbank im linken hinteren Eck. 2) Der Kochherd in der Mitte hinten. 3) Der Eßtisch rechts vorn. Das ist der Bereich des Bauern, der der Bäuerin und der gemeinsame Bereich. Das verhilft zu klarer Gliederung. B. Dazu der Platz an der Tür, in der Mitte hinten. Von daher kommt der Anbauplan (von der Tochter gebracht) und das Veto des Großbauern (von dessen Ziehsohn ge­ bracht). Das ist günstig, denn auf diese Weise bekomme ich die größtmöglichen stellungsmäßigen Auswirkungen für diese entscheidenden Vorgänge. Das Mädchen setzt sich mit dem Anbauplan zum Vater auf die Arbeitsbank. Zu ihr, vom Eßtisch (Insel drei) kommt der Grubenar­ beiter und vom Herd (Insel zwei) die Bäuerin. Sie bil­ den eine Gruppe beim Verlesen. Wenn der Ziehsohn des Großbauern mit dem Veto in die Tür tritt, verscheucht er zunächst die Tochter, die - in einem langen Gang, günstig auch noch, weil er ihr gestattet, den Unwillen über den von ihr geliebten Ziehsohn auszudrücken, der sie sozusagen hinauswirft, - nach rechts abgeht, und hat dann die Familie auf Insel drei, Eßtisch, und den Nach­ barn auf Insel eins, Arbeitsbank. Sein Veto trennt den Nachbarn von Kleinschmidt, der Nachbar folgt ihm nach, zur Tür hinaus. P. Gleichzeitig ist die Stellung an der Tür für den Gast in Bauernstuben durchaus üblich und der Brauch. Der Nachbar wird als der Familie näherstehend gekennzeich­ net, indem er von rechts hereinkommt, mit der Bäuerin, vom angenommenen Hof her. Wir sind mit der ersten Schicht damit so ziemlich fertig. Zweite. 277

B. Sagen wir jedenfalls, eine der nächsten Schichten. Jetzt kann das post boc und das propter hoc (das nach diesem und das wegen diesem) etabliert werden. Kurz, jetzt heißt es, zu zeigen, was folgt auf was, und warum folgt es darauf. Bevor von der Bühne herab ein Vorgang eta­ bliert, das heißt sein Verständnis gesichert ist, darf nicht zu einem anderen Vorgang fortgeschritten werden. Wir müssen so etwa etablieren, daß der Neubauer die Straße haben will, weil sie ein Fortschritt in seinen Augen ist, bevor wir weitergehen und den Anbauplan in Szene setzen, dessen Hereinplatzen etwas anderes einleitet (näm­ lich Ereignisse einleitet, die später zum Umfall füh­ ren). P. Wie also machen Sie es zu einem in sich geschlossenen, wirksamen, wichtigen Vorgang, daß der Neubauer die Straße will? B. Indem ich den ersten Satz: „Ich bin dafür, daß wir die neue Straße bauen“ absetze (von den folgenden Sätzen), ihn wie einen Titel sprechen lasse. Und indem ich den spaßhaften Wortwechsel mit dem jungen Bergmann dar­ über, daß die Grube am Verfall des alten Wegs schuldig ist, sozusagen unterspielen lasse. Das heißt, ich löse ihn in Bewegung auf, der Bauer holt zweimal Maisstroh vom Hof herein, auf langen und schnellen Gängen über die ganze Bühne, während er dann, in aller Ruhe und also besser sich einprägend, der Bäuerin, die inzwischen ein­ getreten ist, die Straße als etwas Fortschrittliches dar­ stellt. P. Die Gänge sind freilich schon im Buch. B. Da fiel wohl eine Regieabsicht in die Vorphase: die der Bearbeitung. Aber immer noch bleibt es wichtig für die Regie, den Streit verhältnismäßig unwichtig vor sich gehen zu lassen. P. Und wie machen Sie es zu einem wichtigen Vorgang, daß der Bauer am Fortschritt hängt (innere Geschichte) ? B. Indem ich die Szene mit dem Buch, das der Bauer dem jungen Bergmann geliehen hat, groß hervorhebe. Ich lasse ihn einen Gang zum Tisch machen, sich die Hände 278

abstreifen, bevor er nach dem Buch greift, das Buch zärt­ lich aufnehmen, es dann in einem zweiten Gang zum Ge­ wehrschrank bringen und es dort einschließen, bevor er sich wieder setzt. Und ich lasse ihn seinen Zorn und seine Trauer über den Jungen, der das Buch nicht gelesen hat, groß spielen. Da der Bauer in seiner Propagandarede (einem Gedicht) für die neue Straße zur Bäuerin hin, eindringlich - es muß eindringlich sein - erklärt, wie Buch und Straße, Wissen und Stadt Zusammenhängen, haben wir, denke ich, nun etabliert, was etabliert sein muß, bevor wir den Bauern umfallen lassen: Später am Tisch wird er die Straße vor dem jungen Menschen, sei­ nem Schüler, dem wegen seiner geringen Fortschrittlich­ keit gescholtenen Schüler, abschwören müssen und so sein Gesicht verlieren. P. Weitere Schichten? B. Sind die der Differenzierungen verschiedener Art. P. Können Sie wieder an der Umfallszene demonstrie­ ren? B. Wir haben bei der ersten Schichtlegung die Familie beim Umfall und nach dem Umfall, wenn die Familie allein bleibt, beisammensitzen lassen. In einer ziemlich späten Phase der Proben ließen wir die Familie durch den Umfall des Vaters sozusagen explodieren. Der Bauer lief zum Anbauplan auf der Bank, sich an ihn sichtbar klammernd. Dieses Arrangement machte das Zerwürf­ nis in der Familie sichtbar. Es wurde auch das Zurück­ greifen auf den Anbauplan (der den Umfall herbeiführte) als eine neue Wendung sichtbar gemacht dadurch: Es ist der Anbauplan, und wie der Bauer ihn erfinderisch zum Erfolg machen will, was den Umschwung herbeiführen wird, der solches Umfallen überflüssig macht. P. Sie gingen auch schichtweise vor, was den Vers be­ trifft. Sie ließen sich zu Beginn alles ziemlich naturali­ stisch sprechen und spielen und verwendeten in einer späteren Phase dann den Vers dazu, die Vorgänge zu erhöhen. Dann gibt es die Phase, wo die Figuren ent­ wickelt werden; sie kommt, wenn alles bereits durch-

gestellt ist, so daß ein Überblick gewonnen werden kann. Nunmehr werden die Szenen nacheinander probiert, die den Entwicklungsgang der Figuren bestimmen. B. Es empfiehlt sich bei bestimmten Stücktypen, erst wenn die Figuren Umrisse gewonnen haben, ganze Sze­ nenfolgen auf ihre Dynamik durchzugehen. Wir machten das mit dem Gasthof-Bild. Nachdem zunächst alles ziem­ lich gleichmäßig, gleich stark gespielt worden war, setz­ ten wir zwei kräftige Pfeiler in das Bild, die beiden Aus­ einandersetzungen zwischen Parteisekretär und Groß­ bauer, rasant gespielt, in hoher Emotion, und zugleich verstärkten wir, das heißt machten lustiger, setzten als Kontrast die Szenen mit den heiteren Frauen.

ÜBERRASCHUNGEN

Die neu hinzukommenden Schauspieler sind über die Probeweise meist erstaunt. Sie kommt ihnen etwas un­ ernst vor. Es findet zunächst einmal keine Leseprobe statt, in der Inhalt und Stil des Stücks diskutiert wird. Der Schauspieler muß das Stück nicht einmal gelesen ha­ ben - jedenfalls nimmt B. auf spätere Ereignisse in den folgenden Akten zunächst kaum je Bezug. Er selbst scheint keinerlei Regiebuch zu haben und läßt die Szenen sich einfach entwickeln, „wie es kommt“. Das ist sonst nur die Arbeitsweise kleiner und achtlos geführter Thea­ ter. Aber B. findet es neuerdings gut, wenn der Schauspieler ganz im Praktizieren das Stück und seine Figur kennen­ lernt und alles erfährt beim Ausführen. Alles wird dann gefunden beim Gestalten, und das Gestalten bekommt etwas Suchendes. Noch weiß niemand, während alle schon mit dem Erzählen angefangen haben, wie es weitergeht. Jeder Vorgang muß in sich stimmen, im allgemeinen jedenfalls, und die Figuren werden erst allmählich mit dem Fortschreiten des Erzählens genauer. Die Sprünge in der Entwicklung, die für B. so wichtig sind, werden so 280

weniger leicht vertuscht, die Umwege nicht abgeschnitten, die Widersprüche nicht „gelöst“, das heißt geglättet. Kurz, das Werk entsteht, unter Überraschungen. Und die Überraschung ist ein Hauptelement der Dichtung.

KRISEN UND KONFLIKTE

B. Indem wir die Krisen und Konflikte unseres Stücks herausarbeiten, folgen wir dem dialektischen Denken des revolutionären Proletariats. Der Dialektiker arbeitet bei allen Erscheinungen und Prozessen das Widerspruchs­ volle heraus, er denkt kritisch, das heißt er bringt in seinem Denken die Erscheinungen in ihre Krise, um sie fassen zu können. Beispiele: In der deutschen Arbeiterbewegung des vori­ gen Jahrhunderts betrachteten und behandelten die Lasalleaner Bourgeoisie und Adel als eine einzige reaktio­ näre Masse. Die tiefen Gegensätze dieser herrschenden Klassen sahen sie nicht. Marx und Engels wiesen dann darauf hin, daß die Arbeiterschaft nicht Politik machen konnte, ohne die Kämpfe zwischen ihren Unterdrückern und Ausbeutern auszunutzen und selbst bei der Bour­ geoisie fortschrittliche und reaktionäre Strömungen zu unterscheiden. - Die russische Arbeiterschaft lernte von Lenin, die Bauern nicht einfach als eine einheitliche Masse zu betrachten und zu behandeln, sondern als eine riesige Menschengruppe, die unter sich in ganz verschiedene Klassen gespalten war, Klassen, die der Bourgeoisie und dem Gutsbesitzeradel gegenüber ganz verschieden stan­ den. Auf Grund einer solchen Betrachtungsweise war es der Arbeiterschaft möglich, Verbündete unter der Bauern­ schaft auszusuchen, deren Interessen den ihrigen gleich­ liefen oder damit in Einklang gebracht werden konnten. Was das Denken in Krisen betrifft, betrachteten die deut­ schen Sozialdemokraten die Entwicklung als eine gleich­ mäßige, stetige, unaufhaltsam fortschrittliche, meinten, das immerfort wachsende Proletariat werde auf „demo­ 281

kratischem Wege“ einen immerfort wachsenden Einfluß im Staat erlangen, und waren bestrebt, die Bourgeoisie, wenn sie in Krisen (wie imperialistische Kriege oder Wirtschaftsdepressionen) kam, daraus befreien zu helfen (als „Ärzte des Kapitalismus“). Marx, Engels und Lenin hingegen waren bestrebt, die Krisen zu verschärfen und die Verlegenheiten der Bourgeoisie für die Interessen des Proletariats auszunutzen. Unser Stück ist ein dialektisches Stück. Wir müssen die Widersprüche, Gegensätze, Konflikte gesellschaftlicher Art (und natürlich auch anderer Art) herausarbeiten. Da sind die Kleinschmidts, eine gegenüber der Nachbar­ schaft gewiß sehr geeinte kleine Neubauernfamilie. Aber es gibt Konflikte auch unter ihnen. Für die Bäuerin be­ deutet der Weggang der Tochter auf die Schule Mehr­ arbeit. Die Erfindertätigkeit ihres Mannes ist auch keine reine Freude für sie. Das Maisstrohschneiden verunrei­ nigt die Stube, und die Nachbarn lachen. Der Mann wie­ derum bekommt keine Unterstützung seiner Versuche von ihr, muß eher Spott einstecken, selbst vor Gästen. Die Tochter muß ihre Verliebtheit in den Ziehsohn des Groß­ bauern verstecken, da der Vater ihn für einen Kriecher (vor dem Großbauern) hält. Dazu innere Konflikte: Für die Arbeit im Haus ist es schlecht, daß die Tochter zur Schule geht; für die Bekämpfung des Großbauern, bei dem sie sich schindet, ist es gut. Der Bauer wird hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, für die neue Straße zu stimmen, und der Furcht, es dadurch mit dem Groß­ bauern zu verderben, von dem er wirtschaftlich ab­ hängt. Widersprüche bei dem Mittelbauern: Die Bäuerin ist für die FDJ, wenn sie die junge Magd vor den Zudring­ lichkeiten des Bauern schützt, gegen die FDJ, wenn sie die junge Magd gegen die Versuche schützt, die Arbeits­ zeit ungebührlich zu verlängern. Und so weiter und so weiter. Krisen treten ein für den Neubauern, wenn er für die neue Straße stimmen soll, wenn er für den Ochsen, den 282

er endlich bekommen hat, kein Futter hat, wenn der Grundwasserspiegel sinkt. Für den Mittelbauern, wenn er keine Neusaat hat, wenn er sich zwischen Großbauern und Kleinbauern entscheiden soll. Für den Großbauern, wenn der Parteisekretär den Kleinbauern Ochsen ver­ schafft hat, wenn die Traktoren kommen und so weiter und so weiter. Für alle Krisen und Konflikte müssen in unserer Auffüh­ rung Handlungen, Haltungen, Tonfälle gefunden wer­ den, daß sie klar einsehbar werden.

[DER UMFALL KLEINSCHMIDTS]

In der letzten Szene des Bildes (Der Neubauer Klein­ schmidt verrät seine fortschrittlichen Ideen, da abhängig vom Großbauern) hatte der Schauspieler Gnass bisher im Ton zorniger Selbstverteidigung auf die Frage des Nach­ barn und dann seiner Familie geantwortet. B. Das ist nicht die direkteste, elementarste, ehrlichste Art, den tiefen Fall Kleinschmidts zu zeigen. Es ist wahr, er mag so reagieren, er mag, zu schwach sich zu verteididen, zum Angriff übergehen und nun zuförderst den an­ deren vorwerfen, sie verlangten wohl zu viel von ihm. Aber das Theater hat hier nicht auf das Entlastungsmate­ rial hinzuweisen, sondern auf das Belastungsmaterial. In diesem Bild, in diesem Jahr 1947 verrät er seine Ideen, das ist der Inhalt dieses Bildes, und er muß radikal her­ ausgearbeitet werden. Ich erinnere an unsern Beschluß, die Krisen und Konflikte herauszuarbeiten. G. Aber die Reaktion Kleinschmidts, psychologisch be­ trachtet, könnte doch sehr wohl sein, wie ich sie spielte. B. Sicher. Deshalb habe ich Sie Ihnen „abgekauft“. Erst jetzt sehe ich, daß die Szene, die Erzählung der Fabel, ge­ litten hat. Ihre Reaktion war eine mögliche, aber unter den möglichen nicht die nötige. G. Was ist für die Fabel die nötige? B. Spielen Sie kleinlaut, niedergeschlagen. Lassen Sie die

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Beschwerde über die Verhältnisse, die Sie zwingen, Ihre Ideen zu verraten, weg, während Sie den Verrat bege­ hen. Konzentrieren Sie die Beschwerde auf den einzigen Satz Der Gutsherr hatte Klauen - Großmann Fänge.

Sagen Sie den Satz traurig. Sie wissen noch nicht, wie die Fänge beschneiden. G. Ich habe das Bild aus dem Charakter Kleinschmidts heraus gespielt. Was wird aus diesem? B. Sie ändern ihn. Die Geschichte kommt nicht zustande mit dem Kleinschmidt, den Sie spielten. Als B. die Unschlüssigkeit des Darstellers sah, gab er ihm eine weitere Hilfe, eingehend darauf, daß er nach einem Charakteristikum suchte. B. Ich glaube, wir können es zu einem wesentlichen Cha­ rakterzug Kleinschmidts machen, daß er sehr ehrlich ist: niedergeschlagen, wenn er niedergeschlagen worden ist.

NATURALISMUS UND REALISMUS

Über die kleine Szene Nacbbausekommen der Bäuerin Kleinschmidt im ersten Bild des ersten Akts kam es zu folgendem Gespräch: R. Ist da nicht einiges recht naturalistisch? B. Was zum Beispiel? R. Das Ausklopfen der Holzpantinen, das Vor-die-TürStellen des Besens, das Umhängen von Kleinschmidts Jacke. B. Wenn diese Verrichtungen etwas zeigen, was hinaus­ geht über die Darstellung der täglichen häuslichen Rou­ tine zum Zweck der Erzeugung einer Illusion, man sei in einer Kleinbauernwohnung, ist es nicht Naturalismus. Im Naturalismus wird diese Illusion gebracht und durch zahllose Details erzeugt, weil dadurch die mehr oder weniger dumpfen Gefühle, Stimmungen und andern see­ lischen Reaktionen der Person besser mitlebbar werden. 284

R. Ich weiß, Sie wollen, daß gewisse Handlungen zum Beispiel der Bäuerin Kleinschmidt eher nachlebbar als mitlebbar werden. Aber dienen die Details, die ich Ihnen nannte, wirklich dazu? B. Ich hoffe. Wir sehen die Bäuerin nach ihrer Feldarbeit noch häusliche Arbeit verrichten; diese macht sie allein, sie muß dem Bauern die Jacke an den richtigen Platz hängen, sie wird später die Stube von seinem Hecken­ schneiden säubern müssen, kurz, eine gewisse Mehrarbeit fällt auf sie. Die Lösung dieses gesellschaftlich sehr wich­ tigen Problems fällt nicht in unser Stück, sie wird später mit einer andern Arbeitsteilung in der Genossenschaft oder in den Staatsgütern erfolgen. Aber in unser Stück fällt, daß die Kleinschmidt über das Studium ihrer Toch­ ter in der Stadt nicht dieselbe Freude empfinden kann wie ihr Mann, denn ihre Mehrarbeit wird dadurch noch größer. Unsere Details stellen also nicht nur die abend­ liche Stimmung in der Wohnung des Kleinbauern her: die Handlung hat bereits begonnen damit. R. Sie meinen, es handelt sich um wesentliche Details, die mit Ökonomie zu tun haben. B. Die mit einem Menschen zu tun haben, von dem man erfährt, wie seine Lage ist und wie er damit fertig wird. Die Kleinschmidtin ist ja nicht ein Aggregat gesell­ schaftlicher ökonomischer Kräfte, sie ist ein lebendiger Mensch und ein liebenswerter! Die Naturalisten nun zei­ gen Menschen, als zeigten sie einen Baum einem Spazier­ gänger. Die Realisten zeigen Menschen, wie man einen Baum einem Gärtner zeigt.

ETABLIEREN DER VERSSPRACHE

Bisher hatte B. nur ganz gelegentlich durch die Souf­ fleuse feststellen lassen, wie die Verse gebaut waren. Sie hatte das jeweilige Versende mit dem Wort „Strich“ zu bezeichnen. Das geschah jedoch nur, wenn Verstümme­ lungen der Verse passierten, die sich leicht einlernten. 285

Nun kontrollierte er die einzelnen Verse und gewann Überblick über die Einteilung in Verspartien von be­ stimmtem Rhythmus. Auch wurden die „Arien“ leicht ge­ trennt vom Dialog („Ach, hätt ich’s in der Lehrzeit auch gedurft!“ - „Ein neuer Weg“ -). Plötzlich begannen die Szenen „zu klingen wie eine Gi­ tarre, aus der man eine Handvoll Steine entfernt hat“. Zugleich aber gliederten die neuen Rhythmen kräftig die szenischen Vorgänge.

[NEUES ARRANGEMENT VON KLEINSCHMIDTS UMFALL]

Der Beginn vom Umfall Kleinschmidts wurde vorver­ legt. Der Ziehsohn des Großbauern Großmann hat dem Neubauern ausgerichtet, daß er keine Pferde mehr gelie­ hen bekommen wird, wenn er für die neue Straße stimmt. Wütend brüllt Kleinschmidt: „Sag dem Großmann . . .“ „Ja, was?“ fragt der junge Mensch kalt. Im Buch unter­ bricht das Hereinkommen der Bäuerin, die den Tisch deckt, den Streit. Zugleich kommt der Nachbar, ein an­ derer Neubauer, um Kleinschmidt nach seiner Meinung zu fragen. - Bisher hatte sich Kleinschmidt ohne weite­ res an den Tisch gesetzt; beim Essen stellte es sich her­ aus, daß er nicht mehr wagte, für die Straße zu stimmen. Jetzt schlug B. dem Schauspieler Gnass vor, mit erhobe­ ner Faust einige Sekunden zu verharren (nach „Ja, was?“), dann die Faust sinken zu lassen, sich umzudrehen und ein paar Schritte wegzugehen. Die Vernunft hat Oberhand bei ihm bekommen. Das Publikum weiß jetzt vor der Familie und dem Nachbarn, daß er umgefallen ist; die Szene wird tragischer. Um ihr noch mehr Gewicht zu verleihen, nahm B. auch den Vorschlag des Darstellers an, ihn noch einige Repliken lang auf der Bank sitzen zu lassen. Wenn er nach dem Satz seiner Tochter, einem Argument, von ihm stammend (man müsse für die Straße stimmen, damit Großmann nicht mehr das Milchfuhr286

geld einstreichen könne), jäh auf steht und an den Tisch geht, sieht man, daß er vor dem Nachbarn flieht und zu­ gleich seine Familie am Eßtisch in Schach halten muß. Man muß alle Arrangements, sagte B., immer wieder überprüfen, ob sie den Vorgang vollständig und verständ­ lich erzählen, ob das darin gesellschaftlich Wichtige her­ austritt, ob die Figuren sich schon alles Leben, das darin steckt, zu eigen machen. [DER ANBAUPLAN]

i Eine einzige Geste und eine Änderung der Betonung verleihen der ersten' Szene einen etwas ernsteren Charak­ ter. Der Bauer, beim Essen, stülpt die Quarkschüssel um, als er den Gemeindediener auf das Haus zukommen hört. Die Bäuerin wirft ihm Feigheit vor. Der Bauer begann bisher einfach wieder zu essen und sagte: Leicht heißt es: Fressen tun sie aus der Schüssel Und Soll abliefern mit der Untertasse. Wo ist der Anbauplan von der Gemeinde?

Wobei er in dem letzten Vers „Anbauplan“ betonte. Er wurde jetzt angewiesen, nach den Vorwürfen der Bäuerin eine abwinkende Handbewegung zu machen, die ausdrückte: Du, das ist nicht harmlos! Außerdem sollte er das Wort „ist“ im letzten Vers betonen. Dadurch bekam sowohl die Ausrufung des Gemeindedie­ ners als auch der neue Anbauplan etwas Bedrohliches. Die abfällige Behandlung des Plans behielt der Darstel­ ler des Mittelbauern jedoch bei . . .

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2 B. hält sich bei sechs Versen auf: BAUER:

Vermehrungsanbau in Kartoffeln, Hektar eins Komma drei, steht hier. BÄUERIN:

Vermehrungsanbau? - Haben sich Kartoffeln bei uns schon einmal nicht vermehrt, du Plinz? BAUER:

Du Rasselwurm, neue Kartoffelsorte wird geliefert, nur, dazu haben wir kein Geld.

