Beiträge zur Geschichte von Text und Sprache des Alten Testaments: Gesammelte Aufsätze [Reprint 2012 ed.] 3110136953, 9783110136951

In der Reihe Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (BZAW) erscheinen Arbeiten zu sämtlichen Ge

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Beiträge zur Geschichte von Text und Sprache des Alten Testaments: Gesammelte Aufsätze [Reprint 2012 ed.]
 3110136953, 9783110136951

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Rudolf Meyer Beiträge zur Geschichte von Text und Sprache des Alten Testaments

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Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Herausgegeben von Otto Kaiser

Band 209

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1993

Rudolf Meyer

Beiträge zur Geschichte von Text und Sprache des Alten Testaments Gesammelte Aufsätze herausgegeben von Waltraut Bernhardt

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

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Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Meyer, Rudolf: Beiträge zur Geschichte von Text und Sprache des Alten Testaments : gesammelte Aufsätze / Rudolf Meyer. Hrsg. von Waltraut Bernhardt. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ; Bd. 209) ISBN 3-11-013695-3 NE: Bernhardt, Waltraut [Hrsg.]; Meyer, Rudolf: [Sammlung]; Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft / Beihefte

ISSN 0934-2575 © Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin 61

Rudolf Meyer 1 9 0 9 - 1 9 9 1

Vorwort Das wissenschaftliche Lebenswerk von Rudolf Meyer läßt sich kurz unter zwei Hauptforschungsrichtungen zusammenfassen: Den einen Schwerpunkt bildeten seine Arbeiten zum hellenistischen und rabbinischen Judentum. Ausgewählte Abhandlungen zu dieser Thematik wurden anläßlich seines 80. Geburtstages in dem Sammelband „Zur Geschichte und Theologie des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit", Berlin und Neukirchen 1989, neu herausgegeben. Der andere Aspekt seines Schaffens lag auf dem Gebiet der Hebraistik und Semitistik. Publikationen aus diesem Bereich sollen in dem vorliegenden Band der Fachwelt und den Studierenden neu zugänglich gemacht werden. Aufgenommen worden sind vor allem Aufsätze und Abhandlungen zu folgenden Themenkreisen: Die historische Entwicklung der hebräischen Sprache Die Sprachgestalt der Qumran-Texte Das Hebräisch der Masoreten Die strukturale Linguistik Gegensinn und Mehrdeutigkeit im Hebräischen Die Untersuchungen sind im Zeitraum zwischen 1950 und 1979 entstanden und nach Erscheinungsjahren geordnet. Da dieser zweite Sammelband nun leider erst posthum erscheint, schien es geraten, ihn durch eine Biographie und eine Bibliographie Rudolf Meyers zu ergänzen. Besonderer Dank gilt Herrn Prof. D. Dr. Otto Kaiser, der sich bereit erklärte, das Werk in die Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft aufzunehmen. Jena, im September 1992

Waltraut Bernhardt

Inhaltsverzeichnis Biographie Rudolf Meyer

1

Zur Sprache von Ά in Feschcha. Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften 14. ThLZ 75. 1950, Sp. 7 2 1 - 7 2 6

7

Probleme der hebräischen Grammatik. In: ZAW 63. 1951, S. 221-235

15

Zur Geschichte des hebräischen Verbums. In: VT 3. 1953, S. 225-235

30

Die Bedeutung der linearen Vokalisation für die hebräische Sprachgeschichte. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig 3, Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe (1953/54), Heft 1, S. 8 5 - 9 4 . .

41

Ein aramäischer Papyrus aus den ersten Jahren Nebukadnezars II. In: Festschrift für Friedrich Zucker. Berlin 1954, S. 2 5 3 - 2 6 2

63

Das Problem der Dialektmischung in den hebräischen Texten von Chirbet Qumran. In: VT 7. 1957, S. 1 3 9 - 1 4 8

73

Bemerkungen zu den hebräischen Aussprachetraditionen von Chirbet Qumran. In: ZAW 70. 1958, S. 3 9 - 4 8

83

Spuren eines westsemitischen Präsens-Futur in den Texten von Chirbet Qumran. In: Von Ugarit nach Qumran. Festschrift für Otto Eißfeldt. Β ZAW 77. Berlin 1958, S. 1 1 8 - 1 2 8

93

Auffallender Erzählungsstil in einem angeblichen Auszug aus der „Chronik der Könige von Juda". In: Festschrift für Friedrich Baumgärtel. Erlanger Forschungen, Reihe A, Band 10. 1959, S. 114-123. 104 Das hebräische Verbalsystem im Lichte der gegenwärtigen Forschung. In: SVT VII. Congress Volume Oxford 1959. Leiden 1960, S. 309-317 114 Die Bedeutung von Deuteronomium 32,8 f.43 (4Q) für die Auslegung des Moseliedes. In: Verbannung und Heimkehr. Festschrift Wilhelm Rudolph zum 70. Geburtstag. Tübingen 1961, S. 1 9 7 - 2 0 9 123 A. Sperbers neueste Studien über das masoretische Hebräisch. In: VT 11. 1961, S. 4 7 5 - 4 8 6 136 Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus für die hebräische Sprachgeschichte. Dargestellt am Dages-Gebrauch. In: ZDMG 113. 1963, S. 51-61 149

VIII

Inhaltsverzeichnis

Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten. In: Bild und Verkündigung. Festgabe für Hanna Jursch. Berlin 1962, S. 122 — 131. 160 „Elia" und „Ahab" (Tg.Ps.-Jon. zu Deut. 33,11). In: Abraham unser Vater. Festschrift für Otto Michel zum 60. Geburtstag. Leiden 1963, S. 3 5 6 - 3 6 8 Aspekt und Tempus im althebräischen Verbalsystem. In: OLZ 59. 1964, S. 1 1 7 - 1 2 6 Zur Geschichte des hebräischen Verbums. In: FuF 40. 1966, S. 241-243 Bemerkungen zum vorkanonischen Text des Alten Testaments. In: Wort und Welt. Festschrift Erich Hertzsch zum 65. Geburtstag. Berlin 1968, S. 2 1 3 - 2 1 9

170 183 193

199

Bemerkungen zur syntaktischen Funktion der sogenannten Nota Accusative In: Wort und Geschichte. Festschrift für Karl Elliger zum 70. Geburtstag. AO AT 18. Neukirchen-Vluyn 1973, S. 137-142. . . 206 Gegensinn und Mehrdeutigkeit in der althebräischen Wort- und Begriffsbildung. Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Klasse Band 120, Heft 5, Berlin 1979, S. 1 - 3 1 215 Bibliographie 242 Bibelstellenregister 254 Druckfehler-Berichtigungen

258

Rudolf Meyer

1909-1991 Als der Nestor der Alttestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, Rudolf Meyer — Dr. theol., D. theol. h. c. (Berlin), em. Ordinarius für Altes Testament, Rabbinica und Semitistik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, o. Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, korr. Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften — im 82. Lebensjahr aus diesem Leben abberufen wurde, verlor die Wissenschaft einen Repräsentanten jener Gelehrtengeneration, die auf einem breiten geistigen Fundament stehend durch fachübergreifende Interessen geprägt war. Rudolf Meyer wurde am 8. 9. 1909 in Loitzsch bei Leipzig geboren. Er studierte 1929 — 1933 in politisch bewegter Zeit Evangelische Theologie, Religionswissenschaft, Orientalistik sowie klassische und semitische Philologie an der Universität Leipzig. Zu seinen Lehrern zählte er Albrecht Alt, Lazar Gulkowitsch, Benno Landsberger und Johannes Leipoldt. Durch sie erhielt er die richtungsweisenden Anregungen für sein späteres weitgefächertes Wirken. Nach seinem Theologischen Examen trat er als Lehrvikar in den kirchlichen Dienst und besuchte das Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig. Vom 1. 4. 1934 bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges 1939 war er als Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Neutestamentlichen Seminar der Universität Leipzig tätig. Sein Interesse galt vor allem dem hellenistischen und rabbinischen Judentum sowie der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Die Ergebnisse dieser Studien fanden ihren Niederschlag in seiner Dissertation „Hellenistisches in der rabbinischen Anthropologie" (1935; Druck 1937), seiner Habilitationsschrift „Das erste Kapitel des Tosefta-Traktates Schabbat" (1938), die aus politischen Gründen nicht veröffentlicht werden durfte, und in umfangreichen Beiträgen für das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament", hrsg. von G. Kittel, an dem er vom 3. Band (1938) bis zur Vollendung des Werkes unter G. Friedrich (1979) mitarbeitete. Aus Vorarbeiten zum Artikel „Prophetes" entstand die Abhandlung „Der Prophet aus Galiläa" (1940; Neudruck 1970), wo er einer vorsynoptischen Überlieferungsschicht nachgeht, in der Jesus als Prophet erscheint, und nachweist, daß das rabbinische Dogma von der „prophetenlosen" Zeit des nachexilischen Judentums nicht mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmt. Seine judaistischen Interessen und die Verbundenheit mit seinem jüdischen Lehrer L. Gulkowitsch veranlaßten das NS-Regime, ihm eine

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Biographie Rudolf Meyer

Dozentur für Neues Testament und Rabbinica an der Universität Leipzig zu verweigern. Stattdessen wurde er wenige Tage nach seiner Eheschließung mit Ursula Hornauer am 29. 8. 1939 zum Militärdienst eingezogen. Damit fand eine fruchtbare Schaffensperiode ihr jähes Ende und konnte erst sieben Jahre später, als er am 13. 8. 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, fortgeführt werden, allerdings nun auf einer anderen Basis. Zwar wurde er am 1. 10. 1946 wieder am Neutestamentlichen Seminar in Leipzig als wissenschaftlicher Assistent und am 13. 1. 1947 als Privatdozent für Neues Testament angestellt, als ihn aber Angebote der Universitäten Greifswald, Heidelberg, Jena und Marburg erreichten, entschied er sich für den verwaisten Alttestamentlichen Lehrstuhl in Jena und verließ seine Heimatstadt, wo seine Wohnung den Bomben zum Opfer gefallen war. An der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena begann er am 21. 4. 1947 als Extraordinarius bevor er am 1. 7. 1947 zum Ordinarius für Altes Testament und Rabbinische Literatur berufen wurde. Mit dem Elan und Pioniergeist, der den Menschen der ersten Nachkriegszeit eigen war, stürzte er sich rastlos in seine neuen Aufgaben. Der Anfang in Jena war hart. Den gesamten Alttestamentlichen Fachbereich mußte er ohne wissenschaftliche Hilfskräfte und technisches Personal allein bestreiten. Die Bibliothek war in einem völlig unzureichenden und durch die Kriegswirren verheerenden Zustand. Die Vorlesungen mußten infolge ständiger Stromabschaltungen bei Kerzenlicht im einzigen für die gesamte Familie notdürftig hergerichteten Raum erarbeitet und in ungeheizten Hörsälen der Universität abgehalten werden. Angesichts dieser widrigen Umstände versetzt sein Angebot an Lehrveranstaltungen nach siebenjähriger gewaltsamer Unterbrechung geistiger Arbeit in Erstaunen. Im Wintersemester 1947/48 hielt er zwei vierstündige Vorlesungen „Geschichte Israels I (bis zum Exil)" und „Erklärung der Genesis", eine einstündige Vorlesung „Der Koran", ein Hauptseminar „Das Geschichtswerk des Chronisten" und eine Übung „Syrisch II (für Fortgeschrittene)". Die Hörer seiner ersten Jenaer Vorlesungen erzählen noch heute von der mitreißenden inneren Kraft, mit der er sein Auditorium — darunter in langen Kriegsjahren geistig verarmte, hungernde und frierende „Landser" — begeisterte und mit neuem Schaffensdrang erfüllte. Neben der Ausarbeitung eines umfangreichen Lehrprogrammes, das die klassischen alttestamentlichen Vorlesungen, die Geschichte und Religion des Judentums bis in neutestamentliche Zeit, die Geschichte des Alten Orients, die Texte von Ugarit und die Qumranliteratur umfaßte, setzte er seine Forschungen zum rabbinischen Judentum fort. Von den vor dem Krieg übernommenen 13 Beiträgen für das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament" standen noch 6 aus. Die Beschäftigung mit dem Stichwort „Ochlos" (1952) führte zu der Studie „Der 'Am ha-'Ares. Ein Beitrag zur Religionssoziologie Palästinas im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert" (1947), in der die schweren Spannungen zwischen rabbini-

Biographie Rudolf Meyer

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scher und allgemeiner Religiosität erläutert werden. Die Bearbeitung der umfänglichen Artikel „Prophetes" (1959), „Saddukaios" (1960) und „Pharisaios" (1969) zeigt seine profunden Kenntnisse jüdischer Geschichte in nachexilischer und frühchristlicher Zeit. Weitere Ergebnisse dieser Forschungen legte er in verschiedenen Aufsätzen und der Leipziger AkademieAbhandlung „Tradition und Neuschöpfung im antiken Judentum. Dargestellt an der Geschichte des Pharisäismus" (1965) vor. Die 18 Beiträge für die 3. Auflage des Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (1956 — 1963) zu einzelnen alttestamentlichen Pseudepigraphen und Stichworten wie Eschatologie oder Messias behandeln ebenso wie der Abschnitt „Judentum" mit 31 Ergänzungsartikeln für das „Lexikon der Alten Welt" (1965) verschiedene Aspekte dieser Thematik. Da sich Rudolf Meyer auch nach seinem Wechsel vom Neuen zum Alten Testament weiterhin mit der Schnittebene zwischen beiden Disziplinen beschäftigte, war es für ihn eine besondere Anregung und Freude als die Kunde von der Entdeckung einer Handschriftenhöhle nordwestlich des Toten Meeres im Sommer 1947 nach Jena drang. Die Erforschung der Qumranliteratur beschäftigte ihn bis ins hohe Alter. Ihr widmete er sich in zahlreichen Aufsätzen und der Akademie-Abhandlung „Das Gebet des Nabonid. Eine in den Qumran-Handschriften wiederentdeckte Weisheitserzählung" (1962), die die theologischen Beziehungen zwischen Palästina und der babylonischen Diaspora verdeutlicht. Rudolf Meyer war ein Mann der Tat, der nicht lange zögerte, wenn es galt, eine neue Aufgabe anzupacken. Als Ordinarius für Alttestamentliche Wissenschaft betrieb er nicht nur Studien zur Geschichte und Theologie Altisraels und des Judentums, sondern widmete sich auch der Exegese alttestamentlicher Texte. Dabei empfand er das Fehlen einer Hebräischen Grammatik, die modernen Erkenntnissen der semitischen Philologie gerecht wird, als besonders schmerzhafte Lücke in der Literatur. So nahm er gern das Angebot auf, die „Hebräische Grammatik" von G. Beer in der Sammlung Göschen in 2. Auflage neu herauszugeben (1952 — 1955; Textbuch 1960). Die 3. Auflage erschien völlig neu bearbeitet und auf 4 Bände erweitert nur noch unter seinem Namen 1966—1972. Hier hat er auf engstem Raum — das Werk sollte für Studenten finanziell erschwinglich sein — in knapper Diktion die Fülle des Materials und seiner eigenen Forschungsergebnisse dargeboten. Der Wurf ist ihm so gut gelungen, daß auch zwei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen die Grammatik ihren wissenschaftlichen und didaktischen Wert behalten hat und noch nicht überboten worden ist. Sie wurde 1989 durch A. Säenz-Badillos ins Spanische übertragen und erschien in Terrassa und Barcelona als Lehrbuch für die Iberische Halbinsel und den Südamerikanischen Kontinent. Eine englische Übersetzung ist in den Vereinigten Staaten von Amerika in Vorbereitung. Die Neuherausgabe der Grammatik führte zu intensiven Studien zur vergleichenden Semitistik und Sprachgeschichte, die eine Reihe von

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Biographie Rudolf Meyer

Aufsätzen zu Einzelproblemen nach sich zogen. So war es nur allzu naheliegend, daß der Springer Verlag dem bereits ausgewiesenen Hebraisten und Semitisten Rudolf Meyer auf Anraten von A. Alt die Neubearbeitung des Lexikons von W. Gesenius, „Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament" in 18. Auflage anbot. Als schicksalsschwerer Tag muß dieser 14. 9. 1953 gewertet werden, an dem er dem Verlag seine Zusage sandte. Er plante, das Manuskript „in absehbarer Zeit" erstellen zu können. Damals ahnte er noch nicht, wieviel Mühsal und Entbehrungen er sich mit diesem gewaltigen Vorhaben auferlegen würde. Die wissenschaftliche Ausgangsbasis war unzureichend. Die Biblia Hebraica Stuttgartensia, moderne Kommentarreihen und theologische Wörterbücher zum Alten Testament, Lexika zur Semitistik, die die Ergebnisse archäologischer Funde des 20. Jhd. verarbeiteten, fehlten oder waren gerade erst im Entstehen begriffen. Seine Hoffnungen, einen Mitarbeiterstab für den „Gesenius" zu bilden, scheiterten an den finanziellen Gegebenheiten und der kläglichen Rolle, die man der Theologischen Fakultät im Rahmen einer sozialistischen Universität zukommen ließ. So konnte er nur jeweils den einzigen Assistenten des Alttestamentlichen Seminars, der im Theologischen Institut und dessen Bibliothek seine Hauptverpflichtungen hatte, zur freiwilligen Mitarbeit gewinnen, was auf Kosten eigener Qualifizierung ging. Nicht vorhersehbar war aber auch, welcher Kampf gegen Windmühlenflügel kommunistischer Diktatur und Bürokratie auf allen Ebenen für die nächsten Jahrzehnte bevorstand, der unermeßlich viel Zeit und Kraft verschlang. Bevor das in zahlreichen Karteikästen gesammelte Material ausgewertet und das Manuskript des Wörterbuchs begonnen werden konnte, vergingen noch über zehn Jahre, die durch anderweitige Verpflichtungen — Hebräische Grammatik, Lexikonartikel, Bearbeitung von Josua und Judices für die Biblia Hebraica Stuttgartensia, Beiträge zu Zeit- und Festschriften und akademische Ämter — mehr als ausgefüllt waren. Rudolf Meyer war es zu keiner Zeit vergönnt, ein beschauliches Gelehrtendasein zu führen, vielmehr prägten harte Erfordernisse des Alltags seinen Arbeits- und Lebensstil. Intensiver am „Gesenius" arbeiten konnte er praktisch erst, nachdem er sein letztes Dekanat (1968) vollendet hatte. So wuchs die Hoffnung, nach der Emeritierung (1975) das große Lebenswerk doch noch vollenden zu können. Leider zeigte sich aber mit zunehmendem Alter, daß der siebenjährige Kriegsdienst und die Entbehrungen der Nachkriegszeit doch nicht ganz spurlos an ihm vorübergegangen waren. Er beschloß, die Weiterführung und Vollendung der Arbeit am „Gesenius" in jüngere Hände zu legen und übergab Herbert Donner in Kiel das gesamte Material. Der 1. Teilband des Lexikons, dessen Manuskript Rudolf Meyer verfaßt hatte, erschien 1987. In die Freude über den eigens für ihn vom Verlag mit Goldschnitt versehenen Prachtband mischte sich ein Wermutstropfen, weil seine Frau Ursula (gest. 1981), der soviel am Werden des „Gesenius" gelegen hatte, diesen Tag nicht mehr miterleben konnte.

Biographie Rudolf Meyer

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In der langen Periode seines unermüdlichen Schaffens hat Rudolf Meyer ein wissenschaftliches Werk vollbracht, das im In- und Ausland Beachtung fand. In Anerkennung seiner Arbeiten auf dem Gebiet der Hebraistik, der Rabbinica und des Neuen Testaments verlieh ihm 1952 die Humboldt-Universität Berlin die Ehrenwürde eines Doktors der Theologie. Als Nachfolger von A. Alt wählte ihn 1958 die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig als ordentliches Mitglied in die Philologischhistorische Klasse, wo er die Disziplinen „Semitistik" und „Geschichte des Alten Vorderen Orients" vertrat. Seine Gedenkworte für A. Alt, O. Eißfeldt, P. Kahle, S. Morenz und J . Leipoldt in den Jahrbüchern der Akademie zeigen ebenso wie seine Beiträge zu Festschriften und die Widmungen zahlreicher Aufsätze, wie groß der Kollegenkreis war, dem er sich verbunden wußte und wie er Tradition als Verpflichtung und lebendiges Erbe achtete. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften berief ihn 1978 zu ihrem korrespondierenden Mitglied. Die Orientalistische Literaturzeitung, mit der er seit den dreißiger Jahren durch zahlreiche Rezensionen verbunden war, nahm ihn in ihr Redaktionskollegium auf und übertrug ihm die Sparten „Semitistik" (1962) und „Altes Testament, Neues Testament, Spätjudentum, Urchristentum" (1973), die er bis 1986 betreute. Mitherausgeber der Mischna war er von 1963 — 1982. Dem Vorstand der Hilprecht-Sammlung Vorderasiatischer Altertümer im Eigentum der Friedrich-Schiller-Universität gehörte er von 1949 — 1975 an. Dieses Amt übte er viele Jahre allein aus und bewahrte die wertvolle Sammlung vor Schäden und Zerstörung. Seine Arbeiten am Bibeltext führten ihn mit Paul Kahle zusammen, den er 1959 in Oxford besuchte. Rudolf Meyer konnte dem hochbetagten Autor zwei Jahre vor dessen Tod noch eine besondere Freude bereiten als er 1962 die deutsche Ausgabe der „Kairoer Genisa" veröffentlichte. Eine geplante letzte Begegnung in Bonn scheiterte daran, daß das Staatssekretariat in Berlin Rudolf Meyer die Reise verweigerte. Im gleichen Jahr gab er einen Auswahlband aus A. Alts „Kleinen Schriften" für das Gebiet der D D R heraus, um die Studierenden mit dem Lebenswerk seines Lehrers vertraut zu machen. Das Bild von Rudolf Meyer bliebe unvollständig, wollte man seiner nicht als Professor am Katheder gedenken. In allen seinen Lehrveranstaltungen von 1947 — 1975 und in Spezialvorlesungen bis 1979 verstand er es als begabter Pädagoge, eine Studentengeneration nach der anderen zu fesseln und für den späteren Beruf zu motivieren. Als Exeget bot er eine auf sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Textinterpretation. Dabei lehrte er, die spezifische Aussage des Einzelabschnittes stets im theologischen Gesamtzusammenhang der Bibel zu sehen und schuf eine solide Grundlage für alle weitere systematisch- und praktisch-theologische Arbeit. Als Historiker stellte er sein Auditorium in einen weiten geistigen Raum, der die geistesgeschichtlichen Epochen des Alten Vorderen Orients,

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Biographie Rudolf Meyer

des Judentums, der griechisch-römischen Antike und der Kirchengeschichte einbezog. In diesem Sinne einer umfassenden Bildung prägte er seine Schüler und gab ihnen mancherlei Anregungen für ihre eigene Arbeit in der Forschung und in der Praxis des Pfarramtes. In schweren Zeiten hat Rudolf Meyer durch seine Standhaftigkeit und den Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit die Geschichte der Theologischen Fakultät als Dekan ( 1 9 5 2 - 1 9 5 5 ; 1 9 6 5 - 1 9 6 8 ) , als Prodekan ( 1 9 5 0 - 1 9 5 2 ; 1955 — 1959; 1963 — 1965) und als Geschäftsführender Institutsdirektor (1952—1957; 1961 — 1965) wesentlich mitbestimmt. Höhepunkt dieses Wirkens war 1968 die Schlüsselübergabe für das neue Institutsgebäude der Theologischen Fakultät. Neben aller wissenschaftlichen Arbeit und dem Streß mancher Leitungsfunktion hielt Rudolf Meyer enge Kontakte zu Kirche und Gemeinde. Der Thüringer Synode gehörte er von 1966 — 1980 an. Bei seinen Predigten im Akademischen Gottesdienst konnte die Gemeinde spüren, wie bei ihm Wissenschaft und Glaube eine Einheit bildeten. Seine letzte öffentliche Rede anläßlich seines 80. Geburtstages am 8. 9. 1989, die er von dem von ihm selbst entworfenen Katheder im Theologischen Hörsaal hielt, schloß er mit den Worten: „Man kann Silber im Haar, Gold in den Zähnen, Blei in den Beinen und dennoch ein frohes Herz haben". Dieses „frohe Herz", gegründet in einem unerschütterlichen Glauben und ausgestattet mit einer unverwüstlichen Fröhlichkeit hatte er bis zum letzten Tag seines Lebens, den er in der Auferstehungsfreude des Osterfestes im Kreise seiner Kinder begehen konnte. Rudolf Meyer wird seinen Kollegen, Freunden und Schülern als bedeutender Theologe und profunder Sprachwissenschaftler, als anregender Lehrer und brillanter Gastgeber, als Mensch, in dem sich Toleranz, Güte, Humor und Lebensweisheit zu einem eindrucksvollen, harmonischen Ganzen verbanden, in dankbarer Erinnerung bleiben. Jena, im September 1992

Waltraut Bernhardt

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Zur Sprache von 'Ain Feschcha Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften

Johannes Leipoldt %um 70. Geburtstage in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet Nach den zahlreichen vorläufigen Berichten und Untersuchungen 1 zu den Lederrollen von 'Ain Feschcha wird man die nunmehr vorliegende Veröffentlichung der Jesaja-Rolle und des Habakuk-Kommentars, die sich im Besitz des syrischen St.-Markus-Klosters in Jerusalem befinden 2 , besonders dankbar begrüßen. Denn keine noch so gute und zuverlässige Darstellung der handschriftlichen Eigenarten in inhaltlicher und orthographischer Hinsicht kann den Eindruck ersetzen, den eine Handschrift, wie die des Jesaja, als Ganzes vermittelt 3 . Der Gesamteindruck aber, den die bisherigen Texte und Textproben darbieten, stellt insbesondere auch die grammatische Forschung, die ohnehin bereits durch die Funde von Ugarit 4 und die Forschungsergebnisse P. Kahles entscheidende Impulse erfahren hat 5 , vor neue Probleme, die bisher — zumindest nach der mir zugänglichen Literatur — nur teilweise behandelt worden sind 6 . Will man der Frage nach der Form des Hebräischen von AF. 7 nachgehen, so empfiehlt es sich grundsätzlich, zunächst jede Handschrift für 1

2 3

4 s

6

7

Vgl. die von Jahrg. 74 (1949) dieser Zeitschrift an laufend erscheinenden Berichte; ferner O. Eißfeldt, Forschungen und Fortschritte 25 (1949), 196 ff.; J. Hempel, Vorläufige Mitteilungen über die am Nordwestrande des Toten Meeres gefundenen hebräischen Handschriften (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Kl. [1949], 411-438). M. Burrows, The Dead Sea Scrolls of St. Mark's Monastery I (New Haven 1950). Zur Veröffentlichung der Jesaja-Varianten vgl. Μ. Burrows, Bulletin of American Schools of Oriental Research 111 (1948), 16ff.; 113 (1949), 24ff. Zur Sprache von Ugarit vgl. C. Η. Gordon, Ugaritic Handbook 2 (Rom 1947). P. Kahle, The Cairo Geniza (London 1947), 1 — 116; ferner R. Meyer, Probleme der hebräischen Grammatik (ZAW. 62). Da mir insbesondere die von J. Hempel, Vorläufige Mitteilungen, 425 Anm. 46, erwähnte Auswertung der Jesaja-Varianten durch M. Burrows, Journal of Biblical Literature LXVIII, 195 ff., nicht zugänglich ist, sei von vornherein auf jeden Prioritätsanspruch für die im folgenden aufgestellten Thesen verzichtet. Abkürzungen: AF. = 'Ain Feschcha; K.- = Kontext-; MT. = masoretischer Text nach Biblia Hebraica 3 ; P.- = Pausal-; Sek. = Sekunda des Origenes; — aram[äisch]; babylonisch]; kan[aanäisch]; palästinisch]; sam[aritanisch]; tib[erisch].

8

Zur Sprache von 'Ain Feschcha

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sich zu untersuchen. Im folgenden sei daher die Jesaja-Handschrift in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Da der Rahmen eines kurzen Aufsatzes nur die Behandlung einzelner Probleme gestattet, beschränken wir uns auf einige Fragen des Lautwandels und der Druckverteilung.

I. Seitdem P. Kahle durch seine Untersuchungen zur vormasoretischen Grammatik den Blick auf die Elision und Wiederherstellung von Kehllauten im Rahmen der hebräischen Sprachgeschichte gelenkt hat 1 , kann man zur Bestimmung des Sprachcharakters von AF. an der Frage des Verhaltens der Laryngale nicht vorübergehen. Freilich stellen sich ihrer Beantwortung dadurch Schwierigkeiten in den Weg, daß das Konsonantengefüge — von den Vokalbuchstaben abgesehen — in historischer, also nicht in phonetischer Schreibweise vorliegt. Letztere allein aber könnte uns Auskunft über den Lautwert der Laryngale geben. Gleichwohl erkennt man an einigen Stellen, daß in AF. ein Unterschied zwischen der traditionellen Schreibweise und der tatsächlichen Aussprache bestanden haben muß. Dies zeigt sich besonders dort, wo „Schreibfehler", die sich aus dem Diktat erklären lassen, in der Handschrift vorliegen. In Jes. 14, 21 (AF.) steht iVö, wo MT. Ί ί ό ΰ bietet, das tib. male'ü vokalisiert ist. Die AF.-Form weist auf Elision des X zwischen zwei Vokalen hin, also *mali'ü > malü, so daß | die 3. Pers. PI. c. Perf. der Aussprache nach mit der entsprechenden Form der Stämme III V zusammenfallt, ebenso wie dies bei der 3. Pers. Sg. M. der Fall ist. Die gleiche Form begegnet noch heute in MT. Ez. 28, 16 = tib. malü2, außerdem hat sie eine Entsprechung in der Sek.-Form κερου, wogegen tib. qare'ü (Ps. 49, 12) 3 . Da im Aramäischen die Tendenz dahin geht, die Verba III H analog zu den Stämmen III V zu bilden, so liegt die Annahme nahe, daß die Elision von innervokalischem Ν auf aram. Einfluß zurückzuführen ist. Das Samaritanische kennt diese Elision nicht hat also wohl, wie in anderen Fällen auch, die ältere kan. Form bewahrt 4 , während anscheinend die tib. Form mäle'ü, gebildet analog zu qät'lü, auf der Kehllautrestitution der Masoreten beruht. Silbenschließendes Ν ist schon altkan., allerdings nicht überall gleichmäßig, gefährdet 5 . Über die aus der masoretischen Überlieferung bekannten 1

Vgl. The Cairo Geniza, 86 ff.

2

Anders Bauer-Leander, Historische Grammatik I (1922), § 54 f. g.

3

E. Branno, Studien über hebräische Morphologie und Vokalismus (1943), 22.

4

Vgl. F. Diening, Das Hebräische bei den Samaritanern. (1938), 22: male'ü; andererseits darf nicht übersehen werden, daß das Samaritanische bei Κ eine Fülle teilweise abnorm restituierter Formen aufweist.

5

Vgl. Beer-Meyer, Hebräische Grammatik I (Göschen 1951), § 2 2 , 3 a.

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Z u r Sprache von Ά ί η Feschcha

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Kontraktionsformen hinaus findet sich in Jes. 1, 18 die Form 1ΏΉ\ MT. bietet hierfür das Hapaxlegomenon Itt'HiO, = tib. iadtmü „sie werden rot". Während in MT. ein Hifil vorliegt, weist AF. auf die Aussprache iadomü hin. Diese Form aber kann nur auf ein älteres *iadomü zurückgehen und stellt dann einen Ingressiv zu dem neutrischen Grundstamm *'adom < *'aduma „rot sein" dar 1 . Auch hier liegt die Annahme nahe, daß, abgesehen vom Unterschied im Stamm, die tib. Form als Ergebnis masoretischer Laryngalrestitution anzusehen ist. Ebenso kann 57 am Silbenschluß elidiert werden. Gleich zu Beginn der Handschrift, Jes. 1 , 1 , ist "irPSBF in ΙΓΡίΓ verschrieben, und der Schreibfehler, der in Wirklichkeit die geläufige Aussprache des Namens IeSaiahu ohne den Kehllaut wiedergibt 2 , ist durch nachträgliche Korrektur ausgeglichen. Ein besonders anschauliches Beispiel liegt Jes. 5 , 4 vor. Während MT. BWl = tib. uaiiaas „und er machte" als Kurzimperfekt nach Waw consecutivum bietet, lautet AF. ΠΕΡΊ = uaiäse < *uaiase. Der hier vorliegende Schreibfehler 3 weist auf die gleiche Laryngalelision am Silbenschluß hin, wie sie im Samaritanischen 4 , in der Sek. 5 , in der pal. Punktation 6 und der babyl. Überlieferung 7 vorliegt, sich also über einen ganz beträchtlichen Zeitraum hinweg verfolgen läßt. Daneben zeigt sich, worauf hier nur beiläufig verwiesen sei, daß AF. offenbar die Schematisierung in bezug auf das sogenannte Imperfektum consecutivum noch nicht kennt, sondern neben dem Kurzimperfektum auch den alten Indikativ der Präformativkonjugation als Modus der Erzählung gebraucht, wie dies für das Altkanaanäische aus den ugaritischen Texten hervorgeht 8 . Daß auch Π ein schwacher Konsonant zu sein scheint, ergibt sich aus der offensichtlich fehlerhaften Variante in Jes. 5, 24 (AF.) ΠβΤ Π3mV PNI zu dem ebenfalls schwierigen MT. Π3~Ρ ΓΠΓΙ1? ΒΝΡΓ}19. Danach ist in der Aussprache zunächst h zu ' abgeschwächt, w m = ua'asas, und letzteres durch Angleichung an vorhergehendes = 'es „Feuer" zu BftO verschrieben. Die Schwäche des h, die bis zu voller Elision auch zwischen zwei

1

Vgl. hierzu T h r e n . 4, 7 10*1 Κ „sie sind r o t " (Hapaxlegomenon).

2

Daher Ησαΐας in Septuaginta.

3

Vgl. M . Burrows, Bulletin 113, 25.

4

F. Diening, Das Hebräische bei den Samaritanern, 36.

5

E . B r a n n o , Studien, 25.

6

P. Kahle, T h e Cairo Geniza, 92.

7

P. Kahle, D e r masoretische Text des Alten Testaments nach der Überlieferung der babyl. Juden (1902), 30 f.; z. B . "IttlP = babyl.

iämod\

dagegen tib. = TbS?. Vgl. hierzu auch Bauer-

Leander I, § 2 0 e, doch ist die hier gegebene „historische E r k l ä r u n g " sicher falsch. 8

C. H . G o r d o n , Ugaritic Handbook 2 , § 13, 31.

9

Nach B H K 3 : „Und wie dürre Halme 'in der F l a m m e ' zusammensinken".

10

Zur Sprache von °Ain Feschcha

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Vokalen führen kann, ist aus der vormasoretischen Überlieferung ebenfalls bekannt 1 . Ein Schreibfehler, der vom Diktat her zu verstehen ist, liegt ferner Jes. 1, 25 vor, wo AF. für MT. m W I = tib. ue'asiba „und ich will wenden" bietet. Hier ist in der gesprochenen Sprache Π mit X zusammengefallen, so daß man für AF. TtPITl die Aussprache uaaub anzusetzen hat. Das gleiche gilt für Jes. 8, 9, wo die unkorrigierte Handschrift ΙΓΤΝΊ für MT. ΊΓΤΧΠΊ = tib. ueha'"%fnü „und höret" bietet, das uaa^inü < *uaha\inü zu lesen ist. Die geringe Festigkeit der Kehllaute ist auch anderweit zu belegen. So wechselt am Wortanfang Π mit Ν; ζ. B. Jes. 12, 4, wo in AF. HIN = 'ödü für MT. Π1Π = hödü steht. Daher kann Π mit Ν im gleichen Wort wechseln, so in Jes. 23, 1.6 (AF.) l'rV'N neben i V r n in V. 14, das nach AF. nur ΊΐίΙΰ „heult" lauten kann. Wortbeginnendes V wird ζ. B. Jes. 5, 5 (AF.) durch Ν ersetzt: ΠΓ1Ν1 = uaättä „und nun", tib. dagegen Π Π171 = ue'atta. Umgekehrt schreibt man Ϊ für Ν in Jes. 6, 9: Vs?1 = uaal „und nicht", dagegen MT. = tib. tf'al·, d. h., Ν und 5? sind in der Aussprache, wo sie nicht elidiert werden, zu Ν zusammengefallen. Gleiches gilt von Π und Π sowie Π und S7, die, wenn sie gesprochen werden, als Ν erscheinen; so steht Jes. 30, 23 für MT. a m j = tib. nirhab „weit" in AF. 3ΓΠ3, das wohl nir'ab zu sprechen ist, während in Jes. 37, 30 für MT.. DTW = tib. sahls „Nachgewachsenes" in AF. erscheint, so daß hier die Aussprache sa'ts anzunehmen ist 2 . Mit dieser ausgesprochenen Schwäche der Laryngale steht das Hebräische von AF. dem Samaritanischen, den Transkriptionen der Sek. des Origines, sowie der pal. Punktation biblischer und liturgischer Texte außerordentlich nahe, unterscheidet sich also damit wesentlich von der Sprachgestalt der Tiberier. Damit aber erhebt sich die Frage, ob die Schwäche der Kehllaute lediglich aus der innerkanaanäischen Entwicklung zu erklären ist, ob wir es ausschließlich mit aram. Einfluß zu tun haben, oder ob wir mit Einwirkung beider Faktoren rechnen müssen. Laryngalschwäche tritt nun in den semitischen Stämmen überall dort ein, wo sich die genuinsemitischen Stämme mit nichtsemitischen Bevölkerungsteilen der Kulturrandgebiete mischen und sich somit die Artikulationsbasis ändert 3 . So können wir Schwäche der Kehllaute bereits im Kanaanäischen beobachten; dieselbe beruht also zum Teil auf innerkanaanäischer Entwicklung. Andererseits aber kann man doch nicht alle Erscheinungen von hier 1

Vgl. Beer-Meyer I, § 22, 3 c.

2

Totale Elision liegt offensichtlich in den Fällen vor, wo im Auslaut Verwechslungen eingetreten sind; ζ. B. Jes. 16, 1 MT. »Von = tib. missäla

„aus Sela", wofür in AF.

nVoö = misselä begegnet; weitere Beispiele bei M. Burrows, Bulletin 113, 25 f., der die Problemlage andeutet. 3

Das beste Beispiel hierfür ist noch immer das Akkadische; vgl. A. Ungnad, Grammatik des Akkadischen 3 (1949), § 4 c.

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Zur Sprache von 'Ain Feschcha

11

aus erklären, sondern muß, wie das eine der oben angeführten Beispiele zeigt 1 , auch für den Laryngalschwund in AF. aram. Einfluß in Rechnung ziehen. Dem stehen in der Tat keinerlei Bedenken entgegen. Denn das Aramäische, als internationale Handels- und Verkehrssprache weit in vorpersische Zeit zurückreichend und keineswegs erst von den Achämeniden als Reichssprache „eingeführt", ist zur Zeit von AF. längst d i e Umgangssprache. Als solche aber drückt sie natürlich entscheidend auf die alten Dialekte Kanaans, die sich im Bereiche des Kultus gehalten haben, also das jüdische und das sam. Hebräisch. Daß jedoch das Hebräische von AF. noch nicht im gleichen Maße dem überlegenen Aramäisch angeglichen ist, wie sich dies aus der Sek. und den Texten mit pal. Punktation ergibt, zeigt sich in der Formenlehre und, soweit erschließbar, auch an einigen syntaktischen Erscheinungen. Andeutungsweise sei daher auf eine Vorfrage zur Formenlehre, auf das Akzentproblem eingegangen.

II. Die Frage der Druckverteilung in vormasoretischer Zeit ist außerordentlich verwickelt, und die einzelnen Lösungsversuche sind stark umstritten 2 . Von den zahlreichen, oft allzu konstruktiven Systemen ist noch immer G. Bergsträssers | „urhebräische" Akzentregel als Diskussionsbasis am besten geeignet 3 . Nach dieser Regel sind, unter Voraussetzung noch vorhandener Auslautvokale, suffigierte Nominal- und Verbalformen auf der vorletzten Silbe betont; andere Verbalformen haben den Druck auf der Pänultima, sofern diese lang ist, sonst auf der drittletzten Silbe. Nimmt man an, daß in einem Großteil der sam. Formen und, hiermit übereinstimmend, in bestimmten Pausalformen der Tiberier die letzte Aussprachestufe des Kanaanäischen in erstarrter Form vorliegt, so scheint Bergsträssers Regel folgendermaßen zu modifizieren zu sein: Auf der letzten Stufe der Ausspracheentwicklung, die man noch der lebendigen Sprache zurechnen darf und die in der Folgezeit, bis zum Einbruch eines anderen, vom Aramäischen her bestimmten Systems in der Überlieferung geherrscht hat, lag der Druck auf der Pänultima, sofern sie lang war; war sie kurz, so hatte sie den Druck, wenn ein langer Auslautvokal folgte. In allen übrigen Fällen lag der Druck auf der drittletzten Silbe. Ultimadruck war selten; er beschränkte sich auf die Fälle, bei denen Kontraktion der beiden letzten Silben vorlag und wo an sich die Pänultima die Drucksilbe gewesen wäre; ζ Β. *galaiü > galü > tib. galu\ *iadähü > iado > tib. iado. 1

Spalte 721/722.

2

Zur Literatur vgl. H. Birkeland, Akzent und Vokalismus im Althebräischen (Oslo 1940),

3

G . Bergsträsser, Hebräische Grammatik I (1918), § 21 f. g.

Iff.

12

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Zur Sprache von 'Ain Feschcha

Durch Wegfall kurzer oder nachträglich gekürzter Auslautvokale ergab sich sekundärer Ultima- und Pänultimadruck, z. B. *dabartmal > dabartm > tib. d'bärtm·, *däbaru > däbar > tib. däbär, slrahtmmä > stram > tib. siräm. Diese Regel, die m. E. für Nominal- und Verbalformen in gleicher Weise anzuwenden ist, sei es, daß es sich um den reinen Stamm handelt, sei es, daß wir es mit Stämmen zu tun haben, die durch Prä- und Afformative sowie durch Suffixe erweitert sind 2 , scheint jetzt durch AF. eine Bestätigung zu finden. Die Vokalisierung unterscheidet sich, worauf schon öfter hingewiesen wurde, stark von der sogenannten Pleneschreibung der Tiberier. Sie zeigt, daß wir für AF. wesentlich andere Silbengesetze anzunehmen haben, als wir sie von der tib. Grammatik her gewöhnt sind. Vor allem lassen sich in AF. kurzvokalige offene Silben, sowohl mit wie ohne Druck nachweisen, wo im tib. System gedehnter Vokal oder Schwa erscheinen 3 . Damit ergibt sich ein Sprachbild, das sich nach Silbenquantität und Akzentverteilung deutlich von dem der Tiberier unterscheidet. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. So lautet etwa das selbständige Personalpronomen von AF. im Verhältnis zu den tib. K.- und P.Formen 4 : Sg.

PI.

1. c. AF. 2. Μ 2. F. 3. M. 3. F. 1. c. 2. M. 2. F. 3. M. 3. F.

'anoki 'ättä 'ätti hü'ä ht'ä 'anähnü 'attimmä 'attinnä himmä htnnä

tib. K .

K.

'änökt P. 'attä 'att hü hl '"nähnü P. 'attäm 'attän( nä) him(ma) henna

''änokt 'ättä\ ättä 'att '"nähnü

Die Richtigkeit der für AF. erschlossenen Drucklage ergibt sich einmal aus dem Wegfall der Auslautvokale in der Sek. und im tib. System bei ätti > att, hi 'a > hü und ht'a > ht, dann aber auch aus Formen wie 1attännä oder hennä. Ebenso verhält es sich beim Personalsuffix. So begegnet 1

2

3 4

Dies der altkan. casus obliquus des Plurals, der sich in der israelitischen Zeit als Einheitskasus durchgesetzt hat. Der Nominativ endete ursprünglich auf -üma\ vgl. C. H. Gordon, Ugaritic Handbook 2 , § 8, 6. Eine einzige Ausnahme bildet wohl die alte F.-Endung im Perf., wo wir die Betonung qätalat auch für das spätere Kanaanäisch annehmen möchten. Ebenso bedeutete beim Nomen der Antritt der F.-Endung -/ keine Druckverlagerung; z. B. mälkat(u). Vgl. J. Hempel, Vorläufige Mitteilungen, 427 ff. Vgl. J. Hempel, a.a.O., 432.

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Zur Sprache von 'Ain Feschcha

13

etwa in AF. die Form ΓΟΤ — iadakä „deine Hand". Diese Bildung ist, nachdem Endvokalelision eingetreten ist, sowohl in der Sek. wie in der pal. Vokalisation und ursprünglich auch im Samaritanischen 1 vorausgesetzt. In der Sek. lautet die entsprechende Form ιαδαχ, wozu die tib. P.-Form iadaka zu vergleichen ist, während die übliche K.-Bildung iad'ka auf masoretischer Restitution beruht 2 . Von den Nominalformen seien zwei Beispiele herausgegriffen. Der Ortsname Sodom lautet Jes. 1, 9 Dip S'dom, | nach Septuaginta dagegen Σόδομα 3 . Diese Umschrift aber entspricht genau der Vokalisierung von AF. ΩΤΟ = Sodom. Damit aber scheint sekundärer Pänultimadruck dabar < *däbaru, wie ihn noch das Samaritanische kennt, für das Nomen der Bildung qatalu erwiesen zu sein. Entsprechende Drucklage haben die zweisilbigen Nomina. Es sei auf -Vin „Krankheit" in Jes. 1, 5 (AF.) verwiesen. Während die tib. K.-Form Wz lautet, liegt hier offenbar kurze offene Drucksilbe vor, so daß holt zu lesen und damit tib. Ρ. ,ι?Π = holt zu vergleichen ist. Für das Verbum lassen sich die gleichen Beobachtungen machen. Pänultimadruck liegt überall dort vor, wo Endungen an den Stamm angetreten sind; ζ. B. in den Imperfektformen 4 iVltPa'' — iemsölü „sie herrschen", wofür MT. in Jes. 3,4 iVtfD'' = tib. K. iims'lü steht, oder W I T =jedrdsü „sie suchen", dem in Jes. 11,10 tib. Ρ. ΊΕΗΤ = iidrosü entspricht. Besonders interessant ist Jes. 18,4 (AF.) HttpHPK 'esqötä „ich will mich ruhig verhalten". MT. enthält das gleiche Buchstabengefüge, aber entsprechend ihrer Normaldruckverteilung lesen die Tiberier im Konsonantentext die alte, sogenannte Kohortativform 'äsq°tä mit Ultimadruck. Die gleiche Druckvorlage liegt etwa in dem Imperativ 18ΠΠ „suchet" vor, der tib. Jes. 1, 17 dirsü lautet, aber nach AF. nur d(o)rosü5, entsprechend tib. P. q'tolü, gelesen werden kann. Nicht so leicht erkennbar ist die Drucklage bei endungslosen Formen; z. B. Jes. 9, 15 ViarT „er schont". Immerhin läßt sich auch hier der Akzent erschließen. Wenn z. B. Jes. 5, 2 im Rahmen der sogenannten Konsekutivformen für tib. EW1 uaiiaas „und er machte" AF. die volle Form rrcwi steht, so wird man dieselbe, von der Laryngalelision einmal abgesehen, uaiä'se lesen. Von hier aus ist dann auch auf die starken Bildungen zu schließen, die demnach ieqtol < *iaqtul\iaqtulu lauten. Pänultimadruck wird man vielleicht auch deswegen annehmen dürfen, weil diese 1

2 3 4

5

Infolge der Schematisierung der Drucklage ist im Samaritanischen nachträglich hier der Akzent um eine Silbe zurückgerückt. Vgl. hierzu P. Kahle, The Cairo Geniza, 99. So nach H. B. Swete, The Old Testament in Greek III (Cambridge 1930), z. Stelle. Der Vokal beim Präformativ ist hier versuchsweise mit e < α angesetzt, da, wie auch Sek. zeigt, der «-Laut als schwebende Nuance große Wahrscheinlichkeit für sich hat; vgl. E. Branno, Studien, 25. Unsicher bleibt, wie schon altkan. q(u)tulü, der erste Vokal. Ebenso gut ist Konsonantenhäufung drösü möglich.

14

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Zur Sprache von 'Ain Feschcha

Formen fast ausnahmslos durch 1 vokalisiert sind 1 . Es ist möglich, daß diese auffallig regelmäßige Vokalisierung dadurch zustandegekommen ist, daß I druckloses ο gefährdet war 2 . Entsprechendes dürfte dann auch von der 3. Pers. M. Sg. der Afformativkonjugation gelten, die qätal < *qätala lauten müßte. Eine Übersicht über die geläufigsten Formen des Grundstammes er gibt somit folgendes Bild: Sg.

PI.

3. Μ 3. F 2. M. 2. F. 1. c. 3. M. 3. F. 2. M. 2. F. 1. c.

Imperf. ieqtol teqtol teqtol teqtol! 'eqtol ieqtolü teqtölnä teqtölü teqtölnä neqtol

Imperat. q(o)tol q(o)tölt

Perfektum qätal qatälä qatältä qatälti3 qatälti 1Λ qatatu

q( ο )tölü q(o)tolnä

qataltimmä' qataltinnä qatälnü

Sollte sich die hier kurz umrissene und an wenigen Beispielen erläuterte Druckverteilung in AF. als stichhaltig erweisen, so würde dies für die Beurteilung des tib. Systems von grundlegender Bedeutung sein. Es wäre damit ein Beweis mehr für die These geliefert, daß das tib. System historisch an das frühe Mittelalter gebunden ist, man also keineswegs unbesehen und unmittelbar von hier aus auf das Kanaanäisch-Hebräische schließen darf. Denn dazwischen liegt jener große, sprachgeschichtlich außerordentlich bedeutsame Komplex, den man gewöhnlich als „vormasoretisch" bezeichnet. Die Jesaja-Handschrift von AF., und dies sei nur kurz angedeutet, setzt nicht mehr einen einheitlichen Sprachtypus voraus. Dieser Mischcharakter deutet darauf hin, daß wir es, ähnlich wie in den späten Perioden des Akkadischen, mit einem nicht mehr lebendigen Idiom zu tun haben. Gleichwohl zeigen die darin enthaltenen altertümlichen Formen und die Vokalbuchstaben, die vielfach dort erscheinen, wo man auf eine Gefährdung der kan. Aussprache schließen darf, daß die Schreiber dieser Handschrift bzw. von deren Vorlage noch über eine gelehrte Tradition verfügten, die, wenn auch in erstarrter Form, noch Anschluß an das einst im Umgang gesprochene Hebräisch hatte.

1 2

3 4

Vgl. J . Hempel, Vorläufige Mitteilungen, 426. Dies zeigt sich ζ. B. an der Sek.-Form ουαϊαλεζ für MT. ή>»*ι = tib. wohl aus *uaiäle\ < uaialo\ „und er jubelte" zu erklären ist. Jes. 17, 10 ΤΙΠ3® „du (F.) hast vergessen". Jes. 12, 3 nnroxsn „und ihr werdet schöpfen".

(Ps. 28,7), die

[221]

Probleme der hebräischen Grammatik 1 Johannes Herrmann tum 70. Geburtstage gewidmet

Als J. HEMFEL im Jahre 1 9 2 7 über den Stand der hebräischen Sprachwissenschaft berichtete 2 , konnte niemand ahnen, welche Richtung die Forschung in der Folgezeit einschlagen würde. Sieht man einmal von den mehr der Tradition verhafteten Arbeiten zur hebräischen Grammatik ab 3 , so beherrschte die sprachgeschichtlich-genetische Methode unbestritten das Feld. Bei aller Gegensätzlichkeit in Einzelfragen stimmte man im wesentlichen darin überein, daß die masoretische, insbesondere die durch die Tradition geheiligte tiberische Interpretation des biblischen Konsonantentextes als ein Ergebnis lebendiger Sprachentwicklung zu begreifen sei. So meinte man, eine mehr oder weniger feste Basis zu besitzen, die ausreichte, um rückschreitend bis zum Urhebräischen oder Ursemitischen vorstoßen zu können. Besonders waren es H . BAUER und P . LEANDER, die das genetische Prinzip mit seinem Spiel von »Lautgesetzen« allzu einfach und Vorliegender Aufsatz stellt die durch Anmerkungen und einige Ergänzungen erweiterte Fassung eines auf dem Deutschen Orientalistentag in Marburg (Schloßkongreß) a m 31. August 1960 gehaltenen Referates dar. 1

« Z A W 46 (1927), 234—239. * E r w ä h n t sei P. JOÜON, G r a m m a i r e d e L'hibreu biblique ( R o m 1923). Zeitschrift f. alttestamentl. Wiss., Band 6J, 1951

16

Probleme der hebräischen Grammatik

[222]

optimistisch anwendeten1, damit aber den berechtigten Widerspruch u. a. von B. LANDSBERGER 2 hervorriefen. Daneben hatte P. KAHLE unter kritischer Auswertung des Traditionsgutes geltend gemacht, daß die Annahme keineswegs so sicher sei, wonach man im masoretisch interpretierten Konsonantentext das Produkt eines organisch zu verstehenden Entwicklungsprozesses zu begreifen habe. Seine Untersuchungen ließen also die herrschende Meinung als fraglich erscheinen, die in der masoretischen Fixierung der biblischen Sprache im wesentlichen — offensichtliche Überlieferungsfehler ausgenommen — eine alte, durch den Kultusgebrauch geschützte und einst lebendige Ausspracheform sehen wollte. Demgegenüber wies er darauf hin, daß möglicherweise die heute vorliegende Fixierung des biblischen Hebräisch den Niederschlag systematischer, vielfach schematisierender Philologenarbeit darstellen könne, die im Rahmen einer apologetisch begründeten, durch nestorianischen und frühislamischen Gelehrtenfleiß entscheidend beeinflußten Sprachrestitution durchgeführt worden sei3. Noch auf dem Deutschen Orientalistentag 1942 verfocht G. BROKKELMANN bei aller sachlichen Kritik an der bedeutsamen Leistung von H . BAUER und P. LEANDER die Prinzipien der herkömmlichen sprachgeschichtlich-genetischen Methode, während er P. KAHLES vormasoretischen Studien im ganzen ablehnend gegenüberstand 4. Unterdessen hat sich freilich die Situation der grammatischen Forschung nicht unwesentlich verändert. Abgesehen von neueren sprachtheoretischen Erwägungen, mit denen sich zum größten Teile schon C. BROCKELMANN auseinandersetzen konnte5, haben wir es gegenwärtig mit Entdeckungen zu tun, die wegen ihres objektiv gegebenen Charakters die Forschung zwingen, ihre bisherigen Methoden kritisch zu überprüfen und vielleicht manches von dem aufzugeben oder umzuformen, was bisher als mehr oder weniger axiomatisch angesehen wurde. Seit den Funden von Ugarit und deren vorläufiger Zusammenfassung in der Grammatik von C. H. GORDON 6 steht am Anfang der hebräischen Sprachgeschichte nicht mehr eine, wie auch immer vor. gestellte hypothetische Größe, sondern das Ugaritische als altkanaanäi. 1

Historische Grammatik der hebräischen Sprache I (1922) = BLe. Weniger einseitig ist G. BERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik I (1918), II (1929) = GBe. 2 OLZ 29 (1926), 967—976. 3 Vgl. zusammenfassend: Masoreten des Westens I (1927), 36—56. 4 Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft, herausgegeben von R . HARTMANN u n d 5

LAND,

H . SCHEEL ( 1 9 4 4 ) ,

30f.

C. BROCKELMANN, Z D M G 9 4 ( 1 9 4 0 ) , 3 3 2 — 3 7 1 ; besond -rs erwähnt sei Η . Akzent und Vokalismus im Althebräischen (Oslo 1 9 4 0 ) = BIRKELAND. • Ugaritic Handbook (Rom 1 9 4 7 ) = GORDON.

BIRKE -

[223]

Probleme der hebräischen Grammatik

17

scher Dialekt Nordsyriens. Damit erhalten wir, trotz allen noch vorhandenen zahlreichen Unklarheiten, einen bisher ungeahnten Einblick in den Reichtum des Kanaanäischen um die Mitte des 2. Jahrtausends vor Christus l . Einen zweiten bedeutsamen und die Forschung vor zahlreiche neue Fragen stellenden historischen Haftpunkt bieten die Funde von 'Ain Feschcha, von denen die ältesten wohl noch dem II. Jh. v.Chr. angehören 2 . Hier stehen wir naturgemäß erst am Beginn der Auswertung. Aber einiges läßt sich schon heute mit ziemlicher Sicherheit sagen. So führen diese Texte, von denen bisher eine Jesajahandschrift und der Kommentar zu Habakuk — beide im Besitz des syrischen St. Markus-Klosters zu Jerusalem — veröffentlicht worden sind 3 , das stellenweise durchvokalisierte Hebräisch zum Teil in Formen vor, wie sie noch in der Überlieferung der Samaritaner 4 , unter gewissen Modifikationen in den Pausalformen der masoretischen Überlieferung b , daneben aber auch in einzelnen Bildungen des Konsonantentextes vorliegen, die von den Masoreten nicht mehr verstanden, daher unrichtig oder zumindest auffällig vokalisiert wurden®. Hierzu kommen schließlich die weiteren Forschungsergebnisse P. KAHLES, die neuerdings wieder das unverm nderte Interesse auf den vormasoretischen Zustand des Hebräischen lenken, wie er als solcher in der Sekunda, der zweiten Kolumne der Hexapla des Origenes7, sowie in den biblischen und liturgischen Texten mit palästinischer Vokalisation begegnet8. Diesen dreifachen, historisch gegebenen Tatbestand muß heute eine grammatische Darstellung des Hebräischen berücksichtigen, will sie mehr sein als ein auf dem textus receptus fußendes Schulbuch9. 1

Zur Literatur vgl. W.BAUMGARTNER, Theologische Zeitschrift 3 (Basel 1947),

81—83. 1

Zur bisherigen Diskussion vgl. J. HEMPEL, NGW, Phil.-Hist. Klasse (1949), 411—438. 3 The Dead Sea Scrolls of St. Mark's Monastery I, ed. M. BURROWS (New Heaven 1950). 1 Zuerst von P. KAHLE, ThLZ 74 (1949), 92 festgestellt; vgl. auch seinen Aufsatz, Bertholet-Festschrift 1950, S. 281 ff., und F. DIENING, Das Hebräische bei den Samaritanern 5

(1938).

In der Pausa hat sich bekanntlich vielfach älterer Pänultimadruck erhalten;

v g l . G. BEER-R. MEYER, H e b r ä i s c h e G r a m m a t i k I ( G ö s c h e n 1951), § 21, 3 b .

