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German Pages 538 [540] Year 1998
Table of contents :
Einleitung
1. Physik I. 1: ‘Eine methodologische Vorbemerkung’
1.1 Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien
1.2 Die „ήμîν γνωριμώτερα“ und die „ϕύσει γνωριμώτερα“
1.3 Die Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου“ und „καθ’ έκαστα“
1.4 Die Beispiele: ‘Der Kreis’ und ‘Vater und Mutter’
1.5 Die Frage nach dem ‘Daß’ der Prinzipien
2. Physik I. 2: ‘Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern’
2.1 Die diairetische Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί
2.2 Die analoge Einteilung bezüglich der όντα
2.3 Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz
2.4 Der Status der ‘Grundannahme’ (185al2-14)
2.5 Das Beispiel vom Geometer (185al4-20)
2.6 Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
2.6.1 Die Bedeutung des „ov“ in der These „είναι εν τα πάντα“ (185a20-b5)
2.6.2 Die Bedeutung des „e?“ in der These „εν“ in der These „είναι εν τό παν“ (185b5-25)
2.7 Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten (185b25-186a3)
3. Physik I. 3 : ‘Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten’
3.1 Eine Vorbemerkung zu einer eristischen Argumentation (186a4-10)
3.2 Die ungültigen Schlüsse bei Melissos (186a10-22)
3.2.1 „Wenn alles Gewordene eine αρχή hat, so hat das Nicht-Gewordene keine“
3.2.2 „Jedes Werdende hat einen (räumlichen) Anfangspunkt“
3.2.3 „Wenn etwas Eines ist, dann ist es unbewegt“
3.2.4 „Aber es kann auch nicht der Art nach Eines sein“
3.3 Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides (186a22-187a11)
3.3.1 Die falsche Annahme und der ungültige Schluß (186a24-32)
3.3.2 Eine notwendige Konklusion: Das όv als όπερ όv (186a32-b4)
3.3.3 Dem όπερ όv können keine anderen Akzidentien zukommen (186b4-14)
3.3.4 Die begriffliche Teilbarkeit des όπερ όv (186b 14-35)
3.3.5 Die abschließende Konklusion (187al-11)
4. Physik I. 4: ‘Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras’
4.1 Die beiden Gruppen der Naturphilosophen (ϕυσικοί) (187al2-26)
4.1.1 Die erste Gruppe der Naturphilosophen (187al 2-20)
4.1.2 Die zweite Gruppe der Naturphilosophen (187a20-26)
4.2 Anaxagoras’ Lehre von den unendlich vielen άρχαί
4.2.1 Zur Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187a26-b7)
4.2.2 Zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187b7-188)
5. Physik I. 5: Die Gegensätzlichkeit der άρχαί’
5.1 Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger (188a 19-27)
5.2 Die drei Kriterien einer άρχή (188a27-30)
5.3 Die Funktion des Kapitels I. 5 im Gesamtkontext von Physik A
5.4 Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπι του̂ λόγου (188a30-b26)
5.4.1 Die Frage nach einem induktiven oder deduktiven Verfahren
5.4.2 Die Funktion der Prämissen (i) und (ii)
5.4.3 Das Werden aus Gegensätzen (188a30-b21)
5.4.4 Die Konklusion: Die Gegensätzlichkeit der ϕύσει γιγνόμενα (188b21-26)
5.5 Der Übergang von den gegensätzlichen ϕύσει γιγνόμενα zu den gegensätzlichen άρχαί (188b26-189a10)
5.5.1 Die Gegensätze κατά τήν αισθησιν und κατά τόν λόγον (188b26- 189al0)
5.5.2 Eine Anmerkung: „Die Ursachen des Werdens“ (αίτίαι τη̂ς γενέ- σεως)
6. Physik I. 6: ‘Die Einführung des υποκείμενον’
6.1 Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί (189 a11-20)
6.2 Die drei Aporien (189a20-34)
6.2.1 Die erste Aporie (189a22-27)
6.2.2 Die zweite Aporie (189a27-32)
6.2.3 Die dritte Aporie (189a32-34)
6.3 Die zugrundeliegende Natur der Vorgänger (189a34-b16)
6.4 Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien (189b16-29)
6.5 Die abschließende Konklusion (189b27-29)
7. Physik I. 7: ‘Das aristotelische Modell des Werdens’
7.1 Eine methodologische Vorbemerkung (189b29-34)
7.2 Das Beispiel vom ‘gebildeten Menschen’ (189b34-190a21)
7.2.1 Eine sprachliche Untersuchung (189b34-190a13)
7.2.2 Die ‘Einfachen’ (τά α̒πλά) und ‘Zusammengesetzten’ (τά συγκείμενα)
7.2.3 „Etwas wird etwas“ und „aus etwas wird etwas“ (190a5-13)
7.2.4 Die Mehrdeutigkeit des Satzes ,,έκ μή μουσικου̑ μουσικός“ (190a6-7)
7.2.5 Die Einführung des ‘Bleibenden’(ύπομένον: 190a9-13)
7.2.6 Eine erste Konklusion (190a13-21)
7.2.7 Exkurs: Das Zugrundeliegende (ύποκείμενον)
7.3 Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses (190a21-31)
7.3.1 „Etwas wird aus etwas „ und „etwas wird etwas“
7.3.2 Warum man den Satz „das Erz wird eine Statue“ nicht sagen kann
7.4 Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι“ (190a31-b9)
7.4.1 Das ‘etwas Werden’ (τόδε τι γίγνεσθαι)
7.4.2 Das ‘einfache Werden’ (άπλως γίγνεσθαι)
7.4.3 Ist das ύποκείμενον ein Bleibendes? - Das Problem des Samens
7.4.4 Exkurs: Überlegungen zu einer atemporalen Analyse des Werdenden
7.5 Die Konklusion bezüglich der in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente (190b9-17)
7.6 Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und ϕύσει όντα
7.6.1 Der Übergang von den Konstitutionsmomenten zu den άρχαί(190b17-20)
7.6.2 Das ύποκείμενον
7.6.3 Gibt es zwei oder drei Prinzipien?
7.6.4 Die στέρησις als ‘Abwesenheit des είδος’ (191a3-7)
7.7 Die Analogie (191a7-15)
7.7.1 Die Erkennbarkeit der ύποκειμένη φύσις
7.7.2 Die Konklusion bezüglich der Prinzipien (191al2-14)
7.8 Zusammenfassender Rückblick (191 al5-22)
8. Physik I. 8: ‘Die Lösung einer Aporie der Vorgänger’
8.1 Die eleatische Aporie (191a24-33)
8.2 Aristoteles’Lösung der eleatischen Aporie (191a33-b27)
8.2.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191a33-bl7)
8.2.2 Das Werden aus Seiendem (191M7-27)
8.3 Die angedeutete Lösung mit Hilfe der Begriffe von ‘Möglichkeit’ und ‘Wirklichkeit’(191 b27-34)
9. Physik I. 9: ‘Die Abgrenzung von der Theorie Platons’
9.1 Die Auseinandersetzung mit Platon (191b35-192a34)
9.1.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191b35-192al)
9.1.2 Die ύποκειμένη ϕύσις: ύλη und στέρησις (192a1-6)
9.1.3 Ein Exkurs zu Platons naturphilosophischen Überlegungen
9.1.4 Das platonische ‘Große-und-Kleine’ (192a6-12)
9.1.5 Was hat Platon übersehen? (192a12-16)
9.1.6 Die nach ihrer eigenen Vernichtung strebende ύλη (192a16-25)
9.1.7 Das Entstehen und Vergehen der ύλη (192a25-34)
9.2 Die abschließende Konklusion (192a34-b4)
10. Konklusion
11. Anhang
11.1 Abkürzungsverzeichnis der aristotelischen Schriften
11.2 Schematische Darstellungen
11.3 Bibliographie
11.4 Index
Titus Maria Horstschäfer ,Über Prinzipien'
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland
Band 47
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
,Über
Prinzipien'
Eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit des ersten Buches der Physik des Aristoteles
von Titus Maria Horstschäfer
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Horstschäfer, Titus Maria: „Uber Prinzipien" : eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit des ersten Buches der Physik des Aristoteles / von Titus Maria Horstschäfer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 47) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-016282-2
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Meinen Eltern gewidmet & für Gillian
Soviel also ist klar geworden, daß die mittlere Grundhaltung in allen Lagen unser Lob verdient, daß es jedoch unvermeidlich ist, gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen. (Eth. Nik. II.9, 1109b23-26)
Vorwort Die hier als Buch vorliegende Untersuchung stellt die korrigierte Fassung einer Dissertation dar, die im Herbst 1997 unter dem Titel ,,'Περι άρχων' - Eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit des ersten Buches der Physik des Aristoteles" von der Philosophischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i. Br. angenommenen wurde. Dank schulde ich vor allem meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus Jacobi, der das Werden dieser Arbeit mit Geduld und vielfachen Anregungen begleitet hat. Auch vielen anderen bin ich zu Dank verpflichtet. Zwar können sie hier nicht alle genannt werden, doch mögen sie wissen, daß ohne sie dieses Buch nicht oder zumindest nicht in der vorliegenden Form - hätte erscheinen können. Hervorheben möchte ich allerdings Prof. Dr. Rainer Marten, dessen kritische Bemerkungen mir eine hilfreiche Stütze und Orientierung waren, und Prof. Dr. Bernhard Rang, der mir einst vor Jahren die Anregung gab, aus einer Hausarbeit doch eine größere Arbeit zu machen. Dies ist hiermit geschehen. Dem De Gruyter Verlag danke ich für seine unkomplizierte Zusammenarbeit und den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie" - Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß, Prof. Dr. Günther Patzig und Prof. Dr. Wolfgang Wieland für ihre sachkundige Kritik und ihre Bereitschaft zur Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Staufen, im Frühjahr 1998 Titus Maria Horstschäfer
Inhalt Einleitung
1
1. Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
13
1.1 Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien 1.2 Die ,,ήμΐν γνωριμώτερα" und die „φύσει γνωριμώτερα" 1.3 Die Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου" und „καθ' έκαστα" 1.4 Die Beispiele: 'Der Kreis' und 'Vater und Mutter' 1.5 Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien
13 19 21 25 33
2. Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
37
2.1 Die diabetische Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί.. 2.2 Die analoge Einteilung bezüglich der δντα 2.3 Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz 2.4 Der Status der 'Grundannahme' (185al2-14) 2.5 Das Beispiel vom Geometer (185al4-20) 2.6 Die Auseinandersetzung mit den Eleaten 2.6.1 Die Bedeutung des „ov" in der These „είναι Iv τά πάντα" (185a20b5) 2.6.2 Die Bedeutung des ,,έν" in der These „είναι εν τό πάν" (185b5-25).. 2.6.2.1 Das (Continuum (τό συνεχές) 2.6.2.2 Das Unteilbare (τό άδιαίρετον) 2.6.2.3 Das dem Begriff nach Eine (τω λόγω έν) 2.7 Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten (185b25-186a3)
37 38 40 48 55 57
3. Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' 3.1 Eine Vorbemerkung zu einer eristischen Argumentation (186a4-10) 3.2 Die ungültigen Schlüsse bei Melissos (186al0-22) 3.2.1 „Wenn alles Gewordene eine άρχή hat, so hat das Nicht-Gewordene keine" 3.2.2 „Jedes Werdende hat einen (räumlichen) Anfangspunkt" 3.2.3 „Wenn etwas Eines ist, dann ist es unbewegt" 3.2.4 „Aber es kann auch nicht der Art nach Eines sein" 3.3 Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides (186a22-187al 1)
60 66 67 72 75 78 85 85 87 88 90 92 94 95
XII
Inhalt
3.3.1 Die falsche Annahme und der ungültige Schluß (186a24-32) 3.3.2 Eine notwendige Konklusion: Das öv als δπερ δν (186a32-b4) 3.3.3 Dem δπερ öv können keine anderen Akzidentien zukommen (186b414) 3.3.4 Die begriffliche Teilbarkeit des δπερ öv (186bl4-35) 3.3.5 Die abschließende Konklusion (187al-l 1)
95 101
4. Physik 1.4: ' D i e Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
125
4.1 Die beiden Gruppen der Naturphilosophen (φυσικοί) (187a 12-26) 4.1.1 Die erste Gruppe der Naturphilosophen (187al2-20) 4.1.2 Die zweite Gruppe der Naturphilosophen (187a20-26) 4.2 Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί 4.2.1 Zur Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187a26-b7) 4.2.2 Zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187b7-188 al8) 4.2.2.1 Ein wissenschaftstheoretischer Einwand (187b7-13) 4.2.2.2 Die Widerlegung der Prämissen von Anaxagoras (187bl3-188al8). 4.2.2.2.1 (1) Die Gleichteiligen sind der Größe nach begrenzt (187b 13-21) 4.2.2.2.2 (2) Es ist nicht jedes in jedem (187b22-34) 4.2.2.2.3 (3) Es wird nicht jedes aus jedem (187b35-188a5) 4.2.2.2.4 (4) Das Werden ist kein Aussondern (188a5-18)
125 127 129 132 133
5. Physik I. 5 : ' D i e Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
166
103 105 118
146 146 147 148 153 156 159
5.1 Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger (188a 19-27) 166 5.2 Die drei Kriterien einer άρχή (188a27-30) 172 5.3 Die Funktion des Kapitels I. 5 im Gesamtkontext von Physik A 177 5.4 Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπί του λόγου (188a30-b26).. 182 5.4.1 Die Frage nach einem induktiven oder deduktiven Verfahren 184 5.4.2 Die Funktion der Prämissen (i) und (ii) 185 5.4.3 Das Werden aus Gegensätzen (188a30-b21) 190 5.4.3.1 Die 'einfachen Seienden' (τά ά π λ α των όντων: 188a35-b8) 191 5.4.3.2 Exkurs: Die zugrundeliegende Ontologie von 'einfachen' (άπλα) und 'zusammengesetzten' (σύνθετα) Seienden: Eine materielle Diairesis 197 5.4.3.3 Die 'zusammengesetzten Seienden' (τά σύνθετα των όντων: 188 b8-21) 200 5.4.4 Die Konklusion: Die Gegensätzlichkeit der φύσει γιγνόμενα (188 b21-26) 205 5.5 Der Übergang von den gegensätzlichen φύσει γιγνόμενα zu den gegensätzlichen άρχαί (188b26-189a 10) 206 5.5.1 Die Gegensätze κατά την αϊσθησιν und κατά τον λόγον (188b26189a 10) 207 5.5.2 Eine Anmerkung: „Die Ursachen des Werdens" (αίτίαι της γενέσεως) 211
Inhalt
6. Physik I. 6: 'Die Einführung des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
XIII
213
6.1 Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί (189 al 1-20) 213 6.2 Die drei Aporien (189a20-34) 223 6.2.1 Die erste Aporie (189a22-27) 225 6.2.2 Die zweite Aporie (189a27-32) 228 6.2.3 Die dritte Aporie (189a32-34) 235 6.3 Die zugrundeliegende Natur der Vorgänger (189a34-b 16) 236 6.4 Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien (189b 16-29) 240 6.5 Die abschließende Konklusion (189b27-29) 246 7. Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
248
7.1 Eine methodologische Vorbemerkung (189b29-34) 7.2 Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen' (189b34-190a21) 7.2.1 Eine sprachliche Untersuchung (189b34-190al3) 7.2.2 Die 'Einfachen' (τά άπλα) und 'Zusammengesetzten' (τά συγκείμενα) 7.2.3 „Etwas wird etwas" und „aus etwas wird etwas" (190a5-13) 7.2.4 Die Mehrdeutigkeit des Satzes ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190 a6-7) 7.2.5 Die Einführung des 'Bleibenden' (ύπομένον: 190a9-13) 7.2.6 Eine erste Konklusion (190al3-21) 7.2.7 Exkurs: Das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) 7.3 Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses (190a2131) 7.3.1 „Etwas wird aus etwas „ und „etwas wird etwas" 7.3.2 Warum man den Satz „das Erz wird eine Statue" nicht sagen kann 7.4 Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι" (190a31-b9) 7.4.1 Das 'etwas Werden' (τόδε τι γίγνεσθαι) 7.4.2 Das 'einfache Werden' (άπλώς γίγνεσθαι) 7.4.3 Ist das ύποκείμενον ein Bleibendes? - Das Problem des Samens 7.4.4 Exkurs: Überlegungen zu einer atemporalen Analyse des Werdenden.. 7.5 Die Konklusion bezüglich der in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente (190b9-17) 7.6 Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει δντα (190bl7-191a7) 7.6.1 Der Übergang von den Konstitutionsmomenten zu den άρχαί (190 b 17-20) 7.6.2 Das ύποκείμενον 7.6.2.1 Der Zahl nach eines, der Art nach zwei: 'ύλη' und 'στέρησις' 7.6.2.2 Die στέρησις und die έναντίωσις 7.6.3 Gibt es zwei oder drei Prinzipien? 7.6.4 Die στέρησις als 'Abwesenheit des είδος' (191a3-7)
248 254 254 260 261 263 265 267 271 277 277 283 295 298 300 304 309 315 324 324 337 337 340 348 351
XIV
Inhalt
7.7 Die Analogie (191 a7-l5) 7.7.1 Die Erkennbarkeit der ύποκειμένη φύσις 7.7.2 Die Konklusion bezüglich der Prinzipien (191al2-14) 7.8 Zusammenfassender Rückblick (191 al5-22)
356 357 376 379
8. Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
381
8.1 Die eleatische Aporie (191a24-33) 8.2 Aristoteles'Lösung der eleatischen Aporie (191a33-b27) 8.2.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191a33-bl7) 8.2.2 Das Werden aus Seiendem (191bl7-27) 8.3 Die angedeutete Lösung mit Hilfe der Begriffe von 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit' (191b27-34)
384 399 399 412
9. Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
424
422
9.1 Die Auseinandersetzung mit Piaton (191b35-192a34) 424 9.1.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191b35-192al) 424 9.1.2 Die ύποκειμένη φύσις: ύλη und στέρησις (192al-6) 434 9.1.3 Ein Exkurs zu Piatons naturphilosophischen Überlegungen 437 9.1.3.1 Piatons naturphilosophisches Modell im„Timaios" 437 9.1.3.2 Piatons Überlegungen zum Problem des Werdens im „Phaidon" 442 9.1.4 Das platonische 'Große-und-Kleine' (192a6-12) 448 9.1.5 Was hat Piaton übersehen? (192al2-16) 452 9.1.6 Die nach ihrer eigenen Vernichtung strebende ύλη (192al6-25) 457 9.1.7 Das Entstehen und Vergehen der ΰ λ η (192a25-34) 461 9.1.7.1 Die Argumentationsstruktur von 192a25-34 462 9.1.7.2 Die Definition der ΰλη (192a31-32) und die Frage nach einer 'πρώτη ΰλη' 475 9.2 Die abschließende Konklusion (192a34-b4) 479
10. Konklusion
482
11. Anhang
496
11.1 Abkürzungsverzeichnis der aristotelischen Schriften 11.2 Schematische Darstellungen 11.3 Bibliographie 11.4 Index
496 497 499 510
Einleitung Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist das Buch Α der aristotelischen Physik, das seit der durch Andronikos besorgten Ausgabe der wissenschaftlichen Werke von Aristoteles den Titel „Φυσική άκρόασις A" CPhysikalische Vorlesung A) trägt. Neben diesem eher allgemein gehaltenen Titel findet sich auch ein speziellerer Titel, unter dem das erste Buch der Physik im alexandrinischen Katalog der aristotelischen Werke als ursprünglich selbständiges Werk verzeichnet wurde. Er lautet: „Περί άρχων" (Über Prinzipien).1 Der Titel „Φυσική άκρόασις" macht deutlich, daß die Physik ursprünglich ein Kurs von Vorlesungen war. Zekl bemerkt in diesem Zusammenhang: Was die literarische Form dieser Texte, die die Physik bilden, angeht, so muß man sie ansetzen im Bereich von Redemanuskript, in verschiedenen Graden von Ausführlichkeit erstellt, von wörtlicher Vorformulierung bis hin zu Stichpunkten, Gedächtnisprotokoll oder Vorlesungsnachschrift, möglicherweise eines treuen Hörers, mit allen Vorzügen und Nachteilen, die solche Textgattung bezüglich Wortlaut und Verständnis des Gesagten an sich hat. Da die meisten der Vorträge mehrfach gehalten wurden und darüber offenbar auch diskutiert wurde, finden sich zusätzlich eingelegt oder dazugeschrieben stichwortartige Einschübe, Antworten auf Einwände, Notizen. (Zekl, 1987: XXI)
Gerade diese literarische Form bereitet einem Verständnis dieses Buches jedoch mitunter Schwierigkeiten und macht eine Kommentierung desselben notwendig, in der es unter anderem darum gehen muß, den Begründungszusammenhang der von Aristoteles vorgelegten Argumente mit ihren nicht explizit ausgesprochenen Prämissen, Andeutungen und Verweisen zu verdeutlichen. Der Vorlesungscharakter der Physik spricht filr die These, daß die Gedankenabfolge des Buches A wie es für eine Vorlesung kennzeichnend ist - Schritt für Schritt aufeinander aufbaut, so daß wir es hier nicht mit einer Darlegung von Ergebnissen, sondern vielmehr mit einer einen bestimmten Gedanken kontinuierlich weiterführenden Untersuchung zu tun haben.2 Da sich eine Untersuchung dadurch auszeichnet, Vgl. Düring (1966: 189; 291). Zum Titel ,,Περϊ άρχων" bemerkt Ross (1936: 4): „If we treat book i as the treatise περί άρχων par excellence, we must at the same time recognize that this phrase had a wider application; for the only actual reference in Aristotle under this title (in De Caelo 274a 21) is to Phys. iii." Vgl. Wieland (1962: 68 f.): „Man sollte gerade diese Dinge im Zusammenhang mit der jetzt wohl allgemein anerkannten Tatsache sehen, daß es sich bei der Physik, wie auch bei den anderen aristotelischen Hauptwerken, die erhalten sind, um Manuskripte zu Vorlesungen handelt, die sich an ein in erster Linie hörendes, nicht lesendes Publikum wenden. Gerade vor einem hörenden Publikum wird man immer nur das präzisieren können, was filr das Thema unbedingt nötig ist. Das ist eine der äußeren Bedingungen dafür, daß die aristotelische Philosophie in sich konsistent immer nur im Hinblick auf den konkreten Argumentationszusammenhang der betreffenden Untersuchung ist, nicht aber im Hinblick auf ein umfassendes »System«. Auf jeden Fall
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Einleitung
daß spätere Erkenntnisse auf früheren Überlegungen aufbauen, wobei diese früheren Überlegungen an späterer Stelle durchaus modifiziert oder gar korrigiert werden können, ist das Ernstnehmen des Untersuchungscharakters vor allem für ein adäquates Verständnis des Verhältnisses der einzelnen Kapitel zueinander von Bedeutung. Dies gilt um so mehr, als gerade zwischen den von Aristoteles in den Kapiteln 1.5,1.6 und 1.7 aufgestellten Thesen mitunter Widersprüche entdeckt wurden, die von manchen Interpreten gar als Inkonsistenzen innerhalb der aristotelischen Theorie gedeutet wurden. Mit diesem Untersuchungs- und Entwicklungscharakter ist zugleich der Umstand verbunden, daß diejenigen Begriffe, die bei Aristoteles für eine physikalische Untersuchung von zentraler Bedeutung sind - wie z.B. die Begriffe des Werdenden (γιγνόμενον) und des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) -, innerhalb der Untersuchung in ihrem semantischen Inhalt Modifikationen, Differenzierungen und Entwicklungen erfahren können, denen es insofern nachzugehen gilt, als diese Bedeutungsverschiebungen innerhalb der Sekundärliteratur bisweilen für Verwirrung gesorgt und zu unterschiedlichen Interpretationen geführt haben. So kann z.B. mit dem 'Werdenden' (γιγνόμενον) in Kapitel 1.7 sowohl der Ausgangspunkt (dasjenige, was werden wird) als auch der Endpunkt (dasjenige, was geworden ist) eines Werdeprozesses und mitunter auch das in einem Prozeß Befindliche (dasjenige, was wird) gemeint sein. Dies bedeutet für den Interpreten, daß man im Einzelfall jeweils aus dem Kontext heraus zu prüfen hat, welche Bedeutung vorliegt, und ob der verwendete Begriff selbst in einer gedanklichen Entwicklung steht. Ich werde zeigen, daß die gemeinsame Bedeutung des 'Werdenden' von Aristoteles primär darin gesehen wird, daß es das logische Subjekt einer Werdeprädikation darstellt, sei dies ein Subjekt, das aus etwas in dem Sinne wird, daß es entsteht (άπλώς γίγνεται), oder sei dies ein Subjekt, das etwas in dem Sinne wird, daß es sich eigenschaftlich verändert (τόδε τι γίγνεται). In Analogie zum Begriff des Werdenden erweist sich auch der Begriff des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) bei Aristoteles als durchaus mehrdeutig. Einige Interpreten sind der Ansicht, daß Aristoteles das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) eines Werdeprozesses in Kapitel 1.7 mit dem Bleibenden (ύπομένον) bei diesem Werdeprozeß gleichsetzt. Ich werde zeigen, daß der in Kapitel 1.7 verwendete Begriff des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) in einer Entwicklung begriffen ist, dessen primäre Bedeutung von Aristoteles schließlich
ist es auffallend, daß man die Tatsache, daß sich die aristotelischen Lehrschriften an ein hörendes Publikum richten, noch kaum filr die inhaltliche Interpretation gewertet hat. Hierher gehören nicht nur die gelegentlichen sachlichen Wiederholungen und Überschneidungen - die daher noch nicht eo ipso eine entwicklungsgeschichtliche Interpretation verlangen sondern vor allem auch der formale Aufbau der einzelnen Traktate, ebenso die Sprache mitsamt der ganzen Argumentationstechnik, die ihre Herkunft aus der rhetorischen Technik nur selten verleugnen kann. Vor allem die erstaunliche Wandlungsfähigkeit vieler aristotelischer Begriffe, die im Laufe der Untersuchung manchmal ihren Sinn andern, wenngleich niemals sprunghaft, ist hier zu nennen."
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darin gesehen wird, daß es ein Aufnehmendes für sowohl substantielle als auch akzidentelle Formen darstellt. 3 Da eine dem Untersuchungscharakter dieses Buches angemessene Interpretation schrittweise vorzugehen hat und mit dem ersten Kapitel beginnen muß, um von ihm aus kontinuierlich voranzuschreiten, habe ich mich für einen Satz-fürSatz-Kommentar entschieden, der Schritt für Schritt dem aristotelischen Gedankengang folgt. Durch ihn soll gezeigt werden, auf welche Weise die einzelnen Kapitel dieses Buches gedanklich miteinander verknüpft sind. In bezug auf die Interpretation der aristotelischen Schriften hat Gigon (1975: 352) auf folgendes Desiderat hingewiesen: W a s der Aristoteiesforschung heute noch am meisten zu fehlen scheint, sind Interpretationen, also Untersuchungen, die dem Kontinuum eines bestimmten Textes nachgehen und den Sinn j e d e s einzelnen Satzes für sich und in seiner U m g e b u n g zu verstehen suchen.
Dieser von Gigon gestellten Forderung soll die hier vorliegende Analyse des Buches Α der Physik nachkommen. Wirft man einen Blick auf die vielfältigen Interpretationen dieses Buches, so fällt auf, daß einige Kapitel - wie z.B. das Kapitel 1.1, das eine methodologische Einführung enthält, und das Kapitel 1.7, in dem Aristoteles seinen eigenen Ansatz darlegt - sehr große Beachtung gefunden haben, während andere Kapitel wie z.B. diejenigen Kapitel, in denen Aristoteles sich in sehr ausführlicher Weise mit den Ansichten und Thesen seiner Vorgänger auseinandersetzt - vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben. 4 Angesichts des Untersuchungscharakter des Buches Α der Physik scheint eine eingehende Analyse der Doxographie, die Aristoteles der Darlegung seines eigenen Ansatzes voranstellt, für das Verständnis desselben jedoch unentbehrlich zu sein. In einer solchen Analyse muß es darum gehen, die Begründungsstrukturen der von Aristoteles gegenüber seinen Vorgängern angeführten Argumente herauszuarbeiten, um auf diese Weise deutlich zu machen, wie sie in den Gesamtkontext einzuordnen sind. Hierbei wird auch die Frage zu stellen sein, ob Aristoteles bei der Rekonstruktion der Argumente seiner Vorgänger diesen gerecht wird und inwiefern er deren Ansichten bereits im Hinblick auf die Darlegung seiner eigenen Theorie hin interpretiert oder gar verändert.
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Beim Werden einer Statue aus Erz nimmt das Erz die substantielle Form der 'Statue' auf und wird zur ehernen Statue; beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen nimmt der Mensch die akzidentelle Form der 'Bildung' auf und wird zu einem gebildeten Menschen. Da beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen das ύποκείμενον 'Mensch' die ούσία beim Gewordenen 'gebildeter Mensch' darstellt, während beim Werden einer Statue aus Erz nicht das ύποκείμενον 'Erz', sondern vielmehr das είδος 'Statue' die ουσία beim Gewordenen 'eherne Statue' darstellt, kann Aristoteles am Ende das Kapitels 1.7 zu Recht sagen, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das εΐδος die ούσία bilde (vgl. 191al9-20; die Zitatausweisung folgt der üblichen Bekker-Paginierung). So bemerkt Loux (1992: 281, Fn.l) zum Kapitel 1.8: „In attempting to understand Aristotle's response to the Parmenidean argument, one is struck by the fact that recent literature on A.8 seldom attempts to work through the difficult text of A.8."
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Bezüglich der Frage, in welcher Weise die einzelnen Kapitel des Buches A miteinander verknüpft sind, wird folgende methodische Grundstruktur in der Auseinandersetzung von Aristoteles mit seinen Vorgängern deutlich werden. Aristoteles ist im Buch Α der Physik darum bemüht, die Theorien seiner Vorgänger möglichst als einander konträre Theorien gegenüberzustellen, wobei es für einander konträre Gegensätze ja kennzeichnend ist, daß sie zwar nicht zugleich wahr, wohl aber zugleich falsch sein können. Aristoteles wird selbst einen Mittelweg zwischen diesen konträren Positionen beschreiten. Dies geschieht dadurch, daß er jeweils von einer extremen Position ausgehend durch deren Widerlegung zu einer konträren Position gelangt, die es dann ebenfalls zu widerlegen gilt, wobei er allerdings jeweils richtig Gesagtes festhält, um sich auf diese Weise kontinuierlich einer mittleren Position anzunähern.5 Der von Aristoteles in seinen Ethiken ausgesprochene Grundsatz, daß die mittlere Grundhaltung zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig die richtige Haltung sei,6 hat bei Aristoteles vor diesem Hintergrund nicht nur für unser moralisches Handeln eine Bedeutung, sondern er besitzt auch eine wissenschaftstheoretische Relevanz. Die Wahl des mittleren Weges zwischen einander konträren Positionen ist als Strukturierungsprinzip der in Physik Α vorgelegten Doxographie zu betrachten. Der Titel „Περί άρχων", der sowohl bei Diogenes Laertius (41 περί αρχής α) als auch bei Hesychius (21 περί άρχων ή φύσεως α) bezeugt ist,7 macht deutlich, daß das Buch Α der Physik über Prinzipien handelt. Mit diesen Prinzipien, denen Aristoteles schließlich die Namen ,,ϋλη bzw. ύποκείμενον", ,,εΐDie konträre Gegensätzlichkeit der Theorien der Vorgänger zeigt sich unter anderem in folgendem: (i) Während die Eleaten der Ansicht sind, daß es überhaupt keine Bewegung gebe, ist Heraklit der Auffassung, daß alles bewegt sei. Im Unterschied dazu lautet Aristoteles' Grundannahme, daß die Naturdinge - entweder alle oder einige - bewegt sind (1.2, 185al2-13). Vor allem der in der Grundannahme zu findende Ausdruck „einige" (ενια) hat bei den Interpreten filr Verwirrung gesorgt. Ich werde zeigen, daß wir es in bezug auf die aristotelische Grundannahme nicht - wie einige Interpreten meinen - mit einem axiomatischen Prinzip, sondern vielmehr mit einem empirischen Ausgangspunkt zu tun haben, (ii) Während es der Theorie der Naturphilosophen zufolge nur Eigenschaftsveränderungen - und nicht Entstehensprozesse im strengen Sinne - geben kann, kann es der Theorie von Piaton zufolge nur Entstehensprozesse - und nicht Eigenschaftsveränderungen im strengen Sinne - geben. Im Unterschied dazu wird Aristoteles zeigen, daß es sowohl Entstehensprozesse als auch Eigenschaftsveränderungen gibt, (iii) In bezug auf die für das Buch Α zentrale Aporie der Eleaten, der zufolge etwas nur aus Seiendem oder Nichtseiendem werden kann, wobei die Eleaten beides filr unmöglich hielten und deshalb das gesamte Werden aufhoben (vgl. 1.8), waren die Naturphilosophen der Ansicht, daß etwas nur aus Seiendem werden könne (vgl. 1.4), während Piaton meinte, daß etwas nur aus Nichtseiendem werden könne (vgl. 1.9). Im Unterschied dazu wird Aristoteles zeigen, daß in einer bestimmten Hinsicht betrachtet sowohl ein Werden aus Seiendem als auch ein Werden aus Nichtseiendem möglich ist. (iv) Während die Eleaten der Ansicht waren, daß es nicht Vieles, sondern nur Eines geben kann, kamen die Nachfahren dieser Eleaten durch Aporien gezwungen schließlich zur Auffassung, daß es nicht Eines, sondern nur Vieles geben kann (vgl. 1.2). Im Unterschied dazu wird Aristoteles zeigen, daß ein und dasselbe unter verschiedenen Hinsichten betrachtet sowohl Eines als auch Vieles sein kann. 6
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Vgl. Eth. Nik. II.9, 1109b23-26: „Soviel also ist klar geworden, daß die mittlere Grundhaltung [ή μέση εξις] in allen Lagen unser Lob verdient, daß es jedoch unvermeidlich ist, gelegentlich nach der Seite des Zuviel [έπί την ύπερβολήν], dann nach der des Zuwenig [έπϊ την έλλ ε ι ψ ι ν ] auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen." (Übers, nach Dirlmeier). Vgl. Ross (1936: 4).
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δος" und ,,στέρησις" geben wird, sind die Prinzipien der Naturdinge (φύσει οντά) gemeint. Es wird jedoch genauer zu bestimmen sein, in welchem Verhältnis diese Prinzipien zueinander stehen,8 und in welchem Sinne die στέρησις, die in Kapitel 1.7 sowohl in Abhängigkeit vom ύποκείμενον als auch in Abhängigkeit vom είδος bestimmt wird, als ein Prinzip betrachtet werden kann: Ist sie nur ein Prinzip des Werdenden (φύσει γιγνόμενον) und nicht des Seienden im Sinne eines Gewordenen (φύσει δν), oder ist sie ein Prinzip von beiden? Angesichts der Tatsache, daß es im Buch Α um die Prinzipien der Naturdinge (τά φύσει δντα) geht, fällt allerdings auf, daß Aristoteles die Frage danach, was wir unter diesen „Naturdingen" - oder gar unter „Natur" (φύσις) selbst - im einzelnen zu verstehen haben, 9 zu Beginn seiner Physik ebenso unbeantwortet läßt wie auch die Frage nach einer genaueren Bestimmung des ftlr die Untersuchung zentralen Begriffs der ,,άρχή". 10 Erst zu Beginn von Physik Β wird Aristoteles eine Definition des Begriffs der Natur anfuhren." Dieses Offenhalten der Bedeutung der für eine Physik grundlegenden Begriffe, das in den modernen Naturwissenschaften, in denen jede mögliche Ambiguität derart zentraler Begriffe durch exakte Definitionen ausgeschaltet werden soll, eher als ein Mangel innerhalb der Grundlagentheorie angesehen wird, bekommt bei Aristoteles insofern einen positiven Sinn, als es ihm gerade am Anfang einer Theoriebildung darum geht, den Standpunkt der Betrachtung so offen und weit wie möglich zu halten, um nicht aufgrund zu eng gefaßter Definitionen den zu behandelnden Gegenstand unnötig einzugrenzen. Es sei zudem darauf hingewiesen, daß es in einer Untersuchung über die Prinzipien - im Gegensatz zur Darlegung von bereits gewonnenen Erkenntnissen - nicht darum gehen kann, aus sicheren und festen Prinzipien ableitend weiteres Wissen zu erlangen, sondern daß es für Aristoteles vielmehr darum geht, umgekehrt von unseren Wahrnehmungen ausgehend, die für sich keine definitorische Exaktheit beanspruchen, erst zu den allgemeingültigen Prinzipien zu gelangen. Der methodische Weg hat, wie Aristoteles im einleitenden Kapitel 1.1 darlegt, von den für uns bekannteren Dingen (έκ των
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Ich werde darlegen, daß wir es in bezug auf die Prinzipien ϋλη und είδος mit einer wechselseitigen Abhängigkeit zu tun haben. Die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks „Natur" (φύσις), denen wir im Laufe der Untersuchung begegnen werden, lassen sich zunächst wie folgt differenzieren: (a) Natur als Inbegriff und Gesamtheit aller Naturdinge (vgl. 1.1, 184al5; 1.2, 185al8; 1.4, 187a35); (b) Natur als Wesen oder Beschaffenheit eines Naturdings (vgl. 1.4, 187b7; 1.6, 189a27; 1.8, I91a25; 1.9, 192al9); (c) Natur als zugrundeliegendes Prinzip der Naturdinge (vgl. 1.6, 189a29-b2, b21; 1.7, 191a8; 1.9, 192al0und a30). Bostock (1982: 180) bemerkt in diesem Zusammenhang: „He [Aristoteles] does not tell us what he means by 'nature' - for that we have to wait until book II - and he does not tell us what he means by a 'principle' in this context, but as we read on we may come to think this omission unimportant." Vgl. Phys. II. 1, 192b20-23: ,,ώς οϋσης της φύσεως άρχής τινός και αιτίας τοΰ κινεΐσθαι και ήρεμεΐν έν ω υπάρχει πρώτοις καθ' αύτό και μή κατά σομβεβηκός". Angesichts des Umstands, daß ein im Rahmen einer Physik derart zentraler Begriff wie der Begriff der Natur (φύσις) im Buch Α zwar verwendet, jedoch erst im Buch Β deflatorisch bestimmt wird, stellt sich die Frage, ob es einer Wissenschaft nicht angemessener wäre, die zu verwendenden Begriffe vor ihrem Gebrauch zu definieren.
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γνωριμωτέρων ήμΐν) zu den der Natur nach bekannteren Dingen (τη φύσει γνωριμώτερα) zu führen. Durch den der vorliegenden Untersuchung vorangestellten Titel „Über Prinzipien" soll angedeutet werden, daß das Buch Α der Physik hier als ein durchaus selbständiges und abgeschlossenes Werk betrachtet wird. Diese Selbständigkeit und Abgeschlossenheit ist innerhalb der Sekundärliteratur bisweilen in Frage gestellt worden. So hat zuletzt vor allem Fritsche die Ansicht vertreten, daß das Buch Α der Physik hinsichtlich seines Beweiszieles als unabgeschlossen zu betrachten sei und einer notwendigen Fortsetzung durch das Buch Β bedürfe: In der modernen Interpretation gilt unwidersprochen die Annahme, daß die einzelnen Bücher der Physikvorlesung nicht viel miteinander zu tun hätten. Jedes bilde methodisch und sachlich eine in sich geschlossene Einheit, deren Gedankengang nicht aus sich auf die anderen Bücher verweise und ihrer nicht bedürfe. Eine Verschärfung hat diese Ansicht gelegentlich darin gefunden, daß man sogar die einzelnen Kapitel eines Buches für eine nur lockere und äußerliche Aneinanderreihung verschiedener Themen gehalten hat. Demgegenüber soll hier gezeigt werden, daß das erste Buch einen Argumentationszusammenhang eröffnet, der im ersten Buch zwar einen Abschluß, aber einen nur vorläufigen findet und zu seiner vollen Einlösung des zweiten Buches bedarf. (Fritsche, 1986: 6)
Fritsche stützt seine These im wesentlichen auf die beiden Sätze 184al0-16 und 190b 17-23, durch deren Analyse er bemüht ist, darzulegen, daß das am Ende des Buches ausgesprochene Beweisziel desselben - wozu Fritsche vor allem den Nachweis der Existenz von Prinzipien zählt -12 im Hinblick auf das Prinzip des είδος in Physik Α noch nicht erfüllt wurde.13 Auch wenn die einzelnen Bücher der Physik in einem Zusammenhang miteinander stehen, so wird die vorliegende Untersuchung doch zeigen, daß das Buch Α sowohl hinsichtlich seines Beweiszieles als auch hinsichtlich seiner methodischen Durchführung als ein einheitliches und geschlossenes Werk zu betrachten ist, in dem die einzelnen Kapitel auf systematische Weise miteinander verknüpft sind. Um die inhaltliche und methodische Geschlossenheit dieses Buches zeigen zu können, reicht es jedoch nicht aus, sich auf einige wenige Textstellen zu berufen. Die These von der Abgeschlossenheit des Buches Α der Physik verlangt zu ihrer Begründung vielmehr nach einer Gesamtinterpretation desselben, da sich die These einer Abgeschlossenheit von etwas immer schon auf dieses etwas als ein Ganzes bezieht. Insbesondere hinsichtlich der Frage nach der dem Buch Α zugrundeliegenden Methodologie ist innerhalb der Sekundärliteratur mehrfach auf Inkonsistenzen hingewiesen worden. Zum einen wurden diese Inkonsistenzen darin gesehen,
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Vgl. 1.9, 192b2-3: „Daß es also Prinzipien gibt [οτι μεν οΰν είσϊν άρχαί] und welche und wieviele der Zahl nach es sind, soll uns nun als auf diese Weise bestimmt gelten." Soweit es keine anderen Verweise gibt, stammen die Übersetzungen von mir. Der griechische Text der aristotelischen Physik, der der hier vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, ist entnommen aus: Aristotelis Physica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. D. Ross, Oxford 1950, die mit der sogenannten „großen" Oxford-Ausgabe - Aristotle 's Physics, A revised Text with Introduction and Commentary by W. D. Ross, Oxford 1936 - bezüglich des Textes identisch ist. Vgl. Fritsche (1986: 9 und 98).
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daß das Buch Α der Physik als wissenschaftliche Einzeluntersuchung, die von den konkreten Naturdingen ausgeht, um zu deren Prinzipien zu gelangen, im Widerspruch zu der in den Analytica posteriora geforderten Methodologie einer apodeiktischen Wissenschaft steht, die umgekehrt von den Prinzipien ausgeht, um aus ihnen die einzelnen Dinge herzuleiten. Zum anderen wurden diese Inkonsistenzen in folgendem gesehen: Obwohl der in Buch Α beschriebene Untersuchungsweg der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie zufolge von den konkreten Wahrnehmungsdingen ausgehend durch eine Diairesis derselben zu den Prinzipien fuhren soll, beginnt Aristoteles in den Kapiteln 1.2 und 1.3 doch nicht mit den konkreten Wahrnehmungsdingen, sondern eher mit einer abstrakten und begrifflich-logischen Analyse der eleatischen Thesen. In bezug auf diese methodologischen Probleme wird die hier vorliegende Interpretation neue Gesichtspunkte in den Blick bringen und zeigen, daß das Buch Α als ein methodisch geschlossenes Werk zu betrachten ist. In diesen Zusammenhang fällt auch eine Erörterung der Frage, ob wir es in bezug auf das Buch Α der Physik eher mit einer empirischen oder mit einer begrifflich-logischen bzw. dialektisch-philosophischen Untersuchung zu tun haben. Auch wenn sich die vorliegende Untersuchung mitunter bemüht, die These vom empirischen Charakter der Methode im Buch Α der Physik sowohl durch eine Analyse der 'Grundannahme' in 185al2-14 als auch durch eine Analyse der Kapitel 1.5 und 1.7 stärker in den Vordergrund zu stellen, so bedeutet dies jedoch nicht, daß damit der philosophische Charakter insgesamt in den Hintergrund treten würde. Vielmehr haben wir es mit einer philosophischen Untersuchung zu tun, die ihren Ausgangspunkt in der Empirie hat. Die Ausgangsfrage, ob die Physik eher als eine dialektisch-philosophische oder als eine empirische Untersuchung zu verstehen sei, scheint mir in dem Sinne an der aristotelischen Gedankenführung vorbeizugehen, als Aristoteles selbst nicht zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft im heutigen Sinne differenziert. 14 Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, daß sich Aristoteles im Buch A der Physik vor allem in bezug auf die von ihm zugrunde gelegte Methode hinsichtlich einer Theorie der Naturdinge von den Theorien seiner Vorgänger abgrenzen will. Während die Eleaten von dem theoretischen Satz „alles ist Eines" (είναι εν τό πάν) ausgingen, den sie allein durch gedankliche Überlegungen gewannen und der einen Prinzipiencharakter für sie hatte, um von diesem Satz ausgehend auf die Wirklichkeit zu schließen, die sie als absolute Einheit und Unbewegtheit begriffen, will Aristoteles den umgekehrten Weg gehen: Ausgehend von den vielen konkreten und bewegten Einzeldingen will er erst zu allgemeinen Bestimmungen und Prinzipien gelangen. Daß für Aristoteles der Auch die von Jones (1974: 476-78) - vgl. ebenfalls Wieland (1962) - in bezug auf das Kapitel 1.7 vertretene Gegenüberstellung zwischen einer (i) sprachlich-linguistischen und einer (ii) empirischen Untersuchung, wobei Jones der Ansicht ist, daß wir es in bezug auf das Kapitel 1.7 mit einer sprachlich-linguistischen Untersuchung zu tun haben, die sich nicht auf empirische Beobachtungen von Werdeprozessen, sondern auf die Sprache konzentriert, in der die Werdeprozesse formuliert werden, scheint mir aus dem Grunde verfehlt zu sein, da sich eine empirische und eine linguistische Untersuchung für Aristoteles keineswegs gegenseitig ausschließen.
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menschliche Erkenntnisweg nicht vom Allgemeinen zum Konkreten, sondern umgekehrt zunächst vom Konkreten zum Allgemeinen zu führen hat, wobei allerdings in einem zweiten Schritt dann die gewonnenen allgemeinen Bestimmungen umgekehrt auf das konkrete Einzelne anzuwenden sind, wird vor allem in der Analyse des Kapitels 1.8 deutlich werden. Angesichts der Tatsache, daß das Buch Α der Physik in der zurückliegenden Philosophiegeschichte zu den mit am häufigsten interpretierten Werken zählt die Rezeptionsgeschichte setzte bereits in der Spätantike mit den Kommentaren von Themistius, Alexander, Simplicius und Philoponus ein -, drängt sich die Frage auf, ob es in diesem Buch überhaupt noch etwas 'Neues' zu entdecken gibt. Seit den einflußreichen und wichtigen Kommentaren, die in diesem Jahrhundert u.a. von Ross (1936), Mansion (1947), Wieland (1962), Wagner (1967) und Charlton (1970) vorgelegt wurden, ist wiederum einige Zeit verstrichen, und die Interpreten haben sich in den letzten Jahren vor allem mit Einzelproblemen auseinandergesetzt, die durch diese Kommentare ins Bewußtsein getreten sind und keiner Lösung zugeführt werden konnten. Hierbei konzentrierte man sich vor allem auf einige schwierige Textstellen des Buches A, für die unterschiedliche Lösungswege skizziert wurden, die dann wiederum zu unterschiedlichen und zum Teil sogar entgegengesetzten Konsequenzen bezüglich der Interpretation der von Aristoteles im Buch Α der Physik entwickelten Theorie über die Naturdinge geführt haben. Dabei sind wichtige Einsichten hervorgetreten, aus denen sich bei genauerem Hinsehen aber auch neue Schwierigkeiten ergeben. Diese Ergebnisse der jüngsten Forschungsbeiträge gilt es zusammenzutragen und in den Dienst einer kontextbezogenen Gesamtinterpretation des Buches Α der Physik zu stellen. In diesem Zusammenhang wird die vorliegende Untersuchung zeigen, daß durch eine kontextbezogene Gesamtinterpretation auch eine kohärente Deutung schwieriger Textstellen möglich ist, die nicht nur bereits die spätantiken Kommentatoren in Ratlosigkeit zurückließen, sondern die auch bis auf den heutigen Tag für viel Verwirrung bei den Interpreten sorgen. Als exemplarische Beispiele für solch schwierige Textpassagen im Buch Α seien hier nur die folgenden genannt: (i) In 1.5, 188M2-21 sagt Aristoteles, daß ein Haus als etwas Wohlgefügtes in eine Ungefügtheit vergeht, wobei diese Ungefügtheit nicht eine beliebige sein darf, sondern die gegenüberliegende sein muß. Ob man in bezug auf ein Haus jedoch von einer 'gegenüberliegenden Ungefügtheit' sprechen kann, scheint problematisch zu sein, (ii) In 1.7, 190a25-26 behauptet Aristoteles, daß wir in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz nur sagen „eine Statue wird aus Erz", nicht aber „das Erz wird eine Statue". Warum man jedoch nicht sagen kann „das Erz wird eine Statue", scheint fraglich zu sein, (iii) In 1.7 führt Aristoteles zur Veranschaulichung des Entstehens einer ούσία aus einem ύποκείμενον das Beispiel des Werdens von Pflanzen und Sinnenwesen aus Samen an (190b45: ,,οΐον τά φυτά και τά ζώα έκ σπέρματος"). In bezug auf dieses Beispiel ist jedoch eingewendet worden, daß Aristoteles hier besser davon gesprochen hätte, daß ein ζφον aus dem Menstruationsblut (καταμήνια) oder aus Fleisch und
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Knochen wird, da Aristoteles in Kapitel 1.7 doch der Ansicht zu sein scheint, daß das ϋποκείμενον, aus dem etwas wird, ein Bleibendes ist, und der Same beim Werden eines ζφον aus Samen kein Bleibendes darstellt. Ich werde jedoch zeigen, daß es einen guten Grund gibt, warum Aristoteles hier vom Werden eines ζωον aus Samen spricht, wobei dieser Grund vereinfacht gesagt darin besteht, daß nach Ansicht von Aristoteles für gewöhnlich nur Bestimmtes aus Bestimmtem werden soll, (iv) In 1.8, 191 b20-21 führt Aristoteles zur Veranschaulichung seiner Theorie des Werdens das ungewöhnliche Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd an. Einige Interpreten haben an dieser Stelle eine Textkorrektur vorgenommen, der zufolge hier anstelle des Beispiels des Werdens eines Hundes aus einem Pferd von den Beispielen des Werdens eines Hundes aus einem Hund und des Werdens eines Pferdes aus einem Pferd die Rede sei. Die vorliegende Untersuchung wird jedoch zeigen, daß es einen guten Grund gibt, warum Aristoteles das ungewöhnliche Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd zur Veranschaulichung seiner Theorie wählt, wobei dieser Grund ebenfalls mit der These von der Bestimmtheit des Werdens zusammenhängt. (v) In 1.9, 192a26-27 spricht Aristoteles davon, daß die ύλη als das 'In-dem' (τό έν ω) an sich vergeht, weil das Vergehende - die στέρησις - in diesem sei. Auch hier liegt bis heute - soweit ich sehen kann - keine kohärente Interpretation vor, warum Aristoteles der Ansicht ist, daß die ϋλη als das 'Indem' an sich vergeht. In bezug auf die genannten Textpassagen werden Lösungsmöglichkeiten skizziert werden, die sich zum Teil aus der Gesamtinterpretation des Buches A ergibt, der unter anderem folgende Thesen zugrunde liegen: (1) In bezug auf die von Aristoteles in Kapitel 1.7 vorgelegte Analyse des Werdens haben wir es weniger mit einer temporalen als vielmehr mit einer - wie ich es nennen will logisch prädikativen und grammatischen Analyse des Werdens (γίγνεσθαι) zu tun, in der Aristoteles in Analogie zum Begriff des 'Seins' (είναι), bei dem zwischen einem „etwas Sein" und einem „(einfachen) Sein" (im Sinne von 'Existieren') zu unterscheiden ist, in 190a31-33 auch zwischen einem „etwas Werden" (τόδε τι γίγνεσθαι) und einem „(einfachen) Werden" (im Sinne von 'Entstehen': άπλώς γίγνεσθαι) differenziert. Da ein jedes Werden als Ereignis in der Zeit stattfindet, und da Aristoteles an anderen Stellen seines Werkes diesen zeitlichen Aspekt eines jeden Werdenden auch ausdrücklich hervorhebt, muß es einen Grund geben, warum der zeitliche Aspekt des Werdenden in Physik Α in den Hintergrund tritt. Diesen Grund gilt es herauszuarbeiten. (2) Der vorliegenden Untersuchung zufolge sieht Aristoteles einen wesentlichen Aspekt des Werdens im Buch Α der Physik darin, daß in der Regel nicht Beliebiges aus Beliebigem wird. Diese Nichtbeliebigkeit des Werdens, die ich positiv als „Bestimmtheit des Werdens" bezeichnen werde, stellt für Aristoteles eine Bedingung der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis von Naturprozessen dar. Denn wenn grundsätzlich Beliebiges aus Beliebigem würde, so wären für Aristoteles keine Regelhaftigkeiten in der Natur mehr gegeben. Diese Regelhaftigkeiten müssen jedoch vorhanden sein, sofern eine Physik als Wissenschaft
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überhaupt möglich sein soll. Denn von dem Zufälligen, Beliebigen und Akzidentellen kann es Aristoteles zufolge bekanntlich keine Wissenschaft geben. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Piaton der Ansicht war, daß das Werdende und Bewegte letztlich unerkennbar sei, weil es sich niemals auf dieselbe Weise verhält.15 Diese Ansicht bedeutet jedoch insofern eine Infragestellung der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft, da deren Gegenstand ja das Seiende als ein Bewegtes sein soll. Die Grundfrage einer Physik als Wissenschaft lautet somit: Wie vermag etwas Bewegtes und sich ständig Veränderndes überhaupt Gegenstand der Erkenntnis zu werden? Aristoteles beantwortet diese Frage dahingehend, daß die Erkenntnis der bewegten φύσει δντα aus einer Erkenntnis der diese φύσει δντα konstituierenden Prinzipien möglich sein soll, die als allgemeine Prinzipien gleichsam das Bleibende bei einem jeden Werdeprozeß darstellen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Prinzipien der φύσει οντα als eine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft zu verstehen. Zu diesen Bedingungen der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft ist auch die These von der Nichtbeliebigkeit des Werdens zu zählen. Auch wenn diese These von Aristoteles im Buch Α nur an wenigen Stellen explizit hervorgehoben wird, so wird die vorliegende Untersuchung doch zeigen, daß sie dieses Buch gleichsam wie einen roten Faden durchzieht: In Kapitel 1.4 macht Aristoteles zunächst darauf aufmerksam, daß der Theorie von Anaxagoras zufolge jedes aus jedem (vgl. 187b2: πάν έκ παντός) bzw. Beliebiges aus Beliebigem (vgl. 187b24: έξ ότουοΰν ότιοΰν) würde. Dieses Werden eines jeden aus einem jeden bzw. eines Beliebigen aus einem Beliebigen wird sich in den von Aristoteles nachfolgend angeführten Argumenten gegen die Theorie von Anaxagoras als Unmöglichkeit erweisen. In Kapitel 1.5 weist Aristoteles dann daraufhin, daß die Vorgänger (konträre) Gegensätze als Prinzipien angenommen haben, wobei diese konträre Gegensätzlichkeit für Aristoteles ein erstes Konstitutionsmoment darstellt, das für das Werden eines Bestimmten aus einem Bestimmten verantwortlich ist. Auch wenn diese durch die konträren Gegensätze konstituierte Bestimmtheit des Werdens im weiteren Verlauf der Untersuchung zunächst wieder in den Hintergrund tritt, so scheint sie doch eine Bedeutung fiir den von Aristoteles in Kapitel 1.7 dargelegten eigenen Ansatz zu haben. Da in Kapitel 1.5, wo von einem ύποκείμενον noch keine Rede ist,16 angenommen wird, daß die konträren Gegensätze für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich seien, und da die in Kapitel 1.5 herausgearbeitete konträre Gegensätzlichkeit der Prinzipien in 15 16
Vgl. Politeia 479c, 508; Timaios 28a; Philebos 59b. Dies wird erst in Kapitel 1.6 thematisiert, wo auf die Aporien hingewiesen wird, die sich ergeben, wenn man wie in Kapitel 1.5 nur Gegensätze als Prinzipien annimmt. Aristoteles führt in 1.6, 189a22-34 drei Aporien an, die darlegen sollen, daß den Gegensätzen notwendigerweise ein ύποκείμενον als drittes Prinzip zugrunde zu legen ist. Ich werde zeigen, daß Aristoteles mit diesen drei Aporien auf die in 1.5, 188a27-30 angeführten drei Kriterien einer αρχή zurückgreift, und zwar auf folgende Weise: Während die drei Kriterien einer άρχή - (1) μήτε έξ άλλήλων; (2) μήτε έξ άλλων; (3) έκ τούτων πάντα - in Kapitel 1.5 einen guten Grund dafür darstellen, Gegensätze zu Prinzipien zu machen, so führen eben diese drei Kriterien in Kapitel 1.6 in Aporien, wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt.
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Kapitel 1.7 durch den umfassenderen Gegensatz von είδος und στέρησις ersetzt wird,17 stellt sich die Frage, welches Moment in bezug auf den von Aristoteles in Kapitel 1.7 dargelegten eigenen Ansatz für die Nichtbeliebigkeit des Werdens verantwortlich ist. Die konträren Gegensätze können es nicht alleine sein, da sie für das substantielle Werden der ούσίαι keine Rolle spielen. Der Gegensatz είδος und στέρησις kann es nicht alleine sein, da er zu umfassend ist (denn es gibt ja unzählbar vieles, das z.B. nicht die Form einer Statue hat und doch nicht zur Statue werden kann). Folglich muß das ύποκείμενον für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein. Dieses ύποκείμενον kann allerdings nur dann für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein, wenn es selbst schon von sich aus ein bestimmtes ύποκείμενον ist, so daß gilt, daß bestimmte Formen nur bestimmten Zugrundeliegenden zukommen können. Auch wenn Aristoteles die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden in dieser Form nicht eigens hervorhebt, kann sie doch aus seinen Bemerkungen über das Werden in Kapitel 1.7 herausgearbeitet werden. Mit dieser Bestimmtheit des Zugrundeliegenden ist zugleich aber die These verbunden, daß Aristoteles im Buch Α der Physik nicht von einer prima materia spricht, die für sich betrachtet das vollkommen Unbestimmte darstellt. Vor allem in bezug auf die Erkennbarkeit der ύποκειμένη φύσις durch eine Analogie (1.7, 191a7-14) wie auch in bezug auf die These von der Unvergänglichkeit der ύλη (1.9, 192a25-34) ist innerhalb der Sekundärliteratur zuweilen die Ansicht vertreten worden, Aristoteles spreche hier von einer prima materia. Demgegenüber wird die vorliegende Untersuchung jedoch deutlich machen, daß sich diese prima materia nach Ansicht von Aristoteles vielmehr in der Theorie Piatons findet, von der sich Aristoteles allerdings deutlich unterscheiden will. Der vorliegenden Untersuchung zufolge versteht Aristoteles das Prinzip der ύλη im Buch Α der Physik nicht als prima materia, sondern vielmehr als ein allgemeines Prinzip, als welches die ύλη unvergänglich ist und im Verhältnis zum είδος durch eine Analogie mit den konkreten Dingen erkannt werden kann. Die aristotelische Physik gilt heute naturwissenschaftlich betrachtet in vielen Punkten als weitgehend überholt. Dennoch muß diese Überholtheit nicht besagen, daß mit ihr zugleich auch die gesamte Theorie bedeutungslos geworden ist. Vor allem aufgrund ihrer Plausibilität und ihres unmittelbaren Bezugs auf das uns in der Wahrnehmung Gegebene konnte sich die aristotelische Physik über einen so langen Zeitraum behaupten, bis sie von der neuzeitlichen Naturwissenschaft abgelöst wurde, in der die Plausibilität und unmittelbare Einsichtigkeit der Theorie jedoch zunehmend verlorengegangen ist. Nach Ansicht von Hieber steht die aristotelische Naturerkenntnis wegen ihres Bezugs zur lebensweltlichen Erfahrung in einem genetischen und widerspruchsfreien Zusammenhang mit dem
Dies findet seinen Grund darin, daß die konträren Gegensätze zwar ftlr die Eigenschaftsveränderung, nicht aber für das substantielle Entstehen einer ούσία eine Bedeutung haben. Denn die ούσίαι sind ja, wie Aristoteles in 1.6, 189a32-34 hervorhebt, einander nicht konträr entgegengesetzt.
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Einleitung
durch alltägliche Erfahrung erworbenen Wissen.18 Das Auseinanderfallen von lebensweltlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis bezeichnet Hieber als „epistemologischen Bruch" (1982: 176 f.). Dieser epistemologische Bruch ist jedoch nicht nur in der modernen Physik zu beobachten. Aristoteles hat einen solchen Bruch bereits in einigen Theorien seiner Vorgänger - man denke an die Eleaten und an Anaxagoras - gesehen und ihnen eine plausiblere Theorie des Werdens gegenübergestellt, in der er von der Beobachtung konkreter Werdeprozesse und deren sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten ausgeht. Die diesen sorgfältig durchgeführten Analysen des Werdens zugrundeliegende Frage danach, wie es überhaupt möglich ist, daß ein Bewegtes und sich ständig Veränderndes Gegenstand unserer Erkenntnis werden kann, so daß wir schließlich ein Wissen vom Bewegten erlangen, ist auch heute noch als eine durchaus ernst zu nehmende Frage zu betrachten.
Vgl. Hieber (1982: 174): „Für ihre theoretischen Aussagen ist ausgeschlossen, daß sie in Widerspruch geraten mit der alltäglichen Erfahrung, wie sie jeder Erwachsene, Mündige besitzt. [...] Daß es so lange gedauert hat, bis die aristotelische Theorie durch die neuzeitliche Naturwissenschaft verdrängt werden konnte, lag sicherlich im wesentlichen nicht daran, daß die Aristoteliker so große Dogmatiker waren, sondern vielmehr an der unmittelbaren Einsichtigkeit und Überzeugungskraft dieser Theorie, eben an dem genetischen Zusammenhang von lebensweltlicher Erfahrung und theoretischer Formulierung dieser Erfahrung."
1. Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung' 1.1 Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien In Kapitel 1.11 legt Aristoteles die der nachfolgenden Untersuchung zugrundeliegende Methode dar.2 Wie bei vielen seiner anderen Werke beginnt Aristoteles auch in der Physik mit einer allgemeinen Bestimmung: Da Wissen und Verstehen in allen wissenschaftlichen Disziplinen [περί π ά σ α ς τ ά ς μεθόδους], bei denen es Prinzipien, Ursachen oder Elemente gibt [ών ε ί σ ί ν ά ρ χ α ί ή α ί τ ι α ή στοιχεία], dadurch geschieht, daß man diese kennt [γνωρίζειν] (denn wir glauben, dann ein jedes zu erkennen [γιγνώσκειν], wenn wir seine ersten Ursachen, seine ersten Prinzipien bis hin zu den Elementen kennen), so ist klar, daß auch bei der Wissenschaft von der Natur [της περί φύσεως έπιστήμης] versucht werden muß, zuerst dasjenige über die Prinzipien zu bestimmen. (1.1, 184 alO-16)
Im Einleitungssatz fuhrt Aristoteles mit den Prinzipien, Ursachen und Elementen (άρχαί. η αϊτια ή στοιχεία) den Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung in Gestalt einer Argumentation ein: (i) Begründet werden soll die Konklusion a 14-16, der zufolge auch bei der Wissenschaft von der Natur zuerst über die Prinzipien Bestimmungen zu treffen sind, (ii) Die Begründung erfolgt im Anfangsteilsatz alO-12, dem zufolge in allen wissenschaftlichen Disziplinen (μέθοδοι), 3 bei denen es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, Wissen daraus entsteht, daß man diese kennt, (iii) Diese Begründung erfährt in der Parenthese a 1214 selbst eine Begründung: „Denn wir glauben, dann ein jedes zu erkennen, wenn wir seine ersten Ursachen, seine ersten Prinzipien bis hin zu den Elementen kennen, [...]". In bezug auf eine Begründungshierarchie ist die Parenthese al2-14 der eigentliche Ausgangspunkt der Untersuchung, da sie selbst keine weitere Begrün-
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Heidegger (1957: 112) charakterisierte dieses Kapitel wie folgt: „Dieses kurze Kapitel ist die klassische Einführung in die Philosophie. Es macht auch heute noch ganze Bibliotheken philosophischer Literatur aberflüssig. Wer dieses Kapitel verstanden hat, kann die ersten Schritte im Denken wagen." Derartige methodologische Bemerkungen finden sich auch an anderen Stellen des aristotelischen Werkes: vgl. Eth. Eud. 1216b26-35 (1217al9-20); Eth. Nik. 1.1/2, 1095a2-4, b3; Met. VII.3, 1029b3-12; De An. II.2, 413all-12; An. post. 1.2, 71b9 ff. und 11.11, 94a20 ff.; Top. WA. Wobei die έπιστήμη περί φύσεως (184al4-15) als eine derartige wissenschaftliche Disziplin (μέθοδος) Uber die Natur zu verstehen ist. Charltons Übersetzung lautet (1970: 1): „In all disciplines in which there is systematic knowledge of things with principles, causes, or elements, it arises from a grasp of those: [...]."
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Physikl.
1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
dung erfährt, sondern durch ein Überzeugtsein (vgl. ,,οίόμεθα") legitimiert ist. 4 Bedenkt man, daß bei Aristoteles' Vorgängern die Ansicht verbreitet war, daß sich nur von einem Bleibenden und Beständigen, nicht aber von einem Bewegten ein vollständiges Wissen gewinnen läßt, 5 da sich das Bewegte aufgrund seines Bewegtseins kontinuierlich verändert, so stellt sich die Frage, wie das Bewegte überhaupt Gegenstand der Erkenntnis zu werden vermag. Angesichts dieser Frage bekommt der in der Parenthese a 12-14 ausgesprochene Gedanke, daß eine Erkenntnis von etwas die Erkenntnis seiner Prinzipien voraussetzt, insofern eine für die Möglichkeit der Erkenntnis der Naturdinge - und somit für die Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft - zentrale Bedeutung, als die Prinzipien bei den bewegten Naturdingen gleichsam die bleibenden und unbewegten Fixpunkte darstellen, aus denen heraus eine Erkenntnis derselben möglich werden soll. Die mit dem Einleitungssatz vorliegende Argumentation lautet wie folgt: (i) (ii)
(iii)
Weil sich das Erkennen eines j e d e n Einzeldings dadurch vollzieht, daß wir die Prinzipien dieses Einzeldings kennen ( a l 2 - 1 4 ) , und weil sich das Wissen und Verstehen bezüglich einer jeden wissenschaftlichen Disziplin, bei der es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, dadurch vollzieht, daß man eben letztere kennenlernt (alO-12), so ist klar, daß auch bezüglich der Wissenschaft von der Natur versucht werden muß, zuerst über die Prinzipien Bestimmungen zu treffen ( a l 4 - 1 6 ) .
Der Satz (i) stellt eine Fundamentalannahme dar, die nicht weiter begründet wird. Aus dieser Fundamentalannahme folgt der Satz (ii), dem zufolge sich das Wissen und Verstehen bezüglich einer jeden wissenschaftlichen Disziplin, bei der es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, dadurch vollzieht, daß man eben diese kennenlernt. Unter der Voraussetzung, daß die ' έ π ι σ τ ή μ η περί φ ύ σ ε ω ς ' eine solche wissenschaftliche Disziplin (μέθοδος) ist, bei der es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, folgt (iii) aus (ii). Die von Aristoteles im Einleitungssatz eingeführte Terminologie zeugt von Vorsicht und Offenheit im sprachlichen Ausdruck. Aristoteles will sich am Ausgangspunkt seiner Untersuchung noch nicht auf eine eindeutige Terminologie festlegen. So spricht Aristoteles in alO parallel vom „Wissen" (εϊδέναι) und „Verstehen" (έπίστασθαι), wobei Wagner (1967: 393) daraufhingewiesen hat, daß ε ϊ δ έ ν α ι gegenüber έ π ί σ τ α σ θ α ι der weitere Begriff ist. In al 1 spricht Aristoteles von „Prinzipien" (άρχαί), „Ursachen" ( α ϊ τ ι α ) und „Elementen" (στοιχεία), wobei diese Ausdrücke hier in ihrer Bedeutung nicht weiter differenziert werden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden wir jedoch sehen, daß Aristoteles diese Ausdrücke in ihrer Bedeutung durchaus differenzieren wird. 6 Ein weiteres Paar von Ausdrücken, die zunächst als Synonyme erscheinen, fin4
5 6
Diese Prämisse findet sich bei Aristoteles auch an anderen Stellen (vgl. An. post. 1.2, 71b9; 71b30 und 72a31; 11.11, 94a20; Met. 1.3, 983a24; II I, 993b23; II.2, 994b27; VI.l, 1025b6; XI.7, 1063b36). Vgl. dazu auch Aristoteles' Bemerkungen in Met. 1.6, 987a29 ff. und IV.5, 1010a7-10. Zu einer Bedeutungsdifferenzierung der Ausdrücke „Prinzipien" (άρχαί), „Ursachen" (αϊτια) und „Elemente" (στοιχεία) vgl. auch Met. V.l-3 und XII.4.
Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien
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det sich in a 12-13. Dort ist einerseits von „γιγνώσκειν" (erkennen) und andererseits von ,,γνωρίζειν" ((er)kennen) die Rede. Daß diese beiden Ausdrücke jedoch nicht nur in ihrer sprachlichen Gestalt, sondern auch in ihrem semantischen Inhalt einen Unterschied aufweisen sollen, zeigt sich durch folgende Überlegung: Vollzieht sich das Erkennen (γιγνώσκειν) der Einzeldinge (τά έκαστα) dadurch, daß man deren Prinzipien, Ursachen und Elemente (er)kennt (γνωρίζειν), so müssen diese beiden Arten des Erkennens doch ihrem Wesen nach voneinander unterschieden sein, da sonst ein Regressus ad infinitum hinsichtlich der Erkennbarkeit droht. Wenn man nämlich die Einzeldinge nur durch eine vorangegangene Erkenntnis der Prinzipien erkennt, und wenn die Erkenntnis eines jeden immer schon ein Erkennen aus Prinzipien ist, so könnten die Prinzipien ihrerseits eigentlich auch nur aus ihnen vorausliegenden Prinzipien erkannt werden, womit abgesehen von einem Regressus ad infinitum auch die Gefahr droht, daß die Prinzipien keine Prinzipien wären, da ihnen frühere Prinzipien vorausliegen müßten, aus denen sie erkannt werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, verwendet Aristoteles bereits auf der sprachlichen Ebene zwei verschiedene Wörter für die beiden verschiedenen 'Arten' der Erkenntnis der Prinzipien einerseits und der Erkenntnis der Einzeldinge andererseits. Wenn Aristoteles also sagt, daß wir dann ein jedes Einzelne erkennen (γιγνώσκειν έκαστον), wenn wir seine Prinzipien (er)kennen (184al2-14), so sind zu diesen 'Einzelnen' (έκαστον) hier nicht die Prinzipien zu zählen. Nachdem Aristoteles den Gegenstand von Physik I - die άρχαί, αϊτια und στοιχεία der φύσει δντα - auf begründete Weise eingeführt hat, geht er nun dazu über, die Methode zu bestimmen, mit Hilfe derer man zu diesem Gegenstand gelangen soll: [Unser Erkenntnis-] Weg [ή όδός] aber [δέ] ist von Natur aus so beschaffen [πέφυκε], daß er von dem fur uns Bekannteren und Deutlicheren zu dem der Natur nach Deutlicheren und Bekannteren führt. Denn das Für-uns-Bekannte und das Schlechthin-Bekannte ist nicht dasselbe. (1.1, 184 a l 6 - 1 8 )
Dieser Satz wird dem Einleitungssatz durch die Konjunktion „aber" [δέ] gegenübergestellt, 7 so daß folgender Konflikt angezeigt ist: Sprach der Einleitungssatz alO-16 davon, daß die Physik sich zuerst mit den Prinzipien der φύσει δντα zu beschäftigen habe, da eine Erkenntnis der φύσει δντα nur aus den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien möglich sei, so wird diesem nun in a 16-18 gegenübergestellt, daß uns die Prinzipien der φύσει δντα nicht unmittelbar bekannt sind, sondern selbst nur vermittels einer Bekanntschaft mit den einzelnen φύσει δντα zugänglich werden. Dies bedeutet jedoch, daß unser natürlicher ErkenntDemgegenüber Ubersetzt Zekl (1987: 3) den Ausdruck „δέ" in einem konklusiven Sinne durch „damit", als stünde im griechischen Text ein ,,δή": „Es ergibt sich damit der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren." Dieses „damit" verfälscht jedoch insofern den argumentativen Zusammenhang, als die Behauptung, daß unser Erkenntnisweg von Natur aus so beschaffen sei, daB er von dem für uns Bekannteren zu dem der Natur nach Bekannteren führe, ja nicht aus dem Einleitungssatz folgt, sondern diesem vielmehr entgegensteht. Aristoteles behauptet hier doch, daß wir gerade nicht mit den Prinzipien als dem der Natur nach Bekannteren beginnen können.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
nisweg gerade nicht mit den Prinzipien beginnen kann, sondern seinen Ausgang vielmehr in den φύσει δντα zu suchen habe. Die in Kapitel 1.1 von Aristoteles zugrunde gelegte Methodologie besagt in vereinfachter Gestalt folgendes: Während die Wissenschaft als ein systematisches Ganzes ihren Ausgangspunkt in den Prinzipien hat, aus denen sie das Einzelne erkennt, hat unser menschlicher Erkenntnisweg, der zu den Prinzipien führen soll, seinen Ausgangspunkt umgekehrt in den wahrnehmbaren Einzeldingen. Drohte in bezug auf den Einleitungssatz die Gefahr eines Regressus ad infinitum, so droht innerhalb des logischen Fundierungsverhältnisses zwischen Prinzipien und φύσει δντα nun zudem die Gefahr eines Zirkels, der folgende Gestalt hat: Einerseits müssen zur Erkenntnis eines φύσει δν zuvor dessen Prinzipien erkannt werden (al2-14), und andererseits muß umgekehrt zur Erkenntnis der Prinzipien vom φύσει öv ausgegangen werden, welches folglich in einer bestimmten Hinsicht bereits bekannt sein muß. Weder das φύσει δν noch seine Prinzipien scheinen mithin unmittelbar erkennbar zu sein. Vielmehr wird die Erkenntnis des einen jeweils durch die Kenntnis des anderen vermittelt. Diesen Weg, der vom φύσει δν ausgehend zu dessen Prinzipien führt und von dort wieder zum φύσει δν zurückkehrt, kann man mit den Worten von Kullmann (1975: 302 ff.) auch als eine „auf- und absteigende Dialektik" bezeichnen. 8 Aus der Analyse der beiden Einleitungssätze ergibt sich zunächst folgendes Bild: Die beiden Einleitungssätze beschreiben genaugenommen nicht eine, sondern vielmehr zwei Methoden, die ihre Gültigkeit für je verschiedene Geltungsbereiche haben: Während der erste Satz (alO-16) seine Methode, der zufolge man von den Prinzipien ausgehend zur Erkenntnis der φύσει δντα gelangen soll, im Hinblick auf die (gesamte) Physik als eine wissenschaftliche Disziplin (d.h. im Hinblick auf ein 'systematisches Wissen') aufstellt - auf diese Weise rechtfertigt sich die Stellung des Buches Α „περί άρχων" als Anfangsbuch der Physik -, betrifft die im zweiten Satz (al6-18) explizierte Methode, der zufolge man umgekehrt von den φύσει δντα ausgehend zu den Prinzipien derselben gelangen soll, die im Buch Α vorgelegte Untersuchung, wie unser menschliches Daß Aristoteles sich dieser Gefahr eines Zirkels bewußt ist, wie dies bereits durch die Wahl der unterschiedlichen Wörter ,,γιγνώσκειν" und ,,γνωρίζειν" in bezug auf die unterschiedlichen Gegenstände der Erkenntnis deutlich wird, zeigt auch folgende Textstelle aus den Anal. post. 1.3, 72 bl5-32: „Die anderen räumen die Möglichkeit des Wissens [der Prinzipien] ein: es entstehe, sagen sie, nur durch Beweis. Aber es hindere nichts, daß es für alles einen Beweis gebe. Denn der Beweis könne im Zirkel geführt und wechselseitig eines aus dem anderen bewiesen werden. Wir aber sagen, daß weder jede Wissenschaft beweisend, noch die Wissenschaft der unvermittelten Prinzipien beweisbar ist. Und es liegt amtage, daß dem notwendig so ist. Denn wenn es notwendig ist, das Frühere, also das, woraus der Beweis geschieht, zu wissen, und man einmal bei dem Unvermittelten ankommt, so ist dieses notwendig unbeweisbar. [ . . . ] Daß man aber unmöglich schlechthin im Zirkel beweisen kann, ist klar, wenn anders der Beweis aus Früherem und Bekannterem geführt werden muß. Denn dasselbe kann unmöglich zugleich früher oder später sein als dasselbe, außer auf die andere Weise, also wenn das eine es ftlr uns, das andere es schlechthin ist, nach der Weise also, wie die Induktion zur Erkenntnis führt. 1st dem aber so, so wäre es keine richtige Fassung, wenn man von einem Wissen schlechthin spricht, sondern Wissen hätte zweierlei Bedeutungen; oder es ist der andere Beweis, aus dem für uns bekannteren, kein Beweis schlechthin." (Übers, nach Rolfes). In Analogie zu Phys. 1.1 soll auch hier durch die Differenzierung der Hinsichten, unter denen etwas betrachtet werden kann, ein Zirkel vermieden werden.
Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien
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Erkennen zu den Prinzipien gelangen kann. Diese diametrale Gegenüberstellung der beiden Methoden - einerseits von den Prinzipien zu den φύσει δντα und andererseits von den φύσει δντα zu den Prinzipien - wird von Aristoteles bei genauerem Hinsehen auch durch die Sprache zum Ausdruck gebracht. Spricht Aristoteles im Einleitungssatz bezüglich der „(systematischen) Wissenschaft über die Natur" (έπιστήμη περί φύσεως) von einer „μέθοδος", so bezeichnet er demgegenüber unseren menschlichen (untersuchenden) Erkenntnisweg in al6-18 als ,,όδός". In dieser Gegenüberstellung von „μέθοδος" und ,,όδός" ist bereits die Gegenüberstellung eines 'systematischen Wissens' (als Darstellung von Ergebnissen) und eines 'untersuchenden Wissens' (als der Erwerb des Wissens) angezeigt. Für das Verhältnis der beiden Arten des Wissens zueinander gilt, daß die Darstellung des Wissens nach dem (μεθ' όδός) Erwerb dieses Wissens kommt. 9 Mit dieser Interpretation greife ich auf die von Barnes (1975: 77 f.) als Lösung für eine bei Aristoteles vielfach beobachtete 'wissenschaftstheoretische Diskrepanz' vorgeschlagene Differenzierung zwischen der „Darstellung" (presentation) und dem „Erwerb" (acquire) von Wissen zurück. Der Ausdruck „wissenschaftstheoretische Diskrepanz" meint, daß die in den Analytica Posteriora (vor allem in den ersten sechs Kapiteln des Buches I) dargelegte und für die Einzelwissenschaften geforderte äußerst formalisierte Theorie der wissenschaftlichen Methode, die man auch als Theorie der 'apodeiktischen' oder 'beweisenden' Wissenschaft bezeichnet, in den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen selbst keine Anwendung findet. Owen beschreibt diese wissenschaftstheoretische Diskrepanz wie folgt: There seems to be a sharp discrepancy between the methods of scientific reasoning recommended in the Analytics and those actually followed in the Physics. The difference is sometimes taken to lie in the fact that the Posterior Analytics pictures a science as a formal deductive system based on necessary truths whereas the Physics is more tentative and hospitable both in its premisses and in its methods. But this is too simple a contrast. [...] The discrepancy between the two works lies rather in the fact that, whereas the Analytics tries (though not without confusing and inconsistency) to distinguish the two processes of finding and then applying the principles, the Physics takes no pain to hold them apart. (Owen, 1961: 83 f.)
Für diese Diskrepanz sind verschiedene Lösungen vorgeschlagen worden. 10 Als deren überzeugendste wird auch heute noch die Lösung von Barnes (1975) angesehen," die darin besteht, daß man bei Aristoteles zwischen der 'Darlegung 9
Zur Bedeutung von „μέθοδος" als ,,μεθ' όδός" vgl. Liddell/Scott ('1940: 1091: „μέθοδος ή, (μετά, όδός) following after, pursuit, [.. .]."). Einige Interpreten waren der Auffassung, daß diese Diskrepanz gar nicht bestehe, da sich bei Aristoteles auch in den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen syllogistische Beweisverfahren rekonstruieren lassen. Andere Interpreten (vgl. Grote (31883: 210) und Stachowiak (1971: 273-9)) meinten, die in den Analytica posteriora dargelegte Theorie beziehe sich nicht auf die Physik, sondern nur auf formale Wissenschaften, wie z.B. die Mathematik. Wieder andere Interpreten (vgl. Grene (1963: 58) und Maier (1896: 398)) sahen in den Analytica posteriora ein ftlr die Einzelwissenschaften unerreichbares Ideal formuliert. Vgl. auch Mesch (1994: 97): „Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage, mit der die Kommentatoren lange vergeblich fertig zu werden versuchten, liegt nach der heute gängigen Auffas-
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
der aus wissenschaftlichen Untersuchungen resultierenden Ergebnisse' („teaching of facts already won") und der 'wissenschaftlichen Untersuchung selbst' (scientific research") zu unterscheiden habe. Nach Ansicht von Barnes ist die Theorie der apodeiktischen Wissenschaft, wie Aristoteles sie in den Analytica posteriora entwickelt, einzig für die Darlegung der Ergebnisse bestimmt, nicht aber für die Art und Weise, wie die Untersuchung selbst zu führen sei. Diese von Barnes vorgeschlagene Differenzierung kommt auch in den beiden zu Beginn von Physik I unterschiedenen Methoden zum Ausdruck, so daß Owens Bemerkung, daß die Physik sich keine Mühe gebe, die beiden Prozesse des Auffindens und der Anwendung der Prinzipien auseinanderzuhalten, angesichts der Differenzierung zwischen den Ausdrücken „μέθοδος" und ,,όδός" in dieser allgemeinen Form nicht aufrechtzuerhalten ist. Wenn Aristoteles in 184a 16-18 sagt, daß der Weg von Natur aus so beschaffen sei (vgl. ,,πέφυκε"), daß er von dem für uns Bekannteren und Deutlicheren zu dem der Natur nach Deutlicheren und Bekannteren führe, so ist hier mit dem Ausdruck ,,πέφυκε" die Natur unseres menschlichen Erkenntnisvermögens gemeint. Es scheint mit diesem Ausdruck der Gedanke angedeutet zu sein, daß wir - die untersuchenden Menschen - bei dieser Untersuchung selbst nicht ausgeschlossen sind, stellen wir doch selbst jeweils ein Stück Natur dar.12 Zugleich ist in dem Ausdruck ,,πέφυκε" die Begründung für das Abweichen von der zuerst genannten Methode (der Weg von den Prinzipien zu den φύσει οντα) enthalten. Versteht man nämlich den zweiten Satz in dem Sinne, daß „unser Erkenntnisweg von Natur aus die Eigenschaft hat, ..." - womit gemeint ist, daß der Erkenntnisweg der Natur unseres Erkennens gemäß ist -,13 so bedeutet dies, daß es nun einmal in der Natur unseres Erkennens liegt, von dem für uns Bekannteren zu dem der Natur nach Bekannteren (d.h. von den φύσει οντα zu den Prinzipien) zu gehen. Wieland (1962: 75) weist zu Recht daraufhin, daß dies kein Zeichen für eine Unvollkommenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens ist. Gerade durch den 'Umweg', den das menschliche Erkenntnisvermögen zu gehen hat, indem es von den φύσει οντα ausgehend zu deren Prinzipien gelangt, so daß es nicht sogleich mit den Prinzipien beginnen kann, ist für Aristoteles vielmehr eine Referenz auf die Empirie als Kontrollinstanz der zu entwickelnden Theorie gesichert.
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sung darin, daß die sogenannten Lehrschriften gar keine Lehrschriften sind, sondern die von der Dialektik beherrschte Phase der Forschung widerspiegeln." Vgl. FitzGerald (1963: 60): „At least, all those things of which we are the immediate observers, including the human observer himself, are in existence beings-in-becoming, subjects of generation and corruption." Vgl. auch Sparshott (1987: 35): „Since we are part of nature, the form of our knowledge is determined by the structure of the reality into which we fit as the natural knowers." Vgl. hierzu auch Frede (1985: 216 f.): „[...] in particular the word πέφυκε, which appears in many different places in connection with Democritean necessity, indicates that Aristotle is referring to what 'simply' is the nature of the thing in question when it is taken in its own right and not as a means for a further end (cf. Phys, 199 a8, 200 a22; De motu 703 a35; PA 642 a32)."
Die „ ή μ ΐ ν γνωριμώτερα" und die „φύσει γνωριμώτερα"
1.2 Die „ ήμΐν γνωριμώτερα" und die „ φύσει
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γνωριμώτερα"
In 184a 16-18 stellt Aristoteles das für uns (ήμΐν) Bekanntere und Deutlichere dem der Natur nach (φύσει) Bekannteren und Deutlicheren gegenüber und behauptet, daß der Weg von dem für uns Bekannteren (ήμΐν γνωριμώτερον) zu dem der Natur nach Bekannteren (φύσει γνωριμώτερον) zu führen habe.14 Betrachtet man den Begründungszusammenhang der Sätze a 16-18, so fällt auf, daß diese Behauptung nicht nur durch das ,,πέφυκε" (d.h. dadurch, daß unsere Erkenntnis nun einmal von Natur aus so beschaffen ist), sondern auch durch den nachfolgenden Satz al8 ,,ού γαρ ταύτα ήμΐν τε γνώριμα και απλώς" begründet wird. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die bloße Behauptung der Nichtidentität des 'Für-uns-Bekannten' (γνώριμα ήμΐν) und des 'Schlechthin-Bekannten' (γνώριμα άπλώς) in al8 eine Begründung flir die Richtung des Weges (vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον) darstellen soll, kann sie doch allenfalls eine Begründung dafür darstellen, daß überhaupt ein Weg zu gehen ist. Andererseits ist aber gerade die Richtung des Weges die zentrale These des zu begründenden Satzes 184al6-18, dessen Aussage ja darin besteht, daß wir unserer natürlichen Erkenntnis zufolge nur den Weg vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον, nicht aber umgekehrt vom φύσει zum ήμΐν γνωριμώτερον gehen können. Vor diesem Hintergrund ist die Begründung der Richtung des Weges wohl in dem ,,πέφυκε" (al6) zu sehen, während der Satz al8 eine Begründung dafür darstellt, daß aufgrund der Verschiedenheit des 'Für-uns-Bekannten' und des 'Schlechthin-Bekannten' überhaupt ein Weg zu gehen ist. Aristoteles führt den zu gehenden Weg im nachfolgenden weiter aus: Deshalb ist es notwendig, auf diese Weise voranzugehen: V o n dem der Natur nach Undeutlicheren - uns aber Deutlicheren - zu dem der Natur nach Deutlicheren und Bekannteren. Für uns aber ist zuerst klar und deutlich das mehr Zusammengemengte [τα σ υ γ κ ε χ υ μ έ ν α μ ά λ λ ο ν ] . Später jedoch werden aus diesem die Elemente und Prinzipien bekannt, wenn man es auseinandernimmt [διαιροΰσι ταΰτα]. Deshalb muß der Weg von den allgemeinen Ganzheiten [έκ των κ α θ ό λ ο υ ] zu den Einzelheiten [έπϊ τ ά καθ' έ κ α σ τ α ] führen. Denn das Ganze [τό γ α ρ δ λ ο ν ] ist der Wahrnehmung nach bekannter, und die allgemeine Ganzheit [τό δέ κ α θ ό λ ο υ ] ist doch ein bestimmtes Ganzes [δλον τί έστι], denn die allgemeine Ganzheit [τό κ α θ ό λ ο υ ] umfaßt vieles als [seine] Teile [ώς μέρη]. (1.1, 1 8 4 a l 8 - 2 6 )
Versucht man das bisher von Aristoteles Gesagte seiner Begründungsstruktur nach zusammenfassend zu gliedern, so erhält man folgendes Argument:15
14 15
In 184al8 bestimmt Aristoteles den Gegensatz zum „Für-uns-Bekannten" (γνώριμα ήμΐν) als „Schlechthin-Bekanntes" (γνώριμα άπλώς). Im Gegensatz zu Pacius, der in bezug auf den Weg, der zu den Prinzipien führen soll, der Ansicht ist, daß wir es mit drei verschiedenen Methoden zu tun haben, bin ich der Auffassung, daß Aristoteles hier nur eine einzige Methode beschreibt. Ross (1936: 456) bemerkt in diesem Zusammenhang: „Pacius seizes correctly enough the nature of the methods described in a 21-3, 23-6, and 26- b 12, respectively. But he is clearly wrong in suggesting that Aristotle puts these forward as three distinct methods. In the whole passage Aristotle seems to regard himself as describing a single method, as to whose precise nature however he is not very clear."
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung' (1) (2a)
(2b) (3)
Die Physik muß sich zuerst mit den Prinzipien beschäftigen, da die φύσει δντα nur aus den ihnen eigentümlichen Prinzipien erkannt werden können. (184al0-16) Aber. Unser natürlicher Erkenntnisweg führt umgekehrt von dem fllr uns Bekannteren (d.h. von der Wahrnehmung der φύσει δντα) zu dem der Natur nach Bekannteren (d.h. zur Erkenntnis der Prinzipien dieser φύσει δντα). (al6-18) Denn: Das für uns Bekannte ist nicht das schlechthin (bzw. das der Natur nach) Bekannte. (al8) Deshalb ist es notwendig, von dem für uns Bekannteren (ήμΐν γνιοριμώτεpov) zu dem der Natur nach Bekannteren (τη φύσει γνωριμώτερον) zu gehen. (al8-21)
Aristoteles fügt nun zunächst die weiteren Bestimmungen (3a) und (3b) an, die die Konklusion (4) vorbereiten: (3a) (3b)
Nun aber ist das für uns zuerst Bekannte das mehr Vermengte. (a21 -22) Und: Die Prinzipien (als das der Natur nach Bekanntere) werden erst später bekannt, wenn man das für uns Bekanntere auseinandernimmt. (a22-23)
In (3a) und (3b) kennzeichnet Aristoteles das ήμΐν γνωριμώτερον als ein MehrVermengtes (vgl. „συγκεχυμένα μάλλον"). Die Prinzipien und Elemente werden erst später bekannt (und sind wohl als φύσει γνωριμώτερα zu verstehen), wenn dieses Mehr-Vermengte auseinandergenommen wird. Mit dem ,,διαιροΰσι ταύτα" ist zugleich die Diairesis als diejenige Methode bestimmt, durch die man vom ήμΐν zum τή φύσει γνωριμώτερον gelangt.16 (4)
Deshalb ist es notwendig, daß der Weg vom καθόλου zu den καθ' έκαστα führt. (a23-24)
Die Konklusion (4) besteht in einer Ersetzung der Begriffe des ήμΐν und φύσει γνωριμώτερον durch die Begriffe des καθόλου und καθ' έκαστα. Der Weg vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον soll hier als ein Weg vom καθόλου zu den καθ' έκαστα beschrieben werden. Die Begründung für diese Ersetzung, die nicht aus dem bisher Gesagten hergeleitet werden kann, findet sich in den nachfolgenden Sätzen a24-26: Denn:
(4a) Das δλον ist ein der Wahrnehmung nach Bekannteres. (a24-25) (4b) Das καθόλου ist ein δλον τι. (a25) Denn: Das καθόλου umfaßt vieles als seine Teile. (a26)
Weil also das καθόλου vieles als Teile umfaßt (a26), ist es ein δλον τι (a25).17 Und weil das δλον τι ein der Wahrnehmung nach Bekannteres ist (a24-25), ist
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Wenn Aristoteles in 184a22-23 den methodischen Weg vom ή μ ΐ ν zum φ ύ σ ε ι γνωριμώτερον als eine Diairesis kennzeichnet, so ist darauf hinzuweisen, daß diese Diairesis nicht, wie man es von Piaton her gewohnt ist, an einem Gattungsbegriff ansetzt, der in Arten und Unterarten differenziert wird (vgl. dazu Piatons Vorgehen im Sophistes und Politikos)·, vielmehr setzt die von Aristoteles hier beschriebene Diairesis „an einem undifferenzierten konkreten Gegenstand der natürlichen Erfahrung" (Wieland, 1962: 86 f.) an. Vgl. Aristoteles' Definition des ,,δλον" in Mel. V.26 und in Phys. IV.3, 210al6-17: „Auf eine andere Weise so: Das Ganze [besteht] in seinen Teilen. Denn neben seinen Teilen gibt es das Ganze nicht." Vgl. auch Phys. 1.2, 185b 11-16.
Die Bedeutung der Ausdrücke „ κ α θ ό λ ο υ " und ,,καθ' έ κ α σ τ α "
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folglich auch das καθόλου hier als δλον τι ein der Wahrnehmung nach Bekannteres. Unter der Voraussetzung, daß das ήμΐν γνωριμώτερον ein der Wahrnehmung nach Bekannteres ist, kann nun das ,,ήμΐν γνωριμώτερον" einerseits durch das „καθόλου" und das „φύσει γνωριμώτερον" andererseits durch das ,,καθ' έκαστα" ersetzt werden, wobei, wie in (3b) angedeutet wurde, die Prinzipien als 'Teile' dieses καθόλου die καθ' έκαστα desselben sind.18
1.3 Die Bedeutung der Ausdrücke „ καθόλου" und „ καθ' έκαστα" Der bei Aristoteles für gewöhnlich anzutreffende Sinn des Begriffspaars „καθόλου - καθ' έκαστα" ist der eines „Allgemeinen" im Verhältnis zum „Einzelnen", wobei mit diesem Verhältnis entweder dasjenige von „Gattung" zu „Art" oder dasjenige von „Art" zu „konkretem Einzelnen" gemeint sein kann (vgl. Wieland, 1962: 88). Die Tatsache, daß Aristoteles in Phys. 1.1 jedoch den Weg vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον als einen Weg vom καθόλου zu den καθ' έκαστα beschreibt - wobei das καθόλου als ein Ganzes (δλον τι) der Wahrnehmung nach bekannter sein soll -, hat zu Recht zu der mittlerweile vorherrschenden Ansicht geführt, daß Aristoteles die Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" hier in einer für ihn ungewöhnlichen Bedeutung verwendet.19 Indem man den Sinn der Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" in Phys. 1.1 als von ihrer gewöhnlichen Bedeutung abweichend interpretiert, läßt sich nämlich ein ansonsten un-
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Bereits die Tatsache, daß Aristoteles vom καθόλου im Singular und von den καθ' έκαστα im Plural spricht, deutet darauf hin, daß hier ein Ganzes in seine (vielen) Teile auseinandergenommen wird. Vgl. u.a. Wieland (1962: 88 und 1960/61: 210), Bolton (1991: 4), Wagner (1967: 395) und Ross (1936: 457). In dem Ausdruck „καθόλου" ist der Ausdruck „δλον" enthalten. Gerade diese wörtliche Bedeutung von „καθόλου" als „gemäß seinem (undifferenzierten) Ganzsein" ist gemeint, wenn hier das undifferenzierte, ganze Wahrnehmungsobjekt als ein „καθόλου" bezeichnet wird (vgl. dazu auch Wicksteed/Comford, 1980: 10). Demgegenüber haben wir es nach Ansicht von Pietsch (1992: 64 f.) in Phys. 1.1 nicht mit einer ungewöhnlichen Bedeutung des Wortes „καθόλου" zu tun. Pietsch weist darauf hin, daß wir der aristotelischen Wahmehmungstheorie zufolge gar nicht das Einzelne (z.B. Sokrates), sondern immer nur das Allgemeine wahrnehmen können. Zur Stützung seiner Interpretation beruft er sich auf An. post, 11.19, 100 al7 f.: „[...] denn man nimmt das Einzelne wahr, aber die Wahrnehmung geht auf ein allgemeines Objekt; sie geht z.B. auf den Menschen, nicht auf den Menschen Kallias." (Übers, von E. Rolfes). Der Ansicht von Pietsch ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: Wenn man in Physik 1.1 das καθόλου mit dem Allgemeinen identifiziert, und wenn man die ungewöhnliche Behauptung, daß das καθόλου das der Wahrnehmung nach Bekanntere sein soll, mit dem Hinweis auf An. post. 11.19 dadurch erklärt, daß die Wahrnehmung immer nur ein Allgemeines wahrnehmen kann, so erklärt dies weder den Umstand, daß wir den Ausführungen in An. post. 1.2 zufolge genau den umgekehrten Weg zu gehen haben (vom Einzelnen als ftlr uns und der Wahrnehmung nach Bekannteres zum Allgemeinen als schlechthin und der Natur nach Bekannteres), noch können wir damit das in Phys. 1.5, 189a5-10 Gesagte in Einklang bringen, wo das καθόλου als ein dem λόγος - und gerade nicht als ein der Wahrnehmung nach - Bekannteres bestimmt wird. Wagner (1967: 395) weist zu Recht daraufhin, daß bei Aristoteles zwischen dem „Streng-Allgemeinen des erklärenden Grunds und des Prinzips" einerseits und dem „schlichten Allgemeinen, das bloß komparativ und noch ungegliedert ist," andererseits zu unterscheiden ist.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
vermeidbarer Widerspruch mit dem in den Anal. post. I.220 und später in Phys. I.521 bezüglich des Verhältnisses von καθόλου und καθ' έκαστον Gesagten vermeiden. Sowohl die Tatsache, daß wir es in Kapitel 1.1 bezüglich des Verhältnisses von einem καθόλου zu seinen καθ' έκαστα mit einem Verhältnis von einem φύσει 6v (als ήμΐν γνωριμώτερον) zu seinen Prinzipien (als φύσει γνωριμώτερον) zu tun haben, als auch die Tatsache, daß dieses καθόλου der Wahrnehmung nach bekannter ist (a24-25), spricht für die These, das καθόλου als das in der Wahrnehmung noch undifferenzierte und als Ganzes erscheinende konkrete Individuum zu verstehen, während mit den ,,καθ' έκαστα" die Prinzipien dieses καθόλου gemeint sind.22 Die Frage nach der Verschiedenheit des ήμΐν und φύσει γνωριμώτερον ist ausgehend von dem bezüglich des καθόλου und καθ' έκαστα dargelegten Verständnis zunächst als eine Frage nach der Verschiedenheit eines Naturseienden (φύσει όν) von seinen es konstituierenden Prinzipien, Ursachen und Elementen (άρχαί, αίτια und στοιχεία) zu verstehen.
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In An. post. 1.2, 72al-5 sagt Aristoteles: „Ich nenne für uns früher und bekannter was der sinnlichen Wahrnehmung näher liegt, schlechthin früher und bekannter was ihr femer liegt. Ihr am fernsten ist das Allgemeinste, am nächsten das Einzelne. Und dieses beide ist sich entgegengesetzt." [Übers, von E. Rolfes], Vgl. in diesem Zusammenhang auch Wagner (1967: 395): „Die Schwierigkeit, aber auch deren Auflösung hängt am Begriff des Allgemeinen. Was sich am Ende des Erkenntnisweges zeigt, das Streng-Allgemeine des erklärenden Grunds und des Prinzips, ist n i c h t das Allgemeine, von dem hier gesprochen wird. Unterscheidet man hier nicht, so ist freilich der Widerspruch [zwischen Physik 1.1 und An. post 1.2, 72al-5] nicht zu leugnen, aber er durchzieht dann auch die Analytiken. Es sind eben beide Sätze wahr: Die sinnliche Wahrnehmung vermittelt das Allgemeine (Anal. post. I 31, 88 a4/5; 13/14; II 19, 100 al7, M/5) - und: Die sinnliche Wahrnehmung kann das Allgemeine nicht vermitteln (I 31, 87 b30; 88 a2). Das Allgemeine, das am Anfang des Erkenntnisweges steht, ist das schlichte Allgemeine, das bloB komparativ und noch ungegliedert ist, das also weder als Grund oder Prinzip zu fungieren vermag noch auch bestimmte Vorstellung von dem gibt, was in ihm enthalten ist. Man muß es analysieren, wenn man auf Prinzipien kommen will; man muß es analysieren, wenn man auf die in ihm umfaßten Einzelglieder kommen will. Es ist bloß sinnlich Allgemeines, unbestimmtes Allgemeines. Von solchem Allgemeinen, das bloß ein ungegliederter Inbegriff (dies ist der genaue Sinn von δλον in a24 und 25!) ist, spricht der folgende Physiksatz." In 1.5, 189a4-10 wird das καθόλου als das dem λόγος nach Bekannte bestimmt und dem Einzelnen (καθ' έκαστον) als das der Wahrnehmung nach Bekannte gegenübergestellt. Zu dieser gewöhnlichen Verwendung des καθόλου und καθ' έκαστον vgl. auch Met. 1.2, 982a23; III.3, 998bl7; V . l l , 1018b33. Vgl. dazu auch Guzzoni (1975: 34). Wieland spricht in bezug auf das καθόλου von einem „undifferenzierten konkreten Gegenstand der natürlichen Erfahrung" (1962: 87), McMahon (1957: 55) von einem „confused whole". Wagner bemerkt in diesem Zusammenhang (1967: 394): „Was uns die sinnliche Erfahrung bietet, ist zwar gewiß Einzelnes. Aber gerade dem Denken, das begreifen will, enthüllt es sich sofort als ungegliederte und unbestimmte Mannigfaltigkeit." Anderslautende Interpretationen wie die von Ross (1936: 457 f.), der in dem Verhältnis von καθόλου und καθ' έ κ α σ τ α ein Verhältnis vom Wissen genereller Merkmale (Jo be an animal") zum Wissen spezieller Merkmale („to be a cow") sieht, oder die von Konstan (1975: 24143), der in dem Verhältnis von καθόλου und καθ' έκαστα ein Verhältnis von einem komplexen AllgemeinbegrifT („compleχ universal'. z.B. „Vater") zu seinen ihn konstituierenden Allgemeinbegriffen („constituent universals": z.B. „Mann" und „Eltemteil") sieht, legen zwar auch eine vom Text geforderte Teil-Ganzes-Relation zugrunde, doch können sie weder aufzuzeigen, warum ihre Teile als Prinzipien des Ganzen zu verstehen sind, noch können sie darlegen, warum das von ihnen vorgeschlagene Ganze der Wahrnehmung nach bekannter sein soll als seine Teile.
Die Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα"
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Da solche Ausdrücke wie ,,δν", ,,άρχή", „αίτια" und „στοιχεία" Aristoteles zufolge auf mehrfache Weise gesagt werden,23 verwundert es nicht, daß die Frage nach den Referenzobjekten des ,,ήμΐν γνωριμώτερον" und des „φύσει γνωριμώτερον" - sofern man darunter das φύσει 6v und dessen άρχαί, αϊτια und στοιχεία zu verstehen hat - in der Sekundärliteratur kontrovers diskutiert wurde. In bezug auf die Prinzipien als φύσει γνωριμώτερα wurde vor allem die Frage gestellt, ob wir es mit Real- (principia realia) oder Erkenntnisprinzipien (principia cognoscendi) zu tun haben.24 Haben die Interpretationen bezüglich des ontologischen Status der Prinzipien der φύσει δντα mitunter zu konträren Auffassungen innerhalb der Sekundärliteratur geführt,25 so neigt man in jüngerer Zeit eher zu einer vermittelnden Position, die bei Irwin (1988: 4) folgende Gestalt hat:26 But Aristotle also regards things - non-linguistic, non-psychological, non-propositional entities - as first principles. We come to know, e.g., that there are four elements, and this proposition that w e k n o w is a first principle; but the f o u r elements themselves are also first principles and are prior and better k n o w n by nature. Actually existing things are first principles, because they explain other things and our knowle d g e of the world requires u s to know the explanatory relations in it. [ . . . ] What is prior and better known by nature is both the propositional principle about, e.g., atoms, and t h e real principle mentioned in the proposition - the atoms themselves. [ . . . ] Let u s say that in so far as w e do this, w e grasp 'objective' (propositional) first principles describing the (non-propositional) first principles of an objective reality.
Während man sich in der Sekundärliteratur eingehend mit der Frage, ob wir es in bezug auf die φύσει γνωριμώτερα mit Real- oder Erkenntnisprinzipien zu tun haben, auseinandergesetzt hat, ist der analogen Frage auf Seiten des ή μ ΐ ν γνωριμώτερον, d.h. der Frage, ob wir es in bezug auf die ή μ ΐ ν γνωριμώτερα nur mit den Naturdingen selbst oder auch mit einfachen Aussagen über diese Naturdinge zu tun haben, wobei letztere ja ebenfalls ein 'Für-uns-Bekannteres' (ήμΐν γνωριμώτερον) darstellen, allerdings wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. 23 24
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Vgl. Met. V. 1 , 2 , 3 , 7. Zur mehrfachen Bedeutung des „öv" vgl. auch Phys. 1.2, 185a20-27. Zur Unterscheidung von Real- und Erkenntnisprinzipien vgl. auch Lumpe (1955: 112): „Aus der Definition des Aristoteles in Metaph. Δ 1 ergibt sich die Gliederung in 1. Erkenntnis(principia cognoscendi) und 2. Realprinzipien (principia realia): diese spricht er auch aus Metaph. Β 1. 995b7 sqq., wo er zwischen άρχαΐ της ούσίας und den άρχαΐ έξ ων δεικνύουσιν άπαντες unterscheidet." So vertritt Wieland (1962: 64, 133 und 204) eine eher 'sprachanalytische Position', der zufolge die Prinzipien in die Nähe reiner Erkenntnisprinzipien gerückt werden, faßt er sie doch als „formale Einteilungsgesichtspunkte ohne inhaltliche Bestimmung", als „Korrelationsbegriffe", als „Leerstellen" oder auch als „Reflexionsbegriffe" auf. Kritisch auseinandergesetzt haben sich mit Wielands sprachanalytischer These vor allem Tugendhat (1963), Wagner (1967: 337-360) und Oehler (1963). Oehler (1963: 64) versteht die Prinzipien als Realprinzipien im Sinne von „aktuellen Entitaten" die im Prozeß des Lebens selbst gegenwärtig sind und die Wirklichkeit der Dinge konstituieren. Vgl. auch Marx (1972: 20-29), der von den Prinzipien sowohl als „noeta", die nicht außerhalb des Denkens sein können, wie auch als „ontologische Prinzipien" spricht und einräumt, daß es bei Aristoteles keine fundamentale Trennung zwischen Sprache und Dingen gibt. Vgl. in diesem Kontext auch Bolton (1991: 22 f.): „Just so, in natural science the principle that nature, the realm of naturally changing things, exists can be more fully spelled out as the principle that form, privation and substratum exist."
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
Wicksteed und Cornford (1980: 8 f.) unterscheiden in ihrer Vorbemerkung zu Phys. 1.1 im Rückgriff auf Met. V.l, 1012b34-1013a24 zwischen folgenden drei Bedeutungen des Wortes ,,άρχή": The term 'beginnings' (άρχαί) is loosely used without clearly distinguishing three senses: (A) the primary elements of natural things (δθεν πρώτον γίγνεται ένυπάρχοντος, Met. 1013a4); (Β) the starting-points of a science. In a systematic science, e.g. geometry, these are (i) the premisses or basic truths (δθεν γνωστόν τό πράγμα πρώτον, 1013al4), which are 'true, primary, immediate, and intrinsically more intelligible than the conclusion and prior to it,' and are apprehended by intuition (νοΰς). Anal. Post. 71b20, 100b 12. (ii) But the best starting-point for inquiry or learning (μαθήσεως ουκ άπό τοΰ πρώτου καί της τοΰ πράγματος άρχής ένίοτε άρκτέον, άλλ' δθεν ράστ' αν μάθοι, 1013a2) must be 'things more immediately cognizable to us' by sense-perception.
Diese Differenzierung zwischen den Ausgangspunkten (άρχαί) einer systematischen Wissenschaft einerseits und einer Untersuchung andererseits führt Wicksteed und Cornford schließlich dazu, zunächst das undifferenzierte (συγκεχυμένον) und unanalysierte Ganze (δλον), das uns durch die Wahrnehmung gegeben ist, als αρχή im Sinne des Ausgangspunkts B(ii) der Physik zu bestimmen. Erst die Analyse dieser Ausgangspunkte in ihre Bestandteile führt uns zu den primären Begriffen und grundlegenden Wahrheiten, d.h. zu den άρχαί B(i), die in 184a 10-16 als Ziel der Untersuchung genannt werden und die von den άρχαί B(ii) zu unterscheiden sind.27 Betrachtet man die von Wicksteed und Cornford vorgenommene Differenzierung der drei Bedeutungen von „άρχαί", so wird deutlich, daß die άρχαί A (die primären Elemente der Naturdinge) als Realprinzipien zu verstehen sind, während sich die άρχαί B(i) (die Prämissen und grundlegenden Wahrheiten) als Erkenntnisprinzipien erweisen. Die άρχαί B(ii) (die Dinge, die uns durch die Wahrnehmung bekannter sind) lesen sich hingegen wiederum als 'reale Ausgangspunkte'. Hätten Wicksteed und Cornford hier ebenfalls weiter differenziert - und die Bemerkungen in Met. V.l, 1013a2 ff. lassen dies durchaus zu -, so hätten sie nicht nur die Dinge der Sinneswahrnehmung, sondern auch das unmittelbare Wahmehmungswissen über diese Dinge, das in Gestalt von Aussagen über diese Dinge zum Ausdruck kommt, zu diesen Ausgangspunkten gezählt.28 Ebenso wie sich die „φύσει γνωριμώτερα" in Real- und Erkenntnisprinzipien unterteilen lassen, können auch die ,,ήμιν γνωριμώτερα" in reale Ausgangspunkte (die wahrnehmbaren φύσει οντα) und epistemologische AusgangspunkVgl. Wicksteed/Cornford (1980: 9): „The path to knowledge starts from (Β ii) the indistinct ( σ υ γ κ ε χ υ μ έ ν ο ν , cf. Poet. 1450 b 37) unanalysed whole (ολον) given by sense-perception, which has for its object the concrete individual thing (a man), but dimly discerns in this the universal (Man), Anal. Post. 100 a 16. The analysis of this universal into its constituent parts (μέρη, τ ά κ α θ ' έ κ α σ τ α ) carries us up towards the primary concepts and basic truths (B i), just as we understand the nature of a complex thing when we have analysed it into its elements 28
(A)."
In diesem Sinne sagt auch Irwin (1982: 250): „Aristotle often distinguishes different stages of inquiry by contrasting what is 'known to us' (gnorima hemin) with what is 'known by nature' (gnorima physei) (APo. 71b23-72a5). What is known to us is the starting-point for inquiry, our common beliefs; what is known by nature is the true theory resulting from inquiry."
Die Beispiele: 'Der Kreis' und 'Vater und Mutter'
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te (das unmittelbare Wissen über diese φύσει δντα) differenziert werden. Als ein Beispiel für ein derartiges unmittelbares Wissen über die φύσει δντα ist die 'Grundannahme' in 1.2, 185al2-14 zu nennen, die durchaus als ein im dargelegten Sinne verstandenes καθόλου bzw. ήμΐν γνωριμώτερον aufgefaßt werden kann. Zwar scheint Aristoteles in Phys. I aufgrund seiner Rede vom Ganzen (δλον) und seinen Teilen (μέρη) auf Seiten des φύσει γνωριμώτερον vor allem Realprinzipien und auf Seiten des ή μ ΐ ν γνωριμώτερον vor allem Wahrnehmungsdinge im Sinn zu haben,29 doch sind damit die Erkenntnisprinzipien und das propositionale Wissen über die Wahrnehmungsdinge keineswegs ausgeschlossen. Bezeichnet die Verschiedenheit des ήμΐν und des φύσει γνωριμώτερον eine ontologische Verschiedenheit von Grund (άρχή) und Gegründetem (φύσει öv),30 so darf hierbei jedoch nicht übersehen werden, daß Grund und Gegründetes trotz ihrer Verschiedenheit in einer relationalen Abhängigkeit zueinander stehen. Auf diese relationale Abhängigkeit von Grund und Gegründetem weist Aristoteles durch die Bestimmung der άρχή als άρχή τινός ή τινών in 1.2, 185a4-5 explizit hin. Es ist derselbe Sokrates, der sich einerseits auf seine (individuellen) Prinzipien hin analysieren läßt und der andererseits als ein undifferenziertes Wahrnehmungsobjekt betrachtet werden kann. Wäre dies nicht der Fall, so würde die Rede vom Ganzen und seinen Teilen keinen Sinn ergeben, setzt sie doch voraus, daß die Teile immer Teile eines bestimmten Ganzen sind.
1.4 Die Beispiele: 'Der Kreis' und 'Vater und Mutter' Aristoteles veranschaulicht seine methodologischen Darlegungen anhand zweier Beispiele: Dieses Selbige [ταύτό τοϋτο] aber erleiden in gewisser Weise [τρόπον τινά] auch die Namen [τα ονόματα] im Verhältnis zum Begriff [πρός τόν λόγον]: Denn [γάρ] sie bezeichnen auf unbestimmte Weise [άδιορίστως σημαίνει] etwas Ganzes, wie z.B. »Kreis« [ό κύκλος]; sein definitorischer Begriff aber [ό δέ ορισμός] nimmt ihn in die Einzelmomente auseinander. Auch die Kinder sprechen zuerst alle Männer als »Vater« und alle Frauen als »Mutter« an [προσαγορεΰει πάντας τούς άνδρας πατέρας καϊ μητέρας τάς γυναίκας], später jedoch unterscheiden [διορίζει] sie ein jedes von diesen. (1.1, 184a26 - b l 4 )
Die beiden Beispiele vom Kreis und vom Verhältnis des Kindes zu Vater und Mutter sollen das Verhältnis von einem Wort (δνομα) zu einem Begriff (λόγος) verdeutlichen: „Dieses Selbige erleiden in gewisser Weise auch die Namen/Wör-
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Vgl. auch Charlton (1970: 51): „Now are the things clear by nature or to us in the other passages [Eth. Nik. 1.1, 1095 a2-4; De An. II.2, 413 al 1-12; Met. VII. 1029 b3-12; Phys. I. 1, 184 al6-21] formulations, or are they entities'? In the De an. and E.N. passages they seem to be formulations, but in the Met. Ζ passage and here [Phys. I 1] Aristotle might seem to be thinking of entities." Vgl. Guzzoni (1975: 33).
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
ter (τά ονόματα) 31 im Verhältnis zum Begriff (προς τον λόγον)." Was aber ist mit „diesem Selbigen" gemeint, und warum erleiden die ονόματα dieses Selbige nur in gewisser Weise (τρόπον τινά)? Die Begründung (γάρ: 184bl 1), die Aristoteles dafür anführt, daß die Wörter dieses Selbige im Verhältnis zum Begriff erleiden, besteht darin, daß sie (die Wörter) ein Ganzes (δλον τι) auf unbestimmte Weise (άδιορίστως) bezeichnen, wie z.B. das Wort „Kreis", während die Definition (ορισμός) dieses (das Wort „Kreis") oder diesen (das Ganze: der Kreis als Gegenstand) (αύτοΰ) in seine Einzelteile (καθ' έκαστα) auseinandernimmt.32 Da die heute gebräuchliche Verwendung von Anführungszeichen zur Unterscheidung einer Meta- von einer Objektsprache (d.h. zur Unterscheidung des Wortes „Kreis" vom Gegenstand Kreis) Aristoteles nicht zur Verfügung stand, kann mit dem Ausdruck „αύτοΰ" (bl2), das auf ,,ό κύκλος" referiert, sowohl das Wort „Kreis" wie auch der Gegenstand Kreis gemeint sein. Angenommen, der ορισμός nimmt das Wort „Kreis" in seine καθ' έκαστα auseinander, so gelangte man wohl zu „K-r-e-i-s" als das in seine Buchstaben bzw. στοιχεία zerlegte Wort „Kreis". Dies kann hier jedoch aus dem Grunde nicht gemeint sein, da einerseits die Aufgabe der Definition nicht darin besteht, ein Wort in seine materiellen Bestandteile zu analysieren, und da man andererseits auf diese Weise nicht zu dem im Text genannten Verhältnis von ,,δνομα" zu „λόγος", sondern vielmehr zum Verhältnis von ,,δνομα" zu „στοιχεία" gelangen würde. Aus diesem Grunde ist davon auszugehen, daß der ορισμός nicht das Wort „Kreis", sondern vielmehr dasjenige Ganze, was das Wort auf unbestimmte Weise bezeichnet (σημαίνει), in seine Einzelteile (καθ' έκαστα) auseinandernimmt. Dieses Auseinandernehmen kann nun aber ebenfalls auf zweifache Weise verstanden werden: Einerseits so, daß wir neben dem Wort (ονομα) „Kreis" eine Definition (ορισμός) erhalten, die sich inhaltlich aus der Angabe der nächsthöheren Gattung {genus proximum) und des artbildenden Unterschieds {differentia specified) zusammensetzt;33 andererseits so, daß das Wort „Kreis" selbst ein mehrMit dem Ausdruck „τά ονόματα" können sowohl Namen als auch Wörter gemeint sein. Im allgemeinen meint Aristoteles mit den „ονόματα" die bloßen Wörter, und zwar vor allem die Nomen im Gegensatz zu den Verben (βήματα). Aus dem korrelativen Begriff „λόγος" bzw. „ορισμός" wird deutlich, daß hier mit ,,δνομα" das 'bloße' Wort gemeint ist, dessen Funktion sich auf die Benennung beschränkt und das noch kein wesentliches Kennzeichen des benannten Gegenstandes enthält, wie dies beim λόγος oder ορισμός der Fall ist. Im Gegensatz zu dieser bloßen Nennfunktion des όνομα, wie Aristoteles sie auch in Kat. 1 und De Int. 1 zum Ausdruck bringt, spricht Piaton dem όνομα im Kratylos (388b-c) auch die Funktion des Unterscheidens (vgl. ,,τά πράγματα διακρίνομεν"), Lehrens (vgl. ,,διδασκαλικόν τι") und Offenlegens des Wesen zu. Die Tatsache, daß Aristoteles in der Begründung nicht mehr vom „λόγος", sondern vom „ορισμός" spricht, deutet daraufhin, daß „λόγος" und „ορισμός" in unserem Kontext als synonym aufzufassen sind. Zum Verhältnis von λόγος und ορισμός vgl. auch Met. IV.7, 1012a2324: „Denn der λόγος, dessen Zeichen [σημεΐον] das ονομα ist, wird zum ορισμός." In Met. VII.4, 1030al -12 weist Aristoteles allerdings daraufhin, daß nicht jeder λόγος ein ορισμός ist. Kreis wird definiert als „eine zweidimensionale Figur von der Art, daß sich alle Punkte seines Umfangs in gleicher Entfernung von einem gegebenen Punkt befinden". Zum Verhältnis von „ονομα" zu „λόγος" in diesem Sinne vgl. auch Piaton, 7. Brief, 342al-343a4, wo Piaton von der gestuften Genesis unserer Erkenntnis spricht und bezeichnenderweise ebenfalls das Beispiel des Kreises anführt: Nach Ansicht von Piaton ist die erste Stufe der Erkenntnis der Name
D i e Beispiele: ' D e r Kreis' und ' V a t e r und Mutter'
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deutiger Gattungsbegriff ist, durch dessen Analyse wir zu den verschiedenen Arten von Kreisen - wie z.B. Reifen, Rad, geometrischer Kreis, Reigen, epischer Kreis, Ring usw. - gelangen.34 Während sich Ross (1936: 457 f.) fiir die zweite Möglichkeit ausspricht, bin ich der Ansicht, daß hier die erste Möglichkeit gemeint ist. Ross führt gegen die erste Möglichkeit allerdings folgendes Argument an: It is not clear, however, precisely w h a t Aristotle thinks of the definition as doing. His normal account of it is that it analyses a whole into its logical elements, g e n u s and differentia. But here h e speaks of it as dividing the whole into its κ α θ ' έ κ α σ τ α ; which if taken strictly must mean t h e analysis of a genus into its species; yet that is the business not of definition but o f logical division. [ . . . ] τ ά κ α θ ' έ κ α σ τ α seems to have here an unusual meaning: i.e. t o mean the various senses of an ambiguous term. (Ross, 1936: 457)
Der grundlegende Fehler in Ross' Argumentation scheint mir darin zu liegen, daß Ross davon ausgeht, daß wir es bei dem Verhältnis von „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" mit einem Verhältnis von einem „Allgemeinen" zu einem „Speziellen" zu tun haben. Interpretiert man das Verhältnis von „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" jedoch als ein Verhältnis von einem undifferenzierten, konkreten Einzelding zu seinen Prinzipien, so verschwinden die von Ross skizzierten Schwierigkeiten.35 Da Ross das Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστα als ein Verhältnis von 'general' zu 'specific' interpretiert, will er dieses Verhältnis erwartungsgemäß auch in den angeführten Beispielen wiederfinden. Meiner Ansicht nach ist das Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστα jedoch weder als ein Verhältnis von 'general' zu 'specific' - wie Ross vorschlägt - noch als ein Verhältnis von 'universal' zu 'universal' - wie Konstan (1975) vorschlägt - zu verstehen, da wir es bei dem καθόλου in Phys. I. 1 nicht mit einem wie auch immer gearteten begrifflichen Allgemeinen zu tun haben, sondern vielmehr mit einem in sich undifferenzierten Wahmehmungsobjekt, sei dies ein individuelles Einzelding (Kreis) oder bereits eine Gruppe von Einzeldingen (Männer). Vor diesem Hintergrund sind dann die καθ' έκαστα als „Teile" dieses Ganzen im Sinne von konstitutiven Elementen zu verstehen, seien dies reale oder logische Elemente. In dem λόγος „zweidimensionale Figur von der Art, daß sich alle Punkte seines Urafangs in gleicher Entfernung von einem gegebenen Punkt befinden" sind das
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(δνομα), die zweite der Begriff (λόγος), die dritte das Abbild (εΐδωλον), die vierte die Erkenntnis (επιστήμη) und die fünfte die Idee des Dinges, der Kreis selbst. Als λόγος des Kreises fllhrt Piaton „das von seinen Enden bis zum Mittelpunkt gleich weit Entfernte" an (342b). Vgl. Ross (1936: 457 f.). Diese Interpretation, die davon ausgeht, daß „κύκλος" hier als homonyme Bezeichnung ftlr Dinge steht, die verschiedene Definitionen haben, beruft sich auf An. post. 1.12, 77b31 f. Zur Kritik an dieser Interpretation vgl. Wieland (1962: 91 f., Fn.7). Vgl. auch Wielands Kritik an Ross (1962: 91 f., Fn.7): „Warum soll also, da καθόλου hier schon das Unbestimmt-Allgemeine meint, καθ' έκαστα nicht die aus diesem Allgemeinen differenzierbaren Elemente meinen können, gleichgültig ob Genus oder Spezies?" Vgl. ebenfalls Charlton (1970: 52): „'Words' are said to 'stand in a similar relation to accounts', r 1), probably not because definitions make clear the various senses of ambiguous or equivocal expressions (Ross), but because a word like 'man' indicates implicitly a number of features - animal, rational, mortal - which appear separately in the definition (Philoponus)."
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Genus und die artbildende Differenz genau die wesentlichen Bestandteile, aus denen ein Kreis besteht und erkannt werden kann. Ross hingegen versteht die verschiedenen Arten von Kreisen - wie z.B. „Ring", „Epen" usw. - als die καθ' έκαστα. Demgegenüber ist jedoch einzuwenden, daß diese καθ' έκαστα nicht die Prinzipien des Kreises darstellen. Denn die Prinzipien sollen ja nicht Spezifizierungen der φύσει δντα sein, die sich nur hinsichtlich des Grades einer Spezifikation von diesen unterscheiden, sondern sie müssen von diesen vielmehr ontologisch verschieden sein. Zudem sei auch auf folgendes hingewiesen: Das Kreisbeispiel soll in einem übertragenen Sinne verdeutlichen, wie man von einem undifferenzierten Wahrnehmungsobjekt durch Analyse desselben zur Erkenntnis seiner konstitutiven Teile gelangt, um aus diesen das uns zunächst als ein undifferenziertes Ganzes begegnende Wahrnehmungsobjekt zu erkennen. Nun folgt aber aus der Klärung der Mehrdeutigkeit eines Terms wie „Kreis" noch nicht, daß wir erkennen, was ein Kreis seinem Wesen nach ist. Dies wissen wir erst durch die Definition. Mit der Nennung solcher Beispiele wie „Ring", „Epen" usw. haben wir nur Beispiele für die differenzierte Extension und Intension des Ausdrucks „Kreis" angeführt. Daß die Angabe von Beispielen aber keine befriedigende Antwort auf eine „Was ist χ ?"-Frage ist, macht Aristoteles in Met. VII.2 deutlich, wo auf die Frage, was eine ουσία ist, zunächst mit verschiedenen Beispielen der Vorgänger geantwortet wird, die die Mehrdeutigkeit des Wortes ,,ούσία" verdeutlichen. Zur Beantwortung der Frage, was aber eigentlich als ουσία zu zählen habe, geht Aristoteles dann in VII. 3 zu einer intensionalen Untersuchung des Wortes über. Einem ähnlichen Beispiel für den Übergang von einer extensionalen zu einer intensionalen Untersuchung, bei der erst durch letztere entschieden werden kann, was etwas eigentlich ist, werden wir in Phys. 1.5 hinsichtlich der Frage, ob die Gegensätze Prinzipien oder ob die Prinzipien gegensätzlich sind, begegnen. Die Begründung (184bl 1-12) dafür, daß wir es bei dem Verhältnis von ovoμα zu λόγος mit demselben Verhältnis wie bei dem Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστα zu tun haben, zeichnet sich durch eine Gegenüberstellung (δέ: b l l ) aus, in der dem δνομα einerseits ein ,,άδιορίστως σημαίνει" und dem ορισμός bzw. λόγος andererseits ein „διαιρεί" zugeschrieben wird. Hierbei weist das „διαιρεί" in bl2 auf die Methode des ,,διαιροΰσι ταΰτα" in a23 zurück. Darüber hinaus wird das δνομα mit dem δλον τι und der ορισμός mit den καθ' έκαστα in einen Zusammenhang gestellt. Da das ,,τοΰτο" in blO auf das unmittelbar zuvor Gesagte zu beziehen ist, wo es heißt, daß das καθόλου vieles als seine Teile umfaßt, will Aristoteles hier das Verhältnis von einem δνομα zu einem ορισμός (λόγος) als ein Verhältnis von einem Ganzen zu seinen Teilen beschreiben. Zwischen dem δνομα und dem ορισμός (λόγος) liegt in gewisser Weise dasselbe Verhältnis wie zwischen dem καθόλου und den καθ' έκαστα vor, wobei dies ein Verhältnis von einem Ganzen zu seinen Teilen ist. Hierbei stehen „δνομα" und „λόγος" weniger dafür, was jeweils konkret unter dem καθόλου und den καθ' έκαστα zu verstehen ist, als vielmehr für das Verhältnis, das zwischen diesen besteht. Denn weder ist der ορισμός bzw. λόγος als Teil
Die Beispiele: ' D e r K r e i s ' und 'Vater und Mutter'
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des δνομα zu verstehen, noch ist das δνομα umgekehrt als Teil des ορισμός bzw. λόγος zu betrachten (denn das Definiendum darf ja im Definiens nicht vorkommen). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Hinzufiigung des „τρόπον τινά" (blO). Denn bei dem Verhältnis von Wort und Definition haben wir es nicht im selben Sinne mit einer Teil-Ganzes-Relation zu tun, wie dies bei dem καθόλου und den καθ' έκαστα der Fall ist, wo die Prinzipien als καθ' έκαστα die 'Teile' des φύσει όν und somit des καθόλου sein sollen. Das δνομα steht vielmehr für eine undifferenzierte Ganzheit, während der λόγος bzw. ορισμός^ir die in Teile zerlegte Ganzheit steht. Im zweiten Beispiel spricht Aristoteles davon, daß „auch die Kinder zuerst alle Männer »Vater« und alle Frauen »Mutter« nennen und erst später ein jedes von diesen unterscheiden" (184b 12-14). Auch dieses Beispiel soll analog zum Kreisbeispiel das Verhältnis von einem δνομα zu einem λόγος als ein Verhältnis von einem undifferenzierten Ganzen zu seinen differenzierten Elementen veranschaulichen. Versucht man das von Aristoteles im Beispiel Gesagte näher zu erläutern, so ergibt sich folgendes Bild: Das Beispiel geht von dem im Alltag zu beobachtenden Faktum aus, daß die Kinder in einem gewissen Alter alle Männer mit „Vater" und alle Frauen mit „Mutter" ansprechen. Aristoteles scheint hier ein empirisches Faktum des Spracherwerbs bei Kindern zu beschreiben, das in der Linguistik auch unter dem Begriff der „overextension" bekannt ist.36 Konzentrieren wir uns der Einfachheit halber nur auf das Beispiel der Frauen bzw. Mütter, wobei Analoges fiir das Beispiel der Männer bzw. Väter gilt, so besagt das von Aristoteles angeführte Beispiel zunächst nur, daß die Kinder in einer bestimmten - nämlich sprachlichen - Hinsicht nicht zwischen den Frauen und der eigenen Mutter unterscheiden. Der Grund für diese Nichtunterscheidung kann darin gesehen werden, daß den Kindern die eigene Mutter zunächst als ein undifferenziertes Ganzes von Eigenschaften (wie z.B. weiblich, liebevoll, 'immerkommend-wenn-man-schreit' usw.) erscheint, wobei einige dieser Eigenschaften die Mutter als Mutter, andere jedoch die Mutter als Frau kennzeichnen. 37 Wenn das Kind den Namen „Mutter" lernt, verbindet es mit ihm eine bestimmte Eigenschaft - z.B. die Eigenschaft „weibliches, menschliches Wesen" -, die im Gegen-
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Vgl. Andresen (1993: 305): „Die Bedeutungsentwicklung, die eng mit der Begriffsentwicklung verbunden ist, verläuft so, daß die Wortbedeutungen zunächst wesentlich weiter sind als die der Erwachsenensprache, z.B. Piep für Vogel und Flugzeuge (Bedeutung: alles was fliegt), Teddy für Stofftiere, Mäntel, Mutzen (Bedeutung: alles was flauschig ist), Papa für alle Männer." Man faßt diese Erscheinungen in der Linguistik auch unter dem Begriff der „Übergeneralisierung" zusammen. Dieser Differenzierung der Hinsichten, unter denen etwas betrachtet wird, werden wir auch in Phys. 1.8 begegnen, wo Aristoteles ausführt, daß der Arzt zwar als Arzt heilt, daß er aber nicht als Arzt, sondern als Baumeister ein Haus baut. Wir werden sehen, daß die Vorgänger nach Ansicht von Aristoteles die Unterscheidung von 'etwas als dieses etwas' bzw. von 'etwas nicht als dieses etwas' nicht hinreichend beachtet haben. Vor diesem Hintergrund scheint Aristoteles in Kapitel 1.1 vielleicht andeuten zu wollen, daß sich seine Vorgänger in dieser Hinsicht auf derselben Ebene wie die hier genannten Kinder befinden, die in bezug auf ihre eigene Mutter noch nicht zwischen der Mutter als Mutter und der Mutter als Frau zu unterscheiden gelernt haben.
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Physik
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satz zu den Eigenschaften des Vaters ausgewählt wird. Auf diese Weise überträgt das Kind dann den Namen „Mutter" auf alle die ihm begegnenden Objekte, die ebenfalls das Merkmal „weibliches, menschliches Wesen" haben. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Kind alle Frauen „Mutter" nennt, weil es zwischen seiner Mutter und den anderen Frauen generell nicht unterscheiden kann. Gerade die Mutter zählt doch wohl zu den allerersten Objekten, die das Kind von allen anderen Dingen zu unterscheiden lernt, und ich gehe davon aus, daß auch Aristoteles annimmt, daß das Kind sehr wohl die eigene Mutter von den anderen Frauen unterscheiden kann. Gleichwohl ist das Kind aber noch nicht in der Lage, diesen Unterschied auch in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, was seinen Grund darin findet, daß das Kind am Anfang nur den Namen „Mutter" zur Verfügung hat und ihn falsch verwendet, weil ihm die Bedeutung (d.h. der λόγος bzw. ορισμός) dieses Namens noch nicht bekannt ist. Vor diesem Hintergrund beschreibt das von Aristoteles angeführte Beispiel somit den Übergang von der Verwendung eines bloßen δνομα zum Erwerb der Bedeutung - und damit zum λόγος - dieses δνομα. 38 Im Gegensatz zu dieser Interpretation versteht Ross das Beispiel in dem Sinne, daß das Kind zunächst die generelle Anwesenheit von allen Männern und Frauen wahrnimmt, ohne die besondere Anwesenheit seines Vaters und seiner Mutter zu bemerken, und deshalb alle Männer „Vater" und alle Frauen „Mutter" nennt.39 Dieser Interpretation zufolge liegt der Grund dafür, daß das Kind am Anfang alle Frauen „Mutter" nennt, darin, daß das Kind tatsächlich nicht zwischen seiner Mutter und den anderen Frauen unterscheiden kann. Sein Unvermögen hinsichtlich einer sprachlichen Differenzierung wäre hier als Folge des Unvermögens hinsichtlich einer generellen (epistemologischen) Differenzierung anzusehen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu unserer Erfahrung, die man gerechterweise auch Aristoteles unterstellen sollte und der zufolge das Kind doch vor allem anderen zunächst die besondere Anwesenheit seiner Mutter wahr-
Das Kind geht in seiner Wahrnehmung somit von seiner eigenen konkreten Mutter als ein undifferenziertes Ganzes aus. Zugleich ist darauf hinzuweisen, daß die eigene Mutter nicht das einzige undifferenzierte Wahrnehmungsobjekt ist. Auch die Klasse aller Frauen begegnet dem Kind als ein undifferenziertes Wahrnehmungsobjekt, das aus (realen) Teilen - nämlich aus verschiedenen Frauen, wozu auch die eigene Mutter zählt - besteht. Wir haben es in unserem Beispiel folglich mit wenigstens zwei verschiedenen Arten eines καθόλου zu tun: (a) mit der eigenen konkreten Mutter als einer „strukturalen Ganzheit" und (b) mit der Klasse aller Frauen als einer „kollektiven Ganzheit" (vgl. auch Wieland, 1962: 93 f.). Ross (1936: 457): „It is clear that καθόλου is not used in its usual Aristotelian meaning. The reference must be not to a universal conceived quite clearly in its true nature, but to that stage in knowledge in which an object is known by perception to possess some general characteristic (e.g. to be an animal) before it is known what its specific characteristic is (e.g. whether it is a horse or a cow). It is this phase of Aristotle's meaning that is illustrated by the example of the child who recognizes the general appearance presented by all men and that presented by all women, without noticing the special appearance of its father and its mother, and therefore calls all men father and all women mother (bl2-14)." Diese Interpretation entspricht dem von Ross dargelegten Verständnis des Verhältnisses von καθόλου zu καθ' έ κ α σ τ α als ein Verhältnis von „general" zu „specific". Das Kind würde somit von einem allgemeinen Merkmal (to be a woman) zu einem speziellen Merkmal (to be a (my) mother) gelangen.
