Behauptete Subjektivität: Eine Skizze Zur Deutschsprachigen Jüdischen Autobiographie Im 20. Jahrhundert [Annotated] 3484651741, 9783484651746

This book-series, initiated in 1992, has an interdisciplinary orientation; it is published in English and German and com

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Behauptete Subjektivität: Eine Skizze Zur Deutschsprachigen Jüdischen Autobiographie Im 20. Jahrhundert [Annotated]
 3484651741, 9783484651746

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
1. Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung
2. Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert
3. Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik in der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie
4. Das Zeitalter des Nationalsozialismus in der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie
Backmatter

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Conditio Judaica 74 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Markus Malo

Behauptete Subjektivitt Eine Skizze zur deutschsprachigen jdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

n

D 93 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65174-6

ISSN 0941-5866

( Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul=ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf=ltigungen, >bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest=ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhalt

Einleitung 1

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Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung .............................................................................................. 1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung ..... 1.1.1 Philosophische und historische Grundlagen der abendländischen Autobiographie ......................................... 1.1.2 Die Autobiographie als Zweckform und historische Quelle ................................................................................... 1.1.3 Die literarisierte Autobiographie als Gegenstand der Literaturwissenschaft ...................................................... 1.1.4 Goethes Dichtung und Wahrheit als Ideal klassizistisch-harmonischer Lebensdeutung aus dem Geist des Idealismus ............................................................. 1.1.5 Von Goethes Dichtung und Wahrheit zu modernen Formen autobiographischen Schreibens ............................................ 1.1.6 Autobiographisches Schreiben unter den Bedingungen der Moderne ......................................................................... 1.2 Zur Verortung der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert innerhalb der Geschichte und Theorie der Gattung .................................................................................... Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert ....................................................... 2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum ...................................... 2.2 Autobiographie als Zeugenschaft: Repräsentativität und Kollektivität des eigenen Lebens ................................................... 2.2.1 Die jüdische Autobiographie ................................................ 2.2.2 Kollektivität in der proletarischen Autobiographie .............. 2.3 Der Ort der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert – eine historische Herleitung ...........................

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Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik in der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie ....................................... 91 3.0 Einleitung ....................................................................................... 91

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Inhalt

3.1 Jakob Wassermann ......................................................................... 97 3.1.1 Jakob Wassermanns Autobiographie als Stellungnahme zur Frage des deutsch-jüdischen Verhältnisses im Kontext der zeitgeschichtlichen Situation ............................ 100 3.1.2 Mein Weg als Deutscher und Jude ....................................... 105 3.2 Werner Kraft .................................................................................. 127 3.2.1 Die Aporie der Entelechie: Werner Kraft und die autobiographische Tradition ................................................. 127 3.2.2 Spiegelung der Jugend ......................................................... 138 3.3 Gershom Scholem .......................................................................... 154 3.3.1 Scholems Negation der Assimilation: Kein Weg als Deutscher und Jude .............................................................. 155 3.3.2 Von Berlin nach Jerusalem .................................................. 159 3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie .... 177 3.4.1 Judentum und Sozialismus ................................................... 177 3.4.2 Max Fürst: Gefilte Fisch und Talisman Scheherezade ......... 181 3.4.3 Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland ............................ 192 4

Das Zeitalter des Nationalsozialismus in der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie ...................................................................... 201 4.0 Einleitung ....................................................................................... 201 4.1 Ludwig Greve ................................................................................ 207 4.1.1 »Warum schreibe ich anders?« ............................................. 208 4.1.2 Wo gehörte ich hin? ............................................................. 213 4.2 Ruth Klüger .................................................................................... 233 4.2.1 Frauen lesen anders – Schreiben Frauen anders? ................ 234 4.2.2 weiter leben .......................................................................... 248 4.3 Georges-Arthur Goldschmidt ......................................................... 272 4.3.1 Vom Leben in zwei Sprachen – Ein Stuhl mit zwei Lehnen .... 274 4.3.2 Die autobiographischen Erzählungen ................................... 279 4.3.3 Über die Flüsse .................................................................... 299

Literaturverzeichnis ..................................................................................... 315 Danksagung ................................................................................................ 333 Personenregister ........................................................................................... 335

Einleitung

In der vorliegenden Arbeit sollen die wesentlichen Grundzüge der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert nachgezeichnet werden. Dazu ist zunächst ein Überblick über die Geschichte der Autobiographie als literarische Gattung nötig. Im ersten Kapitel werden sowohl die Geschichte der Autobiographie als auch die Geschichte ihrer Erforschung seit Wilhelm Dilthey und Georg Misch im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Hierbei lässt sich eine zunehmende Verschiebung der Gattungsgrenzen wie auch ihrer Deutung von der rhetorischen (Autobiographie als unmittelbares Lebenszeugnis) zur literarischen Form (Autobiographie als gestaltete Deutung des eigenen Lebens) feststellen. Einen zentralen Wendepunkt stellt hierbei Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit dar, die Autobiographen wie Literaturwissenschaftlern lange als unerreichbares Ideal einer gelungenen Autobiographie galt, in der die Literarisierung der Gattung paradigmatisch verwirklicht ist. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang der Autobiographie in Anlehnung an die Gestaltung des modernen Romans eine Abkehr vom goetheschen Paradigma, die die Forschung – wenn auch mit deutlicher Verspätung – nachvollzog und nun auch der nachgoetheschen Autobiographie einen ästhetischen Eigenwert zubilligte. Das zweite Kapitel dieser Arbeit behandelt dann die Frage, wie sich die jüdische Autobiographie in die Gattungsgeschichte einordnen lässt. Die deutschsprachige jüdische Autobiographie ist ein Genre, das im Gefolge der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, im 18. Jahrhundert entsteht und sich mangels einer eigenen jüdischen autobiographischen Tradition und der vorherrschenden Tendenz der Assimilation bzw. Akkulturation an den Vorbildern der christlichen Umwelt orientiert. Auf der anderen Seite gehen in die deutschsprachige jüdische Autobiographie Tendenzen ein, die sich aus der jüdischen Tradition der Diaspora herleiten lassen und denen die besondere Aufmerksamkeit dieses Kapitels gilt. Hier stehen vor allem das Phänomen des kollektiven Gedächtnisses vor allem an erlittenes Unrecht und darauf aufbauend die Idee der Repräsentativität des eigenen Lebens und Schicksals im Zentrum der Argumentation. Die tatsächlichen sozialhistorischen Bedingungen jüdischer Existenz in Deutschland können mit dem Begriff der ›negativen Integration‹ beschrieben werden, der sich eigentlich in den historischen Forschungen zur Arbeiterklasse in Deutschland formuliert findet. Er bezeichnet eine Form des Aufbaus von

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Einleitung

nahezu identischen Parallelstrukturen zur bürgerlichen Welt, in die sowohl die Arbeiterklasse als auch die assimilierten oder akkulturierten Juden keine Aufnahme fanden, obwohl sie diese anstrebten. Dadurch lässt sich in der jüdischen Autobiographie häufig eine gewisse Diskrepanz zwischen der an der idealistischen Subjektphilosophie des Bürgertums orientierten Form der Autobiographie und der realen Lebenswirklichkeit der jüdischen Autobiographen feststellen. Deshalb sind die folgenden Interpretationskapitel auch nach den historischen Epochen, in denen die Autobiographen gelebt haben, gegliedert. In den Interpretationskapiteln werden nicht nur die eigentlichen Autobiographien befragt, sondern auch weitere Lebenszeugnisse konsultiert, die Aufschluss über die autobiographische Intention der Verfasser geben können. Dabei gilt das Hauptaugenmerk der Interpretationen vor allem der Thematik der eigenen jüdischen Identität der Verfasser und ihrer Bewahrung – eben der ›behaupteten Subjektivität‹. In der Textauswahl habe ich mich nicht auf die bekanntesten Vertreter der Gattung beschränkt, sondern darüber hinaus auch weitere Autoren konsultiert, die nicht im Zentrum des literaturwissenschaftlichen Interesses stehen und auch nicht unbedingt dem Kreis literarischer Autoren angehören, sondern aus der Wissenschaft oder gar dem Handwerk kommen. Im dritten Kapitel der Arbeit werden Autobiographien von Schriftstellern und Gelehrten, die ihre prägenden Jahre im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erlebt haben, untersucht. Für diese Epoche lassen sich drei Formen jüdischer Identität in Deutschland herausarbeiten: die Assimilation bzw. Akkulturation an die christliche deutsche Mehrheitsgesellschaft (hier vertreten durch den Bibliothekar und Literaturwissenschaftler Werner Kraft), die Abkehr von diesem Lebensentwurf in der bewussten Hinwendung zur jüdischen Tradition und zum am Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Zionismus (der Judaist Gershom Scholem) und schließlich der Versuch, das eigene Judentum im Sozialismus aufgehen zu lassen (der kommunistische Schriftsteller Ernst Toller). Am Anfang dieses Kapitels steht jedoch eine Interpretation der Autobiographie des Schriftstellers Jakob Wassermann, der noch versucht sein Deutschtum und sein Judentum unter der übergreifenden Idee des Liberalismus zusammen zu denken und sich seine Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft durch Leistung zu erschreiben, aber bereits in seiner Autobiographie Mein Weg als Deutscher und Jude die Vergeblichkeit dieses Versuchs erkennen muss, weil sein nicht abgelegtes oder verleugnetes Judentum von der nichtjüdischen Umwelt immer über seine Leistungen für die deutsche Kultur gestellt wird. Das vierte und letzte Kapitel dieser Arbeit widmet sich der Epoche des Nationalsozialismus. Hier werden Autoren untersucht, die – nachdem von eigentlichen ›Möglichkeiten‹ jüdischer Existenz nicht mehr gesprochen werden kann – im Dritten Reich aufgewachsen sind und den Holocaust auf den verschiedensten Wegen überlebt haben. Hierzu zählen etwa die Kindheit und Jugend zu Beginn des Nationalsozialismus mit den sich langsam einschränkenden

Einleitung

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Entfaltungsmöglichkeiten mit anschließender Auswanderung (Ludwig Greve), die Kindheit und frühe Jugend in den Konzentrationslagern nach dem Anschluss Österreichs (Ruth Klüger) sowie das Überleben im Versteck mit einer falschen Identität (Georges-Arthur Goldschmidt). Notwendig fragmentarisch muss dieser Überblick über die Geschichte der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert bleiben, weil die folgenden Generationen, die im Deutschland der (zweiten) Nachkriegszeit aufgewachsen sind, noch nicht das Alter erreicht haben, in dem autobiographische Selbstvergewisserung zu den drängenden Aufgaben zählt. Zwar sind bereits einige Autobiographien von nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsenen Juden erschienen, ihre Zahl ist aber noch zu gering, um draus verlässliche Aussagen bezüglich einer Weiterentwicklung dieser spezifischen Form der Autobiographie treffen zu können.

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Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

In diesem einleitenden Kapitel soll versucht werden, die Geschichte und Theorie der Autobiographie, wie sie sich in der Forschung darstellt, in groben Zügen nachzuzeichnen. Dabei sollen die bis heute erkenntnisleitenden Fragestellungen konturiert und die paradigmatisch gewordenen Lösungsansätze vorgeführt und dann in Kapitel 1.2 perspektivisch auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit bezogen werden. Eine solche grobe Skizze der Forschungsgeschichte ist ausreichend, da seit dem Jahr 2000 zwei grundlegende Darstellungen zum Thema erschienen sind, die die hier vorgeführte Polarisation der Forschung zwischen Autobiographie als Wirklichkeitsaussage und Autobiographie als Kunstform mit weiteren Belegen bestätigen und differenzieren. Auch sie beschränken sich auf die Autobiographie als literarische Gattung und damit auch auf die Präsentation von im weitesten Sinne literaturtheoretischen und -historischen Beiträgen zur Gattungsgeschichte. Die beiden Forschungsberichte werden jeweils abgerundet durch »eine Art von aktualisiertem ›Taschen-Misch‹«,1 einem Abriss über die Geschichte der Autobiographie, der die kanonischen Werke der Gattung von ihren antiken Vorläufern bis hin in die Gegenwart kurz vorstellt, die wichtigsten Forschungsthesen dazu präsentiert sowie ihre Einflüsse auf die weitere Entwicklung der Gattung nachzeichnet. Michaela Holdenried handelt den allgemein-theoretischen Teil ihrer Einführung eher kurz ab, indem sie die »Gattungen und Formen der Autobiographik im kontrastiven Modell«2 vorstellt, um sich dann sogleich den »Entwicklungstendenzen und Strukturmerkmale[n] moderner Autobiographik«3 zu widmen, die auch in ihrer Dissertation über den modernen autobiographischen Roman im Zentrum standen. Damit verkürzt sie freilich die ältere Autobiographieforschung zu einem Irrweg bzw. ordnet diese zumindest ihrem eigenen, für die moderne Autobiographie durchaus schlüssigen Konzept der strukturellen Annäherung von Autobiographie und fiktionalen Erzählformen unter. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass sie in ihrer 1991 erschienenen Dissertation einen ausführlichen Überblick über die Geschichte der Autobiographiefor1

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Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2000 (Reclams UniversalBibliothek; 17624), S. 18. – Von Georg Misch stammt die erste und bislang einzige umfassende, aber leider Fragment gebliebene Geschichte des autobiographischen Schrifttums; von ihr ist an anderer Stelle dieser Arbeit noch ausführlicher zu reden. Ebd., S. 24. Ebd., S. 37.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

schung gegeben hat,4 kann den Mangel, den das Fehlen eines solchen Forschungsüberblicks in einem einführenden Werk zur Autobiographie in einer für Studierende konzipierten Reihe bedeutet, aber nicht kompensieren. Der theoretische Teil ihrer Arbeit wird abgerundet von einem Exkurs über einen bislang zu Unrecht vernachlässigten Teil der Gattungsentwicklung. Darin referiert sie über die Antriebe und Voraussetzungen sowie Formen und Funktionen weiblichen autobiographischen Schreibens,5 dem die Verfasserin auch im historischen Teil immer wieder ihre besondere Aufmerksamkeit widmet. Martina Wagner-Egelhaaf hingegen widmet der Rekonstruktion des Problemhorizonts der Autobiographietheorie mehr Raum, den sie dazu nutzt, um einen systematisch gegliederten Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze zu geben. Sie legt auf 80 Seiten eine fundierte Darstellung der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung von ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein vor. Sie bemüht sich dabei um »eine historische wie systematische Darstellung literaturwissenschaftlicher Ansätze und Methoden am Leitfaden der Autobiographieproblematik«,6 lässt den jeweiligen Forschungsansätzen also historische Gerechtigkeit widerfahren und stellt sie in einen Zusammenhang mit der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, deren einzelne Phasen sich eben auch in der Autobiographieforschung nachweisen lassen. Durch dieses Verfahren gewinnen die modernen Theoriekonzepte keine Dominanz über diejenigen früherer Epochen, sondern es wird der Zeitgebundenheit geisteswissenschaftlicher Deutungsmodelle Rechnung getragen – ein Aspekt, der bei Michaela Holdenried nur unzureichend Berücksichtigung findet. Martina Wagner-Egelhaafs Forschungsbericht verzeichnet dabei in kluger Auswahl die wesentlichen Forschungsbeiträge der einzelnen Richtungen, indem sie ihre Leitgedanken im Zusammenhang referiert und kurz diskutiert. In den Zusammenhang der hier genannten Überblicksdarstellungen zu Geschichte und Theorie der Autobiographie gehört sicher auch der von Günter Niggl edierte Sammelband Die Autobiographie, der zuerst 1989 in der Reihe »Wege der Forschung« erschienen ist. Nach einer knappen, die wesentlichen Tendenzen der Forschung seit Dilthey und Misch skizzierenden Einleitung des Herausgebers, versammelt Niggl wegweisende Forschungsbeiträge zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, die im Zusammenhang gelesen einen einführenden Überblick über die Entwicklung der europäischen Autobiographie im Spiegel der Forschung mit einem deutlichen Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum bieten. Leider finden auch in der Neuauflage von 1998 Beiträge zur Theorie der modernen Autobiographie, die über die hier abgedruck4

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Vgl. Michaela Holdenried: Im Spiegel ein anderer: Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman. Heidelberg: Winter 1991 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte: Dritte Folge; 114), S. 43–99. Vgl. Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 1), S. 62–84. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000 (Sammlung Metzler; 323), S. 17.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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ten Ansätze hinausweisen, keinen Raum, so dass der Band bis auf ein neues Nachwort, das die jüngsten Forschungstendenzen knapp charakterisiert, hier keine Orientierung zu bieten vermag.