' Siehe unten S. 233 f. 7 Die Formen der noch immer unveröffentlichten Sekunda-Fragmente sind zuletzt ausführlich behandelt von E. BRBNNO, Studien über hebräische Morphologie und Vokalismus (1943) = BRÖNNO. ' Masoreten des Westens II (1930); The Cairo Geniza (London 1947); vgl. J. HEMPEL, ZAW 61 (1945/48), 249—252. * Mit Recht macht P. KAHLE, The Cairo Geniza 77f., darauf aufmerksam, daß

18

Probleme der hebräischen Grammatik

[224]

Aber auch jede Sprachtheorie ist hieran auf ihre Möglichkeiten und Grenzen zu messen. Im folgenden soll an einigen Beispielen die gegenwärtige Situation der Forschung verdeutlicht werden. Durch das Bekanntwerden des Ugaritischen hat sich ein ziemlich klares Bild von der geschichtlichen Stellung des Hebräischen ergeben. Wenn es sich nach fast allgemeiner Annahme im Ugaritischen nicht um eine für sich bestehende »Sprache«, sondern um einen altkanaanäischen Dialekt handelt, sofern man diesen Begriff nicht zu eng faßt x , dann erhalten wir hierdurch einen bedeutsamen Aufschluß über den Aufbau des Kanaanäischen. Danach ist die »Sprache Kanaans«8, wie schon längst anerkannt, ein zur Zeit der Landnahme Israels bodenständiges Idiom, das in verschiedene Dialekte bzw. Dialektgruppen aufgegliedert ist 3 . Auch das Hebräische fügt sich in diesen Rahmen ein. Es stellt eine Dialektgruppe dar, in der wir infolge weitestgehender Verwischung der Unterschiede durch die Tradition Nordisraelitisch und Judäisch gerade noch unterscheiden können. Solange das Hebräische wirklich lebte und Umgangssprache war, hatte es an der Entwicklung der Gesamtsprache seinen individuellen Anteil. Bezeichnet man das Ugaritische als Nordkanaanäisch, so gehört Hebräisch zusammen mit den Glossen der El-Amarna-Korrespondenz, dem Phönikischen und Moabitischen zur südkanaanäischen Gruppe4. Dadurch, daß wir nunmehr zweifelsfrei das Hebräische in das altkanaanäische Dialektsystem einordnen können, ergibt sich als notwendige Folge, daß es am Ugaritischen als dem Vertreter einer früheren Sprachstufe sowohl hinsichtlich der gegenseitigen Verwandtschaft als auch bezüglich der Unterschiede zu messen ist 5 . Im Ugaritischen stellt sich die Sprache Kanaans in einer Vielfalt der Formen vor, die auf eine reiche Entwicklungsmöglichkeit hinweist. So begegnet hier eine vollausgebildete Präformativkonjugation mit dem Indikativ jaqtulu, dem Subjunktiv \aqtula, dem Kurzimperfektum/ Jussiv iaqtul und dem Energicus \aqtulan{na)e, wozu vielleicht noch unsere auf dem textus receptus aufgebauten Grammatiken nicht in jedem Falle auf dem Ben Ascher-Text unserer B H K 3 anzuwenden sind; zu Diskrepanzen, z. B. in der Meteg-Setzung vgl. BEER-MEYER I, § 16, 2. 1 Vgl. W. BAUMGARTNER, Theologische Zeitschrift 3, 82. » Jes. 1918. 3

BEER-MEYER I ,

§ 4.

* Nur für diese südliche Gruppe gilt der Lautwandel ä > e, der also nicht gesamtkanaanäisch ist; BEER-MEYER I, § 2 3 , 1 . 8 Die Verhältnisbestimmung muß also genau den umgekehrten Weg wie die Entzifferung der Texte einschlagen. ' Von hier aus ist auch die Frage des sog. Nun energicum neu aufzunehmen; so will BERGSTRÄSSER die η-Formen des suffigierten Imperfekts und Imperativs noch der Lehre vom Pronomen zuweisen; vgl. GBe II, § 6g.

[225]

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Probleme der hebräischen Grammatik

ein Präsens/Futur iaqat(t)al kommt, wenn H . B A U E R mit seiner entsprechenden Vermutung recht hat 1 . Das gleiche gilt auch von der Afformativkonjugation, die nicht nur die neutrischen Stative, sondern auch die aktivische jato/a-Bildung enthälta. Ein Blick in die Syntax des Verbums zeigt das Fließen der modalen Grenzen, d. h. das Konkurrieren und Parallellaufen verschiedener Formen 3 , damit das Jugendstadium einer Sprache. Vergleicht man diesen altkanaanäischen Dialekt mit dem Althebräischen, soweit es sich aus dem Konsonantentext erschließen läßt, so ergibt sich als allgemeiner Grundzug, daß das Kanaanäische etwa seit 1200 v. Chr. einen Wandel im Sinne der Vereinfachung erfahren haben muß. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Nominalflexion. Ugaritisch unterscheidet man beim Nomen drei Numeri: Singular, Plural und einen allgemein gebrauchten Dual. Der Singular hat drei Kasus: Nominativ, Genitiv und Akkusativ. Dual und Plural verfügen je über einen casus rectus, den Nominativ, und einen casus obliquus, Genitiv/Akkusativ, ganz wie wir es vom Akkadischen oder Arabischen her gewöhnt sind. Das Verhältnis zwischen ugaritischem und hebräischen Nomen ergibt sich aus folgender Übersicht, wobei letzteres der Einfachheit halber in tiberischer Gestalt wiedergegeben ist 4 . Sing.: Du. abs. cstr. PI. abs. cstr.

Nom. ugar. Gen. Akk. Nom. cas. obl. Non. cas. obl. Nom. cas. obl. Nom. cas. obl.

* täbu * täbi * täba * tabämi * täbemi * täbä * tobe

hebr.

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* täbüma * täbima

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* täbü • täbi

I tobe

Der Vergleich zeigt den Wegfall der Kasusendungen beim hebräischen Nomen im Singular, so daß eine Flexion nicht mehr erkennbar und seine syntaktische Stellung nur aus dem Zusammenhang zu erschließen ist. Im Dual, hebräisch nur noch rudimentär vorhanden, ebenso im Plural hat sich der casus obliquus als Einheitskasus durchgesetzt, natürlich auch hier unter Verlust des Auslautvokals. An die alt1 Die alphabetischen Keilschrifttexte von Ras Schamra (1936), 67 Anm. 1; zu diesem sehr umstrittenen Problem vgl. GORDON, 60 Anm. 3. 1

BEER-MEYER I , § 3, 2 d .

a

C. BROCKELMANN, O r i e n t a l i a 10 (1941), 2 2 7 — 2 3 1 ; GORDON, § 13, 2 2 ß .

4

N a c h GORDON, 119.

20

Probleme der hebräischen Grammatik

[226]

kanaanäische volle Kasusflexion erinnert noch der palästinische Ortsname Pnuel/Pniel, panü ili bzw. pant ili »Antlitz Gottes«; in dieser Genitivverbindung begegnet zwar noch der Nominativ neben dem casus obliquus, aber der Sprachgebrauch zeigt, daß der Kasusunterschied nicht mehr empfunden wird 1 . Hieraus folgt, daß das Hebräische auf einer jüngeren Stufe der Entwicklung steht, damit aber keineswegs jene direkte Verbindungslinie zwischen Hebräisch und Akkadisch gezogen werden kann, wie dies von H . BAUER und P . L E 2 ANDER für die angebliche ältere Schicht des Hebräischen versucht wird . Das Eindringen der israelitischen Stämme in den kanaanäischen Raum und :hr Hineinwachsen in Kultur und Sprache des Landes legen infolge des konservativen Charakters der Wüstenbewohner aller Zeiten 3 die Frage nach Restitutionsformen nahe 4 . Solche lassen sich in der Tat auf dem Gebiete des Lautstandes nachweisen. Als Beispiel ist die Geschichte der Diphthonge besonders aufschlußreich. Bereits altkanaanäisch ist die Kontraktion > δ und ai > e\ so etwa ugaritisch bt = *betu < *ba\tu »Haus« oder Mt = *Mötu dibar, jiqtol > iiq(Sl in die Zeit nach 'Ain Feschcha, also in die Periode des Verfalls der hebräischen Aussprachetradition gehören. * J. HEMPEL, N G W (1949), 432.

* Jes 6 4 ; 4 8 u . * BEER-MEYER I ,

§ 1 3 , 2.

24

Probleme der hebräischen Grammatik

[230]

So handelt es sich bei den Tradenten dieser Texte wohl um Leute, die zwar selber aramäisch sprachen, daneben aber über eine lebendige, d. h. kontinulierliche Tradition ihres kanaanäischen Sakraldialekts verfügten. Dies zeigt sich besonders dort, wo ungeläufige und antiquierte Ausdrücke durch gängige Wörter ersetzt werden. Als aufschlußreiches Beispiel sei Jes 9 16 angeführt. Hier stehen nach dem Konsonantentext parallel gegenüber: arrv »6 n w xb Die Tiberier interpretieren den vorliegenden Text mit lö iiimah — lö i^rahem »er freut sich nicht — er erbarmt sich nicht«. Längst wurde erkannt, daß hier eine stilistische Härte vorliegt1. Nun lautet der Text von 'Ain Feschcha: lö' ihm(o)l2 — lö' irhm »er schont nicht — er erbarmt sich nicht«. Dieser Sachverhalt muß folgendermaßen erklärt werden: 'Ain Feschcha setzt den gleichen Text voraus wie die Tiberier; aber die richtige kanaanäische Wurzel Samah (vgl. arab. samuha) »schonen« ist noch bekannt, nur wird sie, weil bereits ungeläufig, durch die gängige Wurzel hml ersetzt3. Die Tiberier, die nicht mehr über diese kontinuierliche Tradition verfügten, fühlten sich zwar stärker an den überlieferten Konsonantentext gebunden, interpretierten ihn aber völlig falsch als lö ii&mah mit ί statt £ und störten damit den stilistischen Aufbau des Verses. Die nächste Periode des Hebräischen, die schon nachchristlicher Zeit angehört, ist gekennzeichnet durch einen großen Verfall des Lautsystems, der ohne einen radikalen Einbruch der aramäischen Koine nicht zu verstehen ist. Gekennzeichnet ist dieser Verfall durch eine weitgehende Laryngalelision4, durch eine ziemlich allgemeine Spirierung der Explosivlaute6, sowie eine starke Elision der Auslautvokale beim Pronomen, beim Afformativ 2. M. Sg. des Perfektums und bei den Pronominalsuffixen 2. M. und F. Sg., 3. F. Sg., 2. und 3. M. F. im Plural. Über diesen Stand geben uns die Sekunda sowie die biblischen und liturgischen Fragmente in palästinischer Punktation hinreichend Aufschluß6. So erscheint jetzt die altkanaanäische 1 2

B H K 8 z. s t . Mit nachträglicher Einfügung des Vokalbuchstabens.

3

V g l . M. BURROWS, B A S O R 1 1 3 ( 1 9 4 9 ) ,

4

P. KAHLE, The Cairo Geniza, 86—96; vgl. BEER-MEYER I, § 22, 3.

27.

6

P . KAHLE a. a. O., 1 0 2 — 1 0 8 ; BEER-MEYER I, § 13, 2.

6

P . KAHLE a. a . O.

95—102.

[231]

Probleme der hebräischen Grammatik

25

Form *Sammahtä1 bei Origenes als σεμ(μ)εθ2 mit Elision des auslautenden α sowie des mit h zusammengefallenen h am Silbenschluß. Der kanaanäischen Form iaddkä entspricht ιαδαχ in der Sekunda 3 , während zu >elohekimmä'1 der Bildung nach das Suffix 3. M. PI. — ηεμ (tib.-ehaem) 6 zu vergleichen ist. Natürlich bleiben auch in dieser Periode ältere Formen rudimentär erhalten, da vom Hebräischen ebensowenig wie von einer anderen Sprache Folgerichtigkeit erwartet werden darf. Das gilt ζ. B. vom Afformativ 2. M. Sg. des Perfektums ebenso wie von zeitweiligen Überbleibseln der Laryngale®. Daher nimmt es nicht wunder, wenn das Bild, das sich aus den Mercatischen Fragmenten ergibt, bei aller Begrenztheit des Wort- und Formenschatzes ziemlich bunt ausfällt. Aber aufs ganze gesehen behält P. KAHLE unbedingt recht, wenn er die starke Verschleifung in der Sekunda und den Fragmenten mit palästinischer Punktation für ausschlaggebend ansieht. Man kann fragen, wie es gekommen ist, daß das Althebräische als Sprache der heiligen Schriften, dabei nicht einmal akademische Sprache wie das Mittelhebräische, derart in den Strudel der Entwicklung hineingerissen worden ist. Vielleicht wird man eine Antwort in folgender Richtung suchen müssen: Die mit dem Untergang der altjüd sehen Theokratie verbundene Krise von 70—150 n. Chr. hatte nicht nur die Begründung des palästinischen Patriarchats auf dem ideellen Boden des synagogalen Heilsinstituts zur Folge, wodurch die pharisäisch-rabbinisChe Theologie zur Alleinherrschaft kam, sondern diese fast drei Menschenalter währende Kriegs- und Verfolgungszeit brachte das wiederholt geschlagene Judentum Palästinas besonders in seinen maßgebenden Kreisen bis an den Rand des physischen Untergangs. Damit muß auf allen Gebieten ein geradezu ungeheures Abreißen der Tradition verbunden gewesen sein. So liegt die Annahme nahe, daß mit dem Tode unzähliger führender Männer und im Gefolge der dauernden Behinderung des akademischen Betriebes auch die philologische Tradition über die Aussprache des Kanaanäischen, wie sie noch die Schreiber von cAin Feschcha besaßen, weithin in Vergessenheit geraten war. Man sah sich also bei der Aussprache des überlieferten Textes im wesentlichen auf seine aramäische Koine .angewiesen, wollte man nicht be. seinen samaritanischen Glaubensfeinden, die besser davongekommen waren, Hilfe suchen. 1 2 3

1

Zur Wurzel imf> vgl. G O R D O N , 273 Nr. 1954. Ps 30 2; der Ausfall des zweiten μ ist wohl Schreibfehler. P . KAHLE a . a . O . ,

95.

j e s 4 0 1 : MT. DSYISK, A. F. NNRMB«. S BR0NNO, 291. • Solche Formen mochten später, in der Zeit der »Sprachreform« durch die Masoreten, als die »richtigen« erscheinen.

26

Probleme der hebräischen Grammatik

[232]

So fanden die Masoreten Palästinas und Babyloniens, puristisch gesehen, eine reichlich »verwilderte« Sprache der heiligen Schriften vor, als sie daran gingen, unter dem Einfluß dogmatischer Notwendigkeiten dem Hebräischen eine feste Gestalt zu geben. Die Geschichte der Fixierung durch verschiedene Systeme hat P. K A H L E einleuchtend herausgestellt; ebenso den maßgeblichen Einfluß der nestorianischen Gelehrsamkeit und der islamischen Koranphilologie. Das bedeutet aber, daß es nicht mehr möglich ist, die Tätigkeit der Masoreten aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu lösen. Vielmehr muß die Hebraistik damit rechnen, daß es sich in der masoretischen Sprachfixierung um einen breit dahinfließenden Strom philologischer Renaissance handelt, die, durch apologetische Bedürfnisse angeregt, ihre Normen von außen bezog und ihre Parallelen auf literarischem Gebiet in der jüdischen Dichtkunst der islamischen Zeit hat, die ja in gleicher Weise unter arabischem Einfluß steht. Das tiberische System aber ist nur eines der untereinander konkurrierenden Unternehmen, das sich schließlich durchgesetzt hat und infolge seiner Alleinherrschaft bis in die Gegenwart hinein ein durchaus einseitiges Bild vom Hebräischen und seiner Geschichte vermittelt. Wie jede Renaissance, so hat auch die masoretische Sprachfixierung darin ihre Grenzen, daß die so gewonnene neue Form durchaus nicht der ursprünglichen Gestalt des einst gesprochenen kanaanäischen Idioms in jedem Falle entspricht. Gewiß vermitteln uns die Masoreten alte und älteste kanaanäische Formen 1 . Aber daneben gibt es junge Restitutionsgebilde; so etwa, um an oben Gesagtes anzuknüpfen: *iammahtä > σεμ(μ)εθ > tib. ümmahtä. Ähnliches gilt überhaupt von der Wiederherstellung der Kehllaute, bei der der aramäische, vielleicht auch griechische Artikulationsstand so stark nachwirkt, daß das arabische »Ideal« bei den einfachen Lauten nur teilweise, in der Geminierung aber überhaupt nicht erreicht wurde 2 . Auf philologischer Reflexion beruht weiterhin die von den Syrern übernommene Regel von der doppelten Aussprache der b gdk-pt, schematisierend schließlich ist die Festlegung des Druckes auf der Ultima besonders im Kontext. Hierdurch ergaben sich für die Verteilung der Vokalquantitäten einschneidende Folgen, die der Sprache weithin ein unkanaanäisches Aussehen gaben. So haben wir etwa nach Restitution des Endvokals beim Suffix -kä seit c Ain Feschcha folgendes Entwicklungsbild: iaddkä>iadak > tib. iädckä, während in der Pausalform i&dmkä noch die kanaanäische Drucklage erkennbar ist. 1

Siehe oben S. 226. Von hier aus wird der unglaubliche Wirrwarr in bezug auf »virtuelle Verdoppelung« und »Ersatzdehnung« verständlich. 2

[233]

Probleme der hebräischen Grammatik

27

Es versteht sich von selber, daß die Sprache, etwa unter dem Einfluß übermächtiger Schultraditionen, kultischer und dialektischer Gewohnheiten nicht gleichmäßig dem gelehrten Schematismus unterzuordnen war. Dazu kommt, daß die Masoreten den überlieferten Konsonantentext zuweilen nicht verstanden, hatten sie doch längst keine Beziehungen mehr zu dem weit über ein halbes Jahrtausend auch in der Schultradition ausgestorbenen Kanaanäischen 1 . Aus diesen Schwierigkeiten heraus ist etwa die merkwürdige Mischform iStap, zu verstehen, die auf den ersten Blick weder als kanaanäisch noch auch als aramäisch zu interpretieren ist 2 . Ihr Verhältnis zum Hebräischen von *Ain Feschcha, dem Aramäischen und der Sekunda ergibt sich aus folgender Übersicht: A. F. qatdlü

syr. qetdl(u)

Sek. qatlu

qataluni

qatlün{i)

tib. q&tälü (Pausa) qätHü (Kontext) qetälwni.

Die Pausalform steht in einer Linie mit kanaanäischem qatdlü und der aramäischen Bildung, die bekanntlich hier den Pänultimadruck erhalten hat. Für die tiberische Kontextform sollte man vom Kanaanäischen her die Bildung qHalu < qatalu < qatdlü erwarten. Sie begegnet denn auch folgerichtig in der suffigierten Form qatalu-, nicht jedoch im Kontext. Hier bietet sich nun als Parallele die Sekundaform qattu3. Diese setzt ihrerseits die aramäische Entwicklung qatdlü > qatalu > qatlu voraus, die in der Tat beim aramäischen suffigierten Verbum als qatlu- vorkommt. Damit steht eine aramäische Nebenform qatlu pausalem qätälü gegenüber, und die Kontextform qätdu erweist sich in der Tat als ein auf ausgleichender Reflexion beruhendes künstliches Kompromißgebilde 4 . In II Sam 23 β lautet der Konsonantentext ante »sie insgesamt«; seine Deutung ist klar: Endvokalwegfall und Elision von innervokalischem h, das, wenn es in historischer Schreibweise weitergeführt wird, als Vokalbuchstabe dient. So ist klhm als kulläm < *kullahimmä zu lesen. Tiberisch wird das h restituiert, ohne daß freilich die alten Silbenverhältnisse wieder hergestellt werden, und es entsteht unter Pausaldruck die Unform kullähamIn einem zweiten Fall, I Reg 7 37, ist ,ur6a überliefert, aus dem kanaanäisches *kullahinnä unschwer zu erschließen ist. Den Tiberiern hat nun offensichtlich eine Ausspracheform vorgelegen, in der der Auslautvokal rudi1 2 3 4 5

Vgl. P. KAHLE, The Cairo Geniza, 93f. Mit Recht von BIRKELAND, 69 als »Kompromißprodukt« bezeichnet. Vgl. die bei B R 0 N N O , 22 angeführten Formen; ζ. Β. ταμνου tib. (Ps 31 i). Anders BLe I, § 2w. BEER-MEYER I ,

§ 46, 3c.

28

Probleme der hebräischen Grammatik

[234]

mentär weiterlebte, dagegen innervokalisches h elidiert war, so daß sich *kulläna hätte ergeben müssen1. Wieder wirkt sich, freilich mechanisch, die Kehllautrestitution aus, und es entsteht unter pausalem Druck kullähnä2. Sowohl die Mischform qät4u, die zum Abc jeder Schulgrammatik gehört, wie die angeführten Absonderlichkeiten beweisen den Verlust der lebenden kanaanäischen Tradition, über die die Schreiber von 'Ain Feschcha noch verfügten. Die wenigen Beispiele, die aus den großen Perioden der hebräischen Sprachgeschichte angeführt wurden, zeigen zur Genüge, daß die These von der historischen Zuverlässigkeit etwa des tiberischen Systems im alten Umfang nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Dieses System enthält, ebenso wie jedes andere konkurrierende masoretische System, gewiß altes Gut. Aber daneben stehen jüngere sprachliche Erscheinungen, Schultraditionen und auf kultischen Erfordernissen beruhende Eigentümlichkeiten, alles dies zusammengefaßt in dem großen Restitutionsversuch der Masoreten, der den Verfall der Sprache der heiligen Schriften wettmachen sollte, sein Ziel aber nur teilweise erreichte, da eine Beziehung zum Kanaanäischen nicht mehr bestand. Es fragt sich daher, ob die sprachgeschichtliche Methode mit dem Entzug dieser Basis für die Darstellung des Hebräischen überhaupt noch in Frage kommt3. Ganz abgesehen davon, daß diese Methode mit ihren Meisterleistungen den Weg exakter Forschung und wissenschaftlich-strenger Darbietung des Stoffes gewiesen hat, wird sie auch in bezug auf Einzelergebnisse ohne allen Zweifel weiterhin ihren Wert behalten. Gewiß, sie muß sich des bisher geübten, die Sprache in ihrer Geschichte zu einfach sehenden genetischen Schematismus entkleiden lassen. Aber diese Korrektur, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, neue Erkenntnisse zu verarbeiten, stellt andererseits eine wesentliche Bereicherung dar. Denn sie verhilft dazu, das Hebräische in seinen geschichtlichen Relationen und damit zugleich in seiner Beziehung zu den Menschen zu begreifen. In gewissem Sinne steht also heute die grammatische Forschung wieder einmal an einem Anfang. Ihre erste Aufgabe ist, das Hebräische in einer Renaissance-Gestalt erfassen zu müssen, die dem zeitigen Mittelalter angehört. Sie muß sich also vorerst damit bescheiden, daß die masoretische Sprachfixierung ebenso das Ergebnis einer »Sprachreform« darstellt wie die frühislamische Koranphilologie oder die gelehrte Festlegung des Syrischen4. Aber darüber hinaus 1

Dem entspricht etwa "JKä »ihre Ankunft« (Jer 8 7).

A

BEER-MEYER a . a. O .

Vgl. die scharfe Kritik von J. FÜCK, O. Eißfeldt-Festschrift (1947), 125—140. Reflexion über die eigene Sprache ist allem Anschein nach den semitischen Völkern seit je eigen. So wies mich W . v . SODEN (Archiv OrientälniXVII [1949] 359 ff.) 3

4

[235]

Probleme der hebräischen Grammatik

29

hat die Hebraistik auf Grund des erschlossenen älteren, bis in die Zeit des Altkanaanäischen hinaufreichenden Materials die Möglichkeit und zugleich die Aufgabe, trotz allen noch verbleibenden Lücken den Weg zurückzuverfolgen, den das Hebräische von seinem Auftauchen in der Geschichte als Dialekt bzw. Dialektgruppe des Kanaanäischen bis zum Einbruch des aramäischen Systems und darüber hinaus bis zur gelehrten Restitution durch die untereinander konkurrierenden Systeme der Masoreten zurückgelegt hat. (Abgeschlossen am 8. September 1950.) darauf hin, daß bereits hinter der Sprache Hammurabis (1728—1686) ein Stück Sprachreform steckt. Aber auch sonstige Erscheinungen zeigen starkes Reflexionsvermögen über sprachliche Dinge. So hat man sich die sog. »ursemitischen« Vokale a, i, u nicht etwa als Grundstock für die »Entwicklung« eines Vokalsystems vorzustellen. Sie drücken vielmehr die größtmögliche Abstraktion des Vokalismus im Sinne von Grenzwerten aus, zwischen denen alle Abstufungen Platz haben. Man schreibt in Ugarit zwar Alef mit a, »', u, aber in der Sprache selbst verfügt man nachweisbar auch Uber c und o. Der gleichen Abstraktionsfähigkeit isc die Entstehung des westsemitischen Buchstabenalphabets zu verdanken, das mit zu den entscheidenden Kulturtaten der Menschheit gehört.

[225]

ZUR GESCHICHTE DES HEBRÄISCHEN VERBUMS1) Gustav Hölscher %um 75. Geburtstage. Die Diskussion über Charakter und Eigenart der Handschriften von l Ain Feschcha wird in Anbetracht der immer neuen, teilweise aufsehenerregenden Grabungsergebnisse noch geraume Zeit währen 2 ). Gleichwohl erscheint es berechtigt, nachdem sich die dogmatisch bedingte These, es handele sich um mittelalterliche Fälschungen, als gegenstandslos herausgestellt hat, bereits jetzt an die Einzelauswertung des Materials zu gehen. Hierbei wird man allerdings gut tun, die verschiedenen Untersuchungsweisen nicht vorzeitig miteinander zu verquicken; vielmehr ist es methodisch ratsam, erst nach Durchführung der Einzeluntersuchungen die erzielten Resultate zu vergleichen und auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Schon ein erster Blick in die Handschriften zeigt, dass neben anderen Methoden auch eine sprachlich-morphologische Untersuchung des Materials ihre volle Berechtigung hat 3 ). Eine solche Untersuchung mag nur demjenigen als überflüssig, wenn nicht als widersinnig erscheinen, der von jener nicht mehr haltbaren These ausgeht, wonach das tiberische System im allgemeinen den logischen Abschluss einer im wesentlichen einheitlichen hebräischen Sprachgeschichte bilde *). Darüber hinaus aber darf man noch einen Schritt *) Vorliegender Aufsatz stellt ein um die Anmerkungen ergänztes Referat dar,, das auf dem XII. Deutschen Orientalistentag am 31. Juli 1952 in Bonn infolge Verhinderung des Verfassers durch Herrn L. ROST verlesen wurde. 2 ) Vgl. zum Stand der Forschung J. HEMPEL, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 1 0 1 ( 1 9 5 1 ) , 1 3 8 - 1 7 3 , und die daselbst angegebene Literatur; P . KAHLE, Die hebräischen Handschriften aus der Höhle ( 1 9 5 1 ) . Des weiteren orientiert laufend unter der Artikelreihe „Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften": Theologische LiteraturLeitung ab Band 7 4 ( 1 9 4 9 ) . 3 ) Vgl. R. MEYER, ThLZ, 75 (1950), 722-726. ') Vgl. R. MEYER, Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 63 (1951), 221-235.

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

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31

weiter gehen. Wer eine Grammatik des tiberischen Systems schreiben will, kann dies aufgrund des Überlieferungsmaterials nicht unbesehen tun; er muss vielmehr die mancherlei Unterschiede beachten, die zwischen dem Textus receptus und dem Ben Ascher-Texte bestehen Von hier aus erscheint es auch als das Gegebene, dass man bei einer morphologischen Untersuchung des Handschriftenmaterials jede einzelne Rolle zunächst einmal für sich in Angriff nimmt. Wieweit es möglich ist, ein sprachliches Gesamtbild zu entwerfen, kann erst der Abschluss der Einzeluntersuchungen zeigen. Von den bisher bekannt gewordenen Texten 2) ist ohne Zweifel die Jesaja-Handschrift DSIa, wie P . K A H L E seinerzeit mit genialem Scharfblick erkannte 3 ), sprachlich die interessanteste. Zwar verkörpert sie allem Anschein nach keinen einheitlichen Sprachtypus, aber sie weist eine Fülle von relativ eindeutig vokalisierten Formen auf, an denen die Sprachforschung unmöglich gleichgültig vorübergehen kann. Aus einer Untersuchung, die demnächst das gesamte sprachliche Material dieser Handschrift vorlegen soll, seien hier nur einige Bemerkungen geboten, die sich auf die Geschichte des hebräischen Verbums beziehen. Dasjenige, was die Handschrift DSIa auszeichnet und worauf man bereits bei ihrem Auftauchen aufmerksam wurde, ist die besonders in ihrer zweiten Hälfte stark hervortretende Vokalisation durch die Buchstaben Alef, He, Waw und Jod, die man in Bindung an die herkömmliche tiberische Grammatik gern als Pleneschreibung bezeichnet. Für die Erschliessung der Ausspracheform von AF. nun ist es notwendig, sich einiges über Wesen und Alter der sog. Pleneschreibung vor Augen zu führen. Die masoretische Regel, die allerdings im AT. keineswegs konsequent durchgeführt ist, lautet, dass jeder naturlange Vokal durch einen Vokalbuchstaben zu bezeichnen ist; ausgenommen ist nur Alef, das im Wortinnern meist wegfällt 4). Doch dies ist eine sehr späte Regel, und man darf nicht ohne weiteres annehmen, dass sie in einer Handschrift angewendet ist, die in dem Zeitraum von 167 v. Chr. bis 233 n. Chr. angefertigt sein muss 6 ) und die einer Sammlung ) V g l . hierzu e t w a BEER-MEYER, Hebräische Grammatik, I (1952), § 16, 2. ) M . BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark's Monastery, I (1950), I I , 2 (1951). 3) ThLZ, 7 5 (1949), 91-94. 4 ) BEER-MEYER, I, § 9, 3. r

2

6

) Aufgrund der Untersuchung des Hüllengewebes auf radioaktives C 14;

v g l . J . HEMPEL, ZDMG,

101 (1951), 171.

32

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

[227]

entstammt, die dem 1. oder 2. Jh. n. Chr. angehört 1 ). Nun können wir allerdings über die Geschichte der Vokalisierung hebräischer Texte noch einiges mehr sagen. Im Rahmen des Kanaanäischen, von dem ja das sog. Hebräische nur eine Mundartengruppe neben anderen darstellt, hat das Ugaritische, abgesehen vom vokalhaltigen Alef, keine Vokalbuchstaben 2). Ebenso begegnet im ältesten Phönikisch noch eine im wesentlichen reine Konsonantenschrift 3 ). Dagegen kommen wir mit dem Gebrauch von Vokalbuchstaben im Hebräischen wie im Moabitischen ziemlich weit zurück. Er ist in einer Zeit nachweisbar, die noch um Jahrhunderte vor jedem griechischen Einfluss bezügl. des Vokalgebrauchs liegt. Die Entstehung der Vokalbuchstaben ist bekannt: Ihren Ausgangspunkt haben sie dort, wo sie ihren Konsonantenwert verloren haben und nur noch im Buchstabengefüge historisch mitgeführt werden 4 ). Aber von der Frage nach der Entstehung ist diejenige nach dem Gebrauch zu trennen. Verwendet werden die Vokalbuchstaben zur Unterscheidung buchstabengleicher Wörter und zur Sicherung einer bestimmten Aussprache. Daher können wir schon auf den ältesten Urkunden feststellen, dass keineswegs jeder Vokalbuchstabe auch etymologisch erklärt werden kann. So schreiben die Jerusalemer Tunnelarbeiter um 701 v. Chr. in der bekannten Siloah-Inschrift löd für ld „noch" und unterscheiden durch u den Begriff ld = löd „Dauer" von (d = cad „bis" 5 ). In dem Brief eines judäischen Festungskommandanten an seinen Vorgesetzten in Lachis, etwa aus dem Jahre 588 v. Chr., lesen wir die Form Λ " , in der der Vokalbuchstabe h = α die Lesung "du weisst" sicherstellt und damit die alte Form der 3. F. Sg. Perf. idlt = iada'at ausschliesst 6 ). Natürlich werden derartige Vokalbuchstaben nur dort gesetzt, wo man sie benötigt, oder zu benötigen glaubt; feste Regeln gibt es hierbei nicht. Historische Erwägungen, wie sie weit später in der syrischen Schreibweise eine Rolle zu spielen scheinen, lassen sich in dieser frühen Zeit nicht beobachten. Daher begegnet z.B. in den samarischen Wirtschaftstexten, die wohl aus der Zeit des Königs Vgl. zum Alter des essenischcn „Klosters" Chirbet Qumrän jetzt L. ROST, ThLZ, 77 (1952), 277-280. 2)

C . H . GORDON, Ugaritic

3)

J. FRIEDRICH, Phönikisch-punische

Handbook

(1947), § 4.

Grammatik

(1951), § 67; doch vgl. BEER-

MEYER, I, § 2 2 , 3 b. 4 ) BEER-MEYER, I, § 9, 2 . 5 ) Vgl. K. GALLING, Textbuch zur Geschichte ·) Ebenda, 63.

Israels (1950), 59.

[228]

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

33

Joas (802-787) stammen 1), das Wort in "Wein", das nur ien gesprochen werden kann und uns beweist, dass der Status absolutus ien zur gesprochenen Sprache des 8. Jhs. v. Chr. gehört, mithin also die Fortsetzung altkanaanäischer Aussprachetraditionen darstellt 2). Wenn uns also im Mittelhebräischen ein ausgedehnter Gebrauch von Vokalbuchstaben entgegentritt, so liegt hier ohne Zweifel älteste jüdische Tradition vor, die wohl durch den griechischen Vokalismus in ihrem weiteren Ausbau angeregt ist, keinesfalls aber ausschliesslich auf griechischen Einfluss zurückgeht. Für die Vokalisation des Mittelhebräischen, d.h. für die Texte der tannaitischen Zeit, gilt eine leider bisher zu wenig beachtete Regel, die bereits K. A L B R E C H T fixiert hat 3 ): "Auch die kurzen Vokale /, u, ο sind in Handschriften und Drucken oft durch Waw und Jod ausgedrückt." Darüber hinaus begegnet Alef nicht nur im Wortauslaut neben He, sondern auch im Wortinnern zur Bezeichnung von a; z.B. bn'i — bannai "Baumeister". Auch lAjin kann als Vokalbuchstabe für α oder e eintreten. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Behandlung der Vokale in griechischen und lateinischen Lehnwörtern. Dass es sich bei diesem Vokalgebrauch nicht erst um eine mittelalterliche Angelegenheit handelt, können wir mühelos beweisen. Aus frühamoräischer Zeit, vor 250 n. Chr., stammt eine Bildunterschrift zu einer legendären Darstellung von 1 R. xviii 16-40 in Dura-Europos. Hier wird der aus 1 R. xvi 34 bekannte Name Hiel mit bi*7 = hVel umschrieben 4 ). Die Weise, in der Jod und cAjin als Vokalbuchstaben gebraucht werden, zeigt, wie volkstümlich diese Schreibart in der ersten Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. ist und zugleich, dass sie auf eine längere Tradition zurückblickt. Erwähnt werden mag in diesem Zusammenhange, dass die supralineare Vokalisation der babylonischen Juden z.B. Alef für ä und 'Ajin für ä als stilisierte Vokalzeichen gebraucht s ). Setzen wir für die volle Ausbildung des Gebrauchs von Vokalbuchstaben als allerunterste Grenze das Jahr 200 n. Chr., so ergibt sich, dass die Handschriften von cAin Feschcha gerade in einer >) Ebenda, 50. *) Vgl. hierzu BEER-MEYER, I, §22, 4c; 52,3a. 3)

K . ALBRECHT, Neuhebräische Grammatik (1913), § 6 f.

*) R. MEYER, ThLZ, 74 (1949), 35, Anm. 2; vgl. hierzu den regelmässigen Gebrauch von Vokalbuchstaben im Mandäischen, TH. NÖLDEKE, Mandäische Grammatik

(1875),

§2-12.

') Vgl. P. KAHLE in: BAUER-LEANDER, Historische Grammatik der hebräischen Sprache, I (1922), § 7a'.

34

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

[229]

Periode deponiert und wohl auch gefertigt worden sind, in der die Verwendung derartiger Vokalbuchstaben durchaus üblich war. Aber dieses frühe Vokalisationssystem setzt nicht den tiberischen Vokalismus und nicht die tiberische Silbenlehre voraus. Die Vokalbuchstaben können vielmehr gesetzt werden in langen und kurzen l ), offenen und geschlossenen Silben, aber auch beim Druck und bei Drucklosigkeit. Sie dienen zur Bezeichnung der Vokalqualität und werden, mehr oder weniger regelmässig, dort verwendet, wo eine Lesung infolge Mehrdeutigkeit des Konsonantengefüges in Frage gestellt ist. Es bedeutet also einen unerlaubten Vorgriff, wenn man, wie es schon wiederholt versucht worden ist, Texte von 'Ain Feschcha mit der tiberischen Vokaüsation versieht; denn auf diese Weise zwängt man ihnen den tiberischen Vokalismus und das damit eng verbundene und keineswegs allgemeingültige tiberische Akzentsystem auf. Wendet man nunmehr die eben kurz skizzierten Feststellungen auf die Wiedergabe des Verbums in DSIa an, so zeigt sich, dass dort, wo vokalisierte Formen vorliegen, dieselben uns lehrreiche Aufschlüsse über die Geschichte des Verbums zu geben vermögen. Wir beschränken uns hier auf einige Beispiele aus dem Bereiche des starken Verbums, u.zw. lediglich auf Formen des Imperativs im Grundstamm, da die Diskussion über die Geschichte des Verbums, seine Wurzeln und seine Flexion, vom Imperativ/Infinitiv-Stamm ihren Ausgang nehmen muss. Zunächst ist allgemein festzustellen, dass die Vokalbuchstaben, wenn sie überhaupt begegnen, neben anderen hier nicht interessierenden Funktionen die Aufgabe morphologischer Differenzierung haben. So wird z.B. der aktivische Typus iaqtul als iqtul vom nicht näher gekennzeichneten neutrischen iiqtal unterschieden, desgleichen etwa vom Imperfektum Pi'el iqtl = ieqattel, während andererseits wieder das Imperfektum Hif c il als iqtil = iaqtil2) deutlich heraustritt und auch das Nif'al gelegentlich als iiqtl — iiqqatel3) besonders gekennzeichnet ist. Die Erschliessung der Formen muss sich natürlich an die Vokaüsation halten. !) Vgl. hierzu H . MICHAUD Journal Asiatique (1951), 299-310. a ) Die Hif'il-Vokaüsation ist fast durchgängig zu beobachten, was aber nach dem oben Dargelegten nicht von vornherein auch bedeuten muss, dass das so gekennzeichnete i als Länge zu sprechen sei. 3 ) So etwa tiusd = tiuuased "werde gegründet" (Jes. xliv 28) mit nachgetragenem Jod als Vokalbuchstaben.

[230]

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Zur Geschichte des hebräischen Verbums

Der endungslose Imperativ ( = Infinitiv) begegnet als qtul =q'tol, unterscheidet sich also nicht von der tiberischen Wiedergabe. Bei dieser Form erhebt sich die Frage, ob in ihr ein alter einsilbiger Stamm qtul noch erhalten ist oder ob wir hierfür den Typus qutul der herkömmlichen Anschauung anzusetzen haben. Nach B A U E R LEANDER "ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass das Protosemitische Doppelkonsonanz am Wortanfang geduldet hat" ; allerdings wird von dieser Möglichkeit bei der Darstellung der Geschichte des Verbums kein Gebrauch gemacht sondern nur mit der angeblichen Grundform qutul gearbeitet 2 ). H . BIRKELAND plädiert für den einsilbigen Imperativ-Stamm qtul, indem er in der ihm eigenen Terminologie erklärt: „Der Imperativ-Stamm muss als phonologisch einsilbig aufgefasst werden. Dass die Qualität des Vokals, der gewöhnlich nach dem ersten Konsonanten auftritt, phonologisch ungültig sein muss, ist klar" 3 ). Schliesslich neigt auch C. H. GORDON der Annahme von ursprünglich einsilbigem qtul zu 4 ). Eine Lösung dieses Problems scheint sich jetzt durch c Ain Feschcha zu bieten. Hier finden sich folgende Kontextformen mit langer vokalischer Endung: 2. F. Sg. qtuli = q'tolt·, z.B. 'buri „ziehe hindurch" (Jes. xlvii 2), 2. M . PI. qtulu = q'tölü-,

z . B . drusu

„ s u c h e t " ( J e s . i 17).

Diese Formen sind längst bekannt und bieten weder der Drucklage noch der Vokalqualität nach Schwierigkeiten, da sie tiberisch noch in der Pausa begegnen. Aber bedeutsam ist, dass z.B. q'tölü die normale Kontextform zu sein scheint. Nun kennen wir allerdings derartige Formen aus dem masoretischen Text, der bekanntlich weit über ein halbes Jahrtausend älter ist als die tiberische Sprachfixierung und dessen Gebrauch von Vokalbuchstaben, soweit sie noch vorhanden sind, durchaus den oben dargestellten Richtlinien aus älterer Zeit entspricht. Wo nun im masoretischen Text solche Formen auftauchen wie das Ketib 2. F. Sg. mluki = m'lökl „herrsche!" (Jdc. ix 12) oder das Ketib des Energicus 2. M. Sg. mlukh = m'löka „herrsche doch!" (Jdc. ix 8), begnügt man sich damit, dass die Tiberier diese Bildungen nicht anerkennen und im Qere mälka \md mälki fordern s ). Dort, wo man mit so einer einfachen Lösung *) B A U E R - L E A N D E R , 2) Ebenda, §41.

I,

386

3) H . B I R K E L A N D , Akzent 4) Ugaritic Handbook, § 9,

Anm.

1.

und Vokalismus im Althebräischen 16 Anm. 2. Vgl. etwa B A U E R - L E A N D E R , I, § 41 o.

(1940), 74

ff.

36

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

[231]

nicht auskommt, wie etwa in der altertümlichen babylonischen Form i'fotä „richte doch!" *), spricht man von pausalen Formen im Kontext und stellt sie mit diesem Etikett beiseite 2). Dass damit keine sachgemässe Einordnung oder gar Erklärung dieser Bildungen gegeben ist, liegt auf der Hand. Andererseits ist längst festgestellt worden, dass in solchen Pausalformen, die dem tiberischen Akzent- und Vokalisierungsschema zuwiderlaufen, alte Ausspracheüberlieferungen vorliegen müssen 3 ). Das bedeutet aber nichts anderes, als dass wir die tiberischen Pausalformen, was Akzent und Vokalqualität betrifft, mit den Kontextformen von 'Arn Feschcha in Verbindung bringen und in ihnen Beispiele einer alten und vormasoretischen Aussprachestufe erblicken dürfen. Die gleiche Vokalund Akzentverteilung findet sich auch im Samaritanischen 4). Hier entspricht dem q'tolü ein qetälü, wobei α für ο beim Typus iaqtul nur dialektisch bedingt ist, also keine prinzipielle Bedeutung hat. Schliesslich darf noch auf eine Kontextform vom Typus iiqtal hingewiesen werden, die uns HIERONYMUS ( F 4 2 0 n. Chr.) in hedalu überliefert und die die zeitgenössischen Juden sicher als h'ddlü ausgesprochen haben 6). Vereinzeltes εζακ[ου] „seid stark" 6) in der Sekunda des O R I G E N E S ( F um 2 5 4 n. Chr.) mag in gleiche Richtung weisen. Stellt man nunmehr die verschiedenen Flexionsreihen einander gegenüber, so ergibt sich vorerst eine solche, die wir aufgrund der älteren Textunterlagen als vormasoretisch bezeichnen wollen. Hierzu gehört zunächst DSIa. Seine Art, Vokalbuchstaben zu verwenden, entspricht dem Ketib im masoretischen Text, das daher nicht sonderlich erwähnt zu werden braucht. Daneben stehen die samaritanische und eine von uns als I bezeichnete ältere babylonische Flexion sowie die tiberischen Pausalformen, die als Besonderheit Dehnung des Druckvokals in dem Pänultimavokal aufweisen: P . K A H L E , Der masoretische Text nach der Überlieferung der babylonischen Juden (1902), 52. 2 ) Dies ist im Grunde wohl auch die Meinung G. BERGSTRÄSSERS in: G E S E N I U S 2 BERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik ', II (1929), § 14 k. 1 und g. Immerhin lässt G . BERGSTRÄSSER wenigstens die Möglichkeit gelten, dass das „Vorkommen volltoniger Formen auch ausserhalb der Pausa . . . wahrscheinlich der ursprünglichen Verteilung der Tonvarietäten" entsprechen könne; a.a.O., § 141. 3 ) Hier liegt das berechtigte Anliegen z.B. von C . STEUERNAGEL, Hebräische Grammatik*'10 (1933), mit seiner Betonung der Pausalformen. 4 ) Vgl. F . D I E N I N G , Das Hebräische bei den Samaritanern ( 1 9 3 8 ) , 2 9 . 5

) C.

SIEGFRIED, Z A W , 4 ( 1 8 8 4 ) ,

*) Tib. hi^qü (Ps. xxxi 25); Vokalismus (1940), 52.

47.

E . BRONNO,

Studien über hebräische Morphologie und

[232]

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

2. M. Sg.: DSIa.

2. F. 2. M. PI. 2. F.

q-tol ψίόΐϊ ψίόΐΰ q'tolnä

sam. qetalbabyl.

qetäli qetalü qetdlnä

(I)

ψ toi ψ Mi2) cftölü2) q'tolnä

37

ψ toi q'toli q>tolü q'tolnä

tib. Ρ.

Demgegenüber stehen die Formen der tiberischen Kontextflexion und einer jüngeren, von uns als II be2eichneten babylonischen Beugung, die einen segolierenden Stamm qitl oder qutl in 2. F. Sg. und 2. M. PI. haben: 2. M. S.: tib. Κ.

2. F. 2. M. PL: 2. F.

φ toi

qitli qitlü q'tolnä

babyl. (II) φ toi

qitli qitlü q'tolnä

Die Formen der ersten Reihe haben ihren beständigen Stammvokal nach dem 2weiten Wurzelbuchstaben. Dagegen findet sich zwischen dem ersten und zweiten Radikal ein unbestimmt gefärbter Hilfslaut, soweit man einen solchen aus Gründen der Sprachbequemlichkeit überhaupt benötigte. Das bedeutet aber, dass auf vormasoretischer Stufe der einsilbige Stamm qtul vorherrscht, dem wir auch bei den sog. umgekehrten Segolaten des Nomens begegnen. Von hier aus gesehen wird man zunächst mit aller Vorsicht feststellen dürfen, dass auf vormasoretischer Stufe der Imperativstamm qtul als primär anzusehen ist, wogegen qutl, und beim Infinitiv auch qutul, als sekundär zu bewerten sind 3). Sinngemäss gilt dies natürlich auch von qtal als neutrischem Stamm 4). Da nun diese vormasoretische Stufe des Hebräischen, wie wir an anderer Stelle gezeigt haben, eine Fülle von Formen aufweist, die nur aufgrund echter kanaanäischer Tradition zu verstehen sind 5), so darf angenommen werden, dass auch das gesprochene Hebräisch-Kanaanäisch zur Zeit der lebendigen Sprache den einsilbigen Imperativ/Infinitiv-Stamm qtul als primär gekannt hat 6 ). Die Tiberier haben von den Flexionsformen des Imperativs nur q'tol und q'tolnä anerkannt, nicht dagegen als Kontextformen vokaInfolge der Schematisierung des samaritanischen Akzents mit sekundärem Druck auf der Pänultima. 2 ) Beispiele hierfür bei P . K A H L E , Masoreten des Ostens ( 1 9 1 3 ) , 1 8 4 . 3)

V g l . BEER-MEYER, II ( 1 9 5 3 ) , § 6 8 , 2e.

Starkes qtil {qitl, qitil) ist nicht belegt; vgl. BEER-MEYER, II, § 6 5 , la. Siehe oben Anm. 3 auf S. 225. ·) Von dem starken Beharrungsvermögen des einsilbigen Imperativstammes her wird es auch verständlich, warum sich eine Fülle von zweiradikaligen, d.h. einsilbigen Imperativ-Basen erhalten hat und nicht im dreiradikaligen Schema aufgegangen ist. 4)

6)

38

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

[233]

lisch endendes q'tölü sowie den Energicus q'tölä. Mit diesen Formen wussten sie offenbar nichts mehr anzufangen; denn sie fielen rhythmisch aus dem Fluss der gesprochenen bezw. liturgisch gesungenen Sprache heraus und hatten nur noch in der Pausa bezw. bei der Fermate Platz, wo sie sich denn auch, gleichsam als Relikte einer älteren Aussprache, erhalten haben. An ihrer Stelle stehen jetzt die segolierenden Kontextformen vom Sekundärstamm qutl. Die segolierenden Formen qitli und qitlu bezw. qotli und qotlü stellen natürlich keine freien Neuschöpfungen der babylonischen und tiberischen Gelehrten dar. Sie sind älter und schon in der Sekunda des ORIGENES zu erkennen, z.B. in 2. M. PI. σιμού, tib. sim'u „hört" (Ps. xlix 2 ) A b e r diese Formen aus der Geschichte des Kanaanäischen zu erklären, geht wohl nicht an; es müsste denn sein, man postuliert im Rahmen des sog. vorhebräischen Betonungsgesetzes eine kanaanäische Akzentverschiebung, die sich freilich weder aus dem Ketib des masoretischen Textes, noch aus 'Ain Feschcha erweisen lässt 2 ). Mann muss hier vielmehr nach einem anderen Grunde suchen. Ein solcher aber scheint im Systemzwang des Aramäischen zu Hegen. Das Aramäische als tatsächliche Umgangssprache, in dieser Eigenschaft aber auf den hebräischen Sakraldialekt ständig einen Druck ausübend 3 ), hatte die Tendenz der Wortverkürzung mit dem Ziel des Ultimadruckes, der weithin durch Wegfall bildungsmässig notwendiger, langer Auslautvokale erreicht wurde; so z.B. auch in 2. M. PI. q'tölü

> q'tol, das somit im Syrischen nicht von 2. M . Sg.

beim Imperativ zu unterscheiden ist. War aber einmal die echte kanaanäische Aus Sprachetradition abgerissen 4 ), so blieb nichts

q'tol

L)

E. BRONNO, Studien über hebräische Morphologie und Vokalismus, 52. Die Frage der sogenannten kanaanäischen Akzentverschiebung, die fast allgemein als Axiom gilt, bedarf nach Ausweis des neuen Materials, das zum Samaritanischen, nicht aber zum Tit irischen passt, einer eingehenden kritischen Uberprüfung. Gelegentlich feststellbare sekundäre Dehnung der vorletzten Silbe (vor dem Endvokalwegfall) in der Pausa — etwa bei Satznamen — mit der daraus sich ergebenden Druckverlagerung sind noch kein Beweis für eine durchgängige und mechanische Akzentverschiebung. Man darf nicht vergessen, dass dieses „Betonungsgesetz" auf der Allgemeingültigkeit der späten tiberischen Ausspracheform basiert, damit aber auch mit dem tiberischen System steht und fällt; vgl. vorläufig ThLZ, 75, 723 f. 3 ) Etwas übertrieben könnte man formulieren: Das Hebräische nahm sich im Munde der aramäisch (und griechisch) redenden Juden aus wie das Latein eines Cicero im Munde eines heutigen Engländers. 4 ) Etwa durch die gewaltigen Erschütterungen unter Vespasian und Hadrian; vgl. ZAW, 63, 231 f. 3)

[234]

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

39

anderes übrig, als sich durch Betonung der Endsilbe dem Einfluss der eigenen aramäischen Umgangssprache zu entziehen. Entsprechend dem Vorgang beim Nomen, wo ein umgekehrtes Segolat sofort zum gewöhnlichen Segolat wird 1), wenn eine Endung antritt, entstand auch beim Verbum der normale Segolattypus, wenn die Endung betont wurde, so dass als neuer Stamm für qtul nun qutl erschien. Damit ergab sich eine Form qitlü\ die als solche weder kanaanäisch noch auch einfach aramäisch ist, aber letztlich dem Systemzwang der überlegenen kanaanäischen Umgangssprache ihren Ursprung verdankt 2 ). Aus dem Gesagten dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass Kompromissformen wie qitlr und qitlü als späte Bildungen für die Geschichte des hebräischen Verbums nicht in Anspruch genommen werden können. So bleibt nur der Bezug auf die Formen der Reihe, die durch 'Ain Feschcha, das Ketib des masoretischen Textes, durch das Samaritanische, ältere babylonische Kontextformen und schliesslich durch die tiberischen Pausalformen, abgesehen von deren sekundären Dehnungen, gekennzeichnet ist. Hier liegt eindeutig vormasoretisches Material vor. Soweit es sich da um zweisilbige Wörter handelt, trägt die Pänultima als kurze offene Silbe den Druck, während die langen Auslautsilben durchweg drucklos sind. Mit dem kleinen Ausschnitt, den die Behandlung des Imperativs im Grundstamm vom Typus qtul darstellt, haben wir zwar nur einen winzigen Bruchteil der Probleme besprochen, die mit der Frage nach der vormasoretischen Form des Verbums verbunden sind. Aber die Beobachtung primären Pänultimadruckes auch bei offener kurzer Silbe 3 ) und der Tonlosigkeit von langen, vokalisch endenden Auslautsilben lässt sich auch bei den übrigen komplizierteren Verbalformen, darüber hinaus ebenfalls beim Nomen nachweisen. So mögen die einfachen Formen des Imperativs als Beispiele dafür dienen, wie sich aufgrund neugefundenen Materials allmählich die vormasoretische Aussprachestufe des Hebräischen erhellt. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass wir mit dieser Ausspracheform an die letzte Stufe des tatsächlich einst gesprochenen HebräischKanaanäischen herankommen. BEER-MEYER, I, § 5 2 , 5. !)

Kompromissformen lassen sich auch sonst nachweisen; vgl. ZAW, 63, 233. Diese ursprunghaft offenen und kurzen Drucksilben haben nichts zu tun mit sekundären Drucksilben wie in nd'-ar „Knabe"; vgl. hierzu BEER-MEYER, I , § 20, 2a. 3)

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

40

[235]

Sollten sich die hier an einfachen Formen aufgewiesenen Beobachtungen als stichhaltig erweisen, so würden sich einschneidende Folgen ergeben: Nicht nur die sog. "urhebräische", oder nach J . F R I E D R I C H "kanaanäische" Betonungsregelmüsste, bei manchem Richtigen im Ansat2, revidiert werden, auch unsere metrischen Systeme, letztlich auf der tiberischen Aussprachenorm fussend und weithin reichlich kritiklos verwendet, bedürften einer eingehenden kritischen Untersuchung; besonders aber müsste auch eine historische Grammatik in mancher Hinsicht anders verfahren, als man es bisher gewöhnt ist. 1

) Phöni^isch-punische Grammatik, § 72.

[85]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation für die hebräische Sprachgeschichte Albrecht Alt anläßlich seines 70. Geburtstages

gewidmet

I

Die ältere sprachvergleichend-genetische Methode, wie sie nach dem ersten Weltkriege besonders pointiert von B A U E R - L E A N D E R 1 , mit größerer Zurückhaltung und dem Stoffe adäquater von G. B E R G S T R Ä S S E R 2 vertreten worden ist, konnte noch der Meinung sein, daß die tiberische Überlieferung eine ausreichende Basis für die geschichtliche Erfassung des Hebräischen darstelle 3 . In zweifacher Hinsicht ist diese Vorstellung in den vergangenen drei Jahrzehnten erschüttert worden. Einmal hat P. K A H L E durch seine masoretischen Studien, die bis in den Beginn unseres Jahrhunderts zurückreichen 4 , gezeigt, daß wir es in dem morphologischen System der Tiberier mit einer späten, historisch durchaus relativen und keineswegs einmaligen und absoluten Größe zu tun haben. Auf der anderen Seite ist die Hebraistik in neuerer Zeit durch eine Fülle vormasoretischen Materials bereichert worden, so daß sich nachgerade eine Interessenverschiebung im Rahmen der sprachgeschichtlichen Forschung beobachten läßt, die bereits dazu geführt hat, daß das tiberische System viel von seiner alten Geltung zugunsten der vormasoretischen Überlieferung eingebüßt hat. Hierbei verstehen wir unter „vormasoretischen" Texten all das Material, das noch nicht der gelehrten Arbeit der Rabbinen am Text, wie wir sie seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. zunächst am Konsonantengefüge, dann hinsichtlich des Vokalismus und der Akzentlage beobachten können, unterworfen ist. Die neuen, bisher im größeren grammatischen Zusammenhang noch nicht behandelten Texte gehören verschiedenen Perioden der Sprachge-

1

H.BAUER und P.LEANDER, Historische G r a m m a t i k der Hebräischen Sprache I (1922).

2

G. BERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik I (1918); II (1929) = W. GESENIUS, Hebräische Grammatik 29 . Vgl. zu dieser Grundeinstellung noch C. BROCKELMANN, Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft (1944), 31.; ders.: B. SPULER, Hdb. der Orientalistik 111,1 (Leiden 1953), 65 bis 69. P. KAHLE, Der masoretische Text des Alten Testaments nach der Überlieferung der babylonischen Juden (1902); ders., Masoreten des Ostens (1913); ders., Masoreten des Westens I (1927); II (1930); ders., The Cairo Geniza (London 1947), 36 bis 116.

3

4

42

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[85/86]

schichte an und vermitteln Einblicke nicht nur in das Kanaanäische des 2. Jahrtausends v. Chr., lange bevor sich die Landnahme der Israeliten vollzog, sondern in Form von Inschriften geben sie uns auch ein, wenngleich nicht sehr umfassendes Bild vom Hebräischen des 8. bis 6. vor-| christlichen Jahrhunderts. Darüber hinaus aber ist das Material besonders zahlreich, das einen Einblick vermittelt in das Nachleben des Hebräischen als Sakraldialekt zu Ende des 1. Jahrtausends v. Chr. und am Beginn unserer Zeitrechnung. Alle die genannten Texte sind in einer Konsonantenschrift abgefaßt, die wirklich oder scheinbar auf den Vokalismus keine Rücksicht nimmt. Gleichwohl ist längst erkannt, daß gerade im Hebräischen, doch keineswegs nur hier, Vokalbuchstaben von Anfang an eine Rolle spielen. Es fragt sich nur, ob sich eindeutige Linien im Gebrauch von Vokalzeichen festlegen lassen und welche Bedeutung den Vokalbuchstaben für die Geschichte der Sprache zukommt.

II

Wer in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation hebräische Sprachgeschichte treibt, muß in vorisraelitischer, bzw. altkanaanäischer Zeit einsetzen, und zwar mit den Tontafeltexten von Ugarit, die dank dem Zufallsfunde eines alawitischen Bauern im Jahre 1928 durch französische Ausgrabungen seit 1929 bekanntgeworden sind. Ugarit ist der Name eines auch in den Tell-el-Amarna-Briefen erwähnten Stadtstaates an der nordsyrischen Küste 1 , der wohl bereits im 3. Jahrtausend gegründet worden ist. Die Blütezeit von Ugarit werden wir im 15. und 14. Jahrhundert anzusetzen haben, sein Untergang gegen Ende des 13. Jahrhunderts hängt mit dem Ansturm der „Seevölker" zusammen. Wir haben es in erster Linie dem Scharfsinn von H. B A U E R zu verdanken, daß die Entzifferung der Texte sehr rasch gelungen ist 2 . Sie sind in einem Buchstabenalfabet abgefaßt, das zwar an die Keilschrift angelehnt ist, jedoch bereits ein lineares Buchstabenalfabet voraussetzt, das, wie O. E I S S F E L D T gezeigt hat, entwicklungsgeschichtlich mit dem sogenannten „phönikischen" Alfabet zusammenhängt 3 , das seinerseits erst seit dem 10. Jahrhundert quellenmäßig belegt werden kann. Das ugaritische Keilschriftalfabet umfaßt bei 30 Zeichen 29 unterschiedene Lautwerte. Die ugaritischen Texte4, die religions- und sprachgeschichtlich in gleicher Weise von Bedeutung sind und | die zeigen, daß man sich das 1

V g l . J . A . KNUDTZON, D i e E l - A m a r n a - T a f e l n I I ( 1 9 1 5 ) , 1 5 8 1 .

2

H.BAUER, Der Ursprung des Alphabets (1937).

3

O . EISSFELDT, F o r s c h u n g e n u n d F o r t s c h r i t t e 2 6 ( 1 9 5 0 ) , 2 1 7 bis 2 2 0 .

4

Das Material ist bequem zugänglich bei C. H. GORDON, Ugaritic Handbook (Rom 1947).