Die Beispiele: ' D e r Kreis' u n d 'Vater und Mutter'
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nimmt, wie dies bereits von Konstan gegenüber Ross hervorgehoben wurde.40 Zudem erklärt die Interpretation von Ross genaugenommen nicht, warum die Kinder zunächst alle Frauen „Mutter" nennen, da man seiner Interpretation zufolge doch eher erwarten würde, daß jedes Kind seine Mutter zunächst „Frau" nennt, geht es doch Ross zufolge von der generellen Charakteristik ('eine Frau zu sein') aus und gelangt erst später zu der speziellen Charakteristik ('meine Mutter zu sein').41 So berechtigt die von Konstan vorgelegte Kritik an der Interpretation von Ross in diesem Punkte auch ist, so verfehlt ist jedoch sein eigener Interpretationsansatz. Konstan geht zwar zu Recht davon aus, daß Aristoteles nicht meint, die Kinder könnten ihre eigene Mutter nicht von anderen Frauen unterscheiden, zugleich jedoch muß er selbst eine Antwort auf die Frage finden, warum die Kinder am Anfang alle Frauen „Mutter" nennen, wenn sie doch andererseits sehr gut zwischen ihrer Mutter und den anderen Frauen zu unterscheiden in der Lage sind. Anstatt, daß Konstan nun die naheliegendste Lösung ergreift - nämlich, daß das Kind sprachlich nicht zu unterscheiden in der Lage ist, weil es erst vom δνομα zum λόγος gelangen muß -, sieht er die Lösung in einer Doppeldeutigkeit des Wortes ,,προσαγορεύειν", das Konstan zufolge entweder (a) 'jemanden mit Namen nennen' oder (b) 'die Bezugnahme unter einen allgemeinen Term' bedeutet.42 Nach Ansicht von Konstan ist das Wort ,,προσαγορεύειν" hier im zweiten Sinn zu verstehen: The crucial ambiguity is in the meaning of the word »call« ( π ρ ο σ α γ ο ρ ε ύ ε ι ) . The Greek term, like the English, may mean to address by name; it may also denote reference under a general term. According to the first sense o f the word, Aristotle's statement would mean that children apply to all men t h e name »Father«, and to all women the n a m e »Mother«, and on this reading it is correct to infer, as Ross does, that children are unable to tell apart their own fathers and mothers from other men and w o m e n . But Aristotle's use of the plural in »fathers« and »mothers« favors, I think, the second sense of the w o r d »call«, according to which Aristotle's statement means only that children refer to all men as fathers and to all w o m e n as mothers. (Konstan, 1975: 242)
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Vgl. Konstan (1975: 242): „[...], Aristotle says nothing about the ability of children to recognize their own parents. He says only that they do not know that fathers and mothers are something different from men and women generally." Vgl. auch Fn.7: „It is perhaps worth remarking that, in fact, any child old enough to employ the words 'father' and 'mother' will long since have been able to recognize its own parents." Eine Analyse, die mit der Interpretation von Ross in wesentlichen Punkten Übereinstimmt, findet sich auch bei Pietsch (1992: 67): „Zuerst nennt das Kind alle Männer und Frauen Vater und Mutter. Differenzen werden entdeckt, die es dem Kind ermöglichen, die Mutter zu erkennen, die an ihr etwas ist, was sie von allen anderen Müttern unterscheidet. Schließlich wird die Bezeichnung 'Mutter' nur noch ftlr die Personen verwendet, denen sie auch tatsächlich zukommt." Statt „Differenzen werden entdeckt, die es dem Kind ermöglichen, die Mutter zu erkennen, die an ihr etwas ist, was sie von allen anderen Müttern unterscheidet" mtlßte es jedoch korrekterweise lauten, daß das Kind durch das Entdecken von Differenzen nicht die eigene Mutter, sondern vielmehr die genaue Bedeutung - d.h. den λόγος - des Wortes „Mutter" entdeckt. Als Beleg dafür, daß Aristoteles das Wort „προσαγορεύει" auch in der zweiten Bedeutung verwendet, verweist Konstan auf Pol. IV.4, 1290a39.
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Hieraus ergibt sich für Konstan schließlich die Konsequenz, daß das Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστον als ein Verhältnis von einem Allgemeinbegriff (universal) zu einem anderen Allgemeinbegriff (universal) zu verstehen ist, wobei sich der erste Allgemeinbegriff („father*', ,another") als ein komplexer Allgemeinbegriff (complex universal) erweist, während der zweite Allgemeinbegriff („men", „women") als ein (allgemeiner) Bestandteil dieses Allgemeinbegriffes (constituent universal) zu betrachten ist: Therefore, the relationship between τό καθόλου and τά καθ' έκαστα will be a relationship between universals. Now, Aristotle tells us in our passage that τό κ α θ ό λ ο υ is a kind of whole (δλον τι), that the term covers things which are compounded or complex ( σ υ γ κ ε χ υ μ έ ν α ) , while τά καθ' έ κ α σ τ α are, in a sense the parts (ώς μέρη) of the whole. Aristotle's analysis suits his example quite nicely, on the interpretation that I have given. »Father« and »mother« represent a kind of complex universal, which may be reduced to constituent universals that are more knowable in themselves, that is, to »man« and »woman« on the one hand, and, on the other hand, to »parent«. These latter are, as it were, the parts of father and mother. (Konstan, 1975: 243)
Dieser Interpretation ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: (1) Wie meine Interpretation des Beispiels verdeutlicht hat, ist es nicht notwendig, von der Annahme, daß die Kinder am Anfang alle Frauen „Mutter" nennen, zu der Konklusion von Ross zu gelangen, der zufolge die Kinder ihre Mutter nicht von den anderen Frauen auseinanderhalten können. (2) Der Kontext spricht eindeutig dafür, daß Aristoteles hier mit ,,προσαγορεύει" offenkundig die Bedeutung (a) („fo address by name") im Sinn hat. Denn auch wenn Aristoteles an der von Konstan angeführten Textstelle in der Politik (IV.4, 1290a39) das Wort ,,προσαγορεύει" in der Bedeutung (b) verwendet, so darf an unserer Textstelle jedoch nicht übersehen werden, daß Aristoteles hier den Kindern ein ,,προσαγορεύειν" zuspricht. Und in bezug auf diese ist doch wohl anzunehmen, daß sie - auch nach Ansicht von Aristoteles - eher etwas schlicht benennen, als daß sie auf etwas unter einem allgemeinen Term referieren.43 (3) Die Verwendung des Plurals „πατέρας και μητέρας", dem zufolge Aristoteles hier genaugenommen nicht sagt „die Kinder nennen zuerst alle Frauen »Mutter«", sondern „die Kinder nennen zuerst alle Frauen »Mütter«", bedeutet nicht, daß wir es hier mit zwei Universalien zu tun hätten; vielmehr findet der Plural seinen Grund in der erforderlichen Parallelität der grammatischen Konstruktion, die noch nicht die Möglichkeit der Verwendung von Anführungszeichen kennt. Denn es ist an besagter Textstelle von den Kindern (τά παιδία) ja ebenfalls im Plural die Rede, die zusammen nicht nur eine Mutter, sondern mehrere Mütter haben. Ein Satz wie «die Kinder nennen Hierbei sind allerdings zwei Beschreibungsebenen zu unterscheiden: Einerseits kann unsere Textstelle so verstanden werden, daß Aristoteles hier schlicht einen Sachverhalt beschreibt, und dann ist davon auszugehen, daß er sagt „Kinder benennen ...". Andererseits aber kann man auch die Ansicht vertreten, daß Aristoteles hier bereits einen Sachverhalt analysiert, und dann könnte er meinen „Kinder referieren auf etwas unter einem allgemeinen Term ..." Die Tatsache, daß das Wort ,,προσαγορεύει" hier die Kinder zum Subjekt hat, und seine gewöhnliche Bedeutung eben „benennen, ansprechen, begrüßen ..." ist, spricht jedoch fllr die Interpretation „die Kinder benennen", wie sie auch bei allen anderen Interpreten zu finden ist.
Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien
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alle Frauen „Mutter"», in dem der Ausdruck „Mutter" im Singular steht, wird ja erst durch die Verwendung von Anführungszeichen zu einem sinnvollen Satz. Aristoteles hat das Beispiel des Kindes gewiß nicht zufällig gewählt. So taucht die Mutter in Gestalt der platonischen ύλη (χώρα) als ein Prinzip in Kapitel 1.9, 192al4 wieder auf. Dort bezieht sich Aristoteles auf Piatons Dialog 77maios, in dem Piaton (vgl. Tim. 50d) das Werdende mit dem Kind und die Prinzipien dieses Werdenden - die Ideen einerseits und die χώρα andererseits - mit dem Vater als Erzeuger und der Mutter als dasjenige, worin das Kind wird, vergleicht.44 Zudem werden Vater und Mutter von Aristoteles oft als Beispiele für eine ά ρ χ ή und αιτία genannt.45 Das von Aristoteles in Kapitel 1.1 gewählte Beispiel vom Kind und seinen Eltern verdeutlicht offenkundig das Thema von Physik A, nämlich das Verhältnis des Werdenden zu seinen es konstituierendenPrinzipien. Zugleich tritt in dem Beispiel eine gewisse Ironie zu Tage: Wenn Aristoteles das Verhältnis von einem Werdenden zu seinen Prinzipien mit dem Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern vergleicht, das in einer bestimmten Hinsicht noch nicht in der Lage ist, seine eigene Mutter von anderen Frauen zu unterscheiden, so kann hierin ein Vergleich der Vorgänger von Aristoteles mit diesen Kindern gesehen werden, die in einem analogen Sinne auch ihre „Eltern" in Gestalt der „Prinzipien" nicht kennen, da sie zunächst alle möglichen Dinge als Prinzipien bezeichnen. In diesem Sinne stellen die Theorien der Vorgänger nach Ansicht von Aristoteles gleichsam die „Kinderstube" der Physik als Wissenschaft dar: Denn die erste Philosophie glich am Anfang bei ihrer Entstehung in ihren Reden über alles einem lallenden Kinde. {Met. 1.10, 993al5-16; Übers, nach Bonitz)
Daß die Vorgänger in Analogie zum Kind, das ein Merkmal seiner Mutter auf alle Frauen überträgt und dann alle Frauen „Mutter" nennt, auch ein Merkmal der 'Prinzipien' auf alle möglichen Dinge übertragen und so zu einer „Übergeneralisierung" des Wortes „Prinzip" gelangen, wird besonders in Phys. 1.5 deutlich werden, wo Aristoteles darlegen wird, daß die Vorgänger alle möglichen Gegensätze als Prinzipien bezeichnet haben.
1.5 Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien Nach Ansicht von Fritsche bedarf das Buch Α der Physik einer logisch notwendigen Fortsetzung im Buch B, da sich das Buch Α als Beweisziel unter anderem den Aufweis der Existenz von Prinzipien setzt, wobei dieses nach Ansicht von Fritsche nicht schon im Buch A, sondern erst im Buch Β eingelöst wird. Das Beweisziel der Physikvorlesung ist immer zu kurz gefaßt worden. Man hat in ihm lediglich den Aufweis der Anzahl und Beschaffenheit der Ursprünge der natürli44
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Das Faktum, daß Aristoteles am Ende in Kapitel 1.9 mit dem Beispiel der „Mutter" zum Anfang zurückkehrt, kann auch als Indiz für die Geschlossenheit des Buches Α gewertet werden. Vgl. Met. V . l , 1013a9; V.15, 1021a22; V.24, 1023b4; XII.5, 107U15, XII.5, 1071bl.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung' chen Dinge gesehen, ihres - mit dem letzten Satz des ersten Buches - »καν τίνες, και πόσαι τον αριθμόν«, ohne dem vorangestellten »ότι μέν οΰν είσΐν άρχαί« irgend Gewicht beizumessen. (Fritsche, 1986: 6)46
Erschien es den antiken Interpreten noch als sicher, daß die Physik aufgrund ihrer Methode und aufgrund des Primats der Metaphysik die Existenz von Prinzipien der Naturdinge nicht beweisen kann, so wird in den modernen Interpretationen die Frage nach der Existenz von Ursprüngen erst gar nicht mehr gestellt, sondern stillschweigend angenommen, sie sei mit der Physik vorausgesetzt (vgl. Fritsche, 1986: 6 f.). Nach Ansicht von Fritsche wird aber die Existenz von Prinzipien gerade im ersten Satz der Physik als Hauptfrage exponiert.47 Im Anschluß an einen zusammenfassenden Überblick über die von Simplicius, Philoponus, Theophrast und Guzzoni zu Phys. 1.1 vorgelegten Interpretationen (S. 19-43), setzt Fritsche dann seine eigene Interpretation von diesen ab (S. 43-50). Er weist daraufhin, daß 184al0-12 unter der Bedingung der Parenthese al2-14 steht, in der eine Definition der Erkenntnis gegeben wird. Da eine Definition aber - und hier greift Fritsche auf An. post. 1.2 zurück - nicht eine Antwort auf eine Ob- bzw. Daß-Frage, sondern vielmehr auf eine Was-Frage darstellt, ist mit ihr noch nicht gezeigt, daß es durch Prinzipien begründete Gegenstände gibt bzw. daß es überhaupt Prinzipien gibt. Fritsche spricht sich gegen Guzzonis Interpretation des Hauptsatz a 14-16 aus, die diesen als eine bloße Spezifizierung des Nebensatzes a 10-14 im Hinblick auf den Bereich der natürlichen Dinge versteht, da diese Interpretation zu unterstellen scheint, daß zu Beginn von Kapitel 1.2 die Existenz von Prinzipien bereits vorausgesetzt sei und es folglich nur noch um die Frage nach dem „wieviele" und „welche" gehe.48 Mit dem Ausdruck ,,διορίσασθαι πρώτον τά περί τάς άρχάς" (al5-16) ist, so Fritsche, folgendes angezeigt: Will man Physik betreiben, so muß zuerst gezeigt werden, daß die Naturdinge erkennbar sind; dies bedeutet, daß zuerst gezeigt werden muß, daß sie Prinzipien haben. Wenn Erkenntnis nämlich in der Suche nach den Prinzipi-
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Vgl. auch S. 46 und 52 ff. Zur Unabgeschlossenheit des Buches Α vgl. auch S. 98: „Dann muß man den Obersatz beweisen, daß diese beiden [Form und Zugrundeliegendes] Ursprünge sind. Dies wird nun freilich nicht - darin Wieland folgend - in der Metaphysik bewiesen und hier vorausgesetzt, sondern durchaus in der Physikvorlesung selbst, für das Zugrundeliegende noch im ersten Buch, fllr die Form vor allem im zweiten; und daß nur diese beiden Ursprünge sind, weil durch keine anderen mehr zu komplettieren, - dieser Beweis, also der des Wieviel, endet eigentlich erst mit dem vierten Buch." Ebd. S. 7. Zwar ist sich Fritsche bewußt, daß die Frage nach der Existenz von Prinzipien insofern gekünstelt wirkt, als mit der Frage nach der Anzahl und Beschaffenheit der Prinzipien die Existenz derselben vorausgesetzt sei, gleichwohl aber läßt er diesen Einwand ebenso wie den, daß in der diairetischen Einteilung der Prinzipien der Vorgänger in 1.2 die Möglichkeit von „keiner άρχή" nicht berücksichtigt wird, aus methodischen Gründen nicht gelten (vgl. S. 7). Er filhrt demgegenüber an, daß Aristoteles am Ende des Buches Α explizit sagt, daß nun klar sei, daß es Prinzipien gebe (vgl. S. 16). Zudem sei es der in den Analytica posteriora (vgl. 89b24 f.) dargelegten Methodologie zufolge notwendig, zuerst die Frage nach dem Daß zu beantworten, um dann erst auf die Frage nach dem Was eingehen zu können (S. 17). Ebenso wie Guzzoni habe auch ich die Physik als έπιστήμη περί φύσεως (184al4-15) im Sinne einer spezifizierten μέθοδος interpretiert. So muß nach Ansicht von Aristoteles für die Möglichkeit einer Physik als W i s s e n s c h a f t die Existenz von Prinzipien vorausgesetzt werden (vgl. 1.2, 185al-6), da jedes (wissenschaftliche) Erkennen immerein Erkennen aus Prinzipien ist (vgl. 1.1, 184al0-16).
Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien
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en des zu erkennenden Gegenstands besteht, so ist eine Erkenntnis nur von den Dingen möglich, die Prinzipien haben: Aufgabe der Physikvorlesung ist also der Beweis des Daß von Ursprüngen der natürlichen Dinge als Voraussetzung aller einzelnen Naturwissenschaften. Nicht jedoch ist die Existenz von Ursprüngen der natürlichen Dinge der Physikvorlesung vorausgesetzt. (Fritsche, 1986: 45)
So versteht Fritsche dann auch das in 184al6-bl4 Gesagte nicht als eine Folgerung aus 184a 10-16, weder im Sinne einer Spezifizierung (so Philoponus und Guzzoni) noch im Sinne eines Beweises des Untersatzes, daß die natürlichen Dinge Prinzipien haben (so Theophrast), sondern er versteht es vielmehr als eine „begründende Erläuterung des in 184al0-16 formulierten Programms" (S. 46).49 Zwar sieht Fritsche richtig, daß 184al6-bl4 nicht als Folgerung des zuvor Gesagten (alO-16) anzusehen ist,50 doch zugleich übersieht er ebenfalls die gegenüberstellende Funktion des ,,δέ" in a 16, wenn er hier von einer begründenden Funktion spricht und somit das „aber" im Sinne eines „denn" liest. Ein weiterer Einwand gegen die Interpretation Fritsches ist darin zu sehen, daß Fritsche einerseits explizit herausstellt, daß Aristoteles am Ende von Phys. 1.9 (192b2-3) sagt, daß nun auch das Daß der Prinzipien gezeigt worden sei, während er andererseits feststellt, daß Aristoteles dieses Daß der Prinzipien in Physik I selbst nicht vollständig zeigt. Dieses Daß wird Fritsche zufolge eigentlich erst am Ende von Physik II gezeigt sein, weshalb er das Buch Α als prinzipiell unabgeschlossen betrachtet.51 Hier wird insofern ein Widerspruch deutlich, als Fritsche mit seiner These von der Notwendigkeit des Nachweises der Existenz von Prinzipien, die er mit Hilfe des Schlußsatzes in Kapitel 1.9 zu begründen sucht, gerade diesem Schlußsatz widerspricht. Denn wieso sollte Aristoteles am Ende von Physik I sagen, daß nun auch gezeigt worden ist, daß es Prinzipien gibt, wenn dies nach Ansicht von Fritsche eigentlich erst am Ende von Physik II als bewiesen betrachtet werden kann? Dies läßt Fritsches These von der Notwendigkeit des expliziten Nachweises der Existenz von Prinzipien und die damit verbundene These von der Unabgeschlossenheit des Buches Α als unwahrscheinlich erscheinen. Vielmehr ist die Existenz von Prinzipien zu Beginn des Kapitels 1.2 in einem bestimmten Sinne bereits vorausgesetzt, wie mit Hilfe folgender Anmerkungen verdeutlicht werden kann: (1) Sagt Aristoteles in 1.1, 184al2-14, daß die Erkenntnis von etwas die Erkenntnis seiner Prinzipien voraussetzt, so gilt dies vor allem für die wissen-
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Vgl. Fritsche (1986: 46): „Vielmehr stellt 184 a 16 - 184 b 14 eine begründende Erläuterung des in 184 a 10-16 formulierten Programms dar." Vgl. auch S. 47: „[...], so ist das Verhältnis beider Satzgruppen zueinander so, daß die zweite, 184 a 21-26, die erste, 184 alO-16, begründet." Diesen Fehler begeht Zekl (1987); vgl. dazu meine Ausführungen auf S. 15, Fn.7. Auch Wagner (1967: 444) ist in bezug auf die Frage nach der Abgeschlossenheit des Buches A der Physik unsicher: „Ob die Bücher I und II von Anfang an zusammengehört haben, oder ob nicht Buch I eine Einzeluntersuchung ursprünglich war, das ist schwer zu entscheiden." Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, daß das Buch Α hinsichtlich seiner Methode und deren Anwendung als in sich selbständig und abgeschlossen zu betrachten ist, wie dies bereits von Solmsen (1960: 71 ff.) in bezug auf die einzelnen Bücher der Physik vertreten wurde.
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schaftliche Erkenntnis, die nur aus Prinzipien heraus erkennen kann und folglich die Existenz derselben zunächst einmal annehmen muß. Mit anderen Worten: Jedes etwas, das erkannt werden soll, muß auf etwas anderes, aus dem es erkannt werden kann, reduzierbar sein. Diese Form eines epistemologischen Reduktionismus setzt Aristoteles auch bei seinen Vorgängern als ein nicht eigens zu beweisendes Axiom voraus. 52 (2) Sagt Aristoteles in 1.2, 184b25, daß die Annahme von keiner ά ρ χ ή nicht als eine Untersuchung im Bereich der φύσις anzusehen ist, so spricht dies dafür, daß die Physik als Wissenschaft die Existenz von Prinzipien voraussetzen muß. (3) Sagt Aristoteles in 1.4, 187b7, daß bei einer unendlichen Anzahl von Prinzipien die aus diesen bestehenden φύσει δντα, unerkennbar wären, so gilt umgekehrt, daß die φύσει δντα gleichfalls unerkennbar wären, wenn es überhaupt keine άρχή gibt. Aristoteles scheint in Physik I eher auf indirektem Wege zu zeigen, daß es Prinzipien gibt. Damit ist folgendes gemeint: Indem Aristoteles in Physik I eine kohärente Theorie des Aufbaus der φύσει δντα aus Prinzipien entwirft und es ihm so gelingt, die φύσει δντα auf bestimmte und allen gemeinsame Grundmomente zu reduzieren, durch die sie erkennbar werden, zeigt er insofern auf indirektem Wege, daß es Prinzipien der φύσει δντα gibt, als die auf diese Weise entdeckten 'Gründe' daraufhin überprüft werden, ob sie den in 1.5, 188a27-28 aufgestellten drei Kriterien einer άρχή genügen. 53 Im Gegensatz zu Fritsche, der der Auffassung zu sein scheint, Aristoteles zeige zunächst, daß es Prinzipien der φύσει δντα gibt (woraus dann folgt, daß die φύσει δντα erkennbar sind), bin ich der Ansicht, daß Aristoteles umgekehrt zeigt, daß die φύσει δντα erkennbar sind (d.h. daß es eine kohärente Theorie von ihnen gibt, die sie auf gemeinsame Grundmomente reduziert, die den Kriterien einer ά ρ χ ή entsprechen), wodurch indirekt bewiesen wird, daß es Prinzipien gibt.
Indem die Vorgänger in ihren Theorien jeweils bestimmte Prinzipien zugrunde legen, setzen sie zugleich die Existenz derselben voraus. Übertragt man dies auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern, so gilt im Bilde gesprochen folgendes: Ebenso wie „Kind-sein" eo ipso „Vaterund-Mutter-haben" bedeutet, bedeutet „Erkennbarsein" eo ipso „Durch-Prinzipien-Erkennbarsein". Dem Kind stellt sich nicht die Frage, ob es Eltem hat, sondern vielmehr, welche Eltern es hat. Diese drei Kriterien lauten: (1) άρχαί dürfen nicht auseinander sein; (2) άρχαί dürfen nicht aus anderem sein; (3) aus den άρχαί muß alles sein.
2. Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern' 2.1 Die diairetische Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί Im Anschluß an die methodologische Vorbemerkung beginnt Aristoteles seine Untersuchung mit folgender diairetischer Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί: Notwendigerweise [άνάγκη] muß also das Prinzip entweder eines [μίαν] sein, oder es gibt mehrere [πλείους]; und wenn es eines ist, so ist es entweder unbewegt [άκίνητον], wie Parmenides und Melissos sagen, oder es ist bewegt [κινουμένην], wie die Naturphilosophen sagen, wobei die einen behaupten, das erste Prinzip sei Luft, die anderen, es sei Wasser. Wenn es aber mehrere gibt, so sind sie entweder in ihrer Anzahl begrenzt [πεπερασμένας] oder unbegrenzt [άπειρους], und wenn begrenzt, aber mehr als eines, so entweder zwei, drei, vier oder eine andere bestimmte Zahl. Und wenn sie unbegrenzt sind, so sind sie entweder, wie Demokrit lehrt, der Gattung nach eines [τό γένος εν], aber in der Gestalt unterschieden, oder sie sind der Art nach unterschieden [εϊδει διαφέρουσας], ja entgegengesetzt. (1.2, 184bl5-22) Abb. 2.1 Die numerischen Möglichkeiten von άρχαί 1 Prinzip
(άρχή) e i n (μία) unbewegt (άκίνητος) Parmenides Melissos
s
^
"
bewegt (κινούμενη)
Luft (άήρ)
Wasser (ύδωρ)
Naturphilosophen
"
m
e
h
r
e
r e (πλείονες)
begrenzte Anzahl (πεπερασμένοι)
unbegrenzte Anzahl (άπειροι)
zwei drei vier usw. homogen heterogen (δύο) (τρεις) (τέττα- (κτλ.) (τό γένος έν) (εϊδει διάφερες) ρούσας) Demokrit
Aristoteles will durch diese Einteilung den logisch möglichen Rahmen der Anzahl von άρχαί abstecken,2 wobei das Fehlen der Alternative „keine άρχή" seiDieses Schema beruht auf der Textstelle 1.2, 184bl5-22. Ein detaillierteres Schema, das auch andere Textstellen aus dem Buch Α der Physik und aus der Metaphysik miteinbezieht, findet sich im Anhang 11.2, Darstellung (1). Vgl. Wagner (1967: 395): „Nun beginnt Aristoteles seine Prinzipienuntersuchung, und zwar so, wie sie allein der logischen Forderung gerecht werden kann: mit einer Reihe vollständiger Disjunktionen." Aubenque ( 2 1966: 90) sieht in dieser Einteilung „une sort de table d'orientation des solutions theoretiquement possibles".
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Physik
I. 2: ' D i e Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
nen Grund darin findet, daß jede Wissenschaft aus erkenntnistheoretischen Gründen die Existenz von άρχαί voraussetzen muß. Das Ordnungskriterium der Zahl ermöglicht zudem eine systematische Behandlung der Ansichten der Vorgänger, die zugleich als Vorbereitung der Darlegung der eigenen Theorie dient. So wird Aristoteles zunächst die äußeren Alternativen „eine άρχή" (Kapitel 1.2 und 1.3) und „unendlich viele άρχαί" (Kapitel 1.4) behandeln, um dann durch den Nachweis der Unmöglichkeit derselben zu den mittleren Alternativen vorzudringen.3 Neben dem Umstand, daß durch die Einteilung der logisch mögliche Rahmen der Anzahl von άρχαί absteckt werden soll, welches durch den einleitenden Ausdruck ,,άνάγκη" deutlich wird, sollen in ihr bereits auch die faktisch vertretenen Ansichten einiger Vorgänger zum Ausdruck gebracht werden. Aristoteles verwendet folgende Distinktionen: „eine oder mehrere", „begrenzt viele oder unbegrenzt viele", „zwei, drei, vier oder irgendeine andere bestimmte Anzahl", „bewegt oder unbewegt", „homogen oder heterogen" und „Luft oder Wasser". Die Tatsache, daß die Distinktion „bewegt - unbewegt" nur auf Seiten von „einer άρχή", nicht aber auf Seiten von „mehreren άρχαί" zu finden ist, könnte zunächst zwar als eine Uneinheitlichkeit der zugrunde gelegten Einteilungskriterien gedeutet werden, doch läßt sich dies dadurch erklären, daß faktisch gesehen einzig die Monisten als Vertreter der Ansicht von „einer άρχή" diese als unbewegt verstanden haben, während es auf Seiten von „mehreren άρχαί" keinen Vorgänger gab, der diese als unbewegt gesetzt hat.4 2.2 Die analoge Einteilung bezüglich der όντα In 184b22-25 folgt eine zweite diairetische Einteilung, in der nun aber nicht mehr von „Prinzipien" (άρχαί), sondern von „Seienden" (δντα) die Rede ist: A u f ähnliche W e i s e [ ο μ ο ί ω ς ] aber g e h e n auch diejenigen vor, die untersuchen, w i e v i e l e S e i e n d e [ τ α δ ν τ α ] e s gibt: D e n n sie suchen dasjenige auf, aus d e m die S e i e n den als Ersten bestehen, und fragen, ob e s eines ist oder vieles, und w e n n vieles, ob begrenzt oder unbegrenzt [vieles], s o daß sie b e z ü g l i c h des Prinzips und Elements fragen, o b es e i n e s oder v i e l e s ist. (1.2, 1 8 4 b 2 2 - 2 5 )
Behauptet Aristoteles zunächst, daß „auf gleiche Weise (ομοίως) auch die verfahren, die untersuchen, wieviele δντα es gibt", so bedeutet dies, daß die Vorgänger in bezug auf die δντα - ebenso wie Aristoteles in bezug auf die άρχαί zunächst nach der Anzahl derselben gefragt haben. Diese Gleichsetzung der Su-
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Bostock (1982: 181) weist daraufhin, daß Aristoteles in Physik I weit mehr an der Frage, wieviele Prinzipien es gibt, als an der Frage, welche es sind, interessiert zu sein scheint. Ein Grund fllr dieses Interesses an der Anzahl der Prinzipien ist vermutlich in dem ökonomischen Vorteil zu sehen, daß durch den Nachweis der Unmöglichkeit von bestimmten zahlenmäßigen Möglichkeiten von ά ρ χ α ί all die Theorien mitwiderlegt sind, die ebenfalls diese Anzahl von άρχαί annehmen, ohne daß auf eine jede einzelne inhaltlich eigens eingegangen werden muß. Guzzoni (1975: 35 f.) weist allerdings zu Recht daraufhin, daß die Frage nach der Anzahl der άρχαί „über die h i s t o r i s c h e Erörterung hinausgreift und auch noch den Fortgang der s y s t e m a t i s c h e n Behandlung des Problems in A5-7 bestimmt". Vgl. Ross (1936: 458 f.).
Die analoge Einteilung bezüglich der δντα
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che nach den δντα mit der Suche nach den άρχαί und στοιχεία wird dadurch begründet, daß „sie nämlich dasjenige aufsuchen, aus dem als Ersten die δντα sind, und fragen, ob es eines oder vieles ist, und wenn vieles, ob es begrenzt oder unbegrenzt viele sind". In dieser Begründung ist bereits eine erste Definition von ,,άρχή und στοιχεΐον" als dasjenige, „aus welchem als Ersten die δντα sind", angedeutet. Mit der Frage nach der Anzahl der δντα, die hier als Frage nach der Anzahl von άρχαί und στοιχεία zu verstehen ist, sind also nicht die für uns nicht abzählbaren faktisch existierenden δντα gemeint, sondern vielmehr solche Arten von δντα, auf die sich die Gesamtzahl der δντα reduzieren läßt und die als gründende δντα von den gegründeten δντα ontologisch verschieden sind. Durch die Gleichsetzung der Suche nach den άρχαί mit der Suche nach den δντα erweist sich die Frage nach den άρχαί zugleich als eine ontologische Frage. Abschließend zieht Aristoteles die Konklusion aus dem dargelegten Argument, „daß also auch sie fragen, ob die άρχή und das στοιχεΐον eines oder mehreres ist." Rechtfertigt Aristoteles auf diese Weise einerseits seine numerische Einteilung der άρχαί dadurch, daß die Vorgänger auf analoge Weise vorgegangen sind, so scheint mir andererseits jedoch noch eine weitere Absicht in der angeführten Gleichsetzung der Suche nach den άρχαί mit der Suche nach den δντα zu liegen, der es nachzugehen gilt. Auf welche Vorgänger Aris|oteles hier mit dem Ausdruck „oi" (b22) im einzelnen referiert, ist in der Sekundärliteratur umstritten. So sprechen sich einige Interpreten gegen die Ansicht aus, daß auch die Eleaten gemeint seien und begründen dies dadurch, daß Aristoteles, wenn er hier an die Eleaten gedacht hätte, nicht hätte sagen dürfen, daß sie fragen, ob es eine begrenzte oder unbegrenzte Anzahl gibt, da die Eleaten immer nur Eines angenommen haben und sich ihnen diese Frage somit gar nicht erst stellte.5 Dieses Argument besagt jedoch, wenn man es genau betrachtet, nicht, daß von den Eleaten in keiner Weise die Rede ist; es besagt nur, daß die Eleaten gewiß nicht alleine gemeint sein können. Denn die erste Frage, ob es eines oder mehreres ist (b24), haben sich auch die Eleaten zu stellen, während die zweite Frage, ob es begrenzt oder unbegrenzt viele sind (b24), dann nur für diejenigen Vorgänger von Bedeutung ist, die sich für „mehrere" (και εί πολλά) entschieden haben. Sowohl der Kontext als auch die im folgenden von mir ausgeführte Antwort auf die Frage, warum Aristoteles hier die Suche nach den άρχαί mit der Suche nach den δντα gleichsetzt, deutet vielmehr daraufhin, daß Aristoteles sogar primär die Eleaten im Sinn hat.6
Vgl. Ross (1936: 460 f.), der mit Alexander der Auffassung ist, daß sich Aristoteles hier nicht auf die Eleaten, sondern nur auf die Naturphilosophen (φυσικοί) im allgemeinen bezieht. Chemiss (1935: 2), der sich im Rückgriff auf Simplicius gegen die Ansicht ausspricht, daß hier nicht die Eleaten gemeint sind, weist in diesem Zusammenhang auf Piaton, Sophistes 242c-e hin, wo Piaton die Lehren seiner Vorganger Uber das Wieviele (ποσά) und Welche (ποιά) in bezug auf die δντα zusammenfaßt und auch die Eleaten, „die ihre Geschichte so vortragen, als ob das, was wir Alles nennen, nur Eins wäre", dazuzählt.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
2.3 Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz Die Untersuchung aber, ob das Seiende eines und unbewegt ist, ist keine Untersuchung über Natur [ού περί φύσεως έστι σκοπείν]. Denn wie es auch für den Geometer gegen denjenigen, der seine Prinzipien aufliebt, keine Argumentationsmöglichkeit mehr gibt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft oder eines allgemeinen Wissens ist, so auch nicht für denjenigen, der über Prinzipien handelt [τω περί άρχων]. Denn es gibt gar kein Prinzip mehr, wenn nur Eines und in diesem Sinne Eines ist. Denn 'Prinzip' ist 'Prinzip von etwas', einem oder mehrerem [ή γάρ άρχή τινός ή τινών], (1.2, 184b25-185a5)
Wurde in 184b 15-16 von den Eleaten gesagt, daß sie eine unbewegte άρχή angenommen haben, so beginnt Aristoteles nun eine eingehende Auseinandersetzung mit ihnen, wobei allerdings hervorzuheben ist, daß in b26 - im Unterschied zu b 15-16 - nicht mehr von einer unbewegten άρχή, sondern von einem unbewegten öv die Rede ist. Dies deutet darauf hin, daß die analoge Einteilung der όντα (b22-25) gewissermaßen einen Übergang von der diairetischen Einteilung der άρχαί (b 15-22) zur Auseinandersetzung mit den Eleaten in b25 ff. darstellt, so daß das ,,οί" in b22 wohl auch auf die Eleaten zu beziehen ist. Das erste Argument, das Aristoteles gegen die Eleaten anführt, besteht darin, daß „die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, keine Untersuchung über φύσις darstellt." Mit dieser „nicht über die φύσις handelnden Untersuchung (τό σκοπείν)" meint Aristoteles eine Untersuchung, die sich mit der eleatischen Theorie auseinandersetzt. Daß Aristoteles mit der Untersuchung (τό σκοπείν), die prüft, ob das Seiende eines und unbewegt ist, nicht die eleatische These selbst, sondern eine Prüfung der eleatischen These meint, wird sowohl daraus ersichtlich, daß es für die Eleaten ja keine Untersuchung, sondern ein Axiom darstellt, daß das Seiende eines und unbewegt ist, als auch daraus, daß von dieser Untersuchung (τό σκοπείν) in 185a5-9 gesagt wird, daß sie dem Versuch gleicht, eine eristische Argumentation aufzuklären oder gegen eine beliebige These zu argumentieren, die nur um des Gesagten willen gesagt wird, wobei letztere mit der eleatischen These verglichen werden. Mit anderen Worten: Nicht nur die eleatische These selbst, sondern auch eine kritische Untersuchung derselben wird von Aristoteles als nicht eigentlich in eine physikalische Untersuchung gehörend bestimmt. Die Untersuchung der eleatischen These handelt nicht über φύσις, weil die These der Eleaten selbst keine These über φύσις darstellt. Daß die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, nicht über φύσις handelt, begründet Aristoteles im nachfolgenden Abschnitt, wobei wir dem Begründungspartikel „denn" (γάρ) in 185al-5 allein dreimal begegnen. Sind sich die Interpreten bezüglich des Satzes ,,ή γάρ άρχή τινός ή τινών" (185a4-5) einig, daß mit ihm der vorhergehende Satz ,,ού γάρ έτι άρχή έστι ν, ει εν μόνον και ούτως έν έστι ν" (a3-4) eine Begründung erfährt, so gehen die Interpretationen bezüglich der beiden anderen Vorkommnisse des Begründungspartikels „γάρ" in al und a3 auseinander: Entweder haben wir es mit zwei parallelen Begründungen dafür zu tun, daß die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, nicht über φύσις handelt, oder aber wir haben es mit einer
Eine methodologische V o r b e m e r k u n g zum eleatischen Ansatz
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einzigen Begründung zu tun, die selbst eine weitere Begründung erfährt. Diejenigen Interpreten, die davon ausgehen, daß hier zwei parallele Begründungen dafür vorliegen, daß die Annahme von einem einzigen unbewegten Seienden keine Untersuchung über φύσις darstellt, sehen diese Begründungen in folgendem: (a) Die Eleaten übersehen, daß Bewegung ein Prinzip der φύσις ist (184 b25-185a3). (b) Die Eleaten übersehen, daß es ihrer These zufolge überhaupt keine αρχή mehr geben kann, weil eine άρχή als άρχή τινός ή τινών zumindest eine Zweiheit voraussetzt (185a3-5); wenn es aber keine άρχή gibt, kann es folglich auch keine Wissenschaft geben, da diese den Ausführungen in Kapitel 1.1 zufolge aus άρχαί erkennt. Bezieht sich die Begründung (a) auf den Aspekt des Unbewegtseins (άκίνητον) des Seienden in der eleatischen These, so bezieht sich die Begründung (b) auf den Aspekt des Einsseins (εν) des Seienden. Ross beschreibt die beiden parallelen Begründungen im Rückgriff auf Pacius wie folgt:7 A s Pacius points out, there are involved here two distinct arguments to show that the inquiry whether reality is one and unchangeable does not belong to natural philosophy. (1) 184b25-185a3. T o say that reality is unchangeable is to deny the existence of nature, since nature is j u s t a principle of change. (This definition of nature is first hinted at in 185al2-14, but is present to Aristotle's mind from the very beginning of the work, and is made explicit in ii. I.) And it is n o t the business of any science t o argue with those w h o deny its first principles. (2) 185a3-5. T o say that reality is one and only one is to deny the existence not only of an ά ρ χ ή κ ι ν ή σ ε ω ς but of any ά ρ χ ή , since an ά ρ χ ή is obviously an ά ρ χ ή of something and involves the existence of at least one thing besides itself. For this reason too, then, the student of ά ρ χ α ί has not to refute the Eleatic position. (Ross, 1936: 4 6 1 )
Im Gegensatz zu dieser Interpretation bin ich jedoch der Ansicht, daß hier eigentlich nur eine einzige Begründung vorliegt, die einer weiteren Begründung bedarf, und der zufolge die Kritik an den Eleaten primär darin besteht, daß es ihrer These zufolge überhaupt keine άρχή geben kann. Der Gedanke, daß die mit der eleatischen These verbundene Leugnung der Existenz von Bewegung einem der Physik eigentümlichen Prinzip widerspricht, steht hier zwar sicherlich im Vgl. auch Marquardt (1993: 22): „Die Eleaten begehen fllr Aristoteles einen doppelten Fehler. Einmal gehört ihre Lehre von einem unwandelbaren Seienden nicht in den Bereich der Naturforschung. Entweder fällt sie in den Bereich einer anderen, höheren Wissenschaft, als es die Physik ist. Oder aber, den Eleaten gelingt in ihrer Physik keinerlei Erklärung. Denn Prinzipien sind immer Prinzipien von etwas. Damit ist eine Zweiheit gegeben, die von den Eleaten abgelehnt wird. Des weiteren verneint die These von der Unwandelbarkeil des Seins die fundamentalen Eigenschaften der Natur, nämlich Bewegung und Veränderung." Craemer-Ruegenberg (1993: 87) scheint hier sogar nur die Begründung (a) zu sehen, da sie die Begründung (b) in ihrer Interpretation nicht erwähnt: „Wer - wie die Eleaten - Prozessualität und die Vielfalt der Veränderungen in der Natur für einen bloßen Schein hält, verfehlt von Grund auf den Zugang zu einer angemessenen Erkenntnis von Natur (Phys. I 1, 184 b25-185 alO)." Vgl. dieselbe (1980: 30): „Die These, daß es nur ein einziges Prinzip der Natur gebe und daß dieses unveränderlich sei, vertreten nach Aristoteles die 'Eleaten' (Parmenides und Melissos). Diese These hat, was die Belange der Naturphilosophie betrifft, nur das eine Gute, daß wenigstens nach einem 'Prinzip' gesucht wird." Eben dies, daß überhaupt nach einem Prinzip gesucht wird, bestreitet Aristoteles jedoch in 185a3-5 bezüglich der eleatischen These. Die Betonung, daß hier mit der eleatischen These vor allem die Existenz der Bewegung als ein der Physik eigentümliches Prinzip aufgehoben sei, findet sich auch bei Leszl (1975. 502) und Bolton (1991: 13-15).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Hintergrund, doch wird er an dieser Stelle noch nicht explizit thematisiert. Die von Aristoteles aufgestellte Behauptung, daß „die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, keine Untersuchung über φύσις darstellt" (184b25185al), erfährt zunächst nämlich eine erste Begründung in folgendem: Denn wie es auch für den Geometer 8 gegen denjenigen, der seine ό ρ χ α ί aufhebt, keine Argumentationsmöglichkeit [λόγος] mehr gibt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft oder eines gemeinsamen Wissens 9 ist, so auch nicht für denjenigen, der über ά ρ χ α ί handelt. (1.2, 185al-3).
Die in dieser Begründung enthaltene Behauptung lautet, daß derjenige, der über φύσις handelt, zunächst jemand ist, der über άρχαί handelt. Nun scheint die eleatische These eben diese άρχαί aufzuheben. Aristoteles sagt nicht, wie wir es eigentlich erwarten würden, daß die eleatische These das Prinzip von Vielheit und Bewegung aufhebt, sondern er sagt zunächst nur, daß die Prinzipien des Physikers aufgehoben sind, insofern der Physiker als Wissenschaftler über Prinzipien handelt, und nicht insofern er als Physiker über das Prinzip der Vielheit und Bewegung handelt. 10 Der Physiker wird hier noch nicht im speziellen Sinne als Physiker, sondern in einem allgemeinen Sinne als Prinzipienforscher bzw. als einer, der über Prinzipien handelt (περί άρχων), thematisiert. So wie ein Geometer nicht mehr gegen denjenigen argumentieren kann, der seine Prinzipien (d.h. die Prinzipien der Geometrie) aufhebt, so kann auch auf einer allgemeinen Ebene der Prinzipienforscher nicht mehr gegen denjenigen argumentieren, der überhaupt die Existenz von Prinzipien aufhebt. Warum nun aber die Prinzipien des Physikers als eines Prinzipienforschers aufgehoben sind, ist hiermit noch nicht gesagt. Insofern erweist sich diese Begründung zunächst als eine Behauptung, die ihrerseits einer Begründung bedarf. Diese findet sich im nachfolgenden Satz: „Denn es gibt ja kein Prinzip mehr, wenn es nur Eines und in diesem Sinne Eines gibt. Denn άρχή ist immer άρχή von etwas, einem oder mehrerem" (185 a3-5).
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Bezüglich des Geometers vgl. auch das-Beispiel der Kreisquadratur in 1.2, 185al6-17, wo davon die Rede ist, daß der Geometer zwar eine Lösung des Problems der Kreisquadratur untersuchen muß, hierbei jedoch nicht auf die von Antiphon vorgeschlagene Lösung einzugehen hat, da diese die obersten Prinzipien der Geometrie verletzt. Bolton (1991: 14, Fn.15) spricht von „knowledge (or science) common to all sciences." Mit diesem anderen oder allem anderen gemeinsamen Wissen (vgl. „ετέρας επιστήμης ή πασών κοινής") ist ein Wissen gemeint, das die allen Wissenschaften gemeinsame Voraussetzung, daß ein Erkennen von etwas nur aus seinen άρχαί möglich ist, zum Gegenstand hat. Dies kann sich auf die „formale Dialektik" beziehen, wie sie in Top. 1.2 beschrieben wird (vgl. Wieland, 1962: 107; Wagner, 1967: 397 und Irwin, 1988: 67 und 502 f., Fn.52), oder aber auf die Metaphysik (vgl. Ross, 1936: 467). Aristoteles sagt hier nicht - wie Marquardt (1993 : 22) meint -, daß die eleatische Lehre von einem unwandelbaren Seienden nicht in die Physik, sondern in den Bereich einer anderen, höheren Wissenschaft fällt. Vielmehr meint er, daß eine P r ü f u n g bzw. eine Untersuchung der eleatischen These nicht in die Physik, sondern in eine andere Wissenschaft fällt. Obgleich Wieland (1962: 106 f.) zunächst richtig betont „dabei zeigt es sich, daß die Eleaten de facto nicht nur die Prinzipien der Natur, sondern Prinzipien Uberhaupt aufheben", sagt er dann: „Der Physiker kann als Physiker nicht mehr gegen die Eleaten argumentieren, weil sie seine Voraussetzungen leugnen." Es müßte jedoch korrekterweise zunächst lauten, daß der Physiker als Wissenschaftler (d.h. als Prinzipienforscher) nicht mehr gegen die Eleaten argumentieren kann.
Eine m e t h o d o l o g i s c h e Vorbemerkung zum eleatischen A n s a t z
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Die eleatische These handelt primär aus dem Grunde nicht über φύσις, weil es ihr zufolge überhaupt keine αρχή geben kann. Folglich stellt sie kein Wissen dar und ist nicht als eine wissenschaftliche These anzusehen, da Wissenschaft und Wissen der Methodologie in Kapitel 1.1 zufolge die Existenz von άρχαί voraussetzt, aus denen sie erkennt. Auch wenn hier bereits der Gedanke im Hintergrund steht, daß die eleatische Annahme im Widerspruch zu der in 185al2-14 ausformulierten Grundannahme des Physikers steht, daß sich die Naturdinge durch Vielheit und Bewegung auszeichnen, so wird dies an dieser Stelle doch noch nicht explizit gesagt. Zudem werden wir sehen, daß diese Grundannahme in 185a 12-14 auch nicht im Sinne eines axiomatischen Prinzips zu verstehen ist. Angesichts der von mir vorgeschlagenen Interpretation stellt sich nun aber die Frage, warum Aristoteles dann hinsichtlich der eleatischen These in 184b2526 ausdrücklich von der Unbewegtheit des Seienden spricht, scheint diese doch für die von mir dargelegte Interpretation, die sich wesentlich an der Einsheit des Seienden orientierte, keine große Bedeutung zu haben. Hierzu ist folgendes zu bemerken: Sagt Aristoteles „es gibt nämlich gar keine αρχή, wenn es nur eines [d.h. ein Seiendes]" und in diesem Sinne eines [d.h. im Sinne des Unbewegten und absoluten Einen] gibt", so scheint auch hier die Ergänzung „in diesem Sinne eines" (ούτως εν: 185a4) für die Begründung selbst zunächst überflüssig zu sein. Bei genauerem Hinsehen erweist sie sich jedoch aus dem Grunde als notwendig, da das Argument ansonsten nicht hinreichend wäre. Denn auch die sogenannten φυσικοί haben ja der diairetischen Einteilung der άρχαί in 185b1618 zufolge nur eine einzige άρχή - und damit gemäß der Analogie zu den όντα, letztlich nur ein öv, auf das sie alle anderen δντα reduzieren - angenommen. Dadurch aber, daß sie diese eine άρχή als bewegt bestimmt haben, ist die Herleitung einer Vielheit von δντα (z.B. durch Verdichtung und Verdünnung) - und damit die Möglichkeit, daß die άρχή eine άρχή von etwas ist - bei ihnen nicht ausgeschlossen.12 Wieland (1962: 106) ist der Ansicht, daß Aristoteles hier daraufhinweisen will, daß der grundlegende Fehler der Eleaten darin zu sehen sei, daß sie den Relationscharakter der άρχή übersehen haben: D i e Eleaten haben, w i e Aristoteles sagt, nur ein e i n z i g e s und dazu n o c h u n b e w e g t e s Prinzip a n g e n o m m e n ( 1 8 4 b l 6 ) ; [ . . . ] Aristoteles will also nicht sagen, daß die Eleaten falsche Prinzipien a n g e n o m m e n haben, sondern daß sie den Sinn v o n Prinzipien überhaupt verkannt haben.
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Der Ausdruck ,,έν" ist durch „öv" zu ergänzen. Wäre hier „eine einzige ά ρ χ ή " gemeint, so müßte im Text die feminine Form „ μ ί α " stehen. Aus diesem Grunde wird hier zunächst auch nicht die Möglichkeit einer einzigen ά ρ χ ή von vielen δντα, sondern nur die Möglichkeit eines einzigen öv als ά ρ χ ή widerlegt. So sagt Guzzoni (1975: 37), daß „die Widerlegung der Einshaftigkeit des S e i e n d e n unausdrücklich zugleich die Widerlegung der radikalen Einshaftigkeit d e r a r c h e [bedeutet]." Mit dieser 'radikalen Einshaftigkeit' der ά ρ χ ή bei den Eleaten ist nicht nur gemeint, daß sie als absolut Eines keine Vielheit an sich zuläßt, sondern auch, daß sie aufgrund dieser radikalen Einsheit - wie Aristoteles in Kapitel 1.3 zeigen wird - den Eleaten zufolge keine Bewegung an sich zuläßt.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Betrachtet man in diesem Zusammenhang jedoch, wie sich die Eleaten selbst zu dieser Problematik äußern, so fällt auf, daß sie in ihren Fragmenten gar nicht von einer ,,άρχή", sondern nur von einem „öv" sprechen, das sie zudem als ,,άναρχον" („ohne άρχή": vgl. Parmenides, Frg. DK 28B8, Z.27) bestimmen.13 Dies findet seinen Grund darin, daß die Rede von einer ,,άρχή" ja bereits eine hierarchische Strukturierung und somit eine Vielheit der οντά implizieren würde. Aus der Tatsache, daß die Eleaten ihr öv als ,,αναρχον" bestimmen, darf jedoch umgekehrt nicht geschlossen werden, daß dieses eine öv ihrem Selbstverständnis nach selbst die άρχή ist. Auch wenn es in Phys. III.4, 203b6 heißt, daß „alles nämlich entweder άρχή oder aus άρχή ist", woraus man schließen könnte, daß das eleatische öv als άναρχον folglich selbst eine άρχή wäre, so reicht dieses Argument doch nicht aus, um den Eleaten zu unterstellen, sie hätten ihr öv als άρχή aufgefaßt. Denn die Aussage „alles nämlich ist entweder άρχή oder aus άρχή" setzt ja bereits die Existenz einer Vielheit (zumindest einer Zweiheit) voraus, die sich bei den Eleaten gerade nicht findet. Auch wenn Aristoteles in der diairetischen Einteilung der άρχαί der Vorgänger (184b 15-22) von den Eleaten sagt, daß sie eine einzige, unbewegte άρχή angenommen haben, so scheint er sich doch der Tatsache bewußt gewesen zu sein, daß die Eleaten ihr öv nicht als άρχή verstanden haben. Dies wird vor allem in Met. 1.3-5 deutlich, wo Aristoteles mit einer Untersuchung darüber beginnt, welche und wieviele Prinzipien die Vorgänger angenommen haben. In bezug auf die Eleaten spricht er in 1.5, 986bl0-987a2 bezeichnenderweise nicht mehr von einer ,,άρχή" oder einem „αίτιον", sondern von einer „einzigen φύσις" und führt aus, daß die Erwähnung der Eleaten eigentlich nicht in die gegenwärtige Untersuchung der Ursachen gehört (986b 13-17). In der Zusammenfassung über die Ursachen in Met. 1.7 werden die Eleaten dann auch nicht mehr erwähnt. Würde Aristoteles den Eleaten also vorwerfen, daß sie den Relationscharakter von ,,άρχή" übersehen haben, so erschiene diese Kritik vor dem Hintergrund, daß die Eleaten ihrem Selbstverständnis zufolge überhaupt keine άρχή angenommen haben, als unberechtigt. Schaut man nun aber genauer hin, so wird deutlich, daß er dies den Eleaten auch gar nicht unterstellt. Aristoteles sagt nicht, daß die Eleaten den Relationscharakter von ,,άρχή" übersehen haben. Vielmehr sagt er umgekehrt, daß es dem eleatischen Ansatz zufolge aufgrund des Relationscharakters von άρχή keine άρχή geben kann, und somit auch keine Physik, insofern diese als Wissenschaft die Existenz von άρχαί voraussetzen muß. Vor diesem Hintergrund kann die analoge Einteilung der οντα in b22-25 nun als Zeichen dafür verstanden werden, daß sich Aristoteles durchaus der Problematik bewußt ist, daß er das öv der Eleaten in der diairetischen Einteilung der zahlenmäßigen Möglichkeiten von άρχαί (184b 15-16) zunächst als eine ,,άρχή" bezeichnet hat.14 Die Gleichsetzung der Suche nach den οντα mit der Suche 13
Vgl. auch Melissos, Frg. DK 30B2. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit den Eleaten in den Kapiteln 1.2 und 1.3 ist dann bezeichnenderweise auch nicht mehr von einer ,,άρχή", sondern nur noch von einem „öv" die Rede. So sagt Aristoteles am Ende von 1.3, 187al0-l 1: „Es ist [somit] klar, daß das Seiende unmöglich in diesem Sinne eines ist."
Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz
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nach den άρχαί erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Erwiderung auf einen möglichen Einwand eines Hörers, der in bezug auf die diairetische Einteilung der άρχαί darauf hinweisen könnte, daß die Eleaten selbst ihr öv gerade nicht als αρχή verstanden haben. Gleichwohl stellt diese Gleichsetzung noch keine hinreichende Begründung dafiir dar, warum das öv der Eleaten auch aus ihrer Sicht als eine άρχή bzw. als etwas, „aus dem als Ersten die δντα bestehen" (b23), zu verstehen ist. Denn für die Eleaten ist das eine öv ja auch insofern kein „πρώτον" (Erstes), aus dem die anderen οντα sind, als die Rede von einem „Ersten" ebenfalls eine Hierarchisierung und somit die Existenz eines Zweiten impliziert. Will man Aristoteles hier keine unberechtigte Kritik an der eleatischen Theorie unterstellen, so wäre die von ihm dargelegte Argumentation nunmehr wie folgt zu verstehen: Zunächst ordnet Aristoteles in bl5-16 das eine öv der Eleaten den Möglichkeiten der Anzahl von άρχαί zu. In der analogen Einteilung der δντα (b22-25) begegnet er dann dem möglichen Einwand, daß nicht alle Vorgänger explizit von „άρχαί" gesprochen haben, mit dem Hinweis, daß sie doch alle nach den grundlegenden οντα im Sinne von άρχαί suchen. Zugleich will Aristoteles einen Übergang zur eleatischen These herstellen, wobei ihm bewußt ist, daß diese ihr öv nicht als eine άρχή im strengen Sinne verstanden haben. Zwar ist die Suche der Eleaten keine Suche nach einer άρχή, doch, so argumentiert Aristoteles dann in 184b25-185a5, ist hier auch ihr grundlegender Fehler im Hinblick auf eine Physik als Wissenschaft zu sehen. Insofern ihr theoretischer Ansatz nämlich die Existenz von άρχαί überhaupt negiert, ist es diesem Ansatz zufolge auch unmöglich, von einer Physik als Wissenschaft zu sprechen, da wissenschaftliche Erkenntnis für Aristoteles immer schon eine Erkenntnis aus άρχαί ist. Im nachfolgenden zieht Aristoteles nun eine weitere Konklusion („δή": 185a5) in bezug auf den wissenschaftlichen Status der eleatischen These: Die Untersuchung also, ob in diesem Sinne Eines ist, gleicht der Argumentation gegen irgendeine beliebige These von der Art, was nur um des Argumentierens willen gesagt wird [των λόγου ενεκα λεγομένων] (wie z.B. die heraklitische These, oder wenn einer behauptet, daß das Seiende ein Mensch sei), oder dem Versuch, eine eristische Argumentation aufzulösen, was denn auch beide Argumentationen, sowohl die des Melissos wie die des Parmenides, an sich haben. Denn sie machen sowohl falsche Annahme als auch sind ihre Schlüsse fehlerhaft. Besonders plump aber ist die des Melissos, und sie enthält keinerlei Schwierigkeiten, sondern wenn nur eine einzige Unstimmigkeit zugegeben wird, so folgt das Übrige. Dies aber ist nichts Schwieriges.15 (1.2, 185a5-12)
Die Saue 185a9-12 wiederholen sich zum Teil wörtlich in 1.3, 186a7-10. Dies hat dazu geführt, daß in den Übersetzungen häufig eine der beiden Textstellen eingeklammert wird. Die Textpassage in Kapitel 1.2 streichen Bekker und Prantl. Die Textpassage in Kapitel 1.3 streichen Zekl, Hardie/Gaye, Simplicius, Themistius und Ross. Wicksteed und Cornford streichen bei beiden Textpassagen jeweils einen Teil. Charlton läßt beide Textpassagen stehen. Aus Gründen der Vorsicht schließe ich mich der Auffassung von Charlton an, zumal zu bedenken ist, daß in keiner einzigen der uns überlieferten Handschriften eine Streichung vorgenommen wird und es für eine Vorlesung nicht untypisch ist, daß Wiederholungen vorgenommen werden. Gigon (1966: 137) sagt in diesem Zusammenhang: „Es bleibt 185 a 5-12, eine Stelle, die teilweise in 186 a 610 wiederholt wird. Die Editoren pflegen bald den ersten, bald den zweiten Text zu streichen;
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Aristoteles vergleicht die These der Eleaten einerseits mit einem λόγος, der nur um des Gesagten willen (vgl. „λόγου ένεκα λεγομένων") gesagt wird - gemeint ist ein 'bloßes Reden (λέγειν) um des Redens (λέγειν) willen' -, und andererseits mit einer eristischen Argumentation, die falsche Annahmen macht, wobei sie aus diesen falschen Annahmen zudem auf fehlerhafte Weise schließt. Dieser zweifache Vorwurf, den Aristoteles gegen die eleatische These erhebt, ist zunächst rein formaler Natur. Er kann somit als weiteres Indiz dafür angesehen werden, daß in der vorhergehenden Argumentation ebenfalls noch nicht explizit von inhaltlichen Prinzipien, wie dem Prinzip der Existenz von Bewegung bei den φύσει δντα, die Rede war. Was wir unter einem „λόγος um des Gesagten willen" zu verstehen haben, wird durch zwei Beispiele verdeutlicht: Die heraklitische These und die Behauptung „das Seiende ist ein einziger Mensch". Mit der heraklitischen These kann zweierlei gemeint sein: (1) Die These, daß demselben gegensätzliche Eigenschaften zugleich zukommen, und (2) die These, die man später unter der Formel „πάντα ρεΐ" zusammengefaßt hat.16 Dafür, daß Aristoteles hier die These (1) im Sinn hat, spricht folgendes: In 1.2, 185b20 führt Aristoteles die Behauptung der Identität des Gutseins und Schlechtseins - woraus er folgert, daß dasselbe zugleich gut und nichtgut wäre als einen „λόγος des Heraklit" (vgl. „τον 'Ηρακλείτου λόγον") an. Diese These von der Einheit der Gegensätze erwähnt Aristoteles auch in Met. IV.3, 1005b 1734 als eine das Principium contradictionis verletzende These und bemerkt in diesem Zusammenhang: Es ist nämlich unmöglich, daß einer annimmt [ύπολαμβάνειν], dasselbe sei und sei nicht, wie dies nach Ansicht einiger Heraklit sagt [λέγει]. Es ist nämlich nicht notwendig, daß einer das, was er sagt [α τις λέγει], auch so annimmt [ύπολαμβάνειν], (Met. IV.3, 1005b23-26)
Dieses „Sagen, aber nicht Annehmen" mag uns bereits als Hinweis darauf dienen, was wir unter einem „λόγος um des Gesagten willen" zu verstehen haben. Auch wenn die Textstelle in Phys. 1.2, 185b20 dafür spricht, daß Aristoteles mit dem heraklitischen λόγος in 185a6-7 die These (1) im Sinn hat, so ist dadurch die These (2) jedoch keineswegs ausgeschlossen. 17 Denn einerseits widersprechen beide Thesen einander nicht, sondern ergänzen einander vielmehr, und andererseits ist davon auszugehen, daß die Hörer dieser Vorlesung vor allem an
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doch schon das Schwanken zeigt, daß keine der beiden Streichungen einen ausreichenden Grad von Evidenz besitzt. Die wörtliche Wiederholung mehrerer Zeilen indiziert sicherlich eine Störung, doch welcher Art diese Störung ist (redaktionell-kompositorisch oder mechanisch), das laßt sich nicht ohne weiteres entscheiden. Alles spricht dafür, daß der Text in 186 a 6-10 primär, an unserer Stelle sekundär ist." Zur These (1) vgl. Heraklit, Frg. 22 B59-62, B67 und B88. Die Ansicht, daß Aristoteles in 185 a6-7 diese These im Sinn hat, findet sich bei Charlton (1970: 53 f.), Wagner (1967: 398), Ross (1936: 461 f.), Prantl (1854: 470 f., Fn.3) und Wicksteed/Comford (1980: 17). Zur These (2) vgl. Heraklit, Frg. Β 91, B12 und B49a. Die Ansicht, daß Aristoteles in 185a6-7 diese These im Sinn hat, findet sich bei Zekl (1987: 239 f., Fn.7), wobei auch Ross (461 f.) und Prantl (S. 470, Fn.3) diese Möglichkeit nicht ausschließen. Vgl. auch Ross (1936: 462): „But Aristotle probably considered the whole doctrine of πάντα ί>εΐ to involve the denial of the law of contradiction."
Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz
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das heraklitische πάντα ρεΐ denken, wenn Aristoteles in der Physik im Kontext mit der eleatischen These, daß alles eines und unbewegt sei, von der heraklitischen These spricht.18 Vor diesem Hintergrund stellt Aristoteles dann in 184 b25-185al2 die eleatische These „es gibt keine Bewegung" und die heraklitische These „alles ist in Bewegung" als einander konträre Positionen gegenüber, während er mit der Grundannahme in 185al2-14 den Mittelweg zwischen beiden Positionen sucht. Charlton sieht in dem zweiten Beispiel für einen „λόγος um des Gesagten willen" von einem, der behauptet, „das Seiende sei ein einziger Mensch", eine mögliche solipsistische Ausdehnung des protagoreischen Zweifels: Second, a5-12, the thesis is wildly paradoxical, and suitable only for dialectical practice, like Heraclitus' thesis that opposite properties belong to everything at the same time (v. Top. VIII 159b30-3, 185b20; for Heraclitus' own words v. DK 22 B59-62, 67, 88, etc.), or like the thesis that reality consists of only one man (perhaps a solipsistic extension o f Protagorean doubt). (Charlton, 1970: 53 f.)
Charlton meint vermutlich, daß ein Eleat, der die These vertritt, daß alles eines sei, und sich zugleich bewußt ist, daß er selbst diese These aufstellt, zu dem Schluß kommen muß, daß nur er selbst existieren kann. Die These von der absoluten Einheit des Seienden würde somit zumindest die Zweiheit von Untersuchendem und untersuchtem Objekt voraussetzen, wenn sie nicht zu einem Solipsismus führen soll. Daß Aristoteles derartige rückbezügliche Argumente im Kontext der Widerlegung der eleatischen These im Sinn hat, wird in Phys. VIII.3, 254a23-33 deutlich, wo er als Gegenargument gegen die These, daß alles in Ruhe ist, anführt, daß die Wahrnehmung gegen diese These spreche, und daß, selbst wenn die Wahrnehmung auch ein bloßer Schein sei, es doch zumindest diesen Schein gebe, welcher eine Art Bewegung sei. Der Hinweis von Charlton läßt sich auch dadurch stützen, daß Aristoteles in Met. IV.5 neben der heraklitischen These von der „Einheit der Gegensätze" gerade die These des Protagoras von der „Relativität alles Seienden" als Beispiel für eine Verletzung des Principium contradictionis anführt. Dort charakterisiert er diejenigen, die nicht aus Unwissenheit diesen Satz verletzen, als solche, „welche so reden, nur um so zu reden [δσοι δέ λόγου χάριν λέγουσι]" (1009a20-21). Dies deutet daraufhin, daß mit den „λόγοι um des Gesagten willen" vor allem solche λόγοι - wie z.B. der heraklitische λόγος von der „Einheit der Gegensätze" und der protagoreische λόγος von der „Wahrheit alles Erscheinenden" (1010b 1-2) - gemeint sind, durch die die sichersten Prinzipien, wie z.B. das Principium contradictionis, verletzt werden. Setzt Aristoteles also die eleatische These mit einem „λόγος um des Gesagten willen" gleich, so deutet dies indirekt darauf hin, daß auch sie in
Zudem ist Aristoteles auch in bezug auf die These vom πάντα (tet der Ansicht, daß sie analog zur eleatischen These von der absoluten Einheit und Unbewegtheit des Seienden mit der Möglichkeit einer Wissenschaft unvereinbar ist (vgl. Met. 1.6 , 987a33 und IV.5, 1010a7).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
der Gefahr stehen, das Principium contradictionis zu verletzen, was Aristoteles im weiteren Verlauf deutlich machen wird.19
2.4 Der Status der 'Grundannahme' (185al2-14) Der eleatischen These von der Unbewegtheit und absoluten Einheit des Seienden stellt Aristoteles seine eigene 'Grundannahme' gegenüber: Für uns hingegen soll als Grundannahme gelten, daß die Naturdinge - entweder alle oder einige - bewegt sind [ήμΐν δ' ύποκείσθω τά φύσει ή πάντα η ενια κινούμενα είναι]. Dies aber ist klar aus der Beobachtung [δήλον δ' έκ της έπαγωγής]. Zugleich aber ist es nicht sinnvoll, alles aufklären zu wollen, sondern nur dort, wo einer von Prinzipien her auf fehlerhafte Weise beweist; wo das nicht so ist, dort ist es nicht sinnvoll; wie z.B. die Kreisquadratur mittels der Schnitte - dies aufzulösen ist Aufgabe eines Geometers. Es ist jedoch nicht Aufgabe eines Geometers, die [Lösung] des Antiphon aufzuklären. Gleichwohl, da sie zwar nicht über Natur handeln [περί φύσεως μέν οΐ>], es ihnen aber doch geschieht, die Natur betreffende Schwierigkeiten auszusprechen, mag es vielleicht gut sein, sich kurz in eine Auseinandersetzung über sie einzulassen. Denn diese Untersuchung hat es mit Philosophie zutun. (1.2, 185al2-20)
Owen (1961) hat in diesem Zusammenhang - wie vor ihm A. Mansion ( 2 1946) auf folgendes methodisches Problem innerhalb der Physik hingewiesen: Sagt Aristoteles in Kapitel 1.1, daß jede naturwissenschaftliche Untersuchung mit der Wahrnehmung zu beginnen habe, um von dort aus zu den άρχαί zu gelangen, und betrachtet man nun die Untersuchung der eleatischen These im Anschluß an die Vorbemerkung, so fällt auf, daß diese Untersuchung aufgrund ihres eher begrifflich-logischen Charakters der methodologischen Vorbemerkung zu widersprechen scheint.20 Owen, der die Schwierigkeit, daß die Untersuchung der Methodologie zufolge zwar mit den Wahrnehmungsdingen beginnen soll, faktisch gesehen jedoch eher mit einer begrifflich-logischen Auseinandersetzung beginnt, dadurch zu lösen versucht, daß die aristotelischen Begriffe φαινόμενα und έμπειρία nicht nur für beobachtete Fakten, sondern auch für die Meinungen (ένδοξα) der Vorgänger stehen können, argumentiert, daß die Vorgehensweise in der Physik in keinem Widerspruch zur Rede über die Bedeutung der φαινόμενα und έμπειρία in der Wissenschaft steht, sofern man die Daten, von denen ausgehend die Physik beginnt, nicht als empirische Daten, sondern als das Material der Dialektik versteht (1961: 85 f.).21 Angesichts dieses Lösungsvorschlags wurde von anderen Interpreten jedoch die weitere Frage gestellt, ob die Physik nun als eine dialektisch-philosophische oder ob sie als eine empirische Untersuchung zu verstehen sei. Während Wie19
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Vgl. 1.2, 185b 19-25, wo Aristoteles explizit daraufhinweist, daß die Eleaten in der Gefahr stehen, dieses Prinzip zu verletzen. Vgl. Owen (1961: 84 f.). Vgl. auch Mansion ( 2 1946: 211): „ [...] tout s'y r6duit en general ä des analyses plus ou moins poussees de concepts, - analyses guidies souvent et illustrees par des d o n e e s de l'expörience, plutöt qu'appuyöes sur celle-ci." Vgl. auch Nussbaum (1982: 272-4).
Der Status der 'Grundannahme'
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land (1962, 216 ff.), Charlton (1970: X-XII und 66), Irwin (1988: §§ 34-37) und Hussey (1983: IX f.) der Ansicht von Owen bezüglich des dialektisch-philosophischen Charakters des Buches Α der Physik gefolgt sind, haben sich vor allem Bolton (1987: 120-66; 1991: 1-30) und Leszl (1975: 494 ff.) in jüngerer Zeit eher für den empirischen Charakter der Methode im Buch Α der Physik ausgesprochen. Auch wenn hier die These vom empirischen Charakter der Methode im Buch Α der Physik anhand einer Analyse der 'Grundannahme' gestützt werden soll, bedeutet dies nicht, daß wir es nicht dennoch mit einer philosophischen Untersuchung zu tun haben, die ihren Ausgangspunkt in der Empirie hat. Meiner Ansicht zufolge ist bereits die Ausgangsfrage, ob die Physik eher als eine dialektisch-philosophische oder als eine empirische Untersuchung zu verstehen sei, in dem Sinne verfehlt, als Aristoteles selbst nicht zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft im heutigen Sinne differenziert.22 Aristoteles fuhrt seine Grundannahme in 185al2-14, wie aus dem ,,ήμΐν δ'" (185al2) deutlich wird, als Gegensatz zur eleatischen These (184 b25-26) ein, wobei das ,,δ'" (185al2) als Ergänzung des „μεν" (184b25) verstanden werden kann, auch wenn beide Partikel hier weit auseinander liegen. Diese Gegenüberstellung macht bereits deutlich, daß Aristoteles seine Grundannahme in den dargelegten Kontext einbettet.23 Aus der Sekundärliteratur lassen sich zahlreiche Belege anführen, die verdeutlichen, daß die Grundannahme oft im Sinne eines ersten axiomatischen Prinzips der Physik verstanden wurde.24 So bemerken Gershenson und Greenberg z.B. folgendes: He exclaims (185A12-14): 'We must accept as an underlying principle that change takes place in nature. This is plain from the fact that induction is one of the chief ways of reaching scientific truth.' The hearer is thus informed that the entire discussion will proceed upon Aristotle's own assumption. (Gershenson/Greenberg, 1962: 138 f.)
In einer Fußnote zum Ausdruck „induction" merken sie an: Induction begins from the particular data of sensory experience and abstracts from them general laws. The validity of induction depends on accepting the data as true. For Aristotle's attitude towards induction see chapter 1 of the Physics. (Gershenson/ Greenberg, 1962: 138, Fn.5) 22 23
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Vgl. dazu Leszl (1975: 505), Jacobi (1982: 106 und 63), Craemer-Ruegenberg (1980: 9-23) und Seidl (1995: XI). Demgegenüber bemerkt Wagner (1967: 398): „Unverbunden nach beiden Seiten steht dieser 'Grundsatz' in logischer Beziehung da, während, was vor und nach ihm steht, wohl zusammen8ehört" Beispiele für das Verständnis der 'Gnindannahme' im Sinne eines unbeweisbaren, axiomatischen Prinzips der Physik finden sich z.B. bei Wagner (1967) und Berti (1991: 53-72). Wagner, der die 'Grundannahme' in seiner Übersetzung als „Ausgangsgrundsatz" versteht (S. 7), schreibt in seinem Kommentar zum Wort 'έπαγωγή' (S. 398): „'Επαγωγή ist - unbestimmt genug - die zusammenfassende Bezeichnung für den Weg, der zur Aufstellung gewisser Grundsatze führt, aus welchen die Wissenschaft dann ableitend begründet, [...]." Berti zählt die 'Grundannahme' als Prinzip der Existenz von Bewegung neben είδος, ϋλη und στέρησις zu den der Physik eigentümlichen άρχαί und stellt sie somit hinsichtlich ihres Status auf eine Ebene mit denjenigen άρχαί, die in Phys. 1.1 als Ziel der Untersuchung angegeben werden.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Angesichts dieser Interpretation drängen sich jedoch folgende Fragen und Probleme auf: (1) Wie kann eine Grundannahme, in der sich die Quantoren „alle oder einige" (ή πάντα ή ενια) finden, als ein general law verstanden werden? (2) Zwar ist im griechischen Text von einer „Induktion" (έπαγωγή) die Rede, doch wird hier weder gesagt, daß sie einer der Hauptwege zur Erlangung wissenschaftlicher Wahrheit sei, noch findet sich ein Hinweis auf die Methode der Induktion in Phys. 1.1, wie Gershenson/Greenberg behaupten. Dort ist vielmehr von der Methode einer Diairesis (vgl. 1.1, 184a23) die Rede.25 (3) Betrachtet man die der 'Grundannahme' nachfolgende Auseinandersetzung mit den Eleaten, so wird deutlich, daß Aristoteles dort zunächst nicht von seiner 'Grundannahme' her, sondern vielmehr für die Bestätigung derselben argumentiert. Im folgenden werde ich die Gründe dafür darlegen, warum die 'Grundannahme' nicht als ein axiomatisches Prinzip, sondern als ein empirischer Ausgangspunkt der Physik im Sinne eines undifferenzierten Ganzen (καθόλου) zu verstehen ist. Hierbei ist jedoch hervorzuheben, daß es nicht um die Frage geht, ob die 'Grundannahme' eine αρχή ist. Es geht vielmehr um die Frage, in welchem Sinne sie als eine άρχή zu verstehen ist: ob als ein axiomatisches Prinzip oder als ein empirischer Ausgangspunkt.26 (1) Insofern Aristoteles zunächst die eleatische These von der absoluten Einheit und Unbewegtheit des Seienden erwähnt (184b25-26) und dann als Beispiel für einen 'λόγος um des Gesagten willen' die heraklitische These anführt (185 a7), wobei hier unter anderem an dessen „πάντα ρεΐ" zu denken ist, stellt er beide Ansichten als einander konträre Thesen gegenüber. Die Leugnung der eleatischen These, der zufolge es keine Bewegung gibt, beinhaltet zugleich die Gefahr, in das konträre Gegenteil, nämlich zur heraklitischen These, daß alles bewegt sei, zu fallen. Dieser Gefahr soll durch den den Allquantor „alle" (πάντα) einschränkenden Ausdruck „oder einige" (ή ενια: al3) begegnet werden. Würde Aristoteles in der 'Grundannahme' ein für alle Naturdinge gültiges axiomatisches Prinzip formulieren, so wäre die Frage zu stellen, ob er bei der Formulierung desselben nicht vielmehr „alle" statt „alle oder einige" hätte sagen müssen, da das Wort „einige" doch eine Einschränkung des zuvor eingeführten Allquantors auf einen Existenzquantor bedeutet.27 Bereits Philoponus und Simplicius haben dieses Problem gesehen. Sie versuchten es dadurch zu lösen, daß sie das „ενια" als Hinweis auf das Vorhandensein möglicher Ausnahmen deuteten: Während Philoponus der Ansicht ist, daß Aristoteles mit dem Ausdruck „ενια" dem Umstand Rechnung trägt, daß gewisse Vermögen in der Seele (αί δυνάμεις αί έν ύποκειμένφ και αί άλογοι ψυχαί) keine Bewegung erleiden, obgleich sie natürlich sind, schlägt Simplicius vor, daß mit dem Ausdruck „ενια"
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Dieses „Hineinlesen" der Methode der Induktion in Phys. 1.1 findet sich auch bei Bolton (1991: 15), der auf diese Weise den Widerspruch zwischen den Analytica posteriora und der Physik zu lösen versucht. Selbst Bolton, der sich doch gerade ftlr den empirischen Charakter von Physik I ausspricht, versteht die Grundannahme als ein „indemonstrable first principle" (S. 15). Vgl. dazu meine Ausführungen über die Mehrdeutigkeit des Wortes „άρχή" auf S. 23 ff. Dieser Schwierigkeit versuchen Gershenson und Greenberg (1962: 138) dadurch aus dem Wege zu gehen, daß sie das Wort ,,ένια" in ihrer sehr freien Übertragung nicht übersetzen.
Der Status der 'Grundannahme'
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die Ausnahmen der Pole, des Zentrums und der Achse des Universums gemeint seien.28 Es scheint mir jedoch unwahrscheinlich zu sein, daß Aristoteles bereits am Anfang der Physik die Ausnahmen im Blick hat, geht es ihm dort doch gerade um das Typische und Allgemeine. Zudem: Wird der Ausdruck ,,ένια" als Hinweis auf die Ausnahmen gedeutet, und wird die 'Grundannahme' weiterhin als ein axiomatisches Prinzip gelesen, so lautet dieses Prinzip nun wie folgt: „In der Natur sind, abgesehen von wenigen Ausnahmen, alle Dinge bewegt." Da hier aber das Bewegtsein, und nicht das Bewegbarsein von allen Naturdingen behauptet wird, würde Aristoteles auf diese Weise letztlich doch in die Nähe eines heraklitischen Standpunktes rücken. Der Ausdruck ,,ένια" ist somit nicht als für die Ausnahmen stehend zu deuten, sondern seine Funktion besteht vielmehr darin, daß in ihm einerseits die Abgrenzung zur heraklitischen These und andererseits der empirische Charakter der 'Grundannahme' zum Ausdruck kommen soll, der in einem ohne Einschränkung formulierten Allsatz nicht mehr offenkundig wäre.29 (2) Wenn Aristoteles mit der 'Grundannahme' ein axiomatisches Prinzip der Physik zum Ausdruck hätte bringen wollen, hätte er dann nicht seine 'Grundannahme' eher mit Hilfe eines Dispositionsbegriffes - analog zu Met. VI.l, 1025b26-27: „die Physik untersucht ein solches Seiendes, das bewegt werden kann [ö έστι δυνατόν κινεΐσθαι]" - formuliert, so daß hier eher davon die Rede wäre, daß „alle Naturdinge bewegbar sind", als davon, daß „die Naturdinge entweder alle oder einige bewegt sind (κινούμενα είναι)"? 30 (3) Die methodologische Vorbemerkung in Phys. 1.1, der zufolge der Weg von der Wahrnehmung der φύσει δντα zur Erkenntnis der άρχαί führen soll, spricht dafür, daß die 'Grundannahme' eher im Sinne eines Beobachtungssatzes als im Sinne eines Vgl. Ross (1936: 463), der beide Vorschläge als unbefriedigend betrachtet, auch wenn er den Vorschlag von Simplicius gegenüber dem von Philoponus ftlr wahrscheinlicher hält. Nach Ansicht von Ross wollte Aristoteles an dieser Stelle nur vorsichtig formulieren. Nach Ansicht von Weiss (1942: 19, Fn.4) bezieht sich Aristoteles mit dem Ausdruck ,,ένια" auf den unbewegten Beweger: „Dieses ή ενια nimmt Bezug auf das πρώτον κινοΰν άκίνητον. Es wird vorläufig davon abgesehen." Dies scheint mir aus dem Grunde unwahrscheinlich zu sein, da Aristoteles dann vermutlich gesagt hätte, daß alle mit Ausnahme von einem, und nicht daß alle oder einige bewegt sind. Daß auch die Deutung des Ausdrucks ,,ένια" gemäß der Regel des 'ώς έπί τό πολύ' als Hinweis auf die Ausnahmen, die von der generellen Regel abweichen, hier nicht zutrifft, zeigt sich aus folgender Überlegung: Würden wir nämlich das ,,ένια" als Hinweis auf die Ausnahmen von derjenigen Regel verstehen, daß normalerweise alle Naturdinge bewegt sind, bzw. daß sie typischerweise bewegt sind, wenn sie nichts hindert, so wäre demzufolge die Ruhe und NichtBewegung für ein Naturding untypisch. Dies aber widerspricht der Definition von „φύσις" in Phys. II. 1, 192bl3-15 und 192b20-23 als άρχή der Bewegung (κίνησις) u n d der Ruhe (στάσις). Ebenso wie es widernatürliche Bewegungen gibt, gibt es für Aristoteles auch widernatürliche Ruhezustände (z.B. ein Stein, der sich oben befindet). Folglich gibt es sowohl natürliche Bewegungen als auch natürliche Ruhezustände, und die Bewegung kann im Gegensatz zur Ruhe dem Naturding nicht generell als natürlich zugeschrieben werden. Zwar spricht Aristoteles in Phys. VIII.3, 253b6-9 davon, daß die Bewegung im Gegensatz zur Ruhe das Natürliche ist, doch meint Aristoteles dort, daß auf das Ganze der φύσις hin gesehen Heraklit mit seiner These „alles ist in Bewegung" mehr recht hat als die Eleaten mit ihrer These „alles ruht", und daß Bewegung insofern das Natürliche ist, als die g e s a m t e Natur eher in Bewegung als in völliger Ruhe ist. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das e i n z e l n e Naturding immer in Bewegung sein muß, sofem es sich naturgemäß verhalten soll. Das „κινούμενα είναι" läßt im übrigen offen, ob hier an ein Sich-Bewegen oder an ein Bewegt· Werden zu denken ist.
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axiomatischen Prinzips zu verstehen ist. Die 'Grundannahme' ist als ein empirischer Ausgangspunkt im Sinne eines undifferenzierten Ganzen (καθόλου) auf die Wahrnehmung bezogen. Sie ist nicht der Endpunkt der Untersuchung im Sinne eines gewonnenen Prinzips.31 Die empirischen Ausgangspunkte der Untersuchung, die als Anfänge ebenfalls άρχαί sind, dürfen nicht mit denjenigen άρχαί verwechselt werden, die am Ende der Untersuchung stehen und zu denen der Weg führen soll. Aristoteles will sich doch gerade aufgrund seiner Methodologie - und nicht nur aufgrund einer von den Eleaten verschiedenen Theorie über die Naturdinge - von den Eleaten abgrenzen, denn verschiedene Theorien gab es bereits bei den Vorgängern viele. Gehen die Eleaten Aristoteles zufolge von einem theoretischen Satz („alles ist eines und unbewegt") als Prinzip aus, um von dort aus auf die wahrnehmbare Welt zu schließen,32 so will Aristoteles umgekehrt von der wahrnehmbaren Welt ausgehend zu diesen theoretischen Sätzen als Prinzipien erst gelangen. Versteht man also die 'Grundannahme' im selben Sinne als ein axiomatisches Prinzip wie den Ausgangssatz der Eleaten, so würde sich Aristoteles nur in der Wahl des Prinzips, nicht aber in der Wahl der Methode von diesen unterscheiden. In diesem Zusammenhang wollen wir auch einen Blick auf Phys. VIII.3, 253a22-254b5 werfen, wo Aristoteles die Möglichkeiten der Bewegung wie folgt darstellt: Abb. 2.2: Die Möglichkeiten der Bewegung Bewegung 1) alles ist immer in Ruhe (πάντα ήρεμεΐν άεί) [Parmenides]
3) einiges bewegt 2) alles ist immer in Bewegung sich - einiges ruht (πάντα άεί κινεΐσθαι) (τά μέν κινεΐσθαι τά δήρεμεΐν) [Heraklit]
3 a) das Bewegte bewegt 3c) einiges ist immer unbewegt, 3b) alles bewegt sich sowohl einsich immer, das Ruhenanderes immer bewegt; wieder mal und ruht auch einmal de ruht immer anderes hat an beidem Teil naturgemäß (τά μέν κινούμενα κινεΐσ(τά μέν άεί των όντων ακίνη(πάντα πεφυκέναι θαι άεϊ τά δ' ήρεμοΰντα τα είναι, τάδ' άεϊ κινούμενα, τά ομοίως κινεΐσθαι ήρεμεΐν) δ' αμφοτέρων μεταλαμβάνειν) και ήρεμεΐν) [Piaton] [Aristoteles] [Empedokles, Anaxagoras]
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Vgl. Wieland (1960/61: 214): „Die Prinzipien stehen am Ende, nicht am Anfang der Untersuchung." Vgl. dazu vor allem die Fragmente 1-8 von Melissos, wo ausgehend von dem Gedanken, daß das Eine immer war und ungeworden ist, alles folgende bis hin zur Konsequenz der Falschheit unseres Wahmehmungswissens deduktiv hergeleitet wird. In diesem Sinne widerspricht das Vorgehen der Eleaten gerade der Natur des menschlichen Erkenntnisweges, wie Aristoteles ihn in 1.1, 184a 16-18 beschrieben hat.
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Aristoteles' erstes und wichtigstes Argument gegen die eleatische These wie auch gegen andere Positionen ist in Phys. VIII.3 ebenfalls unsere empirische Wahrnehmung:" Ebenso unmöglich ist aber auch »alles ist in Bewegung« oder »einiges ist immer in Bewegung, einiges immer in Ruhe«. Denn gegen alles dies reicht eine einzige Beglaubigung [πίστις] aus: Wir sehen nämlich [όρωμεν γαρ], daß einiges mal bewegt ist und ein andermal ruht. So daß offensichtlich ist, daß auf gleiche Weise unmöglich ist: »alles ruht«, »alles bewegt sich«, »einiges ist immer in Bewegung, einiges ruht immer«. (VIII.3, 254a33-254b4)
Stellt man nun aber die Frage, wieso die 'Grundannahme' in 1.2, 185al2-14 überhaupt als ein axiomatisches Prinzip verstanden werden konnte, so ist ein Grund vermutlich in der Argumentation von 184b25-185a5 zu sehen, der zufolge die Ansicht vertreten wurde, Aristoteles sage dort, daß die eleatische These nicht nur die Existenz von Prinzipien überhaupt, sondern auch das der Physik eigentümliche Prinzip der Existenz von Bewegung leugnet, welches man folglich in der 'Grundannahme' als explizit ausformuliert zu sehen glaubte.34 Ein weiterer Grund mag aber auch darin liegen, daß, wenn die 'Grundannahme' als Gegenthese zur eleatischen These zu verstehen ist, es zunächst als sinnlos erscheint, daß Aristoteles im festen Wissen, daß die Eleaten die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung konsequent in Frage stellen, der eleatischen These einen Satz der Wahrnehmung gegenüberstellt. Denn die Eleaten würden ja gar nicht bezweifeln, daß es für die Wahrnehmung so scheinen mag, als gäbe es Bewegung, jedoch würden sie die Wahrnehmung selbst in Zweifel ziehen (vgl. Parmenides, Frg. DK 28B8; Melissos, Frg. DK 30B). Daß dies jedoch alles andere als sinnlos ist, wird daraus deutlich, daß Aristoteles keinen Theorienstreit in der Gestalt herausfordern will, wie er ihn bei seinen Vorgängern vorfindet, wo eine Theorie einer anderen gegenübergestellt wird. Ihm geht es vielmehr darum, daß seine Theorie, wenn er sie der eleatischen Theorie gegenüberstellt, methodisch besser abgesichert ist als die Theorie der Eleaten. Gingen diese von einem theoretischen Satz aus, um von dort aus auf die Wahrnehmung zu schließen, so geht Aristoteles den umgekehrten Weg von der Wahrnehmung zur Theorie. Indem Aristoteles der eleatischen These einen Wahrnehmungssatz gegenüberstellt, setzt er diesen bewußt einer möglichen Kritik aus. Kann Aristoteles zeigen, daß er dieser Kritik standhält, indem er - wie dies im weiteren Verlauf von Kapitel 1.2 und 1.3 geschehen wird - nachweist, daß die eleatische Theorie, aus der sich die Kritik an der Bewegung und Vielheit der φύσει δντα herleitet, selbst auf falschen Annahmen basiert, so gibt es keine weiteren Einwände mehr gegen die
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Vgl. auch Evans (1964: 94): „Since the empirical element in Aristotle's philosophy has often been ignored, it may be well here to note briefly the status which Aristotle, in general, accords to experience. Thus in several instances, he testifies to the certainty of sense experience. He holds, for instance, that motion is simply a fact of perception, and on this ground alone he rejects categorically all theories that would deny motion." Leszl (1975: 506) betont in diesem Kontext zu Recht, daß in I85al2-14 kein Bezug auf die Natur als ein Prinzip der Bewegung, wie wir es erst in Phys. II. 1 vorfinden, vorliegt.
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Physik
I. 2: ' D i e Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
'Grundannahme', die dann als gesicherter und empirischer Ausgangspunkt der Physik fungieren kann.35 Aristoteles begründet seine 'Grundannahme' mit dem Hinweis darauf, daß diese aus der ,,έπαγωγή" klar sei (185al3-14). Ohne hier näher auf die in der Sekundärliteratur ausführlich geführte Diskussion bezüglich des mehrdeutigen Begriffs der ,,έπαγωγή" bei Aristoteles eingehen zu wollen, soll doch zumindest die έπαγωγή in 185a 14 thematisiert werden, da sich aus dem Verständnis der Begründung ein fundierteres Verständnis der 'Grundannahme' hinsichtlich ihres Status ergibt. Die έπαγωγή hat in den Analytica posteriora eine zentrale Bedeutung, da wir allein durch sie zu den einer jeden Wissenschaft eigentümlichen άρχαί gelangen können (vgl. 11.19, 100b3-6). Dieser Hinweis deutet zunächst zwar darauf hin, daß die 'Grundannahme' in Phys. 1.2 als ein erstes (axiomatisches) Prinzip zu verstehen ist, da sie ihre Begründung in einer έπαγωγή findet, doch ist hier insofern Vorsicht geboten, als der Terminus ,,έπαγωγή" innerhalb der aristotelischen Schriften eine Vielzahl von Bedeutungen hat.36 Selbst innerhalb der Analytica posteriora wird der Terminus ,,έπαγωγή" keineswegs in einer einheitlichen Bedeutung verwendet (vgl. dazu Höffe in seiner Einleitung zu den An. post. 1990 (= Aristoteles: Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik (Organon IV): XXXI-XXXIII). Der Ansicht von Kapp (1965: 92 ff.) folgend stellt Höffe (1990: XXXIII) heraus, daß im Hinblick auf den Erkenntnisprozeß, der vom Einzelnen zum Allgemeinen führt, zwei verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden sind: [ . . . ] : die V e r a l l g e m e i n e r u n g von Einzelfällen z u e i n e m allgemeinen Tatbestand und den E r k e n n t n i s w e g zu den Prinzipien, w o b e i nur die erste B e d e u t u n g e i n e Entsprec h u n g z u m m o d e r n e n Induktionsbegriff hat, bei der Prinzipienerkenntnis aber allein die z w e i t e B e d e u t u n g relevant ist.
Nun ist aus dem bisher Dargelegten jedoch deutlich geworden, daß wir es in bezug auf die 'Grundannahme' in 185al2-14 aufgrund des Wortes ,,ενια" nicht mit einem allgemeinen Prinzip, sondern eher mit einem allgemeinen Tatbestand zu tun haben, der durch eine generalisierende Induktion gewonnen wurde. Ein allIn diesem ist auch der Grund ftlr die im nachfolgenden sehr ausführlich geführte Auseinandersetzung mit den Eleaten zu sehen. Diese Ausführlichkeit überrascht doch angesichts der Tatsache, daiS Aristoteles zuvor von der Untersuchung der eleatischen Lehre gesagt hat, daß sie in einer Physik eigentlich nichts zu suchen hat. Gadamer (1996: 103 f.) hat die Frage, warum sich Aristoteles im ersten Buch der Physik derart eingehend mit der Lehre der Eleaten auseinandersetzt, obgleich für diese in der Physik als Wissenschaft von den bewegten Dingen kein Platz sei, damit beantwortet, daß die Kritik an den Eleaten eigentlich eine Kritik an Piaton sei: „In der Physik - also in einem Buch, das sich mit der Natur beschäftigt - geht Aristoteles nur auf den ersten Teil des Parmenideischen Gedichts ein, der sich nicht mit der Natur auseinandersetzt. Im Grunde hatte er also die Absicht, sich gegen Piaton abzugrenzen, mit dessen Anschauungen er den ersten Teil des Gedichts einfach identifizierte." (S. 104). Auch wenn Aristoteles seinen eigenen naturphilosophischen Ansatz im Buch Α der Physik gewiß gegenüber dem Ansatz von Piaton abgrenzen will, denke ich nicht, daß die Eleaten nur als „Stellvertreter" Piatons eingeführt werden. Vielmehr sind gerade die Eleaten diejenigen Vorgänger, die die Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft in radikalster Form in Frage gestellt haben. Vgl. auch Heß (1970: 48): „Es ist längst gesehen, daß Aristoteles verschiedene Formen der Epagoge kennt, deren gemeinsames es ist, Hinführung zu einem Allgemeinen vom Einzelnen aus zu sein."
Das Beispiel vom Geometer
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gemeines Prinzip kann Aristoteles zufolge nicht durch eine generalisierende Induktion gewonnen werden, da die Generalisierungen aus den Beobachtungen (möglichst) aller Einzelfälle - wie wir sie z.B. in Top. 1.8, 103b 1-6; Soph. El. 4, 165b27-30 und An. pr. 11.23, 68bl5 fF. vorfinden - nicht zu der einem Prinzip wesentlichen „strikten Allgemeinheit" führen (Höffe, 1990: XXXIII f.). Innerhalb der Sekundärliteratur finden sich aufgrund dieser Mehrdeutigkeit des Wortes ,,έπαγωγή" erwartungsgemäß zwei verschiedene Interpretationen unserer Textstelle in 185a 14: Gehen die einen davon aus, daß wir es mit einer 'Induktion' zu tun haben, die von einzelnen Daten der Sinneswahrnehmung ausgeht, um durch sie mittels einer Abstraktion zu allgemeinen Gesetzen und Prinzipien zu gelangen,37 so gehen die anderen davon aus, daß die έπαγωγή in 185al4 eher im einfachen empirischen Sinne als „Heranführung an die Phänomene" und „unmittelbarer Augenschein" zu verstehen ist.38 Diesem Verständnis der ,,έπαγωγή" (185a 14) als Hinweis darauf, daß die in der „Grundannahme" ausgedrückte Behauptung als eine empirische Erfahrungstatsache zu verstehen ist, schließe ich mich an. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die Grundannahme einen weitaus größeren Abstraktionsgrad besitzt als ein singulärer Wahrnehmungssatz, so daß die έπαγωγή in diesem Sinne zwar bereits das Resultat einer Wahrnehmung von vielen Einzelfällen meint, nicht aber als Begründung eines axiomatischen Prinzips anzusehen ist, aus dem alles andere nachfolgend hergeleitet werden kann.
2.5 Das Beispiel vom Geometer
(185al4-20)
Zugleich aber ist es nicht sinnvoll, alles aufklären zu wollen, sondern nur dort, wo einer von Prinzipien her [έκ των άρχων] auf fehlerhafte Weise beweist; wo das nicht so ist, dort ist es nicht sinnvoll; wie z.B. die Kreisquadratur mittels der Schnitte - dies aufzulösen ist Aufgabe eines Geometers. Es ist jedoch nicht Aufgabe eines Geometers, die [Lösung] des Antiphon aufzuklären. (1.2, 185al4-17)
Der Hinweis auf das Beispiel der „Quadratur des Kreises mittels der Schnitte" und der „Lösung von Antiphon" ist ohne ein Wissen dessen, worauf Aristoteles hier anspielt, nicht zu verstehen.39 Mit dem Problem der „Kreisquadratur" ist die Frage gemeint, wie man allein mit Hilfe von Linealen und Zirkeln eine rektilineare Figur konstruieren kann, deren Flächeninhalt mit dem eines vorgegebenen Kreises identisch ist. In der Antike gab es hierzu verschiedenartige Lösungsan37
Vgl. u.a. Gershenson/Greenberg (1962: 138 f.), Bolton (1991: 15 f.), Hardie/Gaye (1930) und Charlton (1970: 2 und 54). Vgl. Fritz (1971: 641): „Man wird einfach zu dem in Frage stehenden Phänomen 'hingeführt': da, sieh es dir an! Da kannst du es ja nicht bezweifeln." Wieland (1962: 100) weist daraufhin, daß mit Ausnahme von An. pr. 23 Aristoteles keine Theorie der Induktion entwickelt hat, und daß έπαγωγή bei ihm niemals in dem Sinne wie etwa συλλογισμός ein fester philosophischer Terminus geworden ist. Düring (1966: 227) versteht die Begründung der 'Grundannahme' durch den Satz „das ist klar aus der έπαγωγή" als Hinweis darauf, daß dies eine „Erfahrungstatsache" ist. Vgl. zu diesem Beispiel vor allem die detaillierten Ausführungen bei Ross (1936: 463-7).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
sätze, von denen einer von Antiphon stammte, der Simplicius zufolge vorschlug, daß man ein Quadrat in den Kreis einzeichnet und daraus ein Oktagon bildet, indem man von den Eckpunkten des Quadrates ausgehend Linien zu den Mittelpunkten auf der Kreislinie über den Quadratseiten zieht. Diesen Prozeß setzt man solange fort, bis man ein Polygon erhält, dessen Fläche mit der des Kreises deckungsgleich ist. Da diese Lösung jedoch voraussetzt, daß der Umfang (die Kreislinie) eines Kreises bereits aus winzigen geraden Linien gebildet ist, und da diese Voraussetzung den Axiomen und Prinzipien der Geometrie widerspricht, bemerkt Aristoteles hierzu, daß ein Geometer zu dieser Lösung als Geometer nichts zu sagen hat, da sich der Geometer nur mit denjenigen Lösungen zu beschäftigen braucht, die die Prinzipien der Geometrie voraussetzen.40 Aus diesem Beispiel läßt sich nun folgende Parallele zwischen einem Geometer und einem Physiker herauslesen: So wie es zwar Aufgabe des Geometers ist, sich mit dem Problem der Kreisquadratur zu beschäftigen, nicht aber mit der von Antiphon angebotenen Lösung, da dieser für seine Lösung von Prinzipien und Axiomen ausgeht, die im Widerspruch zu den Prinzipien und Axiomen der Geometrie stehen, so ist es zwar Aufgabe des Physikers, sich mit dem Problem der Bewegung auseinanderzusetzen, nicht aber mit der von den Eleaten vorgeschlagenen Lösung „es gibt keine Bewegung", da diese Lösung in bezug auf die Physik - ebenso wie die Lösung des Antiphon in bezug auf die Geometrie - Prinzipien und Axiome voraussetzt, die im Widerspruch zur 'Grundannahme' der Physik stehen. Sagt Aristoteles im Anschluß an die Grundannahme, daß es nicht sinnvoll ist, alles aufklären zu wollen, sondern nur dort für Klarheit zu sorgen, wo aus άρχαί herleitend falsch geschlossen wird, so könnte man meinen, daß dies nun doch dafür spricht, daß die 'Grundannahme' als eine άρχή im Sinne eines axiomatischen Prinzips der Physik zu verstehen sei. Hierzu ist jedoch anzumerken, daß jeder Vergleich nur bis zu einem gewissen Grade Gültigkeit beanspruchen kann. Und in diesem Falle würde die Parallelisierung, wenn man sie soweit führt, daß sie eine Begründung dafür liefert, daß wir es bei der 'Grundannahme' mit einem axiomatischen Prinzip der Physik zu tun hätten, bedeuten, daß man die Prinzipien und Axiome einer mathematischen Wissenschaft (Geometrie) von ihrem Status her mit den Prinzipien einer eher untersuchenden Wissenschaft (Physik) gleichsetzt.41 Der Vergleich mit den Prinzipien eines Geometers trifft zudem immer noch zu, wenn man in bezug auf die 'Grundannahme' zwar von einer άρχή der Physik spricht, nicht aber in dem Sinne von einer άρχή, wie wir es bei den Axiomen und Prinzipien der Geometrie tun, sondern vielmehr in dem bereits aufgezeigten Sinne von „άρχή" als „empirischer Ausgangspunkt". Darüber hinaus scheint im Gegensatz zur Geometrie, wo die Prinzipien und Axiome als derart sicher gelten, daß eine Lösung wie die des Antiphon, die im Widerspruch zu 40 41
Vgl. dazu auch Wicksteed/Cornford (1980: 18 f. und 98). Vgl. hierzu auch Met. II.3, 995al5: „Die genaue Schärfe der Mathematik aber darf man nicht filr alle Gegenstände fordern, sondern nur für die stofflosen. Darum paßt diese Weise nicht für die Wissenschaft der Natur, denn alle Natur ist wohl mit Stoff behaftet."
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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diesen Prinzipien steht, von Seiten des Geometers eigentlich keiner weiteren Diskussion mehr bedarf, die Sachlage bei der Physik anders zu sein. Zwar geht auch der Physiker von sicheren Prämissen aus, wie z.B. von der 'Grundannahme', die ein empirisch sicheres Wissen repräsentiert, gleichwohl aber ist diese Sicherheit - anders als bei der Geometrie - durch die Wahrnehmung begründet. Folglich lassen sich gegen die 'Grundannahme' zwar keine empirischen, gleichwohl aber philosophische Einwände erheben, die die Zuverlässigkeit unseres auf Wahrnehmung basierenden Wissens in Frage stellen. Erst wenn auch diese philosophischen Einwände gegen die Zuverlässigkeit unseres auf Wahrnehmung basierenden Wissens beseitigt sind - und dies kann nur dadurch geschehen, daß man von den eleatischen Prämissen ausgehend deren Falschheit nachweist, und nicht indem man von der eigenen 'Grundannahme' ausgehend gegen die Eleaten argumentiert, die ja diese 'Grundannahme' gerade in Zweifel ziehen -, kann die 'Grundannahme' als gesichert betrachtet werden. Gleichwohl, da sie zwar nicht über Natur handeln [περί φύσεως μέν οΰ], es ihnen aber doch geschieht, die Natur betreffende Schwierigkeiten [φυσικάς δέ άπορίας] auszusprechen, mag es vielleicht gut sein, sich kurz in eine Auseinandersetzung über sie einzulassen. Denn diese Untersuchung hat es mit Philosophie zu tun [έχει γάρ φιλοσοφίαν ή σκέψις], (1.2, 185al7-20)
Obgleich die Eleaten nicht über φύσις handeln, da es ihrer Theorie zufolge einerseits überhaupt keine άρχαί geben kann und Aristoteles in Kapitel 1.1 darauf hingewiesen hat, daß auch die έπιστήμη περί φύσεως das Einzelne nur aus seinen άρχαί erkennt, und da andererseits ihre These von der absoluten Einheit und Unbewegtheit des Seienden der Grundannahme einer Physik widerspricht, sprechen die Eleaten doch die Natur betreffende Aporien aus, wie später in 186al 116 anhand der These des Melissos, daß das Nichtgewordene keinen Anfang hat, deutlich wird. Gerade die philosophischen Einwände der Eleaten gegen die 'Grundannahme' und ihre Kritik an der Zuverlässigkeit des auf Wahrnehmung basierenden Wissens bedürfen jedoch eher einer philosophischen als einer empirischen Prüfung, so daß es nicht verwundert, daß die nachfolgende Auseinandersetzung mit den Eleaten einen eher dialektisch-philosophischen als einen empirischen Untersuchungscharakter trägt. Sagt Aristoteles vor diesem Hintergrund, daß seine Untersuchung es mit Philosophie zu tun habe (έχει γάρ φιλοσοφίαν ή σκέψις), so ist daran zu erinnern, daß Aristoteles die Ausdrücke „Philosophie" (φιλοσοφία) und „Wissenschaft" (έπιστήμη) als Synonyme verwendet.
2.6 Die Atiseinandersetzung mit den Eleaten Gershenson und Greenberg (1962) gliedern die in den Kapiteln 1.2 und 1.3 vorgelegte Auseinandersetzung mit den Eleaten in zwei getrennte Argumentationen: Ihrer Ansicht zufolge wird die Argumentation im ersten Teil (184b25186a32), wo Aristoteles seine eigene Terminologie verwendet und verschiedene
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Lehren aus anderen Schriften voraussetzt, von einem aristotelischen Standpunkt aus geführt, während Aristoteles im zweiten Teil (186a32-187al 1), wo er vorwiegend die eleatische Terminologie verwendet, darum bemüht ist, die Eleaten von ihren eigenen Prämissen ausgehend zu widerlegen. 42 Abb. 2.3: Die Einteilung von Gershenson und Greenberg Gegen eleatischen Monismus
Aristotelischer Standpunkt (184b25-186 a32)
Eleatischer Standpunkt (186a32-187al1)
Charlton (1970: 53) stimmt dem Ansatz von Gershenson und Greenberg zwar im wesentlichen zu, doch schlägt er eine andere Einteilung vor. 43 Da die Kritik an Parmenides in 186a22-32 nicht von der nachfolgenden Argumentation zu trennen ist, verläuft das erste Argument seiner Ansicht nach von 184b25 bis 186a3, während das zweite Argument das gesamte Kapitel I. 3 umfaßt. Er begründet seine Einteilung damit, daß die „historische Anmerkung" in 185b25-186a3 sehr gut als Ende des ersten Arguments fungiert. Zudem unterstütze die auffallendste der Doubletten (185a9-12 und 186a7-10) diese Einteilung. Mit dieser von Charlton vorgeschlagenen Revision der Einteilung von Gershenson und Greenberg ist allerdings folgendes Problem verbunden: Besteht das Einteilungskriterium dafür, daß wir es in bezug auf die Auseinandersetzung mit den Eleaten mit zwei verschiedenen Argumentationen zu tun haben, bei Gershenson und Greenberg in der Frage, von welchem Standpunkt der Betrachtung aus die Kritik jeweils durchgeführt wird, so fällt in bezug auf die von Charlton vorgeschlagene Revision dieser Einteilung auf, daß das von Gershenson und Greenberg angegebene Einteilungskriterium nun nicht mehr zutreffen kann. Denn der Abschnitt 186a3-32, den Charlton zum zweiten Argument zählt, widerspricht diesem Einteilungskriterium insofern, als Aristoteles hier aus Sicht der von Greenberg und Gershenson genannten Kriterien offenkundig von seinem eigenen Standpunkt aus gegen die Eleaten argumentiert. Gleichwohl scheint Charlton diesem von Greenberg und Gershenson zugrunde gelegten Kriterium zuzustimmen, da er zwar eine andere Einteilung, nicht aber ein anderes Kriterium der Einteilung vorschlägt. Aufgrund dieser Schwierigkeiten schlage ich folgende Gliederung der Auseinandersetzung mit den Eleaten vor:
Gershenson und Greenberg stützen ihre Interpretation auf stilistische Differenzen und Parallelen zwischen beiden Argumentationen, wie sie vor allem in folgenden - parallel zu betrachtenden - Textpassagen deutlich werden: (i) 185b9-l 1 und 186bl2-14; (ii) 185bl9-25 und 186b412; (iii) 185bl6-19 und 186bl4-35. Dieser von Charlton vorgeschlagenen Revision der Einteilung von Gershenson und Greenberg folgt auch Spangler (1979: 95).
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Abb. 2.4: Eine differenziertere Gliederung der Auseinandersetzung mit den Eleaten Gegen eleatischen Monismus Inhaltlicher Standpunkt (185a20-187al1)
Wissenschaftstheoretischer Standpunkt (184b25-185a20)
Falsche Annahmen (185a20-186a3) Die Bedeutung des ..ov" (185a20-185b5)
Fehlerhafte Schlüsse (186a4-187al1)
Die Bedeutung Melissos des ..εν" (186a4-22) (185b5-186a3)
Parmenides (186a22-187al 1)
Zwar verwende ich im Unterschied zu der von Gershenson und Greenberg vorgeschlagenen Einteilung andere Einteilungskriterien, doch läßt sich das von ihnen angeführte Kriterium „aristotelischer Standpunkt - eleatischer Standpunkt" insofern auch in meiner Gliederung wiederfinden, als die Kritik vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt, zu der ich die Kritik am eleatischen Wissenschaftsbegriff zähle, als eine Kritik von einem aristotelischen Standpunkt anzusehen ist, während die Kritik von einem inhaltlichen Standpunkt eher als eine Kritik von einem eleatischen Standpunkt zu betrachten ist.44 Auch wenn Aristoteles bei der Kritik vom inhaltlichen Standpunkt von eleatischen Prämissen ausgeht, um diese auf dem Wege einer Reductio ad absurdum zu widerlegen, so darf dabei doch nicht übersehen werden, daß er dennoch seine eigene Theorie zur Widerlegung derselben mitunter voraussetzt (vgl. vor allem 185a20-186a3). Wenn ich die Kritik vom inhaltlichen Standpunkt mit einer Kritik vom eleatischen Standpunkt gleichsetze, so ist damit folgendes gemeint: Während in der Kritik vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt in 184b25-185a20 das aristotelische Wissenschaftsverständnis, wie es in Kapitel 1.1 dargelegt wurde, den Ausgangspunkt der Kritik darstellt, stellt dann in 185a20 ff. die eleatische These vom „είναι εν τά πάντα" den Ausgangspunkt der Kritik dar. Als weiteres Einteilungskriterium auf Seiten dieser vom „είναι εν τά πάντα" ausgehenden Untersuchung betrachte ich die von Aristoteles in 185a9-10 angeführte Unterscheidung zwischen den „falschen Annahmen" und den „fehlerhaften Schlüssen". Hierbei gliedert sich die Argumentation auf Seiten der „falschen Annahmen" - wozu eben die These vom είναι εν τά πάντα zu zählen ist - weiter in eine Argumentation bezüglich der Bedeutung des „ov" (185a20b5) und in eine Argumentation bezüglich der Bedeutung des „εν" (185b5-25). Auf Seiten der „fehlerhaften Schlüsse" differenziert Aristoteles weiter zwischen den fehlerhaften Schlüssen des Melissos (186a4-22) und denen des Parmenides (186a22-187al 1). Zugleich ist mit der Unterscheidung von „falschen AnnahDieser Differenzierung zwischen einem wissenschaftstheoretischen und einem inhaltlichen Standpunkt werden wir auch in Kapitel 1.4 begegnen, wo Aristoteles zunächst ein wissenschaftstheoretisches Argument gegen die Theorie des Anaxagoras anführt (vgl. 187b7-13), um dann ausführlicher auf inhaltliche Gesichtspunkte und Schwierigkeiten seiner Theorie einzugehen (vgl. 187bl3-188al8).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
men" und „fehlerhaften Schlüssen" auch die Unterscheidung der Aspekte der absoluten Einheit des Seienden einerseits (im Sinne einer falschen Annahme) und der Unbewegtheit des Seienden andererseits (im Sinne eines fehlerhaften Schlusses aus der Annahme der absoluten Einheit des Seienden) verbunden, wie wir sehen werden. Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, warum Gershenson und Greenberg den Eindruck gewinnen, daß Aristoteles seiner Untersuchung das Kriterium „aristotelischer Standpunkt - eleatischer Standpunkt" zugrunde zu legen scheint. Denn im Unterschied zur Untersuchung der falschen Annahmen, die der Einteilung von Gershenson und Greenberg zufolge zu einer Kritik vom aristotelischen Standpunkt zu zählen ist, setzt die Untersuchung der fehlerhaften Schlüsse voraus, daß Aristoteles hier von den eleatischen Prämissen ausgeht, da die fehlerhaften Schlüsse von den Eleaten ja gerade aus ihren falschen Annahmen gezogen wurden.
2.6.1 Die Bedeutung des „öv" in der These „είναι έν τά πάντα" (185a20-b5) Aristoteles beginnt seine Widerlegung der eleatischen These „είναι έν τά πάντα" (185a22) mit der Bemerkung, daß das Seiende (τό δν) auf mehrfache Weise gesagt wird.45 Da das Seiende [τό öv] auf mehrfache Weise gesagt wird [ π ο λ λ α χ ώ ς λ έ γ ε τ α ι ] , 4 6 besteht der geeignetste Ausgangspunkt von allem [ ά ρ χ ή δέ ο ί κ ε ι ο τ ά τ η π α σ ώ ν ] 4 7 wohl darin, zu fragen, in welchem Sinne es diejenigen verwenden, die sagen, daß alles Eines sei [ ε ί ν α ι ε ν τ ά π ά ν τ α ] : o b alles Ding [ούσίαν] oder Quantitatives [ποσά] oder Qualitatives [ποιά] ist? Und wiederum: O b alles e i n Ding [ ο ύ σ ί α ν μίαν], wie z.B. e i n Mensch oder e i n Pferd oder e i n e Seele, oder aber o b dies e i n Qualitatives ist, wie z.B. ein Weißes oder Warmes oder ein bestimmtes anderes von diesen? (1.2, 185a20-26)
Gershenson und Greenberg (1962: 139) bemerken in bezug auf diese Textstelle folgendes: The body of the argument begins in an ingenious way. The very first sentence is calculated to take the ground out from under the Eleatic position (185A20-22): »The most germane question of all, since the word 'being' is used with more than one meaning, is what meaning of the word did the Eleatics have in mind when they said that all things are one.« Now, everyone knew that the cornerstone of the Eleatic argument was that 'being', and indeed every word, can have one and only one meaning. T h i s premise was at the heart o f their logical system; for, in addition to the standard requirement in any system of logic that each proposition must have a unique meaning (in order to allow the construction of deductive proofs), the Eleatics re-
Zur mehrfachen Bedeutung des „öv" vgl. auch Met. V.7 und VII. 1. Da Aristoteles sowohl von Wörtern wie auch von Dingen sagt, daß sie auf mehrfache Weise gesagt werden (vgl. Leszl, 1970: 105), kann hier sowohl „das Seiende" als Wort wie auch das Seiende als 'Ding' gemeint sein. Man beachte, daß wir hier dem Wort „άρχή" in seiner Bedeutung als „Ausgangspunkt der Untersuchung" begegnen, und nicht in seiner Bedeutung als „axiomatisches Prinzip".
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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quired that each word have a unique meaning in all its occurrences, in all propositions. (Gershenson/Greenberg, 1962: 139)
Die Ansicht, daß Aristoteles den Eleaten mit dem Hinweis auf die mehrfache Bedeutung des „öv" bereits zu Beginn der Untersuchung gleichsam „den Boden unter ihren Füßen wegzieht" und das Herz ihres logischen Systems trifft, da ihrer Ansicht zufolge das öv nur auf einfache Weise gesagt werden kann, bedarf einer genaueren Betrachtung.48 Zweifelsohne ist die Einteilung der δντα in die Gattungen οϋσία, ποιόν und ποσόν als eine aristotelische Differenzierung anzusehen, wie wir sie auch von der Kategorienschrift her kennen. Mit dem Hinweis auf die mehrfache Bedeutung des öv unterstellt Aristoteles den Eleaten an dieser Stelle jedoch noch nicht, daß auch sie dieser mehrfachen Bedeutung des öv zustimmen müssen - sonst wäre die Widerlegung an diesem Punkte ja bereits beendet -, sondern es ist damit zunächst nur gesagt, daß die Eleaten ihr öv zumindest mit einer dieser Bedeutungen identifizieren müssen, sofern die Einteilung der Gattungen als eine vollständige Differenzierung anzusehen ist.49 Sagen die Eleaten nämlich, daß alles Eines ist, so implizieren die Wörtern ,,τά πάντα", „είναι" und „εν", daß dieses Eine zumindest ein Seiendes (öv) ist,S0 so daß es wenigstens unter eine der Gattungen des Seienden fällt, die von Aristoteles in der Kategorienschrift aufgestellt werden.51 Es ist allerdings davon auszugehen, daß die Eleaten dieser Einteilung des Seienden (öv) in seine verschiedenen Gattungen erst gar nicht zugestimmt hätten. Im weiteren Verlauf wird nun die Ansicht der Eleaten, daß alles eines sei bzw. daß das öv auf (absolut) einfache Weise gesagt wird -, in Gestalt einer Reductio ad absurdum widerlegt. Denn egal für welche Bedeutung des öv die Eleaten sich auch immer entscheiden, so gelangen sie doch jeweils in Widersprüche, sofern sie voraussetzen, daß dieses öv eine absolute Einheit darstellt.
49
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Weiss (1942: 27 f.) spricht hier von einem „Zirkelbeweis": „Man könnte nun aber einwenden, Aristoteles lege in jede Analyse dasjenige als Hypothesis hinein, was es gerade zu beweisen gilt: eben die Mehrdeutigkeit von »Seiend«. Er tut das in der Tat, und in diesem Sinn vollzieht er einen Zirkelbeweis. Ist jedoch deshalb sein Aufweis ein falscher und sein Vorgehen ein unerlaubtes? [...] Aristoteles prüft die These εν τό öv auf ihre mögliche Erfüllbarkeit. Dass er bei jedem Versuch, in ihren Bedeutungsgehalt einzudringen, immer schon vom Boden des πολλαχώς ausgeht, das steht nicht in seiner Wahl. Er muss diesen Ausgang nehmen, sofern wir eben, um mitzuvollziehen, irgendwie Sein verstehen müssen, d.h. unser Seinsverständnis mitbringen müssen, und indem wir das tun, setzen wir schon ein mit der Mehrdeutigkeit des Seins." Vor dem Hintergrund der hier implizit enthaltenen Vollständigkeit der Gattungen des Seienden sollen das ποιόν und das ποσόν vermutlich die in Kat. 4 aufgelisteten anderen Gattungen von πρός τι, πού, ποτέ, κεΐσθαι, έχειν, ποιεϊν und πάσχειν umfassen. Zur Rede von einem „Seienden" bei den Eleaten vgl. Parmenides, Frg. DK 28B2, DK 28B6, DK 28B8 und Melissos, Frg. DK 30B1, DK 30B2. In der von Aristoteles rekonstruierten eleatischen These „είναι εν τά πάντα" ist das „öv" nicht explizit enthalten. Während Wagner (1967: 401) das „öv" im „είναι" enthalten sieht - „Mit ihrem Satz, in dem unweigerlich die Kopula vorkommt, bestimmen die Eleaten das Seinsganze, noch bevor sie es als eines bestimmen, als ein Seiendes" -, ist Ross (1936: 338 und 467) der Ansicht, daß das „öv" im ,,τά πάντα" bzw. „εν" enthalten ist. Wenig später formuliert Aristoteles im Kontext der mehrfachen Bedeutung des ,,έν" die eleatische These wie folgt: „είναι εν τό πάν" (185 b7). Wagner (1967: 7 f.) bringt den Unterschied beider Thesen durch eine unterschiedliche Betonung gut zum Ausdruck: „das Seinsganze s e i eines" (185a22) und „das Seinsganze sei e i n e s " (185b7).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Abb. 2.5: Die Bedeutungsmöglichkeiten
des „ ε ί ν α ι ε ν τά π ά ν τ α " hinsichtlich
des „ δν"
ρΤνΓ ' Μ ρν rrr 7rr*vTrY" ούσία μία z.B. ein Mensch ein Pferd eine Seele
ποιόν ev ein Weißes ein Warmes
ποσόν ev
Aristoteles stellt in zwei Schritten die Alternativen zur Verfügung, die mit diesem öv gemeint sein können: In einer ersten Reduktion auf die Gattung ist alles (τά πάντα) entweder ουσία (Ding) oder ποσά (Quantitatives) oder πονά (Qualitatives). Die Tatsache, daß die Ausdrücke ,,ποιά" und „ποσά" hier noch im Plural stehen, deutet darauf hin, daß die Einzigkeit des eleatischen δν zunächst nur auf die Einzigkeit der Gattung bezogen ist, d.h. daß das δν entweder zur Gattung der ούσία oder zur Gattung der πονά oder aber zur Gattung der ποσά zu zählen ist, wobei die jeweilige Gattung auf dieser Ebene gleichwohl noch für eine Vielheit stehen kann. Da die Eleaten ihr δν jedoch in einem radikalen Sinne als Eines verstehen, ergibt sich eine zweite Reduktion innerhalb einer jeden Gattung: Wenn alles ούσία ist, so ist es eine ούσία (vgl. ,,ούσίαν μίαν"), wie z.B. ein Mensch oder ein Pferd oder eine Seele. Und wenn alles ποιά ist, so ist es ein ποιόν (vgl. „ποιόν έν"), wie z.B. ein Weißes oder ein Warmes. Analoges gilt ftlr die Gattung des ποσόν. Die Frage, was hier unter den Gattungen ούσία, ποιόν und ποσόν genau zu verstehen ist, enthält jedoch eine gewisse Schwierigkeit, die sich anhand des Beispiels „τό λευκόν" verdeutlichen läßt. Aristoteles verwendet den Ausdruck ,,τό λευκόν" nämlich auf zweifache Weise: Einerseits kann „τό λευκόν" „weiß" bedeuten, wobei es die Qualität und Eigenschaft der Weiße bezeichnet. Andererseits aber kann ,,τό λευκόν" auch „das Weiße" bedeuten, wobei es ein Qualitatives bzw. etwas, das die Eigenschaft der Weiße hat, bezeichnet.52 Wird in bezug auf die Gattung der ούσία, die ja ebenfalls auf mehrfache Weise verstanden werden kann (z.B. als konkretes Ding oder als Wesen eines konkreten Dings),53 in der Sekundärliteratur weitgehend die Ansicht vertreten, daß Aristoteles hier mit „ούσία" als selbständiges Zugrundeliegendes (ύποκείμενον), „von dem alles andere gesagt wird" (185a31-32), zunächst das Ding im einfachen Sinne als dasjenige, was von sich selbst her da ist, meint und somit noch nicht einen speziellen Wesensbegriff im Blick hat,54 so gehen die Meinungen in bezug auf die Vgl. Met. VII.6, 1031b22-25. Die Zweideutigkeit des Ausdrucks „τό λευκόν" wird ebenfalls in Phys. 1.3, 186a28-31 angesprochen. Vgl. hierzu auch Charlton (1970: S. 67 und 70 f.). Wieland (1962: 120) weist daraufhin, daß der Begriff der ούσία in der Kategorienschrift eine doppelte Bedeutung hat: Er kann sowohl die Substanz im Sinne des Wesens einer Sache wie auch die Sache selbst meinen. Zur Mehrdeutigkeit des Wortes „ούσία" vgl. auch Met. V.8 und VIII.3, 1043a29-33. Vgl. Zekl (1987: 240, Fn.12): „Dies ist zunächst der ganz einfache Sinn von ούσία: Was an sich selbst da ist und nicht erst von anderem ausgesagt werden kann, wie Erde, Feuer, Wasser, die Körper überhaupt, die Lebewesen usw." Nach Ansicht von Wieland (1962: 136, Fn.27) begegnet uns das Wort „ούσία" in der Bedeutung „Wesen" in Physik I erstmals in 1.7, 191al9-20.
D i e Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Bedeutung der Ausdrücke „ποιόν" und „ποσόν" auseinander. 55 Auch wenn Aristoteles hier bei der ο υ σ ί α sicherlich noch nicht an einen speziellen Wesensbegriff denkt, ist doch hervorzuheben, daß die ούσία andererseits auch nicht ein konkretes Ding als σύνολον bzw. σύνθετον mit all seinen Eigenschaften meinen kann, da sonst die Differenzierung zwischen ούσία, ποιόν und ποσόν wieder verwischt würde. Zudem würde die Rede von „nur ο ύ σ ί α " (vgl. „ούσία μόνον") in 185b4 keinen Sinn mehr ergeben, wenn hier mit ούσία das konkrete Ding mit all seinen Eigenschaften gemeint wäre, da in 185b4 die ούσία ohne Eigenschaften gemeint sein soll. Das Ding mit all seinen Akzidentien ist vielmehr dasjenige, was „sowohl ο ύ σ ί α wie ποιόν und ποσόν ist" (185a27-28). Wir haben es in bezug auf die ούσία in Kapitel 1.2 weder mit einem konkreten Ding als ein Ganzes mit all seinen Eigenschaften noch mit dem speziellen Wesen eines Dings zu tun, sondern mit einem - wie ich es nennen will - „einfachen Dingbegriff', durch den die Dinglichkeit und Selbständigkeit von etwas in den Vordergrund gestellt werden soll. Läßt sich zwar nicht eindeutig bestimmen, ob Aristoteles mit dem Ausdruck „ποιόν" und dem Beispiel ,,λευκόν" die Qualität der Weiße oder das Weiße als ein Qualitatives meint,56 so wird in der nachfolgenden Auseinandersetzung (185a32-b5) mit Melissos' Bestimmung des Seienden als Unbegrenztes deutlich werden, daß Aristoteles dort in bezug auf das ποσόν eher das Quantitative als die Quantität im Blick hat. Aristoteles zeigt aus der Bedeutungsdifferenzierung des öv zunächst die Unmöglichkeit der Behauptung „είναι εν τά πάντα" auf, die sich aus dem Nachweis der Unmöglichkeit einer jeden einzelnen Alternative (ούσία, ποιόν oder ποσόν) ergibt: D e n n dies alles unterscheidet sich doch sehr und es ist unmöglich, dies [gemeint ist die eleatische These ' ε ΐ ν α ι ε ν τ ά π ά ν τ α ' ] zu behaupten. D e n n wenn alles sowohl ein Ding als auch ein Qualitatives und Quantitatives ist, sei dies entweder unabhäng i g voneinander oder nicht, so wäre das Seiende eine Vielheit. Wenn hingegen alles ein Quantitatives oder ein Qualitatives ist, sei es, daß es ein D i n g gibt oder nicht, so wäre dies widersinnig, sofern man das Unmögliche »widersinnig« nennen muß. Denn kein anderes außer dem D i n g ist abtrennbar. Denn alles [andere] wird von dem Ding als Zugrundeliegendem ausgesagt. (1.2, 185a26-32)
Zunächst wird ausgeschlossen, daß die Eleaten ihr Seiendes als all dies zusammen meinen können: Behaupten sie nämlich, das Seiende sei sowohl eine ούσία wie ein ποιόν und ποσόν, so haben wir es Aristoteles zufolge nicht mehr mit eiEinige Interpreten sind der Ansicht, daß hier mit dem Beispiel ,,λευκόν" (185a25) die Qualität der „Weiße" gemeint sei (vgl. Hardie/Gaye, 1930; Wagner, 1967: 7; Gohlke, 1956: 32; Carteron, 2 1952: 31). Demgegenüber ist Prantl (1854: 13) der Ansicht, daß ,,λευκόν" hier „das Weiße" als ein Qualitatives meint. Betrachtet man Zekls (1987: 7) Übersetzung, so begegnet man insofern einer gewissen Inkonsistenz, als Zekl einerseits den Ausdruck „ποιά" (185a23) mit „So-und-so-beschaffenes" - also als Qualitatives - übersetzt, während er andererseits den Ausdruck „ποιόν εν" (a25) mit „eine bestimmte Eigenschaft" - also als Qualität - übersetzt, für welche er das Beispiel „weiß" (λευκόν) nennt. Gleichwohl deutet die Tatsache, daß Aristoteles auch an anderen Stellen in Physik I (vor allem in den Kapiteln 1.5 und 1.7) mit solchen Beispielen wie ,,μουσικόν" und ,,λευκόν" primär „ein Gebildetes" bzw. „ein Weißes", und nicht „die Bildung" bzw. „die Weiße" meint, darauf hin, daß Aristoteles eher das Qualitative (ein Weißes) als die Qualität (die Weiße) meint.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
nem im absoluten Sinne einzigen δν zu tun, sondern vielmehr mit einer Vielheit von δντα, da doch gemäß der Bedeutungsdifferenzierung des ov jedes einzelne d.h. sowohl ούσία wie ποσόν und ποιόν - für sich gesehen ein öv ist. Diese Vielheit von δντα kann eine zweifache sein: (a) Entweder so, daß es viele voneinander losgelöste (άπολελυμένα) δντα gibt (d.h. hier ein Mensch, dort ein Weißes usw.). (b) Oder so, daß es ein in sich vielheitliches δν gibt (d.h. etwas, das sowohl Mensch wie Weißes usw. ist), wobei die δντα in diesem Sinne nicht voneinander losgelöst wären (μή άπολελυμένα). In beiden Fällen ergibt sich jedoch ein Widerspruch zur eleatischen These „ενναι έν τά πάντα", der zufolge das öv in einem absoluten Sinne als Eines zu verstehen ist. Wenn die Eleaten jedoch andererseits behaupten, daß das Seiende entweder ein Qualitatives (ποιόν) oder ein Quantitatives (ποσόν) ist - egal ob es eine ούσία gibt oder nicht -,57 so wäre dies insofern widersinnig (άτοπον), als dieser Gedanke auf eine Unmöglichkeit hinausläuft, die in folgenden Alternativen besteht: (1) Wenn es keine ούσία gibt, so hätten wir zunächst zwar nur eines (nämlich entweder ein ποιόν oder ein ποσόν), doch ist dies deshalb unmöglich, weil weder das ποιόν noch das ποσόν für sich vorkommen kann, da beide von einer ούσία als ύποκείμενον ausgesagt werden, die somit im Gegensatz zur Voraussetzung „wenn es keine ούσία gibt" doch vorauszusetzen wäre.58 (2) Wenn es eine ούσία gibt, so stünde dies sowohl im Widerspruch zur Voraussetzung, daß alles entweder ποιόν oder ποσόν ist, wie auch im Widerspruch zur These „είναι έν τά πάντα", da es wiederum eine Vielheit von δντα gäbe. Die Begründung der Unmöglichkeit der eleatischen These erweist sich jedoch zunächst als unvollständig, da die naheliegendste Möglichkeit, daß alles nur ούσία ist, nicht betrachtet wurde. Gigon sieht hier eine Lücke innerhalb der aristotelischen Argumentation: [...]; doch warum die ο υ σ ί α als Möglichkeit ausgeschlossen wird, erfahren wir nicht. (Gigon, 1966: 139)
Die Beobachtung von Gigon ist jedoch insofern zu korrigieren, als wir zwar nicht hier, gleichwohl aber im unmittelbar nachfolgenden Textabschnitt von Aristoteles erfahren, warum die ούσία als Möglichkeit ausgeschlossen wird. Der Grund, warum Aristoteles die Möglichkeit „nur ούσία" erst im nachfolgenden Abschnitt - getrennt von den anderen Möglichkeiten - behandelt, ist darin zu sehen, daß zu ihrer Widerlegung die bisherigen Argumente bezüglich der Vielheit und Unselbständigkeit der δντα nicht greifen. Zur Widerlegung dieser Möglichkeit ist es vielmehr erforderlich, daß die Eleaten selbst mehr über dieses eine δν behaupten als nur, daß es ein öv ist: Melissos aber behauptet, daß das Seiende unbegrenzt sei. Folglich wäre das Seiende etwas Quantitatives. Denn das Unbegrenzte ist in [der Gattung] des Quantitativen.
Zekls Übersetzung (1967: 7) „einerlei ob es nun ein Ding wäre oder nicht" kann nicht richtig sein, da dies bedeuten würde, daß das ποιόν zugleich auch eine ουσία sein könnte, was hier offenkundig nicht gemeint ist. Hier setzt Aristoteles offenkundig Überlegungen aus seiner Kategorienschrift voraus.
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Daß aber ein Ding oder eine Qualität oder eine Affektion unbegrenzt ist, ist nicht möglich, außer in dem nebenbei zukommenden Sinn, wenn es zugleich auch ein Quantitatives ist. Denn der Begriff des Unbegrenzten gebraucht das Quantitative, nicht aber das Ding und auch nicht das Qualitative. Wenn nun aber das Seiende sowohl Ding als auch Quantitatives ist, so ist es nicht mehr eines, sondern zwei. Wenn es aber nur Ding ist, so ist es nicht unbegrenzt und kann auch keine Größe haben, denn dann wäre es schon wieder etwas Quantitatives. (1.2, 185a32-185b5)
Zur Widerlegung der Möglichkeit von „nur ούσία" macht sich Aristoteles Melissos' zusätzliche Bestimmung des Seienden zunutze, der zufolge dieses unbegrenzt (bzw. ein Unbegrenztes) sein soll.S9 Die Argumentation lautet wie folgt: (1) Melissos behauptet, daß das Seiende unbegrenzt (bzw. ein Unbegrenztes) sei (a32-33). (2) Aus dieser Behauptung folgert Aristoteles, daß das Seiende ein bestimmtes Quantitatives (ποσόν τι: a33) ist,60 wobei er seine Folgerung mit dem Hinweis darauf begründet, daß sich das Unbegrenzte in der Gattung des Quantitativen findet (a33-34). (3) Mit der Anmerkung, daß ein Ding (ούσία), eine Qualität (ποιότητα) oder eine Affektion (πάθος) nicht unbegrenzt sein kann, außer im akzidentellen Sinn, wenn es zugleich auch etwas Quantitatives ist (ποσά άττα εΐεν: bl-2), scheint Aristoteles einem möglichen Einwand eines Hörers zu begegnen, der darauf hinweisen könnte, daß wir doch nicht nur von Quantitativem, sondern auch von einem Ding (ούσία), einer Qualität (ποιότητα) oder einer Affektion (πάθος) sagen, daß es unbegrenzt ist. Ein Ding, eine Qualität oder eine Affektion kann Aristoteles zufolge jedoch nur als etwas Quantitatives ein Unbegrenztes sein, da sich die Rede von einem „Unbegrenzten" primär auf ein Quantitatives bezieht (vgl. Kat. 6 und Met. V. 13). (4) Die Behauptung, daß sich das άπειρον in der Gattung des Quantitativen findet, begründet Aristoteles mit dem Hinweis darauf, daß in der Definition (λόγος) des άπειρον zwar das ποσόν, nicht aber die ούσία oder das ποιόν vorkommt (b2-3).61 (5) Aus der auf diese Weise begründeten Konklusion „also ist das öv ein ποσόν τι" (a33) zeigt Aristoteles nun die Unmöglichkeit der Alternative „nur ούσία" wie folgt auf: (a) Wenn das öv sowohl eine ούσία als auch ein ποσόν - d.h. ein unbegrenztes Ding - ist, so wäre es nicht mehr ein einziges öv, sondern es würde bereits eine Zweiheit darstellen (b3-4). (b) Wenn das öv aber nur eine ούσία ist, so wäre es nicht ein Unbegrenztes, und es hätte auch keine [andere] Größe. Denn hätte es eine andere Größe, so wäre es wiederum ein ποσόν τι (b4-5).62 59
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Eine analoge Argumentation bezüglich der Unmöglichkeit der Alternative „nur ούσία" ließe sich auch in bezug auf Parmenides durchführen, der das Seiende im Gegensatz zu Melissos als begrenzt bestimmt hat. Aristoteles versteht die Unbegrenztheit des Seienden bei Melissos vermutlich als Zuschreibung eines positiven Prädikats (vgl. auch Met. XI. 10, 1066a35-b7). Dieses Verständnis läßt sich durch die Fragmente B2, B3, B4 und B6 bei Melissos stützen. Chemiss (1935: 65) ist demgegenüber jedoch der Ansicht, daß Melissos mit der Unbegrenztheit des Seienden nur die bloße Negation von räumlicher Ausdehnung gemeint habe. Aristoteles unterstellt Melissos nicht, daß das Seiende eine bestimmte Quantität (d.h. Unendlichkeit) ist. Ebenso, wie Aristoteles hier nicht sagen will, daß das Seiende eine Unendlichkeit ist, will er auch oben vermutlich nicht sagen, daß das Seiende (eine) Weiße ist. Zur Definition des άπειρον vgl. Phys. III.6, 207a7-8: „άπειρον μέν ούν έστιν οΰ κατά τό ποσόν λαμβάνουσιν αίεί τι λαμβάνειν έστιν έξω." Die Möglichkeit, daß das öv nur ein ποσόν ist, wird nicht mehr behandelt, da diese Möglichkeit bereits in 185a29-32 widerlegt wurde.
