Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung 9783110535440, 9783110533545

Obwohl die Bedeutung von Benennungspraktiken bei der Aneignung kolonialer Räume unumstritten ist, liegen sprach- oder li

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Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung
 9783110535440, 9783110533545

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Ortsnamen. Namen überhaupt. Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung
Zur kolonialen Kartographie in der Literatur des Realismus: Gutzkow – Raabe – Jensen
Arche Noah am Paraná. Modelle kolonialer Raumaneignung in Döblins Amazonas-Roman
Von der Toponymie zum Topos. Tahiti im 18. Jahrhundert
„Eine Peepshow, bei der die weißen Flecken unsere Gemüter erhitzen“
„‘Chief’, wie der Häuptling, König oder Werftälteste genannt wird“
„Benennen“ und „besitzen“. Der Schwarze im (post)kolonialen Wortschatz
Setzung und Verschiebung. Zur Subversion kolonialer Raum- und Benennungspraktiken in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet
Name als Nahme: Carl Schmitts Kolonialismus
Kaiser-Wilhelm-Ufer, Wissmannstraße, Stuhlmann-Straße – Straßennamen im Kontext kolonialer Raumaneignung
Italokoloniale Toponomastik zwischen Liberalismus und Faschismus
Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik
Personen- und Autorenregister
Register geografischer Bezeichnungen
Sachregister

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Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung

Koloniale und Postkoloniale Linguistik Colonial and Postcolonial Linguistics Herausgegeben von Stefan Engelberg, Peter Mühlhäusler, Doris Stolberg, Thomas Stolz und Ingo H. Warnke

Band 10

Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung Herausgegeben von Axel Dunker, Thomas Stolz und Ingo H. Warnke

ISBN 978-3-11-053354-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053544-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053364-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort | vii Axel Dunker  Ortsnamen. Namen überhaupt. Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung | 1 Dirk Göttsche  Zur kolonialen Kartographie in der Literatur des Realismus: Gutzkow – Raabe – Jensen | 17 Linda Maeding  Arche Noah am Paraná. Modelle kolonialer Raumaneignung in Döblins Amazonas-Roman | 35 Jan Gerstner  Von der Toponymie zum Topos. Tahiti im 18. Jahrhundert | 51 Julian Osthues  „Eine Peepshow, bei der die weißen Flecken unsere Gemüter erhitzen“ | 67 Florian Krobb  „‘Chief’, wie der Häuptling, König oder Werftälteste genannt wird“ | 89 Amatso Obikoli Assemboni  „Benennen“ und „besitzen“. Der Schwarze im (post)kolonialen Wortschatz | 111 Simone Brühl  Setzung und Verschiebung. Zur Subversion kolonialer Raum- und Benennungspraktiken in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet | 127 Oliver Simons  Name als Nahme: Carl Schmitts Kolonialismus | 145 Matthias Schulz und Verena Ebert  Kaiser-Wilhelm-Ufer, Wissmannstraße, Stuhlmann-Straße – Straßennamen im Kontext kolonialer Raumaneignung | 161

vi | Inhalt Paolo Miccoli  Italokoloniale Toponomastik zwischen Liberalismus und Faschismus | 187 Thomas Stolz und Ingo H. Warnke  Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 205 Personen- und Autorenregister | 231 Register geografischer Bezeichnungen | 235 Sachregister | 237

Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von Sprachwissenschaftler*innen und Linguist*innen anlässlich einer Tagung vom 16. bis 18. Juli 2015 zu „Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung“, die als Veranstaltung der Study Group Koloniallinguistik des Hanse-Wissenschaftskollegs (HWK) und der Creative Unit Language in Colonial Contexts der Universität Bremen sowie der Arbeitsgruppe Neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte; Literaturtheorie, ebenfalls der Universität Bremen, stattgefunden hat. Wir danken in diesem Zusammenhang namentlich Frau Dr. Fuchs als wissenschaftlicher Referentin im Bereich Sozialwissenschaften des HWK für die Unterstützung unseres Vorhabens. Unser Dank geht an Frau Dr. Stroh, die sich redaktionell mit dem Werden dieses Bandes befasst hat. Hervorheben möchten wir, dass sowohl anlässlich der Tagung als auch jetzt mit der Publikation des vorliegenden Bandes eine seltene Zusammenarbeit von Literatur- und Sprachwissenschaftlern realisiert wurde, wobei die Diskussionen auch noch durch weitere Disziplinen bereichert wurden. Unser geteiltes Interesse lag und liegt dabei auf Prozessen kolonialer Raumaneignung, und dies nicht zuletzt in ihren postkolonialen Effekten. Dabei ist bereits die Ausgangsfrage, was überhaupt spezifischer Gegenstand einer solchen Diskussion sein könnte, nicht leicht zu beantworten. Wir wollen eine Antwort dennoch skizzieren und tun das in den folgenden vier kurzen Abschnitten: Koloniale Raumaneignung Rupert Emerson beantwortet die Frage, was überhaupt Kolonialismus – wir könnten auch sagen das Koloniale – ist, aus der Perspektive eines Politikwissenschaftlers an der Harvard University der 1960er Jahre wie folgt: “colonialism – in brief, as a working definition, the imposition of white rule on alien peoples inhabiting lands separated by salt water from the imperial centre” (Emerson 1969: 3). Heute klingt das bisweilen vielleicht differenzierter, etwa bei Osterhammel & Jansen (2012: 19), denen es vor allem um das Spezifische des Kolonialismus gegenüber anderen Herrschaftsformen geht. Zentral bleibt aber noch immer der Aspekt der Auferlegung von Regeln, wenn es um die Spezifika kolonialer Praktiken geht. Wesentlich sind dabei auch Praktiken der kolonisatorischen Raumperspektivierung, der Raumunterwerfung und der Raumhierarchisierung, nicht zuletzt durch Benennung oder Beschreibung, denn Kolonialismus ist eine raumgreifende Herrschaftsform unter Einschluss symbolischer Kodierungen. Koloniale Raumaneignung ist dabei Raumberaubung, d.h. eine

viii | Vorwort Form der kulturellen Zwangskodierung sowie Relationierung in einem Koordinatensystem von hier vs. dort, von Zentrum vs. Peripherie, Metropole vs. Kolonie. Kolonialer Raum wird mithin auch symbolisch produziert und dies allem voran in sprachgebundenen Praktiken. Benennungspraktiken Praktiken der Benennung von Raum, des Redens über Raum und der Bezeichnung von Raum sind daher ein für Literatur- und Sprachwissenschaften wesentlicher Gegenstand eben dieser kolonialen Raumaneignung. Dabei gehen wir davon aus, dass Raum angeeignet wird, indem er zu Orten gemacht wird; zu Orten kolonialer Unterwerfung aber auch Orten etwa des dekolonialen Widerstands. Wir legen dabei ein mehrschichtiges Raummodell zugrunde (vgl. Busse & Warnke 2014). Danach besitzt Raum nicht nur einen dimensionalen Modus der Ausdehnung, sondern ist auch gekennzeichnet durch aktionale Prägungen und repräsentationale Realisierungen. Kolonialer Raum ist also sowohl das so genannte ‘außereuropäische’ Gebiet – das koloniale Territorium – als auch und vor allem die spezifische Relationierung in diesem Gebietsraum durch koloniale Aktionen, und wird realisiert als vielfältige multikodale Repräsentation etwa in Karten, Texten, Registern, Bildern, literarischen Imaginationen bis hin zu alltagskulturellen Stereotypen. Entscheidend ist dabei, dass Raum durch Handlungen (z.B. durch Ortsbenennung, durch das Abhalten eines christlichen Gottesdienstes oder die Durchführung von Schulunterricht, aber auch durch linguistische Handlungen im engeren Sinne, wie die Verwendung bestimmter Sprachen) und Repräsentationen (z.B. auf Kolonialkarten, in amtlichen oder privaten Berichten, in Statistiken, in Literatur) verortet wird. Die abstrakte Kategorie des Raums, auch des kolonialen Raums, begegnet also in empirischen Untersuchungen immer schon als benannter, bewerteter, semiotisch markierter Raum, den wir folglich als Ort bzw. Place bezeichnen (vgl. Friedmann 2010: 154). Prozesse der Herstellung von Orten im Raum nennen wir dabei entsprechend ein koloniales Place-Making (vgl. dazu Warnke & Busse 2014); Benennungspraktiken sind ein making of colonial places, sie sind ein spezifischer, historisch äußerst wirkungsvoller Vorgang der kolonialen Ortsherstellung. Prozesse Wenn es uns nun um Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung geht, so sind aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive wohl vor allem zwei Prozesse, oder vielleicht auch Handlungen zu nennen:

Vorwort | ix

Deklaration und Imagination. Raum wird deklaratorisch verortet – etwa durch Zuschreibung von Eigenschaften – und er wird imaginativ verortet – etwa durch Fiktionalisierung. Deklaration ist dabei eine Handlung, die vor allem Linguist*innen interessieren wird, und zwar dann, wenn sie sich mit Prozessen kolonialer Raumaneignung befassen. Imagination spielt vor allem im literaturwissenschaftlichen Blick auf Kolonialismus eine wichtige Rolle. Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung sind also zunächst und vor allem deklarative und imaginative Akte des Place-Making, die in ein vornehmlich europäisches Machtmodell der Neuzeit eingebunden sind, das Raum raubt, Raum dominiert und Raum ideologisch kodiert. Um damit zusammengehörige Fragen geht es uns auch mit diesem Band, mit dem eine Diskussion weit eher angestoßen sein soll als abschließend dokumentiert. Namen In der Geschichte der sogenannten ‘Entdeckungen’, die auch eine Geschichte der kolonialen Aneignung fremder Territorien ist, findet sich immer wieder das Motiv der Namengebung. Christoph Columbus beschreibt in einem Brief, wie er 1492 auf seiner ersten Reise Besitz von der Neuen Welt ergreift. In 33 Tagen kommt er von den Kanarischen Inseln vermeintlich nach Indien und stößt auf sehr viele Inseln […], die von zahllosen Menschen bewohnt sind; und von ihnen habe ich durch Proklamation und mit entfaltetem Banner für Ihre Hoheiten Besitz ergriffen […]. Der ersten [Insel], die ich fand, gab ich den Namen „San Salvador“, zum Gedenken an die Allerhöchste Majestät, die wunderbarerweise all dies gestiftet hat; die Indianer nennen sie „Guanahaní“; die zweite nannte ich „Isla de Santa María de Concepción“; die dritte, „Ferdinanda“; die vierte, „Isabella“, die fünfte, „Isla Juana“, und so gab ich jeder einen neuen Namen. (zitiert nach Greenblatt 1998: 87)

Columbus gibt hier in der wohl berühmtesten Entdeckungsszene überhaupt das Muster für alle späteren vor: Zur Inbesitznahme gehört neben dem Aufpflanzen einer Fahne die Namengebung, die wie in diesem Fall die bestehende indigene bewusst überschreibt. Stephen Greenblatt hat deutlich gemacht, dass es sich dabei „um einen diskursiven Akt handelt“, Columbus berichtet „von einer Reihe von Sprechakten: einer Proklamation (pregón), kraft derer er von den Inseln Besitz ergreift, gefolgt von mehreren Namensgebungen“ (Greenblatt 1998: 89). Zu den antikolonialen Widerstandspraktiken, die Edward W. Said als „Kultur des Widerstands“ bezeichnet, gehört dann neben der Wiedereinforderung des Landes und seiner erneuten Bewohnung auch „es neu zu benennen“ (Said 1994: 307).

x | Vorwort Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die postkolonialen Studien schon früh für “the imperial fixation on naming, on acts of ‘discovery’, baptismal scenes” (McClintock 1995: 29) interessiert haben. Neben der Aneignung des Raums ist dabei immer wieder hervorgehoben worden, dass durch die Vergabe eines europäischen Namens das Fremde durch einen sprachlichen Akt in etwas Vertrautes und Eigenes verwandelt wird; in einem Vorgang der Homogenisierung wird das „Unverständliche […] ins Verständliche, das Unbekannte ins Bekannte überführt“ (Hamann 2008: 48). Die ‘Entdeckung’ “only gets ‘made’ for real after the traveler […] returns home, and brings it into being through texts: a name on a map, a report to the Royal Geographical Society […], a diary, a lecture, a travel book” (Pratt 2003: 204). Das bedeutet auch, dass es neben Kartographie und Landkarte (vgl. Stockhammer 2007) vor allem auch die Literatur ist, die in ihren verschiedenen Genres von der Reisebeschreibung über den Zeitschriftenartikel bis zum fiktionalen Text diese Aneignungsprozesse nicht nur begleitet, sondern auch performativ umsetzt. Umso erstaunlicher mag man es finden, dass (zumal die germanistische) Literaturwissenschaft sich bisher kaum für dieses Phänomen interessiert hat. Stattdessen sind es die Schriftsteller selbst, die diese Prozesse in ihren fiktionalen Texten aufgreifen. Christof Hamann1, Christian Kracht, Christoph Ransmayr, Thomas von Steinaecker2 oder Ilija Trojanow3 reflektieren sie auf je eigene Weise und aus postkolonialer Perspektive. Es fällt dabei auf, dass in diesen fiktionalen Texten nicht selten koloniale Ortsnamen geprägt werden, die in ganz eklatanter Weise den Mustern entsprechen, die seitens der systemlinguistisch orientieren vergleichenden Kolonialtoponomastik in kolonialzeitlichen Kartenwerken und anderen Quellen identifiziert wurden (Stolz et al. 2016). Die literarischen Bildungen folgen also gut etablierten Schemata, die aufgrund ihrer transparenten Struktur – das gilt sowohl für die semantische als auch für die formale Seite der Ausdrücke – leicht adaptierbar sind. Die tatsächlich belegten kolonialen Ortsnamen und ihre fiktionalen Entsprechungen können mithin durch ein und dasselbe Regelsystem beschrieben werden. Sprache- und Literaturwissenschaftler*innen schöpfen gewissermaßen aus ein und derselben Quelle, wenn sie sich auf das typisch koloniale im sprachlichen Bereich beziehen. Die Delmenhorster Tagung zeigt also nachdrücklich, dass die beiden philologischen Großbereiche durchaus über gemeinsame Forschungsgegenstände verfügen. || 1 Vgl. den Beitrag von Julian Osthues in diesem Band. 2 Vgl. den Beitrag von Simone Brühl in diesem Band. 3 Vgl. den Beitrag von Axel Dunker in diesem Band.

Vorwort | xi

Zitierte Literatur Busse, Beatrix & Ingo H. Warnke. 2014. Ortsherstellung als sprachliche Praxis. In Ingo H. Warnke & Beatrix Busse (eds.), Place-Making in urbanen Diskursen, 1–7. Berlin/München/Boston: de Gruyter. Emerson, Rupert. 1969. Colonialism. Journal of Contemporary History 4(1). 3–16. Friedmann, John. 2010. Place and place-making in cities: A global perspective. Planning Theory & Practice 11(2). 149–165. Greenblatt, Stephen. 1998. Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin: Wagenbach. Hamann, Christof. 2008. Verwundern, Entwundern, Disziplinieren. Hans Meyer bearbeitet den Kilimanjaro. KulturPoetik 8. 39–59. McClintock, Anne. 1995. Imperial leather. Race, gender and sexuality in the colonial contest. New York/London: Routledge. Pratt, Mary Louise. 2003. Imperial eyes. Travel writing and transculturation. London: Routledge. Said, Edward. 1994. Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Stockhammer, Robert. 2007. Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München: Wilhelm Fink. Stolz, Thomas, Ingo H. Warnke & Nataliya Levkovych. 2016. Colonial place names in a comparative perspective. Beiträge zur Namenforschung 51 (3/4). 279–355. Warnke, Ingo H. & Beatrix Busse (eds.). 2014. Place-Making in urbanen Diskursen. Berlin/München/Boston: de Gruyter.

Die Herausgeber Bremen, November 2016

Axel Dunker

Ortsnamen. Namen überhaupt. Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung Zusammenfassung: Der Beitrag gibt unter einer literaturwissenschaftlichen Perspektive einen einführenden Überblick über verschiedene Aspekte von Benennungspraktiken in (post-)kolonialen Kontexten von Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts bis zum postkolonialen Roman der Gegenwart. Schlagwörter: Aneignungsnarrative, symbolische Inbesitznahme, Afrika, koloniale Namen in der Gegenwart, postkoloniale Gegenwartsliteratur

1 Einleitung „What’s in a name?“ Diese berühmte Frage, die auch im Zentrum des vorliegenden Bandes steht, stellt sich Juliet in William Shakespeares berühmter Tragödie Romeo and Juliet (1597). Und sie gibt sich und Romeo zur Antwort: „That which we call a rose/By any other name would smell as sweet“ (II/2/43f.).1 Und doch muss sie im Lauf des Stückes einsehen, dass es die Namen Montague und Capulet sind und die Zugehörigkeiten, die sie symbolisieren, die aus der Liebesgeschichte eine Tragödie machen. Namen, Eigennamen in diesem Fall, haben Macht über diejenigen, die sie bezeichnen. Ein gutes Jahrhundert später (1725) erläutert Giambattista Vico in den Prinzipien einer neuer Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Menschen, dass „die Menschen die unbekannten und entfernten Dinge, wenn sie von ihnen nicht die richtige Vorstellung haben oder diese jemandem erklären müssen, der sie nicht hat, durch Ähnlichkeiten mit bekannten und nahen Dingen beschreiben“. So entsteht eine „poetische Geographie“, die

|| 1 Shakespeare (2012: 52). || Axel Dunker: Universität Bremen, FB 10: Germanistik, Bibliothekstr. 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected]

2 | Axel Dunker in ihren Teilen und in ihrem Ganzen nach eng begrenzten Ideen innerhalb Griechenlands selbst entstand und dann, als die Griechen später in die Welt hinaustraten, sich zu der umfassenden Form erweiterte, in der sie uns nun dargestellt vorliegt. Und die antiken Geographen stimmen mit dieser Wahrheit überein, wußten aber nachher keinen Gebrauch davon zu machen; sie behaupten nämlich, daß die alten Völker, als sie in fremde und ferne Länder auswanderten, den Städten, Bergen, Flüssen, Erdhügeln, Meerengen, Inseln und Vorgebirgen ihre heimischen Namen gaben. (Vico 2013: 20)

Auch wenn Vico das unter die Überschrift einer ‘poetischen Geographie’ stellt, erläutert er hier eigentlich eine bis heute gültige Aneignungspraktik, die zugleich eine Bemächtigungspraktik ist: ein bekanntes, ‘eigenes’ Schema wird über einen fremden Raum gelegt, mit Deleuze & Guattari könnte man auch sagen, ein (für die Europäer) glatter Raum wird per Namensverleihung gekerbt (Deleuze & Guattari 2005: 657–693). Und sei es, dass von einer „Terra australis incognita“ gesprochen wird – „wenn das Land unbekannt war, wieso war es dann benannt?“, fragt sich Judith Schalansky (2014: 14f.) in ihrem TaschenAtlas der abgelegenen Inseln. Auf Aspekte von Namensmagie, die ebenfalls mit Bemächtigungsstrategien in einen Zusammenhang gebracht werden können, weist Sigmund Freud hin. „Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit“, schreibt er in Totem und Tabu, „gehört nach der Anschauung der Primitiven [bei Freud ein Begriff ohne Anführungszeichen,] ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben“ (Freud 1982: 370). Das lässt sich auf die Namen von Orten, Regionen, Ländern usw. sicherlich übertragen. Daran lassen sich Ausführungen Hans Blumenbergs über die Arbeit am Mythos anknüpfen. Es ist „die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt“, schreibt Blumenberg unter der Überschrift „Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten“, „Namen für das Unbestimmte zu finden. Erst dann und daraufhin läßt sich von ihm eine Geschichte erzählen“ (Blumenberg 1986: 40f.). Auf der Bedeutung des Erzählens von Geschichten, des Narrativen, für den Imperialismus hat wiederum Edward Said in Culture and imperialism insistiert, indem er es mit den „registrierenden, ordnenden und beobachtenden Kräften des zentralen autorisierenden Subjekts“ (Said 1994: 128) zusammengebracht hat. Nun ist der zu kolonisierende Raum natürlich weder unbenannt noch unbewohnt. Doch Mary Louise Pratt hat bekanntermaßen vor allem an Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass der afrikanische Raum im „olympischen“ Blick des „Entdeckers“ immer wieder als leer, als unbewohnt und

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damit auch als „namenlos“ erscheint.2 „Die Welt mit Namen zu belegen, heißt, das Ungeteilte aufzuteilen und einzuteilen“, heißt es bei Blumenberg (1986: 49). Auch von daher gehört es zu den herausragenden kolonialen Strategien, den Raum als unbenannt vorzuführen, ihn unter die Herrschaft der eigenen Namensgebung, ja, wie wir noch sehen werden, des eigenen Namens zu bringen. Auf den Landkarten bilden die europäischen Namen dann gewissermaßen ein Entdeckungs- und Aneignungsnarrativ.

2 Symbolische Aneignungen Eine solche symbolische Aneignung durch den eigenen Namen erwähnt Edward Said in Orientalism: Über François-René de Chateaubriand, der für Said zu den europäischen Autoren gehört, die den Anspruch erhoben, einer degenerierten orientalischen Gegenwart in einer christlichen Erlösungsmission die eigene Geschichte wieder zugänglich zu machen, dem ‘Orientalen’ seine eigene Welt zu erklären und ihn über den mangelnden Freiheitsbegriff des Islam aufzuklären3, erzählt Said die folgende Anekdote: Da er sich die Pyramiden [wegen seiner Heimreise, A.D.] nur noch aus der Ferne ansehen konnte, beauftragte er einen Boten damit, seinen Namen in einen der Quader einzutragen – ‘wie es sich für einen frommen Reisenden gehört’. (Said 2009: 204)

Diese Geste des Einschreibens symbolisiert die Aneignungspraxis dessen, was Said als ‘Orientalismus’ bezeichnet: Chateaubriand „überschreibt […] den Orient gleichsam mit den Plänen und Mustern seines gebieterischen Egos, das keinen Hehl aus einem Herrschaftsanspruch macht“ (Said 2009: 202). Als Gustave Flaubert über 45 Jahre später nach Ägypten kommt und die Pyramiden besucht, findet er sie bereits über und über mit europäischen Namen beschriftet: Als er frühmorgens die Cheops-Pyramide besteigt, entdeckt er, der „aufgehenden Sonne zu […] mit Stiften an einem Stein befestigt: Humbert frotteur“ (Flaubert 1987: 56).4 Im Inneren der Chephrenpyramide steht neben dem Namen || 2 Siehe Pratt (1993). 3 Vgl. Said (2009: 201). 4 Julian Barnes enthüllt in seinem postmodernen Roman Flaubert’s parrot (1984), dass Flaubert selbst diese Visitenkarte mit nach Ägypten gebracht und sein Freund Maxime du Camp sie oben auf der Cheops-Pyramide für ihn platziert hatte (Barnes 1985: 69). Aber dieser Scherz funktioniert natürlich auch nur vor dem Hintergrund der von Flaubert als banausisch und bourgeoise verachteten Praktik, seine Namen überall hinzuschreiben.

4 | Axel Dunker Giovanni Battista Belzonis, der den Eingang zur Pyramide entdeckt hatte und bis zur Grabkammer vorgedrungen war, der des Monsieur Just de Chasseloup-Laubat. Diese Unzahl überall hingeschriebener Namen von Dummköpfen verärgert einen: oben auf der Großen Pyramide steht in schwarzen Lettern ein Buffard, 79, rue Saint-Martin, Tapetenfabrikant; ein schwärmerischer Engländer hat ‘Jenny Lind’ hingeschrieben; dann eine Birne, die Louis-Philippe darstellen soll. (Flaubert 1987: 57)

Neben dieser symbolischen Inbesitznahme, die sich hier als touristische tarnt, steht natürlich in Bezug auf Imperialismus und Kolonialismus vor allem die manifeste, die nicht- oder doch auf eine handfestere Weise symbolische, diejenige, die Said auf den Begriff eines „Primat[s] des Geographischen“ (Said 2009: 305). gebracht hat. „Genaugenommen ist der Imperialismus“, so Said, „ein Akt der geographischen Gewalt, mittels derer jeder Winkel der Erde erkundet, vermessen und schließlich unter Kuratel gestellt wird. Für den Einheimischen“, fährt Said fort, „wird die Geschichte der kolonialen Dienstbarkeit durch den Verlust des lokalen Schauplatzes an den Eindringling inauguriert; seine geographische Identität muß neu ermittelt und wiederhergestellt werden“ (Said 2009: 305). Dieser Verlust der geographischen Identität hat etwas mit dem Verlust der Namen zu tun – die ‘Entdecker’, Landvermesser und schließlich die Kartographen überschreiben das Land mit fremden Namen, so wie später die Touristen die einheimischen Kunstschätze mit ihren Namen be- und überschreiben. „Die Allgegenwart des europäischen Banausentums begegnet“ Flaubert, wie André Stoll feststellt, „auf sinnfälligste Weise in den Scharen von Namenszügen, die bisweilen in solcher Dichte und Unleserlichkeit die Wände der pharaonischen Grabkammern bedecken, daß sie mit den Hieroglyphen zu wetteifern scheinen“ (Stoll 1987: 402).

3 Benennungspraktiken in Afrika Auch das ist eine Enteignung von Identität, von kultureller Identität. Was die ‘Entdecker’ in Afrika treiben, geht über die Zerstörung kultureller Identität allerdings weit hinaus (obwohl die nicht zu unterschätzen ist, wie an dem Treiben des sogenannten Islamischen Staats im Irak und in Syrien gerade zu sehen ist). Carl Peters notiert 1890 auf der Reise ins Innere Afrikas: Wir zogen nunmehr über den Bergzug, welcher die westliche Grenze von Kavirondo ausmacht. Derselbe ist auf den Karten nicht richtig eingetragen. Thatsächlich sind es zwei

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Berggruppen, deren eine im Süden, Fukulu, ein ganzes Bergland darstellt und zum See hin das Land Samia gegen Norden abgrenzt. Die andere ist eine Bergkette, welche eine südwestliche Fortsetzung von Elgon zu sein scheint und von den Leuten Esche=Kulu genannt wird. Zwischen beiden ist eine Lücke von drei bis vier Meilen Breite, durch welche wir zogen. Ich habe, als erster Weißer, welcher dieses Land bereist hat, die Berge im Süden, welche als Pforten in die eigentlichen Länder an der Quelle des Weißen Nil gelten können, die Emin=Pascha=Berge benannt. Stellen sie doch für uns die diesseitige Grenze des Gebietes dar, in welchem das Wirkungsfeld dieses Mannes lag. Die Berge im Norden der Lücke benannte ich nach Emins Freund und Genossen Juncker=Kette. Der Sio fließt im Osten dieser Berge, nicht westlich, wie es nach den Karten scheint. Die Lücke zwischen beiden stellt eine flache, gut angebaute Hochfläche dar. Die Emin=Pascha=Berge erstrecken sich länger in westöstlicher als in südöstlicher Richtung. Von Kavirondo aus nehmen Emin=Pascha=Berge und Juncker=Kette sich aus wie ein durchbrochenes Randgebirge gegen Westen. (Peters 1891: 524)

Man sieht hier, wie willkürlich Namen verliehen werden, die die offenbar durchaus bekannten einheimischen Namen überschreiben. Emin Pascha, eigentlich Eduard Schnitzler (1840–1892), sogenannter Afrikaforscher und (und als solcher 1885 zum Pascha ernannter) Gouverneur der Provinz Äquatoria im Türkisch-Ägyptischen Sudan war im Zuge des Mahdi-Aufstands von allen Nachrichtenwegen abgeschnitten worden. Um ihn wieder aufzufinden, wurden mehrere Expeditionen ausgeschickt, u.a. eine englische unter der Leitung von Henry Morton Stanley und eine deutsche 1888 unter der Leitung von Carl Peters. Die deutschen Eigennamen, die hier als geographische Namen eingesetzt werden, schreiben performativ den deutschen Einfluss- und Herrschaftsbereich fest. Publiziert wird die zitierte Proklamation unter dem Titel Aus meinem afrikanischen Tagebuche als Vorabdruck aus Peters’ Bericht über die Emin-PaschaExpedition 1891 in Westermanns Monatsheften. Es handelt sich dabei keineswegs um eine kolonialpropagandistische Zeitschrift, sondern dieser Text des heute als vielleicht schlimmster deutscher Kolonial-Verbrecher unter seinem Spitznamen „Hänge-Peters“ bekannten Carl Peters erscheint wie viele ähnliche in einer Familienzeitschrift und damit einer absoluten Mainstream-Publikation der Zeit, was eine enorme Breitenwirkung bedeutete. Noch im selben Jahrgang übrigens wird die Buchversion dann mit deutlich prokolonialem Unterton dort auch umfangreich rezensiert: „Das Peterssche Werk gehört zu dem Besten, was die Afrikalitteratur unserer Tage aufzuweisen hat; es befriedigt im nationalen, im litterarischen und wissenschaftlichen Sinne“ (Neubaur 1891: 569). Es gibt in Peters’ Tagebuch-Text zahlreiche ähnliche Stellen wie die eben zitierte: „[Die westliche Hügelkette] bildet die östliche Grenze von Usoga und Akola, und ich habe sie Wißmann-Hügel benannt. Wenn man von Osten heranzieht, stellen sich die Wißmann-Hügel als ein schroffer Gebirgszug dar“ (Peters 1891:

6 | Axel Dunker 526). Die unmittelbare Folge von performativem Akt („ich habe sie benannt“) und Benutzung gleich Verbreitung der Benennung ist frappierend. Ein letztes Beispiel: Ein langer Bergrücken, weithin nach beiden Seiten Tagemärsche lang sichtbar, trennt diese Bucht vom Napoleon=Golf nach Westen ab und verleiht ihr durchaus den Charakter eines großen Landsees. Ich weiß nicht, ob Stanley, an dessen Lagerplätzen wir einigemal schliefen, dieselbe gesehen hat. Auf den Karten finde ich sie nicht. Da sie für die Gestaltung dieses Teiles von Usoga bemerkenswert ist, habe ich ihr einen Namen gegeben, und zwar nenne ich sie Arendt=Bucht, den Bergrücken, der sie nach Westen abschließt, Schroeders=Berg. Am 18. Februar lagerten wir endlich am Schroeders=Berg, und zwar etwa zwölf Minuten vom Napoleon=Golf, den ich an diesem Tage zum erstenmal zu sehen bekam. (Peters 1891: 529)

Welche Deutschen namens Arendt und Schroeder hier die Ehre bekommen, neben Napoleon zu stehen zu kommen, wird an dieser Stelle nicht klar. Deutlich ausgesprochen wird aber der Zweck der Namensverleihung: die geographische Einzelheit ist wichtig, daher muss sie einen besonderen Namen (und natürlich einen deutschen) bekommen. Dabei kommen nicht alle kolonialen Benennungspraktiken so schwergewichtig und beinahe programmatisch imperialistisch daher wie bei Carl Peters. So heißt es 1908 ebenfalls in Westermanns Monatshefte in einem Text mit dem Titel „Meine Reise mit dem Kolonial=Staatssekretär nach Ostafrika“, der gezeichnet ist mit „Von Geh. Baurat F. Baltzer in Berlin“: „Nachdem Herr Wiese auf Neu=Hornow seine Pläne eingehend erläutert hatte, brachen wir auf nach der nahen Hermanns=Platte“ – und jetzt könnte man vielleicht an Hermann, den Cherusker denken, aber: „so benannt nach drei den Vornamen Hermann führenden deutschen Männern, die sämtlich eine ‘Platte’ besitzen“ (Baltzer 1908: 217). Deutlich ist auch hier, dass nicht alle geographischen Einzelheiten mit deutschen Namen belegt werden, denn auch hier gibt es im Umfeld ein Gemisch aus deutschen und einheimischen Bezeichnungen. Mit deutschen Namen versehen werden offenbar Details, die auf welche Weise auch immer besonders bedeutsam sind, im Fall der ‘Hermanns-Platte’ ist das ein Aussichtspunkt, „der vielleicht in der Welt seinesgleichen nicht hat“ (Baltzer 1908: 217). Besagte Platte liegt in der Nähe eines Ortes namens Wilhelmstal, von dem es heißt: „Ursprünglich sollte der Ort Willhelmsroda heißen; da aber die Eingeborenen diese Benennung häufig ‘Wisky-Soda’ [sic] aussprachen, wurde später der Namen Wilhelmstal eingeführt“ (Baltzer 1908: 218). Der Name ‘Wilhelm’ ist sicherlich eine der häufigsten im deutschen kolonialen Afrika verwendeten Namensbeigaben, auch wenn sich das im täglichen Gebrauch offenbar nicht immer recht durchsetzen ließ. „Die ‘Dorfstraße’“, heißt

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es beispielsweise 1910 in einem Aufsatz „In Südwest zu Hause“ in Westermanns Monatsheften, „heißt offiziell ‘Kaiser-Wilhelm-Straße’, aber niemand nennt sie anders als ‘Storestraße’“, weil dort die „wenigen großen Verkaufsstellen sind, die ‘Stores’“ (Ando 1910: 59). Kaiser Wilhelm als Namenspatron fungiert natürlich auch für den im wahrsten Sinne des Wortes herausragenden imperialen Ort in Afrika, die KaiserWilhelm-Spitze auf dem Gipfel des Kilimandscharo. Christof Hamann hat den Bericht von der Taufe dieses Ortes in Hans Meyers Ostafrikanische Gletscherfahrten. Forschungsreisen im Kilimandscharo-Gebiet (1890) eingehend analysiert und auf den „machtvollen Realitätseffekt“ (Hamann 2008: 51) dieses Vorgangs hingewiesen: Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem ‘Hurra’ eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf und rief frohlockend: ‘Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze’. (Meyer 1890: 134)5

Dazu Hamann: Zum einen wird durch die Identifizierung die ‘unbekannte, namenlose Spitze’ ins ‘bekannte’ Eigene überführt; zum anderen erweist sich derjenige, der benennt, als ‘Herr’ über dasjenige, was benannt wird. Mit den vielen weiteren, verstreut über das Kilimanjaro-Gebiet vollzogenen Taufakten an Bächen, Scharten, Gletschern und Gipfeln und der Verwendung dieser Namen in Karten und Texten wird das Gebiet insgesamt in den Besitz des ‘Siegers’ überschrieben, der in diesem Fall ein ganzes Land repräsentiert.

„Die Maßnahmen der Entwunderung“, so bezeichnet Hamann diesen Vorgang, „wissenschaftliche Klassifizierung und Namensgebung – dienen so vor allem einem gemeinsamen Ziel: der ‘Eindeutschung’ des Kilimanjaro“ (Hamann 2008: 51). Wichtig für unseren Zusammenhang ist es hervorzuheben, dass die sprachliche und imperiale ‘Eindeutschung’ des afrikanischen Berges, der mindestens ganz Ost-Afrika symbolisiert, parallel zueinander verlaufen, ja identisch miteinander sind. Hamann hat dann in seinem Roman Usambara (2007) diesen Taufakt einem postkolonialen debunking unterzogen, indem er das Groteske dieses Vorgangs hervorkehrt:

|| 5 Zitiert nach Hamann (2008: Anm. 26, 51). Es existiert eine „Um Vorworte und Teile des Anhangs gekürzte“ Neuedition: Hans Meyer (52009): Die Erstbesteigung des Kilimandscharo. Hg. v. Heinrich Pleticha. Lenningen: Edition Erdmann (= Alte Abenteuerliche Reiseberichte). Die Veränderung des Titels zeigt die immer noch gültige Faszination, die diese Besteigung ausübt.

8 | Axel Dunker Mit dem Recht des ersten Besteigers, sagt Meyer, während er aufsteht und die beiden anderen mit ihm, taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde, Meyerspitze. (Hamann 2007: 248)6

Nur weil sich Meyer und sein Mitbesteiger, der österreichische Bergführer Purtscheller, dann nicht auf das Recht der Namensverleihung (Meyer- oder doch Purtscheller-Spitze?) einigen können, verfallen sie dann auf „einen Kaiser […] Nur, welchen?“ Schließlich wird es Kaiser Wilhelm und die beiden umliegenden Gipfel bekommen die Namen „Franz und Joseph“ (Hamann 2007: 256) nach dem österreichischen Kaiser.7 Nach Untersuchungen des kamerunischen Germanisten David Simo wandten die europäischen Invasoren „vier Methoden an, um geographische Besonderheiten […] zu benennen“ (Hamann & Honold 2011: 59). Erstens gaben sie hohen Bergen den Namen, „den die europäischen Nationen [auch] den von ihnen geschaffenen Staaten verliehen“ hatten (z.B. Kamerunberg); zweitens den Namen des europäischen ‘Entdeckers’ (oder deren Freundinnen, Ehefrauen, Müttern oder auch Königinnen); drittens Namen „aufgrund ihrer Form“ (z.B. Tafelberg); viertens einheimische Namen, die durch die Sprachunkenntnisse häufig verfälscht wurden (Hamann & Honold 2011: 59).8 Die Rückseite dieser kolonialen Benennungspraktiken bildeten natürlich die entsprechenden Straßennamen in Deutschland, entweder nach dem Muster der Mohrenstraße9 oder des Afrikanischen Viertels in Berlin mit seiner Kameruner und Togostraße10 oder des Afrika-Viertels in Köln-Nippes11 oder des Kolonialviertels in München.12 Ähnliche Muster gibt es auch in der Provinz: so existiert im ostwestfälischen Herford noch heute eine Hermann-von-Wissmann-Str.; in unmittelbarer Nachbarschaft befand oder befindet sich die Carl-Peters-Straße, die auch immer noch so heißt, aber 2008 auf Antrag der Grünen-Fraktion des

|| 6 Vgl. dazu Dunker (2012). 7 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Julian Osthues in diesem Band. 8 Nach Simo (2002). Hamann & Honold nennen als zweiten Text Simos: „Die Eroberung der Landschaften. Alte und neue Namen der Berge in Afrika“. In: http://www.inst.at/berge/perspektiven/simo.htm – der Link existiert nicht mehr (Aufrufversuch am 24.3.2015). 9 Heyden (2002: 188f.). 10 Vgl. http://www.berlin-postkolonial.de/cms/index.php?option=com_content&view=article &id=78:afrikanisches-viertel&catid=10:mitte&Itemid=16 (aufgerufen am 24.3.2015). 11 Vgl. Bechhaus-Gerst (aufgerufen am 24.3.2015). 12 Lindner (2007).

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Stadtrats zugunsten des Widerstandskämpfers Carl Peters (1896–1966) umgewidmet wurde.13

4 Benennungspraktiken in fiktionalen Texten Die bisherigen Bemerkungen beziehen sich auf die Benennungspraktiken in Reisebeschreibungen und ähnlichen Textgenres. Mindestens ebenso wichtig – das zeigt schon das Beispiel von Hamanns Usambara – ist der Einsatz entsprechender Benennungspraktiken in fiktionalen Texten. Ein interessantes Beispiel dafür findet sich in Norbert Jacques’ Heisse Städte. Eine Reise nach Brasilien (1911). Das Buch, das auf einer Reise Jacques’ nach Brasilien 1907 basiert, changiert „zwischen Reisebericht und Roman und zwischen Ich- und Er-Erzählung“ (Zilcosky 2012: 204, Anm. 5). Erst am Ende des Buches wird dem Protagonisten klar, was er eigentlich gesucht hat im brasilianischen Dschungel, an den „Grenzen der Erde“ (Jacques 1911: 225): Aber die Serra do Mirador stand über dem Land; schwer und in brutaler Schönheit erhob sie ihre wuchtigen Flanken in den Schaum des Himmels und grenzte die Erde der Menschen gegen die Urwildnis ab. Und ich rückte meine Sehnsucht immer weiter zurück. Meine ganze Reise war nichts als das gewesen und ich dachte mir nun, daß das Protoplasma eines neuen Lebens, ‘des’ Lebens ohne Vorbedingungen, des Lebens der großen, saftig frischen Entwicklungen, noch weiter hinausläge – hinter den porphyrnen Wällen der Serra der Wunder. Welcher geheimnisvolle Einfall, gerade dieses Gebirge, das die Menschenerde abschloß, mit diesem Namen zu nennen! (Jacques 1911: 225f.).

Doch an dieser wunderbaren Grenze der Menschheit – eigentlich bedeutet das spanische ‘Mirador’ schlicht ‘Aussichtspunkt’, Jacques projiziert hier seine Erwartungen offenbar auch in die für ihn fremde Sprache hinein – wartet auf den Protagonisten eine Überraschung: Wir kamen ihm näher. Nur einzelne Kolonien traten noch an unsern Weg. Alle waren jung. Aber wo mehrere zusammenlagen, trugen sie Namen großer deutscher Städte und waren so Erinnerung an die alte Heimat, zugleich wo sie die heimlichen Hoffnungen nach den wirtschaftlichen Hochentwicklungen trugen, die das Leben dieser Städte kennzeichnete. Es waren Berlin, Hamburg, Bremen usw. (Jacques 1911: 226)

|| 13 (Aufgerufen am 24.3.2015). Vgl. zu solchen Prozessen den Beitrag von Matthias Schulz und Verena Ebert in diesem Band.

10 | Axel Dunker Für diesen im Übrigen mit einem ganzen Sack voller rassistischer Stereotypen in den Urwald reisenden Deutschen bilden die deutschen Namen keine heroischen Zeichen auftrumpfender kolonialer Inbesitznahme, sondern markieren das Zeichen des Scheiterns seiner Flucht aus der Zivilisation: „Nun flüchten die Menschen über einen Ozean, mehrere tausend Kilometer weit und hinter den Wall ferner, feindlicher Berge und nehmen sich die Jungfernschaft des schönen, alten unberührten Bodens“ – letzteres Bild ist natürlich integraler Bestandteil des kolonialen Diskurses –, „ringen mit den Schollen, den Bäumen und den Tieren des Urwalds, mit Wetter und Klima und haben weiter nichts getan, als ein verrohtes kleines Europa herüber verlegt“ (Jacques 1911: 225).

5 Koloniale Namen in Texten der Gegenwart Eine wiederum andere Frage lautet, welchen Stellenwert koloniale Namen in der Gegenwart haben, hundert Jahre nach dem Ende des deutschen Kolonialreichs, abseits auch von einer in eher trivialen Produkten durchaus sichtbar werdenden Kolonialnostalgie. „Nirgendwo sonst im Ausland ist die malerische Qualität der Deutschen Sprache so präsent wie hier“ (Kracht & Nickel 2014: 56), schreiben – ironisch – 1998 die häufig der Pop-Literatur zugerechneten Christian Kracht und Eckhart Nickel in ihrer Reiseführer-Parodie über die „angenehmsten Orte der Welt“ mit dem Titel Ferien für immer in einem Eintrag unter der Überschrift „Hotel zum Sperrgebiet. Lüderitz, Namibia“. Die „malerische Qualität der Deutschen Sprache“ also ist nirgendwo sonst im Ausland […] so präsent wie hier, wo es Orte gibt, die ‘Walfischbay’, ‘Seeheim’, ‘Mariental’ und ‘Warmbad’ heißen. Oder etwa der plötzlich topographische Realität gewordene Kindertraum aller Donald-Duck-Freunde, der ‘Gansberg’. (Kracht & Nickel 2014: 56)

Orte mit blumigen deutschen Namen in Afrika haben ihren imperialistischen Gestus, ihre koloniale Aura, verloren und wirken wie Simulakren, wie Zeichen, die nur noch auf ironische Art und Weise eine ein für alle Mal vergangene Realität aufrufen. Gibt es sie dennoch, wie jenes „‘Hotel Zum Sperrgebiet’ Bismarckstreet, Lüderitz, Namibia. Tel. 00264-6331-2856“ (Kracht & Nickel 2014: 58) – und wenn die entsprechende Website14 nicht ihrerseits ein Fake ist, existiert ein

|| 14 Der dort angegebene Link (Website: Sea-View Hotel Zum Sperrgebiet) führt zu einer Website mit chinesischen Schriftzeichen, was angesichts der kolonialen Präsenz Chinas in Afrika gar nicht so ‘unrealistisch’ erscheint. Heute gehört es offenbar zur Marriott-Kette: „With a rich and

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Hotel dieses Namens tatsächlich (die angegebene Telefonnummer habe ich nicht ausprobiert) – so erhält es einen Anstrich seltsamer Irrealität, als entspränge es einem Roman Thomas Pynchons oder eben Christian Krachts, der in seinem Roman Imperium (2012) mit solchen Irrealitätseffekten spielt. Aber natürlich ist es bezeichnend für die Realität des heutigen Afrika, dass besagtes, inzwischen scheinbar in ein Luxus-Hotel umgewandeltes Etablissement zwanzig Jahre nach Krachts und Nickels Buch jetzt zur Marriott-Hotelkette gehört, aber immer noch den Namen „Zum Sperrgebiet“ führt: „Protea-Hotel SeaView Zum Sperrgebiet“, gelegen übrigens inzwischen nicht mehr in der Bismarckstreet, sondern in der Woermann Street, benannt nach jener auf den Handel mit Westafrika spezialisierten Hamburger Kaufmannsfamilie, die ab 1890 mit ihrer Reederei die Verbindung zwischen dem deutschen ‘Mutterland’ und den Kolonien in Afrika sicherstellte. Auseinandersetzungen um Namen dieser Art prägen derzeit politische Debatten in dem Ort, der immer noch Lüderitz heißt, nach dem Willen des Staats Namibia aber jetzt einen Namen bekommen soll, der für deutsche Zungen unaussprechlich ist und nur graphisch korrekt wiedergegeben werden kann: „!Nami≠nûs, in der Sprache der Nama.15 Ein Stadtname mit Klicklauten, dargestellt als ‚!‘ und ‚≠‘, ein Schnalzen mit der Zunge, einmal am vorderen und einmal am hinteren Gaumen“ (Zick 2015: 7), so beschreibt es Tobias Zick in der Süddeutschen Zeitung. Erst Ende 2013 wurde der Caprivi-Streifen, benannt nach Reichskanzler Leo von Caprivi, in Sambesi umbenannt und „Steinhausen heißt jetzt Okarukambe“ (Zick 2015: 7). Dass der neue Name von Lüderitz für Deutsche nur nach langer Übung korrekt auszusprechen ist – man erinnere sich an die Übungen des Veterinärs Gottschalk in der Nama-Sprache, die Uwe Timm 1978 in sei-

|| colorful history, Luderitz’s heritage is encapsulated in the buildings and its surroundings. Against the stark backdrop of an unforgiving and ever-changing desert, you will find comfort in 22 modern rooms and one apartment at Protea Hotel Sea View Zum Sperrgebiet.” (http://www.marriott.com/hotels/travel/ludpr-protea-hotel-sea-view-zum-sperrgebiet/) (aufgerufen am 8.4.2015). Beim Namen „Zum Sperrgebiet“ handelt es sich wahrscheinlich um einen Verweis auf das Diamanten-Sperrgebiet (für diesen Hinweis danke ich Thomas Stolz und Ingo H. Warnke). 1908 wurden an der von Lüderitz ausgehenden Eisenbahnstrecke Diamanten entdeckt. „Das heutige Diamantensperrgebiet wird auch als Sperrgebiet Nationalpark bezeichnet (2008 proklamiert) und erstreckt sich von der südlichen Grenze des Namib-Naukluft-Parks bis hin zum Oranje, dem Grenzfluss zwischen Namibia und Südafrika. Es umfasst eine Fläche von 26 000 km². Durchquert wird es von der Nationalstraße B4 von Keetmanshoop nach Lüderitz.“ (http://www.info-namibia.com/de/aktivitaeten-und-sehenswuerdigkeiten/luederitz-undumgebung/diamantensperrgebiet; Aufruf 28.9.2016). 15 Vgl. dazu auch Stolz & Warnke (2015: 107f.).

12 | Axel Dunker nem antikolonialen Roman Morenga, dem ersten deutschen seiner Art überhaupt, beschreibt – ist so nur äußerst konsequent, auch wenn das natürlich gar nicht beabsichtigt ist.

6 Benennungspraktiken in der postkolonialen Gegenwartsliteratur Die postkoloniale deutschsprachige Gegenwartsliteratur bemüht sich nach Kräften, die eigentliche Absurdität der kolonialen Namensgebung aufzuzeigen bzw. die koloniale Praxis zu zerschreiben. Neben dem schon erwähnten Christof Hamann ist es Christoph Ransmayr, der in seinem postmodernen Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) das eigentlich Groteske dieses Vorgangs am Beispiel der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition in den Jahren 1872 bis 1874 herausstellt. Ransmayr zitiert aus dem Tagebuch des Expeditionsleiters Julius Payer den Moment der lang erwarteten Entdeckung eines Landes im nördlichen Eismeer, was „die Erlösung der Alten Welt von einem ihrer letzten weißen Flecke“ (Ransmayr 2005: 159) bedeutet: Es war um die Mittagszeit, da wir über die Bordwand gelehnt, in die flüchtigen Nebel starrten, durch welche dann und wann das Sonnenlicht brach, als eine vorüberziehende Dunstwand plötzlich rauhe Felszüge fern im Nordwesten enthüllte, die sich binnen weniger Minuten zu dem Anblick eines strahlenden Alpenlandes entwickelten! Im ersten Momente standen wir Alle gebannt und voll Unglauben da; dann brachen wir, hingerissen von der unverscheuchbaren Wahrhaftigkeit unseres Glücks, in den stürmischen Jubelruf aus: ‘Land, Land, endlich Land!’ […] Jahrtausende waren dahingegangen, ohne Kunde von dem Dasein dieses Landes zu den Menschen zu bringen. Und jetzt fiel einer geringen Schaar fast Aufgegebener seine Entdeckung in den Schooß – als Preis ausdauernder Hoffnung und standhaft überwundener Leiden – und diese geringe Schaar, welche die Heimat bereits zu den Verschollenen zählte, war so glücklich, ihrem fernen Monarchen dadurch ein Zeichen ihrer Huldigung zu bringen, daß sie dem neuentdeckten Lande den Namen KAISER FRANZ-JOSEFS-LAND gab. (Ransmayr 2005: 159)

Am 2. November 1873 ergreifen sie im Namen des Kaisers feierlich Besitz von ihrer Entdeckung, hissen den Doppeladler zwischen tiefgrünen Doleritsäulen, errichten eine Steinpyramide und verwahren darin ein Dokument, das Seine Apostolische Majestät Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und Ungarn, als den ersten Herrn dieser gletscherbedeckten Wüste aus kristallinem Gestein ausweist. (Ransmayr 2005: 159)

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„Payer streut seine Namen wie Bannsprüche über den Archipel, forscht dabei in seinen Erinnerungen und findet immer neue Städte und Freunde, die er im Eis verewigen will“ (Ransmayr 2005: 219) in der Manier eines „Herr[en] und vollendeten Entdecker[s]“ (Ransmayr 2005: 218), und vergißt dabei doch nie, auch dem Herrscherhaus und der Wissenschaft zu huldigen: Cap Grillparzer sagt er zu einem wüsten Felsenturm und Cap Kremsmünster zu einem anderen. Die Litanei der schönen Namen wird mit jedem Tag länger – Insel Klagenfurt, Kronprinz-Rudolf-Land, Erzherzog-Rainer-Insel, Cap Fiume, Cap Triest, Cap Buda Pest, Cap Tyrol und so fort – Payers Begleiter aber werden täglich schwächer. (Ransmayr 2005: 219)

Schließlich wird die Expedition nichts anderes zurück nach Österreich bringen als eine „Nomenklatur im Eis begrabener Inseln“ (Ransmayr 2005: 261). Noch stärker an einer Subversion kolonialer Benennungspraktiken versucht sich Ilija Trojanow in seinem postkolonialen Bestseller Der Weltensammler (2007). Im dritten, in Ostafrika spielenden Teil dieses Romans, der die Lebensgeschichte des britischen Entdeckers Robert Francis Burton ausfabuliert, wird diesem „kein anderes Ziel […] als den weißen Flecken auf den Karten einen Sinn einzuschreiben“ (Trojanow 2007: 365), zugeschrieben. Dabei wird zunächst die koloniale Benennungspraxis reflektiert: Als Burton 1854 mit John Hanning Speke auf der Suche nach den Quellen des Nils ist und man in die Nähe eines großen Sees kommt, so berichtet es der afrikanische Erzähler Sidi Mubarak Bombay, erhält man von den einheimischen Führern die Auskunft, dieser habe den Namen Nyanza. Speke war mit diesem Namen nicht zufrieden, er wollte einen anderen Namen. Er gab allen Orten, die er auf seiner Reise erblickte […], gleich einen Namen, so als verteile er Geschenke an Kinder aus armen Familien. Kaum hatte er sich für einen Namen entschieden, bat er mich, die Träger von dem neuen Namen in Kenntnis zu setzen. Ich reichte die Namen an sie weiter, und sie waren erstaunt über diesen Brauch, den sie sich nicht erklären konnten. Vielleicht kann er sich nur an das erinnern, was er selbst benannt hat, schlug einer von ihnen vor. (Trojanow 2007: 481)

Erkennbar wird hier der Versuch, die Praxis der Namensgebung von der Perspektive der Kolonisierten aus zu betrachten und sie dabei gleichzeitig ihres imperialen Gestus’ zu entkleiden. Wie zuvor schon bei Hamann erwähnt, haben wir es auch hier mit einem debunking zu tun, dem Versuch einer Entzauberung oder Entlarvung, das hier aber den Afrikanern selbst zugeschrieben wird. Speke notiert sich die von ihm verliehenen Namen und möchte jeweils „in kleinen Buchstaben“ dahinter auch die „Namen der Überlieferung“ (Trojanow 2007: 483) verzeichnen. Diese Ordnung der Dinge und der Namen gerät durcheinan-

14 | Axel Dunker der, als man eines Abends zu viel Bananenbier trinkt und dabei auf eine Idee kommt: Wir würden unsere eigenen Namen erfinden und dem Mzungu überreichen, er würde unsere Namen in sein Land zurücktragen, wir würden Namen vergeben, die sich über jeden lustig machen, der sie liest, ohne zu merken, wie er verspottet wird, Namen wie etwa Große-Entleerung-Der-Blase für den See, an dessen Ufer wir so viel Bananenbier tranken, und schon am nächsten Tag fanden unsere Namen Eingang in das Buch von Bwana Speke. Wie heißt dieser Fluß bei den Leuten hier? fragte er mich, und ich antwortete ihm: Dieser Fluß wird bei den Menschen von den Wakerewe Affe-Mit-Läusen genannt. Und als er fragte, wie der Name eines Hügels lautete, antwortete ich ihm: Dieser Hügel wird bei den Menschen von den Wakerewe Hintern-Voller-Warzen genannt. (Trojanow 2007: 483f.)

Als Speke dann nach einigen Jahren auf einer zweiten Reise durch Afrika wieder auf Bombay trifft, zeigt er diesem die inzwischen in England gezeichneten Karten. Und tatsächlich finden sich auf ihnen hinter den Namen Victoria und Somerset in kleinen Buchstaben „Hintern-Voller-Warzen“ und „Die-Titten-DesFetten-Königs“ (Trojanow 2007: 485). Am Motiv der Benennung wird deutlich, wie Trojanow hier auch im Sinne von Bachtins Karnevalisierung die koloniale Ordnung zu subvertieren versucht. Dass das seinerseits wieder nicht ganz unproblematisch ist, weil es durchaus auch stereotype Vorstellungen von Afrikanern bedient, steht auf einem anderen Blatt. Offenbar ist es bis heute und auch in dezidiert postkolonialen Texten nicht ganz einfach, kolonialen Konnotationen zu entkommen.

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16 | Axel Dunker Stolz, Thomas & Ingo H. Warnke. 2015. Aspekte der kolonialen und postkolonialen Toponymie unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Kolonialismus. In Daniel Schmidt-Brücken, Susanne Schuster, Thomas Stolz, Ingo H. Warnke & Marina Wienberg (eds.), Koloniallinguistik. Sprache in kolonialen Kontexten, 107–175. Berlin/Boston: de Gruyter. Trojanow, Ilija. 2007. Der Weltensammler. München: dtv. Vico, Giambattista. 2013. Von der poetischen Geographie (1725). In Stephan Günzel (ed.), Texte zur Theorie des Raums, 20–22. Stuttgart: Reclam. Zick, Tobias. 2015. Der schwierige Klang von Namen. In Lüderitz streiten die Bürger, ob die namibische Stadt künftig in der Nama-Sprache benannt werden soll. Für die Nachfahren der Opfer der brutalen deutschen Kolonialherrschaft geht es dabei um mehr als um ein Wort. Süddeutsche Zeitung, 14. April 2015, 7. Zilcosky, John. 2012. Unheimliche Begegnungen: Abenteuerliteratur, Psychoanalyse, Moderne. In Hansjörg Bay & Wolfgang Struck (eds.), Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen, 203–220. Köln/Weimar/Wien: Böhlau.

Webnachweise http://www.berlin-postkolonial.de/cms/index.php?option=com_content&view=article& id=78:afrikanisches-viertel&catid=10:mitte&Itemid=16 . http://www.marriott.com/hotels/travel/ludpr-protea-hotel-sea-view-zum-sperrgebiet/ . http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/nstopo/strnam/Begriff_27_Orte.html . http://www.namibia-info.net/unterkunft/sud-namibia/luderitz/sea-view-hotel-zumsperrgebiet.html . http://www.info-namibia.com/de/aktivitaeten-und-sehenswuerdigkeiten/luederitz-undumgebung/diamantensperrgebiet

Dirk Göttsche

Zur kolonialen Kartographie in der Literatur des Realismus: Gutzkow – Raabe – Jensen Zusammenfassung: Dieser Aufsatz untersucht, wie das Erzählen des Realismus in seiner Benennungspraxis und symbolischen Kartographie auf die Vergrößerung und „Verwandlung der Welt“ (Osterhammel) im Zuge von Kolonialismus und Globalisierung im 19. Jahrhundert reagiert. Auf grundsätzliche Überlegungen zur Verknüpfung von europäischen und außereuropäischen Welten folgen drei Fallstudien: die frührealistische Verbindung von konkretem kolonialem Welt-Wissen mit der Topik des Kritischen Exotismus in Karl Gutzkows antikolonialer Novelle Der Prinz von Madagaskar (1834); Wilhelm Jensens historischer Kolonialroman Brandenburg’scher Pavillion hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit (1902) samt Vergleich seines Afrika- und Lateinamerika-Diskurses (Unter heißerer Sonne, 1869); sowie Wilhelm Raabes Überblendung von Kolonialismus- und Modernisierungskritik in den komplexen literarischen Reflexionsräumen seiner Texte Meister Autor (1874), Zum wilden Mann (1874) und Prinzessin Fisch (1883). Schlagwörter: Afrika, Exotismus, Kartographie, Kolonialismus, Lateinamerika, Realismus

1 Einleitung In Wilhelm Raabes Gründerzeit-Roman Meister Autor (1874), der die Thematik sprunghafter Modernisierung und Urbanisierung mit der Reflexion kolonialer Globalisierung verbindet, durchlebt der zum Steuermann beförderte Leichtmatrose Karl Schaake, der zuletzt „muhammedanische Pilger von Malakka nach Dscheddah expedieren“ half, nun aber infolge eines Eisenbahnunfalls an tödlichem Wundbrand erkrankt ist, im Fiebertraum noch einmal die Stationen der Seereise „von Sumatra bis Suez“ (Raabe 1973: 39). In hohem Fieber glaubt er aus dem Hafen Malakka in Malaysia auszulaufen, an „Ceylon“ und dem süd-

|| Dirk Göttsche: Department of German Studies, School of Modern Languages and Cultures, University of Nottingham, University Park, Nottingham NG7 2RD, U.K. E-Mail: [email protected]

18 | Dirk Göttsche westindischen „Travancore“ vorbei auf „Arabien“ zuzusteuern, „Aden“ und die Meeresenge von „Bab-el-Mandeb“ zwischen Jemen und Djibouti zu passieren und „Dscheddah“ in den Blick zu nehmen (Raabe 1973: 106). Der Roman ruft in dieser Passage also mit konkreten geographischen Namen einen Teil der durch die koloniale Expansion Europas größer gewordenen Welt jenseits des deutschen Schauplatzes der Handlung auf, einer Welt, deren Orte der zeitgenössische Leser in seinem Atlas nachschlagen konnte und die durch Reiseliteratur sowie geographische und Familienzeitschriften seit dem mittleren 19. Jahrhundert auch breiteren deutschen Bevölkerungsschichten in Bild und Schrift bekannter wurde. Man kennt aus anderen Raabe-Romanen wie Prinzessin Fisch (1883) und Stopfkuchen (1891) die Faszinationskraft solcher Berichte aus Übersee, die die Phantasie der deutschen Jugend beflügelten und im Falle des Erzählers Eduard in Stopfkuchen zur Auswanderung in die koloniale Welt, nach Südafrika, führen. In diesem einleitenden Beispiel aus Meister Autor kommen allerdings zwei weitere, untereinander gegenläufige Momente dieser globalen Perspektivenerweiterung hinzu: Karl Schaakes Arbeit in Übersee – ursprünglich eine Mischung aus Verzweiflungstat ob enttäuschter Liebe und Abenteuerlust in der illusorischen Hoffnung, in der kolonialen Welt einen Wohlstand zu erlangen, der ihm doch noch eine Heirat mit der geliebten, durch unverhofften Reichtum aber sozial abgerückten Gertrud Tofote ermöglichen würde – ist alles andere als typisch kolonial. Ein deutscher Seemann steht hier im Dienst einer arabischislamischen Infrastruktur, eines religiösen Tourismus zwischen Asien und Arabien, der die eurozentrische und hierarchische Weltsicht des europäischen Kolonialismus in Frage stellt und auf Interferenzen zwischen europäischen und konkurrierenden nicht-europäischen Karten verweist. Es ist dies ein Beispiel für Raabes kritischen Blick auf Kolonialismus und Globalisierung (vgl. Göttsche 2005), der imperiale Expansion ebenso verwirft wie einfache Fortschrittsnarrative. Gleichwohl aber wird Karl Schaakes koloniales Abenteuer in einer arabisch dominierten Infrastruktur nicht als solches zur Darstellung gebracht; der Roman spielt in Deutschland und nicht in Übersee. Die durch die asiatischen, indischen und arabischen Ortsnamen aufgerufene Karte ist Teil eines Fiebertraums statt dargestellte Wirklichkeit und wirkt auf dem Krankenbett in dem schon zum Abriss markierten mittelalterlichen Cyriacihof in der Mitte der wachsenden, nach Braunschweig modellierten Großstadt des Romans als einfache Phantasie. Die Namen changieren also zwischen global erweitertem geographisch-kulturellen Welt-Wissen und bloßem exotistischem Effekt; Näheres erfahren wir über die genannten Orte allemal nicht.

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Mein Einleitungsmotiv ist damit ein Beispiel für die ambivalente Weise, in der das Erzählen des Realismus auf die Vergrößerung und „Verwandlung der Welt“ (Osterhammel 2009) im 19. Jahrhundert reagiert: Autoren wie Raabe, Fontane, Storm, Keller und Jensen setzen sich sehr wohl und oft sehr genau mit den epochenprägenden Prozessen der beschleunigten Modernisierung und Urbanisierung, der „gesteigerte[n] Mobilität“ im Zuge der Entstehung eines globalen Transport-, Kommunikations- und Handelssystems auseinander, mit der kolonialen Expansion Europas in Übersee sowie der sich daraus ergebenden „asymmetrische[n] Referenzverdichtung“ in einer eurozentrischen Welt gleichwohl zunehmender „interkultureller Wahrnehmungen und Transfers“ (Osterhammel 2009: 1286–1300). Der Schwerpunkt ihres Interesses liegt aber letztlich im eigenen Raum. Auch mangels eigener Erfahrung der außereuropäischen Länder übersetzen die Autoren das epistemologische Kerninteresse realistischen Erzählens in die kritische und selbstreflexive Arbeit mit den Diskursen ihrer Zeit über die Übersee-Welten, verwenden diese als kritische Spiegel der eigenen Welt und fragen nach den heimischen Triebkräften, Resonanzen und Rückwirkungen kolonialer Expansion (vgl. Göttsche 2013a). Im glücklichen Fall gelingen so komplexe ästhetische Reflexionsmodelle zur Geschichte und Kulturgeschichte des Kolonialismus, die ihren „literarische[n] Eigen-Sinn“ (Uerlings 2006: 15) produktiv zur Geltung bringen; in anderen Fällen legen die Texte eher „kontrapunktische Lektüren“ nahe (Dunker 2008; vgl. Said 1994: 112), die ihre Verstrickung in den kolonialen Diskurs vor Augen führen. Allerdings ist der Realismus des 19. Jahrhunderts kein monolithisches Phänomen: Vom Frührealismus der ersten Jahrhunderthälfte über die Konstitutionsphase des programmatischen bürgerlichen oder poetischen Realismus in den 1840er und 1850er Jahren bis zu Spätrealismus und Jahrhundertwende ergeben sich trotz erstaunlicher poetologischer und literaturtheoretischer Kontinuitäten zugleich signifikante Verschiebungen sowie für jede Phase Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Spielarten realistischen Erzählens. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus das wachsende Wissen der Zeit über die Übersee-Welten, das sich auch in den symbolischen Karten der Texte und ihrer Benennungspraxis niederschlägt. Es ist sicher kein Zufall, dass Raabe beispielsweise in Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867) trotz konkreter Ortsnamen aus dem Raum Ägypten und Sudan noch mit der modellhaften Geographie des Kritischen Exotismus in der Nachfolge der Aufklärung arbeiten kann, zu dem auch alte europäische Afrika-Topoi wie das legendäre Mondgebirge gehören, die sich teils bis in die Antike zurückverfolgen lassen, während er für seinen Heimkehrer Eduard in Stopfkuchen 25 Jahre später eine konkrete Siedlerexistenz in einem real gezeichneten Südafrika erfinden muss:

20 | Dirk Göttsche Mit dem wachsenden Welt-Wissen der Zeit wandeln sich auch die Parameter realistischer Darstellung. Eine Untersuchung der kolonialen Kartographie in der Literatur des Realismus muss also nicht nur text- und autorspezifische Brechungen des Themas berücksichtigen, sondern auch solche kultur- und literaturgeschichtlichen Wandlungsprozesse. Aus diesem Grunde werde ich mit einem frührealistischen Beispiel – Karl Gutzkows Novelle Der Prinz von Madagaskar (1834/46) – beginnen, mit Wilhelm Jensens historischem Roman Brandenburg’scher Pavillion hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit (1902) dann einen eigentlichen Kolonialroman aus der Feder eines Autors des Realismus dagegen stellen, um schließlich zu Raabe zurückzukehren.

2 Vorüberlegungen Vorab jedoch noch drei grundsätzliche Überlegungen zur Verknüpfung von europäischen und außereuropäischen Welten in der Literatur des Realismus, die für die Frage nach kolonialer Kartographie und Benennungspraxis in den Fallstudien wichtig sind (vgl. zum Folgenden durchweg Göttsche 2013a): (1) Sowohl die seit dem späten 18. Jahrhundert entstehenden, im Imperialismus um 1900 dominant werdenden Kolonialdiskurse mit ihrer rassistischen Kolonialanthropologie als auch das ältere und allgemeinere Phänomen exotistischer Repräsentationsformen als außereuropäisch wahrgenommener Menschen und Welten arbeiten mit dichotomischen, teils auch dialektischen Entgegensetzungen von Eigenem und Fremdem. Diese sind zudem im Sinne des Eurozentrismus hierarchisch organisiert und definieren so, wie Edward Said (1978) es paradigmatisch für den Orientalismus gezeigt hat, nicht nur die eigene Kultur in wertender Abgrenzung von den anderen, außereuropäischen, sondern schaffen zugleich die diskursiven Grundlagen für die koloniale Unterwerfung und Beherrschung des Anderen und Fremden. Zu untersuchen ist daher in den fraglichen Texten das Spannungsverhältnis zwischen wachsendem geographischem bzw. kulturellem Welt-Wissen und dem dichotomischen Schema kolonialer Diskurse, dem die Autoren folgen, das sie aber auch ausstellen oder kritisch hinterfragen können. Mein Eingangsbeispiel aus Raabes Meister Autor oszilliert in diesem Sinne zwischen der exotistischen Bekräftigung der Antithese zwischen deutschem Handlungsraum und der transkulturellen Welt des Indischen Ozeans und einer gegenläufigen Verschränkung der Räume, die mittels einer arabisch-asiatischen Infrastruktur zugleich den eurozentrischen Blick des Kolonialismus in Frage stellt.

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(2) Zusätzlich ergeben sich jedoch auch auf beiden Seiten der Korrelation von europäischen und außereuropäischen Räumen Differenzierungen, die über den Schematismus dichotomischer Entgegensetzung hinausführen und sich den symbolischen Karten der Texte einschreiben, auch wenn sie sich jeweils wieder in Stereotypen verfestigen können. Mit Blick auf die deutschen Handlungsräume findet sich immer wieder die Antithese von Metropole und Provinz, welche die Dichotomie von eigenem und fremdem Raum in dreipolige Raumkonstellationen überführt, denen zudem oft eine temporale Komponente eingeschrieben ist: Die Metropolen sind, im Verein mit ihren Überseeverbindungen, Orte beschleunigter Modernisierung. So besteht die symbolische Landkarte von Raabes Meister Autor beispielsweise nicht nur aus der wachsenden Großstadt, in der der Erzähler zuhause ist und Karl Schaake stirbt, und dem holländischen Kolonialreich, das durch die Lebensläufe Schaakes und des im heutigen Indonesien zu Reichtum gelangten Mynheer van Kunemund aufgerufen wird, sondern zum dritten auch aus jenem ländlich niedersächsischen Provinzraum, in dem die Titelfigur Meister Autor (van Kunemunds Bruder) und der Förster Tofote, Vater der von Karl Schaake vergeblich angebeteten Gertrud, leben. Obwohl die Provinz hier als Rückzugsort für Modernisierungsverlierer fungiert und von den Städtern sentimental als vormoderne Idylle idealisiert wird, macht der Roman sehr deutlich, dass sie in den radikalen Wandel der Lebenswelt im Zuge von Modernisierung und kolonialer Globalisierung eingebunden ist. Schließlich kommen beide Figuren, die in Übersee ihr Glück versuchen, aus dieser Provinz und sie kehren zurück, wobei der Kaufmann van Kunemund sein im kolonialen Raum erworbenes Kapital, erfolgreich mit Grundbesitz im Stadterweiterungsbereich spekulierend, in den gründerzeitlichen Modernisierungsprozess der Großstadt investiert und nach seinem Tod durch sein Erbe auch Gertrud Tofote aus dem vormodernen kleinbürgerlichen Provinzraum herausreißt. Alle drei Koordinaten des Dreiecks aus Metropole, Provinz und Welt sind symbolisch miteinander verschaltet; es gibt keine Exklaven jener Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse, die der Roman thematisiert. (3) Auch auf der außereuropäischen Seite wird die einfache koloniale und exotistische Dichotomie von eigenen und fremden Räumen in den ‘mental maps’ des Realismus durchbrochen, indem nämlich zu einzelnen Räumen regionenspezifische Diskurstraditionen zu beobachten sind, die zwar jeweils ebenfalls antithetisch auf Europa bezogen sein mögen; in ihrer Vielfalt und ihrer je eigenen historischen Dynamik eröffnen sie jedoch Differenzierungsmöglichkeiten, indem sie das wachsende geographische, politische und kulturelle Wissen der Zeit über die fraglichen Welten verarbeiten, und zwar typischerweise wiederum in widersprüchlicher, zwischen positiven und negativen Zuschreibungen

22 | Dirk Göttsche oszillierender Stereotypisierung. Nordamerika- und China-Diskurs, Orient-, Afrika-, Karibik- und Lateinamerika-Diskurs, Indien-, Japan- und Pazifik-Diskurs unterscheiden sich durchaus, zumal spezifische Mythen und von der europäischen Symbolgeschichte aufgeladene Namen wie ‘das Reich der Mitte’, das christliche Äthiopien bzw. Abyssinien, Timbuktu oder Sansibar, oder im europäischen Bewusstsein herausstechende Völker (wie in Afrika die Ashanti, Massai und Zulu) hinzukommen. Hier bestehen, wie die Imagologie zeigt, Analogien zu den traditionellen binneneuropäischen Diskursen über Nationalstereotype (vgl. Beller & Leerssen 2007). Die kulturellen Koordinaten, auf denen die symbolischen Landkarten des Erzählens im 19. Jahrhundert aufbauen können, sind also vielschichtiger, als die dichotomische Grundstruktur des exotistischen und kolonialen Diskurses es vermuten lässt.

3 Karl Gutzkow: frührealistisches Erzählen zwischen Kritischem Exotismus und kolonialem Wissen Nicht erst Gutzkows große Zeitromane von Die Ritter vom Geiste (1850/51) bis hin zu seinem Gründerzeit-Roman Die neuen Serapionsbrüder (1879) lassen sich als alternative Ansätze zu realistischem Erzählen verstehen; auch einige seiner frühen Novellen erproben im Verbund mit jungdeutscher Zeitkritik frührealistische Erzählweisen, so insbesondere Der Prinz von Magadaskar (1834),1 eine leider noch viel zu wenig beachteten Novelle von besonderem postkolonialen Interesse, da sie sich ganz konkret mit aktuellen kolonialpolitischen Verwicklungen Frankreichs in Madagaskar auseinandersetzt und zudem eine transkulturelle Figur als Protagonisten in den Mittelpunkt rückt, die ihr reales Vorbild hat: Gutzkow fiktionalisiert die Geschichte eines jener beiden madagassischen Prinzen, die der französische Handelsagent und Kolonialoffizier Sylvain Roux 1819 aus Gründen der politischen Allianzbildung und zugleich zu Erziehungszwecken mit nach Paris zurückbrachte, um so über ein Programm der Elitenschulung Frankreichs Einfluss in Madagaskar zu vergrößern.

|| 1 Die zweite Fassung von 1846 soll hier unberücksichtigt bleiben, da sie die realistischen Darstellungsmomente zugunsten der literaturpolitischen (anti-romantischen) Intention der Novelle zurückfährt. Vgl. zu allen der hier nur knapp angesprochenen Aspekte der Novelle Göttsche (2013b).

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Seit dem 17. Jahrhundert hatte Frankreich vergeblich versucht, Madagaskar gegen die britische Konkurrenz für sich zu gewinnen, zuletzt zurückgeschlagen durch die neue und überlegene Regionalmacht des madagassischen MerinaReiches, das unter dem Herrscher Radama I. (Regierungszeit 1810–1828) vom zentralen Hochland aus in den Osten und Norden der Insel expandierte, indem es zugleich eine erfolgreiche Macht-, Modernisierungs- und Autarkiepolitik verfolgte; erst 1896 wurde Madagaskar französische Kolonie. Gutzkow nun schickt den aus dem unabhängigen Küstenort Tamatave stammenden, aber in Paris erzogenen und französisch assimilierten Prinzen Berora (zusammen mit seinem afrikanischen Diener und Mentor sowie einem französischen Sprachgelehrten mit dem satirisch sprechenden Namen Polyglotte) nach Madagaskar zurück in dem hypertrophen Versuch, dort seinerseits „König von Madagaskar“ (Gutzkow 1834: 108) zu werden und die Ideale der europäischen Aufklärung durchzusetzen. Trotz der Hilfe seiner auf der vorgelagerten Insel Sainte Marie wiedergefundenen Amme, einer antikolonialen Widerstandskämpferin, fällt er stattdessen in madagassische Gefangenschaft, wird in der Hauptstadt der Merina als Sklave verkauft, bis er, gemeinsam mit einer einheimischen Freundin, schließlich fliehen kann und nach Paris zurückkehrt, wo er seine Laufbahn als französischer Offizier wieder aufnimmt (vgl. Campbell 2005). Die Novelle ist einesteils eine Schwärmerkur nach dem Vorbild von Voltaires Candide, die allerdings interkulturell gewendet ist: Berora reift im Zuge seiner abenteuerlichen Verirrungen und Prüfungen zu einer ‘achtungwerten’ (Gutzkow 1834: 244) Persönlichkeit mit dem Potential, ein „Held des Jahrhunderts zu werden“ (Gutzkow 1834: 196f.). Die Begegnung mit der scharf kritisierten Welt des französischen Kolonialismus auf der Insel Sainte Marie, die Erfahrung der ebenso verurteilten Sklaverei und die Einsicht in die ganz andere und in dieser Novelle vielgestaltige Kultur Madagaskars bzw. des Merina-Reiches gehören entschieden zu diesem Lernprozess, in dem der koloniale Migrant und Remigrant zugleich seine eigene Identität neu entwirft, denn der Fiktion nach hat er seine afrikanische Kindheit und Muttersprache vollständig vergessen. Auf einer zweiten Ebene arbeitet die Novelle mit den modellhaften Antithesen des Kritischen Exotismus einschließlich der Topik tropischer Paradiese und orientalistischer Motive, die durch den vorkolonialen Handel und Kulturtransfer zwischen Madagaskar, Ostafrika, Arabien, Indien und Indonesien motiviert sind: das Merina-Reich fungiert mit seinen politischen Konflikten und internen Gewaltausbrüchen nach der mutmaßlichen Ermordung Radamas I. als kritischer Spiegel europäischer Politik in Staat und Gesellschaft, ähnlich wie man es aus Aufklärungstexten wie Knigges Staatsroman Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien (1790/91) oder Wielands Erzählung Reise des Pries-

24 | Dirk Göttsche ters Abulfauaris ins innere Afrika (1770) kennt. Anders als diese literarischen Modelle arbeitet Gutzkow jedoch mit konkretem geographischen, kulturellen und politischen Wissen, das dem afrikanischen Gegenraum zum europäischen zugleich seine eigene Geschichte zugesteht und koloniale Kategorien, wie z.B. das Denken in Rassen und Hautfarben, ausdrücklich ironisiert. Das dichotomische Denkmodell wird in der Titelfigur zumindest ansatzweise unterlaufen und Beroras Anspruch, „in Madagaskar König zu werden“ (Gutzkow 1834: 102), wird mit vergleichbaren antikolonialen Machtergreifungen im frühen 19. Jahrhundert in Verbindung gesetzt: mit „Don Pedro“ „von Portugal“ (Gutzkow 1834: 114), der 1822 als Dom Pedro I. erster Kaiser Brasiliens wurde; Henri Christophe, dem Haitianischen Revolutionär, der sich 1811 zum König der nördlichen Inselhälfte ausrufen ließ; und José Gaspar Rodríguez de Francia, der Paraguay im selben Jahr in die Unabhängigkeit führte (vgl. Gutzkow 1834: 197). Auf der symbolischen Landkarte von Gutzkows Novelle konkurriert also das modellhafte Afrika des Kritischen Exotismus (als potentiell gleichwertiger kritischer Spiegel europäischer Verhältnisse) mit eurozentrischen Exotisierungen der karikierten Abenteuerliteratur französisch-romantischer Prägung (Eugène Sue, Chateaubriand) – Berora sehnt sich immer wieder in das vertraute und als überlegen wahrgenommene Paris zurück – und gegenläufigen Differenzierungen auf der Grundlage wachsenden kolonialen und interkulturellen Wissens. Zudem wird die Antithese von Afrika und Europa innerhalb der afrikanischen Welt der Novelle noch einmal verdoppelt, indem der vernachlässigten französischen Kolonie Sainte Marie als Schreckbild ebenso gewaltgesättigter wie erfolgloser Kolonialpolitik der natürliche und kulturelle Reichtum des madagassischen Festlandes gegenüber gestellt wird. Gutzkows ausführliches Quellenstudium – aktuelle deutsche und französische Zeitungsartikel, Reiseberichte wie jene des vormaligen französischen Gouverneurs Flacourt und des namentlich genannten Reisenden Graf Moritz August von Benjowsky, diverse Madagaskar-Bücher – schlägt sich in den sehr genauen Benennungen von Orten, Personen, Pflanzen und Ereignissen nieder: Beroras Heimatstadt Tamatave, das heutige Toamasina, wird ebenso benannt wie in deutscher Schreibung Pandekey,2 die französische Niederlassung auf Sainte Marie, während „die große Hauptstadt der Hovas“ (Gutzkow 1834: 214), das heutige Antananarivo, ohne Namen bleibt. Sylvain Roux, seine Schützlinge Berora und Mandi-Tsara (bei || 2 Als eine mögliche Quellen kommt in Frage: „Des Abbé Rochon’s Reise nach Madagaskar und Ostindien [...]. Übersetzt von Georg Forster“. In Magazin von merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen aus fremden Sprachen, übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet, Bd. 8. Berlin: Vossische Buchhandlung 1792, 70.