[86]

D i e Bedeutung der linearen Vokalisation

43

Syrien des 2. Jahrtausends v. Chr. nicht einfach als kulturelles Vorgelände Ägyptens, Babyloniens oder des Hethiterreiches vorzustellen hat, sind in einer die Lesung und das syntaktische Verständnis stark erschwerenden Konsonantenschrift abgefaßt, die man wegen des Fehlens von Vokalbuchstaben gern als „defektiv" bezeichnet. Gleichwohl scheint man die Schwierigkeiten einer rein „defektiven" Schreibweise in Ugarit empfunden zu haben. Es darf, wie bereits angedeutet, als sicher angenommen werden, daß das ugaritische Keilschriftalfabet das altkanaanäisch-phönikische Alfabet nicht nur voraussetzt, sondern auch an dasselbe gebunden ist. Dieses Alfabet, das sowohl Vorgänger wie Konkurrenten im nordsyrischen Raum gehabt hat und von dem nicht nur alle westsemitischen, sondern auch die Alfabete der Griechen und Römer abstammen, zeigt, daß die Westsemiten Kanaans hierbei offenkundig stark reflektierend zu Werke gegangen sind. Sie haben versucht, die Zahl der Konsonanten auf das höchstzulässige Minimum herunterzudrücken, indem sogar verwandte Laute wie h und h, g und ', ζ und s durch jeweils nur ein Zeichen ausgedrückt werden, während die Vokale überhaupt nicht verzeichnet sind. Die Schwierigkeit einer allzu knappen und mehrdeutigen Schrift soll nun offenbar das ugaritische Keilschriftalfabet beseitigen. Dabei schafft man nichts Neues, sondern fügt der verwerteten Vorlage nach Maßgabe des phonetischen Bedürfnisses in einer oder mehreren Etappen neue Zeichen hinzu. So finden wir jetzt im ugaritischen Alfabet nicht nur getrennte Zeichen für h und h, g und ', ζ und s, sondern der Konsonant, der als einfacher Knacklaut ohne Vokal überhaupt nicht hörbar wird, nämlich Alef, wird durch verschiedene Formgebung als a-, i- oder »-haltig angedeutet, so daß das eigentliche Buchstabensystem im Sinne einer syllabischen Schreibweise durchbrochen ist 1 . Dabei ist auch bei der Vokalwiedergabe die Beschränkung auf ein Minimum typisch. Man hat die drei Vokale a, i und u als „Urvokale" bezeichnet, und als solche begegnen sie in den meisten Grammatiken. In Wirklichkeit handelt es sich auch hierbei um bewußte Reduktion auf das höchstzulässige Mindestmaß und damit um eine Vereinfachung der tatsächlichen lautlichen Vielfalt, ohne Rücksicht darauf, daß der gleichzeitige Vokalismus auch e und ο umfaßt, wie denn V und # auch e- und o-haltig sein können. Wenngleich die syllabische Vokalisierung des Alef als 'a oder a , V oder i\ 'u oder u im Gesamtrahmen der Sprache als unbedeutend erscheinen mag, so hat sie doch Wortformen, die sonst für uns stumm wären und lediglich hypothetisch gedeutet werden könnten, zum Reden gebracht. Es kann nicht die Aufgabe einer Übersicht, wie sie hier gegeben werden soll, sein, sämtliche Konsequenzen, die sich aus dieser Teilvokalisation

' C. H. GORDON, Ugaritic Handbook, § 4, 5 bis 8.

44

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[86]

ergeben, aufzuzeigen. So mögen einige Beispiele aus der Nominal- und Verballehre genügen, um den Sachverhalt zu verdeutlichen. Ausgehend von der Prämisse der absoluten Altertümlichkeit des Hebräischen konnte noch G . B E E R in der Erstauflage seiner Grammatik behaupten, man dürfe beim hebräischen Nomen nicht von Kasusresten, sondern lediglich von Ansätzen zu einer Nominalflexion | reden 1 . Die These von G . B E E R ist weitgehend abgelehnt worden; aber endgültig als falsch erwiesen ist sie erst durch die syllabische Vokalisation des Alef im Ugaritischen. Denn diese Vokalisation ergibt für das Altkanaanäische eine vollausgebildete Kasusflexion des Nomens 2 . So lautet z. B. der status absolutus, also die isolierte Form des Maskulinums im Singular, von der Wurzel k s\ hebräisch hisse, „Thron": Nominativ: Genetiv: Akkusativ:

1 j· hebr. kisse J

ks'u ks'i ks'a

Demgegenüber erscheint die hebräische Einheitsform kisse als ausgesprochene Reduktionsstufe, und diejenigen haben Recht behalten, die entsprechend dem Akkadischen und Arabischen auch für das vorhebräische Kanaanäisch eine vollausgebildete Kasusreflexion mit dem Nominativ als dem Subjektskasus, dem Genetiv als dem adnominalen und dem Akkusativ als dem adverbalen Kasus angenommen haben 3 . Die gleiche Beobachtung können wir am Plural und dem im Ugaritischen noch regelmäßig gebrauchten, dagegen im Hebräischen formal und syntaktisch verkümmerten Dual machen. So findet sich für den Plural im status absolutus entsprechend hebräischem r'fä'im „Totenschatten" folgendes Wortbild: Nominativ: „ . ,... Genetiv/Akkusativ:

rp'um rp im

, hebr. J

r'fa'tm

Analog zum Arabischen und Akkadischen wird man sinngemäß die Pluralendung als -üma und -tma auflösen. Damit ergibt sich, daß der altkanaanäische Plural einen casus rectus und einen casus obliquus umfaßt hat. Im Hebräischen ist das Gefühl für formale Kasusendungen verlorengegangen, und die Einheitsendung -im stellt die jüngere Stufe der Entwicklung dar. Entsprechend lautet der status constructus, d. h. die Form, die ein Nomen bei enger Bindung an einen nachfolgenden Genetiv hat, folgendermaßen: Nominativ: . Genitiv/Akkusativ:

rp'u r f rp ι

1 . . hebr. *rit e J

I (1915), §45.

1

G . BEER, Hebräische Grammatik

2

Z u m Folgenden vgl. C. H. GORDON, Ugaritic H a n d b o o k , § 8, 1 bis 9.

3

Vgl. G . B E E R - R . M E Y E R , Hebräische Grammatik

I2 (1952), §45,2.

[86/87]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

45

Hieraus ergeben sich als Pluralendungen -ü und -t, von denen im Hebräischen nur noch -e < -t existiert, eine Endung, die ihrerseits anscheinend unter dem Einfluß des aramäischen a-Vokalismus noch einem weiteren, hier nicht interessierenden Wandel unterworfen worden ist. Ein bedeutsames Nachleben haben die alten Pluralendungen im Alten Testament: Im Rahmen eines alten, zweifelsohne auf vorisraelitischen Traditionen basierenden ιερός λόγος begegnet der Name pnü 7 neben pm Ί „Antlitz Gottes" zur Bezeichnung des betreffenden Kultortes (Gen. 32,31 f.). Hier setzen sich deutlich altkanaanäische Traditionen fort, und wie in allen Sprachen Ortsnamen Altertümlichkeiten aufweisen können, so läßt sich auch diese Genetivverbindung nach dem altkanaanäischen Flexionsschema auflösen: Nominativ: Genetiv/Akkusativ:

*panü 'ili -- hebr. penü 'el *pam 'ili = hebr. p'ni 'el. \

Hierbei ist allerdings zu beachten, daß für hebräisches Sprachempfinden ein syntaktischer Unterschied zwischen beiden Formen nicht mehr besteht 1 . Die Parallelen im Vokalismus, die nach Ausweis der Formen mit Alef als letztem Radikal zum Arabischen und Akkadischen bestehen, lassen die analogische Erschließung des Dual zu, für den derartige Formen bisher nicht zur Verfügung stehen. So lautet der Dual im status absolutus etwa von imm „zwei Tage": Nominativ: „ ..... . Genetiv/Akkusativ:

*iömämi ] . , ,.. ' _ . hebr. lomaiim. *iomemi )

Dementsprechend ergibt sich für den status constructus: Nominativ: „ . Genetiv/Akkusativ:

*iömä. "... *tome

] , . . _ [ hebr. *iome. J

Auch hier gilt natürlich, daß der alte casus rectus im Hebräischen nicht mehr existiert. Zu beachten ist in diesem Falle die „defektive" Schreibweise. Der gemeinsemitische Grundtypus wird nämlich diphthongisch als -aimi und -ai für den casus obliquus angesetzt 2 . Man würde als theoretisch *iömaimi und *iömai erwarten. Das Fehlen vorw im konsonantischen Wortbild beweist, daß auf altkanaanäischer Stufe in diesem Falle Kontraktions- bzw. langer Vokal gesprochen worden ist, mithin die hebräische Endung -aim einer jüngeren Sprachstufe zuzuweisen ist, ganz abgesehen von der sehr späten Auflösung mit Hilfsvokal, wie sie in -äiim vorliegt.

1

BEER-MEYER, I, § 4 5 , 3.

2

a.a.O., §3, 2f.

46

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[87]

Die gleiche syllabische Teilvokalisation hat ferner dazu beigetragen, das ugaritische Verbalsystem zu erkennen 1 . Für die Präformativkonjugation, die man im Hebräischen der Einfachheit halber als „Imperfektum" bezeichnet, ergibt sich dabei folgendes Bild: iaqtulu·. ts'u = *tissa'u, hebr. tissä „sie hebt auf", iaqtula·. 'iqr'a = *'iqra'a, hebr. 'aeqrä „ich möchte (möge) rufen", iaqtul:

ims'i

= "iimsa \ h e b r . iimsä

„er erreicht" mit K e n n z e i c h n u n g des

vokallosen Alef durch V. Damit sind für die Präformativkonjugation ein Indikativ *iaqtulu, ein Subjunktiv ''iaqtula und ein Kurzimperfektum/Jussiv ''iaqtul erschlossen, ganz, wie wir dies aus dem bedeutend jüngeren Arabisch kennen. Hiervon ist der Indikativ der gewöhnliche Erzählungsmodus. Neben ihm steht das Kurzimperfektum in gleicher Eigenschaft, das daneben als Jussiv und für den verneinten Imperativ als Prohibitiv fungiert. Auf ähnliche Weise kann der Imperativ *q(u)tul, sowie analogisch der Energicus *iaqtulan (na) erschlossen werden. Rechnet man hinzu, daß vielleicht auch noch, allerdings wegen fehlender Vokalisation nicht sicher erschließbar, ein Präsens/ Futur iaqa(t)talu bestanden hat 2 , so liegt in der ugaritischen Präformativkonjugation bei allem Schwanken der modalen Grenzen ein syntaktisch in sich abgerundetes Konjugationssystem vor. Die partielle syllabische Vokalisation erlaubt darüber hinaus auch einen Einblick in die Afformativkonjuga-|tion. Hier lautet die 3. Person M. Sg. qatala, wie z. B. aus sn'a = *sani'a, hebräisch säne, „er haßt", hervorgeht. Damit ist ein alter Streit entschieden. So vertrat noch G . BEER in seinem von uns bereits zitierten Werke 3 die Ansicht, *qatala sei eine jüngere Form, hebräisches qätal dagegen gehe auf endungsloses *qatal als ursprüngliche Bildung zurück. Die syllabische Vokalisierung zeigt jetzt, daß hebräisches qätal älteres *qatala entwicklungsgeschichtlich voraussetzt. Würde man einen Vergleich zwischen dem ugaritischen und hebräischen Verbum durchführen, so ergäbe sich wiederum eine starke Vereinfachung im Sinne einer genetischen Abhängigkeit auf Seiten des Hebräischen, wo gleichwohl verbale Rudimente enthalten sind, die jetzt vom Ugaritischen her erklärbar werden. Ein solcher Vergleich würde zu weit führen. Doch möge wenigstens auf einen Punkt aufmerksam gemacht werden. Das eigenartige Neben- und Ineinander von Prä- und Afformativkonjugation bzw. von „Imperfektum" und „Perfektum" stellt eine besondere Schwierigkeit jeder hebräischen Sprachlehre dar. BAUER-LEANDER suchen dieser Schwierigkeit dadurch Herr zu werden, daß sie eine „Sprachmi-

1 2 3

C. H. GORDON, Ugaritic Handbook, § 9 , 1 bis 14. G. BEER-R. MEYER, Hebräische Grammatik II 2 (1954), § 63, 2. G. BEER, Hebräische Grammatik II (1915), § 59.

[87/88]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

47

schung" annehmen. Nach dieser Hypothese, die sie etwas volltönend als „Erkenntnis" bezeichnen, soll das formal und syntaktisch geschlossene System der Präformativkonjugation einer älteren „akkadisch-hebräischen" Schicht angehören, während das Aufkommen der Afformativkonjugation als Erzählungstempus einer jüngeren Schicht zuzuschreiben sei 1 . Der Einblick, den man nicht zuletzt auf Grund der Teilvokalisation in das ugaritische System des Verbums erhält, zeigt die Unrichtigkeit dieser These. Wir haben es hier vielmehr mit einem innersprachlichen Prozeß zu tun, der sich zur Zeit des Altakkadischen auf kanaanäischem Boden aus uns unbekannten Gründen vollzieht. Das an sich statische „Perfektum" dringt in das modale Gefüge der Präformativkonjugation ein, zerstört deren geschlossenen Aufbau und trägt — so darf man weiter schließen — zur modalen Verkümmerung bei, wie wir sie seit dem Beginn des 1. Jahrhunderts beobachten können 2 . Die angeführten Beispiele aus dem Gebiete des Nomens und des Verbums machen es deutlich, welches Gewicht das syllabisch vokalisierte Alef für die Erschließung des Ugaritischen besitzt. Denn dieser Vokalismus ist ja nicht nur an sich bedeutsam, sondern seine weitgehende Übereinstimmung mit entsprechenden akkadischen und arabischen Erscheinungen ermutigen darüber hinaus dort zu Analogieschlüssen, wo der reine Schriftkonsonantismus die Aussprache und damit die Form nicht erkennen läßt. Das Ugaritische stellt im Rahmen des Kanaanäischen einen so altertümlichen nordkanaanäischen Dialekt dar, daß man ihm nur das Altakkadische eines Hammurabi (1728 bis 1686) und im gewissen Sinne das als historische Erscheinung zwar sehr viel jüngere, aber morphologisch weithin urtümliche Arabisch zur Seite stellen kann. Dieser archaische Dialekt hat die Stürme des 13. Jahrhunderts nicht überstanden. Mit ihm verlieren wir das ugaritische Keilschriftalfabet aus den | Augen, das ein ausgesprochenes Konsonantenalfabet voraussetzt, aber seinerseits mit der syllabischen Schreibweise des Alef den ersten Ansatz zu einem Syllabar gemacht hat.

III Bestimmend für die Folgezeit wurde das sogenannte „phönikische", besser kanaanäische Linearalfabet, das alle konkurrierenden Systeme überdauert hat und an sich ausschließlich Konsonanten enthält. In den phönikischen Schriften des 10. und 9. Jahrhunderts herrscht denn auch der reine

1

BAUER-LEANDER I , § 3 5 .

2

Vgl. hierzu BEER-MEYER II, §§ 100 bis 101.

48

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[88]

Schriftkonsonantismus vor, wie zuletzt J . FRIEDRICH1 und CROSS-FREEDMAN2 mit Recht betont haben. Gleichwohl hat es den Anschein, als ob hier und da das System bereits durchbrochen sei 3 . Zwar liest man in Byblos auf dem AchiramSarkophage (Anfang des 10. Jahrhunderts) 'bh — * 'abih-ü „seines Vaters" wie später im Hebräischen; aber bereits in der Eliba'al-Inschrift (um 915) steht in 'dtu „seine Herrin" zur Wahl, ob man * ' a d d a t a u < *'addatah-ü mit Elision des He oder * 'addatö < * 'addatau mit weiterer Kontraktion -au > -δ lesen soll. Da schon das Südkanaanäische des 14. Jahrhunderts bei Elision des zwischenvokalischen He Diphthong neben Kontraktionsvokal kennt, liegt die auch von J. FRIEDRICH geteilte 4 , allerdings von CROSSFREEDMAN5 zurückgewiesene Annahme nahe, daß das Kanaanäische des ausgehenden 10. Jahrhunderts Waw als Vokalbuchstaben für auslautendes -o gekannt hat und daß dieser Brauch selbst die Tendenz zur „defektiven" d. h. rein konsonantischen Schreibweise durchbrochen hat. Hierfür könnte sprechen, daß um 825 v. Chr., also kaum 100 Jahre später, in der Inschrift des Kilamuwa r's wohl als ra'sö6 „sein K o p f zu lesen ist. Ist die Auflösung richtig, dann entspricht der Vokalbuchstabe Waw in 'dtu der „defektiven" Schreibweise in r's. Für den Gebrauch von Waw als -δ könnte weiterhin die Form irhu des Bauernkalenders von Geser (um 925 v. Chr.) angesehen werden. Daß in dieser Form ein Dual stecken muß, wird heute wohl allgemein zugegeben. Gleichwohl sind verschiedene Auflösungsversuche möglich. Im Anschluß an W. F. ALBRIGHT schlagen CROSS-FREEDMAN die Lesung *iarheu „seine zwei Monate" vor 7 . Sprachgeschichtlich ist gegen diese Lesung zwar nichts einzuwenden, weit näher jedoch liegt H. L. GINSBERGS Annahme, daß in iarhu ein alter Dual im status constructus: *iarhö < *iarhä vorliegt 8 , | so daß ζ. B. die Wortgruppe irhu 'sp = *iarhö 'asip(i) „zwei Monate des Einheimsens" bedeuten würde und weniger gekünstelt wäre als W. F. ALBRIGHTS Vorschlag. Falls H. L. GINSBERGS Annahme zutrifft, läge in dem Dual *iarhö der älteste Beleg für den freien Gebrauch von Waw für auslautendes -ö vor, wie er nicht mehr etymologisch ableitbar ist. 1 2

3

4

J.FRIEDRICH, Phönizisch-punische Grammatik (Rom 1951), § 67. F. M. CROSS und D. N. FREEDMAN, Early Hebrew Orthography (New Haven 1952), 12. Diese außerordentlich wertvolle und anregende Studie, die auf den Untersuchungen von W. F. ALBRIGHT basiert, vermittelte mir in großzügiger Weise Dr. J. E. GREENFIELD , Yale University-New Haven (USA), dem ich hierfür meinen verbindlichen Dank ausspreche. Im Sinne des Folgenden ist die summarische Darstellung in BEER-MEYER I, § 22, 3 b zu ergänzen. Phönizisch-punische Grammatik, § 237.

5

CROSS-FREEDMAN,

6

Nach

15.

7

CROSS-FREEDMAN, 4 6 .

8

a. a. O., 46 Anm. 9.

CROSS-FREEDMAN, 1 9

wäre *rösö mit Elision des Alef zu lesen.

[88/89]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

49

Ähnliches läßt sich für He als Vokalbuchstaben wahrscheinlich machen. So begegnet noch altbyblisch in der Achiram-Inschrift z. B. mspth — *mispatihü „seiner Rechtsprechung", und es ist bezeichnend für die Beständigkeit auch in Aussprachetraditionen, daß sich die gleiche Bildung lange nach Wegfall der kurzen Kasusendungen und deren Ersatz durch Hilfsvokale z. B. in AF. ruhhu = rühehü „sein Geist" (Jes. 34,16) statt rühö, wie in der Durchschnittsgrammatik üblich, nachweisen läßt. Dort aber, wo man das Suffix als -ö sprach, konnte auch He, da selbst nicht mehr gesprochen, neben Waw als Vokalträger erscheinen. Ja, es ist sogar zu beobachten, daß in der Folgezeit das Suffix -δ, damit aber der Vokal -o, häufiger durch He als durch Waw wiedergegeben wird. Hieraus haben CROSS-FREEDMAN 1 die freilich nicht voll stichhaltige Folgerung gezogen, daß man für die vorexilische Zeit Waw als Vokalbuchstaben zur Kennzeichnung von auslautendem -$ überhaupt nicht ansetzen dürfe. Auf wesentlich sichererem Boden bewegen wir uns, wie CROSSFREEDMAN 2 gezeigt haben, hinsichtlich der seit 1869 bekannten, jedoch in bezug auf den Vokalismus und damit auch bezüglich der Morphologie noch immer umstrittenen Inschrift des Moabiterkönigs Mescha (um 835 v. Chr.). Diese Inschrift ist ein deutlicher Beweis dafür, daß die Bindung an einen starren Konsonantismus bereits gelöst ist. Offensichtlich dient hier der frei gebrauchte Vokalbuchstabe neben demjenigen, der etymologisch ableitbar ist, zur morphologischen Differenzierung. Freilich wird man mit Recht fragen dürfen, ob die große Zahl von Vokalbuchstaben, die CROSSFREEDMAN neuerdings herausgearbeitet haben, wirklich als solche gelten können, oder ob die betreffenden Zeichen nicht mitunter doch konsonantischen Wert haben. Die Schwierigkeit besteht ja eben darin, daß Vokalbuchstaben zugleich Konsonanten im Schriftbild darstellen, im Unterschied zur syllabischen Schreibweise, wo ein Konsonant durch ein bestimmtes diakritisches Zeichen als vokalhaltig gekennzeichnet ist. Immerhin gibt es in der Mescha'-Inschrift eine Reihe von Formen, bei denen Vokalbuchstaben im Auslaut einwandfrei nachzuweisen sind. So begegnet sicher He = -δ im freien Gebrauch in nbh = *Nebö, Stadt am Berge „Nebo" (en-nebä). Dagegen gehen bei Formen wie 'rsh „sein Land" oder dudh „sein Befehlshaber" die Meinungen bereits auseinander. Da freier Gebrauch von h = -δ eine Herkunft aus etymologischem Zusammenhang voraussetzt, so liegt meines Erachtens die Annahme noch immer am nächsten * 'arsö und *damdö zu lesen3. Daneben steht He auch | für auslautendes -ä, so in bllh = *balelä 1

a. a. O., 52 Anm. 37.

2

a. a. O., 35 bis 44; zum Text vgl. neuerdings K . GALLING, Textbuch zur Geschichte Israels

3

CROSS-FREEDMAN,

(1950), 47 ff. 37.40

*'arseh und *dawideb. dudu = *dödö mit ihrer Bezugnahme

lesen im Anschluß an W . F. A L B R I G H T

Aufzugeben ist mit W. F . A L B R I G H T wohl die Lesung

auf Arnos 8, 14 nach dem textus emendatus; vgl. a. a. O., Anm. 16.

50

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[89]

„bei Nacht". In dieser Verbindung geht *lelä auf einen alten adverbiellen Akkusativ zurück, der nach Ausweis des Ugaritischen ursprünglich durch ein Deuteelement *-hä verstärkt war und *lelahä lautete 1 . Abfall des drucklosen Auslautvokals und Elision des lautschwachen He mochten zum Vokalgebrauch von h = -ä führen, wie er in freier Form bei bnh = *banä „er baute" vorliegt. He als -e begegnet schließlich eindeutig im israelitischen Gottesnamen Ihuh = *Iahue. Als zweiter Vokalbuchstabe verdient Jod Erwähnung. Im freien Gebrauch, also als reiner Vokal, erscheint Jod = -i unwiderleglich z. B. in mlkti — *malak,ti „ich bin König", wo -t deutlich die Aufgabe von morphologischer Differenzierung hat, ferner in ki = *ki „denn", das bereits altkanaanäisch vokalisch endet, und 'mri — *'Omri, wozu die akkadische Umschrift Humri zu vergleichen ist. Etymologisch ableitbar ist Jod z. B. in Ii — *li „mir", wo *lt < *lii < *liia (vgl. ugaritisch Ii = *liia) genetisch zu verstehen ist 2 . Daneben scheint Jod = -e im Auslaut des status constructus im Plural zu begegnen; so etwa in imi = *iame „Tage". Allerdings muß daraufhingewiesen werden, daß hier daneben die Möglichkeit besteht, *iamai zu lesen. Man müßte dann annehmen, daß infolge der Unterwanderung durch die Wüstenstämme mit ihrem nach Beduinenart konservativen Lautstand der a-Vokalismus die altkanaanäische Pluralendung -e < -ι im Sinne von -ai beeinflußt habe 3 . Das Nebeneinander von e und ai im Wortinneren — z. B. bt = *bet neben bit = *bait „Haus" — weist jedenfalls darauf hin, daß älterer kannanäischer Kontraktionsvokal und jüngerer Diphthong im Moabitischen nicht ausgeglichen sind. IV Vergegenwärtigt man sich, daß das Moabitische ebensowenig wie das Phönikische eine „Sprache" für sich darstellt, sondern lediglich einer der zahlreichen Dialekte Syriens ist, die bei kleinen Eigenheiten zusammen das „Kanaanäische" ergeben, so nimmt es nicht wunder, daß das benachbarte, in Westjordanien bodenständige samarische und judäische Hebräisch sich in bezug auf Vokalgebrauch nur wenig unterscheidet. Diese allgemeine Beobachtung berechtigt dazu, das Inschriftenmaterial auch im gegenseitigen Vergleich auszuwerten. Während für das Moabitische die Mescha'-Inschrift immer noch die einzige Quelle darstellt, können wir für das Hebräische über das ältere Material hinaus eine wesentliche Bereicherung in neuer Zeit verzeichnen. Im Jahre 1924 wurden durch amerikanische Ausgrabungen samarische 1

BEER-MEYER I, § 4 5 , 3 c.

2

C. H. GORDON, Ugaritic Handbook, § 6,16.

3

BEER-MEYER I, § 4 5 , 2 c.

[89]

51

D i e B e d e u t u n g der linearen Vokalisation

Wirtschaftsurkunden bekannt 1 . E s handelt sich hierbei um 63 Ostraka, die im Magazin der Akropolis von Samaria gefunden wurden und stereotyp abgefaßte Quittungen über Naturallieferungen aus den Krongütern wahrscheinlich des K ö n i g s Joas (802 bis 787 v. Chr.) darstellen. O b w o h l ihr Wortschatz wenig umfangreich ist, bieten sie doch einige | morphologisch und für die Akzentgeschichte bedeutsame Formen. Wesentlich umfangreicher und für die Sprachgeschichte ergiebiger sind die 18 Ostraka, die 1935 in einer Brandschicht des Wachraumes zum Stadttor von Lachisch (heute teil ed-duwer) gefunden wurden 2 . Diese Ostraka enthalten militärische Meldungen an den Kommandanten der südjudäischen Festung Lachisch etwa aus dem Jahre 590 v. Chr., also kurz bevor die davididische Herrschaft dem babylonischen K ö n i g e Nebukadnezar zum Opfer fiel (587 v. Chr.). Sie geben uns einen Einblick in die lebendige hebräische Volkssprache und ergänzen in wertvoller Weise die seit 1880 bekannte Siloah-Inschrift 3 aus der Zeit des K ö n i g s Hiskia, die etwa dem Jahre 700 v. Chr. entstammt, ferner den wohl dem 10. Jahrhundert angehörenden Bauernkalender von Geser 4 sowie allerlei andere Kleinfunde 5 . Die samarischen Wirtschaftsurkunden lassen He als auslautendes -ä oder -δ mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließen, so in dem Ortsnamen \h = * 'Aya oder * Ά%δ. Daneben bezeichnet J o d wortschließendes -I in der Beziehungsendung - i < *-iz < *-tiu ( = ugaritisch): b'lm'ni = * Β alma δηϊ „Ba'almeonit". Genau wie im Mescha-Stein fehlen auch hier Belege für Vokalbuchstaben im Inneren des Wortes. Gegenüber den allerdings sehr wortarmen samarischen Texten zeichnet sich die um beinahe 200 Jahre jüngere Siloah-Inschrift durch reichen Gebrauch freier Vokalbuchstaben aus. Als reiner Vokal begegnet hier He im Auslaut für -ä, z. B . hih = *haiä „es war", hnqbh = *hannaqqabä „die D u r c h b o h r u n g " , w o h — -ä die Femininendung -ä < -at < *-atu ( = ugaritisch) anzeigt 6 ; rein vokalisch ist He = -e in — < *di „dieser". Dagegen wird H e nicht für -δ verwendet. F ü r diesen Laut scheint hier Waw zu fungieren, wenn r'u „sein Nächster" als *re'ö zu lesen ist 7 .

1

G . A . REISNER, CL. S. FISHER, D . G . L Y O N , H a r v a r d E x c a v a t i o n s at Samaria I ( 1 9 2 4 ) , 2 2 7 bis 2 4 6 ; T e x t p r o b e n und L i t e r a t u r bei K . GALLING, T e x t b u c h zur G e s c h i c h t e Israels, 50. Z u r weiteren L i t e r a t u r siehe CROSS-FREEDMAN, 4 5 .

2

H . TORCZYNER,

L . HARDING,

A. LEWIS,

J . L . STARKEY,

Lachish

I:

The

Lachish

Letters

( L o n d o n 1 9 3 8 ) . T e x t a u s w a h l und L i t e r a t u r bei K . GALLING, a. a O . , 6 3 ff.; v g l . ferner CROSSFREEDMAN, 4 6 A n m . 8. 3

Zuletzt a b g e d r u c k t bei K . GALLING, a. a. O . , 59.

4

Vgl. hierzu M . LIDZBARSKI, E p h e m e r i s f ü r semitische E p i g r a p h i k I I I ( 1 9 0 9 bis 1 9 1 5 ) , 36 bis 4 3 ; zur L i t e r a t u r siehe CROSS-FREEDMAN, 4 5 A n m . 1.

5

CROSS-FREEDMAN, 4 5 ff.

6

A n d e r s C R O S S - F R E E D M A N , 4 9 f.

7

N a c h CROSS-FREEDMAN, 5 0 wäre j e d o c h re 'ea> zu lesen.

52

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[89/90]

Daneben steht Waw für -ü in hku = *hakkü (tiberisch hikkü) „sie schlugen". Dieses Vokalzeichen blickt bereits auf eine längere Tradition zurück. So findet es sich im berühmten Löwensiegel des Schemaja, das wohl aus der Zeit Jerobeams II. (787 bis 747 v. Chr.) stammt 1 , ebenso wie wahrscheinlich in der moabtischen Form 'su = 'asü „macht!", wozu etwa ugaritisches d » = *da'ü „flieht!" zu vergleichen wäre 2 . Vielleicht darf man sogar noch ein Stück weitergehen und entgegen der üblichen Lesung im Bauernkalender von Geser die Wortgruppe irh qsru kl verbal auflösen: *iarh(u) qasarü kull(a) „der Monat, da man alles [übrige] erntet" 3 . Damit käme man mit der Verwendung von Waw für auslautendes -ü zurück bis ins 10. Jahrhundert. ι Auf der Siloah-Inschrift läßt sich zum ersten Male auch der Gebrauch von innervokalischem Waw = δ in der Wortverbindung b'ud — *ba'öd „als noch" nachweisen 4 . Da das Waw in 'ud sprachgeschichtlich nicht zu rechtfertigen ist, soll es offenbar *'öd „Dauer" von der Präposition 'd = *'ad „bis" oder aber die Zusammensetzung *ba'öd „als noch" von der Präposition b'd — *ba'ad „im Abstand von" unterscheiden. Die Annahme eines rein vokalischen Gebrauchs wird bestärkt durch die Aufschrift eines nicht viel jüngeren judäischen Krugstempels, wo die Ortschaft „ S i f als und — „Zip" mit Jod = ϊ im Wortinneren erscheint 5 . Zur Verdeutlichung dieses Vokalgebrauchs sei die erste Zeile der Siloah-Inschrift wegen ihres instruktiven Charakters mit Vokalen angeführt: „...

u%e hiä

dbr

hnqbä

b'öd..."

„... und dies war der Vorgang der Durchbohrung: Als noch ..." Nicht minder aufschlußreich ist das Schriftbild der Ostraka von Lachisch. Auch hier begegnet He für auslautendes -ä, ζ. Β. id'th = *iada'tä „du weißt", für -e, z.B. duh = *daue „krank", und -δ, z.B. 'bdh — *'abdö „sein Knecht", 'th = * 'ötö „ihn". Ebenso zeigt Waw auslautendes -ü an, ζ. B. ui'lhu = *uaialehü „und er führte ihn h i n a u f , und zum Vokalbuchstaben Jod wäre etwa Ii — *li „mir" oder qrti = *qaratl „ich habe gelesen" zu vergleichen. Hierzu kommt in den Ostraka von Lachisch Alef als Vokalbuchstabe. Das phonologische Problem, das der Buchstabe Alef stellt, ist zuletzt von C R O S S - F R E E D M A N bei der Behandlung der Orthographie der altaramäischen Inschriften behandelt worden 6 . Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes 1

A n d e r s CROSS-FREEDMAN, 4 7 f.

2

C. H. GORDON, Ugaritic Handbook, § 9,16. Zur gewöhnlichen Deutung von qsru als Nomen mit Personalsuffix vgl. M. LIDZBARKSI, Ephemeris für semitische Epigraphik III, 41. CROSS-FREEDMAN nehmen hier einen unkontrahierten Diphthong an: b W = *ba 'awd-, a. a. O., 50.

3

4

5

CROSS-FREEDMAN, 5 1 .

6

a.a.O., 33f.

[90]

D i e Bedeutung der linearen Vokalisation

53

sprengen, wollte man die Frage der Vorgeschichte dieses Vokalbuchstaben aufrollen. Für unseren Zusammenhang genügt die Feststellung, daß in Γ = */Ö „nicht" Alef vokalisch sein muß, da es doch wohl direkt von altkanaanäisch-ugaritischem / = *lä herzuleiten ist 1 . Ebenso dürfte das Nebeneinander von φ und „dieser", unbeschadet dessen, daß beide Formen entwicklungsgeschichtlich auseinanderzuhalten sind, wohl dahingehend zu deuten sein, daß beidemal zu lesen ist und daß neben He auch Alef als Vokalzeichen für -e angesehen werden muß. Im Wortinneren stehen jetzt Waw für öjü und J o d für tje, und zwar offensichtlich meist, um Verwechslungen auszuschalten. So schreibt man den Namen „ J a o s c h " als Γ us — *Iaös\ „defektiv" könnte die Konsonantengruppe auch / ' / = *Io'as gelesen werden. Ähnlich mag es sich mit der Form jus' „er führt hinaus" verhalten. Natürlich kann man mit C R O S S FREEDMAN 2 d e n G r u n d t y p u s a n n e h m e n u n d *jausi'

vokalisieren, da, wie

bereits angedeutet, Bildungen mit sekundären Diphthongen absolut im Bereiche der historischen Gegebenheiten liegen. Ebensogut aber ist es möglich, von altkanaanäischem *iösi'u auszugehen und, analog moabitischem hs'ni = *hösa'am „er rettete mich", jus' = *jösi' zu lesen und damit von „defektivem" js' zu unterscheiden, das bei gleich geschriebenem Grundstamm auch als *jesi' (tiberisch jese) „er | geht hinaus" aufgefaßt werden könnte. Neben Waw begegnet J o d im Wortinneren. Ein besonders einleuchtendes Beispiel für rein vokalischen Gebrauch liegt in 'is = *'is „ M a n n " vor. Die in Auswahl angeführten Formen verdeutlichen die Entstehung der Vokalbuchstaben und damit des Schriftvokalismus im Rahmen des Konsonantenalfabets: Einst etymologisch berechtigte Zeichen — das gilt auch von Alef —, verlieren He, Waw, J o d und Alef infolge lautlicher Schwäche durch Elision und Kontraktion ihren eigentlichen Lautwert. Falls sie nicht in „defektiver" Schreibweise ganz verschwinden, werden sie zu frei gebrauchten Vokalbuchstaben, die vor allem dazu dienen, um die Endungen hervortreten zu lassen und damit die Vieldeutigkeit des konsonantischen Schriftbildes zu vermeiden oder wenigstens zu mildern. C R O S S - F R E E D M A N sind an Hand der aramäischen, samarischen, judäischen und moabitischen Überlieferung dem Problem des Schriftvokalismus zusammenfassend nachgegangen, und sie haben bewiesen, daß sich der Gebrauch von Vokalbuchstaben überall in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends, d. h. sowohl im kanaanäischen wie im aramäischen Sprachgebiet belegen läßt 3 . Wie sich die Vokalbuchstaben um 600 v. Chr. eingebürgert haben, zeigt sich etwa darin, daß im Schriftvokalismus prinzipiell kein

1

C. H. GORDON, Ugaritic H a n d b o o k , § 12,4.

2

CROSS-FREEDMAN,

3

a.a.O., 58ff.

56.

54

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[90/91]

Unterschied besteht zwischen den kanaanäisch-hebräisch geschriebenen Ostraka von Lachisch einerseits und z. B. einem aramäisch geschriebenen Papyrus andererseits, der das Bittgesuch eines kanaanäischen Stadtkönigs an den ägyptischen Königshof angesichts der siegreichen Politik des Königs Nebukadnezar enthält 1 . Gleichwohl gehen C R O S S - F R E E D M A N über das Ziel hinaus mit der Annahme, daß etwa um die Mitte des 9. Jahrhunderts a l l e Endvokale sowohl im Samarischen wie im Judäischen angezeigt wurden und man damit von einem System reden dürfe. Gewiß ist es richtig, daß auch dort der Schriftvokalismus bekannt ist, wo man sich der „defektiven" Schreibweise befleißigt. Sehr instruktive Beispiele hierfür enthalten die phönikischen Inschriften des Königs Azitawadda von Karatepe in Kilikien, die wohl dem 8. Jahrhundert angehören und die A. ALT ausführlich bearbeitet hat 2 . Aber auf der anderen Seite besteht doch auch wieder Neigung zu „defektivem" Schriftbild sowohl am Ende wie im Inneren des Wortes. So begegnet in den Ostraka von Lachisch 'bdk „dein Knecht". Es ist wohl kaum anzunehmen, daß bereits auf dieser frühen Sprachstufe die Konsonantengruppe *'abdak lautet 3 ; wahrscheinlicher ist *'abdakä, dessen Schlußvokal erst sehr viel später dem aramäischen Lautstand zum Opfer gefallen ist. Ähnliches gilt, und hier in stärkerem Maße, im Wortinnern. Wo eine Verlesung nicht naheliegt, wie in kirn = *kaiöm „wie heute", findet man im allgemeinen „defektive" Schreibweise, so daß bei einem so häufig gebrauchten Wort wie bt, bit „Haus" doch wohl anzunehmen ist, daß *bet neben *bait gelesen werden muß, ein Umstand, dem wir bereits im Moabitischen begegneten und der | für die hebräische Lautgeschichte von wesentlicher Bedeutung ist 4 . Nach dem Gesagten wird man sich vor einer allzu strengen Systematisierung hüten müssen und eine Deutung des inschriftlichen Sachverhaltes etwa in folgender Richtung zu suchen haben: Wahrscheinlich seit dem 10., mit Bestimmtheit und in größerem Umfange seit dem 9. Jahrhundert läßt sich der Gebrauch von Vokalbuchstaben im kanaanäischen und aramäischen Sprachbereiche beobachten. Dabei gilt schon auf früher Stufe, daß die Vokalbuchstaben von ihrem entwicklungsgeschichtlichen Bezugspunkt weitgehend gelöst sind und frei gebraucht werden, wobei sie als Vokale ausschließlich praktischen Zwecken dienen. Zugleich ist darauf zu achten, daß die Verwendung von Vokalbuchstaben fakultativ bleibt, das heißt, daß es jedem Schreiber überlassen ist, ob und in welchem Umfange er sie anwenden will oder nicht. Auffällig ist das starke Hervortreten von He 1

Vgl. hierzu etwa meinen in der Festschrift f ü r F. ZUCKER erscheinenden Aufsatz: „Ein aramäischer Papyrus aus den ersten Jahren Nebukadnezars II".

2

Welt des Orients I (1949), 2 7 2 bis 287.

3

V g l . h i e r z u BEER-MEYER I, § 3 0 , 3 c ; CROSS-FREEDMAN,

4

B E E R - M E Y E R I, § 2 2 , 4 c .

53.

[91]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

55

als Auslautvokal, verbunden mit durchaus unterschiedlichen Lautwerten. Dies mag mit der Schwäche des Konsonanten He zusammenhängen, die sich schon im Altkanaanäischen des 2. Jahrtausends beobachten läßt 1 . V Mit alledem erreicht freilich der westsemitische Schriftvokalismus nicht die Konsequenz im Lautstand und in der Anwendung, wie wir sie bei den von den Phönikern schriftgeschichtlich abhängigen Griechen feststellen können. Der Gebrauch von Vokalbuchstaben bleibt durch die Jahrhunderte hindurch stets nur Vorstufe zu einem konsequent durchdachten und allgemein verbindlichen System. Gleichwohl kommt diesem Schriftvokalismus, der im kanaanäischen wie im aramäischen Sprachbereiche gleicherweise zu Hause ist, eine bedeutsame Rolle für die Sprachgeschichte zu. Er vermittelt uns, sowohl was Beharrung wie auch Wandel in den letzten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends v.Chr. betrifft, einen Einblick in die hebräische Sprachtradition. Das gilt besonders für die seit 1947 laufend bekanntgewordenen Handschriften und Handschriftenfragmente, die wir dem essenischen „Kloster" von Chirbet Qumrän 2 , in der Nähe der Nordwestküste des Toten Meeres, verdanken. An großen Texten, die ein umfassendes Sprachbild vermitteln, sind bisher allgemein zugänglich gemacht worden: eine vollständige Jesajahandschrift (DSIa), ein Kommentar zu den ersten beiden Kapiteln des Buches Habakuk (DSH) sowie eine Schrift, die man nach ihrem wesentlichen Inhalt als „Ordensregel" bezeichnen könnte und die von ihrem Herausgeber M I L L A R B U R R O W S den Titel Manual of Discipline (DSD) erhalten hat 3 . | Die Handschriften, die man nach ihrem zuerst bekanntgewordenen geographischen Haftpunkte gern als die Texte von 'Ain Feschcha (AF.) bezeichnet, gehen ohne Zweifel auf Schreiber zurück, die zur Zeit der untergehenden Seleukidenherrschaft und in der älteren römischen Periode gewirkt haben müssen. Denn die Untersuchungen des Hüllengewebes der Rollen auf radioaktives C 14 haben ergeben, daß die Handschriften etwa 1

J . FRIEDRICH, P h ö n i z i s c h - p u n i s c h e G r a m m a t i k , § 1 8 ; BEER-MEYER I, § 2 2 , 3 b .

2

V g l . L . R O S T , T h e o l o g i s c h e L i t e r a t u r z e i t u n g 7 7 ( 1 9 5 2 ) , 2 7 7 bis 2 8 0 .

3

M. BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark's Monastery I (New Haven 1951); 112 (1952). — Zum Stand der Forschung und zu der kaum übersehbaren Literatur vgl. J . HEMPEL, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 101 (1951), 138 bis 173; P. KAHLE, Die hebräischen Handschriften aus der Höhle (1951); laufend orientiert unter der Artikelreihe „Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften" die Theologische Literaturzeitung ab Bd. 74 (1949).

56

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[91/92]

zwischen 167 v. Chr. und 233 n. Chr. deponiert worden sind 1 . Aus geschichtlichen Gründen wird man jedoch die Zeit der Deponierung auf das Ende des ersten oder auf das zweite nachchristliche Jahrhundert zu beschränken haben, so daß man als terminus ad quem für die Herstellung der jüngsten Handschriften wohl das 2. Jahrhundert n. Chr. anzusetzen hat. Die Texte von AF. sind teils mittelhebräisch abgefaßt, teils tradieren sie das klassische Hebräisch der alttestamentlichen Schriften. Im Rahmen unserer Untersuchung beschränken wir uns auf das klassische Schrifttum, und zwar auf die besonders instruktive Jesajarolle DSIa. Diese Handschrift weist einen Vulgärtext auf, den man vielleicht in die Zeit um 100 v.Chr. verweisen darf und der damit um über ein Jahrtausend älter ist als der aus dem Jahre 1008 stammende Codex Leningradensis unserer modernsten Bibelausgabe 2 . Dieser alte Jesajatext bietet zwar inhaltlich keine wesentlichen und literargeschichtlich schon gar keine Besonderheiten gegenüber der bisher bekannten Uberlieferung, dafür aber steht er formal ziemlich weit ab vom masoretischen Konsonantentext, wie er seit dem Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts in der Synagoge allmählich normativ geworden ist und wie wir ihn jetzt zu lesen gewöhnt sind. Dasjenige nun, was die Texte von AF. auszeichnet und was ihre Lesung ungemein erleichtert, ist der weitgehende Gebrauch von Vokalbuchstaben. Man könnte bei deren ausgedehnter Verwendung auf den naheliegenden und bestechenden Gedanken kommen, daß hier griechischer Einfluß am Werke sei. Aber die Übersicht über das epigraphische Material hat gezeigt, daß augenscheinlich die Schreiber von AF. an alte und älteste einheimische Traditionen anknüpfen konnten, zumal da nach Ausweis der jüdisch-aramäischen Urkunden der nachexilischen Zeit der Gebrauch von Vokalbuchstaben durch die Jahrhunderte niemals abgerissen ist. Die Nachwirkung der Tradition zeigt sich vor allem in der Inkonsequenz, mit der in AF. die Vokalisierung durchgeführt ist. In dieser Hinsicht hat der griechische Schriftvokalismus noch keine Wirkung ausgeübt. Dagegen ergibt sich jetzt ein Fortschritt in der relativen Systematisierung der Vokalqualitäten und -quantitäten. Man ist in AF. dazu übergegangen, sowohl den kurzen wie den langen Vokal anzuzeigen. Sieht man von einigen Besonderheiten und Schwankungen ab, so ergibt sich in groben Umrissen folgendes Bild: Alef steht vornehmlich für a, seltener für e im Inneren wie am Ende des Wortes; He bezeichnet vor allem die langen Auslautvokale ä und e, dagegen nicht mehr ö; Waw verkörpert ο und u, Jod i und e sowohl im Wortinneren wie im Auslaut. Soweit Alef, Waw und Jod im | Wort gebraucht werden, können sie langen oder kurzen Vokal anzeigen, gleichgültig, ob es sich um eine offene oder eine geschlossene Silbe handelt 3 . 1

Vgl. hierzu J . HEMPEL, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 101, 171.

2

Biblia Hebraica5, ed R . K I T T E L ( 1 9 4 9 ) .

3

Vgl. R.MEYER, Vetus Testamentum 3 (Leiden 1953), 2 f f .

[92]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

57

'Ajin dagegen, das in den rabbinischen Texten und in der babylonischen Vokalisation verwendet wird und das auch in AF. schon seinen Lautwert weithin eingebüßt hat, spielt noch keine Rolle. Dies wird man wohl als ein Zeichen dafür nehmen müssen, daß das Yokalisationssystem von AF. älter ist als diejenigen, wo 'Ajin linear oder supralinear e oder ajä anzeigt. Dagegen hat das Alef, abgesehen von seiner Rolle als Vokalbuchstabe, als „Alef metatheticum" Bedeutung, wie wir sie dann Jahrhunderte später aus dem Arabischen kennen. Alef metatheticum hat wohl zunächst die Aufgabe gehabt, auslautendes Waw und Jod als Vokale zu kennzeichnen, wo auch konsonantische Lesung als u oder i denkbar war, und ist dann von hier aus verallgemeinert worden. Zur Verdeutlichung des Systems seien einige wenige Beispiele von Voll- und Teilvokalisation vorgeführt: 'auön iakke rinnä 'o^ne

„Sünde" mit ' = a, u = δ; Jes. 1,15 „er schlägt" mit ' = a, h = e; Jes. 30,31 „Jubel" mit,?' — i,h = iaqättel (AF.) > i'qattel (tiberisch), wobei die Akzentverschiebung auf die Ultima im Tiberischen wohl erst der Spätstufe der hebräischen Sprachgeschichte zuzuweisen ist. Über die Vermittlung altertümlicher Formen hinaus, die uns mehr oder weniger deutlich eine Vorstellung von der Art des einst gesprochenen Kanaanäisch-Hebräischen geben, hat das Vokalisationssystem von AF. deswegen noch eine besondere Bedeutung, weil es einen Einblick gestattet in den Zustand der Sprache zu einer Zeit, als diese bereits mehrere Jahrhunderte ausgestorben war und die Männer, die sie tradierten, im Umgang bereits seit einem halben Jahrtausend und länger aramäisch sprachen. Hierbei zeigt sich nun, daß bei allen Altertümlichkeiten, die AF. mit der samaritanischen und teilweise mit der älteren babylonischen II, § 63,5d.

1

BEER-MEYER

2

BAUER-LEANDER I, § 4 5 b b i s

3

Ugaritic Handbook, § 9 , 3 1 . Ausgehend von der späten Regel des sogenannten Vorton-Qames, setzt J . H E M P E L ZU Unrecht die Form i'usr als iäuasser mit ä in der Präformativsilbe an; vgl. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 101, 142.

4

C.H.GORDON,

d.

60

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

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Aussprachetradition gemeinsam hat, doch auch wieder eine sehr starke Beziehung zu den griechischen und lateinischen Umschriften hebräischer Vorlagen besteht, die von Septuaginta und den Kirchenvätern geboten werden. Diese Umschriften, von denen den Sekunda-Fragmenten des Origenes (f um 254) besondere Bedeutung zukommt 1 , zeigen das Hebräische in einer Mischform, die nur so zu erklären ist, daß das übermächtige aramäische Umgangsidiom seinen Einfluß ausgeübt hat, so daß nunmehr ältere Formen neben jüngeren stehen, ohne daß es noch möglich wäre, etwa eine dialektische Aufgliederung zu vollziehen. Eine ähnliche Formenmischung läßt sich aus der Vokalisation von AF. erschließen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß in AF. die Vokalisation keineswegs in einer Weise durchgeführt ist, die etwa dem konsequenten Schriftvokalismus der Griechen entspricht, und daß dieser Mangel offenbar geschichtlich begründet ist. Daneben gibt es jedoch | auch Setzungen und Auslassungen von Konsonanten und besonders Vokalbuchstaben, die man nicht einfach aus der geschichtlich bedingten Inkonsequenz herleiten kann. Das gilt etwa vom Suffix der dritten Person M. PL, das nach der geläufigen grammatischen Tradition -m oder -haem lautet, von AF. aber in dreifacher Schreibweise geboten wird; z. B. Ihmä = lahtmmä „ihnen" (Jes. 34,14), ferner 'rsmä = 'arsämmä (Jes. 34,7) und 'rsm — 'arsäm (Jes. 36,20), beidemal in der Bedeutung „ihr Land". Es wurden hierbei mit Absicht Formen gewählt, die in der Jesajarolle eng benachbart sind. Das dreifache Schriftbild spiegelt nun offensichtlich drei Ausspracheformen wider, die zwar genetisch nach der Ableitung -ahimmä > -ämmä > -amä > -äm zusammenhängen, jedoch in ihrer gleichzeitigen Anwendung auffallen und damit den Mischcharakter der Sprachstufe von AF. erweisen. Ebenso liegen die Dinge beim Verbum. In diesem Zusammenhange sei etwa verwiesen auf die sprachgeschichtlich interessante zweite Person F. Sg. im Perfektum. Sie begegnet Jes. 17,10 in zweifachem Schriftbild: skbti „du hast vergessen" und \krt „du gedachtest". Würde man nach der Orthographie der klassischen Zeit verfahren können, so läge die Annahme inkonsequenter Schreibweise nahe, und man würde sowohl sakähtt wie *%akärfi lesen, genau wie im Samaritanischen „defektives" shqt stets saäqtl „du hast gelacht" (Gen. 18,15) ausgesprochen wird2. Für ein solches Verfahren könnte auch sprechen, daß noch Origenes und Hieronymus die vollen Formen gekannt haben3. Gleichwohl wäre eine solche Folgerung unrichtig. Denn wenn Origenes und Hieronymus einerseits die voll auslautenden F.-Formen kennen, so überliefern sie uns andererseits in Übereinstimmung mit der palästinischen 1

Vgl. hierzu zuletzt E. BRONNO, Studien über hebräische Morphologie und Vokalismus (1943).

2

F. DIENING, Das Hebräische bei den Samaritanern (1938), 21.

3

A. SPERBER, Hebrew Union College Annual X I I bis X I I I (Cincinnati 1937 bis 1938), 256.

[93/94]

Die Bedeutung der linearen Vokalisation

61

Punktation, daß bei der 2. Person M. Sg. des Perfektums die Aussprache zwischen qatältä und qatalt sehr stark schwankt 1 . Würden wir für die 2. Person F. nicht nur so wenige Belege besitzen, so würde sich genau das gleiche Bild wie bei der 2. Person M. ergeben, die übrigens in AF. zu den Formen gehört, die im Schriftbild überwiegend mit Auslautvokal erscheinen, z. B. 'mrtä = 'amärtä „du hast gesprochen" (Jes. 14,13). Daß in der Tat die Aussprache der 2. Person F. nicht einfach nach den angeführten Formen bei Origenes und Hieronymus rekonstruiert werden darf, zeigt der masoretische Konsonantentext, der neben den Kurzformen solche mit Auslautvokal erkennen läßt, z. B. Imdti = limmädti „du lehrtest" (Jer. 2,33). Von hier aus kann nur geschlossen werden, daß in den ersten Jahrhunderten n. Chr. die Aussprache schwankte, und in Analogie zu den bereits belegten Mischformen wird man auch hier sakähti und %akart nebeneinander bestehen lassen und annehmen müssen, daß die Vollform die ältere ist, während die Kurzform auf den Einfluß der immer mehr zur Vereinfachung drängenden aramäischen Umgangssprache zurückgehen mag 2 . I Die Verwandtschaft von AF. zu den Transkriptionen, wie wir sie auf Grund von Mischformen glauben feststellen zu können, läßt sich auch anderweit erweisen. Aus dem umfangreichen Material sei ein Beispiel angeführt, das der Lautgeschichte angehört. Im Alten Testament begegnet die Imperfektform tpth = tiberisch iiftah „er öffnet" auch als Eigenname „Jeftah" 3 . Aus diesem Grunde ist ipth in Septuaginta transkribiert als Ιεφθαε erhalten (Jdc. 11,1 ff.), wobei Epsilon nicht einfach als Vokal zu werten ist, sondern noch gesprochenes, also stark artikuliertes Het = h anzeigt 4 . In AF. begegnet fernerhin tpth = topte mit h für h (Jes. 30,33 5 ). Es liegt also ein „Schreibfehler" vor, wobei der Kehllaut Het den reinen Vokal He = e ersetzt hat, ein Zeichen für in der Aussprache vollzogene Laryngalelision 6 . Die gleiche Erscheinung kann man auch in der Sekunda beobachten, wo die hebräische Vorlage 'pth mit εφθα „ich öffne" (Ps. 49,5) umschrieben wird 7 . Somit stehen AF. tpth und εφθα lautgeschichtlich auf gleicher Stufe. Sie sind ohne Zweifel jünger als Ιεφθαε der Septuaginta, aber hinwiederum auch älter als tiberisches iiftah und 'aeftah, die Kehllautrestitution voraussetzen 8 . 1 2

Vgl. hierzu P. KAHLE, The Cairo Geniza, 95 bis 102. Zum tiberischen Schema der Verteilung von maskulinen und femininen Formen im P e r f e k t u m v g l . B E E R - M E Y E R I I , § 6 4 , 2 b b i s c.

3

M . NOTH, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung (1928), 28 und 200.

4

Zum Problem der unterschiedlichen Artikulation siehe BEER-MEYER I, § 22,3c.

5

„Brandstätte" mit unsicherer Vokalisierung.

6

R.MEYER, Theologische Literaturzeitung 75, 723.

7

M. BRONNO, Studien über hebräische Morphologie und Vokalismus, 32.

8

Vgl. BEER-MEYER II, § 7 5 , 6 .

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Die Bedeutung der linearen Vokalisation

[94]

Aus derartigen Beobachtungen sollen keinerlei weittragenden Schlüsse etwa literaranalytischer Art gezogen werden. Denn es ist ja in Septuaginta ebenso wie in der Sekunda der Fall, daß lautgeschichtlich jüngere und ältere Formen unvermittelt nebeneinanderstehen. Gezeigt werden soll lediglich, daß auch lautgeschichtlich Beziehungen zwischen AF. und den Transkritionen vorhanden sind und somit AF. mitten im Flusse der Entwicklung steht. Damit aber schließt sich der Kreis. Wir konnten feststellen, daß die lineare Vokalisation von AF. auf alter einheimischer Tradition beruht, die bis in die frühe Königszeit hinaufreicht. Zugleich ergab sich, daß dieser | Schriftvokalismus einerseits einen nicht kanonisch erstarrten Text voraussetzt, andererseits aber infolge des Fehlens von 'Ajin noch nicht seine volle Ausprägung erreicht hat, damit also schwerlich die unmittelbare Voraussetzung für das babylonische supralineare System älteren Typs darstellen kann, wenngleich beide Systeme offensichtlich in der gleichen Traditionslinie stehen. Die Vokalisation von AF. läßt nun ihrerseits Formen erkennen, die ausgesprochen altertümlichen Charakter haben und ohne Zweifel in die Frühzeit des Kanaanäisch-Hebräischen zurückreichen. Zugleich weist die Form- und Lautgeschichte aber ausgesprochen spätzeitliche Züge auf. Es liegt also aufs Ganze gesehen das typische Bild einer ausgestorbenen, nur noch durch Gelehrte tradierten Sprache vor, wo die verschiedenen Formen, seien sie jung oder alt, vielleicht auch ursprünglich verschiedener dialektischer Herkunft, unvermittelt und unausgeglichen nebeneinander stehen. Für die hebräische Sprachgeschichte ist diese Erkenntnis, die das Vokalsystem von AF. vermittelt und die durch die Transkription und die Aussprache der Samaritaner erhärtet wird, von wesentlicher Bedeutung. Denn die Vokalisation, die wir von ihren syllabischen Ansätzen in Ugarit durch 1500 Jahre bis zu dem umfangreichen Schriftvokalismus von AF. verfolgen können, macht es möglich, ein historisch einigermaßen wahrscheinliches Bild von der Entwicklung des Hebräischen zu entwerfen. Zugleich sind wir dadurch in der Lage, nicht nur die Aussprachetraditionen in den griechischen und lateinischen Umschriften, sondern vor allem auch die morphologischen Überlieferungen der Babylonier und der Samaritaner sachgemäß einzuordnen. Im Zusammenhang hiermit gewinnt auch die Sprachgestalt an Farbe, die im masoretischen Konsonantentext des Alten Testaments vorliegt und die bekanntlich nicht ohne weiteres mit dem tiberischen System identisch ist, sondern hierzu oft beträchtliche Spannungen aufweist. Schließlich verdanken wir es der linearen Vokalisation, daß wir mit Hilfe des so erschlossenen älteren Materials das System der Tiberier historisch einordnen und ihm in der Geschichte des Hebräischen den entsprechenden Platz zuweisen können.