1.1

Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

1.1.1 Philosophische und historische Grundlagen der abendländischen Autobiographie Der Status des Subjekts als eines mit sich selbst Identischen, vom anderen Unterschiedenen, sich selbst Setzenden und Bestimmenden und eines sich seiner selbst Bewussten ist im zunehmenden Voranschreiten der Neuzeit, spätestens aber im Zeitalter des philosophischen Idealismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zuerst konstituiert und legitimiert worden,7 dann – nur wenig später im 19. und frühen 20. Jahrhundert,8 mit größter Vehemenz allerdings erst am Ende des Jahrtausends9 – destruiert und philosophisch delegiti7

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Eine knappe Rekonstruktion der Subjektphilosophie von Kant bis zu den Frühromantikern mit Perspektive auf Goethes Dichtung und Wahrheit als autobiographischem Kulminationspunkt dieses Subjektverständnisses findet sich bei Manuela Günter: Anatomie des Anti-Subjekts: zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein. Würzburg: Königshausen und Neumann 1996 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 192), S. 13–26. – Einen ausführlichen Überblick über die Entstehung des modernen Subjektbegriffs bietet die Arbeit von Christoph Riedel: Subjekt und Individuum: zur Geschichte des philosophischen Ich-Begriffes. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1989, bes. S. 61–155. Vgl. Günter, Anatomie des Anti-Subjekts (wie Anm. 7), S. 36–60. – Die Verfasserin nennt vor allem die philosophischen Entwürfe von Karl Marx, Ernst Mach und Friedrich Nietzsche sowie die Psychoanalyse Sigmund Freuds als Faktoren, die die Autonomie des Subjekts zunächst, vor seiner endgültigen Destruktion im 20. Jahrhundert, in Frage stellen. Vgl. hierzu vor allem den Sammelband: Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung hg. von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 1996 (Reclams Universal-Bibliothek; 8668), der wesentliche Texte zum Phänomen der endgültigen Abkehr vom Subjektgedanken in der Philosophie versammelt. Für die Autobiographieforschung findet sich diese Position eigentlich nur bei Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 131–146 und bei Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift: der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien: Hanser 1986. Die übrigen Theoretiker der modernen Autobiographie knüpfen überwiegend an Franks These von der Unhintergehbarkeit von Individualität an (Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität: Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlass ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 [edition suhrkamp; 1377]) und stellen für die moderne Autobiographie ledig-

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

miert worden. Diese Statusveränderung, die der Subjektbegriff im Verlauf der Neuzeit und der Moderne erfahren hat, spiegelt sich unter anderem in der Geschichte der Autobiographie seit dem Aufstieg des Bürgertums zunächst zu ökonomischer und sozialer, dann auch zu politischer Macht, der einherging mit der Ausbildung des bürgerlichen Menschen zum allseits gebildeten Individuum. Seit Jacob Burckhardt wird der Zeitpunkt des Aufstiegs des Bürgertums mit dem Beginn der Renaissance in Italien verknüpft.10 Hier entsteht das moderne Individuum und gleichzeitig eine neue Form der Biographie und Autobiographie, die ihr Hauptinteresse eben auf die Darstellung der Ausbildung und inneren Entwicklung (mithin also: der Individualität) des Individuums legt und sich von den bisherigen Traditionen biographischen Schreibens – Burckhardt nennt die Heiligenlegenden und Herrscherviten, die sich im Äußerlichen und Typologischen erschöpfen – lösen: Außerhalb des Gebietes der Poesie haben die Italiener zuerst von allen Europäern den historischen Menschen nach seinen äußern und innern Zügen und Eigenschaften genau zu schildern eine durchgehende Neigung und Begabung gehabt.11 Auch die Selbstbiographie nimmt bei den Italienern hie und da einen kräftigen Flug in die Tiefe und Weite und schildert neben dem buntesten Außenleben ergreifend das eigene Innere, während sie bei andern Nationen, auch bei den Deutschen der Reformationszeit, sich an die merkwürdigen äußern Schicksale hält und den Geist mehr nur aus der Darstellungsweise erraten läßt.12

Die innige Verflechtung von Aufstieg der Autobiographie und allmählich sich entfaltendem Subjektbewusstsein betont schon die frühere Autobiographieforschung, betrachtet sie doch die Autobiographie als eine historische Quelle, aus deren Interpretation sich das allmähliche Heraufkommen der Subjektivität von den ersten Autobiographien der Antike bis in die Gegenwart, die hier in das späte 19. Jahrhundert fällt, ableiten lässt. Diese Annahme basiert auf der lebensphilosophisch, hermeneutisch und historistisch inspirierten Vorstellung der Begründer der Autobiographieforschung, Wilhelm Dilthey und Georg Misch, der die fundamentalen, aber knappen Gedanken seines akademischen Lehrers dem eigenen Monumentalwerk über die Geschichte der Autobiographie zugrunde gelegt hat. Da dieser frühe Zugang – freilich in abgewandelter

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lich eine radikal verwandelte Subjektkonzeption fest ohne aber daraus den Schluss eines völligen Verschwindens des Subjekts aus dem autobiographischen Text zu ziehen. – Vgl. hierzu etwa Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Anm. 4), Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel: Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens. Berlin, New York: de Gruyter 1991 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; 98 [222]) und Günter, Anatomie des Anti-Subjekts (wie Anm. 7). – Näheres hierzu im theoretischen Abschnitt dieses Kapitels. Vgl. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien: ein Versuch. Stuttgart: Kröner 1938 (Kröners Taschenausgabe; 53), S. 123–143. Ebd., S. 305. Ebd., S. 310.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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Form, die die jeweils aktuellen historischen Forschungsrichtungen berücksichtigt, so etwa Sozial- oder Strukturgeschichte usw. – bis in die Gegenwart hinein bedeutsam für die Erforschung der Gattung, insbesondere für ihre normative Definition und ihre Abgrenzung gegenüber den Formen der fiktionalen Literatur ist, soll er hier etwas genauer betrachtet werden. Seit der Etablierung der Autobiographieforschung durch Dilthey und Misch steht die Betrachtung der Autobiographie im Bann der Frage nach ihrem individualhistorischen Gehalt, nach ihrem Erkenntniswert für die historischhermeneutisch arbeitenden Geisteswissenschaften. Diese frühe Phase der Autobiographieforschung, die bis etwa zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts dominiert hat und durchaus fruchtbare Ausläufer bis in die Gegenwart besitzt, hat die Autobiographie vorwiegend als ›Zweckform‹ untersucht und ihren Wirklichkeitsbezug in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Sie betrachtet die Autobiographie primär als historische Quelle und unmittelbare ›Spiegelung‹ der Realität und nicht als ein literarisches Konstrukt, das bestimmte sprachliche Mittel zur Erzielung bestimmter gewünschter Effekte einsetzt. Die Metapher der Autobiographie als ein unmittelbarer Spiegel der tatsächlichen Existenz ihres Verfassers wurde – erstaunlicherweise – von Goethe in Dichtung und Wahrheit als wesentliches Konstituens der Gattung benannt und spielt seitdem eine nicht unbedeutende Rolle in der Theorie und Praxis des autobiographischen Schreibens – sei es in bedingungsloser Affirmation oder aber in detaillierter Kritik. Die Gattung wird daher in der Traditionslinie dieser Forschungsrichtung auch eher den rhetorischen als den poetischen Literaturgattungen zugeordnet. Die formale Gestaltung des autobiographischen Texts dient dieser Interpretationsweise zufolge aber eher dem Zweck, den Leser von der Wahrheit des Dargestellten durch Einsatz literarischer Stilmittel und Techniken zu überzeugen, als diese Wahrheit durch den Einsatz dieser Mittel überhaupt erst zu erzeugen. Dies führt dazu, dass der Wahrheitsgehalt des Dargestellten nicht in Zweifel gezogen, sondern vorausgesetzt wird. Zurückzuführen ist die Forschungsrichtung, die Autobiographie als unmittelbares Lebenszeugnis ihres Verfassers zu betrachten, auf Wilhelm Diltheys Konzept geisteswissenschaftlichen Erkennens, das er in Abgrenzung zu den Methoden der nomologischen Naturwissenschaften »auf die geschichtlichgesellschaftlichen Tatsächlichkeiten«13 des individuellen Lebens zurückführt und das daher seine »Grundlage im Erleben und Verstehen«14 des einzelnen hat. Aus seinem Konzept der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik erwächst Diltheys Hochschätzung der Autobiographie und ihre empathische Rezeption als Schlüssel zum Verständnis des Autors und seines Schaffens, die sich in der Forschung so folgenreich festgesetzt hat: 13

14

Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 108. Ebd., S. 167.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt. Hier ist ein Lebenslauf das Äußere, sinnlich Erscheinende, von welchem aus das Verstehen zu dem vorandringt, was diesen Lebenslauf innerhalb eines bestimmten Milieus hervorgebracht hat. Und zwar ist der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch mit dem, der ihn hervorgebracht hat. Hieraus ergibt sich eine besondere Intimität des Verstehens. Derselbe Mensch, der den Zusammenhang in der Geschichte seines Lebens sucht, hat in all dem, was er als Werte seines Lebens gefühlt, als Zwecke desselben realisiert, als Lebensplan entworfen hat, was er rückblickend als seine Entwicklung, vorwärtsblickend als die Gestaltung seines Lebens und dessen höchstes Gut erfaßt hat – in alledem hat er schon einen Zusammenhang seines Lebens unter verschiedenen Gesichtspunkten gebildet, der nun jetzt ausgesprochen werden soll.15

Die voranstehenden Zeilen haben der Erforschung der Autobiographie immer wieder als Rechtfertigung dafür gedient, diese als unmittelbares und wahres Lebenszeugnis des Autobiographen zu lesen, dessen Unmittelbarkeit eben von der ›besonderen Intimität des Verstehens‹ herrührt, die aus der bruchlos gesetzten Identität von jetzt schreibendem Autor und dem Gegenstand seines Schreibens, der eigenen Vergangenheit nämlich, erwächst.16 Die von Dilthey skizzierte Hochschätzung der Autobiographie findet ihre monumentale Ausgestaltung in der voluminösen Geschichte der Autobiographie seines Schülers Georg Misch, der in der Einleitung zu seinem Werk behauptet: »Die Geschichte der Autobiographie ist in einem gewissen Sinne eine Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins.«17 Mit dieser Definition der Autobiographie verzichtet Misch bewusst darauf, eine formale oder typologische Bestimmung der Gattung zu geben; es ist daher anzunehmen, dass er den Begriff nicht einmal als einen Gattungsbegriff im literaturwissenschaftlichen Sinne verstanden hat. Tatsächlich wurden Versuche einer Typologie autobiographischen Schreibens, einer Definition der gattungskonstitutiven Elemente erst nach dem Zweiten Weltkrieg unternommen; sie markieren daher auch den Paradigmenwechsel in der Autobiographieforschung weg von einer Deutung der Autobiographie als einer historischen Quelle hin zu ihrer Interpretation als literarisches Kunstwerk, als künstlerische Möglichkeit, die eigene Subjektivität zu gestalten, die von anderen Formen strikt zu unterscheiden ist. Diesen Verzicht zeigt der weitere Aufbau des Werkes, in dem die herangezogenen Texte nicht in ihrer formalen Eigenständigkeit gewürdigt, sondern nur »als Zeugnisse für die Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins der abendländischen 15 16

17

Ebd., S. 246. Eine komplexe Rekonstruktion von Diltheys Gedanken zur Autobiographie findet sich bei Michael Jaeger: Autobiographie und Geschichte: Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 19–70. Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. von Günter Niggl. 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag ergänzte Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, S. 42.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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Menschheit behandelt«18 werden. Deswegen kann Misch auch alle Lebenszeugnisse unter dem Begriff der ›Selbstbiographie‹ zusammenfassen, denn er besagt nichts über die literarische Form einer Schrift oder ihr Verhältnis zur schönen Literatur, sondern legt das Schwergewicht darauf, daß die Person, deren Leben dargestellt wird, selbst der Autor des Werkes ist.19

Unter dieser Prämisse kann Misch für die literarische Gestalt der ›Selbstbiographie‹, die sich im Verlauf ihrer historischen Nachweisbarkeit nahezu vollständig verwandelt hat20 und die er deswegen als eine »chamäleonartige Gattung«21 bezeichnet, auch feststellen: Und keine Form fast ist ihr fremd. Gebet, Selbstgespräch und Tatenbericht, fingierte Gerichtsrede oder rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik und Beichte, Brief und literarisches Porträt, Familienchronik und höfische Memoiren, Geschichtserzählung rein stofflich, pragmatisch, entwicklungsgeschichtlich oder romanhaft, Roman und Biographie in ihren verschiedenen Arten, Epos und selbst Drama – in all diesen Formen hat die Autobiographie sich bewegt, und wenn sie so recht sie selbst ist und ein originaler Mensch sich in ihr darstellt, schafft sie die gegebenen Gattungen um oder bringt von sich aus eine unvergleichliche Form hervor.22

Trotz seiner für den Literaturwissenschaftler unannehmbaren Ausdehnung der Gattungsgrenzen und dem Verzicht auf eine Problematisierung des Gegensatzes von faktischen und fiktionalen, von rhetorischen und poetischen Gattungen, dominierte Mischs in jahrzehntelanger Arbeit entstandenes und dennoch Fragment gebliebenes Hauptwerk die Autobiographieforschung der folgenden Jahrzehnte. Die Grundidee Diltheys und Mischs, die Autobiographie als Ausdruck des Wachstums und der Veränderung des menschlichen Selbstbewusstseins zu lesen, verkürzte die sich anschließende Autobiographieforschung zunächst zu dem Gedanken, in der Autobiographie eine unverfälschte Quelle historischen Lebens und Denkens zu finden, die es nur freizulegen und so der historischen Forschung zuzuführen gelte. Aus diesem Geist sind die großen Überblickswerke des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts – genannt seien hier nur die Werke von Theodor Kleiber und Marianne Beyer-Fröhlich – entstanden, die den literarischen Charakter der ›Selbstzeugnisse‹ völlig vernachlässigten und in ihren Synthesen umstandslos Autobiographie neben Memoiren, Tagebücher neben Reiseberichte usw. stellten ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, inwieweit die Form der dargestellten Texte Einfluss auf die Inhalte und Intentionen des Dargestellten haben könnte und inwiefern sich dadurch ›Verfälschungen‹ der historischen Wahrheit ergeben könnten. Lediglich Hans 18 19 20 21 22