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Gutzkow Beroras Bruder), der Merina-König Radama, seine Gattin und Nachfolgerin Ranavalona sowie deren Liebhaber Andremiaja3 werden nach den europäischen Quellen benannt, ebenso zahlreiche Tiere, Bäume und Pflanzen, für die ich noch keine eindeutige Quelle habe ausfindig machen können.4 Deutlich vor der Popularisierung solchen Übersee-Wissens durch die Familienzeitschriften partizipiert Gutzkows Text also an den kolonialen Wissensdiskursen seiner Zeit und macht sie für jungdeutsch-liberale Zeitkritik fruchtbar.

4 Wilhelm Jensen: realistisches Erzählen im Zeichen der Kolonialliteratur Den genauen Gegenpol zu Gutzkows (und Raabes) Kolonialismuskritik bezeichnet Wilhelm Jensens historischer Kolonialroman Brandenburg’scher Pavillion hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit (1902), mit dem der Autor ersichtlich an der in den 1890er Jahren beginnenden Welle der Kolonialliteratur partizipiert. Er tut dies auch politisch, indem er Brandenburg-Preußens kurzlebige Handelskolonie Großfriedrichsburg an der Küste des heutigen Ghana, 1683 erworben und 1717/21 bereits an die holländische Konkurrenz verkauft, als Vorgeschichte des deutschen Kolonialreichs seit 1884 konturiert; der Schlussabschnitt verbindet die Abreise der letzten Deutschen aus Großfriedrichsburg mit der kolonialen Expansion des Deutschen Reiches in Afrika und endet in nationalistischer Wendung des patriotischen Titels „mit dem brausenden Ruf: ‘Deutsche Reichsfahne hoch!’“ (Jensen 1902: 213). Sechs Abbildungen, vier davon Photographien der Ruine der brandenburgischen Festung Großfriedrichsburg im Zustand um 1900, sowie die Figurenerklärung, der Kurfürst von Brandenburg habe mit dieser Kolonie „dem ehemaligen stolzen Vorbild der klanglos untergegangenen Hansa nachzueifern“ gesucht (Jensen 1902: 13), unterstreichen den imperialen geschichtspolitischen Akzent der Afrikadarstellung.

|| 3 Vgl. zur Diskussion der unterschiedlichen Schreibungen dieses Namens Göttsche (2013b: 133, Anm. 68). 4 Beispiele sind die „Pflanze Anduranga“ (Gutzkow 1834: 220), der „Baum Sonidfasat“ (Gutzkow 1834: 235), der „Bohansilan“ (Gutzkow 1834: 240), die „Schirapalme“ und „Hunits“ (Gutzkow 1834: 241), „[w]ilde Muskaten, Feigen, Nüsse von dem Riesenbaum Havama, Takoreben, die ohne Zucht und Pflege wachsen, und vor allem die berühmten madagassischen Erdbeeren“ (Gutzkow 1834: 239). Vgl. zur Quellendiskussion Göttsche (2013b: 129–133).

26 | Dirk Göttsche Erzählt werden in fiktionalisierter Form die letzten Tage der Kolonie, und zwar durch die Augen zweier jugendlicher ostfriesischer Freiwilliger der in Emden heimischen Brandenburgisch-Afrikanischen Kompagnie mit den für Jensens historisches Erzählen charakteristischen nordisch-exotisierenden Namen Cirk Ezards und Didde Addena – letzterer, wie sich herausstellt, ein als Junge verkleidetes Mädchen, so dass die homoerotische Freundschaft der beiden am Schluss dann doch in das gute Ende einer Liebesgeschichte findet. Die Exposition der Erzählung, in der der „alte ostfriesische Steuermanns-Maat“ (Jensen 1902: 3) Meint Geerdes die beiden Neuankömmlinge in die brandenburgische Kolonie einführt, ist geradezu ein Paradebeispiel benennender kolonialer Aneignung und Ordnung des Fremden, die zugleich als Distanzierung und Abwertung fungiert. Die mit den Brandenburgern alliierten „Mohren“ der Region beispielsweise „haben einen Namen, das klingt, als wenn einer den Schnupfen hat und niesen muß: Cabociers und Capisciers – helf’ Gott!“ (Jensen 1902: 7).5 In einem Raum, in dem „die Holländers, die Engelsleute und die Franzmänner“, ganz zu schweigen von „den roten Danebrogsleuten“, mit den Brandenburgern konkurrieren, werden hier offensichtlich französische Bezeichnungen für afrikanische Völker übernommen. Die Dänen „sitzen […] auf Cabo Cors als ganz gute Nachbarn“ (Jensen 1902: 9), übernehmen also eine ältere portugiesische Ortsbezeichnung und nennen die Festungskanone der Deutschen „Kattegat“ (Jensen 1902: 9), so dass sich schon auf europäischer Seite ein multilingualer Raum ergibt. Regelmäßige Verweise auf die von den verfeindeten Holländern im nachbarlichen Axim verwendeten Begriffe evozieren leitmotivisch deren Überlegenheit, auch wenn die holländisch-afrikanische Allianz in der Handlung der Erzählung von der deutsch-afrikanischen geschlagen wird. Im Rückblick auf die Anfänge der Kolonie gehen koloniale Raumnahme und Benennung ausdrücklich Hand in Hand: Im „Herbst des Jahres 1682“ seien die beiden ersten brandenburgischen Schiffe „bei dem Capo tres puntas oder dem ‘Vorgebirge der drei Spitzen’ an der Goldküste gelandet“, wo sie „den eingeborenen Negern des Küstensaums […] den Berg Mamfro abgekauft“, ihn vorläufig befestigt und „in Besitz“ genommen hätten (Jensen 1902: 15f.). Als einen Tag zu spät die holländische Konkurrenz eintraf, habe der Ort „bereits mit einem neuen Namen in noch niemals hier gehörter Sprache ‘der große Friedrichsberg’“ geheißen, „oder, da man unter gebildeten Leuten sich französisch ausdrückte […], ‘Fort’ Groß-Friedrichsburg“ (Jensen 1902: 16). Zusammen mit zwei Außenposten nennt der Text die Niederlassung „Colonie ‘Neu-Brandenburg’“ || 5 Hervorhebung durch Antiqua in dem in Fraktur gesetzten Text, wodurch das Fremdsprachliche als Fremdes markiert wird.

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und „deutsche[n] Besitz“ (Jensen 1902: 19), wodurch das historische Thema zugleich aktuelle imperiale Resonanzen erhält. Der Kolonisierungsvorgang selbst aber ist als Durchsetzung einer deutschen gegen eine portugiesische und eine afrikanische Bezeichnung dargestellt, und so ist es nur konsequent, dass der Verlust der Kolonie am Ende ebenfalls durch einen Namenswechsel angezeigt wird – allerdings nicht ins Holländische (eine holländische Bezeichnung „Hollandia“ wird nur im Epilog kurz erwähnt; Jensen 1902: 213), sondern als ReAfrikanisierung durch die „schwarze Bestie“ mit dem hybriden Namen Jan Conny, dem „Häuptling“ – „Könige heißen sie sich alle in ihrem Kauderwelsch“ (Jensen 1902: 38) – des ortsansässigen afrikanischen Volkes, der nach seinem kurzlebigen Sieg über die Holländer und angesichts der dezimierten brandenburgischen Restmannschaft nun „als König von Neu-Brandenburg und ganz Afrika“ Groß-Friedrichsburg in Besitz nimmt und den Ort in „Festung Conny“ umtauft, indem er zugleich den „brandenburgischen Pavillon“ „an der Fahnenstange“ durch eine symbolisch-barbarisch „dunkelblutrothe Fahne“ ersetzt (Jensen 1902: 200). Namen und Flaggen schreiben in diesem Text also Geschichte und markieren Besitz und Einfluss. Dass die Kolonisten in Jensens Erzählung sich mit der Namensgebung zugleich in der ihnen fremden afrikanischen Welt einzurichten versuchen, bzw. wie sie daran scheitern, das zeigen auch die Kommentare des Mentors zu Bezeichnungen für die natürliche Umwelt. Während die Jugendlichen „den Reiz jedes neuen Auffindens“ in einer Welt genießen, in der ihnen „alles […] unbekannt und namenlos [war]“ (Jensen 1902: 69), nutzt ihr Mentor die Namenskunde für praktisches Überlebenstraining: „‘Baobab’ sagen die Schwarzen für ihn [einen häufigen Baum, D.G.] und die Holländers Affenbrotbaum, aber der Bäcker taugt nicht viel“ (Jensen 1902: 24); „die Krokodils; ‘Khin’ heißen die Mohren sie, grad’ wie ihre Hunde, und Hundsfötter sind sie auch“ (Jensen 1902: 27); „Mit den Strandwölfen, dem Aaszeug – Hyänen sagen sie – da kann man sich leichter vertragen“ (Jensen 1902: 27), usw. Wirkungspsychologisch wird dem Leser auf diese Weise die afrikanische Natur sowohl erschlossen als auch verstellt, denn evoziert wird ein Land „an fremdem Rande der Welt“ (Jensen 1902: 41), in dem die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Dem „lautlose[n] Kampf auf Tod und Leben“ (Jensen 1902: 101) in der Natur entspricht in der Menschenwelt der „beständig[e] Krieg“ „untereinander verfeindet[er]“ Völker mit „afrikanisch-seltsam klingende[n] Namen“ und analog der Machtkampf der konkurrierenden europäischen Kolonialmächte (vgl. Jensen 1902: 80). Nur die Deutschen machen ob ihrer „Vertragsredlichkeit“ und da sie die Afrikaner „noch am ehesten als Menschen behandelt[en]“ angeblich eine Ausnahme, so dass die Afrikaner zu ihnen, Jensen zufolge, „am meisten Zutrauen“ hatten

28 | Dirk Göttsche (Jensen 1902: 80) – ein typisches Beispiel für koloniale Mythenbildung, auch wenn von treuen Askari hier noch keine Rede sein kann. Neues koloniales Wissen wird also in einen eurozentrischen, genauerhin einen ressentimentgeladenen provinziell-nationalistischen Blick zurückgebunden. Anders als später etwa bei Hans Grimm wird die afrikanische Fremde trotz des Namens „Neu-Brandenburg“ gerade nicht als neue Heimat konstruiert (vgl. zu diesem Diskurs Parr 2014), sondern als ein Raum, in dem die Deutschen – trotz gelegentlicher „Wunderwelt“-Gefühle (Jensen 1902: 106) in den Augen der weltoffenen, naiven und phantasiebegabten Jugendlichen – im Grunde nicht zuhause sind, auf den sie aber gleichwohl Besitzansprüche erheben, die der Text auf kolonialpolitischer Ebene bekräftigt. Ähnlich zwiespältig ist Jensens Erzählung in ihrer Darstellung der Afrikaner. Einerseits wird der Sklavenhandel ausdrücklich und wiederholt als „[e]ine ungeheure Barbarei“ und „unsagbarer Greuel“ (Jensen 1902: 20, 68) verurteilt; die beiden jugendlichen Protagonisten zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie eine – charakteristischerweise weniger negroid wirkende – Sklavin befreien, die ihnen dann später ihrerseits das Leben rettet und ihnen durch ein Goldgeschenk die sichere Heimkehr ermöglicht. Andererseits ist die Sprache, in der die Afrikaner der Erzählung dargestellt werden, an Rassismus kaum zu überbieten. Selbst für die mit offenen Augen erlebende Didde Addena „gehörten die schwarzen Leiber keinen Menschengeschöpfen an, sondern – mit alleiniger Ausnahme Jebbas [der befreiten Sklavin, D.G.] – nur einer auf zwei Beinen gehenden Abart wilden, afrikanischen Gethiers“ (Jensen 1902: 190). Erfolgreiche Kolonisierung ist auf dieser Grundlage nur als gewaltsame Unterdrückung, radikale Zivilisierung oder vollständige Verdrängung denkbar, doch für diese imperialen Strategien bestehen im frühkolonialen Kontext des frühen 18. Jahrhunderts weder die machtpolitischen noch die wirtschaftlichen und ideologischen Voraussetzungen. Die fehlende Unterstützung des Zentrums (Berlin) für das „halb traumhaft weltvergessene Dasein“ der niedergehenden Kolonie (Jensen 1902: 23) ist hier ein Leitmotiv des historischen Erzählens, das bei allem Regionalpatriotismus auf spätere ‘Dolchstoßlegenden’ vorausweist. Im Hinblick auf die Unterschiede zwischen regionenspezifischen ÜberseeDiskursen lohnt sich ein kurzer vergleichender Blick auf Jensens 33 Jahre früher entstandene Erzählung Unter heißerer Sonne (1869), die in Venezuela spielt und Elemente der Lateinamerika- und Karibik-Diskurse mit einer markanten TropenTopik mischt. Hier reist ein junger Bremer Arzt und Naturforscher zu einem einst im väterlichen Bremer Handelshaus geschulten kreolischen Kaufmann am Orinoko, um dort im Urwald Naturstudien anzustellen. Nach nur einer Woche kehrt er fluchtartig zurück, nachdem er sich in dieser ebenso schönen wie chaotischen

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und schrecklichen Tropenwelt der Hitze und Leidenschaft sowohl physisch verirrt hat – beinahe endet sein Ausflug in den Dschungel im Tod – als auch moralisch: Seine leidenschaftliche Gastgeberin wird seine Geliebte und schließlich, zurück in Deutschland und nach ihrer Scheidung, seine Frau, so dass der als katastrophisch inszenierte Zusammenstoß der Welten am Ende überraschenderweise, aber programmrealistisch versöhnt wird. In völligem Widerspruch zur exotistischen Ausgrenzung der südamerikanischen Tropenwelt und dem durchgängig rassistischen Blick auf die indianische und afrikanische Bevölkerung sowie der skeptischbornierten Darstellung der kreolischen Oberschicht schenkt die Venezolanerin dem kühlen Deutschen jenen Funken Leidenschaft, der ihm allererst Liebe, Familie und bürgerliches Glück ermöglicht. Obwohl beide Texte hinsichtlich ihres Exotismus, ihrer Tropenmotivik und ihrer rassistischen Anthropologie überein kommen, unterscheiden sie sich zum Einen in ihrer politischen Kartographie – von einem deutschen Anspruch auf den lateinamerikanischen Raum ist anders als für Afrika nie die Rede –, zum Anderen in ihrer Benennungspolitik: Spanische Namen für Orte, Naturphänomene und kulturelle Praktiken werden selbstverständlich verwendet und, zusammen mit anderen spanischen Ausdrücken (nicht immer in korrekter Schreibung) als ein Stück landeskundlicher Realismus zitiert: Der „Orinoco“ (Jensen 1869: 1, 105) wird spanisch geschrieben,6 der Protagonist Dr. Friedrich Woldmann ist der „Sennor naturalista“ (Jensen 1869: 4), „Dulces“ heißen die „Süßigkeiten aus Zitronat“ (Jensen 1869: 30) und „Covija“ die nächtliche Wolldecke (Jensen 1869: 42), „Iglesia de la resurreccion“ heißt eine Kirche (Jensen 1869: 86), „que barbaro“ (Jensen 1869: 37), „Prodios“ (Jensen 1869: 85) und „Santa virgen, welche Hitze!“ (Jensen 1869: 17), rufen die Figuren aus. Anders als bei Gutzkow werden Pflanzennamen dagegen weithin in deutscher bzw. lateinischer Form gegeben (z.B. in der Urwaldbeschreibung, Jensen 1869: 6f., 178, 218). Anders als Brandenburgs Pavillion hoch! steht Unter heißerer Sonne noch nicht im Zeichen des deutschen Kolonialimperialismus, und die vorgängige spanische Kartierung und Benennung wird als Teil des auf Lateinamerika bezogenen Regionaldiskurses bekräftigt statt – wie im Falle Afrikas – skeptisch hinterfragt oder ersetzt. Wie bei Gutzkow besteht allerdings wiederum ein diskursives Spannungsverhältnis zwischen konkretem geographischen und sprachlichen Wissen und den Dichotomien des Exotismus.

|| 6 Wiederum werden alle fremdsprachlichen Namen und Wörter durch Antiqua im Frakturtext auch druckgraphisch als fremd markiert.

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5 Wilhelm Raabe: literarische Reflexionsräume zur Kulturgeschichte des Kolonialismus Wie flexibel etablierte Regionaldiskurse gleichwohl sein können, zeigt im Vergleich mit dem Venezuela von Jensens Unter heißerer Sonne der Karibik-, Lateinamerika- und Brasiliendiskurs in Raabes Novelle Zum wilden Mann (1874). Die Landkarte dieser Novelle ist zwar dreipolig wie in Meister Autor, doch sind die Valenzen gegenüber der klassischen Trias von Metropole, Provinz und Welt verschoben. Wie Florian Krobb (2009: 133–159) und andere gezeigt haben, ist Brasilien hier der Raum der Moderne, die – in Gestalt des deutschen Auswanderers August Mördling alias Dom Agostin Agonista – die koloniale Konstellation von Europa und Übersee umkehrt: Indem Agonista seine einstige Schenkung von 9500 Talern von seinem vermeintlichen Freund Philip Kristeller mit erheblichen Zinsen zurückfordert, bringt er den Apotheker in einem deutschen Harzdorf an den Rand des Bankrotts, zumal er sich auch das Rezept für dessen einmaligen Likör aneignet, um diesen in Brasilien industriell zu fertigen und global zu vertreiben. Das scheint ihm lukrativer als die zunächst geplante Produktion von Brühwürfeln nach dem Vorbild des Liebigschen „Fleischextrakt-Institut[s]“ in Fray Bentos in Uruguay (Raabe 1973: 235). Das Kaiserreich Brasilien ist in Raabes kritischem Reflexionsmodell kolonialer Expansion und kapitalistischer Globalisierung also der deutschen Provinz überlegen und beutet sie aus – aber, und dies ist entscheidend, in Gestalt eines deutschen Auswanderers, der die Voraussetzungen jener Gewalt, die er nun auf seine einstige Heimat anwendet, als Sohn eines Henkers von dort aus bereits mitgenommen hatte. Damit kommt als dritter Pol der symbolischen Landkarte der Novelle jene höhere Harzgegend mit dem „Blutstuhl“ ins Spiel, dem mythischen Berg der entscheidenden Begegnung zwischen den beiden Figuren in ihrer Jugend und Ort der Identitätskrise, in der Mördling sich zur Auswanderung entschloss. Zwischen dem Henkerberuf und dem heidnischen „Blutstuhl“ auf der einen Seite und der diabolischen Gewalt der Karibik und Lateinamerikas auf der anderen bestehen in der Novelle untergründige Bezüge, die die Dichotomie von Eigenem und Fremdem unterlaufen. Mördlings Weg führt ihn zunächst nach Nordamerika und dann von dem deutsch benannten „Neu-Orleans“ aus (Raabe 1973: 218) mit der chilenischen Marine in die Karibik und in eine Militärkarriere in Venezuela, Paraguay und Brasilien. Die hintergründig als Begegnung mit dem Teufel berichtete Gefangenschaft durch die „Niggerpiraten“ auf einem „Schiff der Republik Haiti“ (Raabe 1973: 204) gleich auf der ersten Seereise unterstreicht die Tatsache, dass die Karibik und Lateinamerika hier zunächst als stereotyper Abenteuerraum

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entworfen sind, bevor das konkurrierende Bild eines modernen Brasilien Gestalt gewinnt. Die Adresse, mit der Agonista Kristeller seine brasilianischen Pläne schmackhaft zu machen sucht – „Sao Paradiso, – Provinz Minas Geraes, Kaiserreich Brasilien“ (Raabe 1973: 238) –, ist mit ihrem mutmaßlich fiktiven, als ironische Kritik hypertropher Auswanderungswerbung gemeinten Ortsnamen ein Beispiel dafür, wie Lateinamerika – in Deutschland weiterhin kolonial imaginiert, hier jedoch dargestellt als ein moderner Staat mit globalen Wirtschaftsambitionen – in Zum wilden Mann zwischen exotistischer Topik und konkretem Übersee-Wissen changiert. Eine ähnliche symbolische Kartographie verwendet Raabe in dem Gründerzeit-Zeitroman Prinzessin Fisch (1883), in dem ebenfalls, wie im Falle Mördlings alias Agonistas und Mynheer van Kunemunds, ein Namenswechsel die Ausgangspunkte und Rückwirkungen der kolonialen Expansion im heimischen Raum vor Augen führt: Als „Pionier im alten abgebrauchten Europa und noch dazu im speziellsten Vaterlande und sozusagen an seiner eigenen Wiege“ (Raabe 1979: 300) kehrt Alexander Rodburg alias „Captain Redburgh from Mobile U.S.“ (Raabe 1979: 252) aus Amerika in den nach Bad Harzburg modellierten deutschen Provinzort zurück, um als Agent der „neue[n] Zeit“ (Raabe 1979: 247), als „welt- und menschenkundige[r], glorreiche[r] Eroberer von Ilmenthal und Umgebung“ (Raabe 1979: 313) die sprunghafte Modernisierung des Ortes in einen „neuen internationalen Badort“ (Raabe 1979: 278) voranzutreiben und zugleich von ihr zu profitieren (vgl. Göttsche 2009). Die Metropole ist als dritter Ort hier durch die städtischen Touristen präsent, die es allererst möglich machen, dass es im einst beschaulichen „Ilmenthal an der Ilme“ (Raabe 1979: 194) „nicht mehr von Nachbar zu Nachbar“ geht, sondern „mächtig, sozusagen, von Erdteil zu Erdteil“ (Raabe 1979: 247). Nordamerika ist hier also – dem aufkommenden neuen AmerikaBild entsprechend – nicht mehr, wie noch in Die Leute aus dem Walde (1862), der Raum der Freiheit und Abenteuer, sondern Motor einer kapitalistischen Modernisierung, die die einst von Europa ausgegangene koloniale Dynamik „mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit“ (Raabe 1979: 302) auf Deutschland zurückwendet. Entscheidend ist hinsichtlich der Komplexität dieser Modernisierungskritik auch hier, dass die Verschaltung von Provinz, Metropole und Welt vermittels der Rückkehrerfigur über einfache kulturkritische Antithesen von ‘Heimat’ und Welt hinausgeht. Über Rodburg heißt es ausdrücklich: „Und alles brachte er verbessert mit, was er an Talenten und Finessen schon von uns auf den Weg mitgenommen hatte“ (Raabe 1979: 372). Die deutsche Provinz ist kein einfaches Opfer von kolonialer Globalisierung und urbaner Modernisierung, sondern sie hat ihren eigenen Anteil an der fundamentalen „Verwandlung der Welt“ (Osterhammel 2009).

32 | Dirk Göttsche Auch in Prinzessin Fisch spielt darüber hinaus Lateinamerika eine Rolle, in diesem Fall Mexiko und der vergebliche Versuch, Maximilian von Habsburg als Kaiser von Mexiko zu installieren als Beispiel fehlschlagender neokolonialer Machtpolitik. Wie der heranwachsende Protagonist Theodor Rodburg dem Roman u.a. dazu dient, im Sinne der Bildungsromantradition Reiz und Risiken exotistischer Projektion und jugendlicher Abenteuerlust zu reflektieren, so evozieren seine neuen Nachbarn in seinem einstigen Elternhaus, der „Kaiserlich Mexikanische Kriegszahlmeister Don José [Joseph] Tieffenbacher aus Bödelfingen“ (Raabe 1979: 244), also ein weiterer Remigrant, und seine exotisch-erotische mexikanische Frau Romana mexikanische Geographie, Kultur und Politik. Vor allem der Bericht über Romanas Vorgeschichte und ihre Verbindung mit Alexander Rodburg (Raabe 1979: 331–336) spielt in einem zwischen Mexiko-Stadt, Queretaro und Verakruz durchaus real gezeichneten Raum; der Roman changiert in seinem Lateinamerika-Diskurs einmal mehr zwischen Realitätseffekten auf der Basis gewachsenen Welt-Wissens und symbolischen Zuschreibungen aus der Tradition von Exotismus und Tropen-Topik (vgl. Raabe 1979: 337), die von fern an Jensens Unter heißerer Sonne erinnern. Ähnliches gilt aber auch für die komplexe Landkarte von Meister Autor, wo vermittels der Familiengeschichte des in Bremen „im Schüsselkorb“ (Raabe 1973: 29) geborenen Schwarzen Deutschen Ceretto Meyer der eingangs analysierten Konstellation von Metropole, Provinz und der Welt des holländischen Kolonialismus eine weitere Extension hinzugefügt wird, nämlich die heute mit Paul Gilroy (1993) als „Schwarzer Atlantik“ uminterpretierte Welt des kolonialen Dreieckshandels zwischen Afrika, Karibik bzw. Amerika und Europa. Ceretto Meyer zufolge kam sein Urgroßvater aus „Abu Telfan im Tumurkielande“, bevor er „in Puerto Principe auf Kuba“ die Urgroßmutter aus „Banza Sonjo“ im „Lande Kongo“ kennenlernte (Raabe 1973: 46). Der Weg der Eltern von Kuba nach Bremen ist weniger klar benannt; „der schwarze Philosoph“ des Romans (Raabe 1973: 128) selbst hat „als Koch oder Steward die Welt befahren“ und als „wilde[r] Meß- und Jahrmarktsindianer“ (Raabe 1973: 29) in der kolonialen Unterhaltungsindustrie gearbeitet, bevor er in Mynheer van Kundemunds Dienste trat, um dann vom Erzähler als „gute[r] Genius“ in seinen Haushalt übernommen zu werden (Raabe 1973: 156). Während Puerto Principe, das heutige Camagüey, jedoch ein realer Ort ist, bleibt der Status von Banza Sonjo unklar; vielleicht handelt es sich um eine Kontraktion aus zwei in historischen Reiseberichten verwendeten Namen benachbarter Orte im Kongoraum: Banza Nokki und Condo Sonjo.7 Betrachtet man Meyer || 7 Vgl. James Hingston Tuckey & Christen Smith (1818): Narrative of an expedition to explore the river Zaire, usually called the Congo in South Africa in 1816 [...]. London: John Murray, 312;

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zusammen mit van Kunemund und Schaake, so entwirft der Roman also drei sehr unterschiedliche, sich ergänzende Karten gelebter Welterfahrung, die jeweils von Deutschland ihren Ausgang nehmen und hier auch wieder ihr Ziel finden. Abu Telfan und das Tumurkieland, obwohl auf der von Raabe für seinen Roman Abu Telfan verwendeten Afrikakarte verzeichnet, sind in Meister Autor jedoch vor allem intertextuelle Rückverweise auf diesen früheren Roman, mit dem der spätere hier ebenso in Verbindung gesetzt wird wie dann in Stopfkuchen durch den Namen des Schiffes, auf dem der Erzähler Eduard in seine neue Heimat Südafrika zurückkehrt: Leonhard Hagebucher – das war der Name des Protagonisten des Romans Abu Telfan mit seiner (ähnlich wie bei Gutzkow) zwischen konkretem Welt-Wissen und den Modellbildungen des Kritischen Exotismus changierenden Kartographie. Meister Autor und Stopfkuchen sind damit Beispiele für die Vernetzungen, die Raabe zwischen seinen Texten herstellt, indem er Problemstellungen, Motive, Figuren und Namen wörtlich oder sinngemäß wieder aufgreift und so in einen werkübergreifenden Reflexions- und Arbeitsprozess einordnet. Es ist dies ein Aspekt seines selbstreflexiven Erzählens, das sich mithin auch den symbolischen Landkarten seiner Texte und ihrer Verschaltung von europäischen und außereuropäischen Räumen einschreibt. Diese selbstreflexive Ebene seiner literarischen Kartographie und Namensgebung unterstreicht einmal mehr, dass das Interesse sich weniger auf die außereuropäischen Welten als solche richtet, als auf ihre Bedeutung für den heimischen Raum. In dieser Brechung aber setzt Raabe sich ausführlich mit dem zeitgenössischen Kolonialismus auseinander, indem er zugleich, anders als sein Freund und Konkurrent Jensen, Distanz zur entstehenden Kolonialbewegung hält. Keiner seiner einschlägigen Texte geht so weit wie Gutzkows frührealistische Novelle Der Prinz von Madagaskar in der Modellierung konkreter Kolonialpolitik, aber Gutzkows liberaler statt nationaler Blick steht Raabe zweifellos näher als der exotistische, bürgerlich-nationalistische und rassistische seines Zeitgenossen Jensen. Die bloße Präsenz von Übersee-Welten in der literarischen Kartographie realistischen Erzählens sagt also noch wenig über die symbolischen Landkarten der Texte und ihr Verhältnis zu kolonialer Raumaneignung und Benennungspraxis.

|| https://books.google.co.uk/books?id=aj1kAAAAMAAJ&pg=PA312&lpg=PA312&dq=banza+sonj o&source=bl&ots=wAyCkL5U2U&sig=oEl8D_Y73mCMkhXF4b_u7jQtbSs&hl=en&sa=X&ei=iYKj Ve67GIvd7Qb4_6ToDw&ved=0CD0Q6AEwBQ#v=onepage&q=banza%20sonjo&f=false (Zugriff 13.7.2015). Der Kommentar der Braunschweiger Ausgabe vermutet „Bangui Zongo am mittleren Ubangi“ (Raabe 1973: 465).

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Literaturverzeichnis Beller, Manfred & Joep Leerssen (eds.) 2007. Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam/New York: Rodopi. Campbell, Gwynn. 2005. An economic history of imperial Madagascar, 1750–1895. The rise and fall of an island empire. Cambridge: Cambridge University Press. Dunker, Axel. 2008. Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München: Fink. Gilroy, Paul. 1993. The Black Atlantic. Modernity and double consciousness. London: Verso. Göttsche, Dirk. 2005. Der koloniale ‘Zusammenhang der Dinge’ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht. Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft. 53–73. Göttsche, Dirk. 2009. ‘Pionier im alten abgebrauchten Europa’. Modernization and colonialism in Raabe’s Prinzessin Fisch. In Dirk Göttsche & Florian Krobb (eds.), Wilhelm Raabe. Global themes – International perspectives, 38–51. London: Legenda. Göttsche, Dirk. 2013a. ‘Tom Jensen war in Indien’. Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur des Realismus. In Roland Berbig & Dirk Göttsche (eds.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, 17–52. Berlin: de Gruyter. Göttsche, Dirk. 2013b. Gutzkow in postkolonialer Sicht. ‘Der Prinz von Madagaskar’ zwischen kritischem Exotismus und kolonialer Zeitgeschichte. In Wolfgang Lukas & Ute Schneider (eds.), Karl Gutzkow (1811–1878). Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit, 123–147. Wiesbaden: Harrassowitz. Gutzkow, Karl. 1834. Novellen, Bd. 2. Hamburg: Hoffmann & Campe. Jensen, Wilhelm. 1869. Unter heißerer Sonne. Berlin: Ullstein o.J. Jensen, Wilhelm. 1902. Brandenburg’scher Pavillion hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit. Berlin: Emil Felber. Krobb, Florian. 2009. Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt. Würzburg: Königshausen & Neumann. Osterhammel, Jürgen. 2009. Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck. Parr, Rolf. 2014. Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz: Konstanz University Press. Raabe, Wilhelm. 1973. Sämtliche Werke, Bd. 11. Herausgegeben von Karl Hoppe, bearbeitet von Gerhart Mayer und Hans Butzmann [Braunschweiger Ausgabe]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 1973, besorgt von Karl Hoppe und Rosemarie Schillemeit. Raabe, Wilhelm. 1979. Sämtliche Werke, Bd. 15. Herausgegeben von Karl Hoppe und Jost Schillemeit, bearbeitet von Karl Hoppe, Hans Oppermann und Kurt Schreiner [Braunschweiger Ausgabe]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl. 1979, besorgt von Rosemarie Schillemeit. Said, Edward W. 1978. Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul. Said, Edward W. 1994. Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen. Frankfurt am Main: Fischer. Uerlings, Herbert. 2006. „Ich bin von niedriger Rasse“. (Post-) Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau.

Linda Maeding

Arche Noah am Paraná. Modelle kolonialer Raumaneignung in Döblins Amazonas-Roman Der Amazonas als Raum der Möglichkeiten Zusammenfassung: In Der blaue Tiger, Teil der von Alfred Döblin im Exil verfassten Amazonas-Trilogie, rückt mit der Idee eines „indianischen Kanaan“ ein Kolonisationsvorhaben ins Blickfeld, das den Siedlungsbau mit einer symbolisch-utopischen Raumaneignung verbindet. Mit Blick auf die jesuitischen Praktiken von Raumkonstitution und -benennung soll der Entwurf eines christlichen „Indianerreichs“ am Beispiel der Missionsgründungen als Utopie eines Staates im Staate untersucht werden. In diesem Kontext werden auch Döblins ExilPositionen in der Diskussion über den jüdischen Neuterritorialismus sowie seine Idee eines „Neuen Juda“ einbezogen: Die programmatischen Überlegungen zu einem möglichen Ende der Galuth bilden eine Folie für die Raumprojektionen aus dem Amazonas-Roman. Schlagwörter: Amazonas, Döblin, koloniale Raumaneignung, Jesuitenmission

1 Einleitung In einem Brief an das spanische Königspaar vom 7. Juli 1503 konstatiert Kolumbus mit Blick auf seine zurückliegenden Entdeckungsreisen lakonisch, „el mundo es poco“ (zit. nach Todorov 1989: 15). Die Welt ist klein, die Enge der Welt ist für den überaus frommen Christen nun eine auch empirisch begründete Erfahrung. Todorov geht in seiner noch immer wegweisenden Studie über die Eroberung und das Problem des Anderen davon aus, dass die Welt seit 1492 eine geschlossene sei. Viele zeitgenössische Texte über Amerika vermitteln jedoch eine gegenteilige Wahrnehmung – der Raum wird bei Ankunft auf dem Kontinent im Zeichen der Überwältigung erfahren: als unüberschaubar und undurchdringbar. Die von Südamerika ausgehende Faszination ist durchaus mit dieser Vorstellung einer überwältigenden Raumerfahrung verbunden. „[D]as erste koloni-

|| Linda Maeding: Universität Bremen, FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Bibliothekstr. 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected]

36 | Linda Maeding ale Liebesobjekt der Deutschen“1 (Zantop 1999: 21), von dem seit dem 16. Jahrhundert zahlreiche conquista-Schriften, Reiseberichte, Erzählungen und Schauspiele zeugen, speise einen ebenso kolonialen wie nationalistischen Diskurs, und es war der Raum Südamerikas, Urwald und Gebirge im Wechsel, der zu einer wichtigen Projektionsfläche für diesen Diskurs wurde. So verwundert es nicht, dass Naturschilderungen in der deutschsprachigen Südamerikaliteratur zentral sind. Im Falle des Amazonas sind sie zudem an einen äußerst suggestiven Namen gebunden, der an ein kollektives Imaginäres appelliert: „Der bloße Aufruf des Namens Amazonas genügt, um jene exotische Vorstellungs- und Bilderwelt vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen“ (Werkmeister 2011: 193). Auch in Alfred Döblins Amazonas, entstanden zwischen 1935 und 1937 im Pariser Exil und 1938 im Exilverlag Querido veröffentlicht, nehmen die Raumbeschreibungen, verbunden mit symbolisch codierten Raumbenennungen, eine äußerst prominente Rolle ein. Im ersten Band der Trilogie, Land ohne Tod, erzählt Döblin von der Ankunft der Eroberer im Amazonasbecken und der Unterwerfung der in sich äußerst differenziert und heterogen dargestellten indigenen Bevölkerung. Der blaue Tiger handelt von der Missionierung des Amazonasbeckens durch die Jesuiten: Aus dem Urwald, den die ersten Ordensbrüder durchqueren, wird ein der Natur abgetrotzter Staat im Staat. Der dritte Band springt abrupt ins Europa der 30er Jahre – sein Raum ist Der neue Urwald, wie der Titel verlautet. Ich beschäftige mich im Folgenden mit der komplexen Darstellung kolonialer Räume in den ersten zwei Teilen von Amazonas: Zu untersuchen ist zunächst die Praxis kolonialer Erstaneignung südamerikanischer Räume durch die Konquistadoren, dann in scharfer Abgrenzung dazu die Erzählung von der Jesuitenrepublik, die – außerhalb der Literatur – als „eines der stimulierendsten utopischen Experimente der abendländischen Geschichte“ (Hausberger 2004: 80) gewürdigt wurde. Die jüngere Historiographie stellt zwar stärker als ihre Vorgänger heraus, dass die Jesuitenmissionen Teil und nicht Opponent des kolonialen Unternehmens waren und setzt an, den historischen „Mythos“ zu korrigieren (vgl. Hausberger 2004: 86–90). Diese Entwicklung verringert jedoch nicht das Erkenntnisinteresse, das sich an der Narration von der Jesuitenrepublik entzündet, die Döblin in Momenten großer Bedrängnis im Exil am Schreibtisch entwirft. Dass der Autor den Amazonas im Allgemeinen und die Jesuitenrepub|| 1 Kaiser Karl V. hatte den Welsern, in späteren Berichten gleichgesetzt mit den Deutschen, das Recht eingeräumt, im heutigen Venezuela und Kolumbien Kolonien zu errichten. Das zwischen 1528 und 1555 vorangetriebene Vorhaben scheiterte, die Rechte fielen daraufhin zurück an Spanien.

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lik im Besonderen als einen alternativen Raum begreift, der von der kolonialen Herrschaft nicht vorgesehene Möglichkeiten eröffnet, lässt sich sowohl poetologisch – die Tropen im Doppelsinn als „Inventar von literarisch-ästhetischen Figuren wie als spezifisch geographischer Raum“ (Werkmeister 2011: 194) – als auch politisch – unter Berücksichtigung der zeitnah entstandenen Aufsätze Döblins über die jüdische Diaspora – lesen. Beide Deutungszugänge gilt es im Folgenden zu berücksichtigen, liegen sie doch auch im Leitbild des Amazonas in gegenseitiger Durchdringung vor.

2 Der Amazonas als Raum des Übergangs Noch vor Vespuccis Entdeckungsfahrten hieß es 1494 bereits, das entdeckte Land – frei von Zivilisation und Religion – entferne sich so weit von allem Bekannten, dass es notwendigerweise als „nuevo mundo“ bezeichnet werden müsse (vgl. McAlister 1985: 92). Was bedeutet es im Einzelnen für die Konstitution des kolonialen Raums, wenn diese in einer „neuen Welt“ stattfindet, in dem (Siedlungs-)Raum nicht umstrukturiert, umgewidmet oder neu benannt, sondern überhaupt erst geschaffen wird? Die koloniale Aneignung von Raum wird hier als Aneignung einer naturhaften Umwelt betrachtet, in der die Kolonisatoren antreten, Geschichte erst zu begründen – dies gilt insbesondere für die Räume der Amazonas-Trilogie, die, fernab der amerikanischen Hochkulturen, nur schwach besiedelt waren und zumindest Döblins Kenntnisstand zufolge hauptsächlich von nomadischen Stämmen bewohnt wurden. Der AmazonasRaum, auf den bald nach Ankunft der Europäer die gegensätzlichen und sich dennoch überlagernden Bilder der „grünen Hölle“ und des „Urparadieses“ projiziert werden, erweist sich nach Eintritt in die Geschichte des Okzidents in erster Linie als ein mythischer Raum – mythisch in seiner Wirkung auf die Europäer (vgl. zu dieser Relation Hildenbrandt 2011: 207–278). Am offensichtlichsten zeigt sich dies in der Benennung der Region als „Amazonas“. In diesem Sinne bindet der Autor die Region durch die romaneröffnende Figur der Amazonen2, die der Kapitän Francisco de Orellana auf seiner Entdeckungsfahrt 1541 an den Ufern zu entdecken meinte, programmatisch an Europa – als Gegenbild und Korrektiv, um am Ende des Kapitels über Orellanas Flussfahrt alle Spuren

|| 2 Vgl. zu den Amazonen der Neuen Welt die alten, aber quellenreichen Erläuterungen von Gandía (1929: 71–101).

38 | Linda Maeding der Eroberer zu tilgen: „Der Strom rollte nach Osten und schrie auf das Meer hinaus: Ihr seid nicht dagewesen!“ (Döblin 2014: 85). Döblin hat sich in seinem umfangreichen Werk vielfach und auch vor dem Exil bereits mit außereuropäischen Schauplätzen und Themen beschäftigt. Auffällig ist das Interesse für Großräume, das sich in Manas (1927) am Durchqueren des afrikanischen Kontinents zeigt, in Berge Meere und Giganten (1928) planetarisch ausgeweitet wird und in Amazonas nach eigener Aussage motiviert wird durch die prächtigen Südamerika-Atlanten und umfangreichen Kartensammlungen, die er in der Bibliothèque Nationale im Jahr 1935 eher zufällig entdeckte, die aber einer alten Neigung entgegen kamen. Döblins Blick geht nicht ins Kleinteilige, sondern ins Großflächig-Epische: Schoeller wies darauf hin, dass Amazonas eine „ungemeine Raumerweiterung“3 betreibe, in der geographische Entfernungen „souverän missachtet“ (Schoeller 2011: 461) werden. Der Natur gilt das erste Interesse, den Menschen erst in Ableitung von ihr. Über das „Wunderwesen“ Amazonas heißt es bei Döblin, „[s]ein Ufer, die Tiere und Menschen gehörten zu ihm.“ (Döblin 1977a: 446f.). Erst von dieser Fixierung auf den Naturraum aus kann er die Trilogie zu „eine[r] Art epischer Generalabrechnung mit unserer Civilisation“ (Döblin 1989a: 352) deklarieren. Die Anthropomorphisierung der Natur ist strategisches Mittel dieser Abrechnung mit einem krisengeschüttelten Europa, das Döblin bis zur Eroberung zurückverfolgt. Über den verlustreichen Marsch des Eroberers Quesada durch das Gebirge heißt es hier: Unermeßlich weinten und brüllten um sie die Wälder. Sie hörten nichts davon. Die Bäume, die starben und versanken. Die Winde, hochgeschleudert, ihr schreiender Schmerz, abschmelzend von Schnee und Eis die Bäche. Leidend alles. Und die Rehe und die schweren Vögel. Es knarrten die Stämme, die Äste krachten, das zehrende Wasser troff. Schreckliche, sprachlose Welt. Die Würger und Schänder schritten hindurch. (Döblin 2014: 113)

Genährt wird diese sprachlose, weinende Welt – Döblin unterlässt eine genauere geographische Verortung systematisch, wenn Natur inszeniert wird – von der „Hüterin des Landes“ (Döblin 2014: 645), ein Bild, das vielfach neu angestimmt wird, etwa wenn der Strom das Land „[m]it tausend Flüssen, Flüßchen, Bächen, Kanälen, Seen durchdringt [..], [er] taucht in den Boden ein wie im Leib einer Schwangeren die Adern in den Mutterkuchen“ (Döblin 2014: 609). Die Eroberer bewegen sich in diesem organischen Raum als vom „wilde[n] Europa“ (Döblin 2014: 196) ausgeworfene Männer, deren Werden und Vergehen nur beiläufig Erwähnung findet, denn „hier geht es rasch mit Leben und Sterben, es wird || 3 Vgl. Leucht (2016) für die Popularität von Auswanderungs-, Kolonisations- und Raum-Phantasien in der deutschen Literatur der 1930er Jahre.

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geboren und vernichtet, die Flüsse werfen ihr Wasser hin und trocknen ein, die Hitze nimmt sich der Berge an und zerbröckelt die Steine“ (Döblin 2014: 107). In dem von zahlreichen Perspektivwechseln gekennzeichneten ersten Band wird, wenn die Narration eindringt in den Amazonas, auch ein ‘naturalisierender’ Blick auf die Menschen geworfen, sodass die Bewohner zum „Gewächs“ (Döblin 2014: 502) werden. Der Raum dieser beseelten Natur selbst wird mitunter zur Erzählinstanz – Honold (2013) spricht zutreffend von den Geonarrativen in Döblins Werk. Anders als die autochthone Bevölkerung, die sich im Wald einrichtet, versuchen die Eroberer ihn nur zu durchqueren, nicht ihn sich anzueignen: „Land, Strom und die Menschen, sie fühlten und berührten sich, sie kannten und wußten nichts voneinander“ (Döblin 2014: 101). Später dann, wenn es nicht mehr in erster Linie um das Entdecken und Erobern geht, sondern das Besiedeln im Vordergrund steht, wird der Amazonas weiter als Hindernis angesehen. Der koloniale Raum ist nun einer, der sich jenseits von Europa und außerhalb der Urwälder konstituiert. Ausgespielt wird vor allem der Gegensatz der neuen Welt zum krisengeschüttelten Europa. Dieses neue Land der Kolonisierenden ist prosaischer als der Naturraum. Die Inbesitznahme der eroberten Region schildert Döblin, indem er den bürokratischen Aneignungsakt ausstellt: Der Gouverneur bückte sich, rupfte Gräser aus und nahm nach der ersten provisorischen Protokollierung das Land endgültig für Spanien in Besitz. Das Land, schrieb sein Staatsschreiber auf, soll Neu-Granada heißen, die Stadt Heiliger Glaube, Santa Fe. Darauf zogen sie, die Hüte in den Händen, in die neue Kirche ein. (Döblin 2014: 186)

Die Jesuiten achten derweil anders als die weltlichen Kolonisatoren auf einen profilierten symbolischen Gehalt der Toponyme – ohne die Umgebung selbst bei der Benennung zu berücksichtigen, wird die Stadt Piratininga, in der die Weißen noch keine Zeit gefunden hatten, sie „gemeinverständlich zu benennen“, umgetauft: Die frommen Väter riefen den Ortsgeistlichen, den Bürgermeister, den Richter und den Staatsschreiber zusammen. Und da ihr schlimmes Schiff am Vortage des Festes der Bekehrung des heiligen Paul eingelaufen war, nannte Bruder Emanuel de Nobrega, der Obere, den neuen Ort – damit der Ort wie Paulus aus einem Verstockten ein Bekehrter werde – San Paolo. (Döblin 2014: 301)

In scharfem Kontrast dazu erhebt sich weiterhin der Naturraum, der das koloniale Streben nach Benennung und Fixierung zunichtemacht und daher zum Rückzugsort wird nicht nur für die indigene Bevölkerung, sondern auch für Figuren wie den als „Indiofreund“ in die Geschichte eingegangene Bischof Bar-

40 | Linda Maeding tolomé de las Casas und die ersten Jesuitenpater, die ich als Überläufer bezeichnen möchte: Der Urwald bildet sich hier heraus als transkultureller Ort, an dem Grenzen überschritten werden können – im Verborgenen, bevor diese Prozesse gesellschaftlich bekannt, geschweige denn akzeptiert sind. Nur hier sind auch Phantasien möglich, wie sie de las Casas spinnt, der sich aus diesem verborgenen Dickicht heraus den moralischen Protest gegen die imperiale Kolonialmacht zu imaginieren erlaubt. Seine Entfernung von den Landsleuten und die parallele Annäherung an die Indios findet bei Döblin räumlichen Ausdruck – mittels seines Einzugs in den Urwald, aus dem er im Roman anders als in der Wirklichkeit nicht mehr herausfinden wird –, sprachlich darf sein Überlaufen im Brief an die Brüder in Spanien nur als Bestürmung durch „unaussprechliche Gedanken“ (Döblin 2014: 249) kodifiziert werden. Erst unter den Jesuiten, die de las Casas Jahrzehnte später folgen, wird der Raum von Weißen und „Dunklen“, wie sie bei Döblin heißen, stellenweise zu einem gemeinsamen Raum.

3 Die christliche Republik „Raum für alle hat die Erde, und ungeheuer viel Land“ (Döblin 1977b: 145)

Die Jesuiten erreichten das heutige Brasilien im Jahr 1549 und waren zunächst nicht federführend bei der Christianisierung der indigenen Bevölkerung. Ihnen blieben nur als schwierig geltende, dünn besiedelte Randzonen (Hausberger 1995: 35). Bedrängt von den weltlichen Autoritäten und in zunehmender Entfremdung von der Kolonialgesellschaft zogen die Padres 1609 aus, um in den Wäldern Indios zu missionieren, und errichteten im heutigen Paraguay am Fluss Paraná erste Siedlungen: die sogenannten Reduktionen, die beinahe 160 Jahre lang bis zur Ausweisung der Jesuiten aus Lateinamerika Bestand hatten. Die mit hart erkämpften Sonderrechten ausgestattete „Jesuitenrepublik“, ein neu entstandener sozialer Raum mit dem Charakter einer dörflichen Gemeinschaft, durfte nur von Ordensangehörigen und Indios betreten werden. Ständig bedroht von den Bandeirantes, den für die Erschließung des Landesinneren verantwortlichen Expeditionstrupps, wurden die rasch auch wirtschaftlich prosperierenden Siedlungen nicht nur wiederholt Ziel von Überfällen, sondern gerieten auch in zunehmende Konkurrenz zum weltlichen Kolonialsystem. Kolonialherren kritisierten, dass die Jesuiten ihnen die Arbeitskräfte auf den Plantagen streitig machten; Vorwürfe wurden laut, die Bewohner der Siedlungen würden zur Revolte gegen die Kolonialmacht angestachelt (vgl. Vogel 2004:

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142f.). Dass der koloniale Staat schließlich selbst die Missionen auflöste, trug zweifellos zu ihrem Ruf als gegenkoloniales Modell bei. Auch bei Döblin erfahren wir nichts von den kolonialen Funktionen der Mission, von Herrschaftserweiterung und Grenzsicherung. Der Autor versteht den Jesuitenstaat offensichtlich als ein faszinierendes kommunitaristisches Projekt. Doch spielen bei Döblin noch andere Aspekte in seine augenscheinliche Sympathie hinein, obwohl ihm während seiner umfangreichen SüdamerikaStudien in der Bibliothek eine ganze Reihe antijesuitischer Schriften zur Verfügung gestanden haben müssen. Der Exilant erblickte in der Jesuitenrepublik eine völlig neue Form der Raumkonstitution; einen Raum, der sich nicht in seine Umgebung einfügt, sondern sich ihr entzieht. Die Jesuitenrepublik macht keinen territorialen Eigentumsanspruch geltend, obwohl sie ihr Gebiet für die weltlichen Kolonisatoren unzugänglich hält. Die Siedlungstoponymie zeigt bereits an, wie weit dieses Projekt ins Außerweltliche hineinragt – oder umgekehrt: sie zeigt den Anspruch an, das Reich Gottes auf der Erde zu verwirklichen; nicht an einem beliebigen Ort, sondern in den Kolonien. Das „indianische Kanaan“ (Döblin 2014: 381) nennt es Döblin.

3.1 Flucht und Sammlung Im Roman lassen sich zwei Phasen der Missionierung ausmachen. Die erste Phase ist mit dem Auszug der Jesuiten aus den Städten bezeichnet, der Sammlung einer zunehmenden Zahl an Indios und den sich daran anschließenden Wanderungen durch die Wildnis auf der Suche nach einem geeigneten Ort zum Bleiben. Die zweite Phase entspricht der Konsolidierung und hermetischen Abdichtung des Vorhabens: Eine neue Generation an Jesuiten, weniger schwärmerisch und stärker pragmatisch ausgerichtet, wird inmitten indigener Gemeinschaften sesshaft und schottet die Siedlungen festungsgleich gegen die Außenwelt ab. Damit eröffnet dieser zweite Amazonas-Band einen Resonanzraum für andere Arbeiten Döblins, die er im Aufsatzband Flucht und Sammlung des Judenvolkes Ende 1935 publizierte und in denen er die Siedlungsfrage mit dem Ziel erörtert, der Diaspora ein Ende zu bereiten (vgl. für eine umfassende Analyse Leucht 2016). Während in seinen frühen in Jüdische Erneuerung (1934) publizierten Aufsätzen zur „Judenfrage“ topographische Aspekte nur gestreift werden, rückt die Frage der Landnahme und der Gründung von Kolonien für das bedrohte Volk nun stärker ins Blickfeld. Am Bild der Jesuitenrepublik werden wiederum Forderungen und Ziele des jüdischen Neuterritorialismus verarbeitet bzw. literarisch transponiert, darunter nicht nur das Versprechen der mit Landnahme

42 | Linda Maeding verbundenen geistigen Erneuerung. So lässt sich wohl erklären, warum Kolonisation im zweiten Amazonas-Band als Praxis, die die Erde bearbeitet und fruchtbar macht, positiv konnotiert ist. In dem Aufsatz Was ist das Neue Juda? schreibt Döblin, so sehen wir doch deutlich, genau wie die Kolonialvölker im Kriege […], wohin die berühmte Kultur der machtvollen Staaten führt. Wir haben eine entschiedene Abneigung, Nachahmer oder Konkurrenten unserer bisherigen Herren und Sklavenhalter zu werden. (Döblin 1977b: 157)

Jenseits von Assimilation und Emanzipation sah der Autor die Notwendigkeit einer neuen Zeit gekommen, die mit einer Neuordnung von Raum einhergehen müsse. Im Roman vollziehen die Jesuiten dafür die Bewegungen, die Döblin auch in seinem politischen Engagement vorsieht: Absonderung und Landgewinnung. Hier reflektiert der Autor die jüdische Aufbruchsbewegung – die Möglichkeit „[a]ußereuropäische[r] Kolonisation“ (Döblin 1977b: 149) –, für die er sich Anfang der 30er Jahre engagierte. An dieser Stelle möchte ich mich kurz mit der ersten Phase, dem Auszug, beschäftigen. Nie sind sich Europäer und Indios so nah wie auf der Wanderschaft. Die von beidseitigen hermeneutischen Fehlleistungen geprägte Kontaktzone wird zu einem Raum des Übergangs, in dem beide sich nicht mehr gegenüberstehen, sondern zunächst eine Zweckgemeinschaft bilden. Hier verändern der Amazonas und seine Bewohner die Jesuiten, nicht umgekehrt die christliche Religion die Indios: So gesteht die nach de las Casas zweite Überläuferfigur des Romans, der junge Pater Mariana, seinem Oberen, den „dunklen Menschen“ in den Wald folgen zu wollen: „Ich mußte mich förmlich bezwingen, nicht mit ihnen zu laufen. […] Ich weiß nicht, wo ich mich fassen soll“ (Döblin 2014: 336). Ähnlich hatte de las Casas eine intensive Annäherung an die „Wilden“ durchlebt und war dafür in den Kampf mit deren Umwelt, dem Wald, getreten: „Wer ist stärker: Christus oder der Wald?“ (Döblin 2014: 240). Für die Weißen muss der Wald ein Raum des Transits bleiben, in dem sie auf Führung durch ihre ‘Schützlinge’ angewiesen sind. Nachdem der tiefste Wald durchschritten ist, schildert Döblin in Anspielung auf die Bibel, allerdings geographisch adaptiert, paradiesische Szenen: In dem weiten Tag, das das köstliche Wasser des Paraná durchfloß, in dem Tal der Orangenhaine, Zuckerrohr-, Maniok- und Maispflanzungen, der Kirchen- und Friedensgesänge, rückten sie vor. Die wallenden Grasflächen der Savanne durchschritten sie, […] man sah Bäume, die man sonst nicht fand. (Döblin 2014: 459)

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Die ersten Jesuiten machen in der Provinz Guayra Halt. Es ist die Zeit der Erwartungsfreude, die auch die Errichtung der ersten Siedlung durchzieht: „Jetzt wird Christentum gebaut. Wir bauen es in Holz und Lehm, und in Matten, zum Schlafen, und in Straßen“ (Döblin 2014: 426). „Kolonisatoren wider Willen“ (Döblin 2014: 424) lautet der Titel des Kapitels über die ersten Siedlungsgründungen, die offenbar vom ‘Volk’ betrieben und von den zunächst zweifelnden Padres schließlich mitgetragen werden. Das Vorbild des „Neuen Juda“, wie es Döblin essayistisch entwirft, ist in die Schilderung dieser Mission eingeschrieben: Was will nun der Jude von der Welt, wieviel von der Welt, welche Welt? […] Wer von uns möchte leben, ohne diese echtesten Fragen an die Welt gestellt zu haben? Wir möchten einen Fleck im Garten dieser Erde, um uns einzurichten, wie wir es müssen. Man glaube nicht, daß wir auf „Nation“ aus sind. Wir lassen den anderen Völkern […] den Stolz ihrer ‘Staatlichkeiten’ […]. Es geht um den Tempel, um Zion. Und wir fühlen, daß es auf uns liegt, dem Unnennbaren wieder einen Ort zu bereiten. (Döblin 1977b: 127f.)

Die Padres denken dabei in christlicher Symbolik: Einer der neuen Orte soll Sankt Michael heißen, überlegen die Väter bei der Beratung über die Namensgebung; „und wer will, soll sich dagegen als Drache probieren“ (Döblin 2014: 432). Der Plan einer „christlichen Republik“ gewinnt mit zunehmender Gefahr von außen an Dringlichkeit. Als der Pater dem Bischof meldet, die Indios müssten dem schlechten Einfluss der Weißen entzogen werden, antwortet der Bischof: „Wißt ihr denn nicht, wo ihr lebt? Im Mond? Fließt der Paraná im Mond, was?“ (Döblin 2014: 452). Tatsächlich ist es nicht nur die christlich interpretierte platonische Idee, den idealen Staat zu errichten, die Döblin hier offenbar literarisch umsetzen will, sondern konkret die Vorstellung, ein unterdrücktes und landlos gewordenes Volk finde sein Refugium: Die Mission ist daher in dieser Phase kein koloniales Teilsystem, sondern das „Indianerland am Paraná“ (Döblin 2014: 612). Die zahlenmäßig weit unterlegenen Väter übernehmen zwar Leitungs- und Unterrichtsfunktionen, wohnen aber in den gleichen Häusern wie die Indios. Privateigentum oder Zahlmittel gibt es nicht. Auf dieser Grundlage entsteht ein – alttestamentarisch formuliertes – „ehrliches Bündnis“ (Döblin 2014: 426): Die Indios waren nun, einmal sesshaft geworden, eine „Glaubensgemeinde“. Wie sich die indígenas den Raum aneignen, den sie auf andere Weise als die Jesuiten als Refugium verstehen, erfahren wir im Roman nur vermittelt. Es sind urchristliche Eigenschaften, die mit ihnen assoziiert werden: Die erste Siedlung ist angefüllt mit Entzücken bis hin zur Ekstase, die Aufteilung zwischen Wohnraum

44 | Linda Maeding und Kirche wird hinfällig. „Es gehörte alles zum Glauben“ (Döblin 2014: 428).4 Das Schluchzen ist Teil der täglichen Messe. Für die Jesuiten ist ihre erste Ansiedlung eine Burg (Döblin 2014: 505), für Außenstehende ein „zweiter Kirchenstaat, aus der Erde gestampft“ (Döblin 2014: 555). Für die Indios dagegen ist es ein Fluchtpunkt. Die Jesuiten verstehen den der Krone abgetrotzten Raum als symbolische Ordnung, die zwischen dem menschlichen Alltag und der christlichen Lehre vermittelt. Die bekehrten Indios verstehen den Ort als allumgreifendes Reich, in dem das Christentum sinnlich erfahrbar ist und allen Elementen innewohnt: Die dunklen Leute verschmolzen ihren Wohnort, das Haus, die Straße, die vielen neuen Gegenstände mit den Lehren. Drollige Namen gaben sie den Dingen. Da gab es kein Haus, es war die Höhle auf der Flucht, der schwere Nagel, der das grobe Holz durchbohrte, wurde beschworen, nicht wehzutun […], er hieß „Fürchte dich nicht“. (Döblin 2014: 428)

In Flucht und Sammlung gibt Döblin eine Sendung aus, in der sich das dargestellte Raumempfinden programmatisch gefasst wiederfindet: „Wir wollen die Sonne, den Himmel, die Sterne, Bäume, Pflanzen, Tiere und unser Leben in dieser Welt. Und das ist mehr als ein politischer Wille, sondern ein Grundgefühl“ (Döblin 1977b: 117). Dieses Grundgefühl wird in Amazonas als primitives Denken umgesetzt, dem sich auch die Jesuiten als Teil der Gemeinschaft nicht entziehen können und das sie als stetige Verführung wahrnehmen, angesichts derer sie der Natur ihre „unerbittliche Ordnung“ (Döblin 2014: 604) aufzuprägen suchen. Doch die eigentliche Bedrohung kommt für Döblin von außen und verstärkt den Charakter der Jesuitenmissionen als „Einkapselungen“ (Döblin 2014: 521) in Raum und Zeit. Dies lässt sich auch an der Benennungspraxis nachvollziehen: „Jerusalem“ wird zur leuchtenden Formel, zum errettenden Namen in der Not. Die christliche Toponymie, die in Amazonas dahingehend radikalisiert wird, dass die ausgewählten Benennungen formelartig Kernbotschaften des Christentums enthalten, dient den Jesuiten jedoch auch als Mittel gegen den Abgrund einer gar nicht christlichen Überwältigung, in den die synkretische Raum- und Gemeinschaftserfahrung sie zu werfen drohen.

|| 4 Siehe auch hier die Parallelen: In Flucht und Sammlung bezeichnet Döblin das Galuthjudentum als „ein zweites Christen …, ja ein Überchristentum“ (Döblin 1977b: 105).

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4 Vom indianischen Kanaan zur Arche Noah: die Abdichtung „Und was wird die Juden, so wie sie nun einmal heute sind, dann im neuen Land zusammenkitten, so daß sie nicht auseinanderlaufen?“ (Döblin 1977b: 94)

Die evozierte Unwirklichkeit des Jesuitenstaats in strategisch entrückten Räumen – abseits der weltlichen Macht wie der bedrohlichen Natur – findet in Amazonas bereits toponymisch in der ersten Ansiedlung ihren Ausdruck. Als „Jerusalem“ beginnt die Republik, als ersehnte Heimstätte und Endpunkt des Umherziehens. Nachdem „Jerusalem“ als irdisches Gottesreich gescheitert ist – es wird von den Kolonisatoren zerstört –, gründen die Überlebenden ihre neuen Siedlungen im Zeichen der Arche Noah:5 Und dies wurde unausgesprochen – denn man ängstigte sich, an Dinge drüben in Europa zu rühren – der große Plan der neuen Siedlungen, die zwischen dem Parana und Uruguay entstanden: eine Arche Noah bauen. […] Die neuen Reduktionen schützen, die Planken der Arche dichten, auf das Schiff so viele Dunkle führen, wie man konnte, Türen und Fenster rechtzeitig schließen: das war das Leitwort ihrer Arbeit. (Döblin 2014: 491)

Die enorme zeitgenössische Kritik an der selbstgewählten Isolation der Jesuitenmission, die zu allerhand Spekulationen einlud, führt Döblin erneut über in konzentrierte Symbolik. Das antijesuitische Bild der aufwiegelnden Jesuiten, die ihre kleine Republik auf den gesamten Globus expandieren wollen, dreht Döblin um; der Hass fällt bei ihm von außen ein auf das Schiff der nun militarisierten Mission: „Die Arche Noah war dicht gemacht. Die Flut konnte kommen. Sie schwemmte um sie. Die Arche würde schwimmen und die Vernichtung überdauern“ (Döblin 2014: 498), spricht der neue Obere Montoya. Doch je umfangreicher die Maßnahmen der Abschottung – die Indios lernen nicht etwa Spanisch, sondern Latein in den Siedlungen –, desto sichtbarer das fragile Gebilde, das wie ein „Gespensterschiff“ in der „realen Welt“ (Döblin 2014: 629) schwimmt. Während „Jerusalem“ noch einen Zwischenraum der weltlichen und

|| 5 Auch an dieser Stelle ist mit Blick auf die Essays über das Judentum der übereinstimmende Bilderfundus auffällig: In Flucht und Sammlung (Döblin 1977b: 132) ist vom „Schiff des Judenstaates“ die Rede.

46 | Linda Maeding geistlichen Topographie, zugleich innerhalb und außerhalb der chronologischen Zeit verhieß,6 kann die Arche Noah nur von begrenzter Dauer sein: Man kann ein Haus so dicht machen, wie man will, man kann es aus Steinquadern bauen, Türen und Fenster vermauern und das Haus in einen Felsen versenken: die Quadern werden eines Tages gesprengt auch ohne Kanone, Luft, Licht, Wasser dringen ein; man lebt nicht allein in dieser Welt. (Döblin 2014: 589).

Ein Blick in die reale Kolonialgeschichte zeigt, dass nur einige Ansiedlungen die Ausweisung der Jesuiten überdauert haben. Als langlebiger erwiesen sich die Namen der Missionen, von Apóstoles bis zu Villa Reducción, beide in Nordargentinien. Die Namen der Reduktionen waren und sind, sofern sie für spätere Ansiedlungen beibehalten wurden, in der Mehrheit christlich,7 ohne freilich in den meisten Fällen das symbolische Potenzial zu besitzen, das sie in Amazonas ausspielen. Döblin verwendet die realgeschichtlichen Toponyme zwar teils, konzentriert sich aber vor allem auf eine metaphorische Benennungspraxis, die die Siedlungsnamen überwölbt und das Vorhaben in ein utopisches, dann endzeitliches Licht rückt: Kanaan, Jerusalem, Arche Noah. Auf letztere folgt die Schließung der Mission. Bevor die Gesellschaft Jesu 1773 durch den Papst aufgehoben wird, verlassen die Jesuiten 1767 die spanischen Kolonien. Ein Teil der Indios flüchtet zurück in die Wälder, über 1600 Padres werden nach Spanien deportiert. Als sie in Europa eintreffen, initiiert der niederländische Priester Cornelius de Pauw mit seiner Abhandlung Recherches philosophiques sur les Americains (1768–1770) gerade die rasch sich ausweitende Debatte über die Degeneration des amerikanischen Naturraums, die in die Historiographie als Polemik über Amerika eingeht.

5 Schlussbemerkung Raum ist in Döblins Amazonas-Trilogie eine zentrale Kategorie, an der mehrere für die postkoloniale Forschung relevante Problematiken verhandelt werden können. Ausgangspunkt ist dabei stets der polyzentrische Großraum der süd|| 6 Vgl. Kohlheim (2012/2013: 360), dem zufolge Toponyme „auch zur Repräsentation von Zeit dienen [können]. Dies kann jedoch kaum verwundern, wenn man sich die Abhängigkeit unserer Zeit- von der Raumvorstellung vergegenwärtigt.“ 7 In der heute argentinischen Provinz Misiones, deren Namen auf das frühere Gebiet der Jesuitenrepublik verweist und in der sich elf der dreißig Missionen befanden, existieren z.B. noch eine Reihe von Toponymen, die an die Siedlungen erinnern. Siehe dazu Schmitt (2000: 373).

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amerikanischen Natur, der in ganz unterschiedliche Räume aufgefächert wird – in Lebenswelten für indigene Kollektive und Europäer. Ihre Aneignung durch koloniale Akteure ist bei Döblin durch starke Symbolik gekennzeichnet – wobei die im Falle der Jesuitenrepublik durch eine aus dem Christentum schöpfende Benennungspraxis produzierte Symbolik letzten Endes auch der Einhegung des Fremden und Naturhaften dient. Der Wald selbst kann symbolisch nur insofern besetzt werden, als er auf Distanz gehalten wird – als „grüne Hölle“. Eine eigentliche Aneignung versagt hier aber, soweit er nicht in einen Kulturraum umgewandelt wird. Anstelle der Aneignung der Tropen tritt bei Döblin das implizite Programm, die Tropen zu denken: So wird der Amazonas selbst ebenso wie seine Bewohner durch die zahlreichen Perspektivenwechsel im ersten Band zur Erzählinstanz, die sich den Eroberern widersetzt.8 Das primitive Denken besteht unter anderem darin, anstelle eines symbolischen Sich-der-Natur-Bemächtigens unvermittelt-sinnliche Wege der Erfahrung einzuschlagen, die bei Döblin nicht nur den indigenen „Urchristen“ eigen sind, sondern auch den ersten nomadischen Jesuiten und europäischen Überläufern. Kiesel (1986: 240) spricht auch von einem „suggestive[n] ‘Primitivismus’“, der eben nicht nur ein Attribut der „Eingeborenen“ ist, sondern – das ist das Entscheidende hier – auch den Schreibstil Döblins prägt. Im Roman wird der Amazonas aufgrund seiner vielgestaltigen Räume zur integrierenden Kraft eines kulturell diversen und multilingualen Raums, den neuere kulturgeographische Studien in ihm sehen, und zu einem Raum des Übergangs. Wenn aus der Gegenerzählung der Natur9 ein Kulturraum wird wie im Falle der Mission, so verhindert gerade der primitive Stil die Reproduktion der dichotomischen Trennung von Natur und Kultur, die in dem Werk mitunter erkannt wurde. Zwar wird das koloniale Unterfangen durchaus dargestellt als Opponent des Naturraums; die Kolonisatoren kämpfen gegen die Natur an oder ignorieren sie bestenfalls. In diesem Sinne erweist sich auch die Jesuitenrepublik als koloniales Vorhaben, das der Natur eine „unerbittliche Ordnung“ aufprägt. Doch dass hier dennoch eine ganz anders konnotierte koloniale Raum-

|| 8 Auf die postkolonial relevante Problematik der Stimmenverteilung und der Stellvertreterreden kann hier nicht näher eingegangen werden, obwohl sie selbstverständlich fassbar ist im Roman. In seinem eng auf Amazonas bezogenen Aufsatz Prometheus und das Primitive (1938) plädiert der Autor für eine viel besprochene Aufwertung des Primitiven gegenüber der prometheischen Neuzeit. 9 Werkmeister (2012: 173) untersucht, wie Döblin ausgehend von den in der Pariser Bibliothek vorgefundenen Kolonialgeschichten eine „contra-historia“ zur conquista verfasst, die Materialien also in ihr Gegenteil verkehrt.

48 | Linda Maeding ordnung entstehen kann, liegt am utopischen Potenzial dieser Erzählung, das in formelartigen Namen kondensiert und vom Autor fiktional ausgespielt wird. Schließlich ruft uns der Autor mit der Jesuitenmission nicht nur ein im Rahmen des Kolonialismus stehendes und sich zugleich von ihm abhebendes Modell der Raumaneignung ins Gedächtnis, das historisch keine Kontinuität hatte. Sein Werk macht gerade in der Verschränkung mit dem politischen Engagement Döblins auch anschaulich, wie Literatur Namen – hier Siedlungsnamen – semantisch aufzuladen vermag und einen Überschuss an Bedeutungsmöglichkeit produziert. „Jerusalem“ aktualisiert im Amazonas-Roman 1938 und im weiteren Kontext eines Krisennarrativs Bedeutungssedimente, die der Literatur durch den Rückgriff auf Merkmale der Utopie, durch metaphorisches Schreiben und die ihr eigene Ambiguität zugänglich sind. Dass die Jesuitenmission bei Döblin trotz ihres Ordnungsparadigmas zu einem synkretischen Raum umgestaltet wird, zeugt von der Durchlässigkeit des christlichen Projekts, das den Anderen in die Arche Noah holt und sich von innen her tatsächlich zu einer Utopie gestaltet, die zwar an der kolonialen Wirklichkeit scheitert, in der bedrückenden Situation des jüdischen Exilanten aber literarisch geborgen werden kann. So ist Amazonas einerseits im Eintauchen Döblins in die Gewaltgeschichte der Eroberung als transponierende Auseinandersetzung auch mit der existenziellen Bedrängnis des Judentums zu lesen, andererseits aber auch metaliterarisch als Exemplifizierung der Möglichkeit epischen Erzählens (in einer freilich eigenwilligen Spielart des historischen Romans), untergegangene Räume in eine Konstellation zu setzen zum Erwartungshorizont zeitgenössischer Leser. Hier kreuzen sich politische und poetologische Lektüren des Romans: Die erzählte Macht der Kolonialherrschaft fließt über in die Macht des Erzählens. Der Amazonas generiert dabei metaliterarische Sinnbilder: Sein alles mitreißender und sich stetig erneuernder Strom wird zur Metapher für das Erzählen überhaupt. So nutzt Döblin in dem zeitgleich zur Abfassung der Trilogie entstandenen poetologischen Essay Der historische Roman und wir ausgerechnet ein der westlichen Eroberungsgeschichte entnommenes Bild, um über Literatur zu sprechen: „Mit jedem gelungenen Werk“, so schreibt der Autor, „ist wieder einmal die Erde größer geworden, unser Reichtum ist vermehrt, eine neue Kolumbusfahrt ist geglückt, ein neues Indien entdeckt“ (Döblin 1989b: 309).10 || 10 In Der Bau des epischen Werks spricht Döblin vom „Strom der lebenden Sprache, der der Autor folgt“ (Döblin 1989b: 245). Auch Honold (2014: 880) wertet Amazonas als „Monument des Erzählens, so überbordend wie der Halbkontinent selbst und das ihn ausfüllende Gewässersystem“.

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Anders als der Roman selbst verdeckt die beschauliche Ansage aber die Kehrseite der kolonialen Raumaneignung, wie im Bild der (scheiternden) Arche Noah aufgehoben ist. Auch die in Amazonas vermittelte konstitutive Ambivalenz kolonialer Räume wird hier ausgeblendet: Das neue Indien ist nicht nur ein „Zugewinn“ für die Kolonialmacht, sondern auch ein asymmetrischer Raum, in dem sich neue und in ihrer Wirkung unüberschaubare Relationen zwischen Kolonisator und Kolonisierten entspannen. Gerade unter den in vielen Auslandsmissionen erfahrenen Jesuiten zirkulierte Wissen um das Spiegelverhältnis zwischen der Alten und der Neuen Welt, das lange Zeit unterbelichtet blieb. Döblin barg das Wissen um den Zusammenhang von Europa und Amerika in einem unmittelbar bedrohten Paris, mittels eines Erzählens über das amerikanische Land ohne Tod und den europäischen Urwald: Las Indias de acá und Las Indias de allá.11

Literaturverzeichnis Primärliteratur Döblin, Alfred. 2014. Amazonas. Gesammelte Werke, Bd. 14. Mit einem Nachwort von Alexander Honold. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Döblin, Alfred. 1989a. Schriften zu Leben und Werk. Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg: Walter. Döblin, Alfred. 1989b. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg: Walter. Döblin, Alfred. 1977a. Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Herausgegeben von Edgar Pässler. Olten/Freiburg: Walter. Döblin, Alfred. 1977b. Flucht und Sammlung des Judenvolks. Aufsätze und Erzählungen. Hildesheim: Gerstenberg.

Forschungsliteratur Gandía, Enrique de. 1929. Historia crítica de los mitos de la conquista americana. Madrid: Juan Roldán y Compañía. Hausberger, Bernd. 1995. Jesuiten aus Mitteleuropa im kolonialen Mexiko. Eine Bio-Bibliographie. München/Wien: Oldenbourg Verlag für Geschichte und Politik. || 11 Die Bezeichnungen „hiesiges“ und „dortiges Indien“ entstammen einer Jesuitenkorrespondenz, in der erstere auf Italien bezogen wird: Der Jesuit Miguel Navarro schlug seinerzeit vor, die nach Amerika ausreisenden Missionare aufgrund vergleichbarer Konditionen zuerst im europäischen Sizilien zu schulen (vgl. Oesterreicher 2004: 35).

50 | Linda Maeding Hausberger, Bernd. 2004. Die Mission der Jesuiten im kolonialen Lateinamerika. In Bernd Hausberger (ed.), Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, 79–102. Wien: Mandelbaum. Hildenbrandt, Vera. 2011. Europa in Alfred Döblins Amazonas-Trilogie. Diagnose eines kranken Kontinents. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Honold, Alexander. 2013. Exotisch entgrenzte Kriegslandschaften: Alfred Döblins Weg zum “Geonarrativ” “Berge Meere und Giganten”. In Nicola Gess (ed.), Literarischer Primitivismus, 211–234. Berlin/Boston: De Gruyter. Honold, Alexander. 2014. Nachwort. In Alfred Döblin: Amazonas. Gesammelte Werke, Bd. 14. Mit einem Nachwort von Alexander Honold, 849–882. Frankfurt a.M.: Fischer. Kiesel, Helmut. 1986. Literarische Trauerarbeit: das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins. Tübingen: Niemeyer. Kohlheim, Volker. 2012/2013. Toponyme in der Literatur: Ein kognitivistischer Ansatz. Namenkundliche Informationen 101/102. 352–364. Leucht, Robert. 2016. Neuterritorialismus, Geopolitik und die jüdische Frage. Alfred Döblins Amazonas als Gattungsintervention. Yearbook for European Jewish Literature Studies/Jahrbuch für europäisch-jüdische Literaturstudien 3(1). 86–107. McAlister, Lyle N. 1985. Spain and Portugal in the New World, 1492–1700. Minnesota: University of Minnesota Press. Oesterreicher, Wulf. 2004. Mission am Rande der Alten Welt und die Christianisierung Amerikas. In Sabine Hofmann & Monika Wehrheim (eds.), Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau, 27–43. Tübingen: Narr. Schmitt, Christian. 2000. Die jesuitische Missionierung des Gebiets zwischen dem Alto Paraná und dem Uruguay und ihre Reflexe in der Toponymie und der Ethnonymie. In Bruno Staib (ed.), Linguistica romanica et indiana. Festschrift für Wolf Dietrich zum 60. Geburtstag, 369–382. Tübingen: Narr. Schoeller, Wilfried F. 2011. Alfred Döblin. Eine Biographie. München: Carl Hanser. Todorov, Tzvetan. 1989. La conquista de América: el problema del otro. México/Madrid: Siglo XXI. Vogel, Christine. 2004. Das Thema der südamerikanischen Jesuitenmission in der europäischen Publizistik im Vorfeld der Ordensaufhebung (1758–1773). In Rolf Decot (ed.), Expansion und Gefährdung. Amerikanische Mission und Europäische Krise der Jesuiten im 18. Jahrhundert, 139–160. Mainz: Philipp von Zabern. Werkmeister, Sven. 2011. Die Tropen des Amazonas. Zur deutschen Kulturgeschichte des südamerikanischen Waldes. In Alexander Honold (ed.), Ost-westliche Kulturtransfers: Orient – Amerika, 193–220. Bielefeld: Aisthesis. Werkmeister, Sven. 2012. De la ilegibilidad de lo ajeno. Lectura mágica y escritura mimética en Alfred Döblin. Antípoda. Revista de Antropología y Arqueología 15. 169–191. Zantop, Susanne M. 1999. Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870). Berlin: Erich Schmidt.