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Ein aramäischer Papyrus aus den ersten Jahren Nebukadnezars II. (604 — 562 v. Chr.) I. Die neuere Forschung hat gezeigt, daß das Hebräische mit seinen literarisch hauptsächlich in Erscheinung tretenden Zweigen Nordisrealitisch und Judäisch als Dialektgruppe dem südlichen Zweige des Kanaanäischen zugehört1). Die Geschichte des Kanaanäischen, der Sprache „des Landes der roten Purpurwolle" 2 ), läßt sich jetzt dank der Funde von Ugarit bis in die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. zurückverfolgen3), und sie zeigt, daß wir es hier mit der einheimischen Verkehrs-und Literatursprache zu tun haben, die nach Morphologie und Syntax jeden Vergleich mit dem zeitgenössischen Altbabylonisch etwa eines Hammurapi (1728 bis 1686 v. Chr.4)) aushält, ja in bezug auf Schriftgestalt und Ausdrucksmöglichkeit dem Ostsemitischen weit überlegen ist. Gewiß, internationale Diplomaten- und Handelssprache war das Kanaanäische nicht. Die Amarna-Korrespondenz der ägyptischen Könige des 14. Jhs. v. Chr. mit den Kleinfürsten Syriens zeigt uns, daß das Akkadische, in Keilschrift geschrieben, den internationalen Verkehr Vorderasiens beherrschte. Aber das Akkadische besaß trotzdem nicht die Kraft, das Kanaanäische irgendwie zu gefährden; dazu war es im Ausdruck zu starr und in der schriftlichen Überlieferung zu kompliziert und unhandlich. Gleichwohl können wir eine Gefährdung des Kanaanäischen seit den letzten Jahren des 2. Jts. beobachten. Der Einbruch der „Seevölker", der u. a. dem Hetiterreich ein Ende machte, trug um 1200 zum Untergang des nordsyrischen Kleinstaates von Ugarit bei. Damit verschwand der nordkanaanäische Dialekt jener Gegend; genauer, nach Vernichtung seines kulturellen und wirtschaftlichen Zentrums mußte er allmählich dem zur südlichen Gruppe gehörenden Phönikischen weichen, das in der Folgezeit weit nach Norden hin ausstrahlte. Abgesehen von derartigen Völkerwanderungskatastrophen behielt das Kanaanäische zunächst seine volle Lebenskraft. Nirgends wird das deutlicher als an dem Verhalten der Israeliten nach ihrer Landnahme, die im Laufe des 12. Jhs. ihren Abschluß fand. Die Forschung hat wohl recht, wenn sie das Eindringen der israelitischen Stämme aus den Wüstenrand-

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Ein aramäischer Papyrus

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gebieten nach Kanaan im wesentlichen mit der sog. „aramäischen" Völkerwanderung in Zusammenhang bringt. In der Tat scheinen die Stämme und Gruppen, die schließlich den Wanderungsprozeß abgeschlossen und ihm in der Tradition das Gepräge gegeben haben, aramäische Verbände gewesen zu sein. Dieselben hatten sprachlich ihr eigenes, eben aramäisches Gepräge; Aber sie gaben ihre sprachliche Eigenart auf und übernahmen mit kanaanäischer Kultur Schrift und Sprache Kanaans. Diese Übernahme war so umfassend, daß sich kaum Reste der vorkanaanäischen Sprache Israels nachweisen lassen. Andererseits hat sich noch lange nach dem Exil, bis um die Mitte des 2. Jhs. v. Chr., die Erinnerung daran erhalten, daß die Sprache, die wir als „Hebräisch" bezeichnen, im Gegensatz zum Aramäischen die „Sprache Kanaans" ist8). So stark die Lebenskraft des Kanaanäischen um die Jahrtausendwende auch war, ein Gegner, der viel gefährlicher war als das Akkadische, war das Aramäische. Nicht überall verlief nämlich der Prozeß so wie in Südsyrien. In Mittel- und Nordsyrien, also im phönikischen Hinterland, bildete sich Aramäisch zur Schriftsprache heraus. Das gleiche gilt wohl für die zahlreichen aramäischen Staatengründungen in Mesopotamien, und man kann annehmen, daß im Zuge der Kämpfe, die das Assyrerreich mit den Aramäern zu bestehen hatte, d. h. infolge der Verpflanzung aufständischer Völker und der mehr und mehr zunehmenden Einverleibung aramäischer Gebietsteile, das aramäische Volks- und Sprachelement ziemlich drückend wurde. So dürften im Laufe des 8. zum 6. Jh. die akkadischen Dialekte Assyriens und Babyloniens allmählich in den gelehrten und sakralen Bereich abgedrängt worden sein. Dementsprechend ist wohl im 8. Jh. v. Chr. kein hoher · Regierungsbeamter im neuassyrischen Reiche denkbar, der nicht Aramäisch als zweite Amtssprache sowie Sprache des internationalen Handels und Verkehrs beherrschte6). Damit steht also das Kanaanäische bereits im 8. Jh. einer aramäischen Koine gegenüber. Dieser Sachverhalt wird deutlich an i. Könige 18, 28. Hier wird berichtet, wie Hiskias Palastvorsteher Eljakim anläßlich der Belagerung Jerusalems durch Sanherib im Jahre 701 v. Chr. den assyrischen Oberbefehlshaber bittet, seine gegen den König Hiskia gerichteten Propagandareden doch nicht judäisch, sondern aramäisch zu halten: „Sprich doch mit deinen Knechten aramäisch, denn wir verstehen es; aber sprich vor den Leuten auf der Mauer nicht judäisch mit uns!" Hiernach erscheint das judäische Lokalidiom als Sprache des inneren Gebrauchs. So spricht und schreibt man in den engen Grenzen des nationalen

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Bereiches7). Dagegen ist die Sprache der großen Welt, der Diplomatie und des internationalen Handels das Aramäische. Dieser Satz gilt, auch wenn man in Rechnung zieht, daß im Rahmen des Kanaanäischen das Phönikische insofern eine Ausnahme macht, als die seefahrenden Phöniker über ausgedehnte internationale Beziehungen nach dem Westen verfügten; aber bezeichnend ist, daß sie in Syrien so gut wie über keinerlei Hinterland geboten. II. Die hier kurz skizzierte sprachliche Situation wird neuerdings durch ein bedeutsames politisches Dokument beleuchtet, das wohl dem Anfang des 6. Jhs. v. Chr. zuzuweisen ist. Bei Ausgrabungen in Sakkära (Memphis) kam 1942 ein Papyrus zum Vorschein, der unterdessen von D U P O N T SOMMER und von H . L . G I N S B E R G bearbeitet worden ist8). Da er m. W . in Deutschland noch nicht genügend beachtet wurde, sei er im folgenden vorgelegt. Der Text lautet: ι 2 3 4 5 6 7 8 9

Ί mr' mlkn pr'h 'bdk 'dn mlk [. . smi' u'rq' ub'lsmin '1h[' rb' . . . . pr'h kiumi smin 'min zi [ . . . . zi mlk bbl 'tu mt'u 'pq u§[riu. . . 'hzu u k— ki mr' mlkn pr'h id* ki *bd[k . . . . ImSlh hil lAslti 'Hsbqn[i utbth 'bdk nsr ung«' z k m [ . . . . phh bmt' uspr Sniui s/>[. . . .

Leider ist aus der Wiedergabe des Papyrus durch G I N S B E R G nichts über die Maße des Dokumentes zu ersehen, ebenso wie er bedauerlicherweise auch nur den Text in der normalen Quadratschrift wiedergibt. Bezüglich der Größe des erhaltenen Fragmentes wird man jedoch nach Maßgabe der notwendigen Ergänzungen annehmen müssen, daß vom Ganzen mindestens ein Drittel zerstört ist, somit also knapp zwei Drittel erhalten sind. Das Bruchstück genügt jedoch, um wenigstens die Hauptzüge des Inhalts zu rekonstruieren. Das Dokument ist altaramäisch abgefaßt. Es zeichnet sich durch einen klaren Briefstil aus und weist ziemlich viele Vokalbuchstaben (' = a/e, u = u/o, i = i/e, h = o/e/a) auf, die seine Lesbarkeit natürlich wesentlich erhöhen8"). Nur an einigen Stellen schwanken die Meinungen der Herausgeber.

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Ein aramäischer Papyrus

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Es seien zunächst die Ergänzungen besprochen: In Zeilen ist ub'lsmin = üba'lsamain unter Ergänzung des ' 8 ) zu lesen; ebenso dürfte die Konjektur 'lh mit der Erweiterung ΊΑ[' r b ' = 'elähä rabbä zu Recht bestehen. In Zeile 4 ist m.'. nach 'tu = 'atö „sie sind gekommen" zu mt'u — mata'ü ,,sie haben erreicht" ergänzt. Die Konjektur usriu = uasar— riu „sie haben begonnen" aus us[ .. dürfte ebenfalls dem Zusammenhang entsprechen. In Zeile 6 ist am Ende 'bd[k nach dem gleichen Wort in Zeile 1 = 'abdakä „dein Knecht" ergänzt. In Zeile 7 ist nach der Beschreibung des Originals sowohl die Lesart lAslti = lahassalati „zu meiner Rettung" wie die Schreibvariante lAslti möglich10). In der gleichen Zeile ist 'l.sbqn [ . . . wohl zutreffend zu Ί isbqn[i = 'al iasbuqannl 10a ) „er möge mich nicht verlassen" ergänzt. Auf Zeile 8 bereitet ung.' Schwierigkeiten. Am meisten leuchtet GINSBERGS Konjektur ung«' = *uanaguä ein; wahrscheinlich liegt hier der Singular zu dem späterhin allein noch begegnenden Plural naguän (absolutus) und naguätä (emphaticus) vor: „Inseln, Küstenland" 10 b). In Zeile 9 werden die letzten Worte von GINSBERG unübersetzt gelassen. Doch wird man vielleicht uspr = uaspar „und Grenze" zu lesen haben 11 ). Hierzu würde das folgende sniu, das GINSBERG ZU snim ergänzt, passen. Man hätte dann etwa die suffigierte Verbform sanmue „sie verändern ihn" zu lesen, was auf vorhergehendes spar zu beziehen wäre. Was den Wortschatz betrifft, so fällt in Zeile 8 das Demonstrativum zkm auf, das jüngerem dikken „dieser, diese" entspricht. Die vonRosENTHAL vorgeschlagene Konjektur znh 12 ), vgl. jüngeres d c nä „dieser", halte ich für unnötig. Schließlich sei auf m t ' = mätä „Stadt, bewohnter Ort" verwiesen, ein akkadisches Lehnwort, vgl. mätu „Land" 1 3 ). Syntaktisch bestehen dadurch Schwierigkeiten, daß jeweils ein gutes Zeilendrittel am Schluß weggebrochen ist. Immerhin ergibt auch hier das Briefformular als solches einige Anhaltspunkte zur Ergänzung. In Zeile 1 begegnet zunächst der Briefempfänger: Ί mr' mlkn p r ' h = 'el mare molkm par'ö „ A n den Herrn der beiden Königreiche 14 ), Pharao". Es folgt nunmehr der Absender: 'bdk 'dn m l k . . . = 'abdakä 'adön malk . . . „dein Knecht Adon, der König von . . . " Die Grußformel ist am Anfang verstümmelt; aber aus Zeile 2 wird deutlich, daß zwei Gottheiten als Segenspender angerufen werden. Entsprechend der Eigenart des monarchianischen Polytheismus der Westsemiten, der seine Spuren auch im Alten Testament und den Texten von Elefantine hinterlassen

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hat, kann es sich nur um die „Himmelskönigin", akkad. sarrat §ame, Astarte-Venus handeln. Dementsprechend ist etwa zu ergänzen: [i6imun 'strt mlkt] (2) smi' u'rq' ub'lsamin Ίh[' rb' krs'] (3) pr'h kiumi smin 'min = [iaSimün 'strt malkat] (2) samaiä ua'arqä uba'lsamain 'eläh[ä rabbä korse] (3) par'ö kaiaume samain 'amln „Mögen Astarte, die Königin (2) Himmels und der Erde, sowie Ba'alsamen den Thron (3) des Pharao beständig machen wie die Tage des Himmels!" Die eigentliche Mitteilung beginnt mit zi l s ) = „daß", und dem Sinne nach hat in der Lücke gestanden: „Daß ich an meinen Herrn schreibe, hat darin seinen Grund, daß ich dich unterrichten möchte, daß . . . " eine Floskel, die aramäisch wesentüch kürzer ausfällt, daher ohne weiteres auf Zeile 3 noch Platz hat. Darüber hinaus muß am Zeilenende noch ein Wort für „Truppen", etwa das kollektive hil* = hailä1®), gestanden haben, das im nachfolgenden Verbum pluralisch wiedergegeben werden kann. So ergibt sich für Zeile 3 am Ende und 4: . . . hil'] (4) zi mlk bbl 'tu mt'u 'pq us[riu . . . = hailä] (4) ζϊ malk babel 'atö mata'ü 'apiq uasa[rriu: „daß die Truppen (4) des Königs von Babel gekommen sind und Afeq erreicht und begonnen haben . . . . " In Zeile 5 ist abgesehen von nichtssagendem u „und" nur 'hzu ='ahazu „sie haben eingenommen" erkennbar. Am Ende der Zeile 5 setzte wohl das Gesuch um Hilfstruppen ein. So wird Zeile 6 als Nachsatz verständlich: ki mr' mlkn pr'h id* ki 'bd[k . . . = kl mare molkin par 'ö iädi' ki 'abd[akä . . ." denn der Herr der beiden Königreiche, Pharao, weiß, daß dein Knecht . . ." offenbar allein den Kampf nicht bestehen kann. Die Folge ist die Anforderung von Truppen. So setzt, nachdem das entsprechende regierende Verbum am Zeilenende ausgefallen ist, Zeile 7 mit der finalen Infinitivkonstruktion ein: lm§lh hil lÄslti = lamislah hail lahassalatl „Truppen zu senden, um mich zu erretten". Die Bitte wird noch einmal unterstrichen durch Ί i s b q n [ i . . . . = 'al iasbuqann[i. . . ." es verlasse mich nicht . . . .", seil, der Herr der beiden Königreiche. Das weggebrochene Zeilenende enthielt offenbar noch den Beginn der Loyalitätserklärung, die sich in Zeile 8 fortsetzt: utbth 'bdk nsr = uatäbte 'abdakä näsir „und seiner Güte ist dein Knecht eingedenk". Hiermit verbunden ist noch einmal der Hinweis, daß der betreffende Landstrich der Oberhoheit und damit der Schutzherrschaft des ägyptischen Königs untersteht: ung«' zkm = uanaguä zakum 17 ) . . . „und dieses Küstenland . . ." seil, ist des Königs Land. Der stark zerstörte Schluß scheint einen Konditionalsatz: „wenn a b e r . . ." enthalten zu haben. Unter diesem Aspekt wird dann auch der altertümliche Perfekt-

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Gebrauch18) in Zeile 9 (snim) verständlich. Sinngemäß wäre zu ergänzen: „Wenn aber die Truppen des Königs von Babel diesen Küstenstreifen nehmen, dann werden sie einsetzen. . .". Damit ist Zeile 9 erreicht, die mit dem entsprechenden Akkusativobjekt beginnt: phh bmt' uspr sniuj . . . = pehä bamätä uaspar sanmue . . . " einen Statthalter in der Stadt und die Grenze, verändern werden sie dieselbe . . .". Damit ergibt sich als Übersetzung des Fragmentes: 1. An den Herrn der beiden Königreiche, Pharao. Dein Knecht Adon, König von . . . . 2. des Himmels und der Erde, und Ba'alsamen, der Große Gott 3. des Pharao wie die Tage des Himmels beständig. Betreffend [ , daß die Truppen] 4. des Königs von Babel gekommen sind und Afeq erreicht haben und begonnen haben . . . . 5. sie haben eingenommen und 6. Denn der Herr der beiden Königreiche, Pharao, weiß, daß [dein] Knecht 7. zu senden Truppen zu meiner Rettung. Nicht verlasse er [mich. . 8. und seiner Güte ist dein Knecht eingedenk. Und dieses Küstenland 9. einen Statthalter in der Stadt, und die Grenze — verändern wird man sie III. Die Erschließung der geschichtlichen Situation ist dadurch erschwert, daß nähere Angaben in dem uns erhaltenen Teile des Dokumentes weithin fehlen. Besonders störend ist der Ausfall der Ortsangabe beim Absender: „Dein Knecht Adon, König von . . . . " . Hier helfen nur indirekte Beobachtungen weiter. Der Tenor des ganzen Dokuments spricht dafür, daß hier ein südsyrischer Stadtkönig den Pharao um Hilfe angeht, der offenbar in unmittelbarer Nachbarschaft Ägyptens lebt. Die Annahme liegt nahe, daß es sich in dem Zeile 4 genannten Afeq um das heutige Räs el '£n in der Saron-Ebene, ostnordöstlich Jaffa, handelt19). So wird man vielleicht in Adon einen Stadtfürsten der philistäischen Ebene zu sehen haben. A L B R I G H T geht noch ein Stück weiter®0). Er macht darauf aufmerksam, daß 592 V. Chr. sich in Babylonien zwei „Söhne des Aga, des Königs von Askalon" nachweisen lassen. Sie scheinen die Vornehmsten aus einer Exulantenschar zu sein, die offenbar infolge von Kriegshandlungen von Askalon nach Babylon deportiert worden ist. Die Art,

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wie die beiden Prinzen zitiert werden, spricht dafür, daß ihr Vater sich dem Großkönig ncch zeit gerecht unterworfen hat und nach Ableistung seines Tributes an Menschen und Sachwerten auf seinem Throne belassen wurde. Nun wissen wir leider gar nicht, wann Aga von Askalon unter die neubabylonische Herrschaft gebeugt wurde. Die Kombination von ALBRIGHT, der sich GINSBERG durch hypothetische Einsetzung von Askalon anschließt, muß bis auf weiteres als höchst unsicher angesehen werden. Vorläufig werden wir uns damit begnügen, in Adon einen südpalästinischen, vielleicht aus der Küstenebene stammenden Kleinfürsten zu sehen. Ebenso unsicher ist die genauere zeitliche Ansetzung des Briefes. Deutlich ist jedoch, daß das Dokument aus der Zeit stammt, wo das neubabylonische Reich sich über den Besitz Syriens mit Ägypten erfolgreich auseinandersetzte. Der Kronprinz Nebukadnezar hatte 605 v.Chr.— wahrscheinlich bei Karkemisch am Eufrat — den Pharao Neko II. (609 bis 595) geschlagen und Ägypten aus Syrien vertrieben 21). Da im Jahre 604 sein Vater Nabopolassar starb, konnte er offenbar seinen Sieg nicht auswerten, weil er in Babylon seinen Thron sichern mußte. Zwar hatten sich die südpalästinischen Kleinstaaten unterworfen, aber es hat den Anschein, als ob die Kleinfürsten im Vertrauen auf ägyptische Hilfe wiederholt auf Abfall sannen. Nach 2. Könige 24,1 hat Jojakim von Juda nur drei Jahre seinen Vasallenbund mit Nebukadnezar eingehalten. Dann soll er abgefallen sein; doch Nebukadnezar schickte Truppen ins Land und bot dazu noch einige Nachbarvölker im Osten und Süden auf. Vorausgesetzt, daß die Angaben zuverlässig sind, müßte diese Expedition ins Jahr 602 v. Chr. gefallen sein. Sie hätte sich dann auch gegen benachbarte Kleinstaaten von Juda gerichtet. Aber das Dokument macht nicht den Eindruck einer solchen mehr oder weniger vorübergehenden Aktion. Es hat vielmehr den Anschein, als ob die Babylonier, der König selbst scheint nicht anwesend zu sein, dabei sind, unter den Rebellen aufzuräumen und zugleich die Provinzialverhältnisse neu zu ordnen. Hierfür spricht, falls Zeile 9 richtig interpretiert ist, die drohende Einsetzung eines Statthalters und die Veränderung in der Gebietseinteilung. Das ähnelt aber ganz dem Vorgehen der Generäle des Großkönigs gegen Jerusalem 598 v. Chr. Hier können wir die durch die babylonische Expedition hervorgerufenen Veränderungen in Juda ziemlich gut verfolgen: D er Sohn und Nachfolger des aufständischen Königs, der junge Jojachin, wurde mit Familie, Beamtenkorps und dem wehrfähigen Landadel depor-

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tiert und lebte fortan in Babylon, ähnlich wie die Söhne des Aga von Askalon. Auch die übrigen Maßnahmen, bis hin zur Einsetzung des Sedekia, der in der Tat nicht mehr als ein Statthalter war, sprechen für eine grundsätzliche Neuordnung; anscheinend erfolgte damals auch eine entscheidende Gebietsverkleinerung Judas, d. h. eine Neuordnung der territorialen Verhältnisse in Südsyrien®2). Es ist mehr als wahrscheinlich, daß das kleine Königreich von Juda damals nicht allein gestanden hat, sondern in anderen Kleinfürstentümern Verbündete besaß, und daß diese Koalition sich auf den „kranken Mann am Nil" verließ. So möchte es scheinen, daß das Dokument in aramäischer Sprache in das dramatische Jahr 598 hineingehört, als Nebukadnezar die Provinzialverhältnisse in Südsyrien durch seine Offiziere neu ordnen ließ. Dabei hat er offenbar nicht nur Jerusalem, sondern, wie unser Brief zeigt, auch manch anderes Fürstentum heimgesucht. Einer der Leidtragenden war der König jener heute nicht mehr genannten Stadt in der Küstenebene.

IV. Dasjenige, was philologisch an diesem politisch-geschichtlich so bedeutsamen Papyrus interessant ist, ist ohne Zweifel die Rolle, die das Aramäische um 600 v. Chr. spielt. Adon ist ein echt kanaanäischer Name, und zwar eine Kurzform; vgl. aus dem Alten Testament etwa Adoniram, Adoniqam, Adonijahu. So wie nun in Juda die Sprache des inneren Gebrauchs Kanaanäisch in lokaler Ausprägung war, so gilt das ohne Zweifel auch für jenen unbekannten Ort aus der Küstenebene. Sobald man aber in die große Welt hinaustrat, bediente man sich des Aramäischen. Dies war nicht nur Verkehrssprache in dem neubabylonischen Imperium, sondern auch die Diplomatensprache am Nil. Der Papyrus von Sakkära ist also ein treffender Beweis dafür, daß nicht erst die Achämeniden das Aramäische zur Verkehrssprache erhoben haben. Im Gegensatz zum Akkadischen war das Aramäische eine geschmeidige, dazu dem Kanaanäischen eng verwandte Sprache. Ergab sich schon von hier aus eine starke Gefährdung des sprachlichen Eigenlebens, so mußten die Lokalidiome erst recht bedroht werden, wenn in zunehmendem Maße die nationalen Grenzen fielen. Dies aber war seit neuassyrischer Zeit laufend der Fall und fand seinen Abschluß mit der 587 v. Chr. erfolgten Eroberung Jerusalems. Damit begann der Zerfallsprozeß einen ständig wachsenden Umfang anzunehmen. In den nunmehr folgenden Jahrhunderten starben die

[261]

71

E i n aramäischer Papyrus

kanaanäischen Dialekte aus. Nur ein Idiom erhielt sich durch die Zeiten: das judäische und das samaritanische Hebräisch. Politisch seit dem 6. Jh. v. Chr. mehr und mehr zurücktretend, wurde es auf den sakralen und de η damit eng verbundenen akademischen Raum beschränkt. Seine Geschichte bis hin zur endgültigen Fixierung im frühen Mittelalter ist nicht mehr die einer selbständigen Sprache, sondern die eines Sakral- und Literaturidioms, das in Wechselbeziehung steht zur jeweils in den großen geographischen Räumen und politischen Epochen herrschenden Koine, insbesondere zum Aramäischen, späterhin auch zum Griechischen und schließlich zum Arabischen. Das kleine Dokument aber, das um 6oo v. Chr. König Adon in seiner Not an den Pharao sandte, ist ein Zeuge aus der ersten Phase jenes sprachgeschichtlich so bedeutsamen Prozesses, der zum Verschwinden des Kanaanäischen aus dem großen Leben der Politik und des Wirtschaftslebens geführt hat. ANMERKUNGEN BEER-MEYER, Hebräische Grammatik I (1952), § 4. 2)

a. a. O., § 41,3.

3)

C.H.GORDON, Ugaritic Handbook (Rom 1947).

*) Zur Datierung vgl. W . v . SODEN, Welt des Orients 3 (1948),190. 5)

Jesaja 19, 18.

·) V g l . z u m Problem F.ROSENTHAL, Die aramäische Forschung (Luiden 1939), 1—71. ') Vgl. die Ostraka von Lachis; H.TORCZYNER, Lachish I (Oxford 1938). 8)

Bulletin of the American Schools of Oriental Research ( = BasoR), H I (1948), 24—27. Die Veröffentlichung v o n DUPONT-SOMMER in Semitica I (1948), 43—68, ist mir leider nicht zugänglich; ferner J . BRIGHT, T h e Biblical Archaeologist 12 (1949), 46—52.

,a)

V g l . hierzu CROSS — FREEDMAN, E a r l y Hebrew Orthography,

(New H a v e n

1952),

21—34· 9)

Kursivdruck bei einem Buchstaben h, p usw. bedeutet Ergänzung im Wortinneren, die als sicher anzusehen ist.

W)

L . GINSBERG, a. a. O., 25 A n m . 4a.

loa)

W o h l verkürzt aus *iasbuqannanl.

10b)

Zu * n a g u ä vgl. a k k a d . n a g ü ;

M. JASTROW, A Dictionary of the Targumim, t h e

T a l m u d B a b l i and Y e r u s h a l m i , and the Midrashic Literature (New Y o r k 1926), 873 s. v . naguän. ")

Zu spr „ G r e n z e " vgl. ζ. Β . b a b y l . Jebamot 48a.

1! )

N a c h L . GINSBERG, a. a. Ο., 25 A n m . 4c. L . GINSBERG, a . a . O . , 26 A n m . 10.

72

Ein aramäischer Papyrus

[262]

14)

Vgl. aus ptolemäischer Zeit den Titel κύριος βασιλειών; GINSBERG, a. a. Ο., 25 Anm. 5· Anders DÜPON τ-SOMMER, doch schwerlich mit Recht.

15)

zi = dl.

le)

Möglich ist auch der Plural hailaiä.

") Zu zkm vgl. auch A. COWLEY, Aramaic Papyri of the 5th Century Β. C. (Oxford 1923), Nr. 65, 3. ie ) w

Hierzu BAUER-LEANDER, Grammatik des Biblisch-Aramäischen (1927). §79n.

) L. KÖHLER, Lexicon in Veteris Testamenti libros (Leiden 1948), 79. B e i L . GINSBERG, a . a . O . , 26 A n m . 7.

21 2i

) M.NOTH, Geschichte Israels (1950)), 242.

) M.NOTH, a. a. O., 245.

[139]

DAS PROBLEM DER DIALEKTMISCHUNG IN DEN HEBRÄISCHEN TEXTEN VON CHIRBET QUMRAN 1 ) Leonhard Rost %um sechzigsten Geburtstag Die gegenwärtige Forschung auf dem Gebiete der Hebraistik ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Einerseits vermittelt eine Fülle von neuerschlossenem Material uns heute Einblicke in die Geschichte der hebräischen Sprache, wie man sie noch vor wenigen Jahrzehnten für unmöglich gehalten hätte; 2 ) andererseits aber sind mit diesen Neuentdeckungen Probleme aufgetaucht, die das bisherige Bild vom Hebräischen wesentlich komplizieren. 3 ) Zu diesen Problemen gehört unter anderem die durch die Funde von Chirbet Qumran aufgeworfene Frage einer Dialektmischung im Hebräischen auf einer verhältnismässig späten Stufe der geschichtlichen Entwicklung. Bereits kurz nach dem Bekanntwerden der ersten Textproben von Qumran stellte man mit Hilfe der vor allem in dem zweiten Teile von 1 Q Js" begegnenden, stark ausgeprägten linearen Vokalisation *) — der sogenannten Pleneschreibung — fest, dass sich in Qumran eine Reihe von ausgesprochen altertümlichen Formen belegen lassen; 5 ) und zwar handelt es sich hierbei einesteils um Bildungen, Vorliegender Aufsatz gibt ein durch Anmerkungen ergänztes Referat wieder, das auf dem zweiten Kongress der International Organisation of Old Testament Scholars am 28. August 1956 unter dem Titel „Zum Problem einer historischen Grammatik der hebräischen Sprache" in Strassburg gehalten wurde. 2) Vgl. hierzu B E E R - M E Y E R , Hebräische Grammatik I, Berlin 1952, § 5. 3 ) Vgl. R. M E Y E R , „Probleme der hebräischen Grammatik", ZAW (ti (1951), S. 221-235; derselbe, „Zur Geschichte des hebräischen Verbums", VT 3 (1953), S. 225-235. 4 ) Zur Geschichte der Vokalisation im Hebräischen vgl. C R O S S - F R E E D M A N , Early Hebrew Orthography, New Haven 1952; R. M E Y E R , „Die Bedeutung der linearen Vokalisation für die hebräische Sprachgeschichte", Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig 3 (1953/54), S. 85-94 = Festschrift A. Alt, S. 67-76. 5) P . K A H L E , „Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften 1," ThLZlA (1949), Sp. 91-94; derselbe, Die hebräischen Handschriften aus der Höhle, Stuttgart 1951, S. 40 ff.

74

Dialektmischung in den Texten von Chirbet Qumran

[140]

die in der traditionell gewordenen Sprachgestalt des Hebräischen überhaupt nicht vorkommen, andernteils um solche Formen, die zwar im masoretischen Texte noch erkennbar sind, deren ursprüngliche Gestalt aber durch den Aussprachehinweis des Qere ungültig gemacht worden ist, so dass sie nunmehr dem tiberischen Normalgefüge eingegliedert sind. Seit diesen ersten Beobachtungen hat sich im Rahmen der laufenden Veröffentlichung der Qumran-Texte gezeigt, dass altertümliche Formen teils mehr, teils weniger häuftg aus dem Schriftbild der verschiedenen, bisher bekanntgewordenen Texte zu erkennen sind, wobei besonders betont werden muss, dass hierbei kein prinzipieller Unterschied zwischen biblischen und ausserbiblischen, literarisch alten und jungen Schriften festzustellen i s t . A u s s e r d e m aber hat es den Anschein, als ob die altertümlichen Formen ziemlich unregelmässig über die einzelnen Schriftrollen verteilt sind. 2 ) Damit aber erhebt sich die meines Erachtens noch nicht beantwortete Frage, wie das Vorhandensein derartiger Formen zu erklären ist. Die einfachste Erklärung dieses Tatbestandes besteht darin, dass man annimmt, die volle Schreibweise etwa von ' t m b = *tma „ihr" entspräche einer durchgängigen Aussprache 'attimä, wie wir sie aus dem Samaritanischen kennen, so dass tatsächlich auf der Stufe von Qumran kein Unterschied bestände zwischen der vokalisierten Form 'tma und deren „defektiv" geschriebenem Gegenstück >tm. Träfe diese Vermutung, wie sie zum Beispiel E. L. SUKENIK vertritt, 3 ) ') Als Beispiel sei das apokryphe „Buch der Geheimnisse", 1 Q Myst, Kolumne I, angeführt, wo sich folgende Vollformen finden: lljbmb = '•alehimmä „über euch", npsmh — nafSämä „ihr Leben", Ikmh = lakimmä „euch" (daneben Ikm, wozu tiberisch läkaem zu vergleichen ist),.'jnmb — 3enabimmä „sie sind nicht", kwlmh = kullämä „sie alle". Besondere Beachtung verdient die „samaritanische" Form j'-wSqnw = jcfuSaqentiü „er bedrückt ihn". Bildungen dieser Art, wie sie auch sonst zuweilen in den 1 Q-Texten begegnen, entsprechen genau samaritanischem jä'ukel (tiberisch jökal) „er isst". Eine entsprechende Form liegt auch in tiberischem t"ekfbü „ihr liebt" (Prv. i 22) vor; vgl. B E E R - M E Y E R , Hebräische Grammatik II, Berlin 1955, § 77, 2a. Zu IQ Myst vgl. B A R T H E L E M Y - M I L I K , Discoveries in the Judaean Desert I: Qumran Cave I, Oxford 1955, S. 102-107 ( = IQ 27). 2) Dies zeigt sich etwa an IQ Js a : Die zweite Hälfte dieser Rolle (Js. xxxivlxvi) weist — freilich nicht ausschliesslich — die in Rede stehenden Vollformen auf; der erste Teil dagegen (Js. i-xxxiii) enthält hiervon relativ wenig. Einen reinen Typus in dem einen oder anderen Sinne hat aber weder die Vorlage zu Js. i-xxxiii noch diejenige zu Js. xxxiv-lxvi dargestellt. 3) E. L. S U K E N I K , The Dead Sea Scrolls of the Hebrew University. Jerusalem 1955, S . 31.

[141]

Dialektmischung in den Texten von Chirbet Qumran

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zu, dann ergäbe sich in der Tat die Möglichkeit, die Sprachstufe von Qumran ohne Schwierigkeiten historisch-genetisch in die Entwicklungslinie des Hebräischen einzuordnen. Nun ist es gewiss richtig, dass die zum Teil neuentdeckten und durchaus altertümlichen Formen von Qumran unsere bisherige Vorstellung von der Entwicklung des Hebräischen nicht nur ergänzen, sondern auch k o r r i g i e r e n , s o dass auf die vormasoretische Stufe des Hebräischen ganz neues Liebt fällt. Einige Beispiele mögen diesen Sachverhalt erläutern. So sind die Qumran-Formen bw'h = h f f ä „er" und hj'h = hPä „sie" ohne Zweifel die unmittelbaren Vorgänger der traditionell geläufigen Formen hü und hi\ auch stehen sie dem westsemitischen Grundtypus *htm>a und *htja, wie er noch im Ugaritischen, aber auch im wesentlich jüngeren Arabisch 2 ) begegnet, ausserordentlich nahe. Gleiches gilt von der Feminin-Form ' t j = *atti „du", die einerseits ugaritischem yt=*'atti { δ unterliegen6*, so daß sich also die Entwicklung unter dem Schema iaqätal > \aqätil > iaqätil darstellen läßt. Analog zum echten Intensiv des Po'el iaqötil traten zuweilen sekundäre Modi ergänzend hinzu; so mag etwa das oben erwähnte Beispiel *m'Söf'ti »mein Richter« bzw. »mein Prozeßgegner«, " Vgl. J. F R I E D R I C H a. a. O. S. 166: ». . . nach Zahl und syntaktischem Gebrauch der Verbaltempora ist das Arabische . . . eine jungsemitische Sprache«. u Siehe Anm. 46. Es wäre hier etwa an das Altkanaanäische zu denken, wie es die Westsemiten um 2000 v. Chr. in Syrien-Palästina sprachen. ·* Vgl. hierzu etwa die Rolle, die die Aiformativkonjugation qatala in den Texten von Ugarit spielt; B K E R - M E Y E R I I , § 1 0 1 , 1 . u Vgl. auch C . BROCKELMANN, Zeitschrift für Phonetik 6, S . 144; J. F R I E D RICH a . a . O . , S . 1 6 6 .

M

BEER-MEYER I,

§ 23, l a .

102

[127]

Spuren eines westsemitischen Präsens-Futur

Hi 915, zu erklären sein. Ebenso aber war es möglich, daß ehemalige {aqätal-Formen im neuen Gewände isoliert blieben und erstarrten. Als solche feste Formen, die scheinbar ohne Beziehung zu ihrer jetzigen Umgebung dastehen, sind die samaritanischen Bildungen *ia'0mer und *ia'6kel anzusehen, und ihnen sind die völlig formgleichen Qumran-Bildungen *ie *ie'ökel > *i'ökel > {öbelHöhal. Die sam. und die tib. Form, die beide ohne Zweifel in die Zeit der lebenden Volkssprache zurückgehen, unterscheiden sich dann nur dadurch, daß in der einen sich das Alef erhalten hat, während es in der anderen elidiert ist. Zum unterschiedlichen Verhalten dieses Kehllautes vgl. Anm. 11.

[128]

Spuren eines westsemitischen Präsens-Futur

103

einander abzustimmen und etwa in dem Sinne zu systematisieren, wie dies im Arabischen möglich ist 57 . Jeder entsprechende Versuch führt weder innerhalb der beiden Konjugationen zu einem befriedigenden Ergebnis, noch läßt sich eine saubere Verhältnisbestimmung zwischen Präformativ- und Afformativkonjugation durchführen M . Das ist ein Mangel, den jeder Interpret alttestamentlicher Texte ständig empfindet und der erst auf der Stufe des Mittelhebräischen — und hier wohl unter dem Einflüsse des eindeutig jungwestsemitischen Aramäisch — einigermaßen ausgeglichen worden ist 5 ·. Wenn auch nicht zu seiner Behebung, so doch wenigstens zu seiner Erklärung können Formen wie *{eSöfet < *ja!äpat oder *ia'6mer < *iayämar beitragen: Einesteils zeigen sie, daß wir die Existenz eines altwestsemitischen bzw. altkanaanäischen Präsens-Futur im Räume der uns erfaßbaren Geschichte, nicht dagegen irgendwo in der sogenannten »Urgeschichte« anzusetzen haben. Andemteils verdeutlichen sie durch ihre eigene, einigermaßen überschaubare Geschichte jenen jungwestsemitisch bedingten Umbildungsprozeß im Verbalsystem, durch den das alte Präsens-Futur formal mit dem Erzählungsmodus zusammenfiel und ihm damit zugleich seine durative Funktion übertrug, während dieser selbst seine Funktion als erzählender Aspekt keineswegs gänzlich an die ursprünglich einem anderen Bereiche zugehörende Afformativkonjugation abtrat. Darüber hinaus können derartige Rudimente auch zur Revision der bisherigen sprachgeschichtlichen Einordnung des Hebräischen im Rahmen der übrigen semitischen Sprachen beitragen. Denn als ausgesprochen altertümliche Bildungen stehen die hier behandelten Verbalformen durchaus nicht allein, sondern sie haben bemerkenswerte Entspi echungen in Gestalt alter Endungen am Pronomen und am Verbum, die man, obwohl sie das Samaritanische teilweise bewahrt hat, längst für ausgestorben hielt, neben sich. Auf Grund dieses neuerschlossenen Tatbestandes wird man nicht mehr so ohne weiteres vom Althebräischen als einer jungwestsemitischen Sprache schlechthin reden dürfen 80 , sondern es wird künftig betont werden müssen, daß das althebräische Idiom ein weit größeres altwestsemitisches bzw. altkanaanäisches Substrat enthält, als es aus der masoretischen Überlieferung, auf die man sich bisher allein stützte, erschlossen werden kann. (Abgeschlossen am 12. 8.1967) *' Vgl. C. Brockelmann, Zeitschrift für Phonetik 6, S. 161. Vgl. Beek-Mbybr II, §§ 100f. Die Schwierigkeiten in der Syntax des hebr. Verbums sind m. E. auch durch C. Brockelmann, Hebräische Syntax, §§ 40—62, M nicht behoben. Beer-Meyer II, § 101, 7. · · So auch, wenngleich mit Einschränkung, noch immer J. F r i e d r i c h a. a. O., S. 1 6 6 . M

[114]

AUFFALLENDER ERZÄHLUNGSSTIL IN EINEM ANGEBLICHEN AUSZUG AUS D E R „CHRONIK D E R KÖNIGE VON J U D A " In II Könige 22, 1—23, 30 liegt ein Bericht über die Regierung des Königs Josia (639—609 v. Chr.) vor, der nicht nur für die Amtszeit dieses letzten bedeutenden Davididen die einzige wesentliche Quelle darstellt, sondern der auch für denjenigen von Bedeutung ist, der — wie der Verfasser vorstehender, dem hochverehrten Jubilar gewidmeter Zeilen — vor der Aufgabe steht, das Deuteronomium im Rahmen des „Kommentars zum Alten Testament" auszulegen. Nachdem A. Jepsen seine gehaltvolle und eindringende Studie über die Quellen der Königsbücher bereits in zweiter Auflage hat erscheinen lassen \ soll hier nicht von neuem eine literaranalytische oder formgeschichtliche Untersuchung des Textes geboten werden. Die Aufgabe, die es im Folgenden zu lösen gilt, ist wesentlich einfacher; sie besteht in einer Untersuchung der ausgesprochen auffälligen verbalen Syntax, wie sie sich in der offenkundig abgerundeten literarischen Einheit 23,4—7. 8 b. 10—15 findet2. Daß dieser Abschnitt, dem zuweilen noch die Verse 8 a. 19 f. hinzugerechnet werden 3 , auf Grund seiner stilistischen Eigenart einen Fremdkörper in seiner Umgebung darstellt, ist seit langem erkannt; aber daß es sich hierbei nicht um ein Konglomerat sekundären Gutes, sondern um eine Überlieferung handelt, die gegenüber 22, 3—23, 3. 21—23. 8 a. 9. 24—25 ihr literarisches Eigengewicht besitzt, wurde zuerst im Jahre 1923 von Th. Oestreicher grundsätzlich richtig herausgestellt 4 , der zwischen einer ausführlichen Erzählung von der Auffindung des Gesetzbuches mit dem sich hieraus ergebenden Bundesschluß und der neuartigen Passah1) A. Jepsen, Die Quellen des Königsbuches, 1 9 5 3 ; 2 1956. Im Folgenden ist nach der ersten Auflage zitiert. 2) Die hier gegebene Aufgliederung von 23,4 ff. schließt sich hinsichtlich der Ausscheidung von v. 8 a. 9 H. Schmidt, Das deuteronomische Problem (Theologische Blätter 6, 1927, Sp. 41 f.), an, der als erster erkannt hat, daß v. 8 a. 9 sachlich in die Erzählung von der Auffindung des Gesetzbuches, und zwar hinter die Schilderung der Passahfeier in v. 21—23 gehört; ähnlich A. Alt, Die Heimat des Deuteronomiums (Kleine Schriften II, 1953, S. 255, Anm. 1), der allerdings v. 8 insgesamt zu 23, 4ff. rechnet. Daß darüber hinaus nicht nur die Erzählung in 23, 16—18, sondern auch 23, 19 f. in Bezug auf 23, 4—7. 8b. 10—15 sekundär sind, hat A. Jepsen, a . a . O . , S. 26 gezeigt. 3) Vgl. zuletzt O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament 2 , 1956, S. 357. 4) Th. Oestreicher, Das Deuteronomische Grundgesetz, 1923, S. 13 f. ( = Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 27, 4).

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Erzählungsstil der „Chronik der Könige von Juda"

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feier unter Josia einerseits, sowie der mehr aufzählenden Darstellung kultpolitischer Maßnahmen des Königs andererseits unterschied. Th. Oestreichers Beobachtungen wurden von verschiedenen Forschern wie H. Schmidt 5 , M. Noth 6, A. Alt 7 und neuerdings von A. Jepsen übernommen und teilweise weiter ausgebaut. Die genannten Arbeiten stellen die literargeschichtliche Basis für die nachfolgenden Erwägungen dar. In dem vielfach — ob mit Recht, mag zunächst dahingestellt bleiben — als Annalenexzerpt oder Tagebücher-Auszug bezeichneten Bericht 23, 4--7. 8 b. 10—15 fällt auf, daß hier der normale klassische Erzählungsstil des Hebräischen, der zur Schilderung eines Vorgangs entweder das Imperfektum consecutivum wajjiqtol oder das Perfektum qatal verwendet, offensichtlich durchbrochen ist; denn neben den genannten Formen erscheint auch ein Perfektum copulativum w c qatal, das, mag man die Dinge drehen wie man will, präteritalen Charakter hat 8 . Zur Verdeutlichung des Tatbestandes sei zunächst eine Übersicht über das verbale Gerüst unseres Abschnittes gegeben, wobei wir uns auf die der Funktion und Zeitstufe nach gleichwertigen Verben beschränken: (4) uaiesaif „und er befahl" — uaijisrefem „und er verbrannte sie" — uenäsä „und er brachte" — (5) uehiSbU „und er beseitigte" — (6) uaijöse „und er schaffte hinaus" — ymiisrof „und er verbrannte" — uaixädceq „und er zermalmte" — uaiiaSlek „und er warf" — (7) uaiiittös „und er riß ab" — (8b) uenätas „und er riß ein" — (10) uetimme „und er verunreinigte" — (11) uaiiasbet „und er beseitigte" — (12) nätas „er riß ab" — [uaiiaräsf ?)] — uehiSlik „und er warf" — (13) timme „er verunreinigte" — (14) ueSibbar „und er zerbrach" — uaiiikröt „und er schlug um" — uaiemalle „und er füllte" — (15) nätas „er riß ab" — uaiiisröf „und er verbrannte" — uesäraf dasselbe. Scheidet man die korrumpierte Form uaijärds in Vers 12 aus, so ergibt sich folgendes Bild: 11 Imperfekta consecutiva und 3 5) Vgl. Anm. 2. 6) M. Noth, Die Gesetze im Pentateuch, 1940, S. 34, Anm. 1 ( = Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 17,2); derselbe, Überlieferungsgeschichtliche Studien I, 1943, S. 86 (ebenda, 18,2). 7) Vgl. Anm. 2. 8) W e n n auch 23, 4—7. 8 b. 10—15 mehr aufzählenden Charakter aufweist als die breit dahinfließende Erzählung von der Auffindung des Gesetzbuches, so müssen doch für den knappen und dürren Bericht über die kultpolitischen Maßnahmen des Königs prinzipiell die gleichen stilistischen Gesetze angenommen werden wie für jede andere Erzählung. 9) Vgl. BHK und die Kommentare zur Stelle.

106

Erzählungsstil der „Chronik der Könige von Juda"

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präterital gebrauchte Perfekta entsprechen den normalen Regeln der klassischen Syntax; diesen Regelformen stehen auf der anderen Seite nicht weniger als 7 präterital fungierende Perfekta copulativa gegenüber: 1. uenäsä 2. uehi$bit neben uaiiaSbet 3. uenätas neben uaiiittös und nätas 4. uetimme neben timme 5. uehi$lik neben uaiiaSIek 6. ueMbbar 7. uesäraf neben uaijisröf Vom textkritischen Standpunkte aus läßt sich gegen die außergewöhnlichen Formen nichts einwenden; überlief erungsgeschichtlich gesehen ist die Bildung uenäsä insofern sekundär, als Vers 4 b - „und er brachte ihre Asche nach Bethel" — höchstwahrscheinlich einen Zusatz darstellt, der durch '23, 16 ff. ausgelöst ist 1 0 . Der in 23,4—7. 8 b. 10—15 begegnende Sprachgebrauch legt die Frage nahe, ob und wieweit es möglich ist, einen derartig freien Erzählungsstil, in dem ein Perfektum copulativum weqatal neben dem Imperfektum consecutivum wajjiqtol und dem präteritalen Perfektum qatal steht, für das Hebräische geschichtlich wahrscheinlich zu machen und derart einzuordnen, daß man ihn einem judäischen Erzähler aus der Wende des 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. zutrauen kann, ohne gezwungen zu sein, diesen Erzählungsstil auf den vom Aramäischen ausgehenden Systemzwang zurückzuführen und ihn damit als jung anzusehen. Bevor jedoch versucht werden soll, auf diese Frage, die für die sachliche Bewertung des Textes nicht ohne Bedeutung ist, eine Antwort zu geben, erscheint es dienlich, einige ältere Versuche, das Problem des außergewöhnlichen Perfektgebrauchs im Rahmen klassischer Texte zu lösen, in Auswahl anzuführen. B. Stade, der in ZAW 5, 1885, S. 192 u. a. auch auf den vorliegenden Text Bezug nimmt, schafft die sein Sprachempfinden störenden Perfekta copulativa dadurch aus der Welt, daß er 23, 4 b—15 insgesamt als Glossem betrachtet; er hält es für ausgeschlossen, daß sich ein derartiger Sprachgebrauch in vorexilischen Stücken findet, es sei denn, der ursprüngliche Wortlaut habe irgendwelche Beschädigungen erlitten. Eine solche radikale Lösung des Problems verblüfft auf den ersten Blick wegen ihrer Einfachheit, zumal wenn man sich vergegenwärtigt, daß es in der Tat eine ganze Reihe von Perfekta copulativa in klassischen Erzählungszusammenhängen gibt, die sich entweder als sekundär oder aber aufgrund von Textverderbnis erklären lassen. Gleichwohl kann B. Stades Lösungsversuch philologisch nicht befriedigen; denn seine allgemeine Behauptung, die klassische Literatur 10) Vgl. z. B. Montgomery-Gehman, The Books of Kings, Edinburgh 1951, S. 529 ( = The International Critical Commentary).

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Erzählungsstil der „Chronik der K ö n i g e von Juda"

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weise keinerlei ursprüngliche Perfekta copulativa in erzählender Funktion auf, kann jederzeit statistisch widerlegt werden. W i e im Folgenden zu zeigen sein wird, gibt es in vorexilischen Texten erzählende w e qatal-Formen, die sich selbst mit den reichlich gewaltsamen Mitteln einer älteren Text- und Literarkritik weder hinweg- noch uminterpretieren lassen. Wenn auch B. Stades These bis heute in den gängigen Kommentaren weithin nachwirkt n , so ergibt sich doch im Bereiche der eigentlichen Grammatik ein wesentlich anderes Bild. E. Kautzsch, der den außergewöhnlichen Perfektformen einen ganzen Abschnitt widmet 1 2 , sieht zwar in Bildungen wie uetimme (v. 4), uehiSlik (v. 12) und uesäraf (v. 15) Anschluß an die aramäische Redeweise, gleichzeitig aber wendet er sich gegen den Radikalismus B. Stades, indem er ihm vorwirft, nicht alle Möglichkeiten der Deutung ausgenutzt zu haben. So meint er, einige der w e qatal-Bildungen auch in unserem Zusammenhange ließen sich als frequentative Perfekta consecutiva verstehen; dies gelte etwa von Formen wie uehiSbit (v. 5), uenäta? (v. 8 b) und ue$ibbar (v. 14), die man „allenfalls als Darstellung wiederholter Handlungen begreifen" könne 1 3 . Freilich kann auch diese Auskunft, die die Grenzen hergebrachter Vorstellungen nicht überschreitet, nicht befriedigen, da der textliche Zusammenhang von 23,4—15, völlig unabhängig davon, wie man ihn analysiert, ein einfaches Präteritum, nicht aber ein Perfektum consecutivum erfordert. Stark psychologisierend und somit methodisch fragwürdig geht E. König an die Deutung einiger der problematischen Formen heran. W i e E. Kautzsch, verwirft auch er einen allzu einfachen und gewaltsamen Purismus; dabei versucht er, Perfekta copulativa wie stimme (v. 10) und u*$ibbar (v. 14) durch die Annahme zu erklären, diese w e qatal-Bildungen dienten dazu, die „Diskontinuität der Ereignisse" im Sinne von „auch verunreinigte er" bzw. „auch zerbrach er" zum Ausdruck zu bringen. Daß dies keine philologisch stichhaltige Erklärung darstellt, liegt auf der Hand und bedarf nicht der Begründung 14. Die moderneren Grammatiker erkennen in der Regel ein Perfektum copulativum, das im Erzählungszusammenhange neben dem Imperfektum consecutivum u n ^ d e m präteritalen Perfektum fungiert, auch für die Literatur der älteren Zeit ohne besondere Erklärungsversuche an. Selbstredend wird dabei auch die Möglichkeit in Rechnung gezogen, daß die eine oder andere Form spätem Einfluß des Aramäischen oder einer Textverderbnis ihre Existenz verdankt; andererseits aber betont man mit Recht, daß der Sach11) Vgl. die bei A. Jepsen, a . a . O . , S. 27, Anm. 1, angeführte Literatur; ferner Montgomery-Gehman, a. a. O., S. 528—534. 12) Gesenius-Kautzsch, Hebräische Grammatik"— 2 8 , 1902. 1910, § 112pp — uu. 13) Vgl. a . a . O . , Anm. 2 zu § 112pp. 14) Ε. König, Lehrgebäude der Hebräischen Sprache II, 2, 1897, § 370 n.

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Erzählungsstil der „Chronik der Könige von Juda"

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verhalt als solcher hierdurch nicht in Frage gestellt wird. Besonders deutlich bringt dies P. Joüon zum Ausdruck: „Le cas inverse d'omission du waw energique est celui oü l'on a la forme w e qatälti et j'ai tue au lieu de la forme attendue wayyiqfol, demandee par l'usage classique. Meme en tenant largement compte des alterations possibles du texte consonantique, il reste un assez grand nombre de w e qatälti et j'ai tue anormaux, c'est-ä-dire contraires ä l'usage. Certains exemples peuvent provenir de scribes posterieurs, influences par l'arameen ou par l'usage postbiblique" 15. Unter die sicheren Formen rechnet P. Joüon auch uehisbit (v. 5), uetimme (v. 10), uehi$lik (v. 12) und uesäraf (v. 15), ja selbst ifenäsä (v. 4), auch unter der Voraussetzung, daß es sich hierbei um einen Zusatz im Kontex handelt, der einer jüngeren Schicht angehört. In ähnlicher Weise stellt G. Bergsträßer fest, daß im Bereiche der klassischen Sprache das Perfektum copulativum in erzählender Funktion nicht ganz ausgeschlossen sei; in der älteren Prosa werde es „nur ganz vereinzelt unter besonderen Verhältnissen" angewendet, während es in der Poesie häufig begegne und in der jüngeren Prosa auf Kosten des Imperfektum consecutivum zunehme. Im Gegensatz zu P. Joüon gehören allerdings nach G. Bergsträßer die w e qatal-Bildungen in 23, 4—15 zu denjenigen, die unter dem Einflüsse der jüngeren Sprachstufe in ältere Texte eingedrungen sind, wobei offenbleiben muß, ob es sich um ursprüngliche Perfekta copulativa handelt, oder ob dieselben auf Überlieferungsfehler im Text zurückgehen 1β . Eine sprachgeschichtliche Erklärung f ü r das Vorkommen echter präteritaler Perfekta copulativa in älteren Zusammenhängen läßt G. Bergsträßer vermissen; er begnügt sich mit der Aufzählung einiger Beispiele. Desgleichen beschränkt sich F. R. Blake, A Resurvey of Hebrew Tenses, Rom 1951, §§ 34, 37 57, auf die einfache Feststellung des Tatbestandes, während neuerdings C. Brockelmann in seiner „Hebräischen Syntax" — soweit ich sehe — die Frage eines Perfektum copulativum neben dem Imperfektum consecutivum überhaupt nicht b e r ü h r t 1 8 . Sieht man einmal von der kritischen Sichtung des Überlieferungsbestandes ab, so beschränken sich unsere Grammatiken im wesentlichen auf die einfache Registrierung der außergewöhnlichen Formen; doch ist damit weder viel gewonnen, noch dürfte m. E. diesbezüglich das letzte Wort gesprochen sein. Zunächst wird man 15) P. Joüon, Grammaire de I'Hebreu Biblique 2 , Rom 1947, § 119 y—z. 16) Gesenius-Bergsträßer, Hebräische Grammatik II 2 9 , 1929, § 9 n . 17) Mit Berufung auf Gesenius-Kautzsch, a . a . O . , § 112 f—h, pp—uu, und S. R. Driver, A Treatise o n the Use of the Tenses in Hebrew 2 , Oxford 1881, §§ 132 f. 18) Vgl. C. Brockelmann, Hebräische Syntax, 1956, §§ 41, a—k: 42 c. Auch ich selbst habe in Beer-Meyer, Hebräische Grammatik II 2 , 1955, § 101, in Anbetracht der gebotenen Kürze auf das eine längere Ausführung erfordernde Problem der weqatal-Formen nicht Bezug genommen. Die folgenden Ausführungen mögen daher zugleich den betreffenden Paragraphen meiner Grammatik ergänzen.

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zu fragen haben, ob sich zu dem in 23,4-7. 8 b. 10-15 begegnenden Stil innerhalb der alttestamentlichen Literatur Parallelen finden lassen, die ihm zeitlich oder sachlich nahestehen. An erster Stelle sei hier Ez. 37, 2. 7-10 genannt. In dem Bericht über die Auferstehungsvision folgt in Vers 2 eindeutig präteritales uehce'abirani „und er führte mich" auf zwei Imperfekta consecutiva, und in der gleichen Funktion werden in Vers 7 und 10 uenibbeti bzw. iiehinnabbeti19 „und ich weissagte", sowie in Vers 8 uerä'iti „und ich schaute" gebraucht. Da kein Grund vorliegt, diese weqatalBildungen in ihrer Originalität anzuzweifeln 20 , so liegt die Annahme nahe, daß wir hier den Hinweis auf einen — gemessen an unseren herkömmlichen syntaktischen Regeln — freieren Erzählungsstil vor uns haben, der genau demjenigen entspricht, wie er in 23,4-7. 8 b. 10-15 vorliegt. Hierzu tritt 2. Kön. 18,3.4 a: „Er tat (uaiia'as), was Jahwe wohlgefiel, ebenso wie sein Ahnherr David getan hatte. Er schaffte (hü hesir) die Kulthöhen ab und zerbrach (ueSibbar) die Masseben,, er hieb (uekärat.) die Aschera um und zertrümmerte (u e kittat) die eherne Schlange, die Mose angefertigt hatte." Dieser Passus ist insofern aufschlußreich, als er nach Wortwahl und Stil der Darstellung in 23, 4 ff. stark verwandt ist; darüber hinaus folgen hier sogar drei Perfekta copulativa auf ein präteritales Perfektum, so daß sich das Schema hesir — iie§ibbar — uekärat — uekittat ergibt 21 . Die Verwandtschaft beider Texte ist so auffallend, daß neuerdings A. Jepsen annimmt, hinter 18, 3 f. und 23, 4 ff. stehe ein und derselbe Erzähler 22 . Wenn dem so sein sollte, dann muß dieser Mann, in dem A. Jepsen einen Priester sehen möchte, in einem Stile geschrieben haben, der zuweilen Perfekta copulativa enthielt, wo nach unseren Regeln entweder das Imperfektum consecutivum oder das präteritale Perfektum zu erwarten wäre. Daß diese hypothetische Persönlichkeit in ihrer Sprech- und Schreibweise nicht allein stand, zeigt der Prophet Ezechiel. Mit dem Bericht über die kultpolitischen Maßnahmen, die Josia im Zusammenhang mit seiner Emanzipation von dem untergehenden Assyrerreich in Jerusalem, Juda und dem benachbarten Samarien traf, befinden wir uns sprachgeschichtlich auf der Schwelle zu einer neuen Epoche in der Entwicklung des Hebräischen. Längst herrscht das Aramäische als Sprache der Politik und des Handels in den Ländern des Vorderen Orients 23 . Wenn unsere Annahme also richtig ist, daß um das Jahr 600 v. Chr. bereits ein Stil nach19) Vgl. BHK zur Stelle. 20) So wohl mit Recht P. Joüon, a.a.O., § 119y. 21) Nach Gesenius-Kautzsch, a.a.O., § 112 tt, sind die Perfekte dem hü hesir „ganz äußerlich" koordiniert. 22) A. Jepsen, a. a. O., S. 63 f. 23) Diesen Tatbestand veranschaulicht z. B. ein 1942 in Sakkara (Memphis) gefundener aramäischer Papyrus, der das Bittgesuch eines Kleinkönigs aus der palästinischen Küstenebene an den ägyptischen Hof enthält. Vgl. Dupont-

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gewiesen werden kann, der sich nicht mit den klassischen Regeln der hebräischen Syntax deckt, dann liegt an sich nichts näher als der Schluß, daß sich jetzt bereits der aramäische Systemzwang bemerkbar macht, insofern als copulative weqatal-Formen die Funktion der alten Erzählungsaspekte übernehmen 24 . Dennoch wird man die Frage aufzuwerten haben, ob nicht auch die ältere Sprache verwandte syntaktische Erscheinungen aufweist, die möglicherweise einen Ansatzpunkt f ü r jenen Umbildungsprozeß in der verbalen Syntax abgeben könnten, der schließlich dazu führte, daß am Ende das Imperfektum consecutivum wajjiqtol gänzlich durch die präteritale w e qatal-Form verdrängt wurde. In der Tat bietet das Alte Testament Beispiele aus alter Zeit, die ganz in der Linie des eben Gesagten liegen und die gewiß nicht auf Überlieferungsfehler im Text oder auf sekundäre Eintragungen zurückgehen, mögen einzelne von ihnen auch noch so oft Opfer der Konjekturalkritik geworden sein. Einige Belege, die natürlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben, mögen den Sachverhalt verdeutlichen: Jes. 1,2: „Kinder zog ich groß (giddalti) und ließ [sie] wachsen (uerömamti)"; Gen. 15, 6: „und er vertraute (uehce,(Emin) auf Jahwe, und er rechnete es (uaiiah$ebcehä) ihm zur Gerechtigkeit"; wobei hier das Perfektum copulativum ausschließlich von konsekutiven Imperfektformen umgeben ist; Gen. 34, 5: „Jakob hörte (säma') .. ., und es schwieg (u e hceh&rtf) Jakob"; Jdc. 3,23: „und er schloß (uaiisgör) die Türen . . . und verriegelte (P. uenä'al) [sie]"; Jdc. 5,26b: „und sie hämmerte (u e häl e mä) auf Sisera, zerschlug (mäh a qä) sein Haupt, zerschmetterte (ümähasä) und durchbohrte (uehälefä) 25 seine Schläfe." . Die angeführten \v e qatal-Formen, die insgesamt im Rahmen fortlaufender Schilderungen angewendet sind, geben einen deutlichen Beweis dafür ab, daß der Gebrauch des Perfektum copulativum f ü r zu erwartendes Perfektum consecutivum oder neben ihm bis hoch hinauf in die Anfänge israelitischer Literatur nachweisbar ist, insofern als wir mit dem Debora-Lied in Jdc. 5 ein ausgesprochen altertümliches Stück hebräischer Literatur vor uns haben. Damit aber steht fest, daß man nicht mit der Annahme auskommt, die in 18, 3 f.; 23, 4 ff. und Ez. 37, 2. 7 ff. belegten w e qatal-Bildungen gingen ausschließlich auf aramäischen Einfluß zurück. Indem wir aber mit Jdc. 5, 26 b mit großer Wahrscheinlichkeit an der obersten zeitlichen Grenze des literarisch fixierten Sommer, Semitica I, 1948, S. 43—68; ferner R. Meyer, Ein aramäischer Papyrus aus den ersten Jahren Nebukadnezars II. (Festschrift für F. Zucker, 1954, S. 253—262). 24) Beer-Meyer, a . a . O . , § 101; 7; ferner RGG'I, 1957, Sp. 1127f. 25) In Jdc. 5, 26 a geht ein alter erzählender Energicus tilhnh voraus, der ursprünglich *tiSlahannä „sie streckte aus" lautete; tiberisch ist die Form als tiSlahnä „sie (F.) streckten aus" fehlvokalisiert; vgl. auch BHK zur Stelle und Beer-Meyer, a . a . O . , § 63, 5 d .