Ebd., S. 36. Ebd., S. 40. Zur Rechtfertigung der Ausdehnung des Begriffs des Autobiographischen bei Misch vgl. Jaeger, Autobiographie und Geschichte (wie Anm. 16), S. 92–97. Misch, Begriff und Ursprung der Autobiographie (wie Anm. 17), S. 40. Ebd., S. 37.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

Glagau wies schon sehr früh auf Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers (1903) hin – ohne freilich der damaligen Autobiographieforschung einen entscheidenden Impuls zur Neubewertung der Gattung geben zu können. Eine wesentliche Erweiterung und Modifikation erfuhr der Ansatz von Georg Misch durch Werner Mahrholz, der dessen Leitgedanken um eine wesentliche Komponente erweitert, die die geistesgeschichtliche Beschränkung auf das jeweils Individuelle hinter sich lässt und die überindividuellen Konstituenten des Selbstbewusstseins – historische, psychologische und soziale Bedingungen seiner individuellen Ausprägung – stärker in den Vordergrund rückt. In seiner knapp zwanzig Jahre nach Hans Glagaus Vortrag publizierten Monographie über die deutsche »Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus« – so der Untertitel des Werks – sieht er den Wert der Autobiographie weniger in der Überlieferung nachprüfbarer Fakten über eine historische Person, sondern in der Tradierung zeittypischer Charakteristika bürgerlichen Selbstbewusstseins. Heute würde man das Erkenntnisinteresse Mahrholz’ wohl ›sozialgeschichtlich‹ nennen: Die eigene Lebensbeschreibung ist vielfach als geschichtliche Quelle angezweifelt worden [...], ihr Wert mag denn auch wirklich in Hinsicht auf die Tatsachen, welche sie übermittelt, zweifelhaft sein; unbezweifelbar ist ihr Wert als Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit, als Kundgebung der ungeschminkten Gefühle, Ansichten und Aussichten an einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt. Die Selbstbiographie ist in dem, was sie sagt, wie in dem, was sie verschweigt, die deutlichste Spiegelung der letzten Einstellungen des Menschen zu seiner Umgebung, zu seiner Zeit, zu den sie beherrschenden Gedanken und Gefühlen.23

In diese Richtung argumentieren auch neuere Arbeiten zur Geschichte der Autobiographie, die historisches und anthropologisches Erkenntnisinteresse mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen verbinden. Zu nennen ist hier etwa Bernd Neumann, der seine literaturwissenschaftliche Frage nach der Veränderung der autobiographischen Form im 19. Jahrhundert mit sozialpsychologischen Veränderungen in der Schicht des autobiographietragenden Bürgertums begründet. Auch Peter Sloterdijks 1978 erschienene Dissertation über autobiographische Texte der 1920er Jahre argumentiert in diesem Umfeld.24

1.1.2 Die Autobiographie als Zweckform und historische Quelle Seine volle Berechtigung hat dieser seit Dilthey und Misch mehrfach modifizierte Ansatz, die Autobiographie als ›Lebenszeugnis‹ zu definieren und dementsprechend als historische Quelle heranzuziehen, sicherlich für die Frühzeit der Gattungsentwicklung, für den Aufstieg des Bürgertums zu Macht und 23 24

Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse: ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin: Furche 1919, S. 8. Vgl. hierzu Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Anm. 6), S. 28–32.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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Einfluss, als die Autobiographie noch keine von Schriftstellern dominierte literarische Gattung war, sondern tatsächlich Medium der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung einer aufstrebenden sozialen Schicht. Das verhindert nicht Stilisierung und faktische Irrtümer in der Darstellung, die die intendierte Faktizität aber eher bestätigen als bestreiten. In Deutschland bzw. in den deutschsprachigen Territorien des Heiligen Römischen Reiches wird der Zeitpunkt des beginnenden Aufstiegs des Bürgertums üblicherweise im 16. Jahrhundert verortet, und tatsächlich beginnt auch die Geschichte der modernen deutschsprachigen Autobiographie – das voranstehende Zitat aus Jacob Burckhardts Die Entstehung der Renaissance in Italien deutet das bereits an – in dieser Epoche. Sie entsteht aus dem seit dem späten Mittelalter geführten, sich allmählich immer weiter anreichernden Schriftgut des städtischen Bürgertums, das über Geschäftsnotizen, Tagebücher, Reiseberichte und Familienchroniken allmählich zur schriftlich niedergelegten Selbstreflexion gelangt.25 Diese vollzieht sich innerhalb weniger, bis in das frühe 18. Jahrhundert hinein typologisch kaum variierter, in ihrer formalen Gestaltung eng beschränkten Gattungen, zu denen vor allem Berufs- und Gelehrtenautobiographie sowie die aus der Reisebeschreibung hervorgegangene ›abenteuerliche Lebensgeschichte‹ zu zählen sind. Die Texte verfügen zumeist nur über ein äußerst eingeschränktes Formenrepertoire und reihen die einzelnen Lebensereignisse und sonstige für mitteilungswürdig erachtete Begebenheiten lose aneinander, so dass ein annalistisch-chronikalischer Bericht entsteht, der keinen Anspruch auf allgemeine Aufmerksamkeit erhebt. Das Ich des Verfassers, das die geschilderten Begebenheiten auswählt, gliedert, wertet und darstellt, spielt in dieser frühen Periode autobiographischer Aufzeichnungen noch keine erkennbare Rolle; die Texte beschränken sich überwiegend auf die Außenperspektive und lassen Rückschlüsse auf die Individualität und Subjektivität ihrer Verfasser nur in äußerst beschränktem Ausmaß zu. Im allgemeinen bleibt die Verbreitung dieser Texte daher auf den unmittelbaren Familienkreis, lebende Verwandte und Nachfahren, beschränkt.26 Eine stärker konturierte Individualität erhalten die autobiographischen Texte jener Zeit dann, wenn ein apologetisches Interesse des Verfassers hinzutritt, weil der Zwang zur Rechtfertigung eine höhere Kohärenz der Auswahl und Reflexionen des Dargestellten auf die intendierte Wirkung hin bedingt, zumal diese Texte dann auch zumeist für ein breiteres Publikum, das heißt mit der 25

26

Zur Entstehung der modernen Autobiographie im städtischen Bürgertum vgl. in der älteren Forschung die nahezu gleichzeitig erschienenen Arbeiten von Adolf Rein: Über die Entwicklung der Selbstbiographie im ausgehenden deutschen Mittelalter [EA: 1919]. In: Niggl (Hg.), Die Autobiographie (wie Anm. 17), S. 321–342 und Mahrholz, Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 23). Zur Typologie und Formgeschichte der Autobiographie im Zeitraum zwischen 1680 und 1815 vgl. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert: theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart: Metzler 1977, dem die hier eingefügten, sehr summarischen Ausführungen geschuldet sind.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

Intention der Publikation, verfasst worden sind. Den apologetischen Antrieb sieht Klaus-Detlef Müller in diesem Zeitraum vor allem im Typus der Gelehrtenautobiographie verbreitet.27 Diesen Antrieb betrachtet er als einen Beleg für den reinen Zweckformcharakter dieses Autobiographietypus, weil damit eben vorwiegend ein außerliterarischer Zweck erfüllt werden soll; eine Affinität zur rhetorischen Gattung der antiken Gerichtsrede ist diesen Texten – wie Manfred Fuhrmann vermutet – daher sicherlich zuzubilligen.28 Neben diesen säkularen Varianten stellt die religiöse Bekenntnisliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihrer ebenfalls apologetischen Grundtendenz eine weitere, nicht zu unterschätzende Quelle auf dem Weg zur literarisierten Autobiographie dar, wie sie seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Geschichte der Gattung in Deutschland dominierte. Hier steht zunächst das Bekehrungserlebnis nach einem bislang in Sünde verbrachten Leben sowie die Gewissenserforschung des Individuums im Zentrum; dies gilt auch für die pietistische Tagebuchliteratur, in der sich das Ringen um die Gewissheit des Glaubens gegen alle Anfechtungen der Welt in täglich erneuertem Kampf spiegelt. Das Hauptaugenmerk der Darstellung liegt bei diesen beiden Gattungen daher in wesentlich stärkerem Ausmaß auf der auf intensive Selbstbeobachtung zurückzuführenden inneren Entwicklung des Individuums als auf der bei den anderen genannten Autobiographietypen dominierenden Darstellung der äußeren Lebensstationen und weist so der weiteren Geschichte der Gattung ihren Weg, wenngleich diese Form der Introspektion zunächst weniger »individuelle Erfahrungen wie theologische Probleme der Zeit und Stellungnahmen zu ihnen«29 beinhaltet, die sehr stark schematisiert wirken. Indem die religiöse Bekenntnisliteratur sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für Einflüsse aus den anderen genannten Typen autobiographischer Literatur öffnet – Günter Niggl spricht von einer ›typologischen Säkularisation‹ der religiös motivierten Autobiographie, die sich in einer allmählichen Überlagerung der »Tradition der religiösen Konfession« durch die »Tradition der Berufs- (meist Gelehrten-) Autobiographie« zeigt30 –, vor allem für solche aus der Berufsautobiographie, kommt es durch die Integrationsnotwendigkeit der divergierenden Formen zu innovatorischen Ansätzen. Sie zeichnen sich aus durch eine größere Variationsbreite und durch eine neue Vielfalt der Darstellungsgegenstände jenseits des schematisierten Sündenbekenntnisses, die eine zunehmende Individualisierung der Darstellung ermöglichen und erfordern. Infolge des zunehmenden Individualitätsbewusstseins des Subjekts kommt es zu einer allmählichen Ab27

28 29 30

Vgl. Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman: Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen: Niemeyer 1976 (Studien zur deutschen Literatur; 46), S. 30–33. Vgl. Manfred Fuhrmann: [Diskussionsbeitrag]. In: Identität. Hg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. München: Fink 1979 (Poetik & Hermeneutik; 8), S. 685–690. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 39. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26), S. 6–14, beide Zitate S. 8.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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lösung des exemplarischen, nicht individuellen »Motiv[s] der Belehrung und Erbauung« durch das »Motiv der Selbstdarstellung und Selbstbestätigung« als zentrales Movens des autobiographischen Schreibens. Dies zeigt sich in der Berufsautobiographie, die sich zunächst auf die Darstellung der »äußeren Erlebnisse und Schicksale« beschränkt, dann aber die stärker introspektive religiöse Autobiographie »typologisch unterwander[t]«.31 Dies führt nun zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung des autobiographischen Schrifttums seit der Jahrhundertmitte, die eine Typologisierung, wie sie Niggl für das späte 17. und das 18. Jahrhundert geliefert hat, nicht mehr erlaubt, sondern nur noch eine Tendenz – nämlich die der zunehmenden Literarisierung der Gattung – benennen kann. Diese Tendenz verläuft parallel zu einer Fokussierung des Interesses auf Autobiographien von Gelehrten, Künstlern und vor allem von Schriftstellern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die das innovatorische Potential der Gattung wesentlich vorantreiben und deren Lebensläufe und literarische Verfahren ein breites Leserinteresse für sich beanspruchen können.

1.1.3 Die literarisierte Autobiographie als Gegenstand der Literaturwissenschaft Das gesteigerte Interesse der Öffentlichkeit an der Schriftstellerautobiographie ist zurückzuführen unter anderem auf die Idee der Repräsentativität der Schriftstellerexistenz für das bürgerliche Zeitalter, wie sie in der Epoche des Sturm und Drang aufkam. Sie steht in enger Verbindung mit dem Geniegedanken, der ungefähr zeitgleich entsteht, und mit dem allmählichen Hervortreten des Standes des ›freien Schriftstellers‹, der vermeintlich autonom – tatsächlich aber jetzt den Zwängen des entstehenden Literaturmarktes statt dem Wohlwollen eines fürstlichen Mäzens unterworfen – seine Werke produziert und so die Autonomie des bürgerlichen Individuums antizipiert: Das bürgerliche Emanzipationsstreben, welches das ganze 18. Jahrhundert durchzieht und es auch literarisch prägt, war ein Streben nach sozialer, rechtlicher, weltanschaulicher und politischer Freiheit und Unabhängigkeit. Notwendigerweise war dieses Emanzipationsstreben gegen die herrschende Staats- und Gesellschaftsform gerichtet, in welcher König, Adel und Klerus dominierten. Auf den literarischen Bereich übertragen hieß das nicht nur, daß die Schriftsteller die Interessen und die Gefühlshaltungen des in der geltenden ständischen Ordnung unterprivilegierten Bürgertums zum Gegenstand ihres Schaffens machten. Sie vollzogen, indem sie ihre eigene Rolle als Dichter neu interpretierten, den bürgerlichen Emanzipationsprozeß prototypisch an sich selbst. Der Weg vom Untertanen zum freien, unabhängigen, nur auf seine eigene Leistungskraft gestellten Bürger – das ist auch der Weg vom Hofdichter und vom poetisch kompetenten Mitglied der Gelehrtenzunft zum autonomen, sein Selbstbewußtsein ganz auf seine Schöpferkraft gründenden Dichter. Die GenieProklamationen, in denen die literaturästhetische Entwicklung des 18. Jahrhunderts gipfelt, sind Manifestationen des unabhängig gewordenen, oft genug auch nur Un31

Alle Zitate: ebd., S. 14.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung abhängigkeit ersehnenden, auf seine eigenen produktiven Energien stolzen bürgerlichen Menschen, der keine andere Autorität mehr anerkennt.32

Tatsächlich stellt die Idee der Repräsentativität der Schriftstellerexistenz eine Verschiebung des bürgerlichen Autonomiestrebens von der Sphäre der politischen Öffentlichkeit in diejenige des Ästhetischen dar. Weil eine Partizipation des dritten Standes am politischen Leben, wie sie seit der Revolution in Frankreich Realität geworden war, durch die existierenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Deutschland letztlich bis zur Reichsgründung durch Bismarck und darüber hinaus wirkungsvoll verhindert werden konnte, suchte sich das Bürgertum andere, von obrigkeitsstaatlicher Gängelung freie Betätigungsfelder, zu denen neben den Künsten vor allem der ökonomische Bereich und der Wissenschaftsbetrieb gehörten. Diese drei Bereiche ungehinderter Entfaltung des bürgerlichen Standes im 19. Jahrhundert bilden deswegen auch den sozialgeschichtlich und wissenssoziologisch bedeutsamen Hintergrund der bürgerlichen Literaturgattung Autobiographie in Deutschland. Hierbei kommt der Dichterautobiographie eine herausgehobene Rolle zu, weil sie zumeist die Genese einer allseitig gebildeten Persönlichkeit zum Gegenstand hat und sich nicht – wie die Berufs- bzw. Wissenschaftlerautobiographie – auf einen eng begrenzten Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum menschlicher Existenzmöglichkeiten beschränkt; sie kann also auf Interesse bei einer breiteren Rezipientenschicht hoffen und somit eine größere Verbreitung für sich beanspruchen.33 Bei der sicherlich auch der Überlieferungssituation geschuldeten Einengung des Kanons untersuchter autobiographischer Texte gewinnt die Literarisierung der Gattung eine ungeahnte Bedeutung. Zwar dürfte sich die Mehrzahl der autobiographischen Zeugnisse jener Jahre zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der posthumen Veröffentlichung des letzten Teils von Goethes Dichtung und Wahrheit im Jahr 1833 noch in den traditionellen, von Niggl geschilderten, kaum variierten Bahnen bewegen. Die zukunftsweisende Form der nun entstehenden literarischen Autobiographie kann aber nicht bestritten werden. Allerdings unterliegt sie zunächst aber einem Formfindungsprozess, der mit Goethes autobiographischem Hauptwerk zu einem ersten Höhepunkt kommt, der sich im Gefolge der nach seinem Tod einsetzenden Apotheose des Dichters bald zum kanonischen Modell entwickeln sollte, dessen Geschlossenheit und teleologische Stringenz in der Folgezeit zwar nicht mehr erreicht wird, wohl aber immer noch angestrebt werden kann. Dichtung und Wahrheit wird diesen kanonischen Charakter für die Folgegenerationen bis weit in das 20. Jahrhun32