Das geschieht beim Studium des neuen Anbauplans bei den Mittelländers, und die Darsteller zeigen anscheinend korrekt die Nichtachtung der Mittelbauern für den Plan. Ein Jahr später (in 11,3) werden sie die Kurzsichtigkeit zu bedauern haben. B. Sie verwerfen den Anbauplan ohne jedes Nachden­ ken, so zeigen Sie Ihre Nichtachtung. Aber erstens ver­ langt die Handlung des zweiten Akts, daß das Publikum sich an diese Stelle erinnert und zweitens zeigt sich auch hier, daß wenig weniger sein kann als nichts. Der Bauer muß nach Neue Kartoffelsorte wird geliefert

das Angebot etwas bedenken und die Bäuerin sich über den Tisch beugen und in den Anbauplan schauen. Erst dann kommt die Verwerfung mit Nur, dazu haben wir kein Geld.

Und das Letztere muß als Schwindel kommen. Man muß unermüdlich überprüfen, was die Fabel braucht.

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DÉTAILS

Erna, die Magd, wird vom Tisch gewiesen, weil der Bauer noch mit der Bäuerin über sie sprechen will. Sie soll außerhalb der eigentlichen Dekoration stehenbleiben. Eine Kartoffel hat sie mitgenommen. Die Schauspielerin beginnt, die Kartoffel zu essen. B. Warum essen Sie die Kartoffel ohne Quark? Das könnte Ihrer Herrschaft passen, daß Sie sich an trockener Pellkartoffel satt essen und ihr den Quark sparen! Be­ halten Sie die Kartoffel in der Hand, bis Sie wieder zu Tisch gerufen werden.

Nach seinem Sieg über die Straße kommt der Groß­ bauer nach Hause, von einem Bauern begleitet. Der Dar­ steller des Bauern geht nach der anderen Seite der Bühne ab. B. Halt! Kehren Sie bitte um und gehen Sie zurück! Wenn Sie ein Haus weiter wohnen, das heißt in der Richtung, in der Sie kommen, weitergehen, können wir nicht sehen, daß Sie den Großbauern hündisch bis an seine Tür geleitet haben. Für Ihre Rolle mag das gleich­ gültig erscheinen, da man Sie nicht kennt, aber Sie müs­ sen die Fabel spielen. VERFREMDUNG

P. Es ist dadurch schwer, von Ihnen zu lernen, daß alles, was Sie machen, so leicht zu gehen scheint; im Augen­ blick, wo Sie etwas anordnen, scheint es einem schon das Selbstverständliche. B. Vermutlich zeige ich das Ändern falsch, oder ihr be­ achtet nicht genug das „Nicht so, sondern so“, das heißt vergeßt den Sinn des Gewesenen über dem Sinn des Ge­ wordenen zu schnell. Das Aufbauen einer Aufführung darf nicht betrachtet werden wie ein Wachstum, sondern wie eine Montage. 19

Über Theater

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P. Es ist keine Montage. Das Stück wächst ja organisch, oder es ist nichts. B. Gut, sagen wir: Es lohnt sich, mich beim Aufbauen einer Aufführung eher wie einen Monteur als wie einen Gärtner zu betrachten. P. Was machen denn Sie, um weiterzukommen? B. Ich frage mich bei jedem neuen Betrachten einer Szene nicht nur, ob das Angestrebte herauskommt, sondern r auch, ob genug angestrebt wurde. Kann ich nicht noch mehr über das Verhalten der Menschen des Stücks sa­ gen, Genaueres über die Vorgänge, Aufschlußreiches, Lu­ stigeres, etwas, das noch mehr Lust macht zu bestimm­ tem Verhalten oder mehr Abscheu hervorlockt über an­ deres, asoziales Verhalten? Wenn ich glaube, etwas Ge­ setzmäßiges gefunden zu haben, versuche ich, gerade das Gesetzmäßige daran klarzumachen. P. Wie? B. Indem ich es verfremde, das heißt, es als ein „es ist so, nicht anders“ darstelle. P. Aber Sie arbeiten doch nicht mit eigentlichen Ver­ fremdungen, wie Sie es in Ihrem „Kleinen Organon“ an­ raten? B. Nein. Wir sind nicht weit genug. P. Wie würden Sie es machen, wenn Sie mit Verfrem­ dungen arbeiten wollten? B. Ich müßte die Schauspieler völlig umschulen und würde bei ihnen und beim Publikum einen ziemlich ho­ hen Bewußtseinsstand benötigen, Verständnis für Dialek­ tik und so weiter. P. Wie käme es im Arrangement, „das die Fabel erzählt“, zum Ausdruck? Können Sie ein kleines Beispiel geben? B. Gut, eines und ein kleines! Ich würde zum Beispiel die Überleitungen zu den Hauptvorgängen, die verfremdet werden sollen, deutlich als Überleitungen spielen lassen, schneller, unbetonter, nebensächlicher, und ich würde den Vorgängen einen demonstrativen Charakter geben, na­ türlich ohne ihre Lebendigkeit, Realistik, Vollheit zu be­ schädigen. 290

P. Warum das nicht einfach machen? B. Das Theater ist wie ein Schwimmer, der nur so schnell schwimmen kann, wie es ihm die Strömung und seine Kräfte erlauben. Im Augenblick etwa, wo das Publikum unter realistischer Darstellung noch eine Darstellung ver­ steht, welche die Illusion der Wirklichkeit gibt, würden wir keine der beabsichtigten Wirkungen erzielen.

Zweiter Akt

KRISEN

Brecht hatte Strittmatter gebeten, mit ihm die Stellen im Stück ausfindig zu machen, wo Krisen eintreten oder in Sicht kommen. So unterbrach B. heute die Probe an der Stelle, wo der Neubauer hereinkommt und zugibt, daß er nicht weiß, wie seinen neuen Ochsen füttern, da er keine Wiesen hat.

B. Spielen Sie hier, daß Sie vor dem Abgrund stehen, nicht nur eine Art momentane Ratlosigkeit. Wir haben da eine auf dem Theater üble Gewohnheit, die Krisen unserer sympathischen Figuren dadurch zu überwinden, daß wir sie unterspielen und verdecken. Unsere Unge­ duld, die Frage zu beantworten, ist so groß, daß wir sie oft gar nicht abwarten. Wir müssen überall, wo wir Lö­ sungen zeigen, das Problem, wo wir Siege zeigen, die Drohung der ♦Niederlage zeigen, sonst entsteht der Irr­ tum, es handle sich um leichte Siege. Überall müssen wir das Krisenhafte, Problemerfüllte, Konfliktreiche des neuen Lebens aufdecken - wie können wir sonst sein Schöpferisches zeigen? Der Schauspieler Ghass, der schon in seiner Jugend pro­ letarische Figuren in fortschrittlichen Stücken dargestellt hatte, verstand es gut, die Augenblicke der Krise darzu­ stellen. B. Die meisten Schauspieler verstehen nicht die Tiefe der Krisen auf diesen Gebieten. Sie sehen nicht ohne weite­ res, daß den Neubauern Kleinschmidt die zunehmende Trockenheit der Felder KLEINSCHMIDT:

Grundwasserschwund. - Die Grube saugt uns aus. 292

GÜNTER:

Wo nimmst du für dein Feld das Wasser her? KLEINSCHMIDT:

Ich weiß noch nicht.

ebenso bekümmert wie den König Richard Gloster das Entkommen eines seiner Feinde. Wir sprachen zu Beginn der Proben darüber. ANLAGE DER FIGUR BÄUERIN KLEINSCHMIDT

Strittmatter trieb immerzu dazu an, der Bäuerin mög­ lichst viel Beschäftigungen zu geben. „Das Reden geht ganz nebenbei, das Wichtige ist die körperliche Beschäfti­ gung.“ B. Im Weg steht den Schauspielern der Aberglaube an „das Wort des Dichters“, das alles allein schaffen wird (und soll). Das Reden selbst ist eine körperliche Beschäf­ tigung. Nehmt die Erzählung von dem hungrigen Och­ sen. Die Bäuerin sitzt ganz ruhig - und um sich von der Arbeit auszuruhen, eine Tätigkeit! - und erzählt. Aber sie benutzt ihren Körper unaufhörlich, während sie ihn ausruht, um ihre Meinung, ihre Empfindungen auszu­ drücken. Sie ist verstimmt auf das Tier, das sie vor dem Großbauern und dem Dorf blamiert hat, aber dann be­ ginnt sie, sich zu vergnügen an der Vitalität des hung­ rigen Viehs, und sie kommt ins Lachen wie Leute, die ihre Krankheiten aufzählen und plötzlich entdecken, es sind schon zu viele, es ist schon komisch. Über die Heiterkeit, die seelische Ausgeglichenheit der Kleinschmidtin, wird ebenfalls gesprochen. H. Schließlich beschwert sie sich immerfort, Brecht. B. Es gibt Beschwerden von Raunzern und Beschwerden von humorvollen Leuten. H. Es sind nicht immer humoristische Äußerungen. B. Es sind aber die Äußerungen eines humorvollen Men­ schen. 293

H. Schwer, das aus der Rolle zu erkennen. B. Die Rolle besteht nicht nur aus den Äußerungen. Der Text des Stücks enthält die Grundhaltung der Figur. Die Schauspieler neigen dazu, aus einer Aussage ihrer Figur, die bissig formuliert scheint, einen Charakterzug der Fi­ gur zu erschließen, Bissigkeit. Aber sie müssen die Grund­ haltung der Figur studieren. Dies ist häufig - und in unserm Stück fast immer - eine politische Frage. Die Kleinschmidtin ist eine schöpferische Person, ob sie nun vorschlägt, die neue Straße müsse, weil ihr Ochse sonst den Wagen nicht ziehen kann, gepflastert werden, oder ob sie gleich auch noch vorschlägt, man solle die Steine von der Parkmauer des geflüchteten Barons dazu ver­ wenden, ob sie die Tochter auffordert, zu studieren, um den Großbauern im Dorf „tot zu studieren“, oder ob sie die Bäuerinnen auffordert, im Dorfkrug Bier zu bestel­ len, wie es die Männer tun - sie ist schöpferisch. H. Gut. Aber daß ihr Mann schöpferisch ist, das versteht sie nicht. Sie spricht doch abfällig von seiner Schneefän­ gerei. ST. Das ist eigentlich nicht abfällig, jedenfalls muß es nicht so gesprochen werden. Besser, er „spielt sich mit dieser Experimentiererei herum“, als daß er saufen ginge. Sie redet da eher wie die Mutter zu einem dickköpfigen Kind. B. Ja, mit einer freundlichen Überlegenheit, oft nickend, wie man nickt, wenn man einem zuhört, wenn er, zum hundertsten Mal, sein Steckenpferd reitet. H. Aber sie hat doch da nicht recht. B. Nein. H. ? B. Ihre Überlegenheit hat sie von dort, wo sie überlegen ist. H. Ich verstehe. Sie wollen sagen, daß man dergleichen eben nicht aus einer Äußerung nehmen darf, sondern aus dem Ganzen. B. Hm. An der Stelle, wo die Kleinschmidtin den Parteisekretär 294

darüber aufklärt, daß sein Ochse ein etwas schwäch­ liches Exemplar ist, riet Berlau, sie solle mit ihrem Topf, in dem sie etwas quirlt, sich vor Steinert stellen, anstatt nur vom Herd aus in seinem Rücken zu reden. Hurwicz äußert spaßhaft, das sei wohl hauptsächlich für das photo­ graphische Bild gut. BE. Was für das photographische Bild gut ist, ist eben gut. Die Bäuerin selber tritt vor den Steinert hin, weil es eine kleine Demonstration ist, weil sich dadurch vom Steinert besser einprägen wird, was sie ihm zu sagen hat. Übrigens kann sie es auf diese Weise freundlicher sagen, die Stellung allein drückt schon den Angriff genügend aus. Ich meine, die Kleinschmidtin tritt dem Steinert so gegenüber, damit sie nicht grob zu reden braucht. B. Ausprobieren. Es zeigt sich, daß die Szene tatsächlich gewinnt, und wei­ tere psychologische Erörterungen werden überflüssig.

[PARTEISEKRETÄR STEINERT] I

B. über die Rolle des Parteisekretärs Steinert: Wir spie­ len ihn als einen Bergmann, der am Abend die Haue weglegt und in dem benachbarten Katzgraben Partei­ arbeit unter den Bauern macht. Er ist körperlich müde. Das ist schwer zu spielen, durch ein ganzes Stück; es ist nicht genug, daß er sich so schnell wie möglich setzt, um auszuruhen. Einige Ausdrücke der Müdigkeit fallen auch weg, zum Beispiel daß er sich, wie Kleinoschegg es ein­ mal machte, mit der Hand über das Gesicht wischt. Er würde sich Kohle ins Gesicht wischen. Aber es gibt viele Möglichkeiten. Eine ist etwa, daß man besonders wach spielt, mit kleinen Rückfällen. Da muß man ein Studium daraus machen. Das Wichtigste ist, daß aus dieser Cha­ rakterisierung die Handlung gewinnt, die Fabel. Die Müdigkeit wäre schon allein deshalb gut, weil man zei­ gen kann, wie Steinert sie überwindet, frisch wird, auf291»

lebt, wenn er politischen günstigen Wind bekommt oder Gegenwind. Wie am Ende des Bildes, das wir eben probieren. Die Erwähnung der Traktoren hat den Neu­ bauern begeistert, er ist gestärkt für die Agitation. - Hier ist übrigens wieder ein Beispiel dafür, daß der Schau­ spieler den Gestus nicht aus einzelnen Sätzen oder Äuße­ rungen holen darf, sondern aus dem ganzen Gespinst der Äußerungen einer Figur. KLEINSCHMIDT: Mit Traktoren da könnt man Furchen ziehen, daß man bis zum Nabel drinsteht.

STEINERT:

Jetzt furcht der Karl schon wieder in den Wolken.

Steinerts Satz klingt tadelnd, mürrisch. Aber Steinert muß sich über Kleinschmidts Freude auf Traktoren un­ bedingt freuen. Der Satz muß also liebevoll kommen! 2

Die Rolle des Parteisekretärs Steinert bereitete große Schwierigkeiten. B. Sie spielen einen Lehrer der Bauern, der etwas weiß und etwas vorhat und die Bauern entsprechend behan­ delt. Aber es handelt sich um eine neue Art Lehrer. Es ist ein Lehrer, der lernt. Sie sind einer von ihnen; wenn Sie auch kein Bauer sind, so sind Sie doch einer von ih­ nen, nämlich den Großbauern gegenüber. Sie müssen im­ merfort herausfinden, was sie wissen und was sie vorha­ ben. Sie müssen beobachten, versuchen (es so und anders versuchen, meine ich), Sie müssen sogar horchen, wäh­ rend Sie sprechen! Was die Partei macht, ist nur das Klügste, was die Bau­ ern und Arbeiter machen könnten, und es kommt nur durch, wenn sie es wirklich können. Wie nehmen die Neubauern die Zuteilung von Ochsen auf? Ach, sie finden sie zu elend und haben kein Futter, sie herauszufüttern? Aber dieser da bemüht sich schon, einen Ausweg zu finden, ja? So beobachten Sie und ler­ nen unausgesetzt, 296

[DIE KOMISCHE REAKTION]

Die Großbauernfamilie bespricht düster die bevorste­ hende Abstimmung über die neue Straße. Es sind so viele Bauern abgefallen, daß der Großbauer ziemlich isoliert steht. Plötzlich, in einer Pause des Grübelns, sagt der „Ziehsohn“ träumerisch: „Ich würd gern Traktorist.“ G. Mir fehlt noch irgendeine komische Reaktion auf die­ sen Wunsch meines Ziehsohns. B. Warum eine komische? G. Es ist doch eine Komödie, nicht? B. Ja, aber es ist nicht alles darin komisch, und was ko­ misch ist, ist es in ihrer Art. Der Großbauer ist in einer Krise, das vor allem muß herausgearbeitet werden. Der Abfall des Ziehsohns bedeutet einen weiteren Schlag für ihn. Zunächst muß das Publikum das merken. Wir stel­ len die großen Klassenkämpfe auf dem Lande dar. Sie können, wenn wir sie „rein komisch“ darstellen, leicht als zu leicht aüfgefaßt werden, und nichts wäre für den Kampf ungünstiger. Der Großbauer ist immer noch eine sehr gefährliche gesellschaftliche Erscheinung. Es ist nicht klug, einen Gegner auf die leichte Achsel zu nehmen; er könnte sich dort unangenehm bemerkbar machen. G. Also keine komische Reaktion? B. Zunächst nicht. Zunächst reagiert der Großbauer ver­ mutlich mit einem finsteren Starren. Die komische Reak­ tion kommt etwas später. Sie besteht darin, daß er, wenn der Ziehsohn hinausgegangen ist, sagt: „Ein Taschengeld wird man ihm geben müssen.“ Das heißt, Sie versuchen, die revolutionäre Entwicklung auf dem Lande durch ein Taschengeld aufzuhalten.

DIE FIGUR DES GROSSBAUERN

Die Gestaltung des Großbauern durch Geschonneck, einen der besten Darsteller des Theaters, war von ge­ legentlichen Probenbesuchern, die das Dorf kannten, ange-

griffen worden. Sie fanden die komischen Effekte zu kraß und sprachen von Grimassen und Clownerie. Strittmatter und Palitzsch, auch Rülicke schlugen vor, alles bei ihm zu dämpfen. B. Ich halte nichts von einer Dämpfung des Ganzen. Der Großbauer ist der Dorffeind, wir haben das Recht, ihn zu verhöhnen, solange wir ihn noch als gefährlich dar­ stellen. Ich glaube, wir sollten genau untersuchen . . ., wo die Komik die Figur des Großbauern für den Klassen­ kampf verzerrt. Fein oder grob, dick oder dünn spielt dann keine Rolle mehr. P. Es ist zum Beispiel falsch in diesem Sinn, wenn Geschonneck zu Beginn von 11,2, wo Großmann die Erwer­ bung von Ochsen durch die Neubauern als Schlag gegen sich bezeichnet, ob die Ochsen fett oder mager sind, die­ sen Äußerungen einen komischen Einschlag verleiht. Das ist politische Erfahrung und Voraussicht, und wir haben nichts darüber zu lachen. B. Sehr gut.

[DIE ABHÄNGIGKEIT DES NEUBAUERN]

In der dritten Szene verhöhnt der Großbauer den Neu­ bauern Kleinschmidt, weil er seinen neuen Ochsen nicht wird füttern können. Mit deinem Hörnergaule ist das so, als schenkt man einem Bettler einen Hund. Kann er ihn füttern? Hast du Ärmling Wiesen?

Der Schauspieler Gnass brachte Kleinschmidts Antwort Noch nicht, weil du davon zu viele hast

als eine heftige Abfertigung. B. Das ist in diesem Akt und diesem Jahr (1948) noch nicht gerechtfertigt. Kleinschmidt ist den Hohn noch zu gewohnt, um beleidigt zu sein, und er ist noch nicht ag­ gressiv auf diesem Feld. Außerdem birgt seine Antwort 298

eine Erkenntnis, die noch zu neu ist, um schnell aus der Tasche gezogen zu werden. Kleinschmidts Klasse ringt noch um solche Erkenntnisse. Sie müssen Ihre Antwort so ge­ ben, als ob Ihnen das Problem als ein schwieriges, aber nicht unlösbares vor Augen steht. Sprechen Sie also ganz ruhig. Sie können Ihren Ochsen eben nicht füttern, so­ lange Großmann die Wiesen hat. Sie wissen schon, daß Ihnen für Ihren Ochsen die Wiesen Großmanns fehlen, aber noch nicht, wie Sie sie bekommen sollen. Und nun etwas, was für die ganze Darstellung des Stücks wichtig ist: Unsere Hauptaufgabe ist es, die neue Lebensweise auf dem Dorf zu zeigen, die erregende Entwicklung, das neue große Produzieren, neue Haltungen im Kampf mit alten Haltungen, sogar bei ein und derselben Figur. Und wir müssen herausbekommen nicht nur Erkenntnisse, son­ dern auch, und das besonders: Lust an diesem neuen Le­ ben, Stolz auf die neuen Lösungen und Leute.

[RÜCKZAHLUNG DER SCHULDEN]

Kleinschmidt zahlt Mittelländer in Anwesenheit Groß­ manns seine Schulden zurück. Er setzt sich an den Tisch und will auszahlen. Großmann hat ihn eben verhöhnt, weil er seinen neuen Ochsen nicht ernähren kann. Er weidet auf den Bäumen wie ein Heuschreck und bleibt in seinen tiefen Furchen liegen.

ST. Mittelländer sollte noch über Großmanns Witze mit­ lachen, wenn er das Geld sieht. Sein Lachen bricht jäh ab. B. Aus dem Schuldenzahlen muß ein großer historischer Vorgang werden. Kleinschmidt hat seine verbeulte Brief­ tasche umsichtig und umständlich aus der inneren Joppen­ tasche gezogen, und er setzt sich an den Tisch, um die Aktion bequemer ausführen zu können. Der Schauspieler Gnass probiert dies. B. Gnass, es ist nicht leicht, mit Händen, die den Pflug 299

führen, Geldscheine zu manipulieren. Zeigen Sie das ge­ nau. ST. Blasen Sie doch in das Bündel Scheine und spucken Sie auf den rechten Daumen, damit Sie besser zählen können. Nein, nicht den Daumen ablecken, den Klein­ schmidt ekeln die Scheine. B. Machen Sie das Ganze bitte noch einmal, aber sagen Sie, wenn Mittelländers Lachen abbricht, nicht sofort Ihr „Lacht nur, die Furchen haben sich verlohnt“. Zahlen Sie erst aus, Schein auf Schein, lang! Die Szene wird so wiederholt, aber es bedarf mehrerer Male, bis der Schauspieler Gnass eine „Pause“ wagt, die Brecht lang genug ist. Dann läßt Palitzsch dem Regie­ tisch sagen, Kleinschmidt solle doch alles Geld, das er in der Brieftasche hat, auszahlen, damit klar werde, er zahle tatsächlich den Rest des Geldes nach Kauf des Ochsen für Schulden aus, das er durch seine Doppelernte ver­ dient hat. B. Damit er „ehrlich“ erscheint? Ich weiß nicht. P. Nein, natürlich nicht deshalb. Sein Schuldenauszahlen ist eine politische Aktion, er will den Mittelbauern ge­ winnen. Das läßt er sich etwas kosten. B. Gut, das ist ein wichtiger Punkt. Aber zwei Scheine muß er zurückbehalten. Wenig Geld ist auf der Bühne weniger als kein Geld. ST. Er muß in jeder Hand noch einen Schein haben und ihn betrachten: Das Geld verfliegt.