Jan Gerstner

Von der Toponymie zum Topos. Tahiti im 18. Jahrhundert Zusammenfassung: Der Beitrag zeichnet, ausgehend von den wechselnden Benennungen Tahitis durch europäische Seefahrer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die Anbindung der Benennung an europäische Konzepte und literarische Topoi bis hin zur metaphorischen Verwendung des Inselnamens innerhalb europäischer Diskussionszusammenhänge nach. Abschließend wird anhand von J. W. Goethes Adaption der Vögel von Aristophanes zum einen gezeigt, inwiefern das Konnotationsspektrum von „Tahiti“ im 18. Jahrhundert textanalytisch fruchtbar eingesetzt werden kann, und dabei – zum anderen – wie sehr die Übernahmen des Namens im europäischen Rahmen mit den Voraussetzungen kolonialer Besitznahme verbunden sind Schlagwörter: Tahiti, 18. Jahrhundert, Literatur, Goethe: Die Vögel, Benennung

1 Einleitung In der reichhaltigen Forschungsliteratur zur Tahiti-Begeisterung des 18. Jahrhunderts findet sich gelegentlich eine durch den Weimarer Kanzler von Müller kolportierte Bemerkung Christoph Martin Wielands, in der dieser Christiane Vulpius mit einer „Otaheitin“ (zit. nach Goldmann 1985: 212, vgl. außerdem Sangmeister 1998: 147), also einer Tahitianerin, vergleicht. Der Vergleich zeigt an, dass der Name Tahiti im 18. Jahrhundert auf mehr referiert als auf eine Insel im Südpazifik und schließlich auch auf Eigenes übertragen werden kann. „Tahiti“ ist, wie Ortrud Gutjahr zusammenfasst, „ein evokativer Name.“ Er „bezeichnet nicht nur eine Insel im Südpazifik, sondern einen seit den Entdeckungsberichten des späten 18. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive zum Paradies verklärten Sehnsuchtsort“ (Gutjahr 2012: 325).1 Richtet sich diese Sehnsucht auf || 1 Zur literarischen Geschichte dieses Sehnsuchtsorts vgl. Lange (1976: 206–250); Thum & Lawn-Thum (1982); Goldmann (1985); Koebner (1993); Sangmeister (1998); Meißner (2006); Dürbeck (2007); im weiteren Kontext von Insel-Vorstellungen vgl. u.a. Brunner (1967), zu Tahiti (Brunner 1967: 119–127); Billig (2010), zu Tahiti (Billig 2010: 122–139). || Jan Gerstner: Universität Bremen, FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Bibliothekstr. 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected]

52 | Jan Gerstner das, was sich Europa versagt und was dort scheinbar möglich ist, so hat das, was „Tahiti“ in diesem Kontext bedeutet, selbstverständlich nicht nur mehr mit Europa als mit dem südlichen Pazifikraum zu tun, sondern in ihr bereitet sich ebenso die Herrschaft über das vermeintliche Paradies mehr oder weniger offen vor. Wenn die europäische Praxis der Benennung fremder Länder mit deren epistemischer und in der Folge oft territorialer Aneignung einhergeht, dann wird die reale Aneignung des Raums hier von der imaginären des Namens ergänzt und vorbereitet. Als Name ist Tahiti damit exemplarisch für einen europäischen Exotismus, der die koloniale Expansion seit ihren Anfängen, und im Spezifischen seit der Aufklärung – im Fall des Südpazifiks also einer präkolonialen Phase – begleitet hat. Die literarische Imagination spricht dies auch in der einfachen Erwähnung des Namens Tahiti deutlich genug aus.

2 Annäherung Nicht der erste, aber für die europäischen Diskurse um die Südsee der folgenreichste (von den Folgen für die Tahitianer ganz zu schweigen) Aufenthalt eines Europäers auf Tahiti war der, den Louis-Antoine de Bougainville im Bericht von seiner Weltumsegelung in den Jahren 1766–69 festhielt. Einige Monate vor Bougainville war bereits der englische Kapitän Wallis mit seiner Mannschaft dort gelandet und hatte die Insel King Georges III.’s Island genannt.2 Bougainville war allerdings anfänglich weder über Wallis’ vorhergehenden Aufenthalt noch dessen Benennung der Insel unterrichtet und scheint auch erst im weiteren Verlauf seiner Reise durch einen auf Tahiti an Bord genommenen Einheimischen namens Aoturu davon erfahren zu haben. Den Namen, den er der Insel beilegte, nennt Bougainville in seinem Reisebericht erst nach dem vorhergehenden Bericht von der Ankunft und der zeremoniellen Besitzergreifung (vgl. Bougainville 2002: 182), zur Einleitung einer ausführlicheren Beschreibung des Lands: „Wir gaben der neu entdeckten Insel anfangs den Namen Neu Cythere […]“ (Bougainville 2002: 185). Diese berühmte || 2 Der Hinweis auf diesen Namen findet sich noch gelegentlich in Texten des 18. Jahrhunderts über Tahiti, z.B. in einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung von Bougainvilles Reisebericht: „Die Inseln, die Bougainville hier beschreibt, sind das Georgsland oder das Prinz Wallisland, wo Wallace [sic] kurz zuvor gewesen und die Lage vor ihm bestimmt hatte. Die Insel Tahiti heißt eigentlich Ota-Haytie und ist das von Wallace so genannte Georgsland. Anmerk. d. Übers.“ (Bougainville 2002: 171 [die Edition basiert auf der anonymen ersten deutschen Übersetzung von 1772]).

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Namensgebung, die sich auf die der Venus geweihte Mittelmeerinsel Kythera bezieht, ist typisch für die Überblendung von Antike-Bezügen und erotischen Wunschphantasien (nicht nur) in Bougainvilles von der Ästhetik des Rokoko geprägten Tahiti-Beschreibung, in der eine junge Tahitianerin, die sich an Deck entkleidet, mit „Venus […], als sie sich dem phrygischen Hirten zeigte“ (Bougainville 2002: 169), verglichen wird und der zufolge im ganzen Land die „Göttin der Liebe […] zugleich die Göttin der Gastfreiheit“ (Bougainville 2002: 176) ist.3 Schon der Name Kythera bringt mit dem Verweis auf Antoine Watteaus Bild „Le pélerinage à l’île de Cythère“ diesen literarisch-künstlerischen Hintergrund in die Benennung selbst ein. Die damit aufgerufene Tradition war den Zeitgenossen sofort präsent. Im ersten literarischen Text zu Tahiti in deutscher Sprache, Justus Friedrich Wilhelm Zachariaes Langgedicht Tayti oder Die glückliche Insel, dürfte die Watteau-Reminiszenz im Hintergrund stehen, wenn es unter Verkehrung der eigentlichen Zwecke von Bougainvilles Reise von der Ankunft auf Tahiti heißt: „Wie klopfte Bougainville dir das Herz, / Da du das Ende deiner Wallfahrt sahst?“ (Zachariae 1777: 13). Zachariae hat schon den einheimischen Namen der Insel für den Titel seines Texts gewählt. Die Wechselfälle der Namensgebung sind im Fall Tahitis generell von Interesse. Philibert Commerson, ein Mitreisender Bougainvilles, der in einem 1769 im Mercure de France abgedruckten Brief die erste öffentliche Mitteilung von Tahiti in Europa machte, schreibt, er habe dem Land „den Namen Utopia beigelegt, den Thomas Morus seiner idealen Republik gegeben“ (Commerson 1980: 365). Das, was Commerson beschreibt, hat nun zwar kaum etwas mit Morus’ puritanisch-bürgerlichem Idealstaat zu tun – denn auch bei Commerson kennen die Tahitianer „keinen anderen Gott als die Liebe; […] die ganze Insel ist ihr Tempel“ (Commerson 1980: 365) –, aber ganz offensichtlich verlangte das, was die Europäer auf Tahiti zu sehen glaubten, eine Anbindung an den eigenen kulturellen Bestand, und das heißt auch an schon vorhandene Namen. Im gleichen Zug aber, wie das neue Fremde hier qua Benennung explizit zur Erfüllung längst gehegter europäischer Wünsche stilisiert wird, wird es in den unverbindlicheren Bereich der schönen Literatur verschoben. Bei den Seefahrern mag das z.T. der Verarbeitung von Fremderfahrung dienen, in der europäischen Rezeption und Wirkung ihrer Schriften ist die Tendenz zur Fiktionalisierung dann aber weitergehend zu beobachten.

|| 3 Für Christiane Küchler Williams können die Reiseberichte über die Südsee, speziell über Tahiti „zum weiten Kreis der Sexualliteratur des 18. Jahrhunderts gezählt werden“ (Küchler Williams 2006: 322).

54 | Jan Gerstner Diese Tendenz war durch Benennungen wie Nouvelle Cythère zwar vorbereitet, der Name, unter dem sie dann erfolgte, war aber der einheimische Name der Insel. „Wir gaben der neu entdeckten Insel anfangs den Namen Neu Cythere, aber künftig mag sie nach den Bewohnern Tahiti heißen“ (Bougainville 2002: 185), fährt Bougainville an der oben zitierten Stelle fort. Angesichts von Bezeichnungen wie Ile des Lepreux für eine Insel, deren Bewohner angeblich „klein, häßlich, übel gebaut und meistens aussätzig“ (Bougainville 2002: 219) waren, ist diese Anerkennung der einheimischen Benennung durchaus bemerkenswert. Allgemein ist die Übernahme einheimischer Bezeichnungen durch europäische Seefahrer im Südpazifik jedoch vergleichsweise häufig. Dass dies allerdings nicht unbedingt aus einem großen Respekt für die Einheimischen oder ähnlichem hervorgeht, sondern ganz pragmatische Gründe hat, erläutert Georg Forster in seinem Bericht von der Weltumsegelung mit James Cook, der in stärkerem Maße die einheimischen Namen verzeichnete: Ich muß bey dieser Gelegenheit anmerken, daß wir es uns zur Regel gemacht hatten, von allen fremden Ländern die wir besuchen würden, allemal die eigenthümlichen Namen welche sie in der Landessprache führen, auszukundschaften, denn allein die sind selbstständig, und nicht so häufiger Veränderung unterworfen als die willkürlichen Benennungen, welche jeder Seefahrer seinen eignen und anderen Entdeckungen beyzulegen das Recht hat. (Forster 1969: 731)

Dass nicht-europäische Namen gerade bei den östlicheren Inseln des Südpazifiks, also v.a. im so genannten Polynesien so häufig sind, mag damit zusammenhängen, dass dieser Teil erst im 18. Jahrhundert von Europäern systematisch erfasst wurde und diese Reisen meist mit dem Ziel einer genaueren Kartographierung unternommen wurden. Ein weiterer Grund für die häufige europäische Übernahme einheimischer Namen in diesem Teil der Welt liegt nach Philippe Bachimon in der geringen Größe der entsprechenden Inseln und der relativen sprachlichen Homogenität der Umgebung, die es erlaubte, den einzelnen Inseln einen einzigen Namen auch sicher zuordnen zu können (vgl. Bachimon 1990: 134–140). Aus den mit der Orientierung an der Landessprache einhergehenden Schwierigkeiten der Transkription und der Ungenauigkeit im Verständnis dürften die starken Variationen des Namens Tahiti im Europa des 18. Jahrhunderts resultieren. Zachariaes Schreibweise Tayti rührt so aus seiner Orientierung an Bougainvilles Bericht her, der die Aspiration zwischen a und i nicht als solche verzeichnete. In einer Anmerkung weist Zachariae darauf hin, dass er diese Schreibweise „des Wohlklangs wegen“ beibehalten habe, „da Otaheiti weit weniger musikalisch tönet, auch noch die Frage ist, ob die Engländer [hier wahrscheinlich auf James Cooks erste Reise bezogen] den Namen recht

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aussprechen“ (Zachariae 1777: 10). Die im 18. Jahrhundert noch weit verbreiteten Varianten O-Taheiti, Otaheiti oder Otahiti erklärt bereits Georg Forster mit dem Hinweis, dass es sich bei dem O um einen bestimmten Artikel vor dem Eigennamen handelt (vgl. Forster 1969: 244; zur genaueren Funktion des O vgl. Coppenrath & Prévost 1975: 35), während für den Diphthong hinter der Aspiration keine vollständig befriedigende Erklärung vorzuliegen scheint. Denkbar wären hier eine Vermischung der Formen Taïti und Tahiti oder die Migration unterschiedlicher nationalsprachlich bedingter Transkriptionen.4

3 Transfer Dass Zachariae sich in seinem Gedicht am Klang des Namens orientiert und die Frage der tatsächlichen einheimischen Bezeichnung mit einem etwas fadenscheinigen Argument beiseiteschiebt, unterstreicht ein weiteres Mal, dass es bei der Faszination für Tahiti um europäische Interessen – und sei es die der poetischen Verwertbarkeit – geht. Die weit verbreitete Begeisterung für die Südsee und speziell für Tahiti im 18. Jahrhundert schlägt sich bekanntlich nicht nur in einer großen Zahl sehr unterschiedlicher Texte nieder, die in der direkten Referenz auf Tahiti zwischen völkerkundlichem Wissen und literarischer Imagination changieren, sondern auch in Kuriosita wie dem oft erwähnten Plan einiger Dichter aus dem Umfeld des Göttinger Hains, in der Südsee eine arkadischdeutsche Dichterkolonie zu gründen (vgl. Sangmeister 1998: 136; Bodi 1983: 225f.; Thum & Lawn-Thum 1982: 12f.; Bersier 1981: 144–146; Lange 1976: 214– 216) oder in Lustorten wie dem otaheitischen Kabinett Friedrich Wilhelms II. auf der Pfaueninsel bei Potsdam (vgl. Meißner 2006: 78f., 92f.). Neben den Schriften und Praktiken, die die Südseeinsel zum mehr oder weniger realen Referenten haben, tritt der Name Tahiti allerdings auch in einer Vielzahl weiterer Kontexte auf, die mit dieser nur konnotativ verbunden sind. In der Rekonstruktion dieser Kontexte wird der Transfer des Namens in einen primär europäischen Imaginationsraum erkennbar, der ihn zwar von seinem Referenten ablöst, darin zugleich aber den Zugriff auf diesen bestimmt.

|| 4 Mückler, der in seiner Liste von Toponymen zu den Inseln Ozeaniens neben Otaheite und Otahiete auch die Variante Taiti verzeichnet, weist in allgemeiner Hinsicht ebenfalls auf die „unterschiedliche[n] Schreibweisen“ hin, „die sich aus der Verschriftlichung von Gehörtem ergaben“ (Mückler 2015: 236).

56 | Jan Gerstner Die Anbindung Tahitis an literarische Traditionen, insbesondere an den Bereich der Idylle, der Schäferdichtung und ihrer „geistigen Landschaft“ (Snell 1976) Arkadien, die bereits in Bougainvilles Reisebericht herein spielt, geht nicht nur mit einer Übertragung entsprechender Topoi auf die südpazifische Insel einher, sondern führt in der weiteren Folge dazu, dass Tahiti selbst sozusagen ins topische Arsenal der Idylle aufgenommen wird. „‘Tahiti’ wird zu einer Chiffre, die den annähernd gleichen Bedeutungsinhalt wie ‘Arkadien’, ‘Insel der Seligen’, ‘Goldenes Zeitalter’ hat“ (Lange 1976: 206). Schon Arkadien, das Land der Schäferdichtung, ist ein Land, das mit der realen geografischen Region Arkadien nichts als den Namen gemein hat. Nun wird Tahiti zur „arkadischen Insel“, wie es in der von Heinrich Wolfgang Behrisch besorgten Übersetzung eines Charakteristischen Völkerlexikons von François Sabbathier heißt – hier verbunden mit der Namensalternative „Georgsinsel oder Otaheite“ (Behrisch 1778: 361) –, oder zum Ort, an dem „unsere Lieblingsträume von Arkadischer Unschuld“ (Wieland 1778: 140) verwirklicht zu sein scheinen. Schon bei Zachariae tanzten die Tahitianerinnen wie arkadische Schäferinnen (vgl. Zachariae 1777: 19). Im Idyllenkapitel von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1813) wird schließlich deutlich, dass Tahiti mittlerweile zum Bestandteil idyllischer Topik geworden ist: […] wie übrigens für die Idylle der Schauplatz gleichgültig ist, ob Alpe, Trift, Otaheiti, ob Pfarrstube oder Fischerkahn – denn die Idylle ist ein blauer Himmel, und es bauet sich derselbe Himmel über die Felsenspitze und über das Gartenbeet, und über die schwedische Winter- und über die italienische Sommernacht herüber […]. (Jean Paul 1990: 261)

Obwohl Jean Paul hier eigentlich die Gleichgültigkeit der Lokalisierung der Idylle betont, wiederholt er die zu seiner Zeit einschlägig besetzten Orte. Damit schlägt der Beleg seiner These um in die Bestätigung, dass die Orte eben nicht gleichgültig, sondern auch konventionell vorgeprägt sind. Es geht hierbei nicht mehr um die Insel in der Südsee – um die es zumindest nominell noch in Texten wie Zachariaes Tayti ging. Tahiti tritt hier an die Seite, partiell schon an die Stelle Arkadiens. Wie Arkadien in der traditionellen europäischen Schäferdichtung wird Tahiti in diesem Kontext zum literarischen Topos, einem für bestimmte Zwecke einsetzbaren Gemeinplatz. Die mit der Einordnung in einen rhetorischen Raum einhergehende referenzielle Unverbindlichkeit ist besonders deutlich in Johann Wilhelm Ludwig Gleims kleinem Gedicht An die Freiheit von 1792. Es beginnt mit den Zeilen: „Kommst du her von Otaheite, / Göttin, so besing ich dich“, um dann deutlich zu machen, wo 1792 die Göttin Freiheit aber nicht herkommen soll: „Aber kommst du von Franzosen / Dann so fleuch nur wieder fort! […] Dann

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so greif ich zu den Waffen, / ‘Weib’, sag’ ich, ‘hinweg von mir!’“ (Gleim 1841: 20). Das, was mit tahitischer Freiheit assoziiert wurde, war eben nicht die tatsächlich zu verwirklichende politische Freiheit, die an einen realen geografischen Raum gebunden war, sondern ein primär literarisch bestimmtes Idealbild, dessen geografischer Referent aus dem Blick gerät. Die Benennung der Insel mit einem einheimischen Namen und die damit einhergehende Ersetzung der europäischen Namen kehrt sich demnach mit der Aufnahme dieses Namens im Europa des 18. Jahrhunderts beinahe um. Tahiti ist nicht nur evokativ wie andere exotische Namen auch, sondern wird konnotativ in den Zusammenhang eines schon mit Kythera aufgerufenen literarischen Komplexes gebracht. Tahiti wird, zugespitzt gesagt, vom Toponym zum Topos und als solcher verwendbar für Aussagen, die etwas anderes als die Insel Tahiti meinen, gleichwohl aber den europäischen Zugriff auf diese bestimmen. Davon ausgehend lässt sich eine metaphorische Verwendung Tahitis in anderen Zusammenhängen verzeichnen, die zum einen natürlich von der Faszination, die die entsprechenden Reiseberichte auslösten, zeugen, zum anderen die wichtigsten Elemente dieser Faszination erkennen lassen. Dirk Sangmeister hat auf den Gebrauch von „‘Otaheiti’ und ‘otaheitisch’ […] als Metaphern bzw. Synonyme“ hingewiesen, „deren Semantik“, wie er meint, „je nach Sprecher schwankte“ (Sangmeister 1998: 145, Anm. 19). Die Beispiele, die er anführt, deuten allerdings eher noch auf ein zwar weit gefächertes, aber doch weitgehend konventionalisiertes, demnach nicht unbedingt sprecherabhängiges Bedeutungsspektrum hin. Am häufigsten scheinen dabei die auch von Sangmeister hervorgehobenen Bedeutungen der größtmöglichen Ferne und der ungehemmten Sexualität zu sein. Hinsichtlich der Ferne kann Tahiti verständlicherweise zunächst als Synonym für das andere Ende der Welt stehen. Wenn Hölderlin am 4. Dezember 1801 in einem Brief an Böhlendorff schreibt: „Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und Nahrungsnot nach Otaheiti triebe“ (Hölderlin 1969: 942), dann dürfte damit weniger, wie in der Forschung vermutet wurde (vgl. Thum & Thum-Lawn 1982: 14), auf Auswanderungspläne angespielt sein, sondern eher auf einen Ort, der für die größtmögliche Entfernung von Deutschland steht. Eine Abwandlung dieser Bedeutung von Tahiti kann wohl auch in den anonym erschienenen Freimüthigen Briefen über die gegenwärtige Verfassung und Regierungsform, Stärke und Schwäche der europäischen Staaten von Johann Traugott Plant gesehen werden. Der angebliche Druckort dieser auch im Vorwort mit ironischen Anspielungen auf die Zensur spielenden Schrift liegt weitab von Deutschland, in „Otahiti“ (Plant 1790). Im Bezug auf Tahiti könnte man hier das publizistische Äquivalent des beliebten erzähleri-

58 | Jan Gerstner schen Schemas eines Tahitianers in Europa sehen, der dort – wie so viele seiner literarischen Kollegen aus anderen Weltgegenden auch – als ‘Edler Wilder’ die Fehler des zivilisierten Europa aufdeckt.5 Auf Tahiti als Ort am anderen Ende der Welt bezieht sich ebenso der Schluss einer allegorischen Geschichte der Schamhaftigkeit von Friedrich Just Riedel. Hier findet die Schamhaftigkeit, nachdem Zeus sie vom Olymp verbannt hat, auch unter den Menschen keinen Platz, nicht einmal mehr bei den Kindern. Am Ende wird schließlich berichtet, dass „neuere Reisebeschreiber […] die Schamhaftigkeit auf der Insel Otahiti ganz einsam angetroffen haben“ (Riedel 1787: 315). Das dürfte auf Tahiti als den letzten Winkel der Erde anspielen, aber die eigentliche Pointe soll wahrscheinlich darin liegen, dass die Schamhaftigkeit nun ausgerechnet dort zuhause ist. Hier kollidiert die Ferne mit dem Gebrauch von Tahiti als Synonym für eine ungezügelte Sexualität. Vor diesem Hintergrund ist wohl Wielands eingangs erwähnter Vergleich von Christiane Vulpius mit einer „Otaheitin“ zu verstehen. Expliziter, auch hinsichtlich der moralischen Wertung, ist Johann Gottlieb Schummels Bemerkung über die Zustände in einer nicht näher genannten Stadt in seiner Schrift Zum Wohl des Staats gebaut auf Zwietracht: „Hat man über Keuschheit etwa otaheitische Grundsätze?“ (Schummel 1798: 13; die Antwort auf die Frage ist übrigens negativ: es ist Schuld der Priester, die „sich so meisterhaft auf das Sündevergeben“ verstehen). Selbstverständlich hängt die Bewertung der sexuellen Freiheit, für die Tahiti hier einstehen muss, vom Sprecher ab, weniger aber die Semantik als solche. Die Ambivalenz von Faszination und Abwehr, die mit der in diesem Sprachgebrauch übernommenen vermeintlichen Sexualmoral auf Tahiti verbunden war, zeigt sich schön in einer literarisch ansonsten zweitrangigen Satire des Schweizer Schriftstellers Johann Bürkli mit dem vielversprechenden Titel Die Otahitische Venus. Der Text ist Teil einer Reihe von fiktiven parodistischen Selbstrezensionen ihrerseits fiktiver Texte unter dem Sammeltitel Schrifttasche eines Genies […] Nach Geniemode von dem Verfasser selber recensiert. Die Rezension des fiktiven Schauspiels Die Otahitische Venus beginnt wenig überraschend mit dem Ausruf „Ein wollüstiger Stoff!“ (Bürkli 1785: 253), um dann der Enttäuschung des angeblichen Dichters über die Unfähigkeit der Schauspielerinnen Ausdruck zu verleihen, diesen Stoff auch mit der gebotenen Natürlichkeit auf|| 5 Vgl. dazu etwa die entsprechenden Seiten in Salzmanns Carl von Carlsberg oder Über das menschliche Elend (Salzmann 1784: 21–29), weitere Hinweise bei Sangmeister (1998: 162–168), oder, als bekanntestes Beispiel, das ohne den Transfer nach Europa auskommt, Diderots Supplément au voyage de Bougainville (Diderot 1994 [1772, publ. 1796]).

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zuführen. Am Ende steht die Versicherung eines theaterkundigen Freundes: „unsere Schauspielerinnen wären zu verfeinert, zu gesittet, zu sanft, die Rollen der Wilden im Naturstande zu spielen. Nur hinter den Coulissen, fügte er lächelnd hinzu, wird Ihr Lustspiel gut aufgeführt werden“ (Bürkli 1785: 254f.). In dieser nicht sonderlich subtilen Pointe treffen zwei funktional widersprüchliche Bezüge auf die vermeintliche tahitianische Sexualmoral anschaulich aufeinander: Einerseits scheint man auf Tahiti einer unverdorbenen Natur zu begegnen, jenseits europäisch-christlicher Vorurteile, auf der anderen Seite erscheint dies als liederliche Sittenlosigkeit, die dann zur Verurteilung europäischer Zustände dienen kann, wie das hier in Form eines satirischen Hinweises auf die losen Sitten der Schauspielerinnen geschieht. Die Ambivalenz prägt allgemein die Bezugnahmen auf Tahiti, unabhängig davon, ob sich die Aussagen auf die Insel direkt beziehen oder sie im metaphorischen Sinne verwenden. So kann Tahiti recht unspezifisch als Bild eines glücklichen Gemeinwesens herangezogen werden, etwa, wenn Jean Paul von Weimar als einem „otah[eitischen] Ufer“ (Jean Paul 1958: 272) spricht, oder Justus Möser in einem Aufsatz, der eine Art von Kleinstutopien entwirft, die sich in jedem einzelnen Städtchen verwirklichen lassen sollten, davon spricht, man könne auf diese Art an jeder Station einer Reise „ein neues Otaheite“ (Möser 1778: 71) finden. Bei Möser ist dieser Tahiti-Bezug offenbar in erster Linie von der Idee einer idealen Gemeinschaft, die auf Reisen anzutreffen ist, motiviert, denn ansonsten hat sein Sozialentwurf, bei dem Arbeit ein zentraler Aspekt ist, wenig mit den üblichen Tahiti-Projektionen zu tun. Konventioneller und weniger metaphorisch ist der Tahiti-Bezug in einem anderen Text Mösers, wo die Pazifikinsel explizit der Notwendigkeit zum Arbeiten in Europa bzw. Westfalen entgegengesetzt wird und die hier extensiver zitiert sei, weil sie konstitutive Elemente europäischer Tahiti-Imaginationen gedrängt versammelt: Jedoch gesetzt, wir wohnten auf Otaheiti, wo die Brodfrucht auf den Bäumen wuchs, und jeder nur den Mund aufthun durfte, um satt zu werden; wo die Einwohner den ganzen Tag in der Sonne liegen, und nicht anders aufstunden als um Comedien zu spielen, oder zu tanzen; wo Jungen und Mädgen sich beständig im Grase wälzten, und die Königinn mit ihren Hofdamen den Engländern immerfort in die Arme lief; wo Essen und Trinken und Schlafen die einzige Berufsarbeit war […]. (Möser 1786: 29)

Dieses Panorama europäischer Phantasien eines tahitianischen Lebens veranschaulicht noch einmal, wie sehr das Tahiti der Reiseberichte durch europäische Konzepte überformt ist. Bei Möser ist das darin entworfene Bild noch durchaus positiv konnotiert, obgleich relativistisch auf den Ort beschränkt, dem dieses Leben „angemessen“ (Möser 1786: 30) ist. Anders verhält es sich bei einem Autor wie Kant, für den gerade wegen der „ruhigen Indolenz“ der Tahitia-

60 | Jan Gerstner ner die Frage, „warum sie denn gar existieren“ (Kant 1983b: 805), kaum befriedigend zu beantworten ist. Im Kontext der späten Aufklärung wird mit dem idealisierten Bild Tahitis eine Lebensform evoziert, die der historischen Perfektibilität des Menschen diametral entgegensteht. Dass die Gegenüberstellung von fauler Genügsamkeit und tätigem Streben zentrale Elemente des kolonialen Zugriffs auf außereuropäische Gesellschaften präfiguriert, muss nicht eigens betont werden. Die Tahiti- und Südseesehnsüchte der Zeit galten in diesem Kontext denn auch als entleerte Träumerei. Diese Perspektive bestimmt bereits Forsters Reise um die Welt – besonders deutlich interessanterweise an der Stelle, an der er das Leben Tahitis mit einem Zitat aus Ramlers Bearbeitung von Ewald von Kleists Frühling am deutlichsten an den Komplex europäischer Idyllik heranführt (vgl. Forster 1969: 597f., dazu Gerstner 2015: 67–69) –, und sie bestimmt selbstverständlich auch Kants Ablehnung eines „sorgenfreien in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten Lebens; – eine Sehnsucht die die Robinsone und die Reisen nach den Südinseln so reizend macht“ (Kant 1983a: 101), oder Daniel Jenischs Erwähnung von Cooks Entdeckungen, die mit der Aufforderung schließt, die bessere Welt nicht in der Südsee zu erträumen, sondern in Europa selbst zu schaffen (vgl. Jenisch 1799: 100).

4 Salto mortale Die mit der Erwähnung Tahitis aufgerufenen Konnotationen sind, wie gezeigt, äußerst reichhaltig und komplex. Im Namen der Insel konzentrieren sich die Topoi, die mit der Ersetzung der europäischen Benennungen durch den einheimischen Namen auf diesen übertragen wurden, so dass mit Tahiti ein Komplex von Glücksvorstellungen aufgerufen ist, der sich nicht einfach – auch wenn dies zur Semantik Tahitis im 18. Jahrhundert dazugehört – auf den Gegensatz Natur und Zivilisation reduzieren lässt. Mit den Bereichen der Sexualität und des Müßiggangs stehen in Europa nicht einfach verpönte, sondern als Teil des Zivilisationsprozesses versagte Glücksmöglichkeiten im Fokus.6 Die Konnotation größtmöglicher Ferne ist auch vor diesem Hintergrund nicht unwichtig.

|| 6 ‘Zivilisation’ hier als kulturspezifische Perspektive: Aus europäischer Sicht wurde die Organisation von Bereichen wie Sexualität und Arbeit auf Tahiti offenbar nicht erfasst, sondern in eine eurozentrische Anthropologie eingepasst; so wie auch der Bereich des ‘Verpönten’ im Rahmen des halbwegs Akzeptablen blieb (von Homosexualität bspw. ist in den Reiseberichten nicht die Rede).

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Wenn nun also mit der reinen Erwähnung des Namens Tahiti oder einem seiner Derivate dieser Komplex als zumindest virtuell präsent angenommen werden muss, sollte dies über eine Bestandsaufnahme hinaus auch an einem literarischen Text erwiesen werden können, in dem von Tahiti auf den ersten Blick nur durch eine kurze namentliche Erwähnung die Rede ist, der aber ansonsten scheinbar nichts mit Tahiti und den Reisen dorthin zu tun hat. Gerade die strukturelle Komplexität literarischer Texte kann die semantischen Bezüge eines Lexems wie Tahiti in einer Weise entfalten, die in anderen Diskursen so oft nicht realisierbar ist. Als Beispiel hierfür soll Goethes freie, teilweise aktualisierende Bearbeitung von Aristophanes’ Vögeln dienen, die er 1780 für eine Theateraufführung der Weimarer Hofgesellschaft auf der Ettersburg erstellte. Wie bei Aristophanes geht es hier um zwei Menschen, Treufreund und Hoffegut, die ihre Heimatstadt auf der Suche nach einem besser organisierten Gemeinwesen verlassen – was in diesem Fall heißt: eine Stadt, in der man sie frei zum Essen lädt, ohne Rückforderungen Geld verleiht und nicht eifersüchtig auf die eigenen Töchter und Ehefrauen achtet (vgl. Goethe 2006: 318–321 u. die Lesart 688–689). Rat, wo eine solche Stadt zu finden sei, erhoffen sich die beiden Tunichtgute von einem Uhu, der als „Criticus“ bekannt ist, und von einem Papagei, genannt „der Leser“, bedient wird. Das Stück scheint sich hier zunächst zu einer Literatur- und Rezensentensatire zu entwickeln, bis sich der Uhu auf Treufreunds und Hoffeguts Vorstellungen von der idealen Stadt hin empört zurückzieht. Nach einem kurzen Zwischenspiel treten recht unvermittelt Massen von Vögeln auf, die die beiden Menschen als ihre Feinde töten wollen, bis Treufreund sie mit einer ausgefeilten Rede besänftigen und dazu überreden kann, mit ihm als Anführer nun die Herrschaft über den Luftraum zu übernehmen und sich so Menschen und Götter untertan zu machen. Mit der begeisterten Zustimmung der Vögel endet das Stück, dessen Fortsetzung Goethe offenbar plante, aber nie ausführte. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die List, mit der sich Treufreund Gehör bei den anfangs so bedrohlichen Vögeln zu verschaffen weiß: Er behauptet, selbst, ebenso wie Hoffegut, ein Vogel zu sein: Die Seefahrer vom Südpole haben uns mitgebracht. Dieses ist der Otahitische Mistfink, nach dem Linné Monedula ryparocaudula; und ich bin von den Freundsinseln, der große Hosenkackerling, Epops maximus polycacaromerdicus […] (Goethe 2006: 327)

Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe weiß zu dieser Stelle neben der Auflösung der lateinischen Bezeichnungen und Erläuterungen zu Linné lediglich zu sagen, dass es sich um „ein Phantasieprodukt“ handelt (vgl. Goethe 1988: 1096), die Münchner Ausgabe verweist immerhin „auf die damals beliebten

62 | Jan Gerstner Reisebücher (etwa von James Cook) und das von ihnen geschürte Fernweh“ (Goethe 2006: 691). Leslie Bodi, meines Wissens bisher der einzige, der auf die Bearbeitung der Vögel in diesem Zusammenhang hingewiesen hat, sieht darin eine Wirkung von Goethes Treffen mit Georg Forster im September 1779 in Kassel (vgl. dazu Näheres bei Enzensberger 2004: 113–115), ansonsten aber nur eine „komische Einfügung[…] in klassische Komödien“ (Bodi 1983: 229) und interessiert sich mehr für Goethes spätere Diskussionen mit Schiller über die Möglichkeit eines Epos über James Cooks Reisen und Tod. Vor dem Hintergrund des bisher zum metaphorischen Gebrauch von Tahiti Gesagten ließe sich die Stelle nun einfach mit dem Hinweis auf die Ferne der Insel erledigen, die es eben wahrscheinlich macht, dass die angriffslustigen Vögel ihre Artgenossen nicht kennen und die List daher schwerer durchschauen. Wenn im Anschluss von der Überführung der beiden angeblichen Südseevögel mit den so unexotischen Namen nach Europa und ihrer Zurschaustellung in Salons und vor breiterem Publikum die Rede ist (vgl. Goethe 2006: 327), wäre dies so gesehen nur eine Verlängerung des Scherzes – die allerdings sehr an das Aufsehen erinnert, das die ersten menschlichen Südseebewohner in Europa erregten. Etwas mehr als eine launige Anspielung wird hinter dem ‘Otahitischen Mistfink’ aber erkennbar, wenn zwei Seiten zuvor, als die Vögel sich zum Angriff rüsten, Treufreund sagt: „Diese Nation [d.i. die Vögel] ist in ihrer Kindheit. Ich habe von den Seefahrern gehört, daß man dergleichen Völker durch Honnetität am ersten betrügen kann“ (Goethe 2006: 325). Dass auch bei diesen Bemerkungen der Gedanke an die zeitgenössischen Südseereisen naheliegt, bedarf keiner Erläuterung. Vor dem Hintergrund dieser Anspielungen erscheint es auch nicht mehr weit hergeholt, im Angriffsgesang der Vögel eine der großen Ängste europäischer Südseereisender wiederzufinden: Und dann zerrt und reißt euch gierig, Keiner sie dem andern gönnend, Um die vielgeliebten Augen; Schlenkert die geliebten Bissen Sie gemächlich zu verschlucken! Jagt euch um die Leckerbissen! Selig wer den Fraß verschlingt! (Goethe 2006: 324)

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Auch wenn die Menschenfresserei im 18. Jahrhundert weniger mit Tahiti als mit anderen Gegenden des Südpazifiks, etwa mit Neuseeland, assoziiert wurde,7 trägt der Schlachtruf der Vögel zu einem allgemeinen Netz von SüdseereiseBezügen bei, in dessen Zentrum das namentlich genannte Tahiti steht. Eingedenk der mit dieser Insel verbundenen Vorstellungen eines sorgenfreien Lebens, erscheinen auch die beiden Teile von Goethes Vögeln – die erste Hälfte mit ihrem Ansatz einer Literatursatire und die zweite Hälfte mit der eigentlichen Vogel-Handlung – nicht mehr so disparat. Schließlich war es gerade die Sehnsucht nach einer „unvergleichliche[n]“ Stadt, „wo’s einem immer wohl wäre“ (Goethe 2006: 319), die Treufreund und Hoffegut auf den Berg trieb und bei der ihnen der angeblich vernünftige Kritiker Uhu nicht helfen konnte und wollte. Wenn bei den Beschreibungen des ersehnten sorgenfreien Lebens in der idealen Stadt von Essenseinladungen die Rede ist und vor allem von der freien Verfügbarkeit fremder Töchter und Ehefrauen, dann sind die Schilderungen von der Aufnahme der Europäer in Tahiti in den einschlägigen Reiseberichten gar nicht so weit. Dies bleiben in den Vögeln freilich alles Wünsche, die im Zusammenhang mit der Satire auf den Literaturbetrieb geäußert werden – auch Treufreund und Hoffegut treten hier als Literaten auf, denen es vor allem darum geht, durch ihre Kunst angenehm zu leben. Nachdem es zur Begegnung mit den Vögeln kommt, entpuppt sich Treufreund als brillanter Rhetoriker, der die Vögel nicht nur von ihrem Angriff abhält und davon überzeugt, er selbst sei ein Vogel, sondern dem es, indem er ihnen einredet, das „erste Volk“ (Goethe 2006: 328) vor Menschen und Göttern zu sein, auch gelingt, die Herrschaft über sie zu erlangen. Begeistert von seinem Plan, in der Luft eine eigene Stadt zu bauen und so Menschen und Götter zu beherrschen, ernennen ihn die Vögel schließlich zu ihrem Anführer. Die Sehnsüchte nach dem sorgenfreien Leben haben sich in das Streben nach der Herrschaft über die Vögel mit ihrem „Kindersinn“ (Goethe 2006: 331) verkehrt. In ihren Grundzügen findet sich diese Handlung so auch schon bei Aristophanes. Mit der Erwähnung Tahitis tritt hier aber eine Struktur hervor, die so wohl nur im 18. Jahrhundert möglich war. Der Hinweis des Epilogs, „[d]aß von Athen nach Ettersburg / mit einem Salto mortale / nur zu gelangen war“ (Goethe 2006: 336), lässt sich über die historische und sprachliche Übersetzung hinaus auf die strukturelle Bedeutung von Transferprozessen im Stück beziehen. Der für unseren Zusammenhang zentrale Verweis auf den angeblichen Transfer der Südseevögel nach Europa – der ja auf die tatsächlichen Reisen von || 7 Vgl. hierzu z.B. Bürgers Neuseeländisches Schlachtlied (1782); Hinweise dazu bei Bodi (1983: 227).

64 | Jan Gerstner Tahitianern und anderen nach Europa anspielt –, dient im Stück dazu, eine gegenläufige Übertragung zu verdecken. Treufreund übernimmt schließlich mit der Bezeichnung des Otahitischen Mistfinks in burlesker Form eine toponymische Zuordnung, die im europäischen Kontext auf mehr als den einheimischen Namen für eine Insel verweist. Dieser war zu einem europäischen Konzept geworden, das für ein Wohlleben stand, welches dem von Treufreund und Hoffegut gesuchten sehr nahe kam. Ebenso konnte gerade dieser Komplex aber zum Argument für die koloniale Erschließung von Ländern dienen, die von Arbeit und Geschichte angeblich nichts wussten. Auch die Übernahme des fremden Namens ist – in Goethes Vögeln ohnehin – ein Mittel der Machtausübung. Goethes Text inszeniert tatsächlich so etwas wie eine Benennungspraxis – in diesem Fall die Selbstbenennung einer Theaterfigur –, die scheinbar einem fremden Namen verpflichtet ist, letztlich aber der Herrschaft über einen vermeintlich leeren Raum – bei Goethe die Luft – dient, und dies geschieht hier unter Rückgriff auf einen Namen, Tahiti, der das Zeugnis eben solcher Vorgänge am anderen Ende der Welt des 18. Jahrhunderts war. Der „Salto mortale“ von „Athen nach Ettersburg“ ist so auch einer von Tahiti nach Weimar; ‘mortale’ allerdings vor allem in seinem Umschwung nach Tahiti zurück, vom Konzept zur kolonialen Praxis.

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66 | Jan Gerstner

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Julian Osthues

„Eine Peepshow, bei der die weißen Flecken unsere Gemüter erhitzen“ Christof Hamanns Usambara als parodistisches rewriting kolonialer Eroberungs- und Entdeckungsszenen Zusammenfassung: Im Kontext des Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts gerieten stets auch Berge in den Blick geographischer Bemächtigung. Um den fremden Raum der eigenen Ordnung einzuverleiben, waren dabei eine Reihe symbolisch-diskursiver Verfahren notwendig, die der folgende Beitrag auf zwei Ebenen untersucht: Zum einen geht es darum, ästhetische Dimensionen kolonialer Benennungspraktiken aufzuzeigen, die am Beispiel der Erstbesteigung des Kilimandscharos am 6. Oktober 1889 durch den Leipziger Geographen Hans Meyer diskutiert werden. Zum anderen rückt ein Roman in den Fokus, der Meyers Gipfeltaufe auf parodistische Weise nacherzählt. Am Beispiel von Christof Hamanns Usambara (2007, Göttingen: Steidl) soll gezeigt werden, wie der Text, der exemplarisch für einen Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht, literarische Verfahren einsetzt, um nicht nur ihre kolonialen Akteure ironisch vorzuführen, sondern zugleich ihre ästhetisch-diskursiven Praktiken der Raumaneignung, wozu auch das Benennen zählt, in ein kritisches Licht zu stellen. Schlagwörter: Kulturgeschichte des Kolonialismus/Kilimandscharo, Gegenwartsliteratur, Intertextualität (rewriting), postkoloniale Komik

1 Einleitung „Bezeichnungen von Bergen zeugen von den Beziehungen, die die Menschen zu ihnen unterhalten.“ (Simo 2002: 55)

„Der größte Berg der USA. Mount McKinley heißt wieder Denali“ (taz 2015). Am 31. August 2015 war dieses politische Ereignis beinahe allen größeren Tageszei|| Julian Osthues: Universität Bremen, FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Bibliothekstr. 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected]

68 | Julian Osthues tungen hierzulande eine kurze Meldung wert. Im Mittelpunkt steht die Um- bzw. Rückbenennung des mit 6190 Metern größten Berges Nordamerikas in seinen vorigen Namen Denali, was in der Sprache der dort ansässigen Athabasken so viel wie ‘der Große’ bedeutet. Der Berg war jedoch im Jahr 1896 nach dem nur wenige Monate später ins Amt gewählten 25. US-Präsidenten William McKinley umbenannt worden. Bemerkenswert ist die Berichterstattung insofern, als die Kolonialgeschichte der USA nahezu durchweg aus dem Blick gerät. Dies mag verwundern, hatte doch in der vergangenen Zeit die mediale Aufmerksamkeit und Sensibilität für Prozesse der sprachlichen Dekolonialisierung in der deutschsprachigen Presse durchaus zugenommen.1 Verschattet wird die Kolonialgeschichte durch den verkürzten Blick auf die Gegenwart. In den Fokus der Artikel rückt meist der politische Zweck der Reise, die der damals amtierende US-Präsident Barack Obama unternahm, um dem Klimagipfel Ende des Jahres 2015 symbolisch vorauszueilen. Wie einem der Artikel vor Augen führt, ist eine solch historisch verengte Sichtweise dabei nicht vor kolonialen Denkmustern gefeit (z.B. Paternalismus), wenn etwa von Obama die Rede ist, der mit der Umbenennung bereits im Vorfeld seines Alaska-Besuchs „den Ureinwohnern ein Geschenk gemacht“ habe, indem er „dem höchsten Berg Nordamerikas seinen alten Namen zurück[gab]“ (spiegelonline 2015). Dass Herrscher, Militärs oder Beamte einem Berg Pate gestanden haben, ist im kolonialen Kontext von Entdeckung und Eroberung nichts Ungewöhnliches. Stets gerieten auch Berge in den Blick geographischer Bemächtigung – und mit ihnen ihre sprachliche Einverleibung in die symbolische Ordnung des Eigenen: Bismarckgebirge, Hahlgebirge oder Wilhelmsgebirge – die Liste toponymischer Hinterlassenschaften aus der deutschen Kolonialzeit ist lang (vgl. Stolz & Warnke 2015: 160–169). Ein ähnliches Schicksal wie der Denali teilt ein Berg, der mit seinen 5895 Metern ebenso zu den sog. ‘Seven Summits’2 , den höchsten sieben Gipfeln der Welt, gehört: der Kilimandscharo.3 Seine Erstbesteigung durch den Leipziger Geographen und Verleger Hans Meyer am 6. Oktober 1889 gilt innerhalb der || 1 Dies zeigt z.B. die anhaltende Debatte über den „Namensstreit“ (Bleyl 2013) um die Lüderitzbucht, gelegen im heutigen Namibia, ehemals Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884–1915). Die Bucht wurde nach dem Bremer Großkaufmann und Landaneigner Adolf Lüderitz benannt und soll womöglich ihren ursprünglichen Namen !Namiǂnûs zurückerhalten (vgl. Bleyl 2013; Keller 2015). 2 Vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Seven_Summits (Zugriff vom 02.06.2016). 3 Zur Wortherkunft des Berges, der in Kiswahili so viel bedeutet wie „Kleiner Berg von Djaro“, vgl. Simo (2002: 55) und Hamann & Honold (2011: 58f.).

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deutschen Kolonialgeschichte als historisch einschlägiges Ereignis – und das mit nachhaltigen Konsequenzen für die räumlichen Grenzziehungen in Ostafrika (vgl. Hamann & Honold 2011: 78; Conrad 2012: 81). Auch Meyer bediente sich tradierter Praktiken des Benennens, um den fremden Raum symbolisch in Besitz zu nehmen. Der kamerunische Literaturwissenschaftler David Simo hat insgesamt vier Methoden der Bergbenennung aufgezählt, wie Christof Hamann und Alexander Honold in ihrer einschlägigen Monographie Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges zusammenfassen: Die erste Methode besteht darin, hohen Bergen den Namen zu geben, den die europäischen Nationen den von ihnen geschaffenen Staaten verliehen haben; daher heißt der höchste Berg Kameruns auch heute noch Kamerunberg. Zweitens wird ein Berg auf den Namen des Europäers „getauft“, der ihn angeblich als erster entdeckt hat. So heißt „Massaba“ auch „Mount Elgon“ und „Rwenzori“ „Mount Stanley“. Aber auch Freundinnen, die Ehefrauen, die Mütter und Königinnen werden nicht vergessen; daher der Name Margherita für den höchsten Punkt des Rwenzori-Berges. Drittens werden Bergen Namen aufgrund ihrer Form zugesprochen; dies geschah vornehmlich in Südafrika, wo es zum Beispiel den Tafelberg oder den Drachenberg gibt. Die vierte Methode schließlich besteht darin, die Einheimischen nach ihrem Namen für einen Berg zu fragen, was zu Missverständnissen führen konnte. (Hamann & Honold 2011: 59)4

Die koloniale Praxis, „endogene“ Namen der Bevölkerung vor Ort durch „exogene“ Bezeichnungen von außen zu ersetzen (Stolz & Warnke 2015: 124), war „eine der Aufgaben und Routinetätigkeiten des Reisens“ (Fabian 2001: 269). Sie diente insbesondere dazu, der Fremde eine „europäische Gegenwart einzuschreiben, um dadurch eine unmittelbar gegenwärtige historische Vergangenheit zu schaffen, eine, die schließlich dazu dienen sollte, die koloniale Präsenz zu legitimieren“ (Fabian 2001: 268). In diesen Traditionslinien, die bis auf das ‘römische Finderecht’ zurückreichen,5 bewegt sich auch Meyers Sprechakt der Gipfeltaufe. Das ‘Oronym’ (lat. oros für ‘Berg’)6 sollte den Kaiser ehren und ihm ein Denkmal setzen. Als ‘Kaiser-Wilhelm-Spitze’ avancierte der Berg zum ‘Kollektivsymbol’ deutscher Größe, nun als größter Berg im deutschen Kaiserreich (Hamann & Honold 2011: 85f.). Nicht zuletzt das Mitbringsel Meyers zeugt von dem Aufwand, den er betrieb, um den Akt der Inbesitznahme nicht nur diskursiv, sondern zugleich „in natura“ zu beglaubigen, wie eine Stelle seines 1890 veröffentlichten Reiseberichts Ostafrikanische Gletscherfahrten belegt: || 4 Hier nicht im Original zitiert, da die Internetquelle des Beitrags Simos inzwischen nicht mehr verfügbar ist. 5 Vgl. dazu Münkler (2002: 159), Castro Varela & Dhawan (2015: 27) und Greenblatt (1998: 48, 126). 6 Vgl. zur Terminologie Nübling et al. (2015: 235).

70 | Julian Osthues Einige Tage später durfte ich dem Reichsoberhaupt über meine Expedition Bericht erstatten. Seine Majestät nahm die Widmung der Kaiser-Wilhelms-Spitze [sic!], die ich in natura mitgebracht hatte, gnädigst an. Die höchste deutsche Bergesspitze ruht nun auf dem Schreibtisch dessen, der selbst auf Deutschlands höchster Spitze steht. Möge dies ein sinnliches Zeichen und frohe Gewähr sein für die nun auf Afrika angewandte einstige Willensäußerung des großen Cäsar: »te teneo, Africa!« Wie auf dem höchsten Gipfel afrikanischer Erde die deutsche Flagge triumphierend weht, so wehe von ihrem kaiserlichen Schutzherrn aus deutsche Gesinnung und deutsche Gesittung Licht bringend über den dunklen Erdteil, der Kolonie zum Segen, den Kolonisatoren zum Nutzen, dem Vaterland zur Ehre. (Meyer 1890: 255f.)

Nach den ästhetischen Dimensionen kolonialer Benennungspraktiken zu fragen, bildet ein Hauptanliegen des vorliegenden Beitrags, d.h. zu ergründen, ‘wie’ – und genauer: durch welche sprachlich-symbolischen Verfahren der Berg diskursiv in Besitz genommen und aus ihm ein deutscher/Deutscher ‘gemacht’ wird.7 Die Gipfeltaufe Meyers liefert dabei nicht nur Aufschluss über die Mechanismen eines solchen ‘namings’8, sondern auch über jenen Resonanzboden des kolonialen Imaginären, der diskursiven Prozessen der Raumaneignung unterlegt ist und auf dem sich ein koloniales Begehren am Fremden Bahn bricht. Vor diesem Hintergrund rückt zum anderen ein Roman in den Fokus der Analyse, der exemplarisch für eine Gegenwartsliteratur steht, die sich an solchen Narrativen der räumlichen Bemächtigung buchstäblich abarbeitet. Christof Hamanns Roman Usambara (2007a) gehört zu einer Reihe sog. rewritings (vgl. Osthues 2016, in Vorbereitung), Texte also, die ihre kolonialen Vorbilder und Prätexte kritisch zur Disposition stellen, indem sie sich ästhetischer Verfahren bedienen, welche zur „Dekonstruktion des kolonialen Imaginären“ (Uerlings 2012: 54–57) beitragen können.9 Damit ist ein postkoloniales Potential der Literatur aufgerufen, das es vermag, typisch koloniale Denk-, Wissens- und Handlungsmuster, wie sie bspw. im Vorgang des Benennens zum Tragen kommen, zu irritieren, zu verschieben oder gar auf den Kopf zu stellen. Kurz: Inwiefern und mit welchen || 7 Der vorliegende Beitrag entstammt in Teilen meiner Dissertationsschrift. Modifiziert worden ist der Auszug um die Fokussierung auf ästhetische Benennungspraktiken (vgl. Osthues 2016). 8 Unter ‘naming‘ verstehen Bill Ashcroft, Gareth Griffith und Helen Tiffin einen „primary colonizing process because it appropriates, defines, captures the place in language.“ (Ashcroft et al. 2013: 182). 9 Ausführlich zum rewriting-Begriff im Kontext deutschsprachiger Literatur vgl. Osthues (2016, 2017). Unter Dekonstruktion des kolonialen Imaginären versteht Herbert Uerlings auch die kritische Auseinandersetzung mit „Formen des kolonialen Gedächtnisses” (Uerlings 2012: 54). Dazu gehören explizit auch „Raumvorstellungen (wie sie sich in Kosmologien, Landschaftsbeschreibungen, Karten, Darstellungen von Kontaktzonen und Utopien oder eben Heterotopien sowie dritten Räumen etc. niederschlagen)” (Uerlings 2012: 55).

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Mitteln schafft es der Roman, seinen Prätext in ein kritisches Licht zu rücken? Und welche Rolle spielen dabei besonders sprachlich-symbolische Praktiken der Benennung?

2 Ästhetische Praktiken der Raumaneignung: Hans Meyers Gipfelsturm Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem „Hurra“ eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf und rief frohlockend: Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze. (Meyer 1890: 134)

Die Szene des Gipfelsturms bildet im Kontext des deutschen Kolonialismus in Afrika eine „Schlüsselszene kolonialer Geographie” (Hamann & Honold 2011: 13), bei der Expedition, Exploration und Expansion auf beispielhafte Weise Hand in Hand gingen. Interessant erscheinen an dieser Passage aus Meyers Bericht besonders die Art und Weise der Re-Inszenierung des Erlebten und die ästhetisch-diskursiven Praktiken der Aneignung – kurz: das Erzählen selbst –, d.h. ‘wie’ der Berg ins Reich geholt und aus ihm ein Deutscher wird. Sie geben Aufschluss darüber, welchen Ort der Kilimandscharo als nun ‘deutscher Berg’ im Horizont des kolonialen Imaginären besetzt und wie er zu einem „Populärsymbol deutscher Größe im spät zu Kolonien gelangten Deutschen Reich” (Hamann & Honold 2013: 90) aufsteigen konnte, zum pars pro toto für die koloniale Bedeutung Deutschlands und damit zu einem Kollektivsymbol, mit dem Schulkinder ebenso wie Erwachsene im Kaiserreich die Macht und die Größe Deutschlands assoziieren. (Hamann & Honold 2011: 85f.)

Im Mittelpunkt der Szene steht ein performativer Sprechakt, eine quasi symbolisch-rituelle Zeremonie, die Meyer vollzieht, um seiner Tat die erforderliche Glaubhaftigkeit und Gültigkeit, also Autorität und Legitimität zu verleihen. Dieser Vorgang ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Nicht nur erinnert der Taufakt an einen Ritus der Initiation, „mit der herkömmlicherweise die symbolische Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft vollzogen wird” (Hamann & Honold 2011: 92). Auch scheint Meyers Darstellung auf typische Muster von Entdeckungs- bzw. Eroberungsszenen zu rekurrieren, wie sie Stephen Greenblatt in seiner Studie Wunderbare Besitztümer im Bild der Landungsszene

72 | Julian Osthues Christopher Kolumbus’, jener Urszene kolonialer Inbesitznahme, beschrieben hat: Der Augenblick hat sich tief in die allgemeine Vorstellungswelt eingegraben: Der große Abenteurer steht am Strand, entrollt das königliche Banner und nimmt von der Neuen Welt Besitz. […] Der veranschlagte ‘große Sieg’ und das Entrollen des königlichen Banners lassen die Schilderung einer Schlacht erwarten, aber statt dessen berichtet Kolumbus von einer Reihe von Sprechakten: einer Proklamation (pregón), kraft derer er von den Inseln Besitz ergreift, gefolgt von mehreren Namensgebungen. (Greenblatt 1998: 87–89)

Vor diesem Hintergrund liest sich Meyers Gipfelszene als Blaupause dieses historisch bedeutsamen Entdeckungs-Narrativs.10 Greenblatt betont dabei, wie sehr es sich bei Kolumbus’ Schilderung um einen „diskursiven Akt” (Greenblatt 1998: 89) handelt, die ihren Gegenstand, also das, was sie zu bezeugen versucht, mithilfe des Wortes überhaupt erst hervorbringt.11 Dieser Traditionslinie schreibt Meyer sein Projekt ein, wovon eine ganze Kette an Beglaubigungsstrategien zeugt, mit der er die Besitzergreifung realitätsmächtig ins Bild setzt: (1) Das Aufpflanzen und Hissen der Flagge, (2) der Sprech- bzw. Taufakt der Namensgebung, (3) das Dokumentieren zwecks Beglaubigung, auch wirklich dagewesen zu sein, (4) die Selbstreferenz auf den Entdecker sowie – ganz zentral – (5) die Adressierung der Eroberung, die den Souverän in das Recht setzt, nun Besitzer eines neu eroberten Stück Landes zu sein.12 Meyers Sprechhandlung folgt einem „idealtypischen Katalog von Legitimationsgesten” (Greenblatt 1998: 92), der sein Projekt der Erstbesteigung nicht nur unter koloniale Vorzeichen stellte. Insbesondere trug der symbolisch-diskursive Akt dazu bei, den kolonialen Machtanspruch der Deutschen auf dem afrikanischen Kontinent nachhaltig zu verbriefen. Denn im Kontext des deutschen Kolonialismus ist die Erstbesteigung des Kilimandscharo insofern hervorzuheben, als sie mit der Taufe des Gipfels || 10 Es gibt allerdings auch deutliche Unterschiede, die nicht nur die Topographie betreffen. So kommt Meyers Eroberungsszene ohne Fremdkontakt aus, zumal der Fremde in der Vorstellung vom unentdeckten Gipfel keinen Platz hat. 11 Hans Meyer trianguliert in einem seiner Vorträge den Zusammenhang zwischen Entdeckung, Diskurs und Kolonialisierung: „Die physisch-geographische Erforschung des Landes bildet die einzige sichere Grundlage für die praktische Kolonisation […]. Es wäre mir eine große Genugthuung, wenn in dieser Hinsicht mein Buch der deutschen Kolonie einigen Nutzen brächte” (Meyer 1900: VII). 12 Die Historikerin Marina Münkler weist darauf hin, dass es bei der „Inbesitznahme qua Entdeckung […] zunächst um einen rein symbolischen Akt” gehe, der den Entdecker unter die Voraussetzung stellt, im Auftrag eines Souveräns, also keinesfalls „auf eigene Faust” zu handeln, da „Inbesitznahmeakte ohne einen Souverän im Hintergrund rechtlich ohne Folgen geblieben wären” (Münkler 2002: 160; vgl. Greenblatt 1998: 93f.; Marenco 1997: 136).

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auf ‘Kaiser-Wilhelm-Spitze’ erst „das geographische Faktum geschaffen [hatte], das sie zu rapportieren vorgab” (Honold 2004: 137). In der Gipfelszene wird der Leser zum Zuschauer bzw. Augenzeuge eines beispiellosen Schauspiels der symbolischen Besitzergreifung, durch das Meyer den Kilimandscharo beschlagnahmt und in den eigenen Bestand überführt, ja gewissermaßen ‘inventarisiert’. Hierfür steht symbolisch „das Hissen der Reichsflagge und der Sprechakt, mit dem Afrikas – angeblich bis dato namenlose – höchste Erhebung nun als Kaiser-Wilhelm-Spitze der deutschen Sprachund Symbolordnung einverleibt wird” (Honold 2004: 137). Ähnlich hat Hamann diesen Vorgang beschrieben: Zum einen wird durch die Identifizierung die „unbekannte, namenlose Spitze“ ins ‘bekannte’ Eigene überführt; zum anderen erweist sich derjenige, der benennt, als ‘Herr’ über dasjenige, was benannt wird. Mit den vielen weiteren, verstreut über das Kilimanjaro-Gebiet vollzogenen Taufakten an Bächen, Scharten, Gletschern und Gipfeln und der Verwendung dieser Namen in Karten und Texten wird das Gebiet insgesamt in den Besitz des ‚Siegers’ überschrieben, der in diesem Fall ein ganzes Land repräsentiert. (Hamann 2008: 51)

Dass ein Berg als Machtobjekt in den Blick kolonialer Begierde rückt, ist dabei kulturgeschichtlich kein Zufall. Im Mittelalter war die vertikale Raumordnung noch „religiös determiniert als eine Aufschau zu Gott” (Honold 2004: 143) und fußte auf einer „Demutshaltung” (Böhme 2007: 48) des Menschen. Denn eine „Grundhaltung des Religiösen”, so Hartmut Böhme, „ist die Gestik ‘von unten nach oben’” (Böhme 2007: 48). In dieser Bedeutung korrespondiert die göttliche Perspektive mit den hierarchischen Eigenschaften eines ‘kolonialen Blicks’, dem eine vertikale Machtachse, ein Blick von oben herab, eingeschrieben ist; ein Blickregime, welches die koloniale Beziehung, also das asymmetrische Verhältnis zwischen Eigenem (Kolonisierern) und Fremdem (Kolonisierten), strukturiert. Der Blick vom Gipfel ist demzufolge mit dem Besitz von Macht und Herrschaft über die optische Totale, die Land und Bewohner einschließt, assoziiert. Die symbolische Topographie des Kilimandscharo bildet ein zentrales Thema von Hamanns Roman Usambara (2007a).13 Nicht nur am historischen Topos der kolonialen Inbesitznahme des Berges, sondern ebenso an seiner erneuten Besitzergreifung im Zeitalter einer globalisierten Gegenwart, die mit neuen Reise- bzw. Entdeckungsformen (z.B. durch Tourismus begünstigt) einhergeht, arbeitet sich der Text ab. Am „höchsten Berg des Deutschen Kaiserreichs“ (U 164) verhandelt der Roman die Frage nach der Kontinuität von kolonialen wie || 13 Der Roman wird nachfolgend unter der Sigle ‘U’ und Seitenzahl zitiert.

74 | Julian Osthues neokolonialen Mustern, die sich in einem Begehren am Berg ausdrücken. In diesem Zusammenhang spielen auch Benennungspraktiken eine wichtige Rolle, wie nachfolgend gezeigt werden soll.

3 Am Gipfel der Parodie. Die komische Überschreibung einer Schlüsselszene deutscher Kolonialgeschichte in Afrika In Usambara schickt Christof Hamann seine Protagonisten in die Berge. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Besteigung des Kilimandscharo, die genauer betrachtet zweimal erfolgt. Der Roman bedient sich hier eines typischen Erzähl- bzw. Strukturverfahrens, das innerhalb der Gegenwartsliteratur, die den Kolonialismus zum Thema hat, häufiger anzutreffen ist.14 Die Handlungsstränge verteilen sich auf zwei alternierenden Ebenen, die sich zeitlich in eine Vergangenheits- und eine Gegenwartsebene unterscheiden lassen und deren Geschichte von je unterschiedlichen Erzählerstandpunkten aus erzählt wird. Auf der Vergangenheitsebene steht die Geschichte der Erstbesteigung Hans Meyers im Mittelpunkt, die über eine heterodiegetische Erzählinstanz Meyers zweiten und dritten Versuch, den Kilimandscharo zu erklimmen, schildert. Bei dieser Unternehmung darf natürlich ein Botaniker nicht fehlen, der Meyer „bei der wissenschaftlichen Erforschung der Pflanzenwelt Afrikas zur Hand gehen soll“ (U 183). Für diese Aufgabe wird der Erfurter „Gärtnersohn“ (U 9) Leonhard Hagebucher betraut, eine fiktive, intertextuell komplex komponierte (Palimpsest-)Figur, in der sich die Eigenschaften einer Reihe von Protagonisten aus der Literatur des 19. Jahrhunderts überlagern. Als Gegenfigur zu Meyer ist sie vom Autor in das historisch verbürgte Setting der Erstbesteigung eingefügt worden.15 Über ihre

|| 14 Dazu zählen Romane wie Hans Christoph Buchs Kain und Abel in Afrika (2001) und Nolde und ich. Ein Südseetraum (2013), Alex Capus’ Munzinger Pascha (1997), Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Raoul Schrotts Finis Terrae (1995) oder Michael Roes’ Leeres Viertel Rub‘ Al-Khali (1996). Vgl. dazu u.a. Bay (2012: 118). 15 Leonhard Hagebucher ist nicht nur der gleichnamige Held aus Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867). In den Motiven der ‘restless legs’ und der ‘Botanisiertrommel’ hat die Forschung Anleihen bei Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl (1814) erkannt, Ute Gerhard sieht sogar in Hamanns Zitat „Mir ist, als sei ich auf dem Kopf gegangen und der spielt nicht mehr mit“ (U 213) einen intertextuellen Verweis auf Georg Büchners Lenz (1839) (vgl. Gerhard 2009: 324f.).

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subversive Interpolation in die historische Folie des Prätexts entfaltet der Roman nicht nur die Chance zur kritischen Gegenlektüre kolonialer Heldenmythen, sondern insbesondere ein metafiktionales Potential, das Gattungskonventionen des Reiseberichts und ihren Anspruch auf historische Verbürgtheit infrage stellt und kontrafaktisch unterläuft.16 Diese historische Dimension des Textes, die sich ganz maßgeblich aus Meyers Reisebericht speist, ist in Hamanns rewriting erweitert worden um den zeitlichen Horizont der Gegenwart, der auf der zweiten Erzählebene präsentiert wird. Schnell ist dem Leser klar, dass hier ein homodiegetischer Erzähler das Sagen hat, und nicht nur das: Der Urenkel Fritz Binder, ein Postbote aus Wuppertal, zeichnet sich als erzählerischer Dreh- und Angelpunkt des Romans verantwortlich, von dessen Position aus die Geschichte des Großvaters Hagebucher kolportiert, kommentiert und nach Belieben korrigiert wird. Fritz gefällt sich in der Rolle als Erzähler, der seinen Stil, wie er selbst zugibt, dem „Publikum“ (U 98) anpasse und die Geschichte nach Belieben „variiert“, um zu „imponieren“ (U 135): „Ich beginne so, wie es meine Zuhörer lieben“ (U 98) heißt es an einer, „[a]ber meine Version hört sich besser an“ (U 84), an einer anderen Stelle. Besitzt Fritz somit die Deutungshoheit um die Auslegung der Familienbiographie, in dessen Fußstapfen der Enkel tritt und sich ebenfalls zum Kilimandscharo aufmacht, so kann er sich dieser Autorität, Herr seiner Geschichte zu sein, nicht dauerhaft in Sicherheit wähnen. Mit Eintritt der Freundin Camilla in die Erzählung bringt der Autor eine kritische Gegenstimme in den Text, die das Familiennarrativ radikal in Frage stellt. Sie übt deutlich Kritik an den kolonialen Verstrickungen von Entdeckungsreisen, indem sie die Überlieferung des Ur-Enkels – ganz im Sinne von Edward Saids ‘kontrapunktischer Lektüre’ – gegen den Strich liest und die Kolonialverbrechen zur Sprache bringt und anprangert, die in Fritz’ Abenteuergeschichte keinen Platz haben. Camilla entlarvt die Erzählinstanz als ‘unzuverlässigen Erzähler’17, dem sie radikal die Glaubwürdigkeit ab-

|| 16 In Bezug auf Usambara hat Hansjörg Bay geschrieben, dass der Roman „einen ironischsatirischen Blick auf die koloniale Großtat der Kilimandscharobesteigung dadurch gewinnt, dass er sie durch Einführung einer fiktiven Figur von innen her in Frage stellt“ (Bay 2012: 119). 17 Auf die kritische Funktion von Camilla als „Korrektivfigur“ (Catani 2009: 163) hat Stephanie Catani hingewiesen. Ihre Rolle innerhalb der Konfliktstruktur des Romans liege darin, „die Aussagen der erzählenden Figur in ihrer Unzuverlässigkeit sichtbar zu machen und sukzessive zu demontieren“ (Catani 2009: 163). Vgl. dazu auch Beck (2011: 105), Dunker (2012: 169f.) und Göttsche (2013: 394). Siehe auch der Autor selbst in Bezug auf Wilhelm Raabes Erzählerkonstruktion, bei der er von einer „‚hinterhältige[n]’ Unzuverlässigkeit“ spricht (Hamann 2007b: 88). In einem anderen Beitrag thematisiert Hamann das ambivalente Motiv des ‘Schwindels’

76 | Julian Osthues spricht. Sie wirft ihm vor, er mache „einen auf Hollywood“, seine Darstellung sei nicht nur „Effekthascherei“, sondern gar „lachhaft“ und „völliger Unsinn“ (U 99f.). Vor allem betreibe er „krasse Schönfärberei“, denn „die Weißen hätten die Schwarzen abgeschlachtet, das müsse doch wenigstens mal erwähnt werden“ (U 100). In Usambara gibt es einige Passagen, in denen benannt und vermessen wird. Über Meyer heißt es etwa an einer Stelle, er habe „immer wieder Priester gespielt und Namen verteilt, Wissmann hier, Ratzel dort, das kam gut auf den Karten, die machten aus dem Berg ein Who is who im damaligen Kaiserreich“ (U 220). Erkennbar wird bereits an diesem Auszug, dass der Text mit Verfahren komischen Erzählens arbeitet, um sowohl seine kolonialen Akteure als auch ihre Praktiken ironisch-kritisch vorzuführen, nicht ohne dabei den psychopathologischen Kern kolonialen Begehrens auszustellen: Eine Landschaft mit Deinem Namen zu überschreiben und ihn dann auf offiziellen Karten wiederzufinden, das war praktisch genau so, als hättest Du den See, den Fluss oder den Berg gekauft. Außerdem saß Meyer der Stachel im Fleisch, den ihm Friedrich III. hineingesteckt hat. Der muss einem Preußen verdammt wehgetan haben. (U 136)

Das Symbol des ‘Stachels’, das leitmotivisch im Verlauf des Romans an vier Stellen auftaucht (vgl. U 23, 136, 208, 249), steht einerseits für Meyers Minderwertigkeitskomplex, andererseits für den schmalen Grat zwischen Entdeckerehrgeiz und Größenwahn. Der Effekt komischen Erzählens ermöglicht eine dekonstruktive Lektüre der Meyer-Figur – und damit des kolonialen Begehrens, das hier in symbolischen Machtgesten der Usurpation qua Benennung zum Ausdruck kommt und seine historischen ‘Vorbilder’ ins Wahnsinnige bzw. Wahnwitzige abgleiten lässt. Das Schlusskapitel des Romans (U 219–259) treibt mit der Gipfeltaufe die pathologische Kränkung Meyers buchstäblich auf die Spitze. Meyers Reisebericht wird an dieser Stelle zur historischen Folie eines ‘parodistischen rewritings’. Es kommt somit zu einer komischen Überschreibung jener Schlüsselszene des deutschen Kolonialismus in Afrika, indem Hamanns Roman den historischen Prätext anhand literarischer Verfahren der ‘Verschiebung’18 kri-

|| und spricht von einem „Narrenkleid“ (Hamann 2006a: 55), das aus der intertextuellen Komposition der Hagebucher-Figur entstehe. 18 Vgl. zur „Poetik der Verschiebung“ die Arbeiten von Dieter Heimböckel (u.a. 2015; 2016) sowie daran anschließend meine Überlegungen zu einer „postkolonialen Ästhetik der Verschiebung“ (Osthues 2016).

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tisch bloßstellt und ironisch-komisch ‘verrückt’.19 Ein direkter Vergleich zwischen Hypotext (Prätext Meyers) und Hypertext (Hamanns Usambara) zeigt die Differenzen ästhetischer Überschreibung, deren Effekt zur Komisierung der Figuren beiträgt, sie satirisch überzeichnet und dadurch jene „Helden der Kolonisierung“ in ein „verfremdendes Licht“ (Uerlings 2012: 54) verschiebt und zu Karikaturen kolonialer Entdecker werden lässt. Um die ästhetischen Verfahren dieser postkolonialen Überschreibung zu veranschaulichen, sei die Stelle aus Meyers Bericht noch einmal zitiert: Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem „Hurra“ eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf und rief frohlockend: Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze. (Meyer 1890: 134)

Aus der pathetischen Selbstinszenierung Meyers ist bei Hamann eine ganz andere, deutlich nüchternere, realistischere Situation geworden, die nicht nur den Ernst der Lage ungeschminkt vor Augen führt.20 Vor allem taucht der Text die Glaubwürdigkeit der Schilderung Meyers insgesamt in ein ironisch-komisches Licht: […] ihren Gesichtern angesehen, wie fertig sie alle sind, auf der Spitze, sie bringen zunächst keine Silbe mehr heraus, sie heulen und ringen nach Luft. Irgendwann greift Meyer in seinen Rucksack, entrollt die deutsche Fahne, deren Holzstock er mit einigen Steinen zwischen ihnen befestigt. Sie wedelt hin und her, berührt Schleier und Gletscherbrillen. Mit dem Recht des ersten Besteigers, sagt Meyer, während er aufsteht und die beiden anderen mit ihm, taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde, Meyerspitze. (U 248)

Meyers heroische wie egozentrische Selbstdarstellung als Expeditionsleiter und Autor des Reiseberichts wird in Usambara aus einer anderen Erzählperspektive fokalisiert. Bei der Erzählinstanz Fritz Binder handelt es sich nicht um einen autodiegetischen Erzähler wie bei Meyer, sondern um einen heterodiegetischen, einen Erzähler also, der selbst nicht Teil der erzählten Welt ist, der Distanz zum Geschehen hält und aus einer Perspektive der ‘Übersicht’ (Genette nennt diesen || 19 Axel Dunker hat Hamanns Verfahren als eine „die Quelle grotesk-umschreibende Relektüre“ bezeichnet. Sie „hebt die Absurdität, die darin liegt, dass zwei Europäer den höchsten Berg Afrikas auf den Namen eines deutschen Kaisers taufen und damit mehr als nur symbolisch für Europa in Besitz nehmen, hervor.“ (Dunker 2012: 159). 20 Zu dieser Passage vgl. auch die Ausführungen von Beck (2011: 37f.) und Dunker (2012: 158f.).

78 | Julian Osthues Fall ‘Nullfokalisierung’) das Vermögen haben kann, den Wahrnehmungshorizont, das Innenleben und die Gedanken der an der Handlung beteiligten Figuren auszuleuchten. Durch diesen Wechsel verliert Meyer die allmächtige Position, er ist nicht mehr Herr seiner eigenen Geschichte. Wird durch diesen metafiktionalen Eingriff bereits der Anspruch des Reiseberichts auf historische Wahrheit infrage gestellt und der Konstruktcharakter von Geschichte, ihr Gemacht-Sein als Fiktion (lat. fingere: ‘gestalten’, ‘verfertigen’, ‘erdichten’) insgesamt desavouiert, so hat diese veränderte Stellung des Erzählers zum Geschehen eine Erzählinstanz zur Folge, die aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit den Anspruch auf Authentizität gleich doppelt hintergeht. Ihre alternative Sichtweise erscheint ebenso wenig glaubwürdig wie Meyers und führt somit die Unmöglichkeit einer authentischen Geschichtsdarstellung vor. Zugleich wird die von Meyer emphatisch aufgeladene Szene in ihrer exponierten Stellung und Geschlossenheit erzählerisch aufgebrochen. Dieser Eingriff korrespondiert mit der ästhetischen Erzählstruktur des Schlusskapitels in Usambara: Der Erzähler Fritz Binder befindet sich zum Zeitpunkt des Erzählens bereits selbst auf dem Weg zur Bergspitze. Die Höhenkrankheit steigt ihm zunehmend zu Kopf, was sich im Erzählen selbst ausdrückt: So laufen in dem Kapitel die zwei Erzählebenen des Romans alternierend ineinander, wodurch das ambivalente Motiv des ‘Schwindels’ ästhetisch in Szene gesetzt ist. Die Gipfelpassage ist daher um ihren szenischen Einstieg verkürzt, der im Reisebericht wichtige Funktionen der sprachlich-symbolischen Aneignung, der Dokumentation und der Beglaubigung, „auch tatsächlich dagewesen zu sein“ (Greenblatt 1998: 94), besetzt: Gemeint ist die Nennung von Zeit und Ort („Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze“). Die annähernde Deckung von Erzählzeit und Erzählter Zeit (‘szenisches Erzählen’), die bei der Lektüre von Meyers Reisebericht ein unmittelbares Erleben und Nachvollziehen erlaubt, dehnt Hamanns Roman deutlich aus.21 Dieses erzählerische Ausdehnen der Zeit desavouiert das Pathos in Meyers Schilderung, das im Reisebericht die Wirklichkeit verschleiert. Die Dehnung setzt stattdessen die klimatischen Bedingungen vor Ort sowie die körperlichen Strapazen realitätsmächtig ins Bild. Auf diese Weise wird der pathetischen Darstellung Meyers durch die parodistische Umschreibung bei Hamann der Glanz des Heroischen genommen. Der Text unterläuft den kolonialen Mythos der „Eindeutschung“ des Berges (Hamann & Honold 2013: 90), wodurch || 21 Hervorzuheben ist bei Meyers Bericht der Wechsel vom Modus des Erzählerberichts in die direkte Rede, der die Handlung der Gipfelszene unmittelbarer erscheinen lässt und die Bedeutung der Szene, insbesondere für das koloniale Bestreben der Deutschen in Ost-Afrika, hervorhebt (vgl. Hamann 2008: 51).

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das koloniale Kollektivsymbol gewissermaßen ‘entzaubert’ wird. Statt „sekundiertem ‘Hurra’“ bei Meyer steht den Expeditionsteilnehmern sprachlos die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben: Niemand scheint zu „frohlocken[]“ (Meyer 1890: 134), denn „sie bringen zunächst keine Silbe mehr heraus, sie heulen und ringen nach Luft“ (U 248). Wenn bei Meyer die Szene geradezu nach Entdeckervorschrift abläuft, so avanciert in Usambara das Ereignis zum Schauplatz des Zufälligen, das „[i]rgendwann“ dazu führt, dass Meyer Wort und Tat ergreift. Das Hissen der Flagge ist dabei ins Banale verschoben und entmythisiert: Die Flagge wird behelfsmäßig befestigt, „[s]ie wedelt hin und her“, vor allem aber den Entdeckern ins Gesicht. Auch eine weitere Einfügung in den Prätext scheint nicht ganz in Meyers Bild zu passen. Auf das Flaggehissen und den Sprechakt folgt in Usambara ein Ritual, bei dem die Namenstaufe buchstäblich mit „eine[r] kleine[n] Flasche Enzianschnaps“ (U 248) begossen wird, die Meyer nebst „drei Zigarren“ aus seinem Rucksack hervorholt. Höhepunkt der Szene bildet die Benennung der Spitze, und zwar nicht nach dem Kaiser, sondern nach dem „Expeditionsleiter“ (U 249). Auf den narzisstischen Akt der Namenstaufe, den Meyer ohne Rat seiner Kollegen vollzieht, folgt allerdings ein Affront: Es kommt zum hitzigen Streit mit dem Bergsteiger Ludwig Purtscheller, der ebenfalls Anspruch auf den Berg erhebt. „Immerhin habe ich Sie hinaufgeführt“, lässt er Meyer wissen, und [ü]berhaupt: Meyerspitze klingt sehr gewöhnlich. Das müssen Sie zugeben. Stellen Sie sich Ihren Namen in den Alpen vor. Lächerlich! Purtschellerspitze dagegen, das hat was. Originalität! Esprit! Ich muss schon sehr bitten. Meyer ist vom Klang her ein repräsentativer deutscher Name. Wenn dieser Name fällt, weiß jeder, aha, vor mir steht ein Deutscher. Darüber hinaus gibt das ey in der Schreibweise dem Ganzen eine besondere Note. Purtscheller jedoch klingt wie aus dem hintersten Dickicht in Österreich […] (U 249f.)