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Hebräisch stehen 26 , erhebt sich die weitere Frage, ob über die engen Grenzen des hebräischen Idioms hinaus der Ursprung für den angeblich anormalen Gebrauch von w e qatal-Formen etwa in der älteren Stufe des Kanaanäischen aufgezeigt werden kann. Hier aber scheint, wie in manchen anderen Fällen, der altnordkanaanäische Dialekt von Ugarit weiterzuhelfen. Ohne daß im Rahmen vorliegender Erwägungen das Verhältnis des Ugaritischen zum Hebräischen näher erörtert werden soll, steht doch trotz aller bisher nicht gelöster Streitfragen 27 m. E. mit einiger Sicherheit fest, daß das Althebräische als Mundartengruppe des „Kanaanäischen" zahlreiche morphologische und syntaktische Phänomene enthält, die bisher nicht zu erklären waren, die sich aber jetzt aus einer älteren Schicht des Westsemitischen herleiten lassen, wie sie aus den der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. angehörenden ugaritischen Texten erkennbar wird 28 . Eine Überprüfung des ugaritischen Verbalsystems zeigt nun, daß bereits um 1400 v. Chr. keine syntaktische Einheitlichkeit mehr vorhanden ist. Das Altwestsemitische scheint ein in sich abgerundetes Verbalsystem besessen zu haben, das folgende Modi unterschied: den Erzählungsmodus oder Indikativ jaqtulu, einen Konsekutiv/Subjunkliv jaqtula, den erzählenden wie auch jussivischen Kurzmodus jaqtul, einen Energicus jaqtulan(na), vielleicht ein Präsens-Futur jaqattal(u) 29 und schließlich qtul als Imperativ und Infinitiv. Daneben stand die Afformativkonjugation qatala mit ursprünglich wohl ausschließlich statischem Charakter. Dieses in sich geschlossene System ist aber nach Ausweis der uns vorliegenden Texte bereits um die Mitte des 2. Jahrtausends dadurch aufgesprengt, daß die qatala-Bildung Funktionen des Indikativs jaqtulu und des erzählenden sowie jussivischen Kurzmodus jaqtul übernommen hat. Daß anscheinend im Zusammenhang mit dieser Aufsprengung des syntaktischen Systems der altwestsemitischen Präformativkonjugation auch die Grenzen der einzelnen Modi untereinander verwischt worden sind, sei nur am Rande vermerkt 30 . F ü r unsere Fragestellung ist bedeutsam, daß der ugaritische Erzählungsstil die Reihenfolge jaqtulu (jaqtul/wajaqtul) — waqatala wie auch qatala — waqatala kennt, ohne daß waqatala syntaktisch mit dem hebräischen Perfektum consecutivum gleichgesetzt 26) Vgl. O. Eißfeldt, Einleitung. S. 117 ff. 27) Vgl. hierzu neuerdings H. Goeseke, Die Sprache der semitischen Texte Ugarits und ihre Stellung innerhalb des Semitischen (Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle-Wittenberg [Ges.-Sprachw. Reihe] 7, 1958, S. 623 bis 652). 28) Vgl. RGG S I Sp. 1126 ff. 29) Vgl. hierzu etwa R. Meyer, Spuren eines westsemitischen PräsensFutur in den Texten von Chirbet-Qumran (Von Ugarit nach Qumran, Festschrift für O. Eißfeldt, 1958, S. 118—128). 30) Vgl. C. Brockelmann, Zur Sprache v o n Ugarit (Orientalia 10, 1941, S. 2 3 0 f f . ) ; C. H. Gordon, Ugaritic Manual, R o m 1955, § § 9, 2; 13, 24.

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werden kann 3 1 . Zwei Beispiele, zitiert nach C. H. Gordon, mögen diesen Sachverhalt erläutern: Nr. 68, 6 f.: ψ — u'n 3 2 „er sank hin — und er antwortete", Keret 14: 'att trh — wtb't33, „er nahm ein Weib — und sie ging davon". Ein solcher Sprachgebrauch entspricht aber genau demjenigen, den wir vom Debora-Lied über die ältere Erzählungs- und poetische Literatur bis in die Texte aus der Zeit um 600 v. Chr. verfolgen können. Damit aber schließt sich zugleich der Kreis unserer Erwägungen: Gewiß besteht die alte grammatische Regel zu Recht, wonach im Laufe der Geschichte unter zunehmendem Einfluß des Aramäischen seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. das Imperfektum consecutivum mehr und mehr durch das erzählende Perfektum copulativum verdrängt wird, um schließlich im Mittelhebräischen ganz zu verschwinden. Daneben aber darf nicht übersehen werden, daß die w e qatal-Bildung auch im klassischen Hebräisch eine lange und legitime Geschichte hat, die bis in vorisraelitische Zeit zurückreicht. Wie an zahlreichen Punkten der Morphologie und Syntax ältere Formen vielfach das Normbild des Hebräischen durchbrechen, so ergeben sich auch im Erzählungsstil mancherlei „Unregelmäßigkeiten" oder „Ausnahmen", die jedoch — soweit sie nicht einwandfrei als Überlieferungsfehler oder sekundäre Einfügungen zu identifizieren sind — nach dem Dargelegten ihre sprachgeschichtliche Berechtigung haben. Für die Geschichte des Hebräischen in exilischer und nachexilischer Zeit mochten gerade derartige, altüberkommene und vielleicht häufiger, als es heute noch erkennbar ist, angewendete Perfekta copulativa mit dazu beitragen, daß der vom Aramäischen ausgehende Systemzwang sich ohne großen Bruch und weithin vielleicht kaum bemerkt vollziehen konnte. Nach dem Dargelegten beantwortet sich unsere eingangs gestellte Frage, ob man einem judäischen Erzähler aus dem Ende des 7. oder dem Anfang des 6. Jahrhunderts einen Stil zutrauen darf, wie er in 23, 4-7. 8 b. 10-15 vorliegt, von selbst: Wenn es richtig ist, daß der Gebrauch eines erzählenden Perfektum copulativum bereits in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. nachweisbar ist und sich in der klassischen Literatur des Hebräischen ein entsprechender Nebenstrom nachweisen läßt, dann besteht kein Grund mehr, diesen Stil in Zweifel zu ziehen oder gar als Barbarei junger und jüngster Glossatoren zu bezeichnen. Damit scheint mir A. Jepsen durchaus im Rechte zu sein, wenn er den in 23, 4-7. 8 b. 10-15 vorliegenden Erzählungsstil in seinem ganzen Eigen31) Das schließt nicht aus, daß das Ugaritische auch konsekutive waqat a l a - F o r m e n , wenngleich selten, kennt; C. H. Gordon, a. a. O., § 13, 28. 32) In hypothetischer Vokalisation: *igüru — ua'anä. 33) Vokalisiert: *'attata taraffa — wataba'at.

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gewicht anerkennt, obwohl er für den Perfektgebrauch selbst keine befriedigende E r k l ä r u n g findet 3 4 . Darüber hinaus k a n n m a n fragen, ob der in 18, 3 f. und 23, 4 ff. begegnende Stil vielleicht nicht nur als Erzählungsweise zu werten ist, sondern durch Benutzung von Annalen oder annalistischer Literatur bedingt ist. D a es sich bei dieser Ausdrucksweise, wie wir gesehen haben, u m eine durchaus allgemeine, keineswegs an eine bestimmte Literaturgattung gebundene Erscheinung handelt, kann diese F r a g e vom sprachund stilgeschichtlichen Gesichtspunkte her weder im positiven noch im negativen Sinne beantwortet werden. Weil keinerlei Andeutung eines Zitates vorliegt, wird m a n sich mit der Feststellung bescheiden müssen, daß ein alter Erzähler in seinen Worten über kultpolitische Maßnahmen seines Königs und dessen Vorfahren Hiskia zuverlässig berichtet hat; wieweit er die einzelnen Vorgänge aus alten Quellen, vom Hörensagen, oder, wie im Falle von 23, 4 ff., vielleicht auch aus eigener Anschauung kannte, ist aus unseren Texten nicht mehr zu erschließen. 34) A. Jespen, a.a.O., S. 64.

[309]

DAS HEBRÄISCHE VERBALSYSTEM IM LICHTE DER GEGENWÄRTIGEN FORSCHUNG

Die immer wieder gestellte Frage nach der Struktur des hebräischen Verbalsystems geht keineswegs nur die semitische Sprachwissenschaft im allgemeinen und die Hebraistik im besonderen an, sondern sie stellt darüber hinaus eines der Grundlagenprobleme alttestamentlicher Exegese dar. Wenn beispielsweise W. Z I M M E R L I neuerdings wieder darauf hinweist, dass die Übersetzung alttestamentlicher Texte dadurch schwer belastet sei, dass die verbalen Aussagen die subjektiven Zeitstufen eines Geschehens nur sehr schwer und vielfach nicht eindeutig erkennen lassen 1 ), so dürfte schon allein diese Bemerkung es rechtfertigen, dass auf einem Alttestamentler-Kongress in knapper Form einige Linien ausgezogen werden, die für den gegenwärtigen Stand der Forschung charakteristisch sind 2). Einleitend sei kurz bemerkt, dass derjenige, der sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Grammatik um die Struktur des hebräischen Verbalsystems bemüht, aus methodischen Gründen zwei Wege vermeiden muss: einmal wird er sich davor zu hüten haben, an die verbalen Aussagen des Alten Testaments spekulativ heranzutreten 3 ), wozu auch gehört, dass man traditionell gewordenen Textauffassungen mit Kritik gegenübersteht; zum anderen ist es methodisch nicht gerechtfertigt, die Dreistufigkeit der verbalen Syntax, wie sie sich auf junger Sprachstufe wohl unter aramäischem Einfluss herausgebildet hat und wonach das affigierende Perfektum qatal in der Regel präterital, das präfigierende Imperfektum yiqtol präsens1) W . ZIMMERLI, „Die Weisung des Alten Testaments zum Geschäft der Sprache", W. SCHNEEMELCHER (ed.), Das Problem der Sprache in Theologie und Kirche, 1959, S. 9. a) Die im Folgenden vorgetragenen und zur Diskussion gestellten Erwägungen stellen eine Zusammenfassung der Vorarbeiten des Verfassers zum hebräischen Verbalsystem für seine Historische Grammatik der hebräischen Sprache dar. 3 ) Einige bemerkenswerte neuere Beispiele für ein fragwürdiges spekulatives Vorverständnis verbaler Aussagen kritisiert W . ZIMMERLI, a.a.O., S . 1 0 (Anm. 4 3 und 47) mit Recht.

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futurisch und das Partizipium qötel durativ fungiert, zum Ausgangspunkt oder gar zum Massstab für eine Untersuchung des klassischen Verbalsystems zu nehmen 1 ). Neuere sprachgeschichtliche und morphologische Erwägungen haben vielmehr gezeigt, dass die Struktur des hebräischen Verbalsystems, soweit sie heute überhaupt noch erkennbar ist, nur als das Ergebnis eines äusserst verwickelten historischen Prozesses zu verstehen ist, der weit in die Vorgeschichte Israels, also bis in altkanaanäische beziehungsweise altwestsemitische Zeit zurückreicht und zudem infolge des politischen Schicksals Israels keinen organischen Abschluss gefunden hat. Für das geschichtliche Verständnis des klassischen Verbalsystems 2 ) ist nach meinem Dafürhalten die heute weithin geltende Annahme grundlegend, wonach die Präformativkonjugation jaqtul und die Afformativkonjugation qatala von Haus aus nichts miteinander zu tun haben und primär nur die Präformativkonjugation dem eigentlichen Verbalbereiche zuzurechnen ist. Hierbei erhebt sich freilich sofort die Frage, wie man sich die Struktur der präfigierenden Konjugation auf ihrer mutmasslich ältesten Stufen vorzustellen hat. Als Basis für die Präformativkonjugation sieht man wohl am ehesten die Kurzformjaqtul an, der ein einsilbiger Imperativ/Infinitiv qtul (qutl, q[u]tul) entspricht. Syntaktisch hat nun diese Form ein doppeltes Gesicht: ihre Wurzelverwandtschaft mit dem Imperativ bedingt ihren jussivischen Charakter; dagegen verleiht die durch ein deiktisches oder pronominales Element angedeutete, bereits im Infinitiv enthaltene Aussagefunktion der Form jaqtul erzählende und hierbei weithin, wenn auch nicht ausschliesslich, präteritale Eigenschaften. In dieser Doppeldeutigkeit fällt jaqtul als Jussiv/ Präteritum aus dem gleich zu besprechenden altwestsemitischen Modalsystem heraus und führt einzelsprachlich sowohl im Althebräischen wie im Arabischen noch ein Sonderdasein. Daher sieht W. v. SODEN neuerdings in jaqtul ein altes Tempus und betont, dass die Erkenntnis seines sprachgeschichtlichen Sondercharakters 1) Soweit ich sehe, sind auch heute noch die meisten unserer Gebrauchsgrammatiken durch dieses Schema belastet. 2 ) Aus der umfangreichen Literatur ist hier besonders Bezug genommen auf: B A U E R - L E A N D E R , Historische Grammatik der hebräischen Sprache I , 1 9 2 2 ; GESENIUSBERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik I I 2 9 , 1 9 2 9 ; G . R . D R I V E R , Problems of the Hebrew Verbal System, 1 9 3 6 ; Ε . H A M M E R S H A I M B , Das Verbum im Dialekt von Ras Schamra, 1 9 4 1 (Diss. phil. Kopenhagen); C. H. G O R D O N , Ugaritic Handbook, 1 9 4 7 ; derselbe, Ugaritic Manual, 1 9 5 5 ; B E E R - M E Y E R , Hebräische Grammatik I 2 , 1 9 5 2 ;

II2,

1955.

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Das hebräische Verbalsystem

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wesentlich zum Verständnis des semitischen Tempus- und Modussystems beitragen k a n n A n d r e r s e i t s bezeichnet C. B R O C K E L M A N N die gleiche Form unter Vermeidung des Begriffes Tempus als „konstatierenden Aspekt", wobei er allerdings ihrer jussivischen Funktion nicht gerecht wird 2). Auf der Basis von yaqtuljqtul hat sich im Altwestsemitischen — vom Ostsemitischen muss wegen der Kürze der Zeit hier abgesehen werden! — ein modales System entwickelt, innerhalb dessen zunächst der Indikativ mit auslautendem -u(yaqtulu) und voller Endung in den Formen mit Afformativen(jaqtulüna) zu erwähnen ist; der Indikativ hat primär wohl präsentisch-futurische Funktion, wobei möglicherweise diesem Modus der Charakter eines Punktual eignete 3). Wohl auch bereits altwestsemitisch dürfte der Subjunktiv oder besser Konsekutiv auf -a ( y a q t u l a ) sein, der in den Formen mit Afformativen mit der alten Kurzform übereinstimmt und anscheinend dort gebraucht wurde, wo die Abhängigkeit eines Verbums von einem anderen ausgedrückt werden sollte 4). Darüber hinaus begegnet als weiterer Modus der Energicus ( y a q t u l a n \ n ä \ ) mit teils verstärkender, teils terminativer Funktion. Über das bisher Gesagte führt nun die neueste Forschung insofern hinaus, als von verschiedenen Seiten und teilweise unabhängig voneinander die Frage aufgeworfen wird, ob nicht auch das Altwestsemitische ebenso wie das Akkadische ein Präsens-Futur yaqattal besessen habe, das teils iL·yaqattal, teils zhyaqätal noch einzelsprachlich nachwirkt. Diese Fragestellung ist keineswegs neu ®), aber dass ihre Berechtigung zunehmend anerkannt wird, ist vor allem den neuerlichen Untersuchungen von O. R Ö S S L E R zu verdanken, der zunächst einmal für das Ostsemitische nachgewiesen hat, dass das Nebeneinander von präteritalem iprus und präsentischem iparras im *) Vgl. Akten

W . v. SODEN, „Tempus und Modus im Semitischen", H . FRANKE (ed.), des X X I V . InternationaUn Orientalisten-Kongresses in München, 1 9 5 9 , S. 2 6 3 . C. BROCKELMANN, „Die 'Tempora' des Semitischen", Zeitschrift für Phonetik

2) 5, 1951, S. 144 f. 3)

4)

W . v . SODEN, a.a.O.,

S. 2 6 4 .

Vgl. hierzu etwa C. H. GORDON, Ugaritic Handbook, S. 61 (Anm. 2). 6 ) Vgl. z.B. G. R. DRIVER, a.a.O., S. 83: „Our problem, then, is to discover why Hebrew did not adopt a form derived itomyaqatai for the tense of incomplete action . . . instead of one derived from yaqtul . . . This is all the more striking, because iqatatil is of regular occurence in the letters from Tell al-'Amarna. TORCZYNER, therefore, is perhaps right in suggesting that Hebrew may once have possessed such a tense but must have lost it in the preliterary period, as no trace of it survives in the written language".

Das hebräische Verbalsystem

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117

Akkadischen bereits altsemitisch ist und nicht etwa eine einzelsprachliche Sonderbildung darstellt. 1 ) Hierauf fussend, hat nun J . F R I E D R I C H geltend gemacht, dass man nicht nur für das ostsemitische Akkadisch, sondern auch für das nicht viel jüngere westsemitische Idiom von Ugarit neben präteritalem jaqtul die Existenz eines Präsens-Futur jaqattal annehmen müsse, auch wenn die defektiv geschriebenen Tontafeltexte die entsprechenden Formen bisher nicht erkennen lassen 2 ). Selbst C. B R O C K E L M A N N rechnet jetzt unter Aufgabe seines früheren, weithin für die Forschung massgebenden Standpunktes in dem westlichen Bereich des „Ursemitischen" nicht nur mit dem „konstatierenden Aspekt" jaqtul, sondern auch mit dem „kursiven Aspekt" jaqattal*), während W. v. S O D E N in letzterer Form ein duratives Präsens zum alten Präteritum jaqtul sieht 4 ). Ich selbst glaube nachgewiesen zu haben, dass im Hebräischen der QumranTexte sowie im Samaritanischen der Typus jeqötel < jaqätal noch als Rudiment eines solchen altwestsemitischen Präsens-Futur erhalten ist, dem freilich — wie allen solchen Überresten — kein syntaktisches Eigengewicht mehr zukommt 5 ). Dass wir gegenwärtig so ausführlich über den Charakter der altwestsemitischen Präformativkonjugation reden können, verdanken wir, wenn nicht ausschliesslich, so doch zu einem guten Teile den Texten von Ugarit. Zwar lässt sich hier, wie bereits angedeutet, das für das Altwestsemitische wahrscheinliche Präsens-Futur jaqattal bisher nicht ausdrücklich nachweisen, dafür aber sind sämtliche präfigierenden Formen, nämlichjaqtul, jaqtulu,jaqtula und jaqtulan(na) erkennbar. 6 ) Allerdings kann man das ugaritische Verbalsystem auch in dem zur Zeit erschliessbaren Bereiche nicht einfach mit dem altwestsemitischen System gleichsetzen. Dies zeigt sich zunächst an dem Verhältnis der einzelnen Modi zueinander. Die alte Kurzform jaqtul fungiert zwar noch jussivisch wie auch X) O . RÖSSLER, „ V e r b a l b a u u n d Verbalflexion in den semito-hamitischen S p r a c h e n " , Z.D.M.G. 100, 1951, S. 461-514. Z u den V o r a r b e i t e n v g l . b e s o n d e r s A . MEILLET et M . COHEN, Les langues du monde 2 , 1952 ( 1 1 9 2 4 ) : „ L a n g u e s chamitos e m i t i q u e s " , S. 81-181 (M. COHEN). 2) Bibliotbeca Orientalis, 9, 1952, S. 155 f. 3) A.a.O., S. 144 f. 4) A.a.O., S. 264. 5) V g l . „ S p u r e n eines westsemitischen Präsens-Futur in den T e x t e n v o n C h i r b e t - Q u m r a n " , J . HEMPEL u n d L . ROST (ed.), Von Ugarit nach Qumran. Fest-

schrift O . EISSFELDT ( =

B.Z.A.W.

*) V g l . E . HAMMERSHAIMB, a.a.O.,

77), 1958, S.

118-128.

S . 5 3 - 1 5 3 ; C . H . GORDON, UgariticManual,

§ 9.

118

Das hebräische Verbalsystem

[313]

erzählend-präterital, wobei zu beachten ist, dass die präteritale Form yaqtul und wayaqtul lauten kann und sich noch keine Normierung feststellen lässt, wie sie später im Hebräischen beim Gebrauch des sogenannten „Imperfektum consecutivum" wayyiqtol begegnet. Daneben aber steht der Indikativ yaqtulu, der als altes Präsens-Futur nunmehr auch präteritalen Charakter hat und geradezu als der eigentliche Erzählungsmodus angesprochen werden muss. Ebenso kann der Energicus — abgesehen von seinem terminativen Charakter — als Erzählungsmodus sowohl mit wie ohne Suffix fungieren 1 ). Dieses Fliessen der modalen Grenzen zeigt, dass das Idiom von Ugarit bereits eine längere Entwicklung voraussetzt, die zur Auflösung der modalen Grenzen geführt hat. Dem Umbildungsprozess innerhalb der Präformativkonjugation geht nun aber eine zweite Erscheinung parallel. H. BAUER stellte seinerzeit die These auf, dass durch die Geschichte des hebräischen Verbums ein Bruch gehen müsse, insofern als sich eine ältere kanaanäische, noch dem Akkadischen nahestehende Schicht nachweisen lasse, die sich deutlich von jüngeren, aramäisch beeinflussten Bildungen abhebe 2 ). H. BAUERS These hat bekanntlich viel Widerspruch hervorgerufen 3), was nicht wundernimmt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Mittel, die ihm zur Verfügung standen, nicht ausreichten, und er selbst viel stärker systematisierend-spekulativ als sprachhistorisch das von ihm gesehene Problem zu lösen suchte. Es ist das Verdienst von G. R. D R I V E R , Η. BAUERS Theorie kritisch aufgenommen und selbständig weitergeführt zu haben 4 ). Die Annahme einer Mischung oder besser einer Systemüberschneidung innerhalb des hebräischen Verbalsystems scheint sich nun in einer eigenartigen Weise zu bestätigen; allerdings kann ein solcher Prozess nicht erst auf dem Boden Israels und auch nicht im Sinne der Uberlagerung einer kanaanäischen durch eine israelitisch-aramäische Schicht erfolgt sein, sondern muss um Jahrhunderte früher, immerhin noch historisch greifbar, stattgefunden haben. Im Ugaritischen lässt sich nämlich zum ersten Male quellenmässig nachweisen, dass der alte Stativ qatil (qatul, qatal) in der Form qatala die Grenzen der nominalen Zustandsaussage überschreitet und als Vgl. die Zusammenfassung bei BEER-MEYER II 2 , § 100, 1. 2)

3)

BAUER-LEANDER I,

Vgl. zuletzt etwa C. 4) A.a.O., S. 151 f.

§ 35N. BROCKELMANN,

a.a.O., S. 1 4 6 f.

[314]

Das hebräische Verbalsystem

119

Afformativkonjugation das präfigierende System zu überlagern beginnt 1 ). Damit aber kompliziert sich noch über die Vermischung der modalen Grenzen hinaus, wie sie oben kurz umrissen wurde, das System verbaler Aussagen in den Texten von Ugarit. So tritt jetzt qatala neben das Präteritum/Jussiv yaqtul und übernimmt sowohl dessen jussivische wie auch präterital-erzählende Funktion; für die jussivische Verwendung von qatala sei etwa auf das von C. H. GORDON angeführte Beispiel: (51 IV, 42) lm Hm hyt2) „In Ewigkeit mögest du leben" verwiesen. Die praktische Gleichsetzung von qatala mit yaqtul macht es bei dessen Verwandtschaft mit dem Imperativ verständlich, dass qatala nach Imperativen bereits auf ugaritischer Stufe in gleichem Sinne gebraucht werden kann wie im Hebräischen das sogenannte „Perfektum consecutivum", wenngleich die Belege in den Tontafeltexten noch ziemlich spärlich fliessen 3). Hinsichtlich der erzählenden Funktion von qatala nebenyaqtul gilt, dass beide Formen syntaktisch gleichberechtigt und noch ohne die Normierung, wie sie im Hebräischen — freilich hier keineswegs ohne eine Reihe von „Ausnahmen" — als Regel begegnet, nebeneinander stehen können. Auch dieser Sachverhalt sei an einem von C. H. GORDON angeführten Beispiel verdeutlicht: (67 II, 6) tbl wlytb 4) „sie brachen auf und kehrten zurück". Ebenso tritt die Afformativkonjugation qatala mit und ohne Waw neben den Indikativyaqtulu\ dies gilt insbesondere dort, wo der Indikativ, den wir oben als einen ursprünglich präsentisch-futurischen Punktual bezeichnet haben, präterital-erzählend fungiert. So formuliert C . H. GORDON durchaus mit Recht: „In narration one or more qatala forms can be followed by one or moreyqtl forms"; ebenso gilt nach ihm das Umgekehrte, und nur selten lässt sich bei dem wechselnden Gebrauch von qatala undyaqtulu eine bestimmte Absicht des BEER-MEYER I I 2 , 2)

§ 101,

1.

Ugaritic Handbook, § 13, 2 7 ; zum entsprechenden arabischen Sprachgebrauch v g l . H. RECKENDORF, Arabische Syntax, 1921, § 7. Die hypothetische Vokalisierung des Beispiels müsste etwa lauten: 'imma cälami bayitä. 3 ) C. H. GORDON, Ugaritic Manual, § 13, 28. 4 ) Derselbe, Ugaritic Handbook, S. 57 (Anm. 1 ) ; in hypothetischer Vokalisation: *tabacü tvalü yatübii. In der Übersetzung kann entsprechend der Eigenart der ugaritischen Texte mit ihrem agendarischen Charakter auch das schildernde Präsens gebraucht werden.

120

Das hebräische Verbalsystem

[315]

Erzählers erkennen 1). Dass es sich bei dieser allgemein anerkannten Buntscheckigkeit des ugaritischen Verbalsystems nicht um das Ergebnis einer organischen innersprachlichen Entwicklung handelt, sondern um eine Systemüberlagerung, sollte nicht bestritten werden. Daher möchte ich im Anschluss an J. F R I E D R I C H 2 ) in dem Eindringen der ursprünglich statischen Bildung qatala den Ausdruck für ein neues Sprachempfinden sehen, das als jungwestsemitisch im Aramäischen und Arabischen am konsequentesten entfaltet ist. Will man das Aufkommen der Afformativkonjugation mit semitischen Völkerbewegungen zusammenbringen, so wird man eher an die amurritische Wanderung aus den ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends v. Chr. als an die jüngere aramäische Bewegung zu denken haben. Vergleicht man nun das klassische Verbalsystem des Alten Testaments mit dem, was uns in Ugarit entgegentritt, so zeigt sich zunächst einmal eine gewisse Tendenz zum Ausgleich, wobei natürlich das Gefälle auf der Seite des Jungwestsemitischen liegt. Das alte Präteritum/ Jussiv fällt formal weithin wieder mit dem Indikativ zusammen, insofern als letzterer den kurzen Auslaut -u und die vollen Afformative einbüsst. Beide — Präteritum/Jussiv und Indikativ — treten ihre erzählende beziehungsweise präteritale Funktion sehr stark an das affigierende qatala > qatal ab, das nunmehr, um mit C. B R O C K E L M A N N zu reden, den eigentlichen „konstatierenden Aspekt" abgibt. Präteritale Bedeutung hat die Kurzform yaqtul nur noch in der festen Verbindung wayyiqtol, die in unsere Grammatiken als „Imperfektum consecutivum" eingegangen ist; auch der alte Indikativ kann hier und da noch — besonders in der Dichtung und nach einigen Konjunktionen 3 ) — erzählenden Charakter tragen. Wenn es, wie ich als sehr wahrscheinlich annehme, ein altwestsemitisches Präsens-Futur mit durativem Charakter gegeben hat, so ist die Bildung yaqattal\yaqätal formal und teilweise wohl auch syntaktisch im Intensiv aufgegangen, wobei die für diesem Stamm noch fehlenden Formen analogisch gebildet wurden 4 ). Weithin aber scheint das durative Präsens-Futur seine Funktion an den Indikativ abgetreten zu haben, so dass nunmehr in der Form yiqtol < yaqtulu

!) 2) 3) 4)

Ugaritic Manual, § 13, 53. A.a.O., S. 156. So etwa nach „damals"; BEER-MEYER II2, § 100, 2d. Von Ugarit nach Qumran, S. 126; ebenso W. v. SODEN, a.a.O., S. 264.

[316]

Das hebräische Verbalsystem

121

die präsentisch-futurische Funktion überwiegt 1 ). Durch den Abfall der kurzen Auslautvokale ist schliesslich der Subjunktiv/Konsekutiv yaqtula sowohl im Sprachbild wie im Sprachempfinden verloren gegangen. Umgekehrt ist aber auch die affigierende Konjugation qatal < qatala im Althebräischen infolge der Systemüberschneidung in besonderer Weise geprägt. Dies gilt dort, wo die Afformativkonjugation — abgesehen von der angestammten und immer wieder durchdringenden statischen Bedeutung — in der Verbindung weqatal als „Perfektum consecutivum" teils jussivische, teils präsentisch-futurische Funktionen ausübt. Dass die hier vorgetragene Einordnung des hebräischen Verbalsystems in einen grösseren geschichtlichen Zusammenhang zumindest ein grosses Mass Wahrscheinlichkeit für sich hat, zeigen die zahlreichen Nachwirkungen aus einer älteren Epoche, die sich vielfach bis in eine Zeit hinein gehalten haben, in der bereits das stark unter aramäischem Einflüsse stehende Hebräisch der jüngeren alttestamentlichen Schriften sowie der Mischna und Tosefta dominierte. Dies gilt zunächst rein formal von alten Indikativendungen sowie von voll auslautenden Bildungen der Afformativkonjugation 2 ); ebenso ist hier das starke Nachleben des alten Energicus besonders in Erzählungszusammenhängen zu erwähnen 3 ). Nicht weniger aufschlussreich ist, dass selbst präteritale weqatal < waqatala-Yoiva.cn, wie sie in Ugarit begegnen, im klassischen hebräischen Erzählungsstil an Stellen belegt sind, wo man nach gewöhnlichem Schema ein „Imperfektum consecutivum" erwarten sollte 4 ). Die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit bedingt, dass wir uns damit bescheiden müssen, nur einige wenige Linien aus der gegenwärtigen Forschung in knappem Aufriss darzulegen. Aber schon die hieraus sich ergebende Einsicht in die Vorgeschichte des hebräischen Verbalsystems lässt es ohne Zweifel deutlich werden, dass der Übersetzer und Interpret alttestamentlicher Texte an den hier aufgezeigten Problemen nicht vorübergehen kann oder — bescheidener ausgedrückt — nicht vorbeigehen sollte. Zwar vermittelt eine BEER-MEYER 2)

II2,

§ 100,

2a.

Ebenda §§ 63, 5a; 64, 2b. 3 ) Ebenda § 63, 5d. 4 ) „Auffallender Erzählungsstil in einem angeblichen Auszug aus der .Chronik der Könige v o n Juda' ", J . HERRMANN und L. ROST (ed.), Festschrift Fr. Baumgärtet, 1959, S. 1 1 4 - 1 2 3 .

122

Das hebräische Verbalsystem

[317]

derartige sprachgeschichtliche Betrachtung keine ein für allemal gültige Anweisung zur Wiedergabe verbaler Aussagen — eine solche kann es nach dem Dargelegten gar nicht geben! —, wohl aber kann sie den Exegeten davor warnen, bei der Übersetzung und Interpretation allzu schematisch vorzugehen und unbesehen das jungwestsemitische Schema verbaler Syntax, das schon der Septuagintaübersetzung zugrundeliegt, auf die Texte der vorexilischen Zeit anzuwenden.

[197]

D I E B E D E U T U N G V O N D E U T E R O N O M I U M 32, 8f. 43 ( 4 a ) F Ü R DIE A U S L E G U N G DES

MOSELIEDES

A n Auslegungen des „Moseliedes" - sowohl des Gesamtgedichtes als auch seiner Teile - ist seit j e kein Mangel gewesen 1 . W i e wenig jedoch die Diskussion über Dtn. 32 und seine literarische Umgebung bisher abgeschlossen ist, zeigen die beachtenswerten Abhandlungen, die aus neuester Zeit stammen und die

wir

P . W . SKEHAN2,

P.WINTER3,

E.BAUMANN4

und

O . EISSFELDT5

ver-

danken. Wenn nun im folgenden die Verse 8 f. und 43, die anerkanntermaßen exegetisch schwierig sind, aber zugleich für die geschichtliche und theologische Einordnung des „Moseliedes" besondere Bedeutung haben, von neuem untersucht werden, so gibt hierzu ein Deuteronomium-Text aus Höhle 4 von Qumran den Anstoß. Im Jahre 1954 veröffentlichte P . W . SKEHAN ein kleines, aber entscheidendes Bruchstück aus Dtn. 32, 8 und ein etwas größeres Fragment, das den letzten Teil des „Moseliedes", Dtn. 32, 3 7 - 4 3 , enthält®. Beide Bruchstücke haben, wie schon P. W . SKEHAN bei seiner Edition feststellt, einen

1

Zur Literatur vgl. O. EISSFELDT, Einleitung in das Alte Testament, '1956, S. 262; Einleitung in das Alte Testament, '1957, S. 94f. 105 f.; S E L L I N - R O S T , Einleitung in das Alte Testament, '1959, S. 49. 70. * P . W . SKEHAN, The Structure of the „Song of Moses" in Deuteronomy. Catholic Biblical Quarterly 13 (1951), S. 153-163. 3 P. W I N T E R , Der Begriff„Söhne Gottes" im Moselied Dtn. 32, 1-43. Z A W 67 (1955), S. 40-48. 4 E . BAUMANN, Das Lied Mose's (Dtn. 32, 1-43) auf seine gedankliche Geschlossenheit untersucht. V T 6 (1956), S. 414-424. 5 O . EISSFELDT, Das Lied des Mose Deuteronomium 32, 1-43 und das Lehrgedicht Asaphs Psalm 78 samt einer Analyse der Umgebung des Mose-Liedes. B A L (Phil.-hist. Klasse) 104, Heft 5 (1958). • P. W . S K E H A N , Α Fragment of the Song ofMoses Dtn. 32 from Qumran. B A S O R 136 (1954), S. 12-15. Vgl. ferner H.L. GINSBERG,The Conclusion of Ha'azinu (Dtn. 32, 34-43). Tarbi? 24 (1954/55), S. 1 - 3 ; N.H.Tur-Sinai, Note on Deuteronomy 32, 43. Ebenda S. 232; E . S. ARTOM, Sul testo di Dtn. 32,37-43. Rivista degli Studi Orientali 32 (1957), S. 285-291; F . M. CROSS (jr.), The Ancient Library of Qumran and Modern Biblical Studies, 1958, S. 135f. - W . F . A L B R I G H T , Some remarks on the Song of Mose in Dtn. 32. Essays in Honour of Millar Burrows, 1959, lag mir bislang noch nicht vor. A.WEISER,

124

[198]

Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

Wert für die Textkritik, der nicht unterschätzt werden darf. Aber darüber hinaus zwingt uns der Qumran-Text, die in V . 8 f. 43 begegnenden theologischen Aussagen neu zu überdenken und im Zusammenhang hiermit nach Form und ursprüngÜchem Standort des „Moseliedes" zu fragen. Kennzeichnend für die Textgestalt von Dtn. 32, 8 f. 43 ist, daß eine starke, nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Spannung zwischen der normativen masoretischen Uberlieferung einerseits und der Septuagintaversion andererseits besteht. Vergleicht man zunächst die Verse 8 und 9, so ergibt sich folgendes Bild 7 :

m 8 . δτε διεμέριζεν

δ Ύψιστος

ώς διέσπειρεν

υιούς

εστηαεν

ορια

κατά

άρι&μόν

9· κ α ι

εγενή&η

εΰνη

bhnhl

'Αδάμ

εϋνων

y$b gblt

αγγέλων

μερις

'lywn

&εοϋ.

κνριον

λαός

gwym

bhprydw bny

'dm

'mym

Imspr bny yir'l αϋτοϋ

kyhlqYHWH

'mw

'Ιακώβ, σχοίνισμα

κληρονομιάς

αντοϋ

'Ισραήλ.

y'qb hbl nhltw

Formal gesehen bietet offenbar weder ® noch SR eine ausgesprochene Urform; immerhin hat man den Eindruck, daß ® der ursprünglichen Gestalt der Strophe - als solche sind wohl beide Verse im Rahmen des Gesamtgedichtes aufzufassen - am nächsten kommt. Eine Störung liegt nur in 9 a vor, w o Λαός αυτόν im Aufbau des Verses überzählig zu sein scheint und vielleicht erst auf sekundären Einfluß von 8R zurückgeht. Dagegen entspricht der Anfang von V . 9 και εγενήϋη μερίς κυρίου dem Sachzusammenhang und der Syntax besser als die auch in der Peschitta begegnende traditionelle Ubersetzung „denn der Anteil Jahwes...". Die ©-Version geht entweder auf ein *wayht haelaeq zurück, oder sie stellt die richtige Interpretation eines später mißverstandenen ky hlq = *ki hälaq dar, wobei ky emphatisch und hlq verbal zu verstehen ist, so daß sich als ursprünglicher Sinn „da nahm Jahwe zum Besitz..." ergibt 8 . Schwerwiegender jedoch ist die Spannung zwischen ® und 3JJ in V . 8b: Hier steht ® mit dem Stichos „nach der Zahl der Engel Gottes" SR entgegen, der „nach der Zahl der Söhne Israels" bietet. Zwar entsprechen Symmachus und Vetus Latina der ©-Version, so daß es naheliegen konnte, auf eine hebräische Vorlage in Gestalt von bene 'aelohim bzw. bene 'el oder bene 'elim zu schließen, doch gab immer wieder zu Bedenken Anlaß, daß der samaritanische

7 8

Für ® ist Brooke-Mc Lean,The OldTestament in Greek, 1,3 Vgl. hierzu Beer-Meyer, Hebräische Grammatik II (2I95S), §

(1911) zugrunde 114, 2.

gelegt.

[199]

D i e B e d e u t u n g v o n D e u t e r o n o m i u m 32, 8 f. 43 ( 4 Q )

125

Pentateuch und die Peschitta mit 9)1 übereinstimmen9. Nachdem nun P.WINTER in dem oben erwähnten Aufsatz noch ohne Kenntnis von 4 jQ Dtn. 32, 8 rein auf Grund innerer Kriterien bewiesen hat, daß der ©-Lesart der Vorzug zu geben sei 10 , findet sich nunmehr die Bestätigung hierfür in einem kleinen Lederstück, das nach P.W. S K E H A N die Wörter bhnhy[l] bny

'//"...

enthält. Hiervon ist die zweite Wortgruppe bny '//... entweder als *bene 'el, oder als *bene 'elim bzw. *bene 'aelohim zu lesen. Will man nicht gerade mit O. EISSFELDT in bny Ί[... die „Söhne Eis" sehen, die zusammen mit Jahwe von Eljon ( = El) ihr Erbteil zugewiesen bekommen 11 , dann liegt die Annahme am nächsten, daß die bene 'elj'elim oder bene 'ael5him den άγγελοι &εοΰ entsprechen, die offenbar den himmlischen Hofstaat Jahwes darstellen und die auch anderweit aus dem AT. bekannt sind; man wird, um nicht vorschnell ein Urteil zupräjudizieren, bny Ί[... am besten mit „Gottessöhne" wiedergeben, sofern man nicht die konventionelle Übersetzung „Engel" beibehält. Eine Rekonstruktion der Vorlage von die gleichzeitig ursprünglicher wäre als SR, ergäbe folgendes Bild: bhnhl

'lywn

bhprydw ysb gblwt

gwym bny

'dm

'mym

Imspr bny Ί

[...

ky hlq Υ Η WH

"

y'qb

hbl nhltw ysr'l „ A l s der Höchste die Nationen verteilte, schied die Menschenkinder, festsetzte die Grenzen der Völker nach der Zahl der Gottessöhne, da wählte sich J a h w e " Jakob aus, als seinen Erbbesitz

12

Israel."

Wie V. 8 f. stellt auch V. 43 eine gedanklich in sich abgerundete Strophe dar, in der zugleich das „Moselied" kulminiert 13 . Von diesem Vers liegt jetzt neben • Dementsprechend habe auch ich mich noch in: T h W I V , S. 40, A n m . 4 1 , für SJl gegen entschieden. 10 A . a. O . , S. 42· 11 A . a. O . , S. 9, A n m . 1 : „ ,der Höchste* ist hier als Eigenname des obersten Gottes zu verstehen, der die Verteilung der Völker an die Mitglieder seines Pantheons, darunter an Jahwe, v o r n i m m t . " " Oder „Losanteil". u W e n n E . BAUMANN, a. a. O . , S. 420, V . 43 als einen liturgischen Schluß bezeichnet, ®

Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

126

[200]

SR u n d der © - V e r s i o n der vollständige 4 E l - T e x t v o r , w o b e i h e r v o r g e h o b e n sei, daß letzterer stichig geschrieben ist:

© a) b) c) d) e) {) g) h)

εύφράν&ητε,ουρανοί, άμα αύτω και προσκυνηαάτωσαν αύτω νιοι &εον· εύφράν&ητε, εϋνη, μετά τοΰ λαοΰ αϋτον, και ενισχνσάτωσαν αύτφ πάντες άγγελοι &εον· 'ότι το αίμα των υιών άντον εκδικάται, και εκδικηθεί και Ανταποδώσει δίκην τοις έχΰροϊς, και τοις μιαοΰσιν ανταποδώσει· και εκκα&αριεϊ Κύριος την γήν τον λαον αντον.



4L· a) hrnynw imym 'mw b) whsthww lw kl 'Ihym

c) hmynw gwym 'mw e) ky dm 'bdw yqwm f) wnqm y$yb Isryw h)

wkpr 'dmtw 'mw

e) ky dm bnyw yqwm f ) wnqm ysyb Isryw g) wlmsn'yw yülm h) wykpr 'dmt 'mw

D e n acht Stichen in ® stehen sechs in 4 E l u n d n u r v i e r in SR g e g e n ü b e r . V e r g l e i c h t m a n @ m i t 4 El, so e r g i b t sich zunächst, daß beide in den ersten b e i d e n Stichen, die in SR v o l l s t ä n d i g fehlen, w ö r t l i c h übereinstimmen. D a n n allerdings hat © m i t 8R g e g e n 4 E l den H a l b v e r s c g e m e i n s a m ; da dieser sich aber offensichtlich m i t Stichos a in ® stößt, w i r d m a n hier in E i n f l u ß v o n SR a u f ® sehen u n d c als sekundär ausscheiden dürfen. A l s D u b l e t t e v o n b ist H a l b v e r s d anzusehen, der n u r i n ® b e g e g n e t , nicht d a g e g e n in SR u n d 4 El. D a m i t ist aber a u c h schon eine fast v o l l s t ä n d i g e Ü b e r e i n s t i m m u n g v o n ® u n d 4 E l erreicht, 1 4 so daß m i t Sicherheit a n z u n e h m e n ist, daß die hebräische V o r l a g e v o n ® g e n a u der entsprach, w i e sie h e u t e in 4 E l v o r h e g t :

der zu dem Lied „wie die Faust aufs Auge paßt", so wird man ihm darin kaum zustimmen können. 11 Eine Schwierigkeit bietet lediglich der überfüllte Stichos f in Aber auch hier braucht keine von 4 ß, abweichende Vorlage angenommen zu werden; denn das Konsonantenbild wnqm ysyb Isryw läßt, abweichend von der traditionellen Vokalisation, auch die Lesung *weniqqam yäsib Isryw „und er rächt sich [und] vergilt seinen Feinden" zu, und das überschießende δίκην mag auf Einfluß der üblichen Auffassung von 9Ji zurückgehen.

[201]

Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

127

„Jubelt, ihr Himmel, mit ihm, und es sollen niederfallen vor ihm alle Götter 1 5 ; denn das Blut seiner Söhne rächte er und verübt Rache an seinen Feinden, seinen Hassern vergilt er und entsühnt das Land seines Volkes."

Z u dieser straffen und in sich abgerundeten Textform steht 3K sowohl formal wie inhaltlich in starker Spannung: „Preist, ihr Heiden, sein V o l k 1 · ; denn das Blut seiner Knechte rächt er, verübt Rache an seinen Feinden und entsühnt das Land seines Volkes."

Die auffällige Diskrepanz, die dadurch noch bemerkenswerter ist, daß es sich um einen Text aus der Tora handelt, bedarf der Erklärung; denn es ist kaum anzunehmen, daß 9R lediglich auf die mechanische Verletzung einer älteren Textgestalt zurückgeht. A.WEISER charakterisiert das „Moselied" einmal zutreffend folgendermaßen: „Das Lied ist eine geschichtstheologische Betrachtung..., die dem Gedanken der Theodizee dient. Es beginnt im Weisheitsstil und geht dann über zur M i schung von prophetischem Predigtstil mit paränetisch zugespitzter Geschichtsdarstellung 17 ". Damit aber ist aufs engste verbunden, daß die einzelnen geschichtlichen Motive ausgesprochen allgemein gehalten sind und es kaum möglich ist, historische Haftpunkte für die dichterisch verschieden gestalteten, in stereotyper Abfolge gebotenen Aussagen eindeutig festzulegen 18 . Eine Ausnahme aber bilden die Verse 8 f. und 43 in ihrer von ® vorausgesetzten und durch 4 £k Dtn. 32, 8 f. 43 gebotenen Form. Danach hat der „Höchste", das heißt Jahwe, an einem bestimmten Punkte der Heilsgeschichte oder ihres Urbildes - wann, wird nicht gesagt 19 - die 15 'Ihym „Götter" ist hier gleichbedeutend mit bene lohim und bezeichnet ebenso wie in Ps. 97, 7 c, mit dem übrigens Stichos b abgesehen v o m Perfektum consecutivum (9JI: hsthwtv; Imperativ) übereinstimmt, die Angehörigen des himmlischen Hofstaates, nicht etwa die Götter der Heiden. Die ©-Version vioi ΰεοϋ stellt die sachgemäße Interpretation dar; eine Konjektur etwa im Sinne von *bene 'ael6him ist gleichwohl nicht nötig; etwas anders P . W . SKEHAN, a. a. O . , S. 15. 16 Es ist zu beachten, daß 93} hrnynw gwym 'mw syntaktisch weit weniger klar ist als Stichos a in 4 O und 17 Einleitung in das Alte Testament, 2 I949, S. 93 ; anders '1957, S. 100. 18 Deutlich wird dieser Sachverhalt etwa an der Auslegung des Begriffes „ N i c h t - V o l k " (V. 21), der, um nur zwei exegetische Extreme zu nennen, auf die Philister zur Zeit Samuels ebenso bezogen wird wie auf die Samaritaner im 2.Jhdt. v. Chr. " Wahrscheinlich steht das Theologumenon von der urbildhaften Weltaufteilung ursprünglich selbständig neben der genealogischen Ableitung der Völker von den Noah-

128

Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

[202]

Welt den einzelnen Völkern zugeteilt und ihnen ihre Grenzen gesetzt. Aufgegliedert aber wurden die einzelnen Nationen nach der Anzahl der Gottessöhne und damit der himmlischen Satrapen, die Jahwes Hofstaat bilden. Hiervon ausgenommen ist Israel; dieses Volk hat sich Jahwe selbst als seinen Erbbesitz, als seine „Domäne", vorbehalten. In dem heilseschatologischen Schluß dagegen wird eben dieser himmlische Hofstaat aufgefordert, Jahwe zu preisen, weil er seinen „Söhnen" auf Erden Recht und Sieg schafft und das Land seines Volkes „entsühnt", das heißt, von allem Heidnischen reinigt. Als geschichtstheologisches Bild, das hinter diesen mythischen Aussagen steht, ergibt sich demnach: Der himmlische Großkönig Jahwe hat die Welt und ihre Völker an seine Satrapen verteilt und damit urbildhaft einen Dualismus geschaffen, der sich auf Erden in dem Spannungsverhältnis zwischen Israel, das in die Geschichte schuldhaft verstrickt ist, und den Völkern, die blind gegenüber dem göttlichen Walten in der Geschichte sind, auswirkt. Erst die künftige Heilsvollendung wird auf Erden die „Reinigung" des Heiligen Landes samt der Rehabilitierung Israels und im himmlischen Hofstaat die endgültige Anbetung Jahwes durch seine Satrapen und damit die Aufhebung des geschichtlichen Dualismus bringen. Zur Bestimmung des historischen Standorts für den theologischen Komplex, wie wir ihn als Voraussetzung für das ganze Gedicht glauben ansehen zu dürfen, scheidet die vorexilische Zeit mit ziemlicher Sicherheit aus. Z w a r steht außer aller Frage, daß die Vorstellung v o m himmlischen Hofstaat Jahwes in Israel mindestens bis in die Zeit der Großreichsbildung Davids zurückgeht; ebenso hat O . E I S S F E L D T m. E . erwiesen, daß - allerdings in hellenistisch-römischer Zeit häufig gebrauchte - Begriffe wie 'el „El, Gott" oder 'aelyort „Eljon, Höchster" letztlich auf die fruchtbaren Wechselbeziehungen zwischen genuin israelitischem Jahweglauben und der Religion Altkanaans hinweisen 20 ; aber gerade der Gedanke, daß ein Großkönig seinen universalen Machtbereich an ihm untergebene Satrapen verteilt, ist in der vorexilischen Literatur weder belegt noch auch recht denkbar. Man wird dagegen auch nicht einwenden können, daß Israel in alter Zeit, wie jedes antike Volk, seine Kämpfe als die seines Gottes gegen die fremden Gottheiten angesehen hat; denn eben darum geht es ja hier gerade nicht, sondern lediglich um das Theologumenon, daß Jahwe als der Höchste am Anfang eine Weltaufteilung durchgeführt hat und daß hieraus sich die Spannungen wie im himmlischen so auch im irdischen

Söhnen und dem Mythus von der Völkerzerstreuung und Sprachverwirrung. Später hat man allerdings die drei Vorstellungskreise harmonistisch ausgeglichen; s. u. S. 206f. 20 Vgl. zuletzt O . EISSFELDT, El und Yahwe, JSS ι (1956), S. 25-37.

[203]

Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 ( 4 Q )

129

Bereiche ergeben haben, die erst zum Zeitpunkt der Heilsvollendung aufgehoben werden 21 . So nimmt es denn auch nicht wunder, daß Parallelaussagen zu Dtn. 32, 8 f. 43 erst auf sehr junger Stufe begegnen. In erster Linie ist hier Sir. 17, 17 zu erwähnen 22 : Έκάστω ίϋνει κατέστησε? ήγούμενον, καΐ μερίς κνριον 'Ισραήλ 'εστίν. „ F ü r jedes V o l k hat er einen Fürsten eingesetzt, aber der A n t e i l des H e r r n ist Israel."

Z w a r haben wir bisher für Sir. 17, 17 noch nicht die hebräische Vorlage, aber es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der griechische Begriff ηγούμενος hebräischem sar in der Bedeutung „Fürst, Oberbefehlshaber, Statthalter" entspricht und damit auf einen Regierungsgewaltigen hinweist, der gleichwohl nicht Autokrat ist, sondern von seinem Herrscher abhängt. Indem nach Sir. 17, 17 ein jedes Volk außer Israel einen solchen „Fürsten" oder „Statthalter" bzw. Archonten 23 hat, begegnet hier die gleiche Vorstellung wie in 4 & Dtn. 32, 8 f. und der ©-Version, so daß sich die Gleichsetzung der „Gottessöhne" mit himmlischen „Fürsten" oder „Statthaltern" von selbst ergibt. Längst schon hat man erkannt, daß die Vorstellung, wonach jedes Volk seinen himmlischen Patron habe, letztlich eine folgerichtige Erweiterung des alten Schutzengelglaubens ins Kollektive und Astral-Mythische darstellt. Dies erklärt jedoch noch nicht ausreichend die im „Moselied" und Sir. 17, 17 vorausgesetzte himmlische Hierarchie mit ihrer inneren Spannungsgeladenheit, wie sie mit aller Deutlichkeit etwa Jubiläen 15, 3 ο ff. zum Ausdruck kommt: „Israel aber hat er e r w ä h l t , d a ß es i h m z u m V o l k e sei. U n d er hat es g e h e i l i g t u n d aus allen M e n s c h e n k i n d e r n g e s a m m e l t ; d e n n v i e l sind die V ö l k e r u n d zahlreich die Leute, u n d sie alle [gehören] i h m , u n d er hat d e n Geistern M a c h t über alle g e g e b e n , d a m i t sie sie v o n (hinter) i h m abirren m a c h t e n . Ü b e r Israel aber hat er k e i n e m E n g e l n o c h Geiste M a c h t g e g e b e n ; sondern er allein ist ihr Herrscher, u n d er behütet sie." 2 4

Wenn nun Sir. 17, 17 um 190 v. Chr. durch einen sadokidisch eingestellten Weisen in Jerusalem geschrieben worden ist, so ist damit natürlich keineswegs 21

D i e letzte K o n s e q u e n z dieses G e d a n k e n s b e g e g n e t in 1 Q S 3, 1 7 fr. w o n a c h G o t t a m

A n f a n g das R e i c h des Lichts unter d e m „Fürsten (sar)

der L i c h t e r " u n d das R e i c h der

Finsternis unter d e m „ E n g e l der Finsternis" gesetzt u n d d a m i t einen kosmisch-ethischen, j e d o c h nicht (!) a n t h r o p o l o g i s c h e n D u a l i s m u s geschaffen hat, der erst bei A n b r u c h

des

Heils zugunsten absoluter Gottesherrschaft a u f g e h o b e n w i r d : 22

Zum

Material v g l .

(STRACK-) BILLERBECK, K o m m e n t a r

z u m N e u e n Testament

( S I9J4), S. 48 f f . ; P. VOLZ, D i e E s c h a t o l o g i e der j ü d i s c h e n G e m e i n d e , "1934, S. 199. » V g l . h i e r z u T h W I, S. 487 (G.DELLING). 24

E.KAUTZSCH, A p o k r y p h e n u n d Pseudepigraphen II, S. 6 7 f . (E. LITTMANN).

III

130

Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

[204]

gesagt, daß die Vorstellung von den himmlischen Statthaltern oder Archonten erst um diese Zeit aufgekommen sein müßte. Hiergegen spricht vor allem folgende Erwägung: Glaubensaussagen sind zu allen Zeiten in ihre Umwelt, die damit Gleichnischarakter erhält, eingebettet. Wenn also Sir. 17, 17 ebenso von den himmlischen „Statthaltern" wie das „Moselied" von „Gottessöhnen" redet, die ihren eigenen Herrschaftsbereich haben und doch von einem Oberherren abhängig sind, der seinerseits zu einem bestimmten Volke ein besonders enges Verhältnis hat, so wird man nach dem geschichtlichen Vorbild fragen müssen. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß nur eine Universalmonarchie ein solches Vorbild abgeben kann, deren Großkönig mit dem relativ kleinen Staatsvolk eng verbunden ist, während die Vielvölkerwelt des Großreiches durch Statthalter oder Satrapen - also v o m Herrscher eingesetze Beamte! regiert wird. Da nun der Vordere Orient zur Zeit des Siraziden längst auseinandergefallen war und ein derartiges Erleben universaler Einheit nicht mehr zuließ, ist anzunehmen, daß bei der theologischen Konzeption, wie sie Dtn. 32, 8 f. und Sir. 17, 17 zugrunde liegt, die persische Universalmonarchie Pate gestanden hat; findet sich hier doch sogar das Motiv von der Empörung einzelner Satrapen und ihrer Völker samt dem endlichen Siege des Großkönigs! 25 Natürlich muß eine solche Konzeption zu einer Zeit entstanden sein, als das Perserreich noch als machtvolle Größe existierte, w o man aber andererseits auch schon seine Erfahrungen mit dem Universalreiche der Achämeniden gesammelt hatte. Als Anhaltspunkt käme etwa die Zeit um 400 v. Chr. in Frage, womit dann zugleich der terminus a quo für die Abfassung des „Moseliedes" gegeben wäre, das ja ohne den in Vers 8 f. und 43 vorliegenden theologischen Komplex kaum denkbar ist 26 . Da die Feststellung, wonach der von 4dl Dtn. 32, 8 f. 43 gebotene und von ® vorausgesetzte Text der ursprünglichere ist, unser bisheriges Bild v o m „Moselied" nicht unwesentlich verändert, wird man natürlich fragen müssen, wie dann 9R, der fast zwei Jahrtausende die Tradition bestimmt hat, zu erklären ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst sein Gedankengehalt zu erschließen. Nach 4)0, und ® besagt V . 8 b, daß der Höchste die Grenzen der Völker entsprechend der Zahl der „Gottessöhne" bzw. der „Engel Gottes" festgesetzt habe; das heißt, der Einteilung der Völker liegt das bekannte Schema von Urbild und Abbild bzw. von der Entsprechung zwischen himmlischer und irdischer Welt zugrunde. Anders dagegen in 9R; hier ist es die Zahl der 16 M a n vergleiche etwa den b e r ü h m t e n Aufstand des Megabysos u m 448 v. C h r . in Syrien; E. MEYER, Geschichte des Altertums IV ( 2 i 9 i 5 ) . § 420, = 5 i954. s · 7 " · 28 I m Gegensatz zu Dtn. 32, 8f. 43 spiegelt sich in Dan. xo, 13ff. u n d 12, i f f . die Z e r rissenheit der hellenistischen Welt wider.

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Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

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„Söhne Israels", die gleichsam den Typos abgibt für die Zahl der Völkerschaften auf der Erde. Die jüdische Tradition denkt dabei in der Regel an die 70 Mann der Großfamilie Jakobs 27 , die einst nach Ägypten hinabgezogen und die den „70 Völkern der Welt" entsprechen. Dementsprechend sagt Raschi: „ ,Und nach der Zahl der Söhne Israels' . . . nach der Zahl der 70 Seelen der Söhne Israels, die nach Ägypten hinabzogen, setzte er fest die Grenzen der Völker [in] 70 Sprachen." 2 8

Es liegt auf der Hand, daß mit der Ersetzung der „Gottessöhne" bzw. „Engel Gottes" nicht nur die Vorstellung von der Entsprechung zwischen Urbild und Abbild zerstört ist, sondern daß sich damit auch eine grundsätzliche theologische Verschiebung ergibt; denn die ursprünglich mythische Aussage ist in 8R „entmythologisiert" und rein auf den innerweltlich-,.historischen" Bereich beschränkt worden. Ganz in der gleichen Linie liegt die 9R-Form von V . 43. Hier sind die eigentlich mythischen Aussagen, wie sie in den beiden ersten Stichen von 4 & und entsprechend in (ü begegnen, völlig ausgelassen, und die Aufforderung an die Heiden, Israel zur endgültigen sieghaften Rechtfertigung durch Jahwe und zur „Reinigung" des Heiligen Landes zu beglückwünschen, gehört dem nationalen Bereiche der irdischen Geschichte an. Mit einer solchen „Entmythologisierung" aber ist ein ganzer theologischer Komplex aus dem „Moselied" mit seinem ausgesprochenen Theodizee-Charakter herausgebrochen. Da nach indirektem Ausweis von R o m . 15, 10 die Textform von SR nicht erst dadurch entstanden sein kann, daß sich das Judentum bei seiner Reorganisation gegen eine christologische Auslegung von V . 43, wie sie ja nahelag, abgrenzen mußte, dürfte die Textgestalt von SR innerjüdische Ursache haben. Eine Möglichkeit, sie zu erklären, scheint mir die Religionspolitik der Hasmonäer zu geben: V o n Hyrkan (135-104 v. Chr.) bis Alexander Jannai (103-67 v. Chr.) haben diese Priesterfürsten Heilige Kriege geführt und durch Zwangsbeschneidungen das Land „entsühnt", während andererseits die Nichtjuden entweder beseitigt oder des Landes verwiesen wurden 29 . Von hier aus gesehen, wäre SR in der Tat nichts anderes als die geschichtliche Aktualisierung einer älteren heilseschatologischen Vorlage. Wenn dann beim Kanonabschluß zu Beginn des 2. Jhdts. n. Chr. gerade diese Sekundärform bevorzugt und

Gen. 46, 27. Sefer D e b a r i m . W i e n 1859, Sp. 95c zu Dtn. 32, 8. " T h W V I , S. 77; VII, S. 44.