[DIE GROSSBÄUERIN]

i. Der Tageslauf

Mehr als andere Schauspieler hatte die Weigel in diesem Stück Schwierigkeiten, den Charakter ihrer Figur, der Großbäuerin, aufzubauen. P. Würde es Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich den Tages­ lauf der Großbäuerin zurechtlegten? Was hat sie am 300

Morgen getan, was hat sie gefrühstückt, mit wem hat sie gesprochen, wie fühlte sie sich körperlich? HW. Das hilft nicht bei diesem Stück. Es hat Jahresab­ läufe, nicht Tagesabläufe. Ich muß daran denken, was tat, äußerte, fühlte ich voriges Jahr? Im zweiten Akt, 1948, übernehme ich zum Beispiel mehr oder weniger die Füh­ rung, stehe anders zu meinem Mann. Ich spürte das so stark, daß ich auf den ersten Proben den Charakter der Großbäuerin überhaupt im zweiten Akt nicht mehr „hatte“, selbst die Sprechweise, die hohe, scheppernde Kropfstimme paßte nicht mehr, ich konnte mich einfach nicht erinnern daran. P. Was wird Ihnen helfen? HW. Daß ich das Stück mit baue, nur das. 2. Die Weigel

B. Warum eigentlich der Kropf und die schiefe Schul­ ter? HW. Das zeigt, er hat sie ihres Geldes wegen geheiratet. Und hätte ich nicht Geld im Hof stecken, würde er sich mein Herumregieren nicht gefallen lassen. Ich selbst käme nicht darauf, herumzuregieren ohne dieses Geld, da ich religiös erzogen bin und „dem Manne untertan“. Diese Vorgeschichte hilft auch der Kleinschmidtin, ja sogar der Mittelländerin: ihre Männer stehen anders zu ihnen. 3. Genie

B. Eine geniale Schauspielerin ist die Weigel. X. Was ist Genie? B. Genie ist Interesse. [DETAILS]

Der Bauer bringt einige Kisten Zigarren unverkauft von der Stadt zurück. Er hat im vorigen Jahr spekuliert, in­ dem er Tabak anpflanzte statt, wie der Plan ihm vor­ 301

schrieb, Kartoffelneusaat, und das Sinken der Tabak­ preise in diesem Jahr bestraft ihn hart. Durch eine neue Gruppierung wurde der Verlust bildhaft gemacht. Die Bäuerin tritt hinzu, und Bauer und Bäue­ rin stehen versunken in den Anblick des schwer verkäuf­ lichen Tabaks wie Hinterbliebene an einem Grabe. Die Wirkung davon ist komisch, aber der Ernst des Verlusts dringt doch durch. I

Auch die Dienstbotenfrage wird schwieriger in diesem Jahr. Die FDJ erstarkt auf dem Dorf und nimmt sich der jugendlichen Magd an. Sie holt sie am Abend aus dem Dienst. Wieder ändert eine einzige Geste den Charakter der Szene. Der Bauer stimmt der sich über die Zeiten beklagenden Bäuerin durch energisches Kopfnicken zu. (Der Darstel­ ler hatte bisher nur gezeigt, wie der Bauer Ausführungen der Bäuerin, was immer sie betreffen, grundsätzlich nicht beachtet.)

Die FDJ-Freundinnen holen die junge Magd Erna zur Versammlung. Da sie mit der Arbeit noch nicht fertig ist, fangen sie an, in der Küche demonstrativ zu singen. Die Bäuerin ruft Erna herein. BÄUERIN:

Erna, sie singen wieder. ERNA:

Ja, damit

Ihr nicht vergeßt, daß sie noch auf mich warten. BÄUERIN:

Bist eilig? Geh, ich streu dem Vieh auch selbst. Man soll mich nicht im Dorf bereden können, daß ich dir deine freie Zeit beknappe.

Die Darstellerin der Magd spricht so, daß man sie über dem Gesang nicht hört. B. Warum schreien Sie nicht, wenn so ein Lärm ist? Die Bäuerin kann Sie ja gar nicht verstehen - und wir auch 302

nicht. Schreien Sie, wie man schreit, wenn man vor Lärm das eigene Wort nicht versteht. Daß Sie selbst den Lärm veranlaßt haben, hat doch damit gar nichts zu tun. Und noch was: Nicken Sie, bevor Sie hinausgehen. Es ist auch nach Ihrer Meinung besser, wenn man im Dorf das nicht über Ihre Herrschaft sagt.

[NOCHMALS: ETABLIEREN DER VERSSPRACHE]

B. empfiehlt, die Irregularität der Verse zu benutzen. Wenn die Mittelbäuerin den Bauern tadelt, weil er die Quarkschüssel umgestülpt hat: Die Schmiererei aus Hasenangst vorm alten Klappe,

kann der überlange Vers für ein breites Tischabwischen benutzt werden. An andern Stellen regularisiert B. den Vers. Nach: Dreihundert werden wir versteuern; daß wir auch etwas für den Staat tun

läßt er den Bauern mit dem Eßmesser hörbar auf eine Stelle im Anbauplan klopfen, so daß der Vers männlich endet und gut weitergeht in: Drei Hektar Roggen, hier auch etwas Weizen . . .

Im ganzen möchte er den Vers ein wenig horchend ge­ sprochen haben, nicht nur bei der Probe. Der Spaß an den Rhythmen muß bleiben.

DIE VERSSPRACHE

B. Wozu dient die Verssprache? Zuerst das Politische, der Nutzen für den Klassenkampf. Die Verssprache hebt die Vorgänge unter so einfachen, „primitiven“, in den bisherigen Stücken nur radebrechenden Menschen wie 303

Bauern und Arbeitern auf das hohe Niveau der klassi­ schen Stücke und zeigt das Edle ihrer Ideen. Diese bishe­ rigen „Objekte der Geschichte und der Politik“ sprechen jetzt wie die Coriolan, Egmont, Wallenstein. 'Für den Vers fällt viel Zufälliges, Unwichtiges, Halbgares weg, und nur was die große Linie aufweist, ist im Vers wieder­ zugeben. Hierin ist die Verssprache wie ein großes Sieb. Ferner klärt sie alle Aussagen und Gefühlsäußerungen, wie ein schönes Arrangement die Vorgänge zwischen den Menschen des Stücks klärt. Und sie macht manches Wort einprägsamer und unvergeßlicher und den Ansturm auf die Gemüter unwiderstehlicher.

[KONFLIKTE REALISTISCH DARSTELLEN]

B. läßt die Szene ganz durchspielen. Dann macht er eine Pause und bespricht sich mit Strittmatter und den Regis­ seuren. Er läßt einen Tisch vor den Regiestuhl stellen und bittet, daß die Darsteller sich zu ihm setzen. B. Das Bild ist fertig. Ich wüßte nicht, was noch dazu sa­ gen. Es fehlt keine einzige Nuance mehr. Aber das Bild ist doch falsch. Die Neutralisierung des Mittelbauern im Klassenkampf ist eine große Sache, eine schwierige poli­ tische Operation, und alles, was wir herausholen, ist einige Heiterkeit. Sie, Geschonneck sind so sehr gegen Ihre Figur, geben Sie so schonungslos dem Gelächter preis, daß Ihr Großbauer ein Popanz wird. So auftretend könnte er den Klassenkampf keinen Tag führen. Sie müs­ sen jetzt einiges zu seiner subjektiven Rechtfertigung tun. Zeigen Sie ihn als einen intelligenten Mann und gewief­ ten Unterhändler, der nur durch die neue Lage umge­ worfen wird. Die scharfe Auseinandersetzung, zu der es zwischen Mittelbauern und Großbauern in diesem Bild kommt, zeigt, daß es auch zwischen diesen Klassen, die lange gemeinsam den Kleinbauern unterdrückten und aus­ beuteten, alte Rechnungen zu begleichen gibt. In gewis­ sem Sinn befreit der Ochse, den der Kleinbauer bekom3°4

men hat, auch den Mittelbauern von einer Herrschaft, nämlich der des Großbauern. Er beteiligt sich allerdings nicht am Kampf, aber die Komödie, die er vor dem Großbauern und dem Kleinbauern spielen muß, indem er Zahnweh bekommt, um nicht zur Versammlung zu müssen, kotzt ihn selber an. Sprechen Sie den letzten Satz Deck das Bett zu, Alte!

mürrisch und unlustig. Die Darsteller nahmen das Bild zunächst am Tisch, dann auf der Bühne durch, auf der Bühne zweimal, die Stel­ lungen ungeändert, ebenso die Tonfälle, jedoch alles ern­ ster. Die Wirkung war verblüffend. ST. Jetzt habe ich keine Sorge mehr.

DARSTELLUNG DES NEUEN

B. Unsere Schauspieler - genau wie unsere Schriftsteller mit wenigen Ausnahmen, darunter Strittmatter - ver­ mögen das Neue nicht als Neues darzustellen. Dazu ge­ hört historischer Sinn, den sie nicht haben. Die Sowjet­ schriftsteller haben ihn beinahe alle. Sie sehen (und ma­ chen sichtbar) nicht nur die neuen Kraftwerke, Dämme, Pflanzungen, Fabriken, sondern auch die neue Arbeits­ weise, das neue Zusammenleben, die neuen Tugenden. Nichts ist ihnen selbstverständlich. Ich erinnere mich einer Episode aus Fadejews „Die junge Garde“. Die Be­ völkerung flüchtet vor der andringenden Naziarmee zu Beginn des Krieges. An einer beschossenen Brücke stauen sich Flüchtlinge, Autos, versprengte Truppenteile. Ein junger Soldat hat einen Kasten mit Werkzeugen geret­ tet, muß aber weg und sucht jemanden, dem er ihn anver­ trauen könnte. Es ist ihm unmöglich, ihn wegzuwerfen. Das ist ohne jeden Kommentar so beschrieben, daß man die Gewißheit hat, einem neuen Verhalten beizuwohnen, einen Menschen zu sehen, den es vorher nicht gegeben hat. - Unsere Schriftsteller beschreiben das Neue, das 20

Über Theater

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sich allenthalben begibt, wie sie beschreiben, daß es reg­ net. In derselben Weise spielen unsere Schauspieler. X. Das betrifft nicht die Darsteller, die Mittelbauern und Großbauern darzustellen haben. B. Auch. Diese Menschen sind in einen Kampf geraten, den es so nicht gegeben hat. Auch sie denken neue Ge­ danken und nehmen neue Haltungen ein. Und der Schau­ spieler muß sich über sie wundern können und seine Ver­ wunderung festhalten können im Spiel, so daß auch das Publikum am Neuen bemerkt, daß es neu ist.

Dritter Akt

[DAS ÜBERLEGENE WISSEN]

B. teilte der Darstellerin der Elli (Lutz) seine Gedanken über die überlegene Haltung mit, in der sie nach einjäh­ riger Abwesenheit dem jungen Mann gegenübertritt, den sie liebt. B. Streichen wir die. Wir wollen zeigen, was eine gute Schule leisten kann. Lassen wir sie nicht eine äußerliche Überlegenheit bei den Schülern erzeugen! Eine gute Schule verleiht Wissen nicht dazu, daß ihre Schüler an­ dern überlegen sein können. Sie verleiht überlegenes Wis­ sen.

[AUFBAU EINES HELDEN]

Beim Herausarbeiten der Krisen und Konflikte kamen wir auf die Haltung, in der der Parteisekretär Steinert die Eröffnung entgegennimmt, Grundwassermangel bedrohe das Dorf, und die Bauern gedächten nicht, vor einer Lösung dieses elementaren Problems die Straße zur Stadt weiterzubauen. B. drängte Kleinoschegg, den Darsteller des Bergmanns, echte Ratlosigkeit zu zeigen. K. Aber das ist doch nicht ein Mann, den eine ungünstige Nachricht so leicht umwirft! B. Entschuldigen Sie, dies ist nicht der Moment im Stück, die Unerschütterlichkeit des Sekretärs zu zeigen. K. Kann man einen Sekretär brauchen, der ratlos ist? Das ist doch kein Vorbild! B. Der Mann steht vor dem Zusammenbruch einer poli­ tischen Arbeit, der er viel Mühe gewidmet hat und von deren Wichtigkeit für das Dorf und für den Klassen307

kampf des Dorfs er überzeugt ist. Wenn er nicht wirk­ lich betroffen ist, zeigt es sich nur, daß er ein Flach­ kopf ist. Wenn er nur so tut, als sei er nicht betroffen übrigens müßten Sie dann die Betroffenheit doch spielen! - würde er einfach das Vertrauen der mit ihm gehenden Bauern verlieren. K. Aber er weiß doch sogleich Rat. Dann brauchen wir Maschinen, Traktoren, Bagger. Bald Maschinen da sind, dreht sich auch alles raus aus dem Schlamassel.

B. Ich rate Ihnen, gerade mit diesen Versen die Tiefe sei­ ner Ratlosigkeit zu zeigen. Wie der Ertrinkende nach einem Strohhalm, greift der alte Arbeiter nach der Ma­ schine. Sie wird alles ins Lot bringen, es gibt nichts, mit was sie nicht fertig würde! Mit Maschinen, das ist die Art, wie die Arbeiterschaft ihre Schwierigkeiten zu^überwinden versucht, instinktiv, „a priori“. K. Ich befürchte, ich könnte dieser neuartigen Figur nicht gerecht werden. Sie verstehen, ich halte nicht jeden Funk­ tionär für einen Helden, aber zu der Geschichte, die un­ ser Stück erzählt, gehört es, daß ohne den Steinert die großen, günstigen Veränderungen in Katzgraben nicht hätten zustande kommen können. B. Ja. Ich bin aber dagegen, daß Sie einen Helden dar­ stellen, der dann die und die Heldentaten verrichtet. Las­ sen Sie Ihren Mann seine im Stück berichteten Taten ver­ richten, und er wird sich als Held herausstellen. Bei dem Aufbau eines Helden aus anderem Material als den kon­ kreten Taten und der Handlungsweise, die das Stück Ihnen an die Hand gibt, bei einem Aufbau etwa aus Mei­ nungen über Heldentum allgemeiner Art könnten uns falsche Meinungen darüber in die Quere kommen. Ein Schwächling zum Beispiel ist nicht einer, der vor Gefah­ ren nicht erschrickt oder sein Erschrecken vor andern nicht verstecken kann, sondern einer, der gegenüber der Ge­ fahr praktisch versagt. Vergessen wir nicht, zu welcher Klasse unser Held gehört! Das Ideal des Mannes mit 308

dem Pokergesicht ist ein kapitalistisches oder vielleicht feudales Ideal. Bei gewissen Geschäften darf der Händ­ ler niemals zeigen, ob ein gegnerisches Argument ihn ge­ troffen hat, jede Unsicherheit würde seinen Kredit unter­ wühlen und so weiter. Der Unterdrücker, kapitalistischer oder feudaler Art, darf ebenfalls kein Bangen zeigen. Aber der Arbeiterführer wie Steinert steht mitten in der Menge, ihr Los ist das seine, seines das ihre, er muß nichts verbergen, er muß nur schnell zum Handeln kom­ men, und zwar mit dieser Menge Gleichinteressierter zu­ sammen. Im Kapitalismus haben freilich auch die Gesich­ ter der Menge einen stumpfen, undurchschaubaren Aus­ druck angenommen, den Ausdruck solcher, die ihre Ge­ danken und Reaktionen verbergen müssen und denen es nicht der Mühe lohnt, sie zu zeigen, da es nicht auf sie ankommt. Das Menschengesicht im Sozialismus muß wie­ der ein Spiegel der Empfindungen werden. So wird es sich wieder verschönen. Nein, zeigen Sie Steinert ehrlich erschüttert und zeigen Sie, wie er dann zum Handeln kommt und jeden, bei dem es nötig ist, zum Handeln bringt, und dann haben Sie Ihren proletarischen Helden.

DER POSITIVE HELD

BE. Die Ansicht ist, man müsse sich als Zuschauer so in eine Figur auf der Bühne einfühlen können, daß man wünscht, es ihr im Leben gleichzutun. B. Die bloße Einfühlung mag den Wunsch erzeugen, es dem Helden gleichzutun, aber kaum die Fähigkeit. Damit Verlaß ist auf die Gesinnung, muß sie nicht nur impul­ siv, sondern auch verstandesmäßig übernommen werden. Damit ein richtiges Verhalten nachgeahmt werden kann, muß es so verstanden worden sein, daß das Prinzip auf Situationen angewendet werden kann, die der vorgeführ­ ten nicht ganz gleichen. Es ist die Aufgabe des Theaters, den Helden so vorzustellen, daß er zu bewußter, nicht zu blinder Nachahmung reizt.

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BE. Ist das nicht sehr schwierig? B. Ja, sehr schwierig. Es ist nicht leicht, Helden zu be­ kommen.

[DIE ZUSAMMENARBEIT]

In der letzten Szene des Bildes spielten die Schauspieler die Beratung der Parteigruppe über den Wassermangel ziemlich kursorisch. B. Bitte, gebt mir nicht das Gedachte, sondern das Den­ ken. Was ist ein Rat, wenn er nicht aus der Ratlosigkeit kommt? Es muß sein, als ob ein einziges Gehirn da dächte. Das ist eine meiner Lieblingsszenen. Hier zeigt die Masse, die immer nur en mässe behandelt wurde, was sie en mässe entwickelte - die Zusammenarbeit. Hier können wir die neue Art, zu siegen, verstehen.

[EIN GESPRÄCH]

B. Das Gespräch zwischen der jungen Agronomin und dem Parteisekretär - sie fragt ihn, ob sie den politisch rückständigen Ziehsohn des Großbauern heiraten soll ist eines der schönen neuen Gespräche sozialistischer Art, von denen es manche in unserm Stück gibt. Wir müs­ sen es besonders probieren. Der Grubenarbeiter hat schwere politische Sorgen, aber er antwortet sorgfältig auf die private Frage des jungen Mädchens. Er verwan­ delt sie nicht ohne Humor in eine politische, ohne das Private darin, die Neigung des Mädchens zu dem jungen Mann, im geringsten beiseite zu schieben. Er gibt ledig­ lich ihrer Neigung eine politische Richtung und Aufgabe, so die Liebe als eine produzierende Kraft ansprechend. Sie muß den Geliebten ändern, ihrer Neigung wert ma­ chen. Bei ihm, dem alten Kommunisten, gibt es keine Trennung von politischem und privatem Leben.

EPISCHES THEATER

P. Wie kommt es, daß man so oft Beschreibungen Ihres Theaters liest - meist in ablehnenden Beurteilungen -, aus denen sich niemand ein Bild machen könnte, wie es wirklich ist? B. Mein Fehler. Diese Beschreibungen und viele der Be­ urteilungen gelten nicht dem Theater, das ich mache, son­ dern dem Theater, das sich für meine Kritiker aus der Lektüre meiner Traktate ergibt. Ich kann es nicht lassen, die Leser und die Zuschauer in meine Technik und in meine Absichten einzuweihen, das rächt sich. Ich ver­ sündige mich, zumindest in der Theorie, gegen den eher­ nen Satz, übrigens einen meiner Lieblingssätze, daß der Pudding sich beim Essen beweist. Mein Theater - und das allein kann mir kaum verübelt werden ist ein philosophisches, wenn man diesen Begriff naiv auffaßt: Ich verstehe darunter Interesse am Verhalten und Meinen der Leute. Meine ganzen Theorien sind überhaupt viel naiver als man denkt und - als meine Ausdrucksweise vermuten läßt. Zu meiner Entschuldigung kann ich viel­ leicht auf Albert Einstein hinweisen, der dem Physiker Infeld erzählte, er habe eigentlich nur, seit seiner Kna­ benzeit, über den Mann nachgedacht, der einem Licht­ strahl nachlief, und über den Mann, der in einem fallen­ den Aufzug eingeschlossen war. Und man sehe, was dar­ aus an Kompliziertheit wurde! Ich wollte auf das Thea­ ter den Satz anwenden, daß es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Die Änderungen, die sich aus dieser Absicht ergaben, einer Absicht, die ich selbst erst langsam erkennen mußte, waren, klein oder groß, immer nur Änderungen innerhalb des Theaterspielens, das heißt eine Unmasse von alten Regeln blieb „natürlich“ ganz unverändert. In dem Wörtchen „natürlich“ steckt mein Fehler. Ich kam kaum je auf diese unverändert bleibenden Regeln zu sprechen, und viele Leser meiner Winke und Erklärungen nahmen an, ich wollte auch sie abschaffen. Sähen sich die Kriti-

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ker mein Theater an, wie es die Zuschauer ja tun, ohne meinen Theorien zunächst dabei Gewicht beizulegen, so würden sie wohl einfach Theater vor sich sehen, Thea­ ter, wie ich hoffe, mit Phantasie, Humor und Sinn, und erst bei einer Analyse der Wirkung fiele ihnen einiges Neue auf - das sie dann in meinen theoretischen Ausfüh­ rungen erklärt finden könnten. Ich glaube, die Kalami­ tät begann dadurch, daß meine Stücke richtig aufgeführt werden mußten, damit sie wirkten, und so mußte ich, für eine nichtaristotelische Dramatik - oh Kummer! - ein episches Theater - oh Elend! - beschreiben.

[NEUARTIGES VOLKSFEST]

B. Man muß ein neuartiges Volksfest zwischen Arbeit und Arbeit zeigen. Wir brauchen statistische Tafeln über die Produktion und wir brauchen Bier- und Eisbuden. Wir brau­ chen das Studium der Statistiken und die Träume am neuen Traktor. Wir brauchen die Statistik und die Musik, das Studium und den Tanz. Und das Wichtigste: wir müssen die Produktivität, den Erfindersinn, die Phantasie der neuen Klasse auch in der Erholung, bei den Belustigungen zeigen. Ihre Transparente (vielleicht können wir einen neuen Typus davon schaffen), Losungen, Einfälle bei alten Tänzen, die neue Verwendung alter Bräuche und Symbole (das Strohpferd, das als Winter verbrannt wurde und jetzt als Besiegter des Traktors vor ihm her geführt wird, ein Schild mit „i PS“ um den Strohhals). Die neue herrschende Klasse, das ist die produzierende Klasse!

[ARRANGIEREN EINER MASSENSZENE]

Es handelte sich darum, dem Schlußbild bei aller Plastik der winzigen Einzelszenen, in denen die Figuren abge­ rundet werden, jene Turbulenz zu verleihen, welche durch Spaß erzeugt wird und Spaß erzeugt. 312

B. teilte die Bühne in vier Örtlichkeiten (Bauhütte, Bier­ ausschank, Mitte und Eiswagen) und stellte, was auf ihnen passiert, unter Assistenzregisseure, Besson übergab er die Kindergruppe mit der Aufforderung, damit anzu­ fangen, was er wollte. B. Wichtig ist, daß der Regisseur kein Verkehrspolizist ist. Es ist Ordnung, daß Leute, die Weggehen, auf Leute „stoßen“, die ankommen. Die Mammler-Trude, die dem Jungen auf dem Mast sein Eis bringt, drängt sich durch die Dörfler, die vom Straßenbau kommen und sich in der Baubude umziehen wollen. Die Baubude ist bestimmt nicht gerade groß genug für die Anzahl Leute, die sich darin umziehen sollen (außer sie ist von einer Regie gebaut, die darauf bedacht ist, daß alles „aufgeht“). Also wird einer oder werden zwei sich vor ihr umziehen. (Das zeigt dem Publikum auch, was die drinnen machen, die es nicht sieht.) Vorhin sah ich nie die Mammler-Trude, die die vom Umziehen Kommenden mit Mohn zum Anstekken versehen sollte, aber zunächst Eiskaufen gegangen war, ihren Karton mit den Blumen mitnahm, damit sie sie zur Hand hatte. Nichts dergleichen, bitte. Wenn sie die Frauen aus der Bude kommen sieht, soll sie die mit der Hand zurückhalten und nach ihrem Karton rennen. Zeigen wir, daß die Menge Gedränge liebt bei Festen! Die Regie wünscht natürlich, daß alles „klappt“, aber sie muß auch klappen machen, was bei einem solchen Fest nicht klappt, erfreulicherweise. Aus den Zufälligkeiten kann man oft gute Wirkungen ziehen, indem man benutzt, was zunächst wie ein Manko aussieht. Wir hatten für Hermann, der vom Straßenbau kommt und gern erzählen möchte, wie er entgegen dem Willen seines Ziehvaters, des Großbauern, die Gäule zum Straßenbau benutzt hat - eine kleine Heldentat -, kein Publikum mehr auf der Bühne, da alles zum Um­ kleiden oder zum Eisessen ging. Wir hätten nachdenken können, wie wir ihm einige Zuhörer beistellen konnten. Anstatt dessen machten wir gerade daraus eine Szene: Die andern Leute haben ihre andern Ziele, so kann er eben 3B

keine Zuhörer auftreiben und bleibt mit seinem Mittei­ lungsdrang allein - er steht herum. Das stellte sich auch späterhin als günstig heraus, denn auf diese Weise wird der junge Mensch wirklich vom Kollektiv aufgenommen, als der Großbauer ihn „verstößt“. Kurz, man muß die Anordnungen, die man als Regisseur getroffen hat, weil sie einem als natürlich schienen, (in diesem Fall die Be­ wegung der Menge) dann auch ernst nehmen und den Einzelfall (Hermanns Erzählung) danach einrichten. Nicht zuviel Geplantes, Geschicktes, Eingerichtetes!