Der rhetorische Schlagabtausch eskaliert und führt zu dem Punkt, an dem schließlich beide „begreifen, dass Worte keine Lösung sind“ (U 254). Das Wortgefecht wird nun mit Fäusten ausgetragen, der absurde Streit um die Definitionsmacht gipfelt in einem absurden Boxkampf, der allerdings keinen Sieger hat. Es kommt zum Remis, zum „[d]oppelte[n] Knockout“ (U 256) und der Einigung, mit der Spitze den deutschen Kaiser zu ehren. Dass Meyer in Hamanns Parodie der Gipfelszene seinen Namen in Anschlag bringt, unterläuft nicht nur die zuvor erläuterte Voraussetzung von Entdeckungen, die nur durch einen Souverän ins Recht gesetzt werden kann. Mit der Streitszene um das Privileg, dem Fremden seinen Namen einzuschreiben, desavouiert der Roman gegenüber der historischen Folie zugleich den exzentrischen Kern kolonialen Begehrens, der sich in Größenwahn und Geltungs-

80 | Julian Osthues sucht Bahn bricht. Am Gipfel der Parodie, so ließe sich pointieren, wird diese Schlüsselszene des deutschen Kolonialismus zur Farce. Schafft es der Roman dadurch, das Symbol ‘deutscher Größe’ zu dekonstruieren, so besteht eine weitere Leistung darin, die symbolisch-diskursiven Praktiken der Aneignung, wie sie in der Benennung zum Tragen kommen, ironisch-komisch auszustellen. Hamanns parodistisches rewriting ist demzufolge als kritischer Kommentar zu lesen, der den projektiven Charakter von Kolonialphantasien ausstellt. Über die Irritation, die zwischen Prätext und Roman eintritt, entlarvt der Text jene Mythen vom ‘heldenhaften Entdecker’ als koloniale Fiktion. Damit zieht er die Glaubwürdigkeit von Reiseberichten insgesamt in Zweifel und warnt, dass historischen Quellen nicht ohne Weiteres zu trauen ist, weil sie selbst Fiktion sind. Denn Hamanns Roman scheint sich gerade nicht an ‘die’ Fakten zu halten. Vielmehr stellt er ihren ontologischen Status, den Wahrheitsanspruch von Geschichte und jene Praktiken, die zu ihrer Manifestation beitragen, grundsätzlich infrage. Ein weiteres Verfahren tritt in einem sprachlichen Detail zu Tage, das in die historische Quelle interpoliert worden und für koloniale Aneignungsprozesse, insbesondere für den Umgang mit dem Fremden insgesamt, charakteristisch ist: Aus dem „Ersteiger“ Meyer ist bei Hamann ein „Besteiger“ geworden. Die Änderung des Präfixes aktualisiert ein typisches Merkmal kolonialer Diskurse der Entdeckung. Der Berg wird durch die Betonung des „Besteigers“ als das fremde, unbekannt Weibliche und Objekt des Begehrens erotisch konnotiert, als eine jungfräuliche Landschaft, die darauf wartet, erobert zu werden. Die Eroberung des Berges avanciert dadurch zur Inbesitznahme des Weiblichen, der Berg zum „Wunschterritorium Frau“ – um mit Klaus Theweleit zu sprechen (Theweleit 2002: 303–310) –, an dem sich das Begehren am Fremden entzündet und das es im Forscherdrang zu ent- bzw. – der Etymologie22 nach – ‘aufzudecken’, sprich zu entschleiern gilt: „Diese Symbolik begreift Forschung nicht allein als Geschlechterbeziehung“, so schreibt der Autor selbst, sondern „auch als Verhältnis zwischen eigener und fremder Kultur und veranschaulicht, dass zwischen (männlichem) Subjekt und (weiblichem, fremdem) Objekt ein hierarchisches Verhältnis besteht, das genutzt wird, um sich des Anderen zu bemächtigen“ (Hamann 2008: 48f.; vgl. Dunker 2012: 158f.). Diese Konstellation rekurriert auf

|| 22 “[M]hd. endecken, ahd. intdecken. Bedeutet eigentlich ‘aufdecken’ und wird zunächst in diesem konkreten Sinn verwendet. Dann ‘jmd. etwas entdecken’ für ‘mitteilen’ und schließlich (vielleicht unter dem Einfluss von frz. découvrir) ‘auffinden’. Abstraktum: Entdeckung; Nomen agentis: Entdecker.” (Seebold 2002: 246).

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einen klassischen Topos der Entdeckungsgeschichte, wie Sabine Schülting in ihrer Dissertationsschrift Wilde Frauen, fremde Welten feststellt. Demnach […] findet eine Feminisierung des (fremden) Raums statt, dessen Eroberung durch männliches Begehren motiviert wird. Dies führt zur Vorstellung des geographischen Raums, als dessen Allegorie die Gestalt eines weiblichen Körpers fungiert. Demgegenüber werden Reisen und Schreiben, die ‘Muster’ oder diskursiven Linien über das Land ziehen und somit Konfigurationen des Raums entwerfen, aneinander gekoppelt und männlich semantisiert. (Schülting 1997: 24)

Auch Herbert Uerlings hat darauf hingewiesen, dass „die Verbindung von kultureller und sexueller Alterität“ ein wichtiges Merkmal kolonialer Diskurse darstelle, wonach „kulturelle Differenz“ oftmals „geschlechtlich semantisiert“ werde (Uerlings 2006: 10).23 Über Hamanns Einfügung des Präfixes wird die Sexualisierung des Fremden offen ausgestellt, was im Reisebericht hingegen nur implizit vermittelt ist. Der Roman entlarvt mit seiner Überschreibung folglich das koloniale Begehren am Fremden als typisch männlich-sexuelle Eroberungsphantasie und legt damit den Resonanzboden des kolonialen Imaginären, jenen Treibsatz also, der Entdecker und Kolonisierer in die Fremde zieht, auf komisch-absurde Weise bloß: „Es ist die Gier auf das Neue, die uns reizt. Eine Peepshow, bei der die weißen Flecken unsere Gemüter erhitzen“ (U 224f.). Neben der Gipfelszene parodiert der Text den Eroberungs-Topos in der schelmischen Inszenierung der Hagebucher-Figur.24 Dabei spielen auch räumlich-symbolische Benennungspraktiken eine Rolle, die auf ein botanisches Begehren am Fremden verweisen: Nie konnte er später einen triftigen Grund dafür angeben, weshalb er gerade jene Richtung einschlug, die ihn zu einem schattigen und feuchten Plätzchen am Waldrand führte. Er wusste nicht, woher die vom ersten Moment an unerschütterliche Überzeugung kam, dass die Pflanze, die dort wuchs, noch unentdeckt war, dass sie noch kein europäisches Auge gesehen, dass sie auf ihn, Leonhard Hagebucher, gewartet hatte. Er konnte auch

|| 23 Dieser tradierte Motiv-Komplex ist seitens der Forschung bereits thematisiert worden. Vgl. dazu die Arbeiten von Schülting (1997),Weigel (2000) und Uerlings (2006) sowie exemplarisch die Diskussion um den Motivkomplex ‘Pocahontas’ bei Arno Schmidt (vgl. Kyora & Schwagmeier 2005; Theweleit 1999). Siehe dazu auch Dunker (2005: 199f., 202). 24 Neben Ute Gerhard (2009) verweist Hansjörg Bay in Anlehnung daran auf Merkmale des Grotesken und Aspekte des Schelmenromans, wodurch ein „distanziertes und immer wieder ins Satirische kippendes Bild der Kilimandscharoexpedition“ entstehe, „das deren rücksichtslos imperialistischen Charakter deutlich zu Tage treten lässt.“ (Bay 2009: 118). Bzgl. Merkmalen des Schelmischen als Aspekt einer sogenannten ‘postkolonialen Komik’ vgl. auch die Ausführungen in Osthues (2016).

82 | Julian Osthues keine plausible Erklärung dafür finden, wieso er sich so sicher war, sicher darüber, das Seine gefunden zu haben. Fest steht, die Pflanze holte ihn augenblicklich von den Beinen, es war um ihn geschehen. (U 26)

Über das typische narrative Muster des ‘Staunens’ bzw. des ‘Wunders’ in Reiseberichten hat Stephen Greenblatt in Anlehnung an den Philosophen René Descartes geschrieben, dass es „die fundamentale Reaktion des Menschen auf eine ‘erste Begegnung’“ darstelle (Greenblatt 1998: 35), die für einen kurzen Moment vermag, sich der Rationalisierung durch den Verstand zu entziehen.25 Allerdings ist das Moment des Verwunderns „kein dauerhafter Zustand, sondern an sich instabil, ein Schwanken, weniger ein Anzeichen als vielmehr der Motor der Bewegung“ (Greenblatt 1998: 128). Dem Verwundern folgt nämlich das Bedürfnis nach Besitzergreifung auf dem Fuße. Sie rückt jene fremden Objekte in den Mittelpunkt des Begehrens, die nun, „nachdem die ersten Augenblicke der Verblüffung verstrichen sind, angefaßt, katalogisiert, inventarisiert und beschlagnahmt werden können“ (Greenblatt 1998: 39). In Usambara ist es eine Pflanze, die den begehrenden Blick des Botanikers auf sich zieht: „Das Namenlose“, wie es im Text heißt, „[a]n dem noch nie Staubfäden und Stempel gezählt wurden“ (U 195). Die Entdeckungsszene des Usambara-Veilchens aktualisiert dabei jenen tradierten Entdecker-Topos in dem kolonialen Drang nach Einverleibung: Da sah er vor sich, was er zuvor nie erblickt hatte: den bis zu diesem Moment stets sorgfältig in Stiefeletten gepackten, den wunderbar geformten, einzigartig zierlichen, von einer samtenen, blassen, glatten Haut umspannten, den nackten Fuß seiner Freundin. Die Ferse war die Bühne, auf der die Zehen tanzten, und zwar so, dass ihm schwindlig wurde, er griff danach ins Leere, er streichelte, küsste die Luft, und auch der Name, Maria Theresia, Theresia, ja Theresiaveilchen, tanzte aus seinem Mund heraus zu der Pflanze, in deren Blüten er sich niederließ, als sei er schon immer dort zu Hause. (U 27f.)

Was der Erzähler hier beschreibt, sind die Gedanken des Großvaters Hagebucher, die sich keineswegs direkt um eine Frau drehen, wie die ersten Zeilen vermuten lassen, sondern um die Entdeckung einer Pflanze, die zum libidinösen Objekt der Begierde wird, mit weiblichen Attributen versehen und erotisch aufgeladen. Die Lust an der Entdeckung, das Begehren am Fremden, imaginiert der Text somit auf der projektiven Vorstellung des Eigenen, dem Körper der || 25 Bei Greenblatt heißt es weiter: „Das Objekt, durch das die Verwunderung ausgelöst wird, ist so neu, daß es zumindest für Augenblicke zu einem alleinigen, unsystematisierbaren und vollkommen losgelösten Gegenstand unserer verwunderten Aufmerksamkeit wird“ (Greenblatt 1998: 35).

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zukünftigen Braut. Dieser Körper ist der Perspektivfigur Hagebucher bis dato allerdings ebenso unvertraut. Wie der Leser bereits weiß, wird Hagebucher erst nach seiner Rückkehr nach Erfurt Maria Theresia Eisenstein „vor den Traualtar der Lorenz-Kirche führen“ (U 9). Wie bei Meyer rückt auch hier der Wille, dem Fremden seinen Namen einzuschreiben, ins Zentrum, der dem Finder einen „Ehrenplatz in der Geschichte der Botanik“ verspricht: „Hagebucheria, Hagebucheria, Hagebucheria, er sah das Wort in großen Lettern vor sich“ (U 28). Denn nur so sei ein Ehrenplatz der Wissenschaft zu besetzen, weniger erotischanziehend als vielmehr rational-kühl und männlich-lateinisch, wie der Text deutlich macht. Der Roman Usambara inszeniert den tradierten Topos kolonialer Männlichkeit, die „Fremde als Frau“ (Schülting 1997: 15),26 indem er ihn mithilfe von Überaffirmation und Übertreibung ironisch-komisch bloßlegt. Die erotische Zweisamkeit zwischen Subjekt (Hagebucher) und Objekt (Veilchen) wird in der Szene geradezu ostentativ überzeichnet, woran die erzählerischen Mittel der zeitlichen Dehnung Anteil haben. In der Übertreibung entlarvt der Text den kolonialen Topos von der ‘Eroberung des Weiblichen’ und stellt diesen kritisch zur Schau, wodurch die kolonialen Akteure und mit ihnen das mythische Bild vom ‘heldenhaften Entdecker’ schließlich der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

4 Schluss Der Kilimandscharo verlor das koloniale Symbol deutscher Größe, seine KaiserWilhelm-Spitze, allerdings erst mit der Unabhängigkeit des Landes Tanganyika (heute: Tansania). Auf den 9. Dezember 1961 folgte nicht nur die Befreiung von der Kolonialmacht Großbritannien, mit ihr ging ein Jahr später auch eine toponymische Dekolonisierung einher: Am Jahrestag der Unabhängigkeit bestieg Alexander Nyirenda die höchste Stelle des Kilimandscharo, den Kibo (vgl. Hamann & Honold 2011: 154), und entfachte symbolträchtig eine „Flamme, die eine glühende Zukunft darstellen sollte“. Aus Kaiser-Wilhelm-Spitze wurde nun Uhuru Peak (‘Freiheitsspitze’), ein „Symbol der neu erlangten Freiheit“ (Simo 2002: 57). Mit der Umbenennung in Uhuru Peak avancierte die Spitze zu einem postkolonia-

|| 26 Vgl. auch dazu Schülting: „Kolonisierung und die Ordnung der Geschlechter scheinen zusammenzugehören. […] Der Fremdheitserfahrung wäre damit eine spezifische Begehrensordnung eingeschrieben: Ein europäisches männliches Subjekt steht den ‘fremden Welten’ und den ‘wilden Frauen’ gegenüber, die als seine (Lust-)Objekte fungieren“ (Schülting 1997: 13).

84 | Julian Osthues len Gedächtnisort, dem im Vorgang des Benennens auf der sprachlichen Ebene eine geteilte, europäisch-afrikanische Geschichte eingeschrieben wurde, wenngleich dieser Akt der Wiederholung, ungeachtet des hegemonialsprachlichen Anstrichs, an tradierte Entdeckermuster erinnern mag und auf ein ähnliches Set an symbolischen Praktiken rekurriert, welche für die Geschichte geographischer Bemächtigung archetypisch sind – zumal hier etwas symbolisch überschrieben wurde, das von der Zeitgeschichte längst ad acta gelegt worden war. Gleichwohl sich die historisch-politischen Vorzeichen geändert haben mögen und der Zweck die Mittel heiligt, wie auch die Rückbenennung des Mount McKinley zeigt, so scheint doch ein postkolonialer Blick geboten, um vor der Wiederholung kolonialer Denk- und Handlungsmuster zu warnen, da diese stets Gefahr laufen, sich auch in gegenwärtige Prozesse der Umbenennung einzuschleichen. Dies kritisch zu reflektieren, ist zentrale Aufgabe postkolonialer Studien und kulturwissenschaftlicher Analyse. Anders formuliert: Wenn das ‘post’ in ‘postkolonial’ somit auch bedeutet, nach den kolonialen Kontinuitätserfahrungen im Spiegel einer globalisierten Gegenwart zu fragen, so erscheint diese Aufgabe als ein Vorgang, der unabgeschlossen und fortdauernd stets aufs Neue geführt werden muss, um statt einer Fortschreibung zur Überwindung kolonialer Muster und damit ein Stück weit(er) zu einer ‘Dekolonialisierung des Denkens’27 beizutragen.

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|| 27 Der Begriff wird meist auf die Schrift Decolonizing the mind. The politics of language in African literature (1986) des kenianischen Autors Ngũgĩ wa Thiong’o zurückgeführt.

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Florian Krobb

„‘Chief’, wie der Häuptling, König oder Werftälteste genannt wird“ Zur Benennung von Herrschaft und Territorium im deutschen Afrikadiskurs Zusammenfassung: Im deutschen Afrikadiskurs während und nach der Kolonialzeit fanden verschiedene Verfahren zur Bezeichnung örtlicher Machthaber Verwendung, die allesamt auch das Verhältnis der Bezeichnenden zu dem von den Bezeichneten beherrschten Territorium definieren. Am gebräuchlichsten war die Bezeichnung „König“ selbst für Regenten winziger Gebiete. Sowohl die ironische Belegung mit deutschen Begriffen wie die vordergründig respektvolle Verwendung indigener Bezeichnungen lassen sich als Ausdruck von Anspruch auf und Berechtigung zur eigenen europäischen Herrschaft über das Bezeichnete lesen. Sie ordnen sich so in einen kolonialistischen Diskurs der Besitzergreifung ein. Schlagwörter: Kolonialismus, deutscher Afrikadiskurs, Titel, Herrschaft, Rollenzuweisungen

1 Einleitung Dass Namensgebung einen Akt kolonialer Inbesitznahme darstellt, ist keine neue Einsicht (vgl. z.B. Kundrus 2003: 187). Dies gilt auch für die Behandlung vorgefundener Ortsnamen, deren Verwendung nicht automatisch Respekt vor Indigenem bedeutet. Indigene Ortsbezeichnungen sind oft temporär oder generisch (d.h. die Bezeichnung für einen Fluss ist z.B. ‘Wasser’ im jeweiligen regionalen Varietät). Wenn der Geograph Siegfried Passarge in einem Artikel über afrikanische Ortsnamen 1908 empfiehlt, zum Verwaltungsgebrauch und zum Zwecke der Kartographie „Gaukunde“ zu betreiben, dann dient dieses Studium zwei Handlungszielen im kolonialen Raum: Erstens versprächen sogenannte Gaunamen für die Zukunft Bezeichnungsgewissheit (was eben Namen für geo-

|| Florian Krobb: Maynooth University, School of Modern Languages, Literatures and Cultures/ German, Maynooth, Co. Kildare, Ireland. E-Mail: [email protected]

90 | Florian Krobb graphische Einzelerscheinungen wie Berge und Wasserstellen nicht tun); zweitens gewähre eine Rekonstruktion der linguistischen Wurzeln Aufschlüsse über Wanderungsbewegungen, da sich die Bezeichnungen von größeren Regionen auf Siedlungsgebiete von Völkern oder Stämmen als Sprach- oder Dialektgemeinschaften bezögen und diese auch von nachfolgenden Besiedlern der betreffenden Region, die einer anderen Sprach- oder Dialektgemeinschaft angehört haben mögen, beibehalten worden seien (Passarge 1908). Ob diese Überlegungen nun zutreffend sind oder nicht, sie verraten zwei fundamentale Anliegen der Kolonialtoponymie: Dauerhaftigkeit herzustellen und das Nichtdauerhafte, Flexible oder Fluide der afrikanischen Bezeichnungspraxis, das in der Realität der kolonialen Gegenwart keine praktische Relevanz mehr beanspruchen kann, da es einen vorkolonialen Zustand repräsentiert, dem europäischen Wissensarchiv zu übergeben, also zu historisieren. Nicht fixierte und nicht historisierte Benennungskonventionen stellen eine Irritation dar, sie stören die Orientierung im kolonialen Raum und beeinträchtigen koloniales Handeln. Im wissenschaftlichen wie im literarischen Diskurs trifft man verschiedene Strategien an, dieses Irritationspotential zu bewältigen. Jede Rede von Herrschaft und von Herrschaftsträgern begreift die Kennzeichnung des Beherrschten mit ein: Menschen als Untertanen, Sachwerte wie Gebäude und Vieh, insbesondere das beherrschte Land mit seinen Bewohnern und Dingen. Die Rede von Herrschaftsträgern, ihre bewertende, klassifizierende Bezeichnung, definiert mithin immer auch den Raum oder das Terrain, politisch gewendet: das Territorium, auf welches sich die Herrschaft erstreckt. In der Appellation der obersten politischen Autorität eines Gebietes äußert sich das Verhältnis des Bezeichnenden zu eben diesem Gebiet. Eine Fremdbenennung kann in dieser Hinsicht immer auch Kennzeichen für eine Auseinandersetzung mit vorgefundenen Beherrschern oder Besitzern implizieren. In der Bezeichnung können sich Positionierungen, Rivalität und Anspruchserhebung ausdrücken.

2 Benennung und Rollenzuweisung In Walter Hietzigs Buschkameradschaft, einem „Tatsachenroman“ der letzten Konjunkturphase kolonialistischen Schreibens der späten 1930er und frühen 1940er Jahre, berichtet der Erzähler von einem Jagdausflug ins Innere Angolas, dem Sammelbecken vieler deutscher Kolonisten, denen nach der Niederlage der deutschen Schutztruppen in der Kolonie Südwest ein Verbleiben in dem nunmehrigen Mandatsgebiet unmöglich geworden war. Im Urwald werden sie als

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Gäste zu einer Feier eines noch kaum von der ‘Zivilisation’ berührten Stammes eingeladen: Der Häuptling des wunderlichen Stammes empfing die drei Europäer an der Grenze seines ‘Reiches’, von dem niemand wußte, wo es begann und wo es aufhörte und das auf keiner Landkarte vorzufinden ist. Ein ungekrönter König, der mangels Krone seine gekräuselten und lehmbeschmierten Haare in eine gefährlich aussehende, verlauste Kappe aus Schakalfell gehüllt hatte. (Hietzig 1939: 145f.)

Diese Schilderung dient dem Amüsement der Leser, sie ist heitere Abschweifung in einer ansonsten ernsten Handlung. Der Humor entsteht auf Kosten des Geschilderten, durch Zusammenstoß von zwei scheinbar inkompatiblen Elementen: Begriffen, die dem Lexikon des deutschen Erzählers entstammen, und Begriffsinhalten, die autochthone Verhältnisse spiegeln, die allerdings ebenfalls aus der Sicht des deutschen Beobachters aufgezeichnet werden. So evoziert der Begriff ‘Reich’ die Vorstellung eines festumrissenen Staatsgebiets, die Bezeichnung von dessen Oberhaupt als ‘König’ eine politisch bedeutungsvolle Rolle oder Funktion. Die Diskrepanz zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem liegt selbstverständlich vornehmlich in den an die Begriffe geknüpften Voreinstellungen der Europäer. Aus rhetorischen Gründen werden die Erwartungen sogar noch künstlich aufgebläht: Auch europäische Monarchen laufen schließlich nicht beständig mit Kronen auf dem Haupt herum. Die Frage stellt sich, warum, wo sich die Wirklichkeit mit den Benennungen nicht deckt, der Verfasser auf der Verwendung inkompatibler Begriffe besteht. Der Grund ist nicht Ignoranz oder Alternativlosigkeit, denn schon in seiner Schmähung indigener Kleidungskonventionen schwingt ja die Erkenntnis mit, dass in anderen Kulturen auch andere politische Organisations- und Repräsentationsformen vorherrschen mögen, die von deutscher oder europäischer Begrifflichkeit nur unzureichend abgebildet werden können. Es geht also hier augenscheinlich um die Pointen, welche die Diskrepanzen zwischen Begriffserwartung und Augenschein ermöglichen. Der herabsetzende Witz besagt zunächst, dass andere Kulturen durch andere Sitten, Rituale und Symbole geprägt sind; er besagt allerdings weiterhin, dass diese indigenen Formen als den europäischen unterlegen angesehen werden müssen, da sie bestimmte Inhalte und deren äußerliche Repräsentation vermissen lassen. Die Bewertung dieses Missverhältnisses zwischen Benennung und Benanntem, das heißt die Ausbeutung der Diskrepanz für herablassenden Spott, deutet an, dass die Verantwortung für den Missstand den Objekten der Beobachtung, also den Bezeichneten, angelastet wird. Die Begriffswahl ist absichtsvoll, denn für ‘Reich’ hätte die neutrale, nicht-diffamierende Bezeichnung

92 | Florian Krobb ‘Gebiet’ zur Verfügung gestanden; auch für den Vorsteher eines solchen Gebietes stünden Alternativen zur Verfügung. Dem deutschen ‘König’ nahe kämen nkosi auf Zulu oder mfalme auf Swahili, regionale Bezeichnungen für Würdenträger sind anzunehmen. Mit der Wahl der Benennung als ‘König’ greift der Verfasser tatsächlich auf eine etablierte Tradition im deutschen und insgesamt europäischen Schreiben über Afrika zurück. ‘König’ diente im deutschen AfrikaSchrifttum, besonders in den Reiseberichten der Geographen und Ethnographen des 19. Jahrhunderts, als Standard-Bezeichnung von Herrschern der unterschiedlichsten Stellung und Statur, von Dorfvorstehern bis hin zu Regenten von stabilen und ausgedehnten Flächenstaaten wie Buganda und Bunyoro oder den Zulu-Staaten im südlichen Afrika. Als Übersetzung des von islamisierten Regenten verwendeten Titels Sultan war ‘König’ ebenfalls geläufig. Hinter der Bezeichnung auch eines nur regionalen Herrschers als ‘König’ steht eine lange europäische Benennungspraxis, welche wahrscheinlich auf Übersetzungs- und Erklärungsvorgänge in der Frühzeit der Begegnung von Europäern mit Afrikanern zurückgeht. Dass afrikanische Bezeichnungen von in einem bestimmten Bereich obersten Autoritätsträgern nicht nach Größe und Bevölkerungsmenge ihres Herrschaftsbereichs oder nach Souveränitätsstatus (das heißt (Un-)Abhängigkeit von übergeordneten Herrschern) unterschieden, dass die verschiedensten beobachteten Funktionen (als Kriegsherr, Richter, sakrales Oberhaupt) wie auch Rechtsverhältnisse (oft im Sinne von Vasallität zu beschreiben) alle durch den einen Titel abgedeckt zu sein schienen, wird immer wieder Gegenstand der Kommentare deutscher Afrika-Reisender. Die zitierte Schilderung aus der kurzen Blüte des deutschen Kolonialschrifttums, als die deutschen Erfolge der ersten Kriegsjahre die Restitution des 1918 verlorenen Überseeimperiums eine „Kolonialeuphorie“ auslösten (Linne 2008: 81), als Planungen für die Verwaltung der alt-neuen Protektorate auf Hochtouren liefen und eine Publikationsflut die Bevölkerung an vergangenen kolonialen Ruhm erinnerte, um zu zukünftigen kolonialen Großtaten anzuspornen, steht am vorläufigen Ende eines hundertjährigen deutschen Afrikadiskurses. Hier werden sichtlich Kenntnisse und Einstellungen abgerufen, die sich von vorkolonialen Phantasien über kolonialzeitliche Konstruktionen bis zum kolonialrevanchistischen Diskurs der Weimarer Zeit angesammelt, ausdifferenziert und verfestigt hatten. In ihrer Kondensation ruft diese kurze Episode eine Reihe von Fragen betreffs der Korrelation von Königstitel und Herrschaftsgebiet, Stabilität und sozialer Organisation der als ‘Reich’ diffamierten winzigen politischen Einheit sowie zu Status und Legitimität des Landesvaters auf; ja selbst konstitutionelle Fragen werden angerissen, wenn der Verfasser spottet, die eigentliche Macht des „Allge-

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waltige[n]“ erstrecke sich darauf, durch Händeklatschen bestimmte Feierlichkeiten und Tänze zu starten (vgl. Hietzig 1939: 149). Die Darstellungsabsicht liegt offen zu Tage: solch ein lächerliches Staatswesen verdient es, von wohldefinierten, mächtigen, von richtigen Monarchen regierten europäischen Staatlichkeiten überlagert zu werden, die sich zum Beispiel auf so vermeintlich autoritative Darstellungsformen ihrer Herrschaft berufen können wie die Festlegung und Markierung in offiziellen, allseits akzeptierten, gültigen und stabilen Wissensarchiven wie Karten und Atlanten. Dass die europäischen Machthaber, als deren Repräsentanten die deutschen Reisenden hier auftreten (obgleich oder gerade weil sie soeben ihr eigenes Protektorat an den Weltkriegsgegner verloren haben), solchen politischen Gebilden die Weiterexistenz und ihren Potentaten das Weiterregieren gestatten, liegt genau an deren Harmlosigkeit und Kuriositätenwert, der eben durch die spöttisch-schillernde Beschreibung unterstrichen wird. In der weiteren Beschreibung dieses Würdenträgers verdichtet sich die umrissene Polemik: Nach der einführenden Vorstellung werden mehrere Bedeutungsoptionen des erstverwendeten Begriffs ‘König’ vorgeschlagen, sodann ein Kompromissbegriff angeboten, der als Zuschreibung kenntlich wird, und in dieser Geste alternative Benennungen verworfen oder überboten: „‘Chief’, wie der Häuptling, König oder Werftälteste genannt wird“ (Hietzig 1939: 147). Diese namenlose, generische Gestalt bleibt auf seine Funktion als oberste Autorität in einem nur mit Vorbehalt als politisches Gebilde zu beschreibenden Gebiet beschränkt, doch wie er und mit ihm seine Funktion und sein Machtbereich zu definieren sind, entzieht sich eindeutiger Festlegung. Autochthone politische Erscheinungen, so die Aussage, haben keine Stabilität und daher keine Substanz. Ganz ungeachtet der spöttischen Aussageabsicht belegt die umkreisende Mehrfachbenennung, dass eine präzise und eindeutige Bezeichnung indigener afrikanischer Erscheinungen auch nach einem Jahrhundert deutscher Reiseliteratur und darin enthaltener ethnographischer Ausführungen immer noch Probleme bereitete, dass alle Bezeichnungen nur Näherungswerte bilden konnten, dass man die eigentliche Bedeutung irgendwo in der Schnittmenge der angebotenen Begriffe zu finden vermeinte. Schon längst, schon seit Jahrzehnten, waren neben ‘König’ verschiedene andere Bezeichnungen für indigene afrikanische Würdenträger oder Machthaber in Deutschland geläufig, hatten sich die Begriffe ‘Kapitän’ (Kaptein) im südlichen Afrika und ‘Sultan’, vereinzelt auch ‘Scheich’ oder ‘Chalifa’ im nord- und ostafrikanischen Einflussbereich des Islam eingebürgert. Auffallend in beiden Fällen ist die Übernahme vorgängiger allochthoner Benennungskonventionen, der burisch-holländischen Bezeichnung in Südafrika, der arabischen im islamisch beeinflussten Kulturbereich Afrikas – nicht aber die Anwendung etwaiger indigener Titel, wenn man nicht die seit Jahrhunderten

94 | Florian Krobb verwendeten arabischen bzw. burischen Begriffe selbst als inzwischen autochthon oder afrikanisiert ansieht. Die Identifizierung als ‘König’ beruht auf einem vorgängigen Interpretationsakt, der behelfsmäßigen Subsumierung verschiedener einheimischer Bezeichnungen unter einen Oberbegriff und der Einbürgerung dieser immer schon als inadäquat empfundenen Bezeichnung. Die angebotenen Bezeichnungen erlauben weitere Beobachtungen zu Herrschaft und beherrschtem Terrain im kolonialen Raum. Stutzig macht zunächst, dass der im südlichen Afrika verbreiteteste Begriff für einen Anführer einer indigenen Gemeinschaft nicht fällt, vielleicht, so mag spekuliert werden, weil ‘Kapitän’ in der allgemeinen Sprachverwendung stark mit kriegerischen Einheiten der Herero und Nama assoziiert war, denjenigen Bevölkerungsgruppen, welche der deutschen Kolonialherrschaft den entschiedensten Widerstand entgegengebracht hatten. In der Bezeichnung als ‘Kapitän’ schwingt von deutscher Seite immer auch ein Anteil Respekt vor einem ernstzunehmenden Gegner mit, dessen Überwindung genau deswegen so identitätsbildend für die deutsche kollektive Kolonialmentalität in Südwest wurde (vgl. Parr 2003). Weiterhin transportiert der militärische oder nautische Begriff die Bedeutung von Mobilität, passt also vornehmlich auf nomadisierende oder teilweise nomadisierende Steppenbewohner und bewegliche Verbände der Kriegsführung. Beide Elemente treffen auf die Gemeinschaft, deren Oberhaupt hier bezeichnet wird, nicht zu. Mit ‘Werftältester’ wird dann ein Begriff ins Spiel gebracht, der wie ‘Kapitän’ auf niederdeutschen, niederländischen und burischen Wurzeln beruht. Laut Grimm & Grimm bezeichnet ‘Werft’ einen „schutzwall gegen hochwasser, deich, damm“, in Ableitung davon dann eine „erhöhte hausstätte an der Nordseeküste [...], der platz, auf dem die gebäude zur sicherung gegen überschwemmungen stehen“, also allgemein Hof oder Bauerngut; und zuletzt „die von palisaden umgebenen wohnstätten der eingeborenen in Südwestafrika“ (Grimm & Grimm 1984: 307ff.). Die Analogiebildung zu ‘Dorfältester’ identifiziert den Bezeichneten als Oberhaupt einer nur mäßig großen Ansiedlung und eines sesshaften Verbandes. Als ‘Ältestem’ wird dem Bezeichneten ein eher informeller Ehrentitel verliehen. Das englische ‘Chief’ schließlich teilt natürlich mit ‘Kapitän’ und ‘Häuptling’ die Ableitung aus lat. caput. Seit dem 16. Jahrhundert war diese Bezeichnung für Oberhäupter schottischer Clans üblich; sie konnotierte zunehmend eine sozial herausgehobene Position, die nach der Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings in Großbritannien keinen Rechtsstatus mehr hatte. In dieser weiten Bedeutung des Rang- und Statushöchsten in einem informellen (Personen- oder Gefolgschafts-)Verband, dessen geographische Reichweite, Macht oder Einfluss unbestimmt bleiben und der in einem übergeordneten Staat existierte (hier das

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vereinigte Königreich Großbritannien) wurde er tauglich als generische Bezeichnung für Oberhäupter ‘eingeborener’ Gruppenverbände: für informelle sesshafte oder mobile Gruppen, für Stamm, Volk, Gefolgschaft, Dorfgemeinschaft. Die Verwendung im vorliegenden Zusammenhang beleuchtet einige wichtige Tendenzen: Da sie nicht mehr spezifisch für südafrikanische Verhältnisse ist wie beispielsweise ‘Kapitän’, konstruiert sie eine generische Klassifikation (der Titel passt auf jedes Haupt jeder informellen ‘eingeborenen’ Gemeinschaft überall in der Welt, ob die Funktion des Trägers nun der Wortbedeutung Führer, Kriegsherr oder Herrscher nähersteht). In der Wortverwendung im Kontext von generischem ‘Eingeborenentum’ liegt mithin gegen die etymologische Wortbedeutung eine Statusverminderung und Entspezifizierung. Weiterhin deutet die Verwendung auf die zunehmende Hegemonie des Englischen als Kolonialsprache. Die in dem zitierten Roman durch die Migration der Deutschen ins Nachbarterritorium markierte Vermischung kolonialer Bevölkerungen, der die Migration von ‘indigenen’ Bevölkerungen (nomadisierende Lebensformen, Arbeitsmigration innerhalb und zwischen Kolonien, Umsiedlungsmaßnahmen) korrespondierte, ist Bestandteil eines Einschleifungsprozesses sprachlicher Eigentümlichkeiten und ihrer Überlagerung durch eine koloniale Begrifflichkeit englischen Ursprungs, welche sich von Schottland über Nordamerika und andere englischsprachige Überseeterritorien nach Afrika ausbreitete. Doch in der Invokation von ‘Chief’ als Sammel- und Kompromissbegriff für die anderen vorgeschlagenen Benennungsoptionen schwingt immer noch mit, dass die Bedeutung des generischen englischen Begriffs schwer zu fassen ist, dass Verwendungszusammenhang und -perspektive schwammig bleiben, denn die passivische Verwendung („genannt wird“) lässt ja offen, wer diese Anrede verwendet: die afrikanische Ethnie selbst (dann wäre es ein Akt der Adaption kolonialistischer Fremddefinition, also der Übertragung eines europäischen Begriffs auf ein einheimisches Phänomen), die portugiesischen Kolonialherren, auf deren Territorium man sich befindet, oder die deutschen Jäger, denen die Einladung gilt und deren einer als Erzähler des vorliegenden Berichtes identifiziert werden muss. Beide letzteren Möglichkeiten verweisen auf die Existenz eines gemeinschaftlichen kolonialen Vokabulars, das Sprachgrenzen überschreitet, aber Phänomene kennzeichnet, die für den Geltungsbereich des Begriffs spezifisch sind (wie im burischen und deutschen südlichen Afrika das englische story für Gerüchte, Lebensgeschichten, Informationsfetzen, Legenden Anwendung fand, das vom holländischen oorlog entliehene Orlog von allen Kriegsparteien im südlichen Afrika für Busch- und Steppenkrieg benutzt wurde). Die generische Bezeichnung ihrer Oberhäupter bewirkt mithin die rhetorische Unifor-

96 | Florian Krobb misierung kolonialer Untertanen und darüber die Nivellierung und Subsumption kolonialen Raumes insgesamt. Ein sich zum Vergleich anbietendes Beispiel für die Benennung kleiner afrikanischer Würdenträger enthält ein kurzer Dialog aus Rudolf Sendkes deutschostafrikanischem Erinnerungsbuch Aus verlorenem Sonnenland von 1925: „‘Was ist los?’ [fragt der in seinem Quartier aufgesuchte Erzähler] Der Jumbe (Ortsschulze) sei draußen und wünsche ein Schauri mit mir. ‘Ich komme sofort’“ (Sendke 1925: 37). Die Suaheli-Bezeichnung Schauri als Unterredung über einen problematischen Gegenstand (hier einen Leopard, der die Ansiedlung bedroht) war früher bereits eingeführt, bedarf mithin nicht der Erläuterung wie der Titel Jumbe. In indirekter Rede gibt der Erzähler dem einheimischen Boten selbst das Wort, indem er dessen eigene Bezeichnung seines Vorgesetzten wiedergibt; die parenthetische Erläuterung stellt dagegen einen Eingemeindungsakt dar, den Versuch einer deutschen Übersetzung, die der oben angebotenen Bezeichnung als ‘Werftältester’ analog zu verstehen ist. Die Szene enthält keinerlei Ironisierung indigener Verhältnisse und Begrifflichkeit; die Darstellung porträtiert die indigene kommunale politische Ordnung als normal und selbstverständlich, keineswegs als befremdlich. Dieser Eindruck wird erzielt durch eine implizite KongruenzBehauptung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem sowie zwischen einheimischem Begriff und deutschem Äquivalent. Damit ist das Verhältnis zwischen europäischen Reisenden, einheimischen Würdenträgern und dem betreffenden Gebiet ganz anders konfiguriert als in dem Ausgangsbeispiel: Es weist insbesondere keinerlei Ambivalenzen auf, lässt keinen Spielraum offen für Polemik, Satire oder überhaupt eine Erörterung seiner selbst. Das gemeinte Gebiet und dessen Vorsteher sind Teil des deutschen Protektorats, dessen Vertreter hier mit Untertanen interagiert, denen er sich durch Verständnis wie Hilfeleistung (die erfolgreiche Jagd des Leoparden) als benevolente Obrigkeit präsentiert. Die Benennungspraxis in diesen beiden Beispielen beleuchtet (mindestens) dreierlei: Erstens spiegelt sie Selbstpositionierungen der Sprecher (der Verfasser der zitierten Bücher) vis à vis den indigenen Erscheinungen. Die spöttische Distanz im ersten Beispiel suggeriert Überlegenheit; die selbstverständliche Akzeptanz einheimischer Konventionen im zweiten Beispiel eine Annäherung zwischen dem Europäer und den afrikanischen Verhältnissen; allerdings suggeriert das zweite Beispiel auch eine Selbstdarstellung des Sprechers als des Suaheli mächtig und insofern kulturell dem Einheimischen überlegenen. Die Überlegenheit im ersten Fall basiert auf fingierter Unkenntnis, über die eine Abqualifizierung des nicht Kenn- weil nicht präzise Benennbaren transportiert wird; die Überlegenheit im zweiten Beispiel basiert auf wissender Anverwandlung des Indigenen.

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Zweitens impliziert sie eine Rollenzuweisung an den Bezeichneten durch Definition von dessen Status als im ersten Fall lächerlich und in beiden Beispielen als politisch weitgehend ohnmächtig. Der machtlose ‘König’ hat keinen Anspruch auf Souveränität, ja noch nicht einmal auf Respekt. Sein unbestimmbares Herrschaftsgebiet verdient es, größeren, stabileren, präzise beschreibbaren europäischen Strukturen einverleibt zu sein; seine Harmlosigkeit stellt keine Gefahr für kolonialistische Verhältnisse dar; seine Beschreibung dient der diskursiven Affirmation des kolonialistischen, suprematistischen Weltbildes der Europäer. Für den als ‘Dorfschulze’ Bezeichneten stellt sich die Frage nach seiner Souveränität noch nicht einmal; er wird von vornherein nicht nur als Träger einer geringen Macht designiert, sondern als Subalterner. In dieser Funktion, als kolonialer Untertan, mag er den Respekt des deutschen Berichterstatters genießen, denn dieser Respekt gilt als Ausweis eines guten Gouvernements durch die Kolonialmacht, als deren Repräsentant sich der als Schulleiter wirkende Verfasser in seinen Erinnerungen geriert. Drittens spiegelt sich in den Benennungen Kolonialgeschichte als Geschichte der Begegnung mit dem kulturell Fremden, der definitorischen Vereinnahmung durch Einfügung in europäische Wissensarsenale, die sich als Begriffsarsenale manifestieren – und damit der intellektuellen Unterwerfung des Indigenen. Beide Beispiele sind retrospektiv und daher folgenlos; sie spiegeln Konventionen und Mentalitäten. Beispiele der Benennung aus im konkreteren Sinne kolonialen Kontexten, welche koloniale Entwicklungen spiegeln und begleiten, verraten deutlicher, wie sich in der Benennung Anspruch ausprägt, wie die Benennungspraxis Durchsetzungsstrategien dieser Ansprüche reflektiert und wie Ziele von Appellation und vereinnahmender Bezeichnung in deren Verwendungszusammenhängen zum Ausdruck gelangen.

3 Benennung und Umgang In einer von Richard Büttner 1884 geschilderten Szene, die am Vorabend der Berliner Konferenz im Kontext des Positionsgerangels um Einfluss und Zugriff auf das Kongobecken spielt, tritt die Anrede und Benennung eines afrikanischen Würdenträgers sehr deutlich als implizite Handreichung für Besitzergreifungen zu Tage. Der im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland Reisende ist nicht nur Beobachter, sondern Akteur zwischen Portugiesen, Franzosen, dem neuen Bewerber um Einfluss in Afrika Leopold II. von Belgien und den hier nicht unmittelbar an Kolonialbesitz in dieser Weltgegend Interessierten, aber als Machtbroker in allen kolonialdiplomatischen Angelegenheiten

98 | Florian Krobb agierenden Briten. Denn seine Mission diente unter anderem der Erkundung von Machtverhältnissen in dem in Rede stehenden Gebiet und von Möglichkeiten der Einflussnahme im Zeichen des von Leopold II. und seiner Association Internationale Africaine ausgelösten Wettlaufs um Besitzergreifung im Kongobecken. Hier ist die semantische Kontrastfolie der Titulierung des örtlichen Potentaten nicht nur die als erbärmlich geschmähte tatsächliche Macht des Inhabers der Königswürde, sondern auch vergangene Macht und Größe seines ‘Reiches’. Die Szene schildert Richard Büttners Begegnung mit dem König von Kongo Dom Pedro V. in dessen Residenzstadt San Salvador. Dieses Kongo-Königreich soll seit dem 15. Jahrhundert ununterbrochen bestanden haben; schon um 1490 hatte die Elite das Christentum, europäische Adelstitel und portugiesische Namen angenommen; der Hauptort mit Basiliken und Klöstern soll ebenfalls europäisches Gepräge getragen haben. Büttner erinnert an diesen vergangenen Ruhm durch Beschreibung von Ruinen ehemaliger Prachtbauten. Der gegenwärtige Zustand unterscheidet sich allerdings kaum von dem anderswo in Afrika vorzufindenden, wo die Residenzen der örtlichen Herrscher als Lehmhütten, ihre Throne als Basthocker und ihre Insignien als Theaterattrappen geschmäht werden. In dieser Situation kommen nun kolonialpolitisch höchst relevante Entwicklungen zur Sprache. Der diplomatische ‘Fall’ betrifft den vermeintlichen förmlichen Protest des Königs Dom Pedro V. gegen die Gebietserwerbungen der Association Internationale Africaine auf dem linken Ufer des Kongostroms [...], welchem Protest eine ausdrückliche Anerkennung der portugiesischen Suzeränität über das Königreich Kongo angeschlossen war. (Büttner 2008: 82)

Verhandelt werden hier mithin Fragen der Autonomie des lokalen Herrschers – oder besser, die Grenzen seiner Fähigkeit, sein Abhängigkeitsverhältnis selbst zu bestimmen, was in diesem Fall gegen Henry Morton Stanleys Besitzergreifungen im Namen des belgischen Königs Leopold II. die Bestätigung der seit nunmehr fast vier Jahrhunderten bestehenden nominellen Vasallität zur portugiesischen Krone bedeutete. Von Anfang an steht die Passage im Zeichen der Reflexion über die Angemessenheit von Bezeichnungen für die wahrgenommenen Zustände: Der Weg vom Missionshause war nur kurz, er führte über einen mit großen schattigen Bäumen bestandenen Platz zum Eingang [der] Wohnung Dom Pedros V. [...]. Ich sage ‘Wohnung’, da ich nicht Palast sagen kann und doch auch eigentlich nicht von der ‘Hütte’ eines Monarchen sprechen darf (Büttner 2008: 83)

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– womit er genau dies eben doch tut. Diese verbale Vorbereitung auf die eigentliche Audienz determiniert dann auch das Verständnis der im Folgenden zweimal verwendeten Benennung oder Amtsbezeichnung sowie, damit verbunden, die Wahrnehmung des örtlichen Würdenträgers als diplomatischem Verhandlungspartner: Eintretend fanden wir uns unmittelbar der schwarzen Kongomajestät gegenüber, die in einem mit rotem Tuch ausgeschlagenen Lehnstuhl ruhte. Ich ging auf den König zu [...] und drückte ihm, da ich wenig von dem hier üblichen Hofzeremoniell wußte, freundlich die gewaltige fleischige Rechte. [...] Die Unterredung mit den schwarzen Majestäten ist immer dieselbe. Man sagt: wir kommen aus einem fernen Lande, um Dein Land zu sehen und Dir Geschenke zu bringen [...]. (Büttner 2008: 83 und 85)

Als das umstrittene Schriftstück zur Sprache kommt, erweist sich der König als inkompetenter Diplomat, will erst abstreiten, muss aber die Tat gestehen, da der anwesende englische Missionar dessen Unterredung mit seinem Berater versteht und ihn zur Rede stellt. Gewisse Analogien zu der ein halbes Jahrhundert später beschriebenen Szene in Angola sind offensichtlich: das fast schon gehässige Ausspielen der vermeintlichen Disparität zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, wobei die Verwendung der Begriffe ‘Monarch’ und ‘Majestät’ sehr gezielt erfolgt, um durch rhetorische Erhöhung die Falltiefe zum Tatsächlichen wirkungsvoll zu vergrößern. Weiterhin wird die Herabsetzung des örtlichen Würdenträgers unterstützt durch eine Unterstellung von Habgier und Käuflichkeit, aber auch eines einfachen Geschmacks und kindlichen Gemüts, zum Beispiel wenn die Gastgeschenke aufgeführt werden, welche dem diplomatischen Zwischenspiel ein Ende setzen: Um diese Verhandlungen abzubrechen, ließ ich unsere Geschenke ausbreiten [...]. Es waren ein Regenschirm, eine Reisedecke mit der Darstellung eines gewaltigen Löwen, ein sehr gutes buntgewürfeltes Tafeltuch, ein großer Shawl [und andere Textilwaren]. Der König schien aufrichtig erfreut [...]. (Büttner 2008: 86)

Die ambivalente Signifikanz dieser Gaben – ihre Konventionalität, denn Textilien galten im tropischen Afrika zusammen mit bunten Perlen als Währung, die trivialste Häuslichkeit von Regenschutz und Tischdecke in Kombination mit dem quasi-heraldischen Löwen – spiegelt die Haltung, mit der Büttner seinem Gegenüber begegnete. Die Aussage ist nicht nur, dass man mit solchen Potentaten nicht als gleichberechtigten Partnern verhandeln kann, sondern dass man dies auch nicht braucht, da der potentielle Verhandlungspartner sich durch ‘Käuflichkeit’ mit billigsten Tauschwaren und seiner Eitelkeit schmeichelnden Symbolen selbst

100 | Florian Krobb disqualifiziert.1 Diese Argumentation wird ganz entschieden von der Benennung nahegelegt. Wie die ‘Majestät’, so ist das gesamte ‘Reich’ unschwer zu ‘gewinnen’; wie der kurze Zwischenfall durch Ablenkung beigelegt wird, so können durch diplomatische Winkelzüge europäische Ziele erreicht werden, fast ohne dass der ahnungslose Potentat dies merkt. Das Indigene als politische Kraft wird hier ‘vorgeführt’ und diese Zurschaustellung der Harmlosigkeit bindet sich eindeutig an den despektierlich-entlarvenden Gebrauch der Benennung. In seiner Beschreibung eines anderen ‘diplomatischen’ Zwischenfalls legt der draufgängerische Kavaliersreisende Gustav Adolf Graf von Götzen zur Benennung indigener Würdenträger bewusst Parallelen zu mittelalterlichen Hofämtern und Praktiken nahe, verleiht mithin dem Objekt der Beschreibung eine gewisse Würde und Funktion, nur um selbige dann in einer anmaßenden Geste wieder hinwegzuwischen. Als er erstmals an den Hof des Königs Kigeri (auch Luabugiri) von Ruanda gelangt (übrigens ein Gebiet von enormer kolonialpolitischer Bedeutung zwischen Deutsch-Ostafrika und Kongo-Freistaat), spielt sich folgende Szene ab: Dieser Riese – offenbar eine Art Seneschall oder Ceremonienmeister – tritt auf mich zu und bedeutet mir mit gebieterischer Geberde, indem er mit einem weissen Stab zur Erde zeigt, Halt zu machen. Als ich ihn lächelnd ansehe und an ihm vorüber reite, malt sich sprachloses Erstaunen auf seinen Zügen. Als dann gar einige meiner Leute in lautes Lachen ausbrechen; eilt er in grossen Sätzen wieder in den Hofraum zurück, um seinem Herrn diese unerhörte Missachtung seiner Autorität zu melden. (Götzen 1895: 178f.)

Wurde schon die Ablenkung und Gefügigmachung durch Gastgeschenke bei Büttner als verbreitete Praxis im Umgang mit Subalternen dargestellt, so stellt die nassforsche Respektlosigkeit, ja das physische Überrumpeln des indigenen Würdenträgers eine Steigerungsstufe dieser Haltung dar. Die Darstellung zieht ihre besondere Wirkung aus der Verwendung von Bezeichnungen für traditionelle europäische Hofämter, welche gerade der Aufrechterhaltung von Umgangsformen und diplomatischem Zeremoniell gewidmet waren. Die Szene vermittelt die Aussage, dass Indigene keinerlei Anspruch haben, auf Einhaltung ihrer eigenen rangverhandelnden Rituale zu insistieren, wenn diese auch nur irgend so inter|| 1 Zum Vergleich sei an die Gastgeschenke erinnert, die Wilhelm II. von Preußen Gustav Nachtigal 1869 für den Sultan von Bornu mitgibt: Die Bildnisse der königlichen Familie und Zündnadelgewehre, die Stutzuhr und der Thron repräsentieren nicht nur deutsche technische Leistungsfähigkeit und bilden damit eine Selbstdarstellung deutscher Handelsmacht, mit der sich Preußen als für die Entwicklung des Landes hilfreichen Partner anbietet, die Gastgeschenke signalisieren auch ernsthafte diplomatische Absichten und Anerkennung der Würde des Gegenübers. Beides sind Gesten, die den Beschenkten nicht a priori herabsetzen.

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pretiert werden können, dass mit ihnen eine Rangverminderung des Europäers einher geht. Die Einhaltung autochthoner symbolischer Ordnungen, so die Aussage, ist zum Erreichen der eigenen Ziele (hier lediglich sichere Passage durch das Gebiet, logistische Unterstützung durch Verkauf von Lebensmitteln und vielleicht Bereitstellung von Führern und Trägern; in Verlängerung der Logik aber natürlich Besitznahme) nicht notwendig. Die Gültigkeit indigener Rituale oder Zeremonielle für Europäer wird im Handstreich ausgesetzt. Die ironische Benennung des Funktionsträgers richtet sich mithin nicht gegen diesen selbst, sondern gegen eine vermeintliche Anmaßung des Indigenen, überhaupt Zeremonielle gegenüber den Europäern in Anschlag zu bringen, welche durch deren traditionelle Bezeichnungen als europäische Domäne reklamiert sind. Götzen appliziert Begriffe oder Benennungen, um umgehend ihre angebliche Unangemessenheit zum Werkzeug der Denunzierung des Bezeichneten zu machen. Er inszeniert mithin performativ eine Art Demütigung (oder beschreibt sie jedenfalls in seinem Reisebericht in diesem Modus), wie sie fast ein halbes Jahrhundert später Walter Hietzigs Bezeichnungspraxis prägt. Götzen beruft sich zur Rechtfertigung seiner Missachtung afrikanischer Höflichkeitsgebote und Rituale auf einen prominenten Topos des kolonialistischen Diskurses, dass nämlich der vermeintlich despotisch-willkürliche Charakter indigener afrikanischer Herrschaft den Trägern dieser Herrschaft jegliche Legitimation abspricht: Luabugiri ist eine der letzten Säulen der alten, innerafrikanischen Despotenherrlichkeit. Seine ererbte Nomadennatur hat sich erhalten, und als echter Beherrscher eines Volkes, das einst ein Hirtenleben führte, zieht er noch heute – wie im frühen Mittelalter die deutschen Könige – im ganzen Lande umher [...]. (Götzen 1895: 186)

In dieser Bemerkung fließen einige Gesichtspunkte ineinander: Die Herrschaftsform des örtlichen Machthabers erscheint als Relikt einer Vergangenheit, die in Europa längst überwunden ist, einer Vergangenheit, die durch die Evokation des mittelalterlichen Hofamtes evoziert ist. Die indigene Herrschaft und ihr Durchsetzungsagent werden dergestalt als anachronistisch und überholt abgestempelt – und wie der Amtsträger einfach stehen gelassen wird, so wird die Zeit über seinen Chef und dessen ohnehin schlecht definiertes und instabiles Territorium hinweggehen. Auch wenn der deutsche Reisende diese Haltung durch einen willkürlichen und eigenwilligen Akt durchsetzt und somit vollzieht, wessen er den Ruanda-König beschuldigt, stellt der Despotie-Vorwurf eine schlagkräftige Legitimation zum Umsturz der bestehenden Herrschaft bereit. Die Etikettierung des Königs als Despot und seiner Exekutive als Erfüllungsgehilfe eines anachronistischen Anspruchs beraubt die Bezeichneten jeg-

102 | Florian Krobb lichen Agens und spricht ihrer Kultur jegliche Werthaftigkeit ab; die Bezeichneten werden diskursiv auf einen subalternen Platz verwiesen, verschattet2 und, wie der Seneschall in dieser Szene, ‘sprachlos’ gemacht. In Texten, wo die Selbstinszenierung des Schilderers als draufgängerischer Eroberertyp weniger nassforsch ist, der Ton neutraler, die zum Ausdruck kommende Einstellung gegenüber dem Indigenen respektvoller, wo auf aggressiven Machtgestus und diskursive Gewalt verzichtet wird, wohnt der Verwendung von Benennung und Bezeichnung trotzdem ein Akt kolonialer Aneignung inne, der in seiner Wirkung dem gewalttätigen kaum nachsteht.

4 Benennung und Herrschaft In dem aus der einschlägigen Reise- und Forschungsliteratur der Zeit zusammengestellten Kompendium Schwarze Fürsten des regen Kolonialschreibers Carl Falkenhorst (Pseudonym für Stanislaus von Jezewski [1853–1913], Mitarbeiter, seit 1903 Redakteur der Gartenlaube und Verfasser vieler populärwissenschaftlicher Afrikabücher sowie zahlreicher afrikanischer Jugend- und Abenteuergeschichten)3 finden sich zahlreiche Beispiele für die Diskussion und Unterfütterung der hier aufgeworfenen Fragen und Sachverhalte. Ein solches Beispiel betrifft die Nachfolgeregelung in einem kleinen Herrschaftsbezirk im Inneren Ostafrikas um 1881–82. Die Schilderung der dortigen Sitten und der Ereignisse im Umfeld eines Machtwechsels unmittelbar nach dem Tod des Vorgängers erwecken auf den ersten Blick den Eindruck eines sachlichen und respektvollen Berichts, der um tiefes Verständnis und angemessene Vermittlung der lokalen Verhältnisse bemüht ist. Die ausgiebige Verwendung indigener Begrifflichkeit für geographisch-politische Einheiten, für Würden- und Funktionsträger, Rituale und Traditionen ist eines der Mittel, mit welchen der Eindruck von Sachlichkeit, Objektivität und Respekt vor indigenen Verhältnissen erzeugt wird. Um einen angemessenen Eindruck von diesem quasi-ethnographischen Beschreibungsverfahren und von den zur Rede stehenden Sachverhalten zu geben, muss ein etwas ausführlicherer Passus zitiert werden: || 2 Zum Aspekt der „Verschattung“ des Indigenen vgl. die Einleitung zu Gutjahr & Hermes (2011). 3 Falkenhorst verdient mehr Beachtung in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialdiskurses; in seinen Schriften zeigt er sich als vehementer Kolonialenthusiast, aber nuanciert in seiner Darstellung des Indigenen. Seine Abenteuerromane dagegen erscheinen konstruiert und farblos. Zu seinem Jugendbuchzyklus Ein afrikanischer Lederstrumpf (Stuttgart 1888–89) vgl. Fiedler (2005: 214–220).

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Tabora, die Niederlassung der Araber, liegt in Unjanjebe, einem Distrikt von Unjamwesi, welcher unter einem besonderen Mtemi steht. Die Araber haben ihn aus Bequemlichkeit an der Spitze seines Staates gelassen; er ist in ihren Händen ein gefügiges Werkzeug und regiert für sie das Land. Südwestlich von Unjanjembe liegt ein zweiter Unjamwesistaat Ugunda, welches bis zum Anfang der achtziger Jahre selbständiger als Unjanjembe geblieben war und nur in Kriegsfällen und bei der Wahl des Mtemi von dem Bescheid der Araber und des Mtemi von Unjanjembe abhängig war. [...] In [Gonda, dem Hauptort von Ugunda] starb am 18. Juli 1881 der damalige Häuptling Mlimangobe oder der ‘gute Hirt’, wie die Übersetzung seines Namens lautet. Nur wenige der Wanjapara, der Beiräte der Krone, waren dabei zugegen, und der alten Sitte gemäss hielten sie den Tod des Fürsten vor dem Volke geheim. Der Mtemi hatte ja Verwandte, welche die Kunde von seinem Tode zu Erbfolgestreitigkeiten benützen könnten. Darum wurde im Hofe des Quikuru [das anderswo als ‘Palast’ bezeichnete Häuserensemble des Königs] in aller Stille in dunkler Nacht ein Grab gegraben, in welches der mit dunklen Tüchern verhüllte Leichnam des Fürsten versenkt wurde [...]. Insgeheim wurden nun alle Wanjapara, Kronbeiräte, und alle Wagaue, d.h. Adlige und Vornehme des Reiches, berufen, nach Gonda zu kommen. Still, ohne dass das Volk eine Ahnung von den Vorgängen hatte, schritt man zur Wahl eines neuen Mtemi. Und dieser Fürst war diesmal kein Mann, die geheime Wahl fiel auf Discha oder Ndischa, die rechte Schwester des verstorbenen Mlimangombe. (Falkenhorst 2003: 315f.)

Zum Verständnis des Stellenwerts dieser Episode kurz vor Carl Peters’ Anstrengungen, Bismarck die Region als Protektorat anzudienen, ist eine Synopse der weiteren Ereignisse notwendig: Zur machtpolitischen Absicherung des Thronanspruchs lädt die designierte Sultanin Discha Abgesandte einer nahen deutschen Station ein, ihren Sitz nach Gonda zu verlegen. Nach langen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, in welche der Lehnsherr Ugundas und dessen arabische Protektoren durch Aufstellung eines Gegenprätendenten eingreifen, kann ein Jahr später der Konflikt gelöst werden durch die Amtseinführung der ursprünglichen Thronerbin. Der Abschluss der Zeremonie gipfelt in einem Akt, der ein Kondominium von Deutschen mit der siegreichen Kronprätendentin inauguriert, welches de facto das Herrschaftsgebiet der ‘Sultanin’ aus dem Vasallitätsverhältnis zu dem Marionettenstaat der Araber herauslöst und in ein neues Schutzverhältnis stellt: „So festlich geschmückt, wurde die Königin wieder vorgeführt und neben Reichard gesetzt, indem man erklärte, dass von nun an Discha und die Wasungu [Europäer] zusammen Sultane sein sollten“ (Falkenhorst 2003: 323).4

|| 4 Falkenhorsts Text beruht im Wesentlichen auf (zumeist unbetitelten) Korrespondenzen, die Reichard und sein Begleiter Edward Kaiser in den Mittheilungen der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland veröffentlichten (z.B. Reichard 1882).

104 | Florian Krobb Im Vorfeld der Annexion der in Rede stehenden Gebiete durch das Deutsche Reich markiert dieser Ausgang einen entscheidenden Schritt in der Überführung informellen Einflusses in nach indigenen Vorstellungen rechtskräftige Herrschaft. Die Signifikanz dieses Ausganges liegt darin, dass er so gelesen werden kann, dass das deutsche Eingreifen auf Wunsch und im Interesse von legitimen indigenen Parteien und gegen den Einfluss der ‘Araber’ erfolgte, dass er lokale Rechtsgepflogenheiten ratifizierte („der alten Sitte gemäss“), lokale Autonomie stützte und dass er angetan war, dem Land durch politische Stabilität (die sich unter anderem in linguistischer Eindeutigkeit manifestiert) eine gedeihliche Entwicklung zu bescheren. Diese Interpretation fügt sich in das deutsche kolonialistische Narrativ ein, das Eingreifen und Besitznahme als Hilfestellung legitimiert (vgl. z.B. Krobb 2014). Die Schilderung der Erbschaftsstreitigkeiten wird mit der folgenden Bemerkung eingeführt, welche andeutet, dass das ethnographische Interesse, wie es sich in der originalsprachlichen Benennung niederschlägt, in argumentative Zusammenhänge eingebettet ist, die kolonialistischen Zielen dienen: Das Mondland und seine Völker sind für Deutsch-Ostafrika von hoher Bedeutung; wenn Deutschland sich am Südufer des Victoria-Njansa und am Ostufer des Tanganjika festsetzen will, so muss es die Wanjamwesi für sich zu gewinnen suchen. Die Geschichte des Landes zeigt uns aber, dass sie unter tüchtiger Leitung sich nützlich machen können. (Falkenhorst 2003: 314f.)

Diese Bemerkung Falkenhorsts, der die ausführlichen Ausschnitte aus den Berichten von Paul Reichard und Richard Böhm einleitet, stammt aus den frühen 1890er Jahren, während die Ereignisse selbst vor der Protektoratserklärung stattfanden. In der späteren Rekontextualisierung wird aus dem ethnographischen Bericht ein einschlägiges Beispiel für Einflussnahme auf örtliche Herrscher und deren Einbezug in das deutsche Herrschaftsgebiet durch rechtliche Gleichstellung der Vertreter der deutschen Kolonialmacht mit der örtlichen Herrscherin. Der Fall vermittelt einen Vorgeschmack auf Carl Peters (durchaus rüdere) Praktiken des Erwerbs von Rechtsansprüchen auf ostafrikanische Landstriche (vgl. zum Gesamtkontext Bückendorf 1997). Im kolonialpolitischen Kontext des Abushiri-Aufstandes (1889–90) erhält ein Ergebnis dieses Falles besondere Aktualität: das Eindämmen des Einflusses der ‘Araber’ im Machtgerangel regionaler Politik. Die Tonlage dieses Berichts unterscheidet sich deutlich von der des forschen Adligen, obgleich ähnliche Erscheinungen beschrieben werden: Rituale und Rollen von Funktionsträgern, Vasallitäts- und andere politische Abhängigkeitsverhältnisse – und dieser Eindruck beruht ganz entschieden auf einer

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nichtironischen Verwendung indigener Bezeichnungen. Es entsteht auf den ersten Blick nicht die Notwendigkeit, die Funktionen der Beteiligten mit europäischen oder deutschen Entsprechungen zu belegen und aus der unvermeidlichen Diskrepanz ironisches, polemisches, diffamierendes Kapital zu schlagen, wie wenn von ‘Majestäten’ und ‘Seneschallen’ die Rede ist. Deutsche Äquivalenzbegriffe scheinen neutral und generisch gewählt (Fürst statt König, Adlige und Vornehme statt bestimmter Hofämter); selbst dem Begriff ‘Reich’ kommt in dem vorliegenden Zusammenhang keinerlei satirische Kraft zu. Hier scheint ethnographisch-sachlich berichtet zu werden und durch Verwendung der authentischen Begrifflichkeit Respekt vor indigenen Verhältnissen zum Ausdruck zu kommen. Das Bezeichnungsgemisch König, Fürst, Sultan(in), Mtemi spiegelt eine Gemengelage von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen in dem in Rede stehenden Gebiet; die Verwendung indigener Begrifflichkeit und eine betont sachliche Schilderung von Ereignissen und Ritualen signalisiert einen Respekt, der dem von Sendke dem Dorfschulzen gezeigten verwandt erscheint, aber wie letzterer zu erkennen gibt, dass das Wissen um und die Anteilnahme an indigenen Gegebenheiten erfolgsversprechender im Sinne des kolonialen Projekts der Deutschen ist als distanzierte Arroganz oder waffenstarrendes Auftrumpfen. Ist es doch gerade die Kenntnis von lokalen Sitten und vasallitätsähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die es ermöglicht, sich die Verhältnisse zunutze zu machen. Der Ausgang der Nachfolgeregelung gewährt Zugriff auf ein Gebiet, dessen Ausdehnung und Rechtsstatus sich in der Person des Herrschers (hier der Herrscherin) konkretisiert – Einfluss auf die Herrscherin verleiht Macht über das Territorium; das Verstehen der in den Bezeichnungen manifesten Machtund Rechtsverhältnisse ist das Mittel, diesen Einfluss zu erwerben. In dieser Logik Falkenhorsts drückt sich ein politisches Selbstverständnis aus, das direkt auf seiner eigenen Verwurzelung im vereinigten deutschen Nationalstaat des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts fußt. Er geht ja von einer Kongruenz zwischen Territorium und Souverän als Fundament europäischer Nationalstaatlichkeit aus – ob diese hier wirklich gegeben war, ob die Sultanin oder ihre Vorgänger tatsächlich ein klar begrenztes Territorium beherrschten, mit welcher Machtvollkommenheit sie es beherrschten, wie stabil dieser Status tatsächlich war, all dies spielt in der Darstellung keine Rolle. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, dass die Sättigung der Sprache mit authentischer Begrifflichkeit (wie authentisch diese phonetischen Umschriften in lateinischen Buchstaben tatsächlich waren, ist eine gesonderte Frage) eine Erklärungsgewissheit vorspiegelt, mittels welcher sich die Darstellung der Hinterfragung entzieht. Es wird eine gewisse Klarheit rechtlicher wie dynastischer Verhältnisse suggeriert,

106 | Florian Krobb welche an Prinzipien der vorabsolutistischen Monarchie oder des mittelalterlichen Wahlkönigtums erinnert. Die Übersetzung der örtlichen Konventionen in vertraute europäische verfassungsrechtliche Kategorien kommt hier allerdings ohne die wohl einer ähnlichen Assoziation verdankte Terminologie Götzens (Seneschall) aus und vermeidet die dieser innewohnende rhetorische Relegation in eine überwundene historische Entwicklungsphase. In Falkenhorsts Darstellung geriert sich der in deutscher Beteiligung an örtlicher Herrschaft kulminierende Vorgang wie ein modernes konstitutionelles Verfahren, dessen Ausgang als Überwindung einer Verfassungskrise gelesen werden soll. Das ursprüngliche Ringen um die Thronnachfolge liefert natürlich auch ein Beispiel für die Instabilität indigener politischer Verhältnisse, welche schon in der einleitenden Beschreibung der Region als Leitmotiv eingeführt ist und sich in den konkurrierenden Bezeichnungen und der Bezeichnungsvielfalt manifestiert. Eine kurze Collage einschlägiger Passagen aus der Einführung zu dem konkreten Fall mag dies illustrieren: Dringen wir landeinwärts vor, so finden wir die für Ostafrika charakteristische politische Zersplitterung vor: schwache Stämme [...]; kleine Häuptlinge, die sich gegenseitig befehden; Nomadenvölker, die raubend und sengend von Gebiet zu Gebiet ziehen und abwechselnd mit den Arabern und Wasuahili die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommen lassen. Von Staatengründungen finden wir hier keine Spur, aber selbst die Gesamtheit der sesshaften Stämme erlangt keine politische Bedeutung; der ewige Krieg hat dieselben aufgerieben [...]. Ujamwesi, das Mondland, [...] soll [einst] eins der grössten afrikanischen Reiche gewesen sein [...]. Heute zerfallen die Wajamwesi in eine ganze Anzahl kleinerer Stämme, wie die Walori, Wallagansa, Wafisa, Wagalla, Wawendi, Wanameri, Wasumbua, die wieder von einer Anzahl Häuptlingen, die in Kisuahili ‘Sultani’ und in Kinjamwesi ‘Mtemi’ heissen, regiert werden. (Falkenhorst 2003: 312)

Diese Verhältnisse, so führt Falkenhorst aus, seien „für den Kolonisator Afrikas von Bedeutung“, welcher einzig berufen und fähig sei, die „längere Friedensepoche“ herbeizuführen, die „den am besten beanlagten und unternehmendsten Völkern die Möglichkeit einer neuen politischen Entwickelung gewähren“ (Falkenhorst 2003: 312). Die Beilegung der Thronfolgestreitigkeiten ist genau so eine Befriedung; die quasi-konstitutionellen Rituale, welche das politische Handeln in dieser Gemeinschaft bestimmen, weisen diese als eine zur deutschen Beherrschung prädestinierte, ‘beanlagte’ und ‘unternehmende’ aus, deren Veranlagung und deutsche Führerschaft sich aufs Beste ergänzen. Einflussnahme durch Parteiergreifen in einem lokalen Konflikt (und sei es auf Seiten der legitimen Prätendentin) erscheint notwendig, um Völkern zu einer von Europäern definierten gedeihlichen Entwicklung zu verhelfen.

Zur Benennung von Herrschaft und Territorium im deutschen Afrikadiskurs | 107

In der diskursiven Inszenierung dieser komplexen Argumentation spielt die Zuhilfenahme indigener Begrifflichkeit eine entscheidende Rolle. Die Verwendung indigener Benennungskonventionen für politische Zustände und Erscheinungen fügt sich passgenau ein in einen Argumentationszusammenhang, an dessen Ende die Unterwerfung steht, das Überstülpen deutscher Vorstellungen von Staatlichkeit und Einheitlichkeit über eine politisch-begriffliche Landschaft, die sich zunächst gegen diese Prinzipien zu sperren scheint. Sie spiegelt Vielfalt, Fluidität und ‘Fremdheit’ der Verhältnisse und signalisiert gleichzeitig das Wohlwollen der Beobachter, also deren Ernstnehmen sowie die Anerkennung vorgefundener Realitäten. Die Unterwerfung dieser Erscheinungen unter den europäischen ethnographischen Blick korrespondiert mit einer Einfügung in deutsche Wissenskategorien, der wiederum eine deutsche Gestaltung der diese abbildenden politisch-geographischen Landkarte korrespondiert: Diese Verhältnisse und ihre Bezeichnung gehören von nun an den Kolonialisten; die vielen aufgeführten Ethnien werden eingezeichnet in die Landkarte des deutschen Protektorats.

5 Zusammenfassung Im Laufe der hundertjährigen Geschichte des deutschen kolonialen AfrikaDiskurses verfestigten und differenzierten sich Benennungskonventionen von indigenen Herrschaftsträgern und indigenen Formen der Machtausübung. Die Bezeichnungen rufen unterschiedliches Vorwissen auf, dienen unterschiedlichen Funktionen im Gefüge der jeweiligen Texte und reflektieren unterschiedliche Haltungen gegenüber konkreten indigenen Erscheinungen und gegenüber dem Indigenen als solchem – aber alle sind engstens mit dem deutschen kolonialen Projekt und der Verhandlung des deutschen Verhältnisses zum kolonialen Raum verknüpft. Im Zentrum der Wirkung der Bezeichnung indigener Herrscher und Würdenträger liegen (a) die Diskrepanzen zwischen indigenen Erscheinungen und denjenigen deutschen Benennungen, die wegen einer vordergründigen Affinität Anwendung fanden, um diesen Erscheinungen gerecht zu werden; und (b) die Wirkungen der Verwendung von indigenen oder als indigen ausgegebenen (Eigen-) Namen im jeweils spezifischen (kolonial)historischen Zusammenhang. Wie gezeigt geben Inkongruenzen Gelegenheit zur Polemik, Schmähung, Herabsetzung der Erscheinungen; aber auch eine scheinbar neutrale, sachliche Etikettierung und Beschreibungen unter Verwendung vorgefundener Benennungen lassen ihr Eingebundensein in kolonialistische Diskurse erkennen. Ins-

108 | Florian Krobb besondere die Zusammenhänge und Konstellationen, in denen indigene Benennungen scheinbar kongruente Anwendung finden, erweisen die Ethnographie als Kolonialwissenschaft, denn alle ihre Erkenntnisse und Praktiken, wie sie sich in der Begegnung abspielen, an der Begegnung entzünden und weitere Begegnungen vorbereiten, haben Bedeutung für die europäische kolonialistische Expansion in Afrika. Die Stichhaltigkeit der gewählten Benennungen bleibt implizit, in die Performanz verlagert, während durch Mittel wie Sarkasmus und Ironie die Diskrepanz zwischen zur Verfügung stehendem Bezeichnungsvokabular und den Phänomenen selbst sinnfällig gemacht wird. Die Entlarvung, dass das Bezeichnete der Bezeichnung nicht genügt, kann als Element des kolonialistischen Rechtfertigungsdiskurses gelten, auf jeden Fall aber als Teil der Dynamik kolonialer Rollenzuweisung. In Walter Hietzigs „Tatsachenroman“ ist die Episode mit dem Chief im Inneren Angolas – die Chiffre für ein verbleibendes Innerafrika – Neuinszenierung des Traumes von Erstbegehung und von Eintauchen, welchem im Zusammenhang des kolonialrevanchistischen Diskurses und den Wiederauflebenden Kolonialphantasien der 1920er und 1930er Jahre die Funktion der Neuaffirmation des deutschen Verhältnisses zum afrikanischen Raum zukommt. Mit dem Konstrukt einer terra nulla korrespondiert die Annahme einer potestas nulla, und beides manifestiert sich in einer nomenklatura nulla, d.h. einer fehlenden oder unzureichenden Benennungs- und Begriffskompetenz eingeborener Bevölkerungen. Nicht nur wurde die Schwierigkeit der Erläuterung und Übersetzung von Namen und besonders deren Bedeutungen den ursprünglichen Benutzern von Bezeichnetem und Bezeichnung angelastet; auch wird die Wertigkeit insgesamt angezweifelt, weil sie europäischen Kriterien von Verlässlichkeit (wechselnde Bezeichnungen für denselben Gegenstand, gleiche Bezeichnungen für verschiedene Gegenstände), Gültigkeit und Dauerhaftigkeit nicht erfüllen. Die europäische Fremdbenennung ist immer eine Definitionsgeste oft abqualifizierenden Charakters, in der sich kolonialistisches Selbstverständnis ausspielt: wirkliche Könige zu haben, Könige, die den Namen verdienen, bleibt ein Auszeichnungsmerkmal der Machthaber. Aber auch wo indigene Erscheinungen durch nichtdiskrepante Benennung validiert zu werden scheinen, meldet ihre europäische Verwendung Anteil an und Verfügungsmacht über dieselben und über die bezeichneten Erscheinungen an. Da in der Bezeichnung von Machthabern und Autoritätsträgern immer auch die Frage nach der Art und Stabilität sowie nach dem Geltungsbereich von deren Herrschaft mitschwingt, kommt der Benennungskonvention von Personen Bedeutung für die koloniale Raumaneignung durch Europäer zu. Die Tendenzen der Herabwürdigung der Bezeichneten sowie der Bewussthaltung von Ambivalenz und Instabilität ihrer

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Position verrät die Perspektive derjenigen, deren eigenes Selbstverständnis auf dem Konzept eines politisch wie geographisch festumrissenen Nationalstaates beruht, denn es ist genau dieser Vergleichsmaßstab, welcher die in der Benennung enthaltene Bewertung der bezeichneten Phänomene diktiert. Das Ideal des Nationalstaats und der tatsächliche (neuerworbene, neukonstituierte) deutsche Nationalstaat, dessen geographische Ausdehnung Gegenstand hymnischer Emphase ist und dessen staatliche Verfasstheit sich in einem Monarchen verkörpert, dessen Titel und Selbstdarstellung im Gegensatz zu Titeln und Selbstdarstellung indigener Führer keinerlei Ambivalenz anhaftet, bilden das unausgesprochene Bewertungs- und Benennungskriterium für alle staatlich-politischen Erscheinungen in Afrika, insbesondere von Herrschern unterschiedlichster Couleur und Machtfülle sowie deren Machtbereichen oder Staaten.