33

Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bände. 2., durchges. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1988, Bd 1, S. 4. Aus diesem Grund sind die autobiographischen Texte von Wissenschaftlern und Erwerbsbürgern auch eher der Gattung der ›Memoiren‹ zuzuordnen, die sich eben stärker auf die Äußerlichkeit des eigenen Lebens und seines gesellschaftlichen Umfelds fokussiert.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

17

dert hinein behalten, bevor seit den 1920er Jahren im Gefolge moderner Erzähl- und Romantheorien (Lukács, Benjamin) eine allmähliche, von diesen Theorien legitimierte Abkehr vom goetheschen Modell einsetzt, die wiederum auch den ›abweichenden‹ Autobiographien früherer Jahrhunderte zu neuer ästhetischer Dignität verhilft. In der Forschungsgeschichte findet diese literarisierte Form der Autobiographie, die sich einer Deutung als historische Quelle zunehmend verweigert – zu groß sind die Diskrepanzen zwischen dem tatsächlich gelebten Leben der historisch nachweisbaren Autoren und die Darlegungen in ihren Autobiographien –, schon früh Beachtung, wenngleich sich ihre Deutung als literarisches Kunstwerk endgültig erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Erste Ansätze zu einer solchen Betrachtungsweise finden sich aber bereits in den 1930er Jahren;34 sie sind zurückzuführen auf eine Umorientierung der germanistischen Fachdisziplin von ihren entweder positivistischphilologischen (Editionswissenschaft) oder geistesgeschichtlichen Grundlagen hin zu einer an genuin literaturwissenschaftlichen, das heißt an Fragen der Formgebung und einer erneuerten Poetik interessierten Disziplin.35 Diese Forschungsrichtung ist bestrebt, die Gattungsgeschichte der Autobiographie allein aus ihren Formen und deren Veränderungen im historischen Verlauf zu ergründen. Sie bemüht sich darum, Formtypologien aufzustellen und mögliche textkonstitutive Merkmale der Autobiographie zu isolieren.36 Eine grundlegende Fragestellung dieser Forschungsrichtung ist daher die Abgrenzung der Autobiographie von anderen Formen von Lebenszeugnissen wie etwa Memoiren, Brief, Tagebuch oder Reisebericht37 sowie die wesentlich schwierigere Abgrenzung von Autobiographie, Biographie, autobiographischem Roman und Roman, die eigentlich nirgends stringent gelingt – außer bei Philippe Lejeune, der sich dem Problem jedoch nicht über eine Definition der Form der Autobiographie, sondern über eine identitätslogische Untersuchung der Funktionen Autor, Erzähler und Protagonist nähert. Lediglich im Fall der nachprüfbaren Namensidentität der Träger aller drei Funktionen sieht er einen 34 35

36 37

Vgl. Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Anm. 4), S. 49–59. Gemeint ist hiermit nicht etwa die traditionelle Regelpoetik, mit ihrem normativen Gattungsverständnis, sondern eine induktiv von der vergleichenden Analyse von Einzelwerken zu allgemeinen, historisch variierenden Gattungsdefinitionen gelangenden Poetik. – Dieses Verständnis von Gattungspoetik charakterisiert etwa den Ansatz von K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 126f. Vgl. hierzu die entsprechenden Abschnitte bei Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 1), S. 33–36 und Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Anm. 6), S. 48–55. Vgl. hierzu etwa Ingrid Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung: Goethes »Dichtung und Wahrheit« und die Autobiographie der Folgezeit. Bern [u. a.]: Lang 1977 (Goethezeit; 7), S. 13–47, Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 1), S. 19–36, Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang: zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt am Main: Athenäum 1970, S. 9–42 und S. 60–90 sowie – mit europäischer Ausrichtung – Roy Pascal: Die Autobiographie: Gehalt und Gestalt. Stuttgart: Kohlhammer 1965 (Sprache und Literatur; 19), S. 13–21.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

Text als Autobiographie an.38 Vor den historischen Veränderungen, die schließlich zur Entwicklung der modernen Autobiographie führen, versagt dieses identitätslogische Kriterium jedoch, wie der Autor in einem späteren Aufsatz zuzugeben gezwungen ist.39 Als frühestes Zeugnis einer literarischen bzw. literarisierten Autobiographie im deutschen Sprachraum kann die Lebensgeschichte des sozialen Aufsteigers Johann Heinrich Jung-Stilling gelesen werden, der vom mittellosen Bauernsohn über den Grundschullehrer und Kaufmannsgehilfen bis zum für seine Staroperationen bekannten und gefeierten Arzt und Professor für Staatswissenschaft aufsteigt. Seine Autobiographie – vor allem der erste Teil, Henrich Stillings Jugend – wird als eine Synthese von pietistischer Bekenntnisliteratur und Gelehrtenautobiographie gedeutet, die – nicht zuletzt durch die Redaktion Goethes40 – sehr stark literarisch überformt worden ist, so dass Günter Niggl ihre Distanz zur bisherigen autobiographischen Tradition feststellen und Klaus-Detlef Müller sie an den Beginn seiner Reihe literarischer Autobiographien stellen kann. Trotz ihrer gegensätzlichen Bewertung der Einbettung von Jung-Stillings Autobiographie in die Traditionslinie der Gattung sind sich beide Forscher über das innovatorische Potential dieses Textes einig: Als ein Sonderfall, der weder der typologischen noch der psychologischen Säkularisation zugeordnet werden kann, muß am Ende des Verweltlichungsprozesses der pietistischen Bekenntnisliteratur Jung-Stillings mehrteilige und während dreier Dezennien immer wieder fortgesetzte Lebensgeschichte (1777–1804) [...] betrachtet werden. Mit Henrich Stillings Jugend (um 1772 geschrieben) beginnt sie ganz außerhalb der autobiographischen Tradition: dieser erste Teil stellt nämlich eines der frühesten Beispiele der mit dem Sturm und Drang wieder auflebenden und in den nächsten Jahrzehnten beliebten naturkräftigen, detailrealistischen Idyllendichtung dar, worin das nachgeßnerische Jahrhundert eine Annäherung von Ideal und Wirklichkeit des harmonisch-gesunden Menschentums sucht.41 Das erste Werk, das in Deutschland den Übergang von der literarischen Zweckform der Autobiographie zu einer im engeren Sinn literarischen Form vollzogen hat und damit innerhalb der Gattung einen qualitativen Sprung bedeutet, ist Johann Heinrich Jungs ›Henrich Stillings Jugend‹ (1777). Dieses Büchlein steht zwar von seiner Genese her unmittelbar in der Tradition der pietistischen Autobiographie, zu der seine späteren Fortsetzungen immer deutlicher zurückkehren, man wird seiner gattungsgeschichtlichen Bedeutung aber nur gerecht, wenn man das Augenmerk stärker auf die

38

39

40 41

Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (edition suhrkamp; 1896), S. 13–51. – Dieser Text ist erstmals 1973 veröffentlicht worden. Vgl. ebd., S. 417–426. – Dieses Nachwort des Verfassers zu seinem Band mit den gesammelten Aufsätzen zur Geschichte und Theorie der Autobiographie ist auf den »Januar 1994« datiert. Vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 131. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26), S. 72.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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Momente richtet, durch die es sich von seinem Ursprung unterscheidet, als auf diejenigen, die die pietistische Linie weiterführen.42

Jung-Stilling identifiziert die Vorsehung und das unmittelbare göttliche Eingreifen in seinen Alltag als Ursache seines letztlich gelingenden Lebens; beides ermöglicht es ihm, persönliche Rückschläge in seiner beruflichen Karriere, aber auch private Schicksalsschläge, etwa den Tod seiner ersten beiden Ehefrauen, als göttliche Fügungen zu betrachten, die seinen ökonomischen und sozialen ›Aufstieg‹ letztlich nur befördern43 und somit zum Ausweis göttlicher Gnade umgedeutet werden können. Diese »Rationalisierung des alten Vorsehungsglaubens«44 erlaubt es ihm, seinen immer wieder von Rückschlägen unterbrochenen Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft durch Rückgriff auf das pietistische, in Hermann Franckes Lebenslauff (1690/91) geprägte »Exempelschema von sündigem Leben, Bußkampf und Gnadendurchbruch«45 zu deuten. Damit unternimmt Jung-Stilling den – der Interpretation Niggls zufolge misslungenen – Versuch, die »ältere[] pietistische[] Vorsehungsstruktur [...] mit der modernen entelechischen Idee in Verbindung zu bringen«,46 was ihm aber vor allem deswegen nicht gelingt, weil »der Glaube an die Vorsehung jede autonome Gegenständlichkeit aufhebt, da alle Sachverhalte von vornherein Zeichencharakter haben«.47 Das autobiographische Individuum macht bei Jung-Stilling also keinen Entwicklungsprozess durch, der seine sämtlichen Anlagen zur Ausbildung bringt – mithin seinen Subjektstatus legitimiert48 –, sondern bleibt zumindest in den späteren Teilen der Autobiographie, die seinen beruflichen und sozialen Werdegang jenseits der Kindheitsidylle des ersten Buchs darstellen, bloßes Objekt der Vorsehung. Mit der sehr starken Stilisierung und literarischen Überformung der eigenen Lebensgeschichte sowie der Betonung der Relevanz der Kindheit und Jugend 42 43 44 45 46 47 48

K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 127. Vgl. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26), S. 73. Ebd., S. 72. Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 1), S. 127f. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26), S. 75. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 139. Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich: europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München: Beck 1974, S. 91 sieht JungStillings Autobiographie wegen dieses Mangels auch stärker in der rückwärtsgewandten pietistischen Tradition verankert; erst die folgende Generation von Autobiographen bringt den Subjektgedanken in der Autobiographie zur Entfaltung: »In den folgenden Jahrzehnten wird sich die Autobiographie in Deutschland weiter umgestalten: die Passivität des Individuums wird mehr und mehr zur Darstellung seines Handelns in wachsender Verflechtung mit dem Dasein. Man kann, sehr allgemein, von einer Entwicklung sprechen: zu einem höheren Grad von Bewußtheit, zu einem Zuwachs an Weltgehalt und Wirklichkeit, zu einer fortschreitenden Freiheit des Individuums.«

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

für die Persönlichkeitsentwicklung und ihrer dementsprechend ausführlichen Darstellung49 markiert Jung-Stilling aber bereits eine weitgehende Abwendung von der pietistischen Tradition. Er steht damit am Beginn einer neuen Entwicklung, die sich allmählich von den bislang tradierten Formen mit ihrer eng beschränkten Varianz von Gestaltungsmitteln löst. Die Übernahme von Formelementen aus den fiktionalen Gattungen in die Autobiographie und die Dominanz der formalen Gestaltung über die empirischen Fakten ist letztlich bis heute prägend geblieben. Sie ist mitverantwortlich für die – zumindest unter formalen Aspekten – Ununterscheidbarkeit von Autobiographie und der ihr am nächsten stehenden literarischen Gattung, dem Roman. Neben den bereits benannten Merkmalen der Idyllendichtung weist der Text darüber hinaus zahlreiche weitere, bislang nur in den fiktionalen Gattungen beheimatete Strukturmerkmale fiktionaler Prosatexte auf.50 Die Erweiterung des Formenrepertoires der Autobiographie durch Elemente der Romanform erwächst aus einem Ungenügen an den bisherigen kaum variierten Darstellungsformen der Autobiographie. Sie konnten dem gewachsenen Individualitätsbewusstsein und dem dadurch gleichfalls gewachsenen Bedürfnis nach individualisierter Beschreibung des eigenen Lebens nicht mehr genügen. Gefordert war nun ein Modus autobiographischen Schreibens, der genügend Distinktionsmerkmale zu anderen Autobiographien ermöglichte, um die eigene Individualität nicht nur durch die Individualität der eigenen Erlebnisse, sondern auch durch die Individualität ihrer Deutung und Darstellung hervorzuheben.51 Deshalb wendet sich die Autobiographie dem sich zu dieser Zeit erneuernden Roman zu, der aus einer »Abfolge von Krisen«52 herausfindet und nun seine dauerhafte und eigenständige, vom Epos und vom höfischen bzw. galanten Roman abgelöste Gestalt gewinnt, die »am Ende des 18. Jahrhunderts zur Kunstform wurde«,53 nachdem sie in den Poetiken bislang zumeist zugunsten des Epos vernachlässigt worden war. Erst mit Christoph Martin Wielands die niederen Gefilde des bloßen Unterhaltungsromans verlassenden Geschichte des Agathon (erste Fassung 1766/67) und Friedrich von Blanckenburgs 1774 erscheinendem Versuch über den Roman, der erstmals eine Poetik des Romans als Kunstgattung zu etablieren versucht, gewinnt der Roman die Aufmerksamkeit führender zeitgenössischer Autoren und Rezipienten. Blanckenburgs Romanpoetik, die sich durchaus normativ auf Wielands ›Agathon‹ als Gattungsideal stützt, lässt sich charakterisieren durch die Hinwendung zur Alltagswelt, die Forderung nach einer möglichst realistischen Darstellung dieser Alltags49 50 51