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Physik 1.2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Die Argumentation macht deutlich, daß Aristoteles hier vom „άπειρον" im Sinne eines Unendlichen (Quantitativen) und nicht im Sinne einer Unendlichkeit (Quantität) spricht. Wenn Aristoteles nämlich sagt „wenn es aber nur ούσία ist, so wäre es nicht unbegrenzt, und es hätte (έξει) auch keine Größe, denn sonst wäre es [wieder] ein bestimmtes Quantitatives" (b4-5), so spricht er hier von dem Haben einer Größe (vgl. „μέγεθος έξει") - und somit vom Haben einer Quantität - aus welchem er folgert, daß das Seiende dann wiederum ein Quantitatives wäre (ποσόν τι έσται). Ist aber das άπειρον als „Unendliches" im Sinne eines Quantitativen (ποσόν) zu verstehen, so deutet dies daraufhin, daß vermutlich auch für das ποιόν und die Beispiele ,,λευκόν" und ,,θερμόν" in 185a23-26 gilt, daß wir es dort mit einem Qualitativen (Weißes oder Warmes), und nicht mit Qualitäten (Weiße oder Wärme) zu tun haben.
2.6.2 Die Bedeutung des ,,έν" in der These „είναι έν τό πάν" (185b5-25) Nachdem Aristoteles gezeigt hat, daß die eleatische These „είναι εν τά πάντα" hinsichtlich der Bedeutungsdifferenzierung des Wortes „öv" ('Seiendes') zu widersprüchlichen Konsequenzen führt, geht er nun dazu über, eine ebensolche Widersprüchlichkeit auch durch die Bedeutungsdifferenzierung des Wortes ,,έν" ('Eines') aufzuzeigen. Weiter: Da auch das Eine selbst auf mehrfache Weise gesagt wird wie das Seiende, so ist zu untersuchen, in welchem Sinne sie sagen: »das Ganze ist Eines«. »Eines« aber wird entweder gesagt vom Kontinuum [τό σ υ ν ε χ έ ς ] oder vom Unteilbaren [τό άδιαίρετον] oder von denjenigen, deren Begriff und Wesenswas einer und derselbe ist [ών ό λόγος ό αΰτός και εις ό τοΰ τί ήν είναι], wie z.B. bei Rebensaft und Wein. (1.2, 185b5-9) Abb. 2.6: Die Bedeutungsmöglichkeiten
des „ είναι ε ν τό π ά ν " hinsichtlich des „ έν"
.είναι έν τό παν'
Das Kontinuum (τό συνεχές) [185b9-16]
Das Unteilbare (τό άδιαίρετον) [185bl6-19]
Diejenigen, deren Wesensbegriff einer ist (ών ό λόγος ό αϋτός και εις ό τοΰ τί ήν είναι) [185b16-25]
Angesichts der Tatsache, daß diese Bedeutungsdifferenzierung des ,,έν" ebenfalls als vollständig zu betrachten ist - denn es soll ja gezeigt werden, daß die Eleaten in Widersprüche gelangen, gleichgültig für welche Bedeutung des ,,έν" sie sich entscheiden -, fällt auf, daß Aristoteles hier im Unterschied zu Met. V.6 und X.l nur drei der dort angeführten vier Bedeutungsmöglichkeiten erwähnt.63 In Met. V.6 differenziert Aristoteles zunächst zwischen dem έν im „akzidentell zukommenden Sinne" (κατά συμβεβηκός) und dem εν im „an sich zukommenden Sinne" (καθ' αύτό). Für letzteres führt er vier Grundbedeutungen an: Die Dinge sind eines (i) als Kontinuum (συνεχές),
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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So hat Pacius (vgl. Ross, 1936: 468) in diesem Zusammenhang eingewandt, daß die „Einheit dem είδος nach" als zweiter Haupttypus des ,,έν καθ' έαυτό" fehle. Ross (1936: 468) erklärt dieses Fehlen der „Einheit dem είδος nach" dadurch, daß mit ihr eine numerische Differenz und somit eine Vielheit vorausgesetzt sei, die die Eleaten unter keinen Umständen gemeint haben können. Angesichts der Tatsache, daß die dritte Bedeutung des εν, die sich auf solcherlei Dinge bezieht, deren λόγος einer ist, ebenfalls eine numerische Vielheit voraussetzt, erweist sich die Erklärung von Ross jedoch als unbefriedigend, so daß die Antwort auf Pacius' Einwand eher darin zu sehen ist, daß Aristoteles die Bedeutung „εν εϊδει", auf die er gleichwohl in 1.3, 186al9-22 eingehen wird, hier deshalb nicht eigens anführt, weil sie in einem weiten Sinne aufgefaßt mit der Bedeutung „λόγω έν" zusammenfällt.64 Aristoteles führt in Met. 1.5, 986bl8-21 aus, daß Parmenides das Eine dem Begriff nach (κατά τον λόγον), Melissos hingegen dem Stoff nach (κατά την ϋλην) aufgefaßt habe. In dieser Differenz sieht Aristoteles auch den Grund, warum Parmenides vom Begrenzten, Melissos aber vom Unbegrenzten gesprochen hat. Legt man diese Differenz zwischen einer „Einheit dem Begriff nach" und einer „Einheit dem Stoff nach" der Bedeutungsdifferenzierung des ,,έν" in Phys. 1.2 zugrunde, so ergibt sich folgendes Bild: Abb. 2.7: Die Bedeutungen von „ εν Eines (εν) dem Stoff nach ( κ α τ ά την ΰλην) [Melissos] το σ υ ν ε ν ε ς
' dem Begriff nach ( κ α τ ά τόν λόγον) [Parmenides]
τό άδιαίρετον
2.6.2.1 Das Kontinuum (τό συνεχές) Wenn es [das Eine] nun also als K o n t i n u u m gemeint ist, so wäre das E i n e vieles. Denn das Kontinuum ist ins Unendliche teilbar [εις ά π ε ι ρ ο ν δ ι α ι ρ ε τ ό ν γ α ρ τό σ υ ν ε χ έ ς ] , (1.2, 1 8 5 b 9 - l l )
Daß die Eleaten ihr absolut Eines nicht im Sinne eines Kontinuums gemeint haben können, erklärt Aristoteles dadurch, daß das Kontinuum ins Unendliche teil(ii) weil ihr ϋποκείμενον eines ist, (iii) weil ihre Gattung (γένος) eine ist, und (iv) weil ihr λόγος einer ist. (In Phys. 1.2 ist vom i v im „akzidentellen Sinne" keine Rede, da dies als Meinung der Eleaten von vornherein ausscheidet. Denn diese Bedeutung setzt ja bereits das Vorhandensein einer inneren Vielheit voraus.) Die vier Grundbedeutungen des εν in Met. X. 1 lauten: (a) das Kontinuum (συνεχές), (b) das Ganze (όλον), (c) das Unteilbare (άδιαίρετον), und zwar das (cl) der Zahl nach und (c2) der Art nach Unteilbare. Vgl. dazu die Gleichsetzung von „λόγω εν" und „εϊδει iv" in Phys. 1.7, I90al6-17. Dem entspricht auch die Bestimmung des ,,εΐδει έν" als dasjenige, „dessen λόγος einer ist", in Met. V.6, 1016b33: „[...], εϊδει δ' ών ό λόγος εις, [...]."
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
bar ist, so daß sich mit der Annahme eines Kontinuums eine potentiell unendliche Vielheit ergäbe, die im Widerspruch zur Annahme eines absolut Einen stünde. Mit der Definition von ,,τό συνεχές" als unendlich Teilbares6S wird hier eine Begründung gegeben, die als grundlegend anzusehen ist. Zugleich ist hervorzuheben, daß das Kontinuum, das als Teilbares (διαιρετόν) seinen Gegensatz in der Bedeutung des έν als ,,άδιαίρετον" hat, hier im Sinne eines materiellen Kontinuums,66 und nicht im Sinne eines aus den Kategorien 'Ding' und 'Eigenschaft' logischen Zusammengesetzten zu verstehen ist. Denn bei letzterem ergibt die Rede von einer „unendlichen Teilbarkeit" ja keinen Sinn.67
Exkurs: Das Verhältnis von Teil und Ganzem Aristoteles setzt in einer Nebenbemerkung mit folgender Überlegung fort: Es besteht aber auch die Schwierigkeit bezüglich Teil und Ganzem; vielleicht gehört sie nicht zu dieser Untersuchung, aber sie besteht an sich: Sind Teil und Ganzes eines oder mehreres? Und wie sind sie eines oder mehreres [και πώς έ ν ή πλείω]? Und wenn sie mehreres sind, in welchem Sinne sind sie mehreres [και εϊ πλείω, πώς πλείω]? Und [die Schwierigkeit besteht auch] bei den nichtkontinuierlichen Teilen: Und wenn ein jeder einzelne [von zwei Teilen] als Unteilbares für das Ganze Eines ist, dann sind sie auch Eines füreinander. (1.2, 185bl 1-16)
Diese Nebenbemerkung bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem hat aufgrund ihrer elliptischen Form die Interpreten vor zahlreiche Probleme gestellt, die sich in folgenden fünf Fragen zusammenfassen lassen: (1) Wie ist die zweifache Frage „πώς πλείω" in b l 3 - 1 4 zu verstehen?
Ross (1936: 468) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Natorp und Brandis das ,,ή" („oder") in bl3 durch ein ,,εί" („wenn") ersetzen, so daß wir die beiden Fragen „wie sind sie eines, wenn sie mehreres sind?" und „wie sind sie mehreres, wenn sie mehreres sind?" erhalten. Ross hält diese Korrektur für unnötig, da man in dem zweimaligen „πώς πλείω" zwei verschiedene Fragen sehen kann: Fragt Aristoteles zuerst ,,καί πώς έν ή πλείω" (bl3), so ist damit nicht die Frage gemeint, „in welchem Sinne sie eines sind, wenn sie eines sind, und in welchem Sinne sie mehreres sind, wenn sie mehreres sind?"; vielmehr ist die Frage gemeint, „wie es möglich ist, daß sie eines oder mehreres sind?" Ver65
66 67
Zur Definition von ,,τό συνεχές" vgl. auch Phys. III. 1, 200b20: ,,ώς τό εις άπειρον διαιρετόν συνεχές öv." (Vgl. auch Phys. V.3, 227al0-17; VI.2, 232a23-24; VI.2, 232b24-25; 233bl522; und Met. X.l, 1053a20-25.) Das in dem Wort „συνεχές" enthaltene Präfix „συν-" deutet bereits auf eine Vielheit hin. Charlton (1970: 58) führt als Beispiel für ein derartiges materielles Kontinuum ein Stück Butter an. Zwar bezeichnet Parmenides das eine Seiende selbst als „συνεχές" (Frg. B8, Z.6; vgl. auch Z.23 „συνέχεσθαι" und Z.25 „ξυνεχές"), doch ist hierbei zu beachten, daß er das Seiende zugleich als „nicht teilbar" (Frg. B8, Z.22 ,,ούδέ διαιρετόν") kennzeichnet, welches im Gegensatz zur aristotelischen Auffassung steht, der das συνεχές als das Ins-Unendliche-Teilbare dem άδιαίρετον gegenüberstellt.
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stehe ich Ross recht, so bezieht er die Frage „wie?" hier nicht auf die einzelnen Glieder „eines oder mehreres", sondern vielmehr auf die Disjunktion „oder", so daß das „πώς" hier die Bedeutung „wie ist es möglich, daß ...?" erhält. Und diese Frage, „wie es möglich ist, daß Ganzes und Teil eines oder mehreres sind?" als Infragestellung des „oder" gewinnt ihre tiefere Bedeutung vor dem Hintergrund, daß Aristoteles in 186 a 1-2 sagen wird, daß etwas sowohl eines als auch mehreres sein kann. Erst in der zweiten Frage ,,καί εί πλείω, πώς πλείω" (b ΠΙ 4) wird dann auf das speziellere Problem eingegangen, in welchem Sinne es mehreres sein kann, wenn es mehreres ist. Wir haben es Ross zufolge also mit einer Äquivozität des Wortes „πώς" zu tun: Bedeutet es in der ersten Frage ein „wie ist es möglich, daß ...?", so bedeutet es in der zweiten Frage ein „in welchem Sinne von ...?". Auch Wagner (1967: 8 und 403) sieht in dem zweimaligen „πώς πλένω" keine Wiederholung. Im Unterschied zu Ross versteht er jedoch das zweite „πώς πλείω" im Sinne einer Spezifizierung: „und insbesondere in welchem Sinne ...?". Fragt Aristoteles Wagner zufolge zunächst allgemein, wie können sie eines oder mehreres sein, so fragt er dann insbesondere danach, wie sie mehreres sein können, wenn sie mehreres sind. ( 2 ) W a s haben wir unter den „nichtkontinuierlichen Teilen" ( π ε ρ ί τ ω ν μ ε ρ ώ ν τ ω ν μ ή σ υ ν ε χ ώ ν : b l 4 ) zu verstehen?
Das ,,τών μή συνεχών" kann einerseits als attributive Ergänzung verstanden werden, so daß von „nichtkontinuierlichen Teilen" die Rede ist (so versteht es die überwiegende Anzahl der Interpreten); andererseits kann es aber auch als Genitivobjekt verstanden wären, so daß von „Teilen von nichtkontinuierlichen (Ganzheiten)" die Rede ist (so versteht es Wagner, 1967: 8). In beiden Fällen haben wir es jedoch mit einem Ganzen zu tun, dessen Teile nicht-kontinuierlich miteinander verbunden sind. Innerhalb der Sekundärliteratur werden verschiedene Beispiele für diese „nichtkontinuierlichen Teile" angeführt: (a) die Organe eines Körpers (im Gegensatz zu dessen gleichartigen Teilen (όμοιομερή) wie Blut, Fleisch usw.);68 (b) die Teile einer Form, wie z.B. die verschiedenen Teile der Seele;69 (c) die Elemente einer bestimmten Klasse;70 (d) die Arten einer Gattung, wie z.B. Mensch und Pferd als Arten der Gattung Sinnenwesen.71 ( 3 ) W i e ist die R e d e v o n den „nichtkontinuierlichen Teile" in den argumentativen Z u s a m m e n h a n g einzuordnen?
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Vgl. Charlton (1970: 58): „[...]; the Greek commentators speak of organic parts in contrast with homeomerous bits; [...]." E b d
'
Prantl (1854: 474, Fn.9) spricht von den „Bürgern eines Staates" oder den „Planeten eines Sonnensystems", Wagner (1967: 403) von einer „Schülerklasse" und Ross (1936: 468) von einer „Schafherde". Aristoteles führt dieses Beispiel in Met. V.26 als Beispiel für ein Ganzes an, das seine Teile so umfaßt, daß diese Teile selbst wiederum Eines sind.
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Ist sie (i) nur eine Zusatzbemerkung, die in dem Sinne zu verstehen wäre, daß die bereits angeführten Aporien auch für nichtkontinuierliche Teile gelten,72 oder ist sie (ii) ein Hinweis darauf, daß zusätzliche Aporien bei den nichtkontinuierlichen Teilen entstehen.73 (4) Wie ist der Begründungszusammenhang im Schlußsatz b 15-16 zu verstehen? Aufgrund der Mehrdeutigkeit der Wörter „ei", das entweder „wenn" oder „ob" bedeuten kann, und ,,δτι", das entweder „daß" oder „weil" bedeuten kann, ergeben sich zwei Interpretationsmöglichkeiten: (a) „[Es besteht die Aporie], wenn ... , daß ...": hier steht die Aporie im „daß-Satz" als Folge einer Bedingung aus dem „wenn-Satz".74 Oder (b) „[Es besteht die Aporie], ob ... , weil ...": hier steht die Aporie im „ob-Satz" als Folge einer Bedingung aus dem „weil-Satz".75 (5) Wie ist das „ei τω δλφ εν έκάτερον ώς άδιαίρετον" in bl5 zu verstehen? Innerhalb der Sekundärliteratur sind drei verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden: (a) „wenn (bzw. ob) ein jedes mit dem Ganzen untrennbar Eines ist",76 (b) „wenn (bzw. ob) ein jedes für sich eine unteilbare Einheit ist und mit dem Ganzen ein Eines bildet"77 oder (c) „wenn (bzw. ob) ein jedes für das Ganze eine unteilbare Einheit ist".78 Bevor ich meine eigene Interpretation des Abschnitts 185b 11-16 darlege, will ich zunächst auf die Funktion dieser Nebenbemerkung eingehen, die sie für den Kontext der aristotelischen Argumentation gegen die Eleaten hat. Die Behauptung, daß „die Schwierigkeit bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem vielleicht [ίσως] nichts mit der Argumentation [προς τον λόγον] zu tun hat, aber an sich [καθ' αυτήν] besteht" (bl 1-12), bezieht sich auf die Argumentation (λόγος) bezüglich der Bedeutung des Einen als 'Kontinuum'. Insofern mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem, das auch das in Kapitel 1.1 dargelegte Verhältnis der φύσει οντά zu ihren άρχαί betrifft, die für eine Physik wesentliche Frage danach, wie etwas zugleich eines und vieles sein kann, angesprochen ist, erinnert der Ausdruck „vielleicht" hier eher an ein sokratisches „Vielleicht", das Sokrates häufig dann zur Antwort gibt, wenn sein Gesprächspartner den Kern der Sache getroffen hat und er selbst noch nicht die ganze Lösung darlegen will.
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Vgl. Zekl (1987: 9), Ross (1936: 338), Hardie/Gaye (1930), Gohlke (1956: 33) und Carteron ( 2 1952: 32). Vgl. Prantl (1854: 15), Wicksteed/Comford (1980: 23), Wagner (1967: 8) und Charlton (1970: 3 f.). Prantl und Wicksteed/Cornford betrachten diese zusätzliche Aporie dann als im Schlußsatz 185bl5-16 ausformuliert, während Wagner und Charlton im Schlußsatz den Hinweis auf noch eine weitere Aporie sehen. So versteht es die überwiegende Zahl der Interpreten. Diese Interpretation findet sich bei Prantl (1954: 15) und Charlton (1970: 3 f. und 58). Vgl. Zekl (1987: 9), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 338), Wagner (1967: 8), Charlton (1970: 3 f. und 58), Gohlke (1956: 33) und Wicksteed/Cornford (1980: 23). Vgl. Carteron (21952: 32). Vgl. Prantl (1854: 15).
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Aristoteles scheint mit dieser Nebenbemerkung einem möglichen Einwand zu begegnen, der in bezug auf seine These, daß das Eine der Eleaten unmöglich im Sinne des Kontinuums gemeint sein kann, folgende Gestalt hat: Nachdem die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten des ,,έν" dargelegt wurden, zeigt Aristoteles, daß die Eleaten die erste Bedeutung - nämlich das έν als Kontinuum unmöglich gemeint haben können, weil dann eine Vielheit vorausgesetzt werden müßte. Hier aber drängt sich die Frage auf, wie das im Sinne eines Kontinuums verstandene Eine, das folglich eine Vielheit impliziert, überhaupt noch als eine Bedeutung des „Einen" angesehen werden kann und nicht vielmehr als eine Bedeutung des „Vielen" betrachtet werden muß. Dieser Einwand läßt sich in der Frage zuspitzen, wie es möglich sein soll, daß eine Einheit zugleich auch eine Vielheit sein kann, wobei diese Frage für Aristoteles insofern eine zentrale Bedeutung hat, als in ihr die Möglichkeit der Eigenschaftsveränderung begründet ist. Die Annahme eines Einen, das im Sinne eines materiellen Kontinuums zugleich eine Vielheit impliziert, stellt zumindest nach eleatischem Verständnis eine Verletzung des Principium contradictionis dar. 79 Der Exkurs über Teil und Ganzes, der sich an das Argument bezüglich des Einen als Kontinuum anschließt, läßt sich in zwei Teile gliedern: Werden in einem ersten Teil (b 12-14) Aporien bezüglich eines kontinuierlichen Ganzen (συνεχές) angeführt, so wird im zweiten Teil (b 14-16) daraufhingewiesen, daß diese Aporien auch bei nichtkontinuierlichen Ganzheiten vorhanden sind. In bezug auf das kontinuierliche Ganze (συνεχές), dessen Kennzeichen es ist, daß seine Teile nur zusammen, nicht aber für sich eine Einheit darstellen, werden folgende Aporien angeführt: (1) „Sind Teil und Ganzes eines oder mehreres (πότερον εν ή πλείω τό μέρος και τό δλον)?" Die Frage ,,πότερον ... ή", die auf das Problem hinweist, daß das Ganze eine Einheit darstellt, während seine Teile immer schon eine Vielheit repräsentieren, ist hier als eine Entscheidungsfrage anzusehen, deren aporetischer Charakter darin besteht, daß die Antwort, egal für welche Alternative man sich entscheidet, in ein Dilemma führt. Denn weder sind Ganzes und Teil nur eine Vielheit, noch sind sie nur eine Einheit.80 (2) „Wie können Teil und Ganzes eines oder mehreres sein (και πώς εν ή πλένω)?" Diese Frage, die das problematische „oder" aus der vorherigen Frage aufgreift, fragt danach, wie es möglich sein soll, daß es eines oder vieles ist angesichts der Tatsache, daß wir sowohl ein Eines (das Ganze) als auch Vieles (die Teile des Ganzen) vorliegen haben. Die Aporie wird durch die Frage nach dem „wie" im Anschluß an die vorhergehende Frage nach dem „ob" zugespitzt. Es wird hier weder gefragt, in welchem Sinne es eines sein kann, wenn es eines ist, denn dies ist ja bereits mit dem έν als συνεχές beantwortet, noch wird hier gefragt, in welchem Sinne es mehreres sein kann, wenn es mehreres ist, denn diese 79
So ist Melissos (Frg. DK 30A5) der Auffassung, daß das Eine nach allen Seiten gleich sein müsse (δμοιον είναι), weil es sonst als Ungleiches (άνόμοιον) eine Vielheit bilden würde und nicht mehr eines sein könne (ούκ αν ετι εν είναι). Aristoteles' eigene Antwort auf diese Frage wird ihrem Sinn nach so lauten, daß die Frage als eine Entscheidungsfrage falsch gestellt ist, da dasselbe sowohl eines als auch mehreres sein kann.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Frage wird erst im folgenden gestellt: (3) „Wenn es mehreres ist, in welchem Sinne ist es dann mehreres (και εί πλείω, πώς πλείω)?" Im Anschluß an diese Überlegungen weist Aristoteles nun daraufhin, daß die Aporien auch bei einem Ganzen, das aus nicht kontinuierlich miteinander verbundenen Teilen besteht, auftreten, wobei sich die Fragerichtung der Aporien jedoch umzukehren scheint: Besteht die Aporie bezüglich eines kontinuierlichen Ganzen vor allem in der Frage, wie Teil und Ganzes vieles sein können - gerade diese Frage („πώς πλείω") wurde in b 14-15 ja ausdrücklich gestellt, weil bei einem Kontinuum die Teile für sich keine selbständigen Einheiten darstellen, und man so vor dem Problem steht, wie überhaupt eine Vielheit vorhanden sein kann, sofern die Vielheit per definitionem eine Pluralität von Einheiten sein soll -,81 so besteht die Aporie bezüglich eines nichtkontinuierlichen Ganzen umgekehrt in der Frage, wie Teil und Ganzes ein Eines sein können. In dieser Frage ist auch der Sinn des Schlußsatzes (bl 5-16) zu sehen, den ich wie folgt verstehe: „Und [hier liegt die Aporie darin], daß, wenn ein jedes [von zwei Teilen] als Unteilbares ein Eines für das Ganze ist, dann [sind] auch die Teile füreinander [als Unteilbare je Eines]." Mit anderen Worten: Wie können die Teile, die je für sich eine Einheit darstellen, zusammen noch eine Einheit bilden, ergibt doch die Summe von Einheiten für gewöhnlich eine Vielheit?82 Diese Frage erweist sich deshalb als problematisch, weil die hier erwähnten nicht kontinuierlich miteinander verbundenen Teile ja nicht eine Einheit im Sinne eines Kontinuums (συνεχές) bilden können. Sie sind gerade als dasjenige, was jeweils für sich ein άδιαίρετον darstellt, auch jeweils für sich ein Eines (έν), sei hiermit nun das Verhältnis einer Klasse zu ihren Elementen, oder das Verhältnis einer Gattung zu seinen Arten, oder das Verhältnis des Körpers zu seinen Organen gemeint. Als Schaf ist das Schaf unteilbar (άδιαίρετον) und deshalb Eines, denn der Teil eines Schafes ist ebensowenig ein Schaf, wie der Teil eines Gesichts ein Gesicht
2.6.2.2 Das Unteilbare (τό άδιαίρετον) Im Anschluß an den Exkurs über Ganzes und Teil geht Aristoteles zur zweiten Bedeutung des ,,έν" als „άδιαίρετον" über:
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Aristoteles macht an anderen Stellen mehrfach auf dieses Problem mit der Frage, wie man aus Punkten eine Linie entstehen lassen kann, aufmerksam: vgl. Met. III.4, 1001b7-25; Phys. III.6, 206al4-18; IV.8, 215Ö18-19; V l . l , 2 3 1 a 2 4 - 2 6 , VI.2,232a23-27 u.a. Vgl. Phys. III.7, 207b5-13, wo Aristoteles darauf hinweist, daß die Ein-Zahl (τό έν) als Prinzip der Zahlen unteilbar ist (wie z.B. ein Mensch) und die Zahl eine Mehrzahl von Einsen (vgl. ,,ενα πλείω") darstellt. Die Interpretation von Ross (1936: 468), der zufolge Aristoteles in b 15-16 auf die Aporie hindeutet, daß auch die Teile miteinander identisch sind, wenn die Teile mit dem Ganzen identisch sind - „The argument in brief is: 'your hand is you; your foot is you; therefore your foot is your hand'." ist bereits von Charlton (1970: 58) zu Recht kritisiert worden.
D i e Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Aber w e n n e s als Unteilbares [ώς ά δ ι α ί ρ ε τ ο ν ] g e m e i n t ist, s o gäbe e s nichts Quantitatives, und auch nichts Qualitatives, 8 4 und auch wäre das S e i e n d e nicht unbegrenzt, w i e M e l i s s o s behauptet, n o c h wäre es begrenzt, w i e Parmenides sagt. D e n n die Grenze ist ein Unteilbares, nicht das Begrenzte [τό γ α ρ π έ ρ α ς ά δ ι α ί ρ ε τ ο ν , ο ύ τ ό π ε π ε ρ α σ μ έ ν ο ν]. (1.2, 1 8 5 b l 6 - 1 9 )
Der Grund, warum die Eleaten ihr Eines auch nicht als άδιαίρετον im Sinne eines (materiell) Unteilbaren85 gemeint haben können, besteht darin, daß sich bei Annahme des Einen als άδιαίρετον Konsequenzen ergeben würden, die im Widerspruch zu anderen eleatischen Bestimmungen des Einen stehen. Das Eine als άδιαίρετον könnte letztlich weder ein Quantitatives (ποσόν) noch ein Qualitatives (ποιόν) sein und mithin weder unbegrenzt, wie Melissos sagt, noch begrenzt, wie Parmenides sagt.86 (1) „Wenn das Eine als άδιαίρετον gemeint ist, wird es kein Quantitatives (ποσόν) geben (185b 16)." Der Grund, warum das Eine als άδιαίρετον kein Quantitatives sein kann, ist darin zu sehen, daß jedes Quantum - sei es ein diskretes (Anzahl) oder ein kontinuierliches (Ausgedehntes) - per deflnitionem teilbar ist.87 (2) „Und es gibt auch kein Qualitatives (ποιόν) (bl6-17)." In der Sekundärliteratur sind verschiedene Möglichkeiten als Begründung dafiir angeführt worden, warum das άδιαίρετον auch kein Qualitatives (ποιόν) ist: Charlton ist der Ansicht, daß das Ganze als Nichtausgedehntes auch nicht die Qualitäten haben wird, die Parmenides ihm in Form von Hitze und Kälte zuschreiben will, da diese bereits die Existenz eines Quantums voraussetzen. 88 Ross weist darauf hin, daß eine Qualität in bezug auf ihre Intensität teilbar ist und daß ein bloßer Punkt oder eine arithmetische Einheit keine Qualität besitzt.89 Wagner (1967: 403) führt folgende drei Argumente dafür an, daß das άδιαίρετον kein ποιόν sein kann: (i) Qualitäten lassen graduelle Abstufungen zu und setzen somit Quantität voraus, (ii) Jede Qualität ist definierbar und somit in ihre Definitionsmomente auflösbar, (iii) Die Qualität setzt insofern eine Quantität voraus, als sich eine physische Qualität nur an einem Ausgedehnten (d.h. an einem räumlich Quanti-
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Vgl. auch die Übersetzungen von Hardie/Gaye (1930: „If (5) their One is one as indivisible, nothing will have quantity or quality, [...].") und Charlton (1970: 4: „Is the universe one, then, in that it is indivisible? Then nothing will have any quantity or quality, [...]."). Charlton (1970: 58), der daraufhinweist, daß das „άδιαίρετον" bei Aristoteles eine vierfache Bedeutung hat - (1) das 'faktisch Nicht-Geteilte', (2) das 'Räumlich-Unteilbare', (3) das 'Logisch-Unanalysierbare' und (4) das 'Der-Form-nach-Ununterscheidbare' -, ist ebenfalls der Ansicht, daß Aristoteles hier vom „άδιαίρετον" im Sinne des „Raumlich-Unteilbaren" bzw. „Unausgedehnten" spricht. Daß Parmenides das Eine gleichwohl als unteilbar bestimmt hat, wird aus Frg. DK 28 B8, Z.22 deutlich: ,,ούδέ διαιρετόν έστιν, έπεί π α ν έστιν όμοΐον". Zur Teilbarkeit des Quantums vgl. Met. III.4, 1001b5 ff.; V.13, 1020a7; XI. 10, 1066b; Phys. III.6, 204a28-29. Charlton (1970: 58): „If the universe is not extended, it will not have the qualities (185bl7) which Parmenides wants to attribute to it, heat and cold (l88a21-2) (if actual heat and cold must extend over an area or volume)." Ross (1936: 469): ,,ούδέ ποιόν, presumably because quality is divisible in respect of intensity, or a bare point or arithmetical unit has no quality."
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
tativen) findet.90 Wird in den von Wagner angeführten Argumenten (i) und (iii) das Nichtvorhandensein eines ποιόν als Folge aus dem Nichtvorhandensein eines ποσόν interpretiert, so wird im Argument (ii) das Nichtvorhandensein eines ποιόν als unmittelbare Folge aus dem άδιαίρετον verstanden. Da das Unteilbare (άδιαίρετον) in 185b 16-19 jedoch eher im Sinne eines materiell Unteilbaren zu verstehen ist, erweist sich das Argument (ii) in unserem Zusammenhang insofern als unwahrscheinlich, als in diesem Argument eher von einer logischen Teilbarkeit die Rede ist. (3) „Und das Seiende ist also auch nicht unbegrenzt, wie Melissos behauptet" (bl7). Aristoteles kann nun aus der Tatsache, daß das άδιαίρετον kein Quantitatives (ποσόν) ist, dazu übergehen (vgl. ,,δή": bl7), daß das Seiende auch nicht unbegrenzt sein kann, wie Melissos sagt, denn Aristoteles hatte bereits in 185 a32-b2 gezeigt, daß der Begriff des άπειρον den Begriff des ποσόν voraussetzt. (4) „Aber auch begrenzt kann das Seiende nicht sein, wie Parmenides sagt" (bl7-18). Das 'Nichtbegrenztsein' (vgl. ,,ούδέ πεπερασμένον") ist ebenso wie das 'Nichtunbegrenztsein' (vgl. ,,ούδέ άπειρον") als eine weitere Folge aus dem ,,ούθέν ποσόν" und ,,ούδέ ποιόν" zu verstehen. Hierbei ist allerdings auf folgendes hinzuweisen: Während sich das ,,ούδέ άπειρον" offenkundig als Folge aus dem ,,ούθέν ποσόν" erweist, ist das ,,ούδέ πεπερασμένον" hier vielleicht nicht im zunächst naheliegenden Sinn als Folge aus dem ,,ούθέν ποσόν", sondern eher als eine Folge aus dem ,,ούδέ ποιόν" zu verstehen. Gershenson und Greenberg weisen nämlich darauf hin, daß Aristoteles die Behauptung von Parmenides bezüglich des Begrenztseins des Seienden nicht in einem quantitativen, sondern in einem qualitativen Sinne versteht.9' Würde Aristoteles das Begrenztsein bei Parmenides als eine quantitative Bestimmung verstehen, so wäre zudem die Frage zu stellen, warum hier dann überhaupt das ,,ούδέ ποιόν" angeführt wird. (5) „Denn die Grenze ist ein Unteilbares, nicht das Begrenzte" (bl 8-19). Aristoteles weist in der abschließenden Begründung, der zufolge die Grenze und nicht das Begrenzte - ein Unteilbares ist, darauf hin, daß das Eine, wenn man es im Sinne eines Unteilbaren (άδιαίρετον) versteht, letztlich als Grenze zu betrachten wäre. Das eleatische Eine würde somit als ein Unteilbares gewissermaßen zu einem unteilbaren Punkt 'zusammenschrumpfen'. Abschließend betrachtet ergibt sich somit folgendes Bild: Wenn das Eine sowohl ein Unteilbares als auch ein Unbegrenztes sein soll, so sieht Aristoteles darin den Widerspruch, daß es dann als Unteilbares einerseits kein Quantitatives wäre, während es ande-
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Wagner (1967: 403): „Man hat daran gedacht, daß j e d e Qualität Grade zuläßt, also Quantität besitzt; oder daß jede Qualität definierbar ist, also in ihre Definitionsmomente auflösbar ist. Aber Ar. lehrt auch, daß physische Qualität nur an einem Ausgedehnten, d.h. an einem räumlich Quantitativen möglich ist. Wäre das Seinsganze unteilbar, so könnte es keine Quantität, folglich auch keine physiche Qualität besitzen - entbehrte also aller physischen Grundbestimmungen." Gershenson/Greenberg (1962: 140, Fn.l und 2): „»being finite«, for Aristotle, is not a quantitative attribute, it merely expresses the quality of being limited." KRS ( 2 1983: 252) weisen darauf hin, daß die Rede von dem „in den Grenzen" bei Parmenides als metaphorische Rede über Bestimmtheit zu verstehen ist.
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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rerseits als Unbegrenztes doch ein Quantitatives wäre. Wenn aber das Eine sowohl ein Unteilbares als auch ein Begrenztes sein soll, so wendet Aristoteles demgegenüber ein, daß nicht das Begrenzte, sondern vielmehr die Grenze ein Unteilbares ist. Wenn man aus diesem nun den einzig verbliebenden Ausweg wählt, daß das Eine sowohl ein Unteilbares als auch eine Grenze ist, so impliziert dies letztlich, daß es entgegen der Ansicht der Eleaten doch nicht nur Eines geben kann. Denn in Analogie zu einer άρχή, die eine άρχή von etwas ist (vgl. 185a4-5), erweist sich auch die Grenze immer schon als eine Grenze von etwas, so daß mit der Grenze zugleich die Existenz eines Begrenzten vorausgesetzt ist.92
2.6.2.3 Das dem Begriff nach Eine (τω λόγω έν) Abschließend prüft Aristoteles die dritte Bedeutungsmöglichkeit des ,,έν" als „das dem λόγος nach Eine": Aber wenn alles Seiende dem Begriff nach Eines wäre [εϊ τω λ ό γ ω ε ν τά δ ν τ α πάντα], wie z.B. Gewand und Kleid, so geschieht es ihnen, den heraklitischen Satz zu sagen: Denn dasselbe wäre Gut-sein und Schlecht-sein [ ά γ α θ ω και κ α κ ω ε ΐ ν α ι ] , und Gut-sein und Nicht-gut-sein [ ά γ α θ ω και μή ά γ α θ ω ε ΐ ν α ι ] ; so daß dasselbe gut und nicht gut wäre [ώστε τ α ύ τ ό ν έ σ τ α ι ά γ α θ ό ν κ α ι ο ύ κ ά γ α θ ό ν ] , und [dasselbe] Mensch und Pferd [wäre]. Und die These [ό λ ό γ ο ς ] ginge dann nicht über das Einssein des Seienden [ού περί τοΰ εν ε ί ν α ι τ ά δντα], sondern über das Nichtssein/Nicht-eines-sein [περί τοΰ μηδέν]; und ebenso wären das So-beschaffen-sein und So-viel-sein dasselbe. (1.2, 185bl9-25).
Aristoteles zeigt hier, daß die Eleaten letztlich den heraklitischen λόγος von der Einheit der Gegensätze behaupten würden, wenn sie die Einheit des Seienden im Sinne des „λόγω εν" verstünden. Auf diese Weise ergäbe sich erneut eine Konklusion, die einen Widerspruch zu den eleatischen Prämissen darstellt, bedeutet sie doch eine Verletzung des Principium contradictionis, das die Eleaten ihren Überlegungen als sicheres Prinzip zugrunde legen.93 Daß die Eleaten letztlich den heraklitischen λόγος von der Einheit der Gegensätze behaupten würden, wenn sie die Einheit des Seienden im Sinne des „λόγω έν" verstünden, begründet Aristoteles wie folgt: Wenn alles Seiende in dem Sinne Eines wäre, wie z.B. Kleid und Gewand dem Wesensbegriff nach Eines sind, so wäre auch das Gut-sein und Schlecht-sein Eines (b21-22), weil es dann ja nur einen einzigen Wesensbegriff geben könnte. Folglich wäre auch das Gut-sein und Nicht-gut-sein dasselbe (b22). Diese weitere Konklusion, in der 92
9
Vgl. Phys. IV.4, 212a30, wo Aristoteles umgekehrt daraufhinweist, daß mit dem Begrenzten zugleich die Grenzen gegeben sind. Zum Zusammenhang der beiden Begriffe 'Grenze' und 'Prinzip' vgl. auch Met. V.17, 1022al0: „Denn das Prinzip (άρχή) ist eine Grenze, aber nicht jede Grenze ist ein Prinzip." So kann z.B. in dem Satz des Parmenides „daß [es] ist und daß [es] nicht nicht sein kann" (ή μέν οπως έστιν τε και ώς ούκ έστι μή είναι: Frg. Β2, Ζ.3) der erste Versuch einer begrifflichen Fassung des Principium contradictionis gesehen werden.
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das „Schlecht-sein" durch das „Nicht-gut-sein" ersetzt wird, bedeutet eine Zuspitzung der Argumentation, deren Ziel in einer formalen Verletzung des Principium contradictionis liegt, das Aristoteles bekanntlich wie folgt formuliert: Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung (und dazu mögen noch die anderen näheren Bestimmungen hinzugefügt sein, mit denen wir logischen Einwürfen ausweichen) unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann [τό γαρ αύτό αμα ύπάρχειν τε και μή ύπάρχειν αδύνατον τω αϋτω και κατά τό αυτό], das ist das sicherste unter allen Prinzipien. (Met. IV.3, 1005bl9-23; Übers, nach Bonitz)
Die offenkundige Verletzung dieses Prinzips findet sich dann in der weiteren Konklusion „so daß dann dasselbe gut wäre und nicht gut, und [dasselbe] Mensch und Pferd [wäre]" (b22-23) zum Ausdruck gebracht, in der von ein und demselben (ταύτόν) gesagt wird, daß es gut und nicht gut, bzw. daß es Mensch und Pferd (d.h. Nicht-Mensch) sei.94 Die Konklusion besagt somit folgendes: Unter der Voraussetzung, daß alles dem λόγος nach Eines ist, wird einem Gegenstand, sobald ihm etwas zugesprochen wird, damit zugleich auch sein kontradiktorisches Gegenteil zugesprochen, welches bedeutet, daß ihm das zuerst Zugesprochene eigentlich wieder abgesprochen wird. Im Gegensatz zu der von mir vorgeschlagenen Übersetzung des Ausdrucks „ώστε ταύτόν έσται αγαθόν και οϋκ άγαθόν" (185b22-23) durch „so daß ein und dasselbe (Seiende) gut und nicht gut wäre" findet sich in der Sekundärliteratur auch die Übersetzung „so daß dann dasselbe würden »gut« und »nicht-gut«, [••·]" (vgl. Zekl, 1987: 9).95 Der Unterschied zwischen beiden Übersetzungen liegt in folgendem: Sieht die zuletzt genannte Übersetzung in diesem Satz eine Behauptung der Identität der Qualitäten „gut" und „nicht-gut" und somit letztlich nur eine Wiederholung des bereits in b22-23 Gesagten, so sehe ich in dem Satz die Behauptung, daß ein und dasselbe (Ding) gut und nicht gut wäre, welches keine Wiederholung von b22-23 darstellt, sondern sich vielmehr als eine Konklusion aus b22-23 erweist und auf diese Weise dem verknüpfenden Partikel „ώστε" (b22) eher gerecht wird. Daß Aristoteles in b22-23 etwas Neues gegenüber dem zuvor Gesagten anfuhrt, wird auch aus der sprachlichen Formulierung deutlich: Sprach er zuvor vom Gutsein (,,άγαθω είναι": b22) im Sinne einer Qualität, so deutet die Rede vom „έσται άγαθόν" (b22-23) auf eine Prädikation hin. Auch die Ersetzung des ,,μή άγαθω είναι" (b22) durch das ,,οΰκ άγαθόν
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Nun könnte man zwar einwenden, daß Aristoteles mit dem Beispiel vom „Gut-sein" und „Nicht-gut-sein" kein sehr glückliches Beispiel gewählt habe, da ja ein und dasselbe dem einen als gut, dem anderen aber als nicht-gut erscheinen kann, doch ist hierbei zu bedenken, daß in dem angeführten Falle demselben das Gut-sein und Nicht-gut-sein in verschiedenen Hinsichten (für den einen - für den anderen) zugesprochen wird, so daß hier das Gut-sein und Nicht-gutsein gerade nicht als ein dem λόγος nach Eines verstanden wird. Vgl. auch Prantl (1854: 15: „[...] so daß Gut und Nicht-gut und Mensch und Pferd, Alles das nämliche wäre; [...]"), Wagner (1967: 9: „mit der Folge, daß es zur Identität zwischen Gut und Nichtgut und Mensch und Pferd kommt [...]") und Charlton (1970: 4). Gohlke (1956: 33) läßt diesen Satz in der Übersetzung ganz weg, was darauf hindeutet, daß er in ihm vermutlich nur eine Wiederholung von bereits Gesagtem sieht. Die Übersetzungen von Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 339) und Wicksteed/Comford (1980: 25) entsprechen der von mir vorgeschlagenen Übersetzung.
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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(έσται)" (b22-23) spricht dafür, daß wir es in b22-23 nicht mit einer Identifikation, sondern vielmehr mit einer Prädikation zu tun haben. Aus dieser Konklusion (b22-23), durch die die Verletzung des Principium contradictionis offenkundig wird, ergibt sich für Aristoteles dann folgende abschließende Beurteilung: „Und die These [ό λόγος]96 ginge dann nicht über das Eins-sein des Seienden [ού περί τοΰ έν είναι τά δντα], sondern über das Nichts-sein/Nicht-eines-sein [περί τοΰ μηδέν]" (b23-24). Der Grund, warum die These der Eleaten dann über das Nichts-sein ginge, ist darin zu sehen, daß dasjenige, das sowohl gut als auch nicht gut ist, gemäß dem Principium contradictionis unmöglich existieren kann. Folglich wäre selbst die grundlegendste Unterscheidung von Parmenides, nämlich die Unterscheidung zwischen Seiendem und Nichtseiendem aufgehoben. Aristoteles verwendet für das „Nichts bzw. Nichtseiende" bewußt das Wort „μηδέν" anstelle des Ausdrucks ,,τό μή δν", da sich das Wort „μηδέν" („nichts") sprachlich aus „μηδέ έν" („auch nicht eines") zusammensetzt und Aristoteles auf diese Weise andeuten kann, daß die Eleaten nicht nur über „Nichts", sondern vor allem auch über „Nicht-Eines" handeln würden, was einen Widerspruch zur Ausgangsprämisse darstellt. Diese Konklusion ergibt sich nicht nur daraus, daß dasjenige, welches gut und nicht gut ist, gemäß dem Principium contradictionis nicht existieren kann und als dieses 'nichts' folglich auch 'nicht eines' wäre, sondern auch daraus, daß dasselbe, wenn alles dem λόγος nach Eines ist, analog zu „gut und nicht-gut" auch „eines und nicht-eines" wäre. Mit anderen Worten: In der Prämisse „alles ist dem λόγος nach eines" ist bereits die widersprüchliche Konklusion enthalten, daß es auch nicht eines ist. In diesem Sinne stellt die These, daß alles dem λόγος nach eines ist, in Analogie zum heraklitischen λόγος vom „πάντα ρε?' einen λόγος dar, der sich selbst zu Fall bringt. In einer weiteren Konsequenz weist Aristoteles daraufhin, daß „auch das Sobeschaffen-sein und So-viel-sein dasselbe wäre" (b25). Die These „alles ist dem λόγος nach eines" würde somit auch kategoriale Unterschiede zwischen Quantitäten und Qualitäten aufheben, so daß die quantitative Behauptung des Melissos vom Unbegrenztsein des Seienden letztlich mit der qualitativen Behauptung des Parmenides vom Begrenztsein des Seienden gleichbedeutend wäre. Hat Aristoteles gezeigt, daß die Annahme „είναι εν τό παν" sowohl hinsichtlich des „öv" als auch hinsichtlich des ,,έν" zu widersprüchlichen Konklusionen führt, so wird er in Kapitel 1.3 zeigen, daß die Eleaten auch fehlerhafte Schlüsse aus dieser Annahme ziehen. Bevor er dazu übergeht, läßt er aber noch eine Bemerkung über die Nachfahren der Eleaten folgen, deren Funktion darin zu sehen ist, daß das in 185bl 1-16 problematisierte Verhältnis von Ganzem und Teil vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, die die Nachfahren mit der eleatischen These bekamen, einer vorläufigen Lösung zugeführt werden soll.
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Gemeint ist die eleatische These von der „absoluten Einheit des Seienden", die auf die dargestellte Weise mit dem heraklitischen λόγος (185b20) zusammenfallen würde.
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2.7 Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten (185b25-186 a3) Bereits die Nachfahren der Eleaten waren sich der mit der eleatischen Annahme verbundenen Schwierigkeiten bewußt und haben verschiedene Lösungswege vorgeschlagen: Die Nachfahren der Alten waren jedoch beunruhigt darüber, daß es ihnen nicht geschehe, daß ein und dasselbe Eines und vieles würde. Deshalb schlossen die einen das Wort »ist« aus, wie z.B. Lykophron, die anderen formten die Redeweise um und [sagten dann] nicht mehr »der Mensch ist weiß«, sondern »er wurde weiß gemacht« [ό άνθρωπος oi> λ ε υ κ ό ς έστιν ά λ λ α λελεΰκωται]; und anstelle von »er ist ein Gehender« »er geht« [ούδέ βαδίζων έ σ τ ί ν ά λ λ α βαδίζει]; [und das alles] damit sie nicht dadurch, daß sie ein »ist« setzen, das Eine zu vielem machen, in der Meinung, daß das Eine oder das Seiende auf einfache Weise gesagt wird. (1.2, 185b25-32)
Die bereits mehrfach angedeutete Spannung zwischen den Begriffen des Einen und Vielen, die Aristoteles in der Bemerkung über das Verhältnis von Ganzem und Teil in aporetischer Form zugespitzt hat, entwickelte sich vor allem für die Nachfahren von Parmenides und Melissos zu einem ernsthaften Problem. Angesichts der Aporien von Einheit und Vielheit galt es, das zweifache eleatische „Erbe" - einerseits die Gültigkeit des Principium contradictions, dem zufolge sie meinten, daß dasselbe nicht zugleich eines und vieles sein könne, und andererseits die eleatische These vom „είναι έν τό παν" - zu bewahren. Zu diesem Zwecke ließen (i) die einen (,,οί μέν": b27), wie z.B. Lykophron,97 das Wort „έστίν" wegfallen, während (ii) die anderen (,,οί δέ": b28)98 die Redeweise (vgl. „την λέξιν") umformten und statt „der Mensch ist weiß/ein Weißer)"99 (ό άνθρωπος λευκός έστιν) nun „er habe sich weiß gemacht/er wurde weiß gemacht" (λελεύκωται) 100 und statt „er ist ein Gehender" (βαδίζων έστίν) nun „er geht" (βαδίζει) sagten. 97 98
99 100
Lykophron war ein Schüler des Gorgias. In Pol. III.9, 1280bl0 nennt Aristoteles ihn „den Sophisten". Aristoteles nennt keine Namen. Von den Interpreten sind verschiedene Vorschlage gemacht worden, wen Aristoteles hier gemeint haben könnte (vgl. Ross, 1936: 469): So denkt Themistius an Piaton (vgl. Sophistes 251b), Philoponus an den sokratischen Menedemus von Eretria, Zeller an die Zyniker und den Megariker Stilpo und Apelt an Antisthenes (den Megariker) und die Eretrier. Der Satz „o άνθρωπος λευκός εστίν" kann im Deutschen sowohl durch (a) „der Mensch ist weiß" als auch durch (b) „der Mensch ist ein Weißer" übersetzt werden. Das Wort „λελεΰκωται" als Perfekt der 3. Pers. Sing., Medium/Passiv des Verbs ,,λευκαίνω" („weiß machen", „weiß färben", „weißen") stellt eine zwar grammatisch korrekt gebildete, jedoch insofern ungewöhnliche Ausdrucksform für die Tatsache, daß ein Mensch weiß ist, dar, als es wörtlich übersetzt bedeutet: „er hat sich weiß gemacht" (vgl. Gohlke (1956: 34) oder „er wurde weiß gemacht". In diesem Sinne übersetzen auch Wagner (1967: 9: „Der Mensch erhielt die weiße Farbe"), Hardie/Gaye (1930: „he has been whitened") und Code (1976 a: 168: „that the man is not [the] white [thing], but rather has-been-whitened, [...]."). Die Obersetzung von „λελεύκωται" als „has-been-whitened" ist von Williams (1985: 75, Fn.13) kritisiert worden, weil sie im Unterschied zum Griechischen aus mehreren Wörtern besteht und zudem auf das Verb „to be" zurückgreift, das die Nachfahren durch die Umformung der Redeweise gerade vermeiden wollten. Williams eigener Übersetzungsvorschlag - „the man whitizes" - scheint mir jedoch aus anderen Gründen ebenso unglücklich zu sein. Zwar spiegelt er gut die Ungewöhnlichkeit der Ausdrucksweise wieder, doch stellt „whitizes" im Gegensatz zu „λελεύκωται" einen Neologismus dar. Zudem unterschlägt Williams mit dem Ausdruck „whitizes" die perfekti-
Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten
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Beide Gruppen stimmen darin überein, daß sie in ihrer Redeweise kein ,,έστίν" mehr verwenden.101 Sie unterscheiden sich jedoch insofern voneinander, als die erste Gruppe das ,,έστίν" ersatzlos streicht - und auf diese Weise grammatisch unvollständige Sätze wie z.B. „Sokrates weiß" und „Sokrates Mensch" erhält -,102 während die zweite Gruppe das ,,έστίν" durch eine andere Verbalform ersetzt. So erhalten sie zwar einen grammatisch korrekten Satz, doch erscheint dieser in der alltäglichen Rede mitunter als ungewöhnlich. Aristoteles sieht den Grund für diese sprachlichen Umformungen bei den Nachfahren darin, daß diese die Sorge hatten, durch das Setzen eines „ist" das Eine zu Vielem zu machen (185b30-31). Nun stellt sich allerdings die Frage, warum ein Satz wie „Σωκράτης λευκός έστιν" das Eine zu Vielem macht, und wie dies durch die sprachliche Umgestaltung „Σωκράτης λευκός" oder „Σωκράτης λελεύκωται" vermieden werden kann? Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Satz „Σωκράτης λευκός έστιν" sowohl als eine einfache Prädikation im Sinne von „Sokrates ist weiß" als auch als eine identifikative Prädikation im Sinne von „Sokrates ist ein Weißer" bzw. „Sokrates ist etwas, was weiß ist" verstanden werden kann. Im zweiten Fall wird Sokrates mit einem Weißen bzw. mit etwas, das weiß ist, gleichgesetzt, und das „έστιν" hat hier eine identifikative Funktion, weshalb es so scheint, als hätte man zwei Dinge, die in einer Relation zueinander stehen: Sokrates und einen Weißen, die aus dem Grunde eine Zweiheit darstellen, da die Ausdrücke „Weißes" und „Sokrates" ihrer Bedeutung nach nicht deckungsgleich sind.103 Durch die Streichung des pro-
101
ve Bedeutung des Ausdrucks „λελεύκωται". Die Verwendung des Perfekts in „λελεύκωται" hat jedoch einen guten Grund. Will man nämlich den Satz „er ist weiß" (λευκός έστιν) mit Hilfe des Verbs ,,λευκαίνω" umformulieren, ohne dabei seinen semantischen Inhalt wesentlich zu verändern, so darf nicht das Präsens, sondern es muß das Perfekt verwendet werden: „er ist weiß" ist nämlich nicht gleichbedeutend mit „er macht sich weiß" oder „er wird weiß gemacht", da im ersten Fall ein „weiß-sein" und im zweiten Fall ein „weiß-werden" prädiziert wird; ein Unterschied, der, wie wir sehen werden, für die aristotelische Physik von zentraler Bedeutung ist: Etwas, das weiß wird, ist ja gerade (noch) nicht etwas, das weiß ist. Verwendet man aber das Perfekt „er wurde weiß gemacht", so steht dies nicht im Widerspruch zu „er ist weiß", sondern es beschreibt gleichsam die Voraussetzung ftlr das „weiß-sein". Auch wenn sich „λελεύκωται" semantisch von „λευκός έστιν" unterscheidet - das eine ist eine Folge aus dem anderen so stehen sie doch zumindest nicht im Widerspruch zueinander. Aus diesen Gründen scheint mir die angemessenste Übersetzung für „λελεύκωται" „er wurde weiß gemacht" zu sein (vgl. auch Barnes' Vorschlag (1982: 255): „Socrates has paled."). In den MSS findet sich anstelle des von Philoponus, Simplicius und Themistius vorgeschlagenen „λελεύκωται" das Partizip ,,λελευκωμένος". Daß hier jedoch eher „λελεύκωται" stehen muß, wird aus dem zweiten Beispiel „βαδίζων" deutlich, wo ein Partizip j a gerade aus dem Grunde ersetzt wird, weil es ein έστίν impliziert. Zekls Übersetzung (1987: 11) der Beispielsätze mit Hilfe der Neologismen „er weißt" - vgl. auch Prantls (1854: 15) Variante „er bleicht" - und „er wegt" ist deshalb unangemessen, weil die griechischen Formen „λελεύκωται" und,βαδίζει" selbst keine Neologismen darstellen. Vgl. Ross (1936: 469), der daraufhinweist, daß Lykophron den Ausführungen des Themistius (Paraphrase 6. 28) zufolge das „ist" nur in Existenzaussagen wie z.B. in „Σωκράτης ϊστιν" erlaubte, nicht aber im Sinne der Kopula: Statt „Σωκράτης λευκός έστιν" erhalten wir nun „Σωκράτης λευκός" (vgl. auch Wagner, 1967: 404). (Derartige Prädikationen ohne Kopula finden sich z.B. in der russischen Sprache: vgl. „S H6MCU" - „ich bin Deutscher"). Vgl. auch Code (1976 a: 168): „The ancient thinkers to whom he [Aristoteles] refers us endorsed the practice of reparsing because they thought that the word „is" (έστι) expressed a binary relation between two objects, and apparently were construing that relation as one which could only hold between two objects if they were the same object." Williams (1985: 75 f.) be-
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
blematischen Ausdrucks ,,έστιν" bzw. durch dessen Ersetzung durch ein finites Verb meinten die Nachfahren der Eleaten, diese Problematik vermeiden zu können. Dem hält Aristoteles nun entgegen: Das Seiende aber ist eine Vielheit [πολλά δέ τά δντα] entweder dem Begriffe nach [λόγω] (wie z.B. Weißsein und Gebildetsein verschieden sind, jedoch kann ein und dasselbe beides sein; also ist das Eine vieles) oder der Teilung nach [διαιρέσει], wie z.B. das Ganze und [seine] Teile. (1.2, 185b32-34)
Mit der Entgegnung, daß das Seiende eine Vielheit ist (πολλά δέ τά δντα) greift Aristoteles den Ausgangspunkt der Nachfahren an, nämlich die Annahme, daß das έν und das öv nur auf einfache Weise gesagt werden (b31 -32). Aristoteles begegnet dieser Annahme mit dem Hinweis, daß ein und dasselbe Seiende in sich eine Vielheit darstellen kann, und zwar entweder (a) dem Begriff (λόγω) oder (b) der Teilung nach (διαιρέσει), wobei er für beides ein Beispiel anführt: (a) So sind Weißsein und Gebildetsein - bzw. das Sein für Weiß (τό λευκώ είναι) und das Sein für Gebildet (τό μουσικω είναι) - verschieden, wobei hier nicht eine kategoriale Verschiedenheit des Seins (wie zwischen ουσία und ποιόν), sondern eine semantische Verschiedenheit zweier Eigenschaften gemeint ist. Diese Verschiedenheit wird daraus ersichtlich, daß nicht alles, was weiß ist, auch gebildet sein muß und umgekehrt. Trotz dieser Verschiedenheit kann ein und dasselbe dennoch sowohl weiß (Weißes) als auch gebildet (Gebildetes) sein, woraus folgt, daß ein Seiendes (z.B. Sokrates) vieles (z.B. weiß und gebildet) sein kann (b33-34). (b) Aber auch der (materiellen) Teilung nach (διαιρέσει) ist das Seiende vieles; nämlich als ein Ganzes, das aus vielen Teilen besteht. Hier aber gerieten sie in Schwierigkeiten und stimmten zu, daß das Eine Vieles ist als ob es nicht möglich wäre, daß ein und dasselbe sowohl eines als auch vieles ist, nur nicht Widersprechendes. Denn das Eine existiert sowohl der Möglichkeit wie der Wirklichkeit nach. (1.2, 185b34-186a3).
Mit der Hinzufügung „nur nicht Widersprechendes", womit gemeint ist, daß ein und dasselbe nicht zugleich und in derselben Hinsicht z.B. sowohl ein Gebildetes als auch ein Ungebildetes sein kann, betont Aristoteles ausdrücklich, daß Einheit und Vielheit nicht notwendigerweise einen Widerspruch darstellen müssen, sofern man zwischen verschiedenen Hinsichten (der Möglichkeit nach - der Wirklichkeit nach) differenziert. Nachdem die Nachfahren also zugestimmt haben, daß das Eine vieles ist, scheint die unmittelbar folgende Einschränkung „als ob es nicht möglich wäre, daß dasselbe Eines und Vieles ist" zunächst keinen Sinn zu ergeben. Ross (1936: 470), der diese Schwierigkeit sieht, schlägt folgende Lösung vor: Seiner Ansicht zufolge ist nach dem „ ε ί ν α ι " (al) eine Pause zu setzen und das nachfolgende ,,ώσπερ ούκ ένδεχόμενον..." (al-3) nicht, wie der Text nahelegt, auf das
merkt in diesem Zusammenhang: „The thinkers Aristotle is criticizing may have been like Russell, who thought it was 'a disgrace to the human race' that it used the same word 'is' to express, amongst other things, both predication and identity; and they may have wished to scrap the copulative or predicative use of'be' altogether, to avoid the possibility of equivocation."
Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten
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,,ώμολόγουν" (al), sondern auf das ,,ήπόρουν" (al) zu beziehen, so daß sich folgender Sinn ergibt: 'But at this point they began to be in difficulties, and to admit (in view o f the facts) that the same thing is one and many (though they thought this absurd in view o f their assumptions) - as if there were any real difficulty in the same thing's being one and many, provided it is not the one and many that are opposed to one another; a thing may be actually one and potentially many' (i.e. divisible into many parts).
Diese Lösung erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als unbefriedigend. Denn einerseits bezieht sich das ,,ώσπερ ούκ ένδεχόμενον..." offensichtlich auf das ,,ώμολόγουν", und andererseits kann ein Zustimmen der Nachfahren gegen ihre Überzeugung wohl kaum noch als ein „Zustimmen" bezeichnet werden.104 Die Lösung dieser Schwierigkeit ist vielmehr in dem Satz ,,τό εν πολλά είναι" (186al) zu sehen, den Ross offenkundig als gleichbedeutend mit dem Satz ,,ταύτόν εν τε καί πολλά είναι" (186a2) betrachtet.'05 Schaut man aber genauer hin, so wird deutlich, daß beide Sätze einen unterschiedlichen Sinn haben: Während der Satz ,,ταύτόν έν τε καί πολλά είναι" (186a2) den Standpunkt von Aristoteles wiedergibt - nämlich den Gedanken, daß dasselbe sowohl eines als auch vieles ist -, stellt der Satz ,,τό έν πολλά είναι" (186al) diejenige These dar, der die Nachfahren schließlich zustimmten - nämlich die These, daß das Eine vieles ist, und zwar in dem Sinne vieles, daß es nicht zugleich noch eines ist (bzw. in dem Sinne, daß es nur Vieles ist). Der Unterschied zwischen beiden Sätzen kommt sprachlich in dem ,,τε καί" zum Ausdruck, das in dem Satz 186al fehlt. Vor diesem Hintergrund bereitet das ,,ώσπερ ούκ ένδεχόμενον..." nun insofern keine Probleme mehr, als Aristoteles an besagter Stelle folgendes zum Ausdruck bringt: „Die Nachfahren gerieten an diesem Punkt in Aporien und räumten ein,106 daß das Eine [nicht mehr Eines, sondern nur] Vieles ist - als ob es nicht möglich ist, daß dasselbe sowohl Eines wie Vieles ist." Mit anderen Worten: Aufgrund der angeführten Probleme - womit vor allem das Problem des Verhältnisses von Teil und Ganzem gemeint ist'07 - kamen die Nachfahren schließlich zu dem Ergebnis, daß eine der beiden Grundannahmen entweder (a) das Principium contradictionis oder (b) das „είναι έν τό πάν" 104
Den letzten Punkt betont auch Gigon (1966: 142 f), der davon ausgeht, daß der Text an dieser Stelle durch einen Redaktor verdorben wurde und keine Äußerung von Aristoteles darstellt. Er übersetzt den ersten Satz mit „that the same thing is one and many" (S. 470), obgleich von einem „selben Ding" („same thing") hier noch gar keine Rede ist. Ebenso scheinen auch Hardie/ Gaye (1930), Wagner (1967: 9), Gohlke (1956: 34), Carteron ( 2 1952: 33), Gershenson/Greenberg (1962: 141) und Wicksteed/Comford (1980: 27) keinen Unterschied zwischen beiden Sätzen zu sehen; zumindest hat keiner der Interpreten explizit auf einen Unterschied der beiden Satze aufmerksam gemacht. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist das ,,ώμολόγουν" eher als „sie gestanden zu" bzw. „sie räumten ein" zu übersetzen, da die Obersetzung „sie stimmten zu" den Eindruck erwecken könnte, daß sie der aristotelischen Ansicht zustimmen würden, was sie faktisch gerade nicht tun. Aristoteles fügt das ,,ένταΰτα δέ ήδη ήπόρουν" unmittelbar an das Beispiel von Teil und Ganzem an. Haben die Nachfahren hinsichtlich der begrifflichen Vielheit noch eine Lösung durch die Umformung der Redeweise versucht, so gerieten sie bei der Problematik von Teil und Ganzem vollends in Aporien.
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aufgegeben werden müsse. 108 Um das Principium contradictionis zu bewahren, das sie in einem gleichzeitigen Bestehen von etwas als Einheit und Vielheit verletzt sahen, gaben sie die Annahme „είναι εν τό παν" auf und wechselten zu der dieser konträren Position „είναι πολλά τά πάντα" über. Auf eben dieses Überwechseln zur konträren Position richtet Aristoteles seine Kritik durch das „als ob es nicht möglich wäre ...", so daß er hier emeut den Mittelweg zwischen zwei einander konträren Positionen („es gibt nur eines" - „es gibt nur vieles") als den richtigen Lösungsweg skizziert. Die vorgelegte Interpretation des Satzes ,,τό έν π ο λ λ ά είναι" (186al) im Sinne von „das Eine ist Vieles [und nicht mehr Eines]" läßt sich auch durch einige Überlieferungen stützen, in denen den eleatischen Denkern Melissos und Zenon Gedanken zugeschrieben werden, die die Nachfahren letztlich zur Entscheidung gefuhrt haben könnten, daß das Eine nur noch Vieles sei. So wird Melissos in der pseudo-aristotelischen Abhandlung „De Melisso, Xenophane, Gorgia" der Gedanke zugeschrieben, daß ein „ungleiches Eines" nicht mehr Eines, sondern vieles wäre. 109 In bezug auf Zenon finden sich folgende Gedanken überliefert, die Simplicius zu der Ansicht führten, daß Eudemus der Auffassung war, Zenon habe mit ihnen gar den Monismus der Eleaten angegriffen: 110 [1] Alexander [von Aphrodisias, 2. Jh. n. Chr.] sagt, das zweite [von Aristoteles an einer »Physik«-Stelle erwähnte] Argument, d.h. jenes aufgrund der Zweiteilung, stamme von Zenon. Dieser behaupte, daß, wenn das, was ist, Ausdehnung hat und geteilt wird, das, was ist, Vieles und nicht mehr Eines sein wird [πολλά τό δν και ούχ εν ετι εσεσθαι], und erhärte mit dieser Behauptung, daß das Eine nicht zu den seienden Dingen gehöre [oder: daß keines der seienden Dinge »eins« ist]. Alexander scheint jedoch seine Annahme, daß Zenon das Eine abschaffe, den Ausführungen des Eudem entnommen zu haben. (Simplikios in Phys. 138,3ff., 138,29ff.; vgl. Eudemos fr.37a Wehrli; Übers, nach Mansfeld) [2] Man sagt [so der Aristotelesschüler Eudemos, der sich dem Wortlaut nach auf mündliche Uberlieferungen beruft], Zenon habe behauptet, wenn irgend jemand ihm erkläre, was das Eine sei, so wäre er imstande, über die seienden Dinge [die Wahrheit] auszusagen. Sein Problem war anscheinend, daß von jedem Einzelnen der wahrnehmbaren Dinge vieles ausgesagt werden kann im Sinne der kategorialen Bestimmungen [dieses Argument der aristotelisch-kategorialen Vieldeutigkeit geht nicht auf Zenon zurück], wie es auch als Vieles angesprochen werden kann aufgrund der Teilung, während er andererseits den Punkt als Nichts [varia lectio: nicht eins]
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Der Interpretation von Ross zufolge würden die Nachfahren - ihrem Selbstverständnis zufolge letztlich auch das Principium contradictionis und somit beide Grundannahmen aufgeben, da sie ja noch nicht in der Lage waren, zu verstehen, wie es möglich ist, daß etwas, das zugleich eines und vieles ist, nicht eine Verletzung des Principium contradictionis darstellt. Vgl. Melissos, Frg. DK 30A5 (M.X.G., 974al2-14): „Wenn es aber eines sei, müsse es nach allen Seiten gleich sein [όμοιον είναι]. Wenn es nämlich ungleich wäre [άνόμοιον], wären es mehrere Seiende und nicht mehr Eines, sondern Vieles [πλείω οντα ούκ αν 'έτι εν εϊναν, ά λ λ α πολλά]." Vgl. Eudemus αρ. Simplikion in Phys. 97, 12 (DK 29A16) und Simplikios in Phys. 99, 7 (DK 29A21). Vgl. dazu KRS ( 2 1983: 278-9, Fn.2), die diese Einschätzung der Auffassung von Eudemus für nicht wahrscheinlich halten und der alternativen Eudemus-Interpretation von Alexander den Vorzug geben (vgl. Simplikios in Phys. 97, 13 (DK 29 A21)), der zufolge Eudemus Zenon nur die Ansicht zuschrieb, man könne keine kohärente Darstellung der Einheiten geben, aus denen eine Vielheit vermutlich bestehen muß.
Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten
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ansetzte: denn etwas, das weder größer mache, wenn hinzugefügt, noch kleiner, wenn abgezogen, gehöre seiner Überzeugung nach nicht zu den seienden Dingen. (Simplikios in Phys. 97,12ff. = 138,32ff.; vgl. Eudemos fr.37a Wehrli (DK 29A16, A21); Übers, nach Mansfeld) 111 [3] An dieser [Eudemos-] Stelle scheint das Argument Zenons verschieden zu sein von dem in seinem Buch enthaltenen, das auch Piaton in seinem »Parmenides« erwähnt. Dort zeigt er [Zenon] nämlich, daß Vieles nicht ist, e contrario die Aussage des Parmenides, daß Eins ist, stützend. Hier aber, wie Eudemos sagt, schafft er auch das Eine [die Eins] ab (denn er spricht über den Punkt im selben Sinne wie über die Eins) und läßt gewähren, daß Vieles ist. Alexander jedoch glaubt, daß Eudemos auch hier über Zenon als über einen, der das Viele abgeschafft habe, spricht. »Denn«, sagt er, »wie Eudemos berichtet, versuchte Parmenides' Schüler Zenon zu zeigen, daß es nicht möglich ist, daß die seienden Dinge viele sind, indem nichts unter den seienden Dingen eins ist, wenn andererseits das Viele eine Mannigfaltigkeit von Einheiten bildet.« (Simplikios in Phys. 99,7ff.; vgl. Eudemos fr.37a Wehrli (DK 29A21); Übers, nach Mansfeld) Die angeführten Textstellen machen deutlich, daß Zenon den Ausführungen des Eudemos zufolge die Begriffe von 'Einheit' und 'Vielheit' als strenge Alternativen betrachtet hat. Da die Nachfahren der Eleaten dieser strengen Alternative von Einheit und Vielheit zustimmten," 2 konnten sie in der gleichzeitigen Existenz von etwas als sowohl Einheit wie auch Vielheit nur eine Verletzung des Principium contradictionis sehen. Daß dasselbe sowohl eines als auch vieles sein kann, ohne daß dies eine Verletzung des Principium contradictionis bedeutet, begründet Aristoteles damit, daß „das Eine sowohl der Möglichkeit wie auch der Wirklichkeit nach existiert" (186a3). Charlton verdeutlicht diesen Gedanken wie folgt: Aristotle's remark, 186 a3, that a thing may be one in possibility or in actuality, may be illustrated thus: a cake which has not been cut is one thing in actuality but several slices in possibility; bricks which have not yet been built into a house are several things in actuality but one thing in possibility. (Charlton, 1970: 59) Neben den bisherigen Argumenten macht auch diese Differenzierung zwischen den Hinsichten von Möglichkeit und Wirklichkeit abschließend betrachtet deutlich, daß es Aristoteles in seiner Auseinandersetzung mit den Eleaten weniger um den Nachweis geht, daß es viele selbständige Dinge gibt, als vielmehr um den Nachweis, daß ein einzelnes Seiendes, das für sich betrachtet eine Einheit darstellt, dennoch zugleich auch eine Vielheit darstellen kann." 3 Diese Betonung des Aspekts der inneren Vielheit eines Einheitlichen findet seinen Grund ver111
112
'13
Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Phys. 1.2, 185b32-34, wo es in einer auffallenden Parallele zu dem angeführten Eudemos-Fragment heißt, daß etwas sowohl dem Begriff (λόγω) als auch der Teilung (διαιρέσει) nach vieles ist (vgl. 185b32-34). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bames (1982: 253-6). Nebenbei bemerkt hat Prauss (1966: 124 f.) überzeugend dargelegt, daß der Eleatismus als strenge Alternative von Einheit und Vielheit auch noch in der frühen Ideenlehre Piatons eine zentrale Rolle spielt. Dem von Aristoteles in den Vordergrund gestellten Aspekt der inneren Vielheit eines Einheitlichen werden wir ebenfalls in Kapitel 1.3 begegnen. So spricht Aristoteles in der die Auseinandersetzung mit den Eleaten abschließenden Konklusion ,,οτι μεν ο ΰ ν ο ϋ τ ω ς εν ε ί ν α ι χό δν α δ ύ ν α τ ο ν , δήλον" ( 1 8 7 a l 0 - l 1) vom ,,δν" bezeichnenderweise auch im Singular.
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mutlich darin, daß fllr Aristoteles gerade die innere Vielheit eines Einheitlichen eine Bedingung für die Möglichkeit von Bewegung darstellt. Insbesondere für die Möglichkeit einer Eigenschaftsveränderung ist dieser Aspekt der inneren Vielheit eines Einheitlichen bei Aristoteles von zentraler Bedeutung. Denn ein Mensch, der zugleich auch ein Ungebildeter ist, kann doch gerade aufgrund der Tatsache, daß er ein Mensch und ein Ungebildeter ist, zu einem Gebildeten werden und dabei doch Mensch bleiben (vgl. 1.7, 190a9-13). Gerade die von Aristoteles entdeckte ontische Differenz von Ding und Eigenschaft, die den Eleaten und deren Nachfahren noch unbekannt war, eröffnet zugleich die Möglichkeit, von etwas sowohl als Einheit als auch als Vielheit zu sprechen.
3. Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' 3.1 Eine Vorbemerkung zu einer er is tischen Argumentation
(186a4-10)
Wenn man also auf diese Weise herangeht, erscheint es als unmöglich, daß das Seiende [ τ α ο ν τ α ] [nur] Eines ist, und es ist nicht schwierig, aufzulösen, woraus sie ihre Beweise führen. Denn beide, sowohl Melissos wie Parmenides, ziehen ihre Schlüsse [ σ υ λ λ ο γ ί ζ ο ν τ α ι ] auf eristische Weise (denn sie machen falsche Annahmen und ihre Argumentationen sind nicht schlüssig [ ά σ υ λ λ ό γ ι σ τ ο ί ε ί σ ι ν ] . Besonders plump aber ist die des Melissos und sie beinhaltet keinerlei Schwierigkeit, sondern wenn nur eine einzige Widersinnigkeit zugegeben wird, so folgt das Übrige. Dies aber ist nichts Schwieriges.) 1 (1.3, 186a4-10)
Mit dem Hinweis, daß es unmöglich erscheint, daß das Seiende nur2 Eines ist, faßt Aristoteles das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zusammen. Ging es bisher um den Nachweis der Falschheit der eleatischen Annahme, so gilt es nun, zu zeigen, daß auch die Schlüsse, die die Eleaten aus dieser Annahme gezogen haben, fehlerhaft sind. Ein Grund für die Behandlung der fehlerhaften Schlüsse besteht darin, daß sich die These der Unbewegtheit des Seienden, die als zweites Moment neben der absoluten Einheit des Seienden der Grundannahme (185al214) widerspricht, bei den Eleaten - wie wir sehen werden - als Konklusion aus der Annahme der absoluten Einheit des Seienden ergibt. Daß die eleatischen Argumentationen eristisch (έριστικώς: 186a6) sind, begründet Aristoteles damit, daß sie sowohl falsche Prämissen annehmen als auch auf fehlerhafte Weise aus diesen falschen Prämissen schließen. Vergleichen wir dies mit den Bemerkungen, die Aristoteles in Top. 1.1, 100b23-101a4 3 über einen „eristischen Schluß" ausführt, so haben wir es hier mit dem dort an zweiter Stelle angeführten eristischen Schluß zu tun, der auf wahrscheinlichen oder scheinbar wahrscheinlichen Sätzen zu fußen scheint: Ein eristischer Schluß (Streitschluß) aber ist ein solcher, der auf nur scheinbar, nicht wirklich wahrscheinlichen Sätzen fußt, und ein solcher, der auf wahrscheinlichen oder scheinbar wahrscheinlichen Sätzen zu fußen scheint. [...] Der erste der genannten eristischen Schlüsse möge auch Schluß heißen, der andere immerhin eristischer
2
3
Zur Problematik dieser „doppelten" Textstelle vgl. die Anmerkungen zu 1.2, 185a9-12 auf S. 45, Fn. 15. Das „nur" ist hier sinngemäß zu ergänzen, denn Aristoteles hat ja gezeigt, daß das Seiende sehr wohl Eines sein kann, nur nicht ein Eines, das die Möglichkeit einer jeglichen Form von Vielheit ausschließt. Vgl. auch Soph. El. 2, 165b7-8.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' Schluß, aber nicht Schluß, da er zwar dem Scheine nach schließt, aber nicht wirklich. (Übers, nach Rolfes)
Exkurs: Die Unbewegtheit des Seienden als Folge der These „είναι έν τό παν" Daß die Eleaten ihre These von der Unbewegtheit des Seienden4 als Folge der Annahme „είναι έν τό πάν" verstanden, kann aus einer Betrachtung des in ihren Fragmenten Überlieferten verdeutlicht werden. Hierbei wird deutlich werden, daß Melissos die Unbewegtheit des Seienden vor allem aus dessen 'Einsheit' (έν) folgen läßt, während sich die Unbewegtheit des Seienden für Parmenides vor allem aus dessen 'Seiendheit' (öv) ergibt. Betrachtet man die Fragmente von Melissos, so gewinnt man den Eindruck, daß wir es mit einer Kette aufeinanderfolgender Konklusionen in Form einer „Deduktion der in der Existenz implizierten Eigenschaften"5 zu tun haben, die im Hinblick auf das Unbewegtsein des Seienden folgende Gestalt hat: (1) (2) (3)
(4) (5) (6)
Wenn es ein Seiendes ist (öv), dann ist es nicht geworden (ουκ έγένετο); es war immer und wird immer sein. [Frg. DK 30B1] Wenn es nicht geworden ist (ούκ έγένετο), dann hat es keinen Anfang (αρχή) und kein Ende (τελευτή). [Frg. DK 30B2] Wenn es keinen Anfang (αρχή) und kein Ende (τελευτή) hat, dann ist es (zeitlich und räumlich) unbegrenzt (άπειρον). [Frg. DK 30B2, DK 30B3, DK 30B4] Wenn es unbegrenzt ist (άπειρον), dann muß es Eines (εν) sein. [Vgl. Frg. DK 30B6] Wenn es Eines ist (έν), dann muß es nach allen Seiten gleich (δμοιον) sein. [Frg. DK 30A5] Wenn es Eines (έν) ist als Gleiches (δμοιον), dann gibt es kein Einbüßen, kein Größerwerden, kein Umgestaltetwerden, kein Erleiden und kein Anderswerden. [Frg. D K 3 0 B 7 ] . 6
Zudem findet sich bei Melissos folgendes Argument für die Unbewegtheit des Seienden: (Γ) (2')
Wenn es ein Seiendes (öv) ist, dann ist es voll (πλέων) und nicht leer (οΰδέ κ ε ν ε ό ν έστιν). Wenn es voll (πλέων) ist, dann ist es nicht bewegt (οΰδέ κινείται), [vgl. Frg. DK 30B7]
Die Darstellung macht deutlich, daß sich das Unbewegtsein des einen Seienden bei Melissos in einer Folge von Deduktionen einerseits unmittelbar aus dem 'Einssein' des Seienden (im Sinne des „δμοιον έν") und andererseits unmittel4
Zur Unbewegtheit des Seienden vgl. Melissos, Frg. DK 30B1, DK 30B7 und Parmenides, Frg. DK 28B8. Vgl. KRS ( 2 1983: 393): „deduction of the properties entailed by existence". Frg. DK 30B7: „και οϋτ' αν άπολλύοι τι οΰτε μείζον γίνοιτο ούτε μετακοσμέοιτο οϋτε άλγεΐ οϋτε άνιάται· ει γάρ τι τούτων πάσχοι, ούκ αν έτι εν εϊη. εί γάρ έτεροιοΰται, ανάγκη τό έόν μή όμοΐον είναι, άλλά άπόλλυσθαι τό πρόσθεν έόν, τό δέ ούκ έόν γίνεσθαι."
Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
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bar aus dem 'Vollsein' (πλέων) des Seienden ergibt. Mittelbar hingegen folgt das Unbewegtsein des Seienden insofern aus dem 'Seiendsein', als das 'Seiendsein' die oberste Prämisse der gesamten Deduktion darstellt, aus der sich sowohl das 'Einssein' als auch das 'Vollsein' des Seienden ergibt.7 Auch bei Parmenides ergibt sich das Unbewegtsein des Seienden als eine Folge aus dem „είναι έν τό παν", wobei jedoch im Unterschied zu Melissos nicht das 'Einssein', sondern das 'Seiendsein' die unmittelbare Prämisse darstellt, aus der das Unbewegtsein folgt: (1)
(2)
Wenn es ein Seiendes (öv) ist, dann kann es weder gewachsen/entstanden sein (αΰξηθέν, άρξάμενον, γενέσθαι) noch untergehen (ολλυσθαι). [Frg. DK 28B8, Z.5-21] Wenn es weder entstehen noch vergehen kann, dann existiert es „unbeweglich in den Grenzen großer Fesseln" (άκίνητον μ ε γ ά λ ω ν έ ν πείρασι δεσμών). [Vgl. Frg. DK 28B8, Z.26-31]
Parmenides schließt aus der Tatsache, daß es ein Seiendes ist, darauf, daß es unbewegt (άκίνητον) sein muß. Bewegung würde nämlich das Vorhandensein eines irgendwie „Nichtseienden" voraussetzen und somit 'etwas', das nach Ansicht von Parmenides im Gegensatz zum Seienden steht und gar nicht denkbar ist. „Werden" scheint von Parmenides als Gegensatz zum „Sein" begriffen zu werden.8
3.2 Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
(186al0-22)
Im Anschluß an seine methodische Vorbemerkung, die in einer Differenzierung der falschen Annahmen und fehlerhaften Schlüsse besteht, beginnt Aristoteles seine Untersuchung der ungültigen Schlüsse in bezug auf Melissos, da sich bei ihm sehr deutlich zeigt, daß er auf fehlerhafte Weise geschlossen hat (186a810):9
7
8
Zur Darstellung der Gedanken von Melissos in einer deduktiven Kette vgl. auch Barnes (1982: 181): „(A) Ο exists. [...]: (ΤΙ) Ο is ungenerated, [...]: (T2) Ο is eternal, [...]: (T3) Ο is temporally unlimited. [...]: (T4) Ο is spatially unlimited. [...]: (T5) Ο is unique. [...]: (T6) Ο is homogeneous. [...]: (T7) Ο does not alter, [...]: (T8) Ο is not destroyed, (T9) Ο does not grow, (T10) Ο is not rearranged, ( T i l ) Ο does not suffer pain, and: (T12) Ο does not suffer anguish. [...]: (T13) Ο is not empty, [...]: (T14) Ο is full. [...]: (T15) Ο does not move, and: (T16) Ο is not dense or rare. [...]: (T 17) Ο is not divided up." Vgl. auch Ross (1936: 472): „Melissus had evidently argued: If there is only one thing, τό öv, it cannot move, for in order to move it must have a space other than itself to move into." Vgl. KRS (21983: 251): „Lines 26-28 [Frg. 8] suggest the following argument: (1) It is impossible for what is to come into being or to perish. So (2) it exists unchangeably within the bonds of a limit. It is then natural to read lines 29-31 as spelling out the content of (2) more fully. So construed, they indicate a more complex inference from (1): (2a) it is held within the bonds of a limit which keeps it in on every side. So (2b) it remains the same and in the same place and stays on its own." Diese negative Beurteilung der Leistungen von Melissos gegenüber denen von Parmenides findet sich bei Aristoteles auch an anderen Stellen: Vgl. Phys. 1.2, 185al0-12; 1II.7, 207al5 und Met. 1.5, 986b25 f.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' Daß also Melissos fehlerhaft schließt [οτι μεν 1 0 οΰν παραλογίζεται], ist offenkundig. (1.3, 1 8 6 a l 0 - l 1)
Aristoteles wird die fehlerhaften Schlüsse des Melissos, die von Aristoteles - wie die verknüpfenden Partikel „είτα" (al3) und „έπειτα" (al6, al8) andeuten - als zusammenhängend betrachtet werden, im folgenden aufzeigen.
3.2.1 „Wenn alles Gewordene eine αρχή hat, so hat das Nicht-Gewordene keine" Denn er glaubte, erhalten zu haben [εϊληφέναι], 1 1 daß, wenn alles Gewordene einen Anfang hat [το γ ε ν ό μ ε ν ο ν εχει άρχήν απαν], dann das Nicht-Gewordene [τό μή γενόμενον] keinen Anfang hat. (1.3, 186al 1-13)
Aristoteles' erstes Beispiel für einen Fehlschluß bei Melissos ist das Beispiel einer ungültigen Konversion.12 Aus » q" folgt zwar „-• p", nicht aber folgt „-• p - > ^ q", wie Melissos nach Ansicht von Aristoteles offenkundig meint.13 Diese falsche Konversion führt Aristoteles auch in Soph. El. 28, 181a27-30 in bezug auf Melissos an, wobei er dort zudem daraufhinweist, daß Melissos hieraus geschlossen habe, daß die Welt (das Ganze) - wenn ungewor-
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Das ,,μέν" (alO) findet sein ergänzendes ,,δέ" in 186a22, wo die Untersuchung der fehlerhaften Schlüsse bei Parmenides beginnt. Das Wort „εϊληφέναι" bedeutet hier „eine Konklusion erhalten". Gemeint ist, daß Melissos glaubte, aus der Prämisse „alles Gewordene hat eine άρχή" zur Konklusion „das Nicht-Gewordene hat keine άρχή" übergehen zu können. Vgl. auch Ross (1936: 470), der daraufhinweist, daß „λαμβάνειν" normalerweise zwar die 'Annahme von Prämissen', und nicht das 'Ziehen einer Konklusion' meint, doch kann es auch für den Erwerb von Sätzen durch Schlüsse stehen, die als Prämissen für weitere Schlüsse fungieren (vgl. Phys. 216a6, An. pr. 24bl0, An. post. 79b27, Top. 100a29, 155b26). Daß die Konklusion „das Nicht-Gewordene hat keine άρχή" als Prämisse für weitere Schlüsse fungiert, wurde bereits in der Darstellung der deduktiven Gedankenfolge bei Melissos deutlich. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Soph. El. 28, 181a27-30. Obgleich die logische Operation einer Konversion nicht mit einem Syllogismus gleichzusetzen ist, spricht Aristoteles in bezug auf die Eleaten doch von ,,έριστικώς συλλογίζονται" (186a6) (vgl. auch 1.2, 185al0: ,,άσυλλόγιστοι εϊσιν"). Dies findet seinen Grund vermutlich darin, daß die ungültige Konversion in einem größeren Argumentationszusammenhang zu sehen ist, wie dies bereits durch die Rekonstruktion der Gedanken des Melissos in Form einer deduktiven Kette nahegelegt wurde. Gigon (1966: 145) ist der Ansicht, daß dieses Beispiel nur zusammen mit dem zweiten Beispiel verständlich wird, da sich das „abschätzige οϊεται εϊληφέναι" aus dem ersten Beispiel allein nicht erklären läßt. Wenn man nämlich den Begriff der άρχή hier im Sinne eines zeitlichen Anfangs versteht, so liegt eine These vor, die nach Ansicht von Gigon „auch von Aristoteles her schwer zu bestreiten ist". Gigon scheint jedoch zu übersehen, daß es hier nicht primär um die Frage geht, ob die Konklusion „daß das Nicht-Gewordene keine άρχή hat" wahr oder falsch ist; vielmehr geht es Aristoteles um die Frage, wie Melissos zu dieser Konklusion gelangt. Und dies geschieht offenkundig durch eine ungültige Konversion. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Barnes (1982: 196): „Those who are schooled in formal logic, and acquainted with the complexities of the conditional, may despise Melissus for committing so gross a blunder. But the logic of conditionals is remarkably difficult to apprehend; in particular, it is easy to reason that if Ρ implies not-ζ), then not-/' cannot also imply not-ζ? and so must imply Q."
D i e ungültigen Schlüsse bei M e l i s s o s
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den - auch unbegrenzt (άπειρον) sei.' 4 Aristoteles bezieht sich mit dieser falschen Konversion vermutlich auf das Fragment DK 30B2,' 5 wo Melissos, nachdem er in Fragment DK 30B1 gezeigt hat, daß (jedes) öv ein Nicht-Gewordenes sein muß, dafür argumentiert, daß es als Nicht-Gewordenes auch keinen Anfang (άρχή) und kein Ende (τελευτή) habe und mithin unbegrenzt (άπειρον) sein müsse. Als Begründung dafür, daß es als Nicht-Gewordenes keinen Anfang und kein Ende habe, führt Melissos folgendes Argument an: „Wenn es nämlich geworden wäre, hätte es eine άρχή" (εί μέν γαρ έγένετο, αρχήν άν εΐχεν: Frg. DK 30Β2). Melissos scheint somit von der Behauptung, daß jedes Gewordene eine ά ρ χ ή habe, zu der Behauptung, daß das Nicht-Gewordene keine άρχή habe, überzugehen, welches einen unzulässigen Schluß darstellt. Die in Fragment DK 30B2 erwähnten Begriffe „άρχή" und „τελευτή" sind - wie der Kontext deutlich macht („weil es also nicht wurde, sondern ist, war es immer und wird es immer sein und hat keinen Anfang und kein Ende") - primär in einem temporalen Sinne als „zeitlicher Anfangspunkt" und „zeitlicher Endpunkt" zu verstehen (vgl. Barnes, 1982: 195). Zu welchem Zweck weist Aristoteles hier jedoch in bezug auf Melissos darauf hin, daß er falsch konvertiert habe? Wenn man annimmt, daß es Aristoteles nicht allein darum geht, bei Melissos beliebige Fehlschlüsse aufzuzeigen, nur um gleichsam dessen Unvermögen in bezug auf logisch korrekte Operationen unter Beweis zu stellen, so drängt sich die Frage nach einem gemeinsamen Merkmal der angeführten Fehlschlüsse auf, das für den Kontext von Bedeutung ist. Nun sahen wir, daß die These, daß das Nicht-Gewordene keinen Anfang und kein Ende habe, bei Melissos ein Glied innerhalb der letztlich zur These von der Unbewegtheit des Seienden führenden Argumentationskette darstellt. Daß Aristoteles diese These ebenfalls als ein Glied innerhalb einer Argumentationskette versteht, wird dadurch angedeutet, daß die weiteren fehlerhaften Argumente durch die Ausdrücke „είτα" und ,,επειτα" (al3; al6; a l 8 ) in einem konklusiven Sinne angeschlossen werden. Aus der Überlegung, daß das öv weder einen (räumlichen und zeitlichen) Anfang noch ein (räumliches und zeitliches) Ende besitzen kann, folgert Melissos zunächst die räumliche und zeitliche Unbegrenztheit (άπειρον) des Seienden; aus dieser Unbegrenztheit des Seienden ergibt sich für Melissos dann die absolute Einheit desselben (DK 30B6), die als Homogenität (δμοιον) zu denken ist (DK 30A5); aus dieser Homogenität des absolut einen Seienden ergibt sich für Melissos schließlich die Unbewegtheit desselben (DK 30B7). Indem Aristoteles nun die Ungültigkeit eines Schlusses innerhalb der deduktiven Kette zeigt, verliert die gesamte deduktive Abfolge, die letztlich zum άκίνητον führen soll, ihren Zusammenhalt. 16 Hierbei geht es Aristoteles zwar
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Dieses Argument findet sich bei Melissos in den Fragmenten B2-B4. Vgl. auch Wagner (1967: 405): „Nach dem Referat des Simplikios hat nun Melissos die Umkehrung wirklich als eine Prämisse benutzt und auf die Anfangslosigkeit des Gesamtseienden geschlossen (103. 24f.)." Vgl. Barnes (1982: 195 f.). Vgl. dazu auch die Aussage von Aristoteles: „[...], sondern wenn nur eine einzige Widersinnigkeit zugegeben wird, so folgt das Übrige" (1.3, 186a9-10; bzw. 1.2, 185al 1-12). 1st dies einerseits eine indirekte Bestätigung daftlr, daß Aristoteles die Argumentation von Melissos
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Physik
I. 3: ' D i e Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
n i c h t u m e i n e n B e w e i s für d i e E x i s t e n z d e r B e w e g u n g , w o h l a b e r g e h t e s i h m u m d e n N a c h w e i s , daß die v o n d e n Eleaten a n g e n o m m e n e U n m ö g l i c h k e i t der B e w e g u n g a u f falschen A n n a h m e n und fehlerhaften Schlüssen basiert. A u s den weiteren B e i s p i e l e n wird deutlich w e r d e n , daß die G e m e i n s a m k e i t der v o n Aris t o t e l e s a n g e f ü h r t e n u n g ü l t i g e n S c h l ü s s e v o r a l l e m d a r i n z u s e h e n ist, d a ß s i e M e l i s s o s z u f o l g e A r g u m e n t e für d i e Unbewegtheit
d e s einen S e i e n d e n darstellen
sollen.17
3 . 2 . 2 „ J e d e s W e r d e n d e hat e i n e n (räumlichen) A n f a n g s p u n k t " Folglich [ ε ί τ α ] ist auch dieses widersinnig: V o n einem jeden gibt es einen A n f a n g [τό π α ν τ ό ς ε ί ν α ι α ρ χ ή ν ] - von (jedem) Ding [τοΰ π ρ ά γ μ α τ ο ς ] , und nicht v o n der Zeit; und v o m Werden, nicht nur v o m Werden schlechthin [ γ ε ν έ σ ε ω ς μ ή της ά π λ ή ς ] , sondern auch von der Eigenschaftsveränderung [ α λ λ ο ι ώ σ ε ω ς ] , als o b es nicht den gesamten U m s c h l a g gäbe [ ώ σ π ε ρ ο υ κ α θ ρ ό α ς γ ι γ ν ο μ έ ν η ς μ ε τ α β ο λ ή ς ] , (1.3, 1 8 6 a 1 3 - 1 6 ) D i e s e w e i t e r e W i d e r s i n n i g k e i t , die m i t d e m e r s t e n B e i s p i e l z u s a m m e n h ä n g t u n d s i c h a u f d i e s e W e i s e a l s B e s t ä t i g u n g der v o n A r i s t o t e l e s a n g e k ü n d i g t e n B e h a u p t u n g e r w e i s t , d a ß , w e n n nur e i n e W i d e r s i n n i g k e i t z u g e g e b e n w i r d , d a s ü b r i g e f o l g t , hat d e n I n t e r p r e t e n i n s o f e r n S c h w i e r i g k e i t e n b e r e i t e t , a l s k e i n
Fragment
v o n M e l i s s o s b e k a n n t ist, d e s s e n W i e d e r g a b e s i e d a r s t e l l e n k ö n n t e . H ä l t m a n sich an die A n g a b e n v o n Simplicius, so ergibt sich f o l g e n d e s Bild:18 W i e aus den F r a g m e n t e n D K 3 0 B 3 u n d D K 3 0 B 4 d e u t l i c h w i r d , hat M e l i s s o s n e b e n d e r z e i t lichen auch die räumliche Unbegrenztheit des einen Seienden gelehrt.19 Melis-
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"
ebenfalls als Kette von Deduktionen betrachtet, so ist damit andererseits gesagt, daß es ausreicht, ein Glied der Kette als fehlerhaft nachzuweisen, um die Kette als Ganze auseinanderbrechen zu lassen. Demgegenüber ist Weiss (1942: 29) der Ansicht, daß sich Aristoteles bei der Widerlegung der Eleaten nicht auf die in der Grundannahme ausgesprochene These der Bewegtheit des Naturseienden bezieht: „Wir haben gesehen, dass die Widerlegung des έν τό öv in ihrem Vollzug von der Grundeinsicht betreffs der Natur und dem phänomenalen Grundbefiind, dass das von Natur Seiende bewegt ist, keinen Gebrauch macht, sondern sich im Problembezirk der Philosophie vom öv f j öv bewegte. Dagegen wird im Folgenden nun [gemeint ist das Kapitel 1.4] die κ ί ν η σ ι ς bezw. γ έ ν ε σ ι ς als Grundcharakter der Naturdinge im Zentrum der Betrachtung stehen." Im folgenden stütze ich mich vor allem auf die Interpretation von Wagner (1967: 405 f.). Vgl. auch Charlton (1970: 59): „Second, he [Melissos] thought that, if a process had a beginning at all, it must have a beginning in space; thus if a thing comes into existence, some bit must come into existence before the rest, and if it changes colour, the change must begin at some point and spread out from there (186 a l3-16)." Melissos, Frg. DK 30B3 (Simplicius in Phys. 109, 31): „Aber so, wie es immer ist, so muß es auch der Größe nach immer unbegrenzt sein." Frg. DK 30B4 (Simplicius in Phys. 110, 3): „Nichts, was einen Anfang und ein Ende hat, ist ewig [άίδιον] oder unbegrenzt [άπειρον]." Barnes (1982: 200 f.) weist daraufhin, daß in Frg. B4 der Ausdruck „άίδιον" fur die zeitliche und der Ausdruck „άπειρον" für die räumliche Unbegrenztheit steht. Bames wendet sich ausdrücklich gegen die Auffassung, Melissos habe aus der zeitlichen auf die räumliche Unbegrenztheit geschlossen. Vielmehr sind beide Unbegrenztheiten als parallele Argumentationen aus der Prämisse, daß das eine öv keinen Anfang und kein Ende habe, zu verstehen. Vgl. auch Wagner (1967: 406): „Aber daß unsere Stelle keinen Beweis dafür darstellen kann, daß Melissos aus zeitlicher auf räumliche Unendlichkeit geschlossen habe, ist ebenso sicher. Nur auf etwas anderes weist sie hin: daß Melissos ά ρ χ ή einmal als zeitlichen Anfang des Prozesses, ein-
Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
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sos, der aus der unbegrenzten Ausdehnung des Seienden auf dessen Unbewegtheit Schloß,20 scheint hier zu behaupten, daß jedes Werdende eine Stelle an sich haben mtißte, von wo aus der Werdeprozeß seinen Anfang nimmt.21 Aristoteles findet es jedoch unhaltbar, daß Melissos für jede Veränderung eine solche (räumliche) Anfangsstelle fordert, von der ausgehend sich das Ding Stück für Stück verändert, gibt es doch Prozesse, bei denen sich das Ding als Ganzes in einem umwandelt (vgl. ,,άθρόας γιγνομένης μεταβολής"). 22 War der Ausdruck ,,άρχή" im ersten Fehlschluß noch zeitlich gemeint, so geht es im zweiten Fehlschluß nun um den räumlichen Anfangspunkt. Aristoteles weist zunächst darauf hin, daß es Melissos zufolge von jedem (Gewordenen) 23 einen Anfang gibt - und zwar von dem Ding, nicht aber von der Zeit 24 -, und beim Werden nicht nur für das Entstehen von etwas, sondern auch für die Eigenschaftsveränderung. Gegen diese These wendet Aristoteles nun ein, daß es gerade bei der Eigenschaftsveränderung Fälle gibt (wie z.B. das „Gefrieren"; vgl. Phys. VIII.3, 253b21-26), 25 wo kein räumlicher Anfangspunkt der Veränderung vorliegt, sondern wo sich alles „auf einmal" umwandelt. Nun scheint es sich bei dieser „weiteren Widersinnigkeit" (vgl. „είτα και τοΰτο άτοπον") zunächst jedoch eher um eine widersinnige Konklusion als um ein widersinniges Argument zu handeln, da in dem Satz al3-15, in dem Aristoteles die Widersinnigkeit expliziert, ja nicht von etwas auf etwas geschlossen wird. Daß es sich bei dieser widersinnigen Konklusion dennoch um ein ungültiges Argument handelt, wird deutlich, sofern man ihn zusammen mit dem ersten Fehlschluß betrachtet, aus dem sich die weitere Widersinnigkeit ja „folglich" (είτα) ergeben soll. Dieser weitere Fehlschluß ist nun aber nicht darin zu sehen, daß
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mal als Anfangstelle des Prozesses am Gegenstand genommen hat. Und Soph. el. 6, 168 b 35 ff. bestätigt genau dies." In Frg. DK 30B7 nimmt Melissos die Unbewegtheit des Seienden an, weil es als ein Volles nirgendwohin ausweichen kann. Vgl. dazu auch KRS ( 2 1983: 394): „Melissus apparently assumes that if a thing were to come into existence, there would be a part of it which comes to be first in time and is (thereby) the bit of it first in spatial position (e.g. its front edge); and another part which comes to be last in time and is the bit of it last in position (e.g. its back edge). His argument is then that, since what is cannot begin or finish coming into existence, it can have no such first and last parts - and so is unlimited in extension." Als Beispiel für eine solche μεταβολή führt Aristoteles in Phys. VIII.3, 253b21-26 den Prozeß des Gefrierens an. Daß Melissos hier jedes Gewordene meint, wird aus dem Kontext deutlich, denn er ist ja der Überzeugung, daß das eine Seiende als Nicht-Gewordenes gerade keine άρχή hat (vgl. auch Ross, 1936:471). Die Rede von der ,,άρχή des Dings und nicht der Zeit" (τοΰ πράγματος και μή του χρόνου) deutet daraufhin, daß hier der räumliche Anfangspunkt gemeint ist (vgl. Gigon, 1966: 145). Vgl. auch Ross (1936: 339 u. 471), der das „τοΰ πράγματος και μή τοΰ χρόνου" (al4) ebenfalls auf ,,άρχήν" (al3) bezieht: „και μή τοΰ χρόνου is an aside of Aristotle's, pointing out what is not meant, and so is μή της άπλής ά λ λ α και αλλοιώσεως Cf. Met. 994 22 [...]. Cf. also 190a21." Vgl. auch Prantl (1854: 17: „dabei aber an die Zeit nicht denkt"), Wagner (1967: 10: „dabei ist nicht etwa an einen Anfang der Zeit nach, sondern an die Stelle gedacht, [...]") und Charlton (1970: 5 und 59). Vgl. auch Prantl (1854. 475, Fn.l 1): „Unter der »zumal vor sich gehenden Veränderung« versteht Arist. z.B. das Gefrieren (s. VIII, 3), bei welchem, wenn auch das gefrierende Ding unendlich theilbar ist, doch der Vorgang selbst dies nicht ist."
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Melissos etwa aus der Annahme eines zeitlichen Anfangspunktes eines jeden Werdenden auf die Existenz eines räumlichen Anfangspunktes desselben schließen würde,26 sondern darin, daß Melissos in beiden Argumenten - sowohl in bezug auf die räumliche wie auch in bezug auf die zeitliche Unbegrenztheit - derselbe Fehler einer fehlerhaften Konversion unterläuft: Begeht Melissos im ersten Fehlschluß die fehlerhafte Konversion, daß er von der Behauptung „alles Gewordene hat einen zeitlichen Anfang" zu der Behauptung „das Nicht-Gewordene hat keinen zeitlichen Anfang" übergeht, woraus er dessen zeitliche Unbegrenztheit folgert, so begeht er im zweiten Fehlschluß die fehlerhafte Konversion, daß er von der Behauptung „alles Gewordene hat einen räumlichen Anfangspunkt" zu der Behauptung „das Nicht-Gewordene hat keinen räumlichen Anfangspunkt" übergeht, woraus er dessen räumliche Unbegrenztheit folgert.27 Das aristotelische Gegenbeispiel einer Eigenschaftsveränderung, die sich in einem Umschlag vollzieht, macht nun deutlich, daß Aristoteles hier nicht nur die Konversion als fehlerhaft betrachtet, sondern daß er ebenfalls die Ausgangsprämisse problematisiert, der zufolge jedes Gewordene einen räumlichen und zeitlichen Anfangspunkt haben soll. Sein Einwand gegen Melissos besteht darin, daß nicht bei jeglicher Veränderung eine solche zeitliche und räumliche Anfangsstelle an dem Ding vorhanden sein muß, sondern daß es Veränderungen gibt, bei denen sich das Ding gleichzeitig in all seinen Teilen ändert. Auch wenn diese Veränderung in der Zeit und im Raum stattfindet, muß sie selbst nicht zeitlich oder räumlich ausgedehnt sein.
3.2.3 „Wenn etwas Eines ist, dann ist es unbewegt" Weswegen also soll etwas unbewegt sein, wenn es Eines ist? So bewegt sich nämlich auch eine einheitliche Teilmenge, z.B. dies Wasser hier, in sich selbst; weshalb soll dies das Ganze nicht können? Sodann: Weshalb soll es an ihm keine Eigenschaftsveränderung geben? (1.3, 186al6-18)
Aristoteles greift nun in der deduktiven Gedankenkette von Melissos denjenigen Schluß an, der unmittelbar zur Unbewegtheit des Seienden fuhrt: „Wenn etwas Eines ist, so kann es keinerlei Bewegung erleiden." Der Grund dafür, daß das Eine Melissos zufolge keine Bewegung erfahren kann, ist - wie wir in Kapitel 3.1.1 gesehen haben - ein zweifacher: (1) Das Eine, das ein homogenes Eines (δμοιον έν) sein muß (DK 30 A5), wäre kein homogenes Eines mehr, würde es irgendeine Art von Bewegung (z.B. „etwas einbüßen, größer werden, umgestaltet werden, Schmerzen haben, betrübt werden, im Verlauf von zehntausend Jah-
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Gigon (1966: 145) vertritt die Ansicht, Melissos sei von der zeitlichen Anfangslosigkeit des öv ohne weiteres auf die räumliche Grenzenlosigkeit übergegangen. Demgegenüber sagen KRS (21983: 394): „Melissus now infers that, lacking a beginning and an ending, what is is unlimited in spatial extension just as it is everlasting." Vgl. dazu auch Barnes (1982: 200 f.): „The general thought [. ..] seems to be this: if Ο undergoes a process of generation, then Ο must come into existence in stages, and so there must be a first piece of Ο to be generated and also a last piece; and thus Ο cannot be spatially infinite."
Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
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ren auch nur um ein einziges Haar anders werden") erfahren (DK 30 B7). (2) Das Seiende kann nichts Leeres beinhalten - denn „Leeres" ist für Melissos gleichbedeutend mit „Nichtseiendem" - und muß somit ein Volles sein. Das Volle aber kann nicht bewegt sein, da das eine volle und unbegrenzte Seiende ja keinen Ort hat, wohin es ausweichen könnte (DK 30 B7).28 Daß auch der Schluß „wenn etwas Eines ist, so kann es nicht bewegt sein" falsch ist, zeigt Aristoteles durch ein Gegenbeispiel auf. Hierbei geht es Aristoteles nicht nur um den Nachweis der formalen Ungültigkeit der Argumentation, sondern auch um den Nachweis der inhaltlichen Falschheit der Konklusion „das eine Seiende muß unbewegt sein". Daß Aristoteles hier explizit die Falschheit der Konklusion herausstellt, erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß sich aus einer inkorrekten Argumentation ja noch nicht zwingend die Falschheit der aus ihr gefolgerten Konklusion ergibt. Aristoteles geht es hier aber gerade um die Falschheit der Konklusion, daß das eine Seiende unbewegt sein muß. Das von Aristoteles gewählte Gegenbeispiel einer Teilmenge Wasser (vgl. ,,τοδί τό ύδωρ") steht bezeichnenderweise sowohl für ein 'homogenes' (δμοιον) wie auch für ein 'volles' (πλέων) Eines. Wasser ist nämlich ein Kontinuum, das Aristoteles zufolge insofern aus gleichen bzw. homogenen Teilen bestehen, als jedes Teil Wasser ebenfalls Wasser ist. Zugleich stellt das Wasser Aristoteles zufolge ein 'Volles' dar, das kein Leeres beinhaltet. 29 Aristoteles scheint mit diesem Gegenbeispiel ebenfalls zu berücksichtigen, daß Melissos das Eine stofflich (κατά την ύλην) aufgefaßt habe, wählt er mit dem Wasser doch ein Beispiel, das dem Stoff nach eine Einheit darstellt. Obgleich also eine Teilmenge Wasser die Kriterien eines δμοιον und πλέων έν erfüllt und somit nach Ansicht von Melissos eigentlich in jeglicher Hinsicht unbewegt sein müßte, kann es sich Aristoteles zufolge doch bewegen, und zwar sowohl in bezug auf die Ortsbewegung (nämlich als ein in sich selbst Bewegendes: a 17) wie auch in bezug auf die QualitätsVeränderung (al8: wenn es z.B. gefärbt wird), ohne daß es dabei seinen Charakter eines δμοιον und πλέων έν verliert. Aristoteles greift mit dem Beispiel einer Teilmenge Wasser, die in sich selbst bewegt sein kann, auf die unmittelbare Wahrnehmung zurück, 30 d.h. auf jene Quelle unseres Wissens, die von den Eleaten gerade als unzuverlässig bestimmt wurde. Der Grund, warum Aristoteles von einem „Teil" Wasser spricht, dessen
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Im Unterschied zu der in (1) erwähnten Nichtbewegung, die - wie aus den Beispielen deutlich wird - vor allem auf quantitative und qualitative Veränderungen bezogen ist, ist in (2) vor allem an die Ortsbewegung zu denken. (Die These, daß Bewegung die Existenz eines irgendwie gearteten Leeren voraussetzt, haben die Atomisten später als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen genommen, wobei sie die Existenz eines Leeren behaupteten, um das Phänomen der Bewegung erklären zu können.) Daß Melissos in Frg. B7 die Möglichkeit des Entstehens und Vergehens nicht erwähnt, findet seinen Grund darin, daß diese Möglichkeit bereits zu Beginn in Frg. B1 ausgeschlossen wurde. Bezüglich der Nichtexistenz eines Leeren stimmt Aristoteles den Eleaten zu (vgl. Phys. IV. 6-
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Vgl. Zekl (1987: 241, Fn.25): „Dies scheint eine demonstratio ad oculos: Er hat bei sich stehen ein Gefäß mit Wasser darin (= Teilquantum des gesamten vorhandenen Wassers), und während er durch entsprechende Bewegung das Wasser im Gefäß kreisen läßt, spricht er diesen Satz." So verstanden unterstreicht das Beispiel des Wassers den Vorlesungscharakter von Physik 1.1.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Eigenschaft auf das Ganze (τό παν) zu übertragen ist, besteht darin, daß diese Eigenschaft des In-sich-Bewegtseins den Hörern empirisch vorgeführt werden soll. Dies ist jedoch nur mit einem Teilquantum Wasser möglich. Wenn aber das In-sich-Bewegtsein filr ein Teilquantum Wasser möglich ist, und wenn Wasser andererseits ein homogenes Kontinuum darstellt, so muß dasjenige, was für den Teil gilt, folglich auch für das Ganze (τό πάν) gelten.31 Mit der weiteren Frage, weshalb es an ihm keine Eigenschaftsveränderung geben soll (al8), bezieht sich Aristoteles vermutlich auf den ersten Teil von Frg. B7, wo Melissos dem Einen als ομοιον έν derartige qualitative und quantitative Veränderungen abspricht. Gegenüber Melissos ist nun aber einzuwenden, daß eine Teilmenge Wasser, die z.B. durch Färbung oder durch den Prozeß des Gefrierens eine qualitative Veränderung erfährt, dennoch ein homogenes (ομοιον) Ganzes bleibt. So weist Aristoteles in Phys. IV.7, 214a26-b3 in bezug auf Melissos daraufhin, daß auch ein Volles Eigenschaften verändern kann: Es gibt aber keinerlei Notwendigkeit, daß es, wenn es Bewegung gibt, auch Leeres gibt. Zunächst also schon allgemein nicht bei jeder Bewegung, weshalb es auch dem Melissos verborgen blieb: Denn ein Volles kann Eigenschaften verändern [ ά λ λ ο ι οΰσθαι γ α ρ τό πλήρες ένδέχεται]. Aber auch nicht für die Ortsbewegung: Gleichzeitig einander ausweichen können nämlich die bewegten Körper, wobei es gar keine von ihnen getrennte Ausdehnung neben ihnen geben muß. Dies wird klar an den Wirbeln von zusammenhängenden Stoffen, z.B. an denen von Flüssigkeiten. Und es kann auch verdichtet werden, nicht in Leerräume hinein, sondern durch Auspressung von darin Vorhandenem (z.B. wenn Wasser zusammengedrückt wird, [weicht] die darin enthaltene Luft), und es wächst auch, nicht allein, indem etwas hineingeht, sondern durch Eigenschaftsveränderung, wenn z.B. aus Wasser Luft wird. (Phys. IV.7, 214a26-b3)
3.2.4 „Aber es kann auch nicht der Art nach Eines sein" Jedoch ist es auch nicht möglich, daß es der Art nach [τφ εϊδει] Eines ist, außer in bezug auf das 'Woraus' [τω έξ οΰ] (in diesem Sinne sagen auch einige der Naturphilosophen, daß es Eines ist, in jenem aber nicht). Denn ein Mensch ist doch der Art Ross (1936: 472 f.) bemerkt in diesem Zusammenhang, daß sich Melissos gegenüber Aristoteles mit dem Hinweis verteidigen könnte, daß das In-sich-Bewegtsein doch nur unter der Voraussetzung funktioniere, daß es Teile gibt, die wechselseitig verschiedene Orte einnehmen, und daß er bereits ausgeschlossen habe, daß das Eine Teile besitzt (vgl. Frg. DK 30B9). Demgegenüber ist jedoch daraufhinzuweisen, daß sich die von Melissos in Frg. B9 behauptete Nichtteilbarkeit insofern als fraglich erweist, als ein Volles doch Solidität, Kontinuität und somit auch eine gewisse Teilbarkeit voraussetzt (vgl. Barnes, 1982: 227-8). Es scheint mir, daß es Aristoteles hier primär darum geht, daß aus der alleinigen Tatsache, daß ein Eines ein ομοιον und πλέων έν ist, nicht notwendig folgt, daß es unbewegt sein muß. Den Hinweis auf die άλλοίωσις (al8) versteht Ross in dem Sinne, daß es Aristoteles zufolge immer noch eine qualitative Veränderung geben kann, selbst wenn man keine Teile annimmt. Demgegenüber könnte sich Melissos, so Ross, mit dem Hinweis verteidigen, daß das eine Seiende, würde es sich qualitativ verändern, kein ομοιον mehr wäre und folglich seine Identität verlieren würde. Demgegenüber sei jedoch auf folgendes hingewiesen: (1) Das Teilquantum Wasser, das eine qualitative Veränderung erfährt, indem es z.B. gefärbt wird oder gefriert, bleibt dennoch ein ομοιον εν, auch wenn es ein anderes ομοιον έν geworden ist. (2) Ebenso kann auch ein πλέων έν eine άλλοίωσις erfahren und dennoch ein πλέων έν bleiben (vgl. Phys. VIII.3).
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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nach verschieden von einem Pferd und einander [konträr] Entgegengesetztes [τάναντία] ebenfalls. (1.3, 186al9-22) Das zuvor genannte Beispiel des Wassers hat folgendes gezeigt: Selbst wenn das Ganze dem Stoff nach Eines ist, so läßt es dennoch als dieses homogene und volle Eine die Möglichkeit von Bewegung zu. Mit dem abschließenden Hinweis „aber es kann j a auch nicht der Art nach Eines sein, außer in bezug auf das Woraus" meint Aristoteles nun folgendes: Wir haben gesehen, daß das Ganze, selbst wenn wir annehmen, es sei ein der Art nach Eines, wie dies z.B. bei einer Teilmenge Wasser als ein δμοιον έν der Fall ist, dennoch bewegt sein kann. Da nun aber das Ganze nicht einmal ein solches der Art nach Eines sein kann - außer in bezug auf das 'Woraus', so daß man statt „das Ganze ist Wasser", wenn überhaupt, nur sagen kann „das Ganze ist aus Wasser" besteht nun überhaupt kein Hinderungsgrund mehr gegen die Annahme der Möglichkeit von Bewegung. Der Grund dafür, daß das Ganze nicht der Art nach Eines sein kann, besteht darin, daß Mensch und Pferd und einander (konträr) Entgegengesetztes der Art nach verschieden sind. Wären sie nämlich der Art nach Eines, so ergäbe sich erneut die Konsequenz einer Verletzung des Principium contradictionis, wie Aristoteles sie in 1.2, 185bl9-25 dargelegt hat. Gleichwohl kann von dem Ganzen gesagt werden, daß es der Art nach Eines ist, wenn man es auf das 'Woraus' (vgl. „τω έξ ού") bezieht. In diesem Sinne haben auch einige der Naturphilosophen - diejenigen nämlich, die nur ein einziges Prinzip angenommen haben, wie z.B. Thaies das Wasser oder Anaximenes und Diogenes die Luft bzw. Heraklit aus Ephesos das Feuer, „aus dem" letztlich alles andere besteht - eine Einheit behauptet. Zwar haben sie eine Einheitlichkeit der Art nach in bezug auf das 'Woraus-etwas-ist', nicht jedoch haben sie eine Einheitlichkeit der Art nach in bezug auf das 'Was-etwas-ist' angenommen.
3.3 Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides (186a22-187al
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3.3.1 Die falsche Annahme und der ungültige Schluß (186a24-32) Im Anschluß an die Auseinandersetzung mit Melissos geht Aristoteles nun dazu über, auch in bezug auf Parmenides die Falschheit seiner Annahmen und vor allem die Fehlerhaftigkeit seiner Schlüsse nachzuweisen, wobei er zu Beginn darauf hinweist, daß gegen Parmenides einerseits dieselbe Art der Argumentation (wie die gegen Melissos) besteht, und daß andererseits noch einiges andere (fur Parmenides) Eigentümliche hinzukommt. Gigon ist der Ansicht, daß Aristoteles hier zwar das fur Parmenides Eigentümliche erwähnt, es dann aber in der Untersuchung doch unberücksichtigt läßt: Daß aber nun, unserer Erwartung entgegen, die ίδιοι λόγοι zu Parmenides nur erwähnt, nicht aber vorgetragen werden, ist so auffallend, daß schon die antike Kommentartradition dazu bemerkt, es werde damit auf ein besonderes βιβλίον προς τήν
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' Παρμενίδου δόξα ν hingewiesen (Philop. Phys. p. 65, 23 f. Vitelli). Die Schriftenverzeichnisses kennen ein solches Buch nicht. (Gigon, 1966: 144)
Dieses für Parmenides Eigentümliche ist meines Erachtens darin zu sehen, daß Parmenides im Gegensatz zu Melissos, der das Eine κατά την ΰλην aufgefaßt hat, das Eine κατά τον λόγον verstand. Aus diesem Grunde verwundert es auch nicht, daß sich Aristoteles ab 186b 14 eingehend mit der begrifflichen Einheit auseinandersetzen wird, so daß Aristoteles der vorliegenden Untersuchung zufolge die ίδιοι λόγοι zu Parmenides nicht nur erwähnt, sondern auch in ausführlicher Form vorträgt. Auch gegen Parmenides aber besteht dieselbe Art der Argumentation, wenn auch einiges andere [für Parmenides] Eigentümliche hinzukommt. Und die Lösung/Antwort [ή λύσις] liegt einerseits darin, daß es falsch ist und andererseits darin, daß es nicht folgt. (1.3, 186a22-24)
Aristoteles stellt an den Anfang seiner Auseinandersetzung mit Parmenides folgende Differenzierung zwischen einer falschen Annahme und einem ungültigen Schluß: Falsch ist, insofern er annimmt, daß 'seiend' [τό öv] auf einfache/absolute Weise [άπλώς] gesagt wird, wo es doch auf vielfache Weise gesagt wird. Unschlüssig aber ist, daß, wenn man einmal nur die Weißen [Dinge] [τα λευκά] nähme, und wenn 'das Weiße' [nur] Eines bezeichnet [σημαίνοντος εν του λευκοΰ], die Weißen [Dinge] nicht weniger viele und auch nicht Eines wären. (1.3, 186a24-27)
Die Falschheit der Annahme „öv wird auf einfache/absolute Weise gesagt" begründet Aristoteles mit dem Hinweis darauf, daß 'seiend' (öv) auf mehrfache Weise gesagt wird. Zwar hatte dies bereits die Untersuchung in Kapitel 1.2 ergeben, doch soll die Falschheit der Annahme nun im Zusammenhang mit den aus ihr folgenden Konklusionen auf dem Wege einer Reductio ad absurdum aufgezeigt werden. Das Ziel der gesamten Auseinandersetzung mit Parmenides besteht letztlich im Nachweis der Falschheit dieser Annahme (vgl. dazu die abschließende Konklusion in 187alO-ll: „ότι μέν οΰν ούτως έν είναι τό δν άδύνατον, δήλον"), wobei daran zu erinnern ist, daß Parmenides gerade aus der absoluten und einfachen Seiendheit des Seienden auf dessen Unbewegtheit geschlossen hat. Die parmenideische Annahme ,,τό δν άπλώς λέγεσθαι" ist in dieser sprachlichen Gestalt bereits eine Interpretation von Aristoteles. Im Unterschied zu Kapitel 1.2, 185b31-32, wo Aristoteles von den Nachfahren sagte, daß sie annehmen, das Eine und das Seiende werde auf einfache Weise (μοναχώς) gesagt, ersetzt Aristoteles nun in bezug auf Parmenides den Ausdruck „μοναχώς" durch den Ausdruck „άπλώς" (186a24). Zwar steht auch hier der Ausdruck „άπλώς" in einem Gegensatz zum Ausdruck ,,πολλαχώς" (a25), so daß er auch hier die Bedeutung „einfach" hat, doch zugleich scheint Aristoteles mit dem Ausdruck „άπλώς" noch etwas anderes andeuten zu wollen. Parmenides hat den Ausdruck 'seiend' Aristoteles zufolge nämlich nicht nur in einem einfachen Sinne gebraucht - derart, daß er nur ein Eines bezeichnet -, sondern auch in einem abso-
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luten Sinne, durch den die Möglichkeit der Existenz eines Seienden im akzidentellen Sinn (öv κατά συμβεβηκός) von vornherein ausgeschlossen ist. Der Ausdruck „άπλώς" steht nicht nur in einem Gegensatz zum Ausdruck ,,πολλαχώς", sondern auch in einem Gegensatz zum Ausdruck „κατά συμβεβηκός" (vgl. 1.8, 19lb 13-15). Die mit dem Gegensatz ,,άπλώς - κατά συμβεβηκός" verbundene Differenzierung zwischen dem δ ν als δ ν άπλώς und dem öv als δ ν κατά συμβεβηκός, die sowohl auf eine Mehrdeutigkeit des 'öv' als auch auf die Differenzierung zwischen dem μή δν άπλώς und dem μή δν κατά συμβεβηκός hinweist, spielt für Aristoteles eine zentrale Rolle in bezug auf die Möglichkeit der Bewegung. Daß Parmenides den Ausdruck 'seiend' im absoluten Sinn verstanden hat, wird an mehreren Stellen seiner Fragmente deutlich.32 In Analogie zum Nichtseienden (μή öv), das nach Ansicht von Parmenides ganz und gar nicht ist und nicht einmal gedacht werden kann, kann ein Seiendes für Parmenides nur ganz und gar seiend sein und läßt keine graduellen Abstufungen des Seins zu. Der Einwand von Aristoteles, daß 'seiend' auf mehrfache Weise gesagt wird, meint vor diesem Hintergrund nicht nur, daß es in Gestalt der ουσία, des ποιόν und des ποσόν verschiedene Gattungen des Seienden gibt, sondern auch, daß den unterschiedlichen Gattungen des Seienden das Sein jeweils auf verschiedene Weise zukommt. Nun hat Parmenides nach Ansicht von Aristoteles jedoch nicht nur eine falsche Prämisse angenommen, sondern er hat auch fehlerhaft geschlossen. Denn, so führt Aristoteles weiter aus, „wenn wir z.B. nur einmal die weißen Dinge (τά λευκά) nehmen, und wenn 'weiß' (τό λευκόν) Eines bezeichnet, so werden die weißen Dinge nicht weniger viele und schon gar nicht Eines sein." Der Fehlschluß (άσυμπέραντος: a25-26), den Aristoteles hier dem Parmenides unterstellt, läßt sich aus seinem Einwand heraus wie folgt rekonstruieren: Sagt Aristoteles, daß die weißen Dinge nicht Eines werden, wenn 'τό λευκόν' Eines bezeichnet," und versteht man das Beispiel 'τό λευκόν' als Beispiel für ein 'öv', so meint Aristoteles hier, daß Parmenides aus der Annahme, daß 'seiend' Eines bezeichne, geschlossen habe, daß es nur ein einziges Seiendes gibt. Der ungültige Schluß lautet demnach: „Wenn 'seiend' (ov) Eines bezeichnet, dann gibt es nur ein einziges Seiendes (ov)." 32
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Vgl. Frg. B2, Z.3, Frg. B8, Z.l 1 („ούτως η πάμπαν πελέναι χρεών έστιν η ούχι"); Frg. Β8, Ζ.22-5; Frg. Β8, Ζ.32-33 (,,οΰνεκεν ούκ άτελεύτητον τό έόν θέ^ιις είναι· εστι γάρ ουκ έπιδευές· [μή] έόν δ' ά ν παντός έδεΐτο.") und Frg. Β8, Ζ.4 (,,ουλον μουνογενές τε και άτρεμές ήδέ τέλειον"). Die von mir gewählte Übersetzung des Wortes ,,σημαίνειν" mit „bezeichnen" ist in einem möglichst weiten Sinne zu verstehen, der sowohl die Bedeutung als auch die Referenz eines Terms umfaßt. Zur Bedeutung des Ausdrucks ,,σημαίνειν" bei Aristoteles vgl. auch Irwin (1982: 242, Fn.2) und Kirwan p l 9 9 3 : 94). Lautet die für den fehlerhaften Schluß von Parmenides rekonstruierte Prämisse ,,τό δν εν σημαίνει", so wird sie zu einer aus aristotelischer Sicht falschen Prämisse, wenn man sie mit „'seiend' bedeutet Eines" im Sinne von „'seiend' hat eine einzige Bedeutung" übersetzt. Übersetzt man sie jedoch mit „'seiend' bezeichnet Eines", so kann diese Prämisse, j e nach Interpretation, aus aristotelischer Sicht sowohl wahr wie falsch sein: (a) Interpretiert man sie in dem Sinne, daß 'seiend' nur Eines bezeichnet (dies ist Parmenides Sicht), so ist sie für Aristoteles falsch; (b) interpretiert man sie jedoch im Sinne, daß 'seiend' ein je (für sich) Eines bezeichnet, so würde auch Aristoteles dieser Prämisse zustimmen (vgl. Met. IV.4, 1006a29 ff.)
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Zwar ist die rekonstruierte Prämisse „wenn 'seiend' Eines bezeichnet" (τό δν έν σημαίνει) mit der zu anfangs genannten falschen Annahme des Parmenides (,,τό δν άπλώς λέγεσθαι") nicht identisch, gleichwohl aber kann sie als eine Interpretation dieser falschen Annahme bzw. als eine Konklusion aus ihr angesehen werden.34 Auch wenn Aristoteles bereits die Annahme ,,τό δν εν σημαίνει" bzw. ,,τό λευκόν έν σημαίνει" für problematisch hält, wobei es jedoch eine Interpretation dieser Annahme gibt, der auch Aristoteles zustimmen würde - nämlich die Interpretation, daß jedes 'δν' bzw. 'λευκόν' ein je für sich betrachtet Eines bezeichnet -, so sieht er den eigentlichen Fehler doch in dem Schluß, der zur falschen Konklusionen führt, daß es nur ein einziges Seiendes bzw. nur ein einziges Weißes gibt.35 Parmenides scheint aus der Annahme „für jedes Vorkommnis des Wortes 'seiend' gibt es etwas, das Eines ist und durch 'seiend' bezeichnet wird" zur Konklusion „es gibt genau (bzw. 'nur') Eines, das durch jedes Vorkommnis des Wortes 'seiend' bezeichnet wird" überzugehen. Formal gesehen haben wir es hier mit einem Übergang von V χ 3 y (x R y) zu 3 y V χ (x Ry) zu tun, der an einen Fehlschluß bezüglich der Ausdrücke ,jeder" und „alle" erinnert. Anhand des Beispiels der „weißen Dinge" (τά λευκά), die für ein qualitativ bestimmtes Seiendes stehen, widerlegt Aristoteles den Schluß nun wie folgt:36 Angenommen, es gäbe nur Weißes (τά λευκά) in der Welt, so würde aus der Annahme »'weiß' bezeichnet Eines« nicht folgen, daß die weißen Dinge weniger viele Dinge wären, und schon gar nicht würde folgen, daß es nur Eines gäbe. Überträgt man diese Überlegung auf das Seiende, so ergibt sich, daß man nicht nur ein einziges Seiendes erhält, wenn 'seiend' - ebenso wie 'weiß' - Eines be-
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Wenn 'seiend' einfach/schlechthin gesagt wird, kann 'seiend' - dem Gedanken von Parmenides zufolge - nur Eines und nicht mehreres bezeichnen. Denn würde 'seiend' mehreres bezeichnen, so müßten sich diese mehreren Seienden in wenigstens einer Hinsicht voneinander unterscheiden, so daß das eine Seiende eben nicht das andere Seiende wäre und es folglich kein ganz und gar Gleichartiges mehr gäbe. Ross (1936: 339 und 473) spricht davon, daß Parmenides zwei Annahmen habe, aus welchen er heraus argumentiere, daß die Wirklichkeit nur eine und unteilbar sei: (1) 'seiend' hat nur eine Bedeutung; (2) es gibt nichts außer seiend. Daß Aristoteles der Meinung war, Parmenides habe diesen Schluß tatsächlich gezogen, ergibt sich auch aus Met. 1.5, 986b27 ff.: „Weil Parmenides meint, daß das μή öv neben dem öv gar nichts sei, meint er, daß das öv Eines ist und weiter nichts." Vgl. auch Charlton (1970: 59): „This premiss ['that things are called real or existent for only one reason'], Aristotle proceeds to show, 186*25-32, is not of itself sufficient to establish the conclusion that there is only one thing." O b jedoch Parmenides selbst einen derart radikalen Monismus vertreten hat, wie er z.B. bei Melissos zu finden ist, wird von einigen Interpreten zunehmend in Frage gestellt (vgl. Barnes, 1982: 204-7 und KRS, 2 1983: 395). Aristoteles verdeutlicht den Fehlschluß mit Hilfe des Beispiels ,,τό λευκόν", das ftlr ein konkretes öv τι steht. Er zeigt, daß es, selbst wenn ,,τό λ ε υ κ ό ν " nur Eines bezeichnet, trotzdem nicht nur ein Seiendes geben muß. Den Rückgriff auf ein konkretes Beispiel rechtfertigt Aristoteles an späterer Stelle indirekt mit dem Hinweis darauf, daß wir das Seiende selbst (αύτό τό öv) ohne weitere inhaltliche Bestimmungen gar nicht verstehen können (vgl. 1.3, 187a8-9). Zur Frage, ob die Wahl eines Beispiels der Theorie von Parmenides gerecht wird, vgl. auch Wagner (1967: 407): „Wenn Ar. nun am Eingang seiner Kritik die weißen Dinge herausgreift, so tut er Parmenides kein Unrecht an. Auch Parmenides ging in seinen Überlegungen von der Fülle der verschiedenst bestimmten Einzeldinge (Αι, A2, A3 ...,) aus und richtete dann seine Reflexion auf die Tatsache, daß das Urteil, das ein jedes dieser Dinge bestimmt (Ai ist χ; A2 ist y; A3 ist z ; . . . ) , von jedem dieser Dinge und von allen Dingen besagt, daß es i s t bzw. daß sie s i n d."
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zeichnet. Zwar haben alle weißen Dinge dieselbe Bestimmtheit, dennoch aber bleiben sie viele weiße Dinge, da die Einheit und Identität der Bestimmtheit keineswegs eine Einheit und Identität der so bestimmten Gegenstände impliziert. Bevor wir nun zur Betrachtung der Begründung in a28-31 übergehen, die Aristoteles für seine Konklusion in a27 ,,ούθέν ήττον πολλά τά λευκά και οϋχ έν" anführt, soll zunächst noch ein genauerer Blick auf die Prämisse »wenn 'weiß' nur Eines bezeichnet« (vgl. „σημαίνοντος έν του λευκου") geworfen werden. Für gewöhnlich wird diese Prämisse so verstanden, daß angenommen werden soll, „weiß" habe eine feste, eindeutige und einzige Bedeutung.37 Diese Interpretation schränkt die Bedeutung des Wortes ,,σημαίνειν" jedoch weitgehend auf den Aspekt der Bedeutung (Intension) ein, so daß der Eindruck entsteht, als ginge es hier einzig darum, daß „weiß" kein mehrdeutiger (äquivoker) Ausdruck sei. Wagner (1967: 10) versucht dieser Einseitigkeit in seiner Übersetzung dadurch entgegenzuwirken, daß er sagt: „wenn der Terminus 'weiß' eindeutig nur eine einzige Bestimmtheit bezeichnet." Daß aber auch dies irreführend ist, zeigt sich daraus, daß Aristoteles in seiner Begründung ja genau das Gegenteil feststellen wird, nämlich, daß „weiß" nicht nur die Bestimmtheit 'Weiße', sondern auch dasjenige, an dem sich die Bestimmtheit 'Weiße' findet, bezeichnet. Mit dem „σημαίνοντος έν του λευκοΰ" ist neben der „Eindeutigkeit" vielmehr ebenfalls gemeint, daß „weiß" etwas bezeichnet, was ein Eines darstellt.38 In diesem Sinne verhält sich der Ausdruck ,,τό λευκόν" analog zum Ausdruck ,,τό δν": Wenn wir etwas als „öv" bezeichnen, so meinen wir auch hier nach Ansicht von Aristoteles immer schon etwas, das für sich betrachtet jeweils ein Eines darstellt.39 Parmenides' Fehler besteht Aristoteles zufolge nun darin, daß er meint, „weiß" (bzw. „seiend") könne nicht vieles bezeichnen, von denen ein jedes je für sich Eines ist. Wenn etwas weiß (bzw. seiend) ist, so ist es für Parmenides ganz und gar weiß (bzw. ganz und gar seiend), weil „weiß" (bzw. „seiend") ja schlechthin (άπλώς) ausgesagt wird. Folglich kann es für Parmenides keine anderen weißen (bzw. seienden) Dinge geben, da sonst dem einzelnen weißen (bzw. seienden) Ding genau die Weiße (bzw. Seiendheit) fehlen würde, die sich an den anderen weißen (bzw. seienden) Dingen findet. Ein Mangel aber darf am Seienden nicht vorkommen, da es entweder ganz und gar seiend oder gar nicht seiend ist (vgl. Frg. B8, Z.l 1, 22-25, 32-33). Gäbe es mehrere - und folglich in wenigstens einer Hinsicht verschiedene - δντα, so wäre jedes einzelne δν insofern irgendwie μή öv, als es nicht das andere öv ist. Folglich aber wäre jedes einzelne öv ganz und gar nicht seiend, da Parmenides - wie wir
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Vgl. Wagner (1967: 10: „[...] wenn der Terminus 'weiß' eindeutig nur eine einzige Bestimmtheit bezeichnet, [...]"; S. 407: „Nehmen wir einmal zugunsten des Parmenides an, der Terminus 'seiend' sei wirklich eindeutig, so eindeutig, wie der Terminus 'weiß' es faktisch ist!"). Vgl. auch Hardie/Gaye (1930: „[...], and if 'white' has a single meaning, [...]"), Ross (1936: 340, 473: „the fact that 'white' has but one meaning"); Charlton (1970: 5: „and that 'pale' means only one thing:"), Wicksteed/Comford (1980: 31: „and if'white' had only one meaning,") und Zekl (1987: 13: „wenn »weiß« eine einzige Bedeutung hatte,"). Vgl. dazu Prantls Übersetzung (1854: 19): „wenn auch das Weiße die Bezeichnung ftlr ein Eines ist, [...]". Vgl. in diesem Zusammenhang Metaph IV.4, 1006a31 -b27.