Literaturverzeichnis Quellen Büttner, Richard. 2008. Reisen im Kongogebiet. Expedition im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland 1884–1886. Herausgegeben von Lars Martin Hoffmann. Wiesbaden: Erdmann [erstmals unter dem Titel Reisen im Kongolande Leipzig: Brockhaus, 1890]. Falkenhorst, Carl. 2003. Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Weltteils. Wiesbaden: Fourier [Originalausgabe in zwei Bänden Leipzig: Hirt, 1891–92]. Götzen, Gustav Adolf Graf von. 1895. Durch Afrika von Ost nach West. Resultate und Begebenheiten einer Reise von der Deutsch-Ostafrikanischen Küste bis zur Kongomündung in den Jahren 1893/94. Berlin: Reimer. Hietzig, Walter. 1939. Buschkameradschaft. Ein Tatsachenroman aus Südwest und Angola. Minden: Köhler. Passarge, Siegfried. 1908. Über geographische Ortsnamen in Afrika. Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 10. 71–75. Reichard, Paul. 1882. Die Ostafrikanische Station. Mittheilungen der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland 3(3). 155–181. Sendke, Rudolf. 1925. Aus verlorenem Sonnenland. Charakter-, Tier- und Jagdbilder aus Deutsch-Ostafrika. Fulda: Fuldaer Aktiendruckerei.

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Amatso Obikoli Assemboni

„Benennen“ und „besitzen“. Der Schwarze im (post)kolonialen Wortschatz Zusammenfassung: Das Benennen gibt jedem Gegenstand seine Existenz. Ohne Namen gibt es keine Identität. Dies hat im kolonialen Kontext zu einer besonderen Verwendung des Wortschatzes geführt, beispielsweise bei den Bezeichnungen für einen Schwarzafrikaner bzw. für die Kolonisatoren/Europäer. So geht es in Ewald Banses Buch Unsere großen Afrikaner von 1943, das Afrikaner im Titel führt, keineswegs um die Bewohner des Erdteils, sondern um Weiße, die Afrika „entdeckt“ bzw. bereist haben. Im heutigen Afrika erlebt man das gegensätzliche Phänomen: ein Schwarzer wird aufgrund seiner „Andersheit“ als „Europäer“ bzw. als weißer Mann bezeichnet. Schlagwörter: Benennen, Besitzen, (post)kolonialer Wortschatz, Bedeutungstranslation

1 Einführung Kolonialismus (von lateinisch colonia: Niederlassung, Ansiedlung) ist die Bezeichnung für ein System der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft eines Staates über Regionen außerhalb seiner eigenen Grenzen. (Kirsch-Jung 2008: 12)

Kolonialismus beginnt mit der Besetzung eines fremden Gebietes, aber ganz wichtig im Kolonialismus ist die Tatsache, dass das Wort „besetzen“ automatisch mit Besitzanspruch verbunden wird. Einen Landstrich „besetzen“ bedeutet schon ihn „besitzen“. Daher werden alle europäischen Kolonien als europäische „Besitzungen“ bezeichnet, obwohl diese „außerhalb [der] eigenen Grenzen“ liegen. Kolonien sind immer willkürliche Besetzungen, ob man sie Schutzgebiete oder Protektorate nennt. Das Fremde wird willkürlich bzw. gewaltsam zum Eigenen gemacht. Die Form der Besitzergreifung wird dann nicht mehr in Frage gestellt und das willkürlich erlangte Recht wird zur Normalität. Derselbe willkürliche Besitzanspruch wird auch auf die Menschen in den Kolonien übertragen. Daraus entsteht automatisch das Recht zu „benennen“

|| Amatso Obikoli Assemboni: Université de Lomé, Faculté des Lettres, Langues et Arts, Département d’Allemand, Lomé, Togo. E-mail: [email protected]

112 | Amatso Obikoli Assemboni bzw. Namen zu geben, was im Allgemeinen eine Übertragung von europäischen Rechtsvorstellungen auf fremde Länder und Kulturen ist. So entsteht eine Art „globale Kolonialisierung“ durch Recht und Verwaltung. Das willkürliche Kolonialrecht bestimmt, wer der Herr ist bzw. wer das Recht hat, über Andere zu bestimmen. Es entsteht somit eine koloniale Hierarchie, die zwischen Herren und Untertanen, zwischen Überlegenen und Unterlegenen, meist auch zwischen Gutem und Schlechtem unterscheidet. Kolonialbeamte werden zu Richtern, die entscheiden, wer geprügelt oder sogar erhängt werden soll. Da die Sprache eines Landes bzw. eines Volkes dazu dient, die Realität dieses Landes bzw. dieses Volkes zu erfassen, spiegelt der Wortschatz einer Kolonialsprache die Willkür der erlebten kolonialen Realität wider. Auf diese Weise kann man auch das Buch Unsere großen Afrikaner von Ewald Banse lesen. Hier ist ausschließlich die Rede von den wichtigsten deutschen Entdeckern. Mit dem Thema „Benennen und besitzen. Der Schwarze im (post)kolonialen Wortschatz“ möchte ich, anhand von anthropologischen und sozio-kulturellen Betrachtungen, empirisch und dialogisch durch literarische Quellen und Bilder zeigen, dass der Schwarze im kolonialen Wortschatz von Europäern genannt/ benannt wurde, die Schwarzen im Gegenzug dazu auch ihre eigene Art und Weise hatten, den weißen Mann/die weiße Frau zu benennen bzw. zu betrachten. In dem Reisebericht Weiße Göttin der Wangora (Gehrts 2004)1 gibt es viele Beispiele, die meine These belegen. In Dietrich Westermanns (1952) 2 Afrikaner erzählen ihr Leben werden bemerkenswerte afrikanische Autobiographien dargestellt, wenn auch Westermann selbst dem kolonialen Zeitgeist verfällt, indem er im Vorwort des Werkes schreibt: „So rundet sich das Bild vom heutigen Afrikaner, und der Leser lernt im Schwarzen den Menschen sehen“ (Westermann 1952: 9). In Westermann (1952) geht es, im Gegensatz zu Ewald Banses Unsere großen Afrikaner um schwarze Menschen, die von ihrer Begegnung mit den Europäern und von den entstandenen Veränderungen ihrer Gesellschaften berichten. Im Folgenden werden zuerst die aus dem Wortschatz der kolonialen Literatur zum Gegensatzpaar Schwarz/Weiß vorhandenen Benennungen und Betrachtungen untersucht. Dann wird die Benennung des Schwarzen in den (post)kolonialen Medien untersucht, wobei die Frage geklärt wird, ob einige

|| 1 Die englische Originalausgabe erschien 1915 unter dem Titel A camera actress in the wilds of Togoland. Die deutsche Übersetzung erschien erst 1999. Für die vorliegende Untersuchung beziehe ich mich auf die Ausgabe von 2004. 2 Erste Auflage im Jahre 1938.

„Benennen“ und „besitzen“. Der Schwarze im (post)kolonialen Wortschatz | 113

Wörter aus der Kolonialzeit in der französischen und in der deutschen Sprache fortbestehen.

2 Der Schwarze im kolonialen Wortschatz: den Schwarzen „vernegern“ Der Schwarze im kolonialen Wortschatz wird bekanntlich ganz genau benannt: Er ist ein „Neger“, der irgendeinem „Naturvolk“ angehört. Er ist unzivilisiert und sieht „wild“ aus. In Texten aus der Kolonialzeit gibt es unzählige Belege für diese Charakterisierung (vgl. die Zeitschrift Globus). Die Tatsache, dass die Benennung „Neger“ negativ konnotiert wird, ist nicht zu bestreiten. Wenn es in den 1930er Jahren bei den ersten franko-afrikanischen Intellektuellen darum ging, ihre „Négritude“ in den Vordergrund zu stellen, wollten sie genau diese negative Konnotation des sogenannten Negers als Vorteil des Afrikaners schärfen. Dies war eine intellektuelle postkoloniale Antwort der ehemaligen Unterworfenen, die nun die Gelegenheit hatten, das Wort zu ergreifen und sich zu verteidigen. Früher konnten sie sich nicht äußern: nur die Kolonialherren durften es. Und diese nannten sich selber Afrikaner.

2.1 Der weiße Afrikaner Im kolonialen Sinn waren die Europäer die Afrikaner. Aus verschiedenen literarischen Texten lässt sich diese Behauptung belegen. Zum Beispiel liest man in dem Reisebericht Sommerfrische in Togo (Meyer 1912): Mein Bruder hatte sich kurz nach unserer Ankunft verheiratet, war mit seiner jungen Frau wieder nach Togo ausgereist, und nun erwarteten die beiden ihr erstes Kindchen. Wegen dieses bevorstehenden Ereignisses luden mich unsre Afrikaner zu einem längeren Besuche ein. (Meyer 1912: 1)

Da das Wort „Afrikaner“ mit dem Possessivpronomen „unsre“ eingeführt wird, scheint diese Äußerung mit Stolz verbunden zu sein. 1922 veröffentlichte Hans Schomburgk das Buch Bwakukama – Fahrten und Forschungen mit Büchse und Film im unbekannten Afrika, das er Meg Gehrts, die inzwischen zu seiner Ehefrau geworden war, folgendermaßen widmete: „Meiner Frau, der mutigen Afrikanerin, die als erste weiße Frau unser Togo durchquerte, widme ich in Liebe dieses Werk.“ Dass Schomburgk Togo als „unser Togo“ bezeichnet, belegt, dass das von Deutschland besetzte kleine Land Togo als die

114 | Amatso Obikoli Assemboni selbstverständliche Besitzung Deutschlands betrachtet wurde. So kann man verstehen, warum Ewald Banses Buch (1943) sich hauptsächlich auf die ehemaligen großen deutschen Entdecker und Kolonialpioniere konzentrierte.3 Zu erwähnen ist hier, dass dieses Buch und ein anderes von Paul Burg (1936) in der Nazi-Zeit entstanden sind. Beide feierten nachträglich die deutschen Forscher und Eroberer in Afrika. Da die Sprache eines Landes bzw. eines Volkes dazu dient, die Realität dieses Landes bzw. dieses Volkes zu erfassen, spiegelt der Wortschatz einer Kolonialsprache die Willkür der erlebten kolonialen Realität wider. Das nenne ich eine „verdichtete Realität“. Diese verdichtete Realität erlaubt den Europäern, durch die Sprache den ganzen afrikanischen Kontinent zu besitzen: Ob sie von „unseren Afrikanern“, oder von „unserem Togo“ sprachen, war gleich. In diesem Fall ist Togoland4 das kleine besetzte afrikanische Gebiet, das sie zu Besitzern bzw. zu selbsternannten Afrikanern macht, obwohl in Prozessen kolonialer Raumaneignung Benennungspraktiken in Togo selbst nicht besonders ausgeprägt waren. In Togo kann man also nicht von einer starken Raumaneignung sprechen, denn außer den Straßen der Hauptstadt Lomé und den Stationen Bismarckburg und Misahöhe wurden die einheimischen Benennungen für die Orte des Hinterlandes beibehalten. Zieht man die Zahl der Deutschen in den anderen afrikanischen Kolonien in Betracht, kann man behaupten, dass Togo eigentlich nicht als Siedlungsort vorgesehen war (vgl. Assemboni 2007: 117). Aus diesem Grund war es wahrscheinlich nicht so wichtig, das Hinterland umzubenennen. Mein Interesse wird sich daher eher auf die Bezeichnungen für die Menschen richten. Da die Europäer sich selbst als Afrikaner bezeichneten, fragt sich, wie sie die schwarzen Afrikaner nannten.

|| 3 In diesem Buch stellte Banse neun Pioniere vor, die er in zwei unterschiedliche Gruppen teilte: die Gruppe der geistige Besitzergreifung – Heinrich Barth, Gerhard Rohlfs, Gustav Nachtigal, Georg Schweinfurth, Karl Mauch und die Gruppe der politischen Besitzergreifung: Hermann von Wissmann, Adolf Lüderitz, Carl Peters, Paul von Lettow-Vorbeck. 4 Der Name des Landes selbst war eine Konstruktion der deutschen Kolonisierung. Trotzdem wurde er – im Gegensatz zu dem ehemaligen „Haute-Volta“ zum Beispiel – von den afrikanischen Regierenden nach der Unabhängigkeit nicht geändert. Der Name „Togo“ hat keine richtige Bedeutung: Es soll der Name eines Flusses im Süd-Osten gewesen sein. Obwohl das Gewässer heute als „Lac Togo“ bezeichnet wird, soll es sich damals um ein Missverständnis gehandelt haben. Das, was in der Mina-Sprache eine Bedeutung hat, ist der Ausdruck „Tᴐgodo“, d. h. jenseits des Flusses, denn Fluss heißt „tᴐ“ oder, „Etᴐ“.

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2.2 Weiß über Schwarz: den Schwarzen „vernegern“ Ich möchte im Folgenden auf einige Ausdrücke eingehen, die in dem Reisebericht Weiße Göttin der Wangora vorkommen. Meg Gehrts schreibt Folgendes: Das war eine schöne Geschichte, kein Zweifel. Der Major fluchte ausgiebig; ich weinte – heftig. Dann wurden wir beide wütend. Er sagte, das sei alles mein Fehler. ‘Allein der Gedanke, einem Neger einen ganzen Sovereign Vorschuß zu geben!’ Ich erwiderte, er hätte mir eben sorgsamer einschärfen müssen, was für niederträchtige, hinterhältige Schweinehunde die Schwarzen doch manchmal waren. (Gehrts 2004: 42)

Weiße Göttin der Wangora wurde im Jahre 1915 in London in englischer Sprache unter dem Titel A camera actress in the wilds of Togoland veröffentlicht. Es erzählt die Geschichte der deutschen Schauspielerin Meg Gehrts, der ersten weißen Frau, die in Togos Hinterland gereist ist, um Filme mit dem Afrikaforscher und Filmemacher Hans Schomburgk zu drehen. Auffallend ist bei Gehrts, dass sie, wenn sie guter Laune ist, die Afrikaner als sympathisch beschreibt. An manchen Stellen ihres Berichts versucht sie, die Lage der afrikanischen Frauen mit der der europäischen Frauen zu vergleichen oder männlichen Machismus als überall vertreten darzustellen. Da sie aber an der oben zitierten Stelle wütend ist, sind „die Schwarzen doch manchmal niederträchtige, hinterhältige Schweinehunde“, wobei sie der Major eben als „Neger“ tituliert. Obwohl es offensichtlich ist, dass ihr Diskurs dem Zeitgeist entsprach, möchte ich an dieser Stelle einige Sätze in ihrem Bericht hervorheben, die unbewusst zum negativen Image des Schwarzen im Allgemeinen beitragen. Satz 1: „Dankbarkeit zählt, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade zu den Charakterstärken der Afrikaner“ (Gehrts 2004: 85). Dieser Satz bezieht sich auf einen Vorfall, in dem ein Schwarzer ihr gegenüber seine Dankbarkeit ausdrückt. Sie zeigt ihr Erstaunen, weil dieser Mann ihrer Meinung nach nicht seiner Rasse gemäß handelte, zu deren Charakterstärken Dankbarkeit in keinem Fall („vorsichtig ausgedrückt“) zählt. Satz 2: „Er brachte mir ständig Geschenke, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, was für einen Afrikaner ganz und gar unüblich war“ (Gehrts 2004: 87). Bei diesem Satz ist die Rede von einem jungen Afrikaner, der sich ihrer Meinung nach in sie verliebt hat. Hier schwächt sie die eigentlich positive Eigenschaft des Afrikaners (nämlich zu schenken ohne eine Gegenleistung zu erwarten) durch den Zusatz „was für einen Afrikaner ganz und gar unüblich war“ ab, als wäre es nur bei Afrikanern der Fall und nicht etwa bei Menschen oder sogar bei Männern.

116 | Amatso Obikoli Assemboni Satz 3: „In Bapure kamen wir zum ersten Mal in Kontakt mit den Konkomba, die als die schönsten Wilden in Togo gelten“ (Gehrts 2004: 92). Dieser Satz impliziert, dass es andere „Wilde“ gibt, die nicht schön sind. Außerdem klinge ihre Sprache unzivilisiert: Es war mit Abstand der am wildesten aussehende Haufen Afrikaner, mit dem ich bisher in Kontakt gekommen war, insgesamt neunzig Männer, und sie waren alle praktisch nackt – nicht einer von ihnen trug ein Hüfttuch. Auch ihre Sprache unterschied sich von allem, was ich bisher gehört hatte. Sie hörte sich in meinen Ohren ordinär und unzivilisiert an, eine bloße Folge von Grunzern und Glucksern. (Gehrts 2004: 50)

Derjenige, für den sich die Sprache anderer Menschen wie „Grunzern“ und „Glucksern“ anhört, betrachtet diese Menschen nicht als ihm ebenbürtig. Zu erwähnen sei noch eine weitere Stelle, bei der sich Gehrts und Schomburgk über Afrikaner lustig machen, die versuchen, eben nicht „wild“ auszusehen und „zivilisiert“ zu erscheinen, also diejenigen, die sich eine weiße Identität anzueignen wünschen: Während wir hier auf unsere Träger warteten, amüsierten mich die Possen zweier afrikanischer Reisender von der Küste, die unerwartet auftauchten. Sie trugen “elegante” Kleider, die sie wohl für die neueste europäische Mode hielten: breitkrempige Strohhüte, kurze enge Hosen und Cutaway-Sakkos. Sobald sie uns sahen, kamen sie herbeistolziert. Meinte Schomburgk: “Wo kommt ihr her?” “Von der Küste” Und Schomburgk: “Das sieht man.” Das war alles. Aber es reichte aus. Unsere beiden “Elitengentlemen” traten rasch den Rückzug an, und während ein Schwarm gaffender Schwarzer um sie herumstand, sichtlich beeindruckt und erstaunt angesichts solch großartiger Zurschaustellung von Bildung bei Männern ihrer eigenen Rasse und Hautfarbe. Natürlich war das alles nur Theater. (Gehrts 2004: 92–93).

Die Ironie der Erzählerin drückt sich durch die Worte „elegante Kleider“ und „Elitengentlemen“ aus. Hätte sie sie ohne Anführungszeichen beschrieben, könnte man annehmen, dass sie ihre Kleidung tatsächlich elegant findet, oder dass sie wirklich Elitengentlemen waren. Indem sie sie eher als lächerliche Schauspieler darstellt, macht sie sich lustig über sie. Angesichts dessen, was bisher aufgezeigt wurde, kann man zusammenfassen, dass „Neger sein“ nicht allein mit dem Unterschied der Hautfarbe zu tun hat, sondern mit einer langen Reihe von negativen Zuweisungen verbunden ist, die von unzivilisiert und primitiv, über undankbar und unanständig bis hin zu charakterlos und würdelos reicht. Weiß sein impliziert somit, all diese negativen Eigenschaften nicht zu besitzen. Zwei Werbeplakate aus der Kolonialzeit belegen diese These. Die beiden Bilder haben dasselbe Thema. Es handelt sich um Werbung für eine Seife bzw.

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eine Chlorbleiche. Das erste Bild lobt die Seife „Dirtoff“ und das zweite Bild wirbt für die Chlorbleiche „Javel S.D.C.“ Der koloniale Kontext der Werbungen ist leicht durch die exzessiven Kontraste der Farben schwarz/weiß, durch die grotesken Zeichnungen, in denen der Schwarze eher karikiert als gezeichnet wird und durch die Benennung Nègre, also Neger erkennbar:

Abb. 1: Le Savon Dirtoff me blanchit! (‘Die Seife Dirtoff macht mich weiß/zum Weißen’).

Abbildung 1 zeigt einen „Neger“, der die Wäsche der Herren wäscht. Dabei benutzt er eine ganz bestimmte Seife, die ihn weiß macht. Mit einem überraschten Lächeln sagt er: Le Savon Dirtoff me blanchit! (‘Die Seife Dirtoff lässt mich weiß

118 | Amatso Obikoli Assemboni werden!’). Hier wird die Wirkung der Seife betont: diese Seife ist stark genug, um die Hand eines schwarzen Mannes weiß zu färben; wenn sie das kann, kann sie alles („nettoie tout“). Der Schwarze scheint sich bei der Betrachtung seiner weißen Hand zu freuen. Die impliziten Botschaften der Werbung sind folgende: schwarze Hautfarbe wird mit Schmutz gleichgesetzt; Schwarze sehnen sich nach der weißen „sauberen“ Hautfarbe.

Abb. 2: Avec Javel S.D.C, pour blanchir un nègre, on ne perd pas son savon (‘Indem man mit Javel S.D.C. einen Neger weiß färbt, kann man nur gewinnen’).

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Abbildung 2 zeigt eine weiße Frau, vermutlich eine Magd, die ein schwarzes Baby über einem Zuber mit Wasser waschen zu wollen scheint. Darin hat sie wahrscheinlich das Produkt Javel S.D.C. aufgelöst. Sie hält das Baby in ihren Händen, aber die Beine des Babys sind weiß gefärbt, weil sie es wahrscheinlich in Kontakt mit dem Javel S.D.C gebracht hat. Die Tatsache, dass der Werbeslogan dazu bedeutet, dass man seine Seife nicht verschwendet, wenn diese dazu dient, einen Neger weiß zu färben, ist ein Zeichen, dass das Thema virulent war. Mit dieser Werbung wird die Vorstellung transportiert, dass der Schwarze sich wünscht, weiß zu werden und der Weiße dem Schwarzen hilft, sich seiner „schmutzigen“ Hautfarbe zu entledigen, so wie man ein schmutziges Wäschestück durch Seifenlauge oder Bleiche wieder in seinen ursprünglichen „sauberen“ Zustand versetzt. Es ergibt sich ein ambivalentes Bild des Europäers, der sich selber Afrikaner nannte, jedoch die sogenannten afrikanischen Eigenschaften vehement abwertete, wobei er gleichzeitig Afrikaner abwertete, die sich die Eigenschaften der Europäer anzueignen wünschten. Es ist nicht zu leugnen, dass Afrikaner bzw. intellektuelle schwarze Afrikaner, die Europäer weder als „wild“ noch als „zivilisiert“ einordnen konnten bzw. wollten, sich selbst abwerteten. Weißer sein oder als Weißer betrachtet zu werden, hieß für sie eine bessere Rolle zu spielen. Diese Vorstellungen ändern sich jedoch allmählich, so dass der heutige Afrikaner diesen Komplex überwiegend überwunden hat. Es kann sogar behauptet werden, dass es bereits zur kolonialen Zeit Afrikaner gab, die sich auf ihre eigene Art und Weise gegen die koloniale Willkür wehrten.

3 Der Schwarze im postkolonialen5 Wortschatz 3.1 In der Kolonialzeit: Schwarz über Weiß In kolonialen Texten finden sich auch afrikanische Stimmen, die sich zu Hautfarbe und Andersartigkeit der Kolonialherren äußerten. Neben den erwähnten Passagen aus Gehrts Reisebericht, die zeigen, dass „Neger sein“ mit negativen Konnotationen verbunden ist, gibt es in ihrem Bericht auch Stellen, an denen sie selbst von den Schwarzen eingeschätzt wurde: „Hier wurde mir auch zum ersten Mal bewusst, dass mein Aussehen Angst einflößen oder sogar Ekel und

|| 5 Postkolonial betrachte ich hier theoretisch.

120 | Amatso Obikoli Assemboni Abneigung hervorrufen konnte“ (Gehrts 2004: 50). So erzählt sie, wie sie sich fühlt, als ihr klar wurde, dass die Einheimischen sie hässlich fanden: Das unverschämte junge Ding sagt, (…), sie fürchtet sich dich anzuschauen, weil du so hässlich bist. Ich musste lachen. Ich konnte einfach nicht anders. Aber in meine Heiterkeit mischte sich ein kleiner – wirklich sehr kleiner – Hauch Bitterkeit. Ins Gesicht gesagt zu bekommen, dass ich hässlich war! Und das von diesem nackten kleinen Ebenholz-Racker. (Gehrts 2004: 60)

Die von Gehrts angesprochene Bitterkeit müssen wohl viele Afrikaner damals empfunden haben, als sie die Sprache der Kolonialherren zu verstehen begannen und schweigend ertragen mussten, wie über sie gesprochen wurde. Gehrts wurde von einem kleinen afrikanischen Jungen, mit dem sie sich angefreundet hatte, offen gesagt, sie sei hässlich: ‘Bin ich wirklich und ehrlich hässlich?’ fragte ich eines Tages einen kleinen Jungen, den ich sehr liebgewonnen hatte. ‘Wirklich und ehrlich, das bist du, liebe Puss’ antwortete er in kindlicher Offenheit. ‘Aber’, fügte er als mildernden Umstand und vielleicht als Balsam für meine verletzten Gefühle hinzu, ‘du kannst nichts dafür. Der liebe Gott hat dich so gemacht, nicht wahr? Wir können nicht alle schwarz und schön sein.’ (Gehrts 2004: 61)

„Wir können nicht alle schwarz und schön sein.“ Dieser Satz ist, meiner Meinung nach, der Beleg, dass nicht nur die intellektuellen Afrikaner Jahre nach dem Kolonialismus ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt hatten, sondern auch die Nicht-Intellektuellen. Das jedoch ignorierten die damaligen Kolonialherren. Es gab trotzdem viele Afrikaner, die die Begegnung mit den Europäern ganz pragmatisch angenommen haben, um selber daraus ihren eigenen Profit zu ziehen. Beispielhaft ist der Togoer Bonifatius Foli, der sich mit einer großen Leichtigkeit bei verschiedenen Deutschen in der Kolonialzeit anstellen ließ, bis er schließlich nach Deutschland mitgenommen wurde. Er ging in die Schule, weil die Weißen es so wollten. Jedoch blieb er nicht lang. Wenn er sich bedroht fühlte, floh er einfach. Eines Tages traf er einen Verwandten, der ihn ansprach: ‘O Adjri, welcher Vogel hat denn dich gefressen und hierher geschissen?’ Ich antwortete: ‘Ich komme aus Togo von den Missionaren, wir waren ein wenig unartig gewesen, dafür prügelte man uns durch, und als ich an der Reihe war, lief ich weg.’ Er sagte: ‘Da ist ja ein böser Fremder beim Hausherrn eingekehrt, wissen diese Leute denn nicht, dass dir der Ort Togo gehört’. ‘Nein’, entgegnete ich, ‘wer sollte ihnen das auch auseinandersetzen?’ (Westermann 1952: 55)

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Es stellt sich hier die Frage, ob die Afrikaner damals den Europäern bei der Besitzergreifung ihres Landes ruhig zusahen, weil sie dies nicht als eine große Gefahr betrachteten? Bonifatius Foli wusste genau, wer er war und was er wollte. Die Anwesenheit der Europäer war ihm anscheinend gleichgültig. Er ging in die Schule, ließ sich taufen, wie die Weißen es wollten, ging aber weiter seinem afrikanischen Glauben und seiner Tradition nach. Außerdem gab er jedem weißen Kolonialherrn Spitznamen: Ich war schon einmal in Atakpame, und zwar auf der Regierungsstation, dort war mein Herr, der Gouverneur Brümais (Köhler), Gast des Herrn Donogbezogbo (Der Kranke will keinen Dünnbrei, gemeint ist Herr v. Doering. (Yigbe 2003: 70) Außerdem hieß der Farmer Wöckel ‘Gedzê’, Rotbart, Otto von Hagen hieß ‘Podogan’ (Dickbauch), der prefet apostolique de la mission catholique – ‘apostolischer Präfekt der katholischen Mission’ – ‘Agbota’ Hammelkopf. (Yigbe 2003: 134)

Um diese Leute zu benennen, stützte er sich entweder auf ihre körperlichen Eigenschaften (Bart, Bauch) oder auf Ereignisse, die er zu einer bestimmten Zeit erlebt hatte, die in einem Zusammenhang mit den Herren standen. Bei den Ewe kann eine Person viele unterschiedliche Namen tragen, was Ausdruck der unterschiedlichen Persönlichkeitsfacetten ist. Bei den Ewe tatsächlich haben die Leute, außer ihren eigenen Namen auch Spitznamen oder Beinamen, die u.a. aus Spottnamen, Trinknamen, Tapferkeitsnamen oder Heldennamen bestehen (Yigbe 2003: 136)

Daher kann vermutet werden, dass es viele Afrikaner nicht besonders störte, andere neue Namen zu tragen. Diese betrachteten sie nur als Beinamen. Man kann also von zwei unterschiedliche Kategorien von Afrikanern ausgehen: von denjenigen, die sich wie Bonifatius Foli benahmen, und von denjenigen, die mit dem Kontakt zu den Europäern unsicher geworden sind. Sie entwickelten eine gewisse Verlegenheit, weil sie selbst ihre afrikanische Andersheit bzw. Identität ablehnten. Dies betrachte ich als ein koloniales Erbe.

3.2 In der Gegenwart Der Komplex des Schwarzen hat dazu geführt, dass es bis heute Frauen und Männer in Afrika gibt, die sich „enthäuten“, um den sogenannten „hellen“ Teint zu haben: Sie benutzen dafür Bleichcremes. In Togo gab es bis Anfang 2000 den Zusatz Teint clair oder Teint noir in den damaligen Personaldokumenten. Es galt als erstrebenswert, als „hellhäutig“ betrachtet zu werden. Da sie

122 | Amatso Obikoli Assemboni „beinahe Weiße“ waren, bekamen sie dann häufig den Spitznamen Yovo, was der Weiße bedeutet. Heutzutage findet man das Patronym Yovo immer noch. Laut ethnologischen Untersuchungen gab es in den Familien mit diesem Namenszusatz jemanden, der so hellhäutig war, dass man ihn mit einem weißen Mann verglich. Wenn dieser diesen Spitznamen behält, dann gibt er ihn seinen Kindern weiter, so dass der Name als Patronym bleibt. Der Namenzusatz Yovodévi bezeichnet denjenigen, der entweder in Europa gelebt hat oder sich wie ein Europäer benimmt. Bezeichneten sich früher Weiße als Afrikaner, so sind es heutzutage viele Togoer, die das Patronym „Weißer“ haben. Was Yovodévi betrifft, sieht es etwas anders aus. Ethnologische Forschungen haben ergeben, dass es im Süden und im Norden Togos ein spezifisches Patronym gibt, Djama, das ‘der Deutsche’ bedeutet (vgl. Awesso 2007: 277). Aus Bewunderung haben einige Togoer entschieden, sich so zu benennen, damit ihre Kinder die „guten Eigenschaften“ der Deutschen entwickeln können. Indem sie sich umbenennen, zeigen sie, dass sie genau wissen, was sie wollen. Nach wie vor bestehen einige koloniale Vergleiche in der Sprache und in den Gedächtnissen weiter. Dazu untersuche ich eine Werbung der deutschen Zeitschrift Hörzu.

Abb. 3: Hörzu (Mai 2006).

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Man sieht einen gut aussehenden und gut gekleideten weißen Mann, der eine afrikanische Frau umarmt. Die Frau trägt einen typisch traditionellen Stoff und hat Ziernarben sowie den für Mursi-Frauen (eine Ethnie im Südwesten Äthiopiens) typischen Lippenteller (femmes-à-plateaux). Diese Inszenierung dient dazu, den großen Kontrast – schwarz/weiß, alt/modern, und sogar, unzivilisiert/zivilisiert – zwischen den beiden Menschen zu betonen. Der Satz unter dem Bild macht diese Vermutung deutlicher, denn man liest: „Irgendwann nimmt man nicht mehr irgendwas“. Das Wort „irgendwas“ könnte hier auch die Frau bezeichnen, obwohl es das Ziel der Werbung ist, den Deutschen aufzufordern, nicht mehr irgendwelche Zeitschriften zu kaufen, sondern nur Hörzu. Es heißt also implizit, dass die Frau etwas Besonderes ist. Hier wird ihre Andersheit betont, aber ungeschickt. Man kann gar nicht auf den ersten Blick auf die Idee kommen, dass der Mann hier als „irgendwas“ betrachtet wird. Der weiße Mann ist der „normale“ Mensch auf dem Bild. Somit entspricht er den positiven Eigenschaften, wobei die Frau, die eben nicht „irgendwas“ ist, auch nicht normal aussieht. Sie trägt mit sich also unbewusst negative Eigenschaften. Es sind die sogenannten „supra-luminalen“6 Verfahren der Medien (vgl. Smeralda 2006). Nicht nur in der Werbung bestehen heutzutage solche Bezeichnungen, sondern auch in Comics. Beispielhaft ist die so gennannte „Petit-nègre“- Sprache, die als typisch im französischsprachigen Comic Tintin au Congo vorkommt oder in den berühmten Asterix-Geschichten, in dem der einzige Schwarze unter den Piraten diese Sprache ständig benutzt. Sowohl in der französischen als auch in der deutschen Sprache gab es lange und gibt es z.T. bis heute im Bereich der Konditorei den Ausdruck Tête-denègre/Negerkuss für ein mit Schokolade überzogenes Zuckerschaumgebäck.1 In dem französischen Film Qu’est-ce qu’on a fait au bon Dieu?/Monsieur Claude und seine Töchter aus dem Jahre 2014 wird ein Konditor in Verlegenheit gebracht, als ein Afrikaner darauf besteht, dem zukünftigen französischen Schwiegervater seines Sohns – also Monsieur Claude – zu beweisen, dass der letztere es nicht wagte, Tête-de-nègre (Negerkuss) in seiner Anwesenheit zu sagen, sondern Tête choco (Schokokuss). Im togoischen Gedächtnis ist der Ausdruck colonie modèle/Musterkolonie geblieben: so ungewöhnlich es klingen mag, ist in Togo die deutsche Kolonialzeit mit einer großen Nostalgie besetzt (vgl. Simtaro 2007). Nur wenigen Togoern, geschweige denn Afrikanern ist es gelungen, ihr Gedächtnis zu „dekoloni|| 6 Laut Juliette Smeralda tragen solche Verfahren zur „Konstruktion der Durchsichtigkeit der Schwarzen in abendländischen Gesellschaften“ (Smeralda 2006: 2) bei.

124 | Amatso Obikoli Assemboni sieren“. Laut der Soziologin Juliette Smeralda (vgl. 2006: 4) muss auch das Unbewusste des Schwarzen im Allgemeinen „dekolonisiert“ werden. Nur so können die Afrikaner diese koloniale Vergangenheit mit Abstand und eben als Vergangenheit betrachten. Auch in Deutschland muss die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit aus dem Bereich von postkolonialer Forschung und postkolonialen Initiativen heraustreten (vgl. Pavlakidis & Hoffmann 2011) und Einzug in die gesamte Bevölkerung halten. Beispielhaft ist das Berliner Afrikanische Viertel in Wedding, ein „subtiler Ort“, wo „Togo Dauerkolonie ist“1 (Hutter 2013). Dadurch wird Kritik an den Namen der Kleingartenanlage mit dem Schild „Dauerkolonie Togo“ in der Togostraße geübt: Dass ein solcher Name keine sofortige Empörung bei den Bewohnern bzw. Kleingärtnern weckt, sondern diese ihn anscheinend sogar als selbstverständlich annehmen und benutzen, ist ein Zeichen dafür, dass zwar die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit in Deutschland im Gange ist, dass sie aber noch einige Zeit dauern wird.

Literaturverzeichnis Quellen Banse, Edwald. 1943. Unsere großen Afrikaner. Das Leben deutscher Entdecker und Kolonialpioniere. Berlin: Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung Max Paschke. Burg, Paul. 1936. Forscher, Kaufherrn und Soldaten. Deutschlands Bahnbrecher in Afrika, in kurzen Lebensbildern dargestellt. Leipzig: von Hase & Koehler Verlag. Gehrts, Meg. 1915. A camera actress in the wilds of Togoland. The adventures, observations and experiences of a cinematograph actress in West African forests whilst collecting films depicting native life and when posing as the white woman in Anglo-African cinematograph dramas. Philadelphia: Lippincott/London: Seeley. Gehrts, Meg. 2004. Weiße Göttin der Wangora. Eine Filmschauspielerin 1913 in Afrika. (Deutsche Erstausgabe 1999). München: dtv. Globus – Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie. 1862–1910. Herausgegeben von Karl Andree. Braunschweig: Friedrich Vieweg & Sohn. Schomburgk, Hans. 1922. Bwakukama – Fahrten und Forschungen mit Büchse und Film im unbekannten Afrika. Berlin :Deutsch literarisches Institut. Westermann, Dietrich. 1952. Afrikaner erzählen ihr Leben. Elf Selbstdarstellungen afrikanischer Eingeborener aller Bildungsgrade und Berufe und aus allen Teilen Afrikas. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt.

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Forschungsliteratur Assemboni, Amatso Obikoli. 2007. Dons de violence et violences du don. Violence et dons dans les échanges Nord-Sud. Etude comparée des trilogies de Hans Christoph Buch et de Nuruddin Farah. Aachen: Shaker. Awesso, Atiyihwè. 2007. Les ‘enfants’ des Djama. Essai en micro-anthropologie historique des interactions culturelles germano-togolaises. In Adjaï A. Paulin Oloukpona-Yinnon (ed.), Le Togo 1884–2004: 120 ans après Gustav Nachtigal. Connaître le passé pour mieux comprendre le présent, 277–292. Lomé: Presses de l’Université de Lomé. Kirsch-Jung, Karl-P. 2008. (ed.). Nutzungsrechte für Viehzüchter und Fischer: Vereinbarungen nach traditionellem und modernem Recht; Anregungen aus Mauretanien. Band 6 von Nachhaltigkeit hat viele Gesichter. Eschborn: Kasparek Verlag, Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Simtaro, Dadja H.-K. 2007. Populations togolaises et souvenir des Allemands. In Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon (ed.), Le Togo 1884–2004: 120 ans après Gustav Nachtigal. Connaître le passé pour mieux comprendre le présent, 311–320. Lomé: Presses de l’Université de Lomé. Yigbe, Dotsé. 2003. Version ewe et version allemande de l’autobiographie de Bonifatius Foli: Westermann, traducteur de Bonifatius Foli. In Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon & Janòs Riesz (eds.), Plumes allemandes – Biographies et autobiographies africaines („Afrikaner erzählen ihr Leben“ ), 129-138. Lomé: Presses de l’Université de Lomé.

Webnachweise Hutter, Ralf. 2013. Wo Togo Dauerkolonie ist. Das Afrikanische Viertel in Wedding strotzt vor unaufgearbeiteter Geschichte. Berlin/Brandenburg: Online unter: http://www.neues-deutschland.de/artikel/828794.wo-togo-dauerkolonieist.html . Meyer, Else. 1912. Sommerfrische in Togo. Online unter: http://www.jadu.de/jaduland/kolonien/afrika/togo/text/sommerfrische.html . Pavlakidis Pantelis & Maria Hoffmann. 2011. Verflechtungsgeschichte/n: Berlin im postkolonialen Blick. Online unter: http://www.wildes-denken.de/2011/08/berliner-verflechtungsgeschichten/ . Smeralda, Juliette. 2006. L’utilisation de l’image du Noir dans l’espace médiatique européen. Online unter: http://www.cran.ch/04_PageCentrale/1_Racisme_&_DroitsHumains/ceran 06_ConfThema_Juliette_Smeralda.pdf .

Abbildungen Abbildung der Dauerkolonie Togo e.V. Online unter: http://www.umbruchbildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/240404togo.html . Abbildungen 1, 2 und 3 online unter: www.advertisingtimes.fr/2010/08/le-racisme-dans-lapublicité-en50html < 25.11.2015>.

Simone Brühl

Setzung und Verschiebung. Zur Subversion kolonialer Raum- und Benennungspraktiken in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet Zusammenfassung: Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet dekonstruiert am Beispiel der fiktiven deutschen Kolonie Tola koloniale Herrschaftsmechanismen. Während zunächst die konstruktivistische Wirkung von Benennungspraktiken akzentuiert wird, erweist sich der Zusammenhang zwischen Signifikation und Raumaneignung schließlich als brüchig: Der Roman akzentuiert das Prinzip des Ambigen, welches sowohl auf Ebene der Ästhetik als auch der Diegese die auf Eindeutigkeit zielenden Signifikationsprozesse des kolonialen Projektes unterläuft. Der ‘Textraum’, der scheinbar erst im Akt der sprachlichen Besetzung in ein ‘lesbares’ Zeichensystem überführt wird, widersetzt sich der räumlichen Appropriation und entzieht sich in Figuren der Polysemie und Verschiebung der hegemonialen Lektürepraxis. Schlagwörter: Signifikationspraktiken, ‘imaginative geographies’, postkoloniale Ästhetik, Texträume, Subversion

1 Einführung Benēsi: In Thomas von Steinaeckers 2009 erschienenem Roman Schutzgebiet beginnt der koloniale Traum vom sprichwörtlichen ‘Platz an der Sonne’ für die Siedlerfamilie Lustiger mit einem Namen: „Das seltsame Wort hatte an jenem Morgen nur ein kurzes Befremden bei Rachel hervorgerufen, weil sie nicht verstand, warum ihr Mann es vorlas […]. In Leo jedoch arbeitete es“ (Steinaecker 2009: 306). Das ‘seltsame Wort’ in der Annonce der Bremer Kolonialgesellschaft im Tagblatt verschafft der Familie Zugang zu einem Imaginationsraum, der bisher immer ‘den Anderen’ vorbehalten war. Abenteuergeschichten „von den Vorzügen des Klimas […], dem angenehmen Leben auf den Baumwollplantagen, den Begegnungen mit den Negern“ (Steinaecker 2009: 306–307) dienen zwar „als Gesprächsstoff, zum Lachen und Staunen“ (Steinaecker 2009: 307), ver|| Simone Brühl: Universität Bremen, Fachbereich 10: Germanistik, Postfach 330440, 28334 Bremen. E-Mail: [email protected]

128 | Simone Brühl blassen aber angesichts der bedrückenden Lebenswirklichkeit der Lustigers in Deutschland. Im Gegensatz zu den Geschichten und Gerüchten schafft der gedruckte Name auf dem Zeitungspapier jedoch Realitäten: Forstarbeiter wurden gesucht; in der deutschen Kolonie Tola in Afrika. Die Ausrüstung, so stand es da schwarz auf weiß, würde gestellt, die Fahrt und Unterkunft jedem bezahlt, ebenso ein Startsalär, jedem – also auch Leo und seiner Familie. (Steinaecker 2009: 307) [Hervorhebungen von Verf.]

In dem gedruckten Namen ‘Benēsi’ spiegeln sich Grundannahmen der Raumtheorie – das „Gemacht-Sein von Räumen“ und die Erkenntnis, „daß diese vor allem auch Produkt graphischer Operationen im weitesten Sinne sind“ (Stockhammer 2005: 15). Die deutsche Kolonie wird aus der Distanz des ‘Mutterlandes’ erst ‘schwarz auf weiß’, das heißt in ihrer präzisen schriftlichen Bestimmung und Benennung, greifbar. Ebenso wie Edward W. Said den Orient in seiner wegweisenden Orientalismus-Studie als textuellen Raum beschreibt (vgl. Said 2009/1978: 68), wird sich auch Steinaeckers Benēsi als Raum der sprachlichen Zeichen erweisen. Nachdem die Familie Lustiger ihren eigenen Forst durch einen Brand verloren hat, folgt sie einer Gruppe deutscher Auswanderer und Kolonisatoren, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der (fiktiven) Kolonie Deutsch-Tola in Westafrika ihr Glück suchen. Im Zentrum des Geschehens stehen der ehemalige Holzhändler Ludwig Gerber, nun Verwalter der Festung Benēsi, und der junge Deutsch-Amerikaner und Architektur-Enthusiast Henry Peters, der auf Einladung des Architekten Gustav Selwin in die Kolonie reist. Während Gerber im Auftrag der Bremer Kolonialgesellschaft den wahnwitzigen Plan verfolgt, einen „deutschen Forst auf afrikanischem Boden“ (Steinaecker 2009: 61) zu pflanzen, strebt Peters die Errichtung einer Modellstadt in der afrikanischen Steppe an. Als einziger Überlebender eines Schiffsunglücks, bei dem auch sein Arbeitgeber Selwin ums Leben gekommen ist, nutzt er die Chance auf einen Neuanfang: Der Namensvetter des historischen Kolonialisten Carl Peters nimmt die Identität Selwins an, um den Traum von der kolonialen Stadt zu verwirklichen. Bereits in dieser Skizze einiger zentraler Handlungsstränge des Romans wird deutlich, dass Räume in dieser literarischen Repräsentation des deutschen Kolonialismus eine zentrale Rolle spielen; es ist die Rede vom Wald, von der Stadt und schließlich – der Titel des Textes markiert es deutlich – vom Schutzgebiet. Was als klassischer Topos kolonialer Zugriffe auf den ‘fremden’ Raum erscheint, entzieht sich bei näherem Betrachten dem ‘imperial eye’. Mit dem Überqueren des Äquators tritt Peters in eine ‘andere’ Welt ein (vgl. Steinaecker 2009: 313), womit eine Vielzahl von Über-Setzungen – linguistischer, kinetischer und ästhetischer Natur

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– einhergeht: Tolalesische Realitäten werden in die deutsche Sprache ‘übersetzt’; Biographien werden (ebenso wie die Tannensetzlinge) per Schiff nach Afrika ‘verpflanzt’; tradierte Genres wie der Abenteuer-, Reise- oder Kolonialroman werden vor dem Hintergrund der literarischen Postmoderne aktualisiert. Die Wirklichkeit auf dem afrikanischen Kontinent und in Tola scheint im Kontrast zur europäischen Lebenswelt der Kolonialabenteurer seltsam verschoben zu sein. Identitäten werden hier brüchig, Bäume wachsen schneller, die Zeit vergeht langsamer. In diesem ‘unscharfen Über-Setzungsprozess’ fallen die koloniale Arbeit am Wort und die Arbeit am Raum in eins. Entsprechend rekurrieren auf formaler Ebene die Episoden des kolonialen Unternehmens in Steinaeckers Roman zwar auf klassische Elemente der Kolonialliteratur, entwerfen Namen und Räume, die außerliterarische Referenzen in Erinnerung rufen, Deckungsgleichheit aber erzeugen sie nie. Auch hier wechseln sich Verdopplungen mit Verschiebungen ab. Wenn die Verschiebung in Steinaeckers Text aber so zentral ist, stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die auf Einheitlichkeit zielenden Raum- und Benennungspraktiken des Kolonialismus noch haben können. Ist ein kolonialistischer Signifikationsprozess unter diesen Umständen überhaupt noch denkbar? Oder führt der Text die Subversion hegemonialer Aneignungsmechanismen vor?

2 Die Benennung und das koloniale Imaginäre Auf die Siedlerfamilie Lustiger übt der Name Benēsi eine noch ungebrochene Faszination aus. Was einst eine nicht weiter bestimmte Fremde war – „das ‘Da drüben’ und ‘Bei den Negern’“ (Steinaecker 2009: 307) – gewinnt durch die Benennung an Kontur. Tola, die unbekannte deutsche Kolonie jenseits des Äquators, wird mit einem Mal zu einem Ort, „den man im Atlas nachschlagen, zu dem man reisen […] konnte“ (Steinaecker 2009: 307). Hier wird zweierlei deutlich: Zunächst markiert der Atlas die wesentliche Funktion, die die Kartographie im Kontext der kolonialen Raumaneignung einnimmt. Wie Robert Stockhammer in seiner Einleitung zum Band TopoGraphien der Moderne im Rekurs auf Carl Schmitt zeigt, gilt die „wissenschaftliche kartographische Aufnahme“ als „Rechtstitel gegenüber einer terra incognita“ (Schmitt, zitiert nach Stockhammer 2005: 13). Durch die kartographische Erschließung wird der ‘fremde’ Raum in bekannte Kategorien eingebettet und handhabbar gemacht; auf diese Weise vollzieht sich nicht nur eine Domestizierung, sondern auch eine Aneignung. Entsprechend verweist Stockhammer auch

130 | Simone Brühl auf die Bedeutung der sogenannten ‘Kongo-’ oder ‘Afrika-Konferenz’ die 1884/85 in Berlin stattfand und gemeinhin als Ausgangspunkt für die „Teilung des afrikanischen Kontinents“ (Stockhammer 2005: 11) gesehen wird. Die weißen Flecke auf der Landkarte Afrikas, die noch Joseph Conrads Erzähler Marlow in seiner Kindheit bestaunen konnte, sind zur Handlungszeit des SteinaeckerRomans längst verschwunden und wurden durch klar definierte Herrschaftsgebiete ersetzt. Darüber hinaus zeigt sich am Beispiel Benēsi, wie eng die Benennung des fremden Territoriums mit dessen Imagination verbunden ist – der koloniale Raum wird für die Siedlerfamilie erst in Verbindung mit dem konkreten Namen denkbar. Waren die deutschen Besitzungen in Afrika bislang nur Gegenstand von Gerede, Geschichten und Gerüchten (vgl. Steinaecker 2009: 306–307) – unbestimmte Räume jenseits der Ordnungssysteme der Heimat –, füllt sich der unbekannte Raum in seiner Benennung mit Signifikanz. Der Name Benēsi steht für ein „durchstrukturiertes Archiv“, das die Sichtweise auf das ‘Andere’ nachhaltig beeinflusst: es „präg[t] die Sprache, die Wahrnehmung und die Begegnung“ (Said 2009/1978: 75) zwischen dem Westen und dem ‘Rest’. Besonders deutlich zeigt sich dieser Vorgang in der Afrikaimagination der kleinen Lustiger-Tochter Else. Das Wort Benēsi aktiviert in ihr eine ganze Reihe an Bildern, in denen sich Alltagserfahrungen, textuell vermitteltes Wissen und Phantasien zu einer detaillierten Vorstellung vom kolonialen Raum verbinden. Else hatte nachgedacht und nachgefragt, ob Afrika so sei wie der Tierpark Hagenbeck in Hamburg, von dem ihr in der Schule erzählt worden war und von dem sie Bilder in ihrem Schulbuch gesehen hatte. (Steinaecker 2009: 308) Die Bilder aus ihrem Schulbuch hatten sich in ihrer Vorstellung mit jenen aus einer Märchenfibel vermischt, auf denen schwarze Menschen, Karawanen in Sandstürmen, Paläste mit verschleierten Prinzessinnen und Geister, die wie Wolken aus Lampen strömten, dargestellt waren. Dorthin fuhren sie also. (Steinaecker 2009: 310)

Auffällig ist hier nicht nur, wie sich ‘Afrika’ mit orientalistischen Diskursen wie aus Tausendundeine Nacht überlagert.1 Vielmehr stellen die kindlichen Imaginationen vom ‘Fremden’ auch die Funktionsweise einer kolonialen Signifikationspraxis aus. Es erfolgt eine Übertragung bekannter Muster auf das vermeintlich unterdeterminierte ‘Andere’; auf diese Weise erfolgt eine Vermittlung

|| 1 Zu den Stereotypen der Orientdarstellung vgl. z.B. Leerssen (2007).

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zwischen diesen angeblichen Oppositionen […], wie ja auch der Diskurs selbst zwischen unserem Erfassen jener Aspekte der Erfahrung vermittelt, die für uns noch ‘fremd’ sind, und jenen Aspekten von ihr, die wir ‘verstehen’, weil wir eine Ordnung von Wörtern gefunden haben, die zu ihrer Domestizierung geeignet ist. (White 1986/1978: 32)

Am Beispiel der Siedlerfamilie lenkt der Text den Blick auf die intrikate Verbindung von Kolonialphantasien und „territorialen Besitzansprüchen“ (Zantop 1999: 11). Dem Verlust des eigenen Besitzes in Deutschland wird die Aussicht auf einen Anteil am deutschen Kolonialreich gegenübergestellt.2 Im Gegensatz zum zerstörten Wald der Lustigers scheint die Aufforstung der afrikanischen Steppe in der deutschen Kolonie eine Perspektive zu eröffnen. Mit dem Namen Benēsi geht für die zukünftige Siedlerfamilie das Versprechen eines besseren Lebens einher. Das Wort Benēsi wird zum überlebenswichtigen Mantra: „eine[m] Namen, […] den man sich untertags, beim Beseitigen der letzten Stümpfe im nun vollends baumlosen Lustiger-Wald vorsagen konnte, atemlos, mit jedem Hackenhieb, mit jedem Spatenstich, Be-nē-si“ (Steinaecker 2009: 307). Doch wie der Name im Überlebenskampf der zukünftigen Siedler zum Hoffnungsträger wird, birgt er auch eine zerstörerische Dimension. Als Rachel auf der Überfahrt nach Tola an Fieber erkrankt, mutiert das ehemals so verheißungsvolle Benēsi zum Ort des Schreckens: „Jetzt war sie es, die nicht mehr bei ihm war; wo aber war sie? Hin und wieder formten ihre Lippen einen Namen, Bene, Benes, Benēsi“ (Steinaecker 2009: 312). Nomen ist hier nicht omen. Vom lateinischen Wortstamm bene geht nichts Gutes mehr aus. Vielmehr beschwört die bloße Nennung ein „Alptraumland“ (Steinaecker 2009: 312) herauf, das die Aussicht auf ein besseres Leben zunichtemacht. Was deutlich wird, ist die Interdependenz von kolonialem Raum und dessen Benennung. Im Akt der Benennung nimmt der phantasmagorische Raum der Kolonie Wirklichkeit an und bildet zugleich den Ausgangspunkt für die Ausgestaltung weiterer Afrika-Imaginationen und -Narrative. In diesem Sinne eignet dem Namen eine performative Kraft. Doch während das Prinzip Benēsi aus der Distanz zwischen Kolonie und Mutterland noch seine ganze konstruktivistische Wirkmächtigkeit entfalten kann, verliert die wirklichkeitsstiftende Funktion des Wortes in Tola selbst zunehmend an Einfluss. Zu Beginn scheint die Nennung Benēsis die Kolonisierten noch zu erreichen: als Peters die Tolalesen, die ihn nach seinem Schiffbruch

|| 2 Zur Wechselwirkung von territorialem Verlust und Expansionsstreben vgl. auch Zantop (1999: 17).

132 | Simone Brühl aufgenommen haben, zum wiederholten Male nach der Festung fragt, reagieren sie schließlich auf seine Kommunikationsversuche: ‘Haben Sie von der Festung Benēsi gehört?’ Plötzlich verstummt das Gelächter. ‘Benēsi?’, sagt der Schwarze […]. ‘Holz’, sagt der Schwarze. Aufgeregt nickt Henry. ‘Holz.’ Für einen Moment meint er in den Augen des Schwarzen so etwas wie Achtung zu erkennen. ‘Benēsi?’ fragt Henry noch einmal, drängender. ‘Benēsi, Benēsi’, wiederholt der Schwarze und schaut zu Boden. ‘Wo – Holz? Wo – Benēsi? Können Sie mich dorthin führen?’ […] Die Schwarzen sprechen also Deutsch. […] Aber mehr als ‘Benēsi’ und ‘Holz’ scheinen sie nicht zu verstehen. Oder sie wollen es nicht. (Steinaecker 2009: 20)

Im Gegensatz zum Benēsi-Mantra der Siedlerfamilie, das gerade in seiner repetitiven Struktur Wirkung entfaltet, erlischt in der wiederholten Nennung des Namens seine Bedeutung. Er markiert nicht mehr der Deutschen ‘Platz an der Sonne’, sondern wird in der Wiederholung zu einer mehr oder minder willkürlichen Aneinanderreihung von Buchstaben, einer bloßen Worthülse, die höchstens noch auf ihre lautliche Qualität, nicht aber auf einen Inhalt verweist. Ähnlich verfährt der Text mit anderen Ortsbezeichnungen. Zwar illustrieren auf Deutschland verweisende Namen wie Bismarckburg – die „zweitgrößte Stadt des Landes“ (Steinaecker 2009: 106) – noch auf die Herrschaft der Kolonisatoren über den afrikanischen Raum; jedoch erweist sich der Zusammenhang zwischen Benennung und Raumaneignung schließlich als brüchig und prekär. Was als nahezu traditionelles Beispiel für die koloniale Landnahme beginnt, entpuppt sich im Laufe der Erzählung als groß angelegtes Scheitern der deutschen Besitzansprüche. Der vermeintlich ‘jungfräuliche’, das heißt: „verfügbar[e], menschenleer[e], geschichtslos[e] und mithin ausbeutbar[e]“ (Castro Varela et al. 2010: 181) Raum, der scheinbar erst in der Benennung durch die Kolonisatoren in ein ‘zivilisiertes’ und damit lesbares Zeichensystem überführt wird, sperrt sich gegen die kolonialen Bemächtigungsstrategien.

3 Ästhetik der Verschiebung Die Verunsicherung kolonialer Diskurse spiegelt sich auch in der Ausstellung der textuellen Verfasstheit des kolonialen Herrschaftssystems und – damit verbunden – der Ästhetik des Romans. Die Entscheidung, die Handlung in einem Schutzgebiet namens ‘Tola’ mit einer Hauptstadt ‘Loué’ zu situieren, reflektiert eine für den Kolonialismus paradigmatische Praxis literarisch: Sie akzentuiert die Willkürlichkeit des kolonialistischen Zugriffs auf die Welt und führt die imaginative Dimension deutscher Herrschaftsansprüche vor. Hier klingt auch

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an, was Gayatri Spivak als „worlding“ (Spivak 2000/1999: 211) – ‘Welt-Machen’ – bezeichnet. Indem der literarische Schöpfungsakt mit der Hervorbringung einer Kolonie zusammenfällt, spiegelt sich in der Autor-Text-Relation nicht nur das hierarchische Machtverhältnis zwischen Subjekt und Objekt der Benennung; auch akzentuiert die Ausstellung des literarischen Schöpfungsaktes das Wechselverhältnis zwischen Raum und Bezeichnung selbst. Die fiktive Kolonie Tola ‘existiert’ nur in der Sprache, sodass deren performative Qualität deutlich hervortritt. Worte erzeugen in diesem Fall (zumindest intradiegetisch) Wirklichkeit. So manifestiert der Text in der metafiktionalen Ausstellung seines Konstruktcharakters die Konstruiertheit von Realität schlechthin.3 Das Nachdenken des Textes über die sprachliche Verfasstheit von Welt verweist darüber hinaus auf die Poetik des Romans. Bestimmend sind hier die Prinzipien der Iterier- und Zitierbarkeit des sprachlichen Zeichens und das daraus hervorgehende Potential zur Mehrfachcodierung und Polysemie. Jedes linguistische oder nicht-linguistische, gesprochene oder geschriebene […] Zeichen kann als kleine oder große Einheit zitiert, in Anführungszeichen gesetzt werden; dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendlich viele neue Kontexte erzeugen. […] Diese Zitathaftigkeit, diese Verdopplung und Doppeltheit, diese Iterierbarkeit des Zeichens (marque) ist kein Zufall und keine Anomalie […]. Was wäre ein Zeichen (marque), das man nicht zitieren könnte? Und dessen Ursprung nicht unterwegs verloren gehen könnte? (Derrida 1999/1972: 339)

Im Anschluss an Jacques Derrida offenbart Steinaeckers Kolonie ihren mehrfachen Zitatcharakter. Hinsichtlich literarischer Genres speist sich der Text aus Versatzstücken des Abenteuer-, Reise- und schließlich auch Kolonialromans. Die Erzählung ist gespickt mit Verweisen, die sie in einem dichten intertextuellen Geflecht verorten. Zu jeder Zeit reflektiert der Text seinen Status als poetisches Artefakt und präsentiert die literarischen Verfahren zur Hervorbringung seiner textimmanenten Wirklichkeit. In diesem Sinne funktioniert Steinaeckers Roman metafiktional. Er verhindert Immersion, indem er verfremdet und dekonstruiert. Gleiches gilt für das Aufrufen kolonialer Diskurse. Schutzgebiet […] presents a highly ironic pastiche of the German colonial imagination and culture, an entertaining potpourri of familiar colonial motifs which expose the grotesque

|| 3 Zu einem ähnlichen Ergebnis – hier allerdings mit Fokus auf das Problem der kulturellen Identität – kommt Axel Dunker in seiner Untersuchung von Thomas Stangls Roman Der einzige Ort: „Der erkennbare Konstruktcharakter des literarischen Textes – die metafiktionale Repräsentation seiner Entstehungsbedingungen – steht in Analogie zum Konstruktcharakter vorgeblicher kultureller Identität“ (Dunker 2012: 318).

134 | Simone Brühl nature of colonialism, as seen from the defamiliarizing distance of a hundred years. (Göttsche 2013: 168)

Dieses Verfahren wird von Axel Dunker am Beispiel von Thomas Stangls Roman Der einzige Ort als paradigmatisch für eine postkoloniale Ästhetik beschrieben: Stangl ruft in seinem Roman […] Muster der kolonialen Ästhetik, d.h. hier des historischen, des Abenteuer-, des Reise-Romans, auf, um die Gattungskonventionen und damit auch die koloniale Ästhetik je einzeln zu unterlaufen, wobei er sie aber […] zu etwas ganz Neuem verbindet[.] (Dunker 2012: 316–317)

Deutlich wird diese Textstrategie auch in einer Betrachtung der Rahmenbedingungen von Schutzgebiet. Wie auch Dirk Göttsche in seinen Ausführungen zu Steinaeckers Text konstatiert, klingt der Name ‘Tola’ vertraut. Es handelt sich um eine einfache Verlagerung der Laute, die auf die tatsächliche deutsche Kolonie Togo zurückführt (vgl. Göttsche 2013: 167). Folgerichtig schwingt auch in ‘Loué’ die togolesische Hauptstadt Lomé mit. Jedoch ist Tola mitnichten eine literarische Kopie der historischen Kolonie. Göttsche führt dies mit Verweis auf die togolesische Vegetation, Tierwelt und Bevölkerung aus: Untypically it has a ‘rocky coastline’ (252) and a climate reminiscent of the Sahel zone, which soon gives way to mountains and deserts further inland. Tola’s natural environment includes imaginary but not entirely unlikely animals, and its African people […] combine elements of various cultures from different parts of the continent. (Göttsche 2013: 167)

Scheinbar vertraute Zeichen, die bei näherem Betrachten niemals ganz identisch mit ihrem (vermeintlichen) Bezugspunkt in der außerliterarischen Wirklichkeit sind, werden in einen neuen Kontext verschoben. Die Fiktionalität der hier entworfenen Kolonie ist durch den großzügigen Einsatz grotesker, parodistischer, ironischer Handlungselemente und Darstellungsformen jederzeit ersichtlich.4 Statt einer Literarisierung der historischen Kolonie, die sich auf leichte Verfremdungseffekte zugunsten der besseren Erzählbarkeit beschränkt, entwirft der Roman eine komplexe Parallelwelt, die ihre Funktionsweise immer wieder metapoetisch reflektiert. In diesem Kontext wird abermals die Überquerung des Äquators zu einem Schlüsselmoment. Als die Siedlerfamilie Lustiger auf dem Schiff nach Tola die südliche Hemisphäre erreicht, staunt die kleine Tochter Else: „Dieses Wort,

|| 4 Vgl. dazu auch Julian Osthues’ Analyse des „dekonstruktiven Funktionspotential[s] einer ‘postkolonialen Komik’“ (Osthues 2015: 113) bei Steinaecker.

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Äquator, das sie noch nie zuvor gehört hatte: es musste die Grenze markieren, wo die Welt ins Märchenreich überging“ (Steinaecker 2009: 313). Bezeichnend ist hier nicht nur, dass der Begriff des ‘Märchenreiches’ die Vorstellung von der Welt jenseits des Äquators abermals als textuell verankert kennzeichnet. Auch wird die Signifikanz der Grenzüberschreitung akzentuiert, die an ein einziges Wort – „Äquator“ – gebunden ist, und die die Hervorbringung einer räumlichen Dichotomie vorführt. Die Weltkugel wird durch die Benennung der imaginären Linie strukturiert und mit Bedeutung aufgeladen; der Äquator bringt die Unterteilung der Erdkugel in Nord und Süd hervor, bettet die Welt in ein binäres System ein und kennzeichnet zugleich die Pforte zu einem Sehnsuchts- und Hoffnungsort. In diesem Sinne ist Elses Wahrnehmung der Südhalbkugel als Märchenreich nicht nur Ausdruck kolonialistischer und exotistischer Diskurse, sondern wird vielmehr auch für die Frage nach Benennungs- und Raumpraktiken signifikant. Am Beispiel des Äquators zeigt sich, wie sich die verschiedenen Raumzuschreibungen in der Erzählung überlagern und in einen Dialog miteinander treten. Auch deutet der Begriff des Märchenreiches auf das Funktionsprinzip des Textes. Die Kolonie wird in eine andere Welt verlagert, die zwar auf Ähnlichkeitsbeziehungen zur intra- wie auch extraliterarischen Wirklichkeit beruht, deren Referenzrahmen jedoch kontinuierlich in Frage stellt. Diese Verschiebungs- und Verweisungsstrukturen wirken sowohl im Wechselspiel von Kolonie und sogenanntem Mutterland als auch von Fakt und Fiktion. Auch innerhalb der Diegese findet sich dieses Motiv wieder. Die Welt selbst erscheint Peters als Spiegelung: Es geht etwas von diesem tolalesischen Mond aus, das ihn vollkommen in seinen Zauber zieht. Beim Anblick der Schattierungen kann er die Gebirge mit den eisigen Gletschern, die Täler aus Geröll und Schutt, die Flussbetten mit den mächtigen Strömen erkennen. Da! Ein zweiter Mississippi, ein zweiter Nil[.] (Steinaecker 2009: 160)

Doch eröffnet nicht nur der Blick in den tolalesischen Mond eine zweite Welt. Vielmehr ist auch Tola selbst ein Ort der Verdopplung. Die Hauptstadt Loué ist in diesem Sinne paradigmatisch. Sie ist „die Stadt der Doppelgänger“ (Steinaecker 2009: 252). So sieht etwa der Arzt Schirach in den Patienten seiner tolalesischen Praxis seine Morphiumsucht gespiegelt (vgl. Steinaecker 2009: 252). Auch der Alltag in der Festung Benēsi ist von diesem Motiv durchzogen. Als Peters zum ersten Mal in den Speisesaal tritt, sieht er „scheinbar viermal de[n]selben Mann, zur Begrüßung nickend, dicklich, mit Kaiser-Wilhelm-Bart: vier Doppelgänger Seiner Majestät“ (Steinaecker 2009: 69).

136 | Simone Brühl In der Figur des Henry Peters transformieren sich die Motive der Verdopplung und Spiegelung in besonderer Weise. Als einziger Überlebender des Schiffsunglücks nimmt er den Namen und die Identität des verstorbenen Architekten Gustav Selwin an. „Er stellt sich vor: ‘Gustav Selwin, Architekt. Überlebender der Brünnhilde. Zu Ihren Diensten’“ (Steinaecker 2009: 25). Die Aneignung des Namens verweist zunächst auf den für den Kolonialismus so zentralen Zusammenhang von Benennung und Machtausübung. Zum einen akzentuiert die Übernahme des fremden Namens die konstruktivistische Macht von Sprache. Er nimmt den kolonialen Akt der Benennung vorweg, indem er den Eintritt in die tolalesische Lebenswirklichkeit mit dem Verlust einer bislang als stabil geglaubten Identität verschränkt: „Henry Peters […] hat er in diesem Dorf oder sogar schon am Strand […] zurückgelassen. Für immer“ (Steinaecker 2009: 25). Ebenso wie die Kolonisatoren das eroberte Gebiet in der Benennung als deutsches Territorium hervorbringen und die Bevölkerung durch Taufe den Kategorien des europäischen Herrschaftssystems unterwerfen (vgl. Steinaecker 2009: 138), kolonisiert Peters die eigene Identität. Doch ist der fremde Name nicht nur ein Etikett, das ihm den Eintritt in die koloniale Ordnung erleichtert, sondern schafft vielmehr eine neue Wirklichkeit. Dabei wirkt die Benennung als solche transformativ, beinahe magisch: Scheinbar ohne sein aktives Zutun ahmt Peters bereits vor dem Schiffbruch seinen Lehrmeister nach: „[…] ohne dass er es wollte, imitierten Henrys Arme, sein Kopf die […] [an Selwin] gesehenen eleganten Bewegungen“ (Steinaecker 2009: 68). Die äußerliche Übernahme der fremden Identität führt zu inneren Veränderungen. „Es gibt Henry Sicherheit, sich fast beiläufig einige Züge des toten Lehrers angeeignet zu haben: Ruhig und bedachtsam tritt er auf“ (Steinaecker 2009: 69). Hier wird nicht nur die Macht der Benennung und die Brüchigkeit des Konzeptes Identität vorgeführt. Vielmehr scheint es, als übe der Name eine geheime Macht auf Peters aus, die schließlich zu einer nicht willentlich gesteuerten Transformation führt. Und mehr noch: indem Peters seine Erinnerungen mit dem Selwin’schen Lebenslauf amalgamiert, bringt auch er eine verzerrte Wirklichkeit hervor (vgl. Steinaecker 2009: 178). Es findet ein Austauschprozess statt, der Peters nicht nur symbolisch zum Wiedergänger eines Toten machen. Vielmehr verkehren und überlagern sich hier verschiedene Identitäten, verdichten sich Persönlichkeitsmerkmale des Verstorbenen und Peters’ selbst, und nehmen in ihrer Überspitzung nahezu groteske Züge an. In diesem Sinne lässt das Motiv der Verdopplung die ‘Welt’ auf der Südhalbkugel auch als eine Art Zerrspiegel der Realitäten der nördlichen Hemisphäre erscheinen.

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4 Benennung/Einschreibung/Lektüre Daneben steht das Scheitern des kolonialen Projektes. Deutlich wird dies abermals an der Figur des selbstproklamierten Architekten. Am Reißbrett entwirft er seine koloniale Stadt und vermisst das unbekannte Territorium: Mit dem Lineal hat er ein Viereck gezeichnet, zieht durch seine Mitte einen Strich, schreibt in die eine Hälfte ‘Eingangsbereich/Warteraum’, in die andere ‘Schalter’, neben das Viereck, groß, ‘POST’, malt neben das Viereck ein weiteres, teilt es in vier kleine Vierecke, schreibt in die beiden oberen ‘POST’, in die unteren ‘BANK’, zeichnet den Aufriss einer einstöckigen Fassade mit Satteldach, radiert es aus, ersetzt es durch ein Pultdach, malt rechts und links zwei dorische Säulen, sie besitzen keinerlei Funktion […]. (Steinaecker 2009: 175)

Hier offenbaren sich die Paradigmen kolonialer Raumaufteilung, die die Segmentierung Afrikas im Zuge der Kongokonferenz 1894/1895 in Erinnerung ruft. Der in den Vereinigten Staaten ausgebildete Stadtplaner strukturiert Benēsi nach Parametern der westlichen Architektur und auch wenn er in Erwägung zieht, die dorischen Säulen durch „Säulen nach Art der Eingeborenen“ (Steinaecker 2009: 175) zu ersetzen, repräsentiert der Grundriss – im Zusammenspiel mit der Zuweisung der Raumfunktionen – die Ordnungsphantasmen der westlichen Kolonisatoren. Doch je länger Peters in Benēsi verweilt, umso unwahrscheinlicher wird die Wirksamkeit dieser Aneignungspraktiken. Die performative Dimension der Benennung entpuppt sich angesichts der tolalesischen Wirklichkeit als eine Illusion der Besetzer; das gewaltsam erworbene Recht der Benennung garantiert längst nicht mehr den Erfolg des kolonialen Projektes. Keiner hält sich an die Pläne, die er in mühevoller Kleinarbeit gezeichnet und die er doch allen Zuständigen gezeigt und ausführlich erklärt hat. Keine Hauptstraße (auf dem Plan Kaiser-Wilhelm-Allee genannt), keine Kreuzung mit der Benēsi-Allee, keine BismarckChaussee, keine Gerber-, keine Schirach-Gasse. Stattdessen eine einzige noch namenlose Schneise aus festgestampfter Erde in Richtung Sägewerk, von der viele kleine Pfade abzweigen, mit jedem Tag werden es mehr. (Steinaecker 2009: 318)

Weder die Ordnung der tolalesischen Stadt noch die Einschreibung der Deutschen in den kolonialen Raum ist erfolgreich. Im Scheitern der architektonischen Pläne für Benēsi wird vielmehr die Willkürlichkeit der Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, die Vergeblichkeit der Ordnungsphantasmen deutlich. Hier entsteht keine deutsche Musterstadt; die glanzvollen Namen, die an den Vorherrschaftsanspruch der Kolonisatoren gemahnen, sind sinnentleert.

138 | Simone Brühl Die Magie, die der Name Benēsi einstmals auf die Siedlerfamilie Lustiger ausgeübt hat, ist einem dysfunktionalen Kolonie-Alltag gewichen. Besonders deutlich wird dies im Widerstand des besetzten Raumes gegen die Versuche europäischer Zuschreibungen. Bereits Peters’ erste Begegnung mit dem bislang unbekannten Raum deutet auf dessen Unverfügbarkeit für westliche Klassifizierungen. Nach dem Schiffsunglück von den Bewohnern eines Dorfes an der tolalesischen Küste ins Landesinnere „verschleppt“ (Steinaecker 2009: 14), versucht der Amerikaner das Land zu ‘vermessen’, eine Vorstellung von seinen Dimensionen zu entwickeln und seine Ordnung zu begreifen. „Auf der Landkarte wirkte Tola am westlichen Rand des riesigen Kontinents winzig klein, ein afrikanisches Liechtenstein“ (Steinaecker 2009: 15). Mit der Topographie Afrikas im Gedächtnis verlässt er das Dorf, „[d]iese trostlose Ansammlung vereinzelter Hütten“ (Steinaecker 2009: 14). Seine Bewegung zielt von der Peripherie in ein imaginiertes Zentrum, hin zur Festung Benēsi, und operiert mit dem Strand und der Annahme einer von dort ausgehenden Straße als Landmarken. Doch scheitert der Versuch, sich den Raum auf diese Weise zu ‘er-schreiten’. „[A]ls die Mittagszeit vergeht, die Landschaft sich immer noch nicht verändert und er sein Wasser aufgebraucht hat […], entschließt er sich zur Umkehr“ (Steinaecker 2009: 15). Mit dieser Entscheidung werden sowohl das kolonialistische Motiv der Entdeckungsreise als auch allgemeiner das Konzept von Bewegung als Raumpraxis suspendiert. Statt sich den unbekannten Raum im Durchschreiten anzueignen, ihn zu ‘kerben’, mit Bedeutung zu belegen und schließlich den westlichen Benennungs- und Kartographierungssystemen untertan zu machen, beherrscht Steinaeckers Protagonist Afrika mitnichten. Vielmehr wird deutlich, dass Peters’ kartographisches Wissen der tolalesischen Wirklichkeit nicht beikommt und die Landschaft nicht innerhalb seines Referenzsystems lesbar ist. Nicht einmal Peters’ ‘Fluchtversuch’ hat eine Wirkung auf seine Lage. Er bleibt von der Dorfbevölkerung unbemerkt, „[d]ie Schwarzen haben keine Notiz [da]von […] genommen“ (Steinaecker 2009: 15). Der Versuch, die Situation als Verschleppung des weißen Mannes durch die ‘Wilden’ zu definieren und innerhalb dieses Narrativs zu handeln, wird durch die Gleichgültigkeit der indigenen Bevölkerung unterminiert. Peters’ Zeichen laufen ins Leere. In ähnlicher Weise entzieht sich Tola dem kolonialen Bestreben, die Landschaft urbar zu machen, sie zu kultivieren und zu zivilisieren, wie es die lateinische Etymologie des Kolonie-Begriffes nahelegt.5 So scheitert etwa der architek|| 5 „Kolonie, von lateinisch colonia, des Stammes colere, den Boden urbarmachen“ (Meyers Konversationslexikon, zitiert nach: Honold & Simons 2002: 7).

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tonische Zugriff auf das Gebiet um Benēsi nicht nur am Unwillen der tolalesischen Arbeiter, Peters’ Anweisungen zu befolgen, sondern ebenso an der schieren Übermacht des Raumes selbst: Aber vom Hügel aus, auf den er wieder hinaufläuft, ergibt das alles keinen Sinn mehr. Die Kreidestriche sind im Gras nicht zu sehen, das Gebäude, das er mit den Stöcken abgesteckt hat, ist ein großes Oval, ein Gesicht, das Gras sein Haar und Bart. (Steinaecker 2009: 207)

Der plötzlich nicht mehr gesichtslose Raum des ‘Anderen’ gewinnt mit einem Mal an Handlungsfähigkeit. Zeichen, die auf Peters’ Plänen ihre indexikalische Wirkung noch voll entfalten, werden – einmal vom zweidimensionalen Grundriss in die Komplexität des tolalesischen Raumes übertragen – sinnentleert; sie verschwinden ganz oder verändern ihre Bedeutung. Die koloniale Besitzergreifung wird hier ad absurdum geführt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Grundlage der deutschen Herrschaft in Tola im wahrsten Sinne des Wortes sumpfig ist: Eine Niederung, die Henry bereits als Teil der künftigen Stadt eingeplant hat, ist als das eigentliche Bett des Flusses erkennbar geworden. Wie aber soll hier überhaupt eine Stadt entstehen, Häuser, eine Kirche, ein Bahnhof, die ein festes Fundament benötigen? (Steinaecker 2009: 132)

Die Akzentuierung der Unberechenbarkeit und Unlesbarkeit der afrikanischen Natur zeigt, dass sich die Landschaft dem kolonialen Projekt und damit auch der hegemonialen Lektürepraxis entzieht. „Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis“ (Foucault 2012/1972: 34), konstatiert auch Michel Foucault in seiner Antrittsvorlesung L’ordre du discours. Statt sich ‘jungfräulich’ dem westlichen Zugriff hinzugeben, hält Tola an seinem eigenen Zeichensystem fest und sperrt sich gegen die Resignifikation.

5 Der „Schwarzwald Afrikas“? Der Brief aus Bremen […] kam dennoch unerwartet. Man habe vor ein paar Monaten ein Gespräch in Bad Ischl geführt, schrieb Lüderitz […]. Die Kolonialgesellschaft plane die Aufforstung von Teilen der nördlichen tolalesischen Tiefebene. […] Doch nicht, Achtung!, mit einheimischen Hölzern, für die in Deutschland kein Markt vorhanden ist. Nein: Ausschließlich mit Tanne, Fichte, Birke, Buche, Eiche, Esche. Ein deutscher Wald auf afrikanischem Boden! (Steinaecker 2009: 105–106)

140 | Simone Brühl Im Motivkomplex des ‘deutschen’ Waldes in Afrika treffen sich zentrale Aspekte von Steinaeckers Roman; Benennungs- und Raumpraktiken wirken hier ebenso wie Figuren der Verdopplung, Verschiebung und Übersetzung. Offenkundig ist der zivilisatorische Impetus dieses Unterfanges. Der phantasmatisch aufgeladene ‘deutsche Wald’ beschwört ideengeschichtlich in seiner nahezu mystischen Qualität ‘das Deutsche an sich’. Er steht nicht nur metaphorisch für Ordnung, Kultivierung und Stärke, sondern ruft auch symbolisch die Superiorität des deutschen Kulturgutes auf (vgl. Lehmann 2001: 189–191). Dass es gerade jene Hölzer sind, die auf dem europäischen Markt nachgefragt werden, ist dabei ebenso folgerichtig wie beabsichtigt (vgl. Steinaecker 2009: 106). Der deutsche Wald verkörpert die bearbeitete und beherrschte Natur. Im Kleinen handelt es sich beim „Schwarzwald Afrikas“ (Steinaecker 2009: 233) um eine Wiederholung der heimischen Wälder des Festungs-Verwalters Gerber. Der tolalesische „Gerber-Wald“ ruft nicht nur die bayerische „Ludwig-Schonung“ (Steinaecker 2009: 87), sondern ebenso „Neu-Zwiesel“ (Steinaecker 2009: 102) im Kongo auf, das eine weitere Station auf der Lebensreise Gerbers war. Modus und Zweck der Benennung sind hier offensichtlich: die Verbindung der Waldstücke mit Gerbers Namen markieren Besitzverhältnisse, während Neu-Zwiesel den kongolesischen Raum in eine von Deutschland ausgehende Genealogie integriert und auf diese Weise in ein eurozentrisches System einbettet: „Das hier war der Wald bei Zwiesel, das alte Reich der Geschwister. Obwohl sie Tausende von Kilometern und Jahrzehnte vom einstigen väterlichen Gut trennten, waren sie am Ende doch glücklich heimgekehrt.“ (Steinaecker 2009: 125). Wieder spielt das Motiv der Verdopplung und Wiederholung eine entscheidende Rolle. In der Überführung des heimischen Waldes in die ‘Fremde’ wird der andere Raum domestiziert und angeeignet. Die Kolonie erscheint als eine zeitverzögerte Variation des Mutterlandes.6 In einem größeren Rahmen verweist die Idee des deutschen Waldes in Afrika noch auf ganz andere Mechanismen kolonialer Herrschaftspraktiken. Ebenso wie die Kolonisatoren werden die Bäume vom Zentrum in die Peripherie überführt; die Setzlinge setzen auf dem Schiff über und erfahren eine Neusituierung in einem fremden Kontext. Zugleich sind sie eng mit der Strukturierung von Räumen verbunden. Mehr noch als die Festung Benēsi steht der Wald für den kolonisierten Raum an sich. Als kleines Reich im Reich (vgl. Steinaecker 2009: 122) kondensiert er die Funktionsweise des deutschen Machtanspruchs. Zunächst geht es um eine Besetzung und Überschreibung des tolalesischen Raumes: es soll nicht irgendein

|| 6 Für eine ausführliche Darstellung kolonialer Benennungspraktiken vgl. Stolz & Warnke (2015).