[DIE KINDER AUF DEM FEST]

Mit Besson arbeitete B. einen kleinen Plan für die Kinder aus. Sie sollten im allgemeinen bei ihren Unternehmun­ gen kollektiv auf treten. Sich teilen nur, wenn es etwa wählen hieß zwischen Traktorbesichtigen und Eisessen. Sie würden voll beschäftigt sein. Unter einer Pferdedecke, damit die spätere Überraschung nicht litt, hatten sie ihr Strohpferd nach hinten zur Straße zu schaffen, wo die Traktoren erwartet wurden. (Sie beschafften sich übrigens alles selbst im Probenhaus, was sie zum Spiel brauchten, krochen in alle Winkel und Schränke und machten unaus­ gesetzt Vorschläge.) Das Sprunghafte der kindlichen Ent­ schlüsse sollte eine Rolle spielen, der ganze Trupp plötz­ lich vom Tanzbeschauen nach seitwärts, zu einem ande­ ren Vergnügen abhauen. Sie konnten dann zum Eisstand gehen, aber B. erinnerte daran, daß sie sich auch erst Geld dazu holten bei den Erwachsenen; ein Junge sollte keines bekommen, aber zuvor wenigstens eine Flasche mit Brause bekommen haben, als er dem Wirt einen schweren Kasten mit Brausen herbeischleppte. Eine kleine Episode: ein sehr kleines Mädchen hatte mit einem Arm voll Fähnchen über den Platz zu rennen. Der Gemeinde­ diener hielt sie scherzend auf, sie ließ ein Fähnchen fal­ len, beim Aufklauben noch zwei andere, hob sie auf und rannte wütend weiter. (Sie machte es das erstemal rich3M

tig!) Die probenden Kinder, schon aus schneller Lange­ weile interessant, gaben selber, zuschauend alle Arten von Motiven: Ein Junge kletterte aufs Dach der Bau­ bude, als getanzt wurde, und lag ausgestreckt, das Kinn in der Hand, zuschauend. Zwei kleine Mädchen versuch­ ten sich ebenfalls im Tanzen hinter den Kulissen, immer wieder vorkommend, zu sehen, wie es gemacht wurde. Und so weiter, und so weiter. B. Hat man festgestellt, ob die Kinder Frühstücksbrote haben?

[BELEHRUNG]

Die Regie versucht ständig, die Haltung Steinerts, des Parteisekretärs, zu einer vorbildlichen zu machen. B. Da in unserm Stück die Fehler, die Steinert macht, nicht verhehlt werden, ist es um so nötiger und angeneh­ mer, seine starken Seiten zu zeigen. Bedenken wir, daß wir im Dorf eine gewaltige Umwandlung geschehen las­ sen, die ohne die Partei nicht denkbar wäre. Und wir haben dafür hauptsächlich Steinert im Stück, und es ist uns nicht erlaubt, durch die Partei besorgen zu lassen, was nicht durch ihn denkbar wird. Das passiert nur in sehr schlechten Stücken. Unter den Zügen, die wir ihm verleihen können, liegt mir viel an dem folgenden: Ver­ leihen wir ihm eine echte Bescheidenheit beim Belehren, ohne ihm natürlich seine Ungeduld zu nehmen. Schimpfen mag er. Aber wenn es zur Belehrung kommt, muß er beinahe Scheu zeigen. Denn der Belehrende berührt im­ mer eine Schwäche des zu Belehrenden. Er sei bemüht, diese zu verdecken, beinahe so zu tun, als bemerke er sie nicht; so daß eher der Anschein entsteht, er gebe sein Wissen nur weiter, habe es selber bekommen und sehe darin also kein eigenes Verdienst.

3*5

[DIE REDE STEINERTS]

Die Regie arbeitet wieder an Steinerts Rede. Der Traktor auf dem Gutsland des Barons . . .

B. Wir müssen uns bemühen, nicht nur Abbilder zu ge­ ben, sondern auch Vorbilder. Hier haben wir die Fest­ rede eines ganz bestimmten Bergmanns mit ganz be­ stimmten Eigenschaften und ganz bestimmten Beziehun­ gen politischer und persönlicher Art zu den Zuhörern. Aber wir haben auch die Rede eines Funktionärs. Wir müssen versuchen, ihr, wenn auch in bescheidenstem Maß, etwas Vorbildliches zu geben. Natürlich spricht unser Funktionär nicht lediglich aus, was der Augenblick ihm eingibt; er bringt ein Konzept mit. Er spricht als Vertre­ ter der Arbeiterschaft, ihrer Partei. Er ist seinen Zu­ hörern voraus. Aber nun kommt etwas sehr Wesentliches. Er bewegt sich sozusagen nicht vor seinen Zuhörern her, sondern er bewegt sie. Er spricht nicht nur zu ihnen, son­ dern auch aus ihnen heraus. Es ist nicht nur so, daß er, wie jeder gute Redner, aus den Reaktionen seiner Zu­ hörer schöpft. Es ist mehr: Er macht seine Zuhörer schöp­ ferisch. Das müssen wir herausbekommen.

DIE NEUE BLUSE

B. Wir müssen im letzten Bild für unsere Hauptfiguren gute Endphasen ihrer Entwicklung finden, und wir haben dafür nur jeweils wenige Sätze oder nicht einmal solche, denn alles muß in starkem Tempo und sehr lakonisch ge­ schehen. Und wir dürfen nicht alte Happy-end-Schablonen benutzen! Nehmen wir die Kleinschmidtin, meine Lieblingsfigur. Sie soll von der Straßenarbeit kommen und sich in der Bauhütte für das Fest umkleiden. Dazu geben wir ihr eine neue Bluse, die Elli ihr aus der Stadt mitgebracht hat. Es muß eine kleine Gruppe geben, die die neue 316

Bluse tmd die Kleinschmidt™ in ihr bewundert. (Viel­ leicht rümpft auch jemand die Nase, jemand, der gegen das städtische Zeug ist?) Nun ist die neue Bluse für die Kleinschmidtin etwas anderes, als eine neue Bluse für jemand anderen. Was? Solcher Art sind unsere Pro­ bleme.

[UNGELÖSTE PROBLEME]

Es wurde hin und her probiert, wie Elli und Hermann sich umarmen sollten. Zuerst schickte die Regie das Mäd­ chen in die Bauhütte zum Umkleiden und ließ sie eben zur Umarmung wieder herauskommen. Das schmeckte nach Operette, und Elli blieb auf der Bühne. Es wurde bestimmt, daß sie erst noch mit Weidling abzurechnen hatte, über die Werkzeuge oder die Arbeitsstunden, be­ vor sie zu Hermann kommen konnte. Wenn ihn dann der Ziehvater enterbte, sollte sie Weidling die Liste noch unerledigt übergeben und Hermann an den Hals fallen. Bis dies und einiges andere arrangiert war, wurde viel erfunden und verworfen, und jemand fragte B., ob es nicht besser ist, wenn die Regie ihre Lösungen mit­ bringt. B. Nein. Das führt dazu, daß man Falsches vertuscht, bis man die Lösung hat, Fragen vermeidet, bis man die Ant­ wort hat. Worauf gemeinhin das Falsche bleibt, wenn die Lösung ausbleibt. Man muß in aller Öffentlichkeit das ungelöste Problem hinstellen und das Falsche verwerfen, auch wenn das Richtige nicht gewußt wird.

[UNTERBRECHUNGEN]

BE. Warum hörst du immerfort auf mit der Arbeit an Szenen, die noch nicht fertig sind? B. Wenn man dicke Bretter bohrt, muß man zusehen, daß der Bohrer nicht heiß wird. In der Kunst muß man auch

das Schwierige so tun, daß es leicht wird. Nur nicht mit dem Kopf durch die Leinwand! Ich muß auch die Szenen gleichmäßig kochen, keine fertiger als die andere. Sonst verliere ich den Einfluß der einen auf die andere.

[ZWECK DES PROBIERENS]

Aus der Szene, in der Hermann, der Ziehsohn des Groß­ bauern, den Katzgrabenern erzählt, wie er sich aufge­ lehnt hat und zu ihnen übergegangen ist, war etwas ande­ res geworden, als die Menge seiner Zuhörer, ihn nicht be­ sonders beachtend und beglückwünschend, ihren Beschäf­ tigungen nachging. Man sah nun, wie schwierig es ist, in ein Kollektiv hineinzukommen - selbst nach einer kuraschierten Tat. Es fehlte jedoch noch ein entscheidender Punkt, der Vorgang wirkte nicht echt. Die Dörfler, die den jungen Mann stehenließen, gingen an ihm kalt vor­ bei, ihn kaum ansehend. Es entstand der Eindruck einer Regieidee, das heißt die Szene „fiel heraus“. B. Jetzt ist alles falsch. Der junge Mann spricht ins Leere! Aber die Menge ist keine Leere; wir beleidigen die Menge. Wenn ihr an ihm vorübergeht, hört ihm zu. Nur bleibt nicht stehen bei ihm, das ist alles. Ihr habt ande­ res zu tun, und ihr habt ohne seine Erklärung begriffen, daß er begriffen hat. Angelika (Hurwicz, die Darstellerin der Bäuerin Kleinschmidt), lächeln Sie ihm freundlich zu, beim Vorübergehen, zum Eisessen . . . Fiegler (Darsteller des jungen Bergmanns), geben Sie ihm einen freund­ schaftlichen Rippenstoß und gehen Sie schnell weiter . .. Der Vorgang wurde natürlich. Die Szene, geändert, hatte eine weitere Veränderung gebraucht. Derlei ist der eigent­ liche Zweck des Probierens.

3i8

DAS SCHLUSSBILD IST SCHWIERIG

Das Schlußbild machte ungewöhnliche Schwierigkeiten. Sowohl nach den Voraufführungen als nach der Urauf­ führung wurde darum ständig weitergeprobt. Nach und nach fielen alle privaten Stellen des Textes, dann fiel die Traktorbeschauung und die halbe Rede Steinerts. Auch die Tänze wurden gestrichen. Jedoch widerstand B. allen Ratschlägen, die Verhöhnung des Großbauern zu strei­ chen und mit dem Traum am Traktor zu schließen. Er bestand auf dem kämpferischen Schluß. Auch das Bühnenbild wurde mehrmals geändert. Am Ende ließ B. alles Rot auf der Bühne entfernen, um den großen seidenen roten Fahnen, die dem Traktor voraus­ getragen wurden, die volle Wirkung zu überlassen.

Endproben und Aufführung

[DIE BÜHNENSPRACHE]

Immer wieder beschweren sich Zuschauer der Proben, daß die Schauspieler schwer verständlich seien. B. sam­ melt die Schauspieler um einen Tisch vor dem Regie­ stuhl und geht die Szene auf Deutlichkeit hin durch. B. Das Thema ist neu und die Sprache, dazu in Versen, benutzt Bilder aus einem unbekannten Milieu. Aber die Hauptursachen der Unverständlichkeit sind andere. Die Bühnensprache ist berechnet für ein Publikum der „besse­ ren Schichten“. (Sie ist auch nahezu frei von Dialekt, der den niederen Schichten zugewiesen wird.) Sie klingt im Mund von Bauern und Arbeitern zu fein. Der Naturalis­ mus aber, der im Dialekt sprechen ließ, hat keinen Un­ terricht im Sprechen in unseren Schauspielschulen ent­ wickelt, aus dem man eine Bühnensprache entwickeln könnte, die, gereinigt, der Sprache der breitesten Bevöl­ kerung entsprechen würde. Ein noch wichtigerer Grund für die Unverständlichkeit ist freilich, daß den Schauspie­ lern, was sie sprechen, noch so fremd ist.

[VOM PROBENHAUS ZUR BÜHNE]

Zwischen den Bildern und während des Spiels wurden die Kostüme angeprobt, die Palm nach den Figurinen v. Appens hergestellt hatte. Die Figurinen gingen auf genaueste Vorlagen zurück. Die Vorlagen wurden von v. Appen und Strittmatter in der Lausitz angefertigt. Strittmatter wurde jedes Kostüm vorgeführt und Ände­ rungen wurden von ihm, Palm, v. Appen und Brecht be­ sprochen. 320

Die Akte wurden dabei sorgfältig geprobt. Auch Palm gab Ratschläge, die Spielweise betreffend. PA. Besonders bei den jungen Leuten-nehmen Sie die vor­ zügliche Lutz aus - zeigt sich, wie schwer der Schritt vom Probenhaus zur Bühne fällt. Es ist alles wahr, was sie sa­ gen, aber sie sagen es leise. Wenn sie es laut sagen, ist es nicht mehr wahr, denken sie. Sie müssen es laut sagen. B. Mich besorgt noch mehr die Bemühung der erfahre­ nen Schauspieler in dieser Probenphase, alles „in Fluß“ zu bringen, in welchem Fluß alles untersinkt. Was für das Publikum neu sein soll, ist jetzt für sie nach so vielen Proben alt, die Hauptsachen werden unter Nebensachen versteckt, damit sie „nicht herausfallen“, die Handlungen werden „innerlich“, das heißt, sie kriechen in die Schau­ spieler zurück und verschwinden also und so weiter und so weiter. Der Kleinbauer hat unter den Augen des dro­ henden Großbauernsohns seine Ideen preiszugeben, jetzt hat er diesen vergessen und gibt sie ohnedies preis. Der Mittelbauer hat verlegen zu sein, wenn seine Frau das Techtelmechtel mit der Magd aufdeckt, und dann auf sie zornig zu werden, jetzt wird er gleich zornig und so wei­ ter und so weiter. HW. Was ist mit den Pointen und Aktschlüssen? Das ist eine Komödie. B. Das ist das einfachste. Wir werden es am Schluß ma­ chen.

DIE KOMÖDIE

B. Wir haben jetzt alle Konflikte verschärft, alle Krisen vertieft; ich habe zuweilen den Ausdruck „bis zum Tra­ gischen“ verwendet und immerfort auf den Ernst der oder jener Lage oder Frage hingewiesen. Jetzt heißt es, alles in Komödie umzusetzen, die Schärfe mit der Leich­ tigkeit zu vereinen, zu amüsieren! GN. Also rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln! B. Ja. 21

Über Theater

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IST KATZGRABEN ZU FINSTER?

Als wir Kostüme und Dekorationen sahen und als das Spiel, wie beabsichtigt, die Konflikte und Krisen voll zur Darstellung brachte, gab es ein Gespräch. X. Ist Katzgraben nicht zu finster? B. Natürlich. Das ist der Sinn des Stücks. Darum muß es geändert werden, weil es zu finster ist. X. Sie wissen, daß ich etwas anderes ijieinte. B. Ja, Sie meinten, ob das alles für eine Komödie nicht zu finster ist. Nein. Die Komödie braucht nicht alles hei­ ter zu machen; nur das Heitere. Was „Katzgraben“ an­ geht, haben wir den Optimismus des Stückeschreibers und der Anderer in seinem Stück. Da ist kein Grund zur Schönfärberei. X. Aber das Publikum! B. O, man kann das Lachen des Publikums, wie jeder Praktiker weiß, zum Verstummen bringen, wenn man zu­ viel auf der Bühne lacht. Es gibt einen Routineoptimis­ mus, der im Zuschauerraum Pessimismus erzeugt. Nur der Optimismus ist gültig und wirksam, der aus den Vor­ gängen, den Charakteren und der Einstellung des Stücks im Ganzen hervorgeht. X. Geben Sie ein Beispiel! B. Haben Sie bemerkt, daß das Publikum, das im Gast­ hofbild über die Bier verlangenden Frauen in der ersten Vorstellung lachte, in der zweiten nicht mehr lachte? Grund: die Frauen lachen nicht mehr über das Entsetzen der Männer - wie angelegt -, sondern nur noch so, ver­ mutlich aus Vergnügtheit. Und sofort ist nichts mehr ko­ misch und niemand mehr lustig.

DIE DEKORATION

A. Wie gefällt Ihnen die Dekoration? B. Gut. Wir können so viel von dem wirklichen Katz­ graben, jenem so unbekannten Ort, zeigen als wir wollen 322

und haben doch eine künstlerische Dekoration mit der unverwechselbaren Handschrift eines Künstlers. Sie be­ hält den Charakter des Neugesehenen während der gan­ zen Szene. A. Darf ich Ihnen gestehen, daß ich nicht ganz glücklich bin. Ich spreche jetzt nicht von dieser'Dekoration, son­ dern von allen Dekorationen, die es auf unsern Theatern gibt, dem ganzen Haufen von Prospekten (oder einem Ersatz für sie), Verhängungen der seitlichen Auftritte, Nachbildungen von Häusern und Gärten, ausgeführt oder in Andeutungen, dazu dem Rahmen zur Seite und oben, der die Beleuchtungsapparate verstecken soll. Fort­ gesetzt muß Anderes geboten werden, das dann als „Neues“ auftritt, und dabei ist alles zusammen irgendwie auf dem Aussterbeetat, jede neue Lösung verlängert nur das qualvolle Abenteuer, indem sie stets als das letzte erscheint. B. Was stellen Sie sich vor? A. Ich kann nichts anbieten, außer einem gewissen Über­ druß, von dem ich allerdings glaube, daß er produktiv sein könnte. Eines ist für mich sicher: das Theater wird vom Schauspieler gemacht. B. Das sagen Sie, der Bühnenbildner? Ich stimme Ihnen übrigens zu. A. Sie, der Stückeschreiber! Ihr erlauchter Kollege Shake­ speare hatte diese Sorgen nicht mit dem Bühnenbild, wenn auch damals für jedes Stück gewisse Erfindungen gemacht werden mußten (oder konnten). Und Moliere hatte ebenfalls seine Grundlösung. Und die Chinesen spielten jahrhundertelang vor einem Teppich! Es ist, als ob die Schwierigkeiten und die Veräußerlichung mit dem Auftauchen der großen Maschinerie angefangen hätten. B. Sind Sie ein Maschinenstürmer? A. Wenn sie dafür eingesetzt werden, immer vollere Il­ lusionen äußerer Art zu erzeugen, und das werden sie. B. Ich kann viel davon nachfühlen, aber das Wort „äußerlich“, in tadelndem Ton gesagt und dem Theater gegenüber angewendet, mißfällt mir ein wenig. Und die 323

Menge liebt anscheinend diese großen Illusionen, ein gan­ zes Kriegsschiff auf der Bühne, das noch dazu abfährt, ein echtes Kirchendach, auf dem sie Kämpfe abwickeln, ein blühender Obstgarten und so weiter und so weiter. Wird man uns übrigens nicht die „Schlichtheit“ unserer Land­ schaft im dritten Akt vorwerfen? A. Das kann man nicht. Das ist nicht eine gewollte Be­ schränkung malerischer Mittel - die übrigens auch für bestimmte Aufführungen erlaubt ist sondern das ist der Versuch, die Kargheit der preußischen Landschaft wiederzugeben. B. Man wird sagen, man sei doch nicht ganz in dieser Landschaft, wenn man auf die Bühne blickt. A. Nein, man ist im Theater und erblickt die künstle­ rische Gestaltung einer Landschaft. Es ist genug, damit die Phantasie angeregt wird; geben wir mehr, lähmen wir die Phantasie des Publikums. B. Ja. A. Aber ich spreche überhaupt nicht gegen die Vergnü­ gungen des Publikums an Illusionen aller Art, schon weil ich nicht gegen sogenannte und damit beleidigte Vergnügungen „grobsinnlicher Art“ bin. Ich kann mir nur auch, daneben, eine andere Art Theater vorstellen, wenn auch höchst ungenau.

KRITIK DER DEKORATIONEN

B. fand nicht, daß die Bühnenbilder den Eindruck von künstlerisch behandelten Fotos machten; die rechte Art wäre wohl gewesen, mit enormen Vergrößerungen echter Fotos zu arbeiten, so daß Korn entstanden wäre und die schönen, milden Kontraste der Daguerreotypen. Der Rah­ men war nun nicht mehr ganz gerechtfertigt. Jedoch sahen die Bilder, so schlecht sie von den Werk­ stätten ausgeführt waren, schön aus. Nur war B. ganz und gar nicht mit der Materialbehandlung zufrieden. Er legte großen Wert auf die charakteristischen Schönheiten 324

der Hölzer, der Leinwand, der Metalle und so weiter. Und er verlangte den Zusammenklang der Materiale. Sie müssen stimmen, das ergibt dann die spezielle Stimmung einer Bühnendekoration, sagte er. B. Da will ich keine Verstellung dulden. „Ich bin das Holz“, sagt die Leinwand. „Ich bin das Eisen“, sagt das Holz. Und das Holz hat nicht die Schönheit des Eisens und die Leinwand nicht die Schönheit des Holzes. P. Und die Prospekte? B. Oh, das sollen Täuschungen sein - freilich bei uns täuschen sie leider niemanden aber ich will trotzdem die Schönheit der Leinwand sehen. P. Sie können schließlich nicht alles haben. B. Warum nicht? Aber trotz dieser und anderer Einwände und auch einge­ denk, daß v. Appen Schwierigkeiten mit den Werkstätten hatte, lobte er die Dekorationen. Hatte er die Fehler gefunden und erwähnt, hielt er sich ohne Wankelmut an die Vorzüge.

PATHOS

B. Viele Schauspieler haben die Gewohnheit, aus leiden­ schaftlich bewegten Passagen, besonders aus sogenannten Ausbrüchen das innewohnende Pathos herauszuziehen und es mehr oder minder gleichmäßig über die ganze Pas­ sage zu verteilen. Die einzelnen Sätze sind dann nur noch Teile eines Vehikels, das eben das Pathos tragen muß. Der Großteil des Sinns geht so verloren, das Ganze ist eine reine Arie und wird nicht einmal mehr in Charakter gesprochen. Richtig dagegen ist es, alles mit Sinn, in Cha­ rakter, und die Fabel weiterspinnend, zu bringen, und, unbekümmert um das Pathetische, das Pathetische ent­ stehen zu lassen, wo es nach Sinn, Charakter und Fabel entsteht.

325

[DAS TEMPO]

Vor den Schlußproben wurden die einzelnen Figuren des Stücks noch einmal sorgfältig durch das ganze Stück hindurch verfolgt, ob sie sich logisch und ohne Lücken entwickelten, und dasselbe geschah mit den Situationen, der Fabel. Erst dann begann die Regie, die Tempi zu setzen, Fluß in das Ganze zu bringen und Steigerung und Gefälle in Ordnung zu bringen. B. Nun eine Warnung. Wenn wir jetzt Schwung in die Aufführung zu bringen versuchen, dürfen wir nichts wei­ ter tun, als den Schwung der Situationen und Figuren herauszuarbeiten, und keineswegs dürfen wir einen äußer­ lichen, theatralischen Schwung ins Werk setzen, ein Tempo, das nur aus theatralischen Gründen wünschbar erscheint, eine Temperamentisierung, die nur der Wir­ kung auf das Publikum wegen unternommen wird.