52 53

Vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 133. Vgl. ebd., S. 132–137. Zur Bedeutung des ›Stils‹ in der Autobiographie vgl. Jean Starobinsky: Der Stil der Autobiographie [EA 1970]. In: Niggl (Hg.), Die Autobiographie (wie Anm. 17), S. 200–214 und – mit explizitem Bezug auf diese Arbeit – Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Anm. 4), S. 164–168. Vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 75. Ebd., S. 80.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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welt durch Fokussierung auf einen durchschnittlichen und bürgerlichen Helden und dessen innere, kausalpsychologisch motivierte Entwicklung sowie ein moralisch-didaktisches Postulat, das das erzählte Leben exemplarisch und nachahmenswert macht. Sie zeigt so eine gewisse Nähe zu den Alltagserfahrungen ihrer Leser, weil »dieser Realismus in Wahrheit auf der Projektion bürgerlicher Normen beruht«.54 Oliver Sill betont in diesem Zusammenhang »die letztlich instrumentelle Funktion der Wahrscheinlichkeitsforderung Blanckenburgs für die Propagierung des bürgerlich-idealistischen Individualitätsbegriffs«55 und weist so auf die Zeitgebundenheit des zugrunde liegenden Realismusgedankens hin, der dann wiederum Folgen auch für die Realismusdefinition in Autobiographie und Roman hat. Diese Orientierung der Realismusdefinition am zu einem bestimmten historischen Augenblick vorherrschenden Individualitätsbegriff macht wiederum die Tauglichkeit der Romanform für die Darstellung des eigenen Lebens augenfällig und kann auch zur Erklärung der Verwandlung der Autobiographieform im 20. Jahrhundert dienen, die ja gleichfalls auf einem gewandelten Realismusbegriff beruht, wie er seit den 1920er Jahren Eingang in den modernen Roman und seine Poetik gefunden hat. Die Autobiographieforschung hat diesen Schritt aber erst im letzten Jahrzehnt nachvollzogen, obwohl sich die Praxis des autobiographischen Schreibens den Formen des modernen Romans schon längst – spätestens seit den frühen 1970er Jahren – angenähert hat. Autobiographie und Roman, so lautet die These, die Klaus-Detlef Müller in seiner Habilitationsschrift vertritt,56 nähern sich unter der sich rasch ausbrei54 55

56

Ebd., S. 111. Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 53. – Seine eigene, der modernen Autobiographie gewidmete Dissertation versucht deshalb auch den anachronistischen Realismusbegriff des 19. Jahrhunderts, der bis in die Gegenwart für die Definition der Autobiographie grundlegend ist, für die Gattung der Autobiographie zu überwinden und durch die gewandelte Definition von Realismus in der fiktionalen Literatur des 20. Jahrhunderts zu ersetzen. Diesen Weg hat – ungefähr zeitgleich – Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Anm. 4), in ihrer Dissertation ebenfalls unternommen. Vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 74–84 und S. 107– 121. – Dagegen argumentiert Elisabeth Vollers-Sauer: Prosa des Lebensweges: literarische Konfigurationen selbstbiographischen Erzählens am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart: M & P, Verlag für Wissenschaft und Forschung 1993, S. 30–38, mit der Unbekanntheit des Blanckenburgischen Versuchs bei den Zeitgenossen, was seine Gültigkeit als Referenz für die behauptete Annäherung von Autobiographie und Roman einschränkt, und der darin zum Ausdruck kommenden Ablehnung des biographischen, d. h. an den kontingenten Erlebnissen eines tatsächlich existierenden Individuums orientierten Erzählens. Vollers-Sauer weist in Anlehnung an Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie: Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart: Metzler 1987 (Germanistische Abhandlungen; 62), S. 24f. darauf hin, dass Wielands Agathon eben nicht einem solchen Individuum nachgebildet ist, sondern vielmehr den Idealtypus eines Individuums darstellt; die Wahrheit des Agathon ist also eine poetische und keine histori-

22

1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

tenden Forderung nach einer realistischen Darstellungsweise im Roman sowie im Gefolge eines zunehmenden Individualitätsbewusstseins, das die jetzt entstehende Form der Autobiographie kennzeichnet, einander an. Die Autobiographie entwickelt sich durch diesen Prozess von einer reinen, wie sie noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts dominierte, zu einer literarisierten Zweckform: Die Literarisierung der Autobiographie am Ende des 18. Jahrhunderts ist nicht einseitig aus den Bedürfnissen einer differenzierteren Selbstdarstellung zu erklären; vielmehr machte erst die entsprechende und gleichzeitige Erneuerung des Romans im Zeichen eines verschärften Wirklichkeitsanspruchs eine Annäherung der Autobiographie an die Darstellungstechniken des zeitgenössischen literarischen Erzählens möglich. Die Literarisierung verlief parallel zu jenem Prozeß, dessen Ergebnis die ästhetische Emanzipation des Romans war; pointiert formuliert erfolgten also die Literarisierung des Romans und die Literarisierung der Autobiographie synchron und beeinflußten sich wechselseitig.57

Im weiteren Verlauf dieser Entwicklung kommt es – wenn man der Metaphorik der Forschung glauben mag – zur ›Blütezeit‹ der deutschen Autobiographie in den Jahrzehnten zwischen 1785, als der erste Band von Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser erscheint, und 1833, als der letzte Band von Goethes Dichtung und Wahrheit aus dem Nachlass von Johann Peter Eckermann herausgegeben wird. Es lässt sich zunächst keine durchgängige Tendenz oder lineare Entwicklung in der autobiographischen Produktion dieser Jahre feststellen; die Werke erscheinen relativ unbeeinflusst voneinander, es gibt noch kein kanonisches Modell autobiographischen Schreibens58 – eine Tatsache, die die Autobiographie dieses halben Jahrhunderts, aber auch die Forschungsarbeiten zu dieser Epoche so außerordentlich fruchtbar macht, weil die Werke sich nicht in der Nachahmung überkommener Formen und Muster von Lebensbeschreibungen erschöpfen, sondern sich auf die Suche nach neuen, dem gewandelten Individualitäts- und Realitätsverständnis der Zeit entsprechenden Möglichkeiten autobiographischer Darstellung machen.59 Ein sich allmählich verfestigendes Modell autobiographischen Schreibens bildete sich erst mit Goethes zwischen 1809 und seinem Todesjahr 1832 entstandenem und in vier Teilen publiziertem autobiographischen Hauptwerk Dichtung und Wahrheit heraus. Zur Kanonisierung dieses Modells kam es jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Apotheose des in seinen letzten Lebensjahrzehnten von den Zeitgenossen überwiegend abge-

57 58 59

sche, wie sie, den Postulaten der idealistischen Ästhetik entsprechend, von der Autobiographie erwartet und verlangt wird. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 74. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. zur Entwicklung der deutschen Autobiographie bis Goethe die vergleichenden Forschungsarbeiten von K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Anm. 37), Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26) sowie – mit europäischer Ausrichtung – Wuthenow, Das erinnerte Ich (wie Anm. 48).

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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lehnten Dichters allmählich einsetzte und dadurch auch seiner Autobiographie als vermeintlich authentischem Zeugnis seines tatsächlich gelebten Lebens zu neuer Beachtung verhalf. Dieser Text, zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt abgefasst und so letztlich nur in diesem historischen Kontext auffassbar und deutbar, diente sowohl den Autobiographen der Folgezeit als auch den Theoretikern der Autobiographie von Dilthey und Misch bis zu den Wissenschaftlern der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts als überhistorisches und unerreichbares Modell autobiographischen Schreibens. Unter dieser Prämisse kann die weitere Geschichte der noch jungen Gattung der literarischen Autobiographie nur noch als eine des Niedergangs und des Verfalls betrachtet werden, weil sie sich in der Nachahmung eines unerreichbar gedachten Urbilds erschöpft.60 Am Mythos dieser Verfallsgeschichte einer Literaturgattung haben Autoren und Wissenschaftler gleichermaßen mitgewirkt: die Autoren, weil sie in mehr oder weniger sklavischer Nachfolge die Einmaligkeit eines historischen Moments konservieren und das entelechische Modell Goethes in die eigene Gegenwart hinüber retten wollten; ein Verfahren, das die Wissenschaftler unterstützten, weil sie bereitwillig dieses Modell bzw. eine bestimmte Interpretation desselben als Maßstab akzeptierten und die Autobiographien des nachgoetheschen 19. Jahrhunderts an dieser Norm gemessen und in abgestuften Graden verworfen haben. Parallel dazu existiert auch eine Forschungsrichtung, die die bewussten ›Verstöße‹ gegen die Regeln von Goethes literarischer Lebensdeutung und die Parodie und Travestie seines Modells sowie die völlige Ablehnung seiner Darstellungsprinzipien als schriftstellerisches Unvermögen minderbegabter Autoren bzw. schriftstellerischer Laien klassifizieren, weil sie eben dem Modell autobiographischen Schreibens nicht genügen konnten, anstatt sie als eigenständige Kunstwerke zu erforschen, die den geänderten Lebensumständen mit einer Veränderung der autobiographischen Form Rechnung tragen.

1.1.4 Goethes Dichtung und Wahrheit als Ideal klassizistischharmonischer Lebensdeutung aus dem Geist des Idealismus Die Form der literarisierten Autobiographie in der von Goethe begründeten Traditionslinie ist eng an einen von der idealistischen Philosophie geprägten emphatischen Subjektbegriff geknüpft, der wiederum eng mit der autobiographietragenden Schicht des frühkapitalistischen, vorindustriellen Großbürgertums verbunden ist, dessen Ideal die allseitig gebildete Persönlichkeit ist, wie sie sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert paradigmatisch im literarisch Gebildeten, im Schriftsteller oder Wissenschaftler, verkörpert. Was Hegel als die Geschichte des Selbstbewußtseins nachzeichnet und was in den Werken der Philosophie gewissermaßen zu den jeweiligen Resultaten der Epoche 60

Dieses Interpretationsschema liegt u. a. den gattungsgeschichtlich orientierten Arbeiten von Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung (wie Anm. 37) und Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Anm. 37) zugrunde.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung gelangt, hat seinen Begleittext und wohl auch manche Voraussetzungen speziell in der autobiographischen Literatur, in der noch als Prozeß erscheint, was die Philosophiegeschichte dann als Ergebnis verzeichnen darf, was aber als Prozeß die größere, wiewohl auch oft wieder verschleierte Unmittelbarkeit besitzt.61

In Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit findet sich das von ihm selbst auf der Grundlage des zeitgenössischen Subjektverständnisses formulierte Programm scheinbar paradigmatisch verwirklicht, das »Ich und Welt im Gleichgewicht und in wechselseitiger Verbindung«62 zur Darstellung bringen soll und sich zu diesem Zweck einer »halb poetische[n], halb historische[n] Behandlung«63 des Stoffes bedient. Dieses auch in dem »freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung«64 erkennbare Programm soll so dem alternden Dichterfürsten ermöglichen, das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken[,]65

wie es in dem hier zitierten Brief an König Ludwig I. von Bayern vom 17. Dezember 1829 heißt. Der Begriff der ›Dichtung‹ bezeichnet hier aber weniger die Verwendung literarischer Verfahren, die auch in den rhetorischen Gattungen der Zeit – wie gezeigt – bereits breite Verwendung fanden, sondern vielmehr das Prinzip der Komposition des Vorfindlichen aus dem eigenen Leben, das hier nicht – wie bei der reinen Zweckform – lediglich chronikalischannalistisch aneinandergereiht wird, sondern den ästhetischen Normen der Zeit folgend zu einem die Kontingenzen des tatsächlich gelebten Lebens eliminierenden gelingenden Ganzen komponiert wird und sich dadurch von einer rein historischen Betrachtung unterscheidet. Das Kompositionsprinzip, dessen sich Goethe hier bedient, ist dasjenige der Entelechie,66 der allmählichen und harmonischen Entwicklung im Keim bestehender Anlagen aus dem eigenen Selbst heraus und unter Einbeziehung externer, in der Umwelt des Ichs vorfindlicher Faktoren zu allmählicher Entfaltung und schließlicher Blüte. Goethe selbst hat sich zu diesem Kompositionsprinzip in einem verworfenen Vorwort zum dritten Teil seiner Autobiographie (Paralipomenon 122) explizit bekannt und es in 61 62 63

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Wuthenow, Das erinnerte Ich (wie Anm. 48), S. 10. Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung (wie Anm. 37), S. 37. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. Hg. von Peter Sprengel. München: Hanser 1985 (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert. Bd 16), S. 11f. – Aus dieser Bemerkung lässt sich auch der Titel des Werkes, Dichtung und Wahrheit, begründen, der gleichzeitig das Programm der Autobiographie festlegt, das eben in der Bewältigung der Kontingenz des geschichtlichen Lebens durch poetische Überformung besteht. Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 916. Ebd. Zum Entelechiegedanken in Goethes Dichtung und Wahrheit, der das bislang vorherrschende autobiographische Schema der ›Vorsehung‹ ablöst, vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Anm. 37), S. 136–149.

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Zusammenhang mit seinem morphologischen Denken gebracht – bereits in den hier zitierten Sätzen klingen allerdings erste Zweifel an der Haltbarkeit dieses Modells an, die sich im weiteren Verlauf der Arbeit an seinem autobiographischen Hauptwerk noch verstärken sollten: Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drei Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln. In zweiten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Bande ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen. Freilich ist es Gartenfreunden wohl bekannt, dass eine Pflanze nicht in jedem Boden, ja in demselben Boden nicht jeden Sommer gleich gedeiht, und die angewendete Mühe nicht immer reichlich belohnt[.]67

Zugleich stellt diese Art der Dichterautobiographie auch eine Verwandlung des Providenzmodells der Bekenntnisliteratur dar, die den Sinn des Dargestellten eben nicht in der Welt und in dem in dieser Welt gelebten Leben gesucht hat, sondern in einer jenseitigen Instanz – eben dem göttlichen Willen und seinem Wirken. Zur Eliminierung der Kontingenzen des tatsächlich gelebten Lebens bedarf es daher jetzt eines neuen Ansatzes, der den Providenzgedanken nicht nur inhaltlich – wie etwa bei Jung-Stilling –, sondern auch formal säkularisiert und das Leben auf einen innerweltlichen Sinn, auf ein innerweltliches Ziel hin zu organisieren vermag, ohne sich dabei auf eine übernatürliche Instanz berufen zu müssen. Zur Darstellung dieses Sinns bedient sich Goethe der Idee des ›Grundwahren‹, die bei der Eliminierung der kontingenten Elemente hilft, und des Kompositionsprinzips der Entelechie, das es ihm ermöglicht, den Gang seines Lebens allein aus dem Wesen der Natur zu erklären. Zum besseren Verständnis dieses Gedankens kann ein Blick in die zeitgenössischen Vorlesungen über die Ästhetik des Berliner Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel dienen, die er 1817/18 noch in Heidelberg und in den 1820er Jahren mehrfach in Berlin vorgetragen hat. Hegel unterscheidet hierin die Poesie von den prosaischen Gattungen, zu denen vor allem die Geschichtsschreibung zählt. Zu ihr sind auch die Biographie und die den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend von dieser nicht abgegrenzte Autobiographie als Untergattungen zu zählen.68 Er gesteht der Geschichtsschreibung aber gleichwohl eine gewisse Affinität zur Poesie zu, die in der gemeinsamen Stoffgrundlage – auch die Dichtung bedient sich aus der Geschichte – besteht und daher eine sorgfältige philosophische Unterscheidung um so notwendiger macht: »Denn 67 68

Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 868. Zur Ausdifferenzierung der Gattungen, vor allem zur Differenzierung zwischen Biographie und Autobiographie vgl. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 26), S. 41–47 und S. 114–117.