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Wald gepflanzt werden (womöglich mit einheimischen Bäumen), sondern explizit ein deutscher Forst in Afrika. Damit wird nicht nur der afrikanische Boden ausgebeutet, sondern auch die bestehende Natur ausgelöscht. Sie wird unterworfen, ihre Ressourcen werden ausgebeutet, und sie wird zum Objekt eurozentrischer Reinheitsphantasien und Entwicklungsnarrative. Mehr als offensichtlich ist die Parallelisierung von Forstwirtschaft und darwinistischer Auslese7 in den Ausführungen zur „Reinheit der Arten“ (Steinaecker 2009: 124) und zur Notwendigkeit der Läuterung des Waldes: Wir läutern den Wald, indem wir die starken, vielversprechenden Bäume fördern und die Konkurrenten, schädliche Viecher und krüppeliges Holz, entfernen. Du siehst, im Forst geht’s auch nicht anders zu als sonstwo auf der Welt. (Steinaecker 2009: 92)

Gleichzeitig stellt die von Gerber vertretene Forstwirtschaft eine radikale Umstrukturierung des afrikanischen Raumes dar: Mindestens zwei Meter Abstand brauchten die Nadelbäume zwischen sich, drei dreißig die anspruchsvolleren Laubbäume, und bitte einen Meter fünfzig tief ins Erdreich senken, darunter aber, nicht vergessen!, eine zehn Zentimeter dünne Sandschicht[.] (Steinaecker 2009: 123)

Die Expansion erfolgt nicht nur in die Breite und Höhe, sondern sogar in die Tiefe. Die deutschen Bäume schlagen Wurzeln im tolalesischen Erdreich. Dass diese Besetzungs- und Ordnungsphantasien jedoch prekär sind, zeigt gerade die Interaktion des deutschen Baumbestandes mit der fremden Natur. Mit dem Wurzelnschlagen, dem Ausgesetztsein geht zwangsläufig die Möglichkeit der Kontamination einher. Was die Bäume so schnell wachsen lässt, ist gleichzeitig auch eine Bedrohung des Systems. Abermals entzieht sich der kolonisierte Raum sowohl der Bestimmung als auch der Überschreibung durch die vermeintliche Hegemonialmacht. So ist es auch nur folgerichtig, dass der Wald – die Grundlage für die wirtschaftliche Prosperität der Kolonie, das Nationalsymbol der Deutschen, der Mythos und das Märchenreich – am Ende in Flammen aufgehen muss. Die „[h]eilige Flamme“ (Steinaecker 2009: 347), deren Glühen fürs

|| 7 In diesem Bezug auf (sozial-)darwinistische Diskurse spiegeln sich die Äußerungen Carl Peters’, der als Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika gilt und u.a. mit seinen Kolonialpolitischen Erinnerungen und Betrachtungen auf sich aufmerksam gemacht hat: „Denn auch die Kolonialpolitik will nichts Anderes, [sic] als die Kraftsteigerung und Lebensbereicherung der stärkeren, besseren Race [sic], auf Kosten der schwächeren, geringeren, die Ausbeutung der nutzlos aufgespeicherten Reichthümer dieser im Dienste des Kulturfortschritts jener“ (Peters 1886b: 9). Den Hinweis verdanke ich Axel Dunker.

142 | Simone Brühl Vaterland in der preußischen Volkshymne Heil dir im Siegerkranz zur Feier des ‘Geburtstags’ Benēsis noch emphatisch besungen wird, macht den Wald und die Festung dem Erdboden gleich.8 In dieser finalen Ironie wird deutlich, wie sich in Steinaeckers Tola die Zeichen der Eindeutigkeit verweigern. Benennungspraktiken, die auf Konsistenz zielen, werden unterlaufen und durch die Prinzipien der Polysemie und Verschiebung ersetzt. Das Ambige, das nie ganz Identische wird zum herrschenden Prinzip der Kolonie und des Romans.

Literaturverzeichnis Quellen Peters, Carl. 1886a. Kolonialpolitik und Sozialismus (Teil 1). Kolonial-politische Korrespondenz. Organ der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation und der Deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft 2 (09.01.1886). 6–7. Peters, Carl. 1886b. Kolonialpolitik und Sozialismus (Fortsetzung). Kolonial-politische Korrespondenz. Organ der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation und der Deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft 3 (16.01.1886). 9–10. Steinaecker, Thomas von. 2009. Schutzgebiet. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt.

Forschungsliteratur Castro Varela, María do Mar, Nikita Dhawan & Shalini Randeria. 2010. Postkolonialer Raum. Grenzdenken und Thirdspace. In Stephan Günzel (ed.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, 177–191. Stuttgart: Metzler. Derrida, Jacques. 1999/1972. Signatur, Ereignis, Kontext. In Peter Engelmann (ed.), Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, 325–351. Wien: Passagen. Dunker, Axel. 2012. Postkoloniale Ästhetik? Einige Überlegungen im Anschluss an Thomas Stangls Roman Der einzige Ort. In Herbert Uerlings & Iulia-Karin Patrut (eds.), Postkolonialismus und Kanon, 315–325. Bielefeld: Aisthesis. Foucault, Michel. 2012/1972. Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt am Main: Fischer. Göttsche, Dirk. 2013. Remembering Africa. The rediscovery of colonialism in contemporary German literature. Rochester/New York: Camden House.

|| 8 Auf den motivischen Zusammenhang zwischen dem Waldbrand und der preußischen Volkshymne verweist auch Julian Osthues (2015: 113).

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Oliver Simons

Name als Nahme: Carl Schmitts Kolonialismus Zusammenfassung: In den 50er Jahren schreibt Carl Schmitt in mehreren Texten über den Zusammenhang von Benennungspraktiken von Orten und der Geschichte des Kolonialismus. Länder lassen sich nur besetzen, wenn man ihnen einen Namen gibt, und da in der Nachkriegszeit keine freien Räume mehr verfügbar sind, droht die „Kraft zum Namen und zur Namengebung“ zu verschwinden. Dieser Aufsatz rekonstruiert Schmitts koloniale Namenstheorie in drei Schritten: Welche Funktion hat der Name als Zeichenform in Schmitts politischer Theorie? Wie rekonstruiert er die Geschichte des Kolonialismus? Drittens schließlich geht es um die These, dass Schmitt mit seiner Theorie der Benennungspraktiken auch ein politisches Programm verfolgt. Schlagwörter: Raum, Kongokonferenz, Nationalsozialismus, Antisemitismus

1 Einführung Carl Schmitt, unter anderem als Kronjurist des Dritten Reichs namhaft geworden, lebte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Entzug seiner Lehrbefugnis zurückgezogen im sauerländischen Plettenberg. Seinen Publikationen der Nachkriegsjahre hat man ein verstärktes Interesse an der Geschichtsphilosophie nachgesagt, manchen Lesern schienen seine Schriften „eschatologische Züge“ anzunehmen oder sogar „eine Wende von offensiver Gestaltungsabsicht zu defensiver Deutungsbemühung“ zu vollziehen (Laak 1993: 28). In Der ‘Nomos’ der Erde im Völkerrecht des ‘Jus Publicum Europaeum’ etwa, seinem Hauptwerk der Nachkriegsjahre, rekonstruiert er das Völkerrecht vor allem aus historischer Sicht. Seine Deutung dieser Geschichte jedoch, so die These der nachfolgenden Seiten, zeigt durchaus die engagierte Haltung eines Konservativen, der wie zuvor in der Weimarer Zeit seine Theorien stets als Interventionen verstanden hat. Gerade im Hinblick auf seine Theorie des Namens und der Ge-

|| Oliver Simons: Columbia University, Department of Germanic Languages, 414 Hamilton Hall, Mail Code 2812, 1130 Amsterdam Ave, New York, NY 10027, USA. E-mail: [email protected]

146 | Oliver Simons schichte des Kolonialismus wird deutlich, dass Schmitt seine „Gestaltungsabsicht“ in den Nachkriegsjahren keineswegs aufgegeben hat. Schmitts Theorie des Namens ist ganz unmittelbar mit seiner Geschichtsdeutung des Völkerrechts verknüpft. Namen sind Schmitt zufolge konkrete Ausdrücke, deren Bedeutung ohne Bezug auf einen Referenten nicht zu verstehen ist. Koloniale Landnahmen wiederum sind ohne Namensgebung nicht denkbar. Länder lassen sich nur besetzen, wenn man ihnen einen Namen gibt, und das heißt umgekehrt: Der Akt der Benennung ist somit Ausdruck eines essentiellen Vermögens zur politischen Gemeinschaftsbildung. Genau diese Fähigkeit eines Volkes aber, sich mit und über Namen als ein Volk zu identifizieren, ist für Schmitt mit dem Ende des Kolonialismus verloren gegangen: „Verschwindet die Kraft zum Namen und zur Namengebung? Verschwindet sogar der Sinn dafür, was ein Name ist?“ (Schmitt 1995e: 585), heißt es etwa in seinem Aufsatz „Nomos – Nahme – Name“ von 1959: Die letzte große Heldentat europäischer Völker, die Landnahme einer neuen Welt und eines bisher unbekannten Kontinents, wurde von den Helden der Conquista nicht unter Berufung auf das jus commercii vollzogen, sondern im Namen ihres christlichen Heilands und seiner heiligen Maria. […] Wo gibt es also heute noch Namen? Das große Werk der spanischen Conquistadoren wird heute von dem Verdammungsurteil getroffen, das den europäischen Kolonialismus im Ganzen trifft. Dieses Odium ist, wie wir sagen, universal; es herrscht in Amerika, Asien, Afrika und in Europa selbst. (Schmitt 1995e: 585)

In der zitierten Passage sind mindestens drei Aspekte zu differenzieren: Zunächst suggeriert Schmitt, dass der Name eine eigentümliche Zeichenform ist, die sich offenkundig von anderen linguistischen Ausdrücken unterscheidet. Wesentlich für den Namen ist zweitens der Akt der Benennung, die Art und Weise also, wie ein Name gegeben wird. Namen müssen eingesetzt werden, sonst bleiben sie wirkungslos. Damit spielt Schmitt drittens schließlich auf die Geschichte des Kolonialismus in Europa an, oder genauer auf die Eroberung der so genannten Neuen Welt, deren weiße und unbesetzte Flächen die wichtigste Ressource für koloniale Landnahmen und Namensgebungen waren. „Eine Landnahme“, so Schmitt, „wirkt nur dann konstituierend, wenn es dem Landnehmer gelingt, einen Namen zu geben“ (Schmitt 1995e: 584). Auf den nachfolgenden Seiten soll es zunächst um Schmitts Namenstheorie und seine Vorstellung von kolonialen Räumen gehen, schließlich aber auch um die Frage, inwiefern sein Rückblick auf koloniale Benennungspraktiken auch eine politische Gestaltungsabsicht verrät. Was heißt es, wenn Schmitt in den 50er Jahren über den Verlust der „Kraft zum Namen und zur Namensgebung“ schreibt?

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2 Schmitts Theorie des Namens Carl Schmitt hat mit seinen Schriften zur Rechtsgeschichte, zur politischen Theorie, aber auch zur Literatur- und Kulturgeschichte beigetragen, und trotz dieser vermeintlich so unterschiedlichen Disziplinen zeigen sich zwischen seinen Forschungsfeldern zahlreiche Überschneidungen (siehe Meierhenrich & Simons 2016). Seine Theorie des Namens ist aber nicht nur für seine Beiträge zu diesen unterschiedlichen Fachgebieten aufschlussreich, sondern darüber hinaus eine Konstante in den unterschiedlichen Phasen seines Schaffens; von Schmitts frühen Schriften bis zu seinen letzten Texten hat der Name eine entscheidende Funktion.1 Bereits 1914 in seiner Schrift über den Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen macht Schmitt deutlich, dass sprachbezogene Überlegungen für seine politische Theorie kein bloßes Beiwerk sind. Theorie und Praxis berühren sich, so Schmitt, man könne sogar, „mit Berufung auf viele historische Ereignisse, den Satz aufstellen, daß keine gute Staatstheorie ohne weittragende reale Folgen geblieben sei […]“ (Schmitt 2004: 17). Zwar bestehe zwischen beiden keine unmittelbare Wechselwirkung, dennoch lasse sich das Wohl eines Staates nur in einer entsprechenden Staatstheorie begründen. Staaten müssen definiert und konstituiert werden, und dafür eignen sich nur bestimmte Ausdrücke. Empirische Begriffe etwa, die den Staat mit einem „Organismus“ oder ähnlichem vergleichen, seien für seine Definition nicht ausreichend. Der verwirrende Wirbel von Assoziationen, die sich an ein Wort anknüpfen, kann nicht aus sich selbst heraus das ordnungsschaffende Prinzip gebären, das dem Begriff die nötige Festigkeit verleiht, damit er überhaupt verwendbar werde. Freilich liegen in jeder sprachlichen Benennung viele und wichtige Hinweise, die Sprache ist mehr als ein rein biologisches Werkzeug, ein Mittel zur Verständigung, das dem Menschen nichts anderes bedeutete, als etwa dem Hunde sein ausgebildeter Geruchssinn. Jedes Problem nimmt mit der Erforschung jener Relationen und Andeutungen seinen Anfang. Die Methode aber, die exakt den Sprachgebrauch feststellen will, um einen wissenschaftlichen Begriff dadurch zu gewinnen, verkennt gerade diese Bedeutung der Sprache und achtet sie nur als Faktum, wie jedes andere Faktum. (Schmitt 2004: 46)

Staaten entstehen nicht, sie werden gemacht, bedürfen gerade darum aber einer methodisch-theoretischen Grundlage, um sich als Staat begründen zu können (vgl. Schestag 2007: 545). Die Gefahr unzureichender Staatsbegriffe komme zum || 1 Zu Schmitts Theorie des Namens vgl. auch den erhellenden Aufsatz von Thomas Schestag (2007).

148 | Oliver Simons einen aus dem „stetig sich wandelnden Sprachgebrauch“ (Schmitt 2004: 47), dem Umstand also, dass die Assoziationen von Begriffen stets zeitlich bedingt sind und historischen Veränderungen nicht immer standhalten; zum andern aber seien die konkreten Staaten in ihrer empirischen Form „notwendig unvollkommen“ (Schmitt 2004: 49), denn allein die Tatsache, dass es verschiedene Staaten und Staatsmodelle gibt, ist Schmitt zufolge Zeichen dafür, dass ein idealer Staat noch nicht verwirklicht sei. Im Gegensatz dazu repräsentiere die katholische Kirche, „die nach ihrer Lehre die einzige Kirche ist und keine andere neben sich anerkennen kann, selbst […] die Verwirklichung eines Ideals […]“ (Schmitt 2004: 49). In Politische Romantik von 1919 verschärft Schmitt seine Kritik an einer Staatsidee, die sich nur über beliebige Begriffe begründen kann. In der Romantik, so Schmitt, mangelte es den Begriffen an einer causa (Schmitt 1998: 91). Die Begriffe der Romantik seien gänzlich beliebig, rein „occasionell“, wie Schmitt schreibt, immer ein Prädikat und niemals in einer Definition dingfest zu machen (Schmitt 1998: 10). Auch der Staatsbegriff sei bei den Romantikern zu einer reinen Fiktion geworden. Selbst Begriffe der katholischen Kirche, von denen die Romantiker besonders angezogen waren, seien von den Romantikern unterhöhlt worden. Die Romantiker hätten zwar ein „besonderes Interesse an berühmten Namen“, aber nur weil Namen als „Objektivationen geistiger Werte“ auf suggestive Weise vielseitig verwendbar seien (siehe Schmitt 1998: 133f.). In der Romantik seien Namen gewissermaßen enteignet und ihrer eigentlichen Bedeutung enthoben worden. Der Name ist Schmitt zufolge zwar verlässlicher als ein rein metaphorischer Ausdruck, keineswegs aber ungeschützt vor Missbrauch. Ebenso wichtig wie der Name als Zeichenform ist für Schmitt daher die Art und Weise, wie der Name eingesetzt wird. Und auch für Benennungspraktiken ist die Katholische Kirche ein Modell. In Schmitts Römischer Katholizismus und politische Form von 1923 etwa heißt es, dass die Kirche als Repräsentationsmodell jedem Imperium überlegen sei: „Hier ist eine substanzielle Gestaltung der historischen und sozialen Wirklichkeit gelungen, die trotz ihres formalen Charakters in der konkreten Existenz bleibt, lebensvoll und doch im höchsten Maße rational ist“ (Schmitt 2008: 14). Gemeint ist, dass die Kirche ihre Mitglieder jederzeit über Begriffe erreicht und sich konkret in der Lebensweise der Bevölkerung wiederfindet. Diese Einheit von formalen Begriffen und konkreter Lebensform sei nur möglich, weil die Kirche auf einem strengen Prinzip der „Repräsentation“ beruhe: „Im Repräsentativen liegt ihre Überlegenheit über ein Zeitalter ökonomischen Denkens“ (Schmitt 2008: 32). Während Staaten abstrakter und künstlicher Symbole wie Hammer und Sichel bedürfen, hat der Papst etwa „seinen Namen als Vater“

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(Schmitt 2008: 13), dessen repräsentative Kraft „auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi“ zurückgehe (Schmitt 2008: 24). Zwar ist auch der Staatsbeamte eine Art Stellvertreter, seine Ernennung ist jedoch mit der direkten Übertragung der kirchlichen Autorität nicht zu vergleichen. Schmitts Leviathan von 1938 schließlich, sein Buch über die Staatslehre von Thomas Hobbes, handelt von einer misslungenen Namengebung. Seine bekannte These ist: Hobbes habe sich im Symbol „vergriffen“ als er den Staat als Leviathan bezeichnete (Schmitt 2003: 130). Für Hobbes sei der Leviathan ein Bild, eine Art Metapher, mit deren Hilfe er den Staat zu veranschaulichen suchte. Als Ausdruck hat der Leviathan für Hobbes folglich eine gewisse Beliebigkeit. Schmitt hingegen schreibt: Weder Textbefund und Wortgeschichte, noch begrifflich-systematische Richtigkeit, noch die in der Luftlinie verlaufende ideengeschichtliche Logik haben das letzte Wort, wo das politische Schicksal eines mythischen Bildes in Frage steht. Der Name Leviathan gehört nun einmal zu den mythischen Namen, die sich nicht ungestraft zitieren lassen, und sein Bild ist so stark, daß es, auch nur an die Wand gemalt seinen eigenen Wirkungsverlauf nimmt. (Schmitt 2003: 79)

Auch hier also bezieht sich Schmitt auf die Bibel. Indem Hobbes schlichtweg nicht bedacht habe, dass der Leviathan im Buch Hiob als Seemonster beschrieben und dem Landtier Behemoth gegenübergestellt wird, habe er das Symbol seiner mythischen Vorgeschichte beraubt und ein rein künstliches Staatsbild konstruiert, mit dem sich kein Volk mehr identifizieren kann. Der von Hobbes beschriebene Staat verliert die Bindung zu seinem Volk. Thomas Hobbes hatte kein Verständnis für Namen, und darin gleicht er den Romantikern. In Schmitts kritischer Lektüre von Hobbes’ Staatsmodell wiederum hat die Namenstheorie eine Schlüsselfunktion. Sein Hinweis auf die Herkunft des Leviathans ist nicht nur eine beiläufige Ergänzung, vielmehr versucht Schmitt die von Hobbes unterschlagene mythische Wirkung des Namens nutzbar zu machen. Schmitt zufolge lässt sich die in der Bibel überlieferte Vorgeschichte des Leviathans nicht einfach vergessen oder unterdrücken: „Alle mythischen Kräfte des Bildes vom Leviathan“, so Schmitt, „schlagen jetzt auf den so symbolisierten Staat des Hobbes zurück“ (Schmitt 2003: 96). Das mythische Bild „schlägt zurück“, und genau diese Wirkkraft ist es, die Schmitt sich als Autor selber anzueignen versucht. Schmitt schreibt nicht nur über den Leviathan bei Hobbes, sondern auch mit und für den Leviathan, als wolle er die mythische Kraft dieses Namens reaktivieren. Wenn Schmitt an den Ursprung des Symbols erinnert, verfolgt er damit vor allem die rhetorische Strategie einer Streitschrift, die den Mythos als Waffe einzusetzen sucht:

150 | Oliver Simons Hobbes glaubte, sich dieses Bildes als eines eindrucksvollen Symbols zu seinem Zwecke zu bedienen und bemerkte nicht, daß er in Wirklichkeit die unsichtbaren Kräfte eines alten, vieldeutigen Mythos auf den Plan rief. Sein Werk wurde vom Leviathan überschattet, und alle seine noch so klaren gedanklichen Konstruktionen und Argumentationen gerieten in das Kraftfeld des heraufbeschworenen Symbols. Keine noch so klare Gedankenführung kommt gegen die Kraft echter, mythischer Bilder auf. (Schmitt 2003: 123)

Die Namensgebung ist bei Schmitt Teil einer Schreibstrategie, mit der er ein politisches Programm zu verwirklichen sucht. Denn dies war der Fehltritt von Hobbes: keinen Ausdruck gefunden zu haben, der seiner Staatstheorie angemessen wäre. In Schmitts eigener politischer Poetik hingegen sind rhetorische Verfahren und ästhetische Repräsentationen konstitutiv für ihren Gegenstand. Die konkret politischen Implikationen seiner Schrift von 1938 erschließen sich erst dann, wenn Schmitt die Auslegungsgeschichte der Staatstheorie von Hobbes beschreibt. Dass sich Hobbes im Namen vergriffen habe, war Schmitt zufolge nur der Ausgangspunkt einer Entwicklung, in der die Beziehung zum Staat immer beliebiger wurde (siehe u.a. Palaver 1996: 114–115). Der „liberale Jude“, so Schmitt, erkannte sofort die „Einbruchstelle“ des Staatsmodells von Hobbes: „Die Staatsgewalt bestimmt aber nur über den äußeren Kult. […] Aber der jüdische Philosoph treibt diesen Keim zur äußersten Entfaltung, bis das Gegenteil erreicht und der Leviathan von Innen heraus entseelt ist“ (Schmitt 2003: 87). Juden sind bei Schmitt nicht nur ein Volk ohne Land, sie haben auch keinen Sinn für den Zusammenhang von Sprache und Ordnung. Schmitts ebenso polemische wie antisemitische Schrift stellt einen einfachen Gegensatz her: während Juden Namen auflösen, hat der Name im Christentum eine identitätsstiftende Funktion, zumal die Taufe eines der wichtigsten christlichen Sakramente sei (Schmitt 2003: 83). Die Namensgebung ist in seiner Lesart eine spezifische Kraft, die nicht jedem Volk eigen ist, oder anders gewendet: Indem sich Schmitt als Verfasser einer Namenstheorie präsentiert, reklamiert er auch die Position desjenigen, der den Namen richtig einzusetzen weiß und den Staat vor „Einbruchstellen“ zu schützen vermag. Nach dem Krieg sind die Schriften Schmitts zwar nicht mehr explizit antisemitisch, seine Namenstheorie ist gleichwohl eine nationale Angelegenheit, zumal er sie ganz unmittelbar mit seinem Raumverständnis kombiniert. 1951 etwa erscheint sein Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel „Raum und Rom – Zur Phonetik des Wortes Raum“ (1995c). „Ich bin sicher“, so schreibt er hier, „dass Raum und Rom dasselbe Wort ist“. Aus philologischer Sicht sind Schmitts Spekulationen unhaltbar, für seinen Argumentationsstil wiederum sind sie dafür umso aufschlussreicher. Die beiden eingangs erwähnten Aspekte – Schmitts Theorie des Namens und der Namensgebung auf der einen sowie sein

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Raummodell auf der anderen Seite – werden in diesem Text ganz wörtlich zusammengeführt. Schmitt gebraucht nicht nur räumliche Begriffe, um die Phonetik des Wortes ROM zu beschreiben, die Phonetik von ROM enthält auch umgekehrt Hinweise darauf, wie ein spezifisch deutscher RAUM konfiguriert sei. Schmitt versucht also, die Wirkungskraft des Wortes Raum, das ihm zufolge dasselbe ist wie der Name Rom, phonetisch und räumlich zu begründen: die vokalische Mitte von RAUM gibt diphthongisch den ersten und den letzten Vokal, A und U, und schlägt dadurch den Bogen von Alpha bis Omega, Anfang und Ende. Diese Welt der Vokale ist umgeben von den beiden Liquiden R und M. Sie stellen die innere und äußere Spannung zweier Elemente her. Sie umfließen die vokalische Mitte, wie nach antikem Glauben der Ozean die von Menschen bewohnte, feste Erde umfließt. Aber sie beginnen und beenden den Raum, ohne daß sie stechende und einschneidende Grenzziehungen wären. Solche Liquiden sind nicht Anfangs- und Schlußpunkte, keine Striche und keine Demarkationslinien. Sie errichten auch keine Mauern, keine Gebäude […]. Das R bildet vielmehr den aktiven Ansatz, und M ist ein am Horizont sich zusammenfügendes, in den Horizont übergehendes Ende. Raum ist also kein geschlossener Kreis und kein Bezirk, sondern eine Welt, und diese Welt ist kein leerer Raum und ist auch nicht in einem leeren Raum, sondern unser Raum ist eine mit der Spannung verschiedener Elemente erfüllte Welt. (Schmitt 1995c: 492f.)

Raum ist ein deutsches Wort und Ausdruck eines spezifisch deutschen Raumverständnisses, dessen „numinose Kraft“ sich vor allem dann zeige, wenn man „Raum“ in andere Sprachen übertrage. Die von lateinisch spatium abgeleiteten Begriffe space im Englischen oder das französische espace implizieren Schmitt zufolge ein gänzlich anderes Raummodell, denn die trennende Vorsilbe S in spatium bewirke einen Einschnitt, Abschnitt, Ausschnitt, eine Trennung genau dort, wo der deutsche Raum über seine Grenzen hinausreiche. Der Buchstabensinn von Raum sei räumlich zu denken, als „Raum in Laut und Klang und Ton“, zumal Wörterbücher wie das der Brüder Grimm den phonetischen Sachverhalt bestätigen: Raum wird hier auf eine Lichtung im Urwald zurückgeführt, also wiederum auf die Spannung zweier Elemente, denn der Urwald entspreche einem „unendlichen Nicht- oder Noch-Nicht-Gestalteten“, das den Raum der Lichtung wie ein grenzenloser Ozean umwogt (Schmitt 1995c: 493). Schmitts Fazit: Obwohl der Raum zu einem Modewort verkommen sei, das seine ursprüngliche Bedeutung kaum mehr zu erkennen gäbe, müsse man sich nicht sorgen. „Das deutsche Wort Raum ist unzerstörbar“ (Schmitt 1995c: 494). Dass die politische Kartographie um 1951 ein etwas anderes Bild vermittelt, ist kein Widerspruch gegen diese Spekulationen, sondern, so meine Vermutung, ihre eigentliche Voraussetzung. Schmitts rückwärtsgewandte Etymologie erinnert nicht nur an eine Vorgeschichte des deutschen Raums, vielmehr ist die Absicht seiner Sprachmystik, einen verlorenen Sinn wiederherzustellen. Da

152 | Oliver Simons Raum und Rom ja dasselbe Wort seien, so Schmitt bereits am Ende des ersten Absatzes, liegt der Schluss nahe, dass der deutsche Raumgedanke im Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen am reinsten erfüllt war. Obwohl dieses Reich längst zerschlagen ist, hat sich seine Idee und mythische Kraft im deutschen Wort „Raum“ buchstäblich aufbewahrt. Schmitts Namenstheorie folgt also nicht nur einer Deutungsabsicht; sie ist spezifisch deutsch und als Intervention konzipiert, denn, wie Schmitt suggeriert, verfügt kein anderes Volk über einen vergleichbaren Raumsinn wie das deutsche. Zwar schreibt er nicht mehr wie 1938 eine offen antisemitische Schrift über das jüdische Volk als Bedrohung des Staates, wohl aber ist der von ihm propagierte Raumgedanke kongruent mit der Ideologie des Deutschen Reiches.

3 Schmitts Raumkonzept Bereits Ende der 30er Jahre ist der Raum eines der häufigsten Schlagworte bei Schmitt: Er schreibt über Raumrevolutionen (1942; 1995b), über Land und Meer (2001), über die Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte (1995d) und den Nomos der Erde.2 Obwohl Schmitt oftmals die fehlende Einheitlichkeit der Raumbegriffe beklagt – Mathematiker, Physiker, Geographen würden alle von völlig unterschiedlichen Räumen sprechen (Schmitt 1995a: 234) – kommt der Raum in seinen eigenen Texten in zahlreichen Konstellationen vor: in Schriften über den Krieg, das Völkerrecht und einer „Weltgeschichte“ der Elemente, wie es im Untertitel zu Land und Meer heißt. Trotz dieser unterschiedlichen Zusammenhänge hat der Raum in den genannten Texten eine grundlegende Funktion; er ist nicht nur Gegenstand und Thema, sondern ein Schlüsselbegriff, fast eine Art transzendentales Prinzip, mit dessen Hilfe Schmitt über die Gründung von Ordnungen schreibt. Besonders anschaulich wird dies in seinem Hauptwerk der Nachkriegszeit, dem Nomos der Erde von 1950. Schmitt schreibt hier nicht nur eine Geschichte des Völkerrechts, sondern auch die Theorie eines Ur-Gesetzes, dessen Begründung Schmitt stets als konkrete Landnahme denkt. Der Nomos ist Gesetz und zugleich Raum, eine Ordnung und eine Ortung, wobei die Landnahme mit der Einrichtung des Gesetzes zusammenfällt; die Landnahme ist ein Gründungsakt, die auf performative Weise ein Gesetz einsetzt, insofern die ersten Linien und

|| 2 Zur Raumtheorie Schmitts sind in den letzten Jahren zahlreiche Schriften erschienen, siehe u.a. Hooker (2009); Elden (2011); Minca & Rowan (2015); Simons (2016).

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Ackerfurchen ein Richtmaß für alle darauffolgenden Begrenzungen und Regeln der Bewirtschaftung nach sich ziehen. „Die Erde trägt ein öffentliches Mal der Ordnung“, so Schmitt (1997: 13): „Das Recht ist erdhaft und auf die Erde bezogen“. Zwei Aspekte werden von Schmitt dabei vorausgesetzt. Erstens muss ein Raum verfügbar sein, den man nehmen kann, und zweitens bedarf es eines Kriteriums dafür, wie die Landnahme zu einer Ordnung wird; wenngleich jeder Gründungsakt eine Landnahme ist, müssen Landnahmen nicht per se Gründungsakte sein. Schmitt schreibt den Nomos der Erde zwar zu einem Zeitpunkt, da die Räume, die sich durch Landnahmen „rechtmäßig“ besetzen ließen, längst aufgebraucht waren. Seine Theorie des Gründungsaktes ist zugleich aber eine Geschichte des europäischen Völkerrechts, ein historischer Rückblick auf Epochen also, in denen es noch offene Räume außerhalb des europäischen Rechtsgebiets gegeben habe. Konkret meint Schmitt die Schauplätze kolonialer Machtkämpfe und Eroberungen. Vor allem mit der Entdeckung der Neuen Welt öffnete sich ein „freier Raum, als ein freies Feld europäischer Okkupation und Expansion“ (Schmitt 1997: 55), eine Welt jenseits des eigenen Rechtsgebiets: „Dieser Boden war frei okkupierbar, soweit er noch nicht einem Staat im Sinne des europäischen zwischenstaatlichen Binnenrechts gehörte“ (Schmitt 1997: 171). Hier konnte man ungezügelt Gewalt anwenden, ohne gegen Recht zu verstoßen (vgl. Balke 1996: 331ff.). Umso wichtiger waren die Kolonien für die Stabilität Europas: Hier brauchte der landnehmende Staat hinsichtlich der Rechte am Boden, die er innerhalb des erworbenen Landes vorfand, keine Rücksichten zu nehmen, soweit es sich nicht etwa um Privateigentum von Staatsangehörigen zivilisierter Staaten handelte […]. Ob die Beziehung der Eingeborenen zum Boden, in Ackerbau, Weide oder Jagd, wie sie der landnehmende Staat vorfand, als Eigentum anzusehen waren oder nicht, war eine Frage für sich und unterlag ausschließlich der Entscheidung des landnehmenden Staates. Völkerrechtliche Rücksichten zugunsten der Bodenrechte der Eingeborenen […] gibt es auf kolonialem Boden zugunsten der Eingeborenen nicht. (Schmitt 1997: 171)

Genau dieser offene Raum aber verschwindet spätestens beim großen „Landnahme-Kongreß“. Auf der Kongokonferenz in Berlin von 1884 sei aber nicht nur der letzte weiße Fleck verteilt worden, vor allem habe man im Zuge der Verhandlungen Raumbegriffe eingeführt, die einer völlig anderen Logik gehorchten als der territorialen Begrenzbarkeit. Während das Kongobecken dem belgischen König zugesprochen wurde, galt der gleiche Raum fortan als freie Handelszone, deren Grenzen anders definiert waren als in der Landnahme einer kolonialen Besetzung:

154 | Oliver Simons [D]ie nach 1890 einsetzende, rein positivistische, d.h. rein auf innerstaatliche Gesetze und zwischenstaatliche Vertragsnormen bezogene Rechtswissenschaft [machte] aus der konkreten Ordnung eines damals noch wirklich europäischen Völkerrechts eine Summe von irgendwie geltenden Normen. Sie verlor dadurch jeden Sinn für die Raumstruktur einer konkreten Ordnung und für die ihr wesentlichen und spezifischen Verschiedenheiten des völkerrechtlichen Boden-Status. Sie kannte völkerrechtlich nur noch Staatsgebiet oder staatsfreies Land und nahm dadurch der Kolonie ihren Raum-Sinn. (Schmitt 1997: 194)

Nach der Konferenz wurde den Kolonien ein gänzlich anderer rechtlicher Status zugesprochen; statt außerhalb des europäischen Völkerrechts waren sie fortan als Staatsgebiet definiert, das im juristischen Sinne vom europäischen Mutterland nicht zu unterscheiden war (Schmitt 1997: 194). Die Kolonien waren fortan Teil desselben Rechtsraumes. Die Stabilität Europas wurde schließlich aber vor allem darum verunsichert, weil für Landnahmen fortan die wichtigste Ressource fehlte: ein Raum, der nicht schon Staatsgebiet oder Teil einer Rechtsordnung war. Nach diesem historischen Raumschwund fehlt folglich auch die Grundlage für den Einsatz rechtlicher Ordnungen. Statt wie im Nomos konkret erdhaft gebunden und geortet zu sein, bricht nun, so Schmitt, ein Zeitalter universeller Normen an, die sich über territoriale Raumgrenzen hinwegsetzen. Gesetze werden fortan vor allem über Normen begründet, nicht mehr über den erdhaften Nomos. Der Raumschwund wirkt sich gleichzeitig auch auf die Geschichte der Namen aus. Seit den Abmachungen des Kongresses ist es schwierig geworden, Landnahmen als Gründungsakte kenntlich zu machen. Wie die Kongo-Akte Art. 34 vorsieht, muss jede Signatarmacht, die in Zukunft Land an den Küsten des afrikanischen Kontinents außerhalb ihrer gegenwärtigen Besitzungen in Besitz nimmt, […] den betreffenden Akt, die Inbesitznahme, mit einer Notifikation an die anderen Signatarmächte begleiten, damit […] die anderen Mächte imstande sind, gegebenenfalls ihre Einwendungen […] geltend zu machen. (Schmitt 1997: 191f.)

Die Inbesitznahme wird zu einer Art Verhandlungssache, unter der Voraussetzung allerdings, dass die Freiheit des Handels und Transits jederzeit gewährleistet bleibt. Eben jene Vereinbarungen und Verträge aber, die unter dem nun geltenden jus commercii geschlossen werden, schaffen einen Raum, dessen beliebige Struktur sich auch in seinen Bezeichnungen spiegelt. Das weltumfassende, liberale Wirtschaftssystem wird von Landnahmen nicht mehr berührt, weil dieser Handel bereits in einen völlig anderen, universalen Raum verlagert ist. Eine Landnahme als Gründungsakt kann daher gar nicht mehr gelingen, und das ist nicht zuletzt den Namen anzusehen: Was Signatarmächte aushan-

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deln, sind arbiträre Bezeichnungen, Namen, denen die Kraft zum Nomos fehlt, in denen Ordnungen nicht länger mit ihren Ortungen übereinstimmen. In der Kolonialgeschichte Europas nach 1884 zeigt sich also ex negativo, wie Landnahmen idealerweise zu Gründungsakten werden können. Nach dem Gewaltakt der Eroberung bedarf es einer Namensgebung, um die Landnahme als Gründung sichtbar zu machen. Genau dies ist die Funktion des Namens. Im eingangs zitierten Aufsatz von 1959 über Nomos – Nahme – Name ist das Bindeglied zwischen Ordnung und Ortung ganz wörtlich im Namen zu finden, wobei der Name Ordnung und Ortung so buchstäblich zusammenführt wie Raum und Rom. Diese Bindungskraft können Namen am ehesten entfalten, wenn sie einen mythischen oder heiligen Ursprung haben; Grenzziehungen werden dann zum sakralen Akt, dessen Wirkung Schmitt wiederum nach dem Modell der Kirche denkt. Die Wirkung von sakralen Namen wie Heilige Maria sei, dass sie den Menschen auf ihrem Gebiet stets eine Orientierung geben, eine abstrakte Form mit einer konkreten Existenzweise verbinden. Nun spielt die Heilige Maria zwar in der deutschen Kolonialepoche keine Rolle, umso aufschlussreicher ist aber, dass sich Schmitt wiederholt auf das Römische Reich bezieht. Rom heißt Raum bei Schmitt, und im Reichsgedanken schien ihm das deutsche Volk am besten aufgehoben. Schmitts Verweise auf Namen und Kolonien sind zwar auf den ersten Blick losgelöst von der konkreten Kolonialgeschichte Deutschlands, andererseits folgt seine Mythologie dem Muster deutscher Kolonialpropaganda. Schließlich stellten sich deutsche Kolonisatoren vornehmlich als Kulturgründer dar, die mit ihren Landnahmen verwaiste Landschaften in fruchtbare Böden verwandelten. Ebenso konventionell war es, insbesondere Engländer als profitorientierte Plünderer fremder Nationen darzustellen, denen es gerade nicht darum ging, Niederlassungen zu gründen (vgl. Simons 2002: 245ff.). Genau so schildert Schmitt die Einrichtung eines jus commercii, als Etablierung von Handelsräumen, deren Ausdehnung sich nicht mehr an territorialen Grenzen orientiert und damit das politische Gleichgewicht von Europa destabilisiert.

4 Schmitt postkolonial? Es ist bezeichnend für Schmitts Begriffspolitik, seine Terminologie nie ganz an seiner eigenen Zeit auszurichten, sondern stattdessen in anderen Kontexten und Epochen zu verankern. Seine theoretische Nähe zur Volksnomostheologie etwa erwähnt er nicht. Wie Raphael Gross zeigen konnte, hat Schmitt von dieser mit dem Nationalsozialismus eng verstrickten Ideologie des Völkischen entscheidende Anregungen bekommen (siehe Gross 2005: 98–101 u.ö.). Wie in

156 | Oliver Simons seiner Theorie des Namens jedoch deutlich wurde, sind seine vermeintlich historisierenden Bezugnahmen auf mythische oder biblische Ursprünge stets Teil einer Strategie. Schmitt setzt die Geschichte meist polemisch ein, um sich gleichzeitig über seinen zeitgenössischen Kontext hinwegzusetzen. Dieser eigentümliche Argumentationsstil mag auch ein Grund dafür sein, warum seine Begriffe stets aktuell oder zeitlos erscheinen. So schienen manchen Lesern der letzten Jahrzehnte einige Facetten der Theorie Schmitts auch einen gewissen Wiedererkennungswert zu haben. Gerade der Raumbegriff Schmitts wurde in jüngster Zeit als eine Art Vorwegnahme zeitgenössischer Debatten verstanden. Manchem galt Schmitt gar als Vorläufer des spatial turn, als eignete sich sein Kolonialmodell auch für postkoloniale Lektüren (Mendieta 2011: 265). Statt diese Aneignungsversuche von Schmitt detaillierter dazulegen, schließen diese Überlegungen mit einer Art Gegenexperiment. Julia Kristeva publiziert 1976 eine Theorie der Ortsnamen, die auf den ersten Blick der Schmitts verblüffend ähnelt. Darin zitiert sie eine Reihe von einschlägigen Namenstheorien, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts relevant waren: Stuart Mill etwa, der den Ortsnamen als reine Denotation begreift, die völlig frei ist von jeglichen Konnotationen; Bertrand Russell, für den der Ortsname eine verkürzte Beschreibung sei; und schließlich erwähnt sie das Konzept des shifter, eines rein indexikalischen Symbols (Kristeva 1980: 271–294). Von der Denotation über die Beschreibung zum Index, so ließe sich ihr historischer Rückblick verknappt wiedergeben. In ihrer eigenen Lesart jedoch sind diese Theorien nicht etwa als Abfolge von unterschiedlichen Modellen zu verstehen, sondern als eine Geschichte einander ergänzender Namenstheorien. Der Ortsname, so formuliert Kristeva ihre eigene Theorie, sei ein eindeutig bestimmter Ausdruck, der trotz seines Bezugs auf einen Referenten eine unbegrenzte Zahl von Bedeutungen anziehen kann. Um den Ortsnamen als einen eindeutigen Ausdruck zu bestimmen, skizziert sie ihn als eine erste Signatur in einem unbestimmten, offenen Raum, der chora, wie sie mit Platon schreibt, wobei die Signatur nicht etwa eine Trennung bewirkt oder Innen und Außen voneinander scheidet (Kristeva 1980: 284). Die Signatur ist lediglich eine erste Spur, die dann in einem zweiten Schritt zu einer Kerbung werden kann, die als Unterscheidung konstitutiv wird für eine Ordnung. Kristeva versteht diesen Raum freilich nicht als geographische Größe oder Freiland in Übersee; als chora bezeichnet sie den symbiotischen Raum, den ein Säugling mit seiner Mutter teilt, noch bevor er sprechen kann, bevor er überhaupt zu unterscheiden weiß zwischen Ich und Du oder einer Objektwelt. Um das Zusammenspiel von Index und Bedeutung, dem zweiten Aspekt ihrer Namenstheorie zu veranschaulichen, der Eigentümlichkeit also, dass Namen unendlich viele Konnotationen haben können, verweist sie auf heilige Namen wie

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etwa das Abendmahl: „dieses Brot“, so Kristeva (1980: 291), sei ein eindeutiger Hinweis, ein zeigendes dieses, dessen Präsenz aber mit einer Abwesenheit verknüpft ist, dem Leib Christi. Ortsnamen, so Kristeva, haben die gleiche Wirkung: sie beziehen sich auf einen konkreten, lokalisierbaren Ort, der aber eine unbestimmte Fülle von Konnotationen evozieren kann. Diese Wirkung nennt Kristeva sakral, weil sie eine Präsenz erzeuge, die sich nicht rational und logisch erschließen ließe. Wie groß nun ist der Unterschied zwischen dieser Theorie von Ortsnamen, die Kristeva 1976 erstmals publiziert, und dem früheren Text von Carl Schmitt von 1959? Immerhin scheinen die beiden hier genannten Aspekte, die erste Signatur in einem offenen Raum, die zum Richtmaß aller weiteren wird, und die sakrale Wirkung von Namen, die Kristeva am Beispiel von heiligen Namen illustriert, vergleichbar mit Schmitts Theorie des Nomos und der heiligen Namen. Auch Schmitts Nomos war eine erste Differenz und Spur, die dann zum Richtmaß für eine künftige Ordnung werden sollte, und heilige Namen schienen Schmitt das beste Beispiel für wirksame Namen. In der vermeintlichen Nähe und Vergleichbarkeit beider Theorien zeigt sich jedoch auch ein gravierender Unterschied, der nicht zuletzt verdeutlicht, inwiefern es sich bei Schmitts Namensmodell um eine koloniale Theorie handelt. Kristeva verweist auf die indexikalische Funktion der Namen gerade darum, weil indexikalische Begriffe beweglich sind; die Eindeutigkeit des Namens ist also nicht an einen konkreten Ort gebunden, sondern verdankt sich einer bestimmten Form der referentiellen Bezugnahme. Kristevas Namen sind nicht besitzergreifend und orientieren sich darüber hinaus in einem universellen Raum, auch wenn sie sich über einen eindeutigen Gegenstandsbezug definieren. Schmitt wiederum definiert die Ortung nicht nur als eine notwendige Bedingung des Namens, der Ort ist bei ihm ein ganz konkreter Raum. Statt den Namen als einen indexikalischen Verweis zu definieren, schreibt er die Geschichte des Namens als eine Geschichte von Landnahmen. Schmitts Theorie des Nomos ist daher ganz zwangsläufig eine Theorie des Kolonialismus, eine Aufforderung geradezu, sich als Volk über Landnahmen zu konstituieren. Fraglich ist somit jedoch auch, ob Schmitt Ende der 50er Jahre seinen nostalgischen Blick lediglich aus historischer Deutungsabsicht auf vergangene Epochen richtet, oder ob seine Namenstheorie nicht auch eine Theorie des Nehmens ist: der Versuch, im Zeitalter globaler, universaler Räume die Markierung neuer Territorien und Grenzen zumindest denkbar zu machen.3

|| 3 Rory Rowan schreibt, dass Schmitt den kommenden Nomos zwar nicht beschrieben habe, aber zahlreiche Deutungen zulasse, wie dieser beschaffen zu sein habe (siehe Rowan 2011: 148).

158 | Oliver Simons

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Name als Nahme: Carl Schmitts Kolonialismus | 159

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Matthias Schulz und Verena Ebert

Kaiser-Wilhelm-Ufer, Wissmannstraße, Stuhlmann-Straße – Straßennamen im Kontext kolonialer Raumaneignung Zusammenfassung: In diesem Aufsatz werden in orts- und raumübergreifender Perspektive koloniale Praktiken der Benennung und der damit verbundenen Raumaneignung durch deutschsprachige Straßennamen diskutiert. Nach der Schilderung eines Einzelbefundes (1) wird die gewählte Methodik für die strukturierte und kriteriengeleitete Erhebung von Nameninventaren vorgestellt und problematisiert (2). In ortsübergreifender Perspektive stellen wir sodann unterschiedliche Strukturtypen des bisher im Rahmen eines Forschungsprojekts für den Raum der Kolonien und Schutzgebiete und für den Raum der kolonialen Metropole erhobenen Straßennameninventars heraus (3). Die Untersuchung der Realisationsformen kolonial intendierter Straßennamen in den Kolonien und der Metropole zeigt Unterschiede und Gemeinsamkeiten der sprachlichen Repräsentation und der damit verbundenen Sichtbarkeit kolonial intendierter Straßennamen (4). Die administrativen Benennungspraktiken werden anschließend hinsichtlich der kolonialen Raumaneignung analysiert. Dabei wird unter Beachtung der unterschiedlichen Einschreibezeiträume kolonial intendierter Straßennamen eine terminologische Differenzierung der sprachlichen Raumaneignungspraktiken (Fixierung, Codierung) vorgeschlagen (5). Schlagwörter: Straßennamen, koloniale Benennungspraktiken, Place-MakingProzesse, Realisationsformen von Straßennamen, Raumaneignung, Fixierung, Codierung

1 Einleitung Die Delmenhorster Wissmannstraße befindet sich heute im Stadtteil Hasport/ Annenheide, einem südlich des Stadtzentrums gelegenen Gebiet, das seit dem

|| Matthias Schulz: Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Am Hubland, 97074 Würzburg. E-Mail: [email protected] Verena Ebert: Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Am Hubland, 97074 Würzburg. E-Mail: [email protected]

162 | Matthias Schulz und Verena Ebert frühen 20. Jahrhundert in der Folge der Industrialisierungsprozesse und des massiven Bevölkerungszuwachses erschlossen wurde.1 Der Straßenname Wissmannstraße wurde in Delmenhorst 1937 als administrativ verfügte Umbenennung des vorhergehenden, erst 1934 vergebenen Straßennamens Boelckestraße (vgl. Grundig 1960: 763)2 eingeschrieben. Der morphologische Determinierer3, also das Erstglied des neuen Straßennamens, ist das Anthroponym Wissmann. Dieser Familienname referiert im Delmenhorster Fall4 auf den Reichskommissar und Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, Hermann von Wissmann (vgl. Winsemann 2009: 1), der schon in der Zeit der deutschen Kolonien und Schutzgebiete als „Deutschlands größter Afrikaner“ (Becker et al. 1906) verehrt wurde. Die Umbenennung stand im Kontext der geplanten Bildung eines thematischen Namen-Clusters mit Bezügen zur Kolonialgeschichte des Kaiserreichs, mit dem Straßen des Viertels 1937 und 1938 belegt wurden. Bei den Determinierern der anderen Einschreibungen handelt es sich ebenfalls um Anthroponyme (u. a. Carl-Peters-Straße, Lettow-Vorbeck-Straße, Lüderitzstraße, Nachtigalstraße, Leutweinstraße, Vogelsangstraße). Es ist offensichtlich, dass mit diesen administrativen Einschreibungsprozessen fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende der faktischen Kolonialzeit des Kaiserreichs kommemorative Absichten verbunden waren, die über eine lokalpolitische Würdigung etwa von Personen mit direktem Bezug zur Stadt hinausreichten5. Die Delmenhorster Ehrungen können vielmehr im größeren Prozess des Kolonialrevisionismus der 1920er und 1930er Jahre (vgl. Dinglreiter 1935, Patin 2010) verortet werden. Hermann von Wissmann wurde in dieser Zeit – wie auch Carl Peters – reichsweit zum Kolonialheroen stilisiert und als „Vorkämpfer deutsch-imperialer Größe“ (Speitkamp 2004: 19), als „der große Landsknechts|| 1 Die Einwohnerzahl Delmenhorsts vervierfachte sich bereits von der Reichsgründung 1871 bis zum Jahr 1900, vgl. http://www.delmenhorst.de/leben-in-del/stadt/geschichte/chronik.php. 2 Wir danken Frank Hethey (bremen-history.com) für Auskünfte und die Übersendung von Material. 3 Wir schließen uns hier der von Stolz et al. (2016: 290) verwendeten Terminologie zur Beschreibung morphologischer Strukturen kolonialer Makrotoponyme an: „Moreover, in each of the TOPs, there is a classifier (=CLASS) morpheme which indicates the ontological class to which the geo-object thus named belongs […] the CLASS is accompanied by a second constituent – termed the determiner (=DET) which itself is a proper name already”. 4 Wir danken Werner Garbas (Stadtarchiv Delmenhorst) für Auskünfte und die Übersendung von Material. 5 Es werden im vorliegenden Fall keine Persönlichkeiten aus dem Ort selbst geehrt, auch wenn Adolf Lüderitz, Gustav Nachtigal und Paul von Lettow-Vorbeck aus dem benachbarten Bremen stammen oder dort zeitweise wohnten. Hermann von Wissmann hatte keine persönlichen Beziehungen zu Delmenhorst.

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und Soldatenführer der kolonialen Kampfzeit“ (Frank 1943: 4) verklärt. Er war durch Denkmäler und seit dem „Kolonialgedenkjahr“ 1934 sogar als Briefmarkenmotiv im öffentlichen Raum präsent. Durch die Einschreibung der Straßennamen wurde das Delmenhorster Viertel zu einem kolonialen Gedenk- und Wunschort, der ehrend auf den Erwerb, die zivile Verwaltung und die militärische Unterwerfung der Kolonien referierte. Es handelte sich also um einen administrativ verfügten sprachlichen Place-Making-Prozess (vgl. Warnke & Busse 2014), mit dem Konzepte, Wünsche, Forderungen und Ideologien des Kolonialismus im Raum der kolonialen Metropole6 selbst positioniert werden sollten. Administrative Einschreibungen von Straßennamen, auch von solchen mit Bezügen zum Kolonialismus, verlaufen häufig als serielle sprachliche Prozesse, die sich in diversen Städten partiell ähneln können und die bisweilen sogar aufeinander bezogen sind. So wurde der Straßenname Wissmannstraße – nicht selten auf Initiative kolonialpolitischer Verbände hin – schon seit der Kolonialzeit in diverse Orte eingeschrieben, in Nürnberg beispielsweise auf Antrag der Deutschen Kolonialgesellschaft (vgl. Maas 1994: 154). Aktuell kommt dieser Straßenname als Resultat solcher Bemühungen noch in über 20 Städten in Deutschland vor.7 In anderen Orten wurde er zwischenzeitlich getilgt und mit unterschiedlichen Straßennamen überschrieben.8 Das gilt natürlich auch für diesen Straßennamen in Städten des damaligen Gebiets der Kolonien und Schutzgebiete wie etwa Daressalam (vgl. Calas 2010: 35). Die Erforschung kolonial intendierter Straßennamen und weiterer kolonial intendierter Urbanonyme9 steht im Kontext der Onomastik und der Koloniallinguistik. Sie befasst sich mit der Erhebung und der Analyse sprachlicher Einschreibungen, Fortschreibungen, Tilgungen und Umbenennungen von Namenmaterial unterhalb der Ortsnamenebene. Für die genannten Bereiche spielen primär Untersuchungen zu Strukturen und Mustern der Namenmorphologie und Analysen

|| 6 Als „koloniale Metropole“ und „Metropole“ werden im Anschluss an die Terminologie der Geschichtswissenschaft die Gesellschaft der Kolonialmacht und das Heimatland selbst verstanden. Als „Kolonien“ und „Schutzgebiete“ werden in ebendieser Intention die außereuropäischen Territorien des deutschen Kolonialismus bezeichnet. Die Problematik jeglicher Verwendung historisch belasteter und damit auch in anderer Weise verstehbarer Termini ist uns bewusst; wir weisen daher ausdrücklich darauf hin, dass uns eine Fortführung kolonialen Jargons und Denkens völlig fernliegt. 7 Amberg, Bad Lauterberg, Berlin, Bottrop, Cuxhaven, Delmenhorst, Düsseldorf, Hamburg, Herford, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Köln, Leipheim, Ludwigsburg, Ludwigshafen, Lübeck, München, Neustadt an der Weinstraße, Nürnberg, Oberhausen, Solingen, Völklingen. 8 Bochum, Bremen, Dresden, Frankfurt/Oder, Leipzig, Magdeburg, Stuttgart. 9 Grundlegend dazu und zum Würzburger Forschungsvorhaben: Schulz & Ebert (2016).

164 | Matthias Schulz und Verena Ebert zu den Funktionen der sprachlichen Prozesse eine Rolle. So wird beispielsweise danach gefragt, inwiefern neben einer Orientierungsfunktion (vgl. Nübling et al. 2015) auch die faktischen, behaupteten oder erwünschten (Macht-)Strukturen im Rahmen einer kolonialen Raumaneignung sprachlich indiziert wurden. Für die Bearbeitung solcher Forschungsfragen ist zunächst die empirische Datenerhebung auf breiter, orts- und raumübergreifender Grundlage erforderlich. Die Kolonialtoponomastik, die bislang primär die Analyse von Makrotoponymen in den Blick genommen hat (vgl. Stolz & Warnke 2015), wird durch die Analysen zur Ebene der Mikrotoponyme in Hinblick auf die sprachlichen kolonialen Aneignungspraktiken in den Ortspunkten selbst erweitert. In diesem Aufsatz sollen aus dem skizzierten Forschungsbereich insbesondere die kolonialen Praktiken der Benennung und der damit verbundenen Raumaneignung thematisiert werden. Wir greifen dazu (in ortsübergreifender Perspektive) als zentrale Aspekte die Differenzierung unterschiedlicher Strukturtypen kolonial intendierter Straßennamen und die Frage nach unterscheidbaren Realisationsformen kolonial intendierter Namen unterhalb der Ortsebene heraus und diskutieren anschließend die damit verbundenen Typen kolonialer Raumaneignungsprozesse und ihre Unterschiede in der Metropole und in den deutschen Kolonien und Schutzgebieten.

2 Erhebung von Straßennameninventaren Mit der Einschreibung von Namenmaterial werden im Raum der Kolonisatoren kolonial geprägte asymmetrische Machtverhältnisse, deren Benennungsmotivik im Zusammenhang mit Orten, Personen, Ereignissen u. dgl. des Kolonialbesitzes steht, ortspunktübergreifend thematisiert. Die unabdingbare Voraussetzung für die Ermittlung unterschiedlicher Strukturtypen ist die konsistente und nachprüfbare Erhebung kolonial intendierter Straßennameninventare im deutschsprachigen Raum, die zunächst näher erläutert werden soll. Derzeit erheben und katalogisieren wir diejenigen Nameninventare, die zum Benennungszeitpunkt und von den Akteuren der Benennung tatsächlich im Kontext des Kolonialismus verortet wurden. Dazu wurde ein sprachwissenschaftlicher Kriterienkatalog entwickelt, der (1) die möglichst genaue Aufdeckung der administrativen Benennungsmotivik zum Benennungszeitpunkt, die (2) möglichst genaue Aufdeckung der mit der Benennung intendierten kommemorativen Funktionen der Ehrung und/oder Erinnerung sowie die (3) Analyse raumsemantischer Muster, die durch die Einschreibung kolonialer Straßennamen entstehen, umfasst. Die empirische Arbeitsgrundlage zur ortsüber-

Straßennamen im Kontext kolonialer Raumaneignung | 165

greifenden Erhebung spezifisch kolonial intendierter Nameninventare im Raum der deutschen Kolonisatoren bilden neben administrativen und nicht-administrativen Texten insbesondere zeitgenössische Einwohner- und Adressbücher sowie Straßenverzeichnisse und Stadtpläne. Als besonders hilfreich für die Identifizierung kolonial intendierter Nameninventare erweisen sich dabei ältere Adressbücher, denn sie enthalten nicht selten zeitgenössische Belege zur Benennungsmotivik kommemorativer Straßennamen. Die Sichtung zeitlich aufeinanderfolgender Stadtpläne ist sodann neben der zeitlichen Verortung kolonialer Benennungspraktiken auch hinsichtlich raumsemantischer Muster, die durch die Einschreibung kolonialer Straßennamen entstehen sollen, aufschlussreich. Neuzeitliche, kommemorativ intendierte Benennungen erfolgen häufig als Clusterbenennungen in thematischer Kohärenz in den räumlich aneinandergrenzenden Straßen (vgl. Werner 2008: 68ff.). Das gilt auch für die Einschreibungspraktiken kolonialer Nameninventare, die (neben singulären Einzelbenennungen10) vor allem als „thematische Straßennamenfelder“ (Nübling et al. 2015: 246) in neu erschlossene Stadtviertel eingeschrieben wurden. Am Ortspunkt Leipzig sollen die Erhebungsschritte zur Aufdeckung historischer kolonial intendierter Benennungsprozesse erläutert werden: Während das aktuelle Leipziger Straßenverzeichnis11 keine Hinweise auf Straßennamen mit kolonialen Bezügen gibt, sind im Adressbuch von Leipzig aus dem Jahr 1938 die Straßennamen Swakopmunder Straße, Windhuker Straße, Waterbergstraße, Lüderitzstraße und Wissmannstraße verzeichnet. Die dort zum Benennungsmotiv gegebenen Informationen zeigen, dass es sich um kolonial intendierte Einschreibungen handelt: Swakopmunder Straße: „Stadt im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika“ (Leipziger Adressbuch 1938: 462). Windhuker Straße: „Stadt in dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika“ (Leipziger Adressbuch 1938: 506). Waterbergstraße: „Kämpfe gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika 1904“ (Leipziger Adressbuch 1935: 492). Lüderitzstraße: „Franz Adolf Eduard, Lüderitz, Großkaufmann, Gründer der ersten deutschen Kolonie in Südwest-Afrika“ (Leipziger Adressbuch 1938: 296).

|| 10 So z.B. Einschreibung der Lettow-Vorbeck-Straße 1936 in Heilbronn (vgl. Schwinghammer & Makowski 2005); Einschreibung der Wissmannstraße (davor Kaulbachstraße) in DüsseldorfUnterbilk (vgl. Stadtplan von Düsseldorf 1909). 11 Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen: Straßenverzeichnis der Stadt Leipzig. Stand: 05.01.2016.

166 | Matthias Schulz und Verena Ebert Wissmannstraße: „Hermann v. Wissmann, Gouverneur v. Deutsch-OstAfrika“ (Leipziger Adressbuch 1938: 509). Mit den genannten Straßennamen sollte an Städte des ehemaligen Kolonialbesitzes in Deutsch-Südwest sowie an die aus Sicht der Kolonisatoren siegreiche Schlacht am Waterberg erinnert werden. Die Lüderitzstraße sollte das posthum gefeierte „unvergessene Heldentum“ (Präsidium des Deutschen Kolonialkrieger-Bundes: o.J.) und die Gründung der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwest abbilden. Die vergleichende Sichtung älterer Stadtpläne ergibt zum einen, dass es sich bei den im Adressbuch von 1938 aufgeführten Straßennamen um nah beieinander liegende Straßen im Stadtteil Anger-Crottendorf handelt. Sie zeigt zum anderen aber auch, dass die Straßennamen nicht in einem einmaligen Benennungsakt in den Raum eingeschrieben wurden: Bei den aneinander angrenzenden Straßen Waterbergstraße und Lüderitzstraße handelt es sich um Benennungen aus der faktischen Kolonialzeit (vgl. Plan von Leipzig 1919), während die Einschreibungen Swakopmunder Straße und Windhuker Straße erst im Zuge der zeitlich jüngeren infrastrukturellen Erschließung des Viertels in die nachkoloniale Zeit des Nationalsozialismus fallen (vgl. Leipziger Adressbuch 1938). Die Einschreibung der Wissmannstraße in den Leipziger Stadtteil Neustadt erfolgte als Einzelbenennung sogar bereits 1913 (als Umbenennungsprodukt aus Alleestraße), nur wenige Jahre nach Wissmanns Tod (vgl. Loh-Kliesch 1998–2016). Die hier am Beispiel erläuterte Erhebung des Inventars kolonialer Straßennamen auf der Grundlage des erarbeiteten sprachwissenschaftlichen Kriterienkatalogs, die derzeit für 400 Ortspunkte durchgeführt wird, ist aufwändig und zeitintensiv. Sie ist jedoch nicht lediglich Vorarbeit, sondern selbst bereits ein erstes Forschungsergebnis und darüber hinaus natürlich die Voraussetzung für eine sprachwissenschaftlich angelegte, ortsübergreifende Analyse kolonialer Straßennameninventare, die derzeit noch als Forschungsdesiderat bezeichnet werden muss. Jenseits eines gut abgrenzbaren Bestandes kolonial intendierter Einschreibungspraktiken treten bei der Erhebung immer wieder fragliche Fälle auf, bei denen die koloniale Intention im Zuge der Benennung durch die vergleichende Sichtung historischer Stadtpläne, Adressbücher, Texte u. dgl. feststellend überprüft werden muss. Für den Ortspunkt Leipzig trifft das auf den im (wahrscheinlich 1933) herausgegebenen Stadtplan eingetragenen Straßennamen Petersstraße zu. Hier ist zu überprüfen, ob der offenbar anthroponymische Determinierer Peters benennungsmotivisch tatsächlich auf die Person Carl Peters verweist, die in zeitge-

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nössischen Quellen als „bedeutendste(r) Kolonialpolitiker Deutschlands“ (Schorn 1920: 101)12 gefeiert wurde. Eine Konsultation von Stadtplänen zeigt zunächst, dass sich die Straße nicht in unmittelbarer Nähe zum bereits identifizierten kolonialen Cluster im Stadtteil Anger-Crottendorf befindet. Die Überprüfung historischer Adressbücher macht deutlich, dass der Straßenname bezeichnungsmotivisch auf die „ehemals alte Peterskirche“ (Leipziger Adressbuch 1938: 362) verweist.13 Für die Benennung Petersstraße kann damit keinerlei kolonial geprägte Benennungsmotivik im Sinne einer Ehrung/Würdigung des Gründers und Präsidenten der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, dessen Vertragsabschlüsse (‘Schutzbriefe’) und Gebietsannexionen die Vorgeschichte der Kolonie Deutsch-Ostafrika bildeten (vgl. Schnee 1920), festgestellt werden. Die Petersstraße kann damit als token für ihren Einschreibungszeitpunkt nicht zum kolonial intendierten Straßennamenbestand in Leipzig gezählt werden.14 Damit handelt es sich nicht wie vermutet um einen anthroponymischen Determinierer, der auf den Familiennamen Peters verweist. Es handelt sich vielmehr um eine Straßenbenennung, die zum Benennungszeitpunkt in kommemorative Funktion auf ein einstiges kirchliches Gebäude verweist, das dem heiligen Petrus geweiht war. Können trotz ausdrucksseitiger Übereinstimmung von Determinierern unterscheidbare Benennungsmotive identifiziert werden, dann ist eine eindeutige Aussage in Bezug auf das Inventar kolonialer Straßennamen möglich. Ungleich problematischer ist die Lage für eine abgrenzende Kategorisierung fraglicher Straßennamen allerdings bei unterschiedlicher Bewertung einer übereinstimmenden Benennungsmotivik, wie ein weiteres Beispiel zeigen kann. Gesellschaftspolitische Gruppen stellen in häufig bemerkenswerter Tiefe Straßennameninventare (für einzelne Ortspunkte15 oder sogar ortsübergreifend16)

|| 12 Zur Biographie Peters und zu seinem kolonialpolitischen Wirken: Schnee (1920). 13 Auf dem Kupferstich von J. E. Scheffler Urbis Lipsiae facies (1749) steht als Aufschrift: „St Petri Kirche und Peters Thor“; auf der Radierung von Schumacher & Täubert (1825) steht ebenso „Petersthor“. 14 Es handelt sich um einen Befund auf der token-Ebene. Für die Aufdeckung der Situation in anderen Städten sind weitere Einzelanalysen erforderlich, an deren Ende der Befund bezüglich Petersstraße natürlich ganz anders ausfallen kann. So ist dieser Straßenname etwa für den Ortspunkt Düsseldorf klar als kolonial intendierter Straßenname identifizierbar. 15 Berlin: http://www.berlin-postkolonial.de/; Hamburg: http://www.afrika-hamburg.de/; Köln: http://www.kopfwelten.org/kp/; München: http://muc.postkolonial.net/. 16 http://www.freedom-roads.de/frrd/staedte.htm listet ortsübergreifend koloniale Nameninventare in Deutschland auf.

168 | Matthias Schulz und Verena Ebert in kritischer Intention17 zur Diskussion. Gerade in Bezug auf koloniale Straßennamen ist dabei ein breites Spektrum möglicher Abgrenzungen und Zuordnungen zu erkennen. So wird etwa auf der vom Freiburger „Informationszentrum 3. Welt (iz3w)“18 betriebenen Webseite „Freiburg postkolonial“ ein umfangreiches Dokument zum Thema „Koloniale Straßennamen in und um Freiburg“19 aufgeführt. In diesem Dokument wird auch der Straßenname Konrad-Adenauer-Platz – unter Hinweis auf Adenauers Unterstützung kolonialrevisionistischer Propaganda gegen Ende der Weimarer Republik (vgl. Gründer 1999: 327) – als kolonialer Straßenname aufgelistet. Es kann nun nicht die vorrangige Aufgabe einer sprachwissenschaftlichen Analyse sein, einen inhaltlichen Beitrag zu dieser aktuellen Aussage zu leisten; für uns stellt die Kontextualisierung des Straßennamens in gegenwärtigen Kolonialismus- und Umbenennungsdebatten vorrangig einen für die Untersuchung gegenwärtiger Diskurse zu beachtenden Diskursbeitrag dar. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob dieser Straßenname für die Erhebung des historischen Inventars kolonial intendierter Straßennamen im Rahmen der skizzierten Abgrenzungen als Eintrag zu werten ist. Diese Frage kann methodisch nur durch die möglichst genaue Überprüfung der Benennungsintention und -motivik zum historischen Einschreibungszeitpunkt beantwortet werden. Die Einwohnerbücher der Stadt Freiburg im Breisgau20 zeigen, dass die Einschreibung dieses Straßennamens erst Jahre nach dem Tod Adenauers (1967) erfolgte. Die in Freiburg unter dem Straßenschild angebrachte Erklärungstafel macht deutlich, dass sich die kommemorative Intention zum Einschreibungszeitpunkt des anthroponymischen Determinierers Konrad Adenauer auf die Position Adenauers als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik, nicht auf seine Äußerungen als Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft (1931–1933) bezog: „Konrad Adenauer 1876–1967, 1949–1963 Erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“.21 Adenauers Bezug zum kolonialrevisionistischen Aktionismus am Ende der 1920er und am Beginn der 1930er Jahre ist unstrittig; es ist erwartbar, dass die Bewertung dieses Aspekts unterschiedlich ausfallen und dann auch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die Bewertung der Person führen kann. || 17 „Zu einem grundlegenden Wandel im Umgang mit Deutschlands kolonialem Erbe, zur Umbenennung von Straßen, die koloniale Akteure ehren sowie zur Förderung postkolonialer Erinnerungskulturen.“ (http://www.freedom-roads.de/frrd/willkom.htm). 18 . 19 . 20 Jahrgänge 1798–1970 online verfügbar (https://www.ub.uni-freiburg.de/recherche/digitalebibliothek/freiburger-historische-bestaende/freiburger-adressbuecher/). 21 Foto des Straßenschildes online verfügbar (http://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/ strassen.htm).

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Ganz unabhängig davon ist allerdings zu konstatieren, dass der Straßenname Konrad-Adenauer-Platz hinsichtlich des Benennungszeitpunktes, der -motivik und der bei der Einschreibung intendierten Funktionen anders zu bewerten ist als die bislang genannten kolonial intendierten Straßennamen. Dem in dezidiert kolonialer Intention eingeschriebenen Straßennameninventar, das wir derzeit ortsübergreifend erheben, ist dieser Straßenname nicht zuzurechnen. Er kann gleichwohl, allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt der Analysen, für die kolonialtoponomastische Forschung relevant werden. Schließlich zeigt nicht nur dieses Beispiel, dass sich die Inventare kolonialer Straßennamen zu ihrem Einschreibungszeitpunkt von denjenigen unterscheiden, die rezent als koloniale Straßennamen interpretiert und diskutiert werden. Der geplante onomastische und diskurslinguistische Vergleich dieser Inventare setzt allerdings zunächst die derzeit erst noch zu leistende ortsübergreifende Erhebung und Abgrenzung der in spezifisch kolonial intendierter Intention vorgenommenen historischen Einschreibungen voraus.

3 Strukturtypen kolonial intendierter Straßennamen 3.1 Metropole In der derzeit in ortspunktübergreifender Perspektive durchgeführten Erhebung kolonial intendierter Straßennamenbenennungen aus zeitgenössischen Adressbüchern, Stadtplänen, Texten u. dgl. zeigt sich in Hinblick auf Strukturtypen ein Zentrum kolonialer Nameninventare, das namenmorphologisch neben einzelnen Syntagmen mit adjektivischen Erstgliedern vorrangig aus Determinativkomposita besteht. Hinsichtlich der lexikologischen Klassen der jeweiligen Determinierer kann der Hauptbestand folgendermaßen kategorisiert werden: Tab. 1: Lexikologische Klassen der Determinierer bei kolonial intendierten Straßennamen in Städten der Metropole; Straßennamen-Beispiele aus unterschiedlichen Ortspunkten. Anthroponyme

Carl-Peters-Platz, Heinrich-Schnee-Straße, Emin-Pascha-Straße, LettowVorbeck-Allee, Leutweinweg, Lüderitzufer, Otto-Finsch-Straße, Plüschowstraße, Rohlfsstraße, Von-Lettow-Vorbeck-Straße, Walderseestraße, Wissmannplatz, Woermannweg

170 | Matthias Schulz und Verena Ebert

Toponyme

Apiastraße, Dar-es-Salaam-Straße, Kameruner Weg, Kibostraße, Kilimandscharostraße, Lomeweg, Mohasistraße, Neuguineaweg, Ostafrikastraße, Otavistraße, Savannenweg, Südseestraße, Tsingtauerstraße, Togostraße, Usambaraweg, Windhuker Pfad

Praxonyme

Groß-Nabas-Straße, Tangastraße, Takuplatz, Taku-Fort-Straße, Waterbergweg, Waterbergpfad

Schiffsnamen

Iltisstraße, Möwestraße, Niobeweg

Ethnonyme

Burenweg, Damarastraße, Hererostraße, Massaiweg, Dualastraße

Appellativa

Afrikanische Straße, Askaristraße, Korallenweg, Tropenpfad

In hoher Frequenz sind Straßennamen mit Anthroponymen im Erstglied zu verorten, die Akteure der deutschen Kolonialadministration in den Kolonien und Schutzgebieten ehren sollen. Straßennamen mit toponymischen Straßennamenkernen vergegenwärtigen in kommemorativer Intention den deutschen Kolonialbesitz in einer raumbezogenen Perspektive: Für den derzeitigen Namenbestand sind neben den Choronymen22 (z.B. Kameruner Weg, Ostafrikastraße, Togostraße) insbesondere Oikonyme23 (z.B. Apiastraße, Dar-es-SalaamStraße, Lomeweg, Mafiastraße, Otavistraße, Tangabucht, Tsingtauer Straße, Windhuker Pfad) der von der deutschen Kolonialmacht als Hauptstädte und/ oder Handels- und Verwaltungszentren der Kolonien und Schutzgebiete errichteten besiedelten Ortspunkte nachweisbar. In geringer Frequenz werden auch Straßennamen mit Hydronymen (Mohasistraße) und Oronymen (Kibostraße, Usambaraweg) des deutschen Kolonialgebiets eingeschrieben. Ein primär geographischer Bezug lässt sich auch bei Straßennameninventaren wie GroßNabas-Straße, Taku-Fort-Straße oder Waterbergpfad erschließen, die häufig nicht auf die Ortspunkte selbst verweisen, sondern sich vielmehr auf inszenierte Örtlichkeiten24 beziehen (vgl. Schulz & Ebert 2016). Neben Straßennamen mit

|| 22 „RaumN oder Choronyme (…) sind EN für größere geographische Flächen, Gebiete oder Räume“ (Nübling et al. 2015: 208). 23 „Unter SiedlungsN oder Oikonymen (…) sind im weitesten Sinne alle Namen für Objekte zu verstehen, die von Menschen besiedelt sind und eine kleinere räumliche Ausdehnung (…) aufweisen“ (vgl. Nübling et al. 2015: 212). 24 Man vergleiche die Artikel in Schnees Koloniallexikon (1920): Groß-Nabas „Platz in Deutsch-Südwestafrika, an dem am 2. bis 4. Jan. 1905 ein verlustreiches Gefecht der deutschen Truppen gegen die Hottentotten stattfand (s. Hereroaufstand)“. „Der Ort Waterberg ist Poststation. (…) Nachdem Kamasembi 1903 gestorben war, erhoben sich auch die am W. ansässigen Herero (s.d.) im Januar 1904 gegen die Deutschen. Im August desselben Jahres fanden dann die entscheidenden Kämpfe statt, nachdem die Aufrührer auf dem W. von den deutschen Truppen eingeschlossen waren (s. Hereroaufstand).“

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Schiffsnamen der Kaiserlichen Marine, die die Kolonien angelaufen hatten (vgl. Nuhn 2002: 326–332), sowie Ethnonymen der kolonisierten Bevölkerung spielen appellativische Determinierer in Städten der Metropole nach derzeitigem Forschungsstand eine eher untergeordnete Rolle, wenngleich sie durchaus innerhalb groß angelegter kolonialer Cluster25 vertreten sind. Dieser sich unmittelbar auf die kolonialzeitlichen asymmetrischen Machtverhältnisse beziehende Namenbestand besteht nach unserem derzeitigen Forschungsstand bereits aus ca. 100 unterschiedlichen Urbanonym-types, die zum Teil bis heute in einer hohen token-Frequenz in den Raum der Städte eingeschrieben sind. Eine große Anzahl aller Namenkerne des bisher erhobenen Straßennameninventars ist auch im Koloniallexikon Heinrich Schnees (1920) mit eigenen Artikeln vertreten. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass diese Einheiten im zeitgenössischen kolonialen Diskurs tatsächlich als relevant und unmittelbar auf die Kolonien und Schutzgebiete bezogen verstanden wurden.

3.2 Kolonien und Schutzgebiete In Ortspunkten der Kolonien und Schutzgebiete wurden ebenfalls Straßennamen in administrativen Prozessen eingeschrieben. Kolonialzeitliche Bauordnungen, Skizzen und Stadtpläne für Städte wie Daressalam, Lomé, Windhuk oder Tsingtau verdeutlichen das Interesse der deutschen Kolonialmacht am Aufbau von Straßennamen-Systemen in den Kolonien und Schutzgebieten. Die Erhebung der Nameninventare als Voraussetzung einer Kategorisierung unterschiedlicher Strukturtypen sieht sich zum Teil mit übereinstimmenden, zum Teil mit anders gelagerten Problemen konfrontiert. Anders als für die Städte der Metropole stellt sich bei der Erhebung dieser Inventare kein spezifisches Abgrenzungsproblem: Alle Straßennamen, die (auch) deutschsprachiges Material enthalten, können als kolonial intendierte und von der Vertretern der Kolonialmacht verfügte Straßennamen gelten. Als gut rekonstruierbares Beispiel für solche Einschreibungsprozesse sei hier die Erhebung der Inventare für den Ortspunkt Daressalam genannt. Bei der späteren Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas handelt es sich städtebaulich um eine Wiedergründung, für die auf ein bereits bestehendes Wegenetz und offenbar auch auf wenige bereits vorhandene Mikrotoponyme zurückgegriffen wer-

|| 25 Afrikanische Straße im Cluster in Berlin-Wedding (vgl. Schulplan von Berlin 1910); Askaristraße im Cluster in Essen (vgl. Stadtplan von Essen 1942); Korallenweg und Tropenpfad im Cluster in Litzmannstadt/Łódź (vgl. Plan von Litzmannstadt 1941).