[KRISE DER ALTEN TECHNIK]

Die erste Generalprobe dauerte von halb zwölf bis halb fünf. Am Abend wurde von acht bis halb zwölf das letzte Bild nachprobiert. Die Regie drängte auf Verschärfungen und Tempo. Schleppende Partien wurden wiederholt. Die am Vortag gemachten Aufnahmen Berlaus ergaben aller­ hand Unklarheiten des Arrangements, besonders im letz­ ten Bild (sowie Fehler der Beleuchtung). Palm arbeitete mit seinem Stab weiter an der Farbigkeit der Kostüme des letzten Bildes, fügte Jacken in hellerer Farbe ein und so weiter, v. Appen hatte die Nacht über selbst die schlecht gemalten Prospekte verbessert, wegen derer B. den Vorsteher der Malerabteilung vor dem ganzen En­ semble und der Technik heftig gerügt hatte. . . Auch der verschlampte Beleuchtungsapparat des Deutschen Thea­ ters mit seinen unwissenschaftlich angeordneten Beleuch­ tungskörpern, die gleichmäßiges sanftes Licht nicht er­ möglichten, kam wieder unter B.’s scharfe Kritik. 326

B. Keine Gnade der schlechten Arbeit! Jede Einstudie­ rung bringt die alte Technik in die Krise. Jetzt, wo wir Prospekte brauchen, um die Dekorationen für die Gast­ reisen leichter transportierbar zu machen, kommt der Verfair der alten Prospektmalerei auf. Aber dieser Verfall hatte, weniger sichtbar, auch alle bisherigen Dekorationen geschädigt! Mit den zufällig angeordneten Beleuchtungs­ körpern konnte man gelegentlich allerhand Effekte und Stimmungen „herauskitzeln“, aber helles, sanftes Licht über alles kann man nicht bekommen. Es fehlt jedes Sy­ stem: es ist alles ein Gepfusche, das unter der Fahne „Die Kunst des Beleuchters“ segelt. . .

[EINGRIFFE UND ÄNDERUNGEN EN SPÄTEM PROBENSTADIUM]

Nach Ansicht der Regie zeigten die beiden ersten Akte, trotz Verschleppungen und schwachen Szenenschlüssen, die Hauptvorzüge des Stücks und trugen kräftig die Fa­ bel vor. Das erste Bild des dritten Akts war durch das vorzügliche Spiel der jungen Schauspieler noch gelungen, die beiden letzten Bilder jedoch fielen völlig ab. Dem Gasthofbild fehlte völlig die Steigerung. Der Klassen-’ kampf im Dorf - in der Grundwasserfrage ernst ausge­ kämpft, in der kleinen Emanzipation der drei Bauern­ frauen in der Bierfrage und in Ellis Liebesproblem hei­ ter - war ganz lahm und das letzte Bild ein Chaos. Die Abendprobe, drei Stunden im Probenhaus, säuberte und rhythmisierte das letzte Drittel von I, i, die Steinertszene in 1,3, die Steinertszene in II, 1, das ganze zweite Bild des dritten Akts und das ganze dritte Bild. B. war guten Muts und duldete keine Lähmungserschei­ nungen. Die allgemeine Ermüdung verwendete er dazu, Schwung zu erzeugen. Besonders befaßte er sich noch ein­ mal mit der Darstellung Steinerts. Während er zum erstenmal das theatralische Temperament des Darstel­ lers „mobilisierte“, drang er, im Gegensatz dazu, auf 327

größere Natürlichkeit und Einfachheit. Die Figur ver­ wandelte sich in zwei Stunden völlig. B. Wenn alles gut gearbeitet ist, kann man unglaubliche Eingriffe vornehmen und tiefe Änderungen erreichen. Die Probe diente dem „Zusammenreißen“ des Aktes, das heißt, sämtliche Szenen wurden unter eine einzige Per­ spektive gebracht, in einen Gesamtrhythmus. Im zwei­ ten Bild (Gasthof) war es der offene Ausbruch des Klas­ senkampfs im Dorf Katzgraben. Die konterrevolutionäre Aktion des Großbauern spaltet die Kleinbauern und bringt den Bau der Straße nahezu zum Stillstand. Zu­ gleich bildet sich, in den Frauenszenen, die Gegenaktion. Der geschlagene Steinert formiert, unterstützt von den fortschrittlichsten Kleinbauern, aufs neue seine Kampf­ kräfte. Praktisch gesehen wurden die beiden Szenen, in denen Großbauer und Parteisekretär sich miteinander auseinandersetzen, stark verschärft und zu Pfeilern des ganzen Bildes gemacht; die andern Szenen wurden als von diesen Pfeilerszenen beeinflußt dargestellt.

[DAS MINIMUM]

B. beobachtete während der Durchsprechproben bei Dia­ logen gern den eben nicht Sprechenden. So konnte er sehen, wie dieser reagierte. Selbst bei einer Durchsprech­ probe, wo nur markiert wurde und hauptsächlich nur die Lücken zwischen den Repliken ausgemerzt werden soll­ ten, spielten die guten Schauspieler, wenn auch ganz re­ duziert auf das Minimum, die Reaktionen auf die Re­ pliken der andern. B. interessierte kaum etwas so sehr wie das „Minimum“.

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ÜBER DIE SZENENSCHLÜSSE

B. übte Kritik an der Art, wie die Bildschlüsse von den Schauspielern gespielt wurden. Aber auch an seiner Re­ gie kritisierte er das: Er habe zu wenig achtgegeben ge­ habt auf die Wirkung der Schlüsse. B. Unsere Bildschlüsse sind alle zu vorsichtig, zu fein. Die Schauspieler wollen sie nicht „auf Applaus“ spre­ chen. Aber diese Vornehmheit lohnt nicht! Wir müssen auf dem Theater den Vorhang spielen. Im Film geht die Geschichte ständig weiter, aber auf der Bühne ist das Technikum „Vorhang“ da, und wir müssen es akzeptie­ ren. Wir haben unrecht, wenn wir es verleugnen. GN. Heißt das: wir müssen den Vorhang mit den letz­ ten Sätzen herunterholen? B. Genau das. Der Zuschauer muß das Gefühl haben: Alles ist gesagt, mehr ist da nicht zu sagen. GN. Sie meinen aber doch nicht, daß man die Bildschlüsse „gehoben“ sprechen, deklamieren soll? B. Nein. Natürlich bedeutet das nicht, daß die Schauspie­ ler deklamatorisch werden. Das wäre grauenvoll. Das Deklamieren geht ja heute wie eine Schmutzwelle über alle unsere Bühnen. Aber machen Sie nicht aus Opposi­ tion dagegen etwas anderes, ebenso Schlechtes: „unter­ spielen“. GN. Bisher haben wir die Bildschlüsse eher unterspielt, scheint mir. B. Hm. Zumindest neigten Sie mehr dahin als zum Ge­ genteil. Wir müssen aber in den Bildschlüssen echtes Pa­ thos bekommen. Vergessen wir auch nicht, daß wir ein Versstück spielen. GN. Wie ist es mit dem Beginn der Szenen? Ähnlich? B. Ähnlich. Die ersten Sätze eines Bildes muß man na­ türlich in besonderer Art sprechen. Nehmen wir den er­ sten Satz des ersten Bildes: Ich bin dafür, daß wir die neue Straße bauen.

Den müssen Sie absetzen wie einen Titel, Gnass.

329

EIN BRIEF

Während der letzten Proben richtete ein Experte einen Brief an das Theater, in dem er dem Stückeschreiber Un­ kenntnis und Simplifizierung der Vorgänge auf dem Dorf vorwarf. B. Die Abbildungen der Wirklichkeit müssen in der Kunst, anders als in den Wissenschaften, Bildcharakter haben. Der Kleinbauer mag vom Großbauern in viel mehr Beziehungen abhängen als nur für seine Gäule zum Pflügen, zum Beispiel für die Zuteilung von Phos­ phaten, für Vorteile im Anbauplan und so weiter und so weiter, wie es der Brief ausführt. Wichtig dabei ist die Abhängigkeit, und die Gäule, die im nächsten Jahr durch einen Ochsen ersetzt werden können, ergeben ein Bild. R. Nach Ansicht des Experten fallen die Voraussetzungen des ganzen Stücks. Die Grube muß sowohl die ruinierte Straße zur Stadt als auch den Grundwasserschwund be­ zahlen. ST. Die Grube hatte 1947 kein Geld dafür. Es war un­ säglich schwierig, das Bergwerk wieder in Betrieb zu bringen. B. Die Selbsthilfe des Dorfs ist jedenfalls revolutionärer als die „Beschreibung des Prozeßweges“. R. Der Experte hält den Kampf um eine Straße nicht für die beste Art, die Entwicklung des Klassenkampfs auf dem Dorf zu zeigen. B. Das ist Unsinn, der Experte soll seine Finger von derlei lassen; auf diesem Gebiet ist er kein Experte mehr. Das ist wieder ein großes und einfaches Bild des Stückeschreibers für lauter Vorgänge, die der Experte kompliziert auszudrücken sucht, nämlich für den Drang nach der Stadt hin, dem Sitz der Industriearbeiterschaft mit ihrer revolutionären Partei, der Wissenschaft, der Technik. R. Der Experte sagt, die Großbauern würden nicht gegen solch eine Straße zur Stadt sein; sie produzierten mehr Waren und brauchten die Straße also nötiger. 330

ST. Der Großbauer Großmann in Katzgraben ist gegen die Straße. Er hat die Gäule, mit denen er auch die vor­ handene schlechte Straße befahren kann, und es herrscht sich für ihn leichter, abgeschnitten von der Stadt. B. Selbst wenn der Straßenbau ganz exzeptionell wäre, könnte er in einem Stück als Anlaß für die Aufrollung der typischen Situationen gebraucht werden. Es ist falsch, einen tausendfachen, alltäglichen Vorfall, ein übliches Unternehmen zu wählen für das Ingangsetzen der großen dichterischen Auseinandersetzung zwischen den entschei­ denden historischen Kräften. In einer Dichtung könnten diese von einem Marsbewohner ausgelöst werden. B. bat jedoch Strittmatter, den Brief des Experten mög­ lichst sorgfältig nach Brauchbarem zu durchsuchen, und Strittmatter fügte dem Stück vier Verse ein. Er ließ den jungen Grubenarbeiter äußern: ^Die Grube hat kein Geld

und Großmann (in III, 2): Wir haben recht, wir werden es uns holen.

Worauf Steinert ihm antwortet: Ja, lauf! nach Tannwalde! Vielleicht kriegt ihr recht, nur Wasser habt ihr dann noch immer nicht!

Der theaterfremde Brief des Experten hatte so immerhin zu etwas verholfen.

BAUERN ALS PUBLIKUM

B. Die Bauern, die wir in der Vorstellung hatten und mit denen wir diskutierten, sind natürlich nicht Bauern, wie sie noch vor fünf Jahren waren. Sie sind Aktivisten auf ihrem Gebiet, und daß sie wenig im Theater waren, merkt man nur daran, daß sie nicht ins Theater kommen wie ins Dampfbad, das heißt um einen ganz bestimmten 331

Genuß zu holen. Das Schlimmste sind die Zuschauer­ routiniers, die - durch was ist ihnen nicht so wichtig - er­ griffen, gepackt, gespannt und so weiter werden wollen und darauf bestehen, daß es in der gewohnten Weise ge­ schieht. Da ist es für das Theater noch besser, wenn der Zuschauer aus Mangel an Vergleichsmöglichkeiten das Besondere gewisser Leistungen übersieht. (Übrigens er­ kannten die Bauern der Voraufführung sehr wohl, daß die Weigel eine große Schauspielerin ist - in einer winzi­ gen Rolle!) Sie sagten nicht: „Die Schauspielerin hat uns ergriffen oder interessiert.“ Sie sagten: „Die Großbäuerin war prima.“ Sie kannten nicht Theater, aber Großbauern, und so verstanden sie sofort auch Theater. Nun zu jenen, die Theater kennen. Sie haben gelernt, bestimmte Wirkun­ gen von der Bühne zu empfangen, sie ziehen Vergleichs­ möglichkeiten aus bestimmten Erfahrungen, die sie ge­ habt haben, und sie kennen vielleicht auch einige Regeln, wie bestimmte Wirkungen hervorgebracht werden kön­ nen. Unsere Theater und unsere Stückeschreiber sind ihnen gegenüber in gewisser Weise in einer schwierigen Position. Theater und Stückeschreiber drücken sich aus, das Publikum gewinnt Eindrücke. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Theater und Stückeschreiber können nur die Eindrücke vermitteln, die das Publikum ihnen bei sich gestattet. Die Alltagsvorstellung, daß die Künste jeder­ mann jederzeit beeindrucken kann (oder können muß), ist nicht richtig. Sie kann zum Beispiel die Klassen nicht einen, jedenfalls nicht zu gleichem Vorteil. (Andere Bei­ spiele: eine Fuge von Bach beeindruckt nicht alle Hörer gleich tief oder in der gleichen Weise; ein Mensch, der eben eine schlechte Nachricht empfangen hat, gestattet es einer Radierung von Rembrandt nicht so leicht, ihn zu erfreuen, wie ein anderer.) Die Stücke und Aufführun­ gen in unserer Zeit haben außerdem noch eine neue Auf­ gabe, eine Aufgabe, die bei Stücken und Aufführungen der Vergangenheit fehlen darf, ohne daß das Kunsterleb­ nis geschädigt wird. Es ist die Aufgabe, das Zusammen­ 332

leben der Menschen so zu zeigen, daß es verändert wer­ den kann, verändert in einer ganz bestimmten Weise. Diese Aufgabe kann sehr wohl zunächst das Kunsterleb­ nis verändern müssen. Die klassischen Stücke enthalten Lehrreiches. Durch anderthalb Jahrhunderte aufgeführt, hat sich ihre Lehrkraft auf dem Theater etwas abge­ schwächt, teils, weil die Lehren immer bekannter wur­ den, teils, weil sie verfälscht wurden. Das heutige Publi­ kum muß und kann in seinem Kunsterlebnis der Lehre der neuen Stücke und Aufführungen wieder einen größe­ ren Platz einräumen. Von dem Neuen, also Fremden, das nunmehr abgebildet wird, fließt etwas Neues, also Frem­ des in das Kunsterlebnis ein. Die Bereitschaft für dieses Neue, also Fremde, muß vorhanden sein. Wir dürfen von den neuen Stücken, die entstehen, nicht das gleiche Kunst­ erlebnis erwarten, wie wir es von den alten gewöhnt sind. Nicht, daß wir sie hinnehmen müssen, wie sie nun eben kommen. Wir sind berechtigt, sie an den alten Stücken zu messen; wir brauchen uns nicht einreden zu lassen, daß wir auf bekannte und von uns gewünschte Wirkungen verzichten müssen. Aber wir dürfen auch nicht ein bestimmtes Schema F aufstellen und ihm zugleich neue Aufgaben auf bürden. Wir müssen die neuen Werke kritisieren nach den Aufgaben, die sie haben, den alten, unverändert gebliebenen und den neuen!

NEUER INHALT - NEUE FORM

P. Wird das Publikum sich nicht erst in der neuen Form zurechtfinden müssen, in der „Katzgraben“ gestaltet ist? B. Ich denke, die neue Form wird dem Publikum helfen, sich in „Katzgraben“ zurechtzufinden. Das Fremdeste an diesem Stück ist der Stoff und die marxistische Be­ trachtungsweise. P. Sie meinen, alles, was ungewohnt am Stück ist, erklärt sich daraus? B. In der Hauptsache. 333

P. Sie meinen nicht, daß die Art, wie Strittmatter seine Fabel gestaltet, dadurch bestimmt ist, daß er ein Roman­ schreiber ist? B. Nein. Die meisten der ungewohnteren Kunstmittel, die er in diesem Theaterstück verwendet, wären auch im Roman ungewöhnlich. Nehmen wir die Einteilung nach Jahren. Nicht, daß es gerade Jahre sind, das ergibt sich daraus, daß auf dem Land ein Jahr mit seinen Ernten ein ergiebiges Zeitmaß darstellt. Sondern überhaupt die­ ses ständige Wiederkehren nach Katzgraben in Abstän­ den, das an Rückerts Cidher, den ewigen Wanderer, er­ innert, der, nach gewisser Zeit immer wiederkehrend, immer Neues vorfindet. P. Sie meinen, das Publikum findet in der Wirtschaft des Neubauern plötzlich einen Ochsen vor, dann einen Trak­ tor? B. Nicht nur, natürlich. P. Schön, zunächst einen mächtigen Großbauern, dann einen weniger mächtigen? B. Nicht nur, es findet einen anderen Kleinschmidt, eine andere Bäuerin Kleinschmidt vor, einen andern Partei­ sekretär Steinert und so weiter. Andere Menschen. P. Nicht ganz andere. B. Richtig. Nicht ganz andere. Bestimmte Züge haben sich bei ihnen entwickelt, andere sind verkümmert. Aber wir vergessen jetzt, daß wir nicht so sehr geänderte Men­ schen sehen, sich ändernde. Der Stückeschreiber wählt immer die Zeitpunkte, wo die Entwicklung besonders mächtig vor sich geht. Behalten wir Kleinschmidt als Bei­ spiel: Wir treffen ihn, wenn er seine Abhängigkeit vom Großbauern besonders schmerzlich zu fühlen bekommt und wenn er durch den Anbauplan sich geradezu ge­ zwungen sieht, alle seine schöpferischen Kräfte anzustren­ gen. Und wir treffen ihn in einer Krise seelischer Art: Sein Selbstbewußtsein ist bereits so entwickelt durch die neuen Verhältnisse auf dem Lande, daß es ihn besonders hart trifft, wenn er sich dem Großbauern in demütigender Art beugen muß. Auch im nächsten Jahr (zweiter Akt) 'tref334

fen wir ihn in einer Situation, die sozusagen einen Sprung in seiner Entwicklung herbeiführt. P. Könnten solche Situationen nicht auch dichter hinter­ einander, zeitlich kontinuierlicher gewählt sein, so daß die Zeitsprünge, die wir nicht gewohnt sind auf dem Theater, vermieden wären? B. Ich halte nicht so viel von der Bewahrung alter Ge­ wohnheiten in Zeiten, wo so viele neue geschaffen wer­ den. Strittmatter braucht einfach die Zeitsprünge, weil die Entwicklung des Bewußtseins seiner Menschen von der Entwicklung ihres gesellschaftlichen Seins abhängt, und diese Entwicklung nicht so schnell vor sich geht. P. Sehr interessant ist da, was einige Bauern nach einer Aufführung sagten. Sie fanden den Blick über Jahre hin sehr nützlich. „Wir haben alles das miterlebt, aber wenn wir es jetzt so dargestellt sehen, im Überblick, über eine längere Zeit hin, sehen wir erst, was da alles geschehen ist. Von Tag zu Tag erlebt man alles auch, aber nicht so heftig.“ B. Sie erlebten sozusagen den großen Schwung der Er­ eignisse und Taten mit, und das verleiht wiederum den großen Schwung für die Zukunft. - Kurz, diese CidherTechnik hat gerade für dieses Stück große Vorteile, so ungewohnt sie zunächst erscheint, und andere Kunstmit­ tel wendet Strittmatter aus anderen Gründen an. Es geht ihm da wie seinem Neubauern, den ein gesellschaftlich nötiger, fortschrittlicher Plan auf neue Wege zwingt, zu neuen Techniken. P. Als da sind? B. Da ist die Charakterisierung der Menschen, die Züge sammelt, welche gerade historisch bedeutsam sind, und die Auswahl von Menschen, die für den Klassenkampf bedeutsam sind. Da ist eine Fabel, die es gestattet, daß der Held (Kleinschmidt) im letzten Akt durch einen an­ deren Helden abgelöst wird (Steinert). Da sind den Handlungen andere Triebkräfte unterlegt als in früheren Stücken. P. Viele vermissen auf dem neuen Theater die großen Leidenschaften. 335

B. Sie wissen nicht, daß sie nur die Leidenschaften ver­ missen, die sie auf dem alten Theater vorfanden und vorfinden. Auf dem neuen Theater finden sie oder würden sie finden neue Leidenschaften (neben alten), die sich in­ zwischen entwickelt haben oder eben entwickeln. Selbst wenn sie diese neuen Leidenschaften selber spüren, spü­ ren sie sie noch nicht, wenn sie auf der Bühne erscheinen, da auch die Ausdrucksformen sich geändert haben und sich fortdauernd ändern. Jeder vermag noch immer die Eifersucht, die Machtgier, den Geiz als Leidenschaft zu erkennen. Aber die Leidenschaft, dem Ackerboden mehr Früchte zu entreißen, oder die Leidenschaft, die Men­ schen zu tätigen Kollektiven zusammenzuschweißen, Lei­ denschaften, die den Neubauern Kleinschmidt und den Grubenarbeiter Steinert erfüllen, werden heute noch schwerer gespürt und geteilt. Diese neuen Leidenschaften bringen überdies ihre Träger in völlig andere Beziehung zu ihren Mitmenschen, wie es die alten taten. So werden die Auseinandersetzungen anders vor sich gehen, als man es auf dem Theater gewohnt ist. Die Form der Auseinan­ dersetzungen zwischen Menschen, und auf diese Ausein­ andersetzungen kommt es im Drama ja an, hat sich sehr geändert. Nach den Regeln der älteren Dramatik würde sich zum Beispiel der Konflikt zwischen dem Neubauern und dem Großbauern sehr verschärfen, wenn der Groß­ bauer etwa eine Scheune des Neubauern in Brand stecken lassen würde. Das würde das Interesse des Publikums vielleicht auch heute noch anpeitschen, aber es wäre nicht typisch. Typisch ist ein Entzug der Leihpferde, welcher ebenso eine Gewalttat darstellt, freilich auch unser Pu­ blikum noch weit weniger erregen mag. Wenn der Neu­ bauer den Großbauern dadurch bekämpft, daß er dem Mittelbauern Saatkartoffeln abläßt, ist auch das eine Kampfaktion neuen Stils; sie mag ebenfalls weniger „wir­ ken“, als wenn er dem Sohn des Mittelbauern seine Toch­ ter zum Weibe gäbe. Der politische Blick unseres Publi­ kums schärft sich nur langsam - vorläufig gewinnen die neuen Stücke weniger von ihm als er von ihnen.

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Der Großbauer greift sich verzweifelt an den Kopf und sagt: Fünf Ochsen für das Dorf, das ist ein Schlag!