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nicht nur die Art und Weise, in der die Geschichte geschrieben wird, sondern die Natur ihres Inhaltes ist es, welche sie prosaisch macht«.69 Die ›prosaische Natur‹ der Geschichtsschreibung und somit auch der historischen Biographie besteht zum einen in der Erkenntnis der Fremdbestimmtheit des Subjekts und – damit korrespondierend – zum zweiten in seinem Unterworfensein unter die Kontingenzen seines tatsächlich gelebten Lebens. Beides muss von der historischen Biographie bei der Darstellung berücksichtigt werden. Die Poesie, die in der Wahl und der Anordnung ihres Stoffes völlig frei ist von den Zwängen der empirischen Welt, obwohl sie sich natürlich aus ihrem Reservoir bedient, um ihre Stoffe zu finden, kann sich ganz auf die »eine Grundidee [...], zu deren Darstellung das Kunstwerk überhaupt unternommen wird« konzentrieren ohne in irgendwelchen Detailrealismus zu verfallen, der von dieser ›Grundidee‹ wegführt.70 Statt dessen ist sie nur den Gesetzen des ›Kunstschönen‹ unterworfen, d. h., sie muß in ihrem Inhalte Zweck für sich selbst sein und alles, was sie ergreifen mag, in rein theoretischem Interesse als eine in sich selbständige, in sich geschlossene Welt ausbilden. Denn nur in diesem Falle ist, wie die Kunst es verlangt, der Inhalt durch die Art seiner Darstellung ein organisches Ganzes, das in seinen Teilen den Anschein eines engen Zusammenhangs und Zusammenhalts gibt und der Welt relativer Abhängigkeiten gegenüber frei für sich nur um seiner selbst willen dasteht.71

Die historische Biographie hingegen muss sich den genannten Gesetzen der ›prosaischen Natur‹ ihres Gegenstands unterwerfen und diese bei der Darstellung berücksichtigen. Darin besteht der Hauptunterschied zur biographischen Romanform, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, spätestens aber seit Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (erste Fassung: 1766/67) vorherrschend wurde. Hier wird – dies hat Elisabeth Vollers-Sauer in ihrer Dissertation herausgearbeitet72 – das Leben des Helden eines fiktionalen Texts um eine ›Grundidee‹ (um einen Hegelschen Begriff zu benutzen) herum konstruiert, die im Falle ihres Gelingens eine »organische[] Totalität« erschafft, die eine »Einheit in sich selbst«73 besitzt, in dem sie die Abstraktheit der ›Grundidee‹ rückstandslos in der individuellen Konkretheit der Darstellung aufgehen lässt, worin sich die Dichtung von der Philosophie, die nämlich abstrakt bleibt, unterscheidet: »Der Inhalt nämlich eines poetischen Werks darf nicht an sich selbst abstrakter, sondern muß konkreter Natur sein.«74 Eine solche ›Grundidee‹, ein solcher ›substantieller Zweck‹, lässt sich zwar auch in einem tatsächlich gelebten Leben finden und darstellen. Jedoch fehlt 69 70 71 72 73 74

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge (2 Bände). Berlin: Das Europ. Buch 1985 (eurobuch; 7), S. 352. Vgl. ebd., S. 348. Ebd., S. 332f. Vgl. Vollers-Sauer, Prosa des Lebensweges (wie Anm. 56), S. 30–38. Beide Zitate: Hegel, Ästhetik (wie Anm. 69), S. 345. Ebd., S. 349.

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einem solchen Leben die Wesensbestimmung des Poetischen, die in der Freiheit der Wahl des Stoffes und seiner Anordnung besteht, die eine Eliminierung des Kontingenten zugunsten des »Schein[s] selbständiger Freiheit«75 ermöglicht: Auch bei den großen Individuen nämlich ist der substantielle Zweck, dem sie sich widmen, mehr oder weniger gegeben, vorgeschrieben, abgenötigt; und es kommt insofern nicht die individuelle Einheit zustande, in welcher das Allgemeine und die ganze Individualität schlechthin identisch, ein Selbstzweck für sich, ein geschlossenes Ganzes sein soll.76 In der Biographie zwar scheint eine individuelle Lebendigkeit und selbständige Einheit möglich, da hier das Individuum sowie das, was von demselben ausgeht und auf diese eine Gestalt zurückwirkt, das Zentrum der Darstellung bleibt, aber ein geschichtlicher Charakter ist auch nur eines von zwei verschiedenen Extremen. Denn obschon derselbe eine subjektive Einheit abgibt, so tun sich dennoch auf der anderen Seite mannigfaltige Begebenheiten, Ereignisse usf. hervor, die teils für sich ohne inneren Zusammenhang sind, teils das Individuum ohne freies Zutun desselben berühren und es in diese Äußerlichkeit hineinziehen.77

So streitet sich in der historischen Persönlichkeit die ›subjektive Einheit‹ der Person, die – isoliert betrachtet – auch wesentliches Merkmal des Kunstwerks ist, mit den Kontingenzen der Weltgeschichte und persönlichen Lebensumständen, denen das Individuum unterworfen ist und denen man nur durch die Beachtung der Anforderungen der ›prosaischen Darstellung‹ gerecht werden kann. Goethes Konzept des ›Grundwahren‹, das wohl nicht zufällig mit Hegels Begriff der ›Grundidee‹ korrespondiert, um die herum die Kunstform des biographischen Romans konstruiert ist, setzt hier an: Er versucht eine Synthese von poetischer und prosaischer Behandlung seines Stoffes, um die ›subjektive Einheit‹ seiner selbst auf historischer Grundlage – die zahlreichen Vorarbeiten, Notizen und Lektüren historischer Werke belegen diese – darstellen zu können. Offensichtlich sieht er keine kategorialen und damit nicht überschreitbaren Unterschiede zwischen Dichtung und empirischer Wirklichkeit,78 die verschiedene und unvereinbare Aussagemodi bedeuten, sondern er vermittelt durch die Ästhetisierung der Biographie zwischen den beiden Aussagemodi. Um diese Ästhetisierung der eigenen Biographie auch im autobiographischen Text selbst kenntlich zu machen – die bisherigen Goethe-Zitate stellen ja allenfalls ›Paratexte‹ im Sinne Genettes dar79 –, verwendet er wie auch schon zahl75 76 77 78

79

Ebd., S. 350 Ebd., S. 353. Ebd., S. 354f. Vgl. hierzu K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 282, der für diese These eine Ankündigung Goethes für die Werkausgabe letzter Hand zitiert, in der Goethe sowohl den autobiographisch inspirierten Werther-Roman als auch tatsächlich autobiographisches Schrifttum unter der Rubrik »Romane und Analoges« zusammenfasst. Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich; aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main [u. a.]: Campus 1989, S. 9f:

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reiche seiner Vorgänger – das Beispiel Jung-Stillings wurde benannt – das Verfahren der Literarisierung des autobiographischen Texts durch Orientierung an und Verwendung von literarischen Formen und vorgefundenen Mustern. Dies zeigt sich etwa bei der Übernahme von Personenkonstellation, Namen und Genreszenen aus dem Roman The vicar of Wakefield (1766) des englischen Autors Oliver Goldsmith, der etwa zur Zeit des SesenheimErlebnisses des jungen Goethe (1770/71) entstanden ist, den er aber wohl erst später rezipiert und zur Abfassung der entsprechenden Kapitel von Dichtung und Wahrheit herangezogen hat.80 Die Verwendung literarischer Formen und seine Anleihen bei der fiktionalen Literatur verdeutlichen die Tendenz zur poetischen Behandlung der Darstellung seines Lebens. Sie sind ein Signal für die poetische Überformung einer ›prosaischen‹ Gattung und somit das Bekenntnis einer Grenzüberschreitung, die Goethe für sein autobiographisches Anliegen als notwendig erachtet und offensichtlich nicht als schwerwiegenden Verstoß gegen die Gattungsgrenzen empfindet. Dieses Verfahren ermöglicht es Goethe, sein Leben als ein sinnvolles Ganzes und in stetiger, aber letztlich affirmativer Auseinandersetzung mit seiner Umwelt gelebtes darzustellen, in dem sich »Ich und Welt im Gleichgewicht und in wechselseitiger Verbindung«81 befinden und in dem so die Identität des Individuums durch den Zusammenhang der Ereignisse und ihren Bezug auf das erlebende Individuum gewahrt bleibt:

80 81

»Ein literarisches Werk besteht ausschließlich oder hauptsächlich aus einem Text, das heißt (in einer sehr rudimentären Definition) aus einer mehr oder weniger langen Abfolge mehr oder weniger bedeutungstragender verbaler Äußerungen. Dieser Text präsentiert sich jedoch selten nackt, ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen wie einem Autorennamen, einem Titel, einem Vorwort und Illustrationen. Von ihnen weiß man nicht immer, ob man sie dem Text zurechnen soll; sie umgeben und verlängern ihn jedenfalls, um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen. Dieses unterschiedlich umfangreiche und gestaltete Beiwerk habe ich an anderer Stelle [...] und in Anlehnung an den mitunter mehrdeutigen Sinn dieser Vorsilbe im Französischen [...] als Paratext des Werkes bezeichnet. Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt. [...] Diese Anhängsel, die ja immer einen auktorialen oder vom Autor mehr oder weniger legitimierten Kommentar enthalten, bilden zwischen Text und Nicht-Text nicht bloß eine Zone des Übergangs, sondern der Transaktion: den geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre – relevanter, versteht sich in den Augen des Autors und seiner Verbündeten.« Vgl. hierzu auch den Kommentar der Münchner Ausgabe zu Goethes Autobiographie in Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 996. Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung (wie Anm. 37), S. 37.

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Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, um zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.82

Die Literarisierung der Autobiographie, durch die das klassizistische Harmonieideal in der Darstellung des eigenen Lebens zum Ausdruck kommt, kann als ein Versuch zur Bewältigung der Kontingenzerfahrung im eigenen gelebten Leben in einer zunehmend unübersichtlicher gewordenen Welt betrachtet werden, in der Totalität nicht mehr im Weltlauf aufgefunden, sondern nur noch im Zusammenhang des einzelnen Lebens scheinhaft und scheinbar, d. h. als Kunst, (re-)konstruiert werden kann. Die Worte Georg Lukács’ in seiner Theorie des Romans haben deshalb auch für die Form der literarisierten Autobiographie seit dem 18. Jahrhundert Geltung: Die äußere Form des Romans ist eine wesentlich biographische. Das Schweben zwischen einem Begriffssystem, dem das Leben immer entgleitet, und einem Lebenskomplex, der niemals zur Ruhe seiner immanent-utopischen Vollendung zu gelangen vermag, kann sich nur in der erstrebten Organik der Biographie objektivieren. [...] Denn die Zentralgestalt der Biographie ist nur durch ihre Beziehung auf eine sich über sie erhebende Welt der Ideale bedeutsam, aber diese wird zugleich einzig durch ihr Leben in diesem Individuum und durch das Auswirken dieses Erlebens realisiert.83

Die Intention Goethes zielt in der Hauptsache auf Selbstvergewisserung und Verstehen des eigenen Leben durch erinnernde Vergegenwärtigung des Erlebten und des Geschaffenen. Der Dichter Goethe versucht, den Zusammenhang zwischen Leben und Werk, der dem auf nahezu allen zeitgenössischen Wissensgebieten dilettierenden Menschen Goethe am Ende seines Lebens offensichtlich zu entgleiten drohte, durch die Transformation des eigenen, gelebten Lebens in die künstlerische Form der Autobiographie wiederherzustellen. Die (Wieder-)Herstellung dieses Zusammenhangs gelingt dem Dichter Goethe nur unter ästhetischen Prämissen, die es erforderlich machen und somit eben auch legitimieren, die kontingenten Elemente der eigenen Existenz zugunsten der Behauptung einer entelechisch verlaufenden Entwicklung zu eliminieren. Indem Goethe die Forderungen der idealistischen Ästhetik auf eine – den Konventionen der zeitgenössischen Ästhetik zufolge – Gattung der Geschichts82 83

Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 11. Georg Lukács: Die Theorie des Romans: ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik; mit dem Vorwort von 1962. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1994 (dtv: Wissenschaft; 4624), S. 66f. – Vgl. hierzu auch Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 66.

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schreibung überträgt, eröffnet er einer neuen literarischen Form den Weg, die dann im 19. Jahrhundert bestimmend für den deutschen Roman werden sollte: Das ›Erbe‹ von Dichtung und Wahrheit konnte vom Bildungsroman gerade deshalb angetreten werden, weil mit jenem Werk das Muster einer im Autobiographischen fundierten Erzählform geschaffen war, die überdies das zentrale Postulat idealistisch-philosophischer Ästhetik erfüllte: epische Totalitätsdarstellung im Horizont einer individuellen Bildungsgeschichte.84

Anlass zu dieser autobiographischen Selbstvergewisserung ist für Goethe die Vorbereitung einer Ausgabe seiner sämtlichen Werke bei Cotta, um sich selbst sowie dem sich zusehends von ihm ab- und den Autoren der Romantik zuwendenden Publikum diesen Zusammenhang darzustellen: Ich unterzog mich daher sogleich der vorläufigen Arbeit, die größeren und kleineren Dichtwerke meiner zwölf Bände auszuzeichnen und den Jahren nach zu ordnen. Ich suchte mir Zeit und Umstände zu vergegenwärtigen, unter welchen ich sie hervorgebracht. Allein das Geschäft ward bald beschwerlicher, weil ausführliche Anzeigen und Erklärungen nötig wurden, um die Lücken zwischen dem bereits Bekanntgemachten auszufüllen. Denn zuvörderst fehlt alles woran ich mich zuerst geübt, es fehlt manches Angefangene und nicht Vollendete; ja sogar ist die äußere Gestalt manches Vollendeten völlig verschwunden, indem es in der Folge gänzlich umgearbeitet und in eine andere Form gegossen worden.85

Die vorangegangenen Erläuterungen, die den Thesen verpflichtet sind, die Klaus-Detlef Müller in seiner Habilitationsschrift entwickelt hat, legen also nahe, Dichtung und Wahrheit weniger als strahlendes Produkt einer ihrer selbst und ihrer Leistung bewußten Individualität, als Rechenschaft des sich fühlenden Genies zu verstehen. Das Werk ist vielmehr Ausdruck und Ergebnis einer tiefen Resignation und der Versuch, das eigene Unbehagen über das Vollbrachte durch den Versuch einer neuen Synthese zu mindern, wie auch dem Unverständnis des Publikums und der Rezensenten so weit entgegenzukommen, wie es das Verständnis für die Problematik des Abstands von Wollen und Gelingen erlaubte.86

Das Werk taugt daher nicht zur ahistorischen Verabsolutierung; es ist das Werk und das Zeugnis einer individuellen Krise, das nicht den verklärenden Rückblick eines selbstzufriedenen, den Zeitläuften enthobenen Dichterfürsten auf ein gelungenes Leben enthält.87 Es stellt statt dessen das Ringen eines 84 85 86 87

Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 67. Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 10f. Vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 243–278, Zitat S. 251f. Seit seiner Rückkehr aus Italien 1788 und dem Einsetzen der klassischen Periode in Goethes literarischer Produktion setzte ein zunehmender Entfremdungsprozess zwischen dem Dichter und seinem Publikum ein, das ihn einstmals wegen seiner vom Sturm und Drang geprägten Arbeiten geliebt hatte. Diese Ablehnung, die sich bei den Vertretern der Romantik bis zu tiefem Hass gegenüber dem ›Fürstenknecht‹ und