172 | Matthias Schulz und Verena Ebert den konnte. Der Sultan von Sansibar hatte bereits 1867 den Seehafen Bandar asSalâm gegründet. Im Kontext der Errichtung dieses Hafens war eine Stadt mit „Sultanspalast, Gebäuden und Straßensystem“ (Gray 1952: 4) angelegt worden. Als 1887 der Beamte der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft August Leue dort einen Stützpunkt seiner Gesellschaft gründete, lebten an diesem Ort etwa 3000 Menschen (vgl. Hofmann 2013: 221). Leue hielt den Ort zu diesem Zeitpunkt rückblickend gleichwohl für eine „Ruinenstadt“ (Leue 1903: 5), die für ihn, so darf aus der Argumentation gefolgert werden, des strukturierten Aufbaus durch die Kolonialmacht bedurfte. Nach der unter der Leitung von Reichskommissar Hermann von Wissmann stehenden gewaltsamen Niederschlagung von Erhebungen diverser Gruppen der heterogenen Küstengesellschaften (vgl. Becher 1997: 32) gegen die Europäer, die die Kolonialherrscher als „Araberaufstand“ bezeichneten, übernahm das Reich die Oberhoheit über das Gebiet. Daressalam wurde zum Gouverneurssitz und 1891 zur Hauptstadt der Kolonie (vgl. Becher 1997: 27ff.). Baudirektor August Wiskow erließ noch im selben Jahr eine Bauordnung und erstellte einen Flächennutzungsplan (vgl. Hofmann 2013: 221), an dem die städtebaulich-administrativen Planungen der Kolonialmacht ablesbar sind. Die Bauordnung nutzte das bereits vorhandene Straßennetz (vgl. Becher 1997: 36) und erweiterte es zugleich planerisch um 2 Kilometer in der Länge und 700 Meter in der Breite (vgl. Calas 2010: 35). Die durch die rechtwinklige und in den Außenbezirken strahlenförmige Planung entstehenden Quartiere wurden in 46 Blöcke untergliedert. Die Lose dienten in kolonialer Perspektive der Trennung der Europäer von den Kolonisierten; für Inder, Araber und Afrikaner wurden eigene, schlechtere Zonen ausgewiesen (vgl. Becher 1997: 221). Im ersten Bauplan Daressalams sind als deutschsprachige Straßennamen Araber Strasse und Inder Strasse verzeichnet. Die mittig verlaufende Straße ist mit der alten Bezeichnung versehen, in Klammern – und vorangestellt – ist aber auch bereits eine neue Bezeichnung vermerkt: „(Haupt Strasse) Barra-rasta“. Als weiterer Straßenname ist für die an der Küste verlaufende Straße Kaiserstrasse verzeichnet. Für den neuen, geplanten Teil sind zudem Wissmann Strasse und Gürtel Strasse eingetragen.26 Im Bauplan ist damit der Beginn eines kolonialen sprachlichen Place-Making-Prozesses durch die Setzung von Straßennamen erkennbar. Zumindest auf der Karte wird der Ortspunkt als kolonialer Ort fixiert, in den mit sprachlichen Praktiken koloniale Macht und der damit verbundene Anspruch auf Deutungshoheit eingeschrieben werden. Dabei sind ganz unterschiedliche Funktionen der sprachlichen Raumaneignung festzuma|| 26 Mit Ausnahme der Gürtelstraße werden diese Straßennamen auch in Fitzners KolonialHandbuch (1896: 284) genannt.

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chen: Mit der Nennung des Kaisers und des Reichskommissars, Bezwingers des Aufstandes und späteren Gouverneurs werden die administrativ und militärisch kolonialen Machtverhältnisse fixiert (Kaiserstr., Wissmannstr.). Mit dem als Alternative zur offenbar bekannten Benennung Barra-rasta ‘Große Straße’27 angeführten Straßennamen Haupt Strasse wird zudem die geplante Umbenennung bereits angedeutet. Auch bei dieser später tatsächlich erfolgten Umbenennung handelt es sich um einen Prozess sprachlicher Besitzergreifung des kolonisierten Raums. Die Straßennamen Araber Str. und Inder Str. dienten als Handelsplatz- und Wohnstättenbezeichnungen (und -festlegungen) der lokalen Orientierung. Spätere Pläne wie der Stadtplan von 1909 zeigen die Einschreibung weiterer kolonialer Straßennamen. Dabei handelt es sich zum einen um orientierende Straßennamen wie Neue Straße, Kurze Straße, Markt Strasse, Moschee Str., Bahnhof Str., Unter den Akazien oder Upanga Str.28 Jenseits solcher Straßennamen mit orientierender Funktion ist aber vor allem der hohe Anteil an kommemorativer Namengebung auffällig, etwa mit der Vergabe von Straßennamen wie Bismarckstr., Roonstr., Moltkestraße, Jühlkestr., Krenzlerstr., Liebertstr., Wissmann Str. und Leue Str. Die ortspunktübergreifende Systematisierung der Nameninventare in den Kolonien und Schutzgebieten lenkt den Blick auch hier auf Strukturtypen. Dabei zeigen sich Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede im Vergleich zu den Benennungsprozessen in der kolonialen Metropole. In namenmorphologischer Sicht handelt es sich auch hier vorrangig um Determinativkomposita. Syntagmen mit Adjektiven oder Präpositionen (Kurze Straße, Unter den Akazien) sind marginal. Hinsichtlich der lexikologischen Klassen der jeweiligen Determinierer kann der Hauptbestand ähnlich demjenigen der Metropole kategorisiert werden. Tab. 2: Lexikologische Klassen der Determinierer bei kolonial intendierten Straßennamen in Städten der Metropole, Straßennamen-Beispiele aus unterschiedlichen Ortspunkten. Anthroponyme

Bismarckstraße, Johann Albrecht Platz, Jühlkestraße, Kaiser-WilhelmUfer, Krenzlerstraße, Leue-Straße, Leutwein-Straße, Liebertstraße, Moltkestraße, Nachtigal-Straße, Puttkamerstraße, Roonstraße, TrothaStraße, Wilhelmstraße, Wissmannstraße, Zechstraße

Toponyme

Berliner Straße, Bremer Straße, Danziger Straße, Hamburger Straße, Kitschwele Straße, Lübecker Straße, Münchener Straße, Salagastraße, Upanga Straße

|| 27 Hindi: ‘große Straße’ (vgl. Burton 2005: 45). 28 Das Toponym Upanga referiert auf ein nordöstlich von Daressalam gelegenes Dorf.

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Praxonyme



Schiffsnamen

Cormoran-Straße, Hansa-Straße, Seeadler-Straße, Thetis-Straße, TigerStraße

Ethnonyme

Araberstraße, Inderstraße

Appellativa

Bahnhofstraße, Bergstraße, Hauptstraße, Hügelweg, Gürtelstraße, Kaiserstaden, Kaiserstraße, Kirch-Straße, Lazarettstraße, Parkweg, Poststraße, Talstraße, Trift-Straße, Neue Straße, Kurze Straße, Marktstraße, Moscheestraße, Unter den Akazien

Appellativische Determinierer sind bei den kolonialen Straßennamen in Ortspunkten der Kolonien und Schutzgebiete – im Gegensatz zum Bestand in Städten der Metropole – häufig. Der Funktion nach sind solche Straßennamen orientierend. Während in den Kolonien und Schutzgebieten kolonial intendierte Straßennamen stets in kommemorativer Absicht eingeschrieben werden, ist ein Großteil der kolonial intendierten Straßennamen in den Kolonien und Schutzgebieten orientierend. Es ist darauf hinzuweisen, dass es sich stets um eine Orientierung aus dem Blickwinkel der Kolonialmacht handelt. Für die Kolonien und Schutzgebiete können daher sowohl kommemorative als auch orientierende Funktionen als kolonial intendiert gelten. Auch Straßennamen mit toponymischen Straßennamenkernen können mit einem Verweis auf Ortspunkte der Umgebung orientierende Funktionen aufweisen. Straßennamen mit Ortsnamen können aber auch wie in der Metropole eine kommemorative Intention zeigen, wenn nämlich Oikonyme der Metropole als Determinierer Verwendung finden. Kommemorative Straßennamen mit Anthroponymen im Erstglied nehmen überwiegend Bezug auf die politische Zugehörigkeit zur Metropole, aber auch auf Akteure, deren Namen mit dem Aufbau der jeweiligen Kolonie und mit deren deutscher Kolonialadministration verbunden werden. Wie in Städten der Metropole kommen – zumindest in dem unter Marineverwaltung stehenden Schutzgebiet Kiautschou – auch Schiffsnamen der Kaiserlichen Marine, insbesondere des Ostasiengeschwaders (vgl. Nuhn 2002: 326–332), als Determinierer in kommemorativen Straßennamen vor. Praxonyme als Determinierer kolonialer Straßennamen sind für die Kolonien und Schutzgebiete noch nicht nachweisbar. Der bislang erhobene Namenbestand kolonial intendierter Straßennamen in den Kolonien und Schutzgebieten liegt – wie für die Metropole – ebenfalls bereits im dreistelligen type-Bereich. Für die Kolonien und Schutzgebiete lässt sich bereits am derzeitigen Bestand deutlich ablesen, dass sich koloniale Strukturen in den Kolonien und Schutzgebieten nicht nur städtebaulich in Faktoren wie dem räumlichen Dualismus, der horizontalen Segregation und dem Import europäischer Repräsentationsarchitektur (vgl. Osterhammel 2009: 416) manifes-

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tieren; auch die sprachlichen Place-Making-Prozesse der Namengebung sind als Machteinschreibungen Teil der kolonialen Fixierung des Raums. Die genauere Analyse des Bereichs wechselseitiger Übereinstimmungen zwischen kolonial intendierten Straßennamen in der Metropole und in den Kolonien soll erfolgen, wenn die Inventare vollständig erhoben sein werden. Bislang wurden die kolonial intendierten Einschreibungsprozesse sowohl für die Metropole als auch für die Kolonien in ihrer Materialität in Texten und Plänen behandelt. Eine für die Untersuchung sprachlicher Place-Making-Prozesse zentrale Frage betrifft darüber hinausgehend aber auch die Realisierung des Namenmaterials im Raum selbst. Auch hier liegen für Metropole und Kolonien ganz unterschiedliche Bedingungen vor, die einzeln zu erheben und in einer späteren Erforschungsphase auch zueinander in Beziehung zu setzen sind.

4 Realisationsformen kolonial intendierter Straßennamen 4.1 Metropole Im Raum der deutschen Metropole vollziehen sich die jeweilige Realität und die Repräsentation kolonialer Straßennamen nicht nur in Texten und auf Karten, sondern in vielfältiger Weise auch auf Beschilderungen im Raum. Koloniale Straßennamen sind für Sprachteilhaberinnen und Sprachteilhaber seit dem Zeitpunkt ihrer jeweiligen Einschreibung im Raum selbst sicht- und lesbar. Sie besitzen damit ohne Einschränkungen „Sichtbarkeit in der auch visuell kommunizierten Raumdeskription […] und sind daher ein probates Mittel im kolonialen und postkolonialen Diskurs“ (Stolz & Warnke 2015: 111). Sie sind natürlich auch rezent in Adressbüchern sowie Stadtplänen verzeichnet und spielen insofern eine unmittelbare Rolle im Postverkehr, bei Behördengängen und bei anderen Prozessen des Auffindens einer Adresse in der Stadt. Neben der primären Funktion zur allgemeinen Orientierung im Raum ist der Transport kommemorativer Funktionen im Zuge der Einschreibung von administrativer Seite aus zumindest intendiert: Die kolonialzeitliche oder kolonialzeitbezogene Erinnerungs- und/oder Ehrungsfunktion muss nicht, sie kann aber stets wahrgenommen werden. In der sprachlichen Raumstrukturierung ist sie beispielsweise auf Straßenschildern ein Teil des Alltags der Einwohnerinnen und Einwohner, sie ist aber auch für Fremde, beispielsweise anhand von Ansichtskarten, lesbar:

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Abb. 1: Postkarte Schönhausen, Aufschrift am rechten unteren Bildrand: Hohenschönhausen. Berliner-Ecke Lüderitzstraße.

Damit können kolonial intendierte Straßennamen durch den Postverkehr sogar aus weiter Ferne wahrgenommen und verwendet werden. Sie sind durch verschiedenartige Medien realisiert und verfügen über eine grundlegende orientierende Rolle für die Bewohnerinnen und Bewohner im Raum selbst.

4.2 Kolonien und Schutzgebiete Auch für die Kolonien und Schutzgebiete sind die deutschsprachigen Straßennameninventare – neben Inventaren weiterer Urbanonymklassen wie etwa den von uns ebenfalls untersuchten nicht-administrativ eingeschriebenen Hotel- oder Gaststättennamen, die hier nicht weiter thematisiert werden können – durch Produkte der zeitgenössischen deutschen Kolonialkartographie29, aber auch durch Texte der Administration, durch Adressbücher, Zeitungen und Reiseberichte präsent. Nach derzeitigem Kenntnisstand gilt das übergreifend für alle deutschen Kolonien und Schutzgebiete. Der Ausschnitt aus der Samoanischen Zeitung von 1913 zeigt beispielsweise die Einträge Apia Strandstrasse und Falealili-Strasse:

|| 29 Stadtpläne von Windhuk, Lomé, Daressalam u. dgl. sind bspw. in Schnee (1920) verfügbar.

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Abb. 2: Apia Strandstrasse, Falealili-Strasse (Samoanische Zeitung v. 25. 1. 1913: 1).

Straßennamen in den Kolonien erreichten zudem als Postkartenaufschriften die Metropole (siehe Abbildungen 3 und 4). Sie konnten zudem aber auch in den Kolonien selbst zum Zeitpunkt der Einschreibung und in der Folgezeit im Raum sicht- und lesbar sein. So zeigen Fotografien und Postkarten aus Windhuk, Swakopmund, Lomé und Daressalam deutschsprachige Straßenschilder, die im kolonisierten Raum angebracht wurden (siehe Abbildung 5). Neben Straßennamen sind in Ortspunkten der Kolonien und Schutzgebiete auch weitere Urbanonymtypen im Raum sichtbar, etwa Fotografien mit Beschilderungen, die Namen von Hotels oder Gaststätten zeigen. Die sprachliche Belegung des Raums war, wie die Beispiele zeigen, nicht nur ein Produkt auf Karten und Plänen; die Resultate der sprachlichen PlaceMaking-Prozesse konnten für die Kolonisatoren auch im kolonisierten Raum selbst sicht- und lesbar sein.30

|| 30 Dazu gehört auch das Aufstellen deutschsprachiger Beschilderungen, das in den Amtsblättern immer wieder verfügt wird, etwa: „Die eingezogene Wegstrecke ist durch aufgestellte Tafeln mit der Aufschrift „Verbotener Weg“ gekennzeichnet“ (Kaiserliches Gouvernement in Rabaul 1913: 91).

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Abb. 3: Postkarte Daressalam, Aufschrift: Stuhlmann-Strasse. Dar-es-Salaam. Deutsch-OstAfrika.

Abb. 4: Postkarte Tsingtau, Aufschrift: Bismarckstrasse in Tsingtau.

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Abb. 5: Postkarte Lomé, rechter unterer Bildrand: Straßenschild mit der Aufschrift Johann Albrecht Platz.

Die indigene Bevölkerung war ganz unabhängig von Lesefertigkeiten ebenfalls mit sichtbaren sprachlichen Realisationen im Raum konfrontiert. Sie bekam es aber auch dann z.B. mit den deutschsprachigen Straßennamen zu tun, wenn sie etwa im Auftrag der Kolonialherren Botengänge zu bestimmten Adressen zu erledigen hatte. Deutschsprachige koloniale Urbanonyme hatten in den Kolonien also nicht nur eine Relevanz für die Kolonisierer, sie konnten auch eine Relevanz für die kolonisierte Bevölkerung bekommen. Daraus kann geschlossen werden, dass die Einschreibepraktiken auch in den Kolonien nicht als nur sentimentale Sprachspielereien der wenigen Deutschen vor Ort aufzufassen sind, sondern dass es sich dabei vielmehr um sprachliche Vergegenwärtigungen kolonialzeitlicher, asymmetrischer Machtprozesse handelt, die im Raum sichtbar sein konnten und die sogar für die Kolonisierten Relevanz erhalten konnten. Ganz deutlich wird das schließlich auch in Umbenennungen von deutschsprachigen Straßennamen nach dem Ende der faktischen Kolonialzeit des Kaiserreichs, die an jüngeren Stadtplänen ablesbar ist. Die von Vertretern der Kolonialmacht eingeschriebenen Straßennamen dienten damit in der faktischen Kolonialzeit des Kaiserreichs (wie auch in der Metropole) „der Orientierung innerhalb von Siedlungen“ (Nübling 2015: 244); die damit verbundenen kommemorativen Intentionen waren im Raum selbst als

180 | Matthias Schulz und Verena Ebert gezielte Vergegenwärtigung kolonialer Machtansprüche sicht- und lesbar und konnten auf diese Weise zur Etablierung kolonialer Strukturen beitragen.

5 Straßennamen in Prozessen kolonialer Raumaneignung Der aktuelle Forschungsstand lässt bereits erkennen, dass sich nicht nur der als ‘kolonial’ typisierte Namenbestand partiell ähnelt, sondern dass zudem strukturelle Musterhaftigkeiten für die eingeschriebenen Nameninventare in den Kolonien und der Metropole vorliegen. Raumübergreifend bilden die Straßennameneinschreibungen dabei Place-Making-Prozesse, also Prozesse kolonial markierter sprachlicher Raumkonturierung, ab. Die Räume der Kolonisierten und der Kolonisatoren werden durch sprachgebundene Praktiken der Benennung als Projektionsfläche von Kolonisierungsprozessen manifestiert. Abschließend soll nun noch gefragt werden, inwieweit die geschilderte zeitliche Staffelung der Straßennameneinschreibungen als Raumaneignungsprozesse in der Metropole und in den Kolonien die Möglichkeit einer terminologischen Präzisierung eröffnet. Die intendierten Raumaneignungsprozesse können differenziert werden, denn je nach Zeitpunkt der Benennung sind partiell unterschiedliche Benennungsmotive und damit auch unterscheidbare intendierte Funktionen erkennbar. Wir bezeichnen die damit verbundenen sprachlichen Praktiken als Fixierung und Codierung des Raums. Fixierungen stellen dabei kolonialzeitliche sprachliche Prozesse als verbindliche Bestimmungen31 dar, während unter Codierungen solche sprachlichen Einschreibungsprozesse verstanden werden können, die nach dem Ende der faktischen Kolonialzeit Einstellungen, Wünsche, Forderungen und dgl. transportieren sollen, ohne dass damit noch eine verbindliche Bestimmung garantiert werden könnte.32 Alle deutschsprachigen Straßennameneinschreibungen in den Raum der Kolonien und Schutzgebiete vor dem faktischen Ende der deutschen Kolonialzeit fixieren bestehende koloniale Macht- und Besitzkonstellationen im kolonisierten Raum. Das gilt in gleicher Weise für die in der Kolonialzeit eingeschriebenen Straßennamen in Städte der Metropole wie etwa die bereits genannten Straßennamen Lüderitzstraße, Waterbergstraße (Anger-Crottendorf) und Wissmannstraße (Neustadt) in Leipzig. In raumübergreifender Perspektive werden damit in der || 31 Vgl. DUW. 2011: 609 s. v. FIXIEREN: „Verbindlich bestimmen“. 32 Vgl. DUW. 2011: 377 s. v. CODIEREN: „Mitzuteilendes in eine sprachliche Form bringen“.

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Kolonialzeit versprachlichte Fixierungsprozesse erkennbar, die faktische koloniale Macht- und Besitzkonstellationen in den Raum einschreiben. Die Verfügung solcher Fixierungsprozesse mahnten Organisationen wie die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) fortlaufend bei administrativen Stellen an: Warum werden nicht koloniale Bezeichnungen verwendet? Für die koloniale Sache wäre es doch ein Gewinn, wenn unsere heranwachsende Jugend zwischen einer Togo-, Duala-, Windhuk-, Lüderitz-, Wissmannstraße sich bewegte und so von früh aus lernte, dass diese Namen [] Plätze des überseeischen Deutschlands und [] Helden, die an seinem Aufbau mitgewirkt haben. [] Handelt es sich auch nur um ein ‘kleines Mittel’, so erscheint es doch geeignet, der kolonialen Sache zu dienen (Deutsche Kolonialzeitung 1913: 35).

Betrachtet man die Gesamtheit des bislang erhobenen Materials, dann wird allerdings deutlich, dass im Raum der Kolonisatoren weitaus häufiger erst nach dem Ende der faktischen Kolonialzeit kolonial intendierte Straßennameneinschreibungen, also koloniale Codierungen des Raums, administrativ verfügt wurden. So ging auch der Ausbau des Leipziger Stadtteils Anger-Crottendorf mit weiteren kolonial intendierten Benennungen in nächster Nähe zu Lüderitzstraße und Waterbergstraße einher: Die Ende der 1930er Jahre erfolgten Neueinschreibungen Windhuker Straße und Swakopmunder Straße verstehen wir vor den mit derartigen nachkolonialen Einschreibungen verbundenen Intentionen einer Erinnerung bis hin zur Aufrechterhaltung kolonialrevisionistischer Forderungen als koloniale Codierungsprozesse. Sie können als sprachliche Einschreibungspraktiken in den öffentlichen Raum mit Bezug auf nicht mehr existente, wohl aber erwünschte oder gar zurückzufordernde Macht- und Besitzkonstellationen beschrieben werden. Diese Praktiken beziehen sich auf kolonialistische Bewusstseinshaltungen (Ansprüche, Wünsche, Wissen und dgl.) und bilden damit auch zeitgenössische, kolonisatorische Selbstwahrnehmungstendenzen ab. Die Kolonialbewegung der Weimarer Republik hatte verstärktes Interesse an der Wachhaltung ihrer politischen Ziele in der Öffentlichkeit, sodass man die sprachliche Berücksichtigung abgetretener Kolonien bei Straßenbenennungen als wichtige politische Aufgabe forcierte (vgl. Lindner 2008: 293), und auch im Nationalsozialismus sollte die Einschreibung kolonial intendierter Straßennamen in den öffentlichen Raum an den ehemaligen Kolonialbesitz erinnern oder sogar kolonialrevisionistische Forderungen stützen, aufrechterhalten (vgl. Runderlass des Reichsministers des Inneren 1939) oder für andere politische Zwecke instrumentalisieren. Auch das eingangs beschriebene administrativ intendierte Cluster in Delmenhorst ist solchen nachkolonialen Codierungspraktiken zuzuordnen. Auch hier wurden in kommemorativer Intention Straßennamen eingeschrieben, die in ihren jeweiligen anthroponymischen Determinierern den nachkolonialen Gedenkkult festschreiben.

182 | Matthias Schulz und Verena Ebert Verfolgt man schließlich die Einschreibungsprodukte der hier thematisierten sprachlichen Codierungsprozesse weiter bis in die Gegenwart, dann werden ganz unterschiedliche sprachliche Beibehaltungs-, Umdeutungs-, Tilgungs- und Umbenennungsprozesse deutlich. Die kolonial intendierten Straßennamen Leipzigs wurden bereits zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts getilgt (vgl. LohKliesch 1998–2016); in Delmenhorst wurde der Straßenname Carl-Peters-Straße im Jahr 2010 umbenannt (in Alfred-Brehm-Straße); im Mai 2016 hat der Stadtrat über die geplante Umbenennung des Straßennamens Lettow-Vorbeck-Straße beraten (vgl. Korn 2016). Für die Analyse der spezifischen Situation kolonial intendierter Straßennamen in Delmenhorst muss zudem beachtet werden, dass dort bereits 1945 auf Anweisung der britischen Militärregierung koloniale Straßennamen getilgt wurden. Diese wurden nach wenigen Jahren allerdings in räumlicher Nähe erneut eingeschrieben, sodass hier sogar eine räumliche Verschiebung sprachlicher Cluster erkennbar wird (vgl. Hethey 2005: 65). Die genaue ortspunktbezogene und ortspunktübergreifende Analyse solcher sprachlicher Codierungsprozesse der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit und ihrer Folgen, für die uns auch bereits Daten aus anderen Städten vorliegen, muss einer eigenen Publikation zu einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Maßgeblich für solche Studien werden dabei neben onomastischen und koloniallinguistischen gerade auch raum- und diskurslinguistische Zugriffsweisen sein.

6 Fazit Koloniale Raumaneignung liegt raumübergreifend, in den Kolonien und in der Metropole, in Place-Making-Prozessen (vgl. Warnke & Busse 2014) vor. In diesem Text wollten wir die sprachlichen Praktiken der Benennung näher beleuchten. Die ortsübergreifenden Erhebungen, die bislang sowohl für den Raum der Metropole als auch für die Räume der Kolonien und Schutzgebiete zu gesichert bezeugten und datierbaren Inventaren von jeweils über 100 types kolonialer Straßennamen (und weiterer Urbanonyme) geführt haben, lassen bereits eine Differenzierung unterschiedlicher Strukturtypen kolonial intendierter Straßennamen in ortsübergreifender Perspektive zu. Die Analysen zeigen zudem, dass für die Metropole und die Kolonien von unterscheidbaren Realisationsformen kolonial intendierter Namen unterhalb der Ortsebene ausgegangen werden muss. Es ist deutlich geworden, dass die kolonialen Namen nicht nur in der Metropole, sondern auch in den Kolonien über die Realisation in Texten und Karten auch im Raum sichtbar und lesbar gewesen sein konnten. Die sprachlichen Prozesse der Benennung durch Straßennamen und weiterer Urbanonyme konnten schließlich in kolonialzeitliche

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Fixierungsprozesse und kolonialzeitbezogene Codierungsprozesse differenziert werden. Die hier diskutierten Aspekte zeigen damit weitere Zwischenergebnisse, nicht das Ende unserer Forschungen zu kolonial intendierten Urbanonymen.

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Paolo Miccoli

Italokoloniale Toponomastik zwischen Liberalismus und Faschismus Namenkundliche Aspekte des italienischen Kolonialismus Zusammenfassung: Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema der italienischen kolonialen Toponomastik innerhalb der afrikanischen Ex-Kolonien. Im Mittelpunkt stehen die Benennungspraktiken der italienischen Kolonisatoren, welche sich mittels der toponomastischen Spuren dieser Periode bis heute nachzeichnen lassen. In diesem Zusammenhang wird hauptsächlich auf Makrotoponyme (Exonyme) eingegangen. Das Ziel des Artikels ist es, beispielhaft einige auffällige Unterschiede zwischen der kolonialen Toponomastik Italiens während der faschistischen und der liberalen Periode aufzuzeigen. Letztendlich sollen, zumindest in groben Zügen, einige Besonderheiten der Benennungspraktiken der italienischen Kolonisatoren in der Optik einer vergleichenden Betrachtung mit anderen europäischen bzw. außereuropäischen Kolonisatoren identifiziert werden. Schlagwörter: Benennung, Kolonialismus, Nomen, Toponyme

1 Einleitung Trotz langer und angesehener toponomastischer Tradition1 haben in Italien die Namen der kolonialen Orte noch nicht jene Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Eine Ausnahme stellt der wesentliche Beitrag von Laura Ricci2 dar. || 1 Besagte Tradition gab unter anderem den Anstoß für ein toponomastisches Wörterbuch geografischer Ortsbezeichnungen im Italienischen, welches 1990 von Battista Pellegrini, Giuliano Queirazza und Carla Marcato publiziert wurde. 2 Autorin der Monographie La lingua dell’impero [Die Sprache des Imperiums], welche sich mit der Sprache und Literatur des italienischen Kolonialreichs beschäftigt, in der ein kurzes Kapitel der italienischen kolonialen Toponomastik in Rom sowie innerhalb der afrikanischen Kolonien gewidmet ist. Dieser Beitrag stellt einen ersten wichtigen Anhaltspunkt für die wachsende Erforschung kolonialer Orte, vor allem für Mikrotoponyme (besonders Urbanonyme) dar. || Paolo Miccoli: Università degli Studi di Napoli “L’Orientale”, Dipartimento di Studi Letterari, Linguistici e Comparati, Linguistica italiana, Palazzo Santa Maria Porta Coeli, via Duomo 219, 80138 Napoli, Italia. E-mail: [email protected]

188 | Paolo Miccoli Die Gründe für diese Lücke sind komplex und man muss sie in der Geschichte der italienischen postkolonialen Studien suchen. Dabei genügt es, den langsamen Prozess der kulturellen und historischen Dekolonialisierung in Betracht zu ziehen. Die Geschichte des italienischen Kolonialismus kann bekanntlich mit den Daten 1882 (Assab in Eritrea als erster Besitz) sowie 1941–42 (Verlust der afrikanischen Kolonien aufgrund der Niederlagen der Truppen Mussolinis in Afrika) begrenzt werden. Weniger bekannt hingegen ist vielleicht der zähe Prozess der historischen Dekolonialisierung. Die ersten kritischen Studien erschienen erst in den 1970er Jahren dank der Arbeiten von Angelo Del Boca. 3 Dennoch kann die Existenz einer kolonialgeschichtlichen Literatur während der Nachkriegszeit bis in die diese Zeit nicht vollends geleugnet werden. Zweifellos wurde jene in großem Maße vor allem dank der Produktivität des Comitato per la documentazione dell’opera dell’Italia in Africa [Komitee zur Dokumentation italienischer Leistungen in Afrika] beeinflusst (und beinhaltet das Werk von Carlo Traversi über die Geschichte der kolonialen Kartographie, welche für Forschende zu diesem Thema von großer Relevanz ist). Andererseits muss während dieser Zeit auf das Fehlen einer kritischen Betrachtung sowie das Andauern eines gewissermaßen nostalgischen Ansatzes hinsichtlich der kolonialgeschichtlichen Vergangenheit hingewiesen werden. Was die Geschichte der “kulturellen Dekolonisation” des sogenannten „Belpaese“4 betrifft, ist kein Unterschied festzustellen, wenn nicht sogar ein noch tiefgreifenderer Mangel sichtbar wird. Bis heute dauern die kulturellen sowie politisch-ideologischen Widerstände hinsichtlich einer ernsthaften öffentlichen Auseinandersetzung innerhalb der italienischen Öffentlichkeit an und nicht selten sind die Gründe hierfür in mangelnder Information und fehlendem Wissen zu suchen. In dieser Arbeit soll jedoch nicht auf eine mögliche Hypothese eines Zusammenhanges zwischen der historisch-kulturellen Dekolonialisierung einerseits und dem mangelnden Interesse an kolonialen Toponymen andererseits eingegangen werden. An dieser Stelle beschränke ich mich auf eine Analyse der italienischen Kolonialtoponyme, wobei lediglich einige Fälle näher ausgeführt werden. Darüber || 3 Hinsichtlich des Mythos der „gütigen“ italienischen Kolonisatoren möchte ich an dieser Stelle auf die Arbeit von Angelo Del Boca verweisen (insbesondere auf Italiani, brava gente? [Italiener, alles gute Leute?]) sowie auf folgenden Artikel: http://www.ilfattoquotidiano.it /2015/08/28/razzismo-angelo-del-boca-il-colonialismo-italiano-non-e-stato-migliore-deglialtri/1989923/. 4 Bel paese, auch Belpaese geschrieben, ist eine klassische poetische Bezeichnung für Italien, die im Deutschen ‘schönes Land’ bedeutet und von Dante und Petrarca benutzt wurde (e.g. Divina Commedia, Inferno, XXXIII, 80 und Canzoniere CXLVI).

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hinaus sollte hervorgehoben werden, dass dieser Beitrag vor dem Hintergrund des Projekts zur kolonialen Toponomastik in einer vergleichenden Betrachtung (Stolz et al. 2016) entstanden ist, deren wissenschaftliche Voraussetzungen und Methoden zur Darstellung der Toponyme geteilt werden. Stolz & Warnke (2015: 108–109) fassen diese Voraussetzungen treffend für die Analyse deutscher kolonialer Ortsnamen zusammen: Wir streben an, die deutsche Kolonialtoponymie nach linguistischen Grundsätzen so aufzubereiten, dass sie in ein geplantes Großprojekt eingehen kann, in dem die toponymischen Praktiken des belgischen, britischen, deutschen, französischen, italienischen, japanischen und US-amerikanischen Kolonialismus und die darauf folgenden postkolonialen Reaktionen vergleichend auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht und evaluiert werden.

Koloniale Toponyme sind Ortsbezeichnungen, die sich auf geographische Objekte beziehen. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass diese auch ihre semantische Konnotation aufweisen: Toponyme referieren also nicht bloß auf geographische Entitäten, die sich nach Breitenund Längengraden genau lokalisieren lassen, sondern sind in hohem Maße semantischkonnotativ aufgeladen, d.h. sie transportieren vielerlei Bedeutungen nicht-referenzieller Art. (Stolz & Warnke 2015: 116)

Die historisch-linguistische Analyse der Kolonialtoponyme erlaubt den Unterschied zwischen den Besonderheiten der kolonialen Toponomastik jedes einzelnen kolonialisierten Landes und legt darauffolgend eine vergleichende Studie hinsichtlich gemeinschaftlicher und differenzierender Elemente nahe. Die zahlreichen Daten stammen zum größten Teil aus Atlanten und geografischen Karten aus der Kolonialzeit. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Makrotoponyme (Marcato 2009: 11–12 und Nübling et al. 2015: 206–207), von denen insbesondere Exonyme (Toponyme, die ausschließlich aus der Sprache und Kultur der Kolonisatoren stammen, unabhängig von der Assimilierung der autochthonen Gemeinschaft) Beachtung finden werden. Im ersten Kapitel erfolgt eine nähere Betrachtung der Toponomastik der Hanisch- sowie der Muhabbaka-Inseln (zwischen Eritrea und dem Jemen gelegen) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie eine koloniale Karte des Istituto Militare Geografico Italiano [Geographisches Italienisches Militärinstitut] in Florenz aus jener Epoche zeigt. Dieses Material birgt meiner Ansicht nach wesentliche Daten hinsichtlich eines Vergleichs zwischen der italienischen kolonialen Toponomastik und jener Großbritanniens wie auch hinsichtlich einer Be-

190 | Paolo Miccoli trachtung einiger spezieller Aspekte der kolonialen Toponomastik Italiens während der ersten kolonialen Phase bzw. jener des liberalen Italiens. Im zweiten Abschnitt wird ein weiterer spezifischer Fall der kolonialen Toponomastik Italiens analysiert, der emblematisch für die zweite Phase der Kolonisation bzw. jener der faschistischen Periode ist. Im Besonderen werden die vom faschistischen Regime gewählten Toponyme zur Benennung der 26 neu gegründeten Dörfer in Libyen unter Gouverneur Italo Balbo (1934–1940) Beachtung finden, welche für den erwarteten und politisch beabsichtigten Zufluss zahlreicher italienischer Kolonisatoren aus dem Mutterland vorgesehen waren. Abschließend werden die genannten Fälle verglichen, um damit zu einigen allgemeinen Beobachtungen zur kolonialen Toponomastik Italiens zu gelangen, dies unter Berücksichtigung der zahlreichen räumlichen und zeitlichen Unterschiede, die sich innerhalb der Kolonialgeschichte des „Belpaese“ feststellen lassen.

2 Gleichzeitiges Vorkommen italienischer und englischer Toponyme: der Fall der Hanisch- und Muhabbaka-Inseln Es ist bekannt, in welchem Ausmaß Großbritannien Italien zu Anfang seiner Kolonialzeit beigestanden hat, damit Italien sich während des “scramble” am Ende des 19. Jahrhunderts ein Stück vom Kuchen in Afrika sichern konnte. London (das ab 1839 die Stadt Aden in der Nähe des Jemen besetzt und kolonialisiert hatte), spielte eine wesentliche und aktive Rolle in der Formierung der ersten italienischen Kolonie, nämlich jener von Assab in Eritrea. Dabei kamen zahlreiche diplomatische Vereinbarungen sowie diplomatische Verhandlungen zum Tragen. Englische Diplomaten verfolgten die Strategie, einer schwachen europäischen Macht gegenüber einer starken wie Frankreich den Vorzug zu geben, denn deren Expansion in Afrika hätte den englischen Imperialismus stören können (vgl. Labanca 2002: 51). Wahrscheinlich finden wir auch aufgrund dieser anfänglichen Kollaboration auf der Karte von Assab, der Carta corografica della colonia eritrea e regioni adiacenti [Chorografischen Karte der Kolonie Eritrea und angrenzender Gebiete] des Geographischen Italienischen Militärinstitutes zahlreiche italienisch-englische Hybride. Zudem ist zu beachten, dass die englische Krone mit ihren Kolonialansprüchen in Jemen in dieser Zone bereits seit einiger Zeit wirtschaftlichen Interessen nachging und zahlreiche Forscher und Entdecker zudem britischer

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Herkunft waren. Dieser Fall ist mithin sehr interessant und verdient es, näher untersucht zu werden. Die Chorografische Karte der Kolonie Eritrea und angrenzender Gebiete war das Resultat eines großen Projektes des Geografischen Militärinstitutes, das im Frühjahr 1896 entstand. Der Zweck des Projektes war die Erstellung einer großen chorographischen Karte Eritreas im Maßstab von 1:250.000, welche anfangs aus 16 Blättern bestehen sollte. Die Karte wurde 1902 in 29 Blättern publiziert (der Großteil wurde im Anschluss in den Maßstab 1:400.000 übertragen), 1909 erschien eine zweite Ausgabe, die regelmäßig aktualisiert wurde und 1927 in die Mobilitätsausstattung (Traversi 1964: 14–15) überging. Bemerkenswert ist, dass auf der Karte von Assab sowohl einige kleine Teile der Hanisch-5 als auch der Muhabbaka-Inseln6 einen Teil ihrer ursprünglichen englischen Ortsbezeichnung beibehalten, während die italienische Bezeichnung lediglich in Klammern angeführt wird. Desweiteren sind auf der Karte exklusiv italienische Toponyme zu finden. Darüber hinaus fällt die Präsenz italienisch-englischer Hybride ins Auge. An dieser Stelle folgt eine in drei Abschnitte unterteilte Liste, um das gleichzeitige Vorkommen Italienischenglischer Hybride mit der vollständigen italienischen Übersetzung in Klammern, italienisch-englischer Hybride und italienischer Toponyme, zu unterscheiden. Das Analyseschema und die von mir verwendete Terminologie entnehme ich dem Aufsatz von Stolz et al. (2016). (1) Englische und italienische Namen der Inseln auf der Karte von Assab (1.1) Italienisch-englische Hybride mit der vollständigen italienischen Übersetzung in Klammern

|| 5 Die Hanisch-Inseln sind eine Inselgruppe im Roten Meer, auf halber Höhe zwischen den Küsten von Eritrea und dem Jemen und in der Nähe der Meeresenge Bab el-Mandeb. Bis 1923 stand die Inselgruppe unter türkischer Herrschaft und ging danach bis 1941 in die Kolonie Eritrea über. Nach der Niederlage der italienischen Kolonisatoren in der Schlacht von Cheren wurde Eritrea zum britischen Protektorat. In den darauffolgenden Jahren wurden die Inseln zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Jemen und Äthiopien, danach zwischen Jemen und Eritrea (welches 1993 von Äthiopien unabhängig wurde). In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurden die Inseln zum Auslöser einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Eritrea und Jemen. 1998 wurde der Krieg dank des Eingreifens des Ständigen Schiedshofs geschlichtet, welcher die maritimen Grenzen der beiden Staaten regelte. Die Hanisch-Inseln wurden an Jemen zurückgegeben, Eritrea hingegen erhielt andere Inseln in Küstennähe wie Muhabbaka und Haicoch. https://de.wikipedia.org/wiki/Hanisch-Inseln. 6 Die Muhabbaka-Inseln befinden sich ebenfalls im Roten Meer, jedoch im Gegensatz zu den Hanisch-Inseln weitaus näher an der Küste Eritreas. Aus diesem Grund wurden sie nach Kriegsende Eritrea zugesprochen.

192 | Paolo Miccoli  Isola High, (Isola Alta) = [{Isola}KLASS-{High}ADJ-{Isola}KLASS-{Alta}ADJ] TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/High-AltaADJ ‘Hoch’  Isola Shark, (Isola Pesce-cane) = [{Isola}KLASS-{Shark}TIER-{Isola}KLASS{Pesce-cane}TIER]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/Shark-Pesce-caneTIER ‘Haifisch’  Isola Near, (Isola Vicina) = [{Isola}KLASS-{Near}ADJ-{Isola}KLASS-{Vicina}ADJ]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/Near-Vicina ADJ ‘Nah’  Isola Tongue, (Isola Lingua) = [{Isola}KLASS-{Tongue}N-{Isola}KLASS{Lingua}N]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/Tongue-LinguaN ‘Zunge’  Isola Low, (Isola Bassa) = [{Isola}KLASS-{Low}ADJ-{Isola}KLASS-{Bassa}ADJ] TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/Low-BassaADJ ‘Niedrig’  Isola Flat, (Isola Piana) = [{Isola}KLASS-{Flat}ADJ-{Isola}KLASS-{Piana}ADJ]TOP /IsolaKLASS ‘Insel’/Flat-PianaADJ ‘Flach’  Isola White, (Isola Bianca) = [{Isola}KLASS-{White}ADJ-{Isola}KLASS{Bianca}ADJ]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/White-BiancaADJ ‘Weiß’ (1.2)

Italienisch-englische Hybride  Isola Haycock = [{Isola}KLASS-{Haycock}N]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/ HaycockN ‘Heuhaufen’  Isola Peaky = [{Isola}KLASS-{Peaky}ADJ]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/PeakyADJ ‘Kränklich’  Isola Quoin = [{Isola}KLASS-{Quoin}N]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/QuoinN ‘Eckstein’  Isola Rugged = [{Isola}KLASS-{Rugged}ADJ]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/RuggedADJ ‘Wild’  Isole Rocky = [{Isole}KLASS-{Rocky}ADJ]TOP/IsoleKLASS ‘Inseln’/RockyADJ ‘Steinig’  Scogli Haycock di Mezzo = [{Scogli}KLASS-{Haycock}N-{diPRÄP MezzoN}PP]TOP/ScogliKLASS ‘Klippen’/HaycockN ‘Heuhaufen’/(diPRÄP Mezzo N)PP ‘Dazwischen’  Scoglio Fawn = [{Scoglio}KLASS-{Fawn}N]TOP/ScoglioKLASS ‘Klippe’/ FawnN ‘Rehkitz’  Scoglio Pin = [{Scoglio}KLASS-{Pin}N]TOP/ScoglioKLASS ‘Klippe’/PinN ‘Nadel’  Scoglio Ship = [{Scoglio}KLASS-{Ship}N]TOP/ScoglioKLASS ‘Klippe’/ ShipN ‘Schiff’

(1.3)

Italienische Toponyme  Isola di Mezzo = [{Isola}KLASS-{diPRÄP MezzoN}PP]TOP/IslandKLASS ‘Insel’/ (diPRÄP Mezzo N)PP ‘Dazwischen’

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 Isola Doppio Picco = [{Isola}KLASS-{Doppio}ADJ {Picco}N]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/DoppioADJ PiccoN ‘Doppelter Gipfel’  Isola Rotonda Nord = [{Isola}KLASS-{Rotonda}ADJ {Nord}ADJ]TOP/IsolaKLASS ‘Insel’/RotondaADJ NordADJ ‘Rund Nord’  Isola Rotonda Sud = [{Isola}KLASS-{Rotonda}ADJ{Sud}ADJ]TOP/IslandKLASS ‘Insel’/RotondaADJ SudADJ ‘Rund Süd’ Die Präsenz italienisch-englischer Hybride mit der vollständigen italienischen Übersetzung in Klammern und die Hybride italienisch-englischer Toponyme zeugt von einer gewissen Gleichförmigkeit der kolonialen Toponomastik der beiden europäischen Kolonialmächte. In diesem spezifischen Fall weist die Mehrzahl der Toponyme eine polymorphe Struktur auf, welche sich aus einem Klassifikator und einem Adjektiv zusammensetzt. Es existieren keine Kolonialtoponyme, die aus einem Klassifikator und einem Anthroponym (Marcato 2009: 10 und Nübling et al. 2015: 107) bestehen. Der Großteil besteht hingegen aus einem Klassifikator und einem Adjektiv, manche auch aus einem Klassifikator und einem Substantiv, in einem Fall schließt sich eine präpositionale Phrase an den Klassifikator an. Der Grund für dieses Vorgehen seitens von Forschern und britischen bzw. italienischen Kolonisatoren ist relativ offensichtlich, denn bei dem Archipel, bestehend aus unzähligen teils unbewohnten Inseln und Inselchen, handelt es sich um ein überaus spezielles geographisches Objekt. Die Notwendigkeit seitens der europäischen Forscher, diese Orte nach ihren offensichtlichen geografischen Charakteristiken zu benennen, ist daher durchaus plausibel. Als Konsequenz wurden zum Großteil Adjektive oder Substantive an die Klassifikatoren gereiht. Aus dem vergleichenden Blickwinkel der Kolonialtoponomastik handelt es sich hier um einen Fall, in dem ein europäischer Kolonisator (Italien) keinerlei Notwendigkeit sah, die Toponyme eines anderen europäischen Kolonisators teilweise zu eliminieren, sondern sie in einigen Fällen sogar ins Italienische zu übertragen oder italienisch-englische Hybride zu kreieren. Die Präsenz dieser Hybride bezeugt, mit welcher Einfachheit die Italiener die Namen der Briten übernahmen, indem sie diese nicht nur in ihre Karten übertrugen, sondern sie in manchen Fällen sogar mit italienischen Namen mischten. Dieses zeugt von einer gewissen Homogenität der Benennungspraktiken beider europäischer Kolonisatoren in jener Phase. Damit soll jedoch nicht behauptet werden, dass es keine Unterschiede gäbe, vielmehr soll eine relevante Analogie in diesem spezifischen Fall aufgezeigt werden. Darüber hinaus muss daran erinnert werden, dass Italien zur Zeit der Erstellung der vorliegenden Karten noch eine liberale Monarchie war, die trotz der Tripel-Allianz mit Deutschland und Österreich-Ungarn ge-

194 | Paolo Miccoli meinsame Interessen mit Großbritannien hegte, vor allem in kolonialer Hinsicht (es sei nur daran erinnert, dass Italien 1915 an der Seite der „Entente“ in den Krieg eintrat und die existierenden Allianzen veränderte). Im folgenden Kapitel wird gezeigt, wie sehr sich die darauffolgenden Benennungsprozesse änderten. Das faschistische Italien wählte eine “Benennungspolitik”, die auf eine kulturelle Italianisierung der Kolonien zielte. Die Toleranz für fremde Namen wurde immer geringer. Zu Propagandazwecken wurde die Konstruktion von Toponymen bevorzugt, die in den meisten Fällen aus Anthroponymen entstanden.

3 Der Benennung der neuen Dörfer in Libyen 1938 Stolz et al. (2016: 311) beobachten, After the conquest of Ethiopia, the Fascist regime has made an effort to Italianize the map of its African possessions in a way that gave more prominence also to the representatives of the dominant party, the exponents of Italian nationalism, and the military “heroes” whose actions made it possible to realize the project of an Italian empire.

Mussolinis Regime verfolgte eine Politik der Italianisierung der Ex-Kolonien, welche notwendigerweise mittels einer Umbenennung vieler geografischer Objekte bzw. einer Neubenennung mit italienischen Toponymen erfolgte. Italo Balbo, zwischen 1934 und 1940 Gouverneur von Libyen, setzte sich für ein groß angelegtes Kolonialprojekt in Libyen ein, welches einen Massenumzug tausender Italiener (vor allem Bauern) in die Kolonien Nordafrikas vorsah. 1938 leitete er persönlich die Überführung von 1800 italienischen Familien nach Libyen. Im Verlauf wurden 26 Dörfer nach italienischem faschistischem Vorbild errichtet (ein zentral gelegener Hauptplatz, ein Rathaus, eine Kirche, ein Krankenhaus, eine Polizeistation, ein Postamt, ein Sitz der nationalen faschistischen Partei etc.). Ich beschränke mich im Weiteren auf Toponyme, die von den faschistischen Autoritäten zur Benennung neuer geografischer Objekte bzw. neu gegründete Dörfer gewählt wurden. Hierbei handelt es sich um ein wertvolles Zeugnis, das uns erlaubt, die fundamentalen Charakteristiken der Benennungspraktiken des faschistischen Italiens in seinen Kolonien zu verstehen. Was die Präsenz der italienischen Toponyme innerhalb der Kolonien betrifft, muss sicherlich zwischen den beiden Phasen der Kolonialisierung, nämlich jener des liberalen Italien (1882–1922) und der faschistischen Periode (1922–1943), unterschieden werden. Beim Vergleich der Karten und Atlanten aus beiden Perioden wird eine größere Präsenz italienischer Exonyme während der faschistischen

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Ära deutlich, wobei im letzten Jahrzehnt aufgrund einer ostentativen nationalistischen Italianisierungspolitik innerhalb der Kolonien ein exponentieller Anstieg zu verzeichnen ist. Diesbezüglich heißt es: One may distinguish two phases of place-naming in the case of the Italian colonialism in Africa. In the beginning, Italian full exonyms hardly ever occur. This picture changes with the advent and the consolidation of Mussolini’s fascist regime. The ACI-I (published in 1928) gives evidence of only a small number of place-names which consist entirely of Italian components whereas their number increases noticeably in later years as documented by the publication of the GAOI in 1938 and the GBL in 1940. The place-name index of the ACI-I covers some 42 printed pages with 9,000 entries. Among these TOPS, Italian full exonyms are vastly outnumbered since we have identified only some 50 cases which equal a share of 0.5% of all registered TOPS. In the final decade of Italian colonialism however, a plethora of new Italian-based exonyms entered the scene many of which are realizations of the prototype (with the order CLASS>DET). (Stolz et al. 2016: 309–310)7

Das Ereignis aus dem Jahr 1938 ist in diesen Kontext einzuordnen. Die Analyse der italienischen Exonyme, welche für die 26 neu errichteten Dörfer gewählt wurden und die dank hervorragender Zeugnisse möglich ist8, erlaubt uns, einige zusätzliche Betrachtungen hinsichtlich der Benennungspraktiken sowie der Charakteristiken dieser Toponyme innerhalb der Kolonien während des Faschismus aufzustellen. Die Namen der neuen Dörfer lauten wie folgt: Baracca, Battisti, Beda Littoria, Berta, Bianchi, Breviglieri, Castel Benito, Corradini, Crispi, D’Annunzio, Filzi, Garabulli, Garibaldi, Gioda, Giordani, Littoriano, Luigi di Savoia, Maddalena, Mameli, Marconi, Micca, Oberdan, Oliveti, Razza, Sauro, Tazzoli.9

|| 7 Diese Beobachtungen bestätigen sich auch unter Heranziehung der Publikationen des Italienischen Touring Clubs von 1929 und beinahe zeitgleich im Atlas der italienischen Kolonien. 8 Am 30. Juni 1939 wurde vom ISTAT (dem nationalen italienischen Statistikinstitut) eine Volkszählung der libyschen Bevölkerung mit besonderer Aufmerksamkeit auf den prozentuellen Anteil an in der Kolonie ansässigen Italienern durchgeführt. https://it.wikipedia.org/wiki/ Censimento_della_Libia_del_1939. Dennoch sind nicht alle Daten dieser Quelle korrekt. 9 Wenn auch in manchen Quellen das Toponym Aro und Olivetti anstelle von Oliveti auftaucht, soll an dieser Stelle auf die verlässlichste Quelle verwiesen werden, nämlich die Guida Breve del 1940 sull’Italia meridionale e insulare e la Libia [Kleine Führer Süditaliens, der Inseln und Libyens aus dem Jahr 1940, im Folgenden nach Stolz et al. 2016 kurz GBL genannt], herausgegeben von der Consociazione Turistica Italiana (dem italienischen Zusammenschluss für Tourismus).

196 | Paolo Miccoli Mit Ausnahme der Toponyme Beda Littoria10, Castel Benito11, Garabulli12, Littoriano und Oliveti13 setzen sich sämtliche Namen aus einem einzigen Anthroponym zusammen und deren Schema kann wie folgt dargestellt werden: [{…}ANTH]TOP An dieser Stelle folgt eine in sechs Sektionen geteilte Liste (2) zur Unterscheidung des politischen, historischen und ideologischen Kontextes der Männer, auf welche sich die einzelnen Anthroponyme beziehen, um über die anthroponymisch-basierten Toponyme die präzise propagandistische Intention der Operation zu verstehen und eine linguistische Analyse der Toponyme vorzunehmen. (2) Anthroponyme in Funktion italienischer kolonialer Toponyme zur Benennung der neu gegründeten Dörfer in Libyen zwischen 1933 und 1939 (2.1) Patrioten, die vor dem italienischen Risorgimento14 lebten und denen sukzessive eine symbolische Rolle für das Land zugeschrieben wurde  (Pietro) Micca = [{Micca}ANTH]TOP (GBL, 401) Pietro Micca (1677–1706) war ein italienischer Soldat, der sich freiwillig für die Armee des Herzogtums Savoyen meldete. Seine namentliche Ehrung basiert auf einer Heldentat (dem Werfen einer Granate), mit der er sein Leben opferte, um die Stadt Turin vor den französischen Truppen zu schützen. (2.2) Patrioten des italienischen Risorgimento  (Francesco) Crispi = [{Crispi}ANTH]TOP (GBL, 412) Francesco Crispi (1818-1901) war eine der Hauptfiguren des italienischen Risorgimento, einer der größten Verfechter des so genannten „Zug der Tausend“ unter Führung Giuseppe Garibaldis. Er wurde zu

|| 10 Die Toponyme Beda Littoria (GBL, 425) und Littoriano (GBL, 409) beziehen sich auf die so genannten Fascis, dem Amtssymbol der Liktoren des Römischen Reichs, welches aus einem Rutenbündel und einem darin verborgenen Beil bestand. Das Liktorenbündel wurde von Mussolini bereits ab 1919 mit der Gründung der politischen Bewegung der Fasci italiani di combattimento benutzt und wurde in weiterer Folge zum Symbol des faschistischen Italiens unter der Führung des “Duce”. 11 Das Toponym Castel Benito (GBL , 398), bezieht sich offensichtlich auf den Vornamen Mussolinis. [{Castel}KLASS-{Benito}ANTH]TOP/CastelKLASS ‘Schloss’ 12 Die Herkunft dieses Toponyms ist unklar. 13 [{Oliveti}KLASS]TOP /OlivetiKLASS ‘Olivenhaine’ 14 Der Begriff Risorgimento bezieht sich auf jenen Zeitraum der italienischen Geschichte, der seinen Anfang mit dem Wiener Kongress von 1815 hatte und in der nationalen Einigung vom 17. März 1861 gipfelte.

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(2.3)

einem der wichtigsten Politiker während der ersten Jahrzehnte des vereinigten Italiens und war als Präsident des Ministerrats ein beharrlicher Verfechter der Kolonialpolitik und für die desaströse Niederlage von Adua gegen die abessinische Armee verantwortlich. 1930 wurde er als Wegbereiter für das zukünftige Kolonialreich Italiens rehabilitiert (Labanca 2002: 70–73).  (Giuseppe) Garibaldi = [{Garibaldi}ANTH]TOP (GBL, 411) Giuseppe Garibaldi (1907–1882) war einer der herausragenden Protagonisten der italienischen Einigung und Initiator des „Zug der Tausend“.  (Goffredo) Mameli = [{Mameli}ANTH]TOP (GBL, 424) Goffredo Mameli (1827–1849), eine weitere zentrale Figur des Risorgimento und Autor der aktuellen italienischen Nationalhymne. Er starb im Alter von 21 Jahren während eines Einsatzes zur Verteidigung der zweiten Römischen Republik.  (Enrico) Tazzoli = [{Tazzoli}ANTH]TOP (GBL, 398) Enrico Tazzoli (1812–1852) war Presbyterianer und italienischer Patriot und an einem antiösterreichischen Aufstand beteiligt. Er wurde entdeckt und in Belfiore, in der Nähe von Mantua, zum Tode durch den Strang verurteilt. Er gilt als einer der bekanntesten Märtyrer von Belfiore. Vertreter des italienischen Irredentismus15  (Cesare) Battisti = [{Battisti}ANTH]TOP (GBL, 424) Cesare Battisti (1875–1916) war ein österreichischer Bürger aus Trient und Parlamentarier in Wien, der den Anschluss Trentinos an Italien forderte, welches damals zu den Besitztümern der Habsburger gehörte. Während des Ersten Weltkrieges kämpfte er an der Seite der Italiener, wurde festgenommen und aufgrund des Verrates an Österreich verurteilt.  (Guglielmo) Oberdan = [{Oberdan}ANTH]TOP (GBL, 424) Guglielmo Oberdan (1858–1882) stammte aus Triest, welches damals der österreichischen Gerichtsbarkeit unterstand. Er organisierte ein Attentat gegen den österreichischen Kaiser Franz Joseph, als dieser sich aufgrund einer offiziellen Feierlichkeit in Triest befand. Er wurde

|| 15 Mit dem Begriff Irredentismus wird eine politische Bewegung bezeichnet, die sich nach der italienischen Einigung ausbreitete. Das Ziel war eine Ausweitung des italienischen Territoriums und Eingliederung jener Regionen, die zum Großteil von italienisch sprechender Bevölkerung bewohnt wurden, aber unter ausländischem Machteinfluss standen.

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entdeckt, einem Verhör unterzogen und aufgrund Hochverrates zum Tode verurteilt.  (Fabio) Filzi = [{Filzi}ANTH]TOP (GBL, 424) Fabio Filzi (1884–1916) stammte aus Istrien, ein Gebiet, das wie Triest und Trentino zu den Besitztümern Österreich-Ungarns gehörte, aber zum Großteil aus italienisch sprechender Bevölkerung bestand und daher als Teil des italienischen Irredentismus verteidigt wurde. Wie Battisti entschied er sich zur Desertion und kämpfte im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger für Italien. Auch er wurde wegen Hochverrat verurteilt.  (Nazario) Sauro = [{Sauro}ANTH]TOP (GBL, 423) Nazario Sauro (1880–1916) war wie Filzi ein Patriot und Angehöriger der irredentistischen Bewegung, der sich freiwillig der italienischen Armee anschloss und von Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkrieges wegen Hochverrats verurteilt wurde. Italiener, die sich durch militärische oder andere Verdienste auszeichneten  (Francesco) Baracca = [{Baracca}ANTH]TOP (GBL, 422) Francesco Baracca (1888–1918) war einer der größten italienischen Piloten während des Ersten Weltkrieges.  (Gabriele) D’Annunzio = [{D’Annunzio}ANTH]TOP (GBL, 424) Gabriele D’Annunzio (1863–1938) war einer der größten Poeten und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und von großem nationalistischen Geist. Er initiierte die Besetzung der Stadt Fiume.  Luigi di Savoia = [{Luigi di Savoia}ANTH]TOP (GBL, 425) Luigi Amedeo von Savoyen-Aosta, Herzog der Abruzzen (1837–1933), war ein großer Forscher und Bewunderer der Alpen. Er zeichnete sich darüber hinaus durch die Gründung des Dorfes Duca degli Abruzzi (Herzog der Abruzzen) in Somalia aus, ein innovatives Projekt zur experimentellen Landwirtschaft unter Miteinbeziehung der lokalen Bevölkerung.  (Umberto) Maddalena = [{Maddalena}ANTH]TOP (GBL, 424) Umberto Maddalena (1894–1931) war ein großer Beamter und Pilot, Protagonist zahlreicher Fliegermissionen und wurde 1930 von Mussolini persönlich mit der Silbermedaille für Luftfahrt ausgezeichnet.  (Guglielmo) Marconi = [{Marconi}ANTH]TOP (GBL, 399) Guglielmo Marconi (1874–1937) war ein großer Physiker und trug Wesentliches zur Entwicklung der drahtlosen Telegraphie über Radiowellen bei. Er wurde von der faschistischen Propaganda als Beispiel

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(2.5)

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für den Erfolg Italiens herangezogen, wobei er selbst seine Sympathie für den Faschismus zeigte. Faschistische “Märtyrer”16  (Giovanni) Berta = [{Berta}ANTH]TOP (GBL, 426) Giovanni Berta (1894–1921) war ein faschistischer Soldat aus Florenz, der von militanten Kommunisten angegriffen und im Arno ertränkt wurde.  (Arturo) Breviglieri = [{Breviglieri}ANTH]TOP (GBL, 399) Arturo Breviglieri (1896–1921) war ein faschistisches Parteimitglied und wurde in der Nähe von Ferrara von einigen Antifaschisten aus dem Hinterhalt überwältigt.  (Giulio) Giordani = [{Giordani}ANTH]TOP (GBL, 401) Giulio Giordani (1878–1920) wurde während einer Gemeinderatssitzung in Bologna erschossen. Führende Persönlichkeiten der faschistischen Ära  (Michele) Bianchi = [{Bianchi}ANTH]TOP (GBL, 401) Michele Bianchi (1882–1930) war von November 1921 bis Oktober 1923 der erste Sekretär der Nationalen Faschistischen Partei.  (Enrico) Corradini = [{Corradini}ANTH]TOP (GBL, 401) Enrico Corradini (1865–1931) war ein italienischer Schriftsteller und Politiker, der 1923 der Nationalen Faschistischen Partei beitrat.  (Luigi) Razza = [{Bianchi}ANTH]TOP (GBL, 425) Luigi Razza (1892–1935) war Vorsitzender des Ministeriums für Öffentliche Arbeit während der Regierung Mussolinis.

Wie aus dem Fall der Gründung der Dörfer in Libyen zwischen 1933 und 1939 unter Gouverneur Balbo klar hervorgeht, war die Italianisierung der kolonialen Toponyme eine fundamentale politische Aktion des faschistischen Regimes Mussolinis, um auch in demografischer und kultureller Hinsicht eine Italianisierung innerhalb der Kolonien zu erreichen. Der interessanteste Punkt in toponomastischer Hinsicht ist der häufige Gebrauch von Toponymen, die lediglich aus einem Anthroponym bestehen. Diese Wahl erklärt sich weitgehend im Licht der starken nationalistischen Propaganda Mussolinis. Der “Duce” und die gro-

|| 16 Die Informationen zu den so genannten faschistischen “Märtyrern” stammen aus den folgenden Quellen: http://violenzaantifascista.blogspot.it/ Die Namen der militanten Faschisten entnimmt der Autor dem Buch von Cecchini aus dem Jahr 1924: “Per non dimenticare”. Barbarie e bestialità dei rossi, negli anni del Primo dopo-guerra. [Gegen das Vergessen. Rote Barbarei und Bestialitäten in den ersten Nachkriegsjahren].

200 | Paolo Miccoli ßen faschistischen Hierarchien hatten offensichtlich die Intention, ein Heldenepos des faschistischen Italiens und dessen Imperium zu schaffen und die symbolischen Persönlichkeiten der italienischen Geschichte (angefangen von jenen, die der italienischen Einigung vorausgingen über die Helden des Ersten Weltkriegs bis hin zu den großen Namen des „Risorgimento“ und des italienischen Irredentismus) und die symbolträchtigen Persönlichkeiten der faschistischen Ära, deren “Märtyrer” und Politiker (zeitgenössisch oder nicht) wie einen roten Faden daran zu binden. In anderen Worten: Mussolini machte sich diese Toponyme zu Nutze, um das italienischen Volk sowie die Welt Glauben zu machen, dass die “Faschistische Revolution” das notwendige und unabwendbare Resultat der heldenhaften Opfer dieser großen Männer der Vergangenheit zur Errichtung eines großen Italiens sei. Die Charakteristik der kolonialen Toponomastik des faschistischen Italiens sowie das immer häufigere Auftreten (im Vergleich zur Vergangenheit) kolonialer Toponyme bestehend aus einem einzigen Anthroponym muss daher vor diesem spezifischen propagandistischen Hintergrund gesehen werden. Die neu gegründeten Dörfer Libyens sollten sich in die Erinnerung der neuen italienischen Kolonien einprägen, denn dort hätten in weiterer Folge jene Männer leben sollen, die mit ihrer Opferbereitschaft Italien zu einer großen Nation sowie einem kolonialen Imperium gemacht hätten. Das gezeigte Beispiel illustriert dies mit großer Klarheit: […] the study of toponymy has a very strong sociolinguistic component since it involves the differential behavior of socially-defined groups of people in connection to linguistic entities – in this case: place names. (Stolz & Warnke 2015: 34–35)

Diese Toponyme wurden mit dem Ziel kreiert, die neuen Kolonien sowie Italien in jedem Moment an jenen roten Faden zu erinnern, der ihre Geschichte mit jener der großen Italiener der Vergangenheit verknüpft, um keinen Zweifel hinsichtlich ihrer kulturellen, rassischen und politischen Identität aufkommen zu lassen (wie sie vom Regime bereits konstruiert worden war).

4 Schlussfolgerungen Dieser Artikel sollte die Relevanz einer linguistischen Untersuchung für die koloniale Toponomastik am Beispiel Italiens aufzeigen. Dies soll nicht nur zum Vergleich der kolonialen Toponomastik verschiedener europäischer Kolonisatoren im Allgemeinen beitragen, sondern im Besonderen auch zum Vergleich unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Faktoren eines einzelnen europäischen Kolonisators. Die beiden untersuchten Fälle, jener der Hanisch- sowie der

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Muhabbaka-Inseln einerseits sowie jener der libyschen Dörfer andererseits sind beispielhaft für zwei unterschiedliche Situationen in namengeschichtlicher Hinsicht. Auch wenn dies von einem historischen Standpunkt aus als gegeben erscheint, so ist es dies aus einem toponomastischen Blickwinkel keineswegs. Aus diesem Grund ist es unter Zuhilfenahme des verfügbaren kartographischen Materials interessant festzustellen, dass Italien zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem beginnenden 20. Jahrhundert, als es noch eine junge monarchistische und liberale Nation war, die sich an der Verteilung Afrikas beteiligen wollte, keinerlei zwingende Notwendigkeit sah, die eigenen Kolonien mittels Benennungspraktiken zu italianisieren. In jener Periode stößt man generell weder auf viele exonyme Toponyme noch auf eine große Zahl an Exonymen, welche aus einem oder mehreren Anthroponymen bestehen. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Fall der Hanisch- bzw. Muhabbaka-Inseln beispielhaft: Italien beschränkte sich darauf, die Inseln mit Toponymen zu benennen, welche zum Großteil aus einem Klassifikator und einem Adjektiv bestehen. Dies zeugt davon, dass das Hauptanliegen darin bestand, die Orte nach ihren spezifischen geographischen Charakteristiken zu benennen, die sie während ihrer Forschungsreisen beobachteten. Darüber hinaus akzeptierten sie die Präsenz englischer Namen, und übernahmen diese in ihren Karten bzw. übertrugen sie ins Italienische oder kreierten italienisch-englische Hybride, was zeigt, dass die Benennungspraktiken britischer Forscher und italienischer Kolonisatoren in jener Periode sich ähnelten. Die Toponyme setzen sich aus einem Klassifikator und einem Adjektiv zusammen, was auf die folgende allgemeine Formel gebracht werden kann: [{…}KLASS-{…}ADJ]TOP Aus einem einzigen Anthroponym bestehende Toponyme hingegen, welche die Mehrheit der Ortsbezeichnungen der libyschen Dörfer ausmachen, können auf die folgende allgemeine Formel gebracht werden: [{…}ANTH]TOP Toponyme dieses Typs sind Ergebnisse von Benennungspraktiken, welche sich auf andere Bedürfnisse stützen, nämlich jene der Erinnerung des Volkes und der Kolonien an ihre nationale Identität.17 Herangezogen wurden dafür die Namen historisch als bedeutsam angesehener Persönlichkeiten.

|| 17 Dieselben Benennungspraktiken können während der französischen Kolonisierung Algeriens beobachtet werden (siehe Stolz et al. 2016: 326).

202 | Paolo Miccoli Die Klassifikation der kolonialen Toponyme und die Identifizierung der häufigsten toponomastischen Strukturen in bestimmten Situationen der kolonialen und postkolonialen Geschichte eines europäischen Kolonisators ermöglicht das Verständnis fundamentaler Aspekte von ortsbezogenen Benennungspraktiken und in weiterer Folge auch einen Vergleich mit anderen europäischen Kolonisatoren und deren Spezifika (eventuell auch außereuropäischen, obgleich sich in diesem Fall andere Schwierigkeiten auftun). Diesbezüglich kann man sagen, dass: der Onomastik […] damit in den Postcolonial Language Studies eine wichtige Funktion zu [kommt], hier werden in besonderer Weise Erkenntnisse über sprachgebundene kolonisatorische Machtausübung diskutiert, da Namen (zu nennen sind vor allem Ortsnamen, aber auch Personennamen, Personengruppennamen, Ereignisnamen) Rückschlüsse auf Benennungspraktiken und -motive zulassen. (Warnke et al. 2016: 23–24)

Das Studium der kolonialen Toponyme aus einem komparatistischen Blickwinkel öffnet die Sicht auf interessante Szenarien, die nicht nur dazu einladen, ausgehend von toponomastischen Spuren die Geschichte des Kolonialismus zu reflektieren, sondern auch dazu, eine linguistische Basis zur Erforschung der toponomastischen postkolonialen Spuren und ihrer Bedeutung für den aktuellen sozialen, politischen und kulturellen Kontext zu schaffen. Danksagung: Die vorliegende Arbeit ist mit dem Projekt Comparative Colonial Toponomastics (CoCoTop) assoziiert, das an der Universität Bremen von Thomas Stolz und Ingo H. Warnke geleitet wird. Ich bin den Projektleitern für ihren intellektuellen Ansporn sehr verbunden. Dieser trägt in entscheidender Weise zum Fortschritt und den Zielen dieser Recherche bei. Ich danke ihnen, wie auch Axel Dunker, für die Einladung an das Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) im Juli 2015, wo ich die Möglichkeit hatte, meine Recherche vor einem hochqualifizierten Publikum zu präsentieren. Sehr dankbar bin ich auch Rita Enrica Librandi (Universität “L’Orientale” in Neapel) für ihre maßgeblichen Ratschläge während der vergangenen Monate der Recherche in den Bibliotheken und Landkartensammlungen Italiens. Zum Abschluss bleiben mir noch Dankesworte an Brigitte Weber (Universität Klagenfurt) für ihre weise und geduldige Begleitung auf dieser faszinierenden Reise der Recherche.

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Abkürzungen ADJ ANTH KLASS N PP PRÄP TIER TOP

Adjektiv Anthroponym Klassifikator Nomen präpositionale Phrase Präposition Tiername Toponym

Literaturverzeichnis Forschungsliteratur Cecchini, L. 1924. “Per non dimenticare”. Barbarie e bestialità dei rossi, negli anni del Primo dopo-guerra. Roma: Tipografia ditta L. Cecchini. Del Boca, Angelo. 2005. Italiani, brava gente? Vicenza: Neri Pozza. Labanca, Nicola. 2002. Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana. Bologna: Il Mulino. Marcato, Carla. 2009. Nomi di persona, nomi di luogo. Introduzione all’onomastica italiana. Bologna: Il Mulino. Nübling, Damaris, Fabian Fahlbusch & Rita Heuser. 2015. Namen. Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen: Narr. Pellegrini, Battista, Giuliano Gasca Queirazza & Carla Marcato. 1990. Dizionario di toponomastica: Storia e significato dei nomi geografici Italiani. Torino: Utet. Ricci, Laura. 2005. La lingua dell’impero. Comunicazione, letteratura e propaganda nell’età del colonialismo italiano. Roma: Carocci. Stolz, Thomas & Ingo H. Warnke. 2015. Aspekte der kolonialen und postkolonialen Toponymie unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Kolonialismus. In Daniel SchmidtBrücken, Susanne Schuster, Thomas Stolz, Ingo H. Warnke & Marina Wienberg (eds.), Koloniallinguistik – Sprache in kolonialen Kontexten, 107–175. Berlin/Boston: de Gruyter Mouton. Stolz, Thomas, Ingo H. Warnke & Nataliya Levkovych. 2016. Colonial place names in a comparative perspective. Beiträge zur Namenforschung 51(3/4). 279–355. Traversi, Carlo. 1964. L’Italia in Africa. Storia della cartografia coloniale italiana. Edita a cura del Comitato per la documentazione dell’opera dell’Italia in Africa, Ministero degli Affari Esteri. Roma: Istituto poligrafico dello Stato Warnke, Ingo, Thomas Stolz & Daniel Schmidt-Brücken. 2016. Perspektiven der Postcolonial Language Studies. In Thomas Stolz, Ingo H. Warnke & Daniel Schmidt-Brücken (eds.), Sprache und Kolonialismus. Eine interdisziplinäre Einführung zu Sprache und Kommunikation in kolonialen Kontexten, 1–26. Berlin/Boston: de Gruyter.

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Atlanten, Enzyklopädien und geografische Karten CCERA = Carta della Colonia Eritrea e delle regioni adiacenti. Firenze: I.M.G., 1906. ACI = Atlante delle colonie italiane, a cura di Mario Baratta & Luigi Visintin. Roma, Novara, Parigi: Istituto Geografico De Agostini, 1928. GIPC = Guida d’Italia del Touring Club Italiano, Possedimenti e colonie. Milano: C.T.I., 1929. GAOI = Guida dell’Africa Orientale Italiana, a cura della Consociazione Turistica Italiana. Milano: C.T.I., 1938. GBL = Guida breve. Italia meridionale e insulare – Libia, a cura della Consociazione Turistica Italiana. Milano: C.T.I., 1940.

Online-Quellen https://it.wikipedia.org/wiki/Isole_Hanish [letzter Zugriff am 15. Juli 2016]. https://it.wikipedia.org/wiki/Censimento_della_Libia_del_1939 [letzter Zugriff am 15. Juli 2016]. http://violenzaantifascista.blogspot.it/ [letzter Zugriff am 15. Juli 2016]. http://www.ilfattoquotidiano.it/2015/08/28/razzismo-angelo-del-boca-il-colonialismo-italiano-non-e-stato-migliore-degli-altri/1989923/ [letzter Zugriff am 15. Juli 2016].

Thomas Stolz und Ingo H. Warnke

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik Zusammenfassung: Dieser Pilotversuch stellt sich die Aufgabe, zu eruieren, ob und inwiefern die Unterscheidung von Oikonymen und Anoikonymen im Rahmen der vergleichenden Kolonialtoponomastik in der Art relevant ist, dass mit der Zuordnung der Bezeichnung von Geo-Objekten zu der einen oder der anderen der beiden Klassen (kolonial)linguistisch ausdeutbare Muster korrelieren, die es erlauben, Verallgemeinerungen zu formulieren, mit deren Hilfe die sprachliche Seite der kolonialen Raumaneignung adäquat charakterisiert werden kann. Für diese Zwecke werden speziell Daten aus dem italienischen und dem niederländischen Kolonialismus diskutiert, deren Eigenschaften es nahelegen, dass bei der kolonialen Ortsnamenvergabe ein asymmetrisches Verhältnis der von den Kolonisatoren für die bezeichnenden Geo-Objekte angenommenen Wichtigkeit zwischen Oikonymen und Anoikonymen bestand. Die geringere Wichtigkeit der Geo-Objekte schlägt sich bei Anoikonymen darin nieder, dass es ihnen nicht selten an Individualität mangelt und der schematische Charakter ihrer Bildeweise häufig viel stärker ausgeprägt ist als bei den Oikonymen. Schlagwörter: Anoikonyme, Oikonyme, italienischer Kolonialismus, niederländischer Kolonialismus

1 Einleitung Mit diesem Beitrag beabsichtigen wir nachzuweisen, dass es sich sowohl für die Onomastik – besonders für ihren toponomastischen Zweig – als auch für die Koloniallinguistik lohnt, die Phänomenologie der kolonialzeitlich vergebenen Ortsnamen, die wir Kolonialtoponyme (= KT) nennen, eingehend zu erforschen. In der traditionellen wie in der allgemein-linguistischen Toponomastik spielt der Kolonialismus bislang keine erkennbare Rolle, sodass der Eindruck entstehen könnte, es gäbe keine kolonialen Spezifika, die es erforderlich machten, || Thomas Stolz: Universität Bremen, Fachbereich 10: Linguistik, Bibliothekstr. 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected] Ingo H. Warnke: Universität Bremen, Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Bibliothekstr. 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected]

206 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke den KT sozusagen ein eigenes Kapitel zu widmen. Im Rahmen der noch jungen Koloniallinguistik (vgl. Stolz et al. 2016b) wurde jedoch bereits hinreichende Evidenz gesammelt, die dafür spricht, dass den KT Kolonialismus übergreifend charakteristische Züge eignen, deren Rekurrenz bezogen auf den toponomastischen Niederschlag des europäischen Kolonialismus (1450–1975) in Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien so stark ausgeprägt ist, dass eine systematische Erforschung der KT zwingend erforderlich erscheint (siehe hierzu auch Weber 2013). Zur Unterstützung dieser Hypothese geben wir nachstehend Einblicke in eine notwendigerweise sehr begrenzte Auswahl von Phänomenen, die sich im Wesentlichen mit dem Aspekt der Reihenbildung von KT verbindet, die im eurokolonialen Kontext den kolonialen Toponomastika eine auffällige Gleichförmigkeit verleiht. Zu diesem Ende präsentieren wir in Abschnitt 2 Beispiele, anhand derer die wichtigsten strukturellen und semantischen Eigenschaften von typischen KT illustriert und bestimmte Analyseverfahren vorgestellt werden. Abschnitt 3 führt die zentralen Begrifflichkeiten für diese Studie ein. Die Kategorien der Oikonyme (= OKN) und Anoikonyme (= AKN) werden definiert und in den taxonomischen Kontext der Ortsnamenforschung gestellt. Der Abschnitt 4 ist dem Vergleich von Daten zu OKN und AKN im italienischen und im niederländischen Kolonialismus gewidmet. Generalisierungen und weitere Rückschlüsse werden im abschließenden Abschnitt 5 gezogen.