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noch sehen werden - nicht zwischen einem μή δν άπλώς und einem μή δν τι (bzw. μή δν κατά συμβεβηκός) unterscheidet. Parmenides scheint nach Ansicht von Aristoteles folgendes zu meinen: Wenn die Extension eines Begriffs vielheitlich wäre, dann würde gleichsam die Intension des Begriffs auf die einzelnen Glieder der Extension verteilt, so daß das einzelne nicht mehr ganz und gar dieses sein könnte. Folglich schließt Parmenides aus einer absolut einheitlichen Intension auf eine absolut einheitliche Extension. Daß dieser Gedanke keineswegs so abwegig ist, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag, wird daraus ersichtlich, daß selbst Piaton noch einen ähnlichen Gedanken vertrat, wenn er nur seinen Ideen dasjenige, was sie eigentlich sind, zukommen läßt, während es den Wahrnehmungsdingen, die Piaton mitunter als „irgendwie nichtseiend" (πώς μή öv) bezeichnet, nur in abgeleiteter Form zukommt. Aristoteles zeigt demgegenüber nun, daß jedes einzelne Weiße (bzw. Seiende) für sich ganz und gar weiß (bzw. seiend) sein kann: Denn weder dem Zusammenhang [τη συνεχεία] noch dem Begriff nach [τω λόγφ] wäre das Weiße Eines. Denn das 'Sein' für weiß [τό είναι λευκώ] und [das 'Sein'] für dasjenige, dem es [weiß] zukommt [τω δεδεγμένφ], sind verschieden. Und es wird neben dem Weißen nichts Selbständiges [χωριστόν] geben. Denn nicht als Selbständiges, sondern dem Sein nach sind 'weiß' [τό λευκόν] und dasjenige, dem es ['weiß'] zukommt [φ υπάρχει], verschieden. Dies aber konnte Parmenides noch nicht sehen. (1.3, 186a28-32)
Die aristotelische Begründung lautet, daß das Weiße (τό λευκόν) weder dem Zusammenhang noch dem Begriff nach Eines wäre, selbst wenn „weiß" ein Eines bezeichnet. Werden hier mit der Einheit dem Zusammenhang und dem Begriff nach zwei der in Kapitel 1.2, 185b7-9 aufgezeigten drei Bedeutungsmöglichkeiten des ,,έν" aufgegriffen, so erfährt im folgenden jedoch nur die NichtEinheit dem Begriff nach (τω λόγφ) eine weitere Erläuterung.40 Mit der „NichtEinheit dem Zusammenhang nach" ist vermutlich gemeint, daß die vielen weißen Dinge jeweils für sich ganz und gar weiß und jeweils für sich ein Eines sein können, ohne daß sie ein Kontinuum - und somit ein in diesem Sinne Eines - bilden zu müssen.41 Aristoteles scheint sich hier gegen die von Parmenides in Fragment DK 28 B8 (Z.22-25) aufgestellte These zu wenden, daß das Eine ein Kontinuum bilde. Aber auch dem Begriff nach wird das Weiße nach Ansicht von Aristoteles nicht nur Eines sein. Denn das 'Sein' für weiß (d.h. das 'Sein' für die Eigenschaft der Weiße) und das 'Sein' für dasjenige, dem es (weiß bzw. die Weiße) zukommt, sind verschieden und folglich mehr als nur Eines. Mit dieser Verschiedenheit des Seins meint Aristoteles offenkundig die ontische Differenz zwi-
Der Umstand, daß hier das „εν" als ,,άδιαίρετον" unerwähnt bleibt, findet seinen Grund darin, daß ein Weißes eo ipso ausgedehnt sein muß, so daß es keinen bloßen geometrischen Punkt darstellen kann. Zudem: Selbst wenn sie ein Kontinuum bilden würden, so waren sie immer noch insofern Vieles (und nicht nur Eines im absoluten Sinne), als ein Kontinuum j a ins Unendliche teilbar ist (vgl. 1.2, 185b9-l 1).
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sehen Ding und Eigenschaft;42 eine Differenz, die Parmenides noch nicht sah (186a31-32). Zwar bezeichnet ,,τό λευκόν" etwas, das ein Eines (nämlich ein selbständiges Ding) ist, aber es bezeichnet dieses Eine in zweifacher Hinsicht (vgl. Met. VII.6, 103 lb23: ,,τό διττόν σημαίνει ν"), indem es einerseits die Eigenschaft und andererseits dasjenige, an dem die Eigenschaft vorkommt, thematisiert. Folglich stellt dieses Eine zumindest dem 'Sein' nach in sich bereits eine Zweiheit dar. Während mit den Ausdrücken „λευκώ" in a29 und ,,τό λευκόν" in a31 die Eigenschaft 'weiß' bzw. 'Weiße' gemeint ist 4 3 - denn nur eine Eigenschaft kann einem anderen „zukommen" -, meint der Ausdruck ,,τό λευκόν" in a30 offenkundig das weiße Ding, da dieses hier als χωριστόν gemeint ist, neben dem kein anderes χωριστόν existiert. Zugleich betont Aristoteles, daß wir es nicht mit zwei verschiedenen 'Dingen' zu tun haben - denn die Eigenschaft ist selbst ja kein Ding, sondern nur an einem Ding wenn er sagt, daß es neben dem Weißen nichts anderes Selbständiges gibt. Dieser Hinweis ist insofern von Bedeutung, als wir es ja der Voraussetzung „σημαίνοντος εν του λευκοΰ" zufolge nicht mit zwei Dingen zu tun haben sollen. Die Eigenschaft 'weiß' und dasjenige, dem die Eigenschaft 'weiß' zukommt, sind nicht als Selbständige (d.h. als zwei selbständige Dinge), sondern vielmehr dem 'Sein' nach verschieden: das eine als Ding, das andere als Eigenschaft.44
3.3.2 Eine notwendige Konklusion: Das öv als δπερ δν (186a32-b4) Da Parmenides diese ontische Differenz von Ding und Eigenschaft nicht sah, ergeben sich aus seinem Ansatz, so Aristoteles, weitere Konklusionen, die letztlich in Aporien münden bzw. gar im Widerspruch zur Ausgangsthese stehen. Zeigt Aristoteles in 186a32-b4 zunächst auf, daß der Ausdruck 'seiend' (öv) dem Ansatz von Parmenides zufolge nicht als Akzidens von etwas ausgesagt werden kann, sondern vielmehr ein An-sich-Seiendes (δπερ δν) meinen muß, so zeigt er dann in 186M-12 umgekehrt, daß auch nichts anderes als Akzidens von diesem δπερ δν ausgesagt werden kann. Notwendigerweise [ανάγκη] ist also [von Pannenides] anzunehmen, daß 'seiend' [τό öv] nicht nur Eines bezeichnet, wovon auch immer es ausgesagt wird, sondern das An-sich-Seiende und das An-sich-Eine [δπερ δ ν και δπερ εν]. Denn das akzi-
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Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, daß ein und dasselbe dem λόγος nach mehreres sein kann. Bestand die Vielheit dem λόγος nach in 1.2, 185b32-33 darin, daß dasselbe sowohl gebildet wie auch weiß sein kann (wobei beide als ποιόν in dieselbe Gattung des Seienden fallen), so ist hier nun das Weiße dem λόγος nach nicht Eines, weil „weiß" einerseits das Ding und andererseits die Eigenschaft bezeichnet, die verschiedenen Gattungen des Seienden angehören. Zur eindeutigen Bezeichnung der Eigenschaft 'Weiße' gibt es im Griechischen auch den abstrakten Terminus ,,ή λευκότης", der sich nicht auf das weiße Ding bezieht. Vgl. Leszl (1970: 247): „What interpreters fail to see is that properties (qualities, quantities, etc.) have to be properties of things other than themselves is not to deny that they have an essence taken for what they are. [...] Aristotle himself does not appear to assimilate nonseparation to this odd sort of identity in essence, but admits that properties have a being of their own."
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dentell Zukommende wird von einem Zugrundeliegenden gesagt, so daß dasjenige, dem 'seiend' akzidentell zukäme, nicht sein würde (denn es wäre doch von 'seiend' verschieden). Es gäbe also etwas, was nicht ist. Folglich kann das An-sich-Seiende nicht an einem anderen vorhanden sein; denn es [gemeint ist dasjenige, dem es zukommt] wäre nicht etwas Seiendes [δν τι], was selbst ist, außer wenn 'seiend' vieles bezeichnet derart, daß ein jedes Einzelne [die Bestimmung 'öv' und das Bestimmte] sein kann. Die Grundannahme lautet jedoch, daß 'seiend' Eines bezeichnet. (1.3, 186a32-b4) Aristoteles legt zunächst dar, daß aus der Annahme „'seiend' bezeichnet Eines", wenn man aus ihr, wie Parmenides es tut, den Schluß zieht, daß es nur Eines gibt, notwendigerweise folgt, daß „seiend" das An-sich-Seiende (δπερ δν) und das An-sich-Eine (δπερ εν) meint. Die Ausdrücke „δπερ δν" und „όπερ έν", die für dasjenige stehen, was seinem Wesen nach seiend und Eines ist, korrespondieren mit der Annahme von Parmenides, daß das öv schlechthin ausgesagt wird. 45 Mit dem „δπερ öv" und „δπερ έν" will Aristoteles zum Ausdruck bringen, daß es sich um Wesensbestimmungen des Gegenstandes handelt (vgl. Met. III.4, 1001a26ff). 46 Die Begründung dafür, daß 'das Seiende' (δν) Parmenides zufolge nicht nur Ejnes, sondern notwendigerweise (άνάγκη: a32) das An-sich-Seiende (δπερ öv) und An-sich-Eine (δπερ εν) bezeichnen muß, liegt in folgendem: Wenn das öv nicht das δπερ öv und δπερ έν als Wesensbestimmung bezeichnet, kann es folglich nur als ein Akzidens (συμβεβηκός) an einem (von ihm verschiedenen) Zugrundeliegenden vorkommen. 47 Ist es jedoch ein Akzidens, so ergibt sich folgender Widerspruch. Wird nämlich „seiend" (öv) als akzidentell Zukommendes von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, so müßte das Zugrundeliegende, von dem „seiend" als Akzidens ausgesagt wird, den Überlegungen von Parmenides zufolge letztlich nicht sein (a34-35). Denn das Zugrundeliegende ist j a von dem verschieden, was von ihm akzidentell ausgesagt wird, so daß es hier folglich verschieden von 'seiend' wäre (a35-bl). „Verschieden von 'seiend'" muß aber dem Ansatz von Parmenides zufolge „nichtseiend" bedeuten, da „seiend" j a schlechthin ausgesagt wird. 48 Würde also „seiend" als Akzidens von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, so müßte dieses Zugrundeliegende selbst ein Nichtseiendes
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Zur Bedeutung des „δπερ öv" und „δπερ εν" bei Aristoteles vgl. vor allem die Ausführungen von Wagner (1967: 408 f.). Vgl. auch Charlton (1970: 60): ,Jioper ti in Aristotle normally means, I think (for a fair selection of examples v. Bonitz 533b39-534a23), 'precisely what is something' in the sense in which a certain bodily condition might be said to be precisely what is healthy." Nach Ansicht von Leszl (1970: 247), der in diesem Zusammenhang auf Met. V.7 und VIII.6, 1045a36-b7 verweist, bedeutet „δπερ öv" folgendes: „being-itself, it is being in an essential way, immediately." Die Distinktion zwischen Wesensbestimmung (καθ' αύτό) und akzidenteller Bestimmung (κατά συμβεβηκός) läßt Aristoteles zufolge keine andere Möglichkeit eines 'Zukommens' zu (vgl. auch 186bl4-l8). Sie macht zugleich deutlich, daß Aristoteles hier zur Widerlegung der eleatischen Argumentation in Form einer Reductio ad absurdum zwar von eleatischen Prämissen ausgeht, zugleich jedoch auch seine eigene Theorie zu Hilfe nimmt, da Parmenides selbst ja noch nicht die Unterscheidung von Wesensbestimmung und akzidenteller Bestimmung sah. Es kann dem Ansatz von Parmenides zufolge nicht „anders seiend" bedeuten (dies wäre eine Lösung dieser Problematik, wie Piaton sie im Sophistes vorschlägt), denn dann würde ja im Widerspruch zur Ausgangsthese „seiend" auf mehrfache Weise gesagt werden.
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sein, von dem „seiend" ausgesagt wird (186bl). Da dies jedoch gegen das Principium contradictionis verstößt, kann 'seiend' innerhalb der Theorie des Parmenides nicht als ein Akzidens an einem Zugrundeliegenden vorkommen. Das An-sich-Seiende kann folglich nicht an einem anderen (von ihm verschiedenen) vorhanden sein (bl-2), da dasjenige, an dem es vorhanden wäre, selbst nur ein bestimmtes Seiendes (öv τι) sein kann. Dieses kann aber selbst nur sein (bl-2), wenn 'seiend' doch Vieles bezeichnet (b2-3); nämlich derart, daß ein jedes Einzelne (τι έκαστον) sein kann (d.h. sowohl dasjenige, an dem es vorhanden ist, als auch dasjenige, was vorhanden ist).49 Dies widerspricht jedoch der Ausgangsprämisse, der zufolge 'seiend' nur Eines bezeichnet (b3-4) und schlechthin ausgesagt wird.50 Mit anderen Worten: Weil Parmenides den Unterschied zwischen einer Bestimmung und dem bestimmten Gegenstand nicht sah, setzte er Bestimmung und bestimmten Gegenstand letztlich als identisch.51
3.3.3 Dem δπερ öv können keine anderen Akzidentien zukommen (186 b4-14) Wenn nun also das An-sich-Seiende keinem anderen zukommt, sondern das andere ihm [ ά λ λ α < τ ά ά λ λ α > έ κ ε ί ν ω ] 5 2 , weshalb bezeichnet dann 'an-sich-seiend' mehr das Seiende als das Nichtseiende? Wenn nämlich das An-sich-Seiende auch weiß/ein
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Zwar weichen die Interpretationen bezüglich des Satzes 186b 1-3 geringfügig voneinander ab, doch ist man sich hinsichtlich des Gemeinten im wesentlichen einig: Wir haben es mit einer Begründung dafllr zu tun, daß das An-sich-Seiende nicht an einem anderen vorhanden sein kann. Nach Ansicht von Wagner (1967: 11) ist das Subjekt im Satz ,,ού γαρ έσται öv τι αύτό είναι, [...]" das όπερ öv (b2) aus dem vorherigen Satz, so daß sich folgende Bedeutung ergibt: „[das όπερ öv ist nicht Bestimmtheit an einem anderen], denn das δπερ öv kann nicht etwas bestimmtes Seiendes sein, was selbst ist, [denn es ist nur die Bestimmung, und die kann nur 'seiend' sein, wenn 'seiend' vieles bezeichnet]." Demgegenüber bin ich der Auffassung, daß das Subjekt des Satzes ,,ού γάρ έσται öv τι αύτό είναι, [...]" das „andere" (αλλω: bl) ist, an dem das δπερ öv vorkäme, so daß sich folgende Bedeutung ergibt: „[das δπερ öv ist nicht Bestimmtheit an einem anderen], weil das andere (wie gezeigt wurde) selbst nur dann ein bestimmtes Seiendes sein kann, was selbst ist, wenn „seiend" vieles bezeichnet." Der Unterschied liegt in folgendem: Wagners Interpretation zufolge kann das δπερ öv nur dann eine Bestimmtheit an einem anderen sein, wenn es selbst ein Seiendes ist, woraus sich ergibt, daß 'seiend' auf mehrfache Weise gesagt wird, insofern es sowohl die Bestimmtheit als auch dasjenige, an dem die Bestimmtheit vorkommt, bezeichnet. Meiner Interpretation zufolge kann das οπερ öv nur dann eine Bestimmtheit an einem anderen sein, wenn das andere selbst ein Seiendes ist, woraus sich ebenfalls ergibt, daß 'seiend' auf mehrfache Weise gesagt wird, insofern es sowohl die Bestimmtheit als auch dasjenige, an dem die Bestimmtheit vorkommt, bezeichnet. Eine analoge Argumentation ließe sich für das „iv" konstruieren (vgl. dazu Metaph III.4, 1001a25 ff.). Sie würde lauten: Wäre 'εν' nur eine akzidentelle Bestimmung an einem Zugrundeliegenden, so wäre dieses Zugrundeliegende verschieden von seiner Bestimmung 'έν' und folglich nicht έν, sofern auch „εν" schlechthin/einfach gesagt wird. Eine Schwierigkeit, die mit der von Aristoteles in 186a32-bl2 geführten Argumentation gegen Parmenides verbunden ist, besteht jedoch darin, daß er hier vorauszusetzen scheint, daß 'seiend' ein reales (d.h. sachhaltiges) Prädikat ist. Denn das Ziel der Untersuchung besteht j a in einem Widerspruch zwischen zwei Bestimmungen, die als inhaltlich entgegengesetzte Bestimmungen nicht an demselben vorkommen können: 'seiend' und 'nicht-seiend' werden hier in einem analogen Sinne als Prädikate wie 'weiß' und 'nicht-weiß' behandelt. Die Wörter ,,τά αλλα", die sich nicht in den MSS finden, stammen von Ross (1936: 475). Vgl. dazu auch Wagner (1967: 409): „So nach dem Textvorschlag von Ross, aber auch nach der Vermutung, zu der ich selbst neige: ίχλλα δ' εκεί νιο; einmal ά λ λ ά gelesen, fiel das δ'."
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Physik 1.3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Weißes wäre,53 das Weißsein aber nicht an-sich-seiend ist (denn 'seiend' kann ihm ja auch nicht akzidentell zukommen, weil nichts seiend ist, was nicht an-sich-seiend ist), so ist das Weiße also nicht seiend; aber nicht in dem Sinne [nicht seiend] wie etwas bestimmtes Nichtseiendes, sondern ganz und gar nichtseiend [ούχ οΰτω δέ ώσπερ τι μή δν, άλλ' δλως μή δν], Folglich wäre das An-sich-Seiende nicht seiend. Denn es war ja als wahr gesagt, daß es weiß [Weißes] ist, dies aber bezeichnete ein Nichtseiendes. So daß auch 'weiß' das An-sich-Seiende bezeichnet. Folglich bedeutet 'seiend' doch mehreres. Und auch eine Größe wird das Seiende nicht haben können, wenn 'seiend' das An-sich-Seiende meint. Denn für einen jeden der Teile wäre das Sein verschieden. (1.3, 186b4-14) Nachdem festgestellt wurde, daß 'seiend' nicht nur Eines bezeichne, sondern ein ganz bestimmtes Eines bezeichnen muß, nämlich das An-sich-Seiende (δπερ δν) und An-sich-Eine (δπερ εν), geht Aristoteles nun dazu über, zu zeigen, daß sich von diesem δπερ δν, das nicht von einem anderen als Akzidens ausgesagt werden kann, selbst auch nichts anderes als Akzidens aussagen läßt. Denn, so lautet das Argument, wieso soll das δπερ δν mehr das Seiende bezeichnen als das Nichtseiende (d.h. wieso sollte es eher ein Seiendes und nicht vielmehr ein Nichtseiendes sein), wenn anderes als Akzidens von ihm ausgesagt wird (b4-6)? Nimmt man nämlich das Beispiel 'weiß' (τό λ ε υ κ ό ν ) als eine Qualität, die vom δπερ öv ausgesagt wird, so wäre das δπερ δν zugleich auch ein Weißes (b6). Nun ist das Weißsein den Voraussetzungen zufolge aber nicht an-sich-seiend (b7), denn wir sahen, daß 'seiend' nur das δπερ δν ist. Folglich kann dem Weißsein 'seiend' auch nicht akzidentell zukommen, denn nichts außer dem δπερ δν ist seiend (b7-8). (Wenn dem Weißsein also 'seiend' zukommen soll, so mtlßte es das δπερ δν und nur das δπερ δ ν sein.) Also ist Weißsein nicht seiend, und zwar, wie Aristoteles betont, ganz und gar nicht seiend (vgl. „δλως μή δ ν"), und nicht nur etwas bestimmtes Nichtseiendes (τι μή δν). 54 Nun ergeben sich die Aporien von selbst: Ist also das Weiße nicht seiend (b8), so ist folglich auch das δπερ δν, von dem 'weiß' ausgesagt wird, nicht seiend (blO). (Und diese Aporie entsteht ebenfalls bei jeder anderen qualitativen Bestimmung, die als Akzidens vom δπερ δν ausgesagt wird.) Dies steht jedoch im Widerspruch zur Ausgangsthese, daß das δπερ δν seiend - ja sogar das einzig Seiende - ist. Wenn es also wahr sein soll, daß das δπερ δν weiß bzw. ein Weißes ist - dies ist der Ausgangspunkt der Überlegung in b6 -, so muß 'weiß' (und folglich auch jede andere qualitative Bestimmung, die als Akzidens vom δπερ δν ausgesagt werden soll) ebenfalls das An-sich-Seiende bezeichnen (bl 1-12) und somit eine wesenhafte Seinsbestimmung sein. 55 Also würde nicht nur 'seiend' (öv), sondern auch
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Die Übersetzung von Zekl (1987: 15), der den Ausdruck ,,οπερ öv" mit „der Begriff 'seiend'" übersetzt - „Wenn nämlich einmal der Begriff „seiend" auch weiß sein soll, [. . .]" ist insofern problematisch, als Aristoteles sicherlich nicht meint, daß ein Begriff weiß sein soll. Dieser Begriff des „ti μή öv", der noch einmal in 187al-l 1 Erwähnung findet, wird später die Lösung für Aristoteles darstellen, daß ein Werden und Entstehen aus einem μή öv als μή öv τι möglich ist. Vgl. Wagner (1967: 410): „Die Ableitung, welche die Folgerungen des Parmenides in ihre Umkehrung und die Grundthese zur Auflösung führt, erfolgt in zwei Stufen: 1. Jeder Versuch, das δπερ öv zu bestimmen, muß im Rahmen der Einheitsthese es als schlechthin nichtseiend denken. 2. Jeder Versuch, dennoch eine Bestimmung für das δπερ öv zu erreichen, die es n i c h t
D i e ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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'weiß' (λευκόν) das δπερ öv bezeichnen, so daß mithin 'seiend' doch auf mehrfache Weise gesagt würde: Das δπερ όν wäre sowohl eine ουσία (öv) als auch ein ποιόν (Weißes). Die falsche Annahme ,,άπλώς τό δν λέγεσθαι" (186a2425) ist vor diesem Hintergrund einer Reductio ad absurdum mit der Konklusion ,,πλείω αρα σημαίνει τό δν" (186b 12) als widerlegt zu betrachten. Analoges gilt für die quantitativen Bestimmungen. Auch eine Größe kann das öv als δπερ δν nicht haben, sofern 'öv' nur Eines bezeichnen soll. Denn etwas, dem Größe zukommt, ist teilbar und setzt somit eo ipso eine Vielheit voraus: Da das 'Sein' für einen jeden Teil (von zwei Teilen) verschieden wäre, würde auch hier das 'öv' mehreres bezeichnen (bl2-14). 56 Mit dem Hinweis auf die Teilbarkeit, die hinsichtlich der Größe als eine Teilbarkeit dem Stoff nach zu verstehen ist, leitet Aristoteles nun zu der Untersuchung über, die er in 186a23 als die dem Parmenides eigentümliche (ϊδιον) angekündigt hat. Wie bereits erwähnt wurde, ist Aristoteles der Ansicht, daß Parmenides im Gegensatz zu Melissos das Eine dem Begriff nach (κατά τον λόγον) aufgefaßt hat. So verwundert es auch nicht, daß er im Anschluß an den Hinweis, daß das Eine als über Größe Verfügendes dem Stoff nach teilbar und somit vieles ist, nun zu einer Untersuchung übergeht, die zeigen soll, daß das Eine, selbst wenn man es nur dem Begriff nach als Eines aufifaßt, ebenfalls nämlich dem λόγος nach - teilbar und somit vieles ist.
3.3.4 Die begriffliche Teilbarkeit des δπερ öv (186b 14-35) Um zeigen zu können, daß das δπερ δν auch dem λόγος nach teilbar ist, wählt Aristoteles das Beispiel vom Menschen (ό άνθρωπος) und seiner Bestimmung als „zweifüßiges Lebewesen" (ζωον δίπουν). Bezüglich der Funktion dieses Beispiels gibt es jedoch zwei verschiedene Interpretationen: Während Ross (1936: 476 f.) und Gershenson/Greenberg (1962: 148 f.) der Ansicht sind, Aristoteles läßt die Eleaten hier zunächst zugestehen, daß es viele Entitäten (z.B. Menschen und andere Dinge) gibt, in bezug auf die er dann fragt, ob diese analysierbar sind, ist Charlton (1970: 62) der Auffassung, Aristoteles habe das Beispiel „Mensch" für ein δπερ öv - ebenso wie das zuvor genannte Beispiel „weiß" - zur Illustration eines formalen Gesichtspunktes gewählt, an dem er aufzeigen will, daß ein jedes δπερ öv dem λόγος nach in ein anderes δπερ öv τι auseinanderfällt: S o m e (e.g. Ross, Gershenson, and Greenberg) suppose that Aristotle is making the Eleatics grant that there really are entities like men in the universe, and asking whether they are analysable. [ . . . ] I prefer the v i e w o f Philoponus that man is being used as an illustration o f a formal point, like pale in "26-31, and that Aristotle is
56
zum Nichtseienden macht, verlangt, auch der angesetzten Bestimmtheit die einzig zugelassene Form des Seins, nämlich den Charakter des δπερ öv zuzudenken - und also die Einheitsthese aufzugeben." Zur Definition des Quantitativen als etwas, das aus Teilen besteht, vgl. Met. V.13, 1020a7 ff. Zur Problematik der Größe bei den Eleaten vgl. auch Met. 111.4, 1001b7 ff.
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contending that, if what it is for Parmenides' one reality to be real is analysable in the way in which what it is to be a man is analysable, there will be a plurality of things, each of which is what it is to be real; [...]. (Charlton, 1970: 62) Da die nachfolgende Untersuchung offensichtlich den Nachweis, daß das Seiende nicht nur Eines ist, zum Ziele hat - dies wird aus der abschließenden Konklusion ,,δτι μέν οΰν ούτως έν είναι τό δν άδύνατον, δήλον" (187a 10-11) deutlich -, schließe ich mich der Ansicht von Charlton an. Würde Aristoteles hier nämlich die Eleaten zunächst zugestehen lassen, daß es viele verschiedene Dinge - wie z.B. Menschen usw. - gibt, und würde er dann die Frage stellen, ob diese weiter analysierbar sind, so würde sich die weitere Untersuchung doch insofern erübrigen, als ihr Ziel - nämlich der Nachweis, daß das Seiende nicht nur Eines ist - bereits am Ausgangspunkt zugestanden wäre. Das Beispiel „Mensch" unterscheidet sich jedoch insofern von dem vorherigen Beispiel „weiß", als „Mensch" im Unterschied zu „weiß", welches ein συμβεβηκός an einem δπερ öv darstellte, nun das δπερ δν selbst meint. Für den Argumentationszusammenhang besagt dieser Unterschied folgendes: Selbst wenn das δπερ öv von keinem anderen als Akzidens ausgesagt wird (186a32b4), und selbst wenn andererseits auch keine Akzidentien von ihm ausgesagt werden (b4-12) - was für sich genommen schon seltsam genug wäre -, so stellt es dennoch als bloße ουσία ohne Akzidentien immer noch insofern eine Vielheit dar, als es dem λόγος nach in ein anderes δπερ δν τι differenziert werden kann, das selbst aus verschiedenen begrifflichen Teilen besteht. Eine Gliederung des schwierigen Abschnitts 186b 14-3 5 ergibt folgendes Bild: Abb. 3.1: Die Argumentationsstruktur in 186 b!4-35: Ausgangsthese: „Es gibt nur ein δπερ δν" [z.B. Mensch] Dann gibt es ein anderes δπερ öv τι, weil das δπερ δν dem λόγος nach teilbar ist [z.B. 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen'] Denn: Wenn sie nicht δπερ δν τι sind [Beginn einer Reductio ad absurdum] dann sind 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' συμβεβηκότα (1) entweder an Mensch
(2) oder an einem anderen Dies ist unmöglich, denn: συμβεβηκός ( = D e f )
(a) etwas, was zukommen und nicht zukommen kann ('sitzen') [συμβεβηκός κατά συμβεβηκός]
(b) etwas, in dem der λόγος dessen, dem es akzidentell zukommt ('stupsig'), enthalten ist [συμβεβηκός καθ' αύτό]
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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Zudem: In den λόγοι der Teile einer Definition ist nicht der λόγος des Ganzen enthalten + Also Wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' συμβεβηκότα sind + Dann: (1) an Mensch
(2) an einem anderen
(a) συμβεβηκός κατά συμβεβηκός (b) συμβεβηκός καθ' αϋτό [Dies ist widersinnig, da der [Dies ist unmöglich, da weder in 'zweifüßig' Mensch dann auch nicht noch in 'Sinnenwesen' der λόγος von zweifüßig sein könnte.] 'Mensch' enthalten ist.] Also bleibt nur: (2) an einem anderen (a) συμβεβηκός κατά συμβεβηκός [Dann wäre auch 'Mensch' ein συμβεβηκός]
[(b) συμβεβηκός καθ' αύτό] [Dies wird von Aristoteles gar nicht in Betracht gezogen, da der Mensch dann niemals zweifüßig oder Sinnenwesen wäre] Konklusion: 'Soll das Ganze also aus Unteilbarem bestehen?'
Ich beginne meine Analyse mit dem Ausgangspunkt der Argumentation: Daß aber das An-sich-Seiende in ein anderes bestimmtes An-sich-Seiendes unterteilbar ist, ist auch dem Begriff nach offenkundig: wie z.B. wenn Mensch ein bestimmtes An-sich-Seiendes ist, dann sind notwendigerweise auch Sinnenwesen und Zweif ü ß i g e s ein bestimmtes An-sich-Seiendes. (1.3, 1 8 6 b l 4 - 1 6 )
Aristoteles greift hier mit dem „Menschen" als Beispiel für ein δπερ δν, dessen Name (ονομα: „Mensch") durch seinen definitorischen Begriff (λόγος: „zweifüßiges Sinnenwesen") eine Vielheit impliziert,57 auf die Methode der Diairesis aus Kapitel 1.1 zurück. Dort wurde das Verhältnis von einem unbestimmten Wahrnehmungsding zu seinen es konstituierenden άρχαί durch das Verhältnis von einem Namen ('Kreis') zu seinem definitorischen Begriff veranschaulicht. Zugleich entspricht das Beispiel den eleatischen Prämissen, da sowohl durch den Namen 'Mensch' als auch durch den Begriff 'zweifüßiges Sinnenwesen' ein Eines bezeichnet wird, auch wenn dies aus aristotelischer Sicht kein absolut Eines ist.58 Aristoteles führt zunächst seine eigene These an, die er im folgenden ausführlich begründen wird: Nehmen wir einmal an, Mensch sei so ein bestimmtes 57
58
Wobei zu betonen ist, daß auch die Definition ,zweifüßiges Sinnenwesen" Aristoteles zufolge zwar eine Einheit bezeichnet (vgl. Met. VII. 12), doch ist diese Einheit eine solche, die aus den Bestandteilen 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' erst konstituiert wird und als eine solche aus 'Teilen' bestehende Einheit keine absolute Einheit mehr ist. Vgl. vor allem Met. IV.4, wo Aristoteles ausführt, daß der Name „Mensch" ein Eines bezeichnet, nämlich 'zweifüßiges Sinnenwesen', das der λόγος von 'Mensch' ist.
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όπερ όν, so müßte auch der λόγος von Mensch, nämlich 'zweifüßiges Sinnenwesen', ebenfalls ein solches bestimmtes δπερ δν darstellen (und letztlich sogar ein jedes von beiden), woraus sich ergibt, daß das δπερ δν doch mehreres ist und 'seiend' nicht nur Eines bezeichnet.59 In der Aussage, daß das δπερ δν in ein anderes (άλλο) δπερ δν τι unterteilt werden kann, liegt die Betonung auf dem Ausdruck „αλλο", 60 wodurch verdeutlicht werden soll, daß der λόγος des Menschen diesen als etwas bestimmt, was in einer bestimmten Hinsicht von Mensch verschieden ist. Nun soll diese Verschiedenheit jedoch nicht eine solche sein, wie sie beim „weißen Menschen" vorliegt, wo „weiß" von Mensch κατά συμβεβηκός ausgesagt wird; vielmehr soll sie eine solche sein, bei der etwas καθ' αυτό vom Menschen ausgesagt wird und doch von Mensch verschieden ist. Diese Eigenheit wird gerade durch einen definitorischen Begriff erfüllt. Denn durch eine Definition wird einerseits das zu Definierende (Definiendum) seinem Wesen nach (καθ' αυτό) bestimmt,61 und andererseits liegt insofern eine Verschiedenheit von Definiens und Definiendum vor, als das Definiendum im Definiens nicht vorkommen darf. Das Definiens führt das Definiendum vielmehr auf etwas anderes zurück, wobei dessen Bestandteile (genus proximum und differentia specified) für sich betrachtet mit dem Definiendum nicht identisch sind. Weder ist nämlich jedes Zweifüßige noch ist jedes Sinnenwesen ein Mensch. Zur Begründung seiner These, daß auch 'ζωον' und 'δίπουν' ein δπερ δν τι sind, wenn 'άνθρωπος' ein δπερ δν τι ist, bedient sich Aristoteles erneut des Mittels einer Reductio ad absurdum, in der davon ausgegangen wird, daß 'ζωον' und 'δίπουν' kein δπερ δν τι sind: Denn wenn sie kein bestimmtes An-sich-Seiendes wären, so wären sie akzidentell Zukommendes [συμβεβηκότα], Und sie würden entweder dem Menschen oder einem anderen bestimmten Zugrundeliegenden [akzidentell zukommen]. Dies aber ist unmöglich. (1.3, 186b 17-18) Aus der Disjunktion „entweder δπερ δν τι oder συμβεβηκότα", die aus aristotelischer Sicht als vollständig zu betrachten ist, wird deutlich, daß Aristoteles das δπερ δν, das er den συμβεβηκότα gegenüberstellt, als Wesensbestimmung versteht. Seine Begründung lautet: Wenn 'ζωον' und 'δίπουν' keine Wesensbestim-
61
Es ist unklar, ob Aristoteles hier meint, mit 'ζώον' und 'δίπουν' läge ein einziges δπερ öv τι vor ('ζωον δίπουν'), so daß sich die Zweiheit 'άνθρωπος' und "ζώον δίπουν' ergäbe, oder ob er meint, ein jedes von diesen beiden ('ζωον' und 'δίπουν') sei flir sich ein δπερ δν τι. Denn einerseits spricht Aristoteles zunächst im Singular von „εις δπερ öv τι αλλο" (b 14-15), was dafllr spricht, daß 'ζφον' und 'δίπουν' zusammen ein δπερ δν τι darstellen, doch andererseits spricht er im Plural von „συμβεβηκότα" (bl7), wenn er die Möglichkeit erwähnt, daß sie nicht ein δπερ δν τι sind und folglich Akzidentien sein müssen. Bereits die antiken Kommentatoren waren sich nicht einig, ob in bI4-15 der Singular „öv τι αλλο" oder der Plural „δντα" stehen muß. Zugleich zerfällt das δπερ öv nicht nur in ein anderes (αλλο), sondern auch in ein bestimmtes (τι) anderes δπερ öv (vgl. dazu 1.3,187a8-9: „Wer begreift schon 'das Seiende selbst', wenn es nicht ein bestimmtes An-sich-Seiendes [δπερ öv τι] ist"). Das δπερ öv muß Aristoteles zufolge immer schon als ein δπερ öv τι gefaßt werden, da es sich sonst aufgrund der inhaltlichen Leere seines Begriffs jeglichem Verstehen entzieht. Vgl. Met. VII. 12; De Int. 5; An. post. II.5.
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mungen (δπερ öv τι) sind, so bleibt nur übrig, daß sie Akzidentien (συμβεβηκότα) sind. Sind sie jedoch Akzidentien, so kommen sie an etwas vor (vgl. 186a34-35) und mithin (notwendigerweise) entweder an Mensch oder an einem anderen. Beides aber ist - wie Aristoteles im nachfolgenden zeigen wird - unmöglich. Es deutet sich an dieser Stelle bereits ein für das weitere Verständnis der Argumentation wichtiger Gesichtspunkt an. Die logischen Disjunktionen „entweder δπερ öv τι oder συμβεβηκότα" und „entweder an Mensch oder an einem anderen", die sich auf das vom Menschen zu Prädizierende ,,ζωον δίπουν" beziehen, werden hier nicht aus Sicht des Subjekts „άνθρωπος", sondern aus Sicht des Prädikats ,,ζωον δίπουν" aufgestellt. Denn es heißt ja, daß die συμβεβηκότα entweder an Mensch oder an einem anderen vorkommen. Würden die Disjunktionen aus Sicht des Subjekts aufgestellt werden, so würde die zweite Disjunktion eher lauten „entweder ist es συμβεβηκός an Mensch oder nicht1", von einem 'anderen' wäre hier zunächst keine Rede. Daß ,,ζωον" und „δίπουν" jedoch συμβεβηκότα an Mensch oder einem anderen sind, ist Aristoteles zufolge unmöglich: Denn ein Akzidens [συμβεβηκός] wird dies genannt: Entweder etwas, daß beliebig an etwas vorkommen und nicht vorkommen kann [δ έ ν δ έ χ ε τ α ι ΰ π ά ρ χ ε ι ν καί μή ύ π ά ρ χ ε ι ν ] , oder etwas, in dessen Begriff das, dem es akzidentell zukommt, vorhanden ist, [oder etwas, in dem der Begriff dessen, dem es zukommt, schon vorhanden ist] 62 (z.B. ist 'sitzen' [καθήσθαι] abtrennbar, in 'stupsig' [τό σιμόν] 6 3 hingegen ist der Begriff der Nase vorhanden, von der man sagt, daß 'stupsig' ihr akzidentell zukommt). (1.3, 186b 1 8 - 2 3 )
Betrachtet man die drei Alternativen genauer, so ergibt sich folgendes Bild: Ein συμβεβηκός ist entweder etwas, (1) was [an etwas] vorhanden und nicht vorhanden sein kann (b 19-20); oder etwas, (2) in dessen λόγος dasjenige, dem es nebenbei zukommt, vorhanden ist (b20); oder etwas, (3) in dem der λόγος [dessen] vorhanden ist, dem es nebenbei zukommt (b20-21). Ist in (2) davon die Rede, daß in dem λόγος (des συμβεβηκός) dasjenige enthalten ist, dem es zukommt, so ist in (3) davon die Rede, daß in dem συμβεβηκός der λόγος (dessen) enthalten ist, dem es nebenbei zukommt. Die in eckige Klammem gesetzte dritte Variante findet sich in den meisten MSS nicht. Da Aristoteles im folgenden auch nur zwei Beispiele anführt und behandelt, „liegt es nahe, die Disjunktion auch nur zweifach anzusetzen, und die dritte Möglichkeit als varia lectio - welches Lesers auch immer - zum zweiten aufzufassen" (Zekl, 1987: 242, Fn.28). Ross (1936: 340 und 477) läßt es ebenso wie Philoponus, Simplicius, Hardie/Gaye (1930) und Wicksteed/Cornford (1980: 34/35) ganz weg, während Wagner (1967: 12) es in Klammem setzt. Demgegenüber wird es von Prantl (1854: 21), Gohlke (1956: 37) und Carteron (21952: 35) stehengelassen. Charlton (1970: 6 und 46), der es ebenfalls stehenläßt, klammert jedoch die zweite Variante (,,ή οΰ έν τω λόγω υπάρχει τό φ συμβέβηκεν": 186 b20) ein, weil seiner Ansicht nach die dritte Variante (,,έν ω ό λόγος υπάρχει φ συμβέβηκεν": b20-21) - obgleich sie als Formulierung dessen, was Aristoteles meint, schlechter ist - parallel zum Beispiel von b22-3 ,,έν δέ τω σιμω υπάρχει ό λόγος ό της ^ινός fj φαμέν συμβεβηκέναι τό σιμόν" formuliert ist. Die Übersetzung von ,,τό σιμόν" mit „stupsig" ist keine wörtliche Übersetzung; zudem stellt das Adjektiv „stupsig" im Deutschen einen Neologismus dar. Wörtlich übersetzt bedeutet ,,τό σιμόν" soviel wie „sttllp- oder stumpfnasig" und bezeichnet eine Krummheit, die nur an Nasen vorkommt. Anders als im Deutschen, wo in „stumpfnasig" bereits das Wort „Nase" enthalten ist, ist im Griechischen in „σιμόν" das Wort ,^ίς" nicht enthalten. Dieses Verhältnis soll durch die Übersetzung „stupsig" wiedergegeben werden. Einige Übersetzer wählen zur Verdeutlichung andere Beispiele, bei denen sich dasselbe Verhältnis auch im Deutschen widerspiegelt: z.B. „blond", das nur von Haaren, oder „schielend", das nur von Augen ausgesagt werden kann.
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Aristoteles legt hier eine Bedeutungsunterscheidung von „Akzidens" (συμβεβηκός) zugrunde, die als vollständig (vgl. 'ή...ή': bl9-20) anzusehen ist. Dieser Bedeutungsunterscheidung zufolge ist ein Akzidens entweder (1) etwas, das beliebig an etwas vorhanden und nicht vorhanden sein kann, oder (2) etwas, in dem der Begriff dessen, dem es akzidentell zukommt, vorhanden ist.64 Beide Bedeutungen werden durch Beispiele verdeutlicht: So ist „sitzen" (καθήσθοα) als Abtrennbares (χωριζόμενοv) ein συμβεβηκός in der Bedeutung (1), während „stupsig" (τό σιμόν) als etwas, in dem der λόγος dessen enthalten ist, dem es nebenbei zukommt - nämlich der Nase (ρίς) -, ein συμβεβηκός in der Bedeutung (2) ist. Wird hier von der Eigenschaft des 'Sitzens' gesagt, daß sie abtrennbar sei, so ist freilich nicht gemeint, daß sie als Selbständiges gleichsam wie ein Ding (ουσία) neben anderen Dingen existieren kann.65 Vielmehr scheint mit dem Ausdruck ,,χωριζόμενον" hier zunächst gemeint zu sein, daß das 'Sitzen' vom Subjekt aus betrachtet eine solche Eigenschaft ist, die an dem Subjekt vorhanden oder nicht vorhanden sein kann, ohne daß sich das Subjekt durch seine An- oder Abwesenheit in seinem Wesen ändert. Schaut man jedoch genauer hin, so ergibt sich allerdings folgende Schwierigkeit bezüglich dieser Bedeutung. Da nämlich auch 'stupsig' in bezug auf das Subjekt der 'Nase' vom Subjekt aus betrachtet eine solche Eigenschaft ist, die an dem Subjekt vorhanden oder nicht vorhanden sein kann, ohne daß sich das Subjekt durch seine An- oder Abwesenheit in seinem Wesen ändert - so muß ja nicht jede Nase stupsig sein -, hätten wir es in bezug auf das ,,χωριζόμενον", wenn wir es in diesem Sinne verstehen, nicht mit einem unterscheidenden Kriterium zwischen den Bedeutungen (1) und (2) zu tun. Da in dem ,,χωριζόμενον" aber offenkundig ein die Bedeutungen (1) und (2) unterscheidenes Kriterium zu sehen ist (vgl. die Gegenüberstellung „μέν.,.δέ" in 186b21-23), scheint mir mit dem ,,χωριζόμενον" primär gemeint zu sein, daß man „Sitzen" abgetrennt und unabhängig von demjenigen erklären kann, an dem es vorkommt.66 Dies ist nämlich bei „stupsig" insofern nicht der Fall, als wir zur Erklärung des Wortes „stupsig" immer schon auf den Begriff der Nase verweisen müssen. Das „Zukommen-und-nicht-Zukommen-Können" (vgl. „ενδέχεται ύπάρχειν και μή ύπάρχειν": b 19-20), von dem in der Bedeutung (1) die Rede ist, ist aufgrund der die einzelnen Bedeutungen des συμβεβηκός trennenden Disjunktion Ich fasse die in Fn.62 dargelegten Varianten (2) und (3) in dieser Weise zusammen. In 1.2, 185a31 -32 wurde ausdrücklich hervorgehoben, daß nichts außer der ουσία abtrennbar (χωριστόν) ist. In diesem Sinne heißt es auch in 1.5, 188al2-13, daß die Zustande (τά πάθη) nicht abtrennbar (αχώριστα) sind. Da Aristoteles hier nun einer Eigenschaft zuspricht, daß sie 'χωριζόμενον' (186b22) bzw. 'χωριστόν' (b28) sei, haben wir es offenkundig mit einer Äquivozität des Wortes „χωριστόν" zu tun (vgl. dazu Gohlke (1956: 311, Fn.5), der dies als eine „ausgesprochene Ungeschicklichkeit" betrachtet). Vgl. Met. VII.5, 1030b23-26: „Darunter versteht man nämlich alles dasjenige, in welchem der Begriff oder Name dessen, an welchem es eine Affektion ist, enthalten ist, und was man nicht abgetrennt davon erklären kann [μή ένδέχεται δηλώσαι χωρίς], wie man wohl das Weiße erklären kann ohne den Menschen, aber nicht das Weibliche ohne das Tier." [Übers, nach Bonitz].
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„entweder ... oder*' ('ή...ή': bl9-20) hier nicht als eine allen Bedeutungen von συμβεβηκός gemeinsame und grundlegende Charakterisierung, sondern als eine der anderen Bedeutung (2) gegenüberstehende Alternative zu betrachten. Der Gedanke, daß das ,,ένδέχεται ΰπάρχειν και μή ΰπάρχειν" eine allen Bedeutungen des συμβεβηκός gemeinsame und grundlegende Bestimmung ist, liegt ja zunächst nahe, sofern man die Disjunktion aus Sicht des Subjekts betrachtet. Dann nämlich wäre sowohl 'sitzen' als auch 'stupsig' zunächst etwas, das zukommen oder nicht zukommen kann, wobei sich 'sitzen' und 'stupsig' weitergehend darin unterscheiden würden, daß in dem einen Fall der λόγος dessen, dem es zukommt, im συμβεβηκός enthalten ist, während in dem anderen Fall der λόγος dessen, dem es zukommt, im συμβεβηκός nicht enthalten ist. In diesem Sinne charakterisieren Gershenson und Greenberg (1962: 149) die uns für gewöhnlich begegnende aristotelische Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός.67 Da nun aber an der uns vorliegenden Textstelle in Phys. 1.3 das ,,ένδέχεται ΰπάρχειν και μή ΰπάρχειν" aufgrund der Disjunktion „entweder ... oder" offenkundig nicht als eine gemeinsame und grundlegende Bestimmung des συμβεβηκός angeführt wird, sind Gershenson und Greenberg der Ansicht, daß wir es hier mit einer eleatischen Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός zu tun haben: Aristotle first defines an advenient, according to Eleatic usage. The definition has two parts ( 1 8 6 B 1 8 - 2 0 : »An advenient is either that which may either exist or not e x ist (belong or not belong, indifferently, [to the subject it modifies]) or that which inv o l v e s in its definition that to which it is advenient.« N o w in Aristotelian usage all accidental attributes may either belong or not belong, indifferently, to the subject they modify; a subset o f these attributes would have the additional property o f involving their subject in their definition. Therefore, if Aristotle were defining σ υ μ βεβηκός, he w o u l d not have found it necessary to present these two parallel definitions, but w o u l d have subordinated the second to the first. It is therefore clear that the twofold definition o f advenient given here reflects precisely the meaning o f this word for the Eleatics; the first reflects the way they used the word in speaking about true being, and the second reflects its usage in the method o f division, and hence in the world o f appearance. (Gershenson/Greenberg, 1962: 148 f.)
Dieser von Gershenson und Greenberg vorgelegten Interpretation, die in der zweigliedrigen Definition des συμβεβηκός eine eleatische Definition sehen, welches im Einklang mit ihrer Grundthese steht, daß Aristoteles im zweiten Teil seiner Argumentation gegen die Eleaten aus eleatischer Sicht und eleatische Prämissen verwendend argumentiert, ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: Zum einen hat Aristoteles in 186a31 -32 betont, daß die Eleaten den Unterschied von Ding und Eigenschaft noch nicht kannten. Wie sollte es ihnen da möglich sein, eine BedeutungsdifTerenzierung des συμβεβηκός vorzunehmen? Zum anderen ist in den Kapiteln 1.2 und 1.3 von der sogenannten Doxa-Lehre des ParZur gewöhnlichen Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός vgl. Met. V.30, VII.5, VI.2, X.10, XI.8 und Phys. VIII.5, 256b9-10, wo Aristoteles die grundlegende Bedeutung von „συμβεβηκός" darin sieht, daß das συμβεβηκός zwar faktisch, nicht aber notwendig und auch nicht in der Regel zukommt, bzw. darin, daß es zwar faktisch zukommt, daß aber zugleich die Möglichkeit besteht, daß es nicht zukommt.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
menides, der Gershenson und Greenberg den zweiten Teil der Definition des συμβεβηκός zuordnen, noch keine Rede.68 Meines Erachtens ist die in 186b 1823 vorgelegte Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός durchaus als eine aristotelische Bedeutungsdifferenzierung zu verstehen, die insofern ohne Schwierigkeiten als eine aristotelische Differenzierung angesehen werden kann, als man sich der Tatsache bewußt sein muß, daß Aristoteles die Bedeutungsdifferenzierung hier nicht aus Sicht des Subjekts, sondern vielmehr aus Sicht des Prädikats vornimmt. Dies läßt sich durch folgende Überlegungen stützen: (i) Aus Sicht des Prädikats kommt das συμβεβηκός dem Menschen oder einem anderen zu (aus Sicht des Subjekts käme das συμβεβηκός dem Menschen zu oder nicht zu), (ii) Aus Sicht des Prädikats ist im συμβεβηκός der λόγος dessen enthalten, dem es zukommt, bzw. ist im λόγος des συμβεβηκός dasjenige enthalten, dem es zukommt (aus Sicht des Subjekts wäre es selbst im λόγος des συμβεβηκός enthalten, das ihm zukommt), (iii) Aus Sicht des Prädikats wird 'sitzen' ohne Bezug auf irgendein zugehöriges Subjekt angeführt (aus Sicht des Subjekts wäre der Bezug des Beispiels 'sitzen' bereits mitgegeben), (iv) Versteht man die Bedeutungsdifferenzierung als aus Sicht des Prädikats vorgenommen, so erklärt sich auch der Umstand, warum Aristoteles 'sitzen' im Gegensatz zu 'stupsig' als ein „χωριζόμενοv" bestimmt. Denn aus Sicht des Prädikats kann 'sitzen' getrennt von einem Subjekt, dem es zukommt, erklärt werden, was bei 'stupsig' nicht der Fall ist. Zur Verdeutlichung meiner These sei eine Textstelle aus der Topik hinzugezogen, in der Aristoteles eine Definition von „συμβεβηκός" gibt, die zu der in Phys. 1.3 aufgestellten Definition in einer auffallenden Parallele steht: Akzidenz [συμβεβηκός] ist was keines von diesen ist, nicht Definition [δρος], nicht Proprium [ίδιον], nicht Gattung [γένος], aber dem Dinge [τω πράγματι] zukommt, und was einem und demselben, sei es was immer, zukommen und nicht zukommen kann [και δ ένδέχεται ύπάρχειν ότωοΰν ένϊ και τω αϋτω και μή ϋπάρχειν], wie es z.B. einem und demselben zukommen und nicht zukommen kann, daß es sitzt. Gleiches gilt von dem Weißen. Nichts hindert ja, daß dasselbe Ding bald weiß, bald nicht weiß ist. Von den Begriffsbestimmungen des Akzidenz ist die zweite besser. Um die zuerst aufgestellte zu verstehen, muß man zuvor wissen, was Definition, Gattung und Proprium ist, dagegen genügt die zweite für sich, um uns erkennen zu lassen, was das Akzidentelle an sich ist. {Top. 1.5, 102b4-14; Ubers, nach Rolfes)
In der zweiten Definition bestimmt Aristoteles das συμβεβηκός als dasjenige, „was einem und demselben, sei es was immer, zukommen und nicht zukommen kann" (102b6-7), wobei er bezeichnenderweise als Beispiel ebenfalls 'sitzen' nennt. Legt man diese Definition zugrunde, so wird deutlich, warum für 'stupsig' nicht gilt, daß es zukommen und nicht zukommen kann, bzw. warum es im Gegensatz zu 'sitzen' kein χωριζόμενον ist: Denn für 'stupsig' ist es unmöglich, daß es einem und demselben, sei es was immer (vgl. „ότωοΰν": b6), zukommen und nicht zukommen kann, weil es ja auf ein bestimmtes Subjekt bezogen ist, Dies findet seinen Grund darin, daß Parmenides in seiner Doxa-Lehre das Vorhandensein einer Vielheit, welches er in seiner hier zur Diskussion stehenden Aletheia-Lehre leugnet, schließlich zugesteht.
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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von dem es zwar aus Sicht des Subjekts ('Nase'), nicht aber aus Sicht des Prädikats ('stupsig') abtrennbar ist. Aus Sicht des Subjekts, dem ein Prädikat zukommt, ist sowohl 'sitzen' als auch 'stupsig' als ein συμβεβηκός anzusehen, das zukommen oder nicht zukommen kann. Aus Sicht des Prädikats hingegen, das einem Subjekt zukommt, gilt für das 'sitzen', daß es zukommen und nicht zukommen kann, während dies bei 'stupsig' in dem dargelegten Sinne nicht der Fall ist. Das „Zukommen-und-Nicht-zukommen-können" bezieht sich somit auf ein beliebiges Subjekt. Mit anderen Worten: Wir haben es hier in Kapitel 1.3 mit zwei verschiedenen συμβεβηκότα zu tun, die sich mit Hilfe der Begriffe συμβεβηκός κατά συμβεβηκός (z.B. 'sitzen') einerseits und συμβεβηκός καθ' αυτό (z.B. 'stupsig') andererseits unterscheiden lassen.69 Während Aristoteles den Ausdruck 'stupsig' für gewöhnlich als Beispiel für eine besondere καθ' αύτό-Prädikation verwendet, so wird er hier jedoch als ein συμβεβηκός verstanden. Der Grund für die Verschiedenheit von 'stupsig' als καθ' αύτό-Prädikat einerseits und als κατά συμβεβηκός-Prädikat andererseits ist in der Verschiedenheit des Betrachtungspunktes zu sehen: Denn vom Subjekt (ΰποκείμενον) aus betrachtet, das in diesem Falle diese Nase ist, kommt 'stupsig' der Nase in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) zu, da die Nase auch eine Nase bleibt, wenn sie nicht stupsig ist. Vom Prädikat ('stupsig') aus betrachtet kommt 'stupsig' der Nase jedoch an sich (καθ' αυτό) zu, da es, soll es überhaupt einem Subjekt zukommen, einzig der Nase zukommen kann. Im folgenden wird Aristoteles nun die aufgezeigten Bedeutungsmöglichkeiten des συμβεβηκός in bezug auf das ,,ζφον δίπουν" einzeln durchgehen und zeigen, daß ,,ζφον δίπουν" in keiner der dargelegten Bedeutungen ein συμβεβηκός sein kann. Weiter: Was an [Teilen] in dem definierenden Begriff [έν τω όριστικω λόγω] enthalten ist, oder aus welchen er besteht, in deren Begriff ist nicht der Begriff des Ganzen enthalten, wie z.B. in 'zweifüßig' nicht der Begriff des 'Menschen' oder in 'weiß' nicht der Begriff des 'weißen Menschen' [enthalten ist]. Wenn sich dies also auf diese Weise verhält und 'zweifüßig' dem Menschen akzidentell zukäme, dann wäre es selbst ['zweifüßig'] notwendigerweise abtrennbar, so daß es möglich würde, daß der Mensch auch einmal nicht zweifüßig wäre; oder aber im Begriff des Zweifüßigen wäre der Begriff des Menschen enthalten. Dies aber ist unmöglich. Denn jenes [zweifüßig] ist in dem Begriff von diesem [Mensch] enthalten. (1.3, 186b23-31)
Zunächst stellt Aristoteles als weitere Prämisse der Argumentation heraus, daß in den Teilen einer Definition nicht der Begriff des Ganzen enthalten ist. So ist weder in 'zweifüßig' noch in 'Sinnenwesen' der Begriff des 'Menschen' enthal-
Der Begriff eines „συμβεβηκός καθ' αύτό" findet sich u.a. in Met. V.30, 1025a30-34, Phys. II.2, 193b27-28 und 111.4, 203b33. Vgl. auch An. post. 1.4, wo Aristoteles zwischen einer zweifachen Bedeutung von ,,καθ' αύτό" differenziert: (1) Aus Sicht des Subjekts gehört ein Prädikat (Ρ) καθ' αύτό zu einem Subjekt (S), wenn Ρ im Begriff von S enthalten ist (so gehört z.B. δίπουν und ζώον καθ' αύτό zu άνθρωπος). (2) Aus Sicht des Prädikats gehört ein Prädikat (P) καθ' αύτό zu einem Subjekt (S), wenn S im Begriff von Ρ enthalten ist (so gehört z.B. σιμόν καθ' αύτό zu ρίς). Vgl. dazu auch Gill (1989: 114 f.).
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ten.70 In dieser Hinsicht verhält sich die Bestimmung 'zweifüßig' in bezug auf Mensch analog zur Bestimmung 'weiß' in bezug auf Mensch. Denn weder ein Weißes noch ein Zweifüßiges ist notwendigerweise ein Mensch, woraus deutlich wird, daß die Extensionen der Begriffe 'Mensch' und 'Zweifüßiges' verschieden sind.71 Hinsichtlich der Bedeutungsmöglichkeiten des συμβεβηκός in bezug auf 'Sinnenwesen' und 'zweifüßig' beginnt Aristoteles mit der Untersuchung der Möglichkeit, daß diese ein συμβεβηκός an 'Mensch' darstellen: Wenn sich das alles also in der beschriebenen Weise verhält (b25-26), und wenn 'zweifüßig' dem Menschen als συμβεβηκός zukommt (b27-28), so ergibt sich folgendes: (i) Entweder ist 'zweifüßig' von Mensch abtrennbar (χωριστόν), so daß Mensch auch einmal nicht zweifüßig wäre, oder (ii) im λόγος von 'zweifüßig' ist der λόγος von Mensch enthalten. Beides ist aber unmöglich.72 Wenn (i) 'zweifüßig' in der Bedeutung eines 'χωριστόν' ein συμβεβηκός an Mensch wäre, so würde sich die widersinnige Konklusion ergeben, daß Mensch auch einmal nicht zweifüßig wäre, welches Aristoteles als einen derart offenkundigen Widerspruch betrachtet, daß er selbst keine weitere Begründung anführt.73 Wenn aber (ii) 'zweifüßig' im Sinne von 'stupsig' ein συμβεβηκός an Mensch wäre, so stünde dies im Widerspruch zu dem bereits Dargelegten (vgl. b23-26), dem zufolge nicht in „zweifüßig" der λόγος des Menschen, sondern umgekehrt in „Mensch" der λόγος des Zweifüßigen enthalten ist. Um also weiterhin behaupten zu können, 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' seien συμβεβηκότα, bleibt einzig die letzte Alternative übrig, der zufolge sie συμβεβηκότα an einem anderen sind: Wenn aber 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen akzidentell zukommen, und wenn ein jedes von beiden kein bestimmtes An-sich-Seiendes ist, dann wäre auch 'Mensch' ein akzidentell Zukommendes für ein [von sich] Verschiedenes. Aber das An-sich-Seiende soll doch für nichts ein akzidentell Zukommendes sein, und dasjenige, von dem beide [und jedes für sich] [και έκατέρον] [ausgesagt werden], soll das 'aus diesen' [τό έκ τούτων] genannt werden. Soll also das Ganze aus Unteilbarem bestehen [έξ αδιαιρέτων αρα τό πάν]? (1.3, 186b31-35)
70 71
„Zweifüßig" und „Sinnenwesen" sind keine propria des Menschen (vgl. Top. 1.5). Der Unterschied der Bestimmungen von „weiß" und ,zweifüßig" in bezug auf Mensch kommt darin zum Ausdruck, daß als Ganzes fllr „weiß" der 'weiße Mensch', als Ganzes fllr „zweifüßig" hingegen nur der 'Mensch' (und nicht der 'zweifüßige Mensch') genannt wird. Während 'weiß' und 'Mensch' Aristoteles zufolge eine Vielheit darstellen und erst in Form von 'weißer Mensch' eine Einheit bilden, stellen 'Sinnenwesen' und 'zweifüßig' die Einheit 'Mensch' dar, die durch sie erst konstituiert wird und bei der das eine nicht am anderen teilnimmt, da das Genus nicht an seinen Unterschieden teilnimmt (vgl. Met. VII. 12 und VII.5). Eine analoge Argumentation ließe sich auch für 'Sinnenwesen' als σομβεβηκός an Mensch rekonstruieren, was Aristoteles hier nicht tut. Es ist hier nicht gemeint, daß es keine nicht-zweifüßigen Menschen geben könne - man denke an einen Unfall, wo ein Mensch ein Bein verliert - oder gar, daß diese nicht-zweifüßigen Unfallopfer keine Menschen mehr wären. Vielmehr ist gemeint, daß, wenn 'zweifüßig' dem Menschen als σομβεβηκός zukommt, es ihm nicht notwendig bzw. nicht in der Regel (ως έπΐ τό πολύ) zukommt, zweifüßig zu sein. Der nicht-zweifüßige Mensch stellt jedoch nicht den Regelfall dar. Deutlicher würde die Aporie in bezug auf 'Sinnenwesen' ausfallen, denn ein Mensch ist zwar in der Regel zweifüßig, jedoch ist er notwendigerweise ein Sinnenwesen.
D i e ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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In vereinfachter Gestalt lautet das hier dargelegte Argument wie folgt: (1) Wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen ( α λ λ φ ) - d.h. nicht dem Menschen - als συμβεβηκότα zukämen, und wenn (2) 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' kein δπερ öv τι sind,74 dann (3) wäre letztlich auch 'Mensch' ein συμβεβηκός für ein (von sich) Verschiedenes (vgl. ,,έτέρφ"), was im Widerspruch zur Ausgangsprämisse steht, der zufolge doch angenommen wurde, daß Mensch ein δπερ δν τι sei (vgl. 186 bl 5-16). Die Schwierigkeit, die mit diesem Argument verbunden ist, liegt nun in der Konklusion (3), da aus den Prämissen nicht unmittelbar einsichtig ist, wie Aristoteles zu dieser Konklusion gelangt, die offenkundig die Widersinnigkeit der Annahme (1) deutlich machen soll. Kommen 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen als συμβεβηκότα zu, so bestehen auch hier zunächst grundsätzlich beide Bedeutungsmöglichkeiten von ,,συμβεβηκός". Aristoteles scheint jedoch die zweite Bedeutungsmöglichkeit von ,,συμβεβηκός" im Sinne von 'stupsig' aus dem Grunde erst gar nicht in Erwägung zu ziehen, da, wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen in dem Sinne akzidentell zukämen, wie 'stupsig' der Nase akzidentell zukommt, ein Mensch niemals zweifüßig oder ein Sinnenwesen sein könnte, was offensichtlich absurd ist. Folglich bleibt nur die erste Bedeutungsmöglichkeit von ,,συμβεβηκός" im Sinne von 'sitzen' (ένδέχεται ΰπάρχειν και μή ΰπάρχειν) übrig. Warum also würde auch 'Mensch' zu einem συμβεβηκός an einem von ihm Verschiedenen, wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' συμβεβηκότα an einem anderen wären? Innerhalb der Sekundärliteratur wird diese Frage zumeist dadurch beantwortet, daß Mensch ja „zweifüßiges Sinnenwesen" bedeutet, so daß, wenn „zweifüßiges Sinnenwesen" von einem anderen als συμβεβηκός ausgesagt wird, auch „Mensch" von diesem anderen als συμβεβηκός ausgesagt würde. Zur Stützung dieser Interpretation wird auf b34-35 hingewiesen, wo es heißt, daß dasjenige, von dem beide [oder jedes für sich] ausgesagt werden, das „aus diesen" genannt werden soll. In dieser Aussage wird dann die implizite Behauptung gesehen, daß Mensch das „aus diesen" (nämlich aus 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen') sei.75
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Diese Prämisse ergibt sich unmittelbar aus (1), denn ein συμβεβηκός soll ja gerade kein δπερ öv τι sein. Vgl. Turnbull (1976: 47): „If animal and biped hold for something else that is other than man, then (since they form the definition of man) man must hold for it also. But then man could not be that very being." Vgl. auch Ross (1936: 477 f.). Nach Ansicht von Ross endet das Hauptargument in b33 mit ,,έτέρφ", wobei er das nachfolgende „ ά λ λ α ... πάν" (b33-35) als zusätzliche Reflexion von Aristoteles ansieht. Obgleich die MSS nicht eindeutig sind und eher dafür sprechen, das „και έκατέρον" (b34-35) stehenzulassen, setzt Ross es in Klammern, da in dem Satz „dasjenige, von dem beides und jedes fllr sich ausgesagt wird, soll das 'aus diesen' genannt werden" das „und jedes für sich" seiner Ansicht nach überflüssig ist, sofern die Aussage besagen soll, daß Mensch aus ,zweifüßig und Sinnenwesen" zusammengesetzt ist. Einige Interpreten haben die Begründung der Konklusion in dem Abschnitt b34-35 gesehen, weshalb Laas (vgl. Ross, 1936: 478) für eine Umstellung des Textes plädiert, die bereits von Simplicius erwogen wurde. Gegen diese Möglichkeit der von Laas vorgeschlagenen Textumstellung hat Ross jedoch triftige Argumente angeführt.
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Diese Interpretation erweist sich jedoch aus folgenden Gründen als problematisch: Soll das in b34-35 Gesagte als Begründung der Konklusion fungieren, so würde man erwarten, daß es eigentlich an früherer Stelle - unmittelbar nach der Konklusion - stehen müßte und mit einem Begründungspartikel (γάρ) eingeleitet wäre.76 Zudem ist folgender Einwand zu erheben: Die Argumentation, der zufolge angenommen wird, daß 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen als συμβεβηκότα zukommen, setzt doch gerade voraus, daß sie nicht Mensch zukommen, und zwar weder καθ' αυτό noch κατά συμβεβηκός. Denn daß sie Mensch (a) nicht κατά συμβεβηκός zukommen, wurde im Vorhergehenden (b26-31) gezeigt, und daß sie Mensch (b) nicht καθ' αυτό zukommen, ist ja gerade die Ausgangsprämisse der Gesamtargumentation (εί γάρ μή δπερ δν τν: 186 bl7), die durch eine Reductio ad absurdum erst widerlegt werden soll. Würde Aristoteles folglich die Konklusion „Mensch wäre ebenfalls ein συμβεβηκός" damit begründen, daß „zweifüßiges Lebewesen" καθ' αύτό von Mensch ausgesagt wird, so würde er in seiner Begründung bereits voraussetzen, was erst durch die Unmöglichkeit der letzten Alternative („an einem anderen") bewiesen werden soll. Da es jedoch als unwahrscheinlich erscheint, daß Aristoteles hier einen derartigen formalen Argumentationsfehler begeht, muß der Grund dafür, daß auch 'Mensch' zu einem συμβεβηκός würde, ein anderer sein, den ich in folgendem sehe: (1) Wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen (d.h. nicht dem Menschen) als συμβεβηκότα zukämen, würde sich die Frage stellen, in welchem Verhältnis der 'Mensch' dann zu diesem anderen stünde. Nun lautete der Ausgangspunkt der gesamten Argumentation, daß 'Mensch' ein An-sich-Seiendes (δπερ öv) ist (186bl5-16). Folglich gilt: (a) 'Mensch' darf nicht völlig getrennt von dem anderen, dem 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' nun als συμβεβηκότα zukommen sollen, existieren, da wir sonst bereits zwei An-sich-Seiende und somit eine Vielheit hätten, (b) Folglich muß 'Mensch' ebenfalls in einer Relation zu dem anderen ύποκείμενον stehen, so daß 'Mensch' entweder (bl) καθ' αύτό als δπερ öv und Wesensbestimmung diesem anderen zukommt oder (b2) als συμβεβηκός. Würde 'Mensch' nun dem anderen (bl) καθ' αύτό als Wesensbestimmung zukommen, so gäbe es entweder wiederum zwei An-sich-Seiende, sofern 'Mensch' und das andere ύποκείμενον nach Voraussetzung („entweder Mensch oder einem anderen Zugrundeliegenden": 186bl7-18) nicht identisch sind, oder aber, falls Mensch mit diesem anderen ύποκείμενον identisch ist, ergäbe sich, daß 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' dann als συμβεβηκότα an dem anderen ύποκείμενον auch 'Mensch' als συμβεβηκότα zukämen, was jedoch bereits in b24-31 ausgeschlossen wurde. Folglich bleibt einzig die Möglichkeit (b2) übrig, daß auch 'Mensch' neben 'zweifüßig ' und 'Sinnenwesen' ein συμβεβηκός an dem anderen ύποκείμενον ist. Die Unmöglichkeit dieser Alternative zeigt Aristoteles im folgenden: 76
Ross (1936: 477 f.) scheint dieses Problem zu sehen, weshalb er auch b34-35 nicht als eine Begründung der Konklusion, sondern als Teil einer zusatzlichen Reflexion von Aristoteles ansieht. Dennoch ist auch er der Ansicht, daß die Begründung für die Konklusion darin zu sehen ist, daß die Definition von „Mensch" ,zweifüßiges Sinnenwesen" lautet, und daß folglich auch „Mensch" zu einem συμβεβηκός wird, wenn „zweifüßiges Sinnenwesen" ein συμβεβηκός ist.
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Aber das An-sich-Seiende soll doch für nichts ein akzidentell Zukommendes sein, und das, von dem beide [und jedes für sich][icai έκατέρον] [ausgesagt werden], soll das 'aus diesen' [τό έκ τούτων] genannt werden. Soll also das Ganze aus Unteilbarem bestehen [έξ άδιαιρέτων άρα τό πάν]? (1.3, 186b33-35) Die Aporien, die entstehen würden, wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' - und letztlich auch 'Mensch' - συμβεβηκότα an einem anderen ύποκείμενον wären, zeigt Aristoteles mit Hilfe der beiden Imperative ,,εστω" (b34) und ,,λεγέσθω" (b35) auf: (1) „Das δπερ δν soll aber für nichts ein συμβεβηκός sein" ( ά λ λ α τό δπερ öv εστω μηδενι συμβεβηκός: b33-34). Dies ist so zu verstehen, daß Aristoteles darauf aufmerksam machen will, daß mit dem 'Menschen' nun als συμβεβηκός ein Widerspruch zur Ausgangsprämisse „wenn Mensch ein δπερ öv τι ist" (ό άνθρωπος εϊ εστίν δπερ öv τι: bl5-16) vorliegt. Zugleich greift Aristoteles mit seinem Einwand auf 186a32-b4 zurück, wo sich aus der eleatischen Prämisse ,,άπλώς τό öv λέγεσθαι" (186a24-25) notwendigerweise ergab, daß das öv ein δπερ öv sein muß und kein συμβεβηκός sein kann. Da für ein jedes δπερ öv gilt, daß es kein συμβεβηκός sein darf, würde das Beispiel des 'Menschen', das für ein beliebiges δπερ öv steht, im Widerspruch zu den bereits gewonnenen Konklusionen innerhalb der eleatischen Theorie stehen, wenn es nun als ein συμβεβηκός aufzufassen wäre. 77 In diesem Sinne ist das durch die Imperativform „έστω" (b34) zum Ausdruck gebrachte „sein sollen" auf die eleatischen Prämissen und auf die aus ihnen notwendigerweise resultierenden Konklusionen zu beziehen, denen zufolge das δπερ öv für nichts ein συμβεβηκός sein soll. (2) „Wovon beides und jedes (für sich) gesagt wird, soll das 'aus diesen' genannt werden" (καθ' οΰ αμφω [και έκατέρον], και τό έκ τούτων λεγέσθω: b34-35). Aristoteles hat in 186a33-bl2 gezeigt, daß sich aus der eleatischen Annahme folgendes ergibt: Weder kann das öv als συμβεβηκός von etwas ausgesagt werden, noch kann ein συμβεβηκός vom öv ausgesagt werden. Soll jedoch trotzdem etwas vom δπερ öv ausgesagt werden, dann ist dies nur in der Weise möglich, daß das Ausgesagte ein konstitutiver (begrifflicher) Bestandteil des δπερ öv ist, von dem es ausgesagt wird. In diesem Sinne ist z.B. 'zweifüßig', welches vom Menschen ausgesagt wird, ein konstitutiver (begrifflicher) Bestandteil von 'Mensch'. Versteht man nun den zweiten Einwand von Aristoteles in dem Sinne, daß „dasjenige, von dem 'zweifüßiges Sinnenwesen' [d.h. beides] und 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' [d.h. jedes von beiden] ausgesagt wird, das 'aus diesen' genannt werden soll", so macht Aristoteles hier darauf aufmerksam, daß das Ausgesagte den eleatischen Prämissen zufolge nur als ein logischer Bestandteil, und nicht als ein συμβεβηκός ausgesagt werden kann. Dies impliziert jedoch letztlich, daß wir es nicht mit einer absoluten Einheit zu tun haben. Denn Zudem gäbe es in diesem Falle letztlich nur Akzidentien (συμβεβηκότα). Denn würde man die dargelegte Argumentation nun auf das andere ύποκείμενον als δπερ öv, von dem 'δίπουν', 'ζώον' und 'άνθρωπος' als συμβεβηκότα ausgesagt werden, anwenden, so käme man zu demselben Ergebnis, daß auch dies letztlich ein συμβεβηκός an einem anderen wäre usw. Gäbe es jedoch nur noch Akzidentien (συμβεβηκότα), so gäbe es gar nichts Erstes, und wir gelangten letztlich in einen Regressus ad infinitum (vgl. dazu Met. IV.4).
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anhand des Beispiels „zweifüßig", das einen konstitutiven, logischen Bestandteil von „Mensch" darstellt, haben wir gesehen, daß 'zweifüßig' zwar nicht als σ υ μ βεβηκός von Mensch ausgesagt wird, daß es aber dennoch von 'Mensch' insofern unterschieden ist, als nicht jedes Zweifüßige ein Mensch ist.78 Mit diesen beiden Einwänden ist nun auch die Unmöglichkeit der letzten Alternative von 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' als συμβεβηκότα an einem anderen aufgezeigt worden. Es folgt somit, daß 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen', sind sie keine συμβεβηκότα an 'Mensch', ebenfalls als δπερ δν τι dem δπερ öv 'Mensch' zukommen, so daß das Seiende doch auf mehrfache Weise gesagt wird. Diese die eleatische Annahme von der absoluten Einheit des Seienden widerlegende Konklusion läßt sich nun einzig dadurch vermeiden, daß man behauptet, das Ganze sei ganz und gar nicht teilbar, und zwar weder dem Stoff noch dem Begriff nach. Auf diese Überlegung deutet Aristoteles mit seiner abschließenden Frage ,,έξ αδιαιρέτων αρα τό παν;" hin, mit der zugleich angedeutet ist, daß sich der eleatische Monismus nun in eine Art - stofflichen (bl214) und begrifflichen (bl4-35) - Atomismus verwandeln würde, dem zufolge dann gelten würde, daß in Analogie zum Beispiel des Menschen ein jedes Seiende weder stofflich noch begrifflich teilbar ist. So überrascht es auch nicht, daß Aristoteles im nachfolgenden Abschnitt gerade auf die Atomisten Bezug nehmen wird (vgl. 187al ff.).
3.3.5 Die abschließende Konklusion (187al-l 1) Die Nähe zum Atomismus, in die der eleatische Monismus aufgrund der dargelegten Argumentation mit der abschließenden Frage ,,έξ άδιαιρέτιον αρα τό π ά ν " gelangt, wird von Aristoteles im folgenden durch zwei Beispiele verdeutlicht: Einige aber haben den beiden Argumenten [τοις λόγοις άμφοτέροις] Zugeständnisse gemacht: dem [Argument], daß alles Eines sei, wenn 'seiend' Eines bezeichnet, damit, daß das Nichtseiende existiere [δτι έστι τό μή δν], dem [Argument] aus der Zweiteilung [τω δέ έκ της διχοτομίας], indem sie unteilbare Größen [άτομα μεγέθη] setzten." (1.3, 187al-3)
Mit der Bemerkung, daß einige beiden Argumenten nachgegeben bzw. Zugeständnisse gemacht haben (vgl. ,,ένέδοσαν"), ist gemeint, daß einige Nachfahren der Eleaten die beiden eleatischen Argumente modifizierten und nicht uneingeIn Kat. 5, 3a22-28 weist Aristoteles darauf hin, daß „zweifüßig" zwar von dem ύποκείμενον Mensch gesagt wird, aber - anders als „weiß" (vgl. Kat. 2, la23-29) - nicht in dem ύποκείμενον ist. Die in einer Definition enthaltene differentia specißca, auch wenn sie ebenfalls durch Eigenschaftswörter wie z.B. „zweifüßig" ausgedrückt wird, darf nicht mit gewöhnlichen Eigenschaftswörtern wie z.B. „weiß" in bezug auf 'Mensch' gleichgesetzt werden. Denn während 'weiß' zur Substanz 'Mensch' hinzukommt, wird diese durch die differentia specißca 'zweifüßig' mit dem dazugehörigen genus proximum 'Sinnenwesen' erst konstituiert. In diesem Sinne ist „zweifüßig" nicht i n dem ύποκείμενον 'Mensch' (vgl. auch Met. V.24, 1023a35-b2 und V1II.3, 1043bl0-ll).
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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schränkt für richtig hielten. Nahmen die antiken Kommentatoren noch an, Aristoteles beziehe sich mit dem Ausdruck ,,ενιοι" einerseits auf die Platoniker und andererseits auf Xenokrates, so ist man heute weitgehend der Ansicht, daß hier die Atomisten gemeint sind.79 Diese nahmen nämlich mit der Existenz eines „Leeren" sowohl die Existenz eines Nichtseienden an, als auch findet sich gerade bei ihnen die Annahme von „unteilbaren Größen" (ατομα μεγέθη). Mit dem einen Argument, das diese Nachfahren dadurch modifizierten, daß sie annahmen, Nichtseiendes existiere, ist das Argument „wenn 'seiend' Eines bezeichnet, so ist alles Eines" gemeint, das Aristoteles in 186a25-bl2 untersucht hat. Aristoteles zufolge sind es gerade die Atomisten gewesen, die mit der Annahme eines „Leeren" (κενόν) die Existenz eines Nichtseienden (μή öv) behauptet haben, welches sie dem Seienden gegenüberstellten.80 Mit dem anderen Argument, welches sie dadurch modifizierten, daß sie unteilbare Größen setzten, ist das Argument aus der Zweiteilung (διχοτομία) gemeint, das sich vermutlich auf den Eleaten Zenon bezieht. Mit diesem Argument aus der Zweiteilung ist der Gedanke einer unendlichen Teilbarkeit gemeint, die letztlich in Aporien führt. Diesen Aporien begegneten die Atomisten mit der Annahme unteilbarer Größen.81
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Alexander, Porphyrios und Themistius meinten, das erste Argument beziehe sich auf Piatons μή öv aus dem Sophistes und das zweite Argument auf Xenokrates' These von den unteilbaren Linien. (Prantl, 1854: 475, Fn.14; Wicksteed/Comford, 1980: 37 und Zekl, 1987: 242, Fn.29 und 30 haben sich dieser Ansicht angeschlossen.) Simplicius hatte allerdings bereits in bezug auf die Zuordnung des ersten Arguments zu Piaton Bedenken, da dieser ja nicht ein μή öv απλώς, sondern μή öv τι annahm. Aufgrund der Tatsache, daß hier davon die Rede ist, daß einige beiden Argumenten Zugeständnisse gemacht haben, scheint es jedoch nicht sinnvoll zu sein, ftlr ein jedes Argument einen verschiedenen Vertreter heranzuziehen (vgl. Barnes, 1982: 359 und Sorabji, 1983: 342 f.). Seit den Arbeiten von Ross (1936: 479 f f ) und Furley (1967: 81 f.) ist man weitgehend der Ansicht, daß Aristoteles hier nur die Atomisten im Sinn haben kann, die eben beiden Argumenten Zugeständnisse machten und als Nachfahren des eleatischen Monismus angesehen werden. Vgl. Met. 1.4, 985b4-10. Im Anschluß an die Überlegungen von Melissos (vgl. Frg. B7), dem zufolge die Möglichkeit der Bewegung die Existenz eines Leeren voraussetzen würde, wohin das Bewegte ausweichen kann (vgl. auch De gen. et corr. 1.8, 325a2 f.), nahmen die Atomisten gerade diese Existenz eines Nichtseienden in Form des Leeren an, um so das Faktum der Bewegung erklären zu können. Die Interpreten sind sich allerdings nicht einig, welches Argument aus der Zweiteilung bei Zenon Aristoteles hier im Sinn hat. Ross (1936: 479 ff.) nennt das zenonsche Argument, daß bei einer Vielheit von getrennten Größen notwendig eine dritte Größe zwischen zwei Größen angenommen werden muß, was zu einem infiniten Regreß führt (vgl. DK 29B3). Charlton (1970: 63) und Sorabji (1983: 342) sind demgegenüber der Ansicht, daß mit dem Argument aus der Zweiteilung Zenons Paradoxien der Bewegung - und hier vor allem das Paradoxon des Stadiums (DK 29 A25 und 27) - gemeint seien (vgl. auch Phys. VI.9, 239bl8-22; III.7, 207bl 1-14). Nach Ansicht von Barnes (1982: 359) braucht man in bezug auf das zenonsche Argument aus der Zweiteilung kein bestimmtes Argument im Sinn zu haben, da sich das Argument aus der Zweiteilung bei Zenon auf jedes Argument dieser Art von unendlicher Teilung bezieht. In bezug auf die Textstelle 187al-3 schließe ich mich der Ansicht von Barnes an, da hier sowohl das von Ross als auch das von Charlton und Sorabji genannte Argument gemeint sein kann. Denn die Atomisten begegneten sowohl dem Argument von der Annahme einer dritten Größe zwischen zwei Größen, indem sie annahmen, daß es Leeres zwischen zwei Größen gebe, als auch den Paradoxien der Bewegung, indem sie unteilbare Größen annahmen. Welches Argument hier auch immer gemeint sein mag, so ist doch folgendes klar: Das zenonsche Argument aus der Zweiteilung meint eine unendliche Teilbarkeit, die zu Aporien führt.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Die Atomisten haben Aristoteles zufolge einen Ausweg aus den zuvor dargelegten Aporien gesucht, in die die λόγοι der Eleaten gefiihrt haben, indem sie weitere Prämissen annahmen und auf diese Weise sowohl die Existenz einer Vielheit wie auch die Existenz eines Nichtseienden zugestanden, so daß sie eine Erklärung für die Möglichkeit von Bewegung geben konnten. Als Nachfahren der Eleaten sind die Atomisten zwar von eleatischen Grundlagen ausgegangen, doch haben sie diese auch in entscheidender Weise modifiziert.82 Aristoteles selbst stimmt im übrigen keiner der beiden Modifikationen zu: Weder ist er der Ansicht, daß es ein Leeres gibt (vgl. Phys. IV.6-9), noch ist er der Ansicht, daß es unteilbare Größen gibt (vgl. Phys 1.5, 188all-12, VI.9; Met. V.13, XIII.8, 1083b 15). Hinsichtlich der Frage, ob es ein Nichtseiendes gebe, hat es auch hier den Anschein, als suche Aristoteles den Mittelweg zwischen zwei konträren Positionen: So verneint er sowohl die Ansicht der Atomisten, daß es ein schlechthin Nichtseiendes (μή öv άπλώς) in Gestalt des Leeren gibt, als auch die Ansicht der Eleaten, daß es überhaupt kein Nichtseiendes gibt. Aristoteles ist vielmehr der Auffassung, daß es in Gestalt der στέρησις ein Nichtseiendes gibt, das für sich betrachtet einerseits zwar ein An-sich-Nichtseiendes (καθ' αύτό μή δν) darstellt (vgl. 1.8, 191M5-16), daß jedoch andererseits nur an einem anderen Zugrundeliegenden als Akzidens (συμβεβηκός) vorkommen kann (vgl. 1.7, 190 b27). Im Anschluß an den Hinweis auf die Atomisten setzt Aristoteles nun wie folgt fort: Es ist aber auch klar, daß nicht wahr ist, daß es, wenn 'seiend' Eines bezeichnet, und wenn es nicht zugleich das (kontradiktorische) Gegenteil bezeichnen kann, dann nichts Nichtseiendes gibt [ούκ εσται οϋθέν μή δν]. Denn es steht dem nichts entgegen, daß das Nichtseiende [zwar] nicht schlechthin ist, gleichwohl aber ein bestimmtes Nichtseiendes [sein kann] [οΰθέν γαρ κωλύει, μή άπλώς είναι, ά λ λ α μή δν τι είναι τό μή δν]. Die Behauptung also, daß, wenn es neben dem 'Seienden selbst' [παρ' αύτό τό δν] nicht ein anderes Bestimmtes gibt, dann alles Eines wäre, ist widersinnig. Denn wer begreift das Seiende selbst [αύτό τό δν], wenn es nicht ein bestimmtes An-sich-Seiendes ist [ει μή τό δπερ δν τι είναι]; wenn aber dies [der Fall ist], so hindert auf gleiche Weise nichts, daß das Seiende vieles ist, wie gesagt wurde. Daß also das Seiende unmöglich in diesem Sinne Eines ist, ist klar. (1.3, 187a3-l 1)
Dieser Abschnitt ist als eine in sich zusammenhängende Argumentation zu verstehen. Dies wird bereits durch die verknüpfenden Partikel ,,φανερόν δέ και" (a3), ,,ούθέν γαρ" (a5), ,,τό δέ δή" (a6-7), ,,τίς γαρ μανθάνει" (a8), ,,εί δέ τοΰτο" (a9) und ,,δτι μέν οΰν" (a 10) deutlich. Die Funktion dieses Abschnitts besteht in folgendem: Am Ende der Argumentation in 186b 14-35, die schließlich zeigte, daß das eine δπερ δν auch dem λόγος nach in ein anderes δπερ δν τι Vgl. auch De gen. et corr. 1.8, 325a2-b5, wo Aristoteles die Theorie von Leukipp in der Weise beschreibt, daß Leukipp den Eleaten in einigen Punkten zustimmt, während er in anderen Punkten abweicht. Er stimmt ihnen dahingehend zu, daß es (a) Bewegung nicht ohne Leeres gebe, daß (b) Leeres ein Nichtseiendes (τό τε κενόν μή öv [...] είναι) sei und daß (c) nichts vom Seienden nichtseiend sei. Er weicht jedoch von der Lehre der Eleaten darin ab, daß er (d) annimmt, es gebe unendlich viele unteilbare Größen, und daß er (e) der Auffassung ist, es 'gebe' Leeres, welches für ihn eine Bedingung der Möglichkeit von Bewegung darstellt.
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
121
analysierbar ist, wies Aristoteles darauf hin, daß Parmenides letztlich nur der Ausweg bleibt, jegliche Möglichkeit einer Teilbarkeit - sei dies eine stoffliche oder begriffliche - zu leugnen. Dieser Ausweg, so argumentierte Aristoteles weiter, erweckt den Anschein, als ob der Monismus nun zu einer Art Atomismus geworden sei, weshalb Aristoteles auch die Zugeständnisse der Atomisten gegenüber der eleatischen Argumentation erwähnte, nach deren Ansicht es sowohl ein Nichtseiendes als auch unteilbare Größen gibt. In der abschließenden Argumentation 187a3-l 1 geht es Aristoteles nun darum, zu zeigen, daß die Atomisten gute Gründe hatten, die beiden erwähnten Argumente der Eleaten zu modifizieren, wobei sie jedoch mit der Annahme der Existenz eines schlechthin Nichtseienden nach Ansicht von Aristoteles zu weit gegangen sind. Aristoteles beginnt seine Argumentation in 187a3 mit der Behauptung, daß folgender Schluß (187a3-5) der Eleaten nicht wahr (ουκ αληθές) sei: (I) Wenn (i) 'seiend' Eines bezeichnet, und wenn es (ii) nicht zugleich das (kontradiktorische) Gegenteil (bezeichnet), dann (iii) gibt es nichts Nichtseiendes. 83
Da der Ausdruck ,,άντίφασις" bei Aristoteles sowohl ein Glied eines kontradiktorischen Gegensatzes wie auch die gesamte Gegensatzrelation meinen kann, stellt sich zunächst die Frage, worauf der Ausdruck ,,άντίφασις" an unserer Textstelle zu beziehen ist. Mit Ausnahme von Wicksteed/Comford (1980: 39) und Carteron ( 2 1952: 35), die den Ausdruck ,,άντίφασις" hier auf die gesamte Relation bezogen verstehen, so daß ein bestimmtes Wort nicht zugleich χ und nicht-* bezeichnen kann, sind die meisten Interpreten, denen ich mich anschließe, der Auffassung, daß hier eher ein Gegensatzglied gemeint ist. Dieser Interpretation zufolge würde hier zum Ausdruck gebracht, daß ein bestimmtes Wort nicht zugleich nicht-jc bezeichnen kann, wenn es χ bezeichnet.84 Bezüglich des Ausdrucks ,,άντίφασις" stellt sich die weitere Frage, welcher Gegensatz bzw. welches Gegensatzglied hier gemeint ist. Denn mit dem „kontradiktorischen Gegenteil" in der Aussage „wenn 'seiend' Eines bezeichnet und nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil" können ja verschiedene Gegensätze gemeint sein: Entweder (a) 'Nicht-Eines' als kontradiktorisches Gegenteil von 'Eines' (vgl. Prantl, 1854: 23) oder (b) 'nicht-seiend' als kontradiktorisches Gegenteil von 'seiend' (vgl. Wagner, 1967: 13 und Charlton, 1970: 7). Die Konklusion dieses Schlusses - „es gibt kein Nichtseiendes" - deutet zwar daraufhin, daß mit der άντίφασις hier primär das 'Nichtseiende' als kontradiktorisches Gegenteil des 'Seienden' gemeint ist, doch ist zugleich darauf hinzuweisen, daß aus Sicht von Parmenides das Nicht-Eine als kontradiktorischer Gegensatz des Einen ebenfalls ein Nichtseiendes darstellt, da es nach Ansicht von Parmenides ja nur das im absoluten Sinne zu verstehende eine Seiende geben Daß es nach Ansicht von Parmenides ein Nichtseiendes nicht geben kann, wird unter anderem in Frg. B8, Z.46 deutlich: „ούτε γαρ ούκ έόν έστι". Parmenides weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß das Nichtseiende das Seiende daran hindern würde, zur Einheitlichkeit zu gelangen. Vgl. Zekl (1987: 17), Prantl (1854: 23), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 341, 481), Wagner (1967: 13,411), Charlton (1970: 7) und Gohlke (1956: 38).
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
kann. Aus Sicht von Parmenides ist der Schluß (I) wie folgt zu verstehen: „Wenn (i) 'seiend' Eines bezeichnet, und wenn (ii) 'seiend' nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil von 'seiend' (d.h. wenn es nicht zugleich 'nicht-seiend') bezeichnen kann, dann (iii) gibt es folglich kein Nichtseiendes." Mit anderen Worten: Wenn das Eine, das durch 'seiend' bezeichnet wird, ein Seiendes bzw. gar das Seiende selbst ist, und wenn 'seiend' nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil bezeichnen kann - d.h. wenn das als 'Seiendes' bezeichnete Eine nicht zugleich ein Nichtseiendes sein kann -, so kann es überhaupt kein Nichtseiendes geben, da von einem Nichtseienden niemals 'seiend' ausgesagt werden kann, ohne daß dadurch das Principium contradictionis verletzt wäre. Der Grund, warum Aristoteles diesen Schluß als „nicht wahr" kennzeichnet, ist primär nicht in den Prämissen (i) und (ii) zu suchen - diesen würde Aristoteles zunächst noch in einem gewissen Sinne zustimmen -,85 sondern vielmehr in dem Schluß von diesen Prämissen auf die Konklusion (iii). Aristoteles zeigt die Ungültigkeit des Schlusses dadurch auf, das er die Wahrheit der Konklusion bestreitet. So weist er im nachfolgenden Satz ,,ούθέν γαρ ..." (a5-6), der eine Begründung des vorhergehenden Satzes darstellt, darauf hin, daß die Annahme, daß es ein schlechthin Nichtseiendes (μή öv άπλώς) nicht geben kann, nicht bedeutet, daß es auch ein bestimmtes Nichtseiendes (μή όν τι) nicht geben kann.86 Die Atomisten sind nach Ansicht von Aristoteles jedoch mit ihrer Modifikation der eleatischen Annahme insofern zu weit gegangen, als sie mit der Annahme eines Leeren die Existenz eines schlechthin Nichtseienden behauptet haben. Zwar kann es auch nach Ansicht von Aristoteles ein schlechthin Nichtseiendes nicht geben - in diesem Punkt stimmt er den Eleaten durchaus zu -, doch bedeutet dies fur Aristoteles andererseits nicht, daß es nicht ein bestimmtes Nichtseiendes geben kann (,,ούθέν γαρ κωλύει, μή άπλώς είναι, άλλα μή δν τι είναι τό μή δν": 187a5-6): „Das μή δν ist zwar nicht ein άπλώς μή δν, gleichwohl aber kann es ein μή δν τι sein." Die durch den Ausdruck „άλλα" angezeigte Gegenüberstellung in dieser Aussage besteht darin, daß dem μή δν einerseits ein ,,μή-δν-άπλώς-εΐναι" abgesprochen und andererseits ein ,,μή-δντι-εΐναι" zugesprochen wird. Der in 187a5-6 von Aristoteles ausgedrückte Gedanke läßt sich wie folgt fassen: „Es steht (dem Gedanken) nichts im Wege, daß das μή δν zwar nicht auf absolute Weise existiert (d.h. nicht ein absolutes μή δν ist), gleichwohl aber ein bestimmtes μή δν sein kann." Wenn das 'öv' also Eines bezeichnet, und wenn es nicht zugleich sein kontradiktorisches Gegenteil bezeichnet, so kann es Aristoteles zufolge dennoch ein μή δν τι geben. Daß es dennoch ein μή öv τι geben kann - und letztlich sogar 85
In Met. IV. 4 hebt Aristoteles ausdrücklich hervor, daß ein Wort ein je Eines und nicht zugleich dessen Gegenteil bezeichnet (vgl. das Beispiel 'Mensch' und 'Nicht-Mensch' in 1006b). Gleichwohl ist hervorzuheben, daß Aristoteles die Prämisse (i) „'öv' bezeichnet Eines" in einem anderen Sinne als Parmenides versteht. Versteht Aristoteles sie nämlich in dem Sinne, daß der Ausdruck 'öv' etwas bezeichnet, das für sich betrachtet jeweils ein Eines ist, so versteht Parmenides sie in dem Sinne, daß der Ausdruck 'öv' letztlich nur ein einziges Eines bezeichnet. In Soph. El. 5 weist Aristoteles auf die Fehlschlüsse hin, die entstehen, wenn man nicht zwischen „schlechthin sein" und „etwas sein" bzw. „schlechthin nicht-sein" und „etwas nicht-sein" unterscheidet.
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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geben muß -, kann durch folgende Überlegung deutlich gemacht werden: Selbst wenn Parmenides mit seiner Behauptung, daß alles dem λόγος nach Eines (und zwar ein Seiendes) ist, recht hat, so darf hierbei nicht übersehen werden, daß Parmenides mit dieser Behauptung insofern die Gültigkeit des Principium contradictionis voraussetzt, als er sagt, daß 'seiend' nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil bezeichnen soll. Dieses öv soll seiner Ansicht zufolge nämlich nicht zugleich als μή öv verstanden werden. Nun setzt das Principium contradictions jedoch voraus, daß es in gewisser Weise ein μή δν τι gibt. Denn das Principium contradictionis besagt ja, daß es unmöglich ist, daß dasselbe zugleich dieses und nicht dieses ist. Indem die Eleaten die Gültigkeit des Principium contradictionis voraussetzen, setzen sie - ohne es zu wollen - implizit auch die Existenz eines μή öv τι voraus: Wenn etwas F ist, soll es j a nicht zugleich nicht-F sein. Es zeigt sich vor dem Hintergrund dieser Überlegung, daß die Behauptung, daß alles dem λόγος nach Eines ist, letztlich eine Verletzung des Principium contradictionis bedeutet, deren Gültigkeit jedoch für diese Annahme insofern vorausgesetzt werden muß, als sie besagen soll, daß alles dem λόγος nach Eines und nicht zugleich nicht-Eines (d.h. Vieles) ist. Im Anschluß an den Nachweis der Ungültigkeit des ersten Schlusses (187a36) zeigt Aristoteles nun auch die Ungültigkeit eines zweiten Schlusses (187a6-8) auf, der letztlich zur Konklusion führen soll, daß alles nur Eines ist: (II) Wenn es neben dem Seienden selbst nicht etwas anderes gibt, dann ist alles Eines [παρ' α ύ τ ό τό δ ν εί μ ή τι έ σ τ α ι α λ λ ο , ε ν π ά ν τ α ε σ ε σ θ α ι ] .
Dieser Schluß, den ich im Gegensatz zu Wagner ebenfalls als einen Schluß betrachte, den Aristoteles dem Parmenides zuschreibt, 87 ergibt sich für Parmenides als weitere Konsequenz aus dem ersten Schluß: Wenn das 'öv' nämlich Eines und nicht zugleich das Gegenteil bezeichnet, und wenn es nach Ansicht von Parmenides folglich kein μή öv geben kann, so kann es auch nicht etwas anderes neben dem öv geben. Dieses andere wäre nämlich ein vom öv Verschiedenes und somit als 'nicht-dieses-öv' nach eleatischem Verständnis ein μή öv (vgl. 186a32-bl2). Folglich muß alles Eines sein.88 Aristoteles behauptet nun, daß „also [δή] (auch) diese Behauptung unsinnig [άτοπον] sei". Das Wort „also" (δή) deutet daraufhin, daß aufgrund der Ungültigkeit des ersten Schlusses, der zu einer falschen Konklusion führte, auch der zweite Schluß zu Widersinnigem fuhrt, da er auf den ersten Schluß aufbaut. Aristoteles begründet die Widersinnigkeit des zweiten Schlusses mit dem Hin87
Wagner (1967: 411) ist der Ansicht, daß dieses weitere Argument aus dem Umkreis von Piaton zu stammen scheint (vgl. Met. XIV.2, 1089al ff.) und den Gedanken zum Ausdruck bringen soll, daß die Einheitsthese nur zu vermeiden ist, wenn man neben dem Sein selbst ein von ihm Verschiedenes in Anschlag bringt. Aristoteles hält dem, so Wagner, entgegen, daß dies gar nicht nötig sei, da das 'Sein selbst' nur als ein bestimmtes und somit Vielheit voraussetzendes Sein zu verstehen ist. Daß es sich bei diesem Argument nicht um ein platonisches, sondern um ein weiteres Argument von Parmenides handelt, wird deutlich, sofem man das Fragment B8, Z.36/37 von Parmenides betrachtet, wo sich die Prämisse des Schlusses (II) in nahezu wörtlicher Weise wiederfindet: „ουδέν γάρ εστίν ή έσται άλλο πάρεξ τοΰ έόντος".
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Physik I.
3: ' D i e Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
weis, daß niemand das Seiende selbst (αυτό τό öv) begreift, wenn es sich dabei nicht um ein bestimmtes An-sich-Seiendes (δπερ öv τι) handelt (187a8-9): „Denn wer begreift das Seiende selbst [αυτό τό öv], wenn es nicht ein bestimmtes An-sich-Seiendes ist [εί μή τό δπερ δν τι είναι]?" (187a8-9). Ein 'leeres Seiendes' ohne jegliche Bestimmung ist nicht begreifbar, denn das Verstehen ist immer schon ein Verstehen von etwas, wobei dieses 'etwas' nur im Unterschied zu etwas anderem als dieses 'etwas' verstanden werden kann.89 Sobald dies jedoch zugestanden ist - und letztlich gestehen auch die Eleaten dies zu, indem sie ihrerseits ebenfalls weitere inhaltliche Bestimmungen des öv in Gestalt des 'Begrenztseins', 'Unbewegtseins', 'Einesseins' usw. anführen -, wird offenkundig, daß nicht alles Eines sein kann: Denn angenommen, dieses δπερ δν τι ist ein Mensch, und jedes öv wäre dem λόγος nach Eines, so wäre auch Menschsein und Nicht-Menschsein Eines (vgl. Met. IV.4), was jedoch eine Verletzung des Principium contradictionis darstellt, dessen Gültigkeit die Eleaten selbst voraussetzen. Nun aber ist endgültig klar, daß „nichts mehr im Wege steht, daß das Seiende eine Vielheit ist [πολλά είναι τά οντα], wie gesagt wurde. Es ist klar, daß das Seiende unmöglich in diesem Sinne Eines ist" (187a9-l 1). Mit dem „in diesem Sinne Eines [ούτως έν]" meint Aristoteles die Weise, in der die Eleaten ihr 'Eines' aufgefaßt haben, nämlich als ein absolut Eines, das keine Differenzen und letztlich auch keine Bewegung zuläßt.90
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Vgl. Wagner (1967: 411): ,,αύτό τό öv ist als solches so vollkommen leer wie das είναι [. ..]; es kann weder höchste noch sonst eine Gattung sein; es fehlt ihm dazu die eigene Bestimmtheit. Das »Sein selbst« läßt sich also stets nur als b e s t i m m t e Seinsbestimmtheit, d.h. als Wesen (Gattung, Art und Differenz), denken." Vgl. auch Gershenson/Greenberg (1962: 149): „' ...Once and for all it is clear that being cannot be one in this sense (in this sense of being one indivisible unit).'"
4. Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras' Nachdem Aristoteles in der Auseinandersetzung mit den Eleaten die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen, unbewegten Seienden herausgestellt hat, so daß nach diesem keine Einwände mehr gegen die in der 'Grundannahme' (1.2, 185al2-14) zum Ausdruck gebrachte These von der Vielheit und Bewegung der φύσει δντα bestehen, kann er im Anschluß daran nun dazu übergehen, sich mit denjenigen Vorgängern auseinanderzusetzen, die diese 'Grundannahme' nicht bezweifelt haben und im Hinblick auf ihre Theoriebildung von der Vielheit und Bewegung der φύσει δντα ausgegangen sind.1
4.1 Die beiden Gruppen der Naturphilosophen (φυσικοί) (187aI2-26'·) In Kapitel 1.4 beginnt Aristoteles seine Auseinandersetzung mit den Naturphilosophen (φυσικοί), wobei die Bezeichnung ,,οί φυσικοί" darauf hindeutet, daß diese Denker im Gegensatz zu den Eleaten, von denen es in Kapitel I. 2 hieß, daß sie nicht über Natur gehandelt haben (vgl. „περί φύσεως μέν οϋ": 185al8), über Natur handelten (vgl. ,,οί περί φύσεως": 187a35). Aristoteles teilt die Naturphilosophen zunächst in zwei Gruppen ein. Wie andererseits die Naturphilosophen sprechen, [davon] gibt es zwei Weisen. Die einen nämlich machen den zugrundeliegenden Körper [τό [όν]2 σώμα τό ύποκείμενον] zu Einem, entweder einen von den drei [Elementen] oder einen anderen, der dichter als Feuer aber dünner als Luft ist, das andere bringen sie durch Dichte und Dünne [πυκνότητι και μανότητι] hervor und machen Vieles [daraus]. (Diese aber sind Gegensätze, allgemein [gefaßt] sind es Übermaß und Mangel [υπεροχή και έλλειψις], so wie Piaton vom 'Großen und Kleinen' [τό μέγα και τό μικρόν] spricht, nur daß er diese zum Stoff [ύλην] macht, das Eine aber zur Form [τό είδος], wohingegen diese das eine Zugrundeliegende zum Stoff [machen], die Gegensätze aber zu Unterschieden und Formen.) Die anderen aber lassen aus dem Einen die darin enthaltenen Entgegensetzungen sich aussondern, so wie Anaximander sagt und alle die, die sagen, daß es Eines und Vieles gibt, wie Empedokles und Anaxagoras. Aus der Mischung nämlich sondern auch diese das andere aus. Sie unterscheiden sich aber voneinander darin, daß der eine einen Umlauf aus diesen macht, der andere es Auf eine erste Gruppe von Vorgangem, die den eleatischen Monismus zu überwinden suchte, wurde bereits in 1.3, 187al-3 hingewiesen. Dort war von den Atomisten die Rede, die den eleatischen Überlegungen Zugestandnisse gemacht haben. Zur Athetierung des Ausdrucks „öv", das sich in den MSS und bei Philoponus, nicht aber bei Simplicius findet, vgl. Ross (1936: 482): „τό δν σώμα is not a natural phrase, and if öv be kept, the text is best translated 'some, making being a single body, viz. the underlying body'. [...] It seems best to treat öv as a gloss, it is quite a natural one in view of the general trend of chapters 2 and 3."
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
aber nur einmal ablaufen läßt; und der eine setzt die Gleichteiligen [όμοιομερή] und die Gegensätze als unendlich, der andere aber nimmt nur die sogenannten Elemente [τά κ α λ ο ύ μ ε ν α στοιχεία]. (1.4, 187al2-26)
Besteht das gemeinsame Charakteristikum der beiden Gruppen, in die Aristoteles die Naturphilosophen unterteilt („oi μέν (a 12) ... οί δ' (a20)"), darin, daß sie Einheit und Vielheit zusammendenken, so unterscheiden sie sich dadurch voneinander, daß sie das Verhältnis von Einheit und Vielheit auf je verschiedene Weise begreifen: Nimmt die erste Gruppe ein zugrundeliegendes (homogenes) Eines an, aus dem sie durch die Gegensätze Dichte und Dünne die Vielheit werden lassen,3 so betrachtet die zweite Gruppe, zu der Aristoteles namentlich Anaximander, Empedokles und Anaxagoras zählt, dieses Eine als eine (nichthomogene) Einheit, die in sich bereits eine aktuelle Vielheit von Verschiedenem enthält (vgl. ,,έν και πολλά": 187a21-22).4 Bei Empedokles und Anaxagoras stellt diese Einheit eine Mischung (μίγμα: a23) dar, aus der die Vielheit einzelner Dinge dadurch entsteht, daß sich das Einzelne aus dem Ursprungseinen aussondert.5 Aristoteles verwendet in seiner Einteilung der φυσικοί, die sich durch das ,,έν και πολλά" thematisch an die Auseinandersetzung mit den Eleaten anschließt, bereits Begriffe, die später für seinen eigenen theoretischen Ansatz in Kapitel I. 7 von zentraler Bedeutung sein werden. So ist hier schon vom ,,ύποκείμενον" (al3,19), von den ,,έναντία" (al6, 25/26) und gar von ,,ΰλη" und „είδος" (a 18-20) die Rede. Die allgemeinen Begriffe „υπεροχή" und ,,ελλειψις" deuten zudem auf das korrelative Begriffspaar von „είδος und στέρησις" voraus. Die Einteilung der φυσικοί läßt sich schematisch wie folgt darstellen:6
5
Die Auswahl der Verben, mit Hilfe derer Aristoteles die Theorie der Naturphilosophen beschreibt („ποιήσαντες" (al3), ,,γεννώσι" (al5), ,,ποιοϋντες" (al5-16), „ποιεί" (al8)) macht deutlich, daß es hier um die Beschreibung einer Theorie geht, in der gedanklich erzeugt, hergestellt und gemacht wird. Daß Aristoteles hier die Vielheit des Einen bei der zweiten Gruppe nicht als eine potentielle, sondern als eine aktuelle Vielheit versteht, wird durch den Ausdruck ,,ένούσας" (a20) angedeutet. Vgl. auch Met. XII.2, 1069b20-23: „Und dies ist das Eine des Anaxagoras Denn filr das 'alles zusammen' [όμοϋ πάντα] - auch filr die Mischung [τό μίγμα] des Empedokles und des Anaximander und nach der Lehre des Demokrit - hieße es besser 'alles war zwar der Möglichkeit nach Eines, nicht aber der Wirklichkeit nach'." Vgl. auch Charlton (1970: 63 f.), der den Unterschied zwischen beiden Gruppen in die Begriffe „uniform matter" und „multiform/diverse matter" faßt. KRS (21983: 113 Fn.2) sehen den Gegensatz zwischen beiden Gruppen als einen Gegensatz zwischen denen, „die das Eine als Substrat festhalten (who retain the One as a substratum), und denen, die das (wie Anaximander) nicht tun (who (like Anaximander) do not)". Diese Einteilung unterscheidet sich hinsichtlich der Anzahl der άρχαί allerdings von der in Kapitel 1.2 dargelegten Einteilung der Theorien der Vorgänger: Wurde in Kapitel 1.2 gesagt, daß die Naturphilosophen eine bewegte άρχή annehmen, so werden hier nun mit Empedokles, der die vier Elemente zugrunde legte, und Anaxagoras, der eine unendliche Anzahl von 'Gleichteiligen' und Gegensätzen annahm, auch solche Denker zu den Naturphilosophen gezählt, die mehr als eine άρχή annehmen (vgl. auch Gigon, 1966: 149 f.).
Die beiden Gruppen der Naturphilosophen ( φ υ σ ι κ ο ί ) Abb. 4.1: Die Einteilung
der
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φυσικοί
.Einheit und Vielheit" (bei den Naturphilosophen)
(1) Eine homogene Einheit (ein Grundstoff) „Eines"
Luft Wasser
Feuer
(2) Eine inhomogene Einheit (ein 'Gemisch') „Eines und Vieles"
dichter (a) Anaximander (b) Empedokles als Feuer, - vier στοιχεία dünner als Luft
durch: [„Dichte und Dünne"] entsteht ί Vieles einzelne
(c) Anaxagoras - unendlich viele όμοιομερή und Gegensätze - Umlauf (περί- - nur einmal οδος) (άπαξ)
durch: [„Aussonderung"] entsteht + Vieles einzelne
4.1.1 Die erste Gruppe der Naturphilosophen (187al2-20) Aristoteles schreibt den Vertretern dieser Gruppe die Eigenheit zu, daß sie den zugrundeliegenden Körper zu Einem machen und entweder als einen der drei (Grundstoffe) ansetzen7 oder als einen anderen (Stoff), der dichter als Feuer, aber dünner als Luft ist. Bei der Auflistung der Grundstoffe der Naturphilosophen erwähnt Aristoteles häufig einen Stoff, der zwischen (μεταξύ: vgl. 1.6, 189b2-6) den Elementen liegt; entweder zwischen Feuer und Luft (1.4, 187al415)8 oder zwischen Wasser und Feuer (1.6, 189b3) bzw. mitunter auch zwischen Luft und Wasser.9 Vieles deutet darauf hin, daß Aristoteles an mehreren Stellen Anaximander als Vertreter dieser Zwischensubstanz ansieht.10 Würde Aristoteles auch in 187al4-15 an Anaximander als Vertreter der Zwischensubstanz denken,
8 9
Gemeint sind entweder Wasser (Thaies), Luft (Anaximenes und Diogenes) oder Feuer (Hippasos und Heraklit); vgl. Met. 1.3 und Phys. 1.2, 184bl7-18. Keiner der Naturphilosophen hat die Erde als einzigen Grundstoff angenommen (vgl. dazu Met. I. 7, 989 a4 ff ). Vgl. auch Met. 1.7, 988a30 und De gen. etcorr. II.l,328b35; II.5, 332al9. Vgl. Phys. III.4, 203al6; III.5, 205a27; De Caelo III.5, 303b 10; De gen. et corr. II.5, 332a21 und Met. 1.8, 989al4. Vgl. K.RS ( 2 1983: 111 f.): „In three or four of these passages it looks as though Anaximander is meant as the proponent of an intermediate substance, not because he is directly named but because the substance is implied to have been called simply τό άπειρον. [...] Were it not for one passage, namely 104 [gemeint ist Phys. 1.4, 187al4-15], there would be no difficulty in accepting that Aristotle has Anaximander in mind in most, at any rate, of his references to an intermediate material principle. One of Aristotle's most acute ancient commentators, Alexander of Aphrodisias, did in fact accept this; so, usually, did Simplicius."
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
so entstünde jedoch die Schwierigkeit, daß dieser dann in Kapitel 1.4 als Vertreter von beiden Gruppen der Naturphilosophen angefiihrt würde. In der ersten Gruppe käme er als Vertreter der Zwischensubstanz vor, während er in der zweiten Gruppe mit Namen genannt wird (vgl. a21). n Die plausibelste Lösung dieser Schwierigkeit scheint mir die folgende zu sein:12 Auch wenn Aristoteles für gewöhnlich Anaximander im Sinn hat, wenn er von der Zwischensubstanz spricht, so ist klar, daß er hier nicht zur ersten Gruppe gezählt werden soll. Der Grund, warum Aristoteles hier dennoch von der Zwischensubstanz spricht, obgleich er Anaximander zur zweiten Gruppe zählt, ist vermutlich darin zu sehen, daß er beim Aufzählen der von den Naturphilosophen vertretenen Elemente aus Gründen der Vollständigkeit auch die Zwischensubstanz erwähnt.13 Aus diesem einen homogenen Stoff lassen nun die Vertreter der ersten Gruppe die vielen Dinge durch 'Dichte' und 'Dünne' (vgl. ,,πυκνότητι και μανότητι") entstehen.14 Diese beiden Bewegungsursachen, die hier durch abstrakte Termini („Dichte" und „Dünne") bezeichnet werden und die in dem Prozeß der Erzeugung einer Vielheit aus der zugrundeliegenden Einheit die aktive Rolle übernehmen,15 bilden einen konträren Gegensatz (έναντίον), den Aristoteles unter die allgemeinen Begriffe „Übermaß und Mangel" (υπεροχή και ελλειψις) zusammenfaßt. 16 Durch die allgemeinen Begriffe von „Übermaß und Mangel",
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Es ist vermutlich diese Schwierigkeit, die Prantl (1854: 476, Fn.16) zur Ansicht führte, daß hier nicht Anaximander, sondern Diogenes von Apollonia als Vertreter der Zwischensubstanz gemeint sei. Simplicius (149.13, 151.21) weist daraufhin, daß Nikolaus und Porphyrios ebenfalls an Diogenes dachten. Wenn Aristoteles in Phys. 1.4 jedoch an Diogenes als Vertreter der Zwischensubstanz denken würde, so wäre damit die weitere Frage verbunden, warum er dann in Met. 1.3, 984a5 (vgl. auch De An. 1.2, 405 a22) Diogenes neben Anaximenes als Vertreter der Luft nennt. Ross (1936: 482 f.) spricht sich ebenso wie Wicksteed/Comford (1980: 40 f.) zwar dagegen aus, daß hier Anaximander gemeint sei, zugleich aber äußert er ebenfalls Zweifel daran, daß Diogenes oder Idaeus von Himera gemeint seien. Seiner Ansicht nach muß der Vertreter der Zwischensubstanz ein Mitglied der Schule des Anaximenes gewesen sein. Vgl. KRS( 2 1983: 112 f.). Daß die Differenzierung der beiden Gruppen hier nicht in einem eindeutig festgelegten Sinne zu verstehen ist, zeigt sich nicht nur daran, daß Anaximander als Vertreter der Zwischensubstanz ebenfalls in der ersten Gruppe Platz findet, sondern auch daran, daß Empedokles mit seinen vier als υποκείμενα für die bewegenden Prinzipien „Streit" und „Liebe" fungierenden Elementen in Kapitel 1.6 mit den Vertretern der ersten Gruppe, die jeweils ein Element als ύποκείμενον für die bewegenden Prinzipien „Dichte" und „Dünne" annahmen, parallel gesetzt wird. Die Differenzierung, die Aristoteles zu Beginn des Kapitels 1.4 vornimmt, ist vor allem vor dem Hintergrund der Diskussion bezüglich der Einheit und Vielheit bei den Eleaten zu sehen. Aristoteles spricht von den abstrakten Termini ,,πυκνότης" und ,,μανότης", mit denen nicht „das Dichte" und „das Dünne", sondern „die Dichte (Dichtheit)" und „die Dünne (Dünnheit)" gemeint sind. Hierbei ist zu beachten, daß die Gegensätze „in der frühen griechischen Philosophie eben nicht in unserem Sinne als Eigenschaften angesehen wurden. Sie galten vielmehr als Dinge, die sozusagen agieren und deshalb auch bisweilen Kräfte (dynameis) heißen" (Graeser: 1989: 18). Vgl. Met. 1.3 und 1.4, wo Aristoteles die Suche der Naturphilosophen nach den Prinzipien so darstellt, daß sie zunächst auf einen Stoff als Zugnindeliegendes gestoßen sind und von dort aus „von der Wahrheit selbst genötigt" dazu übergingen, eine andere Ursache als Ursache der Veränderung aufzusuchen, da das Zugrundeliegende nicht selbst seine eigene Veränderung bewirken kann. Gigon (1966: 152) weist daraufhin, daß das Schema υπεροχή - μέσον - έλλειψις, das bekanntlich weite Teile der Lehre von den άρεταί in der Ethik beherrscht, auch, wie sich hier zeigt, auf die Lehre von den άρχαί einwirkt. Zugleich steht dieses Schema allerdings auch für
Die beiden Gruppen der Naturphilosophen ( φ υ σ ι κ ο ί )
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die sowohl den Gegensatz der Naturphilosophen von „Dichte und Dünne" wie auch den platonischen Gegensatz vom „Großen-und-Kleinen" umfassen, wird es für Aristoteles möglich, die erste Gruppe der Naturphilosophen mit Piaton zu vergleichen. Hierbei ist jedoch zu betonen, daß wir es mit einem Vergleich zu tun haben, der nicht in dem Sinne zu verstehen ist, daß Piaton hier von Aristoteles zur ersten Gruppe der Naturphilosophen gezählt wird.17 Charlton (1970: 63) scheint nämlich davon auszugehen, daß Piaton hier von Aristoteles zur ersten Gruppe der Naturphilosophen gezählt wird, wenn er sagt: „Aristotle says, that Plato belongs to the first group - [...]." Daß Piaton hier jedoch nicht zur ersten Gruppe der Naturphilosophen gezählt wird, wird bereits daraus ersichtlich, daß Piaton im Gegensatz zu den Naturphilosophen den zugrundeliegenden Körper nicht als Einen ansetzt. Der Grund für den Vergleich zwischen Piaton und den Naturphilosophen liegt eher in einer formalen als in einer inhaltlichen Übereinstimmung der Prinzipienrelationen. Diese formale Übereinstimmung läßt sich daran ablesen, daß sich bei beiden jeweils ein in der allgemeinen Gestalt von „Übermaß-Mangel" zu bestimmendes quantitativ bestimmtes Gegensatzpaar - „Großes-Kleines" einerseits und „Dichte-Dünne" andererseits - und eine homogene Einheit findet. Ist jedoch bei den Naturphilosophen das Gegensatzpaar „Dichte-Dünne" von formaler und das homogene Eine von stofflicher Natur, so ist bei Piaton das Gegensatzpaar „τό μέγα και τό μικρόν" 18 umgekehrt von stofflicher und das einheitliche „είδος" von formaler Natur.
4.1.2 Die zweite Gruppe der Naturphilosophen (187a20-26) Die zweite Gruppe der Naturphilosophen zeichnet sich gegenüber der ersten Gruppe dadurch aus, daß sie eine Einheit annimmt, die bereits aktuell Vieles als Verschiedenes in sich enthält, das in einem Prozeß der Aussonderung (έκκρίνεσθαι: a20-21; 23) aus dieser Einheit, die Empedokles und Anaxagoras als eine Mischung verstehen, vereinzelt bzw. differenziert wird. Aristoteles sieht das Gemeinsame von Anaximander, Empedokles und Anaxagoras darin, daß sie sagen, es gebe Eines und Vieles (έν και πολλά: a21-22), wobei sie das Viele als bereits in dem Einen auf undifferenzierte Weise Enthaltenes betrachten.
die in Physik Α zugrunde gelegte Methode, der zufolge zwischen zwei einander konträr entgegengesetzten Theorien die mittlere Position zu finden ist. Vgl. auch Gadamer (1996: 104): „Das vierte Kapitel geht auf die Naturkundigen (φυσικοί) ein, die manchmal Physiologen und manches andere Mal Physiker genannt werden. Es gibt hier keine feststehende Terminologie. In jedem Falle ist klar, daß es sich um Bezeichnungen handelt, die alle vorangehenden Denker umfassen - außer den Eleaten und in gewissem Maße auch außer den Pythagoreern und Piaton." Zum Ausdruck ,,τό μέγα και τό μικρόν" als aristotelische Bezeichnung des materiellen Prinzips bei Piaton vgl. Ross (1924: 169-71) und Stenzel (1924). Vgl. auch die Ausführungen in Kap. 9.1.4.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
Auf die Lehre des Anaximander, die hier nur in einem Satz erwähnt wird, geht Aristoteles nicht näher ein.19 Ihm geht es, wie der weitere Verlauf von Kapitel I. 4 zeigt, vielmehr um die Lehre des Anaxagoras, die hier der Lehre des Empedokles gegenübergestellt wird.20 Beide Theorien unterscheiden sich Aristoteles zufolge voneinander (vgl. ,,διαφέρουσι αλλήλων": a23-24) in folgenden Hinsichten: (1) Die Art der Aussonderung: Setzt Empedokles die Aussonderung als einen Kreislauf (περίοδος) an,21 so findet sie bei Anaxagoras nur einmal (άπαξ) statt.22 (2) Die Anzahl der Bestandteile (στοιχεία): Setzt Anaxagoras die Anzahl der 'Gleichteiligen' (τά όμοιομερή) und der Gegensätze (τάναντία) als unbegrenzt, so nimmt Empedokles nur die 'sogenannten [vier] Grundstoffe' (τά καλούμενα στοιχεία) an. Es fällt auf, daß Aristoteles in bezug auf beide Vorgänger zunächst nur an deren stofflichen Prinzipien, nicht aber an deren Ursachen der Bewegung interessiert zu sein scheint. Denn im Gegensatz zur ersten Gruppe der Naturphilosophen, wo Aristoteles die Bewegungsursachen 'Dichte' und 'Dünne' ausdrücklich nennt, ist hier weder in bezug auf Empedokles von 'Streit' und 'Liebe' (νεΐκος και φιλία) 23 noch in bezug auf Anaxagoras vom 'Geist' (νους) die Rede, die bei diesen Vorgängern die Ursachen der Bewegung darstellen. Aristoteles erwähnt diese Bewegungsursachen hier vermutlich aus dem Grunde noch nicht, da es ihm in seiner Einteilung der Naturphilosophen primär um den Gegensatz zwischen denjenigen, die die Vielheit durch Dichte und Dünne entstehen lassen, und denjenigen, die die Vielheit durch Aussonderung entstehen lassen, geht, wobei es für letzteres zunächst von sekundärer Bedeutung ist, ob diese Aussonderung durch 'Streit und Liebe' oder durch den 'Geist' bewirkt wird.24 Mit den „sogenannten Grundstoffen" sind die vier Ele-
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Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß Anaximander im Unterschied zum hier von Aristoteles erwähnten „Aussondern" (έκκρίνεσθαι) selbst von einem „Absondern" (άποκρίνεσθαι) spricht (vgl. Frg. DK 12A9; Simplicius in Phys. 24, 21). KRS ( 2 1983: 130) bemerken dazu: „Nevertheless, we may accept the warning about έκκρίνεσθαι in Aristotle; it seems quite likely that this is a distortion of άποκρίνεσθαι. [...] At all events we have no right to assume with Aristotle that the opposites were in (ένοΰσας) the Indefinite, and were separated out of it; still less may we define the Indefinite as a mixture, as Aristotle perhaps did [in Met. Λ 2, 1069b20]" Eine Gegenüberstellung von Anaxagoras und Empedokles findet sich auch in 1.4, 188al7-18 und in 1.6, 189al 5-17, wo jeweils daraufhingewiesen wird, daß es Empedokles mit seiner begrenzten Anzahl von άρχαί besser gemacht habe als Anaxagoras mit seinen unbegrenzt vielen άρχαί. Zur Gegenüberstellung der Lehren von Anaxagoras und Empedokles vgl. auch De Caelo III.3, 302a28-b9. Vgl. Empedokles, Frg. DK 31Β17. Vgl. Anaxagoras, Frg. DK 59B12. Anaxagoras ist der Ansicht, daß wir nicht einen Kreislauf der Veränderungen vorliegen haben, der eine Rückkehr zum Ausgangspunkt beinhaltet; vielmehr haben wir es mit einem kontinuierlich fortschreitenden Prozeß der Absonderung des einen aus einem anderen zu tun. Vgl. Phys. 1.6, 189a24-26 und Met. I.3-I.4. Zu dem Gegensatzpaar Streit (Νεΐκος) und Liebe (Φιλότης), das Empedokles selbst als getrennt von den vier Bestandteilen betrachtet (B17, Ζ. 19-20), vgl. Frg. DK 31Β17; B21; B30. Vgl. auch Gadamer (1996: 104 f.): „Πυκνότης/μανότης und έκκρισις sind offensichtlich zwei verschiedene Theorien, und auf ihre Verschiedenheit beruht die Klassifikation fllr den Naturkundigen."
Die beiden Gruppen der Naturphilosophen ( φ υ σ ι κ ο ί )
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mente Feuer, Wasser, Luft und Erde gemeint.25 Den Grund, warum hier den „Grundstoffen" ein „καλούμενα" vorangestellt wird, sieht Charlton (1970: 46) darin, daß mit den „καλούμενα στοιχεία" Aristoteles zufolge schlicht die Dinge gemeint sind, die die Philosophen Elemente nennen.26 Anaxagoras wird demgegenüber zugeschrieben, daß er die Zahl der Gleichteiligen (τά όμοιομερή) und der Gegensätze (τάναντία) als unbegrenzt (άπειρα) gesetzt habe.27 Unter den „όμοιομερή" - wobei sich dieser Ausdruck in den Fragmenten des Anaxagoras, der selbst von „Samen" (σπέρματα: Frg. B4) spricht, nicht findet -28 versteht Aristoteles solcherlei 'Dinge' wie z.B. Fleisch, Knochen und Blut,29 die „aus gleichen Teilen" bestehen; jeder Teil eines Stückes Fleisch ist selbst ebenfalls Fleisch.30 Neben den 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) ist in 187a25-26 auch von den 'Gegensätzen' (τάναντία) die Rede.31 Um verstehen zu können, was es mit diesen „όμοιομερή" und „τάναντία" bei Anaxagoras auf sich hat, mag es hilfreich sein, einen Blick auf folgende von Barnes (1982: 320)
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In Phys. I1I.5, 204b33-35 führt Aristoteles die vier Elemente explizit als die „sogenannten Grundstoffe" an (vgl. auch Met. 1.3, 984a5 f.; 1.4, 985a31-3; 1.8, 989a20-30; 1.10, 993al7-25). Zu den vier Elementen bei Empedokles vgl. Frg. DK 31B6; DK 31B17; DK 31B21; DK 31B38. Ross (1936: 484) - vgl. auch Wagner (1967: 412) und Hardie/Gaye (1930) - weist darauf hin, daß Aristoteles diese 'Grundstoffe' selbst als komplexe Gebilde betrachtet, die aus einer prima materia und den Gegensätzen 'heiß-kalt' und 'trocken-feucht' zusammengesetzt sind, so daß sie nach Ansicht von Aristoteles keine grundlegenden, sondern nur 'sogenannte' Elemente sind. Daß der Ausdruck „απειρα" in 187a26 im Sinne von „der Zahl nach unendlich" - und nicht im Sinne von „der Größe nach unbegrenzt" - zu verstehen ist, wird aus dem Gegensatz deutlich, daß Empedokles nur (μόνον) die sogenannten Grundstoffe angenommen hat. Vgl. auch die diabetische Einteilung der zahlenmäßigen Möglichkeiten von άρχαί in Kapitel 1.2, wo „άπειρον" ebenfalls die Bedeutung „der Zahl nach unendlich" besitzt. Daß Aristoteles die όμοιομερή des Anaxagoras als dessen άρχαί verstand, wird aus Met. 1.3,984al 1-16 deutlich. Vgl. KRS ( 2 1983: 376): „[...]; what the later commentators called όμοιομέρειαι, he himself seems to have called 'seeds'. Aristotle, who was probably the first to apply the phrase τά όμοιομερή to the theories of Anaxagoras, seems at least to have used it consistently." (Vgl. auch Wagner, 1967: 413 und Barnes, 1982: 311 ff.). Vgl. Furth (1987a: 33), der in bezug auf die όμοιομερή eines Lebewesens daraufhinweist, daß diese für Aristoteles nicht unabhängig vom Lebewesen als solche existieren können. Außerhalb des lebendigen Organismus ist Blut nur auf homonyme Weise - d.h. nur dem Namen, nicht aber der Funktion nach - Blut. Vgl. auch Wagner (1967: 413) und Prantl (1854: 476, Fn.17): „Gleichtheilig (όμοιομερές) nennt Arist. dasjenige, dessen Theile denselben Namen wie das Ganze haben (z.B. Wasser, Holz, Fleisch u. dgl. im Gegensatz z.B. gegen Gesicht oder Hand, deren Theile nicht wieder Gesicht oder Hand sind), [...]." Der Teil ist bei den 'Gleichteiligen' synonym mit dem Ganzen (vgl. De gen. et corr. 1.1, 314a 18-20). Zwar hat jeder Teil eines Stückes Fleisch dieselbe materielle Konstitution wie das gesamte Stück Fleisch, doch bedeutet dies nicht, daß jeder Teil von Fleisch nur Fleisch - und sonst nichts - ist. Denn würde jeder Teil von Fleisch nur Fleisch sein, so würde das Problem auftreten, inwiefern Aristoteles in bezug auf die Elemente des Anaxagoras überhaupt von 'όμοιομερή' sprechen kann, sollen diese doch auch alles andere beinhalten, das sich aus ihnen aussondert. Barnes (1982: 325) löst diesen scheinbaren Widerspruch durch den Hinweis, daß jeder Teil eines Klumpens Gold selbst Gold in dem Sinne ist, daß er dieselbe materielle Beschaffenheit wie das ganze Stück Gold hat (und insofern ein 'Gleichteiliges' ist), wobei jedoch die materielle Beschaffenheit der Teile wie auch des Ganzen durch anderes konstituiert sein kann. Vgl. KRS ( 2 1983: 377): „Our own reconstruction of Anaxagoras' system suggests that the fuller statement is correct. For in that system as reconstructed the opposites and the natural substances do indeed together comprise the 'everything' of which everything contains a 'portion'."
Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
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zusammengestellte Liste der in den Fragmenten von Anaxagoras angeführten 'Dinge' zu werfen: We might start by considering Anaxagoras' examples of 'things'. They are: air, fire (197); wet, dry, hot, cold, bright, dark, earth (201); hair, flesh (B 10); thin, thick (B 12); cloud, water, stone (B 16). The doxographers add such things as: gold, blood, lead (Simplicius, A 41); white, black, sweet (Aristotle, Phys 187 b5 = A 52). We do not, of course, know whether these latter examples actually occurred in Anaxagoras' text. Da Anaxagoras neben solchen stofflichen 'Dingen' wie Fleisch, Haar, Stein, Feuer, Wasser und Luft selbst auch Gegensätze, wie z.B. trocken-naß, heiß-kalt und dünn-dick, als Beispiele nennt, liegt es für Aristoteles nahe, in bezug auf die Theorie von Anaxagoras auch die Gegensätze als grundlegend anzusehen. In Analogie zu den stofflichen 'Dingen' (Fleisch, Wasser, Haar, Stein usw.) verfügen diese ebenfalls über eine 'gleichteilige' (όμοιομερή) Struktur, sofern man sie, wie Anaxagoras dies nach Ansicht von Aristoteles getan zu haben scheint, in einem 'dinglichen' Sinne als z.B. 'Trockenes und Nasses', 'Heißes und Kaltes', 'Weißes und Schwarzes' auffaßt. 32 In einem dinglichen Sinne verstanden ist z.B. ein materieller Teil eines Weißen j a ebenfalls ein Weißes.