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alternden, sich zunehmend sich selbst, seinem Leben und Werk sowie den Zeitläuften entfremdenden Mannes dar, dem die Identifikation mit sich selbst als Grundlage der Selbstzufriedenheit immer weniger gelingt und der, je weiter die Autobiographie fortschreitet und das eigene Leben sich dem Ende zuneigt, desto stärker an diesem Gelingen zweifelt und trotzdem oder deswegen darauf beharrt, ja beharren muss: Es sind wenig Biographieen, welche einen reinen, ruhigen, steten Fortschritt des Individuums darstellen können. Unser Leben ist, wie das Ganze in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt. Unser Wollen ist ein Vorausverkünden dessen, was wir unter allen Umständen tun werden. Diese Umstände aber ergreifen uns auf ihre eigene Weise. Das Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab, nach dem Warum dürfen wir nicht fragen, und deshalb verweist man uns mit Recht auf’s Quia.88

Der Goethesche Entelechiegedanke, das wird hier sichtbar, beruht also keineswegs – wie etwa Ingrid Aichinger noch behaupten konnte – auf einer überlegenen Einsicht in die stetige Entwicklung des eigenen Ich zu schließlicher Größe und Vollendung der eigenen Individualität in sich selbst und durch sich selbst, sondern er ist eine Reaktion des Trotzes und des Trostes eines zutiefst verunsicherten Individuums, das den Zufälligkeiten der eigenen Existenz, mithin also: der Einsicht in die Historizität und Kontingenz des eigenen Lebens und der dieses Leben bedingenden äußeren Ereignisse, eine aus sich selbst gewonnene und ex post formulierte Sinnstruktur geben möchte. Möglich wird diese Selbstvergewisserung durch die die eigene Existenz (re-)konstruierende Arbeit an der Autobiographie. Die Notwendigkeit solcher Selbstvergewisserung setzt die Existenz von Selbstzweifeln zwingend voraus; nur das Fragwürdige, Ungesicherte bedarf der Reflexion und Bestätigung. Die Existenz solcher Zweifel belegt das bereits zitierte Paralipomenon 122, das verworfene Vorwort zum 3. Teil von Dichtung und Wahrheit. Mit diesem 3. Teil in seiner 1813 konzipierten Gestalt sollte die Autobiographie ursprünglich bis ins Jahr 1775 geführt werden und ihren Abschluss mit dem Aufbruch nach Weimar finden, weil sich unter den Bedingungen einer zunehmend fremdbestimmten Existenz – als Beamter am Hof eines absolutistischen Fürsten – die Idee der Entelechie nicht mehr weiterdenken lässt. Direkt im Anschluss an die oben entfaltete, in Analogie zur Metamorphose der Pflanzen

88

Verteidiger der Restauration gegen die Revolution bis hin zur Unterstützung Napoleon Bonapartes während der deutschen Befreiungskriege steigerte, beherrschte die Goethe-Rezeption bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. – Zur Goethe-Rezeption in Deutschland vgl. Wolfgang Leppmann: Goethe und die Deutschen: der Nachruhm eines Dichters im Wandel der Zeit und der Weltanschauungen. Akt. Ausgabe. Berlin: Ullstein 1998, für die zeitgenössische Rezeption vor allem S. 15–60. Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 511f. – Vgl. dazu auch die Bedeutung des ›Dämonischen‹ im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit.

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entwickelte Idee der Entelechie behauptet Goethe die Unmöglichkeit ihrer Perpetuierung unter den veränderten äußeren Bedingungen seiner Existenz: [D]en in der nächsten Epoche [der Weimarer Zeit zumindest bis zum ersten Italienaufenthalt 1786–88, der dann wieder neuen Antrieb für die eigene dichterische Produktivität bringt und sich autobiographisch in der allerdings erst Jahrzehnte später entstandenen Italienischen Reise niederschlägt; M. M.] zu der ich schreiten müsste fallen die Blüten ab, nicht alle Kronen setzen Frucht an und diese selbst, wo sie sich findet, ist unscheinbar, schwillt langsam und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherlei Zufälligkeiten und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt.89

Auch der tatsächliche Schluss von Dichtung und Wahrheit belegt die Existenz von Zweifeln an dem Gedanken eines entelechisch verlaufenden Lebens seitens ihres Verfassers. Diese Zweifel kulminieren in der Einführung des Gedankens des ›Dämonischen‹, »das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff noch viel weniger unter ein Wort gefasst werden konnte«.90 Das ›Dämonische‹ – sein Wesensgehalt sollte sich für Goethe im Laufe seines Lebens mehrfach ändern – stellt für den alternden Goethe eine existentielle Bedrohung dar, »weil es seine schwer errungene Ruhe erschüttert und feindselig seinen Selbstbehauptungswillen durchkreuzt«.91 In der autobiographischen Rückschau kommt diese Erkenntnis freilich erst ganz zum Schluss zum Tragen, weil sie andernfalls das ganze Unternehmen bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Frage gestellt hätte, da sie das ganze Programm von Dichtung und Wahrheit letztlich ad absurdum geführt hätte. Deutlicher als in Dichtung und Wahrheit zeigt sich das Einbrechen der Fragwürdigkeit und Ungesichertheit der menschlichen Existenz – mit Goethes Worten: des ›Dämonischen‹ – in den anderen autobiographischen Schriften Goethes, besonders in den die Revolutionskriege thematisierenden Schriften sowie in den Tag- und Jahresheften, die allerdings in die Kategorie des Tagebuchs fallen. Hier zeigen sich die Grenzen auch des Goetheschen Willens zur Form als Darstellung der Entelechie des eigenen Selbst deutlicher als in den doch recht idyllischen und ungefährdeten Kindheits- und Jugenderinnerungen von Dichtung und Wahrheit, die noch rückstandsfrei ästhetisierbar sind, wohingegen diese Ästhetisierung angesichts der Schrecken des Krieges und des Todes nicht einmal mehr für Goethe durchhaltbar erscheint.92 Dies belegt etwa das sprach- und schriftlose Entsetzen Goethes nach dem Tode des um ein Jahrzehnt jüngeren Dichterfreundes Schiller, das sich in den weißen Blättern des Tagebuchs manifestiert. 89 90 91 92

Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 868. Ebd., S. 820. Walter Muschg: Goethes Glaube an das Dämonische. In: Ders.: Studien zur tragischen Literaturgeschichte. Bern, München: Francke 1985, S. 43. Vgl. Pfotenhauer, Literarische Anthropologie (wie Anm. 56), S. 144–179.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

33

1.1.5 Von Goethes Dichtung und Wahrheit zu modernen Formen autobiographischen Schreibens Die ausführlichen Überlegungen zu Dichtung und Wahrheit sollen zeigen, dass bereits hier, auf dem ›Gipfelpunkt‹ der klassischen bürgerlichen Autobiographik, der ›Keim‹ zu dem ›Verfall‹ ihrer Form – um in der Metaphorik der Forschung bis in die frühen 1970er Jahre zu bleiben – angelegt ist. Diejenigen Arbeiten, die sich mit der Entwicklung der nachgoetheschen Autobiographie des 19. Jahrhunderts beschäftigt haben, sehen in ihr vor allem das Zeugnis eines Mangels, der sich in der Diskrepanz zwischen der modellhaft gedachten Form von Dichtung und Wahrheit unter Ausblendung der oben genannten, die klassizistische Harmonie störenden Tendenzen93 und den Formen der epigonal gedachten Autobiographien des 19. und 20. Jahrhunderts manifestiert. Für diese Deutung der nachgoetheschen Autobiographie als Ausdruck des Zerfalls einer vollendet gedachten Form lassen sich zu jener Zeit vor allem Ingrid Aichinger und Bernd Neumann anführen (vgl. Anm. 37). Beide bedienen sich geschichtsphilosophisch inspirierter Verfallsthesen, indem sie – mit Jacob Burckhardt – die Autobiographie als eine genuin bürgerliche Literaturgattung betrachten, die dann notwendigerweise mit dem allmählichen Verschwinden des Bürgertums bzw. seiner Transformation im Zeitalter der beginnenden und voranschreitenden Industrialisierung ebenfalls in Niedergang und Verfall begriffen ist. Fluchtpunkt der Argumentationslinie dieser Autobiographiehistoriker sind dabei zumeist diejenigen Texte von Theoretikern des frühen 20. Jahrhunderts, die – geprägt durch die frischen Erlebnisse des Weltkrieges – einen zutiefst pessimistischen Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten und -wege des Subjekts in der Moderne geworfen haben und den Beginn dieser Krise, deren Höhepunkt in den Materialschlachten des Krieges und der darin vollendeten Auslöschung des Subjekts zu finden ist, auf die sozialen, ökonomischen und politischen Umwälzungen projizieren, die die ›verspätete Nation‹ der Deutschen eben erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht haben. Zu denken ist hier vor allem an Georg Lukács’ geschichtsphilosophisch inspirierten Versuch einer Theorie des Romans aus dem Winter 1914/15, Walter Benjamins »Erzähler«Aufsatz von 1936, zu dem sich Vorstudien und Stoffsammlungen seit 1928 nachweisen lassen, sowie an zahlreiche Texte Theodor W. Adornos, die in ihrem Zusammenhang sowohl die Theorie als auch die Praxis der Literatur seit den späten 1960er Jahren entscheidend geprägt haben. 93

Vgl. Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 21 über Aichingers Methode und Prämisse, die aus der Sicht der heutigen Goethe-Philologie eben nicht mehr haltbar ist: »Um den zugrunde gelegten Gattungsbegriff nicht selbst zu widerlegen, muß die volle Entfaltung der Persönlichkeit als geschichtlich eingelöst ausgegeben werden, so daß der ideologische Gehalt jener Behauptung eines konsistenten Ichs, der ›Einheit des Subjekts‹[...], als Grundbedingung einer ihrem ›eigentlichen Wesen‹ gerecht werdenden autobiographischen Gestaltung nicht wahrgenommen wird.«

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

Ausgehend von Lukács’ These vom Roman als »ein[em] Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit«94 des modernen Menschen, die sich in seiner zunehmenden Isolierung in der Gesellschaft und in der allmählichen Ablösung von den Traditionen und Formen des Zusammenlebens sowie den natürlichen Lebenszusammenhängen manifestiert, in die der Mensch in traditionellen Gesellschaften eingebettet ist, wird auch die Literatur der Moderne zum Spiegel dieser umfassenden Entfremdungserfahrung. Der autobiographisch geprägte Roman steht bei Lukács hier paradigmatisch als Versuch, die unwiederbringlich vergangene Totalität einer Welt und mit ihr die »Lebensimmanenz des Sinnes«95 in die künstlich geschlossene Form einer Romanwelt zu gießen, die ihren Zusammenhang allein durch das Subjekt gewinnt, das die heterogenen Ideen und Erscheinungen der Welt zusammenzwingt.96 Die Person Goethes sowie seine Autobiographie nehmen bei der Übertragung dieser Theoriediskussion aus dem Bereich fiktionalen Erzählens in den des autobiographischen Schreibens eine Scharnierstellung ein, markiert seine Lebenszeit doch den Umbruch von einer traditionalen Ständegesellschaft, in die er hineingeboren wurde, zunächst zu einer Bürgergesellschaft und dann, weniger in Deutschland als zunächst in England und in den Vereinigten Staaten, zu einer modernen Industriegesellschaft, deren Heraufkommen Goethe in seinen letzten Lebensjahren beobachtet und in der er jene Entfremdungsproblematik, die nach Lukács, Benjamin und Adorno ein Charakteristikum des modernen Menschen ist, am eigenen Leib erfahren hat.97 Klaus-Detlef Müller hat – wie gezeigt – Goethes Dichtung und Wahrheit als Ausfluss der Entfremdungserfahrung und Versuch der dichterischen Überwindung einer schweren Lebenskrise durch Deu94 95 96 97

Lukács, Die Theorie des Romans (wie Anm. 83), S. 32. Ebd. Vgl. Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 70f. Formuliert ist diese Entfremdungserfahrung des ›modernen‹ Menschen von den Traditionszusammenhängen seiner Existenz bereits in der Darstellung einer Episode aus Goethes Jugendzeit. In der ineinander verschränkten Erzählung von persönlichprivatem Liebeserlebnis – die Gretchen-Episode – und Prunkentfaltung des sterbenden Alten Reichs – die Krönung Erzherzog Josephs zum römischen König am 3.4.1764 und damit seine Designation zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – im fünften Buch von Dichtung und Wahrheit wird die Distanz des Autobiographen und des übrigen Publikums gegenüber dem veralteten Zeremoniell zumindest in der autobiographischen Rückschau deutlich, nachdem das Reich 1806, als Kaiser Franz II. die Krone niederlegte, untergegangen war. – K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Anm. 27), S. 318–330 deutet diese Schilderung als eine Illustration von Jürgen Habermas’ These eines ›Strukturwandels der Öffentlichkeit‹ (S. 325) von einer repräsentativ-statischen adligen zu einer diskursivdynamischen bürgerlichen politischen Kultur. – Der letzte Schritt auf diesem Weg, die Verwandlung der bürgerlichen in eine Industriegesellschaft liegt nicht mehr im Horizont der Autobiographie, scheint aber in Goethes Romanwerk, im Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre und dem Plan der Turmgesellschaft zur Auswanderung nach Amerika auf.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

35

tung des ›Grundwahren‹ des eigenen Lebens interpretiert. Diese Deutung hat sich in der neueren Goethe-Philologie weitgehend durchgesetzt, wie etwa die »Einführung« der Herausgeber des entsprechenden Bandes der Münchner Goethe-Ausgabe zeigt.98 Dagegen hat die Autobiographieforschung bis in die frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein in Übereinstimmung mit der idealistischen Subjektphilosophie den Aspekt des Gelingens in Goethes Selbstdarstellung stärker hervorgehoben und Dichtung und Wahrheit deshalb »als historische Ausformung des Idealtypischen«99 betrachtet. Ingrid Aichinger sieht jene »Ponderation und Korrelation«100 von Ich und Welt in der nachgoetheschen Epoche durch die Dominanz einer vom autobiographischen Individuum nicht mehr verstehbaren und daher auch literarisch nicht mehr befriedigend formbaren Welt gefährdet. Bernd Neumann (vgl. Anm. 37) sieht den nachgoetheschen Menschen – er bezieht sich dabei auf die Theorien des amerikanischen Soziologen David Riesman – durch diese Entwicklung zunehmend von einem »innengeleiteten« zu einem »außengeleiteten« Individuum werden. Diese Entwicklung lässt die Autobiographie – so Neumanns These – nur noch in der Form der Parodie möglich erscheinen, weil der Subjektstatus des Autobiographen in einer zunehmend vom Ich emanzipierten Umwelt vom Rollenzwang, einer von den wechselnden sozialen Erfordernissen und Verhältnissen oktroyierten Identität, determiniert wird. Der ichlose, sich vollständig an seine Umwelt und deren wechselnde Anforderungen assimilierende Felix Krull aus Thomas Manns Roman, der ja tatsächlich die Form einer fingierten Autobiographie hat, wird als Paradigma dieses Menschentypus verstanden. Tatsächlich lässt sich in den Autobiographien des nachgoetheschen 19. Jahrhunderts eine gewisse Erstarrung der autobiographischen Tradition beobachten, die hemmend auf die Evolution der Gattungsgeschichte wirkt, weil sie bestrebt ist, formale Anachronismen zu konservieren, mit denen sich schon längst keine adäquate Wirklichkeitserfassung mehr gestalten lässt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreit sich die Autobiographie aus dieser Erstarrung, indem sich neue soziale Schichten der Gattung bemächtigen. Zu denken ist hier etwa an die Proletarier- und Arbeiterautobiographie, aber auch an die zunehmende Zahl schreibender Frauen,101 die dann auch einen neuen, von der literarischen Tradition und dem übermächtigen Vorbild Goethe unverstellten bzw. sich bewusst von ihr abwendenden Blick auf das eigene Leben werfen. Die Erfahrungswelt dieser Autobiographen ist von derjenigen Goethes endgültig so weit entfernt, dass sie sich mit den literarischen Mitteln des Weimarer Dichters 98

99 100 101

Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 63), S. 881: »Dichtung und Wahrheit ist ein Werk der Krise. Entstanden in einer Situation des Verlustes und der Verunsicherung, dient es der Selbstvergewisserung und -legitimation des Autors.« – Im folgenden werden dann die bereits von Müller benannten Krisenerfahrungen für die These namhaft gemacht. Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung (wie Anm. 37), S. 10. Ebd., S. 37. Vgl. hierzu Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 1), S. 70–84.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

und den ihnen zugrunde liegenden idealistischen Prämissen nicht mehr darstellen lässt. Dazu kommt – ähnlich wie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – ein Paradigmenwechsel im Bereich der fiktionalen Literatur, die sich allmählich vom Realismuspostulat des 19. Jahrhunderts emanzipiert und eine neue Ästhetik der Moderne produziert, die einen nahezu vollständigen Bruch mit der idealistischen Ästhetik des vergangenen Jahrhunderts bedeutet.