27

28

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Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

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damit für alle Zeiten kanonisiert wurde, während die 4 £k-Lesart für fast 2000 Jahre in Vergessenheit geriet und die ©-Version allein durch die Kirche tradiert wurde, so kann dies sehr wohl durch die dogmatische Abgrenzung der Synagoge gegen das Christentum bedingt sein. Gleichwohl lebt die Vorstellung von den himmlischen Regenten der einzelnen Völker in der haggadischen und targumischen Tradition nach. Wir können uns hier auf die Targume beschränken, und zwar auf die Auslegung bzw. Paraphrasierung von V. 8 f. Das Targum Onkelos, das am stärksten an der masoretischen Vorlage ausgerichtet ist, bietet dementsprechend keine Abweichungen von SR. Anders dagegen Jeruschalmi I; dieses Targum enthält eine kürzere und eine längere Paraphrase zu den beiden Versen. Erstere entspricht ziemlich genau dem Text, wie er in dem kürzlich von A. D I E Z M A C H O entdeckten palästinischen Pentateuchtargum des Codex Neofiti I der Biblioteca Vaticana vorliegt und laier lautet: „Als der Höchste verteilte": Als der Höchste die Nationen verteilte, als er die Sprachen der Menschenkinder sonderte, da bestimmte er die Grenzen f ü r die Nationen nach der Zahl der Stämme der Söhne Israels. „Denn der Besitz":

Denn der Besitz des Herrn sind sie, sein Volk, die Söhne Israels,

Jakob ist sein Erbbesitz." 30

Hier wird zwar auch 9R vorausgesetzt, aber die Interpretation geht insofern eigene Wege, als nicht die 70 Seelen Jakobs, sondern die Zwölfzahl der Stämme für die Völkereinteilung bestimmend ist; gleichzeitig wird das Motiv der Sprachverwirrung, Gen. 1 1 , iff., harmonisierend mit einbezogen, so daß Dtn. 32, 8 f. auch heilsgeschichtlich fixiert wird. Wesentlicher aber für unseren Zusammenhang ist die umfangreichere Paraphrase in Targum Jeruschalmi I: (8) „ A l s der Höchste die Welt den Völkern, die Noahs Söhnen entstammten, als Besitz zuteilte, als er Schriften und Sprachen der Menschenkinder im Zeitalter der Zerstreuung voneinander schied, damals warf er mit den 70 Engeln, den Fürsten der Völker, mit denen er erschienen war, um die Stadt (Babylon) zu besichtigen, das Los. U n d zur selben Zeit bestimmte er die Grenzen der Nationen nach der Gesamtzahl der 70 Seelen Israels, die nach Ägypten hinabzogen. (9) Als aber das heilige Volk auf das Los des Herrn der Welt gefallen war, hub Michael an und sprach: Das ist ein gutes Teil, denn der N a m e des Logos des Herrn ('el) ist darin (seil, im Namen „Israel") enthalten; darauf öffnete Gabriel seinen Mund zum Lobpreis und sprach: Das Haus Jakob ist sein Losanteil." 31

80 Ich verdanke die Einsichtnahme in das Targum Neofiti I, das A . DIEZ MACHO zur Edition vorbereitet, meinem verehrten Freunde PAUL KAHLE, Oxford. »'Thargum Jonathan ben Usiel zum Pentateuch, ed. Μ . GINSBURGER, 1903, S. 358.

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Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

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In dem Targumtext liegt eine ganze, in sich abgerundete und gut pointierte Haggada vor. Bemerkenswert ist nun, daß bei der Harmonisierung der verschiedenen biblischen Motive, wie sie in Gen. io; I i , 1-9 und Dtn. 32, 8f. (®i) vorliegen, auch die Vorstellung von der Verteilung der Völker an die himmlischen Regenten - in diesem Falle 70 an der Zahl - in die Darstellung eingefügt ist, obwohl SR hierzu keinen Anlaß gibt. Das bedeutet aber, daß in der palästinischen Targumtradition neben der Interpretation des offiziellen Textes noch eine Uberlieferung herlief, die letztlich die ältere Textgestalt von Dtn. 32, 8 f. voraussetzt, wie sie jetzt aus 4 jQ erkennbar wird und wie sie ® als Ubersetzungsvorlage gedient hat. Das 4 jü,-Fragment des „Moseliedes" läßt, worauf P . W . Skehan mit Nachdruck hinweist, erkennen, daß mit V. 43 als letztem Vers des Gedichtes zugleich der Abschluß des ganzen Textes gegeben war 32 . Es ist also gänzlich ausgeschlossen, daß dieses Exemplar des „Moseliedes" - kolumnenweise in Halbversen abgefaßt - jemals eine Fortsetzung in Gestalt der beiden letzten Kapitel des kanonischen Deuteronomiums oder auch nur der Schlußverse unseres Kapitels (32, 44-52) gehabt hat. Das bedeutet aber, daß das „Moselied" innerhalb der Qumran-Literatur - unbeschadet gleichzeitiger Existenz vollständiger Deuteronomium-Rollen - noch als selbstständige Einheit verwendet wurde. Ein solcher Sachverhalt bedarf der Erklärung, zumal da es sich um einen Tora-Text handelt. Zunächst sei daraufhingewiesen, daß die Existenz selbständiger Tora-Stücke aus vorrabbinischer Zeit auch bisher nicht unbekannt war 3 3 ; des weiteren muß man sich vor Augen halten, daß die vielfach sehr altertümliche Theologie der Sadokiden von Qumran noch nicht über eine dogmatisch voll ausgebildete Kanontheoiie verfügte, wie sie in der pharisäischhillelitisch ausgerichteten Synagoge seit dem Beginn des 2.Jhdts. n. Chr. herrschte. Da wir uns hier auf dem Boden einer ausgeprägten Kanonvorstufe befinden, gelten also für Qumran die späteren Regeln für die Herstellung und Behandlung heiliger Schriften und insbesondere der Tora noch nicht, so daß die Verwendung einzelner Gesetzestexte keineswegs als etwas Außergewöhnliches anzusehen ist. Bei dieser allgemeinen Feststellung braucht man jedoch nicht stehenzubleiben, sondern kann noch einen Schritt weitergehen. Ein Blick in das kanonische 32 P . W . Skehan, a. a. O., S . 12: „ . . . t h e extremely wide left margin, with no of stitching, after the ending of Deut. 32 shows with certainty that Deut. 33 and 34 never intended to follow it in this copy, so that we are not dealing with parts of one plete scroll." 33 Vgl. etwa den Papyrus Nash; Ε. Würthwein, Der Text des Alten Testaments, S . 30. 98.

trace were com1952,

134

D i e B e d e u t u n g v o n D e u t e r o n o m i u m 3 2 , 8 f. 4 3 ( 4 Q )

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Deuteronomium zeigt nämlich, daß das „Moselied" von Haus aus eine Einleitung gehabt hat, die - bei Unklarheiten im einzelnen - heute noch aus Dtn. 31, 16-22.28-30 teilweise erkennbar ist34. Wenn nun auf Grund des 4 Cl-Textes feststeht, daß das „Moselied" noch in verhältnismäßig später Zeit als selbständige literarische Einheit im Umlauf war, dann liegt die Annahme nahe, daß es niemals ohne eine solche Präambel existiert hat, durch die sein unbekannter Verfasser es heilsgeschichtlich legitimieren wollte. Obgleich das 4 ^-Fragment selbst hierfür unmittelbar keinen Anhalt gibt, so wird doch diese Vermutung dadurch gestützt, daß eben diese Einleitung - literarisch fest mit dem Lied verbunden - bei der redaktionellen Einfügung in das Deuteronomium noch heute erkennbare Schwierigkeiten bereitet hat. Nach Dtn. 31, 16 hat Mose das Lied auf Jahwes Befehl kurz vor seinem Tode verfaßt; will man daher die Gattung des „Moseliedes" bestimmen, so wird man es als „Letztes Wort Moses" bezeichnen müssen. Derartige „Vermächtnis-Literatur", zu der u. a. auch die „Testamente" der Patriarchen gehören, hat offenbar in nachexilischer Zeit eine bedeutende Rolle gespielt. Selbstredend können die einzelnen Schriften dieser Gattung unterschiedlich aufgebaut und auch verschiedenartigen Tendenzen unterworfen sein. So gehört m. E. zu den „Letzten Worten Moses" die „Assumptio Mosis" und vor allem jenes große Fragment aus Höhle 1 von Qumran, dem J.T. Milik den Titel „Dires de Moise" (1 QDM) verliehen hat35. Auch dieser Text beginnt, wie das „Moselied", mit einer „historischen" Einleitung bzw. heilsgeschichtlichen Fixierung; aber anstatt eines in der „Weisheit" und der prophetischen Predigt verankerten Lehrgedichtes folgt hier eine ausführliche Behandlung des kultischen Kalenders der Gemeinde. Mit dieser Parallelisierung soll natürlich weder behauptet werden, daß die Gattung der „Letzten Worte Moses" erst zur Zeit von Qumran - also in den beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderten - aufgekommen sei, noch gar, daß das „Moselied" ein literarisches Produkt der Gemeinde von Qumran darstelle. Wohl aber kann mit einiger Sicherheit gesagt werden, daß diese Gattung nicht über das Exil hinausgeht, da die jeweiligen Abschiedsreden offensichtlich am deuteronomistischen Geschichtswerk ausgerichtet sind. Für das „Moselied" im besonderen gilt, daß seine Präambel die Erfahrungen des Exils voraussetzt. Somit aber läßt sich die Entstehungszeit des „Moseliedes" sowohl formal als auch inhaltlich relativ sicher umreißen: Ist formal das Exil als oberste Grenze 34

Allerdings ist infolge Redaktorenarbeit diese Einleitung heute nicht mehr vollständig

erhalten. 36

D J D I: Q u m r a n C a v e I (1955), S. 91 ff.

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Die Bedeutung von Deuteronomium 32, 8 f. 43 (4Q)

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für die Entstehung des Gedichtes samt Einleitung anzusehen, so weist inhaltlich-theologisch der ursprüngliche Text der V . 8 f. und 43 auf das persische Universalreich etwa um 400 v. Chr. mit dem daraus entspringenden Weltverständnis hin. Trifft nun die literar- und religionsgeschichtliche Fixierung des „Moseliedes" zu, wie sie auf Grund des 4 jCl-Fragmentes möglich zu sein scheint, dann sind alle neuerlichen Frühdatierungen von Dtn. 32, 1-43, die in vorexilische Zeit hinaufführen, hinfällig, und M . NOTH behält im Prinzip recht, wenn er das „Moselied" zu den jüngsten Einschüben am Schlüsse unseres kanonischen Deuteronomiums rechnet 36 . 38

M. NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Geisteswiss. Klasse).

Studien

I

(1943), S.

40 (= SGK18,2;

[475]

Α. Sperbers neueste Studien über das masoretische Hebräisch Corpus Codicum Hebraicorum Medii Aevi. Redigendum Curavit Rafael EDELMANN. Pars II: The Pre-Masoretic Bible. Codex Reuchlinianus, No. 3 of the Badische Landesbibliothek in Karlsruhe (formerly Durlach No. 55), with a General Introduction: Masoretic Hebrew, by Alexander SPERBER. Copenhagen: Ejnar Munksgaard 1956. L, 774 S. Fol. — Codices Palatini I: The Parma Pentateuch (Ms. Parma No. 1849, formerly de Rossi No. 668). II: The Parma Bible (Ms. Parma No. 2808, formerly de Rossi No. 2). Part I: The Pentateuch - Joshua - Judges - Books of Samuel. Published by Alexander SPERBER. Ebenda: 1959, S . 1-99 und S . 1-124. Fol. —Codices Palatini II: The Parma Bible. Part II: Jeremiah - Ezekiel - Isaiah - Minor Prophets - Psalms - Proverbs - Five Rolls - Daniel - Ezra - Nehemiah - Job - Chronicles. Published by Alexander SPERBER. Ebenda: 1959. S . 125-318. Fol. — Alexander SPERBER, A Grammar of Masoretic Hebrew, a General Introduction to the Pre-Masoretic Bible. Copenhagen: Ejnar Munksgaard 1959. 211 S. gr. 8°.

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Α. Sperbers neueste Studien über das masoretische Hebräisch

137

Es ist ohne Zweifel eines der Hauptverdienste von P. KAHLE, die Forschung auf Grund eigener, nun schon rund zwei Menschenalter währender Untersuchungen nachdrücklich darauf hingewiesen zu haben, dass eine ernst zu nehmende und modernen wissenschaftlichen Anforderungen genügende Hebraistik nur getrieben werden kann, wenn Vokalisations- und Akzentsysteme, wie sie uns unterschiedlich in den verschiedenen Kodizes und Handschriftenfragmenten entgegentreten, in ihrem historischen Zusammenhange gesehen werden. Ganz in dieser Linie liegt es, wenn Alexander SPERBER, P. KAHLES einstiger Schüler, der seit mehreren Jahren durch eine Reihe beachtenswerter Untersuchungen zur hebräischen Grammatik hervorgetreten ist 1 ), im Jahre 1945 den Plan fasste, in den europäischen Bibliotheken nach Bibelhandschiiften zu suchen, die in bezug auf Vokalisation, Akzentsystem und Masora noch nicht der Normierung unterliegen, durch die unser traditioneller Text des Alten Testaments gekennzeichnet ist. Ohne Kosten und Mühe zu scheuen, hat er in den Jahren 1947 bis 1954 wiederholt die Bibliotheken Europas bereist und hierbei weit mehr als 1000 Handschriften durchgesehen. Der Ertrag seiner Studien besteht in vier Kodizes, die er nunmehr unter dem Titel „The Pre-Masoretic Bible" in der von Rafael EDELMANN herausgegebenen Reihe Corpus Codicum Hebraicorum Medii Aevi der Öffentlichkeit vorlegt. Die vier, im Faksimile-Druck gebotenen Kodizes sind: 1. der Codex Reuchlinianus (Badische Landesbibliothek Karlsruhe Nr. 3; früher Durlach Nr. 55), 2. der „Parma-Pentateuch" (Ms. Parma Nr. 1849; früher de Rossi Nr. 668), 3. die „Parma-Bibel" (Ms. Parma Nr. 2808; ehemals de Rossi Nr. 2) und 4. die „Londoner Bibel" (Britisches Museum Add. 21161). Hiervon liegen dem Rezensenter bislang die drei erstgenannten Handschriften vor; der vierte Kodex ist noch nicht erschienen. Innerhalb dieser Texte, die SPERBER zur Grundlage für seine Grammar of Masoretic Hebrew nimmt, Hegt formal und sachlich offensichtlich der Nachdruck auf dem Codex Reuchlinianus. Dieser berühmte Kodex vom Jahre 1106 im Folio-Format, der die „Acht Propheten", also den zweiten Teil des rabbinischen Kanons, enthält und nach jedem Verse das hierzu gehörige Targum bietet, ist öfter besprochen worden 2 ). Die Literatur x) Es seien hier vor allem genannt: „Hebrew based upon Greek and Latin Transliterations" ( H U C A xii/xiii 1937-38, S. 103-269); „Hebrew based upon Biblical Passages in Parallel Transmission" (ebd. xiv 1939, S. 153-249); „Hebrew Phonology" {ebd. xvi 1941, S. 415-482); „Problems of the Masora" (ebd. xvii 1943, S. 293-394); „Hebrew Grammar, a New Approach" (JBL lxxii 1943, S. 137-262); „Biblical Hebrew" (PAAJR xviii, 1948-49, S. 303-382). 2) Ohne Punktation ist der Text des Targums veröffentlicht in: Prophetae Chaldaice e fide codicis reuchliniani edidit P. DE LAGARDE, Lipsiae 1872.

138

Α. Sperbers neueste Studien über das masoretische Hebräisch

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findet man bei P. KAHLE, Masoreten des Westens II, 1930, S. 55*, der ihn zusammen mit einer Anzahl v o n Kairoer Genisa-Texten, der „Londoner Bibel" und einigen anderen Kodizes in die Ben-Naftali-Tradition einordnet und zugleich deren Eigenart in bezug auf Vokalisation und Akzentsystem bespricht 1 ). Die erstmalig vorliegende Gesamtausgabe stellt eine technische Meisterleistung dar; jedes einzelne der 382 Blätter lädt mit seiner bequemen Lesbarkeit nicht nur zu intensivem Studium ein, sondern bietet auch einen ästhetisch ausgesprochen befriedigenden Anblick. D e m Reuchlinianus ist eine „General Introduction" mit dem Titel „Masoretic H e b r e w " vorangestellt (S. XI-L). Sie liegt ausserdem in handlichem Format als erweiterte u n d revidierte Abhandlung unter dem Titel Λ Grammar of Masoretic Hebrew, a General Introduction to the Pre-Masoretic Bible vor u n d wird im folgenden gesondert zu besprechen sein. D e r „Parma-Pentateuch", ein Kodex im Oktav-Format, stammt aus dem 13. oder 14. Jahrhundert u n d enthält den Text in zwei Kolumnen 2 ). Mit ihm ist der erste Teil der „Parma-Bibel" zusammengebunden, der nach der Überschrift v o m Pentateuch bis zu den Samuelisbüchern reicht, aber genauer noch 1. Könige i 1-15 umfasst. Der zweite Teil setzt mit den beiden letzten Wörtern von 1. Könige i 15 ein und bringt dann die restlichen Bücher des Kanons. Die „Parma-Bibel", ein Kodex im QuartFormat mit drei Kolumnen je Seite, stammt aus dem 13. J a h r h u n d e r t 3 ) . Sie enthält insofern eine Besonderheit, als sie die „Späteren Propheten" in der Reihenfolge Jeremia —· Ezechiel — Jesaja — Dodekapropheton und die „Schriften" in der A n o r d n u n g Psalmen — Proverbien —- Megillot — Daniel — Esra — Nehemia — H i o b —• Chronikbücher übei liefert. D u r c h die Aufteilung des Kodex auf zwei Bände ist ein Versehen unterlaufen; denn es fehlen nicht nur, was verschmerzt werden könnte, die ersten Verse aus den Königsbüchern am E n d e von Teil I im Titel, sondern in Teil II sind darüber hinaus die Königsbücher in der Überschrift überhaupt ausgelassen, so dass hier als erstes Buch irrtümlich Jeremia angeführt wird. Das technische Versehen kann jedoch leicht korrigiert werden, indem man der noch ungebundenen Auflage ein neues Titelblatt voranstellt. Auch f ü r diese beiden Kodizes, v o n denen die „Parma-Bibel" mancherlei Altersschäden aufweist, gilt, dass sie in mustergültiger Weise ediert sind. Die auf den vier Kodizes fussende Grammar of Masoretic Hebrew beginnt mit einem Vorwort, das die Vorgeschichte der Edition sowie den Zweck der vorliegenden Studie behandelt (S. 17-20). Hieran schliesst sich eine Einleitung, die unter dem Titel „Hebrew Grammar Medieval in Concept i o n " (S. 21-33) eine historisch-kritische Darstellung der grammatikalischen Forschung und Darstellung bietet und gleichzeitig die Forderung nach Hierbei handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit mit R. EDELMANN; ergänzend ist hinzufügen: J. HEMPEL, „Fragmente einer dem Cod. Reuchlinianus (Durlach 55) verwandten Handschrift des hebr. Pentateuch aus Niedersachsen" {NGGW [phil.-hist. Kl. III], N.F. Bd. 1, 1937, S. 227-237). 2 ) Vgl. J. B. DE Rossi, Variae Lectiones Veteris Testamenti I, Parmae 1784, S. CXVIII; MSS. Codices Hebraici Biblioth. J. B. de Rossi, Parmae 1803, S. 125 f. 3 ) Variae Lectiones I, S. XCVII; MSS. Codices Hebraici I, S. 2.

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Α. Sperbers neueste Studien über das masoretische Hebräisch

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einer „völligen Umorientierung" aufstellt. Das erste Kapitel „Biblical Vocabulary and Hebrew .Sprachschatz' " (S. 34-45) ist grammatikalischlexikographischen Problemen gewidmet. Das zweite Kapitel, „ T h e Pronunciation of H e b r e w " (S. 46-88), stellt, soweit ich sehe, den Schwerp u n k t der Abhandlung dar, insofern als hier masoretische Ausspracheprobleme behandelt werden, die sich aus den vier Kodizes ( „ T h e Four Basic Manuscripts"; S. 67-74) ergeben, ausserdem aber die hier gemachten Beobachtungen in einen grösseren historischen Zusammenhang gestellt werden. Das dritte Kapitel behandelt die Frage der Sprachmischung im Pentateuch — „Israelitish and Judaean H e b r e w " (S. 89-141) — sowie seine innere Uneinheitlichkeit, wobei Verf. betont, dass alle literarische Analyse, womöglich eine solche, die mit Hilfe einer wie auch immer gearteten Übersetzung (!!) vorgenommen wird (S. 94), in der L u f t h ä n g t l ) , wenn nicht vorher die linguistischen Fragen geklärt sind („.Linguistic Phaenomena Decisive"; S. 105-109). Dieser erste Teil der Grammatik stellt eine Erweiterung und Verbesserung des in der „General Introduction" zum Codex Reuchlinianus Gebotenen dar. N e u hinzugekommen ist zunächst als viertes Kapitel eine Studie mit dem Titel „ T h e Dead Sea Scrolls". Hier behandelt Verfasser linguistische und textliche Probleme, wie sie sich aus den grossen biblischen u n d ausserbiblischen Texten der Höhle I von Qumran ergeben. Dieses Kapitel ist naturgemäss sehr stark dem Fluss der Forschung unterworfen, zumal da die Fragmente der gleichen Höhle und vor allem die textgeschichtlich so wichtigen Texte aus Höhle IV noch nicht ausgewertet sind. Das Schlusskapitel — „ T h e Masoretic T e x t " (S. 186-211) —• ist der Frage nach der Endgestaltung des masoretischen Textes („The Final Shaping of M T " ; S. 186 ff.) und nach seinen Quellen ( „ T h e Sources"; S. 188 ff.) gewidmet, wobei die aus der Analyse der 1 Q-Texte (insbesondere lQIs") gewonnenen Erkenntnisse eine wesentliche Rolle spielen. Wünschenswert wäre in Anbetracht des Dargebotenen bei einer eventuellen Neuauflage ein Namen-, Sach- u n d Stellenregister. S P E R B E R bietet in dieser „masoretischen Grammatik", die er f ü r Hebraisten schreibt, die den philologischen Problemen einer wissenschaftlichen Grammatik wirkliches Verständnis entgegenbringen u n d weder mit den üblichen Fragestellungen noch mit deren Lösung einverstanden sind (S. 17), eine ungeheure Fülle von Beobachtungen und Anregungen. D a er zugleich stets auf frühere Arbeiten Bezug nimmt, müsste in de* vorliegenden Rezension der gesamte, bisher geleistete wissenschaftliche Ertrag einer kritischen Beleuchtung unterzogen werden. Das dies im vorgesehenen Rahmen unmöglich ist, sei es gestattet, einige Hauptpunkte aus der Einleitung u n d den beiden ersten Kapiteln herauszugreifen, die unmittelbar zu den vier Kodizes in Beziehung stehen. In der Einleitung geht Verf. davon aus, dass die hebräische Sprachwissenschaft in bezug auf Phonologie und Morphologie im Grunde noch in den gleichen Bahnen läuft, in die sie vor rund einem Jahrtausend durch Sa'adya, den ersten grossen Hebraisten, gelenkt worden ist, u n d

Verf. bezieht sich hierbei auf P. Erzähler, 1933, S. 21.

VOLZ

und W.

RUDOLPH,

Der Elohist als

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dies trotz aller Weiterentwicklung im Laufe der Jahrhunderte! Nunmehr hält allerdings SPERBER die Zeit für endgültig gekommen, um die Hebraistik — wobei er in erster Linie Phonologie und Morphologie im Auge hat — grundsätzlich auf eine neue Basis zu stellen. Als Hauptgrund hierfür gilt, dass das tiberische Vokalisations- und Akzentsystem nach den Entdeckungen in den letzten 60 Jahren nicht mehr als normativ angesehen werden kann, sondern dass es als eine historisch relative und damit zeitgebundene Grösse ei kannt ist. Weil dem so ist, kann aber auch die Aussprachetradition, wie sie beispielsweise in der Sekunda des Origines vorliegt, nicht einfach mit dem tiberischen System „synchronisiert" werden. Schliesslich stellt der masoretische Bibeltext weder eine „gleichförmige Einheit" (uniform unity) noch eine „Ganzheit" (complete entity) dar. Daher kann es für eine moderne hebräische Grammatik nicht in Frage kommen, etwa die traditionellen „Lautregeln" zu verbessern oder durch aussertiberische Beispiele zu erhärten, sondern es ist notwendig, sie einer durchgreifenden Kritik zu unterziehen. Mag diese Feststellung unseren Schulmeistern in aller Welt behagen oder nicht — richtig ist sie auf jeden Fall. Wenn SPERBER hierbei von einer „völligen Umorientierung" (complete re-orientation) spricht, so daif freilich nicht übersehen werden, dass eine derartige Neuorientierung im Bereiche der Hebraistik — im übrigen weithin durch P . K A H L E angeregt! — seit einiger Zeit auch andernorts vor sich geht. Es sei, um nur wenige Beispiele zu nennen, etwa an die masoretischen Studien von A. D I E Z M A C H O 1 ) und F. PEREZ CASTRO 2 ) oder an die Vorarbeiten zu einer vormasoretischen Grammatik von A. MURTONEN 3 ) erinnert. Auch die seit etwa einem Jahrzehnt laufenden Untersuchungen des Rezensenten zur historischen Grammatik des Hebräischen gehen, soweit es sich um nachbiblische Aussprachetraditionen handelt, in der gleichen Richtung 4 ). Ausserdem darf kritisch angemerkt werden, dass in der Forschung keineswegs überall die Meinung besteht, dass das Alte Testament —• philologischlexikographisch gesehen — eine „gleichförmige Einheit" und eine „vollständige Ganzheit" darstelle. Selbst ein . verhältnismässig konservativer Lexikograph wie L. KOEHLER macht aus diesem Sachverhalt kein Hehl; das zeigt sein Vorwort zu KOEHLER-BAUMGARTNER, Lexicon in Veteris Testamenti Libros, x1953; 21958, S. V-X, zur Genüge, und in bezug auf die traditionelle Verabsolutierung der Lautregeln sei etwa auf B E E R - M E Y E R , Hebräische Grammatik I, 21952, S. 53, verwiesen: „[Es] ergibt sich, dass *) A. DIEZ MACHO, „Tres nuovos manuscritos biblicos 'palestinenses*" (.Estudios Biblicos 12, 1954, S. 247-256). 2)

3)

F. PEREZ CASTRO, „Corregido y correcto" ( S e f a r a d 15, 1955, S. 3-30).

A. MURTONEN, Materials for a Non-Masoretic Hebrew Grammar I. Liturgical Texts and Psalm Fragments Provided with the So-Called Palestinian Punctuation . . . with a contribution by G. J. ORMANN, Helsinki 1958; derselbe, Materials for a Non-Masoretic Hebrew Grammar II. An Etymological Vocabulary to the Samaritan Pentateuch (Studia Orientalia edidit Societas Orientalis Fennica 25, Helsinki 1960).

4) Vgl. z.B. „Probleme der hebräischen Grammatik" {ΖAW 63, 1951, S. 221-235).

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keines der masoretischen Systeme als das Ergebnis einer sprachgeschichtlichen Entwicklung anzusehen ist, sondern dass jedes System, auch das tiberische, aus heterogenen Elementen b e s t e h t . . . , so wird man von einer Lautlehre nur mit Vorbehalt reden dürfen und sich vor allem vor einem allzu einfachen Entwicklungsschema wie auch vor einer Verabsolutierung der beobachteten Regeln hüten müssen". Im ersten Kapitel „Biblical Vocabulary and Hebrew Sprachschatz'" behandelt Verf. kurz die Frage, wieweit aus den unterschiedlichen Nominalbildungen von gleicher Wurzel oder auch deren differierender Vokalisation lexikalisch Bedeutungsunterschiede abgeleitet werden dürfen. Er kommt hierbei zu dem Ergebnis: „The various attempts . . . to establish a common characteristicon in the implied meaning of each nominal formation, according to their prefixes, suffixes, different vocalization and the like, each formation implicitly reflecting a certain shade of meaning, are thus all basically erroneous" (S. 35). Verf. begründet diese These an Hand einer grösseren Anzahl morphologischer Varianten, die er unter dem Thema „Different Formations with Identical Meaning" (S. 35-45) zusammenfasst. Aus dem instruktiven Material seien einige Beispiele angeführt: VTJ*-1?^ „Raub" (Ez. xviii 18; xxii 29); Vbia-V^iS „Kind" (Jer. xliv 7; ix 20); „Besitz" (Dt. ii 5; Nu. xxiv 18); "ΐΠ3Ι3-ΐίΠ2!3 „Auserlesenes" (Jes. xxxvii 24; 2 R. xix 23); n ^ i n - n ' S i n „Zins" (Lv. xxv 37.36); Vyin-Vwin „Riegel" (Dt. xxxiii 25; Cant, ν 5); n^DD-blVoa „Bahn" (1 S. vi 12; Jes. xxxv 8); VDN-rfT'OX „Speise, Essen" (Dt. ii 6; 1 R. xix 8); liN-liK» „Licht" (Prv. xvi 15; xv 30); nVDR-^SXa „Finsternis" (Dt. xxviii 29; Jos. xxiv 7) und "riM-Viairi „Wohltat" (Ps. ciii 2; cxvi 12). Zwar sind die vom Verf. gebotenen Belege nicht gleichwertig — so sind 1Π30 und "ΠΠ30 lediglich Aussprachevarianten —, gleichwohl wird daran deutlich, dass die einzelnen Nominalklassen oft nur unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten für ein und denselben Begriff darstellen, eine Erscheinung, die auch in anderen semitischen Idiomen keineswegs selten ist. Im Bereiche der Hebraistik aber, wo man sehr leicht geneigt ist, formale Unterschiede begriffsgeschichtlich überzubewerten, bedeutet SPERBERS kategorische Feststellung ohne Zweifel ein Warnzeichen, sei es nun, dass man die einzelnen Nominalbildungen lexikographisch für sich erfasst, oder sei es, dass sie — wie es dem Verf. vorschwebt (S. 88) — jeweils dem betreffenden „Nominalstamm" („nominal stem") untergeordnet werden. Im zweiten Kapitel geht Verf. zunächst unter dem Thema „Masoretic and Pre-Masoretic Bible" auf die Frage ein, was man überhaupt unter einem „masoretischen" beziehungsweise „vormasoretischen" Text zu verstehen habe. Den Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage bildet die Feststellung Jakob BEN CHAYIMS in seiner Einleitung zur Zweiten Rabbinerbibel, Venedig 1524/25, wonach kein Bibeltext „korrekt" sei ohne die Masora, die die Rechtschreibung, die Vokalisation und die Akzent-

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Verteilung regele. Von hier aus geht er über zu P. KAHLES bekannter Kritik an BEN CHAYIMS Bibeltext, der 4 0 0 Jahre lang das wissenschaftliche Feld beherrschte, und unterzieht vor allem die Edition des Leningrader Kodex Β 19 Α in der Biblia Hebraica2, einer scharfen Kritik, die in der Feststellung gipfelt, dass auch Β 19 Α nicht den masoretischen Bibeltext darstelle und dass er im Grunde ebenso gut oder ebenso mangelhaft sei wie etwa derjenige BEN CHAYIMS oder der des Codex Petropolitanus vom Jahre 916: „There never existed The Masoretic Text, and consequently never will be; any Masoretic Bible is just as good or as faulty as the other1)" (S. 51). Wenn allerdings in diesem Zusammenhang P. K A H L E S Auffassung über den Wert des Codex Leningradensis als „basically erroneous" (S. 48 in der Überschrift) bezeichnet wird, so wird man dem schwerlich beipflichten können. Selbst wenn man zugibt, dass die Masora parva im Petropolitanus2), in der Zweiten Rabbinerbibel und in Β 19 Α in ihren charakteristischen Zügen übereinstimmt — was bei der vorherrschenden Ben-Ascher-Tradition nicht wundernimmt—, so bleibt doch zunächst K A H L E S Grundanliegen bestehen, nämlich dass es methodisch und sachlich nicht gerechtfertigt erscheint, eine Textrezension aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts einfach weiterzuführen — welcher Philologe könnte ein solches Verfahren gutheissen 3 )? Zum anderen ist P. K A H L E keineswegs der erste gewesen, der den Ben-Chayim-Text angezweifelt hat. Lange vor ihm stellte Fr. DELITZSCH fest, dass der hebräische Text der Complutensischen Polyglotte demjenigen der Bombergiana von 1524/25 überlegen sei 4 ). Die Frage nach dem Verhältnis von Β 19 Α zu BEN CHAYIMS Text entscheidet sich ja nicht nur an den masoretischen Noten, sondern vor allem auch an der Textausgestaltung; wenn beispielsweise Β 19 Α das Qames als Strich mit untergesetztem Punkt ( T ) wiedergibt, so ist dies eben ein Zeichen grösserer Ursprünglichkeit als die Kombination zweier Striche ( 7 ) im textus receptus. Darüber hinaus erscheint es mir bedenklich, in der Polemik allein von den Prolegomena zur Biblia Hebraicaz (S. VII f.) auszugehen, die ja dem Forschungsstande der dreissiger Jahre entsprechen; zumindest hätten The Cairo Geniya, 1 1 9 4 7 , S. 5 4 - 7 8 , und etwa „The Hebrew Ben Asher Bible Manuscripts", VT 1, 1951, S. 1 6 1 - 1 6 7 , herangezogen werden können. Tatsächlich stehen SPERBER und P. K A H L E viel weniger weit auseinander, als es zunächst scheint. Wenn nämlich SPERBER mit Bezug auf seine 1943 erschienene Abhandlung „The Problems of the Masora" sagt, „that Ben Asher's work did not consist in preserving the traditional form of the Bible . . ., but rather in establishing a Bible according to his preconceived grammatical theories" (S. 51), so braucht man hierzu nur P. K A H L E S neuestes Werk, Der hebräische Bibeltext seit Fran^ Delitzsch, 1)

Vom Verf. kursiv gedruckt. Vgl. zu diesem Kodex neuerdings P . KAHLE, The Cairo Geni^a2, 1 9 5 9 , S. 63f. 3) Ebd. S. 129-131; vgl. auch SPERBERS eigene Kritik an Jakob BEN CHAYIMS Text, HUCA xvii S. 370: „Jacob ben Chayim does not follow any manuscript or authority in every detail, but uses his own judgment". Somit aber ergibt sich eine Ausgabe, die er mit Recht als „electically established" bezeichnet. 4) Vgl. besonders Fr. DELITZSCH, Complutensische Varianten zu dem alttestamentlichen Text (Leipziger Reformationsprogramm 1878). 2)

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1961, S. 67 f. zu vergleichen, um festzustellen, dass er — wenn auch auf methodisch eigenem Wege — zu einem gleichen Ergebnis kommt: „Wir müssen also damit rechnen, dass die tiberischen Masoreten eine neue Methode der Andeutung der Betonung. . . durchgeführt haben, die für die hebräische Grammatik. . . von grundlegender Bedeutting geworden ist. Das will aber besagen, dass die Aussprache des Hebräischen, wie wir sie auf Grund der tiberischen Punktation kennen, überhaupt erst eine Schöpfung der tiberischen Masoreten gewesen ist." Diese prinzipielle Gemeinsamkeit wird auch durch die differierenden Auffassungen über die ursprüngliche Funktion der Akzente — so spricht P. K A H L E beispielsweise von ihnen als einer „Art Interpunktion" (a.a.O.), während nach SPERBER diese Funktion ausgesprochen sekundär ist (S. 83) —• nicht aufgehoben. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit P. KAHI.E beantwortet Verf. nunmehr die Frage, was man unter einem „masoreti= /beziehungsweise E> = / sicherzustellen x ). Der gleiche Punkt, vom Verf. als „konsonantisches Hireq" (consonantal r)

Als Beispiel für den Gebrauch von He als diakritischem Zeichen sei aus der

babylonischen Punktation nxiVsi, tiberisch nXiVai, (Ps. xxiv 1) angeführt; vgl. P . K A H L E , Masoreten des Ostens, 1913, S . 131 ff.; R . M E Y E R , Hebräisches Textbuch, 1960, S. 74 (Ms. Heb. d. 37, fol. 50a, Oxford, Bodleian Library).

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Α. S p e r b e r s neueste Studien ü b e r das m a s o r e t i s c h e H e b r ä i s c h

hirek; S. 87) bezeichnet, dient als Punkt unten zur Kennzeichnung des konsonantischen J o d : * = j in finaler Stellung 1 ). Zur Andeutung des konsonantischen Wertes von Het und cAyin in allen Positionen sowie von Waw finale wird das Swa-Zeichen verwendet: Π, 57 und ). Im Reuchlinianus lässt sich nun beobachten, wie gelegentlich für dieses „konsonantische Swa" (consonantal shewa; S. 87) ein Patah oder Segol eintritt oder danebengesetzt wird: ΪΒΠΓΓ (Jos. V 9). Im traditionellen Text ist das Swa im Wortauslaut nach der bekannten tiberischen Regel geschwunden und das „konsonantische Patah" (consonantal patah; S. 87), das natürlich primär nichts mit dem gleichnamigen Vokalzeichen zu tun hat, ist in die Überlieferung als „Patah furtivum" eingegangen, das man nunmehr als Hilfsvokal auffasst. Im übrigen hat das Nebeneinander von Patah und Swa, beziehungsweise Segol und Swa in gleicher Funktion, nämlich den Konsonantenwert schwacher Mitlaute anzudeuten, in der Folge zur Entstehung der sogenannten Hatef-Laute geführt, wie Verf. vermutet. Auch hierfür kann er aus dem Reuchlinianus bemerkenswerte Beispiele anführen; so etwa Ί3Π&Ϊ3 (13ΠΦΗ) „wir salbten" (2 S. xix 11), wo zugleich Dages das vorhergehende Qames als kurz ausweist: mäsahnü, oder 'WST ('ΙΊΒΤ) „ich weiss" S. xxix 9), dasyäda l ti zu sprechen ist. S P E R B E R S Deutung der Hatef-Laute scheint mit durchaus einleuchtend zu sein; sie bedeutet eine wesentliche Aufhellung des traditionellen und Zugegebenermassen verwirrten Swaund Hatef-Gebrauchs; zugleich wird damit deutlich, wie wenig derartige Zeichen der Masoreten dazu geeignet sind, dass man mit ihrer Hilfe die Entwicklung des Hebräischen historisch-genetisch im alten Stile aufzuzeigen versucht 2 ). Als ein letztes interessantes Beispiel aus S P E R B E R S Grammatik sei die Verbindung des Swa mit Qames zum sogenannten Qames hatuf (—:) angeführt. Über die bekannten Regeln hinaus begegnet diese Kombination in den vorhegenden Handschriften bei starken Konsonanten in geschlossener Silbe; so etwa bei VBSi?1? im Reuchlinianus für HDDtf1? „uns zu richten" (1

(1 Sam. viii 5) in Β 19 Α und im textus receptus. Das Zeichen

T

: bedeutet

Mit Recht sagt Verf. S. 82, dass Formen wie ΓΡΤ primär nicht als xpyit, sondern als %ayt ausgesprochen wurden, während ΠΙ Tßt von Haus aus keine constructusForm zu angeblichem status absolutus darstellt, sondern beide Bildungen dialektgeographisch bedingt sind. Allerdings müsste bei der Behandlung dieses Problems mit in Betracht gezogen werden, dass das Nebeneinander von monophthongischen und diphthongischen Bildungen sich bereits in der 1. Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrtausends nachweisen lässt; vgl. etwa R. M E Y E R , „Die Bedeutung der linearen Vokalisation für die hebräische Sprachgeschichte" {Festschrift für Albrecht Alt·. Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig 3, 1953/54, S. 67-76). 2 ) Verf. verdeutlicht S. 87f. diesen Sachverhalt treffend an der Fehlinterpretation des Hatef-Zeichens durch GESENIUS-BERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik I, 2*1918, § 8, f.

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demnach, wie Verf. mit Recht betont, kurzes ο in geschlossener Silbe. Wir haben also im Reuchlinianus einerseits das unsystematische Nebeneinander von Patah und Qames als a, zum anderen kennt der gleiche Kodex Qames als o, das anscheinend durch Swa als solches festgelegt wird. Ausserdem kann Qames mit Holem — wie Verf. meint, irrtümlich (S. 65) — vertauscht werden. Damit wird das Problem des Qames überhaupt berührt. Dieses Zeichen ist, wie auch Verf. feststellt (S. 65), als ö-Symbol älter als der Reuchlinianus. Darüber hinaus muss jedoch gesagt werden, dass es ein relativ junges Kombinationszeichen darstellt, das nach dem Ausweis der alten Ben-Ascher-Handschriften und auch des Reuchlinianus aus Patah und Holem zu τ (τ ist jünger) zusammengefügt ist x ). Diese Kombination aber kann nur so erklärt werden, dass eine bestimmte rabbanitische Schule —• wahrscheinlich Ben-Ascher — unter dem Einflüsse eines regionalen o-Vokalismus Silben, die andernorts mit langem ä gesprochen wurden, durch Beifügung eines Holem zum Patah als «-haltig kennzeichnete. Gleichzeitig aber blieb durch diese lose Kombination noch immer die Möglichkeit offen, Qames als α zu sprechen. So haben die Babylonier das tiberische Qames als ä übernommen, und in gleicher Weise lebt es bei den Sefardim weiter; im Reuchlinianus hinwiederum findet es sich als α neben Patah, während dort, wo es als ο zu lesen ist, ihm ein i w a gleichsam als diakritisches Zeichen beigefügt wird, das an den babylonischen supralinearen Doppelpunkt für ο erinnert. Die Beispiele, die hier aus dem Hauptteil von SPERBERS „masoretischer Grammatik" angeführt sind, dürften zur Genüge zeigen, dass Verf. mit seiner Studie einen ausserordentlich wertvollen Beitrag zur Erforschung der hebräischen Aussprachetraditionen sowie der verschiedenen Punktationssysteme vorgelegt hat. Es bedeutet keine Minderung des Gesagten, wenn man feststellt, dass auch für seine verschiedenen Thesen das dies diem docet gilt und dass manches noch eingehender Diskussion bedarf. Besonders dankbar aber muss ihm sowie dem Herausgeber der Reihe und nicht zuletzt dem Verlage die Forschung deshalb sein, weil die „masoretische Grammatik" verbunden ist mit der mustergültigen Herausgabe von Texten, die bisher —• da weithin unbekannt — mit ihrer eigenartigen Punktation in der Hebraistik keine Rolle spielten. Es wäre nun nur zu wünschen, dass daneben auch recht bald die bedeutenden Ben-AscherKodizes — um lediglich das palästinische Material zu nennen — in gleicher Weise im Original allgemein zugänglich würden. Denn aus SPERBERS Edition und aus seiner Grammatik ergibt sich wieder einmal mit aller Deutlichkeit, dass eine wissenschaftliche Hebraistik nur an Hand der Originale methodisch gerechtfertigt ist. Wenn allein diese Erkenntnis Allgemeingut würde, dann wäre das wohl der schönste Lohn für all den Aufwand an Kosten und Mühe, der hinter der Veröffentlichung des Reuchlinianus und der übrigen Kodices steht. Für sehr wenig wahrscheinlich halte ich SPERBERS Annahme, dass Qame? = ο aus Qames hatuf: = ο entstanden sei (S. 62); vgl. meinen Aufsatz: „Das Problem der Dialektmischung in den hebräischen Texten von" Chirbet Qumran" ( V T vii S. 1 3 9 - 1 4 8 [bes. S. 142 ff.]).

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Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus für die hebräische Sprachgeschichte Dargestellt am Dageä-Gebrauch Unsere heutigen Grammatiken fußen auf der tiberischen Aussprachetradition, wie sie im wesentlichen durch das Ben-Äser-System bestimmt ist; dies gilt nicht nur von der großen Anzahl der für den Anfängerunterricht bestimmten Lehrbücher, sondern in gleicher Weise von den wissenschaftlichen Darstellungen im eigentlichen Sinne des Wortes. Sei es nun, daß man sich des textus receptus bedient, wie ihn die Bombergiana in der freilich recht zweifelhaften und modernen philologischen Ansprüchen kaum noch genügenden Rezension des Jakob ben Chayim von 1 5 2 / 4 2 5 bietet1 und wie er in den meisten Bibelausgaben bis heute fortlebt, oder sei es, daß — methodisch allerdings weit gerechtfertigter — der Leningradensis vom Jahre 1008 und der Kairiner Prophetenkodex aus dem Jahre 895 zur Grundlage für eine wissenschaftliche Betrachtung des biblischen Hebräisch genommen werden2, so bewegt man sich doch stets im gleichen Kreise. Mit anderen Worten, man steht in jedem Falle einem relativ homogenen Traditionsmaterial gegenüber, das, wenn es konkurrenzlos dastände, als Basis für ein geschlossenes Lehrgebäude dienen könnte3. In der Tat fußt denn auch — um nur ein markantes Beispiel zu nennen — die „Historische Grammatik der Hebräischen Sprache" von H. B A U E R und P. L E A N D E R , die leider nur ein Torso geblieben ist, auf dem textus receptus, wie ihn CHK. D. G E N S B U K G 1 9 0 8 F F . (Neuausgabe 1926) ediert hat4. Vgl. P. K A H L E , The Cairo Geniza2, Oxford 1959, S. 105—109. Für die Neubearbeitung der Biblia Hebraica wird wiederum als Ganzes der Codex Leningradensis Β 1 9 Α die Basis bilden; vgl. hierüber P . K A H I E , a.a.O., S. 1 3 1 — 1 3 8 ; ders., Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch, Stuttgart 1 9 6 1 , S. 7 6 — 7 9 . 3 Diese Grenzen werden auch durch den Kodex aus Aleppo nicht überschritten; über ihn vgl. P. K A H L E , Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch, S. 80—88. 4 Vgl. B A U E R - L E A N D E R , Historische Grammatik der Hebräischen Sprache I , Halle 1922, S. V I : „Als Bibeltext wurde die Ausgabe von Ch. D. Ginsburg . . . zugrunde gelegt . . . " ; über CH. D. G I N S B U R G , The Old Testament, diligently revised according to the Massorah and the early editions with the various readings from MSS and the ancient versions, siehe P . K A H L E , The Cairo Geniza2, S. 110—120. 1 2

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Aber der Benutzer unserer Grammatiken oder der von R. K I T T E L ins Leben gerufenen Biblia Hebraica, die trotz aller ihr entgegengebrachten Kritik noch immer die weitaus beste wissenschaftliche Handausgabe darstellt, ahnt in der Regel nicht, wie schwankend im Grunde der Boden ist, auf dem er philologisch so sicher zu stehen meint. Darüber braucht man sich nun freilich nicht allzu sehr zu wundern; denn an den meisten neueren Darstellungen zur hebräischen Sprachgeschichte sind die grundlegenden Entdeckungen P. K A H L E S — um nur den Pionier auf diesem Gebiete zu nennen — bisher fast spurlos vorübergegangen. Nicht sehr viel besser steht es mit den sprachgeschichtlichen Erkenntnissen, die sich aus den hebräischen Texten insbesondere von Qumran ergeben; ihnen erschließt man sich nur zögernd und dabei nicht selten unter der sorgfältig versteckten Prämisse, daß dem tiberischen Aussprachesystem der Ben Aser, dem einst die Autorität des Maimonides zum Siege verholfen hatte 5 , mehr oder weniger normative Geltung zukomme. Es muß daher als ein besonderes Verdienst von A L E X A N D E R S P E R B E R , Professor am Jewish Theological Seminary of America in New York, angesprochen werden, daß er — der einstige Schüler P. K A H L E S — 1945 den Plan faßte, in den europäischen Bibliotheken nach Bibelhandschriften zu suchen, die in bezug auf Vokalisation, Akzentsystem und Masora noch nicht der Normierung unterliegen, wie wir sie oben kurz gekennzeichnet haben. Zwischen 1947 und 1954 bereiste S P E R B E R wiederholt die Bibliotheken in Europa, und das Ergebnis bestand in vier Kodizes, die er nunmehr unter dem Titel: „The Pre-Masoretic Bible" in der von R A F A E L E D E L M A N N herausgegebenen Reihe „Corpus Codicum Hebraicorum Medii Aevi" im Faksimile-Druck vorlegt beziehungsweise noch vorzulegen gedenkt. Hierbei handelt es sich um folgende Texte: 1. Codex Reuchlinianus: Badische Landesbibliothek Karlsruhe Nr. 3 [früher Durlach 55] vom Jahre 1106; Kopenhagen 1956. 2. Parma-Pentateuch·. Ms. Parma Nr. 1849 [früher de Rossi Nr. 668] aus dem 13./14. Jahrhundert; Kopenhagen 1959. 3. Parma-Bibel: Ms. Parma Nr. 2808 [früher de Rossi Nr. 2] aus dem 13. Jahrhundert; Kopenhagen 1959. Als bisher noch nicht erschienen kommt schließlich hinzu: 4 . Die Londoner Bibel: Britisches Museum Add 2 1 1 6 1 ; sie enthält die Propheten und Hagiographen und stammt etwa aus dem Jahre 1 1 5 0 . Zu dieser Handschrift ist vorläufig CHR. D. G I N S B U R G , Introduction to the Massoretico-Critical Edition of the Hebrew Bible. London 1 8 9 7 . S . 6 3 2 — 6 4 1 zu vergleichen. 5

Vgl. etwa B E E R - M E Y E R , Hebräische Grammatik I 2 , Berlin 1 9 5 2 , § 5 , 8 .

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Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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Die schöne Neuausgabe des die „Acht Propheten" enthaltenden Reuchlinianus ist mit einer „General Introduction" versehen 6 , die außerdem in erweiterter Gestalt als Buch mit dem Titel: „A Grammar of Masoretic Hebrew, a General Introduction to thePre-Masoretic Bible", Kopenhagen 1959, erschienen ist 7 . Diese Grammatik, die in erster Linie für den Fachmann geschrieben ist 8 , stellt gleichsam den Begleittext zu den vier Kodizes dar. Allerdings ist hierbei zu beachten, daß nicht alle Kapitel in gleicher Weise zu dem durch die Texte gegebenen Thema in Beziehung stehen. So beziehen sich die Kapitel I : „Biblical Vocabulary and Hebrew 'Sprachschatz'"; I I I : „Israelitish and Judaean Hebrew"; IV: „The Dead Sea Scrolls" and V: „The Masoretic Text" vorrangig auf den Ertrag der bisherigen Forschungsarbeiten SPERBERS. Andererseits hätte man vielleicht gern gesehen — und würde es wohl auch für eine Neuauflage der Grammatik wünschen —, wenn die „General Introduction" eine eingehende Besprechung der Handschriften enthielte, die — soweit ich sehe — nicht geboten wird. Des weiteren geht S P E K B E B nicht auf das übrige, mit den vorliegenden Handschriften verwandte Material ein, das bereits P. K A H L E in Zusammenarbeit mit R. EDELMANN in: Masoreten des Westens II, 1930, S. 45*ff., besprochen hat; ebenso fehlt die Bezugnahme auf ein weiteres Fragment, das SH. H. BLANK im Jahre 1931/2 aus dem Besitz des Hebrew Union College in Cincinnati veröffentlichte 9 , sowie auf das niedersächsische Pentateuchfragment des Codex Wolters I, dessen Edition im Jahre 1936/7 wir J . H E M P E L verdanken 10 . Dasjenige aber, was SPERBERS Grammatik besonders wertvoll macht und vor allem den Codex Reuchlinianus in neuem Lichte erscheinen läßt, ist Kapitel I I : „The Pronunciation of Hebrew". Hier findet man eine große Anzahl beachtenswerter Feststellungen und Vermutungen, die nach meinem Dafürhalten vom Standpunkt sprachgeschiehtlicher • Codex Beuchlinianus with a General Introduction: Masoretic Hebrew by S P E R B E R (Corpus Codicum Hebraicorum Medii Aevi, redigendum curavit Rafael Edelmann: Pars II, 1). Kopenhagen 1956, S. I—L. 7 Vgl. meine Anzeige dieses Buches sowie der bisher vorliegenden Kodizes in: Vetus Testamentum 11, 1961, S. 475—486. 8 A.a.O., S. 17: „This is a grammar for grammarians: for Hebrew scholars, who are well-read in the Bible, sensitive to problems, which it presents to the philologian and who do not find the current grammars appealing to their philological taste: neither in the way they pose the problems, nor in the solutions which they offer". 9 SH. H. B L A N K , A Hebrew Bible Ms. in the Hebrew Library. Hebrew Union College Annual 8/9, Cincinnati 1931/32, S. 229—255. 10 J . H E M P E L , Fragmente einer dem Codex Reuchlinianus (Durlach 5 5 ) verwandten Handschrift des hebräischen Pentateuch aus Niedersachsen. NGG, N.F., 1937, Band I (Nr. 7), S. 227—237. ALEXANDER

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Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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Forschung her ernsthaft diskutiert werden sollten. In einem Kurzbericht, wie er auf diesem Kongreß gegeben werden soll, können natürlich nur einige Beispiele aus einem begrenzten Thema kritisch herausgegriffen werden, und wenn wir uns im folgenden auf den Reuchlinianus beschränken, so gibt hierzu S P E R B E R selbst die Berechtigung an die Hand, insofern als er selbst bei seinen Ausführungen den Nachdruck auf diesen berühmten Kodex legt, da er in seinem Punktationssystem von allen vier Handschriften die größte Ursprünglichkeit aufweist. I m Jahre 1922 schrieb P. K A H L E : „Am vollkommensten ist die Dagesund Raphesetzung ausgebildet in einer Gruppe von besonders wertvollen und alten Handschriften, zu denen der Reuchlinianische Prophetenkodex . . . und einige andere gehören. Man kann . . . im allgemeinen als Regel aufstellen, daß — abgesehen von den Laryngalen und 1 — jeder Konsonant, der eine Silbe beginnt, ein Dages erhält, wenn ihm eine geschlossene Silbe oder ein trennender Akzent vorausgeht" 11 . Diese Charakterisierung der Dages- und Rafesetzung im Reuchlinianus, die im wesentlichen an unseren traditionellen Regeln orientiert ist, vertritt P. K A H L E auch noch 193012, und sie beherrscht bis heute das Feld, da sie auf den ersten Blick als durchaus einleuchtend erscheint. Hier führt nun meines Erachtens S P E R B E R S Analyse der Punktation des Reuchlinianus weiter. Er geht zunächst von der naheliegenden Annahme aus, daß unser heutiges Dages mit seinen unterschiedlichen Funktionen als Dages lene und Dages forte eine ziemlich verwickelte Vorgeschichte hat 13 . Eine der Wurzeln des Dages dürfte im diakritischen Punkte liegen. Dieser wurde — und zwar als Punkt innen — überall dort gesetzt, wo ein Buchstabe unterschiedlichen Lautwert besitzt. Nach S P E R B E R handelt es sich hierbei ursprünglich um Bet, Kaf, Pe, Taw sowie Sin und Sin; im ersten Falle setzt man den Punkt in Buchstabenmitte: 3, 3, Β, Π, im letzteren innen links für s: S> und innen rechts für s: Wo dagegen Sin und Sin Dages oder Rafe tragen, setzt man sie links oder rechts über den Buchstaben: & beziehungsweise ®. In der Stellung des Dages über dem Buchstaben sieht S P E R B E R ein Zeichen dafür, daß das Dages relativ jünger sein müsse als der diakritische Punkt, doch wage ich zu bezweifeln, ob die Stellung des Dages über Sin und Sin allein ausreicht, um eine solche zeitliche Verhältnisbestimmimg durchzuführen 14 . 11

BAUER-LEANDER,

Historische Grammatik

der Hebräischen Sprache I,

§8b'. 12

Masoreten des Westens II, S. 57. Vgl. A Grammar of Masoretic Hebrew, S. 52f. 66. A.a.O., S. 75: „The very position of the Differentiating Dot within the . . . , proves that it antedates the innovation of dagesh". 13

14

a

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Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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Ausgehend vom späteren Sprachgebrauch, meint S P E R B E R , daß von BGDKPT ursprünglich nur BKPT einen diakritischen Punkt erhalten hätten, um ihre doppelte Aussprache anzudeuten, während die Zuordnung von Gimel und Dalet zur bekannten Gruppe BGDKPT nur das Ergebnis scholastischer Spekulation darstelle 15 . Da jedoch Sa'adya die doppelte Aussprache auch für diese beiden Buchstaben — ebenso wie für Res in Babylonien — voraussetzt 16 , zudem aber die Feststellung der doppelten Aussprache dieser sechs Schriftzeichen zuerst von den Syrern getroffen wurde 17 , scheint es mir doch das Gegebene zu sein, die Gruppe BGDKPT chronologisch nicht nochmals zu differenzieren, unbeschadet dessen, daß, wie auch S P E R B E R mit Recht feststellt 18 , ihre Aussprache regional schwankte. Wird durch den diakritischen Punkt die Qualität eines Konsonanten bei einem an sich doppeldeutigen Schriftzeichen festgelegt, so ist nach S P E R B E R die ursprüngliche Funktion des Dages wesentlich anderer Art. Nach der oben zitierten Regel wird — grob gesagt — Dagei, beziehungsweise Dages lene in unserem traditionellen Begriffssystem, dort gesetzt, wo bei BGDKPT eine geschlossene Silbe oder ein trennender Akzent voraufgehen. S P E R B E R dagegen faßt seine Beobachtungen am Reuchlinianus dahingehend zusammen, daß in dem durch diesen Kodex vertretenen Punktationssystem, das P. K A H L E Ben Naftali zuweist, Dages dazu dient, die Kürze des Vokals in der vorangehenden Silbe anzuzeigen, un beschadet dessen, ob diese Silbe offen oder geschlossen ist 19 . Hierfür spricht in der Tat, daß der Reuchlinianus noch keinerlei graphischen Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen kennt; hierin unterscheidet er sich sowohl von Mss. Parma 1849; 2808 und Add. 21161 des Britischen Museums als auch von der Kairiner Fragmentengruppe in der Bodleian Library, die P. K A H L E unter dem Text ,,B" der Ben-Naftali-Überlieferung zusammenfaßt 20 . So stehen in diesem Kodex, ähnlich wie in der sogenannten palästinischen Punktation, Qames und Patah, Sere und Segol promiscue nebeneinander 21 ; desgleichen können Sureq, Holem und Qibbus lange und kurze Vokale symbolisieren 22 . 15

le A.a.O., S. 83f. P. K A H L E , The Cairo Geniza2, S. 182ff. Hebräische Grammatik I 2 , § 13, 2 ; P . K A H L E , a.a.O., S . 183f. 18 19 A.a.O., S. 65f. A.a.O., S. 67. 20 Masoreten des Westens II, S.5 2*. 85*. 21 Das Gleiche gilt von den Texten A, C—L, Ν bei K A H L E , a.a.O., S. 52ff., 58. Eine Probe der palästinischen Vokalisation findet man in: R . M E Y E R , Hebräisches Textbuch, Berlin 1960, S. 72 f. 22 So können auch Holem und Qames hatuf unterschiedslos gebraucht werden, ohne daß man mit S P E R B E B hier von vornherein Fehler des Punktators anzunehmen braucht; vgl. S P E R B E R , a.a.O., S . 65. 17

BBER-MEYEB,

154

Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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Andererseits aber ist die Setzung von Dages insofern uneinheitlich und problematisch, als innerhalb der Zeichen für starke Konsonanten die Gruppe BGDKPT vielfach anders behandelt wird als die Buchstaben mit nur einem Lautwert. Ich führe im folgenden einige Beispiele an, die 23 S P E E B E B S Aufstellungen entnommen sind . In Jeremia 6,4 begegnet die Form Wlj? „heiligt!"; sie gleicht, abgesehen von Sin, der Ben-Aser-Form und ordnet sich scheinbar durchaus in unser traditionelles Schema ein: Das Dageä wäre demnach ein Dageä forte zur Kennzeichnung einer Pi'elbildung. Das Bild ändert sich jedoch sofort, wenn man gleichartige Formen mit einwertigem Buchstaben, z.B. ψ|Π (2. Könige 12,7) danebenstellt. Bei dieser Form, in der der mittlere Radikal Rafe und Swa trägt, damit aber eindeutig als vokallos ausgewiesen ist, handelt es sich nicht etwa um einen Imperativ des Grundstammes, sondern um ein Perfektum Pi'el, das traditionell ψ'Π „sie verstärkten" lautet. Würde man nun die Formen des Reuchlinianus und der Ben Aser nebeneinander transkribieren, so ergäbe sich folgendes Büd: WHj? qadsü

— W^j?