4.2 Anaxagoras'
Lehre von den unendlich vielen
άρχαί
In Kapitel I. 4 setzt sich Aristoteles vor allem mit der Lehre von Anaxagoras auseinander, der die Zahl der Gleichteiligen und Gegensätze als unendlich gesetzt hat. Da diese Position in bezug auf die eleatische These „ ε ί ν α ι έν τά π ά ν τ α " das andere Extrem der zahlenmäßigen Möglichkeiten von ά ρ χ α ί darstellt (eine ά ρ χ ή - unendlich viele ά ρ χ α ί ) , scheint Aristoteles somit dem bereits herausgearbeiteten methodischen Konzept treu zu bleiben, dem zufolge zunächst die Extreme, die sich häufig in Form von konträren Gegensätzen darlegen, zu betrachten sind, um von dort aus zu einer mittleren Position zu gelangen. In Analogie zu den Atomisten hat auch Anaxagoras seine Theorie als Reaktion auf die Lehre der Eleaten verstanden. 33 Sagt Parmenides in Fragment B8, Z.5-6 „weder war es jemals noch wird es irgendwann einmal sein, da es jetzt als Ganzes beisammen ist, als Eines und kontinuierlich Zusammenhängendes" (ούδέ ποτ' ήν ούδ' έ σ τ α ι , έπεί νυν έ σ τ ι ν όμοΰ π α ν , εν, συνεχές), so stellt Anaxagoras diesem Gedanken im ersten Satz seines Fragments Β1 folgendes gegen32
Die Substantiation von Qualitäten ist ein „common feature of Greek thought" (Barnes, 1982:
33
3 2 2 )
·
Auch wenn Anaxagoras und die Atomisten darin übereinkommen, daß sie beide unendlich viele άρχαί angenommen haben, unterscheiden sie sich doch in folgenden Punkten voneinander: (1) Zum einen nimmt Anaxagoras (im Gegensatz zu den Atomisten) keine unteilbaren Größen an. (2) Zum anderen sind die Atome der Gattung nach eines und nur in der Gestalt (σχήμα) unterschieden, wahrend sich die όμοιομερή jedoch auch der Art nach voneinander unterscheiden und einander entgegengesetzt sind (vgl. 1.2, 184b20-22). (3) Die Atomisten nehmen (im Gegensatz zu Anaxagoras) mit dem 'Leeren' die Existenz eines Nichtseienden an.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
133
über: „Zusammen waren alle Dinge, unbegrenzt sowohl der Anzahl als auch der Kleinheit nach; denn auch das Kleine war unbegrenzt" (όμοΰ χρήματα πάντα ήν, άπειρα και πλήθος και σμικρότητα· και γαρ τό σμικρόν άπειρον ήν). Anaxagoras ersetzt hier sowohl das „όμοΰ πάν, έν" des Parmenides durch das „όμοΰ χρήματα πάντα", als auch spricht er im Gegensatz zu Parmenides von dem 'Zusammensein aller Dinge' in der Vergangenheitsform (ήν). Zudem widerspricht Anaxagoras mit der „Unbegrenztheit der Kleinheit nach" der eleatischen These von der Unteilbarkeit des Einen, wie Parmenides sie in Fragment B8, Z.22 vertritt.34 Die in Kapitel I. 4 vorliegende Auseinandersetzung mit Anaxagoras läßt sich in folgende zwei Abschnitte gliedern: (1) 187a26-b7: Die Rekonstruktion der Prämissen, die Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangen ließen (dies bezeichne ich als die „Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί"). (2) 187b7188al8: Die Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί.
4.2.1 Zur Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187a26-b7) Aristoteles beginnt seine Untersuchung der Theorie des Anaxagoras mit der Frage, wie dieser zur Annahme unbegrenzt vieler άρχαί gelangt ist:35 Anaxagoras aber scheint [εοικε] so zur Unendlichkeitsthese gelangt zu sein, weil er die von den Naturphilosophen gemeinsam zugrunde gelegte Meinung [δόξαν] für wahr hielt, daß aus dem Nichtseienden nichts wird [ώς ού γιγνομένου οΰδενός έκ οΰ μή δντος] (deshalb nämlich reden sie so: »Zusammen war alles« [ήν όμοΰ πάντα] und »das Werden [Entstehen] eines derartigen [Einzeldings] erweist sich als Eigenschaftsveränderung« [τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι], die anderen sprechen hier von »Vermischung« [σΰγκρισιν] und »Entmischung« [διάκρισιν]). Zudem aber aufgrund der Tatsache, daß die Gegensätze auseinander werden. Also waren sie schon [ineinander] enthalten [ένυπήρχεν άρα]. Denn wenn alles Werdende notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem wird [ει γαρ πάν μέν τό γιγνόμενον άνάγκη γίγνεσθαι ή έξ δντων ή έκ μή δντων], von diesen aber das Werden aus Nichtseiendem unmöglich ist (denn über diese Ansicht sind alle, die über Natur [gehandelt haben], einer Meinung), so ergibt sich folglich, meinten sie, das Übrige mit Notwendigkeit, nämlich daß es [das Werdende] aus Seiendem und darin schon Enthaltenem wird [έξ δντων μέν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι], das aber wegen der Kleinheit der Volumina für uns nicht wahrnehmbar ist. Deshalb sagen sie doch, daß alles in allem gemischt sei [πάν έν παντί μεμΐχθαι], weil sie doch alles aus allem werden sahen [διότι πάν έκ παντός έώρων γιγνόμενον]. Die Dinge erscheinen allerdings als Verschiedene und werden als verschieden voneinander angesprochen wegen des Bestandteils, der in dieser Mischung der unendlich (vielen) Stoffe am meisten enthalten ist. Denn in reiner Weise 34
Vgl. dazu auch K.RS ( 2 1983: 358). Auch wenn hier noch nicht explizit von „άρχαί", sondern von ,,όμοιομερή" und ,,τάναντία" bzw. in bezug auf Empedokles von „στοιχεία" - die Rede ist, macht sowohl der Kontext wie auch die Einteilung der „άρχαί" in 1.2, 184b 14-25 deutlich, daß Aristoteles die ,,όμοιομερή" und ,,τάναντία" des Anaxagoras als άρχαί verstanden hat (vgl. auch 1.4, 187b 10-11, wo dann explizit von „άρχαί" die Rede ist).
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
[εϊλικρινώς] gebe es ein ganz und gar Weißes oder Schwarzes oder Süßes oder Fleisch oder Knochen gar nicht; wovon aber ein jedes am meisten hat, dies scheint die Natur des Dings [την φύσιν τοΰ πράγματος] zu sein. (1.4, 187a26-b7)
In bezug auf die hier dargelegte logische Genese der Unendlichkeitsthese bei Anaxagoras, die durch eine Rekonstruktion der Prämissen, die diese These zu implizieren scheinen, verdeutlicht werden soll, ist hervorzuheben, daß Aristoteles davon spricht, daß Anaxagoras aufgrund der angeführten Gründe zur Unendlichkeitsthese gelangt zu sein scheint (εοικε: a26). Durch den Ausdruck ,,έοικε" gibt Aristoteles einerseits zu verstehen, daß die genannten Gründe vermutlich die Gründe sind, die Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangen ließen, welches jedoch nicht bedeutet, daß die Gründe selbst nur vermutlich Anaxagoras zugeschrieben werden können, denn Aristoteles zählt ja gerade den ersten Grund ,,ώς ού γιγνομένου ούδενός έκ ο ΰ μή οντος" (187a28-29) zu den sichersten Prämissen aller Naturphilosophen. Andererseits deutet Aristoteles durch den Ausdruck ,,έοικε" an, daß die angeführten Gründe seiner Ansicht nach nur scheinbar zu der von Anaxagoras gezogenen Konklusion fuhren. 36 Die von Aristoteles genannten Prämissen, die die Konklusion bezüglich der unbegrenzten Anzahl von ά ρ χ α ί zu implizieren scheinen, lauten wie folgt: (1) Aus Nichtseiendem wird nichts (vgl. ,,ώς ού γ ι γ ν ο μ έ ν ο υ οΰδενός έκ τοΰ μή δντος": 187a28-29). (2) Gegensätze -werden auseinander (vgl. „γίγνεσθαι έξ α λ λ ή λ ω ν τάναντία: 187a31").
Die Prämisse (1) ,^4us Nichtseiendem wird nichts" (187a28-29) Bezüglich der Prämisse (1), in der einerseits das von den Naturphilosophen übernommene eleatische Erbe zum Ausdruck kommt, 37 und mit der andererseits auf das Ende von Kapitel 1.3 zurückverwiesen wird, wo es ja gerade um die Frage nach der Existenz eines Nichtseienden ging, sind sich, so Aristoteles, alle Naturdenker einig. Daß diese Prämisse von den Naturphilosophen in ihren Überlegungen zugrunde gelegt wurde, zeigt Aristoteles durch folgende bei Anaxagoras und anderen Naturphilosophen zu findende Aussagen, die bereits Konklusionen aus dieser Prämisse darstellen: „Deshalb nämlich reden sie so: [a] »Zusammen
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Vgl. auch Phys. III.4,203a23-25: „Und der eine [Anaxagoras] sagt, jedes beliebige der Teile sei eine Mischung ebenso wie das Ganze, weil man doch sehe, daß Beliebiges aus Beliebigem wird. Deshalb scheint [έοικε] er zu behaupten, daß einmal alle Dinge zusammen waren, [...]." Das ,,έοικε" kann hier einerseits andeuten, daß Aristoteles meint, sein angeführtes Argument („weil man doch sehe, daß ...") sei selbst nur insofern eine Vermutung, als sich dieser Satz nicht explizit in den Fragmenten des Anaxagoras findet (so versteht es Cornford, 1930: 90). Andererseits kann es besagen, daß Aristoteles meint, die Verbindung zwischen seinem Argument („weil man doch sehe, daß ...") und der Konklusion („alle Dinge waren einmal zusammen") sei nur insofern eine scheinbare, als das angeführte Argument Aristoteles zufolge nicht notwendigerweise zur Konklusion fuhrt (so versteht es Barnes, 1982: 331, Fn.25). Vgl. dazu auch Phys. 1.8, 191a23-33 und Parmenides, Frg. DK 28B8, Z.12-13.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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war alles« [ήν ό μ ο ΰ π ά ν τ α ] 3 8 und [ b l ] » d a s Werden [Entstehen] eines derartigen [Einzeldings] erweist sich als Eigenschaftsveränderung« [τό γ ί γ ν ε σ θ α ι τοιόνδε κ α θ έ σ τ η κ ε ν ά λ λ ο ι ο ΰ σ θ α ι ] , [b2] die anderen sprechen hier von » V e r mischung« [ σ ύ γ κ ρ ι σ ν ν ] und »Entmischung« [ δ ι ά κ ρ ι σ ι ν ] " (187a29-31). 3 9 D a sich Anaxagoras in Frg. Β 1 7 dafür ausspricht, das Werden und Vergehen als ein Vermischen und Entmischen zu verstehen, liegt es nahe, ihn als einen Vertreter derjenigen Gruppe anzusehen, von der es heißt [b2] ,,οί δέ σ ύ γ κ ρ ι σ ι ν καν δ ι ά κ ρ ι σ ι ν " (a31). 4 0 Dann aber stellt sich die Frage, w e n Aristoteles nun mit denjenigen im Sinn hätte, die [ b l ] von der , , γ έ ν ε σ ι ς " als , , ά λ λ ο ί ω σ ι ς " sprechen (a30). In De gen. et corr. I. 1 schreibt Aristoteles die Gleichsetzung der γ έ ν ε σ ι ς mit einer ά λ λ ο ί ω σ ι ς den Naturphilosophen der ersten Gruppe, d.h. denjenigen, die j e w e i l s nur einen homogenen Stoff als Zugrundeliegendes gesetzt haben, als eigentümliche Ansicht zu. Gleichwohl habe auch Anaxagoras, so Aristoteles, diese Ansicht vertreten, obwohl sie eigentlich im Widerspruch zu seiner Theorie steht. Während der Satz [a] in der Sekundärliteratur eindeutig Anaxagoras zugeschrieben wird, entsteht bei der Zuordnung der Sätze [ b l ] und [b2] j e d o c h folgendes Problem: Wenn mit demjenigen, der [ b l ] die γ έ ν ε σ ι ς als ά λ λ ο ί ω σ ι ς versteht (a30), ebenfalls Anaxagoras gemeint wäre, so könnte mit [b2] „oi δέ σ ύ γ κ ρ ι σ ι ν κ α ι δ ι ά κ ρ ι σ ι ν " im Sinne einer Abgrenzung dazu letztlich nur EmVgl. Anaxagoras, Frg. DK 59B1: ,,όμού χρήματα πάντα ήν, [...]." Diese Aussage zeigt auf folgende Weise, daß Anaxagoras die Prämisse (1) angenommen hat: Wenn aus Nichtseiendem nichts wird, und wenn es dennoch ein Werden in der Welt gibt, kann sich dieses Werden nur aus Seiendem vollziehen (vgl. 187a32-37). Folglich muß alles, was wird, bereits irgendwie vorhanden sein, welches für Anaxagoras bedeutet, daß es in einer ursprünglichen Mischung von allem in allem vorhanden ist. Zekl (1987: 242, Fn.36) betrachtet den Satz ,,τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι" als ein wörtliches Zitat und verweist auf Anaxagoras, Frg. DK 59B17: „Die Griechen denken nicht richtig über das Werden und Vergehen [τό γίνεσθαι και άπόλλυσθαι], Denn kein Ding [χρήμα] wird oder vergeht; sondern [ausgehend] von seienden Dingen [από έόντων χρημάτων] wird es zusammengemischt und getrennt [συμμίσγεταί τε και διακρίνεται]. Und so würden sie wohl richtig das Werden ein 'Zusammengemischt-werden' und das Vergehen ein 'Abgetrennt-werden' nennen." Zwar betrachtet auch Ross (1936: 484) den Satz ,,τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι" als ein wörtliches Zitat aus einem Fragment von Anaxagoras, doch hat Aristoteles Ross zufolge ein anderes Fragment als B17 im Sinn, das uns nicht erhalten ist (vgl. auch De gen. et corr. 314al3-15: „λέγει γοϋν (Αναξαγόρας) ώς τό γίγνεσθαι και άπόλλυσθαι ταύτόν καθέστηκε τω άλλοιοΰσθαι"). Denn in Frg. Β17 ist davon die Rede, daß das Entstehen als Vermischen und Entmischen (und nicht davon, daß es als Eigenschaftsveränderung) zu verstehen sei. Da Aristoteles Ross zufolge jedoch sowohl in Phys. 1.4 wie in De gen. et corr. 314a 13-15 von Anaxagoras eindeutig sagt, daß er die ,,γένεσις" mit einer ,,άλλοίωσις" gleichgesetzt habe - obgleich dies von Aristoteles für gewöhnlich den Naturphilosophen der ersten Gruppe zugeschrieben wird, die nur einen einzigen Stoff zugrunde legten (vgl. De gen. et corr. 314b 1-6; bl8-19) - ist Ross der Auffassung, daß das ,,τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι" auf (ein nicht überliefertes Fragment von) Anaxagoras zu beziehen sei, während mit dem „oi δέ σύγκρισιν και διάκρισιν" (a31) dann primär Empedokles gemeint wäre (vgl. auch Wicksteed/Cornford, 1980: 42 f.). Die Rede von 'Vermischung' und 'Entmischung' findet sich auch bei Empedokles, der ebenso wie Anaxagoras die Ansicht vertritt, daß es in seinem Kreislauf des Werdens Geburt und Tod im strengen Sinne nicht gibt. Es gibt nur Mischung (μΐξις) und Austausch (διάλλαξις) des Gemischten. „Geburt" (φύσις) aber heißt es bloß bei den Menschen (vgl. Frg. DK 31B8; Bl 1; B12; B15; B21).
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pedokles (und eventuell die Atomisten), nicht aber Anaxagoras gemeint sein. Folglich könnte Aristoteles hier nicht Frg. B17 im Sinn haben, wo sich Anaxagoras dafür ausspricht, das Werden ein 'Vermischen' und das Vergehen ein 'Entmischen' zu nennen, obgleich die angeführten Zitate doch gerade auf dieses Fragment hinzudeuten scheinen. Mit dieser Interpretation ist zudem das Problem verbunden, daß nun die erste Gruppe der Naturphilosophen in den Beispielsätzen [a], [bl] und [b2] nicht mehr vertreten wäre. Aristoteles leitet die von ihm angeführten Zitate jedoch mit dem Hinweis darauf ein, daß die Prämisse (1) die gemeinsame Meinung der Naturphilosophen" (vgl. „την κοινήν δόξαν των φυσικών": a27-28) sei, welches er dadurch begründet, daß , j i e wegen diesem wie folgt sprechen". Das Wort ,,λέγουσιν" (a29) ist hier offenkundig auf alle zuvor erwähnten Naturphilosophen zu beziehen, so daß man eigentlich erwarten dürfte, daß in den nachfolgenden Zitaten auch die Naturphilosophen der ersten Gruppe vertreten sind. Angesichts der Tatsache, daß in bezug auf die in der Sekundärliteratur häufig zu begegnende Zuordnung der Beispielsätze a29-31 die erste Gruppe der Naturphilosophen keine Erwähnung findet, verwundert es nicht, daß einige Interpreten den Ausdruck ,,λέγουσιν" im Singular übersetzen und nur auf Anaxagoras beziehen.41 Die skizzierten Schwierigkeiten lassen sich jedoch durch folgende Interpretation vermeiden: (i) Anaxagoras hielt die von allen Naturphilosophen gemeinsam zugrunde gelegte Prämisse, daß aus Nichtseiendem nichts wird, für wahr, (ii) Daß alle Naturphilosophen diese Prämisse zugrunde legten, zeigt sich aus folgenden Aussagen, die'sich bei ihnen finden, wobei sich der Ausdruck ,,λέγουσιν" auf alle Naturphilosophen - d.h. sowohl auf die erste wie die zweite Gruppe - bezieht: [a] Zusammen war alles": Dies ist nicht nur auf Anaxagoras, sondern auf alle Vertreter der zweiten Gruppe zu beziehen, die ein 'Gemisch' angenommen haben.42 [bl] „Die γένεσις erweist sich als eine άλλοίωσις": Dies ist primär auf die erste Gruppe der Naturphilosophen zu beziehen, denen Aristoteles diese Ansicht für gewöhnlich als ihnen eigentümlich zuschreibt (vgl. De gen. et corr. I. 1). [b2] ,,οί δέ σύγκρισιν και διάκρισιν": Dies bezieht sich dann wieder auf die zweite Gruppe der Naturphilosophen - vor allem auf Anaxagoras und Empedokles -, die in einem Gegensatz (δέ) zur ersten Gruppe steht. Nun ist der Grund dafür, daß die Sätze [bl] und [b2] als Zeichen dafür fungieren, daß die Naturphilosophen die Prämisse (1), der zufolge aus Nichtseiendem nichts wird, zugrunde gelegt haben, darin zu sehen, daß es in beiden FälSo übersetzt Zekl (1987: 19): „ [ . . . ] - d e s w e g e n gibt es ja solche Sätze (bei ihm) wie: [...]". Wicksteed und Cornford (1980: 43) übersetzen: „This made him declare that originally [...]". Wagner (1967: 4 1 4 ) und Charlton (1970: 8) übersetzen den Ausdruck , , λ έ γ ο υ σ ι ν " zwar im Plural, doch scheinen sie andererseits der Auffassung zu sein, daß hier nur die zweite Gruppe der Naturphilosophen gemeint sei. Vgl. dazu Met. XII.2, 1069b20-23, w o Aristoteles das ,,όμοΰ π ά ν τ α " des Anaxagoras mit dem Gemisch [τό μ ί γ μ α ] des Empedokles und Anaximander auf eine Ebene stellt: „Und dies ist der Sinn des Einen bei Anaxagoras. Denn filr das »alles beisammen« - auch für das Gemisch des Empedokles und des Anaximander und nach der Lehre des Demokrit - hieße es besser: »Es war alles beisammen« der Möglichkeit nach, der Wirklichkeit nach aber nicht. Sie haben also im Grunde den Stoff gemeint." (Übers, nach Bonitz).
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len - sei es, daß man das Entstehen (γένεσις) als Eigenschaftsveränderung (άλλοίακπς) versteht, oder sei es, daß man das Entstehen (γένεσις) und Vergehen (φθορά) als Vermischen (σύγκρισις) und Entmischen (διάκρισις) auffaßt kein Werden im strengen Sinne als Entstehen von etwas aus einem Nichtseienden gibt. Denn sowohl die άλλοίωσις wie auch die σύγκρισις und διάκρισις setzen bereits etwas Seiendes voraus, das entweder eigenschaftlich verändert oder (mit anderem) zusammengemischt bzw. (von anderem) entmischt wird.
Die Prämisse (2) „Gegensätze werden auseinander" (187a31) Aristoteles fuhrt die Prämisse (2) als einen weiteren Grund (vgl. ,,ετι δ' έκ ...": a31) dafür an, warum Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangt ist. Die Prämissen (1) und (2) scheinen ihren Grund in der empirischen Wahrnehmung zu haben. Denn ebenso wie man beobachten kann, daß etwas immer schon aus etwas - und somit nicht aus einem völligen Nichts - wird,43 kann man auch beobachten, daß z.B. ein Weißes aus einem Schwarzen oder ein Kaltes aus einem Wannen wird. Eben dieses Werden eines Weißen aus einem Schwarzen oder eines Kalten aus einem Warmen ist wohl gemeint, wenn Aristoteles hier vom „Werden der Gegensätze auseinander" spricht.44 Nun tritt die Prämisse (2) aus Sicht von Anaxagoras jedoch in folgenden Konflikt mit der Prämisse (1): Wenn ein Weißes aus einem Schwarzen wird, und wenn sich dieses Schwarze begrifflich als ein Nichtweißes bestimmen läßt, so läßt sich dieses Werden eines Weißen aus einem Schwarzen begrifflich auch als das Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen fassen. Da Anaxagoras nun ebenso wie die Eleaten - noch nicht zwischen einem schlechthin Nichtseienden (μή όν άπλώς) einerseits und einem akzidentell Nichtseienden (μή öv κατά συμβεβηκός) andererseits zu differenzieren vermochte, liegt es nahe, daß ihm das Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen wie das Werden eines 'Seienden' aus einem 'Nichtseienden' erschien. Dieses Werden eines 'Seienden' aus einem 'Nichtseienden' würde jedoch einen Widerspruch zur Prämisse (1) bedeuten, der zufolge „aus Nichtseiendem nichts wird". Folglich zog Anaxagoras aus der Prämisse (2) „Gegensätze werden auseinander" vor dem Hintergrund der Prämisse (1) „aus Nichtseiendem wird nichts" die Konklusion (i), daß die
Vgl. auch 1.7, 190b 1 -3, wo Aristoteles sagt, daß für einen, der genau hinschaut (έπισκοποϋντι), klar ist, daß auch die Dinge aus etwas entstehen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß sich die Unmöglichkeit des Werdens aus Nichtseiendem bei den Eleaten aufgrund der Undenkbarkeit des Nichtseienden eher als ein Resultat theoretischer Überlegungen erwies. Sagen wir (i) „ein Warmes wird aus einem Kalten", so meinen wir, daß dasjenige, was vor dem Wechsel kalt war, nun nach dem Wechsel warm ist. Sagen wir jedoch (ii) „ein Warmes wird aus einem Warmen", so meinen wir, daß aus einem Kalten durch ein anderes Warmes ein Warmes wird, so daß das „Werden aus" hier eigentlich ein „Werden durch" meint. Spricht Aristoteles in Kapitel 1.4 bezüglich der Theorie des Anaxagoras von einem „Werden aus", so ist hier offenkundig die Bedeutung (i) gemeint.
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Gegensätze also ineinander enthalten waren (vgl. ,,ένυπήρχεν άρα": 187b32),45 so daß z.B. ein Partikel Weißes im Schwarzen und umgekehrt ein Partikel Schwarzes im Weißen enthalten ist. Diese Konklusion (i), die selbst nicht aus der empirischen Beobachtung hergeleitet werden kann und eher theoretischer Natur ist,46 ergibt sich als Folge aus den Prämissen (1) und (2), wie Aristoteles im nachfolgenden (187a32-b2) darlegt. Die Begründung lautet: Denn wenn alles Werdende notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem wird [ει γαρ παν μέν τό γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν α ν ά γ κ η γ ί γ ν ε σ θ α ι ή έξ δντων ή έκ μή όντων], von diesen aber das Werden aus Nichtseiendem unmöglich ist (denn über diese Ansicht sind alle, die über Natur [gehandelt haben], einer Meinung), 47 so ergibt sich folglich, meinten sie, 48 das Übrige mit Notwendigkeit, nämlich daß es [das Werdende] aus Seiendem und 4 darin schon Enthaltenem wird [έξ δντων μέν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι], das aber wegen der Kleinheit der Volumina 50 für uns nicht wahrnehmbar ist. Deshalb sagen sie doch, daß alles in allem gemischt sei [πάν έ ν παντί μεμΐχθαι], weil sie doch alles aus allem werden sahen [διότι πάν έκ παντός έώρων γιγνόμενον]. (1.4, 187a32-b2)
Aus dem Gesagten wird folgendes deutlich: Nach Ansicht von Anaxagoras wird ein Weißes in der Weise aus einem Schwarzen, als in dem Schwarzen bereits ein Partikel 'Weißes' enthalten ist, das sich aus dem Schwarzen aussondert. Anaxagoras versteht das Werden eines Weißen aus einem Schwarzen als Aussondern eines Weißen aus einem Schwarzen. Damit sich das Weiße jedoch aus einem Schwarzen aussondern kann, muß es zuvor bereits in dem Schwarzen enthalten
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Das Wort „ineinander" ist hier dem Sinn nach zu ergänzen (vgl. auch Hardie/Gaye, 1930; Ross, 1936. 341; Carteron, 21952: 36; Wicksteed/Cornford, 1980: 43; KRS, 21983: 369). In 187b22 spricht Aristoteles dann explizit vom „Ineinandersein von allem in jedem" (ει πάντα μέν ένυπάρχει τα τοιαύτα έν άλλήλοις). Während Aristoteles hier also primär sagen will, daß die Gegensätze nach Ansicht von Anaxagoras ineinander enthalten waren, sind Zekl (1987: 19), Prantl (1854: 25), Wagner (1967: 14), Charlton (1970: 8) und Gohlke (1956: 40) der Auffassung, daß Aristoteles hier sagen will, daß die Gegensätze nach Ansicht von Anaxagoras im Urgemisch enthalten waren. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Frg. DK 59B10: „Denn wie könnte wohl aus Nicht-Haar Haar und Fleisch aus Nicht-Fleisch werden?" Barnes (1982: 333) bemerkt hierzu: „'Hair cannot come from what is not hair.' The principle suggested by that thought is: (2) For any pair of stuffs, S, S': if S' comes from S, then S = S'. But (2) is absurd; and Anaxagoras surely has in mind a less extravagant principle, namely: (3) For any stuff S' and object x: if S' comes from x, then S' was in x. Hair cannot come from 'what is not hair', i.e. from what does not contain hair. [...] Principle (3), I suggest, was not forced upon Anaxagoras by Elea; nor did he propose it on the basis of empirical research: rather, it seemed to him to be a self-evident truth." Vgl. 1.4, 187a27-29. Das Wort ,,ένόμισαν" (sie meinten) deutet daraufhin, daß Aristoteles der Ansicht ist, daß sich die von ihnen gezogene Konklusion nicht notwendigerweise ergibt. Das ,,καί" ist hier in einem explikativen Sinne zu verstehen: „aus Seiendem als schon darin Enthaltenem". Damit ist gemeint, daß das Darin-Seiende nicht ein der Möglichkeit nach Seiendes, sondern vielmehr eine aktuelle Entität ist, die in dem anderen bereits Existenz hat. Mit dem Ausdruck ,,ό ογκος" ('die Masse') meint Aristoteles, wie Wagner (1967: 414) bemerkt, eher das Volumen (die Ausdehnungsgröße) als das Gewicht (Massengröße). Vgl. im Zusammenhang mit der Nicht-Wahrnehmbarkeit dieser Teile auch Frg. DK 59A46, wo Anaxagoras eine Erklärung dafilr gibt, wie es möglich ist, daß aus unserer Nahrung Haar, Knochen und Sehnen werden können, obgleich wir weder Haar noch Knochen oder Sehnen essen. Anaxagoras geht davon aus, daß in der Nahrung Teile von Blut, Haar, Knochen, Sehnen usw. enthalten sind, die nur für den Verstand, nicht aber für die Wahrnehmung zu sehen sind („[...], άλλ' έν τούτοις έστ'ι λόγω θεωρητά μόρια").
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sein. Auf diese Weise ist das Weiße, das aus dem Schwarzen wird, zwar bereits als ein aktuell Seiendes im Schwarzen enthalten, doch ist es insofern noch kein Bestimmtes und Einzelnes im konkreten Sinne, als etwas erst nach seiner Aussonderung ein Bestimmtes und Einzelnes sein kann.51 Gleichwohl ist für Aristoteles mit diesem Aussonderungsmodell der Begriff des Werdens im strengen Sinne eigentlich aufgehoben. Statt des Werdens eines Weißen aus einem Schwarzen, welches ftlr Aristoteles bedeutet, daß dort, wo vorher ein Schwarzes war, nun ein Weißes ist, liegt nun ein Aussondern eines Weißen aus einem Schwarzen vor, bei dem gilt, daß das Ausgesonderte bereits vor der Aussonderung aktuell vorhanden ist.52 Mit anderen Worten: Das Weiße, das empirisch betrachtet aus einem Schwarzen wird (vgl. „γίγνεσθαι έξ αλλήλων τάναντία": 187a31 -32), 'wird' theoretisch betrachtet eigentlich aus einem Weißen (vgl. ,,έξ όντων μεν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι": 187a36-37), das als ein bereits aktuell seiender Partikel in dem Schwarzen enthalten und wegen der Kleinheit der Volumina für uns nicht wahrnehmbar ist. Gilt dieses Modell des Werdens für das Werden der Gegensätze, die gleichsam den Extremfall darstellen, da man sich bei einem Schwarzen am wenigstens vorzustellen vermag, daß es Weißes enthält,53 so liegt es nahe, dasselbe Verhältnis analog auch auf alle anderen Werdeprozesse zu übertragen, so daß für das aus der Nahrung werdende Haar theoretisch betrachtet gilt, daß es insofern aus einem in der Nahrung bereits enthaltenen Partikel Haar 'wird', als sich dieser Partikel Haar' aussondert. Vor diesem Hintergrund gelangt Anaxagoras schließlich zur Konklusion (ii), daß „alles in allem enthalten ist" (vgl. „παν έν παντι μεμΐχθαι": 187bl), wenn man die zusätzliche Prämisse (3) hinzunimmt, daß „sie sahen, daß alles aus allem wird" (vgl. „διότι πάν έκ παντός έώρων γιγνόμενον": bl-2). Aristoteles führt die Prämisse (3) „διότι π ά ν έκ παντός έώρων γιγνόμενον" (bl-2), in der der Bezug zur Wahrnehmung durch das „έώρων" explizit ausgesprochen ist,54 als eine Begründung (διότι) für die These, daß „alles in allem gemischt sei", an. Mit diesem Bezug zur Wahrnehmung ist gemeint, daß uns die Beobachtung zunächst zu lehren scheint, daß ein jedes aus jedem - und somit letztlich Beliebiges aus Beliebigem - werden kann. Daß das „alles aus allem" im
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Vgl. Frg. DK 59B1 („και πάντων όμοϋ έόντων ούδέν ενδηλον ήν υπό σμικρότητος") und DK 59 Β4 („πριν δέ άποκριθήναι ταΰτα πάντων όμοΰ έόντων ούδέ χροιή ενδηλος ήν ουδεμία· άπεκώλυε γάρ ή σύμμιξις άπάντων χρημάτων, [...]."). Vgl. auch 1.4, 187b22-23: „[...], και μή γίγνεται ά λ λ ' έκκρίνεται ένόντα, [...]." Im Unterschied zu Met. IV.5, 1009a22-27 und XI.6, 1063b25-30 geht Aristoteles hier jedoch nicht auf die mit diesem Modell verbundene Gefahr einer Verletzung des Principium contradictions ein, die darin gesehen werden kann, daß ein Schwarzes, das zugleich ein aktuell Weißes enthalt, in gewisser Weise sowohl ein Schwarzes wie auch ein Weißes ist. Aristoteles weist in Kapitel 1.4 vermutlich aus dem Grunde nicht auf diese Gefahr hin, da hier ja zunächst insofern keine Verletzung des Principium contradictionis vorliegt, als von einem Schwarzen, auch wenn es weiße Teile enthalt, j a nur gesagt wird, daß es ein Schwarzes, nicht aber, daß es auch ein Weißes sei. Denn in 1.4, 187b2-4 heißt es, daß dasjenige als ein solches bezeichnet wird, von dem es am meisten enthalt. Andere Belege dafür, daß Aristoteles diese Prämisse des Anaxagoras als unmittelbar aus der empirischen Wahrnehmung hergeleitet betrachtet, finden sich in Met. IV.5, 1009a22-27 und Phys. III.4, 203a23-27.
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Sinne von J e d e s Beliebige aus jedem Beliebigen" zu verstehen ist, wird in I. 4, 187b24 deutlich, wo Aristoteles davon spricht, daß Beliebiges (ότιοΰν) aus Beliebigem (έξ ότουοΰν) wird. 55 Der Annahme des Werdens eines Beliebigen aus einem Beliebigem wird Aristoteles in Kapitel I. 5 (vgl. 188a31-36) entgegentreten, da das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen nach Ansicht von Aristoteles keine regelhaften Strukturen mehr zuläßt, so daß vor diesem Hintergrund eine Wissenschaft von den φύσει οντά letztlich als unmöglich erscheint. Zur Stützung seiner These, daß Beliebiges aus Beliebigem wird, würde Anaxagoras vermutlich die Beobachtung anführen, daß wir zwar alles mögliche, jedoch keine Haare essen, und daß die Haare doch aus der Nahrung zu werden bzw. zu wachsen scheinen. 56 Anaxagoras' Erklärung für diese Beobachtung besteht darin, daß in jeder beliebigen Nahrung bereits nicht wahrnehmbare Haarteile enthalten sind, die sich in unserem Körper aus der Nahrung aussondern und so das Wachsen der Haare ermöglichen. Diese Erklärung scheint zunächst nicht unplausibel zu sein, zumal sich aus ihr fernerhin ergibt, daß es nur unserer Wahrnehmung so scheint, als würde Beliebiges aus Beliebigem (z.B. Haar aus Fleisch) werden, während unsere Vernunft jedoch sieht, daß letztlich ein jedes nur aus etwas von seiner Art 'werden' kann: Ein bestimmtes Haar aus einem im Fleisch oder anderswo enthaltenen Haarpartikel und ein bestimmtes Weißes aus einem im Schwarzen oder anderswo enthaltenen Partikel 'Weißes'. 57 Auch wenn mit dieser Erklärung in bezug auf die Theorie nun zunächst keine Beliebigkeit des Werdens mehr vorhanden ist, bleibt diese Beliebigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung gleichwohl erhalten. Zudem ergibt sich aus dieser Erklärung auf der theoretischen Ebene nun die Konsequenz, daß letztlich „alles in allem" sein muß, so daß sich die Frage nach der Beliebigkeit von der Ebene des Werdens zur Ebene des Seins hin verlagert hat. Zwar nimmt Anaxagoras im Gegensatz zu den Eleaten die Wahrnehmung als eine Quelle fiir unser Wissen über die Natur durchaus ernst - dies wird bereits daraus ersichtlich, daß er die in der Welt wahrzunehmenden Bewegungen im Gegensatz zu den Eleaten als existent annimmt -,58 doch andererseits gerät er mit seiner Theorie - ebenso wie die Eleaten - in einen Konflikt mit der Wahrnehmung. Denn für die Wahrnehmung gilt Anaxagoras zufolge j a weiterhin, daß Beliebiges aus Beliebigem (z.B. Haar aus Fleisch) wird, während der Theorie zufolge gesagt werden muß, daß Bestimmtes aus Bestimmtem (z.B. ein bestimmtes Haar aus einem Haarpartikel) 'wird'. Im Gegensatz zu den Eleaten versucht Anaxagoras diesen Konflikt nicht dadurch zu lösen, daß er die Wahrnehmung grundsätzlich als täuschend und
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Vgl. auch Phys. III.4, 203a23-27: „Und dieser [Anaxagoras] (behauptet), daß jeder beliebige Teil ebenso wie das Ganze eine Mischung sei, weil man doch sehe, daß Beliebiges aus Beliebigem wird [δια τό όράν ότιοΰν έξ ότουοΰν γιγνόμενον]. Deshalb nämlich scheint er auch zu behaupten, daß einmal 'alle Dinge zusammen' gewesen seien, [...]." Vgl. Anaxagoras, Frg. DK 59B10, A46 und A44 (vgl. dazu ebenfalls Barnes, 1982: 332). Zur Differenz zwischen dem 'Sehen mit der Wahrnehmung' und dem 'Sehen mit der Vernunft (λόγος)' vgl. Frg. DK 59A46, DK 59A97 und KRS (21983: 374-6) Wobei es ihm nicht nur darum geht, Bewegung in der Welt als existent anzunehmen, sondern auch eine Begründung dafür zu geben, wie diese Bewegung möglich ist (vgl. KRS, 21983: 364).
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Falschheiten erzeugend betrachtet - dies geht für Anaxagoras ja schon allein aus dem Grunde nicht, da er aus der Beobachtung, daß jedes aus jedem wird, auf die Konklusion, daß jedes in jedem enthalten ist, schließt -, sondern vielmehr dadurch, daß er der Wahrnehmung nur eine gewisse 'Ungenauigkeit' zuschreibt, insofern die in einem jeden enthaltenen kleinsten Partikel aufgrund ihrer Kleinheit durch die Wahrnehmung nicht erfaßt werden können. Diese Lösung erweist sich für Aristoteles jedoch als unbefriedigend. Zwar würde wohl auch Aristoteles zustimmen, daß der Verstand anderes zu 'sehen' imstande ist als die Wahrnehmung - vgl. hierzu die Unterscheidung des ήμνν γνωριμώτερον und φύσει γνωριμώτερον als eine Unterscheidung zwischen dem der Wahrnehmung und dem dem Begriff nach Bekannteren in Phys. 1.1 -, nicht jedoch würde er zustimmen, daß der Verstand generell etwas im Widerspruch zur Wahrnehmung Stehendes sieht. Denn das durch den Verstand Gesehene soll Aristoteles zufolge vielmehr eine Erklärung des Wahrgenommenen darstellen. Anaxagoras' Theorie verfehlt in gewisser Weise gerade dasjenige, was sie zu leisten beansprucht: Anstatt, daß sie eine Erklärung dafür gibt, wie es möglich ist, daß Gegensätze (Weißes und Schwarzes) auseinander werden, leugnet diese Theorie vielmehr, daß Gegensätze auseinander werden, indem sie behauptet, daß ein Weißes in der Weise eigentlich aus einem Weißen 'wird', als sich ein Partikel 'Weißes' aus etwas aussondert. Auf diese Weise aber hebt sie sich selbst als eine sinnvolle Theorie des Werdens auf.59 Aus Sicht der Theorie von Anaxagoras ist es letztlich nur zufällig, daß ein Weißes aus einem Schwarzen wird. Es hätte ebensogut - vielleicht sogar besser - aus Fleisch werden können. Denn es ist doch davon auszugehen, daß in einem Schwarzen wohl „am wenigsten" Weißes enthalten ist. Angesichts der Tatsache, daß das „Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen", das als Grund für die These „παν έν παντί μεμΐχθαι" fungiert, durch die Wahrnehmung begründet ist (vgl. ,,έώρων"), drängt sich nun aber die Frage auf, ob Aristoteles in seiner Wahrnehmung - anders als Anaxagoras - nicht ein Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen beobachtet, und wenn ja, wie es möglich ist, daß beide Verschiedenes wahrnehmen. Nun geschieht es in bezug auf die Wahrnehmung nicht selten, daß dasselbe, was der eine als süß empfindet, ein anderer als bitter empfinden kann (vgl. Met. IV.5, 1010b). Im Gegensatz zu Anaxagoras würde Aristoteles vermutlich sagen: „Ich sehe nicht, daß Beliebiges aus Beliebigem wird. Ein Mensch zeugt einen Menschen, ein Pferd zeugt ein Pferd, und Weißes wird aus Nichtweißem, jedoch nicht aus einem beliebigen Nichtweißen, sondern nur aus einem Schwarzen oder aus etwas, das zwischen einem Schwarzen und einem Weißen liegt (vgl. 1.5, 188a36-bl)." Mit anderen Worten: Anaxagoras und Aristoteles scheinen ihre Wahrnehmungen jeweils be-
Zur Problematik einer Theorie, die sich selbst als eine sinnvolle aufhebt, vgl. auch Prauss (1980: 42), der in bezug auf die Erkenntnistheorie bei Descartes ausführt: „Eine solche Theorie jedoch, die im Verlaufe ihrer Ausbildung dahin gelangt, den von ihr selbst gewählten Gegenstand, den sie als Theorie erklaren will, statt dessen vielmehr zu leugnen, hebt eben damit sich als eine sinnvolle Theorie selber auf."
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reits auf verschiedene Weise zu interpretieren,60 Während Aristoteles seinen Blick gerade auf die Regelhaftigkeiten in der Natur richtet, die ihm als Grundlage für eine Wissenschaft von der Natur als notwendig erscheinen, so daß er die vorhandenen Beliebigkeiten des Werdens, die er gleichwohl nicht leugnen will, eher als Zufall oder als Ausnahme von der Regel deutet, richtet Anaxagoras seinen Blick gerade auf die Beliebigkeiten, wobei er die Regelhaftigkeiten in der Natur dadurch erklären kann, daß z.B. aus einem Stein häufiger ein Stein 'wird', weil in einem Stein ja auch in überwiegender Anzahl 'Steinpartikel' enthalten sind.61 Anaxagoras' Theorie des Werdens führt an zwei Punkten in einen offenkundigen Konflikt mit der Wahrnehmung, den er auf folgende Weise zu lösen versucht: (1) Der Widerspruch zwischen der Konklusion „die Gegensätze sind also ineinander enthalten" (vgl. ,,ένυπήρχεν αρα": 187a32) und unserer Wahrnehmung, der zufolge z.B. ein Weißes nicht ein Schwarzes enthält, wird mit dem Hinweis auf die Kleinheit der Volumina, die für uns nicht wahrnehmbar sind, gelöst. (2) Der Widerspruch zwischen der Konklusion „alles ist in allem" (vgl. „πάν έν παντί μεμΐχθαι": 187bl), der zufolge eigentlich alles gleich sein müßte, und unserer Wahrnehmung, der zufolge uns die uns umgebenden Dinge als unterschiedlich erscheinen und wir ihnen gar verschiedene Namen geben, erfährt folgende Lösung: Die Dinge erscheinen allerdings als Verschiedene und werden als verschieden voneinander angesprochen wegen des Bestandteils, der in dieser Mischung der unendlich (vielen) Stoffe am meisten enthalten ist. Denn in reiner Weise [είλικρινώς] gebe es ein ganz und gar Weißes oder Schwarzes oder Süßes oder Fleisch oder Knochen gar nicht; wovon aber ein jedes am meisten hat, dies scheint die Natur des Dings [την φ ύ σ ι ν τοΰ πράγματος] zu sein. (1.4, 187b2-7)
Die hier von Aristoteles angeführten Beispiele stehen sowohl für die sogenannten 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) - wie z.B. Fleisch und Knochen - als auch für die 'Gegensätze' (τάναντία) - wie z.B. Weißes, Schwarzes und Süßes -, wobei daran zu erinnern ist, daß die Gegensätze selbst ebenfalls über eine 'gleichteilige' Struktur verfügen. Der Grund dafür, daß die einzelnen 'Dinge' durchaus Daß wir es in bezug auf das „παν ίκ παντός γιγνόμενον" nicht mit einem Satz der unmittelbaren Wahrnehmung, sondern bereits mit einer Interpretation derselben zu tun haben, wird daraus deutlich, daß 'ein jedes' bzw. 'alles' (vgl. „παν έκ παντός") ja nicht Gegenstand der Wahrnehmung sein kann. Andererseits wird Aristoteles in seiner Theorie allerdings auch eine Lösung für die 'scheinbare' Beliebigkeit des Werdens von Haar aus Nahrung geben müssen. Diese Lösung ist Aristoteles zufolge wohl in einer Stoffümwandlung durch eine Eigenschaftsveränderung (vgl. 1.7, 190b8-9) zu sehen. Mit anderen Worten: Fleisch ist in dem Sinne der Möglichkeit nach Haar, als durch eine Stoffumwandlung Haar aus Fleisch werden kann. Dennoch bedeutet diese Stoffumwandlung nicht, daß aus dem Fleisch Beliebiges werden kann. Mit dem Problem der Nahrung setzt sich Aristoteles in De An. II.4, 416al9-b31 auseinander, wo er zwischen folgenden Bedeutungen des Wortes „Nahrung" differenziert: (a) „Nahrung" bezeichnet einerseits dasjenige, was man ißt (das Unverdaute) - in diesem Sinne kann man von einem Werden aus Beliebigem sprechen („ich esse Fleisch, aus dem Haar wird"); (b) „Nahrung" bezeichnet andererseits dasjenige, was der Körper schließlich aufnimmt (das Verdaute) - in diesem Sinne kann man von einem Werden aus Gleichartigem sprechen („ich esse Fleisch, das zu Haar verdaut wird, und aus dem dann Haar 'wird'").
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαν
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als unterschiedlich erscheinen und wir ihnen deshalb auch verschiedene Namen beilegen, obgleich doch eigentlich ein jedes mit jedem identisch sein müßte, wenn alles in allem gemischt ist, ist Anaxagoras zufolge darin zu sehen, daß die Dinge - sei es ein Stück Weißes oder ein Stück Fleisch gerade weil sie jeweils für sich ein Gemisch darstellen und es somit kein absolut 'reines' Weißes oder anderes gibt,62 die Möglichkeit eröffnen, daß in diesem Gemisch ein Bestandteil von allen in überwiegender Zahl enthalten ist, der dann die Natur (φύσις) dieses Dings auszumachen scheint.63 Im wesentlichen ist das hier von Aristoteles Gesagte eine angemessene Schilderung dessen, was Anaxagoras in den Fragmenten B6 und Β12 darlegt.64 Angesichts der dargelegten Interpretation lauten die Annahmen, die Anaxagoras nach Ansicht von Aristoteles letztlich zur Unendlichkeitsthese führten, wie folgt:65 Prämisse (1): Prämisse (2): Konklusion (i): Prämisse (3): Konklusion (ii): Konklusion (iii):
Aus Nichtseiendem wird nichts. (187 a28-29) Gegensätze werden auseinander. (187a31-32) Die Gegensätze waren ineinander enthalten. (187a32) [K (i) folgt aus Ρ (1) und Ρ (2)] Jedes (Beliebige) wird aus jedem (Beliebigen). (187b2). Alles ist in allem gemischt. ( 1 8 7 b l ) [K (ii) folgt aus Ρ (1), Ρ (2), und Ρ (3)] Die Zahl der ά ρ χ α ί ist unbegrenzt, (vgl. 187a25-26)
Hierbei sind es, wie Aristoteles in 187a26-32 dargelegt hat, vor allem die Prämissen (1) und (2), die Anaxagoras vermutlich (vgl. ,,εοικε": a26) zur Unendlichkeitsthese hinsichtlich der Anzahl der άρχαν gelangen ließen. Dieser Zusammenhang zwischen den Prämissen (1) und (2) und der Konklusion (iii) ist jedoch keineswegs offensichtlich, zumal zu bedenken ist, daß sowohl die Vertre-
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Im Gegensatz zu Anaxagoras, der davon ausgeht, daß es kein Weißes in absolut reiner Form gibt, ist Parmenides - wie wir in Kapitel 1.3 gesehen haben - der Ansicht, daß etwas, wenn es z.B. ein Weißes ist, ein ganz und gar Weißes sein muß. Dies bedeutet jedoch, daß ein Weißes nicht zugleich als ein anderes erscheinen kann, da es nicht zwei Bestandteile geben kann, die zugleich am meisten vorkommen. Auf das Problem, daß ein Weißes somit genaugenommen nicht als ein anderes angesprochen werden kann, wird Aristoteles in 1.4, 188a5-9 eingehen. Vgl. Zekl (1987: 242, Fn.38) und Barnes (1982: 328). Barnes sieht in der Annahme, daß das meiste, welches in einem Weißen vorkommt, Weißes ist, die Gefahr einer zirkulären Definition, der zufolge etwas dann 'Weißes' genannt wird, wenn es am meisten weiße Partikel enthält, wobei andererseits etwas dann am meisten weiße Partikel enthält, wenn es 'Weißes' genannt wird. Eine weitere Schwierigkeit innerhalb der Theorie des Anaxagoras scheint mir auch in folgendem zu liegen: Wenn man, wie Anxagoras dies tut, davon ausgeht, daß jedes aus jedem werden kann, welches letztlich zur Konsequenz führt, daß in einem jeden ein jedes in unendlicher Anzahl enthalten ist, so stellt sich die Frage, wie Uberhaupt davon gesprochen werden kann, daß etwas in einem jeden am meisten enthalten ist. Denn die Rede davon, daß etwas in einem jeden am meisten enthalten ist, setzt doch gerade voraus, daß nicht jedes in jedem in unendlicher Anzahl enthalten ist. Obgleich Aristoteles in bezug auf den Unendlichkeitsbegriff in 187b7-13 zwischen einer Unendlichkeit (a) der Zahl nach (κατά πλήθος), (b) der Größe/Kleinheit nach (κατά μέγεθος) und (c) der Art nach (κατ' εΐδος) unterscheidet, ist er in bezug auf die bei Anaxagoras zu findende These von der „Unendlichkeit der άρχαί" doch vor allem an der Unendlichkeit der Zahl nach interessiert. Dies wird sowohl aus 1.2, 185b 15-22 wie auch aus 1.4, 187a25-26 deutlich.
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ter der ersten Gruppe der Naturphilosophen wie auch Empedokles, die diese Prämissen ebenfalls zugrunde gelegt haben, nicht zu einer unendlichen Anzahl von άρχαί gelangt sind. Neben Anaxagoras hat bekanntlich auch Anaximander, der von Aristoteles ebenfalls als Vertreter der zweiten Gruppe erwähnt wird (vgl. 187a21), alles aus einem Unbegrenzten (άπειρον) hervorgehen lassen. Nun besteht der Grund, den Aristoteles an anderer Stelle für die Annahme eines Unbegrenzten bei Anaximander anführt, darin, daß ansonsten „das Werden und Vergehen irgendwann nachlassen würden".66 Vor diesem Hintergrund hat es den Anschein, als würde die Setzung einer ursprünglichen Einheit von vielen Dingen, wie wir sie bei den Vertretern der zweiten Gruppe vorfinden, die Annahme eines άπειρον naheliegender erscheinen lassen. Warum jedoch, so wäre nun zu fragen, ist Empedokles, der von Aristoteles hier ja auch zur zweiten Gruppe gezählt wird, dann nicht ebenfalls zum άπειρον gelangt, zumal auch er die Wahrheit der beiden Prämissen (1) und (2) vorausgesetzt hat und von einem vielheitlichen Einen im Sinne eines Gemischs ausging. Eine Antwort auf diese Frage gibt Aristoteles in folgender Differenzierung: Im Unterschied zu Anaxagoras, der die Aussonderung nur einmal (απαξ) stattfinden läßt, macht Empedokles einen Kreislauf (περίοδος) daraus. Ebenso wie die Ausdrücke ,,απειρα" (a27) und ,,τά καλούμενα στοιχεία μόνον" (a26) einen Gegensatz bilden, stehen auch die Ausdrücke „απαξ" („nur einmal": a25) und ,,περίοδον" („Kreislauf: a24) in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander. Mit dem Hinweis, daß Anaxagoras das Aussondern nur einmal stattfinden läßt, ist gemeint, daß wir es bei Anaxagoras nicht mit einem Kreislauf, sondern vielmehr mit einem kontinuierlich fortschreitenden Prozeß der Aussonderung zu tun haben.67 Demgegenüber ist mit dem Konzept des Kreislaufs des Werdens der Gedanke verbunden, daß das Werden des einen als das Vergehen eines anderen und umgekehrt betrachtet wird.68 Dieser Gedanke stellt für Aristoteles eine Möglichkeit dar, daß man nicht eine unendliche Vielheit annehmen muß, damit das Werden und Vergehen nicht nachläßt.69 Vor diesem Hintergrund wird nun aber deutlich, daß der von Aristoteles
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Vgl. Phys. III.4, 203bl8-20: „έτι τώ οΰτως α ν μόνως μή ϋπολείπειν γένεσιν και φθοράν, εί άπειρον εϊη οθεν αφαιρείται τό γιγνόμενον" (Vgl. auch Anaximander, Frg. DK 12 A14). Der Ausdruck „απαξ" meint auch nicht eine einmalige Aussonderung von allem zu einem einzigen Zeitpunkt (vgl. dazu Phys. III.4, 203a27-8). Der Gegensatz zwischen ,,περίοδον" und „απαξ" meint den Gegensatz zwischen einem 'Kreislauf, bei dem das Vergehen des einen das Entstehen eines anderen bedeutet, und einer 'stetigen Einmaligkeit', bei der sich das Aussondern kontinuierlich in eine Richtung fortsetzt. Zwar findet sich auch bei Anaxagoras eine gewisse Reziprozität des Werdens, wenn Aristoteles in 187b24-25 das Beispiel nennt, daß sich aus einem Stück Fleisch ein Quantum Wasser aussondert, aus dem sich dann wieder ein Stück Fleisch aussondert, doch ist diese Art von Reziprozität insofern von dem 'Kreislauf des Empedokles verschieden, als bei Anaxagoras das Werden des einen nicht das Vergehen des anderen bedeutet. Bei Anaxagoras bleibt nämlich das Schwarze, aus dem ein Weißes durch Aussonderung wird, erhalten und ist selbst nicht zum Weißen geworden. Auf diese Weise entsteht ja gerade die von Anaxagoras angenommene Unendlichkeit. Vgl. Empedokles, Frg. DK 31B17. Daß Aristoteles die Überlegungen von Empedokles in diesem Sinne versteht, wird auch aus Met. III.4, 1000a24-1001a3 deutlich. Vgl. Phys. III.8, 208a8-l 1: „Damit nämlich das Werden nicht nachlasse, ist es durchaus nicht notwendig, daß es in Wirklichkeit einen unbegrenzten wahrnehmbaren Körper gibt. Denn es
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in 187a23-25 genannte Unterschied zwischen Anaxagoras und Empedokles in Gestalt des ,,απαξ" und „περίοδος" nicht nur aus rein informativen Gründen angeführt wird, sondern daß er insofern eine bestimmte Funktion hat, als gerade in ihm die Begründung dafür zu sehen ist, warum Empedokles nicht zur Annahme eines άπειρον gelangt ist. Es wird zugleich deutlich, daß nicht nur die beiden in diesem Zusammenhang explizit genannten Prämissen (1) und (2), sondern daß vielmehr ein ganzes Geflecht von Annahmen Anaxagoras letztlich zur Annahme eines άπειρον gelangen ließ. Zu diesem Theoriengeflecht gehören: (a) Die Prämissen (1), (2) und (3); (b) die aus den Prämissen gefolgerten Konklusionen (i) und (ii); (c) die Setzung einer ursprünglichen Einheit als Gemisch, aus der sich das Einzelne „nur einmal" aussondert; und schließlich (d) die Tatsache, daß uns die umgebenden Erscheinungen als unbegrenzt viele gegenüberstehen, die hinsichtlich ihres Werdens nach einer Erklärung verlangen. 70 Da die kontinuierlich voranschreitende Aussonderung kein Ende nehmen wird, und da Anaxagoras das Werden des einen nicht in einem zyklischen Sinne als des Vergehen eines anderen betrachtet, ergibt sich für ihn notwendigerweise die Annahme einer Unendlichkeit von Bestandteilen. 7 ' Mansfeld beschreibt diese aus dem Modell des Anaxagoras resultierende Unendlichkeit wie folgt: Für alles andere aber gilt, daß wenn a in b enthalten ist, umgekehrt b auch in a sein muß. In b ist aber nicht nur a, sondern auch c; a ist also in b + c, also sind b + c auch in a. Weiter generalisiert ergibt dies, daß - außer im Geist - in j e d e m Seienden alles andere, das sonst noch ist, vertreten ist. [ . . . ] Dieses Mischungsverhältnis nimmt aber nach Anaxagoras kein Ende: denn auch in jedem enthaltenen Anteil selbst, z.B. in der dem Fleisch beigemischten Erde, sind wieder Anteile aller Stoffe enthalten, w i e auch wieder in den verschiedenen Anteilen innerhalb dieser Anteile. Die Materie ist ein sich in seiner Zusammensetzung in infinitum wiederholendes und schwindelerreg e n d e s kaleidoskopisches Gebilde. (Mansfeld, 1986: 160)
Aristoteles ist der Ansicht, daß Anaxagoras in bezug auf das Enthaltensein von einem Weißen in einem Schwarzen dieses Weiße nicht im Sinne einer bloß potentiellen, sondern vielmehr im Sinne einer aktuellen Entität (vgl. ,,έξ δντων μεν κ α ι ένυπαρχόντων γίγνεσθαι": 187a36-37) versteht, die im Schwarzen enthal-
kann j a des einen Untergang des anderen Entstehen sein [τήν θατέρου φθορά ν θατέρου ε ί ν α ι γένεσιν], wobei das Ganze begrenzt ist." Vgl. auch Gigon (1966: 154): „Angesichts der Vielfalt der Erscheinungen und Veränderungen, die wir konstatieren, läßt sich die Annahme eines Entstehens aus Nichtseiendem nur vermeiden, wenn Alles, was wir konstatieren, schon seiend ist und sich in Seiendem vollzieht; und dies ist nur bei der Annahme einer unbegrenzten Vielheit möglich." Betrachtet man, wie Anaxagoras in seinen Fragmenten zur Annahme unendlich vieler ά ρ χ α ί gelangt, so deutet er in Frg. DK 59B1 daraufhin, daß die Unendlichkeit der Zahl nach als Folge aus einer Unendlichkeit der Kleinheit nach zu betrachten ist (vgl. auch Barnes, 1982: 323 f. und 335). Diese These von der 'Unendlichkeit der Kleinheit nach' resultiert aus der These von der 'unendlichen Teilbarkeit' eines jeden, die Anaxagoras in Frg. DK 59B3 wie folgt begründet: Wenn man sagt, es gibt einen kleinsten Teil, so würde man behaupten, daß dasjenige, was ist - nämlich ein noch kleinerer Teil als der Kleinste, der existieren muß, da jedes aus jedem wird, und folglich auch aus dem angeblich kleinsten Teil noch etwas werden muß, was folglich kleiner sein muß nicht ist.
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ten ist.72 Ist das Weiße jedoch als ein aktuell Seiendes im Schwarzen enthalten, und werden die Gegensätze von Anaxagoras in einem dinglichen Sinne aufgefaßt, so kann das Weiße nicht als eine Eigenschaft, sondern es muß vielmehr analog zur Hand als Teil des Körpers - als ein dingliches Teilchen im Schwarzen enthalten sein. Daß Aristoteles die άρχαί des Anaxagoras in diesem materiellen Sinne als 'dingliche Teilchen' versteht, kommt sowohl in der von ihm gewählten Bezeichnung „Gleichteilige" (όμοιομερή) als auch in seiner gesamten Kritik an der Lehre von Anaxagoras zum Ausdruck, in der gerade der Begriff des Teilchens eine zentrale Rolle spielen wird (vgl. vor allem 187b 13 ff.). Barnes (1982: 323) hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, daß die Lehre von Anaxagoras nicht als eine Teilchentheorie gelesen werden muß, ja daß sie sogar plausibler wird, wenn man dies nicht tut. Dies bedeutet im Hinblick auf die aristotelische Widerlegung der Theorie des Anaxagoras, daß sein Verständnis dieser Theorie als eine Teilchentheorie nicht zwingend ist.73
4.2.2 Zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187b7-188al8) In Analogie zur Widerlegung der eleatischen Theorie beginnt Aristoteles seine Widerlegung der Theorie des Anaxagoras ebenfalls mit einem wissenschaftstheoretischen Einwand, dem zufolge Wissenschaft unmöglich ist, wenn es unendlich viele άρχαί gibt.
4.2.2.1 Ein wissenschaftstheoretischer Einwand (187b7-13) Wenn nun also das Unendliche als Unendliches [τό μ ε ν ά π ε ι ρ ο ν ή άπειρον] unerkennbar ist, so ist das der Menge [ κ α τ ά πλήθος] oder der Größe [κατά μέγεθος] nach Unendliche ein unerkennbares Quantitatives [πόσον τι], das der Form nach [κατ είδος] Unendliche aber ein unerkennbares Qualitatives [ποιόν τι]. Sind aber die Prinzipien sowohl der Menge wie der Art nach unendlich, so ist ein Wissen von dem, was aus ihnen ist, unmöglich. Denn wir nehmen an, über ein Zusammengesetztes dann ein Wissen zu haben, wenn wir wissen, aus welchen und wievielen [Bestandteilen] es besteht. (1.4, 187b7-13)
Ebenso wie es in bezug auf das eleatische Eine keine Wissenschaft geben kann denn das Wissen des Einzelnen besteht Aristoteles zufolge im Wissen seiner άρχαί (vgl. Phys. 1.1), und das eleatische Eine kann keine άρχή sein, da ,,άρχή" immer ,,άρχή von etwas" ist und als solche zumindest eine Zweiheit voraussetzt -, kann es für Aristoteles auch dann keine Wissenschaft geben, wenn die Anzahl
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Vgl. auch Met. XI.6, 1063b26-30: „Denn wenn er [Anaxagoras] sagt, daß in jedem ein Teil von jedem sei, so sagt er doch, daß jedes sowohl bitter wie süß ist, und ebenso bei jedem beliebigen der übrigen Gegensätze, sofern sich ja alles in allem nicht nur der Möglichkeit, sondern der Wirklichkeit nach und ausgesondert vorfindet." Zu dieser Problematik vgl. auch Sorabji (1988: 60-78).
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der άρχαί als unendlich gesetzt wird, da das Unendliche als Unendliches unerkennbar ist.74 Wird nun der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie zufolge jedes Einzelne als aus seinen es konstituierenden άρχαί heraus erkannt, und werden diese άρχαί eines jeden Einzelnen von Anaxagoras insofern als unendlich gesetzt, als jedes Einzelne eine unendliche Mannigfaltigkeit von unendlich vielen und verschiedenen Bestandteilen darstellt - dies ist dem Werdemodell des Anaxagoras zufolge aus dem Grunde anzunehmen, da sonst nicht jedes aus jedem werden könnte -, so würde die Erkenntnis des Einzelnen die Erkenntnis eines Unendlichen als Unendliches (άπειρον η άπειρον) bedeuten. Dies aber ist für Aristoteles unmöglich. Ist das Unendliche als Unendliches unerkennbar, so ist das der Menge oder der Größe nach Unendliche ein unerkennbares Quantitatives und das der Form nach Unendliche ein unerkennbares Qualitatives. Wären also die άρχαί unendlich - sei es der Menge (κατά πλήθος) oder der Form nach (κατ είδος) -,75 so wäre es unmöglich, ein Wissen über dasjenige zu gewinnen, was aus diesen ist (blO-11). Denn wir nehmen ja an, dann ein Wissen über ein Zusammengesetztes (σύνθετον) zu haben, wenn wir wissen, aus welchen (vgl. κατ' είδος) und wievielen (vgl. κατά πλήθος) άρχαί es besteht (b 11-13). Die Kenntnis der άρχαί eines Einzelnen schließt Aristoteles zufolge zugleich das Wissen um die Art (κατ είδος) und die Zahl (κατά πλήθος) dieser άρχαί mit ein. Diese müssen der Zahl nach begrenzt sein, da wir ein Unendliches in begrenzter Zeit nicht durchzuschreiten imstande sind. Aristoteles geht es in seinem wissenschaftstheoretischen Einwand darum, daß bei Annahme unendlich vieler άρχαί nicht mehr dasjenige erkennbar wäre, was aus den άρχαί ist, so daß die άρχαί ihre Funktion verlieren würden, aufgrund derer sie angenommen werden: nämlich das zu sein, aus dem das Einzelne erkannt wird.
4.2.2.2 Die Widerlegung der Prämissen von Anaxagoras (187bl3-188al8) Im Anschluß an seinen wissenschaftstheoretischen Einwand zeigt Aristoteles nun im einzelnen - jeweils von den Prämissen des Anaxagoras ausgehend - in 74
75
Die Spezifizierung der Betrachtung des Unendlichen als Unendliches ist insofern von Bedeutung, als sich über das Unendliche, sofern es nicht als Unendliches betrachtet wird, gleichwohl ein Wissen gewinnen läßt (vgl. Met. II.2, 994b20-3 und Phys. III.7, 207a24-26). Ross (1936: 485) bemerkt hierzu: „The addition is necessary, since what is indefinite in one respect may de definite and knowable in another; cf. a surface that is indefinitely long but of a definite breadth." Aristoteles erwähnt an dieser Stelle das „der Größe nach (κατά μέγεθος) Unendliche" wohl aus dem Grunde nicht mehr, da hier von den άρχαί in bezug auf dasjenige, wovon sie άρχαί sind, die Rede ist. Eine der Größe nach unbegrenzte άρχή kann aber wohl kaum als 'Bestandteil' von etwas fungieren, wird sie doch von demjenigen 'begrenzt', dessen άρχή sie ist (vgl. Phys. III.5, 204b 11-22). Zudem könnte es in diesem Falle nur eine einzige unendlich große ά ρ χ ή und sonst nichts - geben. Andererseits spricht Anaxagoras davon, daß es keinen „kleinsten Teil" geben kann (vgl. Frg. DK 59B3), so daß die 'Unendlichkeit der Größe nach' auch dahingehend verstanden werden kann, daß die άρχαί unendlich klein sind. Sind sie jedoch unbegrenzt teilbar und unendlich klein, so sind sie der Zahl nach unendlich.
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Form einer Reductio ad absurdum auf, daß diese Prämissen in Widersprüche führen. Hierbei werden zugleich die verschiedenen Unendlichkeitsbegriffe - (a) der Zahl nach, (b) der Größe nach und ( c ) der Art nach - Berücksichtigung finden. Zum Z w e c k e einer Orientierung werde ich zunächst durch eine schematische Gliederung der Widerlegungen den Zusammenhang der einzelnen Argumente darlegen, wodurch deutlich wird, daß Aristoteles nicht beliebige Argumente g e g e n die Theorie von Anaxagoras anführt, sondern vielmehr zeigen will, daß die Ausgangsprämissen, die Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangen ließen, einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Abb. 4.2: Eine Gliederung der Widerlegungen
in
187bl3-188al8
(1) 'Die 'Gleichteiligen' (όμοιομερτΐ) sind der Größe nach nicht unbegrenzt' [187b 13-21] I Ausgehend von den Prämissen des Anaxagoras (a)'jedes ist in jedem' (187b22) (b) 'ei gibt kein Entstehen, sondern nur Aussondern'' (187b23) (c)'jedes wird aus jedem' (187b24) werden diese nun einzeln widerlegt:
(2) 'Es ist nicht jedes in jedem' (187b22-34) ( 3 . 1 ) ' A u s dem Kleinsten wird nichts mehr' (187b35-188a2)
(3) 'Es wird nicht jedes aus jedem'
(4) 'Das Werden ist keine Aussonderung'
(3.2) D i e ' m e h r f a c h e ' (4.1) Die Unmöglichkeit (4 2) Die UnmöglichUnendlichkeit der Entmischung in bezug keit der Entmischung (182a2-5) auf π ο ι ό ν und ποσόν in bezug auf die (188a5-13) 'Gleichartigen' (ομοειδή) (188al3-18)
4.2.2.2.1 ( 1 ) D i e Gleichteiligen sind der Größe nach begrenzt ( 1 8 7 b 13-21) Weiter: Wenn aber mit Notwendigkeit gilt, daß etwas, dessen Teil [τό μόριον] in bezug auf Größe und Kleinheit [κατά μέγεθος και μικρότητα] von beliebigen Ausmaßen sein kann, auch selbst dies sein kann (ich meine hier aber einen von den Teilen, in welche als schon enthaltene das Ganze [τό δλον] auseinandergenommen wird); und wenn es aber 76 unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze bezüglich Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen ist, so ist klar, daß auch keines der Teile beliebig [groß oder klein] ist; denn das Ganze verhielte sich j a sonst auf ähnliche Weise. Fleisch aber und Knochen und dergleichen sind nun solche Teile eines Tieres, und Früchte die von Pflanzen. Es ist also klar, daß es unmöglich ist, daß Fleisch oder Knochen oder anderes derart von beliebiger Größe ist, sei es in bezug auf das Mehr oder in bezug auf das Weniger. (1.4, 187b 13-21)
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Ich lese in 1 8 7 b l 6 ,,δέ" (vgl. Π ) statt d e s v o n Bonitz vorgeschlagenen ,,δή".
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Das Ziel dieser Argumentation besteht im Nachweis der Unmöglichkeit des Unbegrenzt-groß-oder-klein-seins solcher Teile eines Sinnenwesens oder einer Pflanze, in die als ursprünglich enthaltene Teile das Ganze auseinanderfällt, und die in Form von Fleisch, Knochen und dergleichen als 'Gleichteilige' (όμοιομερή) bezeichnet werden können. Da diese 'Gleichteiligen' neben den Gegensätzen innerhalb der Theorie des Anaxagoras als άρχαί fungieren (vgl. 187a25-26), richtet sich diese Argumentation somit gegen die Annahme eines „άπειρον κατά μέγεθος" in bezug auf die άρχαί. 77 Aristoteles wendet sich mit diesem Argument vermutlich gegen das Fragment DK 59B3, in dem Anaxagoras dafür argumentiert, daß es keinen kleinsten oder größten Teil gibt, da es immer noch einen kleineren und größeren Teil geben kann. Die in bl6-17 als Prämisse eingeführte These, daß die Tiere und Pflanzen unmöglich von unbegrenzter Größe oder Kleinheit sein können, aus der Aristoteles folgert, daß auch die 'Gleichteiligen', aus denen die Tiere und Pflanzen bestehen, selbst von begrenzter Größe bzw. Kleinheit sein müssen (bl7-18), ist einerseits zwar als aus der Wahrnehmung begründet zu betrachten, andererseits scheint sie jedoch aufgrund der in ihr ausgesprochenen „Unmöglichkeit" (vgl. ,,άδύνατον": bl6) noch einen anderen Grund zu haben. Denn in der Wahrnehmung können wir ja nur faktisch feststellen, daß es keine Tiere und Pflanzen von unbegrenzter Größe oder Kleinheit gibt. Die behauptete Unmöglichkeit ergibt sich hingegen vermutlich aus folgender Überlegung: Vorausgesetzt, daß jedes Tier und jede Pflanze einen Körper (σώμα) darstellt, so folgt aus der Definition von „Körper" (σώμα) als „das durch eine Oberfläche Begrenzte" (τό έπιπέδφ ώρισμένον: Phys. III.5, 204b5-6), daß es keine unbegrenzten Körper geben kann (ούκ αν εϊη σώμα άπειρων: 204 b6). Bonitz hat nun daraufhingewiesen, daß das ,,δέ" (aber) in 187b 16 durch ein ,,δή" (also) ersetzt werden müsse, da wir seiner Ansicht zufolge nur so einen sinnvollen Satz in 187b 13-18 erhalten. Ross verteidigt diese Korrektur von Bonitz wie folgt: If we read έτι δ' εί ά ν ά γ κ η in b 13, we must, to get a properly constructed sentence, accept Bonitz's δή for δέ in 16. A way of escape is provided if we accept the reading of Ε and P. in b 13 ετι δέ άνάγκη. But we should then lose a very typical Aristotelian sentence (to which Bonitz cites many parallels); and Bonitz's emendation derives some support from Alexander's paraphrase at b 16 εί οΰν τά ζώα και τά φυτά μήτε πηλίκα έστί μήτε ποσά (S. 168.3, 10); and it looks as if E's reading were due to an attempt to put the sentence right after δή had already been corrupted into δέ. (Ross, 1936: 485)
Ross (1936: 342) paraphrasiert den Satz 187 bl3-18 wie folgt: Soll hier gezeigt werden, daß die άρχαί der Größe nach (κατά μέγεθος) nicht unbegrenzt sein können, so ist gemeint, daß sie weder unbegrenzt groß noch unbegrenzt klein sein dürfen. Zwar stellt Aristoteles den Begriff der Größe als eine quantitative Bestimmung zunächst dem Begriff der Kleinheit als entgegengesetzte quantitative Bestimmung gegenüber (187b 14), doch in der abschließenden Konklusion 187b20-21 faßt er dann den Begriff der Größe (μέγεθος) als Gattungsbegriff für eine jegliche quantitative Bestimmung auf, der in ein Mehr (μείζον) und Weniger (έλαττον) differenziert werden kann.
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If that whose constituent parts may be indifferently of any greatness or smallness may necessarily itself be so too, then if a living thing cannot be indifferently of any greatness or smallness, neither can any of its parts, e.g. flesh, bone, fruit.
Betrachtet man nun aber die von Prantl vorgeschlagene Übersetzung des Satzes 187b 13-18, so wird deutlich, daß sich ebenfalls ein sinnvoller Satz ergibt, wenn das ,,δέ" (aber) in b l 6 nicht durch ein ,,δή" (also) ersetzt wird: Ferner, wenn es nothwendig ist, daß dasjenige, dessen Theil beliebig groß oder klein sein kann, selbst beliebig groß oder klein sein könne (ich meine aber dabei einen der derartigen Theile, in welche als in ihm enthaltene das Ganze getheilt wird), und wenn andrerseits es unmöglich ist, daß ein Thier oder eine Pflanze beliebig groß oder klein sei, so ist augenfällig, daß auch nicht bei irgend einem Theile derselben dies der Fall sein kann, [...]. (Prantl, 1854: 25-27)
Hat das Argument der Interpretation von Ross zufolge in vereinfachter Form die Gestalt „(p —» q) —» (^q —» -p)", so hat es der Interpretation von Prantl zufolge - der ich mich anschließe - in vereinfachter Form die Gestalt ,,((p —» q) λ ^q) - p " . Da „(p —> q) ( - q - > - p ) " mit ,,((p q) Λ - q ) -η)" logisch äquivalent ist, stellt es für das Argument zwar selbst keinen wesentlichen Unterschied dar, welcher Interpretation man hier den Vorzug gibt, doch ist der Übersetzungsvorschlag von Prantl mit dem Vorteil verbunden, daß man im griechischen Text keine Veränderung vorzunehmen braucht. Zekl (1987: 21), der sich der von Bonitz und Ross vorgeschlagenen Ersetzung des ,,δέ" („aber") in b l 6 durch ,,δή" („also") anschließt, übersetzt den Abschnitt wie folgt: Weiter, wenn (Folgendes mit) Notwendigkeit (gilt): Etwas, dessen Teil nach Größe und Kleinheit von ganz beliebigen Ausmaßen sein kann, muß diese Eigenschaft auch selbst haben - [...] -: wenn es daher unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze nach Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen sein kann, so ist es offenkundig, daß dies auch für keinen seiner Teile gelten kann; [...].
In dieser Übersetzung wird nun das ,,δή" (daher) auf die Prämisse „wenn es unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze nach Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen sein kann" bezogen, so daß sich die Bedeutung ergibt, daß diese Prämisse aus dem zuvor Gesagten folgt. Dies kann hier jedoch nicht gemeint sein, denn die Tatsache, daß ein Tier oder eine Pflanze nicht von unbegrenzter Ausdehnung sein kann (bl 6-17), folgt j a nicht aus bl 3-16. Meiner Interpretation zufolge, die sich der Übersetzung von Prantl anschließt, 78 liegt in b 13-18 folgende Argumentationsform vor: Aus den Prämissen (1) „ei ά ν ά γ κ η , οΰ τό μόριον ... ένδέχεσθαι" (187bl3-14) und (2) ,,εί δή αδύνατον ... και μικρότητα" (187bl6-17) schließt Aristoteles auf die Konklusion ,,φανερόν δ τ ι . . . ότιοΰν" (187b 17-18). Formal betrachtet läßt sich dieses Argument wie folgt darstellen: Aus den Prämissen (1) „ V * ( 3 y ( ε Τ A ye MG) - » * ε MG)" - „für jedes χ gilt Vgl. auch die Interpretation von Wicksteed/Cornford (1980: 45): „If this is a necessary consequence, and if it is impossible that [...], the same must be true of any part of it." Eine analoge Argumentationsform findet sich auch in den weiteren Argumenten; vgl. 187b22-27.: „έτι ei [...], κ α ι [ei] μή [...], [καϊ εί] γ ί γ ν ε τ α ι [...], [ει δέ] ά π α ν [...], φ α ν ε ρ ό ν δτι [...].").
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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[notwendigerweise], daß es beliebig groß oder klein sein kann, wenn es wenigstens ein y gibt, für das gilt: y ist Teil von x, und y kann beliebig groß oder klein sein" - und (2) „-• α ε MG" - „a (ein ζφον oder φυτόν) kann nicht beliebig groß oder klein sein" - wird auf die Konklusion „ V y ( ε Τ - > ~y ε MG)" - „für alle y gilt: wenn y Teil von α (ζωον oder φυτόν) ist, dann kann y nicht beliebig groß oder klein sein" - geschlossen. Daß dieses Argument gültig ist, zeigt folgende formale Herleitung: (1) V λ ( 3 y ( ε Τ Λ y ε MG) - > κ MG) (2) - α ε MG (3) V λ (-* ε MG - » - 3 y ( εΤ A y ε MG)) (4) - α ε MG - » - 3 y ( ε Τ A y ε MG) (5) - 3 y ( ε Τ Α y ε MG) (6) V y (εΤ Λ y ε MG) (7) V y ( ε Τ —> ε MG)
Prämisse Prämisse Modus Tollens, 1 V -Beseitigung,3 Abtrennungsregel, 2,4 Quantorenumwandlung,5 Konklusion, Gesetz der Dualität, 6
In den nachfolgenden Sätzen 187b 18-21 wird nun das Ergebnis dieser Argumentation von Aristoteles auf die konkreten Teile eine konkreten Ganzen übertragen: Aus der weiteren Prämisse (187b 18-19), daß Fleisch, Knochen und dergleichen solche Teile eines ζωον sind ( ε 7), folgt (187b20-21), daß Fleisch, Knochen und dergleichen nicht beliebig groß oder klein sein können (- 1 b ε MG). Die Herleitung ergibt sich formal wie folgt: (8) ε Τ (9) ε Τ - » (10) - ' i e M G
- b ε MG
Prämisse V -Beseitigung, 7 Konklusion, Abtrennungsregel, 8,9
Im Anschluß an diese formale Darstellung der Argumentation in 187b 13-21 werde ich nun auf den Inhalt der einzelnen Prämissen und Konklusionen im einzelnen eingehen: Prämisse (1): „Es ist notwendig, daß dasjenige, dessen Teil (τό μόριον) beliebig klein oder groß sein kann, selbst auch beliebig klein oder groß sein kann." (187b 1314) Diese Prämisse stellt eine hypothetische Aussage dar, die sich aus einem Antecedens und einem Konsequens zusammensetzt: „Wenn der Teil von einem Ganzen beliebig groß oder klein sein kann, dann kann notwendigerweise auch das Ganze beliebig groß oder klein sein." Die These, daß die 'Gleichteiligen' beliebig klein oder groß sein können, findet sich bei Anaxagoras in Fragment DK 59B3, wo er sie als Folge des Gedankens, daß es keinen kleinsten oder größten Teil gibt, ausspricht. Nach Ansicht von Aristoteles ergibt sich nun aus dieser Annahme die notwendige Konsequenz, daß auch das Ganze, dessen Teil beliebig klein oder groß sein kann, selbst ebenfalls beliebig klein oder groß sein können muß. Nun ist zwar nachvollziehbar, daß ein Ganzes, dessen einer Teil unendlich groß ist, selbst auch unendlich groß sein muß, doch im umgekehrten
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
Falle scheint dies nicht unmittelbar einleuchtend zu sein. Denn angenommen, ein Teil eines Ganzen sei unendlich klein, so muß doch das Ganze nicht ebenfalls unendlich klein sein. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, daß Aristoteles nur ganz bestimmte Teile im Sinn hat. So gibt er auch eigens an, was man hier unter „Teil" (τό μόριον) zu verstehen hat. Seine Bestimmung der Teile als dasjenige, „in welche als schon enthaltene (Teile) das Ganze auseinandergenommen wird" (bl5-16), macht deutlich, daß hier nicht von beliebigen quantitativen Teilen als Ergebnis einer mathematischen Teilung die Rede ist - diese können j a nur „der Möglichkeit nach" in dem Ganzen als unendlich viele enthalten sein -, sondern daß hier vielmehr von solchen Teilen gesprochen wird, die in dem Ganzen bereits aktuell (vgl. ,,ένυπάρχον": b l 5 ) enthalten sind. Es sind diejenigen 'Teile' gemeint, von denen in 187b6-7 gesagt wurde, daß sie als in einem Ganzen der Zahl nach am meisten enthaltene die φύσις eines Dings bestimmen; in diesem Sinne können z.B. Fleisch und Knochen als 'wesentliche' Bestandteile eines Tieres und die Früchte als 'wesentliche' Bestandteile einer Pflanze angesehen werden. Wäre nun ein jedes Fleischteil unbegrenzt klein, so wäre, selbst wenn es unendlich viele Fleischteile gäbe, die zusammen j a als unendlich kleine etwas nicht größer machen würden (vgl. Met. III.4, 1001b7-25), das Ganze ebenfalls unendlich klein. 79 Dieses in der Prämisse (1) ausgesprochene Verhältnis, dem zufolge dasjenige, was für die Teile gilt, auch fiir das Ganze gelten soll, ist gerade vor dem Hintergrund zu sehen, daß es sich hier um die sogenannten 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) handeln soll. Prämisse (2): „Es ist unmöglich, daß ein Tier oder eine Pflanze von beliebiger Größe oder Kleinheit ist." (187b 16-17)
Die Prämisse (2), die mit den Beispielen „Tier oder Pflanze" eine Konkretion des in der Prämisse (1) genannten Ganzen beinhaltet, stellt eine Negation des Konsequens der Prämisse (1) dar. Besagte dieses Konsequens, daß ein Ganzes beliebig groß oder klein sein kann - wobei hier jedes Ganze gemeint ist, deren Teile beliebig groß oder klein sein können -, so wird nun in Prämisse (2) gesagt, daß es bestimmte Ganzheiten - wie z.B. Tier und Pflanze - gibt, die nicht beliebig groß oder klein sein können. Aus der Regel der Verneinung des Konsequenz {modus tollens) folgt somit, daß es unmöglich ist, daß die Teile (von Tier und Pflanze) unendlich groß oder klein sein können: Die Konklusion: „Es ist offenkundig, daß keiner der Teile beliebig (groß oder klein) sein kann." (187b 17-18)
Die an diese Konklusion angefügte Begründung „denn das Ganze verhielte sich auf gleiche Weise" (έσται γαρ κ α ι τό δλον ομοίως: 187b 18) erinnert noch einmal an das in der Prämisse (1) Gesagte: Könnten nämlich die Teile von Tier und Pflanze beliebig groß oder klein sein, so müßte im Widerspruch zur Prämis79
Vgl. auch Wagner (1967: 415), der darauf hinweist, daß diese Teile eine bestimmte Größe nicht unterschreiten dürfen, sofern sie selbst noch eine Bestimmung haben sollen.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen ά ρ χ α ί
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se ( 2 ) auch das Ganze beliebig groß oder klein sein können. Im nachfolgenden ( 1 8 7 b 18-21) überträgt Aristoteles dieses Ergebnis dann auf die konkreten Teile ( ό μ ο ι ο μ ε ρ ή ) eines Ganzen: Der Schluß auf die konkreten Teile: „Fleisch aber und Knochen und dergleichen sind nun solche Teile eines Tieres, und Früchte die von Pflanzen. Es ist also klar, daß es unmöglich ist, daß Fleisch oder Knochen oder anderes derart von beliebiger Größe ist, sei es in bezug auf das Mehr, sei es in bezug auf das Weniger." (187b 18-21) D i e s e Konklusion bezüglich der konkreten Teile „Fleisch" und „Knochen", die nicht beliebig groß oder klein sein können, wird filr die nachfolgenden Argumente insofern von Bedeutung sein, als sie dort als eine zusätzliche Prämisse verwendet wird.
4 . 2 . 2 . 2 . 2 (2) Es ist nicht j e d e s in j e d e m ( 1 8 7 b 2 2 - 3 4 ) Weiter: Wenn alles derartige ineinander enthalten ist [έτι ει π ά ν τ α μέν έ ν υ π ά ρ χ ε ι τ ά τ ο ι α ΰ τ α έν άλλήλοις], und [wenn] das 'Darinseiende' [ένόντα] nicht 'wird/entsteht' [μή γίγνεται], sondern 'ausgesondert' [εκκρίνεται] und nach dem überwiegenden Anteil benannt wird, und [wenn] Beliebiges aus Beliebigem wird/entsteht [γίγνεται δέ εξ ότουοΰν ότιοΰν] (wie z.B. Wasser aus Fleisch und Fleisch aus Wasser ausgesondert wird), [wenn] aber jeder begrenzte Körper von einem [anderen] begrenzten Körper ausgeschöpft wird, so ist offenkundig, daß nicht ein jedes in jedem enthalten sein kann [φανερόν δτι ούκ ένδέχεται έν έ κ ά σ τ ω έκαστον ϋπάρχειν], Denn nimmt man das aus dem Wasser [abgesonderte] Fleisch weg, und wenn aus dem übriggebliebenen [Wasser] weiteres Entstehendes sich ablöst, und wenn dies sich Aussondemde auch immer weniger sein wird, so wird es aber eine bestimmte Größe in bezug auf die Kleinheit nicht unterschreiten. So daß, wenn die Ausscheidung zum Stillstand käme, nicht alles in allem enthalten wäre [ούχ α π α ν έν παντί ένέσται] (in dem übriggebliebenen Wasser wäre dann nämlich kein Fleisch mehr enthalten); wenn aber kein Stillstand einträte, sondern immer weitere Wegnahme statthätte, dann wären in einer begrenzten Größe gleichartig begrenzte [Anteile], aber unbegrenzt an Menge enthalten. Dies ist jedoch unmöglich. (1.4, 187b22-34) In dieser Argumentation, die zeigen soll, daß nicht j e d e s in j e d e m sein kann (δτι ο ύ κ έ ν δ έ χ ε τ α ι έ ν έ κ ά σ τ ω έ κ α σ τ ο ν ϋ π ά ρ χ ε ι ν : b26-27), geht Aristoteles von drei Prämissen aus, die er bereits als Annahmen des Anaxagoras eingeführt hat und die in den nachfolgenden Argumenten nun einzeln in Form einer Reductio ad absurdum widerlegt werden sollen. D i e drei Prämissen lauten: (1) (2) (3)
„Alles derartige [die όμοιομερή] ist ineinander enthalten" ( π ά ν τ α μέν έ ν υ π ά ρ χ ε ι τ ά τ ο ι α ύ τ α έν άλλήλοις: 187b22) - (vgl. 187a32 und 187bl). „Es 'entsteht/wird' [γίγνεται] nichts, sondern es findet nur eine Aussonderung [έκκρίνεται] von bereits 'Darinseiendem' [ένόντα] statt, das nach dem überwiegenden Bestandteil benannt wird" (187b22-24) - (vgl. 187a30-b7). „Aus Beliebigem wird Beliebiges [γίγνεται δέ έξ ότουοΰν ότιοΰν] (z.B. aus Fleisch Wasser und aus Wasser wiederum Fleisch)" (187b24-25) - (vgl. 187bl2)·
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Die Wahl der Beispiele „Wasser" und „Fleisch" in der Prämisse (3) ,,γίγνεται 80 δέ έξ ότουοΰν ότιοΰν" macht folgenden für ein Verständnis der Argumentation wichtigen Gesichtspunkt deutlich: Da Wasser und Fleisch zu den sogenannten 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) zählen, ist davon auszugehen, daß es hier primär um das 'Werden' der όμοιομερή auseinander geht, und nicht darum, wie z.B. Menschen oder Pferde entstehen. Innerhalb der Theorie des Anaxagoras scheint es - so wie Aristoteles sie darlegt - zwei Ebenen des Werdens zu geben: Einerseits gibt es das Werden der όμοιομερή (z.B. Fleisch, Wasser, usw.) auseinander und andererseits gibt es das Werden der komplexeren Dinge (z.B. Menschen, Pferde). Ein Mensch wird ja anders als Fleisch nicht dadurch, daß sich aus etwas ein Partikel 'Mensch' absondert. Vielmehr scheint ein Mensch der Theorie von Anaxagoras zufolge dadurch zu entstehen, daß sich aus etwas die fiir einen Menschen wesentlichen Partikel 'Fleisch', 'Knochen', 'Wasser' usw. absondern, die sich dann zu einem Menschen zusammenschließen. Daß es hier aber primär um das Werden der όμοιομερή auseinander geht, das für das Werden der komplexeren Dinge grundlegend ist, zeigt sich auch daran, daß, sollte die Überlegung in 1.3, 187b2-7, der zufolge etwas danach benannt werden soll, was in ihm am meisten enthalten ist, nicht nur fiir die όμοιομερή, sondern auch fiir die komplexeren Dinge gelten, dann der Mensch entweder nicht „Mensch", sondern eher „Wasser" oder „Fleisch und Knochen" heißen müßte, oder aber, daß es auch „Menschenteile" gibt, die im Menschen am meisten enthalten sind. Letzteres würde jedoch letztlich zur absurden Konsequenz führen, daß es dann auch „Sokratesteile" geben müßte, die in Sokrates am meisten enthalten wären. Mit seiner These „alles ist in allem" meint Anaxagoras jedoch nicht, daß z.B. in Piaton auch ein Partikel 'Sokrates' enthalten ist. Neben den drei genannten Prämissen führt Aristoteles nun noch folgende weitere (nicht von Anaxagoras stammende) Prämisse (4) ein: (4) „Jeder begrenzte Körper wird von einem begrenzten Körper ausgeschöpft [άπαν δέ σώμα πεπερασμένον αναιρείται υπό σώματος πεπερασμένου]" (187b2526).
Die Prämisse (4) führt nun in einen Konflikt mit den Prämissen (1), (2) und (3), wodurch dann die Falschheit der von Anaxagoras zugrunde gelegten Prämissen (1), (2) und (3) gezeigt werden soll. Mit der Prämisse (4) ist folgendes gemeint: Jeder Körper, der als Körper per definitionem begrenzt ist, kann von einem anderen Körper (d.h. ebenfalls von einem Begrenzten) so ausgeschöpft werden, daß kein Rest übrigbleibt. 81 Mit anderen Worten: Jeder Körper kann als Begrenztes selbst nur aus Begrenztem - und nicht aus Unbegrenztem - bestehen. Diese Prämisse faßt genaugenommen das Ergebnis der vorhergehenden Argu-
81
Anstelle des Ausdrucks ,,γίγνεται" müßte Aristoteles hier jedoch genaugenommen den Ausdruck ,,έκκρίνεται" verwenden, da in der vorangegangenen Prämisse (2) ja gerade behauptet wurde, daß es bei Anaxagoras kein „Werden/Entstehen", sondern nur ein „Aussondern" gibt. Vgl. auch Wagner (1967: 15): „Wenn man annimmt, daß ein Körper endlicher Größe durch fortgesetzte Wegnahme eines endlichen großen Körpers exhauriert werden kann."
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mentation in 187b 13-21 zusammen und kann so als eine auf begründete Weise eingeführte Prämisse betrachtet werden. Da kein Beispiel angeführt werden kann, das das Werden eines jeden aus einem jeden in seiner Gesamtheit verdeutlichen würde, beschränkt sich Aristoteles auf das Beispiel von Wasser und Fleisch, die als Beliebige wechselseitig auseinander werden und bestehen sollen. Aristoteles argumentiert nun wie folgt: (I) Wenn wir aus einem Quantum Wasser ein bestimmtes Quantum Fleisch entnehmen (bzw. wenn sich dieses Quantum Fleisch aus einem Quantum Wasser aussondert), und wenn wir im Anschluß daran aus dem übriggebliebenen Quantum Wasser erneut ein Quantum Fleisch entnehmen - was ja möglich sein muß, da sich sonst an dieser Stelle bereits ergeben würde, daß nicht alles in allem wäre (es wäre dann nämlich kein Fleisch mehr in dem übriggebliebenen Quantum Wasser) -, so wird dieses zweite entnommene Quantum Fleisch nun schon an Menge geringer sein als das erste entnommene Quantum Fleisch (und so wird es auch bei allen weiteren Entnahmen kontinuierlich weniger werden), da ja auch das Wasserquantum, aus dem das Fleisch entnommen wird, mit jeder Entnahme eines Quantums Fleisch kontinuierlich kleiner werden wird. (II) Auch wenn das jeweils zu entnehmende Quantum Fleisch immer kleiner werden wird, so wird es doch eine bestimmte Größe an Kleinheit nicht unterschreiten, da wir es der Prämisse (4) zufolge ja mit einem begrenzten Körper zu tun haben, deren Teile selbst von begrenzter Größe sein müssen.82 Nun aber folgt, daß (III. 1) entweder die Aussonderung irgendwann aufhört, so daß nach der letzten Aussonderung des letzten Quantums Fleisch im restlichen Wasser kein Quantum Fleisch mehr vorhanden wäre - in diesem Falle wäre nicht jedes in jedem, da im übriggebliebenen Wasser kein Fleisch mehr wäre -; oder aber es folgt, daß (III.2) die Aussonderung kein Ende nimmt, so daß angenommen werden muß, daß in einer begrenzten Größe (dem Wasserquantum) gleichartig Begrenztes (die Fleischportionen)83 in unendlicher Anzahl enthalten wäre. Dies ist jedoch aufgrund der Prämisse (4) unmöglich. In diesem Falle wäre nämlich das Wasserquantum einerseits unendlich groß und andererseits wäre es von Anfang an eigentlich nicht als „Wasser", sondern vielmehr als „Fleisch" zu bezeichnen. Da dies jedoch widersinnig ist, bleibt einzig übrig, daß die Aussonderung irgendwann zu einem Ende kommt und somit nicht jedes in jedem sein kann.
83
So wurde in 187b 18-21 daraufhingewiesen, daß das Fleisch nicht beliebig groß oder klein sein kann. Vgl. Ross (1936: 342), der das ,,'ίσα πεπερασμένα" im Sinne von „equal finite magnitudes" versteht.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
4.2.2.2.3 (3) Es wird nicht jedes aus jedem (187b35-188a5)
(3.1) 'Aus dem Kleinsten wird nichts mehr' (187b35-188a2) Außerdem, wenn jeder Körper durch Wegnahme von etwas notwendig weniger [ελαττον] wird, das Quantum von Fleisch aber sowohl in bezug auf Größe wie in bezug auf Kleinheit begrenzt ist, so ist offenkundig, daß aus dem kleinsten Fleischteil kein Körper mehr ausgesondert wird. Denn es [das Fleischteil] wäre [dann] ja kleiner als das kleinste [εσται γ α ρ έλάττων 8 4 της έλαχίστης]. (1.4, 187b35-188a2)
Das Ziel dieses Arguments besteht darin, ausgehend von dem zuvor Gesagten zu zeigen, daß nicht nur nicht jedes in jedem enthalten sein kann, sondern auch, daß nicht jedes aus jedem werden kann. Dies bedeutet zugleich eine Widerlegung der in 187b24 angeführten Prämisse (3). Das Argument lautet: Wenn jeder Körper durch Wegnahme von etwas notwendig kleiner wird (vgl. Argument (2): 187b22-34), und wenn ein Fleischquantum (als Körper) sowohl der Größe wie auch der Kleinheit nach begrenzt ist (vgl. Argument (1); 187bl3-21), so folgt, daß sich aus dem kleinsten Fleischteil kein Körper mehr aussondern kann, da sonst das kleinste Fleischteil weniger würde und somit kleiner als das kleinste wäre. Wurde im Argument (2) gezeigt, daß irgendwann im Wasser kein Fleisch mehr enthalten ist, das sich aussondern kann, so zeigt das Argument (3.1) nun umgekehrt, daß das ausgesonderte Fleisch irgendwann so klein ist, daß sich aus ihm nichts mehr aussondern kann. Die Aussonderung hat somit irgendwann in beide Richtungen ein Ende.
(3.2) Die 'mehrfache' Unendlichkeit (188a2-5) Weiter: In den unendlich [vielen] Körpern [έν τοις άπείροις σ ώ μ α σ ι ν ] 8 5 wäre bereits unendlich viel Fleisch und Blut und Gehirn enthalten, zwar voneinander getrennt/unabhängig [κεχωρισμένα μέντοι άπ α λ λ ή λ ω ν ], aber doch um nichts weniger seiend [ούθέν δ' ήττον δντα], und ein jedes in unendlicher [Anzahl] [καν άπειρον εκαστον]. Dies aber ist unlogisch. (1.4, 188a2-5)
Mit diesem Argument, daß sich inhaltlich an das Ende von Argument (2) anschließt, wo sich die absurde Konsequenz ergab, daß in einem Begrenzten Zur Frage, ob hier „έλάττων" als auf „σαρκός" bezogen (vgl. S p ) oder „ελαττον" als auf „σώμα" bezogen (vgl. Π S' T) steht, vgl. Ross (1936: 486): „188*1. εσται γάρ έλάττων της έλαχίστης, 'for then there will be a portion of flesh left which will be less than the least'. So S. 171. 19, 20, 26. The MSS. of Philoponus vary between έλάττων and ελαττον. The MS. reading is a natural corruption due to the assumption that the subject of εσται is σώμα. But this does not suit the argument, for what Aristotle has proved (187b 13-21) is not that there is a portion of flesh that which no body can be smaller (this would contradict his doctrine of the infinite divisibility of matter), but that there is a portion of flesh than which no portion o f f l e s h can be smaller." Mit dem Ausdruck ,,άπείροις σώμασιν" bezieht sich Aristoteles weiterhin auf die 'Gleichteiligen' (όμοιομερή).
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gleichartig Begrenztes aber unbegrenzt an Zahl enthalten wäre, versucht Aristoteles ebenfalls zu zeigen, daß es unmöglich ist, daß jedes aus jedem wird. Der Grund für diese Unmöglichkeit besteht diesem Argument zufolge darin, daß das 'Werden eines jeden aus einem jeden' eine widersinnige Prämisse voraussetzen würde. Nahm Aristoteles in den bisherigen Argumenten vor allem auf eine Unendlichkeit der Größe nach (κατά μέγεθος) Bezug,, so ist nun primär eine Unendlichkeit der Zahl nach (κατά πλήθος) gemeint. Denn Aristoteles spricht hier j a von „Körpern" (vgl. ,,σώμασιν") im Plural, welches bei Annahme eines unbegrenzt großen Körpers keinen Sinn ergeben würde, da es dann ja nur einen einzigen Körper geben könnte. Nach Ansicht von Ross (1936: 486) muß nun in 188a4 dem Sinn des Textes zufolge eine Negation (οΐ>) eingefugt werden, ohne welche er den Ausdruck ,,μέντοι" (a3) für bedeutungslos („unmeaning") hält und in bezug auf das ,,δ'" (a4) darauf hinweist, daß keine Opposition zwischen den beiden Satzteilen ,,μέντοι - δ'" besteht, auch wenn dies durch das ,,δ'" (a4) impliziert zu sein scheint: 86 With the MS. reading, μέντοι is unmeaning, and there is no opposition between the clauses such as δ' implies. For the position of οΰ cf. E.N. 1147 b29 τ ά δ' ά ν α γ κ α ΐ α μεν οΰ, αιρετά δέ καθ' α υ τ ά and Βζ,. Index 539 alO-14. (Ross, 1936: 486)
Der Grund, warum Ross hier die Einfügung des Negationspartikels „ου" vorschlägt, ist vermutlich in folgendem zu sehen. Nach Ansicht von Ross scheint Aristoteles hier zum Ausdruck bringen zu wollen, daß die Bestandteile Fleisch, Knochen, Blut, usw. in den unendlich vielen Körpern bereits enthalten sein müssen, 'zwar nicht getrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend'. Mit anderen Worten: Es wird darauf hingewiesen, daß die Bestandteile, obgleich sie ursprünglich nicht getrennt voneinander, sondern gleichsam vermischt in den unendlich vielen Körpern enthalten sind, dennoch als Vermischte bereits aktuelle Entitäten und nicht weniger 'seiend' sind. Würde Aristoteles demgegenüber wie die MSS lauten - ohne die Negation ,,ού" sagen „zwar getrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend", so scheint diese Gegenüberstellung zunächst insofern keinen Sinn zu ergeben, als ja das 'Getrenntsein-voneinander' für Aristoteles gerade eine Voraussetzung für das 'Seiendsein', nicht aber einen Gegensatz dazu darstellt. Die Hinzufügung eines ,,οΰ" erweist sich jedoch als unnötig und den Sinnzusammenhang verfälschend, wenn man bedenkt, daß das „Abgetrenntsein" (vgl. ,,κεχωρισμένα") ein mehrdeutiger Ausdruck ist. Auch wenn der Theorie von Anaxagoras zufolge im Ursprung alles miteinander vermischt war, so existieren die einzelnen Bestandteile später in den einzelnen Körpern doch jeweils in dem Sinne als 'abgetrennt' voneinander, daß z.B. die Fleischteile zunächst unabhänZekl (1987: 243, Fn.42) schließt sich der Textkorrektur von Ross an und begründet sie mit dem Hinweis darauf, daß die Ergänzung einer Negation in bezug auf Fragment DK 59B4 als notwendig erscheint. Demgegenüber schließt Wagner (1967: 415) zwar nicht aus, daß ein ,,οΰ" einmal im Text gestanden hat, doch würde er es eher tilgen, da weder Zeugnisse noch Logik für das ,,οΰ" sprechen.
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gig von Blutteilen, Sehnenteilen usw. existieren. Nur auf diese Weise ist es nämlich möglich, daß Fleisch auch getrennt von Blut und getrennt von einem lebendigen oder toten Organismus z.B. in einem Wasserquantum existieren kann, was ja möglich sein muß, sofern jedes aus jedem und somit ein Fleischteil auch aus einem Wasserquantum werden soll. Aristoteles zufolge ist diese Auffassung jedoch ganz und gar unmöglich. Seiner Ansicht nach ist Fleisch - ebenso wie Blut, Gehirn, usw. - getrennt von einem Organismus und getrennt von Blut, Sehnen usw. kein Fleisch mehr; bestenfalls trägt es dann den Namen „Fleisch" nur noch auf homonyme Weise. Bedenkt mein dies, so meint Aristoteles mit dem „zwar abgetrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend" (188a3-4), daß in den unendlich vielen Körpern bereits unendlich viel Fleisch, Blut und Gehirn enthalten wäre, das zwar der Theorie von Anaxagoras zufolge jeweils in dem Sinne voneinander abgetrennt sein muß, daß ein Partikel Fleisch auch getrennt von Blut usw. und überhaupt getrennt von einem Organismus z.B. in einem Quantum Wasser vorkommen kann - denn sonst könnte ja nicht jedes aus jedem werden -, das aber dennoch als Abgetrenntes nicht weniger seiend sein darf - denn Anaxagoras zufolge kann etwas ja nur aus einem Seienden werden. Demgegenüber ist das Fleisch der Theorie von Aristoteles zufolge als in diesem Sinne 'abgetrennt' kein Fleisch mehr. Mit dem „zwar abgetrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend" will Aristoteles gerade darauf aufmerksam machen, daß seiner Ansicht nach ein in diesem Sinne Abgetrenntes eben nicht mehr seiend wäre. Das Argument, das darauf hinausläuft, daß es der Theorie des Anaxagoras zufolge gewissermaßen eine 'mehrfache' Unendlichkeit geben muß, damit jedes aus jedem werden kann, ist nun wie folgt zu verstehen: In den unendlich vielen Körpern und 'Gleichteiligen' müßte der Theorie von Anaxagoras zufolge bereits unendlich viel Blut, Fleisch, Gehirn, usw. enthalten sein (d.h. unendlich vieles der Art nach Verschiedenes), damit jedes (d.h. ein jedes der unendlich vielen der Art nach verschiedenen Teile) aus jedem werden kann. In einem jeden 'Gleichteiligen' müssen somit bereits alle anderen 'Gleichteiligen' enthalten sein. Sind diese jedoch der Art nach unendlich verschieden, so müssen in einem 'Gleichteiligen' folglich unendlich viele verschiedene 'Gleichteilige' enthalten sein. Und diese in einem 'Gleichteiligen' enthaltenen 'Gleichteiligen' sind zwar unabhängig (getrennt) voneinander, aber dennoch - Anaxagoras zufolge - um nichts weniger 'seiend', da das Werden nur aus Seiendem möglich ist (vgl. 187a32-37). Zugleich muß ein jedes von diesen in einem 'Gleichteiligen' enthaltenen 'Gleichteiligen' der Zahl nach unbegrenzt sein, da sonst, wie die Argumente zuvor zeigten, die Aussonderung irgendwann ein Ende hätte und dann nicht mehr alles in allem wäre. Auf diese Weise ergibt sich eine 'mehrfache' Unendlichkeit, die Aristoteles zufolge widersinnig (αλογον) ist.87
Vgl. Phys. VIII. 1, 252al3, wo Aristoteles in bezug auf Anaxagoras davon spricht, daß das Unendliche zu einem Unendlichen keinen λόγος hat (τό δ' άπειρον πρός τό άπειρον ούδένα λόγον εχει).
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen ά ρ χ α ί
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4.2.2.2.4 (4) Das Werden ist kein Aussondern (188a5-18) Nachdem die beiden Prämissen (1) Jedes ist in jedem" und (2) Jedes wird aus jedem" in den vorherigen Argumenten widerlegt wurden, geht es nun im letzten Teil um die Prämisse (3) (187b23), der zufolge es kein Entstehen/Werden, sondern nur das Aussondern eines bereits Seienden gibt.88 Zeigt Aristoteles zunächst, daß das Entmischungsmodell in bezug auf die Quantitäten (ποσόν) und Qualitäten (ποιόν) in Aporien führt, so zeigt er im Anschluß daran, daß das Entmischungsmodell hinsichtlich der 'gleichartigen Dinge' (ομοειδή) nicht alle (und schon gar nicht die für Aristoteles wesentlichen) Formen des Werdens umgreift.
(4.1) Die Unmöglichkeit der Entmischung in bezug auf Quantitäten und Qualitäten Vor dem Hintergrund der von Aristoteles in 187b22-34 dargelegten Argumentation, daß die Entmischung bei einem jeden Seienden irgendwann zu einem Ende gelangt, wo nichts weiteres mehr aus ihm ausgesondert werden kann, läßt sich die Aussage von Anaxagoras, daß es niemals ein völliges Auseinandertreten/Entmischen gibt, in einem gewissen Sinne als „Ausflucht" (Prantl, 1854: 27) verstehen. Daß aber das Getrenntwerden [τό διακριθήσεσθαι] niemals völlig vollzogen wird, ist zwar ohne Wissen [οΰκ είδότως], aber dennoch richtig [όρθώς] gesagt. Denn die Affektionen sind nicht abtrennbar [τα γαρ πάθη αχώριστα]. Wenn nun die Farben und die Beschaffenheiten [τά χρώματα και αί έξεις] gemischt sind, und wenn sie dann getrennt würden, so würde es etwas Weißes und etwas Gesundes geben, das nicht etwas anderes Seiendes ist und auch nicht an einem Zugrundeliegenden vorkommt [εσται τι λ ε υ κ ό ν καΐ υγιεινό ν ο ύ χ ετερόν τι δν οϋδέ καθ' υποκειμένου]. So daß der Geist [ό νοΰς] widersinnig ist, weil er Unmögliches versucht, wenn er nämlich zwar trennen will, dies aber durchzuführen sowohl hinsichtlich des Quantitativen wie hinsichtlich des Qualitativen [κατά τό ποσόν και κ α τ ά τό ποιόν] unmöglich ist: hinsichtlich des Quantitativen, weil es eine kleinste Größe nicht gibt; hinsichtlich des Qualitativen aber, weil die Affektionen nicht abtrennbar sind. (1.4, 188a5-13)
Den Gedanken von Anaxagoras, daß es bei der Entmischung nie zur völligen Trennung kommen kann (vgl. Frg. DK 59B6, B12 und B8), bezeichnet Aristoteles als zwar richtig, doch fügt er hinzu, daß dies von Anaxagoras ohne Wissen gesagt wurde. Was Anaxagoras selbst mit diesem Gedanken gemeint hat, läßt sich gut am Beispiel der Gegensätze verdeutlichen. Bereits Heraklit (vgl. DK 22B88 u.a.) führte in bezug auf die Gegensätze aus, daß das eine Glied nie ohne das andere Glied sein kann. Anaxagoras' Behauptung, daß es nie zu einer vollSo sind die beiden folgenden Argumente nicht nur, wie Wagner (1967: 16) meint, als „weitere Schwierigkeiten" zu betrachten, sondern sie stehen in einem systematischen Zusammenhang mit dem Ganzen.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
kommenen Trennung kommt - woraus sich zugleich ergibt, daß „nichts in absoluter Reinheit vorkommt" (vgl. 187b4-7) -, erweist sich als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß 'in jedem ein Anteil von jedem ist' und daß die Gegensätze als Seiende ununterbrochen auseinander werden können. Denn selbst in dem aus einem Weißen ausgesonderten Schwarzen befindet sich wiederum ein Weißes, das sich aussondern kann. Zwar hat Anaxagoras mit der These, daß die Trennung nicht völlig vollzogen wird, recht, doch sprach Anaxagoras dies, so Aristoteles, ohne Wissen aus. Denn der Grund, den Anaxagoras selbst dafür anführt, daß die Trennung nicht völlig vollzogen werden kann - nämlich der Umstand, daß 'in jedem ein Anteil von jedem ist', wodurch erst das Werden eines jeden aus einem jeden möglich wird -, hat sich in den vorangegangenen Argumenten bereits als falsch erwiesen. Aristoteles' eigener Grund dafür, daß die Trennung nicht völlig vollzogen wird, ist folgender: Die Affektionen sind nicht abtrennbar von demjenigen, an dem sie vorkommen. Die Weiße als Eigenschaft, die Anaxagoras in einem dinglichen Sinne aufgefaßt zu haben scheint, kann nach Ansicht von Aristoteles nicht selbständig getrennt, sondern nur an einem anderen vorkommen. 89 Sie ist, wie Aristoteles in Kat. 2 ausdrücklich hervorhebt, zwar in einem ύποκείμενον, doch ist sie nicht als ein (materieller) Teil im ύποκείμενον. Der Theorie von Anaxagoras zufolge, so wie Aristoteles sie versteht, kommt die 'verdinglichte' Weiße jedoch als ein physikalisch-materieller Teil - analog zu Hand und Fuß - in einem Körper vor und hat zudem eine selbständige Existenz, weil Anaxagoras noch nicht zwischen Ding und Eigenschaft unterschieden hat. Für Anaxagoras gibt es nach Ansicht von Aristoteles letztlich nur 'Dingliches'. 90 Mit den „Farben" (τά χρώματα) und „Beschaffenheiten" (αί εξεις) nennt Aristoteles zunächst zwei Arten von Affektionen (πάθη), 91 die jeweils durch ein konkretes Beispiel veranschaulicht werden: Weißes (λευκόν) als Beispiel für ei-
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Vgl. hierzu auch Met. 1.8, 989b2-4, wo Aristoteles darauf hinweist, daß der Theorie von Anaxagoras zufolge die Affektionen (τα πάθη) und Akzidentien (τα συμβεβηκότα) von den Dingen (των ουσιών) getrennt würden, weil sich dasjenige, was sich mischen läßt, auch abtrennen läßt. Nach Ansicht von Ross (1936: 484 und 486) ist hier die aristotelische Kritik an Anaxagoras aus dem Grunde unberechtigt, da Aristoteles das Argument auf die Qualitäten bezieht, während es so gut wie sicher ist, daß Anaxagoras mit 'τό λευκόν' nicht die Weiße, sondern dasjenige, was weiß ist, gemeint hat (1936: 486): „Anaxagoras says (fr. 8) ού ... άποκέκοπται πελέκει οϋτε τό θερμόν άπό τοΰ ψυχροΰ οϋτε τό ψυχρόν άπό τοΰ θερμοΰ, and Aristotle takes him to refer to the qualities. But it is almost certain that Anaxagoras meant 'that which is hot' and 'that which is cold'; cf. 187 a25 n." Zwar weist Ross zu Recht darauf hin, daß Anaxagoras selbst nicht zwischen Eigenschaften und Dingen unterschieden hat, doch ist gerade in dieser Nichtunterscheidung von 'Ding' und 'Eigenschaft' die aristotelische Kritik am Modell des Anaxagoras zu sehen, der nach Ansicht von Aristoteles die Qualitäten als Dinge aufgefaßt hat. Die „Affektionen" (πάθη) sind hier als Gattung gemeint. In Kat. 8 fallen die Beschaffenheiten (αί έξεις) unter die Qualitäten (ποιότητα) und meinen einen Habitus, der im Gegensatz zur Disposition (διάθεσις) von längerer Dauer und bleibender ist. Krankheit und Gesundheit werden dort zwar zu den Dispositionen (διάθεσεις) gezählt, doch weist Aristoteles darauf hin, daß beide auch (durch die Länge der Zeit) zu einem Habitus (έξις) werden können, wobei dann die Gesundheit eher das Natürliche ist. Vgl. auch Met. V.20, 21 wo die Gesundheit ebenfalls als Beispiel für eine έξις und 'weiß' als Beispiel für ein πάθος angefllhrt wird.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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ne Farbe und Gesundes (ύγιεινόν) als Beispiel für eine Beschaffenheit. 9 ? Aristoteles argumentiert nun wie folgt: (1) „Wenn diese Farben und Beschaffenheiten gemischt sind, und wenn diese dann entmischt werden, so wird es etwas Weißes und etwas Gesundes geben, das nicht etwas anderes Seiendes ist und auch nicht an einem ύποκείμενον vorkommt." Bezeichnenderweise spricht Aristoteles bei der Beschreibung des Zustands des 'Gemischtseins von allem' noch nicht in einem konkreten Sinne vom „Weißen" und „Gesunden", sondern zunächst noch in einem allgemeinen Sinne von „Farben" und „Beschaffenheiten". Dies entspricht der Ansicht von Anaxagoras, daß in dem Zustand des ,,ήν όμοΰ π ά ν τ α " die einzelne Farbe und Beschaffenheit j a noch nicht erkennbar ist.93 Erst durch die Entmischung aus dem „alles zusammen" (ήν όμοΰ πάντα), bei der nun das Weiße - ebenso wie auch alles andere - durch die Aussonderung bzw. Differenzierung gleichsam erst „entsteht, wird einzelnes erkennbar. Dieses Weiße sondert sich nun aus dem Zustand des „alles zusammen" aus und wird nicht etwas anderes Seiendes sein (οΰχ έτερον τι δν: a8) als eben Weißes. Auch wenn das so ausgesonderte Weiße der Theorie von Anaxagoras zufolge zugleich alle anderen Bestandteile enthalten muß - denn sonst könnte j a nicht jedes aus jedem werden -, ist es selbst doch nur Weißes und nichts anderes. Denn wäre es zugleich auch etwas anderes, so wäre es weiterhin mit dem anderen vermischt und hätte noch keine eindeutige Bestimmung: es wäre noch nicht Weißes. Aus eben diesem Grunde wird es auch nicht an einem ύποκείμενον sein. Denn das Weiße kann j a insofern nur Weißes und nicht ein anderes Seiendes sein, als seine φύσις durch denjenigen Bestandteil bestimmt ist, der am meisten in ihm enthalten ist (vgl. 187b2-7). (Zugleich beinhaltet dieses Weiße, das in der beschriebenen Weise nur Weißes ist, aber auch alle anderen Bestandteile und ist insofern kein ganz und gar reines Weißes.) Hieraus zieht Aristoteles nun die Konklusion, daß „folglich [ώστε] der Geist [νους] widersinnig [άτοπος] ist, weil er Unmögliches versucht, [,..]". 94 Dieses Unmögliche, das der Geist (νους) des Anaxagoras versucht und das ihn so widersinnig erscheinen läßt, besteht Aristoteles zufolge darin, daß er einerseits die Trennung zwar will - denn sonst gäbe es überhaupt keine Bewegung und überhaupt kein distinktiv bestimmtes Einzelnes -, Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Aristoteles mit dem Neutrum ,,τό λευκόν" sowohl das Weiße (als Ding) als auch die Weiße (als Eigenschaft) meinen kann. Insofern „λευκόν" hier jedoch ein Beispiel filr eine Farbe und „ύγιεινόν" ein Beispiel für eine Beschaffenheit sein soll, scheint zunächst nur die Weiße und die Gesundheit gemeint sein zu können. Andererseits ist jedoch zu bedenken, daß Anaxagoras nach Ansicht von Aristoteles nicht zwischen Dingen und Eigenschaften unterschieden hat, bzw. daß er auch die Eigenschaften in einem dinglichen Sinne aufgefaßt hat. Dies ist aus dem Grunde hervorzuheben, da in der Rede vom „11 λευκόν και ύγιεινόν" (a8) sinnvollerweise nur „etwas Weißes und Gesundes", nicht aber „eine bestimmte (bzw. etwas) Weiße und Gesundheit" gemeint sein kann. Wenn ich hier also in meiner Übersetzung von „Weißem" und „Gesundem" spreche, so ist dabei zu beachten, daß damit nicht „etwas Weißes" im aristotelischen Sinne als etwas, an dem sich die Eigenschaft Weiße findet (etwas, was weiß ist) gemeint ist, sondern daß Aristoteles hier eher aus der Sicht von Anaxagoras die verdinglichte Eigenschaft der Weiße im Sinn hat. Vgl. Frg. DK 59B4: „Bevor aber diese Dinge ausgesondert wurden, war alles zusammen und es war noch nicht einmal eine einzige Farbe klar zu erkennen." Zum „Geist" (νους), der bei Anaxagoras der Ursprung aller Aussonderung und somit das Prinzip der Bewegung ist, vgl. Frg. DK 59B13
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Physik
I. 4: ' D i e Auseinandersetzung mit A n a x a g o r a s '
daß er sie andererseits jedoch nicht durchzuführen imstande ist - weder hinsichtlich der Quantität (da es keine kleinste Größe gibt) noch hinsichtlich der Qualität (da die Affektionen nicht abtrennbar sind). Mit anderen Worten: Der Geist will die Trennung aus der Urmischung, er will, daß Einzeldinge (Weißes, Gesundes ...) werden. Hierzu ist es jedoch nötig, daß das Weiße von allem anderen abgetrennt wird. Dies aber ist unmöglich, weil (a) Weißes als ein Qualitatives niemals von dem abtrennbar ist, an dem es vorkommt, und weil (b) das Weiße als bestimmtes einzelnes Quantitatives auch ein bestimmtes begrenztes Quantum darstellt. Letzteres führt insofern in einen Konflikt mit der Theorie des Anaxagoras, als dieser Theorie zufolge jedes Einzelne letztlich ein unbegrenztes Quantum darstellen muß. So würde der Geist im Hinblick auf die Quantität letztlich Unendliches von Unendlichem trennen, was jedoch bedeutet, daß er eigentlich gar nicht trennt. Damit ihm die Abtrennung hinsichtlich der Quantität gelänge, müßte es eine kleinste Größe geben, die es Anaxagoras zufolge jedoch nicht geben kann.95
(4.2) Die Unmöglichkeit der Entmischung in bezug auf die 'Gleichartigen' (ομοειδή) Hat Aristoteles zuvor gezeigt, daß das Werden als Aussonderung in bezug auf die Qualitäten und Quantitäten in Aporien fuhrt, so geht er nun dazu über, selbiges auch in bezug auf die 'Gleichartigen' (ομοειδή) zu zeigen. N i c h t richtig aber ist auch, w i e er das Entstehen der Gleichartigen [των ο μ ο ε ι δ ώ ν ] annimmt. Zwar wird L e h m in einer W e i s e zu L e h m zerteilt, in einer anderen W e i s e aber auch nicht. U n d e s ist nicht d i e s e l b e Weise, w i e Steine aus e i n e m Haus [sind und werden], und ein H a u s aus Steinen [ist und wird], s o auch Wasser u n d Luft auseinander ist und wird. B e s s e r ist es, w e n i g e r und eine begrenzte Anzahl [von ά ρ χ α ί ] anzunehmen, w i e e s E m p e d o k l e s tut. (1.4, 1 8 8 a l 3 - 1 8 )
Die Beispiele „Lehm", „Stein", „Wasser" und „Luft" machen deutlich, daß mit den hier erwähnten „Gleichartigen" die zuvor als „Gleichteilige" (όμοιομερή) bezeichneten Dinge gemeint sind.96 Auch bei diesen 'Gleichartigen' bzw. 'Gleichteiligen' hat Anaxagoras nach Ansicht von Aristoteles das Werden/Entstehen (γένεσις) nicht richtig angenommen, insofern er es ebenfalls (nur) im Sinne einer Aussonderung versteht.
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Wagner (1967: 416) ist der Auffassung, daß Aristoteles' Kritik darin besteht, daß der Geist mit seiner Absonderung nicht an ein Ende gelangt: „So daß der Weltgeist also prinzipiell seine Absicht nicht zu Ende führen kann." (Vgl. auch Zekl, 1987: 23). Meiner Interpretation zufolge besteht die Kritik von Aristoteles jedoch primär nicht darin, daß der Geist mit der Absonderung nicht zu einem Ende kommt - denn dieses „Nicht-zu-einem-Ende-kommen" wird ja von Anaxagoras selbst behauptet, wenn er sagt, daß „die Entmischung niemals völlig vollzogen wird" sondern vielmehr darin, daß es nach Ansicht von Aristoteles letztlich zu überhaupt keiner Aussonderung kommen kann. Vgl. auch Düring (1966: 228), Ross (1936: 3 4 2 , 4 8 6 ) und Wagner (1967: 16).
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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Zwar gibt es, so Aristoteles, durchaus eine derartige Zerteilung, bei der ein Ganzes in seine gleichartigen Teile auseinandergenommen wird, so daß durch eine 'Entmischung' mehreres 'entsteht' und dieses bereits vorher in dem Ganzen aktuell vorhanden war; dies ist z.B. bei der Zerteilung von Lehm zu Lehm(klumpen) (vgl. ,,ό πηλός εϊς πηλούς": al4) der Fall.97 Andererseits gibt es eine derartige Zerteilung von Lehm zu Lehm(klumpen) auch nicht (vgl. ,,έστι δ' ώς οΰ": al4-15). Mit dieser Bemerkung will Aristoteles darauf hinweisen, daß Lehm nicht nur zu Lehm(klumpen) zerteilt werden kann. Denn es gibt ja auch andere (inhomogene) 'Zerteilungsformen' von Lehm, wie z.B. das Auseinandernehmen des Lehms in seine Bestandteile Wasser und Erde.98 Zwar würde auch Anaxagoras zugestehen, daß aus Lehm Wasser und Erde werden kann, doch wäre dieses Werden bei Anaxagoras in einem anderen Sinne zu verstehen als Aristoteles dies meint. Denn Anaxagoras zufolge kann Wasser und Erde aus Lehm insofern werden, als seiner Theorie zufolge ja alles aus Lehm werden kann. Aristoteles zufolge wird Wasser und Erde jedoch in einem spezifischen Sinne aus Lehm, dessen konstitutive Bestandteile sie darstellen. Fernerhin „ist es nicht dieselbe Weise wie einerseits Steine aus einem Haus werden und sind und wie ein Haus aus Steinen wird und ist, und wie andererseits Wasser und Luft auseinander werden und sind" (188al5-17). Im Gegensatz zum 'ungeordneten' Lehmhaufen, der sich in Lehmklumpen zerteilen läßt, stellt ein Haus eine bestimmte Ordnung von Steinen bzw. einen „geordneten Steinhaufen" dar (vgl. 1.5, 188b 16-20). Auch wenn das Wasser ebenfalls zu den 'Gleichteiligen' zu zählen ist, so wird die aus dem Wasser werdende Luft nach Ansicht von Aristoteles doch weder durch eine bloße Zerteilung eines ungeordneten Ganzen, wie dies bei den Lehmklumpen aus Lehm der Fall ist, noch durch eine Zerteilung eines geordneten Ganzen, wie dies bei den Steinen aus einem Haus der Fall ist.99 Vielmehr wandelt sich hier etwas in seinem Stoff (vgl. 1.7, 190b8-9). Dort,
98 99
Das Beispiel einer Zerteilung von Lehm zu Lehm(klumpen) stellt allerdings insofern eine einseitige Beschreibung der Theorie des Anaxagoras dar, als sich Lehm Anaxagoras zufolge ja auch aus Fleisch absondern kann. Aristoteles will mit diesem Beispiel vielleicht daraufhinweisen, daß Anaxagoras aufgrund der Beobachtung von derartigen 'Werdeprozessen' zu seinem Aussonderungsmodell des Werdens gelangt ist. Zugleich mag in dem Beispiel „Lehm" auch eine gewisse abschätzige Ironie liegen, denn „πηλός" kann neben „Lehm" und „weicher Erde" auch „Schlamm", „Kot" und „Schmutz" bedeuten. Man denke in diesem Zusammenhang z.B. an Piaton, Parm. 130b-d, wo Parmenides dem Sokrates die Frage stellt, ob man auch eine Idee der Haare, des Kots und des Schmutzes anzunehmen habe. Charlton (1970: 65) weist in diesem Zusammenhang auf Piaton, Theaitet 147c hin. Der Vergleich des Werdens von 'Haus aus Steinen' mit dem Werden von 'Luft aus Wasser' hat vermutlich folgende Funktion: Anaxagoras muß erklaren, wie Luit aus Wasser und umgekehrt Wasser aus Luft wird. Zugleich muß er erklären, inwiefern sich das Werden von Luft aus Wasser - auch wenn es seiner Theorie zufolge mit dem Werden der Lehmklumpen aus Lehm insofern identisch ist, als beidemal eine Aussonderung stattfindet - vom Werden der Lehm(klumpen) aus Lehm unterscheidet. Denn beim Werden von Luft aus Wasser sind die Namen des Gewordenen („Luft") und desjenigen, woraus es geworden ist („Wasser") ja verschieden, während sie beim Werden von Lehm aus Lehm nicht verschieden sind. Nun meint Aristoteles vermutlich, daß Anaxagoras diesen sprachlichen Unterschied vielleicht darauf zurückführen könnte, daß wir es in bezug auf das Werden von Lehm aus Lehm mit einem ungeordneten Ganzen, in bezug auf das Werden von Luft aus Wasser jedoch mit einem geordneten Ganzen zu tun haben. Anaxagoras könnte dann argumentieren, daß analog zum Werden eines Hauses aus Steinen auch beim Werden von Luft aus Wasser das Entstandene nicht nach dem
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wo vorher Wasser war, ist jetzt Luft und kein Wasser mehr. Dies unterscheidet diesen Werdeprozeß von allen anderen. Denn in bezug auf das Werden von Lehm(klumpen) aus Lehm gilt ja, daß dort, wo vorher Lehm war, jetzt immer noch Lehm ist; und in bezug auf das Werden eines Hauses aus Steinen gilt, daß dort, wo vorher Steine waren, jetzt ebenfalls Steine sind, jedoch Steine, die sich in einer bestimmten Anordnung befinden und zu einer bestimmten Funktion zusammengestellt sind, die wir „Haus" nennen. In beiden Fällen ist dasjenige, woraus etwas wird, nicht verschwunden. Dieses Nichtverschwinden dessen, woraus etwas wird, ist gerade für das Aussonderungsmodell kennzeichnend, das allerdings nicht zu erklären vermag, wie Luft aus Wasser in der Weise wird, daß nun dort, wo vorher Wasser war, Luft und kein Wasser mehr ist. Das Werden von Luft aus Wasser steht Aristoteles zufolge gerade für einen solchen Prozeß, bei dem das Entstehen des einen den Untergang des anderen bedeutet; ein Prozeß, der gerade nicht zur Unendlichkeit führt, sondern der das Werden als in einen Kreislauf eingeschlossen versteht.100 Aus dieser Argumentation wird deutlich, daß nicht jede Form des Werdens ein Aussondern darstellt. Die Prämisse (2), der zufolge es kein 'Werden/Entstehen', sondern nur ein Aussondern gibt (187b23), kann mithin als widerlegt betrachtet werden, wobei Aristoteles jedoch nicht den Fehler begeht, das konträre Gegenteil der Prämisse des Anaxagoras zu behaupten, so daß es nun überhaupt kein Werden im Sinne einer Aussonderung gäbe. Vielmehr weist Aristoteles mit dem Beispiel des Werdens von 'Lehm aus Lehm' daraufhin, daß es durchaus ein Werden als Aussondern gibt, wobei er selbst jedoch dieses Aussondern nicht als ein 'Werden' im eigentlichen Sinne bezeichnen würde. Begann die Auseinandersetzung mit Anaxagoras in 187a21 mit einem Vergleich seiner Lehre mit der des Empedokles, so findet sie nun ihren Abschluß in der Bemerkung, daß es besser ist, weniger und (der Zahl nach) Begrenztes (als άρχαί) anzunehmen,101 wie Empedokles es tut.102 Ross weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß in dieser Aussage ein Vorläufer von „Ockhams Rasiermesser" gesehen werden kann: The principle enunciated is the ancestor of Occam's razor. Cf. 189al4-16, 259a9. (Ross, 1936: 487)
100 101 102
benannt wird, woraus es geworden ist, weil es ein anders geordnetes Ganzes darstellt. Diese Erklärungsmöglichkeit will Aristoteles jedoch dadurch ausschließen, daß er die Unterschiedlichkeit des Werdens eines Hauses aus Steinen und des Werdens von Luft aus Wasser betont. Vgl. auch Met. II.2, 994a22-994b2. In dem Satz „βέλτιόν τε έλάττω και πεπερασμένα λαβείν" (188al 7-18) meint der Ausdruck „πεπερασμένα" offenkundig die Begrenztheit der Zahl nach (vgl. auch 1.6, 189al5-16). Wagner (1967: 416) meint, daß der Schlußsatz in der Luft hängt und den Anschein erweckt, als gehöre er nicht hierher. Seiner Ansicht nach hätte dieser Satz bereits im Anschluß an 187b 1113 stehen können, weshalb er die Vermutung äußert, daß die weiteren Argumente vielleicht später dazwischengeschoben wurden. Demgegenüber hat die vorliegende Interpretation jedoch den systematischen Zusammenhang der nachfolgenden Argumente in bezug auf eine Widerlegung der von Anaxagoras zugrunde gelegten Prämissen deutlich gemacht. Da in diesen Widerlegungen bereits Gesichtspunkte vorkommen, die - wie wir sehen werden - filr Aristoteles in bezug auf die Darlegung der eigenen Theorie von Bedeutung sind, scheint mir die Vermutung von Wagner eher unwahrscheinlich zu sein.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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Dieser Hinweis von Ross bedarf jedoch insofern einer differenzierteren Betrachtung, als im Gegensatz zu dem mitunter auch als „Ökonomieprinzip" bezeichneten Prinzip von Ockham ('entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem'), für das es wesentlich ist, daß in einem absoluten Sinne 'überhaupt weniger' Entitäten anzunehmen sind, das Wort „weniger" (έλάττω) in 188a 17 nur einen relativen Sinn hat und „weniger als unendlich viele" meint. Diese relative Bedeutung des Wortes „weniger" wird durch den das Wort „έλάττω" explizierenden Ausdruck ,,καί πεπερασμένα" (188a 18) angedeutet und in 1.6, 189a 15-16 explizit ausgesprochen: ,,βέλτιον δ' έκ πεπερασμένων, ώσπερ 'Εμπεδοκλής, ή έξ απείρων". Die Behauptung aber, daß es besser ist, weniger als unendlich viele Prinzipien anzunehmen (Aristoteles), ist von der Behauptung, daß es besser ist, überhaupt weniger Prinzipien anzunehmen (Ockham), in seiner wissenschaftstheoretischen Bedeutung zu unterscheiden. Anaxagoras' Annahme unendlich vieler der Art nach verschiedener άρχαί kann nun insofern als widerlegt betrachtet werden, als Aristoteles einerseits gezeigt hat, daß die Annahme unendlich vieler άρχαί in Aporien führt, und als er andererseits auf dem Wege einer Reductio ad absurdum nachgewiesen hat, daß die Prämissen, die Anaxagoras letztlich zur Annahme unendlich vieler άρχαί geführt haben, selbst falsch sind oder nicht notwendigerweise zur Konklusion einer unbegrenzten Anzahl von άρχαί führen.
5. Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί' 5.1 Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger
(188al9-27)
Alle [πάντες] machen sie also [δή] die (konträren) Gegensätze 1 zu Prinzipien [τάν α ν τ ί α ά ρ χ ά ς ποιοΰσιν], sowohl die, welche sagen, daß das Ganze Eines und nicht bewegt sei (denn auch Parmenides macht das Wanne und das Kalte zu Prinzipien, er nennt sie aber »Feuer« und »Erde«), wie auch die, die Dünnes und Dichtes [annehmen], und Demokrit, der das Volle und das Leere nimmt, von denen er behauptet, daß das eine seiend und das andere nicht-seiend sei. Zudem [unterscheidet er] nach Lage [θέσει], Gestalt [σχήματι] und Ordnung [τάξει]. Diese aber sind Gattungen von Gegensätzen [γένη έναντίων]: die [Gegensätze] der Lage sind: oben-unten; vorne-hinten; die der Gestalt: gewinkelt-winkellos, gerade-rund. Daß also alle irgendwie Gegensätze zu Prinzipien machen, ist klar [δτι μεν ούν τ ά ν α ν τ ί α πως πάντες ποιοΰσι τάς άρχάς, δήλον]. (1.5, 188al9-27)
Die Behauptung, daß „also (δή) alle die Gegensätze zu Prinzipien machen" (188al9), überrascht zunächst aufgrund seines konklusiven Charakters, denn bisher ist ja noch nicht gezeigt worden, daß alle die Gegensätze zu Prinzipien machen. Auch ist in den nachfolgend angeführten Beispielen, durch die diese Behauptung eine Begründung (γάρ: a20) erfahren soll, keineswegs von allen Vorgängern die Rede. Aus diesem Grunde liegt es nahe, das Wort „alle" hier in einem eingeschränkten Sinne zu verstehen, dem zufolge es sich zunächst einmal auf all die Vorgänger bezieht, von denen in der bisherigen Untersuchung die Rede war. Hierzu zählen vor allem die Eleaten und die Naturphilosophen, die dann auch in den nachfolgend angeführten Beispielen durch ein „sowohl ... als auch" (vgl. „01 τε ... και οί": al9-22) ausdrücklich gegenübergestellt werden. Parmenides wird als Vertreter der Eleaten zu denjenigen gezählt, „die sagen, das Ganze sei Eines und nicht bewegt", während mit denjenigen, die Dünnes und Dichtes [annehmen], die Naturphilosophen der ersten Gruppe aus Kapitel 1.4 gemeint sind. Von denen hieß es dort, daß sie alles durch Dichte und Dünne hervorgehen ließen (187al5-16). Schließlich wird auch noch Demokrit (188a22) mit seinen verschiedenen Gegensätzen erwähnt.2 Zwar wurden bei der Auseinandersetzung mit den Eleaten und den Naturphilosophen auch andere VorgänMit dem Ausdruck ,,έναντία" meint Aristoteles für gewöhnlich konträre Gegensätze (vgl. Kat. 10 und Met. V.10; X.4). Die hier angeführten Beispiele lauten: „Warmes-Kaltes", „FeuerErde", „Voiles-Leeres", „oben-unten", „vorne-hinten", „gewinkelt-winkellos", „gerade-rund"; (vgl. auch Happ, 1971: 280, Fn.8). Die Nennung Demokrits mit dem Hinweis, daß er das eine als seiend und das andere als nichtseiend gesetzt habe, mag als ein weiterer Beleg dafür gelten, daß Aristoteles in 1.3, 187al-3 die Atomisten im Sinn hat.
Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger
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ger, wie z.B. Melissos, Heraklit, Lykophron, Piaton, Empedokles, Anaxagoras und Anaximander, explizit mit Namen genannt, in bezug auf die in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, daß einige von ihnen ebenfalls bestimmte Gegensätze als grundlegend angesehen haben, doch werden diese Gegensätze hier zu Beginn von Kapitel 1.5 nicht erwähnt. Erst am Ende des Kapitels ist auch von den Gegensätzen „Streit-Liebe" (188b34-35: Empedokles), „Großes-Kleines" (189a8: Piaton) und „Ungerades-Gerades" (188b34: Pythagoreer) die Rede.3 Der Grund, warum sie nicht bereits zu Beginn, sondern erst am Ende von Kapitel 1.5 Erwähnung finden, ist vermutlich darin zu sehen, daß diese Vorgänger im Vergleich zu den zu Beginn genannten Vorgängern kategorial verschiedene - nämlich frühere und dem Begriff nach bekanntere - Gegensätze angenommen haben, so daß in Entsprechung zu der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie auch in Kapitel 1.5 in bezug auf die Gegensätze zunächst von den der Wahrnehmung nach bekannteren Gegensätzen ausgegangen werden soll, um von dort aus zu den dem Begriff m.c\\ bekannteren Gegensätzen zu gelangen.4 Als solche der Wahrnehmung nach bekanntere Gegensätze erweisen sich gerade die zu Beginn genannten Beispiele „Warmes-Kaltes", „Feuer-Erde", „DünnesDichtes", „Voiles-Leeres", „oben-unten", „vorn-hinten", „gewinkelt-winkellos" und „gerade-rund", von denen Aristoteles einige in 188b26-189a9 ausdrücklich als der Wahrnehmung nach bekanntere Gegensätze bestimmt. Der einführende Abschnitt 188al9-27 läßt sich im Hinblick auf seine Begründungsstruktur in folgende Teile gliedern: (1) Die Behauptung: „Alle machen die Gegensätze zu Prinzipien" (188al9); (2) die Begründung der Behauptung durch Beispiele (188al9-26); (3) die Konklusion, der zufolge das Behauptete nun klar sein soll: „Es ist also klar, daß alle irgendwie Gegensätze zu Prinzipien machen" (188a26-27).5 Nun unterscheidet sich die Behauptung, daß alle die Gegensätze zu άρχαί machen (vgl. ,,τάναντία άρχάς ποιοΰσιν": 188al9), in einer wesentlichen und häufig übersehenen Hinsicht von der Konklusion des Kapitels 1.5, der zufolge klar sein soll, daß die άρχαί Gegensätze sein müssen (vgl. ,,δτι μέν οΰν εναντίας δει τάς άρχάς είναι, φανερόν": 189a9-10). Wird nämlich in 188a 19 Eine schematische Darstellung der von Aristoteles in Physik I angeführten Gegensätze der Vorgänger findet sich im Anhang 11.2, Darstellung (2). Die von den Vorgängern vorgenommene Setzung der Gegensätze als Prinzipien kann durchaus als aus der Wahrnehmung hergeleitet betrachtet werden, da ja die Beobachtung, daß die uns umgebenden Naturdinge in verschiedenartigen gegensätzlichen Verhältnissen zueinander stehen, den Schluß nahelegt, daß die Gegensätze eine grundlegende Struktur in der Natur darstellen. Der Satz „cm μέν οΰν τάναντία πως πάντες ποιοϋσι τάς άρχάς, δήλον" kann auf zweifache Weise verstanden werden: (i) „es ist nun klar, daß alle die Gegensätze zu άρχαί machen"; (ii) „es ist nun klar, daß alle die άρχαί zu Gegensätzen machen". Da jedoch die Konklusion a26-27 das in der Prämisse aI9 Gesagte wiederholt, das nun durch die Anführung der Beispiele klar sein soll, ist davon auszugehen, daß hier die Bedeutung (i) gemeint ist (vgl. auch Philoponus, der das „τάς" in a26 vor „άρχάς" streicht). Mit Ausnahme von Zekl (1987: 25), der auf die Bedeutung (ii) zurückgreift, Ubersetzen die meisten Interpreten diesen Satz in der Bedeutung (i): Vgl. Prantl (1854: 29), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 343), Wagner (1967: 17), Charlton (1970: 11), Gohlke (1956: 43), Carteron ( 2 1952: 39) und Wicksteed/Comford (1980: 51).
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zunächst von bestimmten Gegensätzen gesagt, daß sie Prinzipien sind, so wird in 189a9-10 umgekehrt von den Prinzipien gesagt, daß sie Gegensätze bzw. gegensätzlich sind.6 Diese Umstellung des Subjekt- und Prädikatausdrucks deutet auf eine Entwicklung innerhalb des Kapitels hin, die wie folgt zu verstehen ist: Ausgehend von der These der Vorgänger „die Gegensätze sind άρχαί" (die Vorgänger waren Aristoteles zufolge der Ansicht, daß konkrete, von ihnen jeweils vorgefundene Gegensätze άρχαί seien) soll zu der These „die άρχαί sind Gegensätze bzw. gegensätzlich" übergangen werden. Der damit verbundene Weg von einer extensionalen Bestimmung der άρχαί („diese oder jene konkreten Gegensätze sind die άρχαί") zu einer intensionalen Bestimmung der άρχαί („die άρχαί sind gegensätzlich") spiegelt gleichsam den in Kapitel 1.1 beschriebenen methodischen Weg wider, der von der Wahrnehmung zum Begriff führen soll. Befinden sich die Vorgänger - und hier ist vor allem an diejenigen Vorgänger zu denken, deren Gegensätze der Wahrnehmung nach bekannter sind - Aristoteles zufolge noch auf der Ebene der Wahrnehmung, auf der der eine oder andere Gegensatz als fundamental erscheinen mag und zum Prinzip erhoben wird,7 so führt die in 188a30 von Aristoteles eingeleitete Analyse, die er als eine Analyse „dem Begriff nach" (έπί του λόγου: a31) versteht, zu gemeinsamen Merkmalen all dieser Wahmehmungsgegensätze, die schließlich in der begrifflichen Konklusion von der gegensätzlichen Struktur der Prinzipien (189a9-10) mündet. Dieser methodische Weg von einer extensionalen zu einer intensionalen Bestimmung eines zu erkennenden Gegenstandes findet sich bei Aristoteles gerade in bezug auf eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Vorgänger auch an anderen Stellen seines Werkes wieder. So werden z.B. in Met. VII.2, 1028b8 ff. in bezug auf die Frage, was die ουσία ist, zunächst einmal in einem extensionalen Sinne Diese Differenz ist - soweit ich sehen kann - einzig von McMullin (1963: 186, Fn. 16) beobachtet worden: „The conclusion of the chapter clearly should say that the contraries are principles, not (as it does) that the principles are contraries. It is the former claim that the argument tends to support, and it will shortly appear that one of the principles is not in fact, a contrary." Obgleich McMullin zu Recht einen Unterschied zwischen der Behauptung und der Konklusion beobachtet, scheint er mit seiner Kritik daran gleichwohl die Pointe von Kapitel I. 5 zu verfehlen. Nach Ansicht von McMullin hätte Aristoteles in seiner abschließenden Konklusion anstelle der Behauptung, daß die Prinzipien Gegensätze sind, besser sagen sollen, daß die Gegensätze Prinzipien sind, da sich zeigen wird, daß eines der Prinzipien - nämlich das ύποκείμενον - kein Glied eines Gegensatzes darstellt. Nun ist dieser Kritik von McMullin jedoch folgendes entgegenzuhalten: Wenn Aristoteles anstelle der Behauptung „Prinzipien sind Gegensätze", welches im Widerspruch dazu steht, daß das ύποκείμενον keinen Gegensatz darstellt, besser gesagt hätte „Gegensätze sind Prinzipien", so stünde dies jedoch im Widerspruch dazu, daß - wie Aristoteles zeigen wird - einerseits nicht jeder Gegensatz als Prinzip fungieren soll, und daß andererseits nicht nur die Gegensätze Prinzipien sein sollen. McMullin scheint in seiner Kritik folgenden Gesichtspunkt zu übersehen: Mit der Behauptung „die Gegensätze sind άρχαί" schreibt Aristoteles den Vorgängern vereinfacht gesagt zunächst eine extensionale Bestimmung der άρχαί zu. Von dieser extensionale Bestimmung der άρχαί ausgehend will er selbst zu einer intensionalen Bestimmung der άρχαί gelangen, die darin besteht, daß „die άρχαί gegensätzlich sind". Daß dies jedoch nicht das letzte Wort über die άρχαί sein kann, wird bereits im nachfolgenden Kapitel 1.6 deutlich, wo Aristoteles zeigen wird, daß die Annahme, daß die άρχαί nur gegensätzlich sind, ebenfalls in Aporien führt. Vgl. auch die von Aristoteles in 188al9-26 angeführten Gegensätze „Warmes-Kaltes", „Dichtes-Dünnes", „Feuer-Erde", „Voiles-Leeres", „oben-unten", „vorne-hinten", „gewinkeltwinkellos", „gerade-rund", die eher der Wahrnehmung nach bekannter sind (vgl. 188b31189a9).
Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger
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die verschiedenen Beispiele der Vorgänger fiir dasjenige, was sie als ο υ σ ί α bezeichnet haben, angeführt, um dann zu einer intensionalen Untersuchung überzugehen, die die vier Hauptbedeutungen von ,,οΰσία" betrachtet. Aristoteles schließt die extensionale Bestimmung dort mit folgender Bemerkung ab: Welche nun von diesen Ansichten richtig ist, welche falsch, und welche Wesenheiten es gibt, und ob gewisse Wesenheiten außer den sinnlichen existieren oder nicht und wie diese existieren, und ob es außer den sinnlichen eine vollständig abtrennbare Wesenheit gibt und warum und wie, oder ob es keine gibt - dies müssen wir untersuchen, indem wir zuerst den Grundzügen nach bestimmen, was die Wesenheit ist. (Met. VII.2, 1028b27-32; Übers, nach Bonitz)
Angesichts der Tatsache, daß eine extensionale Bestimmung der άρχαί dazu führt, daß zunächst verschiedene Kandidaten für die zu suchenden ά ρ χ α ί genannt werden, verwundert es auch nicht, daß die Vorgänger jeweils verschiedene Gegensätze als grundlegend betrachtet haben. Aristoteles weist in Kapitel 1.5 meiner Interpretation zufolge indirekt darauf hin, daß sich einzig auf der Grundlage einer intensionalen Bestimmung der άρχαί eine extensionale Bestimmung derselben geben läßt, und nicht umgekehrt. Denn es ist ja ebenfalls möglich, daß keines der von den Vorgängern auf extensionale Weise angeführten Gegensatzpaare die Kriterien einer ,,άρχή" erfüllt. Die Behauptung, daß alle die Gegensätze zu ά ρ χ α ί machen, wird von Aristoteles durch folgende Beispiele begründet: (a) Diejenigen, die das Ganze als eines und nicht bewegt setzen (Parmenides); (b) diejenigen, die Dünnes und Dichtes annehmen; (c) Demokrit. (a) 'Parmenides': Es überrascht zunächst, daß Parmenides hier als ein Vorgänger genannt wird, der mit dem Warmen und Kalten Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben soll, wurde von ihm in der vorangegangenen Untersuchung doch gesagt (vgl. 1.2, 184b 15-16), daß er nur ein einziges, unbewegtes Prinzip angenommen habe. Angesichts dieser Unstimmigkeit ist mitunter die Kritik geäußert worden, Aristoteles versuche hier auf gewaltsame Weise zu zeigen, daß alle seine Vorgänger Gegensätze als Prinzipien angenommen haben, um so seine eigene Gegensatzlehre durch einen allgemeinen Consensus bzw. durch einen Autoritätsbeweis stützen zu können. 8 Der Gedanke, daß Aristoteles in 188al9-30 einen Autoritätsbeweis anführt, dem er dann in 188a30-b26 seine eigene Argumentation „dem Begriff nach" hinzufügt, findet sich unter anderem bei Charlton und Ross: In this chapter Aristotle offers two arguments for the view that the principles of physical things are opposites. One (188al9-30, 188b26-189al0) is an argument from authority or ex consensu sapientium. [...] The other argument, 188a30-b26, is based on consideration of the logos (a31). (Charlton, 1970: 65 f.) 31. έπί τοΰ λόγου, 'in the case o f , i.e. by reference to, the argument (cf. 262al9, and contrast 188b29). The appeal to argument is contrasted with the appeal to authority (a26). (Ross, 1936: 488 f.)
Vgl. Cherniss (1935: 49 f.) und Gigon (1966: 119).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Angesichts der dargelegten Interpretation bezüglich des methodischen Wegs in Kapitel 1.5, der sich als Weg von einer extensionalen zu einer intensionalen Bestimmung der άρχαί erweist, scheint die Interpretation des Abschnitts 188al9-30 im Sinne eines Autoritätsbeweises jedoch insofern problematisch zu sein, als auf diese Weise die Unterschiede zwischen den Überlegungen der Vorgänger (bestimmte Gegensätze sind άρχαί) und den Überlegungen von Aristoteles (άρχαί sind gegensätzlich) in gewisser Weise nivelliert würden. Zudem wird in Kapitel 1.7 deutlich werden, daß der Gedanke einer konträren Gegensätzlichkeit der Prinzipien, wie sie gerade bei den Vorgängern in Kapitel 1.5 zu finden ist, im weiteren Verlauf der Untersuchung eine entscheidende Modifikation erfährt. Zwar wird es auch dem aristotelischen Modell des Werdens zufolge eine Gegensätzlichkeit der Prinzipien in Gestalt von είδος und στέρησις geben, doch stellt dieser Gegensatz keinen konträren Gegensatz im engeren Sinne dar. Darüber hinaus wird die Funktion der konträren Gegensätze, die in Kapitel 1.5 darin besteht, das Werden eines Bestimmten aus einem Bestimmten zu erklären, in Kapitel 1.7 insofern eine entscheidende Modifikation erfahren, als dort auch das ύποκείμενον, von dem in Kapitel 1.5 noch keine Rede ist,9 in einem nicht unerheblichen Maße für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein wird. Diese Differenzen lassen es zumindest als fragwürdig erscheinen, ob Aristoteles seine eigene - von den Vorgängern in wesentlichen Punkten unterschiedene Gegensatzlehre der Prinzipien durch einen Autoritätsbeweis abzusichern bemüht ist. Die bei den Vorgängern vorzufindende Struktur der konträren Gegensätzlichkeit der Prinzipien stellt für Aristoteles eher einen Schritt auf dem Weg zur eigenen Theorie dar. Die bereits angesprochene Unstimmigkeit, der zufolge von Parmenides einerseits gesagt wird, daß er nur ein einziges unbewegtes Prinzip angenommen habe (184b 15-16), während ihm andererseits die beiden gegensätzlichen Prinzipien des Warmen und des Kalten zugeschrieben werden (188al9-22), löst sich auf, sofern man bedenkt, daß sich bei Parmenides neben der sogenannten „wohlgerundeten Wahrheit" und ihrem „unerschütterlichen Herz" (vgl. ,,ήμέν άληθείης εύκυκλέος άτρεμές ήτορ"), in deren Kontext es nur das eine absolute und unbewegte Seiende geben kann, auch die sogenannten „Meinungen der Sterblichen" (vgl. ,,βροτών δόξας") finden, in deren Zusammenhang Parmenides schließlich eine Kosmologie entwirft, in der er eine Erklärung für die Möglichkeit der Bewegung gibt. Nachdem sich der Weg der Wahrheit, dem zufolge es In Kapitel 1.6, wo das ύποκείμενον wieder ins Spiel gebracht wird, wird es ja gerade um den Nachweis gehen, daß die Gegensätze nicht allein die Prinzipien sein können. (Vgl. auch Met. XIV.1, 1087b3 ff., wo es heißt, daß nicht die Gegensatze im eigentlichen Sinne (κυρίως) Prinzip von allem (άρχή πάντων) sind, sondern vielmehr etwas anderes - das ύποκείμενον -, das auch noch von den Gegensätzen vorausgesetzt werden muß; vgl. auch Met. XI. 1, 1059a21-23 und XII.10, 1075a28-34.) In seinem zusammenfassenden Rückblick in 1.7, 191al5-19 wird in bezug auf das Kapitel 1.5 gesagt werden, daß dort nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen wurden, während das Kapitel 1.6 zeigte, daß ihnen notwendigerweise ein drittes Prinzip zugrunde gelegt werden müsse. Das Kapitel 1.7 habe dann den „Unterschied unter den Gegensätzen" (διαφορά των εναντίων) aufgezeigt, womit vor allem der Unterschied zwischen den konträren Gegensätzen der Vorgänger und dem aristotelischen Gegensatz von „είδος στέρησις" gemeint ist.
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nur ein einziges, unbewegtes Seiendes geben kann, in bezug auf eine Wissenschaft von der Natur als unzureichend und in Aporien führend erwiesen hat, kann für Aristoteles folglich nur noch der Weg der Meinungen von Interesse sein, auf den er sich hier in Kapitel 1.5 offenkundig bezieht. In bezug auf diesen „Weg der Meinungen" legt Parmenides die beiden entgegengesetzten Prinzipien „Feuer" und „Nacht" zugrunde, 10 die Aristoteles als „Warmes und Kaltes" (θερμόν κ α ι ψυχρόν: 188a20-21) bezeichnet, wobei er daraufhinweist, daß Parmenides selbst sie „Feuer und Erde" (πΰρ κ α ι γήν: a21-22) genannt habe." (b) 'Diejenigen, die Dünnes und Dichtes annehmen' (vgl. „oi μ α ν ό ν κ α ι π υ κ ν ό ν " : a22): Auch wenn man für gewöhnlich Anaximenes als denjenigen Vorsokratiker ansieht, der zuerst vom 'Dichten und Dünnen' gesprochen hat (vgl. Frg. DK 13B1; A6), so macht hier sowohl der Plural „oi" (a22) als auch die Textstelle in 1.4, 187a 15-16 deutlich, daß sich Aristoteles mit diesem Beispiel nicht nur auf Anaximenes, sondern auf all die Naturphilosophen bezieht, die einen Stoff zugrunde legten, aus dem sie durch Dichte und Dünne die Vielheit entstehen ließen. Verwandte Aristoteles in Kapitel 1.4 jedoch noch die abstrakten Termini „Dünnheit (μανότης) und Dichtheit (πυκνότης)", so spricht er hier nun mit Hilfe konkreter Termini vom „Dünnen (μανόν) und Dichten (πυκνόν)". 1 2 Ein Grund dafür, daß in Kapitel 1.5 von „μανόν κ α ι π υ κ ν ό ν " die Rede ist, mag vielleicht darin liegen, daß der Intention dieses Kapitels zufolge zunächst nur Gegensätze als Prinzipien angenommen werden sollen. Als Prinzipien sollen sie jedoch den Charakter eines Selbständigen tragen, wie das aus aristotelischer Sicht bei dem „Dünnen und Dichten" gegenüber der „Dünnheit und Dichtheit" eher der Fall ist, da letztere Aristoteles zufolge für Eigenschaften und somit für etwas Unselbständiges stehen. Da in Kapitel 1.6 dann gerade die Unselbständigkeit dieser Gegensätze herausgestellt werden soll, denen ein drittes Prinzip zugrunde gelegt werden muß, liegt es für Aristoteles nahe, dort wieder von „Dünnheit und Dichtheit" zu sprechen.
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Vgl. Parmenides, Frg. DK 28B8, Z.55-59: ,,τάντία δ' έκρίναντο δέμας και σήματ' έθεντο χωρίς άπ' αλλήλων, τή μέν φλογός αϊθέριον πΰρ, ήπιον ον, μέγ' έλαφφόν, έωυτω πάντοσε τωύτόν, τω δ' έτέρω μή τωΰτόν· άτάρ κάκεΐνο κατ' αύτό τάντία νΰκτ' αδαή, πυκινόν δέμας έμβριθές τε." Vgl. auch Met. 1.5, 986bl8-987a2, wo es heißt, daß Parmenides - gezwungen, den Erscheinungen nachzugeben - eine Vielheit fllr die Wahrnehmung annimmt und die beiden Prinzipien „Warmes und Kaltes" bzw. „Feuer und Erde" zugrunde legt (vgl. auch De gen. et corr. 318b6, 330bl4). Zu den Begriffen „Feuer und Erde" vgl. Ross (1936: 488): „The identification of the second μορφή with earth must be regarded as a mistake. The second principle is night (cf. S. 25.16) and by this Parmenides means the Pythagorean 'mist', 'air', or 'void' (cf. what Plato makes the Pythagorean Timaeus say, Tim. 58d). Later in the history of Pythagoreanism, fire and earth probably came to be treated as the primary elements (cf. Tim. 31b, and Burnet, § 147), and this may explain Aristotle's words." Ross merkt an, daß man dem Feuer zwar die Eigenschaft der Wärme und der Nacht die Eigenschaft der Kälte zuschreiben kann, doch bezweifelt er, daß dies diejenigen Eigenschaften sind, die Parmenides selbst zuschreiben würde (487 f.). Angemessener wäre es wohl, vom „Hellen und Dunklen" zu sprechen (vgl. Frg. DK 28B9, wo Parmenides von „Licht" (φάος) und „Nacht" (νΰξ) spricht). In 1.5, 189a8-9 spricht er dann ebenfalls von ,,τό μανόν και τό πυκνόν", während er in 1.6, 189a22-23 und 189b9 dann wieder von „μανότης" und „πυκνότης" spricht.
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(c) 'Demokrit': Auch in bezug auf Demokrit weist Aristoteles daraufhin, daß dieser bestimmte Gegensätze zu Prinzipien gemacht habe:13 So findet sich bei ihm sowohl der Gegensatz zwischen dem „Vollen und Leeren" (τό πλήρες και κενόν: a22-23), den Aristoteles als Gegensatz zwischen dem Seienden und Nichtseienden interpretiert, als auch unterscheidet Demokrit die Atome nach Lage, Gestalt und Ordnung, die jeweils Gattungen von Gegensätzen darstellen. In diesem Zusammenhang nennt Aristoteles jedoch nur in bezug auf 'Lage' (oben-unten; vorne-hinten) und 'Gestalt' (gewinkelt-winkellos; gerade-rund), nicht aber in bezug auf Ordnung' die dazugehörigen Gegensätze.14 Mit diesen Beispielen soll nun die zu Beginn aufgestellte Behauptung, daß die Vorgänger Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben (188a 19), als begründet betrachtet werden: δτι μέν οΰν τάναντία πως πάντες ποιοΰσι τάς άρχάς, δήλον (188a26-27).
5.2 Die drei Kriterien einer άρχή (188a27-30) Nachdem Aristoteles durch Beispiele gezeigt hat, daß die Vorgänger Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben, setzt er mit dem Hinweis darauf fort, daß sie auch einen guten Grund (vgl. „ευλόγως": a27) hatten, dies zu tun: Und dies aus gutem Grunde [ευλόγως]. Denn die Prinzipien dürfen weder auseinander sein noch aus anderem [μήτε έ ξ ά λ λ ή λ ω ν ε ί ν α ι μήτε έ ξ ά λ λ ω ν ] , und alles muß aus diesen sein [ κ α ί έ κ τούτων π ά ν τ α ] . D e n ersten Gegensätzen aber kommt [genau] dies zu: W e g e n der Tatsache, daß sie die ersten sind, sind sie nicht aus anderem, und w e g e n der Tatsache, daß sie Gegensätze sind, sind sie nicht auseinander. (1.5, 1 8 8 a 2 7 - 3 0 )
Mit dem Hinweis, daß die Vorgänger aus gutem Grunde (ευλόγως) Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben, ist allerdings nicht gemeint, daß sie diese Gründe selbst für ihre Setzung von Gegensätzen als Prinzipien angeführt haben. Wenig später weist Aristoteles nämlich ausdrücklich darauf hin, daß die Vorgänger ihre „Bestandteile und die von ihnen sogenannten Prinzipien zwar als Gegensätze angesprochen haben, jedoch ohne einen Grund dafiir zu geben (vgl. „άνευ λόγου τιθέντες"), und gleichsam von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wurden" (188b27-30). Mit dem „ευλόγως" ist vielmehr gemeint, daß die Vorgän13
Vgl. auch Met. 1.4, 985b 10-19. Prantl (1854: 29) bezieht den Gegensatz „vorne-hinten" demgegenüber auf die 'Ordnung' (τάξις). Zekl (1987: 243, Fn.48) weist daraufhin, daß Susemihl die Tatsache, daß für τάξις kein Beispiel genannt wird, durch eine Konjektur zu verbessern suchte, indem er „τάξεως" vor ,,πρόσθεν όπισθεν" (a25) einfügte. Ross (1936: 488) hält diese Konjektur für unnötig, da einerseits in De hist. an. 494a20 der Gegensatz ,,πρόσθιον κ α ι όπίσθιον" als eine Differenz von θέσις genannt wird, und da es andererseits für Aristoteles nicht ungewöhnlich ist, daß er hier kein Beispiel anführt. Was mit den Unterschieden der Gattungen gemeint ist, verdeutlicht Aristoteles in Met. 1.4, 985b 15; vgl. dazu Ross (1936: 488): „σχήμα is a characteristic intrinsic to a particular atom; θέσις is the position of one atom relatively to the atoms next it (e.g. AI differs from AH in respect of the θέσις of the second letter relatively to the first); τάξις is the order in which two atoms occur (e.g. ANH differs from NAH in τάξις)."
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ger, auch wenn sie selbst keinen Grund für die Setzung ihrer Gegensätze als Prinzipien gegeben haben, gleichwohl einen guten Grund dafür hätten anführen können. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der durch das „ευλόγως" eingeleitete und von Aristoteles in 188a27-30 angeführte Grund für die Setzung von Gegensätzen als άρχαί als derart gut zu betrachten ist, daß er als eine sichere Begründung gelten kann, so daß nun klar ist, daß die Gegensätze Prinzipien sein müssen, oder ob er eher in dem Sinne als gut zu betrachten ist, daß er die Setzung der Gegensätze als Prinzipien lediglich plausibel und wahrscheinlich macht. Der weitere Verlauf des Kapitels 1.5 deutet darauf hin, daß mit der durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation eher eine gewisse Plausibilität als eine unbezweifelbare Sicherheit für die Setzung von Gegensätzen als Prinzipien gegeben ist. Denn wäre letzteres der Fall, so könnte Aristoteles die Untersuchung an diesem Punkte bereits abbrechen und müßte nicht noch eine Untersuchung ,,έπι του λόγου" (188a31) folgen lassen. Der Funktion einer durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation im Sinne einer Begründung, die eine Annahme zwar plausibel und wahrscheinlich macht, sie aber dennoch nicht hinreichend begründet, begegnet man auch an anderen Stellen der Physik,15 So sagt Aristoteles in Phys. III.4 folgendes: Aus gutem Grund [ευλόγως] setzen alle dies [das Unbegrenzte] als Prinzip. Denn weder kann es umsonst [μάτην] vorhanden sein, noch kann ihm eine andere Funktion [δΰναμις] zukommen außer der als Prinzip. Alles nämlich ist entweder Prinzip oder aus einem Prinzip, vom Unbegrenzten aber gibt es kein Prinzip. Denn es wäre eine Grenze von ihm. (III.4, 203b4-7)
Die beiden Textstellen 188a27-30 und 203b4-7 weisen hinsichtlich der Verwendung des Ausdrucks „ευλόγως" folgende Parallelen auf: Beidemal nehmen die Vorgänger etwas aus gutem Grunde an, wobei dieser Grund nicht von ihnen selbst, sondern vielmehr von Aristoteles gegeben wird. Beidemal ist der Grund als ein in dem Sinne „guter Grund" zu betrachten, daß er die Annahme zwar sehr plausibel macht, wobei er jedoch letztlich nicht als Beweis der Annahme fungiert.16 Denn ebenso wie in III.4 die Untersuchung darauf hinauslaufen wird, daß 15
,6
Eine ausführliche Liste derjenigen Textstellen, an denen Aristoteles die Ausdrücke „εύλογος" bzw. „ευλόγως" in ihren unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, findet sich bei LeBlond ( 1 9 3 8 )
·
LeBlond (1938: 32 und 119) spricht in bezug auf die Verwendung des Ausdrucks „ευλόγως" in 1.5, 188a27 von einem „εύλογος dialectique". Diesem „εύλογος dialectique" begegnet man LeBlond zufolge bei Aristoteles auf zweifache Weise: (1) Bezüglich einer Meinung, die von Aristoteles nicht akzeptiert wird („a propos d'une opinion non admise par Aristote"; S. 109); (2) bezüglich einer Meinung, die von Aristoteles akzeptiert wird („a propos d'une opinion admise par Aristote"; S. 119). LeBlond zählt die Verwendung des Ausdrucks „ευλόγως" in 1.5, 188a27 zu den „εύλογος dialectique" bezüglich einer Meinung, die von Aristoteles akzeptiert wird: „Ainsi, avant de prouver, comme nous l'avons dit, qu'il faut nöcessairement poser les contraires comme principes, Aristote, dans les Physiques, reconnatt que cette position est ευλόγως, parce que les premiers contraires remplissent adiquatement les conditions de principe. [...] une explication εύλογος est, en effet, une explication, qui n'est pas forcement vraie, ni necessaire, mais qui, au moins, est ad6quate."(S. 41 f.). Vgl. auch S. 32: „Εύλογος dialectique, on a pu le conjecturer d'apres les exemples apportis jusqu'ici, qualifie le plus souvent une opinion qu'Aristote ne prend pas ä son compte; on le trouve cependant aussi accold, ä des opi-
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die Setzung des Unbegrenzten als ein Prinzip zwar nicht falsch ist, aber dennoch die Wahrheit nicht als Ganze trifft,17 so wird auch die Untersuchung in Physik I darauf hinauslaufen, daß die Annahme, die Gegensätze seien Prinzipien, zwar nicht falsch ist, aber dennoch die Wahrheit nicht als Ganze trifft: Denn einerseits wird sich zeigen, daß genaugenommen nicht die Gegensätze Prinzipien sind, sondern daß vielmehr die Prinzipien gegensätzlich sind. Und andererseits wird in Kapitel 1.6 deutlich werden, daß die Prinzipien nicht nur gegensätzlich sein dürfen. Schließlich wird die gegensätzliche Struktur der Prinzipien nach Ansicht von Aristoteles auch nicht im Sinne einer konträren Gegensätzlichkeit (έναντία), sondern letztlich im Sinne einer Gegensätzlichkeit von είδος und στέρησις zu verstehen sein (vgl. Kapitel 1.7), die im Vergleich zu einem konträren Gegensatz einen umfassenderen Gegensatz darstellen. Mit dem Ausdruck ,,καί τοΰτο ευλόγως" (188a27) ist abschließend betrachtet folgendes gemeint: Die Vorgänger hatten einen guten - d.h. plausiblen18 - Grund dafür, die Gegensätze zu Prinzipien zu machen, obgleich sie diesen Grund selbst nicht anführten (άνευ λόγου τιθέντες: 188b29). Auch wenn dieser Grund die Wahrheit noch nicht in ihrer Gänze trifft - denn sonst wäre die weitere Untersuchung ,,έπι τοΰ λόγου" ja überflüssig -, liegt doch bereits eine gewisse Wahrheit in ihm. Die mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation, die Aristoteles nun dafür anführt, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, besteht darin, daß die Gegensätze folgende drei Kriterien erfüllen, die notwendig sind, damit etwas als ein Prinzip bezeichnet werden kann: (1) Die Prinzipien dürfen nicht auseinander sein (μήτε έξ α λ λ ή λ ω ν ) . (2) Die Prinzipien dürfen nicht aus anderem sein (μήτε έξ ά λ λ ω ν ) . (3) Aus den Prinzipien muß alles sein ( κ α ι έκ τ ο ύ τ ω ν π ά ν τ α ) .
In der von Aristoteles angeführten und durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation wird die Setzung der Gegensätze als Prinzipien einzig mit Hilfe der Bedeutungen der Begriffe 'Gegensatz' (bzw. 'erster Gegensatz') und 'Prinzip' begründet. Allein die Kongruenz der Definitionen von „Prinzip" und „(erster) Gegensatz" legt es nahe, die Gegensätze als Prinzipien zu verstehen. Diese auf die Definition von Begriffen zurückgreifende Argumentationsform läßt sich auch als eine 'begrifflich-logische' (λογικώς) Argumentationsform verstehen, der Aristoteles häufig eine 'sachlich-inhaltliche' (φυσικώς) Argumentationsform gegenüberstellt.19 Frede und Patzig (1988: 59) weisen darauf hin, daß mit einer λογικώς geführten Argumentation bei Aristoteles oft eine
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nions qu 'ilfait siennes, mais qu'il n'apprecie pas alors do point de la v6riti absolue. C'est ainsi qu'avant de prouver lui-meme, par des raisonnements qu'il s'efforce de faire rigoureux, qu'il faut poser les contraires comme principes, il reconnalt que les anciens ont eu raison (και τοΰτο ευλόγως) de le faire; les contraires, en effet, sont parfaitement adaptes ä la fonction de principes: [...]." Aristoteles wird dort nämlich abschließend festhalten, daß das Unbegrenzte als Stoff eine Ursache ist, dessen begrifflicher Gehalt als Privation (στέρησις) zu fassen ist (III.7,207b34-208a4). Vgl. auch die Obersetzung Charlton (1970: 11): „And that is plausible." Vgl. Phys. III.5, 204b3-205a7; An. post. 1.22, 84a8; Phys. III.3, 202a21; De Cael. A7, 275bl2; De gen. et corr. 1.1, 316all; De gen. an. II.7, 747b28; Met. VII.4, 1029bl3; Eud. Eth. 1.8, 1217b21.
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eher sprachbezogene, begriffliche Untersuchung im Gegensatz zu einer inhaltlichen, wissenschaftlichen Untersuchung gemeint sei.20 Im Gegensatz zum Ausdruck „φυσικώς", der für eine Untersuchung steht, die tiefer in die Sache führt, bleibt die Untersuchung „λογικώς" zumeist allgemein und stellt eine eher abstrakt bleibende Annäherung an die Thematik dar. Bostock (1994: 86) hebt in diesem Zusammenhang zu Recht hervor, daß der Ausdruck „λογικώς" bei Aristoteles eine zweifache Bedeutung haben kann, insofern er entweder die 'Definition eines Wesensbegrififs' oder einfach nur 'sprachliche Anmerkungen' meint. Wenn ich die in 188a27-30 angeführte und durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation als eine λογικώς geführte Argumentation verstehe, so meine ich vor allem die in dieser Argumentation im Vordergrund stehende Bezugnahme auf die Definition der Begriffe von „Prinzip" und „(erster) Gegensatz". Aristoteles nähert sich hier der zu untersuchenden Thematik zunächst in einer eher begrifflich-allgemeinen Weise an, um dann in der nachfolgenden Untersuchung ,,έπί του λόγου" eine eingehendere Analyse folgen zu lassen. Ist mit der von mir als „λογικώς" bezeichneten Argumentation, die einen 'guten Grund' dafür anführt, die Gegensätze als Prinzipien zu setzen, eine eher formale und abstrakt bleibende allgemeine Untersuchung der Definitionen von Begriffen gemeint, so ist mit der Untersuchung ,,έπί του λόγου" eine Analyse gemeint, die sich zwar auch an der Sprache (vgl. ,,έπί τοΰ λόγου") orientiert, doch wird hier die Sprache nun eher als Mittel der inhaltlichen Beschreibung von sachlichen Phänomenen und Prozessen verstanden. Das Kriterium (1): „Prinzipien dürfen nicht auseinander sein" Diese notwendige Bedingung für ein Prinzip besagt, daß Prinzipien nicht auseinander bestehen dürfen. Wenn nämlich ein Prinzip χ aus einem Prinzip y bestünde, so wäre y ein Bestandteil von χ und somit früher als x,2' so daß χ folglich kein Prinzip mehr wäre, da es etwas gäbe, das früher als χ wäre (der Ausdruck „άρχή" bezeichnet das Prinzip im Sinne eines „Anfangs"22). Die ersten Gegensätze23 erfüllen dieses Kriterium nun insofern, als sie Gegensätze sind (vgl. „δια δέ τό έναντία μή έξ άλλήλων": 188a30). Aristoteles führt diesen Gedanken selbst nicht weiter aus, doch ist davon auszugehen, daß er hier daran 20
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Vgl. auch Mesch (1994: 99), der den Ausdruck „λογικώς" bei Aristoteles auf eine dialektische, sprachbezogene Untersuchungsweise und den Ausdruck „φυσικώς" auf eine eher der spezifischen Natur der Sache angemessene, sachbezogene Untersuchungsweise bezieht. Daß die Teile ontologisch gesehen früher als das Ganze, dessen Teile sie darstellen, sind, haben wir bereits in Kapitel 1.1 gesehen (vgl. in diesem Zusammenhang auch Pines (1961: 23, Fn.147)). Zur Bedeutung von „άρχή" als Anfang vgl. auch Lumpe (1955: 105): „Das Wort άρχή (vgl. Liddell-Scott, Greek-English Lexicon I, Oxf. 1925, S. 252a) hängt mit dem Verbum αρχειν (erster sein: 1. anfangen, 2. herrschen) zusammen und bedeutet im vulgären Sprachgebrauch 1. Anfang, 2. Herrschaft (erster Platz). Die zeitliche Bedeutung findet sich schon bei Homer (z.B. II. XXII 116); natürlich kommt das Wort in diesem Sinne auch bei den Vorsokratikern häufig vor, z.B. Xenophan. frg 10: »Da von Anfang an (έξ άρχής) alle nach Homer gelernt haben...«". Aristoteles spricht hier nicht von beliebigen, sondern von ersten Gegensätzen, welches bereits auf eine Hierarchisierung der Gegensätze hindeutet.
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denkt, daß z.B. ein Schwarzes nicht aus einem Weißen besteht, da sich die Gegensätze gegenseitig vernichten.24 Es ist hier nicht davon die Rede, daß Gegensätze nicht auseinander werden - in Kapitel I. 4 wurde ja eigens darauf hingewiesen, daß Gegensätze auseinander werden (vgl. „γίγνεσθαι έξ αλλήλων τάναντία": 187a31-32; vgl. auch 1.6, 189al7-20) -,2S sondern vielmehr davon, daß Gegensätze nicht auseinander sind.26 Das Kriterium (2): „Prinzipien dürfen nicht aus anderem sein" Das Kriterium (2) beruht - in Entsprechung zum Kriterium (1) - auf dem Gedanken, daß, wenn ein Prinzip χ aus einem anderen wäre (bestünde), dieses andere früher als das Prinzip χ wäre und χ folglich kein Prinzip mehr darstellen könnte. Den Grund, den Aristoteles hier dafür anführt, daß die ersten Gegensätze dieses Kriterium erfüllen, besteht jedoch nicht mehr darin, daß sie Gegensätze sind, sondern vielmehr darin, daß sie erste sind (vgl. „δια μεν τό πρώτα είναι μή έξ άλλων": 188a29-30). Durch den Ausdruck „erste" soll somit angezeigt werden, daß ihnen nichts anderes vorausliegt. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß den Gegensätzen als ersten Gegensätzen genaugenommen nur keine anderen Gegensätze vorausliegen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß ihnen notwendigerweise auch nichts anderes vorausliegen kann. Obgleich Aristoteles diese Überlegung an dieser Stelle nicht thematisiert, wird sie doch in Kapitel 1.6 insofern von Bedeutung sein, als Aristoteles dort zeigen wird, daß fur die Gegensätze ein ϋποκείμενον, an dem sie vorkommen, vorauszusetzen ist. Gerade weil die Gegensätze das zweite Kriterium nicht als Gegensätze, sondern als erste erfüllen, deutet sich hier bereits eine Differenz von Gegensätzen und Prinzipien an. Denn auch alles andere, das zwar nicht einen Gegensatz darstellt, aber dennoch ein Erstes ist, würde dieses Kriterium ja ebenfalls erfüllen. So wird bereits deutlich, daß nicht nur Gegensätze Prinzipien sein können, auch wenn Aristoteles dies hier noch nicht sagt. Das Kriterium (3): „Aus den Prinzipien muß alles sein" Dem Kriterium (3) liegt folgender Gedanke zugrunde: Wenn nicht alles aus den aufgestellten Prinzipien besteht, so muß es noch etwas anderes geben, das dann selbst entweder ebenfalls ein Prinzip ist oder aber aus einem anderen noch 24 25
26
Vgl. Phys. 1.9, 192a21-22: ,,φθαρτικά γαρ άλλήλιον τά έναντία". In diesem Zusammenhang ist allerdings auf eine zweifache Bedeutung des „Werdens-derGegensätze-auseinander" aufmerksam zu machen. Ist das „Werden-der-Gegensätze-auseinander" in 1.4, 187a31-32 in dem Sinne gemeint, daß die einzelnen Glieder eines Gegensatzes in dem Sinne auseinander werden, daß z.B. ein Weißes aus einem Schwarzen wird, so bedeutet das „Werden-der-Gegensätze-auseinander" in 1.6, 189al7-20, daß einige Gegensatipaare (wie z.B. „weiß-schwarz") insofern aus anderen, früheren Gegensatzpaaren werden, als die Gegensatzpaare auseinander herleitbar sind. Wir sahen in Kapitel 1.4, daß Anaxagoras aufgrund zusätzlicher Prämissen aus der Annahme „Gegensätze werden auseinander" auf die Konklusion „Gegensätze sind auseinander" - bzw. „Gegensätze sind ineinander enthalten" (vgl. ,,ένυπήρχεν αρα": 187a32) - geschlossen hatte. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung ,,τό έναντία μή έξ αλλήλων" (188a30) als eine explizite Abgrenzung zur Theorie von Anaxagoras zu verstehen.
Die Funktion des Kap. I. 5 im Gesamtkontext von Physik A
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nicht erwähnten Prinzip besteht.27 Die Angabe der Prinzipien von etwas impliziert für Aristoteles zugleich die Vollständigkeit der Angabe derselben, da die die Prinzipien als ein ontologisch Erstes ja alles andere begründen sollen. Es fällt jedoch auf, daß Aristoteles im Unterschied zu den Kriterien (1) und (2) hier nun keinen eigenen Grund mehr dafür angibt, wieso auch dieses Kriterium von den Gegensätzen erfüllt wird. Der Grund für das Fehlen einer Begründung kann nur darin gesehen werden, daß die Gegensätze bei genauerem Hinsehen dieses Kriterium auch gar nicht erfüllen. Zwar liegt es zunächst nahe, hier daran zu denken, daß ein kontradiktorischer Gegensatz einen allumfassenden Charakter hat, so daß z.B. jedes Seiende entweder ein Weißes oder ein Nichtweißes ist, schaut man aber genauer hin, so werden angesichts dieser Erklärung folgende Schwierigkeiten deutlich: Zum einen ist hier ja nicht von kontradiktorischen, sondern vielmehr - wie auch die Beispiele deutlich machen - von konträren Gegensätzen (έναντι.α) die Rede. Bei den konträren Gegensätzen kann es jedoch sowohl ein 'Mittleres' geben, als auch sind die konträren Gegensätze anders als die kontradiktorischen Gegensätze keineswegs allumfassend. Zwar läßt sich das Mittlere noch als Mischung aus den beiden konträren Gegensatzglieder herleiten, doch ist es demgegenüber unmöglich, aus dem konträren Gegensatz „weiß und schwarz" diejenigen Entitäten herzuleiten, die farblos sind. Zum anderen wird Aristoteles in 189a32-34 selbst zeigen, daß aus den Gegensätzen insofern nicht alles ist, als er dort darauf aufmerksam machen wird, daß die ουσία nicht aus den Gegensätzen hergeleitet werden kann. Obgleich die durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation vor diesem Hintergrund zunächst einen plausiblen Grund dafür abgibt, die Gegensätze zu Prinzipien zu machen - wobei einschränkend vorausgesetzt wird, daß hier nur von den ersten Gegensätzen die Rede ist -, haben sich bei genauerem Hinsehen jedoch bereits erste Schwierigkeiten ergeben, aufgrund derer eine eingehende Auseinandersetzung mit der These, daß die Gegensätze als Prinzipien zu setzen sind, notwendig zu sein scheint, wie Aristoteles sie im folgenden durchführen wird.
5.3 Die Funktion des Kapitels I. 5 im Gesamtkontext von Physik A Zeichneten sich die vorhergehenden Kapitel vor allem durch eine doxographische Auseinandersetzung mit den Lehren der Vorgänger aus, so beginnt das Kapitel 1.5 zunächst zwar ebenfalls mit einem doxographischen Hinweis auf die gegensätzliche Struktur der Prinzipien bei den Vorgängern, doch scheinen ihre Meinungen nun im weiteren Verlauf des Kapitels zunehmend in den Hintergrund zu treten und durch eigene Überlegungen von Aristoteles ersetzt zu werden, um erst in 188b26-189al0 wieder Erwähnung zu finden.
27
Vgl. Phys. III.4, 203b6: „άπαντα γάρ ή άρχή ή έξ αρχής, [...]."
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Lange Zeit war man der Ansicht, daß Aristoteles seine eigene Theorie der Prinzipien der φύσει δντα erst in Kapitel 1.7 beginnen läßt.28 Die vorhergehenden Kapitel deutete man entweder als Vorbereitung des eigenen Ansatzes, oder man verstand sie sogar bloß als eine bei Aristoteles häufig anzutreffende doxographische Darstellung der Meinungen der Vorgänger, die mit dem eigenen Ansatz nicht wesentlich verbunden ist. Ross äußerte jedoch Zweifel an diesem Konzept und vertrat die Auffassung, daß Aristoteles mit der eigenen positiven Darlegung der ersten Prinzipien bereits in Kapitel 1.5 beginnt: 188 al9. Aristotle begins here [Kapitel 5] his positive account of the first principles. (Ross, 1936: 487)29 Die Ansicht, daß Aristoteles bereits in Kapitel 1.5 mit der eigenen positiven Darlegung der ersten Prinzipien beginnt, hat sich in der nachfolgenden Diskussion innerhalb der Sekundärliteratur weitgehend durchgesetzt, so daß man dort zunehmend der Auffassung begegnet, Aristoteles argumentiere in Kapitel 1.5 bereits von seinem eigenen Standpunkt her.30 Happ betrachtet den Abschnitt 188a27 ff. in Kapitel 1.5 als „aristotelischen Neuansatz", der seiner Ansicht nach sogar unabhängig von dem vorhergehenden doxographischen Bericht und ohne diesen verständlich ist: Dieser aristotelische Neuansatz 188a 27 ff ist unabhängig von dem vorhergehenden doxographischen Bericht und ohne diesen verständlich: Alles Werden vollzieht sich aus, in, zwischen Gegensätzen, modern ausgedrückt: dialektisch, und zwar zwischen 'konträren' Gegensätzen. Also stellt sich - grob gesagt - Aristoteles das Werden nicht als unvermitteltes Aufeinanderprallen das gesamte Sein umspannender Gegensätze vor, sondern als gebändigte Evolution jeweils inmitten beschränkter Seinsbereiche, innerhalb derer sich gleichrangige Gegensätze auf der Ebene eines 'Dritten' treffen. Diese Dreiheit von Prinzipien wird im Folgenden expliziert und gegen Einwände gesichert: [...]. (Happ, 1971: 280) Happ scheint zudem der Ansicht zu sein, daß in den Kapiteln 1.5 und 1.6 - analog zu Kapitel 1.7 - auch bereits die drei Prinzipien vertreten sind, die später explizit als ύλη, είδος und στέρησις herausgestellt werden. Die Funktion des Kapitels 1.7 sieht Happ darin, daß Aristoteles dort „die gefundenen drei Prinzipien unter neuen Aspekten daraufhin prüfen will, ob sie sich nicht letztlich wieder in zwei überführen lassen" (1971: 282). Gleichwohl verwundert es ihn, „daß seit Kap. 4 (187 a l 8 f) das Wort ύ λ η nicht mehr begegnet ist, obwohl Gelegenheit dazu war"):
28
29
Vgl. S. Mansion (1961: 41), A. Mansion ( 2 1946: 70 f.), Weiss (1942: 34), Wieland (1962: 108 f.) u.a. Dieser Ansicht hat sich unter anderem Guzzoni (1975: 40, Fn.17) angeschlossen: „Wir sehen also den entscheidenden Einschnitt in der gleichwohl durchaus einheitlichen und in sich geschlossenen Untersuchung, die das Buch Α darstellt, zwischen dem 4. und dem 5. Kapitel. Mit dem letzteren beginnt Aristoteles' eigene positive Entwicklung des Problems. Allerdings stellen wir uns mit dieser Auffassung in Widerspruch zu fast allen Auslegern dieses Buches, die gewöhnlich erst das 7. Kapitel für die Darstellung von Aristoteles' eigener Lehre halten und dementsprechend die voraufgehenden Kapitel als Vorbereitung fllr die Darstellung ansehen." Vgl. Bostock (1982), Bolton (1991), Irwin (1988) und Happ (1971).
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Es fällt auf, daß seit Kap. 4 (187 a 18 f.) das Wort ΰλη nicht mehr begegnet ist, obwohl Gelegenheit dazu war, nicht nur im doxographischen Bericht. Da Aristoteles sich ja durchaus nicht scheut, auch bei einem historischen Referat seine eigenen Begriffe zu verwenden, könnte man meinen, in dem 'zeitlich frühen' phys. α sei der Terminus υλη noch nicht so gängig gewesen, daß er sich gleich überall eingestellt hätte. Dem widerrät aber die unbefangene Art, mit der Kap. 4 und 7 (s.u.) das Wort ohne weiteres verwendet wird. Also mag das Fehlen in den Kapiteln dazwischen auf Zufall beruhen. (Happ, 1971: 282, Fn.17)
Demgegenüber scheint es mir jedoch alles andere als auf einen Zufall zurückzuführen zu sein, daß Aristoteles in den Kapiteln 1.5 und 1.6 das Wort „ΰλη" nicht verwendet. Wir werden nämlich sehen, daß Aristoteles in diesen beiden Kapiteln eben noch nicht seine eigene Theorie der drei Prinzipien von ΰλη, είδος und στέρησις darlegt, sondern sich vielmehr auf dem Wege zur eigenen Theorie hin bewegt. Nun scheinen beide Ansichten - sowohl diejenige, die die Darlegung der eigenen aristotelischen Theorie erst in Kapitel 1.7 beginnen läßt und das zuvor Gesagte gleichsam nur als doxographischen Vorbericht versteht, der nicht wesentlich mit dem eigenen Ansatz von Aristoteles verbunden ist, wie auch diejenige, der zufolge Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnt - einen wesentlichen Gesichtspunkt der Funktion der Kapitel 1.5 und 1.6 zu übersehen. Gegenüber der zuerst genannten Interpretation ist hervorzugehen, daß die in den Kapiteln 1.1 bis 1.6 erarbeiteten Überlegungen fur ein Verständnis des in Kapitel 1.7 Gesagten eine wichtige Rolle spielen werden. Aristoteles hebt in seiner Auseinandersetzung mit den Vorgängern gerade diejenigen Aspekte in ihren Theorien hervor, die für den eigenen Ansatz in Kapitel 1.7 insofern von Bedeutung sind, als er sie entweder in modifizierter Form übernimmt oder als er sich von ihnen deutlich abgrenzen will. Es ist zudem darauf hinzuweisen, daß die in 1.5, 188a30 ff. angeführte Argumentation deutlich macht, daß Aristoteles hier seine eigene Terminologie verwendet (vgl. dazu die Bemerkungen zum „Werden aus etwas κατά συμβεβηκός" in 188a33 ff.) und nun keinen Vorgänger mehr mit Namen als Vertreter der dort dargelegten Theorie nennt. Gegenüber der anderslautenden Interpretation, die davon ausgeht, daß Aristoteles mit der positiven Darlegung der eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnt, ist allerdings hervorzuheben, daß sich Aristoteles, wenn er die Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnen würde, mit einigen der in den Kapiteln 1.5 und 1.6 aufgestellten Thesen in einen Widerspruch zu den Ausführungen in Kapitel 1.7 begeben würde. Zu diesen Widersprüchen, auf die vor allem Bostock (1982: 189 ff.) aufmerksam machte, ist z.B. der Umstand zu zählen, daß in Kapitel 1.5 von einer Statue und einem Haus gesagt wird, daß es einen (genau bestimmten) Gegensatz habe (vgl. 188b8-21), während sich Aristoteles in den Kapiteln 1.6 (189a32-33) und 1.7 dafür ausspricht, daß es für die ουσία keinen konträren Gegensatz gibt. Bostock, der davon ausgeht, daß Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in den Kapiteln 1.5 und 1.6 beginnt, deutet diese Widersprüche als Inkonsistenzen innerhalb der aristotelischen Theorie.
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Meiner Ansicht nach entwickelt Aristoteles in den Kapiteln 1.5 und 1.6 die Gedanken seiner Vorgänger - wobei er eigene Argumente und eigene Terminologien verwendet -, um sie gleichsam zu seiner eigenen Theorie hinzuführen. Die Kapitel 1.5 und 1.6 stellen somit für Aristoteles einen weiteren Schritt auf dem Weg hin zur eigenen Theorie dar, welches dem bereits mehrfach betonten Untersuchungscharakter dieses Buches entspricht. Zwar hat bereits Bostock diese Interpretationsmöglichkeit als Lösung der offenkundigen Widersprüche zwischen dem in den Kapiteln I.5/I.6 Gesagten einerseits und dem in Kapitel 1.7 Gesagten andererseits in Erwägung gezogen,31 doch verwirft er diese Interpretationsmöglichkeit - „But I think the suggestion is really not very convincing" (1982: 194) , da seiner Ansicht nach kaum ein Zweifel daran bestehen kann, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 in eigener Person argumentiert: There can be little doubt that in chapter 5 he is sincerely arguing in his own person for the (mistake) view that all change is between opposites or an intermediate. (Bostock, 1982: 194)
Nun macht aber gerade der Hinweis in Kapitel 1.7, dem zufolge in Kapitel 1.5 nur Gegensätze als Prinzipien angenommen wurden (vgl. „πρώτον μέν οΰν έλέχθη δτι άρχαί τάναντία μόνον": 191 al 5-17), welches in Kapitel 1.6 zu Aporien führen wird, offenkundig, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch nicht seine eigene Theorie darlegt. Daß das Kapitel 1.5 vielmehr als ein Schritt auf dem Weg zur eigenen Theorie hin zu verstehen ist, wird auch durch folgende Überlegungen deutlich: (1) Es fällt auf, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 - im Gegensatz zu Kapitel 1.7, wo er mehrfach in der ersten Person Singular oder Plural von einem „wir aber sagen ...", „wir dagegen behaupten ...", „ich meine ..." usw. spricht - n nicht in der ersten Person Singular oder Plural redet." In Kapitel 1.5 wird sprachlich eher in unpersönlicher Weise argumentiert (vgl. 188a31: ,,σκέψασθαι πώς συμβαίνει"; a31-32: „ληπτέο ν δή"), und Aristoteles verwendet in bezug auf die Konklusion der dargelegten Überlegungen in 188b21-26 auch den Konjunktiv (vgl. ,,εί τοίνυν τοΰτ' εστίν άληθές, [...] γίγνοιτο [...] και φθείροιτο [...]. ώστε πάντ' αν ε'ίη [...]."). Diese beiden sprachlichen Mittel deuten darauf hin, daß sich Aristoteles selbst in einer gewissen Distanz zu den in Kapitel 1.5 aufgestellten Thesen befindet. Obgleich innerhalb der Argumentationen zweifelsohne aristotelische Theoreme verwendet werden - man denke z.B. an das Werden aus etwas κατά συμβεβηκός (188a34-36) oder an die Differenzierung zwischen dem Allgemeinen als etwas, das dem Begriff nach bekannter ist, und dem Einzelnen als etwas, das der Wahrnehmung nach bekannter ist (189a5-7) -, und obgleich Aristoteles selbst auch seiner eigenen Theorie in
32
Vgl. Bostock (1982: 194): „We can develop this line of argument more strongly. It is clear that in chapters 5 and 6 Aristotle represents himself as developing the thought of his predecessors, and in chapter 7 as making a new start and giving us his own views." Vgl. Phys. 1.7, 189b30 (,,ήμεΐς λέγωμεν"); b32 („φαμέν"); b34 („λέγω δέ"); 190a2 („λέγω"); a9 („λέγομεν"); al4: (,,ώσπερ λέγομεν"); al6 („λέγω"); 190b 13 („λέγω"). Einzig in 188 b27 findet sich die Rede in der ersten Person Plural (vgl. „καθάπερ εϊπομεν πρότερον"), die hier jedoch nicht zur Einführung einer eigenen Ansicht, sondern zur Erinnerung an bereits zuvor Gesagtes dient.
Die Funktion des Kap. I. 5 im Gesamtkontext von Physik A
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Kapitel 1.7 eine gewisse Gegensätzlichkeit der Prinzipien zugrunde legen wird, erweckt die Gesamtargumentation doch eher den Eindruck, daß sie zwar von Aristoteles geführt wird, daß er sich aber gleichwohl auch in einer gewissen Distanz zu ihr befindet. Im Gegensatz zu Bostock scheint es mir eher zweifelhaft zu sein, daß Aristoteles hier eindeutig in eigener Person argumentiert. (2) Im Unterschied zu Happ, der meint, daß der Abschnitt 1.5, 188a27 ff. als aristotelischer Neuansatz zu betrachten ist und ohne von den vorhergehenden doxographischen Bericht verstanden werden kann, bin ich der Auffassung, daß das in Kapitel 1.5 Gesagte in einem bewußten Gegensatz zur Theorie von Anaxagoras steht, wie sie in Kapitel 1.4 dargelegt wurde. Aristoteles bleibt auch hier dem bereits mehrfach erwähnten methodischen Weg treu, dem zufolge ausgehend von einer Theorie durch deren Widerlegung zur entgegengesetzten Theorie übergegangen wird, wobei das jeweils in einer Theorie richtig Gesagte festzuhalten ist, um sich so kontinuierlich einer mittleren Position anzunähern. Aufgrund der gegensätzlichen Anordnung des in den beiden Kapiteln 1.4 und 1.5 Gesagten halte ich es für verfehlt, in dem von Happ vorgeschlagenen Sinne einen solchen gedanklichen Einschnitt zwischen den Kapitel 1.4 und 1.5 vorzunehmen, daß mit dem Kapitel 1.5 etwas vollkommen Neues beginnen würde, das unabhängig von dem Vorhergehenden zu verstehen ist. Der Einschnitt verkennt, daß die beiden Kapitel 1.4 und 1.5 in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen. Dieser Gegensatz zwischen den Kapiteln 1.4 und 1.5 läßt sich anhand der folgenden grundlegenden Thesen beider Kapitel verdeutlichen: Abb. 5.1: Die gegensätzliche Struktur der Kapitel 1.4 und 1.5 1.4 Prämissen und Konklusionen der Theorie von Anaxagoras - „Gegensätze sind ineinander enthalten." (187a32) - „Aus Beliebigem wird Beliebiges." (187b24) - „Das Entstehen erweist sich als Eigenschaftsveränderung, andere nennen es 'Vermischen' und 'Entmischen'." (187 a30-l; b23) - Die άρχαί sind der Zahl nach unbegrenzt (vgl. I87a25-6) - „Jedes Werdende wird aus Seiendem als darin bereits Enthaltenem." (187 a32-7) - Das Entstehen des einen bedeutet nicht das Vergehen eines anderen (vgl. 187a 24-5)
1.5 Prämissen und Konklusionen der Theorie der Gegensätzlichkeit der άρχαί - „Gegensätze sind nicht auseinander." (188 a30) - „Beliebiges wird nicht aus Beliebigem, außer im akzidentell zukommenden Sinn." (188 a33-4) - Es ist nur vom Entstehen aus (γίγνεσθαι έξ) und Vergehen zu (φθενρεσθαι εις), nicht aber von der Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) die Rede - Die άρχαί (nur erste Gegensätze) sind der Zahl nach begrenzt (vgl. 188a26-7) - „Jedes Werdende wird aus Gegensätzlichem oder einem Mittleren." (188b21-3) - Das Entstehen des einen bedeutet das Vergehen eines anderen (vgl. 188a35-b21)
Zwar läßt sich in einem weiten Sinne durchaus sagen, daß Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.1 beginnt, sofern man
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die Darstellung seiner Vorgänger als auf seine eigene Theorie hingeordnet betrachtet; in einem engeren Sinne beginnt die Darlegung der eigenen Theorie jedoch erst in Kapitel 1.7. Das Kapitel 1.5, dessen Aussagen sich deutlich von der in Kapitel 1.4 dargelegten Lehre des Anaxagoras unterscheiden und zum Teil sogar in einem konträren Gegensatz dazu stehen, ist als ein weiterer Schritt auf dem Wege zur eigenen Theorie hin zu betrachten. Zwar ist das in Kapitel 1.5 Gesagte gegenüber der Theorie des Anaxagoras der Sache nach angemessener, gleichwohl aber trifft es Aristoteles zufolge die Wahrheit selbst noch nicht ganz. Vor dem Hintergrund des Untersuchungscharakters des Buches Α der Physik erklären sich dann auch die von Bostock beobachteten Widersprüche zwischen den in den Kapiteln 1.5, 1.6 und 1.7 aufgestellten Thesen in der Weise, als es ja einer Untersuchung eigentümlich ist, daß zuvor Gesagtes durch später Erkanntes modifiziert und korrigiert werden kann. So ist es auch nicht auf einen Zufall, sondern vielmehr auf einen systematischen Grund zurückzuführen, daß in Kapitel 1.5 von der ΰλη noch keine Rede ist. Denn dem Ansatz von Kapitel 1.5 zufolge sollen zunächst ja nur Gegensätze als Prinzipien angenommen werden; erst in Kapitel 1.6 wird dieser Ansatz dann von Aristoteles dahingehend problematisiert, daß die Gegensätze selbst etwas voraussetzen, an dem sie vorkommen.
5.4 Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit επί τοΰ λόγου
(188a30-b26)
Nachdem Aristoteles in Gestalt eines „guten Grundes" die Plausibilität der Setzung von Gegensätzen als Prinzipien gezeigt hat, geht er im nachfolgenden Teil dazu über, dies auch „dem λόγος nach" (έπί του λόγου) zu untersuchen: Aber dies muß auch auf einer sprachlich-argumentativen Ebene [έπί τοϋ λόγου] untersucht werden, wie es sich verhält. (1.5, 188a30-31)
Was hier mit einer Untersuchung „έπί τοΰ λόγου" gemeint ist, wurde bereits angedeutet. Klar ist, daß mit demjenigen, das in der Weise des „έπί τοΰ λόγου" untersucht werden soll, die Setzung der Gegensätze als Prinzipien gemeint ist. Die Tatsache, daß dies auch (και.) „έπί τοΰ λόγου" zu untersuchen ist, deutet auf einen gewissen Gegensatz zur vorangegangenen Argumentation hin. Nach Ansicht von Ross wird mit dem „έπί τοΰ λόγου" nun eine argumentative Begründung für die Setzung der Gegensätze als Prinzipien eingeleitet, die im Gegensatz zum Autoritätsbeweis aus dem vorangegangenen Abschnitt steht: The appeal to argument is contrasted with the appeal to authority ("26). (Ross, 1936: 489)
Diese Interpretation erweist sich jedoch insofern als problematisch, da bereits mit der durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation in 188a2730 eine argumentative Begründung für die Setzung der Gegensätze als Prinzipien gegeben wurde, so daß die Bemerkung, daß dies „auch έπί τοΰ λόγου" zu untersuchen sei, keinen Sinn ergibt, wenn man sie in dem Sinne versteht, daß
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ τοΰ λόγου
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dies „auch argumentativ" zu untersuchen sei. Im Gegensatz zu Ross versteht Charlton das „έπί τοΰ λόγου" nicht in dem Sinne, daß dies auch „argumentativ zu prüfen sei". Charlton sieht in ihm vielmehr den Hinweis auf eine sprachliche Untersuchung:34 [...] 'considering logoi' (Charlton, 1970: 66)
is simply considering speech, or things said, [...]).
Mit dieser Interpretation des ,,έπί τοΰ λόγου" als Hinweis auf eine „sprachliche Untersuchung" läßt sich nun auch eine Erklärung des Ausdrucks ,,καί" (a31) geben, durch das ein gewisser Gegensatz zum Vorhergehenden zum Ausdruck gebracht werden soll. Denn mit der sprachlichen Untersuchung wäre nun insofern ein Gegensatz zu der mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation in a27-30 gegeben, als sich die Argumentation in a27-30 in einem eher formalen und allgemeinen Sinne nur auf die Definition der Begriffe 'Gegensatz' und 'Prinzip' bezog, während mit der Untersuchung έπί τοΰ λόγου nun eine eher inhaltliche Argumentation eingeleitet wird, die insofern als eine Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" bezeichnet werden kann, als sie sich primär an der Sprache orientiert, in der wir über Werdeprozesse sprechen. Stellt also die mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation eine eher abstrakte und formale Argumentation dar, so ist mit der Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" eine eher inhaltliche, auf die Sache bezogene, sprachliche Untersuchung gemeint, die jedoch nicht als Gegensatz zu einer empirischen Untersuchung zu verstehen ist. Die in der Untersuchung έπί τοΰ λόγου angeführten Beispiele beziehen sich vielmehr darauf, wie wir über die uns in der Wahrnehmung begegnenden Werdeprozesse sprechen. Es wird ausgehend von den Dingen, bei denen sich das Werden sprachlich als ein Prozeß zwischen konträren Gegensätzen beschreiben läßt („Weißes wird aus Schwarzem"), dasselbe Verhältnis auch auf diejenigen Dinge übertragen, bei denen in der Sprache ein Name für den jeweiligen Gegensatz fehlt: „Haus (als Zustand einer bestimmten Ordnung seiner Teile) wird aus dem Zustand des Ungeordnetseins seiner Teile". Vor diesem Hintergrund läßt sich der Gegensatz zwischen der Untersuchung „ευλόγως" und der Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" in einem übertragenen Sinne auch als Gegensatz zwischen einer λογικώς und einer φυσικώς geführten Untersuchung beschreiben. Während die mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleiVgl. auch Tumbull (1976: 49), der von „»logical grammar« of our talk of coming-to-be this or that" spricht. Nach Ansicht von Jones ist Aristoteles hier eher an der Betrachtung linguistischer Phänomene als an einer empirischen Untersuchung interessiert. In bezug auf das Kapitel 1.7 sagt Jones (1974: 478): „Therefore, we may dismiss any suggestion that we are dealing here with an empirical inquiry into change. Rather, he is considering linguistic phenomena (compare, too, 188a31 with 610-11; 190 a l 4 , »just as we speak«; 620-23)." Gegenüber dieser Interpretation sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Betrachtung linguistischer Phänomene die gleichzeitige Möglichkeit einer empirischen Untersuchung nicht ausschließt, sondern umgekehrt sogar ermöglicht, insofern die Betrachtung linguistischer Phänomene als Orientierungspunkt in einer empirischen Untersuchung fungiert. Dies gilt um so mehr, wenn die empirische Untersuchung - wie es in Kapitel 1.5 der Fall ist - auf die Gegensätzlichkeit der Werdeprozesse gerichtet ist, die vor allem in der sprachlichen Beschreibung derselben zum Ausdruck kommt.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
tete Argumentation in a27-30 nun eher als eine Untersuchung λογικώς im Sinne einer formalen und allgemein bleibenden Untersuchung der Definitionen von Begriffen zu verstehen ist, ist die Untersuchung ,,έπι του λόγου" in a30 ff. nun eher als eine Untersuchung „φυσικώς" im Sinne einer inhaltlichen und konkret werdenden Argumentation zu verstehen, die insofern als Untersuchung ,,έπι τοΰ λόγου" bezeichnet werden kann, als sie sich primär an der Sprache orientiert, in der wir die uns in der Wahrnehmung begegnenden Werdeprozesse beschreiben. Diese mit Hilfe der Ausdrücke „λογικώς" und „φυσικώς" vorgelegte Gliederung der Untersuchung der Prinzipienhaftigkeit der Gegensätze in Kapitel 1.5 läßt sich auch durch eine in formaler Hinsicht parallel geführte Untersuchung in Physik III.5 stützen. Aristoteles behandelt dort die Frage nach der Existenz eines unbegrenzten Körpers. In Analogie zu Phys. III.5, wo die Frage nach der Existenz eines unbegrenzten Körpers sowohl λογικώς (204b4) mit Hilfe der Definition von „Körper" als auch φυσικώς (204b 10) mit Hilfe einer Einteilung von 'Körper' in 'zusammengesetzte Körper' (σύνθετον) und 'einfache Körper' (άπλοΰν) (204b 10-11) untersucht wird, leitet Aristoteles auch die Untersuchung der Prinzipienhaftigkeit der Gegensätze in Phys. 1.5 zunächst mit einer Definition von „Prinzip" ein, um dann in bezug auf die Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" ebenfalls mit einer Einteilung der Seienden (τά όντα) in 'einfache Seiende' (άπλα) und 'zusammengesetzte Seiende' (σύνθετα) fortzufahren (vgl. 188b810).
5.4.1 Die Frage nach einem induktiven oder deduktiven Verfahren Zuerst also ist anzunehmen, daß nichts von allem Seienden von Natur aus entweder Beliebiges bewirkt oder Beliebiges von Beliebigem erleidet [δτι πάντων των δντων οϋθέν οΰτε ποιεΐν πέφυκεν οΰτε πάσχειν τό τυχόν ΰπό τοΰ τυχόντος], und auch wird nicht Beliebiges aus Beliebigem [ούδέ γίγνεται ότιοΰν έξ ότουοΰν], außer jemand nähme dies im akzidentell zukommenden Sinn [κατά συμβεβηκός]. (1.5, 188a31-34)
Die Untersuchung ,,έπι τοΰ λόγου" stellt sich im Anschluß an die Einführung dieser Annahmen als zweigeteilt dar: (a) Folgt zunächst eine Untersuchung der Gegensätzlichkeit des Werdens in bezug auf die 'einfachen Seienden' (άπλα δντα: 188a35-b8), so schließt sich dieser eine Untersuchung der Gegensätzlichkeit des Werdens in bezug auf die 'zusammengesetzten Seienden' (σύνθετα δντα: 188b8-21) an. Aus beiden Untersuchungen ergibt sich dann in 188b21 -23 die Konklusion (1): „Wenn dies nun alles wahr ist, dann würde jedes Werdende aus und verginge jedes Vergehende zu Gegensätzlichem und Mittlerem von diesen." Aus der Konklusion (1) wird dann mit Hilfe der zusätzlichen Prämisse „das Mittlere ist aus Gegensätzen" (b23-24) in 188b25-26 die weitere Konklusion (2) hergeleitet: „Alles von Natur aus Werdende wäre entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen." In vereinfachter Form hat die gesamte Argumentation folgende Gestalt:
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπΐ του λόγου Prämissen:
(i) (ii)
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Nichts von allem Seienden (οντά) bewirkt oder erleidet von Natur aus Zufälliges von Zufälligem (188a31-33) Beliebiges wird nicht aus Beliebigem, außer κατά συμβεβηκός (188a33-34)
Es f o l g t eine Untersuchung bezüglich der (a) ά π λ α δ ν τ α und der (b) σ ύ ν θ ε τ α ο ν τ α , aus der s i c h dann f o l g e n d e K o n k l u s i o n ( 1 ) ergibt: Konklusion:
(1)
Jedes Werdende wird aus und jedes Vergehende vergeht zu Gegensatz oder Mittlerem (188b21-23)
A u s der Konklusion ( 1 ) ergibt sich mit der weiteren Prämisse (iii) dann die K o n k l u s i o n (2): Prämisse: Konklusion:
(iii) (2)
Das Mittlere ist aus Gegensätzen (188b23-25) Jedes von Natur aus Werdende (γιγνόμενον) ist Gegensatz oder aus Gegensätzen (188b25-26)
5 . 4 . 2 D i e Funktion der Prämissen (i) und (ii) D i e in 1 8 8 a 3 0 eingeleitete Untersuchung ,,έπι τ ο υ λ ό γ ο υ " wird in d e n in 1 8 8 a 3 0 - 3 4 eingeführten Prämissen zunächst auf die regelhaften und naturgemäßen (vgl. , , π έ φ υ κ ε ν " : a 3 2 - 3 3 ) W e r d e p r o z e s s e beschränkt. Hierbei w e r d e n die A u s n a h m e n v o n diesen regelhaften W e r d e p r o z e s s e n als 'Werden im akzidentellen S i n n e ' (vgl. „ κ α τ ά σ υ μ β ε β η κ ό ς " : a 3 4 ) zwar nicht geleugnet, g l e i c h w o h l aber w e r d e n sie für die weitere Untersuchung eingeklammert. D e r Grund für d i e s e Einklammerung ist vermutlich darin zu sehen, daß e s Aristoteles z u f o l g e v o n d e m A k z i d e n t e l l e n - e b e n s o w i e v o n d e m B e l i e b i g e n und Zufälligen - k e i n e W i s s e n s c h a f t g e b e n kann (vgl. Met. VI.2). 3 5 So sind diese akzidentellen W e r d e p r o z e s s e in b e z u g auf eine w i s s e n s c h a f t l i c h e Untersuchung zunächst zwar einzuklammern, d o c h sind sie nicht für nichtexistent zu erklären, da sonst die Natur v o n e i n e m Determinismus geprägt sein würde, d e n es für Aristoteles e b e n s o w i e die v o l l k o m m e n e n B e l i e b i g k e i t d e s W e r d e n s ebenfalls z u vermeiden gilt. 3 6
36
Aristoteles scheint die Ausdrücke „Zufälliges" (τυχόν: 188a33, b3, 5, 7, 14), „Beliebiges" (ότιοΰν: 188a34, 187b24) und Jedes" (πάν: 187b2, 188b2) in Phys. I hinsichtlich des Werdens von etwas aus etwas als Synonyme zu verwenden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung verwendet er dann vor allem den Ausdruck „τυχόν" (b3; b5; b7; bl4). Es sei daran erinnert, daß das Zufällige bei Aristoteles filr gewöhnlich mit dem Akzidentellen verbunden ist (vgl. Met. XI.8). Als Gegensatz zum Zufälligen und Beliebigen erweist sich bei Aristoteles dasjenige, was aus Notwendigkeit (έξ ανάγκης) und in der Regel (ώς έπΐ τό πολύ) stattfindet. Zur Einklammerung des Werdens im akzidentellen Sinne vgl. auch Phys. V.l, 224b26-35. In bezug auf die Thematisierung des Zufalls bei Aristoteles bemerkt Gigon (1975: 31): „Es zeigt sich deutlich, daß Aristoteles sich nicht in der Lage gesehen hat, die wahrnehmbare Wirklichkeit vollständig in den Rahmen der theoretischen Vorstellungen einzufügen. Um sich davon zu überzeugen, möge man nur daran denken, daß Aristoteles sich nicht scheut, dem Zufall Raum zu geben, etwa bei seiner Erklärung von Mißbildungen, die bei ihm im Rahmen einer im weiten Sinne verstandenen Zufallstheorie steht; ebenso bezeichnend ist sein Rückgriff auf eine Art blinder und irrationaler »Notwendigkeit«, wenn er gewisse, vor allem abnorme Eigentümlichkeiten im Werden der Dinge erklären will. All das sind Versuche, mit denen Aristoteles das, was nach seinem Wissenschaftsbegriff dem Bereich des Unerkennbaren angehören sollte,
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Spricht Aristoteles in den Prämissen einerseits noch von einem 'Wirken' (ποιεΐν) und 'Leiden' (πάσχειν) und andererseits von einem 'Werden' (γίγνεσθαι) der seienden Dinge (των όντων), so ist in der nachfolgenden Untersuchung und in den abschließenden Konklusionen dann jedoch nur noch nicht mehr von einem 'Wirken' und 'Leiden', sondern nur noch von einem 'Werden aus' (γίγνεσθαι έκ) und 'Vergehen zu' (φθείρεσθαι εις) die Rede. In bezug auf die sich hier anschließende Frage, warum dann das „Wirken" und „Leiden" in den Prämissen überhaupt Erwähnung findet, ist darauf hinzuweisen, daß die Vorgänger den Gegensätzen weitgehend eine aktive Rolle als Ursachen der Bewegung zukommen ließen (vgl. Met. 1.9, 984a22-27). Werden konstituiert sich bei ihnen als Wirkung eines aktiven Prinzips auf ein passives Prinzip, das die Wirkung erleidet (vgl. auch 1.6, 189b 11-22). Vor diesem Hintergrund sind die in den Prämissen erwähnten Begriffe des „Wirkens" und „Leidens", die zugleich in einem Zusammenhang mit den in 1.6 folgenden Aporien stehen,37 als Hinweis auf die Funktion der Prinzipien bei den Vorgängern zu betrachten. 'Wirken' und 'Leiden' stellen für Aristoteles Formen der Bewegung (κίνησις) dar (vgl. Phys. III.3, 202a30-35), bei der das Wirkende als Bewegendes (κινούν) und das Leidende als Bewegtes (κινόμενον) fungiert (vgl. Phys. V.2, 225b 13-16). In deren Relationalst 38 deutet sich bereits an, daß Wirken und Leiden fur Aristoteles nicht in einem Verhältnis der Beliebigkeit zueinander stehen können.39 Irwin scheint der Ansicht zu sein, daß sich die Prämisse (ii) „Beliebiges wird nicht aus Beliebigem" (188a33-34) auf deduktive Weise aus der Prämisse (i) „Nichts von allem Seienden bewirkt oder erleidet von Natur aus Zufälliges von Zufälligem" (188a31-33) ergibt, wenn man voraussetzt, daß jedes Werden als Handlung eines Dings auf ein anderes Ding zu betrachten ist: Aristotle now looks for some general account of change (kinesis) and becoming (genesis), and notices first the consensus that the origins are contraries (189al9-30). Since his predecessors have reached the true conclusion without any argument to give them a good reason for it (188b26-30; cf. PA 642al8-19, Met. 986b31), Aristotle offers an argument (logos, 188a31) for it. He appeals to the general principle that random things do not act on (poiein), and are not acted on by, random things (188a31-4). His appeal is justified only if every becoming is also an action of one thing on another. If it is, and if random action is impossible, random becoming is impossible. (Irwin, 1988: 70)
39
einer Klassifikation oder einem Schema unterwerfen will, das sich einer wissenschaftlichen Systematisierung fügt." In Kapitel 1.6 wird deutlich werden, daß sich Aporien ergeben, wenn nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen werden. Eine Aporie wird z.B. darin bestehen, daß die Gegensätze weder aufeinander wirken noch etwas voneinander erleiden können (189a20-27). Vgl. dazu Phys. III. 1, 200b28-32: ,,τοΰ δέ πρός τι τό μέν καθ' ύπεροχήν λέγεται και κατ' έλειψιν, τό δέ κατά τό ποιητικόν και παθητικόν και ολως κινητικόν τε και κινητόν· τό γαρ κινητικόν κινητικόν του κινητού και τό κινητόν κινητόν υπό τοΰ κινητικού." (Vgl. auch Met. V.15, 1021al4ff.). Vgl. auch Apostle (1969: 195, Fn.5): „For example, a body is acted upon by certain things, e.g. by a body, not by a colour or a thought; [...]."
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ τοϋ λόγου
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Allerdings deutet in dem Abschnitt 188a30-34 nichts daraufhin, daß die Prämisse (ii) als Konklusion aus der Prämisse (i) anzusehen ist.40 Irwin, der die Untersuchung ,,έπί του λόγου" als ein deduktives Argument betrachtet, bei dem sich die Prämisse (ii) als Konklusion aus der Prämisse (i) herleitet, und bei dem die Prämisse (i) von Irwin als ein 'allgemeines Prinzip' {general principle) verstanden wird,41 kritisiert an diesem Argument nun, daß das Werden zwar in der dargestellten Weise als Wirkung von etwas auf etwas beschrieben werden kann, daß es jedoch nicht notwendigerweise so beschrieben werden muß. Zudem reiche die Annahme des nicht auf beliebige, sondern gegensätzliche Weise Verbundenseins der Termini eines Werdens nicht als Erklärung dafür aus, warum sich der Wechsel tatsächlich vollzieht: Aristotle argues inadequately for his proposals. To show that we can redescribe the termini of becoming in his preferred ways is not to show that we should or must. He will convince us on the further point if he shows that his description of the termini displays properties with regular law-like connexions. But he does not show it. If someone is unmusical, that explains why a change is needed for him to be musical; but it does not explain why the change happens, since someone could be unmusical and tone-deaf, and incapable of becoming musical. Similarly, all sorts of things lack the shape of a statue; but this lack is insufficient to explain the coming to be of a statue. (Irwin, 1986: 71) Zwar hat Irwin recht, wenn er sagt, daß das Fehlen einer bestimmten Form nicht hinreichend ist, um das Werden einer Statue zu erklären, doch wird dies von Aristoteles hier auch gar nicht behauptet.42 Gegen Irwins Kritik hat Bolton wie folgt argumentiert: The specific conclusion which he [Aristoteles] argues for in his proof is that all natural change is change in which one thing comes to be from some contrary (either from the exact contrary, as white to black, or from some intermediate contrary, as white to grey 188b21-6). What argument does Aristotle use for this conclusion? It has been suggested by some that Aristotle's argument is deductive, or syllogistic. He starts from a general principle, which he does not justify, that random things do not act on and are not acted on random things (188a31-3). Then he assumes, without stating is, that every becoming is an action of one thing on another and concludes that random becoming, that is, becoming between randomly connected termini, is impossible. This, then, shows that the termini of becoming cannot be contradictories since there are no causal, non-random regularities between contradictories. So the termini must be contraries since there are non-random regular connections between contraries and 40
Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik von Bolton (1991: 23-26) an der Interpretation von Irwin. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Charlton (1970: 66), der den von Aristoteles wenig später ausgesprochenen Gedanken, daß etwas immer aus seinem Gegensatz oder einem Mittleren wird, nicht als eine empirische Annahme, sondern als die rein logische Lehre, daß sich Wechsel in bestimmten Bereichen vollzieht, versteht: „Aristotle says that it is not a matter of chance what comes to be out of what, but a thing always comes from its opposite or something in between. This is not an empirical doctrine to the effect that the universe is regular; it is the purely logical doctrine that change is within definite ranges." Gleichwohl spricht von einem teleologischen Standpunkt aus betrachtet, wie Aristoteles ihn an anderer Stelle in bezug auf das Werden innerhalb der Natur expliziert, vieles dafür, daß das Fehlen einer vollendeten Form als hinreichender Grund für den Erwerb dieser Form betrachtet werden kann (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 8.2.1).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί ' changes can all be described with contraries as their termini. Those who offer this analysis of Aristotle's argument often then go on to criticize him both for supposing that the fact that change can be described in this way shows that it should be, and for the assumption that the termini of change are non-randomly, that is causally, connected. They argue, for example, that the fact that something lacks the shape of a statue is 'insufficient to explain' why it comes to be a statue, i.e. to 'explain why the change happens' [Irwin, First Principles, 70-1]. This objection, however, and the analysis of Aristotle' argument on which it is premissed, miss what it is that Aristotle is trying to show. He is not trying to establish the principle that the contrary state from which a change originates is sufficient to explain, why the change occurs to the other specific contrary state. As we have seen, the contraries are existential principles required, so to speak, to construct change. They 'explain' why change occurs in that limited sense, and not because a given contrary state is sufficient to bring it about, by a causal regularity, that some resulting contrary occurs. [...] So Aristotle is not guilty of the error with which he is charged. Nor does he in fact argue from the principle that things do not act randomly on other things to the conclusion that the termini of change are contraries. He uses the former claim, in the text, only to introduce the discussion of the latter (188a31-4). When he comes to the latter as his reasoned conclusion, at 188b21 ff., he prefaces this conclusion with the phrase: 'if then this is true . . . ' . The 'this' in this case, must refer to the immediately preceding material (188a35-b21). What Aristotle offers us there, however, is simply a review of a full range of cases where natural change (and, in a parallel way, artificial change) occurs. [...] This is the material on which Aristotle explicitly bases his general conclusion and, given this, it seems clear that his own argument (λόγος, 188a31) is an inductive argument. (Bolton, 1994: 23-25)
Im Gegensatz zu Irwin versteht Bolton die Untersuchung ,,έπί τ ο ΰ λ ό γ ο υ " als ein induktives Argument, wobei er dies als weiteren B e l e g zur Stützung seiner These v o m empirischen Charakter des B u c h e s Α der Physik nimmt. Gegenüber dem möglichen Einwand, daß Aristoteles die Prämissen (i) und (ii) doch ohne Begründung gleichsam als α priori Wahrheiten einführt, weist Bolton dann zu Recht darauf hin, daß die unbegründete Setzung apriorisch bekannter physikalischer Gesetzmäßigkeiten am Anfang einer Untersuchung im Widerspruch zu der in Kapitel 1.1 aufgestellten Methodologie stünde, der zufolge man von der Wahrnehmung ausgehend erst zu derartigen Prinzipien gelangen soll: Is it an inductive argument based on things known by experience, as Aristotle has indicated it should be? Some have wanted to argue that it is not. Rather, it has been suggested, Aristotle thinks that the claim that what is white always and only comes to be by nature from some opposite colour, and only accidentally from what is musical, is an a priori or a conceptually truth [See e.g. Charlton, Physics /-//, 66], But there is no clear indication in the text of the argument itself that Aristotle believes this. [... ] There is, then, no good reason to suppose that Aristotle thinks that the premisses of his inductive argument are either a priori or conceptual truths. Rather, since he indicates in Phys, 1.1, and in parallel passages in the Analytics, that the scientist's starting premisses are items of experience, or of what is 'more knowable to perception' (184a24-5), we should conclude that this is the way he views the premisses of his inductive argument here. (Bolton, 1994: 25-26) Auch wenn ich der Interpretation von Bolton vor allem in dem Punkt zustimme, daß sich die Argumentation in 188a35-b21, die zur Konklusion 188b21 -23 führt,
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπΐ του λ ό γ ο υ
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durch einen eher induktiven Charakter auszeichnet, 43 so scheint mir an Boltons Interpretation jedoch die Funktion, die er den Prämissen zukommen läßt, problematisch zu sein. Um nämlich seine These von einer rein induktiven Argumentation halten können, betrachtet Bolton die Prämissen nur als in die Problematik einführend: He uses the former claim [gemeint sind die Prämissen (i) und (ii)], in the text, only to introduce the discussion of the latter (188a31-4). (Bolton, 1991: 24)
Der Grund, warum Bolton die Prämissen als nur in die Problematik einführende Sätze betrachtet, ist vermutlich darin zu sehen, daß die Prämissen aufgrund des negierten Allquantors „πάντων των δντων οΰθέν" (188a32) ja nicht als empirischer Ausgangspunkt für ein induktives Argument fungieren können. Daß die Prämissen jedoch nicht nur als in die Problematik einführend, sondern vielmehr als mit der Argumentation unmittelbar verbunden zu betrachten sind, wird daraus ersichtlich, daß ein logischer Zusammenhang zwischen den Prämissen (188a31-34) und der Konklusion (188b21-23) besteht: Wird in den Prämissen gesagt, daß kein Seiendes (πάντων των δντων οΰθέν: 188a32) Zufälliges bewirkt oder Zufälliges von Zufälligem erleidet, bzw. daß Beliebiges nicht aus Beliebigem wird, so lautet die Konklusion, daß jedes Werdende (απαν τό γιγνόμενον: 188b21-22) aus Gegensätzlichem oder Mittlerem wird, bzw. daß jedes Vergehende zu Gegensätzlichem oder Mittlerem vergeht. In einer vereinfachten Form bedeutet dies, daß ein Übergang von der Prämisse „kein Werdendes wird aus einem Beliebigen" zur Konklusion ,jedes Werdende wird nicht aus einem Beliebigen" stattfindet. Nun wird in der Konklusion jedoch nicht nur diese schwache (negative) Behauptung J e d e s Werdende wird nicht aus einem Beliebigen" aufgestellt - diese Konklusion wäre allein auf formale Weise ohne eine weitere inhaltliche Argumentation aus der Prämisse durch eine Quantorenumwandlung herleitbar -, sondern es wird vielmehr die stärkere (positive) Behauptung ,jedes Werdende wird aus Gegensätzlichem oder Mittlerem" aufgestellt. In dem nun vorliegenden Schluß von der Prämisse „kein Werdendes wird aus einem Beliebigen" zur Konklusion J e d e s Werdende wird aus Gegensätzlichem oder Mittlerem" verfügt die Konklusion über einen in den Prämissen nicht enthaltenen und neu hinzugekommenen Inhalt, der einer weiteren inhaltlichen Argumentation bedarf und nicht allein auf formale Weise herleitbar ist. Diese inhaltliche Argumentation findet sich in der zwischen den Prämissen und der Konklusion befindlichen Argumentation 188a35-b21. Vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, daß wir es weder mit einem rein deduktiven noch mit einem rein induktiven Argument zu tun haben. Vielmehr liegt eine Verflechtung von beidem vor: Mit einem deduktiven Argument haben wir es insofern zu tun, als formal gesehen der negierte Existenzquantor in der Prämisse durch einen Allquantor in der Konklusion ersetzt wird. Hierbei ist die Prämisse zunächst als 43
Für den induktiven Charakter dieser Argumentation spricht auch der Umstand, daß Aristoteles in Phys. V.5, 229a30 ff. die Bewegung von einem Entgegengesetzten zu einem Entgegengesetzten durch Beispiele aus der Erfahrung (vgl. ,,δήλον δέ και έκ της έπαγωγής": 229b2-3) stützt (vgl. auch Met. XI. 11, 1067b9-14 und Phys. V.l, 224b26-35).
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Behauptung zu verstehen, die im weiteren Verlauf bewiesen werden soll. Mit einem induktiven Argument haben wir es jedoch insofern zu tun, als mit dem „Werden aus einem Gegensätzlichen oder Mittleren", das eine positive Formulierung des „Werdens nicht aus einem Beliebigen" darstellt, in der Konklusion ein neuer Inhalt hinzutritt, der in 188a35-b21 durch die Analyse von sprachlichen Beschreibungen der zu beobachtenden Werdeprozesse auf induktive Weise begründet wird. Daß nun die Prämissen in 188a31-34 selbst keineswegs begründungslos und gleichsam als α priori Wahrheiten eingeführt werden, wird vor allem daraus deutlich, daß sich Aristoteles bereits in Kapitel 1.4 in bezug auf Anaxagoras eingehend mit der These des Werdens eines Beliebigen aus einem Beliebigen auseinandergesetzt hat. In Kapitel 1.4 lautete eine der grundlegenden Annahmen des Anaxagoras wie folgt: (1) „Beliebiges wird aus Beliebigem" (187b24) bzw. J e des wird aus jedem" (187b2). Negiert man diese These (1), so erhält man die Aussage „es gilt nicht, daß jedes aus jedem wird", die mit folgender Aussage logisch äquivalent ist: „es gibt wenigstens ein χ und ein y, für die gilt, daß * nicht aus y wird". Nun sahen wir, daß Aristoteles in seinen Widerlegungen der These (1) einerseits zeigte, daß es irgendwann etwas gibt (nämlich das übriggebliebene Wasser), aus dem sich kein Fleisch mehr aussondert, während er andererseits zeigte, daß es etwas gibt (das kleinste Fleischteil), aus dem nichts mehr wird. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß die These (1) Jedes wird aus jedem" von Aristoteles im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Anaxagoras bereits argumentativ widerlegt worden ist, so daß die Prämisse in 1.5, 188a31-34, der zufolge gesagt wird, daß „Beliebiges nicht aus Beliebigem wird (außer in einem akzidentellen Sinne)", nicht vollkommen begründungslos in die Argumentation eingeführt wird. Gleichwohl ist hervorzuheben, daß aus der Negation der These (1) „Beliebiges (jedes) wird aus Beliebigem (jedem)" nicht unmittelbar das konträre Gegenteil folgt, nämlich daß kein Beliebiges aus einem Beliebigen wird. Aus diesem Grunde wird die Prämisse in 188a31-34 auch dahingehend abgeschwächt, daß sie nicht für ein Werden κατά συμβεβηκός Gültigkeit hat, da hier das Werden von einem Beliebigen aus einem Beliebigen (z.B. von einem Weißen aus einem Gebildeten) möglich ist. Zudem läßt Aristoteles im Anschluß an die Einführung dieser Prämissen eine Begründung (vgl. „πώς γαρ αν"...: 188a35) derselben folgen.
5.4.3 Das Werden aus Gegensätzen (188a30-b21) Die sich an die Prämissen anschließende Argumentation gliedert sich in eine Untersuchung der (i) 'einfachen Seienden' (άπλα δντα) und der (ii) 'zusammengesetzten Seienden' (σύνθετα δντα). Diese Disjunktion von „einfach oder zusammengesetzt" ist hier als eine vollständige Disjunktion anzusehen, die es erlaubt, aus beiden Untersuchungen zur Konklusion bezüglich eines ,-jeden Werdenden" und eines Jeden Vergehenden" überzugehen.
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ τοϋ λόγου
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5.4.3.1 Die 'einfachen Seienden' (τά άπλα των όντων: 188a35-b8) Denn wie sollte wohl ein Weißes aus einem Gebildeten werden, wenn nicht das Gebildete ein Akzidens [συμβεβηκός] für das Nichtweiße oder Schwarze ist? Sondern ein Weißes wird aus einem Nichtweißen, und in bezug auf dieses nicht aus jedem, sondern aus einem Schwarzen oder einem der Mittleren; und ein Gebildetes wird aus einem Nichtgebildeten [ούκ έκ μουσικοΰ], 4 4 nur nicht aus jedem [Beliebigen], sondern aus einem Ungebildeten oder einem der Mittleren, wenn es dies gibt. Also vergeht es auch nicht zum ersten Beliebigen, wie z.B. das Weiße nicht zum Gebildeten, außer vielleicht einmal nebenbei zukommend, sondern zum Nichtweißen, und auch nicht zu Beliebigem, sondern zum Schwarzen oder Mittleren. In derselben Weise vergeht das Gebildete zum Nichtgebildeten, und dies nicht zu Beliebigem, sondern zum Ungebildeten oder Mittleren, wenn es dies gibt. (1.5, 188a35-b8)
Der in bezug auf das (a) Werden aus (γίγνεσθαι έκ) und das (b) Vergehen zu (φθείρεσθαι εις) zweigeteilte Abschnitt über die einfachen Seienden (άπλα οντά), für die die Beispiele ,,τό λευκόν", ,,τό μέλαν", ,,τό μουσικόν", ,,τό άμουσον" und die jeweiligen Mittleren (τό μεταξύ) angeführt werden,45 beginnt mit einer Begründung der These, daß Beliebiges - außer im akzidentell zukommenden Sinn - nicht aus Beliebigem wird: „Denn wie sollte wohl ein Weißes aus einem Gebildeten werden, wenn nicht das Gebildete ein Akzidens für das Nichtweiße oder Schwarze ist?" Ein Weißes scheint somit eigentlich aus einem Nichtweißen oder Schwarzen zu werden und nur im akzidentellen Sinne aus einem Gebildeten werden zu können, wenn das Gebildete ein Akzidens für das Nichtweiße oder Schwarze ist, aus dem das Weiße wird. Ein Interpretationsproblem, dem wir bereits in Kapitel 1.3 begegnet sind, liegt auch hier in der Doppeldeutigkeit solcher Ausdrücke wie z.B. ,,τό λευκόν", das sowohl das 'Weiße' im Sinne eines Dings46 als auch 'weiß' (bzw. die Weiße) im Sinne einer Eigenschaft47 bezeichnen kann. Wagner übersetzt den Abschnitt 188a35-188bl wie folgt: Denn wie wäre es denkbar, daß ein Gebildetes weiß würde, wenn die Bestimmtheit 'gebildet' nicht eine zusätzliche Bestimmtheit an dem Gegenstand wäre, der (primär) dadurch gekennzeichnet ist, daß er nicht weiß war (und also weiß erst wird) oder schwarz war? (Das wesentliche Verhältnis kann) vielmehr (immer nur dies sein, daß) 44 45
46
47
Vgl. Ross (1936: 489): „ούκ έκ μουσικοΰ idiomatically = έξ ού μουσικοΰ." Daß die hier genannten Beispiele zu den „άπλα των όντων" zu zählen sind, läßt sich aus dem Beginn der Untersuchung der σύνθετα των δντων ersehen (188b8-10): „In gleicher Weise aber gilt dies auch bezüglich der anderen, da auch die Nicht-Einfachen, sondern Zusammengesetzten unter den Seienden im selben Verhältnis stehen." In diesem Sinne verstehen z.B. Bolton (1991: 23), Wieland (1962: 114) und Bröcker ("1974: 58) den Ausdruck ,,τό λευκόν" hier. Prantl (1854: 31) übersetzt zunächst ebenfalls in diesem dinglichen Sinne: „Denn wie sollte das Weiße aus dem Schwarzen werden, außer wenn nicht das 'Gebildet' ein an dem Weißen oder Schwarzen eben bloß vorkommendes wäre?" Doch dann setzt er in seiner Übersetzung wie folgt fort: „Sondern Weiß wird aus Nicht-Weiß ...", um dann wieder zur dinglichen Auffassung „das Weiße", „das Gebildete" zurückzukehren. In diesem Sinne verstehen z.B. Zekl (1987: 27), Bostock (1982: 190), Guzzoni (1975: 41) und Hardie/Gaye (1930) den Ausdruck ,,τό λευκόν" hier. Wicksteed/Cornford (1980: 53) verwenden in ihrer Übersetzung die abstrakten Termini „culture" und „pallor". Happ (1971: 291) betrachtet den Unterschied zwischen den άπλα övca und den σύνθετα οντά als einen Unterschied zwischen 'akzidentellen Vorgängen' und 'substantiellem Werden'.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί' ein N i c h t w e i ß e s weiß wird, und zwar nicht ein Gegenstand von beliebiger Bestimmtheit, sondern ein schwarzer oder ein solcher, dessen Bestimmtheit einen Wert innerhalb der Dimension Schwarz-Weiß darstellt. (Wagner, 1967: 18)
Wagner, der die Gegensätze hier als Eigenschaften bzw. Bestimmtheiten versteht,48 übersetzt diesen Abschnitt jedoch nicht wörtlich, da er in seiner Übersetzung „denn wie wäre es denkbar, daß ein Gebildetes weiß würde, [...]" den Ausdruck ,,έκ" (188a35) unberücksichtigt läßt. Nimmt man das ,,έκ" jedoch ernst, so wird deutlich, daß man nicht sagen kann „aus einem Gebildeten wird weiß", denn dies würde ja bedeuten, daß aus einem Ding eine Eigenschaft würde; vielmehr muß man mit Hilfe des Ausdrucks „aus" entweder sagen „aus einem Gebildeten wird ein Weißes" oder aber „aus gebildet wird weiß". Irwin (1988: 70), der den Ausdruck ,,έκ" ebenfalls nicht berücksichtigt, übersetzt wie folgt: „The white thing became musical." In einer Fußnote merkt er an, daß die konträren Gegensätze, zwischen denen das Werden hier statthat, entweder durch die neutrale Form eines Adjektivs (τό μουσικόν, 188a36) oder durch abstrakte Nomen (άναρμοστία, 188b 14) repräsentiert werden. Seiner Ansicht zufolge behandelt Aristoteles die Gegensätze hier als Eigenschaften, welches er mit dem Hinweis auf ein bei Charlton zu findendes Argument begründet: The contraries involved in becoming and perishing are referred to both by neuter adjectives (to mousikon etc., 188a36) and by abstract nouns (anharmostia, 188b 14). Charlton reasonably remarks, [1970], 68, that Aristotle treats the contraries as properties, not things. However, he also seems to refer to the compound of a subject with a contrary; this is the hermosmenon in 188bl2. (Irwin, 1988: 510, Fn.63)
Hierzu ist jedoch zu sagen, daß Irwin mit seinem Rückgriff auf ein bei Charlton zu findendes Argument fiir die These, daß Aristoteles mit den Gegensätzen Eigenschaften gemeint habe, einem Druckfehler aufgesessen ist. Denn Charlton (1970: 67) weist in bezug auf Kapitel 1.5 zunächst nur daraufhin, daß der Ausdruck ,,τό λευκόν" sowohl das Weiße als auch die Weiße (weiß) meinen kann: Second, it is unclear whether the opposites are entities the correct expressions for which would be abstract, like 'pallor', 'knowledge of music', or concrete, like 'pale thing', 'thing which knows music'. Aristotle uses the neuter adjective with the definite article, which may be taken either way. We shall have to settle this point too when we come to chapter 7. (Charlton, 1970: 67)
In Kapitel 1.7 will Charlton dann jedoch ,,τό λευκόν" ausdrücklich im konkreten Sinne als 'das Weiße' verstanden wissen: Nevertheless, translators and commentators seem agreed that the factors distinguished when a man learns music are not the man, ignorance of music, and knowledge of music, but the man, the thing which is ignorant of music, and a thing which knows music. (Charlton, 1970: 70)
48
Vgl. auch seinen Kommentar (1967: 417), wo Wagner von „Bestimmtheiten" (weiß, gebildet) und einem „Bestimmtheitswechsel" spricht.
D i e Untersuchung der Gegensätzlichkeit έ π ί τοΰ λ ό γ ο υ
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Zwar spricht Charlton in der Tat an der von Irwin angegeben Stelle auf Seite 68 davon, daß die Gegensätze von Aristoteles als Eigenschaften behandelt werden: [ . . . ] First, if the opposed principles are taken as properties, like density and rarity, or love and strive (poetic names for combination and dissolution) they cannot act on o n e another, but there must be some third thing on which they act (188b22-6). Aristotle is unquestionably treating the opposites as properties, not things, here, [ . . . ] . (Charlton, 1970: 6 8 )
Doch sagt Charlton dies im Kontext von Kapitel 1.6. Die angegebene Textstelle, auf die sich das „here" bezieht, lautet zwar „188b22-6" und wäre somit in Kapitel 1.5 zu finden, doch aus dem Kontext heraus wird offensichtlich, daß dies ein Druckfehler ist und dort statt „188b22-6" korrekterweise „189b22-6" stehen müßte. Meines Erachtens sind die Gegensätze ,,τό λευκόν - τό μ έ λ α ν " und ,,τό μουσικόν - τό άμουσον" in Kapitel 1.5 aus folgenden Gründen in einem dinglichen Sinne als „das Weiße - das Schwarze" und „das Gebildete - das Ungebildete" zu verstehen: (1) Zunächst ist zu bedenken, daß sich Aristoteles in Kapitel 1.5 immer noch in einer Auseinandersetzung mit den Vorgängern befindet, die die Gegensätze, die sie zu Prinzipien machen, in einem dinglichen Sinne aufgefaßt haben. 49 Ihrer Ontologie zufolge gibt es gerade nicht einerseits Substanzen und andererseits Eigenschaften an diesen Substanzen, sondern es gibt nur Dingliches, das sich in entweder einfaches Dingliches oder aber zusammengesetztes Dingliches gliedern läßt. Der Aufbau der in Kapitel 1.5 zugrunde gelegten Ontologie aus 'Einfachem' ( ά π λ α ) oder 'Zusammengesetztem' (σύνθετα) wird von Aristoteles aus Sicht seiner Vorgänger beschrieben und beruht anders als in Kapitel 1.7, wo ein begrifflich-logisches Kriterium der Einteilung von 'Einfachem' ( ά π λ α ) und 'Zusammengesetztem' (συγκείμενα) zugrunde liegt, auf einem materiellen Kriterium. (2) Der Satz 188a35-36 („denn wie sollte wohl aus einem μουσικόν ein λευκόν werden, wenn nicht das μουσικόν ein Akzidens für das μή λευκόν oder μ έ λ α ν wäre") deutet darauf hin, daß „ μ έ λ α ν " und ,,μή λ ε υ κ ό ν " als „ein Schwarzes" und „ein Nichtweißes" zu verstehen sind, da der Eigenschaft 'schwarz' (Schwärze) oder 'nichtweiß' (Nichtweiße) j a nicht noch ein weiteres Akzidens (μουσικόν) zukommen kann; 50 vielmehr kommt τό μουσικόν einem Schwarzen oder einem Nichtweißen als Akzidens zu. (3) Den Satz 188a36-37 ( „ ά λ λ α λευκόν μέν γ ί γ ν ε τ α ι έξ ού λευκοΰ") verstehe ich in 49
Vgl. Graeser (1989: 18), der in bezug auf Anaximanders Fragment DK 12A9 sagt: „[...] daß die hier genannten Gegensätze in der frühen griechischen Philosophie eben nicht in unserem Sinne als Eigenschaften angesehen wurden. Sie galten vielmehr als Dinge, die sozusagen agieren und deshalb bisweilen auch Kräfte (dynameis) heißen." Vgl. auch Solmsen (1960: 82): „What mainly separates him [Aristoteles] from his precursors is that his contraries have no materiality, no independent existence, and no independent power; in fact, they are no longer »powers.«" Vgl. auch Williams (1985: 69): „The 'unnaturalness' of saying that the musical is white may be expressed in metaphysical terms by saying that a quality like whiteness can inhere only in a substance like man, not in another quality like musicality; [...]. The claim that accidents cannot inhere in other accidents says in the material mode what is said in the formal mode by the claim that predicates cannot attach directly to other predicates but only to names." Vgl. auch An. post. 1.22, 83a4-18 und Met. IV.4, 1007a33 ff.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
dem Sinne, daß ein Weißes aus einem Nichtweißen wird. Die alternative Übersetzungsmöglichkeit „weiß (bzw. Weiße) wird aus nichtweiß (bzw. aus Nichtweiße)" erweist sich aus dem Grunde als problematisch, da die Eigenschaften Aristoteles zufolge selbst keiner Veränderung unterliegen. 5 ' Daß die Weiße aus der Schwärze wird bzw. zur Schwärze vergeht, ist nur in dem Sinne möglich, daß die Schwärze an etwas durch die Weiße abgelöst wird. Dies bedeutet jedoch eher einen Wechsel der Eigenschaften als das Werden einer Eigenschaft aus einer anderen. Damit dieser Wechsel möglich ist, muß zudem ein Zugrundeliegendes (ύποκείμενον) vorausgesetzt werden, an dem die Eigenschaften wechseln. Von einem ύποκείμενον, das erst in Kapitel 1.6 thematisiert wird, ist in Kapitel 1.5 jedoch noch keine Rede. Aus diesem Grunde scheint mir auch der von Zekl vorgelegte Übersetzungsvorschlag „weiß wird etwas nur aus einem nicht-weißen Zustand" (1987: 27), der zwar das Problem erkennt, daß Eigenschaften nicht auseinander werden können und dies durch die Hinzufiigung des Wortes „etwas" zu vermeiden sucht, verfehlt zu sein, da von einem „etwas" - d.h. von einem „τι" als ύποκείμενον - im Text selbst noch keine Rede ist. (4) Versteht man - wie Happ dies tut - die Differenzierung zwischen den ά π λ α δντα und den σύνθετα δντα in dem Sinne, daß mit ersteren die Eigenschaften und mit letzteren die Substanzen gemeint sind, so daß bei den ά π λ α δντα von einer Eigenschaftsveränderung, bei den σύνθετα δντα aber von Entstehen und Vergehen die Rede ist,52 so ergeben sich folgende Schwierigkeiten: Aristoteles spricht sowohl in bezug auf die σύνθετα wie auch in bezug auf die ά π λ α δντα von einem 'Werden aus' und 'Vergehen zu'. Auch wenn Aristoteles selbst das Werden eines Weißen aus einem Schwarzen als Eigenschaftsveränderung und das Werden eines Hauses als substantielles Werden versteht, so ist hier von einer Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) als Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) jedoch noch keine Rede. Zudem stellt sich angesichts der von Happ vorgeschlagenen Interpretation die Frage, worin nun der Grund zu sehen ist, daß die Eigenschaften als 'einfach' (άπλα), die Substanzen jedoch als 'zusammengesetzt' (σύνθετα) bezeichnet werden? Sind die Substanzen nicht ebenso einfach wie die Eigenschaften, so daß diesem Ansatz zufolge eigentlich sowohl die Eigenschaften wie die Substanzen zu den einfachen Seienden zählen müßten, aus deren Zusammensetzung sich erst so etwas wie ein zusammengesetztes Seiendes (z.B. 'weißes Haus') ergibt? Hiervon ist in unserem Zusammenhang jedoch keine Rede. Nicht erst das weiße Haus, sondern das Haus wird in 188b 10-21 bereits als ein σύνθετον und als eine 51
Vgl. Met. VIII.5, 1044b21 f.; XII. 1, 1069b3; Phys. V . l , 2 2 4 b l 0 - 2 2 und 1.9, 192a22-25. Die Einsicht, daß die Eigenschaften selbst keiner Veränderung unterliegen, ist als ein Erbe Piatons anzusehen, der im Phaidon (70d-71d und 102d-103c) ausführlich darlegt, daß zwar ein Großes aus einem Kleinen, nicht jedoch die Größe aus der Kleinheit werden kann. Vgl. Happ (1971: 290 f.): „Dieses Korrigieren der Sprache von der 'Sache' aus zeigt sich sehr deutlich auch etwa phys. α 5, 188b8-l 1: Daß sich das Werde-Geschehen zwischen einander zugeordneten Gegensätzen abspiele, könne man bei 'einfachen' Dingen (d.h. de facto: bei akzidentellen Vorgängen) an der Sprache ablesen, welche den Obergang von μ έ λ α ς —> λευκός, α μ ο υ σ ο ς —> μ ο υ σ ι κ ό ς usw. deutlich benenne; dieselbe Gegensatz-Struktur liege aber auch beim 'Zusammengesetzten' (d.h. soviel wie: beim substantiellen Werden) vor, obwohl hier die Sprache das eine Gegensatz-Glied nicht ausdrücke (also eine 'Leerstelle' aufweist): [...]."
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ του λόγου
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σύνθεσις bezeichnet. (5) Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Kapitel 1.5 nicht von seinen vorangegangenen und nachfolgenden Kapiteln isoliert gelesen werden darf. In Kapitel 1.4 aber wird ,,τό λευκόν" eindeutig in einem dinglichen Sinne als 'das Weiße' verstanden (vgl. 187M-7, wo „λευκόν" neben „σάρκα" (Fleisch) und ,,όστοΰν" (Knochen) als „πράγμα" (Ding) angeführt wird; vgl. auch „λευκόν τι" in 188a6).53 (6) Aristoteles spricht in seinen Prämissen neben dem 'Werden aus' auch von einem 'Wirken' (ποιεΐν) und Leiden (πάσχειν) der seienden Dinge, welches ebenfalls darauf hindeutet, daß die άπλά δντα als Dinge - und nicht als Eigenschaften - aufzufassen sind, da von Eigenschaften wohl weniger ein Wirken oder Leiden ausgesagt werden kann.54 Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun folgendes Bild: Nachdem die Werdeprozesse κατά συμβεβηκός eingeklammert worden sind, da sie aufgrund ihrer Beliebigkeit ein wissenschaftliches Erkennen nicht zulassen, soll im folgenden von den nicht-akzidentellen und 'eigentlichen' bzw. 'naturgemäßen' (vgl. dazu den in den Prämissen hinzugefugten Ausdruck ,,πέφυκεν") Werdeprozessen gesprochen werden. Bei diesen gilt zunächst, daß etwas! aus etwas2 wird, wobei das 'etwas 2 ' vom 'etwasi' verschieden ist: Ein Weißes wird zunächst einmal aus einem Nichtweißen. Dies leuchtet insofern ein, als ein Weißes, wenn es aus einem Weißen würde, eigentlich nicht würde, da es j a schon wäre.55 Die Formel >Tx wird aus nicht-*" stellt die allgemeinste sprachliche Formel für die Beschreibung eines Werdeprozesses dar. Nun reicht diese Bestimmung jedoch nicht aus, um die Möglichkeit des Werdens von Beliebigem aus Beliebigem auszuschließen, da ja auch „das Gebildete" unter den kontradiktorischen Gegensatz des „Nichtweißen" fallen kann. Aus diesem Grunde fährt Aristoteles wie folgt fort: „Aber nicht aus jedem Nichtweißen, sondern aus einem Schwarzen oder Mittleren." Hier wird nun der kontradiktorische Gegensatz „Nichtweißes" durch einen konträren Gegensatz „Schwarzes" oder „Mittleres" ersetzt, der die Möglichkeit des Werdens von einem Beliebigen aus einem Beliebigen ausschließt und das Werden als Werden von etwas aus einem Bestimmten konstituiert. Dieses Bestimmte wird jedoch nicht auf ein einziges Ding begrenzt, da auch die Mittleren
54
55
Analog dazu werden wir auch in Kapitel 1.7 sehen, daß dort mit den Beispielen ,,τό μουσικόν" und ,,τό μή μουσικόν" nicht die Bildung oder Nichtbildung, sondern das Gebildete und Nichtgebildete gemeint sind. Die Eigenschaften sind selbst nicht das Erleidende, sondern vielmehr dasjenige, was ein Seiendes 'erleidet'. Zwar spricht Aristoteles in Kapitel 1.6 von einem „Wirken" (ποιεΐν) der Gegensätze „Dichte und Dünne" bzw. „Streit und Liebe", doch wurde bereits daraufhingewiesen, daß diese durch abstrakte Termini bezeichneten 'Kräfte' der Vorgänger eine offenkundig dingliche Funktion haben. Aristoteles bezeichnet die Gegensätze dort mit Hilfe von abstrakten Termini, weil er ihren (von den Vorgängern übersehenen) eigenschaftlichen Charakter hervorheben will, dem zufolge notwendig ein ϋποκείμενον für diese zugrunde gelegt werden muß. Vgl. dazu die gegen die Möglichkeit des Werdens aus einem Seienden gerichtete Argumentation der Eleaten in Phys. 1.8, 191 a2-31. Zugleich ist mit dem Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen ein Gegensatz zur Theorie von Anaxagoras ausgedrückt, der zufolge ein Weißes ja genaugenommen nicht aus einem Schwarzen wird, sondern sich aus einem Schwarzen bloß aussondert, so daß hier von einem Werden im Sinne eines Entstehens eigentlich keine Rede sein kann, da es vor der Aussonderung bereits ist.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
zwischen den konträren Gegensatzgliedern in Betracht gezogen werden.56 In Analogie zum Weißen und Schwarzen wird auch ein Gebildetes zunächst aus einem Nichtgebildeten, jedoch nicht aus jedem Nichtgebildeten, sondern nur aus dem Ungebildeten oder Mittleren, wenn es dies gibt." Umgekehrt ergibt sich, daß ein Gebildetes auch nicht zu einem Beliebigen, sondern zu einem Nichtgebildeten vergeht, und zwar genauer zu einem Ungebildeten oder Mittleren, wenn es dies gibt. Analog dazu vergeht ein Weißes auch nicht zu einem Beliebigen, sondern zu einem Nichtweißen, und zwar genauer zu einem Schwarzen oder Mittleren. Es ergeben sich somit folgende Beschreibungen des Werdens: (1) (2) (Γ) (21)
Ein Weißes wird aus einem Nichtweißen (Schwarzes oder Mittleres). Ein Gebildetes wird aus einem Nichtgebildeten (Ungebildetes oder Mittleres). Ein Weißes vergeht zu einem Nichtweißen (Schwarzes oder Mittleres). Ein Gebildetes vergeht zu einem Nichtgebildeten (Ungebildetes oder Mittleres).
Zwar beschreiben die Sätze (1) und (Γ) - analoges gilt für (2) und (2') - einander entgegengesetzt verlaufende Prozesse - einmal wird ein Weißes aus einem Schwarzen, ein andermal vergeht ein Weißes zu einem Schwarzen -, gleichwohl aber scheint sich in diesen Sätzen bereits eine prinzipielle Umkehrbarkeit der Prozesse in dem Sinne anzudeuten, daß ein und derselbe Prozeß auch auf verschiedene Weise beschrieben werden kann. Führt man die hier von Aristoteles angeführten Überlegungen weiter aus, so läßt sich z.B. sowohl sagen (a) „ein Weißes wird aus einem Schwarzen" wie auch (b) „ein Schwarzes vergeht zu einem Weißen". Die Sätze (a) und (b) beschreiben zwar denselben Prozeß, doch Als Mittleres zwischen einem Weißen und einem Schwarzen betrachtet Aristoteles nicht nur das Graue, sondern jedes Farbige, da sich jedes Farbige Aristoteles zufolge aus dem Weißen (Hellen) und Schwarzen (Dunklen) zusammensetzt (vgl. dazu Charlton, 1970: 45, Owen, 1965 und Bostock, 1982: 190). Bostock (1982: 190) hat an diesen Beispielen eine zweifache Kritik zum Ausdruck gebracht: Einerseits kann ein weißes Ding auch aus einem farblosen Zustand - und somit weder aus dem konträren Gegensatz noch aus einem Mittleren - entstehen (vgl. auch Bolton, 1991: 25 f., der darauf hinweist, daß einer atomistischen Theorie zufolge, das Weiße erst durch die Zusammensetzung von Atomen entsteht, die für sich farblos sind). Andererseits stellt Bostock die Frage, ob es richtig ist, von einem Menschen, der z.B. durch einen Himschaden all seine Gedankenkraft verliert, zu sagen, er wäre ungebildet oder etwas Mittleres zwischen gebildet und ungebildet geworden. Zugunsten von Aristoteles sei jedoch daraufhingewiesen, daß er hier noch nicht seine eigene Theorie darlegt, sondern vielmehr versucht, eine Begründung für die bei den Vorgängern zu findende Setzung der Gegensätze als Prinzipien zu geben. Nicht umsonst bringt die Konklusion „wenn dies alles wahr ist, dann würde ... und verginge . . . " (188b21-23) eine gewisse Distanz von Aristoteles zu der dargelegten Argumentation zum Ausdruck. Zudem fällt auf, daß sich die angeführten Gegenbeispiele als recht ungewöhnlich erweisen. Der dargelegten Beschreibung des Werdens zufolge bezeichnen sie weniger regelhafte Prozesse als vielmehr Ausnahmen, die - analog zum Werden eines Weißen aus einem Gebildeten - eher in den Bereich des „akzidentellen Werdens" fallen. Dies wird vor allem hinsichtlich des Beispiels von dem durch einen Hirnschaden betroffenen Menschen deutlich, das Aristoteles selbst wohl als ein Werden gegen die Natur (παρά φ ΰ σ ι ν ) verstehen würde. Das Entstehen eines Weißen aus einem Farblosen beschreibt hingegen einen Gattungswechsel, über den Aristoteles an anderer Stelle (vgl. Met. X.7, 1057a24-28) sagt, daß dieser nur in einem akzidentellen Sinne möglich sei: „[...], und wenn man in den Farben vom Weißen zum Schwarzen gelangen will, so muß man früher zum Roten und zum Grauen kommen als zum Schwarzen, und in gleicher Weise verhält es sich bei allem anderen. Ein Übergang aber aus einer Gattung in eine andere, z.B. aus Farbe in Figur, ist nicht möglich, außer im akzidentellen Sinne." (Übers, nach Bonitz).
D i e Untersuchung der Gegensätzlichkeit έ π ί τ ο ΰ λ ό γ ο υ
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tun sie dies von einem unterschiedlichen Standpunkt der Betrachtung aus.58 Ein Weißes, das aus einem Schwarzen wird, läßt auf ein Schwarzes schließen, das zu einem Weißen vergeht und umgekehrt. Dies deutet auf einen Kreislauf des Werdens hin, bei dem das Entstehen des einen als Vergehen eines anderen zu verstehen ist.
5.4.3.2 Exkurs: Die zugrundeliegende Ontologie von 'einfachen' (άπλα) und 'zusammengesetzten' (σύνθετα) Seienden: Eine materielle Diairesis Obgleich das Verhältnis des Werdens in bezug auf die άπλα und σύνθετα οντα als ein analoges aufgefaßt werden soll, wird bei näherem Hinsehen doch folgende Differenz deutlich. Stellt der konträre Gegensatz zu einem einfachen Seienden (zu einem Weißen) gleichfalls ein einfaches Seiendes (ein Schwarzes) dar, so scheint der Gegensatz zu einem zusammengesetzten Seienden bzw. zu einer Zusammensetzung (σύνθεσις) (zu einem Haus) selbst jedoch kein zusammengesetztes Seiendes bzw. keine Zusammensetzung zu sein; vielmehr haben wir es hier mit dem Zustand des 'Nichtzusammengesetztseins von diesem und jenem' zu tun. Fragt man nach dem Grund dafür, warum das eine (ein Weißes) als ein 'einfaches' und das andere (ein Haus) als ein 'zusammengesetztes' Seiendes bezeichnet wird, so ist zu beachten, daß das Zusammengesetztsein sowohl eines Hauses wie auch einer Statue hier noch nicht in einem logisch-kategorialen, sondern zunächst in einem materiellen Sinne zu verstehen ist. Unter einer „logischkategorialen Zusammensetzung" verstehe ich eine Zusammensetzung aus den Kategorien 'Substanz und Akzidens'. Von einer derartigen Zusammensetzung ist in Kapitel 1.5 noch keine Rede. Das Haus, das in Kapitel 1.5 als eine σύνθεσις bezeichnet wird, steht in einem Gegensatz zum „Nichtzusammengesetztsein von diesem und jenem" (vgl. ,,μή συγκεΐσθαι ά λ λ α διηρήσθαι ταδί ώδί"), wobei mit dem ,,ταδϊ ώδί" offenkundig auf materielle Bestandteile wie z.B. Steine und Ziegel referiert wird.59 Die hier für die σύνθετα δντα angeführten Beispiele eines Hauses und einer Statue zeichnen sich zudem dadurch aus, daß die materiellen Teile, aus denen sie zusammengesetzt sind, selbst nicht von der Art des Zusammengesetzten sind, denn die materiellen Teile eines Hauses stellen selbst ja keine Häuser dar. Mit anderen Worten: Das Zusammengesetzte ist gerade durch die Zusammensetzung der Art nach von demjenigen verschieden, aus dem es zusammengesetzt ist. Demgegenüber kann zwar auch ein einfaches Seiendes, wie z.B. ein Weißes, als materiell zusammengesetzt betrachtet werden, jedoch be-
59
Gill (1989: 90 f.) weist in bezug auf die in Kapitel 1.5 dargelegten Werdeprozesse daraufhin, daß sie typischerweise reversibel sind. Vgl. auch Craemer-Ruegenberg (1980: 79): „Prozesse wiederum sind genau dann entgegengesetzt, wenn sie zwischen denselben (kontraren) Extremen ablaufen, aber in umgekehrter Richtung. [...] Das Krankwerden ist vielmehr dem Gesundwerden entgegengesetzt, das Heißwerden dem Kaltwerden, das Sich-Ausdehnen dem Schrumpfen, das Weißwerden dem Schwarzwerden und so weiter." Vgl. auch Zekl (1987: 27) und Wagner (1967: 19).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
steht das Weiße im Unterschied zum Haus aus materiellen Teilen, die selbst jeweils Weißes sind. Das Weiße ist vermutlich insofern als ein einfaches Seiendes zu betrachten, als zu seiner Konstitution nicht erst verschiedenes Seiendes in einer bestimmten Anordnung zusammengesetzt werden muß (analoges gilt für das Schwarze). In diesem Sinne erfüllen die ά π λ α δντα das Kriterium der 'Gleichteiligen' (όμοιομερή), wobei jedoch daraufhinzuweisen ist, daß sicherlich nicht nur die sogenannten όμοιομερή zu den ά π λ α δντα zählen, da es sich ja als problematisch erweist, inwiefern ein Gebildetes, das hier auch zu den ά π λ α δντα gezählt wird, aus materiellen Teilen bestehen soll, die selbst Gebildetes sind. In Phys. III.5, 204b 10 ff. führt Aristoteles aus, daß ein Körper (σώμα) entweder einfach (άπλοΰν) oder zusammengesetzt (σύνθετον) sein kann. „Zusammengesetzt" meint dabei „aus στοιχεία zusammengesetzt" (vgl. 204bll-13), wobei die στοιχεία als 'einfache Körper' verstanden werden (vgl. b22-24), die in einem Verhältnis der Gegensätzlichkeit zueinander stehen (b26-27). So ist die Luft als kalt, das Wasser als feucht und das Feuer als warm bestimmt. Legt man diese Überlegungen hier zugrunde, so wären die ά π λ α δντα in Kapitel 1.5 als die στοιχεία und die σύνθετα δντα als die aus den στοιχεία zusammengesetzten Dinge zu verstehen, wobei wir es in beiden Fällen mit Dingen im Sinne von Körpern zu tun hätten, die sich primär durch ihre Materialität auszeichnen. Derartige Dinge wie z.B. Häuser und Statuen erscheinen uns zunächst als aus diesem und jenem zusammengesetzte Körper. Die Eigenheit des Zusammengesetztseins ist bei den technischen Dingen deshalb deutlicher als bei den natürlichen Dingen, da wir bei den technischen Dingen die Zusammensetzung selbst vornehmen. Dies mag ein Grund dafür sein, warum Aristoteles mit Haus und Statue gerade technische Beispiele wählt. Doch auch etwas Natürliches, wie z.B. ein Mensch, wäre in bezug auf die in Kapitel 1.5 vorgenommene Einteilung wohl zu den σύνθετα δντα zu zählen. Demgegenüber stellt z.B. ein Weißes einen eher einheitlichen Körper dar. Daß die Einteilung der δντα in einfache (άπλά) und zusammengesetzte (σύνθετα) in Kapitel 1.5 auf der Grundlage des Kriteriums der materiellen Beschaffenheit von Körpern durchgeführt wird, zeigt sich auch aus einem Vergleich mit einer analogen Einteilung, der wir in Kapitel 1.7, 189b30-190al3 begegnen werden, wo das Kriterium der Einteilung in 'Einfache' und 'Zusammengesetzte' - wie die dort angeführten Beispiele deutlich machen - ein logisch-kategoriales ist. Abb. 5.2: Die Einteilung der δντα bzw.
άπλά Weißes Schwarzes Gebildetes Ungebildetes
γιγνόμενα
1.7
I. 5 (materiell) οντα
(logisch-kategorial) γιγνόμενα
σύνθετα Haus Statue
άπλά Mensch Gebildetes Nichtgebildetes
συγκείμενα gebildeter Mensch nichtgebildeter Mensch
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έ π ϊ τ ο υ λ ό γ ο υ
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Obgleich beide Einteilungen auf dasselbe bezogen sind - denn die δντα in Kapitel 1.5 sind ja, wie die Konklusion in 188b21-26 deutlich macht, ebenfalls als γιγνόμενα zu verstehen -, und obgleich in beiden Einteilungen analoge Kriterien der Einteilung verwendet werden (άπλα - σύνθετα; άπλα - συγκείμενα), unterscheiden sie sich doch in wesentlichen Punkten voneinander. Da der Mensch in Kapitel 1.7 zu den Einfachen zählt, ist davon auszugehen, daß dort wohl auch solche Dinge wie Haus und Statue zu den Einfachen zählen würden, während sie in Kapitel 1.5 zu den Zusammengesetzten zählen. Ist mit den „συγκείμενα" in Kapitel 1.7 eine logisch-kategoriale Zusammensetzung von verschiedenen Gattungen der δντα gemeint - so stellt der „gebildete Mensch" z.B. eine Zusammensetzung eines 'ποιόν' und einer 'ουσία' dar -, so ist mit den „άπλα" dort die jeweilige Gattung als begrifflich alleinstehend bzw. als ein kategorial Einfaches gemeint, sei dies ein Mensch (ουσία) oder ein Gebildetes (ποιόν). Das Kriterium, das dieser Einteilung zugrunde liegt, ist ein logischkategoriales. Demgegenüber ist das zusammengesetzte Seiende in Kapitel 1.5 nicht ein aus verschiedenen Gattungen der δντα zusammengesetztes Seiendes (weißes Haus), sondern vielmehr ein materiell zusammengesetztes Seiendes (Haus) aus den materiell einfachen Teilen (Steine und Ziegel), das gegenüber seinen Teilen der Art nach verschieden ist. In Analogie zu den zusammengesetzten Seienden, die hier als materiell zusammengesetzte Seiende zu verstehen sind, sind hier auch die einfachen Seienden als materiell einfache Seiende zu verstehen.60 Wird in Kapitel 1.5 gesagt, daß Jedes Werdende gegensätzlich oder aus Gegensätzen ist" (188b25-26), so heißt es in Kapitel 1.7, „daß jedes Werdende [τό γιγνόμενον απαν] immer ein Zusammengesetztes [σύνθετον] ist" (190b 11). Wenn aber jedes Werdende ein σύνθετον ist, kann es genaugenommen keine einfachen (άπλα) Werdenden geben. Der Unterschied zwischen den in den Kapiteln 1.5 und 1.7 vorgenommenen Einteilungen ist primär darin zu sehen, daß der Einteilung in Kapitel 1.5 noch ein materielles Einteilungskriterium zugrunde liegt, während der Einteilung in Kapitel 1.7 ein logisch-kategoriales Einteilungskriterium zugrunde liegt. Daß Aristoteles die in Kapitel 1.5 vorgelegte Einteilung der δντα mit Hilfe eines materiellen Einteilungskriteriums vornimmt, dem er dann in Kapitel 1.7 ein logisch-kategoriales Einteilungskriterium gegenüberstellt, findet seinen Grund vermutlich darin, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch vom Standpunkt der Vorgänger aus argumentiert, deren Ontologie zufolge es primär materiell einfache und materiell komplexe Dinge gibt, und denen die Differenz von Ding und Eigenschaft noch unbekannt war. An welche Vorgänger hier jedoch im einzelnen zu denken ist, läßt sich nicht mit Bestimmtheit Es sei allerdings daraufhingewiesen, daß man bei einer genaueren Untersuchung der in Kapitel 1.5 dargelegten Ontologie der ά π λ ά und σύνθετα οντα alsbald auf Schwierigkeiten stößt. So stellt sich z.B. die Frage, ob Steine der in Kapitel 1.5 zugrunde gelegten Ontologie zufolge eher zu den Einfachen oder zu den Zusammengesetzten zu zählen sind. Als dasjenige, aus dem ein Haus zusammengesetzt ist, würde man einen Stein zunächst zwar wohl eher zu den einfachen Seienden zählen, doch stellt sich dann in Analogie zum Weißen und Gebildeten die Frage nach seinem konträren Gegensatz. Wenn er aber ein Zusammengesetztes darstellt, so würde sich die Frage stellen, was ftlr eine Art von Zusammensetzung (σόνθεσις), Ordnung (τάξις) oder WohlgefÜgtheit (αρμονία) ein einzelner Stein darstellen soll.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
sagen, da Aristoteles weder Namen noch spezifische Lehren nennt. Er scheint eher an die Vorgänger im allgemeinen zu denken, als daß er sich auf bestimmte Vorgänger bezieht. 61
5.4.3.3 Die 'zusammengesetzten Seienden' (τά σύνθετα των όντων: 188b8-21) In gleicher Weise aber gilt dies auch bezüglich der anderen, da auch die NichtEinfachen, sondern Zusammengesetzten unter den Seienden im selben Verhältnis stehen. Jedoch bleibt verborgen, daß dies geschieht, weil die entgegengesetzten Zustände [τάς άντικειμένας διαθέσεις] keinen Namen haben. Denn notwendig wird alles Wohlgefügte [πάν τό ήρμοσμένον] aus Ungefügtem [έξ άναρμόστου] und das Ungefiigte aus Wohlgefiigtem; und das Wohlgefugte vergeht zur Ungefilgtheit, und diese ist nicht eine beliebige, sondern die entgegengesetzte [άντικειμένην], Und es macht hier keinen Unterschied, ob man von »Wohlgefügtheit« [άρμονίας], »Ordnung« [τάξεως] oder »Zusammensetzung« [συνθέσεως] redet. Denn offenkundig ist, daß es dasselbe Verhältnis [ό αυτός λόγος] ist. Aber auch ein Haus und eine Statue und beliebig anderes derart entsteht auf die gleiche Weise. Denn ein Haus entsteht aus dem Nichtzusammengesetztsein [έκ του μή συγκεΐσθαι], sondern vielmehr Getrenntsein [δνηρήσθαι] von diesem und jenem, und die Statue, und [überhaupt] etwas von den geformten Dingen [των έσχηματισμένων τι] aus der Ungestaltetheit [έξ άσχημοσΰνης]. Und ein jedes von diesen ist entweder eine bestimmte Ordnung [τάξις] oder eine bestimmte Zusammensetzung [σΰνθεσίς τις έστιν], (1.5, 188b821)
Ausgehend vom Verhältnis des Werdens bei den einfachen Dingen, das sich durch eine konträre Gegensätzlichkeit auszeichnet, soll dieses Verhältnis analog (vgl. „κατά τον αύτόν εχει λόγον": 188b 10) auch auf die zusammengesetzten Dinge übertragen werden, um so eine Vollständigkeit der dargelegten Struktur des Werdens bei jedem Seienden zu erhalten. War die konträre Gegensätzlichkeit bei den einfachen Dingen offenkundig, so scheint sie jedoch bei den zusammengesetzten Dingen eher verborgen zu sein, „weil die entgegengesetzten Zustände [τάς άντικειμένας διαθέσεις] [bei den zusammengesetzten Seienden] keinen Namen haben" (188b 10-11). Gibt es bei den einfachen Dingen Namen für das konträr Entgegengesetzte, aus dem etwas wird oder zu dem etwas vergeht, so fehlen diese Namen bei den zusammengesetzten Dingen für die entgegengesetzten Zustände. So gibt es z.B. keinen Namen fiir den Zustand der
Einiges des in Kapitel 1.5 Gesagten erinnert allerdings an Ausführungen über das Werden, wie wir sie in den Fragmenten des Empedokles finden. So gibt es der Theorie von Empedokles zufolge, wie Aristoteles sie versteht, eigentlich nur Vergehen und Entstehen, nicht jedoch Eigenschaftsveränderungen (vgl. De gen. et corr. 1.1; Met. 1.8, 989a20-30). Zugleich deutet er das Entstehen des einen als das Vergehen eines anderen. Dies entspricht der Tatsache, daß in Kapitel I. 5 nur vom „γίγνεσθαι έκ" und ,,φθείρεσθαι εις" die Rede ist, wobei das Werden eines Weißen aus einem Schwarzen auch als Vergehen eines Schwarzen zu einem Weißen verstanden werden kann. Empedokles wird von Aristoteles an anderen Stellen auch mehrfach zugeschrieben, daß er „keinen λόγος gegeben habe" (vgl. Phys. VIII. 1, 252a20; a7; Met. 1.4, 985a2-10; 1000a25), was an das „άνευ λόγου τιθέντες" in 1.5, 188b29 erinnert.