Ich lache, wenn ich das höre, aber wer lacht mit? Und wer sieht mit Interesse, daß der Großbauer sogleich die politische Bedeutung der Ochsenzuteilung an die Klein­ bauern erfaßt, während der Kleinbauer, der einen der Ochsen bekommen hat, nur darüber verzweifelt, daß er kein Futter für ihn haben wird. P. Ich habe Zuschauer sagen hören, sie „brächten die Dinge nicht zusammen“, das heißt sie verstehen nicht, wie eins zum andern kommt, warum dies und das erzählt wird, ohne daß es dann weitergeht. Nehmen Sie das zweite Bild des ersten Akts, wo aufkommt, daß der Mit­ telbauer die junge Magd belästigt. Ein Kritiker, und ein intelligenter, ein Mann mit Humor, sagte mir: „Überall werden Gewehre geladen, die dann nicht losgehen.“ B. Ich verstehe. Wir erzeugen Erwartungen, die wir dann nicht befriedigen. Der Zuschauer erwartet nach seinen Erfahrungen mit Theater, daß die Beziehung zwischen dem Bauern und der Magd irgendwie weiter verfolgt würde, aber im nächsten Akt (und Jahr) ist davon über­ haupt nicht mehr die Rede. Daß nicht mehr davon die R.ede ist, finde ich übrigens gerade komisch. P. Sie haben die Komik verstärkt, indem Sie den Bauern zu den Klagen der Bäuerin über die zunehmende Unbot­ mäßigkeit des Gesindes traurig zustimmend den Kopf schütteln lassen. B. Das wird leider nur der komisch finden, der im ersten Akt hauptsächlich daran interessiert war, zu sehen, wie die patriarchalischen Beziehungen sich auflösen und wie die Bäuerin darüber Genugtuung zeigt, weil die FDJ die Magd vor ihrem Mann schützt. Im zweiten Akt erwartet solch ein Zuschauer dann nur, wie dieser Prozeß der Emanzipation weitergeht, und kann lachen, wenn er jetzt Bäuerin und Bauer betrübt und vereint findet, weil die Magd jetzt schon energisch ihre Freizeit verlangt. Eine 22 Über Theater

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solche Blickrichtung des Zuschauers setzt freilich voraus, daß seine Erfahrungen ihn dazu gebracht haben. P. Der Zuschauer ohne solche Erfahrungen empfindet auch die Gegnerschaften in „Katzgraben“ nicht als sehr bühnenwirksam. B. Vermutlich. In unserer Wirklichkeit finden wir schwe­ rer und schwerer Gegner für erbitterte Auseinanderset­ zungen auf der Bühne, deren Gegnerschaft vom Publi­ kum als selbstverständlich, unmittelbar, tödlich empfun­ den wird. Gehen die Kämpfe um den Besitz, werden sie als natürlich und eben interessant empfunden. Shylock und Harpagon besitzen Geld und eine Tochter, da kommt es „natürlich“ zu wundervollen Auseinandersetzungen mit den Gegnern, die ihnen das Geld oder die Tochter oder beides nehmen wollen. Der Kleinbauer Kleinschmidt be­ sitzt seine Tochter nicht. Er kämpft um eine Straße, die er nicht besitzen wird. Eine Menge für die alte Zeit und ihre Stücke typischen Aufregungen, Seelenschwingungen, Auseinandersetzungen, Späße und Erschütterungen fallen aus oder werden zu Nebenwirkungen, und Wirkungen, typisch für die neue Zeit, werden wichtiger. P. Sie sprechen wieder von dem neuen Zuschauen, das ein neues Theater braucht. B. (schuldbewußt) Ja, ich sollte das nicht so oft tun. Wir müssen wirklich mehr uns als den Zuschauern die Schuld geben, wenn geplante Wirkungen sich nicht einstellen. Aber dann muß ich gewisse Neuerungen verteidigen dürfen, die nötig sind, damit wir „das Publikum mitbe­ kommen“. P. Diese Neuerungen dürfen nur nicht auf Kosten des Menschlichen veranstaltet werden. Oder glauben Sie, daß das Publikum auch den Anspruch auf blutvolle, allseitig interessante Menschen von eigenem Wuchs aufgeben muß? B. Das Publikum braucht überhaupt keine Ansprüche aufzugeben. Was ich von ihm erwarte, ist nur, daß es neue Ansprüche dazu anmeldet. Das Publikum Molieres lachte über Harpagon, seinen Geizigen. Der Wucherer 338

und Hamsterer war lächerlich geworden in einer Zeit, in der der große Kaufmann aufkam, Risiken eingehend und Kredite aufnehmend. Unser Publikum könnte über den Geiz des Harpagon besser lachen, wenn es diesen Geiz nicht als Eigenschaft, Absonderlichkeit, „Allzumensch­ liches“ dargestellt sähe, sondern als eine Art Standeskrankheit, als ein Verhalten, das eben erst lächerlich ge­ worden ist, kurz als gesellschaftliches Laster. Wir müssen das Menschliche darstellen können, ohne es als Ewig­ menschliches zu behandeln. P. Sie deuten an, daß besonders einschneidend für die neue Kunst, Stücke zu schreiben, der Hinweis der Klassi­ ker ist, das Bewußtsein der Menschen sei bestimmt durch das gesellschaftliche Sein. B. Das sie schaffen. Ja, das ist eine neue Betrachtungs­ weise, die nicht berücksichtigt ist in der alten Kunst, Stücke zu schreiben. P. Sie betonen aber doch ständig die Notwendigkeit, aus den alten Stücken zu lernen? B. Nicht das von ihrer Technik, das mit einer veralteten Betrachtungsweise verknüpft ist! Zu lernen ist gerade die Kühnheit, mit der die früheren Stückeschreiber das für ihre Zeit Neue gestalteten; die Erfindungen sind zu stu­ dieren, durch die sie die überkommene Technik an neue Aufgaben anpaßte. Man muß vom Alten lernen, Neues zu machen. P. Täusche ich mich, wenn ich annehme, daß bei einigen unserer besten Kritiker Mißtrauen gegenüber neuen For­ men besteht? B. Nein, Sie täuschen sich nicht. Man hat sehr schlechte Erfahrungen gemacht mit Neuerungen - die allerdings keine echten Neuerungen waren. Die bürgerliche Drama­ tik und das bürgerliche Theater hat in seinem unaufhör­ lichen und immer beschleunigteren Niedergang einen immer gleichbleibenden gesellschaftlichen Inhalt reaktio­ närer Art durch einen wilden Modenwechsel in der äuße­ ren Form schmackhaft zu machen versucht. Diese rein for­ malistischen Bestrebungen, Formspielereien ohne Sinn, 339

haben bei unseren besten Kritikern dazu geführt, daß sie das Studium der klassischen Stücke forderten. Und tat­ sächlich kann man von ihnen vieles lernen. Die Erfindung gesellschaftlich bedeutsamer Fabeln; die Kunst, sie dra­ matisch zu erzählen; die Gestaltung interessanter Men­ schen; die Pflege der Sprache; das Angebot großer Ideen und die Parteinahme für das gesellschaftlich Fortschritt­ liche.

WAS MACHEN EIGENTLICH UNSERE SCHAUSPIELER?

P. Ich zweifle, ob die Schauspieler in Ihr Vorhaben wirk­ lich eingeweiht sind, nämlich die Zwecke, die Sie mit der Aufführung im Auge haben. B. Sehen Sie die Zwecke? P. Das veränderte Leben im Dorf als ein Teil des Le­ bens in unserer Republik so darzustellen, daß der Zu­ schauer instand gesetzt wird, an den Veränderungen tätig mitzuwirken. B. Und? P. Und Lust an diesem Tätigsein zu erwecken. B. Ja, das zu sagen ist nötig. Wir müssen durch unsere künstlerischen Abbildungen der Wirklichkeit auf dem Dorf Impulse verleihen, und zwar sozialistische. Wo ge­ ben wir übrigens solche Impulse? P. Gehen wir doch vom letzten Bild aus! Da ist der Traum der jungen Leute vom Aufbau des Sozialismus und die Rede Steinerts gegen Dummheit und Vorurteil. (Lernen und verändern!) Da ist das Bild des wachsenden Wohlstands. B. Sagen wir, der wachsenden Möglichkeiten! Aber wir müssen in allen Bildern Impulse vermitteln, von Anfang an. Sonst kommen die im letzten Bild auch nicht zu­ stande. P. Im ersten Akt, also 1947, sind nur Schwierigkeiten. B. Ja. Das gibt ausgezeichnete Impulse. Da muß der 340

Neubauer Kleinschmidt seine politischen Ideale verleug­ nen, da er abhängig vom Großbauern ist. Der Bergmann und Parteisekretär Steinert sieht sich von den armen Bauern im Stich gelassen und muß sich sagen lassen, er verstehe die Lage auf dem Land nicht. P. Was für Impulse gehen davon aus? B. Wenn jemand Kleinschmidt intelligent betrachtet, kann ihm doch der Wunsch aufsteigen, aus einem Objekt der Politik zum Subjekt der Politik zu werden, das heißt Politik bestimmen zu können, anstatt sich von der Poli­ tik bestimmen zu lassen. Steinerts Niederlage kann je­ manden dazu begeistern, sich selber in solchen Unterneh­ mungen zu versuchen. Die Besten werden durch Probleme angezogen, nicht durch Lösungen. P. Einen Impuls kann auch die Betrachtung der Klein­ bäuerin Kleinschmidt verleihen, ihr Haß gegen den Un­ terdrücker Großmann. B. Das sind einzelne Punkte, könnt ihr gelegentlich noch andere herausarbeiten? Und können wir noch einige Einsichten namhaft machen, die unser Spiel vermitteln soll? P. Es kommt mir fast ein wenig unangenehm vor, einem Kunstwerk gegenüber so zergliedernd vorzugehen. Es ist ja auch nicht so, daß wir zuerst solche Punkte theoretisch auf stellen und dann erst in „künstlerischer Form“ reali­ sieren. Da wären wir ja eine Alchimistenküche. B. Aber wir legen doch die Fragen, wenn sie auftauchen, auch nicht beiseite, einfach, weil wir die Antwort nicht zugleich mit der Frage haben. P. Das ist aber, was sonst für gewöhnlich gemacht wird. B. Also, fahren wir fort: Was für Ansichten widerlegen wir? P. Aber vorhin wollten Sie nur wissen, was für Einsich­ ten wir vermitteln! B. Ja. Ich bin nur einen Schritt weiter gegangen. Reali­ stische Kunst kämpft, und zwar gegen unrealistische Vor­ stellungen. Wir müssen nicht nur schildern, wie die Wirk­ lichkeit ist, sondern wie die Wirklichkeit wirklich ist. 341

Fangen wir an mit dem Bild, das sich ein großer Teil unseres Publikums von einem Bauern macht. P. Fangen wir an mit dem Kleinbauern Kleinschmidt? B. Das wäre schon zu spät angefangen. Wir würden da voraussetzen, daß im Weltbild unseres Publikums sich ein Kleinbauer als Kleinbauer abzeichnet. Er zeichnet sich aber als Bauer ab. Natürlich unterschieden von andern Bauern durch gewisse Eigenschaften, die ihm Gott gegeben hat. P. Körperlich und geistig betrachtet, ist er schwerfällig, langsam, dumpf und so weiter. Das liberale Bürgertum verachtete, der Nationalsozialismus achtete ihn deswegen und mythologisierte ihn. Wir sehen Kleinbauern, Mittelbauern, Großbauern. B. Mit gewissen Eigenschaften. P. Aus ihrer Klassenzugehörigkeit bezogen! B. Und anderswoher. P. Aber die praktisch wichtigen Verhaltungsweisen, das heißt die, welche man wissen muß, wenn man an der Veränderung des gesellschaftlichen Lebens teilnehmen will, kommen bei uns im Klassenkampf heraus. B. Klar. Schauen wir uns jetzt nach Beispielen um! P. Es beginnt bei der Besetzung der Rollen. Sie zogen dem Schauspieler Gillmann, der ein sehr guter Klein­ schmidt hätte sein können, den Schauspieler Gnass vor, damit der Erfindergeist Kleinschmidts nicht als „Spar­ ren“, das heißt von Gott gegebene Eigenschaft erschien. B. Eine Einsicht, die wir geben: wie verschieden der Fortschritt sich auswirkt. Daß Elli Kleinschmidt auf die Agronomenschule gehen darf, erscheint ihrem Vater fast nur als Gerechtigkeit seiner Klasse gegenüber, ihrer Mut­ ter fast nur als Ungerechtigkeit ihr, der Mutter, gegen­ über. Der neue Anbauplan bringt in dem fortschrittlichen Kleinbauern Kleinschmidt nicht nur Zustimmung hervor, sondern auch Widerstand - gegen den Zwang, der in jedem Plan liegt. Am Schluß des Bildes erleben wir eine Szene, die wie eine Zerreißungsprobe für Metall wirkt. Die Furcht, sich des Großbauern Zorn und seinen ökono-

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mischen Repressalien auszusetzen, zerrt an ihm zugleich mit der Furcht, seine neuen ökonomischen Aussichten (Straße in die Stadt) preiszugeben und vor Familie und Nachbarn sein Gesicht zu verlieren. Derlei Dinge muß man aber erfahren, um den Klassenkampf gut kämpfen zu können. Selbst viele unserer Politiker sind oft nicht imstande, die Folgen von Maßnahmen korrekt vorauszu­ sehen, das heißt alle Folgen. (Und im Theater werden wir bei solchen Stücken alle als Politiker angesprochen!) P. Sie meinen, Steinert zum Beispiel muß da etwas ver­ säumt haben, weil er etwas nicht in Betracht zog, als er das Kind des Kleinbauern auf die Schule schickte, näm­ lich, daß dadurch Schwierigkeiten für die Mutter ent­ stehen müssen. Er hat anscheinend nicht mit ihr darüber gesprochen und es mit ihr ausgekämpft. Und so ist sie kühl ihm gegenüber. („Hat der Steinert sie beschwatzt?“) P. Es ist merkwürdig, aber je deutlicher wir die Aufga­ ben formulieren, je klarer der Nutzen unserer Bemühun­ gen hervortritt, desto weniger habe ich das Gefühl, es seien unbedingt Aufgaben der Kunst, oder es erschöpfe sich die besondere Art der Kunst in ihrer Lösung. B. Es sind Aufgaben, deren Größe bestritten oder noch nicht bekannt ist. Die Themen erwecken noch nicht von selber poetische Vorstellungen, erinnern nicht an solche bei anderen, ähnlichen Themen. Aber der Blick ins Innere der Menschen und der Appell an sie, eine menschenwür­ dige Gesellschaft aufzubauen, steht der Poesie wohl an. Der Bereich, der Einsichten und Impulse erfährt dann auch eine große, entscheidende Änderung in der Kunst, indem das Vergnügen an den Einsichten über das Ver­ gnügen an deren Nutzen hinaus gesteigert wird und auch die Impulse zu Vergnügungen edelster Art werden. P. Und das machen unsere Schauspieler? Und wissen es? B. Sie machen es so gut, als sie es wissen.

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EPISCHES THEATER

B. Nebenbei, es war nicht ganz richtig, was ich neulich sagte, als ich behauptete, das Theater, das wir machen, habe für das Publikum kaum Befremdliches an sich. Die Wahrheit ist wohl, daß zumindest unsere Fehler anderer Art sind als die Fehler der übrigen Theater. Deren Schauspieler mögen zu viel unechtes Temperament zeigen, die unsern zeigen oft zu wenig echtes. Künstliche Hitze vermeidend, lassen wir es an natürlicher Wärme fehlen. Wir bemühen uns nicht, die Gefühle der Figuren, die wir darstellen, zu teilen, aber diese Gefühle müssen voll und vibrierend dargestellt werden, und nicht Kälte ihnen ge­ genüber ist geboten, sondern ebenfalls ein Gefühl von einer Stärke, sagen wir: der Verzweiflung unserer Figur gegenüber ein echter Zorn unsererseits oder dem Zorn unserer Figur gegenüber eine echte Verzweiflung unserer­ seits - je nach den Umständen. Wenn die Schauspieler anderer Theater die Ausbrüche und Stimmungen ihrer Figuren überspielen, dürfen wir sie nicht unterspielen, noch dürfen wir die Fabel überspielen, die sie unterspie­ len mögen.

DIALEKTIK AUF DEM THEATER

NOTIZEN ÜBER DIE DIALEKTIK AUF DEM THEATER

Die neuen Stoffe und die neuen Aufgaben mit alten Stof­ fen zwingen uns zu einer ständigen Überprüfung und Vervollständigung unserer Kunstmittel. Auch das spätbürgerliche Theater versucht sich, um das Interesse des Publikums an der Kunst zu erhalten, in for­ malen Neuerungen; bedient sich mitunter sogar einiger Neuerungen des sozialistischen Theaters. Aber es wird da nur die mangelnde Bewegung des öffentlichen Lebens mehr oder minder bewußt durch eine künstliche Bewe­ gung im Formalen „ausgeglichen“. Bekämpft werden nicht Übel, sondern Langeweile. Aus Tat wird Betäti­ gung. Geritten wird nicht das Pferd, sondern der Bock der Turnhalle, erklommen nicht das Baugerüst, sondern die Kletterstange. So haben die formalen Bemühungen der beiden Theater nicht viel mehr miteinander zu tun, als daß sie die Verwechslung ermöglichen. Das Bild wird dadurch verwirrter, daß in den kapitalistischen Ländern neben nur scheinbar neuem Theater, Theater der Nou­ veauté, auch sporadisch echtes neues Theater gespielt wird, und nicht immer nur als Nouveauté. Es gibt noch andere Berührungspunkte. Beide Theater, sofern sie ernsthaft sind, sehen ein Ende. Das eine das Ende der Welt, das andere das Ende der bürgerlichen Welt. Da beide Theater, als Theater, Vergnügen bereiten müssen, muß das eine Vergnügen am Ende der Welt, das andere am Ende der bürgerlichen Welt (und am Aufbau einer anderen) bereiten. Das Publikum des einen darf er­ schauern über das große Absurde und wird angewiesen, das Lob der großen Vernunft (des Sozialismus) als die billige (wiewohl für das Bürgertum eigentlich teure) Lö347

sung abzulehnen. Kurz, es gibt überall Berührung, und wie sollte es Kampf geben ohne Berührung? Aber spre­ chen wir von unseren Schwierigkeiten!

Es ist ein Vergnügen des Menschen, sich zu verändern, durch die Kunst wie durch das sonstige Leben und durch die Kunst für dieses. So muß er sich und die Gesellschaft als veränderlich spüren und sehen können, und so muß er, in der Kunst auf vergnügliche Weise, die abenteuer­ lichen Gesetze, nach denen sich die Veränderungen voll­ ziehen, intus bekommen. In der materialistischen Dialek­ tik sind Art und Gründe dieser Veränderungen ge­ spiegelt. Als die Hauptquelle des Vergnügens haben wir die Fruchtbarkeit gefunden der Gesellschaft, ihre wunder­ bare Fähigkeit, allerlei nützliche und angenehme Dinge - und letzthin ihr besseres Selbst hervorzubringen. Und nehmen wir noch dazu, daß wir Lästiges und Unprak­ tisches entfernen können. Beim Pflanzen, Instandhalten und Verbessern eines Gartens zum Beispiel nehmen wir nicht nur die Vergnügungen, die da geplant sind, voraus, sondern die schöne Tätigkeit selbst, unsere Fähigkeit des Erzeugens macht uns Vergnügen. Erzeugen heißt aber Verändern. Es bedeutet Einfluß­ nehmen, Addieren. Man muß einiges wissen, können, wol­ len. Man kann der Natur befehlen, indem man ihr ge­ horcht, wie Bacon sagt. Wir neigen dazu, den Zustand der Ruhe für das „Nor­ male“ zu halten. Ein Mann geht jeden Morgen zu seiner Arbeitsstätte, das ist das „Normale“, das versteht sich. Eines Morgens geht er nicht, er ist verhindert, durch ein Unglück, durch ein Glück; das bedarf der Erklärung, etwas Langes, das wie ein Immeriges aussah, ist zu Ende gekommen, schnell, in kurzer Weise; nun, das ist eine Störung, da gab es einen Eingriff in einen Ruhezustand, und dann herrscht wieder Ruhe, indem kein Mann mehr 348

da zur Arbeit geht. Die Ruhe ist ein wenig negativ, aber doch Ruhe, normal. Selbst sehr bewegte Vorgänge, wenn sie nur mit einer gewissen Wiederholung von einer gewissen Regelmäßig­ keit vorkommen, gewinnen den Anschein der Ruhe. Die Bombennächte in den Städten etwa konnten einfach als Phase genommen werden und wurden so genommen, sie wurden zum Zustand, die bedurften nicht mehr der Er­ klärung. In den Zustandsschilderungen der Naturalisten bekamen die Zustände dieses Immerige. Die Schilderer waren ge­ gen die Zustände, man wurde dessen gewahr, aber man benötigte einen politischen Standpunkt ähnlich dem ihren, um sich andere Zustände vorstellen zu können, und vor allem, um zu wissen, wie sie herbeizuführen wären. In den Zuständen selber war nichts anderes als diese Imme­ rige. Die Frage ist, ob das Theater dem Publikum die Men­ schen so zeigen soll, daß es sie interpretieren kann, oder so, daß es sie verändern kann. Im zweiten Fall muß das Publikum sozusagen ganz anderes Material bekommen, eben nach dem Gesichtspunkt zusammengestelltes Mate­ rial, daß die jeweiligen, komplizierten, vielfältigen und widerspruchsvollen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft eingesehen werden können (zum Teil auch eingefühlt werden können). Der Schauspieler hat dann seiner künstlerischen Gestal­ tung Kritik gesellschaftlicher Art einzuverleiben, welche das Publikum packt. Solche Kritik erscheint manchen Ästheten alter Art vermutlich als etwas „Negatives“, Un­ künstlerisches. Aber das ist Unsinn. Der Schauspieler kann ebenso wie ein anderer Künstler, etwa ein Roman­ schreiber, gesellschaftliche Kritik in sein Kunstwerk brin­ gen, ohne es zu zerstören. Die Abwehr gegen solche „Ten­ denzen“ kommt von denen, die unter dem Mantel, daß sie die Kunst verteidigen, einfach die bestehenden Zu­ stände gegen Kritik verteidigen. 349

Es ist ja nicht so, daß den neuen Stücken und Darstellun­ gen Lebendigkeit oder Leidenschaft fehlt. Wer es liebt, seinen Atem loszuwerden, kann das. Wer sich gern ge­ packt fühlt, komme nur! Was einen Teil des Publikums mitunter befremdet, ist, daß die Menschen und Vorgänge von einer Seite gezeigt werden, wo sichtbar wird, wie sie geändert werden können, und was soll damit dieser Teil des Publikums, der weder geändert werden und noch än­ dern will? Sogar ein Teil jener Menschen, die selber an der Veränderung der Gesellschaft unermüdlich arbeiten, möchten die neue Aufgabe dem Theater und dem Drama auferlegen, ohne daß es sich selber ändern soll; sie be­ fürchten eine Schädigung desselben. Zu einer solchen Schädigung könnte es auch tatsächlich kommen, wenn wir die alten Errungenschaften einfach wegwürfen, anstatt sie durch neue zu ergänzen. Welche Ergänzung allerdings im Widerspruch vor sich geht. Man wird daraufhin untersuchen müssen, wie denn nun der V-Effekt einzusetzen ist, was, für welche Zwecke da verfremdet werden soll. Gezeigt werden soll die Veränderbarkeit des Zusammenlebens der Menschen (und damit die Veränderbarkeit des Menschen selbst). Das kann nur geschehen dadurch, daß man das Augenmerk auf alles Unfeste, Flüchtige, Bedingte richtet, kurz auf die Widersprüche in allen Zuständen, welche die Neigung haben, in andere widerspruchsvolle Zustände überzuge­ hen.