ψΤΠ hizqü —

qaddesü Mzzeqü.

Das zweite Beispiel zeigt deutlich, daß dem Punktator nichts daran liegt, den Konsonantenwert des mittleren Radikals festzulegen, sondern einzig und allein die Kürze des vorhergehenden Vokals anzudeuten. Ein weiteres instruktives Beispiel findet sich in 2. Könige 12, 4, wo die gleichen Bildungen unmittelbar nebeneinander stehen: „Opfernde und Räuchernde". In der Transliteration ergibt sich für den Reuchlinianus mezabhim umqatrim,

während die traditionelle Aussprache mezabbehim

ümeqatterirn

24

lautet . Die Frage nach der unterschiedlichen Behandlung von BGDKPT einerseits und der einwertigen Zeichen für starke Konsonanten andererseits ist schwer zu beantworten, da wir nur den Tatbestand als solchen, nicht aber die dahinter stehende Theorie kennen. Immerhin wird man mit allem Vorbehalt eine Antwort in folgender Richtung suchen dürfen: Auf der Entwicklungsstufe des Reuchlinianus stellt der Punkt in BGDKPT nicht nur Dages dar, sondern er deutet gleichzeitig auch — wie in 23

D i e angeführten F o r m e n sind a m Original nachgeprüft u n d teilweise hiernach in der P u n k t a t i o n ergänzt. 24 E s ist zu beachten, daß a u c h die Ben-Aser-Tradition zuweilen F o r m e n k e n n t , in denen das zu erwartende D a g e s forte f e h l t ; vgl. B E E R - M E Y E R > Hebräische Grammatik I 2 , § 14, 2 c . W a s jedoch dort angeblich „ A u s n a h m e " ist, ist hier die Regel.

[57]

Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

155

Sin und Sin — als diakritisches Zeichen eine unterschiedliche Aussprache an; andererseits verwendet man Rafe nicht nur zur Andeutung der Vokallosigkeit eines Konsonanten, sondern auch zur Schwachartikulation des betreffenden Mitlautes sowie zum Zeichen dafür, daß ein Buchstabe überhaupt nicht zu sprechen ist; letzteres ist — wie übrigens auch in der originalen Ben-Aser-Tradition — bei Alef und He als Vokalbuchstaben der Fall. Würde man nun bei den angeführten Pi'elformen B G D K P T etwa ebenso behandeln wie die einwertigen Buchstaben und analog zu Iptn auch W"Tj? punktieren, so ergäbe sich nicht qadäü, sondern qadSü, damit aber eine Form, die das Pi'el nicht mehr erkennen ließe. So legt also der Punkt in W'lj? gleichzeitig die Kürze des vorangehenden Vokals u n d die Aussprache des Dalet als Explosiva fest. Nach den traditionellen Regeln haben wir somit ein Dages forte vor uns, nur mit dem Unterschied, daß von einer Verdoppelung des Konsonanten nichts zu erkennen ist und zugleich die Setzung des Punktes auf B G D K P T beschränkt bleibt. Dieselbe Erscheinung findet sich im Syrischen, wo in gleichgelagerten Fällen B G D K P T in der Regel einen Punkt oben als qussäyä erhalten, während die einwertigen Buchstaben unbezeichnet bleiben, da das Syrische kein Swa kennt und das dem Rafe entsprechende marhHänä nur selten zur Bezeichnung der Vokallosigkeit gebraucht wird25. Damit aber steht, soweit ich sehe, in dieser Hinsicht der Reuchlinianus der syrischen Punktationsmethode näher als derjenigen der Ben Aser. Die gleiche Punktationsweise findet sich im Reuchlinianus auch beim Artikel, beim Waw consecutivum und bei der Präposition JO in fester Verbindung mit seinem Beziehungswort. Als Beispiel sei 2. Samuelis 17, 9 angeführt: napän εργϊπβπ „die Schluchten die Plätze". Die Transliteration ergibt haphatim hamqömöt, während die traditionelle Aussprachebezeichnung happehdtim hamm'qömöt lautet 26 . Haben wir uns bisher mit dem Dages beschäftigt, das, in B G D K P T gesetzt, den vorhergehenden kurzen Vokal in anderweit offener Silbe festlegt und somit diese Silbe ebenso schließt wie bei einwertigen starken Konsonanten Swa mit Rafe, so fragt sich nunmehr, wie der Dages-Gebrauch n a c h einer geschlossenen Silbe ist. Hier gilt nun im TH. NÖLDEKE, Kurzgefaßte syrische Grammatik, Leipzig 1880, § 23. Auch hier gibt es mitunter Entsprechungen im Ben-Aser-System; vgl. etwa trtfpaan hambaqsim, „die Suchenden" (Ex. 4, 19), wo sowohl das DageS forte im Mem als auch im Qof (vgl. Anm. 14) fehlt; vgl. BEER-MEYER, Hebräische Grammatik I 2 , § 28, 3b. 25 28

156

Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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allgemeinen die von P. KAHLE fixierte Grundregel, wenn auch nicht verkannt werden darf, daß sowohl hinsichtlich der B G D K P T als auch in bezug auf die Setzung des Dages nach trennendem Akzent, der ja die gleiche Wirkung hat wie ein fester Silbenschluß, ein einheitliches Bild nicht zu gewinnen ist. Einige Beispiele mögen den Sachverhalt verdeutlichen : 2. Könige 22, 12: „und er befahl". Bei dieser Form, die nach Ben Aser zu schreiben und in beiden Fällen way saw zu transkribieren ist, trägt Sade ein Dages, das traditionell dem Dages lene entspricht 28 . Ein gleiches Dageä findet sich 2. Samuelis 19, 10: ÜB1?» „er hat uns gerettet". Eine solche Bildung muß f ü r jeden, der von Ben Aser herkommt, besonders fremdartig wirken; denn dort lautet die gleiche Form ^DVO millHdnü, während man nach dem Reuchlinianus nur miltänü transkribieren kann, was genau dem Schriftbild des syrischen Pa'el qatlan entspricht. Umgekehrt entfällt das Dages bei B G D K P T , wo seine Setzung den Lautwert eines Buchstabens verändern könnte: 1. Samuelis 10, 21: Wtfpjäj] „und sie suchten ihn", und besonders anschaulich t r i t t dieser Sachverhalt dort hervor, wo B G D K P T immittelbar neben einwertigen Zeichen f ü r starke Konsonanten stehen. Hierfür sei Jeremia 1, 10 in der Form des Beuchlinianus und der traditionellen Gestalt der Biblia Hebraica angeführt: yit9??i iiiaä 1 ? äiDaVi r m n V

f ^ ϊ

1

? 1

f i n i V n afin? ?

„auszurotten und zu zerstören; zu bauen und zu pflanzen". Wenn auch volle Konsequenz in der Behandlung der B G D K P T nicht erreicht ist, wie etwa die Form Säö1? „niederzustoßen" (2. Samuelis 22, 17) f ü r traditionelles SiD1? zeigt, so läßt sich doch als vorherrschende Tendenz feststellen, daß man den P u n k t in B G D K P T nach geschlossener Silbe meidet, wenn der betreffende Lautwert nicht verändert werden soll. Dies gilt auch teilweise bei den trennenden Akzenten, wie etwa bei T i f h a in 1. Samuelis 7, 13 *?lä53 813"? „in das Gebiet einzudringen", wofür der Ben-Aser-Text K131? bietet. Andererseits wird dort 27 Swa fungiert im Reuchlinianus nicht nur zur Andeutung eines flüchtigen Vokals oder der Vokallosigkeit, sondern gibt zugleich den konsonantischen Wert vom Waw finale sowie von vokallosem Het und c Ayin in allen Positionen an. 28 Insofern als dieses Dages — wenn auch nur in BGDKPT — nach geschlossener Silbe und trennendem Akzent steht; vgl. BEER-MEYER a.a.O.,

§ 14, 4.

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D i e Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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Dages gesetzt, wo anscheinend die explosive Aussprache der BGDKPT beabsichtigt ist. So begegnet Dages etwa bei Großzaqef in V^®? ,iT?1 „und als er hörte" (Josua 11, 1) ebenso wie bei Geres in 01*3 rnisV?] (ebd. 10, 35), ohne daß sich hier ein Unterschied zu Ben AJer feststellen läßt. Der gleiche Dages-Gebrauch läßt sich auch dort beobachten, wo Sureq am Wortanfang in Gestalt der Kopula w- „und" vokalisch fungiert. Hier wird, wie S P E R B E R wohl mit Recht vermutet, der lange Vokal in geschlossener Silbe gekürzt, und es ergeben sich in der Anwendung des Dages erwartungsgemäß folgende Formen: 1. Samuelis 2, 3 5 : T ? ! ? 1 ubnafäi „nach meinem Willen", Jeremia 9, 23: ^ζΤ^Ί usdöqä „und Gerechtigkeit", wofür die traditionellen Bildungen übenafSi und üs'ddqd lauten. Einheitlich dagegen ist die Dages-Setzung, wo Sureq im Wortinneren kurzen Vokal andeutet: Joel 1, 12: n^VölN »umlälä „sie ist welk", 2. Könige 22, 11: ΓΠ^Π huldä „Hulda". Die entsprechenden Formen nach Ben Aser sind riVVöit und «"Π^Π; soweit hier BGDKPT Dages tragen, handelt es sich offensichtlich um Bildungen, in denen der Dages-Punkt zugleich die explosive Aussprache anzeigt, damit aber gleichzeitig als diakritischer Punkt fungiert, der eine stärkere Artikulation des betreffenden Konsonanten fordert. Wie nun das Rafe nicht nur die Vokallosigkeit eines Konsonanten und das Fehlen des konsonantischen Lautwertes bei Vokalbuchstaben, sondern auch die schwächere Aussprache eines Konsonanten andeuten kann, so fungiert das Dages über das Gesagte hinaus ebenfalls zur Andeutung der stärkeren Aussprache bei einigen schwachen Konsonanten 2 ·; das heißt, wenn das Dages im eigentlichen Sinne des Wortes die Kürze des vorhergehenden Vokals andeutet, dann wird man hier wiederum von einem diakritischen Punkt sprechen. Dieser begegnet als Punkt innen, um konsonantisches Alef anzuzeigen: S; als Punkt unten deutet er den Konsonantenwert von He im Auslaut an: Π (nach Ben Aäer a), desgleichen symbolisiert er den konsonantischen Charakter von Yod in den Fällen, wo sein Lautwert sichergestellt werden muß: ?. E s liegt auf der Hand, daß der imR euchlinianus vorliegende DageSGebrauch sich nicht durch die herkömmlichen Begriffe „Dages forte" und „Dages lene" erfassen läßt. S P E R B E R versucht, dem Sachverhalt 29 Vgl. P . K A H L E , in: B A U E R - L E A N D E R , Historische Grammatik der hebräischen Sprache I, § 8b', im Anschluß an H . G R I M M E , Die jemenische Aussprache des Hebräischen und die Folgerungen daraus für die ältere Sprache. Festschrift für E. Sachau, Berlin 1915, S. 135ff.

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Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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gerecht zu werden, indem er folgende Termini einführt 3 0 :1. Differentiating dagesh für den diakritischen Punkt in B[GD]KPT sowie Sin und Sin ; 2. consonental dagesh bei 8 und Π; 3. vocalization dagesh zur Kennzeichnung der Kürze des dem betreffenden Konsonanten vorhergehenden Vokals und schließlich 4. consonantal hirek zur Festlegung des konsonantischen Wertes von Yod in Formen wie ΓΓ3 bayt „Haus" (1. Samuelis 25, 28). Klammert man aus praktischen Gründen Sin und Sin aus und spricht hier weiterhin vom diakritischen Punkt, so genügt es meines Erachtens, wenn man einerseits vom VolcaldageS redet, das sich mit dem vocalization dagesh deckt, und andererseits den Begriff diakritisches DageS prägt, der auf alle übrigen Fälle zielt, in denen bei Buchstaben mit unterschiedlichem Lautwerte eine stärkere Akzentuierung angedeutet werden soll. Dies gilt dann nicht nur für BGDKPT, Alef, He und Yod, sondern auch für die starken Konsonanten nach geschlossener Silbe, die in dieser Position auf der Aussprachestufe des Reuchlinianus in der Regel offenbar voller artikuliert werden als nach Vokalen 31 . Der Dageä-Gebrauch im Codex Reuchlinianus stellt freilich nur einen kleinen Ausschnitt aus der Punktation dieser hochinteressanten Handschrift dar; aber schon dieses eine Beispiel dürfte genügen, um die sprachgeschichtliche Bedeutung einer Ausspracheform des Hebräischen zu würdigen, die nach Ausweis des Menahem ben Saruq um 960 weit verbreitet war und die, dank der Autorität des Maimonides, der Ben-AserTradition hat weichen müssen. Eingehendes Studium der Bücher Josua und Judicum hat mir gezeigt, daß die reuchlinianische Punktation in vieler Hinsicht besser und sorgfältiger, zuweilen auch urtümlicher ist als alles, was wir bisher selbst aus den besten Ben-Aser-Handschriften kennen. Jedoch kann man mit Hilfe dieser Punktation ebenso wenig eine Geschichte des Hebräischen schreiben wie mit der Ben Aser-Überlieferung. Beide Punktationsmethoden gehen, wenn die Zuweisimg des Reuchlinianus an Ben Naftali zu Recht besteht, auf Gelehrte in Tiberias zurück. Dabei gilt, daß die reuchlinianische Punktation auf anderen Voraussetzungen beruht und daß sie bei der Spracherfassung andere Wege beschreitet als Ben Aser. Aber Andersartigkeit bedeutet nicht auch Vorstufe im Rahmen einer geschichtlichen Wertung beider Systeme: das reuchlinianische System ist genauso wenig „vormasoretisch" wie das der Ben Aser. Damit ist es, sprach30

A.a.O., S. 87. Vgl. hierzu die Beobachtungen H . G R I M M E S in bezug auf die jemenitische Aussprache des Hebräischen; a.a.O., S. 135: „Im Jemenischen glaube ich eine wechselnde Aussprache der Konsonanten festgestellt zu haben, eine stärkere bei solchen, die im absoluten Anlaut oder im Inlaut hinter Konsonanten stehen, eine schwächere aber hinter Vokalen". 31

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Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus

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geschichtlich gesehen, lediglich von relativem Wert, indem es einen, freilich sehr genialen Versuch neben Ben Aser darstellt, das Hebräische aussprachemäßig zu fixieren. Mit anderen Worten, wer die Geschichte der hebräischen Sprache erschließen will, wird in der Ausspracheform des Reuchlinianus einen weiteren Beweis dafür sehen, daß die verschiedenen tiberischen Versuche der Sprachfixierung zeitlich und örtlich bedingt sind. Weder die Ben-Aser-Tradition noch die des Reuchlinianus können für sich allein als Ausgangspunkt für eine Grammatik genommen werden, die bis in das hohe Altertum zurückführt; sie teilen dieses Schicksal sowohl mit der samaritanischen Aussprachetradition als auch mit den übrigen Systemen. Aber der Wert der verschiedenen Ausspracheformen besteht gerade darin, daß sie dem Historiker die Vielfalt der Traditionen im frühen Mittelalter vor Augen führen und ihn zwingen, von Fall zu Fall zu entscheiden, was vermutlich in eine frühere Periode der Sprache zurückführt und was zeit- und umgebungsbedingt ist. In diesem Rahmen aber kommt — vielleicht zum Leidwesen unserer Lektoren — dem im Reuchlinianus und den ihm verwandten Handschriften vertretenen Punktationssystem eine hervorragende Bedeutung zu.

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Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

Im Jahre 1958 erschien in der Biblioteca Apostolica Vaticana ein Werk, auf das die Gelehrtenwelt lange Jahrzehnte vergeblich gewartet hat und das für die Kirchengeschichte und für die Wissenschaft vom Alten Testament in gleicher Weise bedeutsam ist, nämlich die abschließende und vollständige Ausgabe des Codex rescriptus Ο 39 sup. der Biblioteca Ambrosiana zu Mailand, der die berühmten „Mailänder Hexaplafragmente" in Gestalt von etwa 145 Psalmenversen enthält. 1 Als junger Bibliothekar entdeckte der nachmalige Kardinal Giovanni Mercati in der Unterschicht des Palimpsests Ο 39 sup. hexaplarische Bruchstücke,2 aber nicht weniger als sechs Jahrzehnte sollten vergehen, bis er schließlich dazu kam, die schwer lesbaren Texte in einer endgültigen Ausgabe der Öffentlichkeit vorzulegen. Doch den Abschluß der Drucklegung sollte er nicht mehr erleben; denn nicht allzulange vor dem Erscheinen des Standardwerkes - am 22. August 1957 - wurde er hochbetagt aus diesem Leben abberufen. D a er aber in D. G. Castellino einen treuen und kundigen Sachwalter für seinen wissenschaftlichen Nachlaß hat, ist nach menschlichem Ermessen gewährleistet, daß das wissenschaftliche Gesamtwerk in absehbarer Zeit in ähnlich mustergültiger Weise veröffentlicht wird, wie dies bei der Edition der „Mailänder Hexaplafragmente" der Fall ist. Denn nach dem Plane, den G. Mercati entworfen hat und den die Biblioteca Apostolica Vaticana in vollem Umfange zu verwirklichen gedenkt, stellt die Ausgabe der „Mailänder Hexaplafragmente" nur den ersten Band des ersten Teiles der „Psalterii Hexapli Reliquiae" dar; ihm soll ein zweiter Band folgen, der die „Anmerkungen" zu den Hexapla-

1

Psalterii Hexapli Reliquiae, cura et studio Johannis Card. Mercati editae. P. 1: Codex rescriptus Bybliothecae Ambrosianae Ο 59 sup. phototypice expressus et transcriptus. Bybliotheca Vaticana 1958. Vgl. hierzu meine Anzeige in: D L Z 32, 1961, Sp. 505-509. 2 G . Mercati, D'un palimpsesto Ambrosiano contenente i salmi esapli. Atti Acad. Scienze Torino 31, 1895, S. 655-676.

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Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

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fragmenten in Gestalt eines kritischen Kommentars bringt. In Ergänzung zu dieser „direkten Überlieferung", wie sie das Mailänder Palimpsest bietet, soll ein zweiter Teil das hexaplarische Material aus „indirekter Überlieferung" bieten, wie es im Codex Ottobonianus graecus 398 (Holmes 264) zu den Psalmen 24-μ3 und im Codex Vaticanus graecus zu den Psalmen 77-824 griechischer Zählung vorliegt. In Anbetracht dieses Sachverhaltes mag man auf den ersten Blick es als verfrüht ansehen, wenn wir uns im Folgenden lediglich mit den Texten, die G. Mercati als Faksimiles in natürlicher Größe und in Umschrift herausgegeben hat, befassen, ohne die weiteren Veröffentlichungen abzuwarten. Doch glauben wir, aus folgenden Gründen hierzu berechtigt zu sein: Einerseits ist die Diskussion über die „Mailänder Fragmente" seit ihrem Bekanntwerden niemals abgerissen,5 da ihr Entdecker, abgesehen von seinen ersten Veröffentlichungen, sich im Laufe der Zeit wiederholt maßgeblich zu diesen Texten geäußert und darüber hinaus das Material großzügig und uneigennützig anderen Forschern zur Verfügung gestellt hat, die es unter verschiedenen Gesichtspunkten ganz oder teilweise auswerten konnten; zum anderen ist die Ausgabe selbst mit einem umfangreichen Begleittext versehen, der nicht nur in die Materie als solche einführt, sondern zugleich die Probleme erkennen läßt, die mit den „Mailänder Fragmenten" verbunden sind. Auf einige dieser Fragen sei hier kurz eingegangen. Zunächst sei im Anschluß an G. Mercati mit wenigen Worten das Palimpsest Ο 59 sup. in seiner jetzigen Gestalt beschrieben.6 Es handelt sich hierbei um einen bescheidenen Pergamentkodex - 18,5 cm X 14 cm - aus dem 14./15. Jahrhundert in Form eines Oktolchos mit dem Titel: ,Joannis Damasceni versus in Ecclesiis Graecorum pro temporum varietate cantari soliti." Dieser Oktolchos wurde im Jahre 160} durch die Biblioteca Ambrosiana erworben. Über seine Vorgeschichte ist nichts bekannt; auch der erste Präfekt der Ambrosiana, Antonius Olgiatus, unter dem der Kodex nach Mailand kam, scheint keinerlei Informationen über ihn gehabt zu haben. G . Mercati vermutet, daß er eher aus Norditalien als Rom oder Süditalien stammt. Der Oktolchos als Literaturwerk ist kaum von wissenschaftlichem Interesse; dies mag auch der Grund dafür sein, daß er jahrhundertelang unbeachtet blieb. Dasjenige, was den Kodex so ausgesprochen wertvoll macht, ist der Tatbestand, daß der Oktolchos aus einem älteren abradierten Kodex hergestellt ist, der - wenngleich nicht ausschließlich - hexaplarische Psalmentexte enthielt. Diese ältere Pergamenthandschrift war in sauberer Minuskel abgefaßt, die G. Mercati dem 9./10. Jahrhundert zuweist, während sie nach P. Kahle, der sich auf P. Maas beruft, frühestens aus dem Ii. Jahrhundert stammt.7 Wie dem auch sei, jedenfalls kam der Kodex zu Beginn des 14. Jahrhunderts außer Gebrauch, und das Pergament wurde durch Abkratzen aufbereitet, um dann neuen Zwecken zu dienen. Mit etwa 39 « η X 28 cm war der ursprüngliche Kodex etwa viermal so groß wie der Oktolchos. Da man für letzteren nur 27V2 Blätter von ursprünglich 120 benötigte, enthält der Codex Ambrosianus Ο 39 sup. nur ein knappes Viertel der alten Hand3

V g l . A . R a h l f s , Verzeichnis der griechischen Handschriften des A l t e n Testaments, Berlin 1915, S. 241; N r . 264 ( = N G G 1914, Beiheft). 4 E b d . , S. 255; N r . 1173. 5 Z u r Literatur v g l . O . E i ß f e l d t , Einleitung in das A l t e Testament, Tübingen 1956 2 , S. 864 f. 6 A . a. O . , S. X I I I - X V I I I . 7 P. K a h l e , G r e e k Bible Manuscripts U s e d by Origenes. J B L 74, i960, S. 1 6 6 ; ders., D e r hebräische Bibcltext seit F r a n z Delitzsch, Stuttgart 1961, S. 44.

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Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

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schrift; der weitaus größere Teil ist bislang für uns verschollen, da das Pergament anderweit verarbeitet worden ist. Die erhaltenen Fragmente genügen jedoch, um den literarischen Charakter des älteren Kodex festzulegen; und zwar handelt es sich nicht um ein Originalwerk, sondern um die Abschrift einer exegetischen Kompilation, die nach folgendem Schema aufgebaut ist: Jeweils einem Psalm.in der Kolumnenform der Hexapla folgt der gleiche Text in der gewöhnlichen Septuagintafassung, indessen nach der üblichen Schreibweise normal auf die Zeile gesetzt. Hieran schließt sich dann eine mehr oder weniger ausführliche Katene zu dem betreffenden Psalm. Zuweilen kann man feststellen, daß nicht der gesamte Psalm unter den Hexapla-Kolumnen wiederholt ist, sondern die Katene bereits mitten im Text einsetzt; jedoch wird durch diese Inkonsequenz der Charakter des Werkes als solcher nicht in Frage gestellt. Erhalten geblieben sind in der Grundschrift des Oktoichos folgende Bruchstücke des ursprünglichen Werkes: Fragment ι

Ps. 17 [18], 26-48: Hexapla Fragment 2

a) Ps. 27 [28], 6-9: Hexapla b) Ps. 27 [28], 1-9: Septuaginta c) Katene zu Ps. 27 [28], 1-5. d) Ps. 28 [29], 1-3: Hexapla Fragment)

a) Katene zu Ps. 28 [29], 5 (Ende) -10 b) Ps. 29 [30], i—13: Hexapla c) Ps. 29 [30], 1-4: Septuaginta Fragment 4

a) Katene zu Ps. 29 [30], 8-13 b) Ps. 30 [31], 1-10: Hexapla Fragment;

a) Ps. 30 [31], 20-25: Hexapla b) Ps. 30 [31], 1-25: Septuaginta c) Katene zu Ps. 30 [31], 1-20 Fragment 6

a) Ps. 31 [32], 6aß-n: Hexapla b) Ps. 31 [32], i—Ii: Septuaginta c) Katene zu Ps. 31 [32], 1-8 Fragment 7

a) Katene zu Ps. 33 [34], ib-22 b) Ps. 34 [35], 1-2: Hexapla

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Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

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Fragment S

a) Ps. 34 [35], 13-28: Hexapla b) Ps. 34 [35], 1-28: Septuaginta c) Argumentum Fragment 9

a) Katene zu Ps. 34 [35], 11-28 b) Ps. 35 [36], 1-6: Hexapla Fragment 10

Katene zu Ps. 35 [36], 1-10 (Anfang) Fragment 11

a) Katene zu Ps. 44 [45], 14-17 b) Ps. 45 [46], i—12: Hexapla c) Ps. 45 [46], 1-12: Septuaginta d) Katene zu Ps. 45 [46], 1-6 Fragment 12

a) Katene zu Ps. 47 [48], 4-15 b) Ps. 48 [49], 1-15: Hexapla Fragment 1}

a) Ps. 88 [89], 26-53: Hexapla b) Ps. 88 [89], 2-53: Septuaginta c) Katene zu Ps. 88 [89], 1-39 (Anfang) D a in den erhaltenen Bruchstücken der Kompilation so weit auseinanderliegende Fragmente wie Ps. 17 [18], 26-48 und 88 [89], 26-53 begegnen, vermutet der Herausgeber, daß das ursprüngliche Werk zumindest den gesamten Psalter, darüber hinau« möglicherweise auch die sogenannten biblischen Oden der Septuaginta enthalten habe. Gleichzeitig aber ergibt sich aus dem Charakter des exegetischen Werkes, daß hier das hexaplarische Material zu den Psalmen nur in Auswahl und damit in sekundärer Verarbeitung erhalten ist; denn wir haben keine vollständige Hexapla zu den Psalmen vor uns, sondern der Verfasser der exegetischen Kompilation muß sich, wie G . Mercati wohl mit Recht vermutet, einer Hexapla-Ausgabe bedient haben, die nur über fünf Kolumnen verfügte und wahrscheinlich noch einen vulgären Septuagintatext enthielt, der nach Ausweis der erhaltenen Bruchstücke jeweils unter dem Kolumnentext der Psalmen stand.8 Die sekundäre Gestalt, in der die 145 hexaplarischen Psalmenverse vorliegen, mindert jedoch keineswegs die Bedeutung der „Mailänder Fragmente" für die Forschung; denn unbeschadet der hier vorliegenden jungen Traditionsstufe vermittelt der hexaplarische Text einerseits neue Einblicke in die Arbeitsweise des Origenes, andererseits aber läßt der hebräische Umschriftentext des gelehrten Kirchenvaters 8

A. a. O., S. XXXIII.

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Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

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eine Stufe in der Ausspracheentwicklung des Hebräischen erkennen, die im Rahmen der neueren, insbesondere von P. Kahle angeregten Forschung zur vormasoretischen Grammatik von hervorragender Bedeutung ist.9 Was zunächst die Form der „Mailänder Fragmente" betrifft, so beginnt der Hexaplatext heute, da die Kolumne mit dem hebräischen Konsonantentext wahrscheinlich infolge mangelnden Interesses an der jüdischen Überlieferung schon in der Vorlage weggefallen war, mit der sogenannten „Sekunda", das heißt mit dem hebräischen Text in griechischer Umschrift, vom Herausgeber als Kolumne b bezeichnet. Hierauf folgt in Kolumne c Aquila, in Kolumne d Symmachus und in Kolumne e die hexaplarische Septuaginta. Soweit decken sich die „Mailänder Fragmente" mit den herkömmlichen Anschauungen über den Aufbau der Hexapla. Modifiziert werden muß jedoch unsere Vorstellung von der fünften Kolumne / der „Mailänder Fragmente". Kurz nach der Veröffentlichung einer ersten Textprobe durch A . M. Ceriani, die lange Zeit die einzige authentische Unterlage für die Forschung blieb, besprach E . Klostermann den neuen Fund, 10 und im Anschluß hieran gab E . Preuschen in: R E 3 14, Leipzig 1904, S. 476 f., drei Verse der Hexapla, Ps. 45 [46], 1-3, in Form einer übersichtlichen Tabelle wieder, wobei er gleichzeitig die ehemalige erste Kolumne in Form des tiberisch punktierten Textes nach dem textus receptus der Zweiten Rabbinerbibel vom Jahre 1524/25, wie er in den damals üblichen Ausgaben umlief, ergänzte. Gleichzeitig fügte er entsprechend der um 1900 beliebten, etwas naiven philologischen Methode hinzu, daß er „emendiere, wo es nötig" sei. Außerdem aber sah er in der fünften Kolumne / Theodotion; dementsprechend enthielt die von ihm gebotene Tabelle folgende Kolumnen: α den masoretischen Text, b die Sekunda, c Aquila, d Symmachus, e die hexaplarische Kolumne der Septuaginta und / Theodotion. 11 Damit war das traditionelle Bild vom Charakter der „Mailänder Fragmente" für die folgenden Jahrzehnte bestimmt, und unser normales Lehrbuchwissen ist - zumindest überwiegend noch heute durch diese Vorstellung beeinflußt. Gleichwohl erscheint es an der Zeit, sie nunmehr grundlegend zu korrigieren. G . Mercati hat schon vor Jahren gezeigt, daß die letzte Kolumne der „Mailänder Fragmente" nicht Theodotion, sondern die „Quinta" enthält. 111 Diesem Sachverhalt ist bereits P. Kahle in seinen Schweich Lectures der Britischen Akademie vom Jahre 1941 gerecht geworden; so schreibt er in: The Cairo Geniza, London 1947, S. 165: "Mercati has pointed out that the Milan palimpsest contains in the last column - that following the column wih the Septuagint - the text of the Quinta, not the text of Theodotion."Ihm folgt Ε . Würthwein, Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 1952, S. 46, mit der kurzen Feststellung: „Die letzte Kolumne bietet nicht den Text des Theodotion, sondern der Quinta." Gleichwohl erscheint es zweckdienlich, an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, daß die „Mailänder Fragmente" nicht

9

Vgl. P. Kahle, The Cairo Geniza, Oxford 19592, S. 157-164; ders., Die Kairoer Genisa, Berlin 1962, S. 167-174. 10 Α . M . Ceriani, Frammenti esaplari palinsesti dei salmi nel testo originale scoperti dal dott. ab. G . Mercati. R. Istituto Lombardo d. Scienze e Lettere, Rendiconti II, 29,1896, S. 406-408; E . Klostennann, Die Mailänder Fragmente der Hexapla. Z A W 16, 1896, S. 534-337. 11 Außerdem fügte er in einer letzten Rubrik noch die in Kolumne / begegnenden Randlesarten, die sofort zu besprechen sind, als „Varianten" ohne näheren Kommentar an. Ha Vgl. jetzt G . Mercatis Zusammenfassung: La versione dell' ultima colonna del palinsesto e di Teodozione ο della Quinta? Ε di chi le lezioni adiacenti? A . a. O., S. X I X - X X X V .

[127]

165

Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

die Kolumnen 2-6 der Hexapla enthalten, sondern die Kolumnen 2-5 und 7, so daß sich folgendes Bild ergibt: Sekunda (b), Aquila (c), Symmachus (d), hexaplarische Septuaginta (e) und Quinta (f). Die beiden letzten Kolumnen enthalten nun allerlei Marginalvarianten; um dies zu verdeutlichen, sei der seinerzeit von E . Preuschen im Anschluß an E . Klostermann veröffentlichte Text - Ps, 45 [46], 1-3 - nach der nunmehr vorliegenden offiziellen Veröffentlichung wiedergegeben: Quinta

Septuaginta

τ[ο]

εις

45 (46), 1 : εις το τελο[ς] υπέρ

των

υιών τοις

νπέρ

τώι νιχοποιώι

των

χορε

χορέ

χρνφίων

υπέρ

τών

χρνφί[ων]

ωδή

2: ό χαταφνγτ

[χαϊ]

ψαλμό[ς

ό

ημών όνναμις,

ημών

[χαϊ] &ή>αμ[B1H binab -neon r o o n •'pa nnnD

i3:

ε&ανναν

μεββεσέ βόαμι

: "b 1 W ΓΡΠ

12:

εχρα

»an rro : "jnrN Τ3'Π

11:

169

Bemerkungen zu den Mailänder Hexaplafragmenten

'b

βρεόε&ι

αϊωόέχχα άφαρ εμεΰΰαχ

ΰμα ΠΙΠΙ

ουαννψί

αφαχΰ

λμαωλ

λι

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: nna® T i t s m

ουε&αζερψ>ι αεμα

-naa - p a r -pab

λαμαν ιζαμμερεχ

inbs rrrr

n*r tibn

: χ η κ Dbwb

ΠΙΠΙ

αϊη ωζηρ λι

οΰλω ιαόομ

χαβωό

ΠΙΠΙ

ελωαϊ

λωλαμ ώδεχ

ι. Ein Psalm. Lied zur Tempelweihe, von David. ι . Ich will dich erheben, Jahwe, denn du hast mich [aus der Tiefe] gezogen und ließest nicht zu, daß meine Feinde sich über mich freuten. 3. Jahwe [, mein Gott, als ich zu dir schrie, hast du mich gesund gemacht28]. 4. [Jahwe28], du hast meine Seele aus der Unterwelt heraufgebracht und mich zum Leben zurückgerufen vor denen, die zur Grube fahren. 5. Singt Jahwe, ihr seine Frommen, und preist sein heiliges Gedächtnis. 6. Denn einen Augenblick ist er im Zorn, ein Leben lang im Wohlgefallen; am Abend kehrt Weinen ein, [doch am Morgen ist Jubel28]. η. Ich aber wähnte, da ich mich sicher fühlte: „Ich werde nicht wanken in Ewigkeit!" 8. Jahwe, in deiner Huld hattest du mich gestellt 'auf Felsengund'; als du dein Antlitz verbargst, da war ich bestürzt. 9. Zu dir, Jahwe, rief ich, zu meinem Herrn flehte ich: 10. „Was hättest du an meinem Blute gewonnen, an meiner Fahrt in die Grube? Kann der Staub dich preisen, deine Treue verkünden? 11. Höre, Jahwe, und erbarme dich meiner! Jahwe, sei mir Helfer!" 12. [Alsbald] hast du mir meine Klage in Reigen verwandelt, mein Trauergewand gelöst und mich mit Freude gegürtet, ι}. daß Lobpreis dir singe und nicht schweige; Jahwe, mein Gott, ewig will ich dich preisen!

28

Fehlt in der Sekunda.

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„ E L I A " UND „ A H A B " (Tg. Ps.-Jon. zu Deut. 33, 1 1 )

In der Neubearbeitung seines 1947 erstmalig erschienenen Buches „The Cairo Geniza", die nunmehr auch in deutscher Fassung vorliegt, führt P. E. Kahle bei der Frage nach dem Alter und Wesen des palästinischen Pentateuchs eine Stelle aus dem Tg. Ps.-Jon. an, die geeignet sein könnte, einiges Licht auf das Verhältnis der Hasmonäerzu den Sadokiden von Qumran zu werfen 1 ). Da, soweit ich die Literatur übersehe, dieser Tg.-Text noch nicht unter dem Aspekt der Deutung des Schrifttums, wie es in Qumran vorhegt, benutzt worden ist, sei es mir gestattet, dem um die Wissenschaft vom Judentum so hochverdienten Jubilar die folgenden Zeilen als Ausdruck der menschlichen und fachlichen Verbundenheit zu widmen. Um zu erweisen, daß das palästinische Tg. zwar nicht als Ganzes, wohl aber in einzelnen Teilen ein außerordentlich hohes Alter hat, führte im Jahre 1857 A. Geiger in seinem heute noch lesenswerten Buche „Urschrift und Ubersetzungen der Bibel" 2) unter anderem das Tg. Ps.-Jon. zu Deut. 33, 1 1 („Segne, Jahwe, seinen Wohlstand, und laß dir das Tun seiner Hände gefallen! Zerschmettere seinen Gegnern die Lenden und seinen Hassern, daß sie sich nicht mehr erheben!") an, das hier zunächst im Text und in der Übersetzung wiedergegeben sei. BRYK Y Y

N K S W Y D B Y T L W Y D Y H B Y N M ' S R 1 M N M'SR' W Q R B N

y d w y d ' l y h w k h n ' d m q r y b b t w w r ' krml' t q b y l br'w' T B Y R h r s ' d'h'b

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nbyy

w l ' y h y lsn'wy d y w h n n k h n ' rb 1

1

sqrj

dqyymyn

lqwblyh

r g l l m q w m 3).

) P. E. Kahle, Die Kairoer Genisa, Untersuchungen zur Geschichte des hebräischen Bibeltextes (Deutsche Ausgabe bearbeitet von R. Meyer), Berlin 1962, 2 1 5 f. 2 ) A. Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judentums, mit einer Einführung von P. Kahle und einem Nachtrag von N. Czertkowsky, Frankfurt am Main 1928 2 , 4793 ) Text nach M. Ginsburger, Pseudo-Jonathan, Berlin 1903, 362 f.

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171

.Elia" und „ A h a b "

„Segne, Jahwe, den Besitz des Hauses Levi, die den Zehnten vom Zehnten geben, und mögest du mit Wohlgefallen das Opfer der Hände des Priesters Elia annehmen, der auf dem Berge Karmel opfert. Zerbrich die Lende Ahabs, seines Feindes, und das Genick der Lügenpropheten, die sich gegen ihn erhoben haben, und nicht sollen die Hasser des Hohenpriesters Jochanan einen Fuß zum Stehen haben." In dem namentlich angeführten Hohenpriester Jochanan erkannte A. Geiger den Hasmonäer Jochanan Hyrkanos I. (134-104 v. Chr.), und wenige Jahre später pflichtete ihm Th. Nöldeke in vollem Umfange bei Seit jener Zeit ist die Bedeutung des „Hauses Levi", d.h. der Hasmonäerdynastie und hier insbesondere des Priesterfürsten Jochanan Hyrkanos I. auf Grund der noch vorhandenen Quellenbelege derart ins helle Licht der Geschichte getreten, daß in unserem Zusammenhange die Identität des Hohenpriesters Jochanan mit dem Hasmonäer gleichen Namens nicht erst bewiesen zu werden braucht 2 ). Wohl aber wird man die Frage zu stellen haben, welche historischen Voraussetzungen zu dem targumischen Stück geführt haben, das zwar deutlich in Analogie zu Deut. 33, 11 gebildet worden ist, aber gleichzeitig einige bemerkenswerte Besonderheiten aufweist. Nach Α. T. Olmstead, der sich 1942 zu dieser Frage geäußert hat 3), handelt es sich hierbei um ein Gebet, das ein zeitgenössischer Parteigänger Hyrkanos' I. gesprochen hat, unmittelbar nachdem letzterer die Samaritaner unterworfen hatte, so daß, wenn Α. T. Olmstead im Rechte wäre, man sogar ein genaues Datum — 128 v. Chr. oder etwas später — zur Verfügung hätte. Was zunächst die formgeschichtliche Seite der Feststellungen Α. T. Olmsteads betrifft, so scheint mir die Annahme, daß es sich in dem Tg.-Text, der übrigens in sich gut abgerundet und pointiert ist, um das Gebet eines Einzelnen für den Herrscher handelt, keineswegs selbstverständlich zu sein. Ein solches Stück paßt vielmehr eher in eine ') T h . Nöldeke, Die Alttestamentliche zitiert von P. E . Kahle, a.a.O., A n m . 42.

Literatur,

Leipzig

1868,

256;

2 ) Vgl. z.B. R . Meyer, Der Prophet aus Galiläa, Leipzig 1940, 60-70; ders., T h W B V I , 825 f. und die daselbst angegebene Literatur. 3 ) Α. T. Olmstead, Could an Aramaic Gospel be written?, Journal of Near Eastern Studies ι , 1 9 4 2 , 6 2 ; zitiert v o n P. E . Kahle, a.a.O., A n m . 43. N a c h E . J . Campbell jr., E x c a v a t i o n at Shechem, i960, B A 23, i960, 102-110, fällt die Eroberung Samarias auf Grund v o n Münzfunden erst in das Jahr 107 v . Chr.

172

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.Elia" und „ A h a b "

Liturgie hinein, in der Gott um die Erhaltung der Dynastie und damit für das Leben und die Regierung des betreffenden Herrschers gebeten wird 1 ). Damit dürfte das Tg. weniger eine individuelle Fürbitte für den Regenten und sein Haus als vielmehr — trotz formaler beziehungsweise gattungsmäßiger Unterschiede — ein Pendant darstellen zu jenem prosadokidischen Danklied, das im hebräischen Sir.-Text erhalten ist und das Jahwe dafür preist, daß er die Angehörigen der Dynastie Sadok zur priesterlichen Herrschaft über Israel berufen hat; Sir. 51,12 i (hebräisch): HWDW LBWHR BBNY SDWQ LKHN K Y I/WLM HSDW 2)

„Preiset den, der die Söhne Sadoks zum Priesteramt erwählt; denn ewig währt seine Gnade." Hinsichtlich der historischen Situation scheint allerdings zwischen dem Tg. und Sir. 51, 12 i (hebräisch) — abgesehen davon, daß die Hasmonäer die Sadokiden nach Jahren der Wirren im Jahre 152 v. Chr. abgelöst haben — insofern ein wesentlicher Unterschied zu bestehen, als der Sirazide friedliche und für die von ihm verehrte Dynastie ruhige Zeiten voraussetzt 3), während der Tg.-Text so gehalten ist, daß man annehmen muß, der Hohepriester Jochanan sei von Feinden bedroht, die ihm im Inneren die Herrschaft streitig machen oder ihn auf Grund von Meinungsdifferenzen bekämpfen. Dies und nichts anderes bedeutet der Satz: „Zerbrich die Lenden Ahabs, seines Feindes, und das Genick der Lügenpropheten, die sich gegen ihn erhoben haben, und nicht sollen die Hasser des Hohenpriesters Jochanan einen Fuß zum Stehen haben." Sieht man Ps.-Jon. unter diesem Aspekt, so dürfte es kaum noch möglich sein, als Voraussetzung für diesen Segenswunsch das erfolgreiche Unternehmen Hyrkanos' I. gegen Samarien anzusehen. Man wird daher die Frage nach dem geschichtlichen Hintergrund des Tg.-Textes von neuem zu stellen haben, wobei gilt, daß hierfür die Quellenlage heute günstigere Bedingungen bietet, als A.T.Olmstead sie vor mehr als zwanzig Jahren vorfand. Das Bild, unter dem der Hohepriester und seine Feinde gesehen werden, ist der heiligen 1 ) Sachlich verwandt mit dem T g . - T e x t sind z.B. 61, 7 und Ps. 72. Hierzu und zu weiteren Belegen vgl. im Alten Testament, Erlangen 1949, 64-69. 2) T e x t nach H. L. Strack, Die Sprüche Jesus', Leipzig 1903, 55. 3) Vgl. R. Meyer, T h W B V I I , 39 f.; P. E . Kahle,

Ps. 20, 1-6; 21, 9 - 1 4 ; F. Hesse, Die Fürbitte des

Sohnes

a.a.O., 21.

Sirachs,

[359]

.Elia" und „ A h a b "

173

Geschichte entnommen, und zwar so, daß einige Motive aus dem Zusammenhang gelöst sind und auf die Gegenwart bezogen werden. Elia, der große Kämpfer für Jahwe und Gegner Ahabs, ist für den Verfasser des Segensspruches längst nicht mehr der streitbare Prophet von einst; er ist — entsprechend der späteren Auslegung von Mal. 2, 4 f.; 3,1.23 — der Hohepriester der „letzten Zeit" aus dem Hause L e v i u n d da für sakrales Herrschertum diese „letzte Zeit" immer auch Gegenwart und nicht nur Zukunft ist, mit dem derzeitig regierenden Mitglied des Hauses Levi identisch. Somit ist der Priester Elia, dessen Opfer Jahwe gnädig annehmen möge, kein anderer als der Hohepriester Jochanan, in dem sich — wenigstens nach der Anschauung seiner Parteigänger — der göttliche Heilswille in der Gegenwart verwirklicht. Gleichzeitig stammt er aus einem Priestergeschlecht, das durch Frömmigkeit hervorragt, indem es die ihm zukommenden Abgaben des Volkes freiwillig selbst noch einmal der Zehntbesteuerung unterwirft 2). Trifft die Gleichsetzung des Priesters Elia aus dem Hause Levi mit dem Hohenpriester Jochanan aus der Dynastie Levi-Hasmon zu, dann bedeutet der Karmel nichts anderes als den Zion, auf dem Jochanan als die hasmonäische Inkarnation des Priesters Elia opfert. Die Gegenspieler von Elia-Jochanan, die als seine „Hasser" verwünscht werden, gliedern sich, wie ein Vergleich zwischen Tg. und Vorlage zeigt, deutlich in zwei Gruppen: auf der einen Seite steht Ahab, der als sein Feind bezeichnet wird, auf der anderen Seite befinden sich die Lügenpropheten, von denen es heißt, daß sie sich gegen den Hohenpriester erhoben haben beziehungsweise gegen ihn stehen. Es ist kaum anzunehmen, daß die Gestalt des Ahab einfach eine konventionelle Erwähnung des bekannten Omriden darstellt, die durch die Anführung des Propheten Elia assoziativ ausgelöst wäre; vielmehr handelt es sich hierbei wohl um die verschlüsselte Bezeichnung eines Feindes des Hohenpriesters. Ist dies aber der Fall, dann verbirgt sich hinter Ahab schwerlich eine gewöhnliche Person, sondern es muß sich dabei um einen Mann handeln, dem nach Art des geschichtlichen Ahab Herrscherprädikate zukamen Vgl. hierzu das Material in: Strack-Billerbeck, München 1956 s , I V , 789-798. 2 ) In dieser panegyrischen Verherrlichung der Frömmigkeit des „Hauses L e v i " m a g der A n s a t z p u n k t für den rabbinischen Traditionskomplex zu suchen sein, der das Gesetz über zweifelhaft Verzehntetes mit H y r k a n o s I. zusammenbringt; vgl. R . Meyer, D a s angebliche D e m a j - G e s e t z H y r k a n s I., Z N W 38, 1939, 124-131.

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.Elia" und „Ahab"

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und der auf der höchsten gesellschaftlichen Stufe Israels für den Priesterfürsten eine Gefahr bedeutete, zumindest bedeuten konnte. Aus den bisherigen traditionellen Quellen läßt sich nicht erkennen, auf wen das Ahab-Motiv abzielt. Wohl aber wissen wir, daß Jochanan Hyrkanos I. (134-104 v. Chr.) in seiner Stellung als Hoherpriester alles andere als unbestritten dastand, sondern sich innenpolitisch starker Anfeindungen erwehren mußte. Nach ι Makk. 16, 11-22 kam Jochanan Hyrkanos I. unter schwierigen Umständen auf den Thron; sein Vater Simon und seine beiden Brüder Mattathias und Judas waren von Ptolemaios, der eine Tochter Simons zur Frau hatte, ermordet worden, und er selbst war nur mit knapper Not dem Blutbad entronnen. Dieser Mord, der sich auch in der Qumran-Literatur widerspiegelt 1 ), scheint darauf hinzudeuten, daß es innerhalb des Jerusalemer Priesteradels eine starke Opposition gab, deren Ziel war, die Hasmonäer aus der Herrschaft zu verdrängen. Hyrkanos I. konnte in der Folge zwar seine Stellung im Inneren festigen, gleichwohl muß es im Laufe der Jahre schließlich doch zu Auseinandersetzungen gekommen sein. So berichtet Josefus, Ant. 13, 288, im Anschluß an Nikolaos von Damaskus, daß das Glück Hyrkanos' I. den ,,Neid der Juden erregte". Allerdings läßt er seine Leser darüber im unklaren, worin der „Neid" bestand; er hat nämlich aus seiner Vorlage die Darstellung der innenpolitischen Auseinandersetzungen, wie sie den einleitenden Worten entsprechen müßte, herausgebrochen und durch die bekannte junge Schulanekdote vom fürstlichen Gastmahl, das zum Zerwürfnis zwischen dem Hohenpriester und den Pharisäern führte, sowie durch Gegenüberstellung einiger pharisäischer und sadduzäischer Charakteristika ersetzt. Jedoch am Schlüsse des Ganzen (§ 299) kommt er wieder auf die einleitenden Worte zurück und schreibt: „Hyrkanos aber machte dem Aufstande ein Ende (παύσας τήν στάσιν[!]), lebte darauf [noch] glücklich und starb nach einunddreißigj ähriger vortrefflicher Regierung , von Gott der drei größten Ämter für würdig erachtet: der Herrschaft über das Volk, der Würde des Hohenpriestertums und der Prophetengabe." Ähnlich äußert er sich in der Parallelstelle, B. J . 1, 67 f., wo er von dem Aufstande der einheimischen Bevölkerung spricht, der schließlich durch den Priesterfürsten mit Gewalt unterdrückt werden !) Vgl. 4 Q. Testim. 21-30; J . M. Allegro, Further Messianic References in Qumran Literatur, J Β L 7 5 , 1956, 185 ff.-4 Q.Ps. 37, 32 f.; ders., Further Light on the History of the Qumran Sect, ebd., 94.

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„Elia" und „Ahab"

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mußte. An beiden Stellen erwähnt Josefus immer nur Oppositionelle als kollektive Größe, verschweigt dagegen den oder die führenden Köpfe, die den Priesterfürsten bedrohten. Nun kennt zwar auch unser Tg. die namenlosen Lügenfro-pheten, die sich im Aufstande gegen Jochanan befinden (nebiye Siqrä deqayyemin lequbleh), aber entscheidend ist, daß neben dieser oppositionellen Mehrzahl eine führende Einzelgestalt begegnet als Ahab, bei der es nicht erkennbar ist, ob Ahab aktiv in den Aufstand verwickelt ist oder nur als bedrohlicher Gegner abseits steht, der über eine gewisse Macht verfügt. Eine Lösung des Problems, die Josefus nicht bietet und die wir von der rabbinischen Literatur schwerlich erwarten können, scheint sich von der sadokidischen Literatur her zu bieten, wie sie in der bereits aus den Kairoer Genisa-Fragmenten bekannten C.D. und in jenen Qumran-Texten vorliegt, die nicht allgemein-jüdischer Natur sind, sondern als Zeugnisse für den Geist der chasidischen Gemeinschaft vom Toten Meer angesehen werden können. In der genannten Literatur begegnet eine führende Gestalt, die sich unter dem vielverhandelten Namen des „Lehrers der Gerechtigkeit" verbirgt. Zwar wissen wir bisher nichts über die Person, die diesen Titel trägt, aber eines scheint jetzt ziemlich sicher zu sein, nämlich daß dieser Mann in der Glanzzeit der Hasmonäer an der Spitze der Chasidim von Qumran gestanden hat *); er hat wohl dieser Gemeinschaft weithin das Gepräge gegeben und als Sadokide die Linie jenes hochadligen Priestergeschlechts fortgesetzt, dem einst Simon II. —• noch von den Rabbinen durch einen Ehrenplatz in der ,,Väter"-Genealogie ausgezeichnet 2 )—angehörte und das nach seiner Verdrängung unter Antiochos IV. Epiphanes schließlich in den Hasmonäern einen weithin als illegitim betrachteten Nachfolger fand. Es ist hier nicht der Ort, das mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit" Zur Diskussion über den „Lehrer der Gerechtigkeit" vgl. als Übersichten einschließlich der Literatur: H. H. Rowley,The Teacher of Righteousness and the Dead Sea Scrolls, Bulletin of the John Rylands Library 40, 1 9 5 7 , 1 1 4 - 1 4 6 ; F. M. Cross, The Ancient Library of Qumran and Modern Biblical Studies, The Haskell Lectures 1956-1957, New York 1958, 80-119; K. G. Kuhn, Art. Qumran 4, R G G 3 V, 745-751. Auf die neueste Untersuchung über den „Lehrer der Gerechtigkeit", G. Jeremias, Der Lehrer der Gerechtigkeit, Studien zur Umwelt des N.T. 2, 1963, kann hier nur verwiesen werden, da sie bei Abfassung des Aufsatzes noch nicht greifbar war. Außerdem ist zum Problem zu vergleichen: J . Weingreen, The Title MörehSedek, J S S 6, 1961, 162-174, der sich an manchen Punkten mit dem Vorgetragenen berührt und ebenfalls grundlegende Bedenken zu der allgemeinen Übersetzung anmeldet. 2 ) Abot i, 2.

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.Elia" und „ A h a b "

verbundene geschichtliche Problem in seinem Gesamtumfange aufzurollen; wir wollen uns vielmehr damit begnügen, daß wir die Bedeutung seines hebräischen Titels untersuchen, um gegebenenfalls festzustellen, ob und wieweit sich hieraus Schlüsse auf seine Funktionen ziehen lassen. Hebräisch lautet der Titel more scedceq oder more hasscedceqx). Schulmäßig kommt hierbei in der Tat „Lehrer der Gerechtigkeit" als Übersetzung heraus. Mit ihren französischen und englischen Entsprechungen ,,le Docteur de Justice" beziehungsweise „the Teacher of Righteousness" bestimmt denn auch bis zur Stunde diese Übersetzung den Gang der Diskussion, wobei gilt, daß ihr je nach der Auffassung der einzelnen Forscher von vornherein ein ganz bestimmter Sinngehalt unterlegt wird. Gewiß ist die Übersetzung „Lehrer der Gerechtigkeit" nicht falsch, und erst kürzlich hat sich J . Carmignac in seinem Aufsatz „Notes sur les Peshärim" unter dem Titel „pTsn min. Peut-on traduire par ,le Docteur de Justice' ?" in Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen für ihre Berechtigung eingesetzt 2 ); aber man wird doch fragen müssen, ob „Lehrer der Gerechtigkeit" die einzige Interpretationsmöglichkeit darstellt. Eine solche Frage liegt umso näher, als die Autoren von Qumran bekanntlich eine ausgesprochene Vorliebe für seltene Wörter und für Wortspiele haben, wie wir sie erst mehr als ein halbes Jahrtausend später bei den Verfassern der Piyyutim wiederfinden. Das Wort mora, das in der Zusammensetzung MWRH (H)SDQ(H) das Regens der Genetivverbindung abgibt und das wir zunächst, der Wortstatistik folgend, mit „Lehrer" übersetzen, hat für jüdische Ohren der seleukidischen Zeit noch einen anderen Klang. Das ergibt sich deutlich aus der griechischen Übersetzung von Hiob. 36, 22b, wo die hebräische Vorlage MY KMWHW MWRH mit τίς γάρ έστιν κατ' αύτόν δυνάστης wiedergegeben wird. Natürlich liegt hier nicht einfach ein Übersetzungsfehler seitens der L X X vor; denn bei dem im hebräisch-aramäischen Sprachbereiche weithin begegnenden 01 ) Vgl. K . G. Kuhn, Konkordanz zu den Qumrantexten, Göttingen i960, 1 1 8 . Die wohl ursprünglichen Formen ohne Artikel beschränken sich bisher auf C.D. i, 1 1 ; 20, 32. Im übrigen wird man gut tun, auf die Setzung des Artikels oder seine Auslassung nicht allzu großes Gewicht zu legen. — Die

anschließenden

begriffsgeschichtlichen

Erwägungen

zu

MWRH

(H)SDQ(H)

habe ich zum ersten Male auf einer Gastvorlesung vorgetragen, die ich die Ehre hatte, im Februar 1961 vor der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz zu halten. 2 ) Revue de Qumran 12 [III, 4], 1962, 529-533.

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.Elia" und „ A h a b "

177

Vokalismus waren hebräisches mora und aramäisches märe „Herr, Herrscher" klangmäßig nicht voneinander zu unterscheiden, und es ist bezeichnend, daß die LXX-Interpretation im Grunde besser in den Zusammenhang paßt als die gängige Übersetzung des masoretischen Textes mit „Lehrer" oder „Meister". Für unsere Untersuchung ist nun wichtig, daß man mit der Gleichsetzung von mora und märe im Sinne von „Herr" oder „Herrscher" in unmittelbare Nähe von malak und ^ädön kommt, die sich beide ebenfalls in Zusammensetzungen mit sadaq belegen lassen. Unter der Voraussetzung des Gleichklanges von mora und märe ergibt sich also — sieht man einmal von den wahrscheinlich auf Wortspiel beruhenden Nebenformen ab — folgende Entsprechungsreihe: 'Adoni-Sadaq Malki-Sadaq Mora-Sadaq. Da 1 Adoni-Sadaq als religionsgeschichtlich irrelevant ausscheidet 1), bleibt als Äquivalent nur Malki-Sadaq übrig als der Name des Priesterkönigs Melchisedek von Salem/Jerusalem 2), mit dem seit alters ein umfangreicher Komplex jerusalemischer Priestertheologie verbunden ist 3). In diesen Überlieferungskreis gehört auch der Gottesname Sadaq, der im Rahmen des kanaanäischen Erbgutes auf Jahwe übertragen wurde und in der Folge im Namen Sädoq durch die Jahrhunderte weiterlebte. Mit anderen Worten, für denjenigen, der — wie die Sadokiden von Qumran und ihre Gefolgsleute — in den priesterköniglichen Traditionen von Jerusalem stand, bedeutete Mdre-Sadaq mehr als nur „Lehrer der Gerechtigkeit", es war gleichbedeutend mit Malki-Sadaq, der in seiner Person Priester- und Fürstentum vereinte und als solcher im Dienste des Jahwe-El'Eljon-Sedek *) auf dem Zion herrschte und dem Abraham zehntpflichtig war. Damit ist jedoch die Bedeutung von mora noch nicht erschöpft. Dasselbe Wort kann mit einem Partizipium des Hif'il von yry (ΠΤ) III „zeigen" identisch sein, wie es in dem Ortsnamen 'e/ow mora „Wahrsager-Terebinthe" (Gen. 12,6), besonders aber in Jes. 9, 14 begegnet, wo mora in Verbindung mit prophetischer Wei1)

Vgl. Vgl. 3) Gen. 4) Vgl. 2)

Jos. 10, 1.3. hierzu E . Kutsch, Art. Melchisedek, R G G 3 I V , 843 f. 14, 18; Ps. 110, 4; 1 Q . Gen. Apocr. 22, 13. O. Eißfeldt, Art. El, R G G 3 II, 413 f.