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπΐ του λόγου
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Nichtzusammensetzung der Steine, der dem Haus als Zustand des Zusammengesetztseins der Steine entgegengesetzt ist.62 In bezug auf die Beschreibung des Werdens der σύνθετα δντα fällt jedoch zweierlei auf: Obgleich das bei den ά π λ α δντα vorgefundene Verhältnis des Werdens aus einem konträren Gegensatz analog auch auf die σύνθετα δντα übertragen werden soll, spricht Aristoteles hier nicht mehr im engeren Sinne von „konträren Gegensätzen" (έναντία), sondern vielmehr in einem weiteren Sinne von den „Gegenüberliegenden" (αντικείμενα: 188bll, 15),63 bezüglich derer auch von einem 'Mittleren' keine Rede mehr ist. Zudem werden die zusammengesetzten Dinge sowohl als „Zusammengesetztes" (σύνθετα: 188b 10) als auch als „Zusammensetzung" (σύνθεσις: b21), „Zustand" (διαθέσις: bl 1) und „Ordnung" (τάξις: b20) bezeichnet. 64 Der Grund für die Ersetzung des Ausdrucks ,,έναντίον" durch den Ausdruck ,,άντικείμενον" ist wohl darin zu sehen, daß für solche Dinge wie z.B. Häuser und Statuen als ούσίαι kein konträrer Gegensatz existiert. 65 Andererseits soll jedoch ein Haus nicht bloß aus dem kontradiktorischen Gegensatz „Nicht-Haus" werden, da mit dem kontradiktorischen Gegensatz nur eine beliebige (vgl. ,,τυχοΰσαν": 188b 14) Ungefiigtheit gegeben wäre, so daß dann doch wieder Beliebiges aus Beliebigem würde, was es gerade zu vermeiden gilt. Die „gegenüberliegende Ungefiigtheit" (vgl. „την άντικειμένην [άναρμοστίαν]": 188b 14-15) stellt nun einen Gegensatz dar, der enger als ein kontradiktorischer (άντίφασις) und weiter als ein konträrer (έναντία) Gegensatz ist. Erst wenn das Haus als ein bestimmter Zustand (διαθέσις) bzw. als eine bestimmte Zusammensetzung (σύνθεσις) oder Ordnung (τάξις) betrachtet wird, kann es insofern in einem Gegensatzverhältnis zu anderem stehen, als der Zustand (διαθέσις), der als „Zustand von etwas" zu den Relativa zu zählen ist, einen entgegengesetzten Zustand haben kann. Nun deutet aber gerade die Betrachtung der zusammengesetzten Dinge als Zustände und Zusammensetzungen daraufhin, daß Aristoteles hier die Lehren seiner Vorgänger, allen voran die Lehren der Naturphilosophen, im Sinn hat, sagt er von diesen doch in Phys. II.l, 193 a21-28, daß sie alles andere neben dem zugrundeliegenden Stoff, was durch die Verdichtung oder Verdünnung ihres ύποκείμενον entsteht, als Affektionen (πάθη), Zustände (έξεις) und Anordnungen (διαθέσεις) desselben betrachten.
6 63
In bezug auf das Fehlen eines Namens beim Werden aus Gegensätzlichem vgl. auch Piaton, Phaidon 71 b (,,εί μή χρώμεθα τοις όνόμασιν έ νιαχοΰ"). Mit dem Ausdruck ,,άντικείμενον" ist bei Aristoteles für gewöhnlich eine Gegenüberstellung gemeint, die umfassender und weiter als ein konträrer Gegensatz (εναντίον) ist. So werden die vier Gegensatzarten (i) πρός τι, (ii) έναντία, (iii) στέρησις και εξις und (iv) κατάφασις και άπόφασις in Κat. 10 unter den Gattungsbegriff des 'Gegenüberstehens' (άντικεΐσθαι) zusammengefaßt (vgl. auch Met. V.10 und XI.I2, 1069a2-S). In Kapitel 1.7 (vgl. 190al8, a26 und b 13-17) werden wir ebenfalls einer Ersetzung des Ausdrucks ,,έναντίον" durch den Ausdruck ,,άντικείμενον" begegnen. Dieser Zustandscharakter des Zusammengesetzten wird auch durch verbale Formulierungen zum Ausdruck gebracht: „Ein Haus nämlich wird aus dem Nichtzusammengesetztsein, sondern Getrenntsein [έκ του μή συγκεϊσθαι ά λ λ α διηρήσθαι] von diesem und jenem." (188b 17-19). Vgl. Kai. 5, 3b24-32. Wir werden diesem Theorem auch in Phys. I. 6, 189 a32-34 begegnen.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Wird nun vom Haus als „Zusammensetzung von diesem und jenem" gesagt, daß es aus dem Nichtzusammengesetztsein und Getrenntsein von diesem und jenem wird, so ist der Gegensatz, der hier das Werden als ein bestimmtes Werden konstituiert, als Gegensatz zwischen einer 'Zusammensetzung (Ordnung) von etwas' und einer 'Nichtzusammensetzung (Unordnung) von etwas' zu verstehen. 66 In bezug auf die Betrachtung des Hauses als eine Zusammensetzung ( σ ύ ν θ ε σ ι ς ) gilt nun, daß das Haus in einem Gegensatz zu demjenigen steht, woraus es wird, nämlich in einem Gegensatz zum Zustand des Nichtzusammengesetztseins der Steine. In einem anderen Sinne wird ein Haus jedoch nicht nur aus dem Zustand des Nichtzusammengesetztseins der Steine, sondern es besteht und wird auch aus Steinen als aus seinen Bestandteilen, die keinen Gegensatz zum Haus darstellen. 67 Wird nun das Haus in Kapitel 1.5 als eine bestimmte Zusammensetzung ( σ ύ ν θ ε σ ί ς τις: 188b21) betrachtet, so findet demgegenüber in Kapitel 1.7 eine Veränderung statt. Dort wird das Haus nämlich primär nicht als eine Zusammensetzung (σύνθεσις), sondern vielmehr als ein Zusammengesetztes (σύνθετον) betrachtet, das durch eine σύνθεσις (190b8) entsteht. 68 Zwar gelingt es Aristoteles in Kapitel 1.5 durch die Betrachtung des Hauses als σ ύ ν θ ε σ ι ς auch beim Werden der ο ύ σ ί α ι eine Gegensätzlichkeit des Werdens herauszustellen, wodurch der Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Seienden in gewisser Hinsicht nivelliert wird, doch löst die Aussage, daß ein Haus als ein Wohlgefügtes 6 9 in ein bestimmtes Ungefugtes bzw. in eine bestimmte, gegenüberliegende Ungefiigtheit zerfallen soll, zunächst Verwunderung aus. Notwendigerweise wird nämlich alles Wohlgefügte aus Ungefügtem und Ungefügtes aus Wohlgefügtem. Und das Wohlgefügte vergeht in eine Ungefügtheit, und diese ist nicht eine beliebige, sondern die entgegengesetzte [ου την τοχοΰσαν άλλα τήν άντικειμένην], (1.5, 188b 12-15) Angenommen, ein Haus sei eine bestimmte Anordnung von Steinen, so wird man doch für gewöhnlich davon ausgehen, daß die Unordnung von Steinen, in die ein Haus zerfallen kann, um kein Haus mehr zu sein, beliebig ist. In diesem
67
Vgl. auch Met. V.19, 1022bl-3: „Anordnung oder Disposition nennt man die Ordnung eines Dinges, welches Teile hat, sei es dem Orte oder dem Vermögen oder der Art nach. Denn eine Ordnung muß sich darin finden, wie schon der Name Anordnung zeigt." (Übers, nach Bonitz). Diese Möglichkeit des Werdens eines Hauses aus Steinen wird hier jedoch nicht erwähnt, da man in bezug auf Haus und Steine nicht von einem Gegensatzverhältnis sprechen kann. In diesem Zusammenhang verwundert es auch nicht, daß in 188b 18-19 dasjenige, woraus ein Haus im materiellen Sinne besteht, in den Hintergrund tritt und nicht im konkreten Sinne als „Steine und Ziegel" genannt wird, sondern nur unbestimmt als „dieses und jenes" (vgl. ,,ταδΐ ώδί") Erwähnung findet. Die Möglichkeit, ein Haus entweder im aktiven Sinne als eine Zusammensetzung oder im passiven Sinne als ein Zusammengesetztes, das durch eine Zusammensetzung geworden ist, zu beschreiben, findet sich in ähnlicher Weise bei Piaton (vgl. Charlton, 1985: 132: „We can say that a house has a structure, and that it is one. Similarly Plato can call a harmonia indifferently a composition (synthesis, Phaidon 93 al) and a composite thing (syntheton pragma, 92 a8)." Nicht umsonst ist hier von einem „Wohlgefügten" (το ήρμοσμένον) die Rede, denn das Wohlgefllgte meint ja immer schon eine bestimmte Zusammensetzung.
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Sinne sagt Bostock (1982: 190), der hier einen Fehler von Aristoteles sieht, folgendes: But the error is clearer still a few lines later, when Aristotle considers the generation of a house or a statue: For with these examples in mind he says (188b 12-15) that everything that is organised (hermosmenon) must be destroyed by degenerating into disorganisation (eis anarmostian), and indeed into the opposite disorganisation. But there is no organisation of bricks which is opposite to their being organised into a house, and no shape of bronze which is opposite to the shape of a statue, because there is no linear ordering of organisations and shapes with that of a house or statue at one end and all others appropriately placed as nearer or further removed from it. Indeed if Aristotle had been thinking clearly he must have seen that this doctrine about opposites is in error, for it is actually incompatible with his own account in chapter 7. Bostock scheint in seiner Kritik jedoch zu übersehen, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch nicht in propria persona argumentiert. Geht man - wie ich es tue - davon aus, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch nicht seine eigene Theorie des Werdens darlegt, sondern vielmehr die Überlegungen der Vorgänger auf seine eigene Theorie hin entwickeln will, so liegt hier kein Widerspruch innerhalb der aristotelischen Theorie vor. Zudem ist der offenkundig widersinnige Gedanke einer bestimmten Unordnung im Kontext des Gesagten und vor dem Hintergrund des in Kapitel 1.5 dargelegten Modells des Werdens nicht nur konsequent, sondern nach Ansicht von Aristoteles auch notwendig (άνάγκη: 188b 12). Würde nämlich eine Ordnung in eine beliebige Unordnung zerfallen, so hätten wir es immer noch mit dem Vergehen eines Beliebigen zu einem Beliebigen zu tun, da die beliebige Unordnung nur den kontradiktorischen Gegensatz zu einer bestimmten Ordnung darstellt.70 Da jedoch auch bei den zusammengesetzten Seienden das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigem ausgeschlossen werden soll, muß der Gegensatz ein bestimmter sein.71 Da in Kapitel 1.5 nur von den Gegensätzen und noch nicht von einem Zugrundeliegenden (ΰποκενμενον) die Rede
70
So ist in 188bl2-15 auch nicht vom kontradiktorischen Gegensatz ,,μή ήρμοσμένον", sondern in einem engeren Sinne von ,,άνάρμοστον" bzw. von ,,άναρμοστία" die Rede. Anders als bei den einfachen Seienden scheinen bei den zusammengesetzten Seienden keine mittleren Zustände zwischen einer bestimmten Ordnung und einer bestimmten Unordnung zu existieren. Entweder ist etwas ein Haus, oder aber es ist kein Haus. Gleichwohl gibt es auf beiden Seiten des Gegensatzes viele verschiedene Möglichkeiten einerseits für die Realisierung dessen, was man ein Haus (Ordnung) nennt, und andererseits filr die Realisierung dessen, was man nicht ein Haus (Nichtordnung) nennt. Gerade bei den technischen Dingen, deren Wesen in einem entscheidenden Maße durch ihre Funktion bestimmt ist, kann nämlich insofern von einem „Mehr oder Weniger" gesprochen werden, als eine Funktion ja besser oder schlechter erfüllt werden kann. Aus diesem Grunde verwundert es auch nicht, daß Aristoteles hier mit 'Haus' und 'Statue' zunächst nur technische Beispiele wählt, da die Problematik dieses Werdemodells, die erst in den nachfolgenden Kapiteln explizit herausgestellt werden soll, bei den natürlichen Dingen bereits insofern offenkundiger wäre, als es bei einer natürlichen ούσία ja kein Mehr oder Weniger gibt. Sagt man in bezug auf technische Dinge, wie z.B. Häuser und Statuen, eher, daß man das eine mehr, das andere jedoch weniger als ein 'Haus' oder eine 'Statue' bezeichnen würde, so fällt es uns bei den natürlichen Dingen jedoch schwerer, den einen mehr und den anderen weniger als einen 'Menschen' zu bezeichnen. Dies tun wir nur dann, wenn wir auch das Menschsein als durch eine bestimmte Funktion charakterisiert betrachten.
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ist,72 das - wie wir sehen werden - ebenfalls für die Bestimmtheit eines Werdeprozesses mitverantwortlich sein kann, 73 können hier einzig die Gegensätze als bestimmte Gegensätze für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich sein. Aristoteles' eigener Lösungsvorschlag in Kapitel 1.7, dem zufolge ebenfalls das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen ausgeschlossen werden soll, wird meiner Interpretation zufolge nicht darin bestehen, daß der Gegensatz zu 'Haus' ein bestimmter Gegensatz ist, sondern vielmehr darin, daß die Steine und Ziegel als das Zugrundeliegende, aus dem das Haus wird, eine Bestimmtheit an sich haben. Da ein Haus nicht aus jedem Material gebaut werden kann, konstituiert auch die Bestimmtheit des Materials die Bestimmtheit des Werdens. Wenn man diesen Übergang von der Bestimmtheit der Gegensätze als Ursache der Bestimmtheit des Werdens in Kapitel 1.5 zur Bestimmtheit des Zugrundeliegenden als Mitursache der Bestimmtheit des Werdens in Kapitel 1.7 übersieht, wobei dieser Übergang erst durch die in Kapitel 1.6 dargelegte Einführung eines Zugrundeliegenden für die Gegensätzen möglich wird, gelangt man leicht zur falschen Ansicht, daß das in Kapitel 1.5 Dargelegte bereits die eigene aristotelische Theorie darstellt, mit der sich Aristoteles dann in einen offenkundigen Widerspruch zu dem in Kapitel 1.7 Gesagten begeben würde. Aristoteles setzt seine Überlegungen in Kapitel 1.5 nun wie folgt fort: Und es macht hier keinen Unterschied, ob man von »Wohlgefügtheit« [αρμονίας], »Ordnung« [τάξεως] oder »Zusammensetzung« [συνθέσεως] redet. Denn offenkundig ist, daß es dasselbe Verhältnis [ό αύτός λόγος] ist. (1.5, 188bl 5-16)
Mit dieser Bemerkung scheint Aristoteles nun einem möglichen Einwand zu begegnen, dem zufolge jemand darauf hinweisen könnte, daß die Art der Gefügtheit bei verschiedenen Dingen doch eine verschiedene sei, und daß folglich vielleicht nicht bei einer jeglichen Gefügtheit von einem 'Werden aus Gegensätzen' gesprochen werden kann. So entsteht ein Haus doch durch eine Zusammensetzung, während eine Statue eher durch eine Umformung entsteht. Die von Aristoteles angeführten Beispiele „Haus" und „Statue" stehen jeweils für verschiedene Arten der 'Gefügtheit'. Stellt das Haus eine bestimmte Zusammensetzung (σύνθεσις) dar, so steht die Statue für eine bestimmte Ordnung (τάξις). Bei beiden kann das Werden jedoch als „Werden aus einem Gegensätzlichen" beschrieben werden, so daß gilt: Auch wenn eine σύνθεσις von einer τάξις und αρμονία zu unterscheiden ist, so liegt doch in bezug auf eine jede dieser Arten das grundlegende gegensätzliche Verhältnis hinsichtlich des Werdens zugrunde, so daß sich die άρμονία, die τάξις und die σύνθεσις in bezug auf dieses Verhältnis nicht voneinander unterscheiden.
So werden hier auch die materiellen Bestandteile eines Hauses nicht einmal mit Namen benannt, sondern nur unspezifisch und allgemein als „dieses und jenes" bezeichnet. So kann eine Statue zwar aus verschiedenen, nicht jedoch aus beliebigen Materialien gefertigt werden.
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπί του λόγου
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5.4.4 Die Konklusion: Die Gegensätzlichkeit der φύσει γιγνόμενα (188b21-26) Wenn dies also alles wahr ist, dann würde jedes Werdende und verginge jedes Vergehende entweder aus Gegensätzen oder zu Gegensätzen und aus oder zu dem Mittleren von diesen. Die Mittleren aber sind aus den Gegensätzen, wie z.B. die Farben aus weiß und schwarz, so daß jedes von Natur aus Werdende entweder selbst Gegensatz oder aus Gegensätzen wäre. (1.5,188b21 -26)
Die Konklusion (1) .jedes Werdende würde aus einem Gegensatz oder Mittleren, und jedes Vergehende verginge zu einem Gegensatz oder Mittleren" ergibt sich aus der vorausgesetzten Wahrheit der dargelegten Untersuchung έπί τοΰ λόγου bezüglich der einfachen und zusammengesetzten Seienden, bei der sich mit dem „Werden aus einem (konträren) Gegensatz oder Mittleren" eine positive Bestimmung des „Werdens aus einem Nicht-Beliebigen" ergeben hat. Mit Hilfe der weiteren Prämisse (iii), der zufolge die Mittleren selbst aus den Gegensätzen sind (vgl. ,,τά δέ μεταξύ έκ των έναντίων έστίν": 188b23-24) - so sind z.B. die Farben als Mittleres zwischen weiß und schwarz aus weiß und schwarz (vgl. auch Met. X.7, 1057b8-34) -,74 ergibt sich die Konklusion (2), der zufolge jedes von Natur aus Werdende entweder selbst Gegensatz oder aus Gegensätzen ist: (1 a) (lb) (iii)
Jedes Werdende wird aus Gegensatz oder Mittlerem. Jedes Vergehende vergeht zu Gegensatz oder Mittlerem, Das Mittlere ist aus Gegensätzen.
(2)
Jedes von Natur aus Werdende ist Gegensatz oder aus Gegensatz.
Der Konklusion (la) zufolge, die ebenso wie die Konklusion (lb) in diesem Argument als Prämisse fur die Konklusion (2) dient, wird jedes Werdende, wie die Untersuchung gezeigt hat, entweder aus seinem Gegensatz oder aus einem Mittleren. Dies bedeutet zugleich, daß jedes Werdende entweder selbst Gegensatz (Weißes oder Schwarzes) oder Mittleres zwischen Gegensätzen (zwischen Weißem und Schwarzem) ist. In der Prämisse (iii) wird nun das „Mittlere" als etwas, was „aus Gegensätzen ist", bestimmt, so daß die Konklusion (2), der zufolge jedes von Natur aus Werdende entweder Gegensatz oder aus Gegensatz ist, aus diesem durch die Ersetzung des Ausdrucks „Mittleres" durch den Ausdruck „aus-Gegensätzen-sein" in der Prämisse (la) folgt:75 Wenn jedes Werdende entweder Gegensatz oder Mitteleres ist, und wenn das Mittlere selbst aus Gegensätzen ist, so ist jedes Werdende entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen. Analoges gilt für jedes von Natur aus Vergehende in bezug auf die Prämisse (lb). Die Argumentation macht deutlich, daß das in der Konklusion (2) enthaltene Glied „oder aus Gegensätzen" (ή έξ έναντίων: 188b25-26) auf die zuvor erwähnten 'Mittleren' zu beziehen ist, die „aus Gegensätzen sind" (έκ των έναντίων έστίν: 188b24). Die Konklusion meint nicht, daß jedes von Natur aus Werdende Diese weitere Prämisse scheint nur fllr das Werden bei den einfachen Seienden, wo es ein Mittleres geben kann, nicht jedoch für das Werden bei den zusammengesetzten Seienden, wo von einem Mittleren keine Rede war, von Bedeutung zu sein. Hierbei kann das Mittlere selbst auch als in einem Gegensatz zu den äußeren Rändern stehend betrachtet werden (vgl. Phys. V . l , 224b30-35).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
entweder Gegensatz ist oder 'aus Gegensätzlichem geworden ist', sondern daß es selbst bereits Gegensatz oder (als Mittleres) aus Gegensätzlichem ist.
5.5 Der Übergang von den gegensätzlichen φύσει γιγνόμενα sätzlichen άρχαί (188b26-189al0)
zu den gegen-
Nun ist mit der Gegensätzlichkeit eines jeden Werdenden jedoch noch nicht ausdrücklich gezeigt, daß auch die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, da die Prinzipien, die „immer bleiben sollen" (vgl. ,,τάς δέ αρχάς άεν δει μένειν": 1.6, 189al9-20), selbst ja nicht zu den φύσει γιγνόμενα zählen. Als deren Gründe müssen sie von diesen vielmehr ontologisch verschieden sein. Da die Untersuchung jedoch ergeben hat, daß sich das Werden immer zwischen Gegensätzen ereignet, und da die Gegensätze selbst nicht auseinander sein können, während alles aus den Prinzipien sein soll, scheint es nun nahe zu liegen, auch die Prinzipien der φύσει γιγνόμενα selbst als Gegensätze zu setzen, so daß die Gegensätzlichkeit der Werdeprozesse ihren Grund in einer Gegensätzlichkeit der Prinzipien hat. Würde man nämlich nur ein einziges Prinzip setzen, aus dem dann folglich alles sein müßte, so würde man in die Schwierigkeit gelangen, daß dann auch die Gegensätze aus diesem einen Prinzip sein müßten, so daß bei Annahme eines einzigen Prinzips, aus dem alles ist, die Gefahr entstünde, daß einerseits letztlich alles eines wäre, während andererseits wiederum Beliebiges aus Beliebigem würde. Der das Kapitel 1.5 beschließende Abschnitt 188b26-189al0 ist durch eine Darlegung der von den Vorgängern als Prinzipien angeführten Gegensatzpaare bestimmt, die im Hinblick auf ihre Bekanntheit der Wahrnehmung nach oder dem Begriff nach voneinander unterschieden werden. Wurde bereits in der mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation 188a27-30 in dem Sinne eine Hierarchisierung der Gegensätze angedeutet, daß nur der erste Gegensatz als Prinzip fungieren kann, so werden hier nun weitere inhaltliche Kriterien für die Art der Gegensätzlichkeit der Prinzipien genannt, durch die einige der von den Vorgängern auf extensionale Weise konkret genannten Beispiele ausgeschlossen werden können. Zwar wird noch nicht dasjenige Gegensatzpaar genannt, das fur Aristoteles letztlich die Funktion eines Prinzips erfüllt, gleichwohl aber macht die Differenzierung der Gegensätze deutlich, daß nicht jeder Gegensatz ein Prinzip darstellen kann. Durch die Angabe weiterer intensionaler Kriterien können nun die von den Vorgängern extensional genannten Gegensätze hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als Prinzipien überprüft werden. So können z.B. durch das Kriterium des 'Umfassens' und 'Umfaßtwerdens' die 'umfaßten Gegensätze' als Prinzipien ausgeschlossen werden, da es etwas gibt, von dem sie umfaßt werden und das folglich früher als die 'umfaßten Gegensätze' ist.
Der Obergang von den φύσει γιγνόμενα zu den άρχαί
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5.5.1 Die Gegensätze κατά την αϊσθησιν und κατά τον λόγο ν (18 8b26-189a 10) Bis hierhin sind etwa auch von den anderen die meisten mitgefolgt [συνηκολουθήκασι], wie wir früher gesagt haben. Alle nämlich sprechen die Elemente [τά στοιχεία] und die von ihnen so genannten 'Prinzipien' [τάς ύπ' αυτών καλουμένας άρχάς], gleichwohl ohne einen Grund zu geben [άνευ λόγου τιθέντες], dennoch als Gegensätze an, als ob sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wären [ώσπερ ύπ' αύτής της αληθείας άναγκασθέντες]. Sie unterscheiden sich voneinander aber dadurch, daß die einen frühere [πρότερα] und die anderen spätere [ύστερα] Gegensätze nehmen; und die einen dem Begriff nach bekanntere [γνωριμώτερα κατά τον λόγον], die anderen der Wahrnehmung nach bekanntere [κατά την αϊσθησιν] (die einen nämlich setzen Warmes und Kaltes, andere aber Feuchtes und Trockenes, wieder andere aber Ungerades und Gerades oder Streit und Liebe als Ursachen des Werdens [αιτίας της γενέσεως] an. Diese aber unterscheiden sich voneinander in der besprochenen Weise); so daß sie irgendwie dasselbe sagen und doch auch verschiedenes voneinander: Verschiedenes, wie es auch den meisten [von ihnen] scheint; dasselbe aber, insofern dies analog [άνάλογον] ist. Sie nehmen es nämlich aus derselben Anordnung [έκ της αύτής συστοιχίας]. Die einen unter diesen Gegensätzen umfassen [περιέχει], die anderen werden umfaßt [περιέχεται]. Insofern reden sie sowohl auf gleiche wie auch auf verschiedene Weise, und schlechter und besser auch, und die einen nehmen Bekannteres dem Begriffe nach, wie früher gesagt, die anderen aber der Wahrnehmung nach (das Allgemeine [τό καθόλου] nämlich ist das dem Begriff nach Bekannte, das Einzelne [τό καθ' εκαστον] aber das der Wahrnehmung nach Bekannte; denn der Begriff ist auf das Allgemeine bezogen, die Wahrnehmung aber auf den einzelnen Teil), wie z.B. das Große-und-Kleine dem Begriff nach bekannter ist, das Dünne und Dichte aber der Wahrnehmung nach. (1.5, 188b26-189a9) Zunächst weist Aristoteles darauf hin, daß „bis hierhin" - d.h. bis zu der dargelegten Konklusion bezüglich der Gegensätzlichkeit der φύσει γιγνόμενα - die meisten der Vorgänger weitgehend mitgefolgt sind, „wie früher gesagt wurde".76 Aristoteles begründet (vgl. ,,γάρ": 188b28) dies damit, daß die Vorgänger die Bestandteile und die von ihnen so genannten 'Prinzipien', wenn auch ohne ein Argument (vgl. „άνευ λόγου") zu geben, dennoch als Gegensätze ansprechen, als ob sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wären. Besteht die Funktion dieser einführenden Sätze zunächst darin, daß der Gedankengang des Kapitels 1.5 in dem Sinne zusammengefaßt werden soll, daß das Ergebnis der dargelegten Untersuchung in eine Relation zu den Ansichten der Vorgänger gesetzt wird, so wird die Argumentation zugleich jedoch insofern einen Schritt weiter geführt, als hier bereits ein Übergang von den Ansichten der Vorgänger, die Gegensätze als Prinzipien gesetzt haben, zur abschließenden Konklusion, der zufolge Prinzipien als Gegensätze zu setzen sind (189a9-10), stattfindet. So deutet Aristoteles mit dem Hinweis auf die „von ihnen so genannten 'Prinzipien'[im' αυτών καλουμένας αρχάς]" bereits an, daß nicht jeder der von den Vorgängern zugrunde gelegten Gegensätze auch wirklich die Funktion 76
Das ,,εϊπομεν πρότερον" bezieht sich auf den Anfang von Kapitel 1.5, wo es heißt, daß alle Vorgänger Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben.
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eines Prinzips hat.77 Zugleich weist er darauf hin, daß die Vorgänger selbst keinen λόγος für ihre Setzung der Gegensätze als Prinzipien gaben, sondern gleichsam von der Wahrheit zu ihrer Ansicht gezwungen wurden.78 Im folgenden wird nun die Tatsache, daß nicht jeder der von den Vorgängern zugrunde gelegten Gegensätze auch wirklich die Funktion eines Prinzips hat, durch eine Differenzierung der verschiedenen Arten von Gegensätzen weiter ausgeführt. Sie unterscheiden sich voneinander aber dadurch, daß die einen frühere [πρότερα] und die anderen spätere [υστέρα] Gegensätze nehmen; und die einen dem Begriff nach bekanntere [γνωριμώτερα κατά τον λόγον], die anderen der Wahrnehmung nach bekanntere [κατά την αΐσθησιν]. (1.5,188b30-33) Diese Gegenüberstellung der bei den Vorgängern vorzufindenden Gegensätze, die sich im Hinblick auf die Kriterien (i) „früher - später", (ii) „dem Begriff nach bekannter - der Wahrnehmung nach bekannter" und schließlich (iii) „umfassend - umfaßt" (vgl. 189a2) voneinander unterscheiden, läßt folgende Hierarchie der Gegensätze deutlich werden: Abb. 5.3: Die früheren und späteren Gegensätze: Gegensätze (έναντία)
ι Frühere (πρότερα) dem Begriff nach bekannter (γνωριμώτερα κατά τόν λόγον) umfassende (περιέχει) Allgemeines (τό καθόλου) Ungerades-Gerades (περιττόν και άρτιον) Streit-Liebe (νεΐκος και φιλία) das Große-und-Kleine (τό μέγα και τό μικρόν)
1
1
Spätere (ύστερα) der Wahrnehmung nach bekannter (γνωριμώτερα κατά την αΐσθησιν) umfaßte (περιέχεται) Einzelnes (τό καθ' έκαστον) Beispiele Warmes-Kaltes (θερμόν και ψυχρόν) Feuchtes-Trockenes (ύγρόν και ξηρόν) das Dünne-das Dichte (τό μανόν και τό πυκνόν)
Von den Vorgängern wird hier jedoch nicht mehr - wie zu Beginn von Kapitel 1.5 - gesagt, daß sie die Gegensätze zu Prinzipien machen (ποιεΐν), sondern es heißt nun, daß sie die Bestandteile und die von ihnen so genannten 'Prinzipien' als Gegensätze ansprechen (λέγειν). Auch wenn dieses Ansprechen der von ihnen so genannten 'Prinzipien' als Gegensätze eher im Sinne der Konklusion des Kapitels I. 5, der zufolge die Prinzipien als gegensätzlich zu setzen sind, zu verstehen ist, scheint Aristoteles hier dennoch der Ansicht zu sein, daß die Vorgänger eher bestimmte Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben, als daß sie Prinzipien als gegensätzlich bestimmt hätten. Dies wird sowohl durch den Rückbezug auf den Beginn von Kapitel 1.5 deutlich als auch dadurch, daß wenig später gesagt wird, daß die Vorgänger bestimmte Gegensätze - wie z.B. Warmes-Kaltes, Feuchtes-Trockenes, Ungerades-Gerades oder Streit-Liebe - als Ursachen des Werdens (vgl. „αιτίας της γενέσεως": 188b33-35) gesetzt haben. Dieses Bild des „Von-der-Wahrheit-Gezwungen-Werdens", wodurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Sache selbst den richtigen Weg zeigt, findet sich auch in Met. 1.3, 984b911. In Met. 1.3, 984al8 heißt es in bezug auf die Vorgänger, daß die Sache selbst ihnen den Weg wies.
Der Übergang von den φ ύ σ ε ι γ ι γ ν ό μ ε ν α zu den
άρχαί
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Auf diese Weise wird nun die extensionale Bestimmung der Gegensätze als Prinzipien einer expliziten Kritik unterzogen, wobei Aristoteles mit den für die jeweiligen Arten von Gegensätzen angeführten Beispielen auf die als Prinzipien angeführten Gegensätze seiner Vorgänger zurückgreift, ohne daß er diese ausdrücklich beim Namen nennt.79 Aus der Unterscheidung zwischen früheren und späteren Gegensätzen wird deutlich, daß die späteren Gegensätze aus dem Grunde keine Prinzipien sein können, da ihnen andere Gegensätze vorausliegen, die früher sind und von denen sie umfaßt werden. Als spätere Gegensätze können sie nicht die ersten Gegensätze und mithin keine Prinzipien sein, da in 188a27-30 hervorgehoben wurde, daß allein die ersten Gegensätze als Prinzipien fungieren können. In dieser Differenz, der zufolge einige Vorgänger frühere und andere Vorgänger spätere Gegensätze angenommen haben, ist auch der Grund zu sehen, warum die einen „besser" (βέλτιον), die anderen aber „schlechter" (χείρον) reden. Diejenigen Vorgänger, die frühere, umfassende und dem Begriff nach bekannte Gegensätze annehmen, reden besser, während diejenigen, die spätere, umfaßte und der Wahrnehmung nach bekannte Gegensätze annehmen, schlechter reden, da die zuletzt genannten Gegensätze die in 188a2730 aufgestellten Kriterien einer άρχή nicht erfüllen. Die Charakterisierung der früheren Gegensätze als Gegensätze, die dem Begriff nach bekannter sind, und der späteren Gegensätze als Gegensätze, die der Wahrnehmung nach bekannter sind, erinnert an die in Kapitel 1.1 eingeführte Methodologie, der zufolge sich ebenfalls ein Gegensatz zwischen Wahrnehmung (α'ίσθησις) und Begriff (λόγος) ergab. Dieser Gegensatz bestand dort darin, daß sich die einzelnen konkreten Dinge im Gegensatz zu den Prinzipien, die dem Begriff nach bekannter sind, als der Wahrnehmung nach bekannter erwiesen. In Analogie zu Kapitel 1.1 findet sich auch in Kapitel 1.5 ebenfalls eine Gegenüberstellung der Begriffe des Allgemeinen (τό καθόλου) und des Einzelnen (τό καθ' έκαστον). Doch während mit dem „καθόλου" in Kapitel 1.1 die einzelnen Dinge als undifferenzierte Wahrnehmungsobjekte gemeint waren, denen die Prinzipien als ,,καθ' έκαστα" im Sinne von Bestandteilen dieses undifferenzierten Ganzen gegenüberstanden, meint das „καθόλου" in Kapitel 1.5 als das dem λόγος nach Bekannte das begrifflich Allgemeine, dem das ,,καθ' έκαστον" als individuell Einzelnes, das der Wahrnehmung nach bekannt ist, gegenübersteht. Obgleich die Begriffe des „καθόλου" und des ,,καθ' έκαστον" somit in beiden Kapiteln eine unterschiedliche - ja sogar entgegengesetzte - Bedeutung haben, werden sie doch in beiden Kapiteln jeweils in einem wörtlichen Sinne verstanden. Denn wurde in Kapitel 1.1 das „καθόλου" wörtlich als „auf das Ganze bezogen" (κατά όλον) und ,,καθ' έκαστα" wörtlich als „auf die einzelnen Teile bezogen" verstanden (184a25-26), so lautet die Begründung in Kapitel 1.5 dafür, Eine Zuordnung der angeführten Beispiele zu einzelnen Vertretern ergibt folgendes Bild: „Ungerades-Gerades" bezieht sich auf die Pythagoreer, „Streit-Liebe" auf Empedokles, „Warmes-Kaltes" auf Parmenides, und „Feuchtes-Trockenes" vermutlich auf Xenophanes (vgl. Ross, 1946: 489). Von den weiter unten angeführten Beispielen bezieht sich das „Große-undKleine" auf Piaton und „das Dünne und das Dichte" auf die erste Gruppe der Naturphilosophen (vor allem auf Anaximenes).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
daß das Allgemeine (τό καθόλου) dem Begriff nach und das Einzelne (τό καθ' έκαστον) der Wahrnehmung nach bekannt ist, wie folgt: „Denn der Begriff ist auf das Allgemeine [του καθόλου] bezogen, die Wahrnehmung aber auf den einzelnen Teil [του κατά μέρος]" (189a7-8). Die unterschiedliche Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστον" in den Kapiteln 1.1 und 1.5 erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß jeweils ein verschiedenes Ganzes (δλον) und damit verbunden auch jeweils verschiedene Teile (μέρη) dieses Ganzen gemeint sind: War in Kapitel 1.1 mit dem „Ganzen" das undifferenzierte ganze Wahrnehmungsobjekt gemeint, dessen Teile die Prinzipien sind, so ist in Kapitel 1.5 mit dem „Ganzen" das begrifflich Allgemeine gemeint, dessen Teile durch die einzelnen konkreten Exemplare dieses Allgemeinen repräsentiert sind. Zwar unterscheiden sich die Vorgänger dadurch voneinander, daß die einen frühere und die anderen spätere Gegensätze angenommen haben - und es scheint ihnen selbst so, daß sie sich voneinander unterscheiden, da sie ja auch in eine Kritik miteinander traten, welches unnötig wäre, wenn sie sich nicht voneinander unterschieden hätten -, doch sagen sie andererseits auch irgendwie dasselbe, insofern dies Aristoteles zufolge alles 'analog' (άνάλογον) ist (188b36-189al). Diese zwischen ihren Ansichten bestehende „Analogie" begründet Aristoteles mit dem Hinweis darauf, daß sie ihre Gegensätze aus derselben 'Anordnung' (συστοιχία) nehmen, wobei mit dieser Anordnung vermutlich die pythagoreische Tafel der Gegensätze gemeint ist, die Aristoteles in Met. 1.5, 986a22-26 unter Verwendung des Begriffs „κατά συστοιχίαν" anführt.80 Bei dieser Anordnung galten die in der linken Spalte stehenden Begriffe im Vergleich zu den ihnen in der rechten Spalte zugeordneten Begriffen jeweils als das Vollkommenere: Abb. 5.4: Die Gegensatztafel
der Pythagoreer nach Met. 1.5:
Grenze (πέρας) Ungerades (περιττόν) Eines (εν) Rechtes (δεξιόν) Männliches (άρρεν) Ruhendes(ήρεμοΰν) Gerades (ευθύ) Licht (φως) Gutes (άγαθόν) Quadrat (τετράγωνον)
-
Unbegrenztes (άπειρον) Gerades (αρτιον) Menge (πλήθος) Linkes (άριστερόν) Weibliches (θήλυ) Bewegtes (κινοΰμενον) Gekrümmtes (καμπύλον) Dunkel (σκότος) Schlechtes (κακόν) Rechteck (έτερόμηκες)
Die Analogie zwischen den Vorgängern, die frühere Gegensätze angenommen haben, und den Vorgängern, die spätere Gegensätze angenommen haben, besteht darin, daß beide jeweils konträre Gegensätze als Prinzipien gesetzt haben, von denen ein Glied des Gegensatzes in die Spalte positiver Terme fällt, während das
80
Vgl. auch Zekl (1987: 244, Fn.57), Ross (1936: 489) und Wagner (1967: 423).
Der Übergang v o n den φ ύ σ ε ι γ ι γ ν ό μ ε ν α zu den ά ρ χ α ί
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andere Glied des Gegensatzes in die Spalte negativer Terme fällt.81 Sie sagen deshalb dasselbe, da z.B. das Verhältnis von 'Streit : Liebe' insofern mit dem Verhältnis von 'Warmem : Kaltem' identisch ist, als beide Verhältnisse einen konträren Gegensatz beschreiben. Ross (1936: 489) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die beiden Spalten nicht nur dadurch eine Ordnung bilden, daß sie einander gegenüberliegend jeweils Paare von konträren Gegensätzen darstellen, sondern auch dadurch, daß jede Spalte für sich zudem eine Anordnung in dem Sinne bedeutet, daß sie von oben nach unten gelesen eine Strukturierung von weiteren zu engeren Begriffen beinhaltet. Letzteres ist Ross zufolge der Hauptgesichtspunkt, der hier im Hinblick auf das „καθόλου" und ,,καθ' έκαστον" - bzw. im Hinblick auf das „περιέχει" und „περιέχεται" - ins Auge zu fassen ist.82 Aristoteles kann das Kapitel 1.5 nun mit folgender Konklusion beschließen: Daß a l s o die Prinzipien G e g e n s ä t z e / g e g e n s ä t z l i c h sein müssen, ist o f f e n k u n d i g . (1.5, 188a9-10)
Diese Konklusion unterscheidet sich aber insofern von der zu Beginn des Kapitels erwähnten Setzung der Gegensätze als Prinzipien bei den Vorgängern, als diese Konklusion, der zufolge die Prinzipien gegensätzlich bzw. Gegensätze sein müssen, nun eher eine intensionale - und nicht mehr eine bloß extensionale Bestimmung des Prinzipienbegriffs darstellt. Mit der Bestimmung, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, ist aber noch nicht gesagt, welche Gegensätze Prinzipien sind, auch wenn wir bereits weitere Kriterien erhalten haben, aus denen sich zumindest im Sinne einer ersten Annäherung ablesen läßt, was für Gegensätze die Prinzipien sein müssen, sofern sie gegensätzlich sind.
5.5.2 Eine Anmerkung: „Die Ursachen des Werdens" (αίτίαι της γενέσεως) Eine wichtige Bemerkung macht Aristoteles in 188b35, wo er sagt, daß die Vorgänger bestimmte Gegensätze als Ursachen des Werdens ansetzen (vgl. „αιτίας τίθενται της γενέσεως"). Wir begegnen hier zum ersten Mal wieder dem Begriff der „Ursache" (αιτία), nachdem die άρχαί, αϊτια und στοιχεία zu Beginn von Kapitel 1.1 parallel genannt wurden und im weiteren Verlauf der Untersuchung zwar die άρχαί und die στοιχεία, nicht aber die αίτια Erwähnung fanden. Wird in 188b35 nun gesagt, daß die Vorgänger die Gegensätze als Ursachen des Werdens gesetzt haben, so wird den Gegensätzen hier eine bestimmte Funktion zugeschrieben, die ich dahingehend verstehe, daß die Vorgänger ihre
82
Vgl. auch Ross (1936: 489) und Wagner (1967: 423). Zu der Bestimmung, daß die eine Spalte positive Terme enthalt, während die andere Spalte negative Terme enthält, vgl. auch De An. III.7, 431a22 ff., Met. IV.2, 1004b27-31 und Phys. III.2, 201b25-26. In Met. IV.2, 1004b27-31 nennt Aristoteles verschiedene Gegensatzpaare (Ruhe-Bewegung; Ungerades-Gerades, Warmes-Kaltes, Grenze-Unbegrenztes, Liebe-Streit), bei denen sich das eine Glied jeweils als Privation des anderen Gliedes erweist (vgl. auch Phys. III.2, 201 b25-26). Ross (1936:489) verweist hier auf An. pr. 66b27 und An. post. 79b7-10, 80b27; 87b6.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
fundamentalen Gegensätze primär nicht als Ursachen (bzw. Gründe) des Seins, sondern vielmehr als Ursachen des Werdens angesehen haben.83 Dies deutet darauf hin, daß die Vorgänger, wenn es keine Bewegung gäbe, wohl auch keine Gegensätze als Ursachen der Bewegung gesetzt hätten. Mit anderen Worten: Vor allem aufgrund ihres Werdens, und weniger aufgrund ihres Seins, stellen sich die Naturdinge als einander gegensätzlich dar. Daß die Naturdinge in Kapitel 1.5 vor allem als φύσει γιγνόμενα betrachtet werden, wird auch aus der Konklusion in 188b25-26 deutlich, wo von allen φύσει γιγνόμενα - und nicht von allen φύσει όντα - die Rede ist. Werden somit vor allem für ihr Werden gegensätzliche Prinzipien benötigt, so deutet dies daraufhin, daß ihr Sein vielleicht nicht durch eine Gegensätzlichkeit, sondern durch etwas anderes konstituiert ist, das Aristoteles im nachfolgenden Kapitel 1.6 mit dem „Zugrundeliegenden" (ύποκείμενον) thematisieren wird. Von diesem Zugrundeliegenden ist in Kapitel 1.5, wo es nur um die Gegensätze als Prinzipien geht, noch keine Rede. Zwar wurde das Zugrundeliegende zu Beginn von Kapitel 1.4 in 187a 13 bereits erwähnt, doch wurde es im weiteren Verlauf der Untersuchung nicht weiter thematisiert. In bezug auf die Form der Darstellung, wie die einzelnen Prinzipien gedanklich 'entdeckt' werden, steht die Doxographie in Physik I in einem Gegensatz zur Doxographie in Metaphysik I. Stellt sich die Doxographie in Metaphysik I dem Leser so dar, daß die Vorgänger von einem ύποκείμενον ausgingen, um dann durch die Wahrheit gezwungen Gegensätze als Ursachen der Bewegung anzunehmen, so stellt sich die Doxographie in Physik I dem Leser als diametral entgegengesetzt dazu dar, insofern hier zunächst davon die Rede ist, daß die Vorgänger von den Gegensätzen als Ursachen der Bewegung ausgingen (1.5), um dann durch Aporien gezwungen dazu zu gelangen, den Gegensätzen ein ύποκείμενον zugrunde zu legen (1.6). Die Umkehrung des „Entdeckungszusammenhangs" der Prinzipien findet seinen Grund vermutlich darin, daß die Physik ihren Blick eher auf das Werdende (γιγνόμενον) richtet - aus diesem Grunde treten zunächst die Gegensätze in den Vordergrund -, während die Metaphysik ihren Blick eher auf das Seiende (öv) richtet - aus diesem Grunde tritt dort zunächst das ύποκείμενον in den Vordergrund. Dies deutet daraufhin, daß Aristoteles die Darstellung der Doxographien an den für eine jede Wissenschaft jeweils primären Gesichtspunkt anzupassen scheint.
Vgl. Met. 1.3, wo Aristoteles die Entdeckung der Prinzipien bei den Vorgängern damit beginnen laßt, daß sie alle von einem zugrundeliegendem Stoff ausgegangen sind und von dort aus aufgrund der Notwendigkeit der Erklärung des Werdens ein weiteres Prinzip als Ursache der Bewegung angenommen haben.
6. Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον' Hat die Untersuchung in Kapitel 1.5 ergeben, daß die Prinzipien der Naturdinge gegensätzlich sein müssen, so wird in Kapitel 1.6 nun die Frage gestellt, ob die Naturdinge allein durch gegensätzliche Prinzipien konstituiert werden können.
6.1 Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί (I89al 1-20) Anschließend aber wäre wohl darüber zu sprechen, ob es zwei, drei oder mehr [Prinzipien] gibt. Eines nämlich kann es ja nicht sein, weil die Gegensätze nicht Eines sind; aber auch nicht unbegrenzt viele, weil dann das Seiende nicht erkennbar wäre [ούκ έπιστητόν τό δν έσται], und weil es in einer jeden einheitlichen Gattung eine einzige Entgegensetzung gibt [μία τε έναντίωσις έν παντΐ γένει ένί] 'Ding'/'Wesen' [ή ούσία] aber ist so eine einheitliche Gattung -, und weil [eine Herleitung] aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, und zwar besser aus einer begrenzten Anzahl, so Empedokles, als aus einer unbegrenzten. Denn er glaubt ja, alles das auch leisten zu können, was Anaxagoras aus seinen unbegrenzt vielen [herleitet]. Außerdem sind einige der Gegensätze früher als andere [ετι δέ εστίν α λ λ α άλλων πρότερα έναντία], und andere werden auseinander [και γίγνεται ετερα έξ αλλήλων], wie z.B. süß und bitter, weiß und schwarz; die Prinzipien aber müssen immer bleiben [τάς δέ άρχάς άεί δει μένειν], (1.6, 189al 1-20)
Der einleitende Abschnitt stellt eine Begründung (vgl. ,,γάρ": 189al2) dafür dar, daß es weder ein einziges noch unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, so daß deren Anzahl auf zwei, drei oder (begrenzt) viele zu begrenzen ist.1 Wird in bezug auf die Unmöglichkeit der Annahme (1) eines einzigen Prinzips nur ein einziger Grund genannt - nämlich die Tatsache, daß die Gegensätze nicht Eines sind (189al2) -, so werden in bezug auf die Unmöglichkeit der Annahme (2) unbegrenzt vieler Prinzipien vier Gründe angeführt: (a) Das Seiende wäre nicht erkennbar (189al3); (b) in jeder einheitlichen Gattung gibt es nur eine Entgegensetzung und ούσία ist so eine einheitliche Gattung (189al3-14); (c) die Herleitung aus begrenzt vielen Prinzipien ist möglich und besser als die Herleitung aus unendlich vielen Prinzipien (189a 14-17); (d) einige Gegensätze sind früher als andere, und andere Gegensätze werden auseinander (189al7-20). Obgleich Aristoteles bereits in den vorangegangenen Kapiteln sowohl die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen Prinzips als auch die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien gezeigt hat, werden nun noch weitere Vgl. auch 1.2, 184bl5-22.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
Gründe gegen diese Annahmen angeführt. Der Umstand, daß Aristoteles hier nicht auf bereits Gezeigtes verweist, sondern weitere Gründe gegen diese Annahmen anführt, ist dadurch zu erklären, daß mit dem Resultat von Kapitel 1.5, dem zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, eine weitere Prämisse zugrunde liegt, die ein neues Licht auf die verschiedenen zahlenmäßigen Möglichkeiten von Prinzipien wirft. Gerade weil die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so scheint Aristoteles nun zu argumentieren, kann es weder ein einziges Prinzip geben (denn Gegensätze sind nicht Eines), noch dürfen unbegrenzt viele Prinzipien angenommen werden (denn in jeder einheitlichen Gattung gibt es nur eine (erste) Entgegensetzung; zudem können spätere Gegensätze auf frühere Gegensätze reduziert werden).
(1) Die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen Prinzips Eines nämlich kann es ja nicht sein, weil die Gegensätze nicht Eines sind. ( 1 8 9 a l 2 )
Das Argument gegen die Annahme eines einzigen Prinzips setzt das Ergebnis des Kapitels 1.5 voraus. Wenn nämlich klar ist, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so ist auch klar, daß es nicht nur ein einziges Prinzip - sei dies bewegt oder unbewegt - geben kann, da ein Gegensatz der Zahl nach immer schon eine Zweiheit darstellt.
(2) Die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien (2a) 'Das Seiende wäre nicht erkennbar' Aber auch unbegrenzt viele [können es nicht sein], weil dann das Seiende nicht erkennbar wäre [ούκ έπιστητόν τό δ ν εσται]. (1.6, 189al2-13)
Dieses Argument greift auf die methodologische Vorbemerkung in Kapitel 1.1, 184al2ff. zurück, der zufolge jedes wissenschaftliche Erkennen ein Erkennen aus Prinzipien ist. Sind diese aber der Zahl nach unbegrenzt, so ist es - wie Aristoteles bereits in Kapitel 1.4, 187b7-13 gezeigt hat - unmöglich, ein Wissen von demjenigen Seienden zu erhalten, das aus den Prinzipien sein soll. Denn bei Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien, die als unbegrenzt viele nicht erkennbar sein würden, wären auch diejenigen Seienden, die aus den Prinzipien sind, ebenfalls unerkennbar, obgleich sie doch gerade durch die Prinzipien erkennbar sein sollen. 2
Vgl. auch Happ (1971: 280): „Das Unbegrenzte als solches ist nicht erkennbar; wenn es unbegrenzt viele Prinzipien gibt, sind sie unerkennbar; da nun bei Nichtkenntnis der Prinzipien auch das, was aus ihnen folgt, nicht erkannt werden kann, kann also nichts in der Welt erkannt werden."
Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί
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(2b) 'In einer jeden einheitlichen Gattung gibt es nur eine Entgegensetzung' [Es kann nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben], weil es in jeder einheitlichen Gattung eine einzige Entgegensetzung gibt [μία τε έναντίωσις έν παντί γένει ένί] - 'Ding'/'Wesen' [ή ούσία] aber ist so eine einheitliche Gattung. (1.6, 189al3-14) Dieses Argument hat folgende Struktur: Aus den Prämissen (i) „in einer jeden einheitlichen Gattung gibt es (nur) eine Entgegensetzung" und (ii) „die ούσία ist eine einheitliche Gattung" ergibt sich zunächst die im Text nicht ausgesprochene Konklusion, daß es bei der ούσία nur eine Entgegensetzung gibt. Diese Konklusion soll fernerhin einen Grund dafür darstellen, daß es nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben kann. Da das Argument eine Begründung für die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien darstellen soll, und da die Konklusion „bei der ούσία gibt es nur eine Entgegensetzung" zunächst jedoch nur ein Argument gegen die Annahme von unbegrenzt vielen gegensätzlichen Prinzipien - nicht aber ein Argument gegen die Annahme von unbegrenzt vielen anderen, nicht gegensätzlichen Prinzipien - darstellt, ist davon auszugehen, daß auch hier das Ergebnis von Kapitel 1.5 („die Prinzipien müssen gegensätzlich sein") vorausgesetzt ist. Denn wenn man voraussetzt, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so stellt die Konklusion, daß es bei der ούσία nur eine einzige Entgegensetzung gibt, einen Grund dafür dar, daß es nicht unbegrenzt viele (gegensätzliche) Prinzipien geben kann.3 In bezug auf die in dem in 189al3-14 angeführten Argument enthaltenen Prämissen (i) und (ii) drängen sich jedoch folgende Fragen auf: Was haben wir unter einer „einheitlichen Gattung" zu verstehen, und warum findet sich in einer einheitlichen Gattung nur eine Entgegensetzung? Warum stellt die ούσία selbst eine einheitliche Gattung dar? Zur Beantwortung dieser Fragen wollen wir zunächst einen Blick auf den Abschnitt 189b22-27 werfen, wo Aristoteles dasselbe Argument in einer ausführlicheren Form wiederholt: Zugleich aber ist es auch unmöglich, daß die ersten Entgegensetzungen [εναντιωθείς τάς πρώτας] mehrere sind. Denn die ουσία ist eine einheitliche Gattung des Seienden, so daß sich die Prinzipien nur in bezug auf das Früher und Später voneinander unterscheiden, nicht aber in bezug auf die Gattung. Denn in einer einzigen Gattung [έν ένΐ γένει] ist [nur] eine einzige Entgegensetzung [μία έναντίωσις], und alle Entgegensetzungen scheinen auf eine hinzuführen. (1.6, 189b22-27)
Angesichts der Tatsache, daß das Kapitel 1.6 jedoch zeigen soll, daß nicht nur die Gegensätze Prinzipien sein können, erklärt sich auch der Umstand, warum das Argument aus 189al3-14 am Ende des Kapitels in 189b22-24 wiederholt wird. Da das Argument zu Beginn des Kapitels 1.6 zunächst noch vor dem Hintergrund des Ergebnisses von Kapitel I.S, dem zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, angeführt wird, bedarf dieses Argument im Anschluß an die in Kapitel 1.6 durchgeführte Untersuchung, der zufolge sich ergeben wird, daß den Gegensätzen ein anderes zugrunde zu legen ist, so daß nicht nur Gegensätze Prinzipien sein können, einer erneuten Betrachtung. Diese erneute Betrachtung findet sich in 189b 16-27, wo das Argument aus 189al3-14 zwar ebenfalls als Begründung dafür fungieren soll, daß die Gegensatzpaare nicht unbegrenzt viele sein können, doch im Unterschied zum Anfang des Kapitels 1.6 steht das Argument nun im Kontext mit einer Begründung dafür, daß auch das ΰποκείμενον der Zahl nach nicht unbegrenzt sein kann.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
Die Charakterisierung der ούσία als eine „Gattung des Seienden" (γένος του δντος: 189b23-24) deutet daraufhin, daß Aristoteles hier an die in Kapitel 1.2, 185a20-32 dargelegte Unterscheidung der mehrfachen Bedeutungen des 'Seienden' (öv) anknüpft. Dort hieß es, daß das 'Seiende' (öv) auf mehrfache Weise gesagt wird: So kann mit dem Ausdruck ,,τό öv" entweder eine ουσία, ein ποιόν oder ein ποσόν gemeint sein. Vor diesem Hintergrund wäre die ούσία - ebenso wie das ποιόν und ποσόν - als eine Gattung des Seienden zu verstehen.4 Die in Kapitel 1.2 für eine ούσία genannten Beispiele „Pferd", „Mensch" und „Seele" sollten verdeutlichen, daß mit dem Ausdruck „ούσία" etwas gemeint ist, das sich als Zugrundeliegendes (ύποκείμενον) im Gegensatz zu einem Quantitativen (ποσόν: 'ein drei Ellen Langes') oder Qualitativen (ποιόν: 'ein Weißes') durch seine Selbständigkeit (χωριστόν) auszeichnet. Diese Selbständigkeit ist unter anderem darin begründet, daß die ούσία selbst nicht von einem anderen, sondern daß umgekehrt alles andere von ihr ausgesagt wird. Wie bereits in Kapitel 2.6.1 dargelegt wurde, haben wir es dort in bezug auf die ούσία weder mit einem konkreten Ding als ein Ganzes mit all seinen Eigenschaften noch im engeren Sinne mit dem speziellen Wesen eines Dings zu tun; „ούσία" meinte dort vielmehr ein Mittleres zwischen diesen Bedeutungen, dem ich die Bezeichnung „Ding im einfachen Sinne" gab. Daß in Kapitel 1.6 mit dem Ausdruck „ούσία" nun ebenfalls nicht das konkrete Ding als ein Ganzes mit all seinen Eigenschaften gemeint ist, wird daraus ersichtlich, daß die ούσία hier als eine eigenständige, einheitliche Gattung des Seienden angeführt wird (189al3; b23-24), wobei für die ούσία zudem gelten soll, daß sie nicht einer ούσία entgegengesetzt ist (189a32-33). Fernerhin heißt es, daß wir bei keinem Seienden die Gegensätze als ούσία vorkommen sehen (189a29). Vor diesem Hintergrund ist die Bestimmung der ούσία als eine 'einheitliche Gattung' wohl in dem Sinne zu verstehen, daß die ούσία getrennt vom Qualitativen (ποιόν) und Quantitativen (ποσόν) zu betrachten ist, die für sich gesehen ebenfalls Gattungen des Seienden darstellen. Während also z.B. der Ausdruck „gebildeter Mensch" bereits für eine Zusammensetzung von verschiedenen Gattungen des Seienden steht (nämlich für eine Zusammensetzung von ούσία und ποιόν), steht der Ausdruck „Mensch" für die einfache (einheitliche) Gattung der ούσία und der Ausdruck „Gebildeter" für die einfache (einheitliche) Gattung des ποιόν. Während Wicksteed und Comford der Ansicht sind, daß man in bezug auf die Bedeutung der Begriffe von ούσία und γένος in Kapitel 1.6 nicht der Versuchung erliegen solle, sie im Sinne von 'Substanz' und 'Kategorie' zu verstehen vielmehr seien im Anschluß an Simplicius (198.28) unter den ούσίαι all die konkreten Dinge zu verstehen, die die Natur konstituieren und der Veränderung unterliegen können -,5 hat man im Gegensatz dazu die ούσία in Kapitel 1.6 späRoss (1936: 489 f.) weist in seinem Kommentar darauf hin, daß mit den Gattungen hier die 'Kategorien' (categories) gemeint seien (vgl. auch Wagner, 1967: 423 f. und Charlton, 1970: 67). Zur ουσία als eine Gattung des Seienden vgl. auch Phys. VII. 1, 242a69-b42, V.4, 227b4 f f , Met. V.28, und VII. 1. Vgl. Wicksteed/Cornford (1980: 60): „The student must resist the temptation to take ούσία and γένος in this passage [gemeint ist 189al3-14] in the sense that first suggests itself, of
Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler ά ρ χ α ί
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terhin gerade im Sinne der Substanz und das γένος im Sinne der Kategorie verstanden. 6 Wicksteed und Cornford sind offenkundig der Ansicht, daß Aristoteles in 189al3-14 mit den ούσίαι über eine ganz bestimmte Klasse (γένος) von Dingen, nämlich über die Naturdinge, reden will. Dieses Verständnis wird auch in ihrer Übersetzung der Sätze 189al3-14 deutlich: Now, as far as antithesis goes, two principles would be enough, for every defined class comes under one general antithesis, and the whole sum of 'things that exist in Nature,' as such, forms a defined class. (Wicksteed/Cornford, 1980: 59-61)
Nun trifft es zwar zu, daß Aristoteles im Buch Α der Physik die Prinzipien der Naturdinge als Gegenstand der Untersuchung wählt, doch ist es fraglich, ob er in 189a 13-14 mit den ούσίαι die „konkreten Dinge der Natur" meint, die zusammengenommen die Klasse (γένος) aller Naturdinge bilden. Sofern man nämlich davon ausgeht, daß die Bedeutung des Wortes ,,ούσία" in Kapitel 1.6 als eine durchaus einheitlich Bedeutung zu betrachten ist, stößt man mit der Bestimmung der ούσίαι als τά φ υ σ ι κ ά π ά ν τ α πράγματα spätestens in 189a32-33, wo es heißt, daß der ο υ σ ί α keine ουσία entgegengesetzt sei, insofern auf Schwierigkeiten, als die konkreten Naturdinge doch in dem Sinne einander entgegengesetzt sein können, daß z.B. ein warmes Ding einem kalten Ding entgegengesetzt ist; die konkreten Naturdinge mit all ihren Eigenschaften zeichnen sich doch gerade - wie das Kapitel 1.5 gezeigt hat - durch ihre Gegensätzlichkeit zueinander aus. Aus diesem Grunde scheint mir der Ausdruck „ουσία" hier eher auf die Substanz und auf das 'Ding im einfachen Sinne' zu beziehen zu sein, wobei es jedoch ratsam ist, zunächst in einem möglichst weiten Sinne zwei Bedeutungen von ουσία im Auge zu behalten: ούσία als 'Wesen eines Dings' und ουσία als 'Ding im einfachen Sinne'. Wagner bemerkt hierzu folgendes: Ο ύ σ ί α muß also gleichzeitig in beiden Bedeutungen gedacht werden, wie das j a der Kernpunkt des arist. οΰσία-Theorems ist: ο ύ σ ί α ist der bestimmte Einzelgegenstand selbständiger Natur; aber er ist eben bestimmter nur, sofern er in seiner Wesensbestimmtheit seine fundamentale Bestimmtheit besitzt. (Wagner, 1967: 425)
Haben wir uns nun der Bedeutung des Ausdrucks „ουσία" in Kapitel 1.6 angenähert, so stellt sich jedoch die Frage, warum die ούσία in der dargelegten Bedeutung eine Gattung darstellt, in der es nur eine (erste) Entgegensetzung gibt. Ross (1936: 490) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß mit der obersten Entgegensetzung innerhalb der Kategorie der ούσία die Entgegensetzung von Form und Privation gemeint sei.7 Zwar ist dieser These aus Sicht des Ergebnisses des Buches Α der Physik durchaus zuzustimmen, doch ist hierbei
6
7
'substance' and 'category' respectively. I follow Simplicius (198.28) in taking ούσία to stand here and elsewhere in this chapter for 'all the concrete things that constitute Nature and are capable of change,' τά φυσικά πάντα πράγματα, as distinct from the immaterial existences touched upon, or dealt with, in the De caelo and the Metaphysica, and led up to in the Physics." Vgl. Ross (1936: 344 und 490), Guzzoni (1975: 43-36; 54-59) und Happ (1971: 280 f.), die die Ansicht vertreten, daß mit dem Ausdruck „ουσία" in Kapitel 1.6 vor allem das Wesen einer Sache gemeint sei. Vgl. auch Apostle (1969: 197, Fn.3).
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zugleich zu bedenken, daß das Argument in 189al3-14 auch ohne das Wissen um είδος und στέρησις als erste Entgegensetzung innerhalb der Kategorie der ουσία für den Hörer verständlich sein muß. Denn von dem Gegensatz είδος στέρησις, der erst in Kapitel 1.7 eingeführt wird, ist in der bisherigen Untersuchung ja noch keine Rede gewesen. Mit dem Gedanken, daß sich in einer jeden einheitlichen Gattung nur eine einzige Entgegensetzung findet, scheint Aristoteles an das Ende von Kapitel 1.5 anzuknüpfen, wo dargelegt wurde, daß es frühere und spätere, umfassende und umfaßte Gegensätze gibt. Dieses Vorhandensein von früheren (umfassenderen) und späteren (umfaßten) Gegensätzen deutete nämlich zugleich auf die Existenz eines frühesten und umfassendsten Gegensatzes hin. So hieß es in Kapitel 1.5, 188a28-30 ja auch, daß nur die ersten Gegensätze als Prinzipien fungieren können. Die Möglichkeit der Reduktion der Gegensätze auf frühere und grundlegendere Gegensätze wurde bereits in Kapitel 1.4, 187al 5-17 angedeutet, wo Aristoteles die Gegensätze 'Dichte-Dünne' und 'Großes-Kleines' unter den allgemeinen (καθόλου) Gegensatz von 'Übermaß und Mangel' (υπεροχή και ελλειψις) zusammenfaßte (vgl. 1.6, 189 b8-l 1). Der Gedanke, daß es in einer jeden einheitlichen Gattung nur eine einzige Entgegensetzung gibt, ist nicht in dem Sinne zu verstehen, daß es faktisch gesehen nur eine einzige Entgegensetzung gibt. Es ist vielmehr gemeint, daß es durchaus mehrere Entgegensetzungen in einer Gattung geben kann, wobei diese mehreren Entgegensetzungen aber auf eine einzige Entgegensetzung hinzuführen scheinen (vgl. 1.6, 189b25-27), so daß es in einer jeden einheitlichen Gattung letztlich nur eine einzige erste Entgegensetzung gibt, auf die alle anderen Entgegensetzungen reduziert werden können. Welche konkrete Entgegensetzung in einer jeden einzelnen Gattung jeweils als erste anzusehen ist, wird von Aristoteles nicht gesagt. Dies ist für das Argument selbst auch insofern nur von sekundärer Bedeutung, als doch zunächst nur gezeigt werden soll, daß es nicht unbegrenzt viele Entgegensetzungen gibt. Allein die Möglichkeit der Reduktion von Gegensätzen auf andere, frühere Gegensätze impliziert für Aristoteles die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler (gegensätzlicher) Prinzipien. Nun ist in bezug auf das Argument in 189al3-14 jedoch folgende, zum Teil berechtigte Kritik geäußert worden: Die Tatsache, daß sich innerhalb einer jeden einzelnen Gattung faktisch gesehen doch jeweils verschiedene Entgegensetzungen finden, die einerseits fiindamental zu sein scheinen und die andererseits nicht aufeinander reduziert werden können, deutet darauf hin, daß doch mehrere Entgegensetzungen als Prinzipien fungieren können. So weist Apostle (1969: 197, Fn.3) daraufhin, daß in der Kategorie der Quantität die fundamentalen Entgegesetzungen „gerade-ungerade" (in bezug auf die Zahlen) und „geradegekrümmt" (in bezug auf die Linien) nicht aufeinander reduziert werden können.8 Zudem wurde auf folgendes Problem hingewiesen: Selbst wenn man zugeAuch Happ (1971: 280) sieht hier Probleme, wobei er sich jedoch die Reduktion der Gegensatze in der Kategorie der Quantität noch am ehesten vorzustellen vermag: „2. »Es gibt in jeder Kategorie ein Gegensatzpaar, die Substanz aber ist eine Kategorie« (189a 13f) und zwar, dürfen wir hinzufügen, die oberste, um die es uns hier zunächst und am meisten geht. Aristoteles nimmt also in jeder der zehn Kategorien ein Gegensatzpaar an: Auf die Substanz gehen wir
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steht, daß sich in einer jeden Gattung nur eine einzige Entgegensetzung findet, gibt es gleichwohl immer noch mehrere Entgegensetzungen, da es ja auch mehrere Gattungen (ουσία, ποιόν, ποσόν usw.) gibt, für die jeweils verschiedene Entgegensetzungen grundlegend sind. Diese verschiedenen Entgegensetzungen können deshalb nicht aufeinander reduziert werden, da sie verschiedenen Gattungen angehören. 9 Solmsen bemerkt in diesem Zusammenhang: It is curious that in I, 6. 1 8 9 a l 3 Aristotle justifies his assumption of two, and no more contraries by saying that substance is one category and that in each category there is only one contrariety. This may give the impression that he would allow another pair o f contraries for, say, quality and quantity. Yet nothing comes o f this possibility. (Solmsen, 1960: 79, Fn.17)
Mag man bezüglich der zuletzt genannten Schwierigkeit zur Verteidigung von Aristoteles zunächst zwar darauf hinweisen, daß dieser Einwand das Argument in 189a 13-14, das eine Begründung dafür darstellen soll, daß es nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, insofern nicht beeinträchtigt, als die Zahl der Entgegensetzungen bei Annahme einer fundamentalen Entgegensetzung für eine jede einzelne Gattung insofern immer noch begrenzt - und nicht unbegrenzt wäre, als die Zahl der Gattungen bei Aristoteles ebenfalls begrenzt ist, so ist zugleich aber darauf hinzuweisen, daß dies in 189b22-27 nicht mehr zur Verteidigung angeführt werden kann. Dort soll dasselbe Argument ja eine Begründung dafür darstellen, daß die Prinzipien nicht mehr als eine Entgegensetzung beinhalten (vgl. 189b22-23: ,,αμα δέ και αδύνατον πλείους είναι έναντιώσεις τάς πρώτας"). Charltons Versuch, den ersten Einwand bezüglich der Tatsache, daß es innerhalb einer jeden einzelnen Gattungen doch jeweils verschiedene fundamentale und nicht aufeinander reduzierbare Entgegensetzungen zu geben scheint, mit dem Hinweis zu entkräften, daß hier nicht von fundamentalen Entgegensetzungen innerhalb einer Kategorie (z.B. in der Kategorie der Qualität), sondern innerhalb verschiedener Bereiche einer Kategorie (z.B. bei den Farben, Formen usw.) die Rede sei - so gibt es z.B. bei den Farben den fundamentalen Gegensatz von hell (λευκόν) und dunkel (μέλαν) -,10 ist insofern wenig überzeugend, als im Text eindeutig von den fundamentalen Entgegensetzungen innerhalb einer Gattung - und nicht innerhalb von Bereichen der Gattungen - die Rede ist.
9 10
gleich unten ein. Da bei den Akzidentien in jeder Kategorie viele Gegensatz-Paare auftreten können (z.B. Qualität: süß-bitter, arm-reich, schön-häßlich, ungebildet-gebildet usw.), muß Aristoteles jeweils an ein oberstes Paar der betreffenden Kategorie gedacht haben, unter das die anderen Paare subsumiert werden können (Ross). Vorstellbar ist es nicht leicht, am ehesten noch bei der Quantität, wo alles auf ein 'mehr oder weniger' hinausläuft. Jedenfalls wäre so nur eine begrenzte Zahl von Gegensatzpaaren vorhanden, schematisch gesprochen etwa eines der Substanz, neun der Akzidentien." Vgl. Apostle (1969: 197, Fn.3), Happ (1971: 280) und Bostock (1982: 194). Charlton (1970: 67) weist in diesem Zusammenhang auf De An. II. 11, 422b23-27 hin, wo es heißt: „Jeder Wahmehmungssinn scheint sich nämlich auf nur einen Gegensatz (eines Gegenstandsbereiches) zu beziehen, z.B. das Gesicht auf Weißes und Schwarzes, das Gehör auf Hohes und Tiefes, der Geschmack auf Bitteres und Süßes. Im Tastbaren aber liegen viele Gegensätze: Warmes und Kaltes, Trockenes und Feuchtes, Hartes und Weiches, und anderes dergleichen mehr." (Übers, nach Theiler).
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Physik I. 6: 'Die Einfuhrung des ϋ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
(2c) 'Die Herleitung aus einer begrenzten Anzahl ist möglich und besser' [Es kann nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben], weil [eine Herleitung] aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, und zwar besser aus einer begrenzten Anzahl, so Empedokles, als aus einer unbegrenzten. Denn er glaubt ja, alles das auch leisten zu können, was Anaxagoras aus seinen unbegrenzt vielen [herleitet]. (1.6, 1 8 9 a l 4 - 1 7 )
Ein weiterer Einwand gegen die Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien besteht darin, daß eine Herleitung auch aus begrenzt vielen Prinzipien möglich ist. Da nun aber aus der bloßen Möglichkeit der Annahme einer begrenzten Anzahl von Prinzipien allein nicht die Unmöglichkeit der Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien folgt," wird hier noch eine weitere Begründung hinzugefügt, der zufolge eine Herleitung aus einer begrenzten Anzahl nicht nur (a) möglich, sondern auch (b) besser als die Herleitung aus einer unbegrenzten Anzahl sein soll.12 Erst beide Begründungen zusammen ergeben die 'Unmöglichkeit' der Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien im Sinne einer 'schlechteren Alternative',13 die sich in dem Sinne als 'unmöglich' erweist, als es eine bessere Alternative gibt. Daß eine Herleitung aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, kann dem Ansatz von Empedokles entnommen werden. Daß diese Herleitung auch besser ist, wurde in Kapitel 1.4 insofern deutlich gemacht, als durch den Ansatz von Empedokles gerade die Aporien vermieden wurden, in die der Ansatz von Anaxagoras geführt hat. Wird hier der Ansatz von Empedokles zwar als dem Ansatz von Anaxagoras gegenüber 'besser' qualifiziert, so bedeutet dies jedoch nicht, daß er für Aristoteles auch der beste Ansatz ist. Dieser Interpretation des 'Schlechteren' im Sinne eines 'Unmöglichen im Vergleich zum Besseren' sind wir bereits in Kapitel 1.5, 189a2 ff. begegnet. Dort hieß es nämlich, daß einige Vorgänger dem Begriff nach bekanntere und frühere Gegensätze als Prinzipien angenommen haben und deshalb besser (βέλτιον) reden, während andere Vorgänger der Wahrnehmung nach bekanntere und spätere Gegensätze als Prinzipien angenommen haben und deshalb schlechter (χείρον) reden. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, daß auch dort das „schlechter Reden" einiger Vorgänger eigentlich bedeutet, daß sie Unmögliches sagen. Denn sie reden Aristoteles zufolge ja insofern schlechter, als sie spätere Gegensätze als Prinzipien angenommen haben, wobei diese von ihnen als Prinzipien angenommenen späteren Gegensätze Aristoteles zufolge als 'spätere Gegensätze' genaugenommen überhaupt keine Prinzipien sein können. Gleichwohl vermeidet er es, zu sagen, daß sie falsch reden, da auch sie zumindest Gegensätze als Prinzipien angenommen haben.
12
Der Satz ,,καϊ οτι ένδέχεται έκ πεπερασμένων" (189al4-15) wird zwar als Begründung für den Satz „άπειρους δ' [ούχ οίόν τε]" angeführt, so daß der Anschein entsteht, als folge die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien aus der Möglichkeit der Annahme begrenzt vieler Prinzipien. Doch ist davon auszugehen, daß Aristoteles dies nicht gemeint haben kann: Denn aus Mp folgt ja nicht -· Μ p. Vgl. auch Phys. 1.4, 188al7-18. Daß wir es hier nicht mit einem Ökonomieprinzip im Sinne von Ockhams „entia non sunt multiplicand/] praeter necessitatem" als Grund für die Unmöglichkeit der Annahme einer unbegrenzten Anzahl zu tun haben, wurde bereits in Kapitel 4.2.2.2.4 dargelegt.
Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί
221
Mit der Möglichkeit der Herleitung aus einer begrenzten Anzahl von Prinzipien bezieht sich Aristoteles auf Empedokles, der meinte, mit seiner begrenzten Anzahl dasselbe leisten zu können, was Anaxagoras mit seiner unbegrenzten Anzahl geleistet hat. Bezeichnenderweise stehen die von Empedokles zugrunde gelegten Prinzipien - sowohl die vier Elemente Wasser, Luft, Erde und Feuer (vgl. 1.4, 187a26) als auch die bewegenden Ursachen Streit und Liebe (vgl. 1.6, 189a24-27) - in einem Gegensatzverhältnis zueinander, welches darauf hindeutet, daß auch hier das Ergebnis von Kapitel 1.5 („die Prinzipien müssen gegensätzlich sein") vorausgesetzt ist. In 1.6, 189b4-8 sagt Aristoteles von den Elementen, daß sie mit Gegensätzlichkeiten verflochten sind. Für ihn stellt sich das in 189b4-8 nicht näher ausgeführte gegensätzliche Verhältnis der Elemente zueinander wie folgt dar: 14 Abb. 6.1: Das gegensätzliche
Verhältnis der Elemente
zueinander
Feuer warm
trocken
(2d) 'Einige Gegensätze sind früher als andere, und andere werden auseinander' Außerdem sind einige der Gegensätze früher als andere [έτι δέ έστιν α λ λ α άλλων πρότερα έναντία], und andere werden auseinander [και γνγνεται έτερα έξ αλλήλων], wie z.B. süß und bitter, weiß und schwarz; die Prinzipien aber müssen immer bleiben [τάς δέ άρχάς άει δει μένει ν], (1.6, 189al7-20)
Insofern dieses letzte Argument gegen die Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien auf die Möglichkeit einer Reduktion von späteren Gegensätzen auf frühere Gegensätze verweist und so in einer Nähe zum zweiten Argument (al3-14) steht, scheint auch hier vorausgesetzt zu sein, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen. Die Gegensätze, die hier als Beispiele dafür angeführt werden, daß einige Gegensätze auf andere Gegensätze reduziert werden können - nämlich 'weiß-schwarz' und 'süß-bitter' -, stellen bezeichnenderweise gerade 14
Zur Konstitution der Elementarkörper bei Aristoteles vgl. auch Mau (1969: 145 f.), Böhme (1982: 154 ff.), Seidl (1995: 15) und Wagner (1967: 412 f.). Zur Gegensätzlichkeit der Elemente bei Empedokles vgl. Frg. DK 31B21: „[...]: die Sonne [Feuer], hell filrs Auge und warm überall; all jene Unsterblichen [Luft], die in Wärme und strahlendem Glänze getränkt werden; den Regen [Wasser], in allen Dingen dunkel und kalt. Der Erde entrinnt, was freundlichaufnehmend wie auch was widerständig ist." (Übers, nach Mansfeld).
222
Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
solche Gegensätze dar, die gemäß den Darlegungen in Kapitel 1.5 zu den der Wahrnehmung nach bekannteren und späteren Gegensätzen zu zählen sind. Die Behauptung, daß einige Gegensätze (έναντία) auseinander werden (,,γίγνεται έξ αλλήλων"), ist hier offenkundig in dem Sinne zu verstehen, daß einige Gegensatzpaare aus anderen GzgensaXipaaren herleitbar sind;15 es ist nicht gemeint, daß bei einigen Gegensatzpaaren die einzelnen Glieder auseinander werden (z.B. Weißes aus Schwarzem).16 Denn als Subjekt des Ausdrucks „και γίγνεται ετερα έξ αλλήλων" (a 18) sind die „έναντία" aus dem vorhergehenden Satzteil zu ergänzen. Da dort aber mit dem Ausdruck „έναντία" die Gegensatzpaare gemeint sind, die früher als andere Gegensatzpaar«? sind,17 muß auch hier von Gzgznsstzpaaren die Rede sein, die auseinander werden. Die Beispiele 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' sind vielleicht als Hinweis darauf zu verstehen, daß sich Aristoteles hier weiterhin auf Empedokles bezieht. So heißt es in Fragment DK 31A92 (Aetios I 15,3 und 7): Empedokles erklärte, Farbe sei das in die Poren des Sehorgans Hineinpassende. Die Verschiedenheiten der Farben rührten von den bestimmten Mischungen der Elemente her. Es gebe vier Farben, genauso viele wie Elemente: Weiß, Schwarz, Rot, GelbGrün. (Übers, nach Mansfeld)
Dieses Fragment macht deutlich, daß Empedokles die Farben auf die Elemente und deren Mischungen zurückführt. Auch die Aussage ,,τάς δέ αρχάς άεί δει μένειν" (189al9-20) läßt sich insofern als ein Hinweis auf Empedokles verstehen, als Aristoteles in Met. III.4, 1000b 18-20 sagt, daß sich bei Empedokles gerade die vier Elemente und die bewegenden Prinzipien 'Streit und Liebe' als allein unvergänglich und immerbleibend erweisen, während alles andere kommt und geht. Demgegenüber sieht Ross (1936: 490) in den Beispielen 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' eher einen Bezug auf Demokrit und verweist auf dessen Fragment DK 68B125: 18 Der Bestimmung zufolge [gibt es] Farbe, der Bestimmung zufolge Süßes, der Bestimmung zufolge Bitteres, in Wirklichkeit aber nur Atome und Leeres. (Übers, nach Mansfeld)
15
16
1
Vgl. Ross (1936: 490), Bostock (1982: 181) und Wagner (1967: 20). Wicksteed/Comford (1980: 60 f.) verweisen in diesem Zusammenhang auf De gen. et corr. 11.2, wo davon die Rede ist, daß sekundäre Gegensatzpaare (z.B. 'süß-bitter') aus primären Gegensatzpaaren (z.B. 'heißkalt', 'trocken-naß') stammen. Diese Interpretationsmöglichkeit findet sich z.B. bei Apostle (1969: 197, Fn.6): „As in the examples that follow, the white (body) is generated from the black (body), but a principle must persist." Vgl. auch 1.5, 188b29 ff., wo ebenfalls von „früheren und späteren Gegensätzen [έναντία]" im Sinne von Gegensatzpaaren die Rede ist. Vgl. auch Bostock (1982: 181), der in den Beispielen 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' ebenfalls eine Referenz auf Demokrit vermutet. Zugleich verweist Bostock hier auch auf Piatons 77maios.
Die drei Aporien
223
Diesem Fragment zufolge sind die Entgegensetzungen der Farbe und des Geschmacks in dem Sinne als abgeleitet zu betrachten, als sie unter bestimmten Umständen durch die Wirkung allgemeinerer Entgegensetzungen entstehen. Das abschließende Argument gegen die Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien soll zeigen, daß nicht alle Gegensatzpaare als Prinzipien fungieren können. Wenn einige Gegensatzpaare auf andere Gegensatzpaare zurückgeführt werden können, und wenn die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so ist klar, daß die Anzahl der Prinzipien nicht unbegrenzt sein kann. Zu denjenigen Gegensatzpaaren, die nicht als Prinzipien fungieren können, zählen vor allem die der Wahrnehmung nach bekannteren Gegensätze, für die Aristoteles hier die Beispiele 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' nennt. Da diese nämlich aufeinander bzw. auf andere Gegensatzpaare zurückgeführt werden können, 19 entsprechen sie nicht dem Kriterium des „Immer-Bleibens", das für Prinzipien zugrunde zu legen ist.
6.2 Die drei Aporien
(189a20-34)
Daß es also weder eine noch unendlich viele [Prinzipien] gibt, ist aus diesem klar. Insofern es aber begrenzt viele sind, hat es einen gewissen Grund [ έ χ ε ι τ ι ν ά λ ό γ ο ν ] , nicht nur zwei anzusetzen [τό μ ή π ο ι ε ΐ ν δ υ ο μόνον], (1.6, 189a20-22)
Nachdem ausgehend vom Ergebnis des Kapitels 1.5, dem zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, gezeigt wurde, daß es weder ein einziges noch unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, ist nun klar, daß ihre Anzahl als 'begrenzt viele' anzusetzen ist. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 1.5 gewonnenen Konklusion, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen - wobei dies in Kapitel 1.5 zunächst so verstanden wurde, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind -,20 läge es nun nahe, zwei fundamentale Gegensatzglieder eines Gegensatzpaares als Prinzipien zu setzen. In den folgenden drei Aporien (189a20-34) wird jedoch gezeigt werden, daß es gute Gründe gibt, nicht nur die Gegensätze - und somit nicht nur eine Zweiheit - als Prinzipien zu setzen. Auch wenn das Kapitel 1.6 in diesem Sinne bereits eine Korrektur der in Kapitel 1.5 gewonnen Konklusion darstellt, ist jedoch ebenfalls das Ergebnis von Kapitel 1.6 noch nicht als letztes Wort in bezug auf die Frage nach der Zahl und Art der Prinzipien zu betrachten. So sagt Aristoteles am Ende von Kapitel 1.6, daß nun zwar klar sei, daß es weder ein einziges noch mehr als zwei oder drei στοιχεία gebe, daß jedoch die Frage,
Charlton (1970: 46) hat in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeit hingewiesen, daß in bezug auf die Gegensatzpaare 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' gesagt wird, daß sie „auseinander (έξ αλλήλων: al8) werden": ,,καϊ γίγνεται έτερα έξ αλλήλων". Da hier jedoch kaum gemeint sein kann, daß 'weiß-schwarz' aus 'süß-bitter' oder umgekehrt 'süß-bitter' aus 'weißschwarz' herleitbar ist, schlägt Charlton mit gutem Grund vor, in 189a 18 statt „auseinander" (έξ άλλήλων (FI)) die Variante „aus anderen" (έξ άλλων (EVS)) zu lesen. Zwar ist in Kapitel 1.5 selbst nicht ausdrücklich davon die Rede, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, doch sowohl die resümierende Zusammenfassung in Kapitel 1.7, 191al5-19 wie auch das „δύο μόνον" in 1.6, 189a21 machen deutlich, daß dies in Kapitel 1.5 gemeint ist.
224
Physik I. 6: 'Die Einführung des ϋποκείμενον'
welches von diesen beiden gilt - nämlich die Frage, ob es zwei oder drei Prinzipien gibt -, (immer noch) viele Schwierigkeiten enthält (189b27-29). In Analogie zum Kapitel I. 5 ist auc das Kapitel 1.6 noch nicht als die letztgültige Darlegung der eigenen Theorie, sondern vielmehr ebenfalls als ein weiterer Schritt von Aristoteles auf dem Weg hin zur eigenen Theorie zu betrachten. 21 Das Kapitel 1.6 entspricht insofern dem bisher herausgearbeiteten methodischen Weg, der von einer (widerlegten) These zu der dieser entgegengesetzten These führt, um so schrittweise zu einer mittleren Position zu gelangen, als die grundlegende These des Kapitels 1.6, der zufolge den Gegensätzen notwendigerweise ein Drittes zugrunde zu legen ist, so daß folglich nicht nur Gegensätze Prinzipien sein können, in einem Gegensatz zur grundlegenden These von Kapitel 1.5 steht, der zufolge nur die Gegensätze Prinzipien sind. Die eigentliche Pointe des Kapitels 1.6 liegt nun aber in folgender Überlegung: Jede der drei Aporien hat die Form einer Reductio ad absurdum·, ausgehend von der Prämisse, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, wird diese durch die Annahme weiterer Prämissen zu einem Widerspruch gefuhrt. Dieser Widerspruch zeichnet sich in einer jeden der drei Aporien dadurch aus, daß die Gegensätze, wenn man davon ausgeht, daß nur sie die Prinzipien sind, letztlich gar keine Prinzipien sein können, weil sie jeweils bestimmte Kriterien eines Prinzips nicht erfüllen. Diese Kriterien, die von den gegensätzlichen Prinzipien nicht erfüllt werden, sofern man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, sind nun ebenso wie die Aporien - der Zahl nach drei; und zwar sind es bezeichnenderweise - wie gezeigt werden soll - genau diejenigen drei Kriterien, die Aristoteles in Kapitel 1.5, 188a27-28 als die Kriterien einer ά ρ χ ή angeführt hat, die es dort nahelegten - bzw. die dort einen guten Grund (vgl. „ευλόγως") dafür darstellten -, die Gegensätze als Prinzipien zu setzen, weil diese Kriterien vor allem von den Gegensätzen erfüllt werden. 22 Mit anderen Worten: Dieselben Kriterien, die in Kapitel 1.5 noch einen 'guten Grund' dafür abgaben, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, bekommen in Kapitel 1.6 nun eine umgekehrte Funktion, da durch sie jetzt deutlich werden soll, daß die Gegensätze keine Prinzipien sein können, sofern man nur Gegensätze als Prinzipien setzt. Die drei Kriterien einer „ ά ρ χ ή " lauteten in 1.5, 188a27-28 wie folgt: ( 1 ) D i e Prinzipien dürfen nicht auseinander sein ( μ ή τ ε έ ξ α λ λ ή λ ω ν ) . ( 2 ) D i e Prinzipien dürfen nicht a u s anderem sein ( μ ή τ ε έ ξ ά λ λ ω ν ) . ( 3 ) A u s den Prinzipien muß alles sein ( κ α ι έ κ τ ο ύ τ ω ν π ά ν τ α ) .
Dies ist aus dem Grunde hervorzuheben, da einige Interpreten (vgl. Bostock, 1982 und Happ, 1971) der Auffassung sind, daß Aristoteles in Kapitel 1.6 - ebenso wie in Kapitel 1.5 - bereits seine eigene Theorie darlegt. Obgleich Bostock und Happ offenkundige Widersprüche zwischen einigen der in den Kapiteln 1.6 und 1.7 dargelegten Thesen entdecken, erklären sie diese Widersprüche nicht dadurch, daß Aristoteles in den Kapiteln I.S und 1.6 noch nicht seine eigene Theorie darlegt, sondern sie nehmen diese Widersprüche als Indizien dafür, daß sich die aristotelische Theorie durch Inkonsistenzen auszeichnet. Gerade dieser für das Verständnis der Gesamtargumentation wichtige Zusammenhang zwischen den drei Kriterien einer άρχή in 1.5, 188a27-28 und den drei Aporien in 1.6, 189a22-34 ist in der Sekundärliteratur, soweit ich sehen kann, bisher unberücksichtigt geblieben.
Die drei Aporien
225
Bezieht man diese drei Kriterien auf die drei Aporien in 1.6, 189a22-34, so wird deutlich, daß sie jeweils - in der genannten Reihenfolge - einer Aporie zugrunde gelegt sind. So wird die erste Aporie (189a22-27) zeigen, daß die Gegensätze, wenn man nur sie als Prinzipien setzt, letztlich auseinander sein müssen. Die zweite Aporie (189a27-32) wird zeigen, daß die Gegensätze, wenn man nur sie als Prinzipien setzt, aus bzw. an einem anderen - nämlich aus bzw. an einem ύποκείμενον - sein müssen. Und die dritte Aporie (189a32-34) wird schließlich zeigen, daß aus den Gegensätzen, wenn man nur sie als Prinzipien setzt, nicht alles - nämlich nicht die ούσία - sein kann.
6.2.1 Die erste Aporie (189a22-27) Man könnte nämlich in Aporien gelangen, wie denn entweder die Dichte in der Lage sein soll, die Dünne zu etwas zu machen, oder diese [die Dünne] die Dichte [πώς η ή πυκνότης την μανότητα ποιεί ν τι πέφυκεν ή α ϋ τ η την πυκνότητα]. Das gilt aber ebenso flir jede andere beliebige Entgegensetzung. Denn die Liebe filhrt nicht den Streit zusammen und macht etwas,aus ihm, und auch nicht der Streit aus ihr, sondern beide [wirken] auf ein Drittes von ihnen Verschiedenes [ού γ ά ρ ή φ ι λ ί α τό νεΐκος σ υ ν ά γ ε ι κ α ί ποιεί τι έξ αύτοΰ, ούδέ τό νεΐκος έξ έκείνης, ά λ λ ' άμφω έτερον τι τρίτον]. Einige aber nehmen noch mehr [Prinzipien] an, aus denen sie die Natur des Seienden [τήν των δντων φΰσιν] errichten. (1.6, 189a22-27)
Dieser Aporie zufolge können die Gegensätze, wenn man nur sie als Prinzipien setzt - wobei die Gegensätze durch abstrakte Termini ('die Dichte', 'die Dünne', 'Streit' und 'Liebe') bezeichnet werden nichts aneinander bewirken und folglich auch nichts voneinander erleiden.24 Daß die Gegensätze hier durch abstrakte Termini bezeichnet werden, ist insofern von Bedeutung, als z.B. im Gegensatz zu 'Wärme und Kälte', die nicht aufeinander wirken können - denn weder macht die Wärme die Kälte warm, noch macht die Kälte die Wärme kalt -, 'Warmes und Kaltes' gleichwohl auf einander wirken können. So wird z.B. ein Kaltes durch ein Warmes warm. Der Aporie liegt der Gedanke zugrunde, daß die (bloßen) Formen und Eigenschaften keinem Wandel unterliegen;25 ein Gedanke, den Aristoteles an späterer Stelle deutlich hervorheben wird.26 Mit ande23 24
25
Dies deutet darauf hin, daß die Gegensätze hier als Eigenschaften verstanden werden (vgl. Charlton, 1970: 68). Das Argument erinnert an Piaton, Timaios 31b-c: „Nur zwei Bestandteile aber [δύο δέ μόνω] ohne einen dritten [τρίτου χωρίς] wohl zu verbinden ist nicht möglich; denn inmitten beider muß ein beide verknüpfendes [συναγωγόν] Band entstehen." (Nach der Übers, von Schleiermacher und Maller). Dieser Gedanke findet sich auch bei Piaton; vgl. Phaidon (102-103): Zwar wird ein Großes aus einem Kleinen, insofern hier von gegensätzlichen Dingen (πράγματα) die Rede ist; nicht jedoch wird die Größe aus der Kleinheit, insofern hier von den Gegensätzen selbst (αύτό τό έναντίον) die Rede ist. Vgl. auch Phys. V.l, 224bl0-13: „Was also Veränderung [ή κίνησις] ist, darüber ist früher gesprochen worden. Die Formen [τά εϊδη] aber und die Zustände [τά πάθη] und der Ort, wozu sich das Veränderte verändert, unterliegen keiner Veränderung [άκινητά έστιν], wie z.B. das Wissen [ή επιστήμη] und die Wärme [ή θερμότης]." Vgl. 1.7, 190b33 („denn es ist unmöglich, daß die Gegensätze voneinander Einwirkung erfahren") und 1.9, 192al9-25: „Es kann aber doch die Form [τό είδος] nicht selbst nach sich selbst
226
Physik
I. 6: 'Die Einführung d e s ΰ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
ren Worten: Wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt, so müßten diese Gegensätze, damit Bewegung als eine Funktion von 'Wirken' und 'Leiden' möglich ist, aufeinander wirken.27 Dies aber ist unmöglich, da die Gegensätze, die Aristoteles als Eigenschaften versteht, selbst keinem Wandel unterliegen; weder bewirken sie etwas aneinander noch erleiden sie etwas voneinander.28 Würden sie nämlich in dem Sinne aufeinander wirken, daß das eine Gegensatzglied das andere Gegensatzglied verändert - dies wäre diesem Modell zufolge notwendig, damit etwas Neues entstehen kann so wären sie keine Prinzipien mehr, da sie dann einerseits nicht immer bleiben würden (vgl. 189al9-20: ,,τάς δέ άρχάς άεί δει μένειν"), und da sie dann andererseits in einem gewissen Sinne 'auseinander' wären. Würden z.B. Wärme und Kälte aufeinander wirken, so würde die Kälte durch die Wärme warm werden. Zugleich jedoch müßte die Kälte, indem sie die Wärme aufnimmt, als Prinzip Kälte 'bleiben' (vgl. 189al920). Folglich würde die Kälte als Bleibendes die Wärme aufnehmen, und umgekehrt würde die Wärme als Bleibendes die Kälte aufnehmen. Dies ist jedoch insofern widersinnig, als Kälte und Wärme dann auseinander bestehen würden.29 Da also die Gegensätze nicht aufeinander wirken können, scheint es notwendig zu sein, den Gegensätzen ein Drittes, von ihnen Verschiedenes, zugrunde zu legen, auf das beide wirken, und das das von den Gegensätzen bewegte Prinzip darstellt.30 Zekl (1987: 31) übersetzt den Ausdruck ,,άλλ' αμφω έτερον τι τρίτον" (189a25-26) wie folgt: „sondern beide zusammen bewirken ein Drittes". Daß diese Übersetzung nicht richtig sein kann, wird aus folgender Überlegung deutlich: Wenn die Gegensätze nämlich ein Drittes bewirken würden, so könnte dieses Dritte als ein Bewirktes bzw. Verursachtes selbst kein Prinzip sein, und folglich würden die Gegensätze letztlich doch ausreichen, um alles hervorbrin-
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streben, aufgrund der Tatsache, daß sie keinen Mangel hat, und auch nicht das Gegensätzliche [nach dem Gegensätzlichen], (denn Gegensätze sind in bezug aufeinander vernichtend), sondern dies [das Strebende] ist der Stoff [ή ήλη], so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt; nur nicht »häßlich« an sich, sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Häßlichkeit akzidentell zukommt], und auch nicht »weiblich« [an sich], sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Weiblichkeit akzidentell zukommt]." Vgl. 1.5, 188a31-34, wo bereits vom 'Wirken' (ποιείv) und 'Leiden' (πάσχειν) die Rede war. Auch wenn die angeführten Aporien von Aristoteles stammen, so wird hier in gewisser Weise doch immer noch vom Standpunkt der Vorgänger aus argumentiert. Denn der Gedanke eines Wirkens der Gegensätze ist ja gerade für die Gegensätze der Vorgänger charakteristisch, die diese als Kräfte aufgefaßt haben. Bezüglich des von Aristoteles später herausgestellten Gegensatzpaars 'είδος und στέρησις' kann wohl weniger von einem 'Wirken' derselben gesprochen werden. Vgl. auch Met. XII. 10, 1075a25-34. In einer auffallenden Parallele dazu führt Piaton im Phaidon (102d-e) folgendes aus: „Ich sage dies aber, weil ich möchte, du wärest derselben Meinung wie ich. Denn mir leuchtet ein, daß nicht nur die Größe selbst niemals will zugleich groß und klein sein, sondern daß auch die Größe in uns niemals das Kleine aufnimmt oder übertroffen werden will, sondern eines von beiden, daß sie entweder flieht und aus dem Wege geht, wenn ihr Gegenteil, das Kleine, sich nähert oder, wenn es da ist, untergeht, niemals aber bleibend und die Kleinheit aufnehmend etwas anders sein will, als sie war; [...]."(Obers, nach Schleiermacher) Nach Ansicht von Guzzoni (1975:43, Fn.21) handelt es sich bei diesem dritten Prinzip „um die eine, aber bewegte arche von A2."
D i e drei Aporien
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gen zu können. Die Übersetzung muß korrekterweise wie folgt lauten: „Sondern beide wirken auf ein Drittes". Wenn die Gegensätze nämlich auf ein Drittes wirken, so ist dieses Dritte nicht als Resultat der Wirkung zu betrachten, sondern es ist der Wirkung vielmehr als bereits existierend vorausgesetzt. Zugleich kann dieses Dritte, auf das die Gegensätze wirken, dennoch ein Bleibendes sein, wodurch es das in 189al9-20 ausgesprochene Kriterium des 'Immer-Bleibens' der Prinzipien erfüllt. Denn wir werden in Kapitel 1.7, 190a9-13 sehen, daß sich die Begriffe des 'Werdens' und 'Bleibens' Aristoteles zufolge nicht gegenseitig ausschließen, sondern daß etwas als Bleibendes (ύπομένον) durchaus werden (γίγνεται) kann: So wird z.B. ein Mensch als Bleibendes gebildet. 31 Setzt man hingegen nur Gegensätze als Prinzipien, die aufeinander wirken, so können diese einerseits nicht bleiben, denn die Wärme kann nicht die Kälte aufnehmen ohne das Principium contradictionis zu verletzen, und andererseits müssen sie doch bleiben, denn als Prinzipien sollen sie j a gerade das Bleibende darstellen. Zur abschließenden Anmerkung 189al6-17, daß einige noch mehr (άρχαί) annehmen, aus denen sie die Natur des Seienden (vgl. „την των δντων φύσιν") errichten, bemerkt Zekl: D i e s e r Satz klingt w i e eine nicht in den Text g e h ö r i g e Leseanmerkung. Er unterbricht den Ablauf. (Zekl, 1987: 2 4 4 , F n . 6 0 )
Nun beziehen sich die in der Aporie genannten beiden Beispiele eines Gegensatzpaares einerseits auf die Naturphilosophen der ersten Gruppe („Dichte und Dünne") und andererseits auf Empedokles („Streit und Liebe"). Der in der ersten Aporie enthaltene Bezug auf Empedokles wird nicht nur aus dem erwähnten Beispiel von „Streit und Liebe", sondern auch aus der sprachlichen Formulierung der Aporie deutlich. So ist davon die Rede, daß die Liebe den Streit nicht zusammenführt (συνάγει: 189a24) und etwas aus ihm macht. Dieses 'Zusammenfuhren' ist aber genau die Funktion, die Aristoteles auch an anderer Stelle (vgl. Phys. VIII. 1, 252a25-30) der Liebe als bewegendes Prinzip bei Empedokles zuschreibt. Vor diesem Hintergrund ist der Hinweis darauf, daß einige noch mehr Prinzipien annehmen, keineswegs - wie Zekl meint - als eine nicht in den Text gehörige Leseanmerkung zu verstehen, sondern vielmehr als ein Hinweis auf Empedokles, der ja neben den Gegensätzen 'Streit und Liebe' mit seinen vier Elementen nicht nur ein einziges, sondern gleichsam ein vierfaches ΰποκείμενον zugrunde gelegt hat. Da sich Aristoteles in diesem Kontext auf Empedokles bezieht, bedarf die Konklusion, der zufolge ein weiteres Drittes zugrunde zu legen ist, somit der erklärenden Ergänzung, daß manche (wie z.B. Empedokles) auch noch mehr als eines angenommen haben.
Hieraus ergibt sich nebenbei bemerkt für Aristoteles vermutlich auch die Überzeugung, daß es für die Vertreter der ersten Gruppe der Naturphilosophen eigentlich nur Eigenschaftsveränderungen, nicht aber Entstehens- und Vergehensprozesse im strengen Sinne geben kann. Denn wenn das den Gegensätzen zugrundeliegende Dritte als ein Bleibendes durch die Gegensätze 'Dichte und Dünne' eine Veränderung erfährt, so haben wir es genaugenommen immer nur mit einer Eigenschaftsveränderung zu tun (vgl. De gen. et corr. 1.1).
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
Zugleich deutet die abschließende Bemerkung über die „Natur der seienden Dinge [την των δντων φύσιν]" folgendes an: Im Gegensatz zu Kapitel 1.5, wo primär vom „Werdenden" (τά φύσει γιγνόμενα: 188b25) die Rede war und die Gegensätze als „Ursachen des Werdens" (αιτία της γενέσεως: 188b34-35) eingeführt wurden, ist nun in Kapitel 1.6 primär vom „Seienden" die Rede. Sind die Gegensätze in Kapitel 1.5 vor allem als Ursachen des Werdens für ein φύσει γιγνόμενον gesetzt worden, so muß das Dritte eher als Grund des Seins für ein φύσει öv gesetzt werden. So wird in der zweiten Aporie auch davon die Rede sein, daß wir die Gegensätze bei keinem Seienden (ούθενός των δντων: 189 a29) als Wesen vorkommen sehen. Guzzoni (1975: 43) weist hier daraufhin, daß zur Einführung der dritten άρχή nicht mehr vom Phänomen des Werdens eines Werdenden selbst ausgegangen wird. Demgegenüber ist Bostock (1982: 180) der Ansicht, daß es in Kapitel 1.6 die Erfordernisse von Veränderung und Entstehen sind, die die Idee einfuhren, daß ein drittes zugrundeliegendes Prinzip benötigt wird. Zwar trifft diese Interpretation in bezug auf die erste Aporie, wo von einem 'Wirken und Leiden' in bezug auf das Zugrundeliegende als das eine Wirkung erleidende Prinzip die Rede ist, sicherlich zu, doch ist nicht zu übersehen, daß das Kapitel 1.6 gegenüber dem Kapitel 1.5 nun eher den Aspekt des „Seienden" (öv) und des „Wesens" (ουσία) betont. Zwar ist die Physik gegenüber der Metaphysik primär am Werdenden interessiert - deshalb wird in Kapitel 1.5 auch mit den Gegensätzen im Hinblick auf die Erklärung des Werdens begonnen -, doch ebenso wie die Metaphysik auch am Werdenden interessiert sein muß, hat die Physik ihr Augenmerk ebenfalls auf das Seiende zu richten, da ein Werden ohne Bestand und ohne ein Bleibendes nach Ansicht von Aristoteles für uns nicht erkennbar wäre.
6.2.2 Die zweite Aporie (189a27-32) Außerdem könnte man wohl auch bei diesem in Aporie gelangen, wenn man den Gegensätzen nicht eine andere Natur zugrunde legte [ei μή τις έτέραν ύποθήσει τοις έναντίοις φύσιν]: Denn wir sehen die Gegensätze bei keinem Seienden als Ding/Wesen vorkommen [ούθενός γαρ όρώμεν των δντων ούσίαν τάναντία]. Das Prinzip aber darf nicht von etwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden [την δ' άρχήν ού καθ' υποκειμένου δει λέγεσθαί τίνος]. Denn dann gäbe es ein Prinzip des Prinzips [έσται γαρ άρχή της αρχής]. Das Zugrundeliegende nämlich ist Prinzip [τό γάρ ύποκείμενον άρχή], und es scheint früher als das [von ihm] Ausgesagte [του κατηγορουμένου] zu sein. (1.6, 189a27-32)
Ein weiterer Einwand gegen die Annahme, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, besteht dieser Aporie zufolge vereinfacht gesagt in folgendem: Wenn nur die Gegensätze als Prinzipien gesetzt werden, gelangt man notwendigerweise dazu, diesen Gegensätzen etwas zugrunde zu legen, was diesen vorausliegt, so daß es ein Prinzip des Prinzips gäbe und die Gegensätze letztlich keine Prinzipien sein könnten.
Die drei Aporien
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Mit dieser Aporie ist jedoch folgende Schwierigkeit verbunden: Bringt sie einerseits zum Ausdruck, daß die Annahme gegensätzlicher Prinzipien in die Aporie führt, daß dann notwendigerweise ein Drittes als ύποκείμενον für die Gegensätze zugrunde zu legen wäre, und daß es somit eine ,,άρχή der άρχή" (nämlich ein ύποκείμενον der Gegensätze) gäbe, woraus folgt, daß die als Prinzipien angenommenen Gegensätze selbst keine Prinzipien sein könnten, da sie „aus bzw. an einem anderen" wären,32 so scheint die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips, durch das diese Aporie doch gerade vermieden werden soll - denn sie beginnt ja mit dem Satz „außerdem könnte man wohl auch bei diesem in Aporien gelangen, wenn man den Gegensätzen nicht eine andere Natur zugrunde legte" (189a27-29) -, andererseits ebenfalls in diese Aporie zu führen. Denn bei Annahme eines den Gegensätzen zugrundeliegenden Dritten könnte ja - wie das Argument zeigt - letztlich nur noch das Zugrunde liegende ein Prinzip sein, wodurch die Rede von einem „dritten Prinzip" widersinnig erschiene.33 Aufgrund dieser Schwierigkeit wollen wir die Aporie im folgenden genauer betrachten. (1) Aristoteles beginnt die Aporie mit einer Behauptung: „Außerdem könnte man wohl auch bei diesem in Aporie gelangen, wenn man den Gegensätzen nicht eine andere Natur zugrunde legte [έτέραν ΰποθήσει τοις έναντίοις φύσιν]" 34 (189a27-29). Diese Behauptung erfährt folgende Begründung: (2) „Denn wir sehen die Gegensätze bei keinem Seienden als Ding/Wesen vorkommen [ούθενός γαρ όρώμεν των όντων ούσίαν τάναντία]" (189a29). Die Aussage, daß wir die Gegensätze bei keinem Seienden als Ding/Wesen (ουσία) vorkommen sehen, verstehe ich in dem Sinne, daß die Gegensätze für Aristoteles nicht die ουσία im Sinne der Dinglichkeit, Selbständigkeit und Wesenhaftigkeit eines Seienden ausmachen.35 So nimmt man auch bei den Werdeprozessen die Gegen32 33
35
Eine ahnliche Argumentation findet sich auch in Met. XIV. 1, 1087a31-36. Auch Wieland (1962: 108) scheint hier eine Schwierigkeit zu sehen: „Daher ist es nötig, noch ein Drittes anzunehmen, an dem sich diese Gegensätze zeigen, die aber trotzdem aus ihm nicht abgeleitet werden können, da wir sonst eine arche der arche hätte." Wieland begegnet der skizzierten Schwierigkeit dadurch, daß er sagt, daß sich die Gegensätze an dem Zugrundeliegenden zeigen und trotzdem nicht aus ihm abgeleitet werden können. Dadurch vermeidet er es zwar, von einem „vorkommen" oder „ausgesagt werden" in bezug auf die Gegensätze zu sprechen, doch löst diese sprachliche Umformulierung das Problem nicht. Der Ausdruck „έτέραν ΰποθήσει τοις έναντίοις φύσιν" kann entweder bedeuten, daß (1) den Gegensätzen, die selbst jeweils eine φύσις darstellen, eine andere φύσις zugrunde zu legen ist, oder daß (2) den Gegensätzen, die selbst keine φύσις sind, etwas anderes als φύσις zugrunde zu legen ist. Welche Bedeutung hier gemeint ist, hängt unter anderem davon ab, was man in 189a27 unter der „Beschaffenheit des Seienden" (φύσις των όντων) versteht. Wird diese „φύσις των όντων" nur durch das ύποκείμενον, nicht aber durch die Gegensätze konstituiert, so würde wohl eher die Bedeutung (2) zutreffen. Zählt man aber zur „φύσις των όντων" sowohl das ύποκείμενον wie auch die Gegensätze, so würde wohl eher die Bedeutung (1) zutreffen. Auch wenn die Verwendung des Wortes „φύσις" in Kapitel 1.6 darauf hindeutet, daß mit „φύσις" eher die materielle Beschaffenheit eines Seienden und primär dessen ύποκείμενον gemeint ist, schließt dies nicht aus, daß der Begriff der φύσις auch in seiner weiten Bedeutung verstanden werden kann, in der er sowohl die materielle aus auch die formale Beschaffenheit eines Seienden meint. Vgl. auch Charlton (1970: 68 f.), der die Begründung in a29 in dem Sinne versteht, daß Aristoteles hier meint, 'dicht' und 'heiß' seien anders als 'ein Hund' und 'ein Baum' keine Ausdrükke für Einzeldinge: „[...]; but I think that what he [Aristoteles] has in mind is rather that
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ϋποκείμενον'
sätze nicht als das Bleibende, sondern vielmehr als das Wechselnde wahr: Beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen erweisen sich die Gegensätze „gebildet-ungebildet" als Nichtbleibendes, während der Mensch das bleibende Moment darstellt. Aristoteles wird die ουσία in Kapitel 1.7, 190a 10 ff. im Unterschied zu den Gegensätzen auch zunächst als das Bleibende (ύπομένον) bei einem Werdeprozeß bestimmen.36 Im Gegensatz zu dieser Interpretation ist Guzzoni der Ansicht, daß die Gegensätze aus folgendem Grunde nicht die ούσία eines Seienden ausmachen: Seiendes aber, das einen Gegensatz zu seinem Wesen hätte, müßte zugleich sein und nicht sein, was es ist; es wäre in sich widersprüchlich. (Guzzoni, 1975: 44)
Der Grund, den Guzzoni dafür anfuhrt, daß die Gegensätze nicht die ούσία eines Seienden ausmachen, deutet auf eine logische Unmöglichkeit hin, die sich ergäbe, wenn die Gegensätze die ουσία eines Seienden ausmachen würden. Im Text selbst ist jedoch weniger von einer logischen Unmöglichkeit, als vielmehr in einem schwächeren Sinne davon die Rede, daß wir sehen, daß die Gegensätze faktisch nicht als ούσία vorkommen. Zudem geht Guzzoni in ihrer Interpretation offenkundig davon aus, daß hier davon die Rede sei, daß ein Seiendes kein Gegensatzpaar zu seinem Wesen haben kann. Denn nur wenn man die „Gegensätze" (τάναντία: a29) im Sinne eines „Gegensatzpaares" versteht, würde sich ergeben, daß ein Seiendes, das ein Gegensatzpaar zu seinem Wesen hätte, zugleich sein und nicht sein müßte, was es ist. Wenn man aber die „Gegensätze" im Sinne der einzelnen „Gegensatzglieder" versteht - und dies scheint hier, wie der Kontext nahelegt, eher gemeint zu sein ergibt sich nicht, daß ein Seiendes, das ein Gegensatzglied zu seinem Wesen hat, zugleich sein und nicht sein müßte, was es ist. Aus diesem Grunde scheint mir die Interpretation von Guzzoni hier nicht zutreffen zu können. Es geht hier nicht darum, daß die Gegensätze nicht die ούσία eines Seienden ausmachen, weil sich sonst ein Seiendes ergäbe, das einen Widerspruch darstellt, sondern es geht darum, daß die Gegensätze nicht die ούσία eines Seienden ausmachen, weil sie als einzelne Gegensatzglieder von einer ούσία ausgesagt werden und deshalb nicht selbst die ούσία sein können. Wäre mit dem Ausdruck „τάναντία" ein Gegensatzpaar gemeint, so würde auch
36
'dense' and 'hot' are not expressions for particular things in the way in which 'a dog' or 'a tree' is an expression for a particular thing, and that we do not call dense or warm a cat's fur, bur rather call a cat's fur warm and dense." Auch beim Wechsel der Elemente, von denen es in 1.6, 189b3-8 heißt, daß sie immer schon mit Gegensätzlichkeiten verflochten sind, stellen die Gegensätze ('trocken-feucht', 'warm-kalt') das Nicht-Bleibende dar. Das Theorem, daß wir die Gegensätze bei keinem Seienden (vgl. ,,ούθενός των όντων") als ούσία vorkommen sehen, erweist sich jedoch vor dem Hintergrund des gegensätzlichen Verhältnisses der Elemente zueinander zunächst insofern als problematisch, als man doch wohl vom Feuer sagen würde, daß der Gegensatz 'heiß' seine ούσία ausmacht. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß der Gegensatz 'heiß' zwar die ούσία des Feuers im Sinne des Wesens ausmacht (denn es kommt dem Feuer ja wesentlich zu, heiß zu sein), doch macht es nicht die ούσία des Feuers im Sinne seiner Dinglichkeit und Selbständigkeit aus. Wie bereits dargelegt wurde, scheint Aristoteles den Begriff der ούσία in Kapitel 1.6 nicht nur im engeren Sinne auf das spezifische Wesen eines Dings zu beziehen, sondern auch in einem weiten Sinne als 'Ding im einfachen Sinne' zu verstehen. Und die Gegensätze stellen für Aristoteles keine Dinge dar; vielmehr sind sie etwas, das an Dingen vorkommt.
D i e drei Aporien
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das in den nachfolgenden Sätzen Gesagte keinen Sinn mehr ergeben, wo Aristoteles sinngemäß daraufhinweist, daß die einzelnen Gegensätze im Sinne der Gegensatzglieder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Würde man auch hier unter den ,,τάναντία" ein Gegensatzpaar verstehen, so ergäbe sich ebenfalls eine widersprüchliche Konklusion, da nun ein Gegensatzpaar von einem Zugrundeliegenden ausgesagt würde, wodurch sich ebenfalls ein Seiendes ergäbe, das einen Widerspruch darstellt. Aristoteles will dort aber offensichtlich nicht leugnen, daß Gegensätze von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. (3) „Das Prinzip aber darf nicht von etwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden [την δ' άρχήν οϋ καθ' υποκειμένου δει λέγεσθαί τίνος]" (189a30). Wenn man also (1) nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn wir (2) die Gegensätze selbst bei keinem Seienden als ουσία vorkommen sehen, so ergibt sich Aristoteles zufolge schließlich, daß die Gegensätze von einer ούσία ausgesagt würden. Wurde den Gegensätzen in Kapitel 1.5 in bezug auf das Werdende insofern eine 'wesentliche' Funktion zugeschrieben, als sie die Ursachen des Werdens sind, so verlieren sie diese 'wesentliche' Funktion in Kapitel 1.6 nun jedoch insofern in bezug auf das Seiende, als sie bei einem Seienden nicht die ο υ σ ί α ausmachen. Der Alternative, daß etwas entweder von einem anderen oder umgekehrt anderes von ihm ausgesagt wird, worin zweifelsohne ein aristotelisches Theorem zu sehen ist, sind wir bereits in Kapitel 1.3, 186a32-b5 und b l 7 f. (vgl. auch 1.2, 185a31-32) begegnet. All dies führt schließlich in die Aporie: (4) „Denn dann gäbe es ein Prinzip des Prinzips [έσται γαρ ά ρ χ ή της άρχής]. Das Zugrundeliegende nämlich ist Prinzip [τό γαρ ύποκείμενον άρχή], und es scheint früher als das [von ihm] Ausgesagte [του κατηγορουμένου] zu sein" (189a30-32). Mit anderen Worten: Wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn diese selbst nicht die ο ύ σ ί α eines Seienden darstellen, so ergibt sich in einem ersten Schritt, daß die Gegensätze an der ούσία vorkommen bzw. von dieser ausgesagt werden (vgl. auch 1.2, 185a31 und 1.7, 190a34-bl). In einem zweiten Schritt ergibt sich, daß die als Prinzipien angenommenen Gegensätze keine Prinzipien mehr sein können, da ihnen etwas zugrunde liegt, von dem sie ausgesagt werden, welches folglich früher als sie ist. Die Gegensätze wären somit aus bzw. an einem anderen; sie wären nicht „erstes" (πρώτον), und es gäbe somit eine ά ρ χ ή der άρχή, was jedoch unmöglich ist. Ist die dargelegte Aporie nun zwar einsichtig geworden, so bleibt jedoch weiterhin unverständlich, wieso diese Aporie durch die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips vermieden werden kann. Denn die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips scheint doch gerade in die Aporie zu führen. 37 Nun hat die zweite Aporie zunächst die Funktion, darzulegen, daß man ohne die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips - d.h. wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt - unvermeidlich in die Aporie gelangt, Es ist allerdings zu bedenken, daß Aristoteles am Ende des Kapitels 1.6 selbst darauf hinweist, daß in bezug auf die Frage, ob wir zwei oder drei Prinzipien anzunehmen haben, noch viele Schwierigkeiten bleiben, so daß die skizzierte Problematik vielleicht zu diesen verbliebenen Schwierigkeiten zu zählen ist, die in Kapitel 1.6 noch nicht gelöst werden konnten.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
der zufolge den Gegensätzen als Eigenschaften ein ύποκείμενον zugrunde zu legen ist, woraus sich letztlich ergibt, daß die Gegensätze aufgrund ihrer Unselbständigkeit - d.h. aufgrund der Tatsache, daß es etwas gibt, das ftlr sie vorausgesetzt werden muß - keine Prinzipien sein können. Nimmt man jedoch von vornherein ein drittes, zugrundeliegendes Prinzip an, das von den Gegensätzen unterschieden ist, so bedeutet dies zwar nicht, daß die Aporie damit verschwunden wäre - in diesem Zusammenhang weist Guzzoni (1975: 45) zu Recht darauf hin, daß Aristoteles in bezug auf keine der drei von ihm aufgezeigten Aporien ausdrücklich sagt, „inwiefern ein dritter Grund die jeweils sich ergebenden Schwierigkeiten beheben könnte" doch befindet sie sich nun auf einer höheren Ebene. Nun stellt sich nämlich die Frage, in welchem Verhältnis die Prinzipien zueinander stehen müssen, bzw. in welchem Sinne die beiden 'gegensätzlichen' Prinzipien in Relation zum ύποκείμενον zu fassen sind, so daß nicht das eine Prinzip 'früher' als das andere ist. In Kapitel 1.7 wird Aristoteles diese Frage dadurch beantworten, daß er einerseits zwar ebenfalls ein ύποκείμενον annimmt, daß er andererseits jedoch die konträren Gegensätze der Vorgänger als Prinzipien aufgibt und durch den umfassenderen Gegensatz von 'είδος und στέρησις' ersetzt, die einen Gegensatz ganz anderer Art als die konträren Gegensätze der Vorgänger darstellen. 38 Die Relation zwischen είδος und ύποκείμενον wird dann als eine eher wechselseitige Abhängigkeit voneinander bestimmt werden. Bostock ist allerdings der Ansicht, daß Aristoteles diesen Unterschied zwischen den konträren Gegensätzen der Vorgänger und seinem eigenen Gegensatz von 'είδος und στέρησις' übersehen habe: Thus form and privation are much more general concepts than that of an opposite, but Aristotle seems not to have noticed this point. I say this because in chapter 5 he offers himself to argue for the thesis that change is always between opposites (188a31 ff.), though this is not the doctrine of chapter 7. (Bostock, 1982: 190)
Daß Aristoteles den Unterschied zwischen den Gegensätzen seiner Vorgänger und seinem eigenen Gegensatz von 'είδος und στέρησις' jedoch nicht übersehen hat, macht er in 1.7, 191al7-18 explizit deutlich. Wie bereits dargelegt wurde, geht Bostock von der Prämisse aus, daß Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnt, so daß Bostock zur Ansicht gelangt, daß die in Kapitel 1.5 ausgesprochene These, daß sich ein jeder Wandel zwischen konträren Gegensätzen vollzieht, bereits die aristotelische Auffassung über das Werden sei, die allerdings mit der in Kapitel 1.7 dargelegten Auffassung nicht übereinstimmt. Bostock (1982: 191 f.) ist ferner der Ansicht, daß der aristotelische Ansatz insofern mit Widersprüchlichkeiten behaftet ist, als er aus folgendem Grunde ebenfalls in die zweite Aporie fuhrt: Insofern Aristoteles nach Ansicht von Bostock in der zweiten Aporie davon ausgeht, daß die Gegensätze der Vorgänger 38
Vgl. dazu 1.7, 191 al7-19, w o die Leistung des Kapitels 1.7 gegenüber der Leistung des Kapitels 1.6 in der Weise bestimmt wird, daß das Kapitel 1.7 herausgestellt hat, (a) was der Unterschied unter den Gegensätzen ist, (b) wie sich die άρχαί zueinander verhalten, und (c) was das ύποκείμενον ist.
Die drei Aporien
Prädikate sind und deshalb keine Prinzipien sein können kat setzt ein Subjekt voraus, von dem es ausgesagt wird genen Theorie gleichfalls in diese Aporie geraten, da er 'είδος und στέρησις' j a auch als Prädikate setzt, die von den.
233 denn ein jedes Prädiwird er mit seiner eiseine Prinzipien von etwas ausgesagt wer-
[...] for just as Aristotle (wrongly?) thinks of the traditional opposites as predicates, so form and privation too are predicates, and therefore apt to characterise other (underlying) things, and not one another. [...] One thing that is surprising about this argument is that, as Aristotle presents it, it claims that nothing that is predicated of a subject can be a principle at all, for the subject would be the principle of its predicate, and there cannot be a principle of a principle. If we were right in saying just now that Aristotle's form and privation are both predicative in character, it therefore follows from this argument that they are not principles after all. (Bostock, 1982: 191 f.)
Eine Lösung dieses Widerspruchs sieht Bostock darin, daß Aristoteles in der zweiten Aporie anstelle der stärkeren Behauptung, daß nichts, was ein Prädikat ist, ein Prinzip sein kann, nur die schwächere Behauptung aufstellt, der zufolge das Subjekt einer Prädikation ein Prinzip sein muß, wenn seine Prädikate Prinzipiep sind. Bostock sieht jedoch keinen eindeutigen Grund, warum man dieser schwächeren Behauptung zustimmen soll: It seems better, then, not to press the argument to this disagreeably strong conclusion, but to rest content with the claim that a subject of predication must be a principle if its predicate is. (There is, however, no very strong reason to agree with this claim.) (Bostock, 1982: 192)
Der Kritik von Bostock ist allerdings folgendes entgegenzuhalten: Zum einen geht Bostock zu Unrecht davon aus, daß Aristoteles bereits in den Kapiteln 1.5 und 1.6 seine eigene Theorie darlegt, wobei dies j a die Voraussetzung dafilr darstellt, daß überhaupt von einer Inkonsistenz innerhalb der aristotelischen Theorie zwischen dem in den Kapiteln I.5/I.6 und dem in Kapitel 1.7 Gesagten gesprochen werden kann. 39 Zum anderen scheint mir die Behauptung, daß Aristoteles seine Prinzipien 'εϊδος' und 'στέρησις' in Kapitel 1.7 ebenfalls als Prädikate setzt, in dieser allgemeinen Form nicht zuzutreffen. Dies wird in der Analyse des Kapitels 1.7 ausfuhrlicher dargelegt werden, doch sei an dieser Stelle bereits auf folgendes hingewiesen: Zwar sind solche (sekundären) Formen (εϊδη) wie z.B. 'gebildet', 'ungebildet', 'weiß' und 'schwarz' in Kapitel 1.7 durchaus als Prädikate zu verstehen, die von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden, doch gilt dies nicht generell für alle Formen (ε'ίδη). Denn in bezug auf solche (primären) Formen (εϊδη) wie z.B. 'Statue' und 'Mensch' soll Aristoteles zufolge j a gerade nicht gelten, daß 'Statue' von dem ύποκείμενον 'Erz' oder 'Mensch' von dem
Wieland (1962: 108) weist zu Recht daraufhin, daß Aristoteles die Untersuchung in den Kapiteln 1.5 und 1.6 noch nicht mit Hilfe seiner Grundbegriffe fllhrt, da es ihm zunächst um eine zusammenfassende Darstellung des von seinen Vorgängern Intendierten geht (vgl. auch Charlton, 1970: 67 f., der darauf hinweist, daß Aristoteles in Kapitel 1.6 sehr vorsichtig formuliert).
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ΰποκείμενον'
ύποκείμενον 'Same' ausgesagt wird; vielmehr sind sie solche Formen, von denen andere (sekundäre) Formen ausgesagt werden: [...] (denn sowohl ein Quantitatives [ποσόν] wie ein Qualitatives [ποιόν] und ein Relatives [προς ετερον] und ein Irgendwann [ποτέ] und ein Irgendwo [πού] werden an einem Zugrundeliegenden [γίγνεται υποκειμένου τινός], wegen der Tatsache, daß allein das Ding/Wesen [ούσία] von keinem anderen [als seinem] Zugrundeliegendem ausgesagt wird, während alles andere aber von dem Ding/Wesen ausgesagt wird). (1.7,190a34-bl)
Zwar wird es in Kapitel 1.7 von solchen ούσίαι wie z.B. Mensch und Statue heißen, daß sie aus einem ΰποκείμενον werden (190b 1-2) - was ebenfalls den Gedanken nahelegt, daß das ύποκείμενον als dasjenige, aus dem Mensch und Statue werden, früher als Mensch und Statue ist -, doch wird hierbei zu beachten sein, daß in solchen Sätzen wie „ein Mensch wird aus einem ΰποκείμενον", mit „Mensch" als ούσία nicht mehr nur das (bloße) είδος „Mensch", sondern vielmehr bereits der 'ganze' Mensch als ein aus Form und Stoff Zusammengesetztes gemeint ist. Das είδος selbst wird nämlich nicht (vgl. Met. VII.8). In diesem Sinne ist das ύποκείμενον zwar zeitlich früher als der ganze Mensch, nicht aber ist es seinem Wesen nach früher als das είδος 'Mensch'. Unter Vorwegnahme späterer Details sei in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, daß Aristoteles am Ende des Kapitels 1.7 sagen wird, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία ist (191 al920). Diese Bemerkung, in der mit dem Ausdruck „ούσία" nicht mehr das Ding, sondern vielmehr das Wesen von etwas gemeint ist,40 findet ihre Erklärung vermutlich in folgendem Umstand: Je nach Art des Werdeprozesses kann entweder das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία sein. Nehmen wir (1) das Beispiel, daß ein Mensch gebildet wird, so erhält das ύποκείμενον 'Mensch' das είδος 'Bildung' und es entsteht schließlich ein 'gebildeter Menschen', bei dem 'Mensch' die ούσία und 'gebildet' ein Akzidens an der ούσία ist. Nehmen wir aber (2) das Beispiel, daß eine Statue aus Erz wird, so erhält das ύποκείμενον 'Erz' das είδος 'Statue' und es entsteht schließlich eine 'eherne Statue', bei der 'Statue' die ούσία und 'ehern' ein Akzidens an der ούσία ist. Der Grund, warum Aristoteles nicht sagt, daß das είδος klarerweise die ούσία darstellt, ist folglich darin zu sehen, daß den Ausführungen von Kapitel 1.7 zufolge nicht nur 'Mensch', 'Statue', 'Pferd' usw., sondern auch 'gebildet', 'weiß' bzw. 'Bildung', 'Weiße' usw. zu den εϊδη zählen, wobei letztere jedoch nicht die ούσία von etwas darstellen. Wäre das είδος in Kapitel 1.7 jedoch generell als Prädikat zu verstehen, so wäre klar, daß nur das ύποκείμενον die ούσία sein könnte. Zwar sieht auch Bostock, daß Aristoteles das είδος in Kapitel 1.7 als ούσία im Sinne des „Wesens von etwas" bestimmen wird, doch deutet er dies als eine weitere 'Überraschung' innerhalb der aristotelischen Theorie: A second surprising feature of this argument is that it is introduced by the remark that the opposites are not the substance of any existing thing, which presumably must be 40
Vgl. Wieland (1962: 136, Fn.27): „ ο ύ σ ί α bedeutet hier erstmals im Text »Wesen« und nicht »Ding«."
Die drei Aporien
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taken to mean that they are not the substance of anything that Aristotle classes as a substance, i.e. that no opposite gives the essential nature (ti estin) of any substance. N o doubt this may be accepted so far as the traditional opposites are concerned, but we have seen that it does not hold for form and privation, for 'form' must here be taken to include the essential nature (ti esti) of any generable substance. (Bostock, 1982: 192)
Diese weitere 'Überraschung' stützt jedoch vielmehr die These, daß das in den drei Aporien zum Ausdruck kommende Modell, das von der konträren Gegensätzlichkeit der Prinzipien in bezug auf ein ihnen zugrundeliegendes ύποκείμενον ausgeht, noch nicht das aristotelische Modell sein kann, gerade weil Aristoteles das είδος in Kapitel 1.7 auch als Substanz auffassen wird. Während nämlich die konträren Gegensätze der Vorgänger eher im Sinne von akzidentellen Formen zu verstehen sind, die an einem Zugrundeliegenden vorkommen, kann das von Aristoteles vertretene είδος auch für eine Substanz wie z.B. 'Mensch' stehen, für die es keinen konträren Gegensatz gibt.
6.2.3 Die dritte Aporie (189a32-34) Zudem: Wir behaupten, daß die ούσία nicht einer ο υ σ ί α entgegengesetzt ist. Wie sollte dann aus Nicht-ούσίαι ούσία sein? Oder wie sollte Nicht-ούσία früher als ο ύ σ ί α sein? (1.6, 189a32-34)
Der in dieser Aporie zum Ausdruck gebrachte Einwand gegen die Annahme, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, lautet wie folgt: Wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, so wäre nicht alles - nämlich nicht die ούσία - aus den Prinzipien. Folglich wären die als alleinige Prinzipien gesetzten Gegensätze letztlich doch keine Prinzipien, da sie das dritte Kriterium einer ,,άρχή" nicht erfüllen, dem zufolge alles aus den Prinzipien sein muß. Die hier als Begründungangefiihrte These, daß die ούσία nicht einer ούσία entgegengesetzt ist, ist ein aristotelisches Theorem (vgl. ,,φαμεν": 189a32),41 dem man auch an anderen Stellen seines Werkes begegnet.42 Zwar wird dieses Theorem - wie Wagner
42
Vgl. Charlton (1970: 69): „Third, we say - and 'we' here means the Lyceum, not the man in the street - that a reality has no opposite." Vgl. Kat. 5, 3Ö24-25, Met. XIV.l, 1087b2-3 und Phys. V.2, 225bl0-l I. im Unterschied zu diesen Textstellen, wo es heißt, daß nichts der ούσία entgegengesetzt ist, wird in Phys. 1.6 jedoch nur gesagt, daß nicht eine ούσία der ούσία entgegengesetzt ist. Der Grund für diese schwächere Behauptung in Phys. 1.6 ist vermutlich darin zu sehen, daß in Kapitel 1.5 ja noch von 'Haus' und 'Statue' gesagt wurde, daß sie ein Gegenüberliegendes (άντικείμενον) haben, aus dem sie werden. Obgleich die Tatsache, daß in Kapitel 1.5 von 'Haus' und 'Statue' gesagt wurde, daß sie ein 'Gegenüberliegendes' haben, während es in Kapitel 1.6 heißt, daß eine ούσία nicht einer ούσία entgegengesetzt ist, zunächst wie ein Widerspruch erscheint, darf hierbei doch folgendes nicht übersehen werden: Zum einen ist in Kapitel 1.5 nicht von einem ,,έναντίον", sondern von einem „άντικείμενον" die Rede. Zum anderen wird in Kapitel 1.5 sowohl von dem Haus wie auch von demjenigen, was dem Haus gegenüberliegt, nicht gesagt, daß sie 'Dinge/Wesen' (ούσίαι) seien, sondern vielmehr werden sie dort noch als Zustände und Zusammensetzungen (διαθέσεις und συνθέσεις) bezeichnet. In diesem Zusammenhang sei auch an Met. VIII.3, 1043b20 ff. erinnert, wo Aristoteles in bezug auf technische Dinge wie z.B. Haus und Gerät Bedenken äußert, ob diese überhaupt als ούσίαι aufzufassen sind.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
(1967: 424) zu Recht bemerkt - in 189a32-33 nicht begründet, doch findet sich bereits in der zweiten Aporie eine Andeutung auf dieses Theorem. Bedenkt man nämlich, daß dort gesagt wurde, daß wir bei keinem Seienden die Gegensätze als ο υ σ ί α vorkommen sehen, so deutet dies darauf hin, daß umgekehrt die ο ύ σ ί α ι einander nicht entgegengesetzt sind. Das mit der dritten Aporie vorgelegte Argument besagt inhaltlich betrachtet folgendes: Wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn eine ο υ σ ί α einer ο υ σ ί α nicht entgegengesetzt ist, so ergibt sich die Schwierigkeit, wie dann aus den Nicht-ούσίαι (gemeint sind die Gegensätze) die ο ύ σ ί α ι sein sollen und wie diese Nicht-ούσίαι früher als die ο ύ σ ί α ι sein sollen. Mit dieser rhetorische Frage bringt Aristoteles zum Ausdruck, daß, wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn aus ihnen als Prinzipien alles sein muß, auch die ο ύ σ ί α letztlich aus den Gegensätzen sein müßte. Da die Gegensätze jedoch - wie die zweite Aporie gezeigt hat - keine ο ύ σ ί α ι sind, wären die ο ύ σ ί α ι folglich aus Nicht-ούσίαι. Dies ist jedoch unmöglich, weil - wie ebenfalls die zweite Aporie gezeigt hat - die ο ύ σ ί α früher als die Gegensätze ist, da letztere von der ο ύ σ ί α ausgesagt werden. 43
6.3 Die zugrundeliegende
Natur der Vorgänger
(189a34-bl6)
Nachdem die drei Aporien im Rückgriff auf die drei Kriterien einer ,,άρχή", die in Kapitel 1.5 einen guten Grund dafür abgaben, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, nun gezeigt haben, daß diese Gegensätze gerade nicht die drei Kriterien einer „ α ρ χ ή " erfüllen und somit keine Prinzipien sein können, wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt, soll die Einsicht, daß sich die Prinzipien aus (wenigstens) einem Gegensatzpaar und (wenigstens) einem ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν zusammenzusetzen haben, zunächst als gesichert betrachtet werden. Folglich, wenn einer die frühere Argumentation44 für wahr halten will, und diese auch, so ist es notwendig, wenn man beide bewahren will, etwas Drittes zugrunde zu legen [ύποτιθέναι τι τρίτον], wie z.B. jene sprechen, die behaupten, das Ganze sei eine bestimmte Natur [μίαν τινά φΰσιν], z.B. Wasser oder Feuer oder das Mittlere von diesen. (1.6, 189a34-b3) Die Konklusion aus den drei Aporien, der zufolge neben den beiden Gegensätzen notwendigerweise ein Drittes als Prinzip zugrunde zu legen ist, bringt die Naturphilosophen der ersten Gruppe wieder ins Gespräch. 45 Zwar wurden diese
45
Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen der zweiten und der dritten Aporie ist die von Guzzoni (1975: 4 4 ) behauptete Selbständigkeit einer jeden der drei Aporien - „Aristoteles' Argumentation vollzieht sich in drei gegeneinander selbständigen Schritten, die die verschiedenen Schwierigkeiten aufzeigen, die sich aus der Annahme von nur zwei Gründen ergeben." - einzuschränken. Gemeint ist die Argumentation in Kapitel 1.5, der zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen. Zugleich ist nicht zu übersehen, wie vorsichtig sich Aristoteles hier in sprachlicher Hinsicht in bezug auf die für die Konklusion vorausgesetzte Wahrheit der in den Kapiteln I. 5 und 1. 6 dar-
Die zugrundeliegende Natur der Vorgänger
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zu Beginn des Kapitels 1.4 bereits erwähnt, doch rückten sie dann zunächst wieder in den Hintergrund. Wird von ihnen nun implizit gesagt, daß sie mit dem von ihnen zugrunde gelegten Stoff und den zwei (bewegenden) Gegensätzen letztlich drei Prinzipien angenommen haben, so steht dies allerdings in einem Gegensatz zur diairetischen Einteilung der möglichen Anzahl von Prinzipien in Kapitel 1.2, 184b 16-18, wo es hieß, daß sie nur ein einziges - und zwar bewegtes - Prinzip angenommen haben. Ein Grund für diese den Naturphilosophen zugeschriebene unterschiedliche Anzahl von Prinzipien ist vielleicht darin zu sehen, daß bei der diairetischen Einteilung der Anzahl von Prinzipien in Kapitel 1.2 zunächst primär von den Prinzipien der von Natur aus seienden Dinge (φύσει δντα) die Rede war, bei denen die Ursachen des Werdens noch nicht eigens thematisiert wurden. Hierfür spricht sowohl der Umstand, daß für den Ursprung der Bewegung selbst kein Prinzip genannt wurde - vielmehr war davon die Rede, daß die Eleaten ein unbewegtes und die Naturphilosophen ein bewegtes Prinzip angenommen haben, ohne daß die Frage gestellt wurde, wodurch das eine Prinzip der Naturphilosophen bewegt wird -, als auch die Tatsache, daß Aristoteles dieser Diairesis eine analoge Einteilung bezüglich der Frage, wieviele Seiende (δντα) es gibt, folgen läßt. Im weiteren Verlauf der Untersuchung gelangten dann aber zunehmend die Ursachen der Bewegung in den Blickpunkt. Wenn Aristoteles nun von den Naturphilosophen der ersten Gruppe sagt, daß bei ihnen das Ganze (τό παν) eine bestimmte Natur (vgl. „μίαν τινά φύσιν": 189b2) sei - z.B. „Wasser" (Thaies) oder „Feuer" (Heraklit) -, so ist das Wort „Natur" (φύσις), das bei Aristoteles zu den Ausdrücken zählt, die 'auf mehrfache Weise gesagt werden' (vgl. Met. V.4), hier wohl in einem stofflichen Sinne zu verstehen. Denn einerseits steht „Natur" hier ja für das zugrundeliegende Prinzip, das Aristoteles später auch als „ύλη" bezeichnen wird (vgl. 1.9), und andererseits zeichnen sich die hier für die 'Natur' angeführten Beispiele Wasser, Feuer oder Mittleres gerade durch ihre Stofflichkeit aus. Es scheint aber mehr das Mittlere zu sein. Denn Feuer, Erde, Luft und Wasser sind bereits mit Entgegensetzungen verbunden [μετ έναντιοτήτων συμπελεγμένα εστίν]. Deshalb handeln auch die nicht unbegründet/unvernünftig [ούκ άλόγως], die das Zugrundeliegende [τό ϋποκείμενον] als ein von diesen Verschiedenes [έτερον] ansetzen, von den anderen aber diejenigen, die Luft annehmen, denn die Luft hat von den anderen [Elementen] noch am wenigsten wahrnehmbare Unterschiede [διαφοράς αίσθητάς]. Danach aber kommt das Wasser. (1.6, 189b3-8)
Vor dem Hintergrund, daß die Naturphilosophen jeweils verschiedene 'Naturen' - der eine Wasser, der andere Feuer usw. - als Zugrundeliegendes angenommen haben, erfahren ihre Ansichten nun eine weitergehende Differenzierung, der zufolge aus Sicht von Aristoteles auch bei den Naturphilosophen einige vernünftiger (und somit besser), andere aber unvernünftiger (und somit schlechter) zu reden scheinen. Die Hierarchisierung der zugrunde gelegten Stoffe - am sinnvollsten scheint das Mittlere zu sein, danach käme die Luft und dann das Wasser gelegten Argumentationen ausdrückt, wenn er sagt: „Wenn einer die frühere Argumentation für wahr halten will [άληθή νομίσειεν], und diese auch, so ist es notwendig [...]."