2 Über Regelhaftigkeiten In vorherigen Studien (Warnke & Stolz 2013, Stolz & Warnke 2015, 2016, angenommen a–b, Stolz et al. 2016a) konnten wir bereits zeigen, dass sich KT recht leicht einer formalen und semantischen Analyse erschließen und dabei eine ausgeprägte Musterhaftigkeit aufweisen, die erwarten lässt, dass sich KTPräferenzen ergeben mögen, die eventuell als etwas typisch Koloniales gedeutet werden können. Dies wird ganz besonders deutlich, wenn wir das Augenmerk auf exonymische KT richten, d.h. auf solche Prägungen, die wenigstens eine Komponente enthalten, die direkt aus der Sprache von Kolonisatoren stammt. Besteht ein KT ausschließlich aus Elementen, die der Sprache von Kolonisatoren entnommen sind, sprechen wir von reinen Exonymen (= RE); im Falle von gemischten Bildungen aus (eventuell nur vermeintlich) endogenen und exogenen Bestandteilen verwenden wir den Terminus hybrides Exonym (= HE). Die Klasse der reinen Endonyme, also die der OrtsN, die keinerlei Bestandteil aus der Sprache der

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Kolonisatoren beinhalten, birgt ganz eigene Spezifika, die im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden können. Drei Beispiele sollen die genannten Klassen kurz veranschaulichen.  RE: Porto Novo – 1752 von Portugiesen gegründeter Stützpunkt für den Sklavenhandel, heute Hauptstadt von Bénin (LzÜG 2015: 655)1; das zweiteilige KT setzt sich ausschließlich aus portugiesischen Elementen zusammen – und zwar aus dem Appellativum porto ‘Hafen’ und dem Adjektiv novo ‘neu’;  HE: Loulouabourg (~ Luluabourg) – Verwaltungszentrum der Province de Kasaï (Congo Belge) am Lulua (Nebenfluss des Kongo) (Michiels & Laude 1953: 297); der präkoloniale GewässerN Louloua stellt die endogene Komponente des KT, die sich mit dem französischen Appellativum bourg ‘Marktflecken’ verbindet;  reines Endonym: die Siedlung Chailkotuk am Norton-Sound in RussischAlaska, heute Cagtulek ~ Shaktoolik (Jacobson 1984: 102); die Bezeichnung stammt aus dem eskimo-aleutischen Yup’ik, wahrscheinlich zusammengesetzt aus cagta ‘Angelschnur’ und dem possessivischen Derivativ -lek, sodass die Bedeutung in etwa mit „(Ort) wo es Angelschnüre gibt“ umschrieben werden kann. Vor dem Hintergrund dieser ersten begrifflichen Festlegungen lässt sich u.a. beobachten, dass KT tendenziell komplex sind. Damit ist gemeint, dass sie überwiegend aus mehr als nur einer Struktureinheit einer gegebenen grammatischen Ebene bestehen. Die große Masse der KT ist dementsprechend polysyllabisch und dabei sehr oft auch polymorph – bis hin zu mehrwortigen d.h. phrasalen Konstruktionen.2 Drei Beispiele von RE (allesamt OKN) aus der Kolonie Nieuw-Nederland, dem ehemaligen niederländischen Besitz auf dem nordamerikanischen Festland (1609–1674), illustrieren die strukturelle Komplexität der KT.  Breukelen (Zee 1982: 122) – SiedlungsN, eine direkte Namensübertragung aus der Metropole, heute Brooklyn (New York): polysyllabisch Breu1ke2len3 = /brœ:$kə$lən/3;

|| 1 Weiteres zu diesem KT bietet Stolz & Warnke (2015: 118–124). 2 Für eine vertiefte Darstellung der formalen und semantischen Eigenschaften von KT (am Beispiel des deutschen Kolonialtoponomastikons) verweisen wir auf Stolz & Warnke (2015: 131–150). 3 Tiefgestellte Ziffern in der orthographischen Repräsentation der KT nummerieren die gezählten Struktureinheiten. Tiefgestelltes $ bezeichnet wortinterne Silbengrenzen, mit μ werden Morphe indiziert. Für syntaktische Wörter dienen Wortarten identifizierende Kürzel als Index.

208 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke  Oost-Rivier (Zee 1982: 56) – GewässerN, deskriptiv auf die räumliche Lage im Kolonialgebiet bezogen, heute East River (New York): polymorph Oost1Rivier2 = {Oost}μ-{Rivier}μ (wörtlich: ‘Ost-Fluss’);  ‘t Lange Eylandt (Zee 1982: 70) – LandschaftsN, deskriptiv auf die dimensionale Ausprägung des Geo-Objekts bezogen, heute Long Island (New York): mehrwortig ‘t1 Lange2 Eylandt3 = [‘tART LangeADJ EylandtNOM]DP (wörtlich: ‘die lange Insel’); hier liegt eine dreigliedrige phrasale Bildung mit innerer syntaktischer Struktur vor. Zur Komplexität der KT trägt sehr häufig der Umstand bei, dass die Konstruktionen binär sind und daher zwei Leerstellen umfassen, von denen eine durch einen Geo-Klassifikator (= GK) gefüllt wird, der fast ausnahmslos der Sprache der Kolonisatoren entstammt. GK haben die Funktion, die ontologische Klasse anzugeben, zu der das Geo-Objekt (z.B. Stadt, See, Bucht, Kap usw.) gehört. In mehrgliedrigen kolonialen Ortsnamen ohne GK tritt häufig ein attributives Element auf, mit dessen Hilfe das Geo-Objekt nach einem Parameter wie ALTER (z.B. alt-neu), LAGE (z.B. ober-unter), GRÖßE (z.B. groß-klein) o.Ä. qualifiziert wird. Drei Beispiele hierfür ebenfalls aus dem niederländischen Kolonialismus auf dem amerikanischen Doppelkontinent folgen. In jedem der drei Beispiele wird durch den Bestandteil Oranje auf die zur Zeit der Namenvergabe in den Niederlanden regierende Dynastie (Oranien-Nassau) Bezug genommen. GK und Attribut sind in den Konstruktionen durch Fettdruck hervorgehoben.  Fort Oranje (Zee 1982: 14) – SiedlungsN, heute Albany (New York): mehrwortig mit initialem GK [FortGK OranjeNOM]TOP;  Oranjestad (ENA 1969: 427–432) – SiedlungsN, zwei Ortschaften in den Niederländischen Antillen: (a) die Hauptstadt der Insel Aruba (gegründet 1797) und (b) eine Siedlung an der Westküste der Insel St. Eustatius (nach 1636 entstanden): polymorph mit finalem GK [OranjeNOM-stadGK]TOP;  Nieuw Oranje (Zee 1982: 252) – SiedlungsN, kurzlebige Umbenennung von New York während der zwischenzeitlichen niederländischen Rückeroberung 1673–1674: mehrwortig ohne GK [NieuwADJ OranjeNOM]TOP. Im Kontext des europäischen Kolonialismus können die obigen KT gewissermaßen als Allerweltserscheinungen gewertet werden, da mutatis mutandis entsprechende Konstruktionen auch im belgischen, dänischen, deutschen, englischen, französischen, italienischen, portugiesischen, russischen, schwedischen und spanischen Kolonialtoponomastikon in großer Zahl auftreten, was hier nicht mehr bewiesen werden muss.

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 209

Der hohe Ähnlichkeitsgrad der KT beruht allerdings nicht nur auf den formalen Eigenschaften der Konstruktionen, sondern betrifft in gleichem Maße auch die semantische Seite der Bildungen, wenn wir die Benennungsmotive der RE in Betracht ziehen. Dabei muss grundsätzlich bedacht werden, dass in der Kolonialtoponomastik semantische Analysen durchaus sinnvoll sind, jedenfalls dann, wenn man indexikalische Bedeutungen berücksichtigt. Auch wenn eine traditionelle Onomastik davon ausgeht, dass Eigennamen aufgrund ihrer identifizierenden und singularisierenden Funktion gegenüber den charakterisierenden und klassenbildenden Appellativa keine lexikalische Bedeutung im engeren Sinne tragen, ist eine solche Trennung nicht ganz unproblematisch (vgl. Nübling et al. 2015: 31–38). Bereits Fleischer (1964/1992: 4) weist darauf hin, dass es „zwischen Eigenname und Appellativum eine Grenzzone gibt“, wobei er eher von einem „Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen“ sprechen will. Dennoch stellt Fleischer (1964/1992: 23) in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Name und Appellativum zusammenfassend fest (Fleischer 1964/1992: 23; Sperrung im Original): Zwischen Namen und Appellativum besteht ein grundsätzlicher Funktionsunterschied, nicht nur ein Gradunterschied. Das Appellativum c h a r a k t e r i s i e r t , der Name identifiziert.

Dies passt auch zu Helleland (1996: 1386), der für Toponyme als spezifische Namenklasse deren „Lokalitätsfunktion“ betont. Nun muss aber für Kolonialtoponyme eine solche deutliche Funktionstrennung aufgrund ihrer Pragmatik bezweifelt werden, und wir müssen hervorheben, dass deren Funktion der Lokalisierung aufgrund fraglicher Alltagsverwendung hinter einer Markierungsfunktion zurücksteht und diese Markierungen nicht zuletzt in den genannten Mustern immer indexikalisch auch auf die Metropolen der Kolonialmächte bedeutungsgeladen verweisen. Dazu passt auch, dass KT besonders häufig einen anthroponymischen Bestandteil enthalten, der auf einen vom Namengeber wertgeschätzten Repräsentanten der kolonialisierenden Nation verweist.4 Auch und gerade, wenn Anthroponyme als besonders gutes Beispiel für die alleinige Identifizierungsfunktion von Namen angeführt werden (vgl. Fleischer 1964/ 1992: 4). Bei Namenübertragungen kommen eben auch und vor allem indexikalische Semantiken ins Spiel, die man in der Analyse nicht übergehen sollte. Die Verbindung zur jeweiligen Metropole wird sehr oft auch durch KT zum Aus-

|| 4 Nübling et al. (2015: 219–220) reißen dieses Thema im Zusammenhang mit politisch motivierten Umbenennungen von Orten an.

210 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke druck gebracht, die einen OrtsN miteinschließen, der auf einen Ort auf dem europäischen Staatsgebiet der kolonialisierenden Nation referiert. Bei diesen KT kommt in vielen Fällen eine Konstruktion ohne GK, aber mit Attribut zur Anwendung. Darüber hinaus gibt es zahlreiche KT, die religiöse Bezüge zum christlichen Kalender herstellen. Andere KT sind durch die Erwartungen bzw. Erfahrungen motiviert, die die Kolonisatoren mit einem bestimmten Ort verbanden. Wir illustrieren diese Kategorien mit vier Beispielen aus Nya Sverige, der kurzlebigen schwedischen Kolonie am Delaware (1638–1655), die in unmittelbarer Grenznachbarschaft zu Nieuw-Nederland lag. Fettdruck hebt die für die Benennungsmotive ausschlaggebenden Bestandteile der Konstruktionen hervor.  Fort Christina (Åberg 1987: 15) – Festung und Siedlung, das KT enthält den PersonenN von Königin Christina Vasa, die zum Zeitpunkt der Gründung noch unter Vormundschaft regierte;  Nya Göteborg (Åberg 1987: 15) – Festung und Siedlung, das KT enthält den OrtsN Göteborg, d.h. den N des Ausgangshafens der Expedition von 1643;  Fort Trefaldighet (Åberg 1987: 111) – Festung, das KT verweist auf den 21. Mai 1652 – dem Dreifaltigkeitstag, an dem das niederländische Fort Casimir von den Schweden erobert und umbenannt wurde;  Paradisudden ‘Paradies-Kap’ (Åberg 1987: 111), Landstrich an der Küste, heute Mispillion Creek am Delaware; wegen der gelungenen Landung der schwedischen Expedition Mitte März 1638 von den schwedischen Siedlern so benannt; das KT enthält das konnotativ aufgeladene Appellativum paradis ‘Paradies’, mit dem verdeutlicht wird, was die Neuankömmlinge sich von ihrer Zukunft in der Kolonie versprachen. Diese schwedischen KT reflektieren Benennungsmotive, die in allen europäischen Kolonialtoponomastika mehrfach vertreten sind. Es handelt sich um eine euro-koloniale Gemeinsamkeit auf semantischem Gebiet, die konstitutiv sowohl für Bildung der KT als auch für deren intendiertes Verständnis sind; die Funktion der Lokalisierung bleibt bei KT folglich hinter der Funktion der Kolonisierungsmarkierung zurück. Wenn wir KT folglich als Sprachzeichen mit einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite verstehen, dann können wir konstatieren, dass die beiden Hauptkomponenten des Sprachzeichens von Homologien betroffen sind, die alle europäischen Kolonialismen miteinander verbinden. Es kann also von einem hohen Grad an über den einzelnen Kolonialismus hinausgehender Systematizität gesprochen werden – ein bemerkenswerter Umstand, der die KT geradezu dafür prädestiniert, (kolonial)linguistisch genauer unter die Lupe genommen zu werden.

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 211

Dass aus der semantischen Analyse von KT auch die Notwendigkeit folgt, in weiteren Studien zu erforschen, welche Bedeutungen KT durch die Zeit bis dato zugesprochen wurden, wollen wir nur am Rande vermerken. Ausgehend von einer deskriptivistischen Namentheorie (vgl. Cumming 2013), die vereinfacht dargestellt davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Namens die Gesamtheit der darüber gesagten Dinge ist, besteht zumindest ein Forschungsinteresse an solchen diskursiven Einbettungen. Nicht zuletzt die im Zuge von Dekolonisierung und postkolonialer Kritik geäußerten Meinungen und namensgeschichtlichen Interventionen sind Teil einer koloniallinguistisch informierten Toponomastik. Dennoch sind wir der Auffassung, dass vor einer Befassung auch mit Umbenennungsdiskursen die Aufgabe der Kolonialtoponomastik zunächst und vor allem darin bestehen sollte, die verschiedenen Kolonialtoponomastika genau zu beschreiben, denn nur auf der Grundlage eines vergleichbar ermittelten Datensets lassen sich unseres Erachtens ja überhaupt erst Weiterungen der Namengeschichte angemessen verfolgen und einordnen.

3 Terminologisches Rüstzeug Um die nötigen Analysen der KT adäquat durchführen zu können, schließen wir uns den im wesentlichen ohne direkte Bezugnahme auf den kolonialen Kontext entwickelten onomastischen Modellen von Anderson (2007) und Langendonck (2007) an, deren Arbeiten deutlich machen, dass sich praktisch alle NKategorien in für die allgemeine Linguistik bedeutungsvoller Weise (gerade auch sprachvergleichend) evaluieren lassen. Terminologisch folgen wir dabei weitgehend den Vorgaben von Nübling et al. (2015: 206–265). Für das für diese Untersuchung wichtige Begriffspaar OKN/AKN ergeben sich die folgenden Definitionen:  OKN: N von Staaten, besiedelten Landschaften oder Siedlungen, der sich auf administrative Einheiten, natürliche (Groß-)Räume oder punktuelle Niederlassungen städtischen oder dörflichen Charakters sowie auf Einzelgehöfte oder innerörtliche Gliederungskategorien bezieht.  AKN: N für Geo-Objekte, die nicht (primär) der menschlichen Ansiedlung dienen bzw. bei denen die Niederlassung von Menschen irrelevant ist. Der entscheidende Parameter für die Distinktion ist die menschliche Besiedlung der Geo-Objekte, für die N vergeben werden. In Tabelle 1 – adaptiert von Nübling et al. (2015: 206) – stellen wir dar, wie sich die verschiedenen TOPKategorien hinsichtlich dieses Parameters verhalten, und verknüpfen dies zu-

212 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke sätzlich mit der Unterscheidung von Makro- und MikroTOP, d.h. von großräumig bzw. kleinräumig gültigen OrtsN (Nübling et al. 2015: 206–207). Tab. 1: OrtsN-Kategorien in Korrelation zu MakroTOP/MikroTOP sowie AKN und OKN. NKlasse

MakroTOP

MikroTOP

besiedelt

unbesiedelt

LänderN

+



+



LandschaftsN

+



+ (–)

– (+)

SiedlungsN

+



+



GewässerN

+ (–)

– (+)



+

BergN

+ (–)

– (+)



+

FlurN



+



+

StraßenN



+

+



GebäudeN



+

+



HimmelskörperN

+



– (+)

+ (–)

Gegenüber Nübling et al. (2015: 206) enthält Tabelle 1 folgende aus unserer Sicht nötige Modifikationen, die sich auf die grauschattierten Zellen beziehen:  LandschaftsN haben nicht grundsätzlich die Eigenschaft [+besiedelt] (z.B. Antarktis und ihre Teile),  HimmelskörperN sind dagegen nicht grundsätzlich [–besiedelt] (z.B. Erde). Wir beschränken uns aus praktischen Gründen im Weiteren auf die Kategorien, die in Tabelle 1 oberhalb der gestrichelten Linie liegen. Diese haben überwiegend makrotoponymischen Charakter.5 Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern es für die Bildung von KT relevant ist, dass das zu bezeichnende Geo-Objekt die Eigenschaft [+besiedelt] oder [–besiedelt] aufweist. In Abschnitt 4 achten wir daher auf Unterschiede von AKN und OKN innerhalb eines gegebenen Kolonialtoponomastikons und darüber hinaus im Vergleich von Kolonialtoponomastika.

|| 5 Für die mikrotoponymischen Urbanonyme im kolonialen Kontext verweisen wir auf den Beitrag von Schulz & Ebert (in diesem Band).

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 213

4 Wo AKN und OKN sich verschieden verhalten In diesem Abschnitt gehen wir auf die Differenzen ein, die sich auf formaler Seite und hinsichtlich der Benennungsmotive zwischen AKN und OKN beobachten lassen. Dabei beschränken wir uns auf den Vergleich von Daten aus dem italienischen und dem niederländischen Kolonialtoponomastikon, wobei wir besonders augenfällige Fakten fokussieren, um die Unterschiede zwischen AKN und OKN genauer konturieren zu können. Wir beginnen mit dem italienischen Kolonialismus.

4.1 Africa Orientale Italiana Der italienische Kolonialbesitz am Horn von Afrika wurde 1936 mit der Eroberung des Kaiserreichs Äthiopien vervollständigt.6 Die Gebiete Eritrea, Somalia und Äthiopien wurden mit dem Status eines Vizekönigreichs im Rahmen des Impero Italiano unter der Bezeichnung Africa Orientale Italiana (= A.O.I.), also Italienisch-Ostafrika zusammengelegt (Labanca 2002: 183–197). Mit der Inbesitznahme Äthiopiens verbunden sind Aktivitäten zur Vergabe von RE und HE mit italienischer Komponente in A.O.I. Auf der 1938 von der Consociazione Turistica Italiana veröffentlichten Überblickskarte von A.O.I. findet man eine ansehnliche, aber minoritäre Zahl von RE neben einer Vielzahl von HE und einer Masse von reinen Endonymen. Wir fügen nachstehend je einen Beleg für die drei Kategorien an, wobei durch Fettdruck der italienische Bestandteil im HE ausgezeichnet ist.  Villaggio Duca Degli Abruzzi (Guida A.O.I. 1938: 602) – SiedlungsN (Somalia), enthält den GK villaggio ‘Dorf’, der Ort wurde nach Herzog Luigi di Savoia Duca degli Abruzzi benannt, der sich speziell in der italienischen Kolonie Somalia engagierte (Labanca 2002: 318);  Asba Littoria (Guida A.O.I. 1938: 412) – SiedlungsN (Äthiopien), enthält das amharische Appellativum ásba ‘Erinnerung’ und das italienische Adjektiv littoria ‘liktorisch’, das auf die faschistische Bewegung verweist, die die liktorischen Rutenbündel als Emblem verwendete;  Malláble (Guida A.O.I. 1938: 591) – SiedlungsN (Somalia), aus dem Somali mit der Bedeutung ‘(Ort, an dem) es Honig gibt’ entnommen.

|| 6 Für weitere toponomastisch interessante Gesichtspunkte des italienischen Kolonialismus verweisen wir auf den Beitrag von Miccoli (in diesem Band).

214 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke Zwar kommen RE, HE und reine Endonyme in verschiedenen Ortsnamenkategorien vor. Es lässt sich aber feststellen, dass ein Schwerpunkt der RE bei SiedlungsN liegt. Im Fall von AKN findet das Italienische viel häufiger in HE Verwendung. Die große Masse aller in A.O.I. verzeichneten OrtsN sind hingegen rein endonymischer Art. Bezüglich der Verlässlichkeit ihrer Karte räumen die Autoren unserer Quelle jedoch ein, dass „[l]a minuta ricognizione topografica, linguistica, etnografica e storica dell‘A.O.I. è appena cominciata; la toponomastica è perciò tuttora spesso incerta e confusa” (Guida A.O.I. 1938: 32).7 Die o.g. Karte stellt also nur den vorläufigen Kenntnisstand der italienischen Kolonisatoren relativ kurz nach dem Abschluss des sog. Abessinien-Krieges dar. Dementsprechend finden sich im Textteil des sehr ausführlichen Reiseführers Passagen, in denen von möglichen zukünftigen OrtsN die Rede ist. Genau diese Abschnitte der Quelle sind für unsere Zwecke besonders erkenntnisträchtig. Einschlägig sind hier die BergN im Hochland auf der Grenze zwischen Tigré und Amara (ca. 4.000–5.000m über N.N.). Unsere Quelle (Guida A.O.I. 1938: 254–255) beschreibt eine touristische Route durch dieses Gebiet, die sich an zahlreichen Gipfeln der Gebirgskette vorbeischlängelt, die als Sehenswürdigkeiten erwähnt und daher namentlich identifiziert werden müssen. Die Oronyme (= BergN), die hier auftreten, werden von den italienischen Autoren zusätzlich kommentiert – und zwar dahingehend, dass die zum Zeitpunkt der Abfassung des Reiseführers gültigen BergN zur Umbenennung vorgesehen sind. Es ergibt sich dabei ein sehr aufschlussreiches Bild, das wir in Tabelle 2 reproduzieren. Tab. 2: BergN im Grenzhochland zwischen Eritrea und Äthiopien (A.O.I.). Variante 1

Variante 2

Anhängige Vorschläge

Passo senza nome

Dux

Cima 1a

Cima Imperiale

Cima 2a

Uándi

Cima 3

Ras Degèn ~ Dasciàn

a

Cima Graziani 8

Cima Badoglio

|| 7 Unsere Übersetzung: [Die genaue topographische, linguistische, ethnographische und politische Erforschung von Italienisch-Ostafrika hat gerade erst begonnen; die Toponomastik ist daher noch oft unsicher und wirr]. 8 Auf der Überblickskarte der Kolonie A.O.I., die dem Reiseführer ohne Paginierung beigegeben ist, firmiert der Berg nur unter der Bezeichnung Ras Dasciàn.

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 215

Variante 1

Variante 2

Anhängige Vorschläge

Cima 4a

Monte Sazzà

Cima Góndar

Cima 5

Cima Vercelli

a

Cima 6

Cima Novara

Cima 7a

Cima Torino

a

Cima 8

Cima Uálta

a

Cima 9a

Ancuà

Cima Savoia

Die linke Spalte enthält diejenigen BergN, die zur Zeit der Veröffentlichung von Guida A.O.I. (1938) offiziellen Status hatten. Die mittlere Spalte führt die wenigen alternativen Bezeichnungen an, die in derselben Quelle Erwähnung finden. Die leeren Zellen überwiegen in dieser Spalte, ohne dabei jedoch auszuschließen, dass weitere Alternativen existierten, die von den Autoren des Reiseführers aus welchen Gründen auch immer für nicht erwähnenswert erachtet wurden. In der rechten Spalte finden sich diejenigen BergN, von denen es heißt, dass sie als mögliche Umbenennungen vorgeschlagen wurden (Guida A.O.I. 1938: 255). Wer diese Vorschläge wem unterbreitete und wie über sie entschieden wurde, bleibt allerdings unerwähnt. In den grauschattierten Zellen stehen HE. Fettdruck identifiziert alle italienischen Bestandteile der KT, während die endogenen (= amharischen) Komponenten von KT durch Unterstrich kenntlich gemacht werden. Die KT-Daten in Tabelle 2 sind aus mehrerlei Sicht höchst aufschlussreich. Zunächst stellen wir fest, dass von den insgesamt fünfundzwanzig BergN nur vier einwortige Konstruktionen sind. Unter diesen gibt es nur ein einziges RE. Von den fünf alternativen Benennungen in der mittleren Spalte sind vier reine Endonyme. Es tritt dort kein RE auf. Alle zehn Einträge in der linken Spalte sind komplexe RE. Auch neun der zehn Einträge in der rechten Spalte sind komplex, aber neben acht RE treten auch zwei HE auf. Zwanzig KT, die einen GK beinhalten, nehmen diesen aus dem Italienischen (nämlich passo ‘Pass’, cima ‘Gipfel’ und monte ‘Berg’).9 Komplexität und italo-koloniale Prägung gehen bei den KT

|| 9 Die rein endonymische amharische Bildung Ras Degèn ‘wilder/gefährlicher Gipfel’ (degèn ‘wild, gefährlich’ (Teferra & Hudson 2007: 196)) werten wir vorläufig als Konstruktion ohne GK, da ras ‘Kopf; Anführer’ (Teferra & Hudson 2007: 208) nicht die ontologische Klasse bestimmt, zu der das Geo-Objekt gehört, sondern nur die höchste Erhebung relativ zu anderen Bergen bezeichnet. Dies trifft auf den Ras Degèn zu, der mit 5.020 m (Guida A.O.I. 1938: 255) – laut Übersichtskarte aber nur 4.650 m Gipfelhöhe – alle anderen Gipfel des Grenzgebirges deutlich überragt, obwohl wiederum in der Guida A.O.I. (1938: 255) angegeben wird, dass die bis dahin angenommene Gipfelhöhe des Ancuà von 4.620 m auf 5.050 m zu korrigieren sei.

216 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke also gewissermaßen Hand in Hand. In diesem Sinne verhalten sich die KT in Tabelle 2 vorhersehbar, da sie dem prototypischen Erscheinungsbild von europäischen KT, wie wir es in den Abschnitten 2–3 skizziert haben, sehr gut entsprechen. Von dieser erwartbaren Konformität abgesehen fällt ganz besonders der Schematismus der KT in der linken Spalte von Tabelle 2 auf. Mit Ausnahme der dreiwortigen Konstruktion Passo senza nome ‘Pass ohne Namen’ – eine komplexe NP mit präpositionalem Attribut – hat keines der KT eine wirklich individuelle Form. Stattdessen handelt es sich bei den neun übrigen BergN in der linken Spalte um eine Reihenbildung auf der Grundlage des Konstruktionsmusters [cimaGK __ORD]TOP. Die Konstruktion ist strikt binär mit einer unterspezifizierten Leerstelle. Dem initialen GK cima ‘Gipfel’ folgt die Leerstelle, die durch ein ordinales Numerale gefüllt wird. Diese BergN sind demzufolge als einfache Durchnummerierung zu verstehen: Cima prima ‘erster Gipfel’, Cima seconda ‘zweiter Gipfel’, Cima terza ‘dritter Gipfel’, Cima quarta ‘vierter Gipfel’, Cima quinta ‘fünfter Gipfel’, Cima sesta ‘sechster Gipfel’, Cima settima ‘siebenter Gipfel’, Cima ottava ‘achter Gipfel’, Cima nona ‘neunter Gipfel’. Keiner der so benannten Gipfel verfügt mithin über eine im eigentlichen Sinne individualisierende Bezeichnung. Er ist immer nur innerhalb der Reihe durch seine „Seriennummer“ zu identifizieren.10 Man könnte dies auch so interpretieren, dass die Gipfel gar keine N haben (sondern nur Ordnungsnummern). Diese Namenlosigkeit passt problemlos zu dem o.g. Passo senza nome ‘Pass ohne Namen’, bei dem die Abwesenheit eines N zum Motiv für die Benennung des Passes diente. Reihenbildungen dieser entindividualisierenden Art treffen wir bei OKN nicht an. OKN – ganz speziell SiedlungsN – haben aus der Sicht der Kolonialherren einen besonders hohen Status, da sie sich auf Geo-Objekte beziehen, die für die koloniale Herrschaftsausübung zentral sind. In Siedlungen ballt sich die zu kontrollierende Bevölkerung, läuft das Wirtschaftsleben ab, findet die Kommunikation statt und wird Politik auch für andere Kolonialmächte sichtbar gemacht. Daher sind Siedlungen primäre und besonders häufige Objekte der kolonialen Namensgebung. AKN betreffen demgegenüber nachgeordnete Kategorien von Geo-Objekten, deren Benennung mit den Mitteln der Sprache der Kolonialherren nur relativ selten oder erst recht spät erfolgt. Wenn koloniale || 10 Nübling et al. (2015: 238) führen die Parallele des BergN K2 an, der ebenfalls einem numerisch-seriellen Prinzip seine Existenz verdankt.

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 217

Namensgebung in diesen Fällen überhaupt stattfindet, dann nicht selten schubweise unter Anwendung von konstruktionellen Schablonen. Im Falle von Benennungsnotstand (d.h. zu viele Geo-Objekte sind in zu kurzer Zeit zu benennen, ohne dass ein Reservoir verfügbar ist, aus dem individualisierende TOP geschöpft werden können) wird dann gelegentlich auf das Prinzip des sequenziellen Abzählens zurückgegriffen. Nach der Beendigung des Abessinien-Krieges haben die Berge im eritreischäthiopischen Grenzland für die italienischen Kolonisatoren ihre ursprünglich rein militärische Bedeutung verloren, der sie eventuell ihre von Guida A.O.I. (1938) verzeichnete Benennung mittels Ordinalia verdanken.11 Das o.g. Konstruktionsschema [cimaGK __ORD]TOP lässt sich als Mittel zur Schaffung von BergN mit reiner Platzhalterfunktion verstehen. Sobald die italienische Herrschaft sich in A.O.I. zu konsolidieren schien, konnte seitens der Kolonisatoren daran gedacht werden, auch weniger wichtige Geo-Objekte mit N zu versehen, die aufgrund ihres Symbolwerts propagandistisch für die Sache des Kolonialismus Nutzen brachten. Dementsprechend sind die meisten der in der rechten Spalte von Tabelle 2 aufgeführten „vorgeschlagenen“ Umbenennungen zu verstehen. Obwohl die Guida A.O.I. (1938: 254–255) auf den für uns wichtigen Seiten keine Erklärung für die Motive der Vorschläge anbietet, sind diese wenigstens zum Teil aus dem historischen Kontext erschließbar.  Das lateinische Dux ‘Führer’ bezieht sich auf den Duce ‘Führer’, d.h. auf Benito Mussolini als den obersten Repräsentanten des faschistischen Regimes Italiens, der den Eroberungskrieg gegen Äthiopien herbeigeführt hatte (Labanca 2002: 183–189). Laut Guida A.O.I. (1938: 255) wurde der neue BergN Dux anlässlich der Expedition Romegialli eingeführt.  Die BergN Cima Imperiale ‘Reichsgipfel’ und Cima Savoia ‘Savoien-Gipfel’ erweisen der monarchischen Staatsform Italiens ihre Reverenz und ehren die regierende Dynastie Savoia, deren Oberhaupt Vittorio Emmanuele III, König von Italien, durch die Einverleibung Äthiopiens den imperialen Titel eines Kaisers beanspruchen konnte (Labanca 2002: 194).  Mit Cima Graziani und Cima Badoglio werden die beiden italienischen Feldherren geehrt, die den Feldzug gegen Äthiopien leiteten und daher als die ei-

|| 11 Der militärgeschichtlichen Frage der Prägung der ordinalischen BergN können wir im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter nachgehen. Es bliebe beispielsweise noch zu klären, ob diese BergN ihren Ursprung in den militärischen Operationen während des für Italien katastrophalen ersten Abessinien-Krieges von 1895 finden.

218 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke gentlichen militärischen Eroberer des Landes galten. Es handelt sich um die Marschäle Rodolfo Graziani und Pietro Badoglio (Labanca 2002: 189–193).12  Die BergN Cima Vercelli, Cima Novara und Cima Torino enthalten die N dreier norditalienischer Städte (Vercelli, Novara und Turin), die wichtige industrielle Zentren in Piemont, also im Kerngebiet der Dynastie Savoia waren.  Auffällig sind in dieser Reihe die HE Cima Góndar und Cima Uálta, weil sie neben dem italienischen GK noch je einen endogenen Bestandteil umfassen. Góndar ist die endonymische Bezeichnung für die alte politisch und kulturell bedeutende Königsstadt Góndar. Möglicherweise sollte der BergN Cima Góndar an die Besetzung der für die äthiopische Identität wichtige Stadt durch italienische Truppen am 01.04.1936 erinnern (Guida A.O.I. 1938: 351). Das amharische Substantiv walta (= Uálta) bezeichnet ein Extrem oder einen Pol, seine Verwendung im HE Cima Uálta dürfte sich durch die Höhe des Gipfels von 4.770 m über NN erklären lassen. Die italienischen Kolonialbehörden ließen sich Zeit für die Umbenennung. Die Geo-Objekte, für die AKN bereitgestellt werden mussten, besaßen zunächst keine Priorität für sie. Aus diesem Grunde konnte eine temporäre virtuelle Namenlosigkeit toleriert werden. Trotz der Existenz von endonymischen Parallelbezeichnungen für einige der Geo-Objekte wurde dem Konstruktionstyp [cimaGK __ORD]TOP der Vorzug gegeben, dessen entindividualisierender Effekt möglicherweise sogar gewollt war, damit jegliche vorkoloniale Assoziationen von der Karte der Kolonie A.O.I. verschwanden. Erst im nächsten Schritt ging man daran, den italienischen Herrschaftsanspruch durch symbolträchtige Umbenennungen auf dieser Karte einzuschreiben. Der Anspruch auf die Italianisierung der Landkarte wurde auf Kosten der Individualität der TOP durch vorläufige „anonyme“ Benennungen aufrechterhalten; die Verwendung vorhandener reiner Endonyme wurde eingeschränkt.

4.2 Nederlands-Oostindië Der in Abschnitt 4.1 dargestellte italienische Fall steht kolonialgeschichtlich nicht isoliert da. Vielmehr finden sich auch in den Kolonialtoponomastika anderer europäischer Kolonisatoren ähnliche Gegebenheiten. In diesem Abschnitt präsentieren wir daher Beispiele aus dem niederländischen Kolonialismus und || 12 Auf die besondere Rolle, die Anthroponyme bei der Bildung von KT im gesamten europäischen Kolonialismus haben, gehen Stolz et al. (2016a) ausführlich ein.

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 219

berufen uns zu diesem Zweck auf den Atlas van Tropisch Nederland (= ATN) von 1938, der einen sehr detaillierten geographischen Überblick über das gesamte niederländische Kolonialreich vor dem Zweiten Weltkrieg bietet.13 Diese Quelle hat den weiteren Vorteil, mit der oben genutzten Guida A.O.I. (1938) zeitgleich erschienen zu sein und somit dieselbe Phase des europäischen Kolonialismus zu dokumentieren. Die auf Fläche und Bevölkerungszahl bezogen größte Kolonie der Niederlande war Nederlands-Oostindië, aus dem in zwei Schritten 1949 und 1960 (= Einverleibung West-Papuas) das heutige Indonesien entstand. Zwar waren niederländische Kolonisatoren seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im indonesischen Archipel hauptsächlich in den Küstenregionen aktiv, viele binnenländische Gebiete wurden hingegen erst relativ spät im 19. und 20. Jahrhundert erkundet und geographisch erfasst (Fasseur 1982: 171–180). Dieser Aspekt der erst nachträglichen und eher oberflächlichen Erschließung von Teilen von Nederlands-Oostindië macht sich auch toponomastisch bemerkbar. Die direkteste Parallele zu der oben geschilderten Situation in A.O.I. findet sich jedoch im Küstenbereich, zudem noch auf Java, einer der für die niederländische Kolonie wichtigsten Inseln (Doel 1996: 39–60). Bei der Vergabe von N für Vorgebirge Javas, in dessen westlichen Küstengewässern an der Sunda-Straße der Schiffsverkehr während der Kolonialzeit sehr dicht war, behalfen sich die Kolonisatoren mit einem Verfahren, das dem für die BergN in Tabelle 2 oben entspricht. Die folgenden vier N von Landspitzen sind in dieser Hinsicht symptomatisch (die GK sind in der Liste durch Fettdruck hervorgehoben): Java’s eerste punt ‘Javas erste Landspitze’; Java’s tweede punt ‘Javas zweite Landspitze’; Java’s deerde punt ‘Javas dritte Landspitze’; Java’s vierde punt ‘Javas vierte Landspitze’ (ATN 1938: Blatt 20). Das diesen TOP zugrundeliegende Konstruktionsschema hat die Form [Java’s ___ORD puntGK]TOP, d.h. dass zwei Bestandteile spezifiziert sind, nämlich der initiale Genitiv Java’s ‘Javas’ und der finale GK punt ‘Spitze’. Zwischen ihnen befindet sich eine unterspezifizierte Leerstelle, die von einem Ordinale gefüllt wird. Zusammen ergeben diese Struktureinheiten eine dreigliedrige NP, die ein Genitivattribut involviert. Wir haben es also mit einer schon relativ komplexen Bildung zu tun. Die Karte von West-Java im ATN (1938: Blatt 20) zeigt drei der vier Landspitzen weit ab von allen Siedlungen, nur in der Nähe von Java’s vierde punt wird eine vermutlich dörfliche Siedlung namens Anjer-kidoel verzeichnet. Die || 13 Stolz & Warnke (angenommen b) kontrastieren weitere systematische Aspekte niederländischer KT mit denen ihrer deutsch-kolonialen Pendants.

220 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke Ordinalia in der o.g. Konstruktion zeichnen einen Weg von Süden nach Norden nach, der vom offenen Indischen Ozean im Süden zu der schmalen, von kleineren Inseln zusätzlich verengten Durchfahrt zwischen Sumatra und Java im Norden führt. Es steht daher zu vermuten, dass die Durchnummerierung der Landspitzen den praktischen nautischen Zweck hatte, niederländischen Seefahrern die Orientierung zu erleichtern, für welche die Verfügbarkeit von individualisierenden TOP nicht vorrangig war. Wenn man die schwierige Meerenge gemeistert hatte, traf man unmittelbar nördlich davon an der Küste Javas auf die Landspitze St. Nicolaaspunt ‘Sankt Nikolaus-Landspitze’, also auf ein Geo-Objekt mit einem individualisierenden TOP. Sollten die ordinalisch durchnummerierten BergN in A.O.I. tatsächlich den vermuteten militärischen Hintergrund haben, dann ist die Parallele zum niederländischen Fall hinsichtlich der Motivation der Bildungen noch deutlicher. Denn es geht sowohl in A.O.I als auch in Nederlands-Oostindië um praktische Orientierungshilfen für die Kolonisatoren, die sich in ihnen unvertrautem Gebiet zurechtfinden müssen. In A.O.I. hat die Benennungspraxis in Bezug auf die äthiopischen Berge Vorteile für die Militärs, die dort operieren müssen. In Nederlands-Oostindië ist dasselbe Verfahren bei Landspitzen von Nutzen für die koloniale niederländische Schifffahrt. Die toponomastischen Ähnlichkeiten zwischen dem italienischen und dem niederländischen Kolonialismus manifestieren sich auch in dem KT Naamloos Meer ‘namenloser See’, das sich als TOP für einen großen Binnensee an der Inlandsgrenze zwischen dem niederländischen und damals australischen Teil von Neuguinea findet. Dieses niederländische KT entspricht dem o.g. italienischen KT Passo senza nome ‘namenloser Pass’, indem beide KT das Fehlen eines N als Benennungsmotiv reflektieren. West-Papua – Nieuw-Guineë als Teil von Nederlands-Oostindië – liefert noch wesentlich mehr Evidenz dafür, dass auch die niederländischen Kolonisatoren in Benennungsnotstand gerieten und diesem dadurch abhalfen, dass sie entindividualisierende Reihenbildungen für bestimmte Klassen von Geo-Objekten einführten. Dabei bedienten sie sich nicht mehr der Ordinalia, sondern der alphabetischen Ordnung. Im Bereich der GewässerN weist dieser Landesteil der niederländischen Kolonie vier einschlägige KT auf: A-rivier ‘A-Fluss’; B-rivier ‘B-Fluss’; D-rivier ‘D-Fluss’; E-rivier ‘E-Fluss’ (ATN 1938: Blatt 29b) Das Grundschema der Konstruktion, auf der diese Bildungen beruhen, ist zweigliedrig mit einem spezifizierten GK – und zwar [ __BuchstabenN -rivierGK]TOP (rivier ‘Fluss’). Die Leerstelle wird von einem BuchstabenN besetzt, sodass nach der

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 221

Anzahl der Buchstaben im niederländischen Alphabet von A–Z maximal siebenundzwanzig distinkte GewässerN mit diesem Schema erzeugt werden können. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die alphabetische Ordnung der GewässerN eine Lücke aufweist, weil das mögliche TOP *C-rivier ‘C-Fluss’ nicht vergeben wurde.14 Die BuchstabenN der verwendeten Füller der Leerstelle im Schema [ __BuchstabenN -rivierGK]TOP sind in IPA-Transkription wie folgt: [aˑ], [beˑ], [deˑ] und [eˑ]. Das in der Reihe fehlende würde die Lautung [seˑ] ergeben, also keine besonderen phonetischen Probleme bereiten. A-rivier, Brivier und D-rivier sind Nebenflüsse (evtl. Quellflüsse) des rein endonymisch benannten Tarikoe (auch alternativ als Rouffaer-rivier bezeichnet, das ein RE ist15), der im schwer zugänglichen west-papuanischen Hochland entspringt. Mit dem TOP E-rivier wird ein gut 150 km vom Tarikoe entfernter und mit diesem unverbundener kleinerer Wasserlauf im Binnenland bezeichnet. Noch viel zahlreicher als bei GewässerN begegnet uns das alphabetische Prinzip im Zusammenhang mit BergN. In Nieuw-Guineë sind zehn verschiedene Gebirgszüge auf der Landkarte namentlich gewissermaßen „durchbuchstabiert“, wobei zwei verschiedene GK zum Tragen kommen (davon nur einmal das Appellativum gebergte ‘Gebirge’ gegenüber neunmal keten ‘Kette’). In der nachstehenden Liste der BergN geben wir jeweils auch den niederländischen BuchstabenN in phonetischer Schreibung an. P-keten ‘P-Kette’,

[peˑ]; Q-gebergte ‘Q-Gebirge’, [ky]; R-keten ‘R-Kette’, [ɛr]; S-keten ‘S-Kette’, [ɛs]; T-keten ‘T-Kette’, [teˑ]; U-keten ‘U-Kette’, [y]; V-keten ‘V-Kette’, [v̊eˑ]; W-keten ‘WKette’, [ʋeˑ]; X-keten ‘X-Kette’, [ɪks]; Y-keten ‘Y-Kette’, [iˑˈgrɛk] ~ [iˑˈɣ̊rɛk] ~ [ˈɪpsiˑloˑn]; Z-keten ‘Z-Kette’, [zɛt] (ATN 1938: Blatt 29b). Während die GewässerN die BuchstabenN vom Anfang des niederländischen Alphabets nehmen, werden für die BergN BuchstabenN aus der zweiten Hälfte des Alphabets genutzt. Wie bei den GewässerN könnte man von einer Lücke in der alphabetischen Sequenz bei den BergN sprechen, da der im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch in einem allographischen Verhältnis zu stehende Digraph [eĭ] für die Bildung von alphabetischen BergN keine Verwendung findet.

|| 14 Auch eine genaue Überprüfung der entsprechenden Kartenblätter (ATN 1938: 29a–b) bleibt hinsichtlich der Existenz eines *C-rivier negativ. 15 Es ehrt den niederländischen Erforscher alt-javanischer Kunst Gerrit Pieter Rouffaer (1860– 1928), der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein prominentes Mitglied des Koninklijk Instituut voor de Taal-, Land- en Volkenkunde van Nederlandsch-Indië war (Jaquet 2007).

222 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke Die BergN in der obigen Liste realisieren ein Konstruktionsmuster, das dem für die GewässerN verwendeten gleicht. In Abbildung 1 wird die Formel gegeben. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen liegt darin, dass es bei BergN eine Auswahl zwischen zwei möglichen GK gibt, die die Leerstelle besetzen, während die GewässerN die Verwendung des GK rivier ‘Fluss’ vorschreiben.

[ __BuchstabenN

-ketenGK -gebergteGK

]TOP

Abb. 1: Konstruktionsmuster für alphabetische BergN in Nederlands-Oostindië.

Man kann beide Konstruktionsmuster als zu einer Konstruktionsfamilie gehörig verstehen, deren Gemeinsamkeiten es erlauben, ein ihnen übergeordnetes Schema zu ermitteln, das folgendes Aussehen hat: [ __BuchstabenN -GK]TOP und folglich keine spezifizierte Komponente enthält. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch in Nieuw-Guineë individualisierende BergN mit kolonialem Hintergrund gibt – z.B. Speelman-keten16 und Weyland-gebergte17 (beide im Landesinneren gelegen). Um dem Eindruck entgegenzuwirken, die oben geschilderte Praxis der Vergabe alphabetischer TOP sei das Monopol des von allen Landesteilen der Kolonie Nederlands-Oostindië zum Zeitpunkt des Erscheines des ATN am wenigsten kolonisatorisch durchdrungenen Nieuw-Guineë, führen wir in Tabelle 3 weitere KT dieser Art aus anderen Bezirken derselben Kolonie an. BergN, die auf der Grundlage des Konstruktionschemas [ __BuchstabenN -gebergteGK]TOP gebildet sind, sind auf fünf weiteren Inseln belegt. In den Zellen unter den InselN geben wir das Kartenblatt im ATN an, auf dem der BergN zu finden ist.

|| 16 Der Gebirgszug wurde in Erinnerung an Cornelis Speelman, 1681–1684 Generalgouverneur von Nederlands-Oostindië, benannt (Prud’homme van Reine 2003: 50). Nach ihm wurden schon zu Lebzeiten auch andere Geo-Objekte in Neuguinea benannt (Gelpke 1997). 17 Das KT erinnert an Jacob Weyland, der im Jahr 1705 die Nordküste Neuguineas erforschte (Haga 1885).

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 223

Tab. 3: Mehrfachbelege von alphabetischen BergN in Nederlands-Oostindië. BergN

Inseln Borneo

Celebes

T-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

U-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

Sumatra

V-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

Blatt 12b

W-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

Blatt 12b

X-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

Blatt 12b

Ceram

Blatt 28

Y-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

Blatt 12b

Blatt 28

Z-gebergte

Blatt 25

Blatt 26

Blatt 12b

Blatt 28

Insgesamt kommen zweiundzwanzig Realisierungen des o.g. Konstruktionsmusters vor. Dabei fallen neben der Abwesenheit eines BergN mit dem BuchstabenN (s.o.) zunächst zwei Dinge ins Auge. Zum einen wird im Gegensatz zu den BergN in Nieuw-Guineë ausschließlich der GK gebergte ‘Gebirge’ genutzt. Das Konstruktionsmuster [ __BuchstabenN -ketenGK]TOP kann daher als distinktiv in dem Sinne gelten, dass es nur auf einen Höhenzug in Nieuw-Guineë referieren konnte. Es gibt entsprechende Minimalpaare wie X-keten ≠ X-gebergte, bei denen der GK darüber Auskunft gibt, wo in Nederlands-Oostindië das GeoObjekt liegt. Was aber noch wesentlich mehr ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, dass jeder der BergN aus Tabelle 3 in mindestens zwei verschiedenen Gebieten belegt ist. Drei der BergN kommen sogar auf allen fünf Inseln vor. Damit ist die Identifizierbarkeit des Geo-Objekts durch das mit N normalerweise verbundene Prinzip der Monoreferenz (Nübling et al. 2015: 17–20) ganz empfindlich gestört. Um dem entgegenzuwirken, müsste bei der Nennung des BergN jeweils noch angegeben werden, auf welcher Insel das Geo-Objekt liegt (etwa het X-gebergte op Borneo ‘das X-Gebirge auf Borneo’ im Unterschied zu het X-gebergte op Celebes ‘das X-Gebirge auf Celebes’). Ökonomisch sind diese Disambiguierungen kaum, wenn man die Zahl der Struktureinheiten pro Konstruktion zum Maßstab nimmt, was noch einmal deutlich zeigt, dass in den Kolonialtoponomastik die onomastische Funktion der Spezifizierung und Lokalisierung keineswegs im Vordergrund der Benennungsmotive steht. Der BergN muss zwecks eindeutiger Lokalisierung von einem präpositionalen Attribut begleitet werden. Weder werden alle Bergzüge noch alle Flüsse oder Landspitzen nach dem oben geschilderten Prinzip benannt. Dennoch kann man feststellen, dass im niederländischen Kolonialtoponomastikon ordinale und alphabetische N-Rei-

224 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke hen ausschließlich bei Geo-Objekten dieser drei Klassen vorkommen. GeoObjekte, die das Merkmal [+besiedelt] tragen, sind hingegen keine Kandidaten für die Vergabe eines KT dieser Art. Wir haben keine Belege für fiktive Bildungen wie *X-stad ‘X-Stadt’ oder *Z-dorp ‘Z-Dorf’. Daraus lässt sich unschwer erkennen, dass ein OKN-AKN-Gegensatz vorliegt. Im Gegensatz zu OKN müssen AKN nicht zwingend individualisierend sein, zumal wenn die von ihnen bezeichneten Geo-Objekte außerhalb der Regionen liegen, die für die Kolonisatoren aus ökonomischen und politischen Gründen von zentraler Bedeutung sind. In einem gewissen Sinne lässt sich das mangelnde Interesse der Kolonisatoren an bestimmten Geo-Objekten eben an der Anwendung der anonym-seriellen Benennungsschemata ablesen. Dass die Lage eines Geo-Objekts innerhalb des Kolonialgebietes einen Faktor bei der Vergabe von KT darstellt, wird in Stolz & Warnke (2016) diskutiert.

5 Schlussfolgerungen Die in den vorangegangenen Abschnitten umrissene Praxis der Vergabe von KT auf der Grundlage von ordinalen Zahlenreihen oder gemäß der alphabetischen Abfolge von BuchstabenN gemahnt an eine Passage aus Finsch (1901: 45), in welcher der für den Raum Deutsch-Neuguineas maßgebliche Forschungsreisende beschreibt, wie er praktisch bei der Zuweisung von TOP an Geo-Objekte vorging. Es heißt dort: Ich pflegte daher in meinen Notizen alle bemerkenswerten Punkte (Kaps, Flüsse usw.) vorläufig zu numerieren und erst später die Nummern durch Namen zu ersetzen, wegen denen ich natürlich nicht erst in Berlin die Erlaubnis […] einholen konnte.18

Bezogen auf unsere obigen Beispiele aus dem italienischen und niederländischen Kolonialtoponomastikon kann man vermuten, dass dort das im FinschZitat skizzierte Verfahren ebenfalls zur Anwendung kam, nur dass der nächste Schritt, also der Übergang von der Vergabe von Nummern und Buchstaben zu deren Ersetzung durch individualisierende N noch auf sich warten ließ. Wir wollen auch darauf hinweisen, dass die Determination von komplexen Ortsnamen mit Ordinalzahlen auch außerhalb kolonialer Benennungszusammenhänge im engeren Sinne vorkommt und unter Umständen ein – wenn auch || 18 Zitiert nach Mühlhäusler (2001: 257), da uns das Original des Aufsatzes von Finsch nicht zugänglich war.

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 225

seltenes – Muster ist, dass in Bindung an Konzepte der Mobilität vorkommt. Zu nennen sind etwa lat. Primaporta (Neumann: 2004: 154) oder „the name of Prote (from πρῶτος: the ‘first’ or the ‘beginning’)” (Morton 2001: 192). Sowohl im Lateinischen als auch im Griechischen scheint dabei die Ordinalzahl auf die Orientierungsfunktion des bezeichneten Geo-Objektes hinzuweisen, geht es doch jeweils um die erste Wahrnehmung bei Bewegungen durch den Raum in üblichen Richtungen. Auch wenn die Herkunft des Namens Primaporta, heute Stadtteil von Rom, offensichtlich nicht zweifellos geklärt ist, vermutet Camaleone (1966: 466) doch, dass es um die Orientierungsfunktion als erstes Tor für von Norden kommende Reisende geht: PRIMA PORTA, antica borgata rurale sorta alcuni secoli fa al tredicesimo chilometro della via Flaminia, sulla destra del Tevere, non trova concordi storici e romanisti sull’origine del suo nome: forse è dovuto ad un arco, i cui resti sono tuttora visibili a fianco della Chiesa parrocchiale, che poteva essere davvero la ‘prima porta’ dell’Urbe per chi scendeva dal settentrione percorrendo la via che nel 220 a.C. il censore Caio Flaminio aveva aperta in direzione dell’Adriatico.19

Und auch beim Inselname Prote ist Orientierung das offensichtliche Benennungsmotiv: Prote an island off the southwest coast of the Peloponnese, refers directly to this island’s function as the first landmark, and indeed the first sight of land and the first possible landfall, for ships approaching Messenia from the open seas to the west (Morton 2001: 192).

Für die Kolonialtoponomastik ist daher in weiteren Forschungen ebenfalls zu zeigen, welche Mobilitätsmuster mit entsprechenden Benennungsmustern indiziert werden. Was man seitens der Kolonialherren in jedem Fall gewinnt, wenn man GeoObjekte einfach nach der alphabetischen Buchstabenfolge benennt bzw. sie durchnummeriert, ist eine Aufwandsminimierung in dem Sinne, dass weder Zeit noch Mühe darauf verwandt werden muss, kulturell passende (eventuell deskriptive) Individualbezeichnung entwickeln oder erfragen zu müssen. Gleich-

|| 19 Unsere Übersetzung: [PRIMA PORTA, eine vor einigen Jahrhunderten bei KM 13 der Via Flaminia ländliche Gemeinde auf dem rechten Tiberufer; es findet sich keine Einigkeit unter Historikern und Romanisten hinsichtlich des Ursprungs ihres Namens: eventuell ist er einem Bogen geschuldet, dessen Reste noch heute neben der örtlichen Kirche sichtbar sind und der tatsächlich das „erste Tor“ der Stadt für denjenigen gewesen sein könnte, der von Norden kommend der Straße folgte, die der Censor Caius Flaminius 220 v.Chr. in Richtung des Adriatischen Meers eröffnet hatte].

226 | Thomas Stolz und Ingo H. Warnke zeitig gibt die illustrierte Praxis deutlich die Hierarchie „Metropole > koloniale Peripherie“ zu erkennen, da den abhängigen Gebieten de facto das Recht abgesprochen wird, eine eigenständige („normale“) sprachliche Gliederung des Raumes zu besitzen, die sich in Netzwerken von individualisierenden TOP niederschlägt. Weder in Italien noch in den Niederlanden der Zwischenkriegszeit sind TOP vom Typ der in den Abschnitten 4.1 und 4.2 vorgestellten Art gängig. Etwas vereinfacht gesagt ähnelt die Benennungspraxis aus dem italienischen und dem niederländischen Kolonialismus dem Prinzip, wie es für die Benennung von extraterrestrischen Objekten üblich ist. Laut Nübling et al. (2015: 261–262) geht man dabei wie folgt vor: Die Bezeichnung von Exoplaneten orientiert sich an dem EN oder der Katalognummer des Hauptsterns. Darauf folgt ein Kleinbuchstabe beginnend mit b (Gliese 581b, OGLE-2005BLG-390Lb).

D.h. dass hier Schematismus dominiert, u.a. weil die Objekte hinsichtlich ihrer Eigenschaften weitgehend unbekannt sind, sodass beispielsweise individualisierende deskriptive N nicht motiviert werden können. Die Berge, Flüsse und Kaps, um die es in Abschnitt 4 ging, bekamen alphabetisch bzw. numerische KT zugewiesen, vermutlich auch weil ihre sonstigen Charakteristika den Kolonisatoren nicht bekannt waren, als die Namensvergabe anstand. Zu den zukünftigen Aufgaben unseres Projekts gehören die Bestandsaufnahme ähnlich gelagerter Fälle aus anderen Kolonialismen und der Vergleich zu eventuellen Parallelen, die außerhalb des klassischen kolonialen Kontexts auftreten. Neben der Feststellung der geteilten formalen und semantischen Eigenschaften der TOP bedarf es auch der Identifikation der historisch-sozialen Bedingungen ihrer Entstehung. Die Aufdeckung der diskursiven Zwecke, für welche diese TOP eingesetzt wurden, komplettiert das Aufgabenfeld. Danksagung: Diese Studie ist im Rahmen unserer Arbeit für die Creative Unit (= CU) Koloniallinguistik/Language in Colonial Contexts an der Universität Bremen entstanden. Sie bildet Teil eines Forschungsprogramms, das sich unter der Bezeichnung Comparative Colonial Toponomastics (COCOTOP) auf empirischem wie theoretischem Gebiet erstmalig der umfassenden Untersuchung von kolonialen Ortsnamen in vergleichender Perspektive widmet. Für hilfreiche Kommentare und praktische Zuarbeiten sind wir unserer Projektmannschaft in Bremen zu Dank verpflichtet. Namentlich danken wir Sonja Kettler, Nataliya Levkovych, Daniel Schmidt-Brücken, Susanne Schuster, Marina Wienberg und Anna Wolter. Unseren Diskutanten auf dem Delmenhorster Workshop gebührt ein Wort

Anoikonyme und Oikonyme im Kontext der vergleichenden Kolonialtoponomastik | 227

des Dankes ebenso wie unserem Mitherausgeber Axel Dunker, der die erste Version dieses Beitrags kritisch gegengelesen hat. Ungeachtet der vielen Hinweise und anderen Hilfen, die uns gegeben wurden, verbleibt die alleinige Verantwortung für das, was in diesem Text wie gesagt wird, bei uns Verfassern.

Abkürzungsverzeichnis ADJ

AKN A.O.I

ART

ATN DP GK HE KT N NOM

OKN ORD

RE

TOP

Adjektiv Anoikonym Africa Orientale Italiana Artikel Atlas van Tropisch Nederland Determinatorphrase Geo-Klassifikator hybrides Exonym Kolonialtoponym Name Nomen Oikonym Ordinale reines Exonym Toponym

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Personen- und Autorenregister Åberg, Alf 210 Adenauer, Konrad 168f. Anderson, John M. 211 Ando, S. 7 Aristophanes 51, 61, 63 Ashcroft, Bill 70 Assemboni, Amatso Obikoli 114 Awesso, Atiyihwè 122 Bachimon, Philippe 54 Balbo, Italo 190, 194, 199 Balke, Friedrich 153 Baltzer, Geh. F. 6 Banse, Ewald 111f., 114 Barnes, Julian 3 Barth, Heinrich 114 Bay, Hansjörg 74f., 81 Becher, Jürgen 172 Bechhaus-Gerst, Marianne 8 Beck, Laura 75, 77 Becker, Jürgen 162 Behrisch, Heinrich Wolfgang 56 Beller, Manfred 22 Benjowsky, Graf Moritz August von 24 Bersier, Gabrielle 55 Billig, Volkmar 51 Bleyl, Henning 68 Blumenberg, Hans 2f. Bodi, Leslie 55, 62f. Böhlendorff, Casimir Ulrich 57 Böhm, Richard 104 Böhme, Hartmut 73 Bombay, Sidi Mubarak 13f. Bougainville, Louis-Antoine de 52ff., 56, 58 Brunner, Horst 51 Buch, Hans Christoph 74 Bückendorf, Jutta 104 Burg, Paul 114 Bürger, Gottfried August 63 Bürkli, Johann 58f. Burton, Andrew 173 Burton, Robert Francis 13 Busse, Beatrix 163, 182 Büttner, Richard 97ff.

Calas, Bernhard 163, 172 Camaleone, Enrico 225 Caprivi, Leo von 11 Capus, Alex 74 Castro Varela, Maria do Mar 69 Catani, Stephanie 75 Cecchini, L. 199 Chamisso, Adelbert von 74 Chateaubriand, François-René de 3, 24 Commerson, Philibert 53 Conrad, Joseph 130 Conrad, Sebastian 69 Cumming, Sam 211 Dante Alighieri 188 Del Boca, Angelo 188 Deleuze, Gilles 2 Derrida, Jacques 133 Descartes, René 82 Dhawan, Nikita 69 Diderot, Denis 58 Dinglreiter, Senta 162 Döblin, Alfred 35ff. Doel, H. W. van den 219 Dunker, Axel 8, 19, 75, 77, 80f., 133f., 141 Dürbeck, Gabriele 51 Ebert, Verena 9, 163, 170, 212 Elden, Stuart 152 Enzensberger, Ulrich 62 Fabian, Johannes 69 Falkenhorst, Carl 102ff. Fasseur, Cornelis 219 Fiedler, Matthias 102 Finsch, Otto 224 Fitzner, Rudolf 172 Flacourt, Étienne de 24 Flaubert, Gustave 3f. Fleischer, Wolfgang 209 Foli, Bonifatius 120f. Fontane, Theodor 19 Forster, Georg 54f., 60, 62 Foucault, Michel 139

232 | Personen- und Autorenregister Frank, Walter 162f. Freud, Sigmund 2 Gandía, Enrique de 37 Gehrts, Meg 112f., 115f., 119f. Gelpke, J. Sollewijn 222 Genette, Gérard 77 Gerhard, Ute 74, 81 Gerstner, Jan 60 Gilroy, Paul 32 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 56f. Goethe, Johann Wolfgang von 51, 61ff. Goldmann, Stefan 51 Göttsche, Dirk 18ff., 22, 25, 31, 75, 134 Götzen, Gustav Adolf Graf von 100f., 106 Gray, John 172 Greenblatt, Stephen 69, 71f., 78, 82 Grimm, Hans 28 Grimm, Jakob 94 Grimm, Wilhelm 94 Gross, Raphael 155 Gründer, Horst 165, 168 Grundig, Edgar 162 Guattari, Felix 2 Gutjahr, Ortrud 51, 102 Gutzkow, Karl 17, 20, 22ff., 29, 33 Haga, A. 222 Hamann, Christof 7ff., 12f., 67ff., 73ff., 83 Hausberger, Bernd 36, 40 Heimböckel, Dieter 76 Helleland, Botolv 209 Hermes, Stefan 102 Hethey, Frank 162, 182 Heyden, Ulrich van der 8 Hietzig, Walter 91, 93, 101, 108 Hildenbrandt, Vera 37 Hobbes, Thomas 149f. Hoffmann, Maria 124 Hofmann, Michael 172 Hölderlin, Friedrich 57 Honold, Alexander 8, 39, 48, 68f., 71, 73, 78, 83, 138 Hooker, William 152 Hudson, Grover 215 Hutter, Ralf 124

Jacobson, Steven A. 207 Jacques, Norbert 9f. Jaquet, F. G. P. 221 Jean Paul 56, 59 Jenisch, Daniel 60 Jensen, Wilhelm 17, 19f., 25ff., 32f. Kant, Immanuel 59f. Keller, Gottfried 19 Keller, Ulrike 68 Kiesel, Helmut 47 Kirsch-Jung, Karl-P. 111 Kleist, Ewald von 60 Knigge, Adolph Freiherr 23 Koebner, Thomas 51 Kohlheim, Volker 46 Korn, Michael 182 Kracht, Christian 10f. Kristeva, Julia 156f. Krobb, Florian 30, 89, 104 Küchler Williams, Christiane 53 Kundrus, Birte 89 Kyora, Sabine 81 Laak, Dirk van 145 Labanca, Nicola 190, 197, 213, 217f. Lange, Thomas 51, 55f. Langendonck, Willy van 211 Laude, Norbert 207 Lawn-Thum, Elisabeth 51 Leerssen, Joep 22, 130 Lehmann, Albrecht 140 Lettow-Vorbeck, Paul von 114, 162, 165, 169, 182 Leucht, Robert 38, 41 Leue, August 172f. Leutwein, Theodor 169, 173 Lindner, Ulrike 8, 181 Linné, Carl von 61 Linne, Karsten 92 Loh-Kliesch, André 166, 182 Lüderitz, Adolf 68, 114, 162, 165, 169, 181 Maas, Herbert 163 Marcato, Carla 187, 189, 193 Marenco, Franco 72 Mauch, Karl 114

Personen- und Autorenregister | 233

McAlister, Lyle N. 37 Meierhenrich, Jens 147 Meißner, Joachim 51, 55 Mendieta, Eduardo 156 Meyer, Else 113 Meyer, Hans 7f., 67ff., 83 Miccoli, Paolo 213 Michiels, Albert 207 Mill, Stuart 156 Minca, Claudio 152 Morton, Jamie 225 Möser, Justus 59 Mühlhäusler, Peter 224 Münkler, Marina 69, 72 Mussolini, Benito 217 Nachtigal, Gustav 100, 114, 162, 173 Neubaur, Paul 5 Neumann, Günter 225 Nickel, Eckhart 10 Nübling, Damaris 69, 164f., 170, 179, 189, 193, 209, 211f., 216, 223, 226 Nuhn, Walter 171, 174 Oesterreicher, Wulf 49 Osterhammel, Jürgen 17, 19, 31, 174 Osthues, Julian 8, 70, 76, 81, 134 Palaver, Wolfgang 150 Parr, Rolf 28, 94 Pascha, Emin 169 Passarge, Siegfried 89f. Patin, Nicolas 162 Pauw, Cornelius de 46 Pavlakidis, Pantelis 124 Payer, Julius 12f. Pellegrini, Battista 187 Peters, Carl 4ff., 8f., 103f., 114, 141, 162, 166f., 169, 182 Plant, Johann Traugott 57 Pratt, Mary Louise 2f. Prud’homme van Reine, Ronald 222 Pynchon, Thomas 11 Raabe, Wilhelm 17ff., 25, 30ff., 74f. Ramler, Karl Wilhelm 60 Ransmayr, Christoph 12f., 74

Reichard, Paul 103f. Ricci, Laura 187 Riedel, Friedrich Justus 58 Roes, Miachael 74 Rohlfs, Gerhard 114 Rouffaer, Gerrit Pieter 221 Rowan, Rory 152, 157 Sabbathier, François 56 Said, Edward W. 2ff.. 19f., 75, 128, 130 Salzmann, Christian Gotthilf 58 Sangmeister, Dirk 51, 55, 57f. Schalansky, Judith 2 Schestag, Thomas 147 Schiller, Friedrich 62 Schmidt, Arno 81 Schmitt, Carl 129, 145ff. Schmitt, Christian 46 Schnee, Heinrich 167, 169ff., 176 Schnitzler, Eduard 5 Schoeller, Wilfried F. 38 Schomburgk, Hans 113, 115f. Schorn, Hans Traugott 167 Schrott, Raoul 74 Schülting, Sabine 81, 83 Schulz, Matthias 9, 163, 170, 212 Schummel, Johann Gottlieb 58 Schwagmeier, Uwe 81 Schweinfurth, Georg 114 Schwinghammer, Gerhard 165 Seebold, Peter 80 Selwin, Gustav 128, 136 Sendke, Rudolf 96 Shakespeare, William 1 Simo, David 8, 67ff., 83 Simons, Oliver 138, 147, 152, 155 Simtaro, Dadja H.-K. 123 Smeralda, Juliette 123f. Smith, Christen 32 Snell, Bruno 56 Speitkamp, Winfried 162 Speke, John Hanning 13f. Spivak, Gayatri 133 Stangl, Thomas 133f. Stanley, Henry Morton 5f. Steinaecker, Thomas von 127ff. Stockhammer, Robert 128ff.

234 | Personen- und Autorenregister Stoll, André 4 Stolz, Thomas 11, 68f., 140, 143, 162, 164, 175, 189, 191, 194f., 200f., 206f., 218f., 224 Storm, Theodor 19 Sue, Eugène 24 Teferra, Anbessa 215 Theweleit, Klaus 80f. Thum, Bernd 51, 55, 57 Thum-Lawn, Elisabeth 57 Timm, Uwe 11 Todorov, Tzvetan 35 Traversi, Carlo 188, 191 Trojanow, Ilija 13f. Tuckey, James 32

Waldersee, Alfred Graf von 169 Warnke, Ingo H. 11, 68f., 140, 143, 163f., 175, 182, 189, 200, 202, 206f., 219, 224 Watteau, Antoine 53 Weber, Brigitte 206 Weigel, Sigrid 81 Werkmeister, Sven 36f., 47 Werner, Marion 162, 165 Westermann, Dietrich 112, 120 White, Hayden 131 Wieland, Christoph Martin 23, 51, 56, 58 Winsemann, Ute 162 Wiskow, August 172 Wissmann, Hermann von 114, 162, 166, 160, 172f. Woermann, Adolph 169

Uerlings, Herbert 19, 70, 77, 81

Yigbe, Dotsé 121

Vico, Giambattista 1f. Vogel, Christine 40 Vulpius, Christiane 51, 58

Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm 53ff. Zantop, Susanne M. 36, 131 Zee,Henri van der 207f. Zick, Tobias 11 Zilcosky, John 9

Register geografischer Bezeichnungen Abyssinien/Abessinien 22f. Aden 18 Afrika 4, 6ff., 10, 14, 17, 19, 22, 24f., 27, 29, 32, 70f., 74, 76, 78, 92ff., 97ff., 106ff., 111, 113f., 121, 128ff., 137ff., 188, 190, 206, 213 Ägypten 3, 14f., 19 Alaska 68, 207 Algerien 201 Amara 214 Amazonas 35ff., 41f., 44ff. Amerika 31f., 35, 46, 49f., 206 Angola 90, 99, 108 Antananarivo 24 Äquatoria 5 Arabien 18, 23 Argentinien 46 Arkadien 56 Aruba 208 Asien 18, 206 Äthiopien 22, 191, 213f., 217

Eritrea 188ff., 213f. Europa 21, 24, 30ff., 36ff., 45f., 49f., 52ff., 57ff., 63, 146, 153ff.

Bénin 207 Bismarckburg 114, 132 Bismarckgebirge 68 Borneo 223 Brasilien 9, 15, 24, 30, 40 Buganda 92 Bunyoro 92

Japan 22 Java 219f. Jemen 18, 189ff. Jerusalem 44ff., 48

Frankreich 22f. Ghana 25 Großbritannien 83, 94, 189f., 194 Großfriedrichsburg 25 Hahlgebirge 68 Haiti 30 Hanisch-Inseln 189, 191, 200f. Haute-Volta 114 Hermanns-Platte 6 Indien 22f., 48f. Indischer Ozean 20 Indonesien 21, 23 Irak 4 Italien 49, 187f., 190, 193f., 196ff.

Cagtulek/Shaktoolik 207 Celebes 223 Ceram 223 Ceylon 17 Cheops-Pyramide 3 China 22 Congo Belge 207

Kaiser-Wilhelm-Spitze 7, 69, 71, 73, 77, 83 Kamerunberg 8 Kanaan 35, 41, 45f. Karibik 22, 28, 30, 32 Kiautschou 174, 186 Kilimandscharo 7, 15, 67f., 71, 73ff., 83 Kolumbien 36 Kongo 98, 100, 130, 140, 207 Kongobecken 97, 153 Kuba 32

Daressalam 163, 171ff., 176ff., 186 Deutschland 18, 29, 31, 33, 93, 97, 104, 113, 120, 124, 128, 131f., 139f., 163, 167f., 193 Deutsch-Ostafrika 100, 104, 162, 167 Deutsch-Südwestafrika 165, 170 Djibouti 18

Lac Togo 114 Lateinamerika 17, 22, 28ff., 32, 40 Leipzig 163, 165ff., 180 Libyen 190, 194, 196, 199 Lomé 114, 134, 171, 176f., 179, 186 Long Island 208

236 | Register geografischer Bezeichnungen Lüderitzbucht 68 Luluabourg 207 Madagaskar 17, 20, 22ff., 33 Malaysia 17 Mexiko 32 Meyerspitze 8 Misahöhe 114 Mount McKinley/Denali 67, 84 Muhabbaka-Inseln 189, 191, 201 Namibia/Deutsch-Südwestafrika 10f., 68 Nederlands-Oostindië 218ff., 222f. Neu-Hornow 6 Neu-Brandenburg 26, 28 Neuseeland 63 Niederländische Antillen 208 Nieuw-Guineë 220ff. Nieuw-Nederland 207, 210 Nil 5, 13 Nordamerika 22, 30f., 95 Okarukambe/Steinhausen 11 Orient 22, 128 Orinoko 28 Ostafrika 69, 102 Österreich 12f. Österreich-Ungarn 194, 198 Ozeanien 206 Paraguay 24, 30, 40 Pazifik 22, 52 Piratininga 39 Polynesien 54 Porto Novo 207 Portugal 24 Puerto Principe/Camagüey 32 Queretaro 32 Ruanda 100f.

Sainte Marie 23f. Sambesi 11 Sansibar 22 Schottland 95 Sizilien 49 Somalia 213 Spanien 36, 39f., 46 St. Eustatius 208 Südafrika 18f., 33, 93 Südamerika 35, 38, 41 Sudan 5, 19 Südpazifik 51f., 54, 63 Südsee 52f., 55f., 60 Suez 17 Sumatra 17, 220, 223 Sunda-Straße 219 Swakopmund 177 Syrien 4 Tafelberg 8 Tahiti 51ff. Tamatave/Toamasina 23f. Tansania 83 Tigré 214 Timbuktu 22 Togo 113ff., 120ff., 134 Travancore 18 Tsingtau 171, 178, 186 Übersee 18f., 21, 25, 28, 30f., 33 Uruguay 30 Venezuela 28, 30, 36 Verakruz 32 Vereinigte Staaten 137 Waterberg 166, 170 Westafrika 128 West-Papua 220 Wilhelmsgebirge 68 Wilhelmstal 6 Windhuk 171, 176f., 181 Wißmann-Hügel 5

Sachregister Abessinien-Krieg 214, 217 Afrikadiskurs 17, 19, 22, 89, 92, 107, 131 Aneignung/Bemächtigung 2f., 26, 33, 35ff., 39, 47ff., 52, 67f., 70f., 78, 80, 84, 102, 108, 114, 127, 129, 132, 136f., 156, 161, 164, 172, 180, 182, 205 Anoikonyme 205f., 211ff., 216, 218, 224 Anthroponyme 162, 169f., 173f., 194, 196, 201, 209, 218 Antisemitismus 145, 150, 152 Benennungsmotiv, -motivik 164ff., 180, 209f., 213, 220, 223, 225 Benennungspraktiken, -praxis 1, 4, 6, 8f., 12ff., 17, 19f., 24, 29, 33, 37, 39, 44, 46f., 52ff., 57, 60, 64, 67, 69ff., 74, 76, 79ff., 91ff., 96f., 112ff., 127ff., 140, 142, 145f., 148, 161, 165, 187, 193ff., 201f., 220, 226 Benennungsprozess, -akt 165f., 173, 182, 194 – Umbenennung/Neubenennung/Rückbenennung 68, 83f., 162f., 166, 168, 173, 179, 182, 194, 208f., 211, 214f., 217f. – Selbstbenennung/Fremdbenennung 64, 90, 108 Benennungskonvention, -kriterium, -muster, -schema, -system 90, 93, 107ff., 138, 224f. Benennungszeitpunkt 164, 167, 169 Choronyme 170 Codierung 133, 161, 180ff. Dekolonialisierung 68, 84, 188 endogene/exogene Bezeichnungen 69, 206f., 215, 218 Entdeckung/Entdecker 2f. 4, 8, 12f., 35, 37, 39, 51, 54, 60, 68, 71ff., 75ff., 79f., 112, 114, 138, 153, 190 Eroberung 8, 35, 38, 48, 67f., 71f., 80f., 83, 146, 153, 155, 208, 213, 217 Ethnonyme 170f., 174 Exonym 187, 189, 194f., 201, 206 Exotismus 17, 19, 22ff., 29, 32f., 52 Fixierung 39, 161, 175, 180ff.

Fremde, der, die, das/fremder Raum 2, 4, 9, 20f., 26ff., 30, 67, 69f., 73, 79ff., 97, 107, 111f., 128ff., 136, 140f., 155, 175, 194 Gegenwartsliteratur 1, 12, 67, 70, 74 Globalisierung 17f., 21, 30f. Grenzen/Grenzziehungen 5, 9, 40f., 69, 91, 95, 111, 135, 151, 153ff., 157, 191, 210, 214f., 217, 220 Hydronyme 170 Imperialismus 24, 20, 29, 190 Islam 3f., 18, 92f. Jesuiten 35f., 39ff. Kartographie 17, 20, 29, 31, 33, 54, 89, 129, 138, 151, 176, 188 Kolonialdiskurs 10, 19f., 22, 25, 36, 80f., 89, 101f., 107, 132f., 135, 168, 171, 175 koloniale Globalisierung 17f., 21, 31 koloniale Namen/Kolonialtoponyme 1, 10, 90, 145, 167, 188ff., 193, 205f., 208f., 216, 226 koloniale Raumaneignung 1, 10, 18f., 26, 30f., 33, 35ff., 49, 52, 72f., 80, 89, 102, 108, 114, 129, 132, 137, 139, 146, 161, 164, 182, 205 koloniale Sprache/kolonialer Wortschatz 95, 112ff. koloniale Straßennamen 8, 166ff., 173ff., 181f. kolonialer Raum 21, 36f., 39, 47, 89f., 94, 96, 107, 130f., 137, 146 koloniales Begehren 70, 74, 76, 79ff. Kolonialgeschichte 46f., 68f., 97, 155, 162, 188, 190, 202 Kolonialherrschaft/Kolonialmacht 27, 40, 48f., 94, 97, 104, 163, 170ff., 174, 179, 193, 209, 216 Kolonialismus 4, 17ff., 23, 30, 32f., 48, 67, 71, 74, 76, 80, 111f., 120, 128f., 132, 136, 145f., 157, 163f., 188f., 202, 205f., 208, 216f., 219, 226

238 | Sachregister Koloniallinguistik 163, 182, 205f., 210f. Kolonialliteratur/Kolonialroman 17, 20, 25, 129, 133 Kolonialpolitik 24, 33, 167, 197 Kolonialreich – britisches 83 – deutsches 10, 25, 104, 131, 170 – italienisches 187, 197, 205f., 213f., 217f., 220, 226 – niederländisches 21, 32, 205, 207f., 210, 218ff., 226 Kolonialtoponomastik 164, 187, 189f., 193, 200, 205, 208ff., 211ff., 218, 223ff. Kongokonferenz 137, 145, 153 Lateinamerika-Diskurs 17, 22, 28, 30, 32 Namen(s)gebung 2f., 5f., 7f., 12f., 27, 33, 43, 53, 72, 89, 145f., 149f., 155, 173, 175 Namen(s)theorie 145ff., 149f., 152, 156f., 211 Nationalsozialismus 155, 166, 181 Nomos 145f., 152ff., 157 Oikonyme 170, 174, 205ff., 211ff., 216, 224 Onomastik 163, 205, 209 Orientalismus 3, 20, 128

Oronyme 170, 214 Place-Making 161, 163, 172, 175, 177, 180, 182 Praxonyme 170, 174 Realismus 17, 19ff., 29 Reisebericht/Reiseroman 1f., 7, 9, 18, 24, 32, 36, 52f., 56ff., 62f., 69, 75ff., 80ff., 92f., 101f., 112f., 115, 119, 129, 133f., 176 Rewriting 67, 70, 75f., 80 Schutzgebiet 111, 132, 161ff., 170ff., 176f., 180, 182 symbolische Aneignung/Inbesitznahme 3f., 35f., 47, 69f., 71ff., 76, 78, 80f., 84 symbolische Landkarten 19, 21f., 24, 30f., 33 Umbenennung 68, 83f., 162f., 166, 168, 173, 179, 182, 194, 208f., 211, 214f., 217f. Urbanonyme 163, 179, 182f., 187, 212 Völkerrecht 145f., 152ff.