178

.Elia" und „ A h a b "

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sung gebraucht wird: n b y ' m w r h s q r „ein Prophet, der falsche Weisungen gibt". Zieht man in Rechnung, daß die priesterliche Weisung, die ja ihrem Wesen nach letztlich auch nicht dem rationalen, sondern dem divinatorischen Bereiche zugehört, durch die gleiche Wurzel im Hif'il ausgedrückt werden kann, so ergibt sich von hier aus, daß more scedceq nachgerade mit „Prophet der Gerechtigkeit" übersetzt werden kann. D a ß die Chasidim von Qumran mit more scedaq zuweilen eine derartige Vorstellung verbunden haben müssen, zeigt sich beispielsweise an dem nach Micha 2, I i gebildeten Gegenstück matttf käzäb „Prophet der Lüge", wie es in C.D. 9, 22 (nach der Zählung von R. H. Charles) vorliegt. Wenn es richtig ist, daß der Ausdruck more scedceq nicht nur nach einer Richtung hin festzulegen ist, dann sollte man ihn besser unübersetzt lassen; denn nur in dieser Form ist es dann möglich, alle damit verbundenen Aspekte zu erfassen und in dem Moresedek den sadokidischen Hohenpriester zu erkennen, der in sich in gleicher Weise die drei Ämter des Priesterfürsten vereinte wie Jochanan Hyrkanos I.: beide sind als Sakralherrscher Regenten, Oberpriester und Propheten, wobei dem hohenpriesterlichen A m t die erste Rolle zukommt. Als Hohepriester aber sind sie zugleich auch die Lehrer des „Gesetzes" im weitesten Sinne der Wortes. Für den Moresedek von Qumran liegen hierüber eine Reihe von Belegen vor, die in unserem Zusammenhange nicht sonderlich aufgeführt zu werden brauchen. Für Jochanan Hyrkanos I. dürfen wir das Gleiche annehmen ; denn Hekataios von Abdera (um 290 v. Chr.) bezeugt, daß die Juden den Hohenpriester als solchen und kraft seines Amtes für einen Verkünder der göttlichen Gebote ansehen, wodurch die vielfach übersehene Tatsache deutlich herausgestellt wird, daß der Oberpriester von Jerusalem gleichzeitig o b e r s t e r G e s e t z e s l e h r e r ist1). Damit entsprechen sich aber der sadokidische Moresedek von Qumran und der hasmonäische Priesterfürst von Jerusalem in allen 1 ) H e k a t a i o s v o n A b d e r a , der um 290 v . Chr. in seiner „ G e s c h i c h t e Ä g y p t e n s " (zitiert v o n Diodorus Siculus, Historische Bibliothek 40, 3) die Hierokratie v o n Jerusalem beschreibt, sieht in d e m Hohenpriester den, der auf G r u n d seiner E i n s i c h t (φρόνησις) und T ü c h t i g k e i t (άρετή) die F ü h r u n g im Gemeinwesen h a t : Τοϋτον δέ προσαγορεύουσιν άρχιερέα, και νομίζουσιν

αύτοϊς άγγελον γίνεσθαι των τοϋ θεοϋ προσταγμάτων. Z u m T e x t vgl. C. Müller, F r a g m e n t a Historicorum Graecorum 2, 18, 362; ferner E . Schürer, Geschichte des jüdischen V o l k e s im Zeitalter Jesu Christi, Leipzig 1907 4 , 240 m i t d e m T e x t in A n m . 5.

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.Elia" und „ A h a b "

179

Einzelheiten. Wie weit diese Parallelität geht, möge an dem bisher wohl einschlägigsten Text, dem sogenannten Testimonien-Dokument aus Höhle IV von Qumran (4 Q. Testim.) verdeutlicht werden x). In diesem Text werden Schriftbelege für eine Reihe von Heilsgestalten aufgeführt, die nach allgemein verbreiteter Anschauung in die Eschatologie der Gemeinschaft von Qumran gehören 2). D a aber die Testimonienreihe, obwohl in Futurform gehalten, deutlich in der Beschreibung des Untergangs des „Teufelsmannes", das heißt Simons und seiner beiden Söhne, gipfelt 3), erscheint es geraten, auch die vorhergehenden Prophezeiungen zumindest nicht ausschließlich eschatologisch, sondern gleichzeitig auch historisch zu deuten. Hierbei ergibt 4 Q. Testim. ein bemerkenswert interessantes Bild. In ansteigender, jedoch nicht chronologischer Stufenfolge werden die Bibelbelege für den Propheten nach Art des Mose (Ex. 20, 21 in Ubereinstimmung mit dem Samaritanus 4), für den König als den „Stern aus J a k o b " (Num. 24, 15-17) und für den Hohenpriester, der an Levis Idealbild ausgerichtet ist, aufgeführt. Nach dem Scopus des Ganzen kann es sich hierbei nur darum handeln, den Moresedek als den wahren Priesterfürsten heilsgeschichtlich zu legitimieren. Dabei ergibt sich nun als auslegungsgeschichtlich äußerst bemerkenswerter Sachverhalt, daß die Legitimation des Sadokiden genau in den gleichen Worten gipfelt, die in Tg. Ps.-Jon. den Ausgangspunkt für den prohasmonäischen Segenswunsch bilden, in dem Jahwe aufgefordert wird, Ahab als dem Feinde des Hohenpriesters Jochanan das Genick zu brechen. Indem 4 Q. Testim. 1-20 in dem gleichen Verse aus dem Segen des Mose gipfelt, von dem der Segenswunsch in Tg. ausgeht, schließt sich der Kreis. Eingangs wurde auf Grund der Form von Ps.-Jon. festgestellt, daß Elia und Ahab als Herrschergestalten auf gleicher Ebene verstanden werden müssen. Zwar nicht Josefus, wohl aber einige Qumran-Fragmente geben uns jetzt die Möglichkeit, das *) Zum Text vgl. J. M. Allegro, a.a.O. (S. 360, Anm. 1), 182-185. Vgl. besonders A. S. van der Woude, Die messianischen Vorstellungen der Gemeinde von Qumran, Studia Semitica Neerlandica 3, Assen-Neukirchen 1957, 120 ff.; 182 ff. 3) 4 Q. Testim. 23: W'NH >YS >RWR J[YS] BLY C L ,,und siehe, ein verfluchter Mann, ein M[ann] des Belija'al". *) So F. M. Cross, a.a.O., 112, Anm. 80, mit Bezug auf P. Skehan und den Aufsatz von R. E. Brown, The Messianism of Qumran, Catholic Biblical Quarterly 19, 1957, 82. 2)

180

.Elia" und „Ahab"

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Symbol des Ahab zu entschlüsseln und ihn als den Moresedek zu verstehen; gleichzeitig aber können wir nunmehr das Verhältnis, das zwischen beiden besteht, abschließend bestimmen. Jochanan Hyrkanos I. ist ebenso prophetisch begabter Priesterfürst wie der Moresedek; er gehört ebenso wie sein Feind in Qumran zum „Hause Levi"; aber er entstammt der Dynastie Hasmon-Jojarib, während der Moresedek dem uralten Adelshause Sadok angehört. Beide anathematisieren sich gegenseitig: während in den Augen der hasmonäisch Gesinnten der Sadokide als Ahab und damit als Erzfeind des wahren Gottesstreiters und Priesters Elia bezeichnet wird, belegt die Gefolgschaft des Moresedek den Vater Jochanans, Simon, mit einem Fluchnamen und sieht sein sowie seiner beiden Söhne Judas und Mattathias tragisches Ende als die logische Folge der hasmonäischen Hybris. Nur ein Unterschied besteht: der Hasmonäer hat die tatsächliche Macht und regiert in Jerusalem, von wo aus er seine partikular-heilseschatologische Politik betreibt; der Sadokide dagegen steht außerhalb an der Spitze einer ,,Exilshierokratie", deren Angehörige den Tag herbeisehnen, an dem sie als das ,,wahre Israel" unter der Führung eines legitimen sadokidischen Hohenpriesters, dem ein Gesalbter aus Juda als Feldherr zur Seite steht, in Jerusalem die Gottesherrschaft errichten werden. So ist der Moresedek zwar ein „Herrscher ohne Land", aber mit seinem Ansprüche bleibt er stets eine Bedrohung des hasmonäischen Priesterfürsten, die die Verwünschung in Tg. verständlich macht. Es wurde oben darauf hingewiesen, daß der Tg.-Text offenbar bewußt trennt zwischen Ahab als führender Einzelgestalt unter den Gegnern des Elia-Jochanan und den in der anonymen Mehrzahl auftretenden Lügenpropheten, die sich gegen den Hohenpriester erhoben haben. Nachdem es gelungen ist, die verschlüsselte Gestalt des Ahab mit dem sadokidischen Moresedek zu identifizieren, erhebt sich abschließend die Frage, ob auch die Lügenpropheten näher bestimmt werden können. Diese Frage scheint leichter beantwortbar zu sein; zudem können wir uns hier wesentlich kürzer fassen, da das Problem der nebiye siqrä im Artikel PHARISAIOS im ThWB ausführlich behandelt wird. Aus seiner Quelle, die über die inneren Auseinandersetzungen berichtet, die Hyrkanos I. wahrscheinlich im Anschluß an die Eroberung und Zerstörung Samarias zu bestehen hatte, hat Josefus, wie bereits betont, das Kernstück herausgenommen und durch pharisäische Schultraditionen ersetzt. Soweit es sich hierbei um die Legende vom Gastmahl des Hasmonäers

[367]

.Elia" und „ A h a b "

181

handelt, das zum Bruch mit den Pharisäern führte, verfügen wir zwar über keinerlei quellenmäßige Basis zur Rekonstruktion der Ereignisse, wohl aber darf man aus der Art der Einschaltung schliessen, daß Josefus durch seine Vorlage assoziativ veranlaßt worden ist, gerade hier die Geschichte vom Ursprung der Feindschaft zwischen Pharisäern und Hasmonäern zu bringen; mit anderen Worten, bereits die Vorlage hat nach der Einleitung in Ant. 13, 288 eine Darstellung von Kämpfen zwischen Pharisäern und Jochanan Hyrkanos I. gebracht, und zwar wesentlich ausführlicher als der allgemein gehaltene Kurzbericht in B . J . 1, 67 f. Dieser indirekte Schluß wird nun seinerseits wiederum durch einige Andeutungen aus den Qumran-Fragmenten gestützt. Bereits bei der Identifikation des Ahab mit dem Moresedek hatte sich ergeben, daß beide Parteien im Grunde das gleiche Vokabular, nur jeweils mit den umgekehrten Vorzeichen, gebrauchen. Daß Ähnliches auch hier der Fall ist, geht neuerdings aus einer sorgfältigen Untersuchung hervor, die J . Carmignac unter dem Titel „Les elements historiques des Hymnes de Qumrän" vorgelegt hat x). Hier weist er meines Erachtens überzeugend nach, daß polemische Bezeichnungen der Gegner des Moresedek beispielsweise als „Interpreten des Irrtums" (1 Q.H. 2, 13 f.), „Interpreten der Lüge" (ebd. 2 , 3 1 ; 4, 9 f.), „Seher des Irrtums" (ebd. 4,20) oder „verführerische Schriftausleger" 2) (ebd. 2, 15.32 u. öfter) darauf hindeuten, daß die also Gekennzeichneten die Pharisäer sind, die ihrerseits beanspruchen, die „richtige" Auslegung des „Gesetzes" zu haben. Im gleichen Maße nun, wie der sadokidische Moresedek als der Verkünder der Gebote Gottes die wahre Erkenntnis aus der Interpretation des „Gesetzes" erschließt und die gegnerischen Gesetzesausleger der „Lüge" und „Verführung" zeiht, ist auch Jochanan kraft seines Amtes der einzige rechtmäßige Ausleger des „Gesetzes" und damit der wahre „Prophet". Erhebt ein anderer oder — wie in Tg. — eine Gruppe den Anspruch, das „Gesetz" gültig zu interpretieren, dann fallen derartige Leute unter das Verdikt falschen *) Revue de Qumran 6 [II, 2], i960, 205-222; ebd. (S. 2 1 6 f.) weitere Belege. 2 ) J . Carmignac, a.a.O., 2 1 7 : „chercheurs d'alldgements"; die obige Übersetzung ist nach rabbinischen Analogien wie b. Chul. 134b: d w r § y hwmrwt „die anmutige Auslegungen vortragen", gebildet; für alles Weitere sei auf T h W B V I I I , s.v. Φαρισαϊος verwiesen.

182

.Elia" und „ A h a b "

[368]

Prophetentums. In beiden Fällen also protestieren zwei Hohepriester mit ähnlichen Ausdrücken gegen Vertreter einer Schriftauslegung beziehungsweise einer Verkündigung des Gotteswillens, die in ihren Augen Anmaßung ist. Der Moresedek bezeichnet sie als „Seher des I r r t u m s " 1 ) , Ps.-Jon. als „Lügenpropheten"; die verwandten Begriffe unter den gleichen Voraussetzungen machen es daher wahrscheinlich, daß nicht nur die Qumran-Belege auf die Pharisäer abzielen, sondern daß auch der prohasmonäische Segenswunsch die gleiche Gruppe vor Augen hat. Für die Geschichte des Judentums bedeutet dieser Sachverhalt, daß sowohl die Hasmonäer als auch die Sadokiden von Qumran, obwohl untereinander grundsätzlich verfeindet und sich gegenseitig exkommunizierend, gleichzeitig einen gemeinsamen Feind in Gestalt der Pharisäer hatten, die dereinst beide hierokratischen Systeme — sowohl dasjenige von Jerusalem als auch die „Exilshierokratie" von Qumran — überleben und das Gesicht des Judentums für alle Zeiten prägen sollten. l)

ι Q . H . 4, 20: HZWY

T'WT.

[117/118]

Aspekt und Tempus im althebräischen Verbalsystem Wer heutzutage eine hebräische Grammatik zu schreiben oder neu aufzulegen hat 1 , steht nicht nur vor einer Fülle von unbewältigten Fragen im Rahmen der traditionellen Hebraistik, sondern er ist gleichzeitig der linguistischen Kritik ausgesetzt, die die bisherigen philologischen Methoden weithin negativ beurteilt und zuweilen sogar als nicht mehr zeitgemäß ansieht. Dieses zweite Problem wird für den Hebraisten dort akut, wo ein zentrales Gebiet der hebräischen Grammatik, nämlich die Verballehre, zur Debatte steht. Im Jahre 1961 veröffentlichte F. Rundgren-Uppsala seinen „Abriß der Aspektlehre" 2 , der den Untertitel „Das althebräische Verbum" trägt. Im Anschluß an frühere Veröffentlichungen 3 legt hier der Uppsalaer Forscher die „Lehre von der aspektuellen Grundlage der altsemitischen Tempusschöpfung sowie die Lehre von der strukturellen Hierarchie der Aspektkorrelationen" (S. 13) vor. Der erste allgemeine Teil umfaßt die „Theoretischen Grundlagen" (S. 21—78), während der spezielle Teil dem Thema „Das althebräische Verbalsystem" (S. 79 —111) gewidmet ist. Vom Boden der strukturalen Linguistik her werden die bisherigen Methoden im Bereiche der Semitistik bzw. Hebraistik, darunter vor allem die empirische Forschung, grundlegend kritisiert: „Die empirische Orientierung wäre ... natürlich nicht zu bedauern, wäre das auf diesem Wege eingesammelte Material mit theoretisch einwandfreien echt linguistischen Methoden interpretiert worden. Denn ohne eine wissenschaftliche Theorie ist die Empirie nicht viel wert" (S. 21). Dementsprechend setzt R. der „Unzulänglichkeit der bisherigen Methoden" (S. 23 — 25) eine „echt linguistische Methode" ( S . 2 5 f . ) entgegen, die Ordnung in das semitische und im engeren Sinne in das hebräische Verbalsystem bringen und zugleich Versäumtes nachholen soll; denn bisher ist noch „kein Versuch | unternommen worden, die Lehre von den semitischen Verbalaspekten in möglichst

1

Vgl. zum Folgenden R . Meyer, Hebräische Grammatik I. Einleitung, Schrift- und Lautlehre, §§ 3,2d; 4,3c;

II.

Formenlehre,

§§100-101

( = Göschen

Nr. 763/763a;

764/764a

[im

D r u c k ] ) , Neubearbeitung von: G . Beer —R. Meyer, Hebr. Grammatik. 2. Aufl. Berlin 1952/ 55. 2

Rundgren, Frithiof: Das althebräische Verbum. Abriß der Aspektlehre. Stockholm — G ö t e b o r g - U p p s a l a : Almqvist & Wikseil [1961], 1 1 2 S . kl. 8°. Schw.Kr. 1 2 . - .

3

Vgl. die a . a . O . , S. 112 angegebene Literatur; hier sei verwiesen auf: D e r

aspektuelle

Charakter des altsemitischen Injunktivs. Orientalia Suecana I X . Uppsala 1961, S. 75 —101 (bes. S. 9 3 - 9 8 ) .

184

Aspekt und Tempus im althebräischen Verbalsystem

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systematischer Weise darzustellen, eine Unterlassung, die jedoch eigentlich nicht wundernehmen kann, da der linguistische Begriff des Aspekts bis auf sehr wenige Ausnahmen unter den Semitisten fast unbekannt geblieben zu sein scheint" (S. 9). Hierbei werden freilich einige Forscher, die über eine „echt linguistische Methode" nicht verfügen, in m. E. überscharfer Weise angegriffen. Das gilt zunächst von B. Landsberger, dem wir, was auch R. im Prinzip zugeben muß, grundlegende Erkenntnisse auf dem Gebiete der Verballehre verdanken. Er führte 1926 den Begriff des subjektiven Aspekts im Gegensatz zur objektiven Aktionsart ein und stellte den prinzipiellen Unterschied heraus, der in dem semitischen Verbalsystem zumindest primär zwischen Handlung/Vorgang einerseits und Zustand andererseits besteht; hierfür prägte er die Begriffe „Fiens" und „Stativ", die heute aus der Diskussion nicht mehr hinwegzudenken sind und die auch für R.s System konstitutiv sind 1 . In noch stärkerem Maße unterliegt u. a. B. Landsbergers Schüler, W. v. Soden, der Kritik; sein „Grundriß der akkadischen Grammatik" 2 wird als ein Werk bezeichnet, „das man vom rein philologischen Standpunkt aus nur als ein Meisterwerk bezeichnen kann, das aber in linguistischer Hinsicht keine reine Freude aufkommen läßt, obwohl ... seine sprachwissenschaftliche Position nicht altertümlicher ist als die der meisten anderen semitischen Lehrbücher" (S. 11). Demgegenüber entfaltet R. im Anschluß an F. de Saussure, M. S. Ruiperez, N. S. Trubetzkoy u.a. 3 seine linguistische Methode, die mit ihrer bunten Begriffssprache nicht selten die Grenzen der Verständlichkeit erreicht. In ihrem Dienste stehen vielseitige Belege, die von den umfassenden philologischen Kenntnissen des Autors zeugen und seinem Lehrgebäude die entsprechende Anschaulichkeit verleihen. Gegenüber dem Absolutheitsanspruch freilich, mit dem R. seine Theorie über das Wesen des hebräischen Verbalsystems vorträgt, wird man von vornherein einige Bedenken anmelden müssen: Gewiß kommt auch derjenige, der die von ihm nicht sehr hoch bewertete „empirische" oder „rein philologische" Methode noch immer als den wissenschaftlichen Weg ansieht, der auf die Dauer wertbeständig ist, nicht ohne Theorie aus; aber er wird sich stets mit Recht die Frage stellen, ob nicht jede Theorie — die seine ebenso wie die „echt linguistische Methode" — im Grunde | nichts anderes darstellt als eine Arbeitshypothese, die laufend am Quellenbefund zu prüfen und gegebenenfalls nach Maßgabe objektiver neuer Einsichten zu modifizieren ist. Unter diesem Gesichtswinkel sei es gestattet, an Hand einiger Beispiele zu untersuchen, ob und wieweit R.s Aspektlehre geeignet ist, das 1

B. Landsberger, Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt. Islamica II. 1926, S. 355— 372.

2

W. v. Soden, Grundriß der akkadischen Grammatik. Rom 1952 ( = Analecta Orientalia

3

Vgl. a . a . O . , S. 9 — 19 (Einleitung).

33).

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Problem des hebräischen Verbalsystems, das ja den Philologen ebenso belastet wie den Exegeten, einer Lösung näherzubringen. Bevor jedoch die Aspektlehre als solche betrachtet werden kann, muß die Frage nach der Basis gestellt werden, auf der R.s System beruht. Den Ausgangspunkt für die Aspektlehre R.s bildet das Althebräische, wie es uns heute im alttestamentlichen Kanon begegnet; und zwar wird es „synchronisch" ( S . 7 9 f . ) behandelt. Gewiß wird zugegeben, daß es „genau besehen nicht zulässig ist, das Althebräische als eine einheitliche synchronische Sprachschicht" anzusehen, und programmatisch wird gefordert, daß künftig jedes Buch des Alten Testaments „mit Hilfe einer relevanten Statistik mit Rücksicht auf die zu untersuchenden Eigentümlichkeiten genau strukturiert werden" müsse; aber praktisch gewinnt R. seine Ergebnisse, indem er mit dem kanonischen Text rein flächenhaft operiert. Eine solche Methode ist sicher überall dort erlaubt, wo man eine relativ homogene Sprachschicht vor sich hat, sei es nun das ciceronianische Latein, das attische Griechisch, das Arabisch des Korans oder das Deutsch der Gegenwart; nicht aber gilt dies für das Hebräisch des Alten Testaments, mag es auf den ersten Blick auch noch so einheitlich erscheinen. Im Alten Testament liegt nämlich weder d i e israelitisch-jüdische Literatur noch eine bestimmte Schicht derselben vor, sondern eine sakrale Sammlung von Texten, die ihrerseits nur als sehr bruchstückhafte Relikte eines Literaturganzen bezeichnet werden können. Hierzu kommt, daß diese Texte — von wenigen Ausnahmen abgesehen — wiederum aus einzelnen, bisweilen recht kleinen Einheiten bestehen, die sich zeitlich auf rund ein Millennium und örtlich auf verschiedene Dialektgebiete verteilen. Daneben gilt, daß dieses Material in nachexilischer Zeit verschiedentlich durch Männer redigiert worden ist, deren Mutter- und Umgangssprache aramäisch war und daß die endgültige Fixierung des weithin unvokalisierten Konsonantentextes erst in das Jahr + 100 n.Chr. fällt. Welche Bedeutung gerade der rabbinischen Endredaktion des Kanons in sprachgeschichtlicher Hinsicht zukommt, zeigt ein Vergleich zwischen den Texten von Qumran (vor 70 n. Chr.) und denjenigen von Murabba'ät (um 130 n. Chr.). Während erstere ein morphologisch teilweise noch ausgesprochen buntes Bild aufweisen, zeigt sich in den Texten aus der Zeit des Aufstandsführers Simon ben Kosiba bereits jene Normierung, die uns allen aus der Tradition geläufig ist. Doch damit nicht genug! Mit der Fixierung des Schriftbildes zu Beginn des 2. J h . war die Aussprache und damit zugleich die Interpretation der heiligen Texte noch keineswegs festgelegt. In dieser Hinsicht kam man | erst im 8. bis 10. J h . (!) zu einem gewissen Abschluß, wobei stark mit syrischen und arabischen Einflüssen zu rechnen ist 1 . Wenn sich nun in unseren heutigen Ausgaben des Alten Testaments die Aussprache der Gelehrten-Familie der Ben Aser aus Tiberias gleichsam als normativ darbie1

P. Kahle, Die K a i r o e r Genisa. Berlin 1962, S. 1 9 5 - 1 9 9 .

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tet, so darf nicht übersehen werden, daß die als selbstverständlich hingenommene Geltung dieses Systems letztlich auf eine späte Autorität wie Maimonides (1153 — 1204) zurückgeht 1 . Die moderne Hebraistik hat erkannt, daß z. B. das Samaritanische oder die hochinteressante Ausspracheform, wie sie etwa im Codex Reuchlinianus vorliegt und die man neuerdings als „Pseudo-Ben-Naftali" bezeichnet 2 , nicht weniger ernstzunehmen sind als die Umschriften bei Origenes oder Hieronymus und die babylonische Tradition. Daß dieser Sachverhalt, der hier nur in groben Strichen verdeutlicht werden kann, auch für die strukturale Betrachtung des Hebräischen keineswegs irrelevant ist, ergibt sich aus einem einfachen Beispiele, daß wir S. 46 f. des „Abrisses" entnehmen. Unter dem Thema „Die Neutralisation der signifikativen Opposition" heißt es hier: „Im Althebräischen kommt ρ nur im Anlaut und nach einfachem Konsonanten vor, in übrigen Stellungen ... / oder pp. Da nun im Anlaut und nach einfachem Konsonanten die phonetische Opposition pjf immer aufgehoben oder .neutralisiert' ist, und p und / unvertauschbare Laute darstellen, liegt hier keine Neutralisation von selbständigen Phonemen vor, sondern nur eine mechanische Distribution v o n kombinatorischen Varianten eines einzigen Phonems ..."

Sprachgeschichtlich ist hierzu festzustellen, daß das Althebräische die „phonetische Opposition"^//überhaupt nicht gekannt hat. Der W a n d e l p > f erfolgte innerhalb der hebräischen Sprache erst in der 2. Hälfte des 1. Jährt, v. Chr. höchstwahrscheinlich unter aramäischem Einflüsse und kulminierte im 3. Jh. n. Chr. mit fast durchgängiger Spirierung des p, das nur in einigen wenigen traditionellen Formen, wohl meist Fremdwörtern, explosiv ausgesprochen wurde. Weder kennen Origenes und Hieronymus noch die ältere babylonische Tradition die doppelte Aussprache des p, und die samaritanische Ausspracheüberlieferung geht ebenfalls ihre eigenen Wege 3 . Erst der Syrer Jakob von Edessa (640 — 705) hat, soweit wir heute sehen können, im Prinzip jene Regeln für die doppelte Aussprache der Explosivlaute BGDKPT festgelegt, wie sie heute auf Grund der BenAser-Tradition in jeder Elementargrammatik zu finden sind 4 . Linguistischspekulativ läßt sich jedenfalls | die doppelte Aussprache von p für das Althebräische nicht auswerten, weder im positiven noch im negativen Sinne. 1

Vgl. z . B . I. Ben-Zvi, The Codex of Ben Asher. Textus I. Jerusalem 1960, S. 1 - 1 6 ; P. E.

2

A . Diez Macho, A New List of so-called ,Ben-Naftali' manuscripts, preceded by an inquiry

Kahle, Die Kairoer Genisa, S. 116. into the true character of these manuscripts. Hebrew and Semitic Studies. Presented to G . R . Driver. O x f o r d 1963, S. 1 6 - 5 2 . 3

P. E. Kahle, Die Kairoer Genisa, S. 187 — 195; A . Murtonen, Materials for a Non-Masoretic Hebrew Grammar II. A n Etymological Vocabulary to the Samaritan Pentateuch. Helsinki I960, S. 161.

4

P. E. Kahle, Die Kairoer Genisa, S. 194.

[121]

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187

Das Hebräische hat aber nicht nur eine reichlich komplizierte Nachgeschichte, die es unmöglich macht, die Texte des Alten Testaments flächenhaft zu „strukturieren", sondern eine ebenso verwickelte Vorgeschichte, die sich infolge der Entdeckungen auf dem Gebiete der Westsemitistik, wie sie uns die Wissenschaft des Spatens seit Ende der zwanziger Jahre laufend vermittelt, allmählich aufzuhellen beginnt. Danach stellt sich das Althebräische als eine an Palästina gebundene Mundartengruppe des „Kanaanäischen" dar, die im Rahmen dieses größeren sprachlichen Ganzen lange vor der Landnahme bzw. vor dem Auftreten der Israeliten eine Entwicklung vom Alt- zum Jungwestsemitischen durchlaufen hat. Der Übergang von einer älteren zu einer jüngeren Sprachstufe macht sich besonders im Verbalsystem bemerkbar 1 . Da es demzufolge heute nicht mehr möglich ist, das Hebräische des Alten Testaments losgelöst von seiner Vorgeschichte zu behandeln, kann auch das Teilproblem der verbalen Aspekte sachgerecht nur im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung des „Kanaanäischen" diskutiert werden. Um die „strukturell bedingten Funktionen" des hebräischen Verbalsystems zu bestimmen, geht R. von dem Grundsatz aus, daß man zu unterscheiden habe zwischen der „Sprache (langue)" gleichsam als der Idealform und den „Sprechakten (parole)", in denen sich die „Sprache" realisiert. Aus den Texten lassen sich nur die „sog. Tatsachen der Sprechakte" erschließen. Da diese aber „die Werte (valeurs) der linguistischen Zeichen im System der Sprache (langue) nicht in ihrer Reinheit" liefern, kann man die „wirklichen Werte der althebräischen Verbformen ... nur mittels einer Strukturierung dieser Formen in relevanten Oppositionssystemen feststellen" (S. 81 f.). Um eine solche „Strukturierung" durchführen zu können, bedient er sich des Begriffes der „privativen Opposition", wobei er „positive und negative Werte" unterscheidet (S. 15). So gilt der kursive Aspekt als positiv, während der konstative Aspekt im „System der Sprache (langue) zwei Werte aufweist, einen negativen Wert, der die Negation der Kursivität ausdrückt und sich daher als punktuell manifestiert, sowie einen neutralen Wert, der sowohl gegenüber dem positiven Wert (kursiv) als auch gegenüber dem negativen Wert (punktuell) indifferent ist" (ebd.). Logisch vorgeordnet ist diesem Aspektsystem das Fiens als Ausdruck für das Geschehen in Gestalt einer Handlung oder eines Vorgangs, das seinerseits in Opposition zum Stativ als Ausdruck für einen Zustand steht. Somit ergibt sich folgendes Schema (vgl. S. 71): Stativ: Fiens Fiens - » Kursiv: Konstativ Konstativ

1

Punktuell: Neutral |

Vgl. R . Meyer, Das hebräische Verbalsystem im Lichte der gegenwärtigen Supplements to Vetus Testamentum V I I . Leiden 1960, S. 309 —317.

Forschung.

188

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[122]

A u f das Hebräische übertragen, stehen sich demnach qatal als Stativ undyaqtul als Fiens gegenüber. Im Vicm yaqtul ist kursives jaqtul > yaqtulu v o n konstativem jaqtul zu trennen, das seinerseits wieder zwei Werte aufweist, nämlich einen punktuellen Wert yaqtul, der im Koinzidenzfalle durch qatal vertreten wird, und einen neutralen Wert jaqtul, qatal, der „auch als M o d u s realisiert" werden kann (S. 109 f.). D i e jeweiligen Zeitstufen ergeben sich daraus, daß die „Aspektstellenwerte" auch temporal interpretierbar sind. S o ergibt kursives jaqtul > jaqtulu in der Gegenwartsschicht ein „kursives Präsens", in der Vergangenheitsschicht dagegen ein „kursives I m p e r f e k t u m " , während konstatives jaqtul im ersten Falle ein „punktuelles Präsens", im zweiten aber ein „narratives Präteritum" verkörpert. D a s hier in den H a u p t z ü g e n vorgetragene Aspektschema besticht ohne Zweifel auf den ersten Blick durch seine Einfachheit; doch wird man auf G r u n d der oben herausgestellten Vielschichtigkeit des Althebräischen fragen müssen, o b es, durch synchronische Betrachtungsweise gewonnen, der Geschichte der Sprache und damit ihrem L e b e n gerecht wird. Mit Recht geht R. von der schon durch B. Landsberger festgestellten Korrelation von Fiens und Stativ aus; nur sollte man stärker, als R. es tut, betonen, daß primär — unbeschadet des Ausgleichs im Bereiche der Sprachentwicklung — Fiens und Stativ nicht die gleichen Wurzeln zur Voraussetzung haben. S o würde ich dort, w o es u m G r u n d ü b e r l e g u n g e n geht, nicht yaqtul und qatal, sondern jaqtul und qatil (qatul, qatal), wie es allgemein üblich ist, einander gegenüberstellen, zumal da noch im Ugaritischen qatil gegenüber qatal zu dominieren scheint 1 . D e r Darstellung des fientischen Systems legt R. nach bewährtem Muster die präformative F o r m yaqtul zugrunde, die er als „ I n j u n k t i v " bezeichnet 2 . Dieses yaqtul stellt — und hierin ist ihm grundsätzlich zuzustimmen — v o n H a u s aus einen „ A o r i s t " im vollen Sinne des Wortes dar; denn als reines Fiens sagt es nichts aus über Aspekt — kursiv, konstativ — oder Zeitstufe — Präsens, Präteritum, Futur —, vielmehr sind in der F o r m an sich alle angegebenen Möglichkeiten enthalten. D a r ü b e r hinaus hat es nicht nur affirmativen, sondern auch modalen Aussagewert, kann also auch als J u s s i v fungieren; es entspricht damit ganz dem Infinitiv/Imperativ, dessen G r u n d f o r m q{ü)tul (qutl) lautet. F ü r den Grammatiker ist es freilich wesentlich, welche Bedeutungen v o n yaqtul sich in der geschichtlichen E r s c h e i n u n g s f o r m der Sprache realisiert haben. Sie kann kurz dahingehend beantwortet werden, daß mit der Differenzierung der Ausdrucksweise innerhalb der Präformativkonjugationyaqtul im wesentlichen punktuell/präteritale und jussivische Funktio-

1

C. H. G o r d o n , Ugaritic Manual. R o m 1955, § 9,3 ( = Analecta Orientalia 35).

2

Vgl. S. 1 0 1 - 1 0 3 und hierzu ausführlich Orientalia Suecana I X , S. 7 5 - 1 0 1 .

[122-124]

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nen herausgebildet | hat. Daher erscheint es mir immer noch als berechtigt, dieses yaqtul auf der historischen E b e n e a parte potiori als „Präteritum/ J u s s i v " zu bezeichnen, ohne daß man sich dem Vorwurf auszusetzen braucht, etwa das Präteritum zu „hypostasieren" oder ein sog. PunktualT h e m a zu verabsolutieren 1 . Bei der Ableitung der A s p e k t e aus dem „ I n j u n k t i v " beschränkt sich R. für das Hebräische auf die O p p o s i t i o n von kursivem yaqtul > yaqtulu zu konstativemjÄ^/»/. D a ß sich die volle Yotmyaqtulu ausyaqtul entwickelt hat, ist allgemein anerkannt und bedarf keiner Diskussion. E b e n s o kann mit Sicherheit gesagt werden, daß nach Ausweis des Ugaritischen yaqtulu den eigentlichen E r z ä h l u n g s m o d u s , den „ N a r r a t i v " (Indikativ) darstellt 2 . D a s aber hat bestimmte Folgen für die aspektuelle Einschätzung der F o r m yaqtulu·, denn als Narrativ ist sie eher konstativ als kursiv, so daß sie je nach Stellenwert punktuell als Präsens/Futur oder Präteritum, nicht dagegen als kursives Präsens oder Imperfektum fungiert. D a m i t aber erhebt sich die F r a g e , wie der kursive Aspekt ausgedrückt wird. Trotz der Einwände, die R. an anderer Stelle erhoben hat 3 , kann man jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, daß altwestsemitisch hierfür die ¥ormyaqattal{u) verwendet worden ist, die entweder alsyaqattaliu) oder auchyaqätal(u) einzelsprachlich noch zu einer Zeit nachwirkt, als sie im Rahmen einer jüngeren Sprachstufe längst ihr syntaktisches Eigengewicht verloren hat 4 . D i e Schwierigkeit, diesen Aspekt, der für das Altwestsemitische charakteristisch zu sein scheint, m o r p h o l o g i s c h und syntaktisch einigermaßen zu erfassen, soll keineswegs übersehen werden; aber dies kann nicht g e g e n seine einstige Existenz ausgemünzt werden, da — ganz abgesehen v o n entsprechenden Rudimenten im Hebräischen selbst — neuerdings W. L . Moran in Auseinandersetzung mit A . Finet wahrscheinlich gemacht hat, daß in den MariBriefen begegnende, nicht der akkadischen Syntax entsprechende Subjunktiv-Formen ( i p a r r a s u ) zwanglos aus dem muttersprachlichen Rückfall der westsemitischen Schreiber dieser Texte zu erklären sind 5 . Trifft es zu, daß yaqattal{u) als der kursive Aspekt des Altwestsemitischen anzusprechen ist, dann ist allerdings festzustellen, daß auf dieser Stufe nicht yaqtul und yaqtulu < yaqtul, sondern yaqtulu und \ yaqattaliu) als konstativ und kursiv einander gegenüberstehen. D a sich yaqattaliu) als kursives Präsens oder

1 2

3 4

5

Vgl. W. v. Soden, Grundriß der akkadischen Grammatik, § 79, a. b. C. H. Gordon, Ugaritic Manual, § 9,2; vgl. ferner J. Aistleitner, Untersuchungen zur Grammatik des Ugaritischen. Berlin 1954, S.56f. ( = B A L Phil.-hist. Kl. 100/6). Vgl. Orientalia Suecana IX, S.91, Anm. 1; Abriß der Aspektlehre, S. 13. Vgl. hierzu R. Meyer, Spuren eines westsemitischen Präsens-Futur in den Texten von Chirbet Qumran. Von Ugarit nach Qumran. Festschrift O. Eißfeldt. Berlin 1958, S. 118— 128 ( = BZAW 77). W. L. Moran, The Hebrew Language in its Northwest Semitic Background. The Bible and the Ancient Near East. Essays in honor of W. F. Albright. London 1961, S. 65 f.

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[124]

Imperfektum realisiert, wird man diese Form füglich als „Durativ" bezeichnen 1 . Mit Narrativ und Durativ ist das altwestsemitische Verbalsystem freilich noch keineswegs erschöpft. Ohne näher auf Einzelheiten einzugehen, erwähne ich nur zur Abrundung des Bildes den „Konsekutiv" (Subjunktiv)yaqtula mit teils final/konsekutivischen, teils wohl auch jussivischen 2 Funktionen, ferner den Energicus I (II)yaqtulan{nä), der teils verstärkend, teils terminativ, im Ugaritischen aber auch als einfache Variante zum Narrativ gebraucht wird, den Imperativ/Infinitiv q(u)tul (qutl), das Partizipium quätilu und das alte yaqtul als Präteritum/J ussiv.

Eine weitere Frage ist die, wie sprachgeschichtlich das Verhältnis von fientischem yaqtul zu stativischem qatal bzw. qatil zu bestimmen ist. Nach der Strukturformel R.s stehen in der Opposition Stativ-Fiens qatal und yaqtul einander gegenüber; gleichzeitig wird gesagt, daß „vielleicht schon früh auch qatal" im Rahmen des fientischen Systems als „punktueller bzw. neutraler Aorist" fungiert habe (S. 106). Will man das mit qatal verbundene Problem einer Lösung näherbringen, so muß man davon ausgehen, daß auch afformatives qatal ein in sich geschlossenes System darstellt. Daran wird auch nichts geändert, wenn etwa — wie im Akkadischen — fientisches paräsu einen Stativ paris „er ist (war) geschieden" bildet oder wenn westsemitisch das Zustandsnomen *^aqin „bärtig, alt, Greis" zu *yi^qan- „er altert, alterte, wird altern", also zum Fiens wird. Die Grenzen zwischen Stativ und Fiens werden dadurch nicht verrückt. Anders dagegen, wenn qatal als punktueller oder neutraler Aorist gebraucht wird und damit zu k o n s t a t i v e m j ^ » / in Konkurrenz tritt. Nun besteht bekanntlich eine Eigentümlichkeit des Westsemitischen gegenüber dem Akkadischen darin, daß auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung der Stativ in der Form qatila\qatala die Grenzen der Zustandsaussage überschreitet und in das fientische Präformativsystem eindringt. Einen Ausschnitt aus diesem Prozeß vermittelt das Ugaritische. Hier wird qatila — weit seltener das später dominierende qatala > qätal — öfter parallel zu narrativem yaqtulu gebraucht. Es liegt nahe, das Auftauchen von sekundär fientischem qatilajqatala mit einem neuen Sprachgefühl zu verbinden, wie es möglicherweise den in der 1. Hälfte des 2. Jährt, v. Chr. vorherrschenden Amurritern zu eigen war. Nach anfänglichen Störungen im Verbalsystem, wie sie aus dem auffälligen Fließen der modalen Grenzen im Ugaritischen erschlossen werden können 3 , ergibt sich ein neues Schema, das man als jungwestsemitisch bezeichnen kann. | 1

2

3

In: Spuren eines westsemitischen Präsens-Futur in den Texten von Chirbet Qumran, habe ich noch die Temporalbezeichnung „Präsens-Futur" gebraucht, doch erscheint mir jetzt, im Anschluß an R., der Begriff „Durativ" sachgemäßer. So neigt neuerdings W. L. Moran, a. a. O., S. 64, wieder dazu, im hebräischen Kohortativ ein Rudiment des älteren kanaanäischen „Subjunktivs" zu sehen. C. H. Gordon, Ugaritic Manual, § 9,9.

[125]

Aspekt und Tempus im althebräischen Verbalsystem

191

Dieses jüngere System, das im Kanaanäischen von Byblos bereits im 14. Jh. v. Chr. erreicht ist, ergibt folgendes Bild: Afformatives qatala hat vom Narrati ν jaqtulu sowie von konstativemja^/«/ die punktual-präteritalen Funktionen übernommen, ohne dabei freilich seinen Charakter als Stativ zu verlieren. Das kompliziert in doppelter Weise den Sachverhalt; einmal kann man nicht qatala schlechthin als „Punktual" bezeichnen, zum anderen besitzt qatala als Stativ zugleich modale Eigenschaften, insofern als es nach Ausweis des Akkadischen aber auch des Ägyptischen nicht nur den Zustand, sondern auch den Wunsch nach einem solchen ausdrücken und damit jussivisch fungieren kann 1 . Der Narrativ seinerseits wird als konstativer Aspekt nur noch präsentisch-futurisch gebraucht und fällt mit kursivemyaqattal{ü), d. h. dem alten Durativ zusammen, der bis auf syntaktisch irrelevante Reste aus dem sprachlichen Erscheinungsbild verschwindet oder aber im Intensivstamm als vermeintliches Pf el (tiberisch j'qattel) aufgeht. Damit ist auf relativ junger Sprachstufe jene komplexe Form yaqtulu > yiqtol entstanden, die sowohl kursive als auch konstative Eigenschaften hat 2 und die aus eben diesem Grunde bis heute noch nicht terminologisch befriedigend festgelegt werden konnte. Mit dieser konstativ/kursiven Form aber muß man rechnen, wenn man dem Hebräischen des Alten Testaments gerecht werden will. Unberührt von diesen Umschichtungen bleiben der K o n s e k u t i v y a q t u l a und der Energic u s y a q t u l a n ( n ä ) , der morphologisch ein besonderes Beharrungsvermögen hat. Auch präteritales yaqtul, obwohl weithin durch qatala ersetzt, verschwindet nicht. In der festen Bildung wayyiqtol erhält es sich als „Imperfektum consecutivum" noch bis weit in nachexilische Zeit, während es im Phönikischen anscheinend schon bald nach der Jahrtausendwende ausgestorben ist 3 . Auch der Jussiv yaqtul besteht weiterhin, teils in der affirmativen, teils in der prohibitiven Form, wobei er lediglich in der letzteren — 'al tiqtol — regelmäßig im Schriftbild erkennbar bleibt.

Damit aber kommen wir zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen qatala > qätal undyaqtulu > yiqtol. Nach dem Gesagten ist das Nebeneinander beider Formen keinesfalls einfach auf synchronisch-strukturellem Wege zu begreifen; es kann nur historisch-empirisch als das Ergebnis eines Umschichtungsprozesses verstanden werden, innerhalb dessen eine an sich statische Form unter Überschreitung der Grenzen der Zustandsaussage einen festen Platz innerhalb des fientischen Systems yaqtul erhalten hat. Hingegen wird man R. dahingehend beipflichten müssen, daß auch auf dieser Sprachstufe die Aspekte, nicht die Tempora, die Grundlage abgeben. 1

W. v. Soden, Grundriß der akkadischen Grammatik, § 81b; E. Edel, Altägyptische Grammatik I. Rom 1955, § 570 ( = Analecta Orientalia 34).

2

Vgl. W. L. Moran, a. a. O., S. 63. J.Friedrich, Phönizisch-punische Grammatik. Rom 1951, § 266,1 ( = Analecta Orientalia 32).

3

192

Aspekt und Tempus im althebräischen Verbalsystem

[125/126]

Allerdings zeigt sich im Hebräischen im Laufe der Weiterentwicklung eine bemerkenswerte N e i g u n g zur eigentlichen Tempusbildung. Sie mag | weithin dem zunehmenden Einfluß des Aramäischen zu verdanken sein; aber Voraussetzungen hierfür liegen schon in präteritalem wayyiqtol, in präsens-futurischem yiqtol und schließlich in präterital gebrauchtem qätal vor. Gegen Ende der althebräischen Periode — 4./3. Jh. v. Chr. — tritt im Rahmen der Vereinfachung des Verbalsystems, der bereits vorher der alte Konsekutiv yaqtula zum Opfer gefallen ist, eine Reduktion im Bedeutungsumfang von qätal und yiqtol ein: qätal fungiert jetzt nur noch als Präteritum bzw. Präsens-Perfektum, während der Jussiv entfallt;yiqtol wird zum Präsens-Futur, wobei der Nachdruck auf seiner futurischen Funktion liegt, was gleichzeitig bewirkt, daß es nunmehr allein als Jussiv gebraucht wird; seinen kursiv-durativen Charakter gibt es an das Partizipium ab, das, in die finiten Formen eingereiht, als duratives Präsens und duratives Imperfektum (mit Hilfszeitwort) erscheint. Präteritales wayyiqtol und jussivischesyiqtol dagegen werden ausgeschieden. Mag auch der klassische Stil bis in die Zeit von Q u m r a n ( l . J h n. Chr.) nachwirken, die Entwicklung zur temporalen Dreistufigkeit ist vorgezeichnet und erreicht im Mittelhebräischen ihren Abschluß. Bereits die Septuaginta-Ubersetzer (ab 3. J h . v. Chr.) wissen nichts mehr von der aspektuellen Grundlage des althebräischen Verbalsystems, und unsere Elementargrammatiken gehen im Prinzip meist von dem späten Temporalsystem des Hebräischen aus, ein Ubelstand, der sich vielfach selbst in wissenschaftlichen Exegesen und Übersetzungen auswirkt. Hier die Diskussion entscheidend befruchtet und der Aspektlehre innerhalb der Verbalsyntax des Hebräischen eine angemessene Rolle zugewiesen zu haben, ist ohne Zweifel R.s Verdienst, mag man auch selbst der Meinung sein, daß die empirisch-historische Methode, so unvollkommen sie auch immer bleiben wird, dem eigentlichen Leben der Sprache wesentlich näher kommt als deren strukturelle Betrachtungsweise mit ihrer Tendenz zur abstrakten Allgemeinform.

[241]

Zur Geschichte des hebräischen Verbums* Die im Jahre 1964 erschienene introduction to the Comparative Grammar of the Semitic Languages' 1 orientiert nicht nur ausgezeichnet über den Fortschritt in der allgemeinen Semitistik seit C. B R O C K E L M A N N 2 , sondern sie gibt auch Veranlassung, im engeren Bereiche der Hebraistik die Struktur des hebräischen Verbalsystems und seine Geschichte neu zu überdenken 3 . Im Anschluß an frühere Arbeiten sei es mir daher gestattet, einigen morphologischen und syntaktischen Problemen des klassischen Verbums in kurzen Strichen nachzugehen 4 . Will man die Eigenart des hebräischen Verbums geschichtlich begreifen, so muß man auf seine gemeinsemitische Basis zurückgehen. Das semitische Verbum verfügt — sieht man von seiner Aufgliederung in Grundstamm und abgeleitete Stämme ab — erstens über eine Präformativund zweitens über eine Afformativ-Konjugation. Primär verbal, d. h. eine Handlung oder einen Vorgang bezeichnend, ist nur die PräformativKonjugation; sie wird durch Vorsilben und erst in zweiter Linie durch Afformative gebildet:ya-qtul ,er tötet\ya-qtul-ü ,sie töten'. Die AfformativKonjugation hingegen stellt von Haus aus die Verbindung eines Zustandsverbs oder eines Adjektivs mit einem enklitischen Personalpronomen oder mit einer Nominalendung dar: *^aqin-tä ,du (Maskulinum) bist alt', *%aqinat ,sie ist alt'.

* Kurzfassung eines am 25. Okt. 1965 v o r dem Plenum der Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig gehaltenen Vortrages. 1

A n Introduction to the Comparative Grammar of the Semitic Languages — Phonology and

Morphology,

by

S . MOSCATI,

A . SPITALER,

E . OLLENDORFF,

W . V. SODEN,

ed.

by

S. MOSCATI, Wiesbaden 1 9 6 4 (Porta Linguarum Orientalium, NS VI). 2

Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen I/II, Berlin 1908 und

3

Vgl. auch H. CAZELLES, Hebreu, in: Linguistica Semitica: Presente e Futuro, studi raccolti

4

Vgl. Zur Geschichte des hebräischen Verbums. Vetus Testamentum 3, 1953, S. 225 —235;

1913. da G . L . DELLA VIDA, Roma 1961 (Studi Semitici 4), S. 9 1 - 1 1 3 . Spuren eines westsemitischen Präsens-Futur in den Texten von Chirbet Qumran, in: Von Ugarit nach Qumran, Festschrift für O. Eißfeldt, Berlin 1958 (Beihefte zur Z A W 77), S. 1 1 8 bis 128; Das hebräische Verbalsystem im Lichte der gegenwärtigen Forschung, in: Congress Volume O x f o r d 1959, Leiden 1960 (Supplements to Vetus Testamentum 7), S. 309 —317; Aspekt und Tempus im althebräischen Verbalsystem. O L Z 59, 1964, Sp. 117-126.

194

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

[241/242]

Beide K o n j u g a t i o n e n , für die B. LANDSBERGER die treffenden Bezeichnungen ,Fiens' und ,Stativ' in die D i s k u s s i o n eingeführt hat 5 ), stehen sich somit als H a n d l u n g / V o r g a n g einerseits und Zustand/Eigenschaft andererseits gegenüber. Vergleicht man mit diesem kurz skizzierten G r u n d s c h e m a das klassische hebräische Verbalsystem, so ergibt sich ein bemerkenswerter Unterschied; denn hier begegnen Präformativ- und A f f o r m a t i v - K o n j u g a t i o n nicht als zwei in sich ruhende Systeme, sondern sie sind im Sinne einer übergeordneten Einheit ineinander verschränkt. S o hat das afformative so-| genannte ,Perfektum' qätal ,er tötete' eine E n t s p r e c h u n g im präformativen ,Imperfektum consecutivum' wayyiqtol ,und er tötete', während umgekehrt präformativem .Imperfektum' und J u s s i v yiqtol ,er wird töten' bzw. ,er töte' das afformative ,Perfektum consecutivum' weqätal ,er soll (wird) töten' entspricht. Z u d e m ergänzen sich ,Perfektum' und ,Imperfektum' insofern, als qätal vornehmlich — wenn auch keineswegs ausschließlich — als konstativer Aspekt oder Punktual mit präteritaler Bedeutung gebraucht wird, während yiqtol in der Hauptsache als kursiver Aspekt oder Durativ mit präsentisch/futurischer Funktion begegnet. Trotz dieser S p a n n u n g bestehen zwischen G r u n d s c h e m a und klassischem System unmittelbare Beziehungen als Teil eines historischen Prozesses, dem das Hebräische als M u n d a r t e n g r u p p e des Kanaanäischen auf dem Wege v o n der altwestsemitischen zur jungwestsemitischen Sprachstufe unterworfen war. Dieser Weg sei im folgenden kurz aufgezeigt. | N a c h dem derzeitigen Stand der F o r s c h u n g umfaßt die PräformativK o n j u g a t i o n v o n H a u s aus ein syntaktisches System, das den gesamten Bereich des Fientischen einschließt. Als Basis darf präformatives yaqtul zum A u s g a n g s p u n k t g e n o m m e n werden. Als reines Fiens sagt diese F o r m primär nichts aus über A s p e k t (konstativ, kursiv) oder Zeitstufe (Präsens, Präteritum, Futur), vielmehr sind in yaqtul noch alle angegebenen Möglichkeiten enthalten. D a r ü b e r hinaus hatyaqtul nicht nur affirmativen, sondern auch modalen Aussagewert; es kann also auch als J u s s i v fungieren und entspricht damit ganz dem Infinitiv/Imperativ qtul, von dem es sich nur durch das Präformativ ya- unterscheidet. In der geschichtlichen Erschein u n g s f o r m der Sprache ist yaqtul dahingehend realisiert worden, daß es im wesentlichen punktuell/präteritale sowie jussivische Eigenschaften herausgebildet hat und damit als Präteritum/Jussiv fungiert. A u f der Basis von yaqtul hat sich nun ein modales System entwickelt, das wir als altwestsemitisch bezeichnen möchten. E s verfügt über einen Indikativ oder besser Narrativ, bei dem einfaches yaqtul durch -u 7.xxyaqtulu erweitert ist. D e r Narrativ, dessen E n d u n g e n sowohl aus Ugarit als auch aus Mari erschlossen werden können, hat nach W. v. SODEN primär präsen-

5

Vgl. die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt. Islamica 2, 1926, S. 3 3 5 - 3 7 2 .

[242]

195

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

tisch/futurische Funktionen, wobei ihm möglicherweise der Charakter eines Punktual eignete 6 . A u f G r u n d der ugaritischen Texte wird man dies dahingehend modifizieren dürfen, daß jaqtulu als konstativer Aspekt beziehungsweise Punktual alle Zeitstufen umfaßte. Wenn es zutrifft, daß der Narrativ jaqtulu konstativ fungierte, so fragt es sich, wie altwestsemitisch der kursive Aspekt bzw. der Durativ ausgedrückt wurde. Diese Frage — in den letzten Jahren Gegenstand einer umfangreichen Diskussion 7 — läßt sich m. E. am besten wie folgt beantworten: Wir besitzen für das Kanaanäische Belege, die auf eine F o r m jaqattalu hindeuten, die dem akkadischen Durativ iparras und dem äthiopischen Indikativ yeqattel entspricht. K a n n man diese F o r m in den fast rein konsonantisch geschriebenen Texten von Ugarit nur vermuten, so zeigen aus dem 14. J h . v. Chr. stammende kanaanäische Glossen der Amarna-Korrespondenz das Nebeneinander von jaqtulu u n d j a q a t t a l u im Sinne des Punktuals und Durativs 8 . Hierzu kommen iparrasu-Fotmen in den Mari-Texten, die schwerlich akkadische Subjunktive darstellen, sondern besser als kanaanisierendejÄ^Z/ö/A-Bildungen zu verstehen sind 9 . Mit den Belegen aus dem 18. J h . v. Chr. dürfte die These entscheidend gestützt sein, daß das Kanaanäische auf altwestsemitischer Stufe einen Durativ jaqattalu besaß, der dem Narrativ jaqtulu gegenüberstand. Darüber hinaus begegnet von Ugarit bis zu den Texten von Amarna eine weitere F o r m jaqtula. Man bezeichnet sie meist als ,Subjunktiv'; aber da dieser Ausdruck in der Semitistik durchaus unterschiedlich gebraucht wird, empfiehlt es sich, mit B. K I E N A S T die Benennung ,Finalis' zu verwenden 1 0 . Dieser Finalis kann als Kohortativ und als J u s s i v oder Volitiv fungieren; er wird aber auch erzählend gebraucht, wobei er mitunter als Energicus anzusprechen ist. | Neben dem Finalis läßt sich für das Altkanaanäische noch ein Energicus jaqtulan bzw. jaqtulanna nachweisen, der verstärkenden und teilweise auch terminativen oder intentionalen Charakter hat 1 1 . Im Gegensatz zum präformativen System bildet die AfformativKonjugation qati{u\d)la als Stativ keine Modi. Immerhin hat der Stativ — ebenso wie das alte Fiens jaqtul — sowohl eine affirmative wie eine

6

Akten

des

24.

Internationalen

Orientalisten-Kongresses

München

1957,

hrsg.

v.

H . F R A N K E , W i e s b a d e n 1 9 5 9 , S. 2 6 4 . 7

Vgl. Comparative Grammar, § 16,30 — 31.

8

E b d . § 16,30.

9

Vgl. W. L . MORAN, T h e Hebrew L a n g u a g e in Its Northwest Semitic Background, in: T h e Bible and the Ancient Near East, Essays in honor of W. F. Albright, ed. by G . E . WRIGHT, L o n d o n 1961, S . 6 5 f .

10

Vgl. das Punktualthema *japrus und seine Modi. Orientalia N S 29, R o m 1961, S. 154 f.

11

Vgl. ζ. Β. C. Η. GORDON, Ugaritic Manual, R o m 1955 (Analecta Orientalia 35), § 9,8.

und öfter.

196

Zur Geschichte des hebräischen Verbums

[242/243]

jussivische Seite; er bezeichnet nicht nur einen Zustand oder eine Eigenschaft, sondern auch den Wunsch danach 1 2 . D a s hier aufgezeigte altwestsemitische Verbalsystem ist in seiner reinen Gestalt nicht mehr erhalten, sondern aus dem Ugaritischen unter Zuhilfenahme amurritischen Materials und kanaanäischer Belege aus Amarna erschlossen. Der G r u n d dafür, daß es nicht mehr unberührt vorliegt, ist vor allem darin zu suchen, daß offenbar vor der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. der Stativ die Grenzen der Zustandsaussage überschritten hat und in das fientische Präformativsystem eingedrungen ist. Im Ugaritischen läßt sich nämlich beobachten, wie afformatives qatila — weit seltener das später dominierende und dementsprechend als Paradigma gebrauchte qatala — parallel zu narrativem yaqtulu verwendet wird, ohne daß sich syntaktische Regeln erkennen lassen, wonach dies geschieht 1 3 . Daß es sich hierbei nicht um einen organischen innersprachlichen Prozeß handelt, sondern um eine Systemüberschneidung, die im Ugaritischen noch ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat, dürfte kaum zu bestreiten sein 1 4 . Ich möchte daher in dem Eindringen von primär statischem qatijala in das Präformativsystem den Ausdruck für ein neues, jungwestsemitisches Sprachempfinden sehen. Will man diese Systemüberschneidung mit dem sprachlichen Einfluß bestimmter semitischer Verbände in Zusammenhang bringen, dann liegt es nahe, an die in der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. dominierenden Amurriter zu denken. Der hierdurch ausgelöste Umbildungsprozeß, der in den einzelnen kanaanäischen Dialekten individuell vonstatten ging und zu unterschiedlichen Zeiten zum Abschluß kam, weist gleichwohl eine gemeinsame Grundlinie auf. Hierzu gehört, daß afformatives qatala v o m Narrativ yaqtulu sowie v o m Präteritum/Jussivja^/»/ die punktuell/präteritalen Funktionen übernahm. Der im wesentlichen nur noch präsentisch/futurisch gebrauchte, also syntaktisch reduzierte Narrativ fiel mit kursivemyaqattalu zusammen | und wurde nun seinerseits zum Durativ, während, jaqattalu selbst entweder aus dem Sprachbilde verschwand oder sekundär im Intensivstamm yaqattilu unter analogischer Ergänzung der übrigen Formen dieses Stammes aufging. Dieses Stadium ist, wie W . L . M O R A N anhand byblischer Belege aus dem 14. J h . gezeigt hat, bereits in vorhebräischer Zeit erreicht 1 5 ; es findet seinen Ausdruck in dem Nebeneinander von Punktual qatala und Durativ yaqtulu, das als typisches Zeichen der jungwestsemitischen Sprachstufe anzusehen ist 1 6 . 12

W. v. SODEN, Grundriß der akkadischen Grammatik, R o m 1952 (Analecta Orientalia 33), § 81b.

13

Vgl. Ugaritic Manual, § 9,2.

14

Vgl. hierzu Congress Volume O x f o r d 1959, S. 313 ff.

15

Vgl. The Bible and the Ancient Near East, S. 64.

16

Vgl. auch J.FRIEDRICH, Bibliotheca Orientalis 9, Leiden 1952, S. 156.

[243]

197

Z u r Geschichte des hebräischen Verbums

Wenn wir nun im klassischen Hebräisch ein Verbalsystem vor uns haben, in d e m qätal

< qatala hauptsächlich als P u n k t u a l , yiqtol