[EPISCHES UND DIALEKTISCHES THEATER]

Es wird jetzt der Versuch gemacht, vom epischen Theater zum dialektischen Theater zu kommen. Unseres Erachtens und unserer Absicht nach waren die Praxis des epischen Theaters und sein ganzer Begriff keineswegs undialek­ tisch, noch wird ein dialektisches Theater ohne das epische Element auskommen. Dennoch denken wir an eine ziem­ lich große Umgestaltung. 350

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Wir haben in früheren Schriften das Theater als ein Kol­ lektiv von Erzählern behandelt, die sich erhoben haben, gewisse Erzählungen zu verkörpern, das heißt ihnen ihre Personen zu leihen oder ihnen Umgebungen zu bauen. 2

Wir haben auch bezeichnet, worauf dieser Erzähler aus­ geht: auf den Spaß, den es seinem Publikum bereitet, menschliches Verhalten und seine Folgen kritisch, das heißt produktiv zu betrachten. Bei dieser Einstellung besteht für die scharfe Trennung der Genres kein Grund mehr - es sei denn, daß ein sol­ cher gefunden wird. Die Vorgänge nehmen jeweilig den tragischen oder komischen Aspekt an, es wird ihre ko­ mische oder tragische Seite herausgearbeitet. Das hat we­ nig zu tun mit den komischen Szenen, die Shakespeare in seine Tragödien einstreut (und nach ihm Goethe in sei­ nen „Faust“). Die ernsten Szenen selbst können diesen komischen Aspekt annehmen (etwa die Szene, in der Lear sein Reich wegschenkt). Genauer genommen, tritt in sol­ chem Fall der komische Aspekt im Tragischen oder der Tragische im Komischen als Gegensatz kräftig hervor. 3 Damit auf spielerische Weise das Besondere der vom Theater vorgebrachten Verhaltungsweisen und Situatio­ nen herauskommt und kritisiert werden kann, dichtet das Publikum im Geist andere Verhaltungsweisen und Situa­ tionen hinzu und hält sie, der Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten. Somit verwandelt sich das Publikum selber in einen Erzähler. 4

Wenn wir dies festhalten und nachdrücklich hinzufügen, daß das Publikum in seinem Ko-Fabulieren den Stand­ punkt des produktivsten, ungeduldigsten, am meisten auf

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glückliche Veränderung dringenden Teils der Gesellschaft muß einnehmen können, dürfen wir nunmehr die Bezeich­ nung „episches Theater“ als Bezeichnung für das gemeinte Theater aufgeben. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, wenn das erzählerische Element, das in allem Theater steckt, gestärkt und bereichert worden ist. Dies bedeutet kein Zurückgehen. Vielmehr ist durch Festigung des erzähle­ rischen Elements für alles Theater, für das jetzige wie für das bisherige, nunmehr eine Grundlage geschaffen für die Besonderheit neuen Theaters, das zumindest dadurch neu ist, daß es Züge bisherigen Theaters - die dialektischen bewußt ausbildet und vergnüglich macht. Von dieser Be­ sonderheit her erscheint die Bezeichnung „episches Thea­ ter“ als ganz allgemein und unbestimmt, fast formal. 5 Wir gehen nun weiter und wenden uns dem Licht zu, in das wir die Vorgänge unter den Menschen, die wir vor­ führen wollen, zu setzen haben, damit das Veränderbare der Welt herauskomme und uns Vergnügen bereite. 6

Um die Veränderbarkeit der Welt in Sicht zu bekommen, müssen wir ihre Entwicklungsgesetze notieren. Dabei gehen wir aus von der Dialektik der sozialistischen Klas­ siker.

7 Die Veränderbarkeit der Welt besteht auf ihrer Wider­ sprüchlichkeit. In den Dingen, Menschen, Vorgängen steckt etwas, was sie so macht, wie sie sind, und zugleich etwas, was sie anders macht. Denn sie entwickeln sich, bleiben nicht, verändern sich bis zur Unkenntlichkeit. Und die Dinge, wie sie eben jetzt sind, enthalten in sich, so „unkenntlich“, Anderes, Früheres, dem jetzigen Feind­ liches. Fragmentarisch

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KANN DIE HEUTIGE WELT DURCH THEATER WIEDERGEGEBEN WERDEN?

Mit Interesse höre ich, daß Friedrich Dürrenmatt in einem Gespräch über das Theater die Frage gestellt hat, ob die heutige Welt durch Theater überhaupt noch wie­ dergegeben werden kann. Diese Frage, scheint mir, muß zugelassen werden, sobald sie einmal gestellt ist. Die Zeit ist vorüber, wo die Wie­ dergabe der Welt durch das Theater lediglich erlebbar sein mußte. Um ein Erlebnis zu werden, muß sie stimmen. Es gibt viele Leute, die konstatieren, daß das Erlebnis im Theater schwächer wird, aber es gibt nicht so viele, die eine Wiedergabe der heutigen Welt als zunehmend schwierig erkennen. Es war diese Erkenntnis, die einige von uns Stückeschreibern und Spielleitern veranlaßt hat, auf die Suche nach neuen Kunstmitteln zu gehen. Ich selbst habe, wie Ihnen als Leuten vom Bau bekannt ist, nicht wenige Versuche unternommen, die heutige Welt, das heutige Zusammenleben der Menschen, in das Blickfeld des Theaters zu bekommen. Dies schreibend, sitze ich nur wenige hundert Meter von einem großen, mit guten Schausoielern und aller nöti­ gen Maschinerie ausgestatteten Theater, an dem ich mit zahlreichen, meist jungen Mitarbeitern manches auspro­ bieren kann, auf den Tischen um mich Modellbücher mit Tausenden von Fotos unserer Aufführungen und vielen mehr oder minder genauen Beschreibungen der verschie­ denartigsten Probleme und ihrer vorläufigen Lösungen. Ich habe also alle Möglichkeiten, aber ich kann nicht sa­ gen, daß die Dramaturgien, die ich aus bestimmten Grün­ den nichtaristotelische nenne, und die dazu gehörende epische Spielweise die Lösung darst^Ilen. Jedoch ist eines klargeworden: Die heutige Welt ist den heutigen Men­ schen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird. Für heutige Menschen sind Fragen wertvoll der Ant­ worten wegen. Heutige Menschen interessieren sich für 353

Zustände und Vorkommnisse, denen gegenüber sie etwas tun können. Vor Jahren sah ich ein Foto in einer Zeitung, das zu Re­ klamezwecken die Zerstörung von Tokio durch ein Erd­ beben zeigte. Die meisten Häuser waren eingefallen, aber einige moderne Gebäude waren verschont geblieben. Die Unterschrift lautete: Steel stood - Stahl blieb stehen. Vergleichen Sie diese Beschreibung mit der klassischen Beschreibung des Ätnaausbruchs durch den älteren Pli­ nius, und Sie finden bei ihm einen Typus der Beschrei­ bung, den die Stückeschreiber dieses Jahrhunderts über­ winden müssen. In einem Zeitalter, dessen Wissenschaft die Natur derart zu verändern weiß, daß die Welt schon nahezu bewohn­ bar erscheint, kann der Mensch dem Menschen nicht mehr lange als Opfer beschrieben werden, als Objekt einer unbekannten, aber fixierten Umwelt. Vom Standpunkt eines Spielballs aus sind die Bewegungsgesetze kaum konzipierbar. Weil nämlich - im Gegensatz zur Natur im allgemeinen die Natur der menschlichen Gesellschaft im Dunkeln ge­ halten wurde, stehen wir jetzt, wie die betroffenen Wis­ senschaftler uns versichern, vor der totalen Vernichtbarkeit des kaum bewohnbar gemachten Planeten. Es wird Sie nicht verwundern, von mir zu hören, daß die Frage der Beschreibbarkeit der Welt eine gesellschaft­ liche Frage ist. Ich habe dies viele Jahre lang aufrecht­ erhalten und lebe jetzt in einem Staat, wo eine un­ geheure Anstrengung gemacht wird, die Gesellschaft zu verändern. Sie mögen die Mittel und Wege verurteilen ich hoffe übrigens, Sie kennen sie wirklich, nicht aus den Zeitungen -, Sie mögen dieses besondere Ideal einer neuen Welt nicht akzeptieren - ich hoffe, Sie kennen auch dieses aber Sie werden kaum bezweifeln, daß an der Änderung der Welt, des Zusammenlebens der Menschen in dem Staat, in dem ich lebe, gearbeitet wird. Und Sie werden mir vielleicht darin zustimmen, daß die heutige Welt eine Änderung braucht. 354

Für diesen kleinen Aufsatz, den ich als einen freund­ schaftlichen Beitrag zu Ihrer Diskussion zu betrachten bitte, genügt es vielleicht, wenn ich jedenfalls meine Mei­ nung berichte, daß die heutige Welt auch auf dem Thea­ ter wiedergegeben werden kann, aber nur wenn sie als veränderbar aufgefaßt wird. 1955

Das Theater dieser Jahrzehnte soll die Massen unterhalten, be­ lehren und begeistern. Es soll Kunstwerke bieten, welche die Realität so zeigen, daß der Sozialismus aufgebaut werden kann. Es soll also der Wahrheit, der Menschlichkeit und der Schönheit dienen.

ANHANG

Anmerkungen

S. 6: Die dialektische Dramatik Von diesem Beitrag, den Brecht bereits 1929 und 1930 auf den Um­ schlagseiten der Hefte 1 und 2 der „Versuche“ angekündigt hatte, fanden sich im Nachlaß zahlreiche, meist handgeschriebene Bruch­ stücke. Auf Grund zweier Gliederungsschemata und der mit Buch­ staben und Ziffern gekennzeichneten Kapitel wurde eine Zusam­ menstellung des Aufsatzes vorgenommen.

S. 21: „Der Messingkauf“ Anfang 1939 notierte Brecht, er habe „viel Theorie in Dialogform“ geschrieben, Ende 1942, er arbeite immer noch am „Messingkauf“. In den vier Jahren sind alle in diesem Band zusammengestellten Dialoge entstanden. Wie Brecht notierte, wurde er „angestiftet zu dieser Form“ von den „Dialogen“ des Galileo Galilei, die er für sein Schauspiel vom Leben des großen Physikers studiert hatte. In den theoretischen Arbeiten war aber die Gesprächsform nicht neu; Brecht hatte sie schon in den zwanziger Jahren mehrfach bei Ausführungen über die Schauspielkunst verwendet. Sie bot Gelegenheit, einen Gegen­ stand von verschiedenen Standpunkten zu betrachten und die Ge­ danken im Widerstreit der Meinungen zu entwickeln. Die „Messingkauf“-Dialoge schrieb Brecht in vier unterscheidbaren „Fassungen“ auf. Mit Ausnahme eines einzigen nahezu durchge­ führten Gesprächs blieben alle Niederschriften fragmentarisch. Zu der beabsichtigten Zusammenfassung der Bruchstücke kam Brecht nicht. Wenn er später 1948 das „Kleine Organon für das Theater“ eine „Zusammenfassung des ,Messingkaufs * “ nannte, so unter Be­ zug auf den Kernpunkt der Gespräche. Tatsächlich ergänzen sich „Der Messingkauf“ und das „Kleine Organon für das Theater“ auf interessante Weise. In den Gesprächen ist der Einbruch der Philo­ sophie in das Theater noch Gegenstand der Auseinandersetzung; das „Kleine Organon“ baut bereits auf dieser Voraussetzung auf. 359

Für die „Messingkauf“-Gespräche gibt es verschiedene Pläne Brechts. Über die Konzeption des ganzen Projekts schrieb er: „Der Philo­ soph besteht auf dem P-Typ (Planetariumtyp) statt K-Typ (Karus­ selltyp), Theater nur für Lehrzwecke, einfach nur die Bewegungen der Menschen (auch der Gemüter der Menschen) zum Studium modelliert, das Funktionieren der gesellschaftlichen Beziehungen gezeigt, damit die Gesellschaft eingreifen kann. Seine Wünsche lösen sich auf im Theater, da sie vom Theater verwirklicht werden. Aus einer Kritik des Theaters wird ein neues Theater. Das Ganze einstudierbar gemacht, mit Experiment und Exerzitium, In der Mitte der V-Effekt.“ Das „Viergespräch über eine neue Art, Theater zu spielen“, wie Brecht den „Messingkauf“ später in der „Theaterarbeit“ bezeich­ nete, wurde (im Gegensatz zu den Taggesprächen des „Decameron“) in vier Nächte eingeteilt. Brechts erste Materialsammlung sieht fol­ gende Disposition vor: „Erste Nacht: Begrüßung des Philosophen im Theater / Die Ge­ schäfte gehen flott / Flucht aus der Wirklichkeit ins Theater / Es gibt ein altes und es gibt ein neues / Der Film als Konkurrenz / Der Film, ein Test der Gestik / Die Literarisierung / Die Montage / Die Wirklichkeit / Der Kapitalismus, pokerfaced man / Die Wirk­ lichkeit auf dem Theater / Die Bedürfnisse des Philosophen / Der Appell / Das Engagement

Zweite Nacht: Die ,Poetik1 des Aristoteles / Das Emotionen­ racket / Die neuen Stoffe / Der Held / K-Typus und P-Typus / Theatralik des Faschismus / Die Wissenschaft / Gründung des Thaeters. Dritte Nacht: Die Straßenszene / Der V-Effekt / Das Rauchthea­ ter / Die Übungen / Furcht und Elend / Die Shakespeare-Vari­ anten Vierte Nacht: Zurückverwandlung in ein Theater / Chaplin / Die Komödie / Die Jahrmarktshistorie / Die chinesische Schauspiel­ kunst / Die fröhliche Kritik.“ Die in diesem Plan vorgesehenen Komplexe sind in den Fragmen­ ten nur zu einem Teil berücksichtigt. So wurden Themen wie „Der Film, ein Test der Gestik“, „Theatralik des Faschismus“, „Die Ko­ mödie“ und „Die Jahrmarktshistorie“ auch in den anderen Frag­ mentsammlungen nicht ausgearbeitet. Ebenfalls gibt es keine Dia­ loge über die in den Plänen mehrfach erwähnten „K-Typen“ und „P-Typen“. Hierüber (wie auch über andere für den „Messingkauf“

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konzipierte Kapitel) schrieb Brecht in anderem Zusammenhang einen Essay! * In den Gliederungen der drei weiteren Fragmentsammlungen des „Messingkaufs“ ordnete Brecht aber auch einzelne Komplexe ande­ ren Nächten zu. Die Aufgliederung des Materials verschob sich also während der Arbeit mehrfach. Die „Dialoge aus dem Messingkauf“ folgen in ihrer Anordnung der größeren Zusammenstellung im 5. Band der „Schriften zum Theater“. Der vorliegende Band vereinigt die Dialoge, er spart die Essays und die Gedichte aus dem „Messingkauf“ aus, die über die ursprüngliche Idee des Viergesprächs hinausgehen. Bei der Anord­ nung der Fragmente wurde versucht, möglichst den Dispositionen Brechts gerecht zu werden. Die vom Herausgeber ausgewählte und zusammengestellte Lesefassung weicht dann von den Plänen ab, wenn sie von Brecht nicht ausgeführt wurden. So war ursprünglich vorgesehen, in der vierten Nacht quasi eine „Auflösung“ der auf­ geworfenen Probleme zu geben. Brecht notierte dazu: „In der ästhetischen Sphäre, die keineswegs als »über * der doktrinären ge­ legen anzusehen ist, wird die Frage des Lehrhaften eine absolut ästhetische Frage, die sozusagen autark gelöst wird. Das Utilita­ ristische verschwindet hier in eigentümlicher Weise: Es taucht nicht anders auf als etwa in der Aussage, Nützliches sei schön. Die prak­ tikablen Abbildungen der Realität entsprechen lediglich dem Schön­ heitsgefühl unserer Epoche. Die ,Träume * der Dichter sind ledig­ lich an einen neuen, der Praxis anders als früher verbundenen Zu­ schauer adressiert, und sie sind selber Menschen dieser Epoche. Dies ist die dialektische Wendung in der vierten Nacht des »Mes­ *. singkaufs Dort geht der Plan des Philosophen, die Kunst für Lehrzwecke zu verwenden, auf in den Plan der Künstler, ihr Wis­ sen, ihre Erfahrungen und ihre Fragen gesellschaftlicher Art in der Kunst zu plazieren.“ Mit Hilfe des vorliegenden Materials war eine Auflösung in diesem Sinne nicht möglich. Eine Schwierigkeit bestand darin, die Bruchstücke des „Messing­ kaufs“ aneinanderzufügen. Die Zusammenstellung wollte auf jeden Fall die vom Herausgeber hergestellten „Nahtstellen“ sichtbar machen. Die Leerzeilen zwischen den Bruchstücken bezeichnen die „Nähte“. Die in Klammern gesetzten Titel stammen nicht von Brecht. Alle anderen Titel sind Brechts Gliederungen entnommen. * Brecht bezeichnet mit „Karusselltyp“ einen Typus, der sich - wie das Kind auf dem Karussell - in einen Vorgang einfühlt; der „Planetariumtyp“ befindet sich wie der Zuschauer im Planetarium - einer Demonstration gegenüber und beobach­ tet sie. - Siehe dazu „K-Typus und P-Typus“ in: „Schriften zum Theater“, Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1964, Band 5, S. 64 ff. 24 Über Theater

361

Eine notwendige Ergänzung erhalten die Dialoge durch die „Übungsstücke für Schauspieler“, die Brecht der dritten Nacht des „Messingkaufs“ zuordnete. Durch sie wird die theoretische Aus­ einandersetzung über ein neues Theater mit Exerzitien in einer neuen Spielweise praktisch unterbrochen. Da auf die Übungsstücke im Gespräch nicht direkt verwiesen wird, werden sie hier als ge­ sonderter Komplex den Gesprächen angefügt. Den Abschluß des Bandes bilden die „Nachträge zur Theorie des ,Messingkaufs“*, die Brecht während der Arbeit an den Gesprächen notierte. Sie geben eine theoretische Zusammenfassung und sind für das Ver­ ständnis des großen Fragments notwendig.

Die erste Nacht

Für diesen Komplex gibt es die meisten Notizen und Dispositio­ nen. In dem an den Anfang gestellten Dialog (S. 23—35) hat Brecht einen der Pläne durchgeführt. Er kann als der einzige Dialog gel­ ten, der die „Fassung“ einer Nacht darstellt, wenn auch dabei am Anfang die vorgesehene „Begrüßung des Philosophen im Theater“ und am Ende die „Begrüßung des Philosophen auf dem Theater“ nicht eingearbeitet sind. S. 36: Der Naturalismus. Der Text „Der Naturalismus konnte sich . . .“ (S. 40) ist von Brecht „Naturalismus - Realismus“ über­ schrieben. S. 42: Die Einfühlung. Bei dem Text „Als die Stückeschreiber lange, ruhige Akte . . .“ (S. 44) fehlt im Original die Personen­ angabe. Da im ganzen „Messingkauf“ der Dramaturg als Kenner der Theatergeschichte und -formen auftritt, wurde ihm die Passage zugeordnet. S. 46: Über die Unwissenheit. Unter der Überschrift „Aus der Rede des Philosophen über die Unwissenheit der vielen vor Thea­ terleuten“ sind außer dem ersten Abschnitt, der diesen Titel trägt (statt „des Philosophen“ steht im Original „des Gastes“), weitere Bruchstücke des gleichen Themas vom Herausgeber angefügt. Die Texte „Daß der Mensch so wenig . . .“, „Da der Mensch heute...“ und „Die Alten haben das Ziel der Tragödie..(S. 47) sind von Brecht überschrieben mit „Aus der Rede des Philosophen über die Unwissenheit“. Die zweite Nacht

S. 61: Rede des Schauspielers über die Darstellung eines kleinen Nazis. Der Text wurde von Brecht keiner bestimmten Nacht zu­ geordnet.' 362

S. 62: Die Wissenschaft. Der Text „Leute, die weder etwas von der Wissenschaft verstehen . . .“ war für die vierte Nacht vorge­ sehen. Wegen seiner thematischen Zugehörigkeit zu diesem Kom­ plex wurde die Passage vorgezogen und dem Philosophen in den Mund gelegt. - Die Dialoge „Du räumst dem Verstand. ..“ (S. 69) und „Sicher doch, du willst nicht sagen . . .“ (S. 74) sind im Original keiner bestimmten Nacht zugeordnet. S.70: Abbau der Illusion und der Einfühlung. Der erste Dialog war für die dritte Nacht vorgesehen. - Die Ausführungen des Philosophen „Um was für ein Denken handelt es sich nun?“ (S. 73) sind von Brecht mit der Überschrift „Das Denken“ ver­ sehen. S. 77.- Das Theater des Shakespeare. Die Beiträge sind von Brecht meist für die zweite, ein Teil auch für die vierte Nacht vorge­ sehen. Der Dialog „Und die Tragik beim Shakespeare?“ (S. 79) trägt im Original die Überschrift „Tragik bei Shakespeare“. S. 86: Das Theater des Piscator. Der erste Text (S. 86) trägt die Überschrift „Aus der Beschreibung des Piscatortheaters in der zweiten Nacht“, der zweite (S. 87) die Überschrift „Das Theater des Piscator“. Die dritte 'Nacht

S. 90: Das Theater des Stückes ehr eib ers. Die Beschreibungen und Dialoge sind der dritten Nacht, einige der vierten Nacht zuge­ ordnet. Der Text „Der Piscator machte .. .“ (S. 90) ist im Ori­ ginal überschrieben „Verhältnis des Stückeschreibers zum Pisca­ tor“ und wurde keiner bestimmten Nacht zugeordnet. - Der Bei­ trag „Er war ein junger Mann . . .“ (S. 91) trägt die Überschrift „Der Augsburger“. Gemäß einer von Brecht später eingetragenen handschriftlichen Notiz soll statt der Bezeichnung „der Augsbur­ ger“, die im „Messingkauf“ fast ausschließlich verwendet wurde, immer „der Stückeschreiber“ gesetzt werden. - Der Text „Das Theater des Stückeschreibers“ (S. 91) ist mit den gleichen Worten des Anfangs überschrieben. S. 99: Der V-Effekt. Der Text „So wie die Einfühlung . . .“ (S. 99) sollte in die zweite Nacht aufgenommen werden, die Texte „Der Hauptgrund dafür... (S. 99), „Verwendet nicht auch der Sur­ realismus .. .“ (S. 100), „Aber zu den größten Leistungen der Künste . . .“ (S. 104) sind keiner Nacht zugeordnet. Alle anderen Texte sind von Brecht für die dritte Nacht vorgesehen.

363

Die vierte Nacht

S. 108: Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnen­ bauers Caspar Neher. Die Rede ist in den frühen Dispositionen nicht vorgesehen, ebenfalls nicht die „Rede des Dramaturgen über Rollenbesetzung“ (S. ui). - Beide Texte wurden zuerst 1952 in der „Theaterarbeit“ veröffentlicht. S. 112: Die fröhliche Kritik. Der Dialog „Also der erhobene Zeige­ finger!“ (S. 113) war vorgesehen für die zweite Nacht, die Texte „Die Gegner des Proletariats. ..“ (S. 118) und „Wieviel wir immer aufgeben wollen . ..“ (S. 119), der letzte im Original über­ schrieben „Über die Leichtigkeit“, sind keiner bestimmten Nacht zugeordnet. S. 120: Definition der Kunst. Mit diesem Titel hat Brecht den er­ sten Dialog überschrieben. Unter ihm wurden vom Herausgeber auch die weiteren Texte angeordnet. Der Dialog „Diese ganze Idee von den praktikablen Definitionen..(S. 123) ist keiner bestimmten Nacht zugeordnet. S. 125: Das Auditorium der Staatsmänner. Mit diesem Komplex sollte nach den Plänen Brechts der „Messingkauf“ schließen. Der erste Text (S. 125), überschrieben „Das Theater“, ist keiner be­ stimmten Nacht untergliedert.