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
deutet eine graduelle Abstufung des 'Treffens der Wahrheit' an. Derjenige Ansatz, der Aristoteles am vernünftigsten zu sein scheint, weil er ein Zugrundeliegendes setzt, das nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist, ist derjenige, der ein Mittleres zwischen den Elementen annimmt (vgl. auch 187al4-15), da die vier Elemente Aristoteles zufolge bereits mit Gegensätzlichkeiten verwoben sind (vgl. Abb. 6.1). Dies deutet daraufhin, daß das Mittlere nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist.46 Zwar wird hier kein Grund dafür angeführt, warum das Zugrundeliegende nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten sein darf, doch ist dieser wohl darin zu sehen, daß das Zugrundeliegende, wäre es selbst mit Gegensätzlichkeiten verflochten, eher zu den gegensätzlichen Prinzipien zählte und somit ebenfalls die Existenz eines anderen Zugrundeliegenden für sich voraussetzen würde. Die zweite Aporie hat ja gezeigt, daß den Gegensätzen eine andere (vgl. ,,εί μή τις έτέραν ύποθήσει τοις έναντίοις φύσιν": 189a28-29), von den Gegensätzen verschiedene Natur zugrunde zu legen ist. Vor diesem Hintergrund kann in der Bemerkung 189b3-8 insofern eine implizite Kritik an dem Ansatz von Empedokles gesehen werden, als dieser mit seinen vier Elementen als Zugrundeliegendes für die gegensätzlichen Prinzipien der Bewegung 'Streit und Liebe' ebenfalls Gegensätze als Zugrundeliegendes angenommen hat. Mit der Hierarchie der zugrundeliegenden Stoffe, die sich je nach dem Ausmaß, in dem sie mit Gegensätzlichkeiten verflochten sind, voneinander unterscheiden, und die sich für Aristoteles mehr oder weniger gut als zugrundeliegende Natur eignen, knüpft er an die Hierarchie der früheren und späteren Gegensätze aus Kapitel 1.5 an. Wurde dort von den Gegensätzen, die dem Begriff (λόγος) nach bekannter sind, gesagt, daß sie im Unterschied zu denjenigen Gegensätzen, die der Wahrnehmung (α'ίσθησις) nach bekannter sind, eher als Prinzipien fungieren können, so soll analog dazu auch die als ein Prinzip zugrundeliegende Natur ebenfalls am wenigsten mit „wahrnehmbaren Unterschieden" (vgl. „διαφοράς αίσθητάς": b7) verflochten sein. Die Abstufung „Mittleres —> Luft —> Wasser", bei der die Elemente in dieser Reihenfolge zunehmend mehr wahrnehmbare Unterschiede aufweisen, ist in dem Sinne zu verstehen, daß Luft und Wasser im Gegensatz zum Mittleren zwar bereits wahrnehmbare Objekte sind, daß sie aber dennoch weitaus weniger wahrnehmbare In Kapitel 1.7 werden wir sehen, daß Aristoteles auch sein eigenes ύποκείμενον als 'nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten' bestimmen wird (vgl. 190b34-35). Aristoteles begründet in Kapitel 1.6 allerdings nicht, warum das Mittlere (τό μεταξύ) nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist. Angesichts der Tatsache, daß das 'Mittlere' in 1.5, 188b23-24 als „aus den Gegensätzen bestehend" bestimmt wurde (vgl. auch Phys. V.l, 224b31-35, wo es von dem Mittleren zudem heißt, daß es zu seinen äußeren Seiten jeweils einen Gegensatz darstellt), könnte jedoch der Einwand formuliert werden, daß das Mittlere sehr wohl mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist. Allein die Bezeichnung „Mittleres" impliziert j a bereits, daß hier ein „Mittleres zwischen Gegensätzlichem" gemeint ist. Auch die relationale Beschreibung dieses 'mittleren Elements' in Phys. 1.4, 187al4-15 als „dichter als Feuer, aber weniger dicht als Luft" hebt dessen Gegensätzlichkeit nicht auf, sondern bestätigt sie vielmehr. Diese Überlegungen deuten darauf hin, daß Aristoteles mit dem mittleren Element nicht ein aus den gegensätzlichen Elementen Zusammengesetztes meinen kann, sondern vielmehr ein Mittleres ganz anderer Art meinen muß, das irgendwie eher 'neben' als 'zwischen' den sogenannten vier Elementen steht. So sagt Aristoteles ja: „Deshalb handeln auch die nicht unvernünftig, die das Zugrundeliegende als ein von diesen Verschiedenes [έτερον] ansetzen, [...]." (189b5-6; Hervorhebung von mir).
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Unterschiede als die anderen Elemente (Feuer, Erde) aufweisen, sofern Luft und Wasser z.B. durchsichtig sind. Dieser Abstufung liegt wohl der Gedanke zugrunde, daß etwas um so mehr Unterschiede und Gegensätzlichkeiten aufweist, je mehr sinnliche Qualitäten es besitzt.47 Alle aber gestalten [σχηματίζουσιν] dieses Eine jedenfalls durch die Gegensätze, durch Dichte und Dünne und durch Mehr und Weniger. Diese aber sind allgemein [gefaßt] klarerweise Übermaß und Mangel [υπεροχή και ελλειψις], wie früher gesagt wurde. 48 Und auch diese Meinung scheint alt zu sein, daß das Eine zusammen mit Übermaß und Mangel die Prinzipien des Seienden sind, aber nicht auf gleiche Weise [wurde sie vertreten], sondern die Alten ließen die Zwei wirken und das Eine leiden, von den Späteren aber sagen einige umgekehrt, daß das Eine eher wirke und die Zwei leiden. (1.6, 189b8-16)
Nachdem Aristoteles die Unterschiede bei den Naturphilosophen der ersten Gruppe in bezug auf die von ihnen jeweils zugrunde gelegte Natur herausgestellt hat, geht er nun dazu über, zusammenzufassen, worin sie miteinander übereinstimmen. Alle Naturphilosophen der ersten Gruppe, egal welchen Stoff sie jeweils als zugrundeliegende Natur angenommen haben, setzen diesen doch als einen an und schreiben ihm die Funktion zu, daß aus ihm als Erleidendes durch die Gegensätze als Wirkendes die verschiedenen Gestalten entspringen. Auch in bezug auf die Gegensätze stimmen sie insofern überein, als sie die Dichtheit und Dünnheit bzw. das Mehr und Weniger, wobei Aristoteles diese Gegensätze hier erneut unter den allgemeinen Gegensatz von „Übermaß und Mangel" zusammenfaßt, als Ursachen des Werdens annehmen. Mit Hilfe der Explikation des Gegensatzes „Dichtheit-Dünnheit" durch die Gegensätze „Mehr und Weniger" (μάλλον κοά ήττον) bzw. „Übermaß und Mangel" (υπεροχή και έλλειψις) will Aristoteles auch hier einen Bezug auf Piatons Theorie vom „Großen-undKleinen" (τό μέγα και τό μικρόν) herstellen.50 In Übereinstimmung mit den Naturphilosophen nehmen zwar auch die Platoniker Aristoteles zufolge drei Prinzipien an, die in einem Verhältnis des Wirkens und Leidens zueinander stehen, doch im Gegensatz zu den Naturphilosophen hat ihrer Ansicht nach der zweiheitliche Gegensatz ,,τό μέγα και τό μικρόν" die erleidende Funktion des Zugrundeliegenden, während das Eine die aktive Funktion der Form(ung) hat.
48
49 50
Aristoteles führt in De An. II.2, 413b4-10 und II.3, 414b2-4 aus, daß unter allen Sinnen der Tastsinn an erster Stelle steht und allen Lebewesen zukommt. Davon getrennt sind Klang, Farbe und Geruch. Luft und Wasser aber haben nun weder Klang, noch Farbe, noch Geruch. Darum haben sie weniger wahrnehmbare Unterschiede als z.B. Feuer und Erde. Die Luft aber noch weniger als das Wasser, weil sie zudem weniger dicht als das Wasser ist (vgl. auch De An. II.7, 418b4-7: „Es gibt etwas Durchsichtiges. Ich nenne durchsichtig das, was zwar sichtbar ist, jedoch nicht an sich sichtbar schlechthin, sondern durch die ihm fremde Farbe. Von solcher Art sind Luft, Wasser und viele Festkörper." (Übers, nach Theiler)). Vgl. 1.4, 187al5 f. Ebenso wie die in Kapitel I. 5 behandelte Meinung, daß Gegensätze Prinzipien sind. Mit dem Ausdruck ,,τών δ' υστέρων τινές" (bl4-15) sind offenkundig die Platoniker gemeint. Wagner (1967: 424) weist in bezug auf das „Mehr und Weniger" auf Piaton, Philebos, 24A ff. hin.
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6.4 Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
(189bl6-29)
Die Behauptung also, die Elemente [τά στοιχεία] seien drei, scheint [δόξειεν] einen gewissen Grund [τινά λόγον] zu haben, wenn man sie aus diesem und anderem derartigen überprüft, wie bereits gesagt wurde;51 [die Behauptung] aber, es seien mehr als drei, nicht mehr. (1.6, 189b 16-18)
Rückblickend hält Aristoteles zunächst fest, daß das bisher Dargelegte - wozu sowohl die drei Aporien (vgl. „έχει τινά λόγον": 189a21 -22) als auch die sich daran anschließenden Ausführungen über die zugrundeliegende φύσις der Naturphilosophen (vgl. ,,ούκ άλόγως": 189b5) zu zählen sind - einen gewissen Grund (vgl. „τινά λόγον": 189b 18) fur die Annahme von drei Elementen abzugeben scheint. Es fällt hierbei auf, daß Aristoteles immer noch sehr vorsichtig formuliert (vgl. die Ausdrücke „δόξειεν" und „τινά λόγον"). Sprechen einige Gründe für die Behauptung, es seien drei Prinzipien, so gilt dies für die Behauptung, es seien mehr als drei Prinzipien, jedoch nicht. Dies soll im folgenden gezeigt werden. Die Begründung der Behauptung, daß sich für die These, es seien mehr als drei Prinzipien, kein Grund mehr anfuhren läßt, ist insofern erforderlich, als die einfuhrende Argumentation in Kapitel 1.6 (189al020) zwar auf negative Weise gezeigt hat, daß es der Zahl nach weder ein einziges Prinzip noch unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, doch hat sie nicht auf positive Weise gezeigt, wieviele Prinzipien es sein müssen. Zudem sahen wir, daß die einführende Argumentation in Kapitel 1.6 noch das Ergebnis des Kapitels 1.5 voraussetzte, dem zufolge nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen wurden. Mit dem durch die drei Aporien erbrachten Nachweis der Notwendigkeit der Annahme eines Zugrundeliegenden für die Gegensätze stellt sich jedoch die Frage nach der Anzahl der Prinzipien von einem korrigierten Betrachtungspunkt aus erneut, da es nun j a möglich wäre, daß zwar nicht die Gegensatzpaare, wohl aber das ύποκείμενον der Zahl nach mehreres (vgl. Empedokles) oder gar unbegrenzt vieles sein kann. So beginnt Aristoteles zunächst mit der Frage nach der Anzahl des Zugrundeliegenden: Denn in bezug auf das Erleidende ist das Eine ausreichend [προς μεν γαρ τό πάσχειν ίκανόν τό εν]. (1.6, 189b 18-19)
Mit der Begründung, daß nämlich ein einziges als Erleidendes ausreiche, greift Aristoteles auf die in Kapitel 1.5, 188a31-34 eingeführte und in Kapitel 1.6, 189 bl3-16 (vgl. auch 189a24-26) bezüglich der Prinzipien der Naturphilosophen angewendete Unterscheidung zwischen dem „Wirken (ποιεΐν) und Leiden (πάσχειν)" zurück. Zugleich ist mit der Behauptung, daß das Eine als Erleidendes ausreiche, insofern eine implizite Kritik an Piaton angedeutet, als über dessen Ansatz doch zuvor gesagt wurde, daß er die zwei Prinzipien des 'Großenund-Kleinen' als Erleidende gesetzt habe (189b 15-16). Nachdem Aristoteles in bezug auf das Erleidende herausgestellt hat, daß Eines ausreiche, fährt er wie folgt fort: Vgl. 1.6, 189a21: „ [...], τό μή ποιεΐν δύο μόνον εχει τινά λόγον."
Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
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Wenn aber, angenommen es seien vier, dann zwei Entgegensetzungen existieren, so wird einer jeden für sich eine von ihnen verschiedene mittlere Natur [έτέραν τινά μεταξύ φύσιν] zukommen müssen. Wenn sie aber auseinander erzeugen/hervorbringen können [εί δ' έξ αλλήλων δύνανται γεννάν], da sie zwei sind, so wäre eine der Entgegensetzungen überflüssig [περίεργος αν ή ετέρα των έναντιώσεων]. (1.6, 189b 19-22)
Was mit dieser Fortsetzung des Arguments gegen die Annahme von mehr als drei Prinzipien im einzelnen gemeint ist, erscheint auf den ersten Blick als schwierig und rätselhaft. 52 So bemerkt Bostock (1982: 194) in diesem Zusammenhang: The first of these arguments (189b 18-22) is obscure to me, so I here pass over it, [...].
Das in 189b 19-22 von Aristoteles vorgelegte Argument stellt seiner Form nach eine Reductio ad absurdum dar: Ausgehend von der Annahme, es seien vier Prinzipien, soll gezeigt werden, daß diese vier Prinzipien letztlich auf drei reduziert werden können, wobei die Zahl Vier hier stellvertretend für jede andere Anzahl von Prinzipien steht, die größer als Drei ist und auf die dasselbe Argument analog zu übertragen wäre. Angenommen also es seien vier Prinzipien, so werden diese vier Prinzipien Aristoteles zufolge in zwei Entgegensetzungen (vgl. „δύο έσονται έναντιώσεις") auftreten. Zwar führt Aristoteles selbst kein Argument dafür an, warum die vier Prinzipien zunächst in zwei Entgegensetzungen auftreten, doch läßt sich dieses Argument vermutlich wie folgt rekonstruieren: Da sich die vier Prinzipien zunächst auf die beiden Funktionen des Wirkens und Leidens verteilen müssen, und da bereits gesagt wurde, daß für das Erleidende Eines ausreicht (189b 1819), wären die übrigen drei Prinzipien folglich zu den wirkenden Prinzipien zu zählen. Da jedoch außerdem gezeigt wurde, daß wir als Prinzipien (wenigstens) ein Zugrundeliegendes und (wenigstens) ein Gegensatzpaar (d.h. zwei Gegensatzglieder) benötigen, und da von diesen beiden Arten von Prinzipien nur das Zugrundeliegende - nicht aber das Gegensatzglied - als Eines vorkommen kann, ergibt sich ferner, daß eines der vier Prinzipien das eine erleidende Prinzip in Gestalt des Zugrundeliegenden sein müßte, während die anderen drei Prinzipien als Gegensätze zu den wirkenden Prinzipien zu zählen wären.53 Nun bilden diese drei wirkenden Prinzipien jedoch keinen Gegensatz, da ein Gegensatz nicht eine 52
53
Vgl. auch Apostle (1969: 198, Fn.24): „There is some difficulty in getting the meaning of this paragraph." Die Funktion des Wirkens kommt bei den Naturphilosophen den Gegensätzen zu, denen das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν als Erleidendes gegenübersteht (vgl. 1.6, 189a22-27; b8-14). Zwar sahen wir, daß es sich bei Piaton umgekehrt verhielt, daß nämlich bei ihm der Gegensatz „Großes-undKleines" die Funktion des Erleidens übernimmt, doch wurde dies durch die Behauptung, daß das Eine als Erleidendes ausreiche, zunächst ausgeschlossen. Zwar werden wir in Kapitel 1.9 sehen, daß Aristoteles sein eigenes ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν in Form von ΰ λ η und σ τ έ ρ η σ ι ς ebenfalls als ein Zweiheitliches betrachtet, doch ist dieses Zweiheitliche als ein Zweiheitliches dem Begriff und nicht der Zahl nach zu verstehen, wie er ausdrücklich betont. Das Zugrundeliegende bei Piaton in Gestalt des „Großen-und-Kleinen" scheint Aristoteles demgegenüber eher als ein der Zahl nach Zweiheitliches zu verstehen.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
Dreiheit, sondern eine Zweiheit impliziert.54 Folglich können die vier angenommenen Prinzipien nur in folgenden Relationen zueinander stehen: Entweder stellen die vier Prinzipien (a) zwei Entgegensetzungen dar, oder sie bilden (b) eine Entgegensetzung, die zwei Zugrundeliegende als Erleidendes hat. Da die Alternative (b) jedoch unmittelbar zuvor durch die Begründung, daß in bezug auf das Erleidende Eines ausreiche (189b 18-19), ausgeschlossen wurde, bleibt einzig die Alternative (a) übrig, so daß die vier Prinzipien folglich zwei Entgegensetzungen bilden.55 Den drei Aporien zufolge muß diesen beiden Entgegensetzungen nun jedoch jeweils ein von ihnen verschiedenes 'Mittleres' als zugrundeliegende φύσις zukommen, so daß die Zahl der Prinzipien von Vier auf Sechs steigen würde. Im zweiten Teil des Arguments (189b21-22) werden dann diese sechs Prinzipien wieder auf drei reduziert.56 Bezüglich des Verständnisses dieses zweiten Teils sind jedoch verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden. Einige Interpreten gehen davon aus, daß hier davon die Rede sei, daß „zwei Entgegensetzungen auseinander entstehen können" (vgl. auch 189al7-19), so daß sich die eine Entgegensetzung gegenüber der anderen Entgegensetzung als fundamental erweist. Die andere Entgegensetzung wäre dann aus dem Grunde überflüssig, weil sie auf die erste Entgegensetzung reduziert werden kann. In diesem Sinne sagen Wicksteed und Cornford (1980: 64 f.):57 The argument is: 'If there were four active contrasted principles, then (1) if each couple is independent of the other, each will need a separate passive principle (whereas one is enough); (2) if one couple is derivable from the other, there will really be only one primacy couple; the second will be superfluous. This interpretation of the second alternative is Porphyry's, in Simplicius (206,3), who objects that γεννασθαι (for γενναν) would be required, and himself understands εϊ δέ έξ αλλήλων πάντα γεννωσι.
Diese Interpretation erweist sich jedoch - wie Simplicius zu Recht bemerkt - aus dem Grunde als problematisch, da der Text selbst nicht von ,,γεννάσθαι", son4
55
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Auch wenn der kontrare Gegensatz in dem Sinne eine Dreiheit darstellen kann, daß er sich aus zwei äußeren Gliedern und einem mittleren Glied zusammensetzt, so besteht das mittlere Glied selbst doch aus den gegensätzlichen Gliedern (vgl. 188b23-24) und kann folglich selbst kein Prinzip sein. Es wird zugleich deutlich, daß die hypothetische Annahme von vier Prinzipien eine indirekte Kritik an dem Ansatz von Empedokles darstellt, hatte dieser doch mit seinen vier Elementen ('Feuer-Wasser' und 'Erde-Luft') in gewisser Weise zwei Entgegensetzungen als Zugrundeliegendes angenommen. Vgl. auch Charlton (1970: 69) und Wicksteed/Cornford (1980: 64 f.). Zekl (1987: 244, Fn.68) bemerkt hier: „Somit wären es dann schon sechs. Der nächste Satz reduziert sie wieder auf zwei." Zwar sagt Zekl zu Recht, daß es dann schon sechs Prinzipien wären, falsch jedoch ist die Behauptung, daß der nächste Satz sie (die sechs Prinzipien) wieder auf zwei reduziert. Zwar werden die vier Gegensatzglieder der zwei Entgegensetzung im nachfolgenden Satz auf zwei Gegensatzglieder und somit auf eine Entgegensetzung reduziert, doch muß j a auch dieser Entgegensetzung etwas zugrunde liegen, so daß die sechs Prinzipien letztlich auf drei Prinzipien reduziert werden. Nach Ansicht von Ross (1936: 491) folgt aus den beiden Entgegensetzungen entweder, daß es zwei (verschiedene) υ π ο κ ε ί μ ε ν α gibt, von denen dann eines überflüssig wäre, oder aber, daß beide Entgegensetzungen dasselbe ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν haben, woraus sich ergibt, daß eine der beiden Entgegensetzungen überflüssig wäre. Vgl. auch Hardie/Gaye (1930).
Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
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dem von ,,γενναν" spricht. Im Gegensatz zu der von Wicksteed und Cornford im Rückgriff auf Porphyrios vorgelegten Interpretation ist Simplicius der Ansicht, daß hier davon die Rede sei, daß „ein Gegensatzpaar (allein) durch Wechselwirkung (seiner Glieder) die [d.h. alle (πάντα)] Dinge erzeugen/hervorbringen kann", so daß das andere Gegensatzpaar aus dem Grunde überflüssig wäre, weil eine Entgegensetzung, die aus zwei Gliedern besteht, allein all das zu leisten imstande ist, was durch zwei Entgegensetzungen geleistet werden kann. In diesem Sinne übersetzt auch Prantl (1854: 37) den Satz 189b21-22: [...], oder aber falls ein Paar von Gegensätzen durch Wechselwirkung Erzeugungen hervorbringen könnte, es aber doch zwei solche Paare wären, so wäre ja das eine derselben überflüssig. Nun ist mit dieser Interpretation aber folgende Schwierigkeit verbunden: Ihr zufolge würden die beiden Glieder einer Entgegensetzung durch eine Wechselwirkung aufeinander die Dinge erzeugen, während Aristoteles in 189a22-27 doch umgekehrt darauf hingewiesen hat, daß die Glieder eines Gegensatzes nicht aufeinander wirken oder etwas voneinander erleiden können. Angesichts dieser Schwierigkeit schlägt Ross folgende Interpretation vor: 18-22. προς μέν γαρ τό πάσχειν ... εΐη. One subject-matter is sufficient to play the passive part. If there are two pairs of contraries, they will either have two different subject-matters, one of which will be superfluous (b 19-21), or they will have the same subject-matter, in which case one of the pairs of contraries is superfluous (b212). [...] 21-2. εί ... εΐη. There is a slight looseness in describing contraries as generating from each other. Contrary cannot act on contrary (a22-6). What Aristotle means is rather that one contrary generates a new product by acting on a matter characterized by the other contrary. He is now considering the hypothesis that there are two pairs of contraries, which we may call A and A', Β and B'. Now if the pairs of contraries, being two, generate from each other, i.e. if (1) B' can serve as a contrary for A to act on, and (2) Β can serve as a contrary for A' to act on, then from (1) it follows that B' is the same as A', and from (2) that Β is the same as A (since one thing has only one contrary); so that one of our two pairs of contraries will have turned out to be superfluous. (Ross, 1936:491) Ross versteht das Argument wie folgt: Hat der erste Teil der Argumentation zur widersinnigen Konsequenz geführt, daß die Prinzipien sechs wären, wenn die zwei Entgegensetzungen zwei verschiedene υποκείμενα hätten, so wird im zweiten Teil nun davon ausgegangen, daß die beiden Entgegensetzungen dasselbe ϋποκείμενον haben, woraus sich dann die Überflüssigkeit von einer Entgegensetzung ergibt. Zwar versteht auch Ross das „Erzeugen" (γεννάν) im Sinne einer Wirkung eines Gegensatzgliedes auf ein anderes Gegensatzglied, doch umgeht er die damit verbundene Schwierigkeit, daß Aristoteles in 189a22-27 umgekehrt sagt, daß die Glieder eines Gegensatzes nicht aufeinander wirken, dadurch, daß seiner Interpretation zufolge ein Gegensatzglied nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar auf das andere Gegensatzglied wirkt, insofern es unmittelbar auf die Materie wirkt, die von dem anderen Gegensatzglied charakterisiert wird.
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Charlton (1970: 69) hat jedoch gegenüber der von Ross vorgeschlagenen Interpretation eingewendet, daß sie zu kompliziert sei, als daß sie durch den Text gestützt werden könne: Others, e.g. Ross, take b22-3 to mean 'if the opposites in each pairs will serve as underlying things for the other', but this is perhaps too complicated a thought for the words to carry. Nach Ansicht von Charlton besagt das Argument in b22-23 vielmehr folgendes: Wenn die Prinzipien in einem jeden Gegensatzpaar ohne ein drittes Prinzip die Dinge auseinander erzeugen können, so wäre eines der Gegensatzpaare aus Sicht von Aristoteles vermutlich aus dem Grunde Uberflüssig, weil die Paare als analoge Paare identisch sind. Wenn z.B. Pferde erzeugt werden durch heiß und kalt, Bäume aber durch trocken und naß, so sind die Prinzipien von beiden, obgleich verschieden, doch analog: [...]; or (as I understand the next clause, b22-3), if the principles in each pair can produce things out of one another without a third principle, one of the pairs will be redundant, presumably because the pairs are 'by analogy the same' (cf. 188b37189al): if, e.g., horses are produced by hot and cold, and trees by wet and dry, the principles of each, though different, will be analogous. On this interpretation, the next point, b22-7, follows naturally: if horses are produced by hot and cold, and trees by wet and dry, and the one pair cannot be reduced to the other (as perhaps pale and dark, or colours, can be reduced to rough and smooth, or textures - cf. Met. Ζ 1029b21-2), horses and trees will not be in the same range or 'kind'. (Charlton, 1970:69) Diese Interpretation ist jedoch aus dem Grunde problematisch, da ihr zufolge nun ein Wirken und Leiden der Gegensätze ohne ein zugrundeliegendes Drittes (without a third principle) möglich wäre; ein Pferd z.B. würde Charltons Interpretation zufolge ohne ein ύποκείμενον aus heiß und kalt werden. Diese Interpretation würde somit sämtliche in den drei Aporien angeführten Argumente für die Notwendigkeit der Annahme eines zugrundeliegenden Dritten ignorieren und scheint aus diesem Grunde eher unwahrscheinlich zu sein. Vor diesem Hintergrund ist das Argument nun eher wie folgt zu verstehen, wobei ich mich im wesentlichen den Überlegungen von Ross anschließe: Zunächst wird davon ausgegangen, daß es vier Prinzipien gibt, die zwei Entgegensetzungen bilden müssen. Aufgrund des in den drei Aporien Gesagten muß zudem ein ύποκείμενον für die beiden Entgegensetzungen angenommen werden. Nehmen wir jedoch für jede der beiden Entgegensetzungen ein von ihnen verschiedenes ύποκείμενον an, so würden wir sechs Prinzipien erhalten. Da aber ein ύποκείμενον als Erleidendes ausreicht, ergibt sich, daß entweder eines der beiden ύποκείμενα zusammen mit seiner Entgegensetzung wegfällt - folglich würden drei Prinzipien (ein ύποκείμενον und zwei Gegensatzglieder) übrigbleiben -, oder daß nur eines der beiden ύποκείμενα wegfällt - folglich hätten beide Entgegensetzungen dasselbe ύποκείμενον, und wir würden somit fünf Prinzipien erhalten. Letzterem wird nun in b21 -22 entgegengehalten, daß in diesem Falle eine der beiden Entgegensetzungen überflüssig wäre - und somit doch wieder
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drei Prinzipien ilbrigblieben da eine Entgegensetzung, sofern sie als eine möglichst umfassende Entgegensetzung ausgewählt wird, (zusammen mit seinem ύποκείμενον) ausreicht, um Dinge erzeugen/hervorbringen zu können. Denn eine einzige Entgegensetzung bildet ja bereits für sich betrachtet eine Zweiheit, die, wie die Überlegungen in Kapitel 1.5 gezeigt haben, für das Werden und Vergehen ausreichend ist. Als Subjekt des Satzes ,,εί δ' έξ αλλήλων δύνανται γεννάν δύο οΰσαι, [...]" sind die „beiden Entgegensetzungen" anzusehen, die je für sich (zusammen mit einem ύποκείμενον) Dinge auseinander erzeugen können, weil sie je für sich eine Zweiheit darstellen. Mit anderen Worten: Weil die beiden Entgegensetzungen jeweils eine Zweiheit darstellen, können sie jeweils zusammen mit einem ύποκείμενον das Werden hervorbringen. Aufgrund der für das Werden erforderlichen Zweiheit der Gegensätze ist somit eine der beiden Entgegensetzungen überflüssig. Zudem wären diese beiden Entgegensetzungen, sofern ihnen dasselbe ύποκείμενον zugrunde liegt, ja auch innerhalb derselben Gattung. Von dieser Gattung heißt es aber, daß sich in ihr nur eine (erste) Entgegensetzung findet, so daß alle anderen Entgegensetzungen auf diese erste reduzierbar sind (vgl. 189b22-27). Versteht man also den zweiten Teil (b21-22) des Arguments in dem Sinne, daß hier davon ausgegangen wird, daß zwei Entgegensetzungen dasselbe ύποκείμενον haben und sich somit in einer Gattung befinden, so schließt sich nun auch sehr gut das nachfolgende Argument (189b22-27) an, dem zufolge es unmöglich ist, daß zwei (fundamentale) Entgegensetzungen in einer Gattung vorkommen: Zugleich aber ist es auch unmöglich, daß die ersten Entgegensetzungen mehrere sind [αμα δέ και αδύνατον πλείους είναι έναντιώσεις τάς πρώτας]. Denn das Ding/Wesen [ουσία] ist eine einheitliche Gattung des Seienden [εν τι γένος τοϋ δντος], so daß sich die Prinzipien nur dem Früher und Später nach [τω πρότερον και ύστερον] voneinander unterschieden werden, nicht aber der Gattung nach [άλλ' ού τφ γένει]. Denn in einer einheitlichen Gattung ist immer [nur] eine einzige Entgegensetzung, und alle Entgegensetzungen scheinen auf eine einzige hinzuführen [άνάγεσθαι δοκοΰσιν εις μίαν], (1.6, 189b22-27)
Hier dient nun das Argument, das in 189al3-14 zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien angeführt wurde, zur Widerlegung der Annahme von mehr als einer einzigen Entgegensetzung.58 Es schließt unmittelbar an die zuvor geführte Argumentation an und soll über den Nachweis der Überflüssigkeit (vgl. „περίεργος": b21-22) einer zweiten Entgegensetzung hinaus nun auch noch deren Unmöglichkeit (vgl. ,,άδύνατον": b23) aufweisen. Vor dem Hintergrund der zuvor geführten Argumentation, der zufolge sich ergab, daß ein ύποκείμενον als Erleidendes ausreicht, so daß, wenn es mehrere Entgegensetzungen gibt, diese doch zumindest innerhalb einer Gattung (nämlich an dem einen ύποκείμενον) vorkommen, wird nun auch verständlich, warum Aristoteles hier nur in bezug auf die Gattung der ούσία, nicht jedoch in bezug auf die anderen Gattungen des Seienden von einer Entgegensetzung spricht. Denn wäre hier auch in bezug auf die Gattungen des ποιόν und ποσόν jeweils 58
Zur Interpretation dieses Arguments vgl. die Ausführungen zu 1.6, 189al3-14 auf S. 215-19.
246
Physik I. 6: 'Die E i n f ü h r u n g des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
von einer Entgegensetzung die Rede, so wären entweder auch mehrere υποκείμενα fiir die verschiedenen Entgegensetzungen der verschiedenen Gattungen anzunehmen - dies würde jedoch einen Widerspruch zur Behauptung, daß ein ύποκείμενον als Erleidendes ausreiche, darstellen oder diese verschiedenen Entgegensetzungen wären letztlich auf eine einzige fundamentale Entgegensetzung reduzierbar, wenn die verschiedenen Entgegensetzungen der einzelnen Gattungen an ein und demselben ύποκείμενον vorkommen.59
6.5 Die abschließende Konklusion
(189b27-29)
Daß also das Element [τό σ τ ο ι χ ε ι ο ν ] weder ein einziges ist, noch mehr als zwei oder drei, ist klar. W a s aber von diesen beiden der Fall ist, das zu erklären, enthält viele Schwierigkeiten. (1.6, 189b27-29)
Nachdem in den Kapiteln 1.5 und 1.6 Argumente dafür geben wurden, daß die Prinzipien einerseits zwar gegensätzlich sein müssen (1.5), andererseits jedoch nicht nur gegensätzlich sein können (1.6), und nachdem es nun keinen Grund gibt, mehr als drei Prinzipien anzunehmen (vgl. 189b 16-27), beschließt Aristoteles das Kapitel 1.6 - und damit zunächst auch seine Auseinandersetzung mit den Vorgängern -60 mit der Konklusion, daß nun klar sei, daß das Grundelement weder eines ist, noch daß mehr als zwei oder drei Grundelemente anzunehmen sind. Diese Konklusion erweist sich jedoch insofern als überraschend, da durch sie die Möglichkeit von zwei Prinzipien doch wieder in Betracht gezogen wird, obgleich im Kapitel 1.6 allein für die Anzahl von drei Prinzipien argumentiert wurde.61 Eine Erklärung dieses überraschenden Umstands ist vielleicht darin zu sehen, daß in Kapitel 1.6 ja nicht nur von den Naturphilosophen der ersten Gruppe die Rede war, die mit der zugrundeliegenden φύσις und den diese φύσις bewe-
60
61
Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß eine Reduktion derart verschiedener Entgegensetzungen auf eine einzige fundamentale Entgegensetzung in der Gefahr steht, die Vielfältigkeit der Erscheinungen zu sehr zu vereinfachen und auf eine gemeinsame Gestalt zu reduzieren, die den unterschiedlichen Phänomenen in der Natur vielleicht nicht in jeder Hinsicht gerecht wird. Auf die Vorgänger wird Aristoteles erst in den Kapiteln 1.8 und 1.9 im Anschluß an die Darlegung seines eigenen Ansatzes in Kapitel 1.7 zurückkommen. Hierbei ist zu bedenken, daß eine eingehende Auseinandersetzung mit der platonischen Theorie noch aussteht. Daß letztere erst im Anschluß an die Darlegung der eigenen Theorie - und nicht (analog zu den anderen Vorgängern) im Vorfeld derselben - erfolgt, findet seinen Grund vermutlich darin, daß Piaton mit seinen naturphilosophischen Spekulationen der aristotelischen Lösung bereits sehr nahe gekommen ist, so daß ftlr das Verständnis der Kritik an Piaton das Verständnis der eigenen Lehre vorausgesetzt werden muß. Aristoteles sieht den Fehler Piatons vereinfacht gesagt darin, daß dieser die στέρησις als ein zweites Moment am ύποκείμενον übersehen habe (vgl. 1.9, 191 al2-16). Für das Verständnis dieser Kritik ist es jedoch erforderlich, daß Aristoteles den Begriff der στέρησις innerhalb seiner eigenen Theorie zunächst einführt und erläutert. Es sei daraufhingewiesen, daß Aristoteles auch in Kapitel 1.7 in bezug auf seinen eigenen Ansatz ausführen wird, daß je nach dem Standpunkt der Betrachtung zwei oder drei Prinzipien angenommen werden müssen. So werden wir sehen, daß z.B. für die Beschreibung eines φύσει öv zwei Prinzipien (ΰλη und είδος) ausreichen, während für die Beschreibung eines φύσει γιγνόμενον eigentlich drei Prinzipien (ΰλη, είδος und στέρησις) benötigt werden, die jedoch unter bestimmten Umständen ebenfalls wieder auf zwei Prinzipien reduziert werden können, sofern man die στέρησις als „Abwesenheit (απουσία) des είδος" betrachtet.
Die abschließende Konklusion
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genden Gegensätzen 'Dichte und Dünne' drei Prinzipien angenommen haben, sondern daß er auch die Platoniker (189b 14-16) erwähnt hat. Zwar wurde den Piatonikern hier ebenfalls die Setzung von drei Prinzipien (nämlich ein Wirkendes und die beiden Erleidenden „Großes-und-Kleines") zugeschrieben, doch sagt Aristoteles von ihnen an anderer Stelle, daß sie das Zugrundeliegende selbst als ein Glied des Gegensatzes aufgefaßt haben und eigentlich nur zwei Prinzipien zugrunde legten.62 Zudem deutet der Hinweis auf die Möglichkeit der Annahme von zwei Prinzipien auf ein Argument hin, das sich, obgleich es im Text selbst nicht ausgeführt wird, in Analogie zur Argumentation bezüglich des ύποκείμενον als Erleidendes wie folgt anführen ließe: Wenn nämlich gesagt wird, daß das eine ύποκείμενον als Erleidendes ausreiche (vgl. 189bl8-19), so ließe sich umgekehrt im Hinblick auf das Wirkende j a ebenso argumentieren und die These aufstellen, daß auch ein Wirkendes ausreiche. Dann aber gäbe es wiederum nur zwei Prinzipien, nämlich ein Erleidendes und ein Wirkendes. Setzt man für die Konklusion von Kapitel 1.6 die Wahrheit der in den Kapiteln 1.5 und 1.6 dargelegten Argumentationen voraus, so ist der Hinweis auf die Möglichkeit der Annahme von zwei Prinzipien, von der in Kapitel 1.6 nur im negativen Sinne die Rede war, daß es einen Grund gibt, nicht nur zwei Prinzipien anzunehmen (vgl. 189a21-22), sicherlich nicht in dem Sinne zu verstehen, daß die Gegensätze ohne ein zugrundeliegendes Drittes vielleicht doch ausreichen. Vielmehr scheint hier die Möglichkeit angedeutet zu werden, daß das selbst vielleicht doch in einem Gegensatz zum zweiten Prinzip stehen kann, wobei mit dieser Möglichkeit weder die These von der Gegensätzlichkeit der Prinzipien (1.5) noch die These von der notwendigen Annahme eines ύποκείμενον (1.6) aufgehoben wäre. So werden wir in Kapitel 1.7 sehen, daß das ύποκείμενον dem είδος in einem akzidentellen Sinne entgegengesetzt sein kann, insofern sich an ihm die στέρησις, die mit dem είδος einen Gegensatz bildet und als bloße Abwesenheit (απουσία) des είδος verstanden werden kann, als ein Akzidens findet.
62
Vgl. Met. XIV. 1, 1087b4 ff. Vgl. auch Phys. 1.9, 192a2-12, wo Aristoteles indirekt zeigt, daß die Dreiheit der Platoniker (das 'Große-und-Kleine' einerseits und das είδος andererseits) eigentlich eine Zweiheit ist, da das 'Große-und-Kleine' (kategorial gesehen) letztlich nur Eines ist. In Met. 1.6, 988a8-14 heißt es: „[. . .]; offenbar hat er [Piaton] nach dem Gesagten nur zwei Ursachen angewendet, nämlich das Prinzip des Was und das stoffartige Prinzip; denn die Ideen sind fllr das übrige, für die Ideen selbst aber das Eins Ursache des Was. Und in betreff der zugrundeliegenden Materie, von welcher bei den übrigen Dingen die Ideen, bei den Ideen selbst das Eins ausgesagt wird, erklärt er, daß sie eine Zweiheit ist, nämlich das Große und das Kleine." (Übers, nach Bonitz).
7. Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' 7.1 Eine methodologische Vorbemerkung (189Ö29-34) Folgendes also wollen wir selbst darüber sagen, indem wir zuerst das gesamte Werden [πρώτον περί πάσης γενέσεως] durchgehen. Denn es ist doch naturgemäß [κατά φύσιν], das Gemeinsame zuerst zu sagen [τά κοινά πρώτον είπόντας], und danach das bezüglich eines jeden Eigentümliche zu betrachten [τά περί έκαστον ίδια θεωρεί ν]. Wir sagen nämlich, daß eines aus einem anderen wird [γίγνεσθαι έξ άλλου άλλο] und ein Verschiedenes aus einem Verschiedenen [έξ έτερου έτερον], und wir meinen damit entweder Einfaches [τά άπλα] oder Zusammengesetztes [τά συγκείμενα], (1.7, 189b30-34)
Daß wir es hier nun mit der Darlegung des eigenen Ansatzes von Aristoteles zu tun haben, wird allein sprachlich aufgrund des gehäuften Vorkommens solcher Ausdrücke wie ,,φαμέν γάρ" (189b32), ,,ήμεΐς λέγωμεν" (b30) und „λέγω δέ" (b34) deutlich. Zugleich deuten diese Ausdrücke an, daß Aristoteles bestrebt ist, eine Analyse der Werdeprozesse mit Hilfe einer Analyse der Sprache, wie wir über diese Werdeprozesse sprechen, beginnen zu lassen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir es in Kapitel 1.7 allein mit einer sprachlichen Analyse der Werdeprozesse zu tun hätten, die - wie z.B. Wieland (1962: 112) und Jones (1974: 476-8) meinen - einer empirischen Untersuchung gegenübergestellt wäre. Vielmehr basiert die sprachliche Analyse der Werdeprozesse auf einer vorangegangenen Beobachtung derselben. Die sprachliche Analyse stellt für Aristoteles eine Möglichkeit dar, die für sich betrachtet noch ungegliederten Beobachtungen in Begriffe zu fassen, um ihnen so eine gemeinsame Struktur zu geben, die die Grundlage der Erkenntnis von Werdeprozessen darstellt. Wir werden im weiteren Verlauf der Untersuchung jedoch sehen, daß sich Aristoteles durchaus bewußt ist, daß zwischen der Oberflächen- und Tiefenstruktur eines Satzes mitunter zu unterscheiden ist. Aristoteles schickt seiner Darlegung in Kapitel 1.7 eine methodologische Vorbemerkung voraus, in der er sowohl eine allgemeine Gliederung der Untersuchung als auch eine Begründung fur die Vorgehensweise derselben gibt. Der Gliederung zufolge soll zunächst mit dem 'gesamten Werden' (vgl. „περί πάσης γενέσεως": 189b30) begonnen werden, welches ein Zweifaches meint: Zum einen sollen die verschiedenen Arten von Werdeprozessen umfaßt werden, und zum anderen sollen diese Arten so umfaßt werden, daß bei ihnen als noch nicht deutlich voneinander differenzierte zunächst das allen Werdeprozessen Gemeinsame (vgl. τά κοινά: 189b31) herausgestellt wird. Andere Interpreten
Eine methodologische Vorbemerkung
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sprechen hier auch von einem „Werden im allgemeinsten Sinne".1 Vor diesem Hintergrund mag es zunächst zwar verwundern, daß Aristoteles im Anschluß an seine Vorbemerkung mit dem Werden eines ungebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen dann doch ein Beispiel für eine bestimmte Art des Werdens (nämlich für die Eigenschaftsveränderung: άλλοίωσις) wählt, doch löst sich die Verwunderung auf, sofern man bedenkt, daß dieses Beispiel hier zunächst stellvertretend für jegliche Art des Werdens stehen soll. Wenn also zuerst (πρώτον: 189b30) mit der Untersuchung des 'Werdens im allgemeinsten Sinne' begonnen werden soll - wobei der Ausdruck „πρώτον" nach einem es ergänzenden „δεύτερον" bzw. „ύστερον" verlangt -, so kann diese Untersuchung 'περί πάσης γενέσεως' in 190a31 als vorläufig abgeschlossen betrachtet werden, da Aristoteles dort dann explizit zwischen verschiedenen Arten des Werdens (vgl. τά περί έκαστον ϊδια: 189b32) unterscheidet, die er unter die Begriffe des 'schlechthin Werdens' (άπλώς γίγνεσθαι: 190a32) - gemeint ist das Entstehen einer ούσία - und des 'etwas Werdens' (τόδε τι γίγνεσθαι: 190 a32) - gemeint ist die Eigenschaftsveränderung - zusammenfaßt. in bezug auf beide Arten des Werdens soll jedoch weiterhin das ihnen Gemeinsame herausgestellt werden, das darin gesehen wird, daß für beide Arten des Werdens ein ΰποκείμενον vorauszusetzen ist, an dem bzw. aus dem das Werdende wird. Im Sinne einer groben Gliederung geht Aristoteles somit vom Werden im Sinne eines unspezifizierten Ganzen aus, das er in 190a31-b9 weiter in verschiedene Arten des Werdens auseinandernehmen wird, wobei er das diesen Arten Gemeinsame herauszustellen sucht, um dann aus diesem Gemeinsamen in 190bΙΟΙ 7 die allgemeinen Konstitutionsmomente eines jeden Werdenden darzulegen. Von diesen allgemeinen Konstitutionsmomenten wird er schließlich in 190b 17 ff. zur Bestimmung der allgemeinen Prinzipien übergehen. Wenn Aristoteles zu Beginn darauf hinweist, daß diese Untersuchung 'περί πάσης γενέσεως' handeln soll, so ist damit bereits folgende Differenz zu den Untersuchungen seiner Vorgänger angezeigt: Während die Vorgänger - wie Aristoteles an anderer Stelle hervorhebt (vgl. Phys. 1.4, 187a30-31 und De gen. et corr. 1.1) - zumeist einen auf eine bestimmte Art des Werdens eingeschränkten Begriff desselben hatten,2 will Aristoteles selbst das gesamte Werden untersuchen. Er begründet seinen Ausgangspunkt in Kapitel 1.7 damit, daß es doch naturgemäß sei, zuerst das Gemeinsame zu sagen, um erst im Anschluß daran das bezüglich eines jeden Eigentümliche zu betrachten: Denn es ist doch naturgemäß [κατά φύσιν], das Gemeinsame zuerst zu sagen [τά κ ο ι ν ά πρώτον ε ϊ π ό ν τ α ς ] , und danach das bezüglich eines jeden Eigentümliche zu betrachten [τά περί ε κ α σ τ ο ν ϊδια θεωρεί ν], (1.7, 189b31 -32) Vgl. Wieland (1962: 111 f.), Hardie/Gaye (1930), Wagner (1967: 22), Charlton (1970: 15) und Owens (1969: 197). So reduzieren die Naturphilosophen der ersten Gruppe aus Sicht von Aristoteles alles Werden auf die Form der Eigenschaftsveränderung. Demgegenüber ließe sich das platonische Modell des Werdens dahingehend deuten, daß es dort aus Sicht von Aristoteles genaugenommen nur Entstehen und Vergehen, nicht jedoch Eigenschaftsveränderungen geben kann (vgl. dazu Kapitel 9.1.3.2).
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
In Übereinstimmung mit der Methodologie aus Kapitel 1.1, der zufolge der Weg von der Wahrnehmung eines zunächst undifferenzierten Ganzen (τό κ α θ ό λ ο υ ) durch eine Diairesis zur Erkenntnis der einzelnen 'Teile' als Prinzipien dieses Ganzen fuhren soll, geht Aristoteles auch in Kapitel 1.7 zunächst vom „Werden" im Sinne eines undifferenzierten Ganzen und Allgemeinen aus. Sowohl die Begriffe 'τό κ α θ ό λ ο υ ' (1.1) und 'τά κ ο ι ν ά ' (1.7) einerseits als auch die Begriffe ' τ ά καθ' έ κ α σ τ α ' (1.1) und ' τ ά περί έ κ α σ τ ο ν ϊ δ ι α ' (1.7) andererseits entsprechen hierbei einander. Auch wird der Ausdruck ,,πέφυκε" aus 184a 16, der den Weg vom κ α θ ό λ ο υ zu den καθ' έ κ α σ τ α als einen 'natürlichen' charakterisierte, durch den Ausdruck „ κ α τ ά φύσιν" in 189 b31 aufgegriffen. Der Hinweis, daß es naturgemäß ( κ α τ ά φ ύ σ ι ν ) sei, vom Gemeinsamen (τά κ ο ι ν ά ) zu dem einem jeden Eigentümlichen ( τ ά περί έκαστον ϊδια) überzugehen, bezieht sich auch hier auf die Natur des menschlichen Erkennens. Wagner bemerkt zum Beginn von Kapitel 1.7 folgendes: Darum besagt der gegenwärtige Satz [gemeint ist 1.1, 184a23-24] nichts anderes als das, was Ar. später (189b31) so formuliert: »Es liegt in der Natur der theoretischen Arbeit, erst das Allgemeine zu behandeln, und dann die Sonderverhältnisse des Einzelnen zu studieren.« (Wagner, 1967: 395) Zur Vermeidung von Mißverständnissen scheint es mir jedoch angemessener zu sein, den Ausdruck „ κ α τ ά φύσιν" (b31) eher auf das „menschliche Erkennen" als auf die „theoretische Arbeit" zu beziehen. Denn wenn man die 'theoretische Arbeit' im Rückgriff auf die Unterscheidung von Bames nicht als eine Untersuchung, sondern als die Darlegung von Ergebnissen versteht, so hätte diese theoretische Arbeit j a umgekehrt gerade mit den Prinzipien zu beginnen, aus denen sie alles andere auf deduktive Weise herleitet. Dieses Mißverständnis scheint der Interpretation von Zekl zugrunde zu liegen, der in bezug auf den Anfang von Kapitel 1.7 folgendes feststellt: Ein Grundsatz der Darstellung. Die Erkenntnis muß, wie zu Anfang gesagt, den umgekehrten Weg gehen. (Zekl, 1987: 244, Fn.71) Daß wir es in Kapitel 1.7 jedoch nicht mit der Darlegung von Ergebnissen, sondern weiterhin mit einer Untersuchung zu tun haben, die der in Kapitel 1.1 aufgestellten Methodologie entspricht, ist bereits der Tatsache zu entnehmen, daß Aristoteles zunächst mit solchen der Wahrnehmung nach bekannteren Beispielen wie „gebildeter Mensch" beginnt, um erst am Ende des Kapitels zu den Prinzipien gelangt. 3 Zudem weist nicht nur die Konklusion in 190bl 1, der zufolge jedes 3
Vgl. auch Owens (1969: 197 f.) und (1963: 174, Fn.58): „[...] Aristotle commences his investigation empirically [...]." Demgegenüber vertritt Jones (1974: 476-78) die Ansicht, daß wir es zu Beginn von Kapitel I. 7 mit einer linguistischen Untersuchung zu tun haben, die sich nicht auf empirische Beobachtungen von Werdeprozessen, sondern auf die Sprache konzentriert, in der die Werdeprozesse formuliert werden. Vgl. auch Wieland (1962: 112): „Es ist bezeichnend, daß Aristoteles weder mit einer Hypothese beginnt, noch es unternimmt, Tatsachen der empirischen Wahrnehmung einfach zu beschreiben. In beiden Fallen würde nämlich schon etwas übersprungen, was nicht übersprungen werden darf, wenn man wirklich beim vorwissenschaftlichen Vorverständnis ansetzen will, nämlich die Sprache. [...] Phänomenologisch ursprünglich sind weder theoretische Entwürfe noch empirische Wahrnehmungen (diese mögen genetisch
Eine methodologische Vorbemerkung
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Werdende ein Zusammengesetztes (σύνθετον) ist, sondern auch die Tatsache, daß Aristoteles im Anschluß an die methodologische Vorbemerkung mit einer Unterscheidung zwischen einfachen (άπλα) und zusammengesetzten (συγκείμενα) Seienden fortsetzt, auf die Methode einer Diairesis aus Kapitel 1.1 zurück. Gegenüber der Interpretation, daß Aristoteles zunächst mit dem Werden im allgemeinsten Sinne beginnt, ist jedoch eingewendet worden, daß die nachfolgend genannten Beispielsätze bezüglich des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem nicht-gebildeten Menschen (189b34-190al) nicht für einen jeglichen Werdeprozeß, sondern nur für eine Eigenschaftsveränderung stehen. Aus diesem Grunde gliedert Jones die in Kapitel 1.7 vorliegende Untersuchung in folgende Abschnitte: Während sich Aristoteles im ersten Teil (189b32-190a31) vor allem auf das Werden im Sinne der Eigenschaftsveränderung bezieht, geht er in einem zweiten Teil (190a31 -b 17) dann dazu über, auch das Werden in Form des Substanzwechsels zu betrachten. T h e inquiry into c o m i n g - t o - b e falls into t w o parts. T h e first, 189 b 3 2 - 1 9 0 a31, c o n cerns alteration, nonsubstantial change; the second, 190a31 -b 17, substantial change, the c o m i n g into e x i s t e n c e o f substances. (Jones, 1974: 4 7 8 f.)
Dieser Interpretation zufolge wären also beide Teile zum Anfang der Untersuchung zu zählen, da Aristoteles ja vorgibt, zunächst mit dem gesamten Werden zu beginnen. Düring (1966: 230 f.) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Aristoteles das 'Werden im allgemeinsten Sinne' zunächst mit Hilfe der beiden Sätze „eines wird aus einem anderen" (γίγνεσθαι έξ ά λ λ ο υ αλλο) und „ein Verschiedenes wird aus einem Verschiedenen" (έξ έτερου έτερον) beschreibt, wobei nach Ansicht von Düring das „έξ ά λ λ ο υ α λ λ ο " für das Entstehen von etwas und das ,,έξ έτέρου έτερον" für die Eigenschaftsveränderung von etwas steht.4 Da die nachfolgenden Beispielsätze vom gebildeten Menschen jedoch eine Eigenschaftsveränderung beschreiben, und da erst in 190bl ff. vom Werden und Vergehen der Substanzen (und mithin vom ,,έξ ά λ λ ο υ αλλο") die Rede ist, scheint folglich der erste Teil über das gesamte Werden nicht bereits in 190a31 enden zu können. ursprünglich sein), sondern viel eher das in der Struktur unseres Sprechens von den Dingen gründende Vorverständnis." Demgegenüber bin ich jedoch der Ansicht, daß sich eine empirische und linguistische Untersuchung für Aristoteles nicht gegenseitig ausschließen; dies konnten wir bereits in 1.5, 188 a30-b21 beobachten, wo ebenfalls eine empirische Untersuchung von einer sprachlichen Analyse begleitet wurde. Die sprachliche Beschreibung eines Werdens gründet ja gerade auf einer zeitlich vorangegangenen Wahrnehmung desselben. So wird die empirische Untersuchung in Kapitel 1.7 vielmehr mit Hilfe einer Analyse der Sprache geführt, in der wir über die Dinge sprechen, die wir wahrnehmen. Zur Überbetonung des sprachlichen Charakters von Physik 1, wie sie für Wielands Interpretation charakteristisch ist, vgl. Tugendhat (1963), Guzzoni (1975), Happ (1971) und Oehler (1963). Düring (1966: 230 f.): „Aristoteles unterscheidet zwei Hauptformen der Entstehung: 1) Entstehung schlechthin bezeichnet er als ex allou alio, 'aus etwas etwas anderes', 2) Entstehung einer Eigenschaft benennt er mit ex heterou heteron, 'aus etwas andersartigem etwas andersartiges'." Vgl. auch Ross (1936: 491), der in diesem Zusammenhang auf Met. 1087b29 hinweist, wo der Ausdruck „αλλο" für eine numerische und der Ausdruck „έτερον" für eine qualitative Differenz steht (vgl. auch Met. V.9).
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Physik
I. 7: 'Das aristotelische M o d e l l d e s Werdens'
Zwar will Aristoteles mit den Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτέρου έτερον" zweifelsohne Verschiedenes zum Ausdruck bringen - wobei die von Düring vorgeschlagene Interpretation, der zufolge ersteres fllr das Entstehen (γένεσις) und letzteres für die Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) steht, am naheliegendsten zu sein scheint -, doch ergibt sich aus diesem nicht zwangsläufig die Konklusion, daß bis 190bl nur von der άλλονωσ.νς und erst ab 190bl von der γένεσις gesprochen würde. So ist in 190a25-26 mit dem Beispiel des Entstehens einer Statue aus Erz bereits ein Beispiel für das Entstehen einer ουσία gegeben. Zudem ist folgendes zu beachten: Zwar beschreibt das Beispiel des gebildeten Menschen, der aus einem ungebildeten Menschen wird, eine Eigenschaftsveränderung, doch steht dieses Beispiel zu Beginn der Untersuchung in Kapitel 1.7 zunächst stellvertretend für einen jeglichen Werdeprozeß.5 Betrachtet man die in 189b34-190al angeführten drei Beispielsätze, so findet sich in ihnen der sprachlichen Form nach sowohl die Formel des ,,έξ άλλου άλλο" wie auch die Formel des ,,έξ έτέρου έτερον" zum Ausdruck gebracht: Stehen für das ,,έξ άλλου άλλο" die Sätze „ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter" und „das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes", da hier sprachlich gesehen zunächst aus einem Anderen ein Anderes wird, so steht für das ,,έξ έτέρου έτερον" der Satz „ein nichtgebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch", da hier sprachlich gesehen aus einem Verschiedenen ein Verschiedenes wird.6 In bezug auf die zu Beginn des Kapitels 1.7 angeführten Beispielsätze ist hervorzuheben, daß Aristoteles dort noch nicht von der für ihn charakteristischen Lösung des Wechsels von Eigenschaften an einem Zugrundeliegenden ausgeht, sondern zunächst in einem sehr allgemeinen und weiten Sinne vom Werden spricht. Die Eigenschaften werden dort noch in einem dinglichen Sinne behandelt, welches Wieland wie folgt beschreibt: Aristoteles g e h t nämlich davon aus, daß wir zunächst immer von Dingen sprechen, die zu anderen Dingen werden. K e i n e s w e g s ist das Werden v o n der V o r s t e l l u n g eines beharrenden Substrates aus verstanden, an d e m verschiedene B e s t i m m u n g e n w e c h s e l n . Wir sprechen nicht v o n Substraten, an denen die eine Eigenschaft durch eine andere E i g e n s c h a f t abgelöst wird - das ist erst ein nachträgliches Abstraktionss c h e m a -, sondern e b e n v o n Dingen, die, w e n n sie sich ändern, andere D i n g e werden. (Wieland, 1 9 6 2 : 114)
Bedenkt man dies, so stellt sich der im zweiten Beispielsatz beschriebene Werdeprozeß eines Nicht-Gebildeten zu einem Gebildeten (vgl. ,,τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν": 189b35) zunächst wie das Entstehen eines Gebildeten 5 6
Vgl. auch Happ (1971: 283). In diesem Zusammenhang sei auch auf die Kritik von Dancy (1978, 385, Fn.35) an der Interpretation von Jones hingewiesen: „I do not understand what Jones makes of the structure of this chapter. On 478 he says that Aristotle »begins by considering coming-to-be in general« and in the next two sentences says »The inquiry into coming-to-be falls into two parts. The first, 189b32-190a31, concerns alteration, nonsubstantial change; the second, 190a31-bl7, substantial change, the coming into existence of substances.« Aristotle's own view is the former: »So let us first speak covering all coming-to-be; for it is according to nature, once we have first mentioned the common [features], to consider then the things peculiar to each« (189 b30-32). So the first part of the chapter, which immediately follows, is not restricted to alteration."
Eine methodologische Vorbemerkung
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durch das Vergehen eines Nicht-Gebildeten dar. In einem analogen Sinne war ja auch in Kapitel 1.5 zunächst vom Entstehen eines Gebildeten aus einem Ungebildeten bzw. vom Vergehen eines Ungebildeten zu einem Gebildeten die Rede. Aristoteles differenziert zu Beginn des Kapitels 1.7 noch nicht explizit zwischen einer άλλοίωσις und einer γένεσις; er will zunächst nur das für ein jegliches Werden Gemeinsame herausstellen. 7 Auch wenn in den Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτερου έτερον" bereits die verschiedenen Arten der Werdeprozesse angedeutet sind, so stehen diese Formeln hier zunächst für die verschiedenen sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten eines Werdens im allgemeinsten Sinne, wie sie in den drei Beispielsätzen zum Ausdruck kommen: Wir sagen nämlich, daß eines aus einem anderen wird [γίγνεσθαι έξ ά λ λ ο υ άλλο] und ein Verschiedenes aus einem Verschiedenen [έξ ετέρου έτερον], und wir meinen damit entweder Einfaches [τά άπλά] oder Zusammengesetztes [τά συγκείμενα], Dies meine ich wie folgt: Es gibt doch [Sätze] wie »ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter« [γίγνεσθαι ανθρωπον μουσικόν]; es gibt aber auch Sätze wie »das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes« [τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν] oder »der nicht-gebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch« [τον μή μουσικόν ανθρωπον ανθρωπον μουσικόν]. (1.7, 189b32-190al)
In bezug auf die angeführten Beispielsätze fällt allerdings auf, daß sie sich in einem wesentlichen Punkte von den allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτέρου έτερον" unterscheiden. Im Gegensatz zur allgemeinen Formel „y wird aus [έξ] χ " sprechen die Beispielsätze (1) „ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter", (2) „das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes" und (3) „der nichtgebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch", die formal gesehen die allgemeine Form „x wird haben, nicht von einem „Werden aus", obgleich sie sprachlich doch auch in Gestalt dieser allgemeinen Formel ausdrückbar zu sein scheinen. Würde man nämlich die Beispielsätze mit Hilfe der allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτέρου ετερον" formulieren, so würden sich folgende Sätze ergeben: ( Γ ) „ein Gebildeter wird aus einem Menschen", (2') „ein Gebildetes wird aus einem Nicht-Gebildeten" und (3') „ein gebildeter Mensch wird aus einem nicht-gebildeten Menschen". Der Grund, warum Aristoteles die Beispielsätze nicht in dieser Form anführt, ist in folgendem zu sehen: Erweisen sich die Umformulierungen mit Hilfe des „Werdens aus" in bezug auf die Sätze (2) und (3) als unproblematisch, so gilt dies jedoch nicht für den Satz (1), der sich, wie Aristoteles wenig später sagen wird (vgl. 190a7-8, a23), nicht in die Form bringen läßt, daß ein Gebildeter aus einem Menschen wird. Der Grund für die Unmöglichkeit dieser Umformulierung ist darin zu sehen, daß der Satz ( Γ ) „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" den (widersinnigen) Anschein erweckt, als würde 'Mensch' bei diesem Werdeprozeß nicht bleiben, da die Präposition „aus" (έκ) nach Ansicht von Aristoteles vor allem auf etwas Nichtbleibendes (und Gegensätzliches) hindeutet. Würde man die drei Beispielsätze also mit Hilfe eines „Werdens aus" formulieren, so blieben nur die Sätze 7
Vgl. Wagner (1967: 425): „Ar. fragt vorläufig ausschließlich nach dem, was in jedem beliebigen Fall, in dem etwas zu etwas wird, an Prinzipiellem vorliegt."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
(2') und (3') übrig. Da Aristoteles zu Beginn der Untersuchung jedoch so allgemein wie möglich sprechen und ein jegliches Werden behandeln will, wozu auch die Möglichkeit zählt, daß ein Mensch gebildet wird, wählt er zunächst die allgemeinere Formel „x wird / ' anstelle der Formel „y wird aus x", da erstere umfassender zu sein scheint (vgl. auch 190a5-8). Zudem stellt der Satz (1) „ein Mensch wird gebildet" eine Möglichkeit der sprachlichen Beschreibung eines Werdeprozesses dar, in der - einerseits im Gegensatz zu den Sätzen (2) und (3) und andererseits im Unterschied zu den Beschreibungen des Werdens in Kapitel 1.5 - nicht zwei Gegensätze als Relationsglieder des Werdens gegenüberstehen. Ist nun zwar einsichtig geworden, warum Aristoteles seine Beispielsätze nicht mit Hilfe des „Werdens aus" formuliert, so läßt sich jedoch umgekehrt fragen, warum er dann in bezug auf die allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου αλλο" und ,,έξ έτέρου έτερον" an dem „Werden aus" festhält. Hätte er dort zum Zwecke einer formalen Kongruenz von Beispielsätzen und allgemeiner Formel nicht besser sagen sollen „ein Anderes wird ein Anderes" und „ein Verschiedenes wird ein Verschiedenes" statt „ein Anderes wird aus einem Anderen" und „ein Verschiedenes wird aus einem Verschiedenen"? Schaut man aber genauer hin, so würde auch dies eine Einschränkung der sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten des Werdens bedeuten, da nun solch ein Beispiel wie „aus dem Erz wird eine Statue", für das gerade nicht gesagt werden kann „das Erz wird (zur) Statue" (vgl. 190a25-26), nicht mehr umfaßt wäre. Aristoteles scheint seine Formulierungen somit vor dem Hintergrund zu wählen, daß sie so umfassend wie möglich sein sollen. Er tut dies jedoch auf Kosten einer Inkongruenz zwischen der allgemeinen Formel und den konkreten Beispielsätzen.
7.2 Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
(189b34-190a21)
7.2.1 Eine sprachliche Untersuchung (189b34-190al3) Wir sagen nämlich, daß eines aus einem anderen wird [γίγνεσθαι έξ άλλου άλλο] und ein Verschiedenes aus einem Verschiedenen [έξ έτέρου έτερον], und wir meinen damit entweder Einfaches [τά άπλα] oder Zusammengesetztes [τα συγκείμενα]. Dies meine ich wie folgt: Es gibt doch [Sätze] wie »ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter« [γίγνεσθαι ανθρωπον μουσικόν]; es gibt aber auch Sätze wie »das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes« [τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν] oder »der nicht-gebildete Mensch [wird] ein gebildeter Mensch« [τόν μή μουσικόν ανθρωπον ανθρωπον μουσικόν]. Hierbei nenne ich 'einfach' auf Seiten des Werdenden [τό γιγνόμενον] 'Mensch' und 'Nicht-Gebildetes', 'einfach' auf Seiten dessen, was [es] wird [δ γίγνεται], steht „Gebildetes/r". Zusammengesetzt aber ist sowohl das, was [es] wird, wie das Werdende, wenn wir sagen »der nichtgebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch«. (1.7, 189 b32-190 a5)
Die allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου αλλο" und ,,έξ έτέρου ετερον γίγνεσθαι", bei denen entweder von 'Einfachem' (άπλα) oder aber von 'Zusammenge-
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setztem' (συγκείμενα) die Rede ist, erfahren eine Konkretion durch folgende Beispielsätze: (1) (2) (3)
Ein Mensch wird ein Gebildeter/gebildet (γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν). 8 Das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes/gebildet (τό μή μουσικόν γ ί γ ν ε σ θ α ι μουσικόν). Der nichtgebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch (τον μή μουσικόν άνθρωπον [γίγνεσθαι] άνθρωπον μουσικόν). 9
Ich habe den Satz (1) „γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν" in einem möglichst offenen Sinne mit „ein Mensch wird ein Gebildeter/gebildet" übersetzt. Dies findet seinen Grund darin, daß in Analogie zu dem Satz „άνθρωπος μουσικός έστιν", der sowohl mit „ein Mensch ist ein Gebildeter" als auch mit „ein Mensch ist gebildet" übersetzt werden kann, auch der Satz „γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν" sowohl bedeuten kann (i) „ein Mensch wird ein Gebildeter" als auch (ii) „ein Mensch wird gebildet". Der Unterschied zwischen (ii) „ein Mensch wird gebildet" und (i) „ein Mensch wird ein Gebildeter" ist folgender. So wie das „Sein" entweder eine 'einfach-prädikative' („Sokrates ist gebildet") oder aber eine 'identifikativ-prädikative' („Sokrates ist ein Gebildeter") Funktion haben kann,10 so läßt sich auch in bezug auf das „Werden" von diesen beiden Funktionen sprechen und „gebildet werden" als ein einfach-prädikatives Werden, „ein Gebildeter werden" aber als ein identifikativ-prädikatives Werden bezeichnen." Aristoteles beschreibt das Werden in seinen Beispielsätzen zunächst als eine zweistellige Relation (iTx wird yu),'2 deren Glieder er als „das Werdende" (τό
9
10
"
12
Die Wendung „γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν" kann nicht nur durch (1) „ein Mensch wird ein Gebildeter/gebildet" sondern auch durch (Γ) „es entsteht ein gebildeter Mensch" übersetzt werden. Daß letzteres hier nicht gemeint ist, wird daraus ersichtlich, daß Aristoteles in 190al-2 den Ausdruck „Mensch" in Beispielsatz (1) zu den 'Einfachen' zählt. In der Übers. (Γ) hätten wir es demgegenüber mit einem Zusammengesetzten („gebildeter Mensch") zu tun, das entsteht. Nach Ansicht von Gill (1989: 99) haben die Beispielsätze folgende Form: „(1) [the] χ comes to be Φ; (2) [the] not Φ comes to be Φ; (3) [the] not Φχ comes to be Φχ." Hierbei steht „x" für ein Bleibendes und sowohl „not Φ" wie auch „Φ" filr entgegengesetzte Terme. Obgleich diese Formalisierung von einem späteren Standpunkt aus betrachtet zutrifft, ist mit der Differenzierung zwischen „Mensch" und „Gebildetes" durch kategorial verschiedene Symbole an dieser Stelle vielleicht bereits zuviel gesagt. Denn zunächst ist nur gemeint, daß 'Dinge' - wozu sowohl Gebildetes wie Mensch zählen - 'Dinge' werden (vgl. auch Wieland, 1962: 113). Die Prädikation bei dem identifikativ-prädikativen Gebrauch des Wortes „sein" ist dann in dem Wort „Gebildeter" enthalten, denn „ein Mensch ist ein Gebildeter" bedeutet ja „ein Mensch ist etwas, was gebildet ist". Die von mir verwendete Terminologie unterscheidet sich insofern von der von Wieland (1962: 119) verwendeten Terminologie, als dieser nicht zwischen „ein Mensch wird gebildet" und „ein Mensch wird ein Gebildeter" unterscheidet, sondern beides undifferenziert als ein „prädikatives Werden" bezeichnet, dem er ein „Werden-aus" (z.B. „aus einem Nichtgebildeten wird ein Gebildeter") gegenüberstellt. Im Unterschied dazu beschreibt Aristoteles das Werden in Met. VII.7, 1032al3-14 wie folgt: „Jedes Werdende wird aber durch etwas und aus etwas und etwas" (πάντα δέ τά γιγνόμενα ύπό τέ τίνος γίγνεται και εκ τίνος και τί). Es fällt auf, daß von demjenigen, „durch" (ύπό) das etwas wird, in Kapitel 1.7 keine Rede ist. Zwar wird in 190b5-9 gesagt, daß etwas durch Umformung (μετασχηματίσις), Hinzutun (πρόσθεσις), Fortnehmen (άφαίρεσις), Zusammensetzung (σύνθεσις) und Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) wird, doch sind dort mit dem Ausdruck „durch", das nicht durch ein „υπό", sondern mit Hilfe das Dativs ausgedrückt wird,
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
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γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν ) einerseits und als „dasjenige, was [es] wird" ( δ γ ί γ ν ε τ α ι ) 1 3 andererseits bezeichnet; hierbei steht „das Werdende" für das „x" und „dasjenige, was [es] wird" flir das „y". Zu den 'Einfachen' ( ά π λ α ) auf Seiten des γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν zählt Aristoteles „Mensch" und „das Nicht-Gebildete", zu den 'Einfachen' auf Seiten des δ γ ί γ ν ε τ α ι zählt er „das Gebildete". Ein 'Zusammengesetztes' ( σ υ γ κ ε ί μ ε ν α ) ist aber sowohl „der nichtgebildete Mensch" auf Seiten des γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν w i e auch „der gebildete Mensch" auf Seiten des δ γ ί γ ν ε τ α ι . Abb. 7.1: Die Einfachen jenige, was [es] wird. Einfaches (άπλα) Zusammengesetztes (συγκείμενα)
und Zusammengesetzten
in bezug auf das Werdende und das-
Werdendes (γιγνόμενον) der Mensch (ό άνθρωπος) das Nicht-Gebildete (τό μή μουσικόν) der nicht-gebildete Mensch (ό μή μουσικός άνθρωπος)
W a s [es] wird (δ γ ί γ ν ε τ α ι ) das Gebildete (τό μουσικόν)
der gebildete Mensch (ό μουσικός άνθρωπος)
Die drei Beispielsätze, die offenkundig denselben Sachverhalt des Werdens eines nichtgebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen beschreiben, machen deutlich, daß ein und derselbe Werdeprozeß auf verschiedene W e i s e beschrieben werden kann. Erweist sich der Satz ( 3 ) hierbei als die vollständigste Beschreibung, so scheinen die Sätze (1) und ( 2 ) den Werdeprozeß in einer verkürzten Form zu beschreiben, wobei sie j e w e i l s unterschiedliche Aspekte dieses Werdeprozesses betonen. Wir haben bereits gesehen, daß Aristoteles zu Beginn seiner Untersuchung bemüht ist, möglichst allgemeine Formulierungen zu verwenden, um nicht durch eine zu enge Begrenzung mögliche Beschreibungen von Werdeprozessen ausschließen. 1 4 D i e s e s Bemühen um Allgemeinheit kommt vermutlich auch darin anders als in Met. VII.7 nicht die Bewegungsursachen (causa efficiens), sondern vielmehr die Prozesse gemeint, durch die etwas wird. Der Ausdruck ,,δ γίγνεται" ist mehrdeutig und kann sowohl (a) „was es [das γιγνόμενον] wird" als auch (b) „was wird" bedeuten. Nehmen wir den Beispielsatz (3), so ist im Sinne von (a) 'der nichtgebildete Mensch' das Werdende und 'der gebildete Mensch' dasjenige, was der nichtgebildete Mensch wird. Im Sinne von (b) ist jedoch sowohl 'der nichtgebildete Mensch' als auch 'der gebildete Mensch' als Subjekt, von dem ein Werden ausgesagt wird, ein Werdendes: Denn der nichtgebildete Mensch wird etwas (ein gebildeter Mensch), und der gebildete Mensch wird aus etwas (aus einem nichtgebildeten Menschen). In 190b 12 bezeichnet Aristoteles die beiden Relationsglieder eindeutiger als „τι γιγνόμενον" (etwas Werdendes) und als „τι δ τοΰτο γίγνεται" (etwas, was dieses wird). Die überwiegende Zahl der Interpreten versteht das ,,δ γίγνεται" in 190a2-5 im Sinne von (a) „was es wird" (vgl. Apostle (1969: 19), Prantl (1854: 39), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 491) und Wagner (1967: 23)). Charlton (1970: 15), der den Ausdruck ,,τό γιγνόμενον" mit „coming-to-be things" und den Ausdruck ,,δ γίγνεται" mit „thing, which comes to be" übersetzt, bewahrt in seiner Übersetzung die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ,,δ γίγνεται". Vgl. in diesem Zusammenhang auch Guzzoni (1975: 48, Fn.28), die daraufhinweist, daß Aristoteles sowohl dasjenige, was zu etwas wird, wie auch dasjenige, wozu jenes wird, als ,,τό γιγνόμενον" bezeichnet (1.7, 190a2; aI5; a34; b4; b9; b l l ; >4
bl2) · Gleichwohl fehlen bei den Beispielsätzen, wie auch Wagner (1967: 425 f.) hervorgehoben hat, die Beschreibungsmöglichkeiten „ein nicht-gebildeter Mensch wird gebildet", „ein Mensch wird ein gebildeter Mensch" und „ein Nicht-Gebildetes wird ein gebildeter Mensch".
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
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zum Ausdruck, daß Aristoteles in den Beispielsätzen noch nicht vom konträren Gegensatz „ungebildet" (αμουσον) spricht, der uns erst in 190a 12 begegnen wird, sondern zunächst noch den umfassenderen kontradiktorischen Gegensatz „nicht-gebildet" (μή μουσικόν) wählt. Gleichwohl ist davon auszugehen, daß Aristoteles der Unterschied zwischen dem konträren und kontradiktorischen Gegensatz bewußt ist, hatte er doch in Kapitel 1.5 gesagt, daß 'μουσικόν' zwar aus 'μή μουσικόν' wird, jedoch nicht aus jedem 'μή μουσικόν', sondern nur aus ,,άμουσον" oder aus einem Mittleren, wenn es das gibt. Daß sich Aristoteles in Kapitel 1.7 dennoch zunächst fiir den kontradiktorischen Gegensatz 'μή μουσικόν' entscheidet, deutet bereits auf eine gewisse Distanzierung zu dem in Kapitel 1.5 Dargelegten hin. Aristoteles will zu Beginn der Darlegung seiner eigenen Theorie in Kapitel 1.7 selbst nicht davon ausgehen, daß jegliches Werden zwischen konträren Gegensätzen stattfindet, da dies vielleicht eine Einschränkung der Beschreibung von Werdeprozessen bedeuten könnte. So beschreibt ja z.B. der Beispielsatz (1) einen Werdeprozeß, dessen Relationsglieder ('Mensch' und 'Gebildeter') eben keinen konträren Gegensatz darstellen. Es steht hier aber wohl vor allem der Gedanke im Hintergrund, daß wir es bei dem Entstehen einer ουσία („eine Statue wird aus Erz") im Unterschied zu einer άλλοίωσις gerade nicht mit konträren Gegensätzen zu tun haben, da die ούσίαι ja einander nicht konträr entgegengesetzt sind (vgl. 1.6, 189a32-33). Damit ein Gebildetes wird, reicht es zunächst aus, ein nicht weiter spezifiziertes Nicht-Gebildetes anzunehmen, aus dem es wird. Das Bemühen um Allgemeinheit kommt auch darin zum Ausdruck, daß es im Beispielsatz (2) nicht heißt „der Nichtgebildete wird ein Gebildeter", sondern vielmehr „das Nichtgebildete wird ein Gebildetes" (vgl. ,,έστι δέ τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν": 189b35). Wieland, der den Satz (2) mit „ein Nichtgebildeter wird ein Gebildeter" (1962: 119) übersetzt, hält diesen Unterschied für bedeutungslos: Im Beispiel: es gibt kein Gebildetes »an sich«, sondern immer nur Menschen, die gebildet sind. Daher ist es auch nicht von Bedeutung, daß Aristoteles vom »Nichtgebildeten« bald in der maskulinen (z.B. 190 a 28), bald in der neutralen (z.B. 189 b35) Form spricht. (Wieland, 1962: 126, Fn.16)
Zwar gibt es sicherlich kein Gebildetes an sich, sondern nur Menschen, die gebildet sind, doch scheint die Tatsache, daß Aristoteles hier von ,,τό μή μουσικόν" in der neutralen Form spricht, darauf hinzudeuten, daß Aristoteles die Sätze (1) und (2) zunächst als voneinander unabhängige Beschreibungen verstanden wissen will, bei denen der Ausdruck ,,τό μή μουσικόν" sprachlich noch nicht auf „άνθρωπος" referiert. Mit anderen Worten: So wenig in bezug auf den Menschen in Satz (1) vorausgesetzt ist, daß er ein Ungebildeter ist (allenfalls ist vorausgesetzt, daß er ein Nicht-Gebildeter ist), so wenig ist in bezug auf das NichtGebildete in Satz (2) vorausgesetzt, daß es ein Mensch ist. Erst in Satz (3) werden beide Bestimmungen in Gestalt des 'nichtgebildeten Menschen' miteinander verknüpft.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Angesichts der Tatsache, daß es in Physik Α um Natur gehen soll, erweist sich das Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen als Beispiel für einen natürlichen Werdeprozeß insofern zunächst als ungewöhnlich, als ein Mensch doch eher durch Erziehung als durch Natur oder von Natur aus gebildet wird. Andererseits ist jedoch zu bedenken, daß auch der Mensch zu den Naturdingen (φύσει δντα) zählt, so daß die an ihm stattfindenden Prozesse gewiß als natürliche Prozesse anzusehen sind. Ob aber das 'Gebildetwerden' generell zu den natürlichen Prozessen zählt, auch wenn es wohl zur Natur des Menschen gehört, gebildet werden zu können, scheint zumindest fraglich zu sein. Auf jeden Fall würden wir wohl eher an das Werden eines Warmen aus einem Kalten oder an das Werden eines Dichten aus einem Dünnen als an das Werden eines Gebildeten aus einem Nicht-Gebildeten denken, wenn wir nach Beispielen für ein Werden in der Natur gefragt würden. Die Gründe, warum sich Aristoteles ausgerechnet für dieses Beispiel zur Veranschaulichung eines natürlichen Werdeprozesses entscheidet, liegen vermutlich in folgendem: Abgesehen davon, daß durch das Beispiel eines 'gebildeten Menschen' die Hörer der Vorlesung als gebildete Menschen angesprochen und miteinbezogen werden, und abgesehen davon, daß in dem Beispiel vom nichtgebildeten Menschen, der ein gebildeter Mensch wird, bereits eine Finalität und Zielgerichtetheit zum Ausdruck kommt, die für die Werdeprozesse in der Natur, wie Aristoteles sie versteht, charakteristisch ist,15 stellt ,,τό μουσικόν" - analog zu ,,τό σιμόν" in Kapitel 1.3 - ein Akzidens dar, in dem der λόγος dessen, dem es zutrifft (nämlich der λόγος des 'Menschen'), bereits enthalten ist.16 Derartige Ausdrücke wie z.B. ,,τό σιμόν", die auch als 'materiegebundene Begriffe' (λόγοι ένυλοι) bezeichnet werden (vgl. Happ, 1971: 572 f.), stellen für Aristoteles das Paradigma einer 'naturwissenschaftlichen Sprache' dar (vgl. Phys. II.2, 193b35-194a7), da in ihnen immer schon der Bezug auf einen zugrundeliegenden Stoff enthalten ist. Das Gegensatzpaar 'μουσικόν - αμουσον' stellt nun ein ,,συμβεβηκός καθ' αυτό" des Menschen dar, da es dem Menschen eigentümlich (ϊδιον) ist, gebildet oder ungebildet sein zu können.17 Dieser Aspekt ist hier aus folgendem Grunde zu betonen: Waren in Kapitel 1.5 noch allein die (konträren) Gegensätze für die Nichtbeliebigkeit des Werdens verantwortlich, so werden wir im weiteren Verlauf der Untersuchung sehen, daß auch die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden eine entscheidende Rolle für die Nichtbeliebigkeit des Werdens spielen wird. Eine Statue kann zwar aus unterschiedlichen, nicht jedoch aus beliebigen Materialien gefertigt werden. Der Zusammenhang zwischen der Bestimmtheit des Zugrundeliegenden und der Form, die dem Zugrundeliegenden zukommt, wird 15
16 1
So sprach Aristoteles in Kapitel 1.5 zwar nicht nur vom „Werden eines Gebildeten aus einem Ungebildeten", sondern er erwähnte auch die Möglichkeit des umgekehrten Prozesses, doch sprach er dabei bezeichnenderweise nicht mehr vom „Werden" eines Ungebildeten aus einem Gebildeten, sondern vielmehr vom „ Vergehen" des Gebildeten zum Ungebildeten. Vgl. dazu auch Simplicius ( 2 1 7 , 2 8 ff.) und Wieland (1962: 126, Fn. 16). Vgl. auch Wagner (1967: 422): „'Gebildet' ist eine nicht-notwendige zusätzliche Bestimmtheit besonderer Art (anders als 'weiß'): sie kann nur dem Mensch zukommen; so ist zwar nicht es selbst, wohl aber das Gegensatzpaar μουσικός - α μ ο υ σ ο ς ein συμβεβηκός καθ' αύτό des Menschen."
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
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beim gebildeten Menschen daran deutlich, daß nur dem Menschen die Form der Bildung zukommen kann.18 Nun ist der Beispielsatz (2) ,,εστι δέ τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" innerhalb der Sekundärliteratur aufgrund der Zweideutigkeit solcher Ausdrücke wie ,,τό μουσικόν", der einerseits dasjenige, was gebildet ist ('das Gebildete'), und andererseits die Eigenschaft der Bildung bezeichnen kann, keineswegs einheitlich verstanden worden. So lautet die Übersetzung der drei Beispielsätze bei Wicksteed und Cornford (1980: 71-73) wie folgt: Note, then, that in speaking of one thing becoming another, or one thing coming out of, or in the place of, another, we may use either (1) simple or (2) complex terms. I mean that we can say either (1) that a 'man' becomes cultured, or that the 'uncultured' in him is replaced by culture, or (2) that the 'uncultured mein' becomes a 'cultivated man.' In this case (1) the 'man' (who acquires culture), and his state of 'unculture' (which is replaced by culture) and the 'culture' itself (which was not; but has 'come to be') are all what I call 'simple' terms; [...].
Wicksteed und Cornford verstehen den Beispielsatz (2) ,,εστι δέ τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" in dem Sinne, daß die Unbildung („the 'uncultured' in him" bzw. „his state of 'unculture'") durch die Bildung („culture") ersetzt wird. Geht man jedoch davon aus, daß der Ausdruck „μουσικόν" in den beiden Beispielsätzen (1) und (2) dasselbe besagen soll, so führt die Interpretation von Wicksteed/Cornford in die Schwierigkeit, daß dann der Satz (1), sofem auch dort „μουσικόν" fur den „Zustand der Bildung" stünde, besagen würde, daß 'ein Mensch zur bzw. die Bildung wird', was jedoch widersinnig ist. Eine weitere Schwierigkeit, die mit der von Wicksteed/Cornford vorgeschlagenen Interpretation verbunden ist, besteht darin, daß sie eine unterschiedliche Bedeutung des Wortes „werden" (γίγνεσθαι) in den Beispielsätzen impliziert. Denn das „Werden" der Unbildung zur Bildung kann Aristoteles zufolge ja nur in dem Sinne verstanden werden, daß die beiden Eigenschaften an einem Zugrundeliegenden wechseln bzw. einander ersetzen (in diesem Sinne sagen Wicksteed/Cornford ja auch zu Recht: „the 'uncultured' in him is replaced by culture"), nicht aber kann dieses „Werden" in dem Sinne verstanden werden, daß die Bildung - analog zum Menschen, der ein Gebildeter wird - selbst das Subjekt dieses Werdeprozesses ist. Denn die Eigenschaften unterliegen Aristoteles zufolge ja keiner Veränderung: Nicht die Wärme wird zur Kälte, sondern ein Warmes wird zu einem Kalten. Da Aristoteles jedoch in 190al-3 'τό μή μουσικόν' als ein „Werdendes" (γιγνόμενον) bezeichnet, ist wohl kaum davon auszugehen, daß er hier an den Zustand der Nichtbildung denkt. Charlton (1970: 70 f.) weist in diesem Zusammenhang auf folgendes hin: Obgleich die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden vor allem für die Nichtbeliebigkeit beim substantiellen Werden der ούσίαι verantwortlich sein wird, da diese keine konträren Gegensätze haben, die für die Nichtbeliebigkeit verantwortlich sein könnten, scheint Aristoteles die konstitutive Funktion der Bestimmtheit des Zugrundeliegenden in bezug auf die Nichtbeliebigkeit des Werdens mit dem Beispiel vom 'gebildeten Menschen' in einem gewissen Sinne auch auf die Nichtbeliebigkeit bei der Eigenschaftsveränderung zu übertragen, obgleich bei ihr ja konträre Gegensätze vorhanden sein können.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Nevertheless, translators and commentators seem agreed that the factors distinguished when a man leams music are not the man, ignorance of music, and knowledge of music, but the man, the thing which is ignorant of music, and a thing which knows music. If Bekker's reading in 189b35 to me mousikon ti is right [...], Aristotle says this unambiguously. Even if it is wrong, this is still the most natural way of understanding his words, and is confirmed by mousikos instead of mousikon in 190 a7. Mit dem zuletzt genannten Argument - „and is confirmed by mousikos instead of mousikon in 190a7" - meint Charlton offenkundig, daß sich Aristoteles in 190a58 auf die Beispielsätze zurückbezieht, so daß der Satz a6-7 ,,έκ μή μουσικού μουσικός", der aufgrund der maskulinen Form „μουσικός" in dem Sinne zu verstehen ist, daß ein Gebildeter aus einem Nichtgebildeten wird, dafür spricht, daß auch in den Beispielsätzen eher von einem „Gebildeten" als von einer „Bildung" die Rede ist. Auch wenn der Interpretation von Charlton im wesentlichen zuzustimmen ist, drängt sich dennoch die Frage auf, warum Aristoteles - anders als in 190a6-7 - in 189b35 von ,,μουσικόν" in der neutralen Form - und nicht ebenfalls von „μουσικός" in der maskulinen Form - spricht. Der Grund für diese Abweichung ist bereits angedeutet worden: Gegenüber dem Beispielsatz (3), der eine vollständige Beschreibung des Werdeprozesses darstellt, blenden die Beispielsätze (1) und (2) jeweils ein bestimmtes Moment bei diesem Werdeprozeß aus: Der Beispielsatz (1) blendet letztlich aus, woraus ein Gebildeter wird (denn er wird ja nicht aus einem Menschen), und der Beispielsatz (2) blendet aus, was (als Bleibendes) ein Gebildetes wird (denn nicht das Nicht-Gebildete wird (als Bleibendes) ein Gebildetes). Wird in dem Beispielsatz (1) das 'μή μουσικόν' ausgeblendet, so wird in dem Beispielsatz (2) 'άνθρωπος' ausgeblendet. Diese Ausblendung von 'άνθρωπος' in Satz (2) liegt jedoch erst dann auf vollständige Weise vor, wenn ,,τό μή μουσικόν" in der neutralen Form angeführt wird, da die maskuline Form noch einen Bezug auf'άνθρωπος' implizieren würde.
7.2.2 Die 'Einfachen' (τά άπλά) und 'Zusammengesetzten' (τά συγκείμενα) Die beiden in den Kapiteln 1.5 und 1.7 vorgenommenen Klassifizierungen der Relationsglieder eines Werdeprozesses in 'Einfache' (άπλά) und 'Zusammengesetzte' (σύνθετα bzw. συγκείμενα) unterscheiden sich, wie in Kapitel 5.4.3.2 herausgestellt wurde, in dem Sinne voneinander, daß wir es in Kapitel 1.5 mit einer materiellen Diairesis zu tun haben, bei der die Werdenden anhand des Kriteriums der materiellen Einfachheit oder Zusammengesetztheit in 'Einfache' (άπλα) und 'Zusammengesetzte' (σύνθετα) eingeteilt wurden, während wir es in Kapitel 1.7 mit einer logisch-kategorialen Diairesis zu tun haben, bei der die Relationsglieder eines Werdeprozesses zunächst anhand des Kriteriums der sprachlichen Einfachheit oder Zusammengesetztheit in 'Einfache' (άπλα) und 'Zusammengesetzte (συγκείμενα) eingeteilt werden.19 So werden die 'Zusam19
Vgl. auch Wieland (1962: 113): „Allein die sprachliche Form bestimmt, was als einfach zu gelten hat."
D a s Beispiel v o m 'gebildeten M e n s c h e n '
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mengesetzten' in Kapitel 1.7 auch nicht als „σύνθετα", sondern als „συγκείμενα" bezeichnet. Sprachlich komplexe Ausdrücke wie „μουσικός άνθρωπος" und ,,μή μουσικός άνθρωπος" zählen zu den συγκείμενα; sprachlich einfache Ausdrücke - aus denen sich die συγκείμενα zusammensetzen - wie „άνθρωπος", ,,μουσικόν" und ,,μή μουσικόν" zählen zu den άπλα. 20 Obgleich der Ausdruck ,,μή μουσικόν" aus zwei Worteinheiten besteht, wird er von Aristoteles ebenfalls als sprachlich einfach betrachtet. Auch wenn es zunächst so scheint, als ob die Einteilung allein auf einem sprachlichen Kriterium basiert, so liegt ihr bei genauerem Hinsehen doch zugleich ein logisch-kategoriales Einteilungskriterium zugrunde, da wir auf Seiten der συγκείμενα 'Dingen' begegnen, die Zusammensetzungen aus verschiedenen Kategorien darstellen (z.B. 'μουσικός άνθρωπος' als aus ουσία und ποιόν zusammengesetzt), während wir auf Seiten der άπλα 'Dingen' begegnen, die jeweils für sich nur eine einzige Kategorie vertreten (z.B. 'άνθρωπος' als ουσία; 'μουσικόν' als ποιόν).21
7.2.3 „Etwas wird etwas" und „aus etwas wird etwas" (190a5-13) V o n diesen [ τ ο ύ τ ω ν ] aber wird in d e m einen Falle nicht nur gesagt »dies wird es« [τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι ] , sondern auch »aus d i e s e m [wird es]« [έκ τ ο ϋ δ ε ] , w i e z.B. »aus einem N i c h t g e b i l d e t e n ein Gebildeter« [ έ κ μ ή μ ο υ σ ι κ ο ϋ μ ο υ σ ι κ ό ς ] ; das aber wird nicht bei allen s o gesagt: D e n n ein Gebildeter ist nicht aus e i n e m M e n s c h e n g e w o r den, sondern der M e n s c h ist ein Gebildeter/gebildet g e w o r d e n [οΰ γ α ρ ε ξ α ν θ ρ ώ π ο υ έ γ έ ν ε τ ο μ ο υ σ ι κ ό ς , ά λ λ ' ά ν θ ρ ω π ο ς έ γ έ ν ε τ ο μ ο υ σ ι κ ό ς ] , (1.7, 1 9 0 a 5 - 8 )
Aristoteles kommt nun explizit auf den Unterschied der Ausdrucksformen (i) „etwas wird etwas" (τόδε γίγνεσθαι) - diese findet sich bei den Beispielsätzen (189b34-190al) - und (ii) „aus etwas wird etwas" (έκ τοΰδε) - diese findet sich bei den allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ ετέρου έτερον" (189 b32-33) - zu sprechen, wobei sich die Ausdrucksform (i) gegenüber der Ausdrucksform (ii) zunächst überraschenderweise insofern als umfassender erweist, als die Ausdrucksform (ii) nicht bei allen gesagt wird (vgl. ,,ού λέγεται έπί πάντων": a7):22 „Denn ein Gebildeter ist nicht aus einem Menschen geworden, sondern der Mensch ist ein Gebildeter/gebildet geworden [ού γαρ έξ άνθρωπου
21
Vgl. McMullin (1963: 188): „He [Aristoteles] begins with a distinction between »simple things« ('musical', 'man') and »complex things« ('musical man'). The distinction is quite clearly between predicates not between things, and between expressed predicates, not just possessed ones (e.g. 'rational animal' will be complex, though 'man' is simple). [. . .] All of these actually describe the same change." Vgl. auch Gill (1989: 99). Dies ist insofern überraschend, als man eigentlich umgekehrt erwarten würde, daß die 'allgemeine Formel' auch die 'umfassendere' sei. In 190a25-26 werden wir jedoch sehen, daß auch die Formel „etwas wird etwas" nicht bei allen gesagt werden kann; so läßt sich Aristoteles zufolge z.B. nicht sagen „das Erz wird Statue". Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fritsche (1986: 285, Fn. 143): „Innerhalb der Analyse des prädikativen Werdens (»Etwas wird etwas«) war die Form Werden-aus (»Aus etwas wird etwas«) als eine Untergruppe eingeführt worden. Einige, aber nicht alle Aussagen des Typs prädikatives Werden lassen sich in Aussagen des Typs Werden-aus umformulieren: [...]."
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έγένετο μουσικός, άλλ' άνθρωπος έγένετο μουσικός: 190a7-8]." Im Gegensatz zu den Beispielsätzen (2) und (3) läßt sich der Beispielsatz (1) nicht in „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" umformulieren; man kann nur sagen „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten". Der Grund für die Unmöglichkeit dieser Umformulierung ist darin zu sehen, daß nach Ansicht von Aristoteles die Umformulierung „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" auf die widersinnige Konsequenz hindeuten würde, daß der Gebildete, der aus einem Menschen wird, selbst kein Mensch mehr wäre. Diese hier mit dem „Werden aus" implizierte Bedeutung, der zufolge sich die Präposition 'aus' vor allem auf ein Nichtbleibendes bezieht, wird von Aristoteles an späterer Stelle in 190a21-23 expliziert:23 Der Ausdruck »etwas wird aus etwas« [εκ τίνος γίγνεσθαι τι], und nicht »etwas wird ein solches« [τόδε γίγνεσθαι τι], wird mehr bei den Nichtbleibenden [έπϊ των μή υπομενόντων] gesagt, wie z.B. »aus einem Ungebildeten wird ein Gebildeter« [έξ άμούσου μουσικόν γίγνεσθαι], nicht aber »aus einem Menschen« [έξ άνθρωπου δέ οϋ], (1.7, 190a21-23) Aristoteles ist offenkundig der Ansicht, daß die Präposition „aus" in der Formel „y wird aus x" vor allem auf ein Nichtbleibendes innerhalb des Werdeprozesses hindeutet. In Met. II.2, 994a22-bl spricht Aristoteles von einer doppelten Bedeutung des „Werdens aus": In zweifachem Sinne nämlich sagt man, daß 'das' aus 'dem' wird [γίγνεται τόδε έκ τοϋδε] (außer dort, wo 'aus dem' soviel bedeutet wie 'nach dem' [μετά], z.B. 'aus den Isthmischen Spielen die Olympischen Spiele): Entweder, wie aus dem Knaben, indem er sich verändert [μεταβάλλοντος], ein Mann wird oder, wie aus Wasser Luft wird. Sagen wir, daß aus einem Knaben ein Mann wird, so ist gemeint, daß aus dem Werdenden das Gewordene [έκ τοΰ γιγνομένου τό γεγονός] oder aus dem SichVollendenden das Vollendete [έκ τοΰ έπιτελουμένου τό τετελεσμένον] wird. So wie das Werden [γένεσις] ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein ist, so ist auch das Werdende [τό γιγνόμενον] ein Mittleres zwischen Seiendem und Nichtseiendem. Der Lernende ist nämlich ein werdender Gelehrter, und das ist gemeint, wenn wir sagen, daß aus dem Lernenden ein Gelehrter werde. Wie aber aus der Luft Wasser [wird], damit meinen wir das Werden durch den Untergang des anderen. Deshalb kehren jene Dinge nicht zueinander zurück, und es wird nicht aus einem Mann ein Knabe, denn nicht aus dem Werden wird dort das Werdende, sondern nach dem Werden. Weder in dem einen noch in dem anderen Sinne kann jedoch ein Gebildeter aus einem Menschen werden. Denn würde er wie „Luft aus Wasser", so wäre der Gebildete in keiner Weise ein Mensch - vielmehr würde dort, wo vorher Mensch war, nun Gebildeter sein -; würde er aber wie „Mann aus Knabe", so wäre zwar noch etwas vom Menschen, aus dem der Gebildete wird, im Gebildeten vorhanden, doch wäre es nicht mehr als Wesen 'Mensch' enthalten, da ja auch der 23
Zur Bedeutung des „Werdens aus" als „Werden aus einem Nicht-Bleibenden" vgl. auch Kapitel 1.5, wo vom Werden eines Weißen aus einem Schwarzen die Rede war, bei dem das Schwarze nicht bleibt, sondern untergeht. Dieses Nichtbleiben wurde insbesondere daran deutlich, daß der Prozeß des Werdens eines Weißen aus einem Schwarzen auch als Vergehen eines Schwarzen zu einem Weißen beschrieben werden kann.
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
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Knabe im Mann nicht mehr als ο υ σ ί α enthalten ist. Der Mensch hätte sich vielmehr im Sinne einer Fortentwicklung von einem Menschen zu einem Gebildeten gewandelt, was jedoch widersinnig ist.
7.2.4 Die Mehrdeutigkeit des Satzes ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190 a6-7) Ebenso wie der Beispielsatz (2) (189b35) ist auch der Satz ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190a6-7), den ich in Entsprechung zu 189b35 mit „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" übersetze, mitunter in dem Sinne verstanden worden, daß hier ebenfalls von den Eigenschaften 'Bildung' und 'Nicht-Bildung' gesprochen wird. Irwin verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Übersetzungsmöglichkeiten: In 190a6-7 we might translate ek me mousikou mousikos by 'musical comes to be from not musical', with mousikos as subject and (the understood) gignetai taken absolutely. (So Charlton [1970], Ross [1936], 492, implies this view, but does not imply it in his summary, 345. The OT [Oxford Translation] is ambiguous.) The absolute use, however, is explicitly introduced only at 190a31-3, and 190a6, tode gignesthai (after the example in a4-5), suggests that qualified becoming is at issue. We therefore have good reason to take gignetai predicatively, as 'from being unmusical becomes musical'. (So ROT [Revised Oxford Translation]. This explains the masculine mousikos.) The same translation works in the rest of the discussion up to a31-3. (Irwin, 1988: 515, Fn.24)
Wenn Irwin die Übersetzungsmöglichkeiten des Satzes ,,έκ μή μουσικού μουσικός" in den Alternativen „musical comes to be from not musical" und „from being unmusical becomes musical" sieht, wobei der Satz „musical comes to be from not musical" im Deutschen wohl am angemessensten mit „gebildet wird aus nicht-gebildet" wiederzugeben ist,24 so scheint Irwin offenkundig die von mir vertretene und auch bei anderen Interpreten zu findende Übersetzungsmöglichkeit „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" 25 zu übersehen, bei der j a ebenfalls die maskuline Form „μουσικός" Berücksichtigung findet. In genau diesem Sinne - „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" - war bereits in Kapitel 1.5 vom Werden eines Gebildeten aus einem Ungebildeten und vom Werden eines Weißen aus einem Schwarzen die Rede. Irwin begründet seinen Übersetzungsvorschlag, dem zufolge in 190a6-7 von einem 'qualifizierten Werden' (qualified becoming) die Rede sein muß, damit, daß die Rede vom ,,τόδε γίγνεσθαι" (a6), die sich nach dem Beispiel des Werdens eines nicht-gebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen findet, eher auf ein 'qualifiziertes Werden' hindeutet, und daß das Werden in einem absoluten Sinne erst in 190a31-3 explizit eingeführt wird. Demgegenüber ist aber darauf
25
Irwin verweist in bezug auf diese Übersetzungsmöglichkeit auf Charltons (1970: 15) Übersetzung des Satzes ,,έκ μή μουσικοΰ μουσικός" durch „knowing music comes to be out of not knowing music". Vgl. Prantl (1854: 39), Wagner (1967: 23), Gohlke (1956: 49), Apostle (1969: 19), Matthews (1982: 225) und Code (1976 a: 189).
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hinzuweisen, daß sich das ,,τόδε γίγνεσθαι" (a6) nicht nur auf das unmittelbar vorhergehende Beispiel des Werdens eines nicht-gebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen bezieht. Der Kontext macht vielmehr deutlich, daß das ,,τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι " (a6) auf alle drei Beispielsätze in 189b34-190 al zu beziehen ist. Wenn Aristoteles nämlich sagt „Von diesen [τούτων] aber wird in dem einen Falle nicht nur gesagt »dies wird es« [τόδε γίγνεσθαι], sondern auch »aus diesem [wird es]« [έκ τούδε], wie z.B. »aus einem Nichtgebildeten ein Gebildeter« [έκ μή μουσικού μουσικός]; das aber wird nicht bei allen so gesagt" (a5-7), so ist offensichtlich gemeint, daß zwar in allen drei Beispielsätzen ein „dies wird es" (τόδε γίγνεσθαι) von einem Relationsglied gesagt wurde - (1) „ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter"; (2) das „Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes"; (3) „der nicht-gebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch" -, daß aber in einigen Fällen von einem Relationsglied nicht nur gesagt werden kann „dies wird es" (τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι ) - „das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes" -, sondern daß auch gesagt werden kann „aus diesem wird es" (έκ τοΰδε) - „aus einem NichtGebildeten wird ein Gebildeter". Dies aber wird nicht bei allen so gesagt, da vom 'Menschen' in diesem Zusammenhang nur gesagt werden kann „der Mensch wird ein Gebildeter", nicht aber „aus dem Menschen wird ein Gebildeter". Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Aristoteles zu Beginn des Kapitels 1.7 noch nicht explizit zwischen einem absoluten und relativen Werden unterscheidet; diese Unterscheidung findet sich erst in 190a31 ff. Aristoteles will zu Beginn vielmehr das 'gesamte Werden' behandeln. Wenn Irwin also meint, vom absoluten Werden sei erst in 190a31 -3 die Rede, so ließe sich umgekehrt auch darauf hinweisen, daß ebenfalls vom qualifizierten Werden im eigentlichen Sinne erst in 190a31-3 die Rede ist. Für die Übersetzung „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" spricht auch der Umstand, daß sich der Satz ,,έκ μή μουσικού μουσικός" offenkundig auf den Beispielsatz (2) bezieht, dessen Umformulierung er darstellen soll. Ist der Beispielsatz (2) jedoch in dem Sinne zu verstehen, daß „das NichtGebildete ein Gebildetes wird", so kann die Umformulierung nur lauten, daß „ein Gebildetes aus einem Nicht-Gebildeten wird". 26 Der Beispielsatz (2) ,,τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" (189b35) und dessen Umformulierung ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190a6-7) weichen allerdings in dem Punkte voneinander ab, daß in 189b35 von „μουσικόν" in der neutralen Form, in 190a6-7 hingegen von „μουσικός" in der maskulinen Form die Rede ist. Die maskuline Form in 190a6-7 findet ihren Grund vermutlich in dem Umstand, daß der Satz ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190a6-7) der unmöglichen Behauptung ,,έξ άνθρωπου μουσικός" (190a7-8) gegenübergestellt wird, so daß in 190a6-7 aufgrund einer grammatischen Kongruenz das Maskulinum „μουσικός" steht. In der maskulinen Form „μουσικός" deutet sich zudem bereits folgendes an: Ebenso wie das 26
So versteht auch Charlton (1970: 71) die maskuline Form „μουσικός" in 190a7 als Bestätigung dafür, daß hier nicht 'die Bildung', sondern vielmehr 'das Ding, das gebildet ist', gemeint ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es, daß Charlton in seiner Ubersetzung (S. 15) das ,,έκ μή μουσικοΰ μουσικός" dann doch mit „knowing music comes to be out of not knowing music" übersetzt.
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Zugrundeliegende „άνθρωπος" durch „μουσικός" eine (formale) Bestimmung erhält, bestimmt auch das Zugrundeliegende „άνθρωπος" umgekehrt in einem gewissen - allerdings nur grammatischen - Sinne das „μουσικός". Denn in bezug auf „άνθρωπος" kann ja nicht von „μουσικόv", sondern nur von „μουσικός" gesprochen werden. Wenn also bereits in der Sprache deutlich wird, daß auch das ύποκείμενον (d.h. in diesem Falle 'άνθρωπος') in einem grammatischen Sinne dasjenige (d.h. in diesem Falle 'τό μουσικόν') bestimmt, wodurch es selbst in einem formalen Sinne bestimmt wird, so kann man dies bereits als ein Zeichen dafür betrachten, daß die Gegensätze nicht unabhängig von dem ύποκείμενον, an dem sie vorkommen, betrachtet werden können.
7.2.5 Die Einführung des 'Bleibenden' (ύπομένον: 190a9-13) Von den Werdenden aber [των δέ γιγνομένων], die, wie wir sagen, als Einfache [τα ά π λ α ] werden, werden die einen als Bleibende [ύπομένον], die anderen aber als Nicht-Bleibende [ούχ ύπομένον]. Der Mensch nämlich bleibt, wenn er ein Gebildeter wird, ein Mensch und ist es [ό μ ε ν γαρ άνθρωπος υπομένει μουσικός γιγνόμενος άνθρωπος καΐ έστι]; das Nichtgebildete [τό μή μουσικόν] aber und das Ungebildete [τό ά μ ο υ σ ο ν ] bleibt weder als Einfaches [άπλώς] noch als Zusammengesetztes [συντεθειμένον], (1.7, 190a9-13) 27
Wenn Aristoteles in diesem Abschnitt, wo immer noch vom Beispiel des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem nichtgebildeten Menschen die Rede ist, sagt, daß von den einfachen Werdenden - zu denen er in 190a 1-2 „Mensch" und „Nicht-Gebildetes" gezählt hat - die einen ('Mensch') als Bleibende und die anderen ('Nicht-Gebildetes') als Nichtbleibende werden, so bedeutet dies, daß es dem Begriff nach verschiedene Subjekte ein und desselben Werdeprozesses geben kann. Die Behauptung, daß etwas als ein Bleibendes wird (vgl. ,,τό μεν ύπομένον γίγνεται": 190a9-10), ergibt sich zunächst aus der Beobachtung der sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten eines Werdens: „ein nichtgebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch". Gleichwohl kann diese Beobachtung nicht aus einer jeden sprachlichen Beschreibung eines Werdeprozesses abgelesen werden, da in dem Beispielsatz (1) „ein Mensch wird ein Gebildeter" das Wort „Mensch" ja nicht erhalten bleibt.
Irwin (1988: 515, Fn.25) hat auch in bezug auf den Ausdruck ,,τό αμουσον" die Frage gestellt, ob sich dieser Ausdruck auf die Eigenschaft der Ungebildetheit oder auf das Ungebildete (Ding) bezieht: „What is the exact referent of to amouson and such phrases? [...] (1) The referent does not persist, 190al0-13. (2) hence the phrase should not mean 'the man (etc.) who is coincidentally unmusical', since he does persist. The unmusical might therefore be (3) the subject that is essentially unmusical, or (4) the instance of the property. Both (3) and (4) satisfy (1), and they seem equally plausible. Code [1976 a], 180f, and Matthews [1982], 225, endorse (3) without considering (4). See also Williams [1985], In 190al7 Aristotle says ou gar tauton to anthrdpö(i) kai to amousd(i) einai, and if amousd(i) is neuter, he claims that to amouson is numerically one with the man. If, however, amousö(i) is masculine, he may mean that the man and ho amousos (i.e. the man who is coincidentally unmusical) are one in number, but not the same in form. This does not imply the parallel claim about to amouson."
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Mit der Behauptung, daß etwas als ein Bleibendes wird (vgl. ,,τό μέν ΰπομένον γίγνεται": 190a9-10), grenzt sich Aristoteles explizit von seinen Vorgängern ab, von denen es den meisten so schien, als würden sich die Begriffe des „Werdens" und „Bleibens" gegenseitig ausschließen. Der Grund, warum es für Aristoteles möglich ist, diese Begriffe widerspruchsfrei miteinander zu verknüpfen, ist darin zu sehen, daß gerade Aristoteles auf die Differenz von Ding und Eigenschaft aufmerksam gemacht hat, durch die es erst möglich wird, daß ein Ding wie z.B. ein Mensch zwar etwas (z.B. gebildet) werden kann und dabei doch zugleich Mensch bleibt. Sagt Aristoteles von den Einfachen, daß die einen bleiben, während die anderen nicht bleiben, so ist mit dem Bleibenden der Ausdruck 'άνθρωπος' gemeint, während mit dem Nichtbleibenden die Ausdrücke 'μή μουσικόν' und 'άμουσον' gemeint sind. Von letzteren sagt Aristoteles, daß sie weder als Einfache noch als Zusammengesetzte bleiben. Dies bedeutet, daß weder in dem Satz ,,τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" (189a35) noch in dem Satz „τον μή μουσικόν άνθρωπον [γίγνεσθαι] άνθρωπον μουσικόν" (189a35-190al) das 'μή μουσικόν' bleibt. Die Betonung, daß ein Mensch, der gebildet wird, ein Mensch bleibt (υπομένει άνθρωπος) und ist (και έστι), besagt, daß sich sein Menschsein durch dieses Werden nicht verändert hat. Der zu einem Gebildeten werdende Mensch war vor dem Gebildetwerden im selben Sinne Mensch wie er es nach dem Gebildetwerden sein wird. Zwar verändert er sich insofern, als er vor dem Werdeprozeß ein Ungebildeter ist, während er nach dem Werdeprozeß ein Gebildeter ist, doch betrifft diese Veränderung nicht sein Menschsein, sondern vielmehr sein Ungebildet- bzw. Gebildetsein. Neben dem „Nicht-Gebildeten" (τό μή μουσικόν) ist in 190al2 nun auch vom „Ungebildeten" (τό άμουσον) die Rede. Mit Ausnahme von 190al9-20 wird der Ausdruck „άμουσον" im weiteren Verlauf von Kapitel 1.7 den Ausdruck ,,μή μουσικόν" gänzlich ersetzen (vgl. 190al7, 21, 23, 28-30, 190bl4, 31, 191a2). Ein Grund für diese Ersetzung, die Aristoteles selbst nicht thematisiert, ist vermutlich in folgendem zu sehen: Aristoteles beginnt die Untersuchung in Kapitel 1.7 zunächst mit dem kontradiktorischen Gegensatz „μουσικόν - μή μουσικόν", um seine Theorie so offen wie möglich zu halten und sich nicht bereits am Anfang seiner Untersuchung auf ein Werdemodell festzulegen, das das Werden - wie in Kapitel 1.5 geschehen - als Wechsel zwischen konträren Gegensätzen versteht. Dieses Modell, das einen jeden Werdeprozeß als Wechsel zwischen konträren Gegensätzen versteht, wird sich nämlich gerade für das substantielle Werden insofern als problematisch erweisen, als die ούσίαι keinen konträren Gegensatz haben. Da jedoch in Kapitel 1.5 herausgearbeitet wurde, daß sich der Wechsel als ein bestimmter genaugenommen nicht zwischen kontradiktorischen und beliebigen, sondern eher zwischen konträren und bestimmten Gegensätzen vollziehen muß, und da dies auch für die aristotelische Theorie bezüglich der Eigenschaftsveränderung zutrifft, scheint es einen guten Grund zu geben, auch hier genauer von „ungebildet" anstelle von „nicht-gebildet" zu sprechen. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sich ein jeglicher Werdeprozeß zwi-
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sehen konträren Gegensätzen vollzieht. Aristoteles spricht ja erst dort von „ungebildet" anstelle von „nicht-gebildet", wo im Unterschied zu Kapitel 1.5 herausgestellt ist, daß nicht nur die Gegensätze am Werden beteiligt sind, sondern daß zugleich auch ein Bleibendes vorhanden ist, das nun als das ύποκενμενον bei einem Werdeprozeß bestimmt wird.
7.2.6 Eine erste Konklusion (190a 13-21) Nachdem dies aber so bestimmt ist, kann man, wenn man es so ansieht, wie wir sagen [έάν τις ε π ί β λ ε ψ η ώσπερ λέγομεν], aus jedem Werdenden [έξ α π ά ν τ ω ν των γ ι γ νομένων] die Annahme herleiten, daß immer etwas als Werdendes zugrunde liegen muß [ότι δει τι άεί ϋ π ο κ ε ΐ σ θ α ι τό γιγνόμενον]; und dieses ist, wenn auch der Zahl nach [άριθμω] Eines, so doch der Form nach [εϊδει] nicht Eines. Denn mit 'der Form nach' [εϊδει] und 'dem Begriff nach' [λόγω] meine ich dasselbe. 'Menschsein' Γτό άνθρώπω ε ί ν α ι ] und 'Ungebildeter (ungebildet)-sein' [τό ά μ ο ύ σ φ ε ί ν α ι ] ist nämlich nicht dasselbe. Und das eine bleibt, das andere aber bleibt nicht. Das Nicht-Gegenüberliegende [τό μή άντικείμενον] bleibt (denn der Mensch bleibt), 'nichtgebildet' aber und 'ungebildet' [bzw. Nichtgebildetes und Ungebildetes] bleiben nicht, und auch nicht bleibt das aus beiden Zusammengesetzte, wie z.B. der ungebildete Mensch. (1.7, 190al3-21)
Die Tatsache, daß Aristoteles in seiner Konklusion von Jedem Werdenden" (vgl. ,,έξ άπάντων των γιγνομένων") spricht, macht deutlich, daß er auch zuvor - wie in 189b30-31 angekündigt wurde - mit seinem Beispiel vom Werden eines gebildeten aus einem ungebildeten Menschen stellvertretend über ,jedes Werdende" gesprochen hat. Ein Grund, warum Aristoteles das Beispiel einer άλλοίωσις als Ausgangspunkt fiir die Betrachtung eines jeden Werdeprozesses wählt, ist wohl darin zu sehen, daß es bei einer άλλοίωσις offenkundiger als bei einer γένεσις ist, daß etwas als ein Bleibendes zugrunde liegt. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich nun eine erste Konklusion, der Aristoteles jedoch die Bedingung voranstellt, daß sich diese Konklusion ergibt, „wenn man es so ansieht, wie wir sagen" (190al4). 29 Die Konklusion lautet: „Es muß immer etwas als Werdendes zugrunde liegen, und dieses ist zwar der Zahl nach Eines, der Form nach aber nicht Eines" (al4-16). Die Konklusion weist darauf hin, daß es bei jedem Werdeprozeß ein Zugrundeliegendes gibt, wobei dieses zugrundeliegende Werdende immer schon ein komplexes Zugrundeliegendes ist,30 das zwar der Zahl nach Eines, der Form nach aber nicht Eines ist. Wörtlich übersetzt bedeutet ,,τό άνθρώπω και ιό άμούσω είναι" folgendes: „das Sein für 'Mensch' und das Sein für 'Ungebildetes bzw. ftlr ungebildet'". Wieland (1962: 116) interpretiert dies in dem Sinne, daß sich die Konklusion ergibt, wenn man vom allgemeinen Sprachgebrauch als Fundament ausgeht, d.h. „wenn man nur darauf achtet, wie wir sprechen." Demgegenüber haben andere Interpreten zu Recht darauf hingewiesen, daß mit dem ,,ώσπερ λέγομεν" (al4) nicht unser 'Sprachgebrauch', sondern vielmehr 'das bereits Gesagte im Sinne des inhaltlich Dargelegten' gemeint ist. Zur Kritik an Wielands Interpretation vgl. Guzzoni (1975: 47, Fn.27), Tugendhat (1963: 548) und Happ (1971: 290 f). Vgl. auch Code (1976 b: 358): „Furthermore, both the man and the unmusical are the substratum of the change (I90al3-17; cf. 190 bl2-19)."
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Der Hinweis auf die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ είναι" und ,,τό άμούσ φ ε ί ν α ι " als Begründung dafiir, daß das zugrundeliegende Werdende der Form nach nicht Eines ist, macht deutlich, daß hier der 'ungebildete Mensch' als Ganzes dem Werden als Werdendes zugrunde liegt. Demgegenüber scheint Bostock der Ansicht zu sein, daß mit dem Zugrundeliegenden hier nur der Mensch, nicht aber der ungebildete Mensch gemeint sei, wenn er in bezug auf 190al3-21 sagt: The terminology is admittedly curious, but the main point seems to be quite clear. Before the change we have an object which can be described as a man (as an underlying thing) or as a thing that is not musical (as having a privation); it is the same thing that is described in these two ways. Qua underlying thing it persists throughout the change, in the sense that we have the same man at the end as we had at the beginning, but it can now be described rather as a musical thing (i.e. as having a certain form). (Bostock, 1982: 184)3'
Der Kontext macht jedoch deutlich, daß in 190al 3-21 das gesamte zugrundeliegende Werdende - und somit der „ungebildete Mensch" - zwar der Zahl nach eines, der Form nach aber nicht eines sein soll, so daß hier nicht nur der Mensch, sondern vielmehr der ungebildete Mensch als Zugrundeliegendes betrachtet wird. 32 Eine Schwierigkeit der Interpretation im Hinblick auf die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ είναι" liegt nun erneut in der zweifachen Bedeutung von ,,τό αμουσον", das entweder 'das Ungebildete' im Sinne eines 'Dings' oder 'ungebildet' (bzw. 'Unbildung') im Sinne einer Eigenschaft bezeichnen kann. 33 Diejenigen Interpreten, die hier unter „άμούσφ" die Eigenschaft 'ungebildet' verstehen, deuten die von Aristoteles in 190al7-18 angeführte Begründung fur die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ ε ί ν α ι " dahingehend, daß 'Menschsein' und 'ungebildetsein' (αμουσον als Neutrum) nicht dasselbe sind, weil 'Mensch' für eine Substanz, 'ungebildet' aber für eine Eigenschaft steht. Die 'Nichteinheit der Form nach' wäre somit in einer kategorialen Verschiedenheit von Substanz und Eigenschaft begründet. 34 Diejenigen Interpreten, die hier unter „άμούσφ" jedoch den 'Ungebildeten' verstehen, deuten die von Aristoteles in 190a 17-18 angeführte Begründung für die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ ε ΐ ν α ι " dahin-
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Vgl. auch Bröcker ( 4 1974: 54 f.), der ebenfalls das „der Zahl nach Eine, der Form nach nicht Eine" in dem Sinne versteht, daß nur der Mensch, der vorher so und nachher anders angesprochen wird, das Zugrundeliegende bei diesem Werdeprozess darstellt. Seiner Ansicht nach sind sowohl 'der ungebildete Mensch' wie 'der gebildete Mensch' jeweils der Zahl nach ein und dasselbe Ding, wobei jedoch der Mensch der Form nach nicht eines ist, weil er einmal ein ungebildeter Mensch und ein andermal ein gebildeter Mensch ist. In diesem Sinne übersetzt Bostock (1982: 184) zwar den Abschnitt 190al4-16 - „[...] namely that there must always be something which underlies and is what becomes, and this thing though numerically one is not the same in form" -, doch wenn er in seinem Kommentar davon spricht, daß der Mensch (als zugrundeliegendes Ding) bleibt, so scheint er dort davon auszugehen, daß nur der Mensch das Zugrundeliegende sei. Der Ausdruck „ ά μ ο ύ σ φ " kann sowohl als Dativ des Neutrums „αμουσον" wie auch als Dativ des Maskulinums ,,αμουσος" verstanden werden. Vgl. Irwin (1988: 515), Zekl (1987: 35), PrantI (1854: 39), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 345), Wagner (1967: 23 und 426 f.) und Wieland (1962: 116).
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gehend, daß Menschsein und Ungebildetersein (αμουσος als Maskulinum) nicht dasselbe sind, weil 'Mensch' und 'Ungebildeter' auf verschiedene 'Dinge' referieren. Zwar ist jeder Ungebildete ein Mensch, nicht aber ist jeder Mensch ein Ungebildeter. Die 'Nichteinheit der Form nach' wäre somit primär nicht in einer kategorialen Verschiedenheit von Ding und Eigenschaft, sondern vielmehr in einer semantischen Verschiedenheit der Begriffe 'Mensch' und 'Ungebildeter' begründet.35 Meines Erachtens ist mit der Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ είναι" und ,,τό άμούσφ είναι" in 190a 15-21 eine zweifache Verschiedenheit dem είδος bzw. λόγος nach gemeint, die eine Zusammenführung der beiden zuvor genannten Interpretationsmöglichkeiten bedeutet: Einerseits bezeichnen „άνθρωπος" und ,,αμουσον/αμουσος" kategorial Verschiedenes, insofern „άνθρωπος" für eine ουσία, ,,αμουσον/αμουσος" hingegen für ein ποιόν steht.36 Andererseits bezeichnen sie jedoch auch semantisch-begrifflich Verschiedenes, insofern zwar jeder Ungebildete ein Mensch, nicht jedoch jeder Mensch ein Ungebildeter ist. Der in der Behauptung, daß das zugrundeliegende Werdende (der ungebildete Mensch) zwar der Zahl nach Eines ist - denn der ungebildete Mensch stellt ja numerisch betrachtet nur ein einziges Ding dar -, jedoch der Form bzw. dem Begriff nach nicht Eines ist, enthaltene Gedanke, daß ein konkretes Ding der Form nach nicht Eines, sondern Vieles sein kann, ist bereits in den vorangegangenen Kapiteln - vor allem in Auseinandersetzung mit den Eleaten - von Aristoteles herausgearbeitet worden. Zusammenfassend betrachtet wurde dabei folgendes deutlich: Die Tatsache, daß ein und dasselbe zwar nicht der Art nach Entgegengesetztes (d.h. nicht 'gut und nicht-gut': 185b21-23), wohl aber der Art nach Verschiedenes (z.B. 'weiß und gebildet': 186al-2) zugleich sein kann, ist insofern als ein wichtiger Schritt innerhalb der Auseinandersetzung mit den Vorgängern anzusehen, als hier bereits gezeigt wurde, daß nicht nur zwei Dinge (Mensch und Pferd) dem ειδος/λόγος nach verschieden sein können, sondern daß auch ein und dasselbe Ding (z.B. Mensch) dem εΐδος/λόγος nach Verschiedenes (z.B. weiß und gebildet) sein kann. In Kapitel 1.7, 190al5-18 begründet Aristoteles die Konklusion, daß das der Zahl nach (άριθμω) eine Zugrundeliegende der Form nach (εϊδει) nicht Eines ist, zunächst mit dem Hinweis darauf, daß hier unter „dem Begriff nach" (λόγψ) und „der Art nach" (εϊδει) dasselbe gemeint sei (vgl. ,,τό γαρ ε'ίδει λέγω και λόγω ταύτόν": a 16-17). Diese Begründung erweckt den Eindruck, als wäre das 35
Vgl. Code (1976 a: 180 f.) und Matthew (1982: 225). Zwar wird die Differenz von Ding und Eigenschaft in Kapitel 1.7 erst in 190a31 -b 10 explizit eingeführt, in dessen nachfolgender Konklusion (190b 10-17) dann auch von den abstrakten Termini ,,άσχημοσύνη", „αμορφία" und „αταξία" die Rede ist, gleichwohl aber ist diese Differenz bereits in 190al7 durch die Verschiedenheit des „Seins fllr etwas" im Sinne einer kategorialen Verschiedenheit angedeutet (vgl. Wieland, 1962: 116, 133, Fn.22 und S. 154, der den Unterschied des Seins als einen Unterschied der Prädikation in bezug auf die verschiedenen Kategorien versteht). Dieselbe Verschiedenheit des „Seins für etwas" findet sich auch in 191al3 in bezug auf unser Beispiel ausgesprochen. Daß mit der Verschiedenheit des „Seins fllr etwas" eine kategoriale Verschiedenheit gemeint ist, wird auch aus dem in den vorangegangenen Kapiteln Gesagten deutlich. So hatte Aristoteles bereits in 1.3, 186a28-31 von einer Verschiedenheit des Seins ftlr 'weiß' und fllr dasjenige, dem 'weiß' zukommt, gesprochen.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Zugrundeliegende dem είδος nach nicht Eines, weil es dem λόγος nach nicht Eines ist. Der Grund, warum Aristoteles hier den Umweg über den λόγος wählt, um eine Verschiedenheit des είδος nachzuweisen, ist vermutlich darin zu sehen, daß sich die bisherige Untersuchung vor allem an den sprachlich-begrifflichen Verhältnissen der Beschreibung eines Werdeprozesses orientiert hat, um von dort aus zu den ontischen Verhältnissen überzugehen. 37 Der Gleichsetzung von εί'δει und λ ό γ ω sind wir indirekt bereits in den vorangegangenen Kapiteln begegnet. So hieß es in 1.2, 185b23, daß 'Mensch und Pferd' dem λόγος nach nicht Eines sind, während von beiden in 1.3, 186a21-22 gesagt wurde, daß sie dem είδος nach verschieden sind. Das ,,τό γ α ρ εϊδει λ έ γ ω κ α ι λ ό γ ω τ α ύ τ ό ν " (190al 6-17) scheint vor diesem Hintergrund auf eine bereits eingeführte Konvention hinzudeuten, auf die nun zurückgegriffen wird. Aristoteles setzt seine Begründung dafür, daß das Zugrundeliegende dem λόγος/εΐδος nach nicht Eines ist, mit dem Hinweis darauf fort, daß ,,τό ά ν θ ρ ώ π φ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ ε ί ν α ι " nicht dasselbe (ού ταύτόν) sind (190al7). Nun wurde bereits d a r a u f h i n gewiesen, daß mit dem „Werdenden" (τό γιγνόμενον: a 15), das zugrunde liegt ( ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι ) , hier der 'ungebildete Mensch' als Ganzes gemeint ist. Dieser 'ungebildete Mensch' ist nun analog zum 'gebildeten Menschen', der sich aus den beiden λόγοι von 'gebildet' und 'Mensch' zusammensetzt (vgl. 190b20-23), ebenfalls aus zwei λόγοι (nämlich aus den λόγοι von 'ungebildet' und 'Mensch') zusammengesetzt. In 190a3-5 wurde sowohl der 'gebildete Mensch' als auch der 'nicht-gebildete Mensch' als ein Beispiel für ein Zusammengesetztes ( σ υ γ κ ε ί μ ε ν ο ν ) genannt. Diese beiden λόγοι sind beim 'ungebildeten Menschen' nicht identisch (ού ταύτόν: al7). Anders als beim „zweifüßigen Sinnenwesen", das Aristoteles zufolge als Definition eine begriffliche Einheit darstellt, stellt „ungebildeter Mensch" keine begriffliche Einheit dar, da bei einem Werdeprozess der eine λόγος (oder dasjenige, was dieser λόγος bezeichnet) bleibt, während der andere λόγος (oder dasjenige, was dieser λόγος bezeichnet) nicht bleibt (vgl. ,,καί τό μέν ύπομένει, τό δ' ούχ υπομένει": a 17-18). Würden sie eine begriffliche Einheit darstellen, so würden entweder beide zusammen bei einem Werdeprozeß bleiben oder aber beide zusammen nicht bleiben. Beim Werdeprozeß eines ungebildeten zu einem gebildeten Menschen stellt 'Mensch' als 'Nicht-Gegenüberliegendes' (τό μή ά ν τ ι κ ε ί μ ε ν ο ν ) das Bleibende dar, während sowohl 'nicht-gebildet' (bzw. 'Nicht-Gebildetes') und 'ungebildet' (bzw. Ungebildetes) als auch das aus beiden Zusammengesetzte ('ungebildeter Mensch' bzw. 'nicht-gebildeter Mensch') nicht bleibt. Aristoteles, der hier sowohl vom konträren Gegensatz „ungebildet" als auch vom kontradiktorischen Gegensatz „nicht-gebildet" spricht, die im Unterschied zu 'Mensch' jeweils ein 'Gegenüberliegendes' (άντικείμενον) darstellen, ersetzt an dieser Stelle den Begriff des 'konträren Gegensatzes' (έναντίον) durch den umfassenderen Begriff des 'Gegenüberliegenden' (άντικείμενον). Dies findet seinen Grund darin, daß das Modell der konträren Gegensätze zwar für die Eigenschaftsveränderung, 37
Zekl (1987: 245, Fn.74) interpretiert die Gleichsetzung von λ ό γ ο ς und ε ί δ ο ς an dieser Stelle als Flexibilität und Elastizität des aristotelischen Wortgebrauchs.
D a s Beispiel v o m 'gebildeten M e n s c h e n '
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nicht aber für das Entstehen der ούσίαι zutrifft, für die es eben kein konträres Gegenteil gibt. Da Aristoteles jedoch über das gesamte Werden sprechen will, für das stellvertretend das Beispiel des Werdens eines ungebildeten zu einem gebildeten Menschen angeführt wurde, darf der Gegensatz hier nicht auf einen konträren Gegensatz beschränkt sein. Diese Nichtbeschränkung auf einen konträren Gegensatz geschieht hier sowohl dadurch, daß der Begriff des 'έναντίον' durch den Begriff des 'άντικείμενον' ersetzt wird,38 als auch dadurch, daß Aristoteles in 190al9-20 neben dem konträren Gegensatz ,,τό αμουσον" immer noch den kontradiktorischen Gegensatz ,,τό μή μουσικόν" anführt.
7.2.7 Exkurs: Das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) Der für den aristotelischen Ansatz bezüglich der Prinzipien der φύσει δντα zentrale Begriff des 'Zugrundeliegenden' (ύποκείμενον) kann sowohl im sprachlichen Sinne (i) als Subjekt einer Prädikation wie auch im ontischen Sinne (ii) als Aufnehmendes von Formen verstanden werden. 39 Gadamer beschreibt diese Doppeldeutigkeit wie folgt: D i e Antwort, die Aristoteles findet, hat in der Aristotelischen P h i l o s o p h i e eine g e w i s s e Mehrdeutigkeit. D i e s e r Ausdruck ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν ist etwas » N a m e n l o s e s « , d a s das Substrat aller qualitativen Veränderung bildet, aber auch Subjekt d e s Satzes m e i nen kann. D i e B e d e u t u n g v o n ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν ist rein funktional: das Darunterliegende, d a s Substrat. D a s Wort »substantia« ist nichts anderes als die kategoriale und grammatische Übersetzung d i e s e s Wortes ins Lateinische. (Gadamer, 1996: 113)
Da wir jedoch sehen werden, daß Aristoteles in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz auch das Erz, aus dem die Statue wird, als ύποκείμενον bezeichnen wird, und da Aristoteles dieses Werden nicht als eine Eigenschaftsveränderung versteht, ist das ύποκείμενον nicht nur - wie Gadamer sagt - als Substrat aller qualitativen Veränderung, sondern in einem weiteren Sinne als Substrat einer jeden Veränderung zu betrachten. Beiden Bedeutungen von „ύποκείμενον" - (i) „das Subjekt einer Prädikation" und (ii) „das Aufnehmende von Formen" -, die häufig in einer Korrelat