S. 165: Übungsstücke für Schauspieler aus dem „Messingkauf“ Die Parallel- und Zwischenszenen schrieb Brecht 1940. Über die Arbeit mit den Übungsstücken an einer Schauspielschule schrieb er: „Es wird eine Szene (,Macbeth' 11,2) gespielt, dann eine im­ provisierte Szene aus dem Alltagsleben mit dem gleichen theatra­ lischen Element, dann wieder die Shakespeare-Szene. Die Schüler scheinen stark auf die Technik des V-Effekts zu reagieren.“ Das Übungsstück „Der Wettkampf des Homer und Hesiod“ wurde 1950 geschrieben. - Die Übungsstücke für Schauspieler erschienen zuerst 1951 im 11. Heft der „Versuche“. S. 195: Nachträge zur Theorie des „Messingkaufs“ Die Nachträge schrieb Brecht am 2. und 3. August 1940.

In seinem Brecht-Abend Nr. 3 brachte das Berliner Ensemble einige für das Theater bearbeitete Dialoge des „Messingkaufs“ auf die Bühne (Premiere: 12. Oktober 1963). Die Dialoge wurden unterbrochen durch Szenen aus „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, „Die Mutter“, „Mutter Courage und ihre Kinder“,

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„Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, außerdem durch die Übungsstücke „Der Streit der Fischweiber“, „Der Wettkampf des Homer und Hesiod“ und weitere Übungen für Schauspieler, die auf Vorschläge von Brecht zurückgehen. In den Dialogen spielen: Ekkehard Schall (Der Philosoph), Willi Schwabe (Der Drama­ turg), Wolf Kaiser (Der Schauspieler) und Gisela May (Die Schauspielerin). S. 205: Kleines Organon für das Theater Geschrieben 1948. „Es wird ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters beschrieben.“ Brecht notierte nach der Fertigstellung im August 1948 über das „Kleine Organon“: „Es ist eine Zusam­ menfassung des ,Messingkaufs *. Hauptthese: daß ein bestimmtes Lernen das wichtigste Vergnügen unseres Zeitalters ist, so daß es in unserm Theater eine große Stellung einnehmen muß. Auf diese Weise konnte ich das Theater als ästhetisches Unternehmen be­ handeln, was es mir leichter macht, die diversen Neuerungen zu beschreiben. Von der kritischen Haltung gegenüber der gesell­ schaftlichen Welt ist so der Makel des Unsinnlichen, Negativen, Unkünstlerischen genommen, den die herrschende Ästhetik ihm aufgedrückt hat.“ - Das „Kleine Organon für das Theater“ wurde zuerst 1949 in „Sinn und Form“, 1. Sonderheft Bertolt Brecht, ver­ öffentlicht. S. 244: Nachträge zum „Kleinen Organon“ Die Nachträge schrieb Brecht 1952 bis 1954 unter dem Eindruck der Theaterpraxis mit dem Berliner Ensemble zur Ergänzung des „Kleinen Organons“. Ein Teil der Texte wurde 1960 in den „suhrkamp texten 4“ veröffentlicht. - Die vorliegende Reihen­ folge der Nachträge wurde für die „Schriften zum Theater“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, und Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, Band 7, festgelegt. Einige Nachträge hat Brecht be­ stimmten Paragraphen des „Kleinen Organons“ zugeordnet. Der Text „Es handelt sich nicht nur darum...“ (S. 244) ist als Er­ gänzung zum § 3 des „Kleinen Organons“ geschrieben. Weitere Zuordnungen Brechts: „Wenn jetzt der Begriff__ “ (S. 244) und „Auch der Begriff ...“ (S. 244) zum § 4, „Der Genuß an alten Stücken ...“ (S. 245) zum § 12, „In den Zeiten der Umwälzung . . .“ (S. 245) zum § 19, „Das Theater des wissenschaftlichen Zeital­ ters . ..“ (S. 245) zum § 45, „Es ist für unsere Generation nütz­ lich .. .“ (S. 245) und „Der Widerspruch zwischen__ “ (S 246) 365

zum § 53, „Und doch wendet sich die Kunst an alle . . .“ (S. 246) zum § 55. Die übrigen Texte hat Brecht in ihrer Zuordnung nicht bezeichnet.

S. 253: „Katzgraben(-Notate i Während der Inszenierung der Komödie „Katzgraben“ von Er­ win Strittmatter (24. Februar bis 22. Mai 1953) und danach schrieb Brecht zahlreiche Probennotate, von denen die wichtigsten für die „Schriften zum Theater“ ausgewählt und zusammengestellt wur­ den. Unser Band enthält alle diese Aufzeichnungen. Brecht machte bei seiner ersten Inszenierung eines Stücks, das auf dichterische Weise die Veränderung der Verhältnisse in der DDR darstellt, den Versuch, die Bewältigung der neuen Probleme auf dem Thea­ ter zu beschreiben. - Die Komödie „Katzgraben“ mit der Musik von Hanns Eisler wurde von Bertolt Brecht inszeniert, Ausstattung: Karl von Appen. Es spielten in der Premiere (23. Mai 1953): Fried­ rich Gnass (Kleinschmidt), Angelika Hurwicz (Frau Klein­ schmidt), Gerhard Bienert (Mittelländer), Bella Waldritter (Frau Mittelländer), Erwin Geschonneck (Großmann), Helene Weigel (Frau Großmann), Willi Kleinoschegg (Steinert), Regine Lutz (Elli Steinert), Sabine Thalbach (Erna), Horst Günter Fiegler (Günter), Ekkehard Schall (Hermannn), Wolf Kaiser (Mammler), Erich Franz (Weidling), Mathilde Danegger (Frau Weidling) u. a. Von dieser Inszenierung wurde 1957 unter der Regie von Manfred Wekwerth eine Filmdokumentation hergestellt. - Anregung für diejenigen Notate, die Brecht in Dialogform geschrieben hat, ga­ ben Gespräche mit seinen Mitarbeitern. Brechts Abkürzungen be­ deuten: A. = Karl von Appen, B. = Bertolt Brecht, BE. = Ruth Berlau, G. = Erwin Geschonneck, GN. = Friedrich Gnass, H. = Angelika Hurwicz, K. = Willi Kleinoschegg, P. = Peter Palitzsch, PA. — Kurt Palm, R. = Käthe Rülicke, ST. = Erwin Strittmatter, W. = Manfred Wekwerth, HW. = Helene Weigel. - Eine kleine Auswahl der „Katzgraben“-Notate wurde in einer Zusammenstellung von Wolfgang Pintzka in Nr. 1/1958 der Mo­ natsschrift „Junge Kunst“, Berlin, veröffentlicht. S. 234: Politik auf dem Theater. Geschrieben nach der Probe am 23. März 1953. S. 255; PLrwin Strittmatters „Katzgraben * . Der Aufsatz erschien in Heft 3-4/1953 von „Sinn und Form“.

S. 269.- Erster Akt. Auf den Notaten des ersten Akts befinden 366

sich folgende Datierungen: „Arrangieren der Szenen“ (S. 273) am 24. Februar, „Krisen und Konflikte“ (S. 281), „Naturalismus und Realismus“ (S. 284) und „Der Anbauplan, 1“ (S. 287) am 31. März, „Etablieren der Verssprache“ (S. 285) und „Neues Arrangement von Kleinschmidts Umfall“ (S. 286) am 7. April, „Der Anbauplan, 2“ (S. 288) am 14. April, „Verfremdung“ (S. 289) am 11. April.

S. 292: Zweiter Akt, Datierungen: „Krisen“ (S. 292) am 1. April, „Anlage der Figur der Bäuerin Kleinschmidt“ (S. 293) am 2. April, „Parteisekretär Steinert, 1“ (S. 295) am 10.'April, „Die komische Reaktion“ (S. 297) am 23. März, „Die Figur des Großbauern“ (S. 297) am 11. April, „Die Abhängigkeit des Neubauern“ (S. 298) am 26. März, „Der Bauer bringt einige Kisten Zigarren. ..“ (S. 301) und „Auch die Dienstbotenfrage .. .“ (S. 302) am 30. März, „Nochmals: Etablieren der Verssprache“ (S. 303) und „Die Vers­ sprache“ (S. 303) am 8. April, „Konflikte realistisch darstellen“ (S. 304) am 14. April. S. 307; Dritter Akt: Datierungen: „Das überlegene Wissen“ (S. 307) am 13. April, „Neuartiges Volksfest“ (S. 312) am 17. April, „Arrangieren einer Massenszene“ (S. 312) am 21. April, „Die Kin­ der auf dem Fest“ (S. 314) am 22. April, „Belehrung“ (S. 315) am 29. April, „Die Rede Steinerts“ (S. 316) am 4. Mai, „Die neue Bluse“ (S. 316) am 11. April, „Ungelöste Probleme“ (S. 317) am 2. Mai, „Unterbrechungen“ (S. 317) und „Zweck des Probierens“ (S. 318) am 23. April. S. 320: Endproben und Aufführung. Datierungen: „Die Bühnen­ sprache“ (S. 320) am 28. April, „Vom Probenhaus zur Bühne“ (S. 320) am 11. Mai, „Kritik der Dekorationen“ (S. 324) am 6. Mai, „Pathos“ (S. 325) am 24. April, „Das Tempo“ (S. 326), von Brecht überschrieben mit „Schlußproben“, am 9. Mai. „Krise der alten Technik“ (S. 326) am 15. Mai, „Eingriffe und Änderungen in spä­ tem Probenstadium“ (S. 327) nach der 2. Generalprobe am 16. Mai, „Das Minimum“ (S. 328) am 19. Mai, „Über die Szenenschlüsse“ (S. 329) am 3. Juni, „Bauern als Publikum“ (S. 331), geschrieben nach einer Diskussion mit Bauern, die im Anschluß an die 1. Vorauffüh­ rung der Komödie am 17. Mai 1953 stattfand.

5. 347: Notizen über die Dialektik auf dem Theater. Die einzel­ nen Texte wurden in dieser Auswahl und Anordnung für die vor­ liegende Ausgabe zusammengestellt. S. 350; Episches Theater und dialektisches Theater. Zusammen­ gestellt nach Angaben Brechts. Das in den Punkten 1-7 ausge-

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führte Fragment enthält für zwei weitere Punkte folgende Über- 1 Schriften: 8. „Fluß der Dinge“ und 9. „Der Sprung“.

S. 355: Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben wer­ den? Schriftlicher Diskussionsbeitrag Brechts zum „5. Darmstädter Gespräch 1955: Über das Theater.“ Veröffentlicht in „Sonntag“ am 8. Mai 1955 und (als Entwurf) in Heft 2/1955 von „Sinn und Form“.

Nachbemerkung

Brechts „Schriften zum Theater“ wurden 1963/64 erstmals in einer siebenbändigen Ausgabe zusammengestellt und im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar und im Suhrkamp-Verlag Frankfurt am Main herausgegeben. Ohne Zweifel wird diese große Ausgabe (an deren Verbesserung und Ergänzung zur Zeit noch gearbeitet wird) die Grundlage für jede gründliche Beschäftigung mit Brechts Theater­ theorie und Theaterpraxis sein. Bei der Auswahl der Theaterschriften Brechts für die Reclam-Ausgabe sollte auf eine „Bewertung“ der Texte entschieden verzich­ tet werden. Wir wollten nicht den Eindruck erwecken, etwa „wich­ tige“ Texte nochmals zusammenzufassen und „weniger wichtige“ auszuschließen. Dem Leser, der sich einen ersten Einblick in reali­ stische Theaterkunst verschaffen will, werden einige Arbeiten vor­ gelegt, die Brechts Ansichten über dialektisches Theater in ihrer Entwicklung deutlich machen. 1931 unternahm Brecht einen ersten Versuch, die Ergebnisse sei­ ner bisherigen Theaterexperimente in dem fragmentarisch über­ lieferten Aufsatz „Über dialektische Dramatik“ zusammenzufas­ sen. - In der Emigration, hauptsächlich in den Jahren 1939 und 1940, entstanden die meisten der zahlreichen Dialogfragmente des „Messingkaufs“, eines Viergesprächs über ein philosophisch orien­ tiertes Theater: Ein Philosoph kommt ins Theater und debat­ tiert mit einem Schauspieler, einem Dramaturgen und einer Schauspielerin über Theaterarbeit. In diesem nächtlichen Streit­ gespräch werden die Positionen der Gesprächspartner in Meinung und Gegenmeinung vorgetragen und entwickelt. - Die Zusam­ menfassung der Dialogfragmente nahm Brecht erst 1948 mit dem „Kleinen Organon für das Theater“ vor. Während im „Messing­ kauf“ die Positionen des Philosophen noch Gegenstand der Aus­ einandersetzung sind, geht Brecht im „Kleinen Organon für das Theater“ bereits davon als gesicherter Grundlage aus. Die Zu­ sammenfassung der theoretischen Arbeiten 1948 bereitete die nun­ mehr beginnende Theaterpraxis vor; Brecht schuf sich eine Hand-

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habe für die Arbeiten am Berliner Ensemble. - Unter den zahl­ reichen Theaterversuchen hat Brecht besonders die Inszenierung der Komödie „Katzgraben“ von Erwin Strittmatter 1953 interes­ siert. Gerade bei diesem Stück, das die neuen Verhältnisse auf dem Lande poetisch darstellte, mußte sich erweisen, inwieweit die Theorie des „Kleinen Organons“ anwendbar war. Brecht schrieb sich sehr viele Notate während und nach den Proben auf. Diese Bemerkungen, Analysen und Beschreibungen geben nicht nur Ein­ blick in die praktische Theaterarbeit. In wesentlichen Teilen wer­ den damit die Thesen des „Kleinen Organons“ ergänzt und weiter­ entwickelt. - Die am Schluß des Bandes aufgenommenen Notizen und Arbeiten über dialektisches Theater aus den fünfziger Jahren nehmen die Gedanken von 1931 erneut auf und behandeln sie auf einer neuen Ebene, gesichert durch viele praktische Experimente.

Brecht wollte die materialistische Dialektik auf dem Theater ein­ führen. Der Band „Brecht über Theater“ vereinigt Texte, die den Zusammenhang von theoretischen Arbeiten und praktischen Ver­ suchen deutlich machen. Die Texte mögen, in solcher Beziehung gebracht, auch von den Kennern der Theorie anders gelesen wer­ den. Es stellt sich heraus: Das Experiment auf dem Theater hat bei Brecht sein Gegenstück in der Theorie. Gerade dadurch bleibt die überlieferte Methode auch heute, zehn Jahre nach Brechts Tod, anwendbar und aktuell.

August 1966

Werner Hecht

Inhalt

Die dialektische Dramatik ..........................................................

6

DIALOGE AUS DEM „MESSINGKAUF“

Die erste 'Nacht ................................................................................

23

Der Naturalismus.......................................................................... Die Einfühlung.............................................................................. [Über die Unwissenheit] ......................................................... Was den Philosophen auf demTheater interessiert .................

36 42 46 51

Die zweite Nacht..............................................................................

60

Rede des Philosophen über die Zeit .......................................... Rede des Schauspielers über die Darstellung eines kleinen Nazis .......................................................................................... Die Wissenschaft ....................................................................... Abbau der Illusion und der Einfühlung ................................. [Das Theater des Shakespeare] .............................................. Das Theater des Piscator..........................................................

60

61 62 70 77 86

Die dritte Nacht.............................................................................

90

[Das Theater des Stückeschreibers] ..................................... Der V-Effekt ..............................................................................

90 99

Die vierte Nacht.............................................................................. 108

Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnen­ bauers Caspar Neher ................................................................ [Rede des Dramaturgen über Rollenbesetzung] .................. Die fröhliche Kritik................................................................... Definition der Kunst ................................................................ Das Auditorium der Staatsmänner .........................................

108 111 112 120 125

371

GEDICHTE AUS DEM „MESSINGKAUF“

[Die Magier] .................................................................................. [Das Unfertige] .............................................................................. Leichtigkeit .................................................................................... [Über die Nachahmung]................................................................ Über alltägliches Theater.............................................................. Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Be­ obachtung .................................................................................. Suche nach dem Neuen und Alten............................................... Die Vorhänge.................................................................................. Die Beleuchtung.............................................................................. Die Gesänge.................................................................................... Die Requisiten der Weigel .......................................................... Darstellung von Vergangenheit und Gegenwart in einem .... Über das Urteilen ......................................................................... Über die kritische Haltung............................................................ Thema der Gemütsbewegungen .................................................. Das Theater, Stätte der Träume .................................................. Reinigung des Theaters von den Illusionen .............................. Das Zeigen muß gezeigt werden.................................................. Über die Einfühlung ..................................................................... Sprechübung für Schauspieler........................................................ Die Schauspielerin im Exil............................................................ Beschreibung des Spiels der H. W................................................. Lied des Stückschreibers ............................................................. Der Nachschlag .......................... /................................................. Überlegung.............................. X................................................... Schminke ......................................................................................... Lockerer Körper.............................................................................. Abwesender Geist ......................................................................... Selbstgespräch einer Schauspielerin beim Schminken ............... Sparsames Auftreten des Meisterschauspielers .......................... Begräbnis des Schauspielers (Aus den „Vorstellungen“)...........

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ÜBUNGSSTÜCKE FÜR SCHAUSPIELER AUS DEM „MESSINGKAUF“

Parallelszenen ................................................................................ Zwischenszenen .............................................................................. Rundgedichte .................................................................................. Der Wettkampf des Homer und Hesiod.....................................

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NACHTRÄGE ZUR THEORIE DES „MESSINGKAUFS“ [Erster Nachtrag zur Theorie des „Messingkaufs“] .................. Zweiter Nachtrag zur Theorie des „Messingkaufs“ .................. Dritter Nachtrag zur Theorie des „Messingkaufs“ .................... [Vierter] Nachtrag zur Theorie des „Messingkaufs ..................

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KLEINES ORGANON FÜR DAS THEATER

Kleines Organon für das Theater................................................ 205 Nachträge zum „Kleinen Organon“.............................................. 244 „KATZGRABEN“-NOTATE

Politik auf dem Theater.............................................................. 254

Zum Stück Erwin Strittmatters „Katzgrab'en“........................................... 255 Ist „Katzgraben“ ein Tendenzstück? ....................................... 260 Der Neubauer, der Mittelbauer, der Großbauer .................. 261 Zur Aufführung Besetzung der Hauptrollen ...................................................... 263 Dekoration.................................................................................. 264 Probenbeginn .............................................................................. 265 Erster Akt Geschehnisse des ersten Akts.................................................... Arrangieren der Szenen ............................................................. Phasen der Regie ....................................................................... Überraschungen ......................................................................... Krisen und Konflikte................................................................. [Der Umfall Kleinschmidts] .................................................... Naturalismus und Realismus .................................................... Etablieren der Verssprache ...................................................... [Neues Arrangement von Kleinschmidts Umfall]................. [Der Anbauplan] ....................................................................... Details ........................................................................................ Verfremdung .............................................................................

269 273 275 280 281 283 284 285 286 287 289 289

Zweiter Akt Krisen.......................................................................................... 292 Anlage der Figur Bäuerin Kleinschmidt................................ 293 [Parteisekretär Steinert] .......................................................... 295 373

[Die komische Reaktion] .......................................................... Die Figur des Großbauern........................................................ [Die Abhängigkeit des Neubauern] ....................................... [Rückzahlung der Schulden]...................................................... [Die Großbäuerin]..................................................................... [Details] .................................................................................... [Nochmals: Etablieren der Verssprache]................................. Die Verssprache.......................................................................... [Konflikte realistisch darstellen] .............................................. Darstellung des Neuen ;........................................

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Dritter Akt [Das überlegene Wissen]........................................................... [Aufbau eines Helden] ............................................................. Der positive Held ..................................................................... [Die Zusammenarbeit]............................................................... [Ein Gespräch]................................................................ Episches Theater.......................................................................... [Neuartiges Volksfest]............................................................... [Arrangieren einer Massenszene] ........................................... [Die Kinder auf dem Fest]...................................................... [Belehrung] ................................................................................ [Die Rede Steinerts] ................................................................. Die neue Bluse............................................................................ [Ungelöste Probleme]................................................................. [Unterbrechungen] ..................................................................... [Zweck des Probierens] ............................................................. Das Schlußbild ist schwierig......................................................

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Endproben und Aufführung [Die Bühnensprache] ................................................................. [Vom Probenhaus zur Bühne] .................................................. Die Komödie .............................................................................. Ist Katzgraben zu finster? ........................................................ Die Dekoration .......................................................................... Kritik der Dekorationen .......................................................... Pathos........................................................................................... [Das Tempo] .............................................................................. [Krise der alten Technik] ........................................................ [Eingriffe und Änderungen in spätem Probenstadium] .... [Das Minimum] ......................................................................... Über die Szenenschlüsse............................................................

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Ein Brief...................................................................................... Bauern als Publikum ................................................................. Neuer Inhalt - neue Form........................................................ Was machen eigentlich unsere Schauspieler? ........................ Episches Theater .......................................................................

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DIALEKTIK AUF DEM THEATER

Notizen über die Dialektik auf dem Theater............................ 347 [Episches und dialektisches Theater] ......................................... 350 Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? 353 [Aufgaben für das Theater].......................................................... 355 ANHANG Anmerkungen.................................................................................. 359 Nachbemerkung ................................................................................ 369

Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland und im übrigen Ausland nicht gestattet Ausgabe mit Genehmigung des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar und des Suhrkamp Verlages Frankfurt am Main (C) Copyright Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1963 (Band 1-5) und 1964 (Band 6 und 7)

Reclams Universal-Bibliothek Band 277 1. Auflage Reihenentwurf: Irmgard Horlbeck-Kappler Gesetzt aus Garamond-Antiqua Printed in the German Democratic Republic 1966 Lizenz Nr. 363. 340/7/66 ES 13 D 1 / 3 B 4 - Vbg. 19,0 III/18/170. Philipp Reclam jun. Leipzig

BERTOLT BRECHT (1898-1956) ist nicht nur der bislang bedeutendste deutsche Dramatiker unseres Jahrhunderts, sondern auch ein genialer marxistischer Theoretiker dieses Genres. Unser Auswahlband, der u. a. Dialoge und Gedichte aus dem „Messingkauf“, „Übungsstücke für Schauspieler“, „Kleines Organon für das The­ ater", „,Katzgraben‘-Notate" enthält, vermittelt Grundlagen der Theatertheorie von Brecht und zugleich deren praktische Anwendung am Bei­ spiel einer Inszenierung. „Auf dem Theater wird gespielt. Von einer Beschreibung dieses Spiels

kann man einigen Ernst erwarten, da es für die Gesellschaft wichtig sein kann. Jedoch sollte man nicht vermuten, es werde zu leicht genom­ men, wenn in der Beschreibung und bei der Er­ örterung des Technischen nicht immerfort die großen Begriffe in der Luft herumfliegen. Zu die­ sem Spiel, soll es künstlerisch sein, gehören Ernst, Feuer, Heiterkeit, Wahrheitsliebe, Neu­ gierde, Gefühl von Verantwortung. Aber hört man echte Forscher immerfort von der Begeiste­ rung für die Gerechtigkeit reden? Derlei halten sie für selbstverständlich."

SPRACHE UND LITERATUR Schriften und Notate

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