1.1.6 Autobiographisches Schreiben unter den Bedingungen der Moderne Lange Zeit wurden diejenigen Tendenzen in Goethes Autobiographie, die sich den Positionen modernen Schreibens in der Literatur des 20. Jahrhunderts – wenn auch nicht in praktischer Ausformung, so doch zumindest in theoretischer Vorahnung – annähern, sowohl von den literaturwissenschaftlichen Theoretikern als auch von den Verfassern autobiographischer Werke in den Hintergrund gedrängt. Obwohl Hans Mayer schon in seinem Goethe-Essay von 1973 bemerkt hatte, dass »[a]lle modernen Abwendungen vom konventionell Epischen bei Goethe vorgebildet«102 sind, setzten sich die Überlegungen, dass sich die bei der Interpretation fiktionaler Werke über Formen und Funktionen der modernen Literatur gewonnenen Erkenntnisse auf den autobiographischen Text anwenden lassen, erst allmählich durch. Jetzt erhält der Gedanke der Möglichkeit der ›literarischen Evolution‹ – um einen Begriff des Russischen Formalismus zu verwenden, den Jurij Tynjanov geprägt hat – auch in der Autobiographieforschung Gewicht. Die Literaturgeschichte der Autobiographie wird nun nicht mehr als »Aufstellung bestimmter traditioneller Normen und Gesetze«103 gesehen, die zu der »Tendenz, einzelne Werke und die Gesetze ihres Aufbaus auf ahistorischer Ebene zu erforschen«,104 führen. Statt dessen fordert Tynjanov eine erneuerte Literaturgeschichtsschreibung, die »die Erforschung der Evolu tion der literarischen Reihe, der literarischen Veränderlichkeit«105 in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt und »mit den Theorien der naiven Wertung«106 bricht, die »aus einem Epochensystem auf das andere übertragen«107 werden und so zu einer ahistorischen Betrachtung führen. Tynjanov plädiert dagegen für eine Betrachtungsweise, die die Veränderung des literarischen Genres – etwa dem der Autobio102 103

104 105 106 107

Hans Mayer: Goethe: Versuch über den Erfolg. Frankfurt am Main: Insel 1992 (Insel Taschenbuch; 1391), S. 103. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution. In: Texte der Russischen Formalisten. Bd 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, Mit einer einleitenden Abhandlung hg. von Jurij Striedter [u. a.]. München: Fink 1969, S. 433. Ebd., S. 433/435. Ebd., S. 435. – Sperrung im Zitat von Tynjanov. Ebd. Ebd.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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graphie – im Zusammenhang sowohl mit anderen literarischen Reihen und Genres als auch mit außerliterarischen Reihen sieht, die deshalb im Zusammenhang betrachtet werden müssen, weil sie sich durch das gemeinsame Instrument der Sprache wechselseitig beeinflussen. Auf die Autobiographieforschung der letzten Jahrzehnte angewendet, bedeutet dies, dass die Abwendung vom goetheschen Modell nun nicht mehr ausschließlich pejorativ konnotiert als darstellerisches Unvermögen verstanden, sondern – ins Positive gewendet – als den gewandelten Existenzbedingungen des Subjekts in der Moderne adäquate Form der autobiographischen Selbstvergewisserung gedeutet wird. Dennoch gab es bereits zu jener Zeit, den frühen 1970er Jahren, in die Hans Mayers Beobachtungen zur Modernität des Klassikers Goethe, aber auch die Arbeiten von Aichinger und Neumann zur Verfallsgeschichte der nachgoetheschen Autobiographie fallen, Überlegungen, die eine Übertragung der Erkenntnisse der modernen Erzähltheorie auf die Theorie und Praxis der Autobiographie zumindest für möglich erachteten. In seinen letzten Lebensjahren hat der 1936 mit seiner jüdischen Ehefrau aus Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrierte expressionistische Dramatiker und spätere Germanist Bernhard Blume (1901–1978) an einer Autobiographie gearbeitet, deren Fragmente 1985 von Fritz Martini und Egon Schwarz unter dem Titel Narziß mit Brille. Kapitel einer Autobiographie posthum herausgegeben worden sind. In einem Kapitel dieses Fragments, »Will ich denn eine Autobiographie schreiben?«, räsoniert er über die Situation des modernen Menschen und das daraus resultierende Problem, daß das Material, das auszubreiten ich eben angefangen habe, mir als Stoff für eine lesbare Erzählung nicht aussichtsreich erscheint, und daß ich mir außerdem die künstlerische Begabung nicht zuschreibe, die für eine solche Aufgabe nötig wäre.108

Ohne sich völlig von dem in der Forschung vorherrschenden interpretatorischen Schema der Verfallsgeschichte der autobiographischen Form im nachgoetheschen Zeitalter lösen zu können, deutet Blume die Geschichte der Autobiographie als bis in die Gegenwart von der subjektzentrierten, am biographischen und realistischen Romanmodell des späten 18. und des 19. Jahrhunderts dominierten Form bestimmt. Er sieht aber zumindest die Denkmöglichkeit einer autobiographischen Form, die sich – wiederum in Wechselwirkung mit der Entwicklung des Romans – von den überkommenen Darstellungsweisen zu lösen und Elemente des modernen fiktionalen Erzählens zu integrieren vermag: Schon oft habe ich mich gefragt, warum eigentlich noch niemand auf dem Gebiet der Autobiographie unternommen hat, was mit dem traditionellen Roman längst geschehen ist. Man hat ihn bekanntlich zertrümmert. Damit hat Rilke angefangen, im 108

Bernhard Blume: Narziß mit Brille: Kapitel einer Autobiographie. Aus dem Nachlaß zusammengestellt und hg. von Fritz Martini u. a. Heidelberg: Schneider 1985 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt; 59), S. 121f.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung Malte, und seither hat man sich daran gewöhnt, daß immer wieder erklärt wird, im modernen Roman zähle eigentlich nur noch, was kein Roman mehr sei. Die neueren Autobiographien aber sind alle noch Autobiographien. Jemand berichtet, wie es gewesen ist, gründlich, genau, von Anfang an, und ohne uns einen einzigen Großvater zu ersparen. Rilke hat vom Malte erklärt, er müsse gegen den Strich gelesen werden. Sicher hat er ihn schon gegen den Strich geschrieben. Sicher sollten auch Autobiographien gegen den Strich geschrieben werden. Niemand ist bisher darauf gekommen. Sollte es daran liegen, daß es nicht möglich ist?109

Wenngleich sich die neuere Autobiographieforschung bislang nicht auf diese frühe Erkenntnis Bernhard Blumes zur Rechtfertigung ihres Vorgehens berufen hat, findet sich der Grundgedanke seiner Ausführungen, die Übertragung von Schreibweisen und ihre erzähltheoretische Legitimation, die aus dem Bereich des fiktionalen Erzählens entliehen wurden, in fast allen modernen autobiographischen Texten und den sie begleitenden Autorenkommentaren wieder. Diese Tendenz bestand bereits zur Zeit der Abfassung von Blumes Überlegungen zur Autobiographie, wenngleich sie – das Beispiel Blumes selbst, der sich sowohl praktisch wie theoretisch mit der Gattung beschäftigt hat, belegt dies eindrücklich – noch nicht richtig ins Bewusstsein der Lesenden und Interpretierenden eingedrungen war, weil man solche Texte eben überwiegend dem Bereich des fiktionalen, nicht dem des autobiographischen Erzählens zurechnete. Die Übertragung jener Erkenntnisse, die die moderne Erzähltheorie schon in den zehner und zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, parallel zur Entstehung des modernen Romans bereitstellte, auf den Bereich des autobiographischen Erzählens erfolgte erst in den letzten beiden Jahrzehnten. Zunächst sollen aber die philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen sowie die erzähltheoretische Fundierung des modernen Erzählens kurz dargestellt werden, bevor dann auf die autobiographietheoretisch relevanten Weiterungen der Erzähltheorie in den letzten beiden Dekaden eingegangen wird. Der Traditionsbruch, den das moderne Erzählen bedeutet, lässt sich aus philosophischer Sicht als Bruch mit dem idealistischen Subjektbegriff deuten und aus ästhetischer Sicht als Bruch mit den Darstellungsprinzipien des Romans des 19. Jahrhunderts, der überwiegend aus der auktorialen Perspektive eines allwissenden Erzählers souverän über seinen Darstellungsgegenstand verfügt oder aus der Perspektive eines Ich-Erzählers in ungebrochener Subjektivität erzählt. Beiden Erzählperspektiven gemeinsam ist die Absicht, in der Kunst ein sinnvolles und realistisches Bild der Wirklichkeit zu liefern, wie sie sich dem Protagonisten des Romans – und damit auch dem affirmativen Leser – darstellt. Mit diesen Voraussetzungen, der Annahme einer sinnvoll geordneten Welt und einer sinnvoll darin erlebten Existenz, die sich ebenso sinnvoll zur Darstellung bringen lässt, bricht der moderne Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Über die philosophischen Grundlagen des Bruchs mit dem idealistischen Subjektbegriff als Voraussetzung moderner autobiographischer Schreibweisen 109

Ebd., S. 122.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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hat Manuela Günter in ihrer 1996 erschienenen Dissertation gearbeitet und folgendes festgestellt: Marxismus und Psychoanalyse, Empiriokritizismus sowie das Denken Nietzsches verweigern eine erkenntnistheoretische, identitätslogische Ableitung des Selbst ebenso, wie sie die narrative Inszenierung des Prozesses von Selbstvergewisserung in der Autobiographie in Frage stellen.110

Löst sich bei Marx das autonome Ich unter den arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen kapitalistischer Gesellschaften quasi von außen her in vom einzelnen Individuum nicht mehr beherrschbaren und durchschaubaren Entfremdungsprozessen auf, so sieht Sigmund Freud mit der Entdeckung des Unbewussten ein von innen her ansetzendes Destruktionspotential wirken, das das Selbstbewusstsein des Ichs durch die Instanzen des Über-Ichs und des Es seiner Autonomie beraubt bzw. es zu einem bloßen heuristischen Konstrukt degradiert. »Das Ich ist unrettbar«111 hat der Wiener Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach in seinen erstmals 1885 erschienenen Beiträgen zu einer Analyse der Empfindungen konstatiert. Mit diesem Schlagwort versucht er die Scheidung von Subjekt und Objekt, von Leib und Seele zum metaphysischen Scheinproblem zu erklären und plädiert statt dessen für eine rein monistische und empirische Betrachtungsweise von Welt und Erkenntnis, die »ein Ich nur als eine pr ak tis ch e Einheit für eine vorläufig orientierende Betrachtung«112 deutet, die für den eigentlichen Erkenntnisvorgang, der auf ›Empfindungen‹ oder ›Elementen‹ basiert, irrelevant ist. Diese Irrelevanz gründet auf der Annahme, dass es nichts jenseits der ›Empfindungen‹ gibt, was etwa einer platonischen ›Idee‹ oder dem kantischen ›Ding an sich‹ gleichkommt, so dass es auch keine Notwendigkeit gibt, ein erkennendes Subjekt und dessen spezifische Erkenntnisbedingungen in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu integrieren. Das Ich oder Erkenntnissubjekt ist dann nur noch ein Bündel von ›Empfindungen‹ oder ›Elementen‹, das sich mit den durch es hindurchgehenden Empfindungen oder Elementen verwandelt, aber keine unwandelbare ›Substanz‹, kein ›Wesen‹ mehr, das ›Identität‹ besitzt. Hermann Bahr hat die empiriokritizistischen Gedanken Ernst Machs, die mit seinen eigenen, seit Mitte der 1880er Jahre entwi-

110

111

112

Günter, Anatomie des Anti-Subjekts (wie Anm. 7), S. 36. – Horst Thomé: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«: Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen: Niemeyer 1993 (Hermaea/Neue Folge; 70), hat in seiner Kieler Habilitationsschrift übrigens dieses Erklärungsmodell für die Erzählliteratur der Jahrhundertwende bereits angewandt, was die Ubiquität dieser anthropologischen Konzepte im literarischen und ästhetischen Diskurs jener Epoche der Begründung der ästhetischen Moderne belegt. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältniss des Physischen zum Psychischen. 2., vermehrte Aufl. der Beiträge zu einer Analyse der Empfindungen. Jena: Gustav Fischer 1900, S. 17. Ebd., S. 20. – Sperrung im Zitat von Mach.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

ckelten Ideen zur Austreibung des Subjekts aus der Moderne und ihrer Literatur korrespondieren, für die Literatur des Fin de siècle erschlossen.113 Etwa gleichzeitig setzt auch die Rezeption eines Philosophen im gebildeten Europa ein, der wie kein anderer die Grundlagen der Subjektphilosophie erschüttert und dadurch die beschriebenen Wirkungen von Marx, Freud und Mach auf die Literaten der Moderne verstärkt hat: Friedrich Nietzsche hat durch die Sprachmächtigkeit seiner Ideen und die nach seinem psychischen Zusammenbruch im Winter 1888/89 einsetzende Apotheose seiner Person und seines Werks, vor allem nach seinem Tod im Jahr 1900, sicherlich den stärksten direkt nachweisbaren Niederschlag aller hier genannten Einflüsse auf die erzählende Literatur seit der Jahrhundertwende bis hinein in die 1930er Jahre ausgeübt. Mit seiner »Befreiung des Ich-Gedankens von der Reflexivität an der Schwelle zum 20. Jahrhundert«114 hat er auch das erkenntnistheoretische Fundament zu den Theorien von Sigmund Freud und Ernst Mach gelegt. Seine entschiedene Absage an Metaphysik sowie konventionelle Ethik und Moral, die eine Trennung von ›wahrer‹ und ›wirklicher‹ Welt, von Sein und Schein bedeutet, die durch das idealistische Subjekt zum – immer und notwendig fragilen – Ausgleich gebracht werden müssen, bedeutet eine Reduktion auch der menschlichen Existenz von dem Leib-Seele-Dualismus, der für die ganze Erkenntnistheorie des Idealismus konstitutiv ist, auf die Behauptung einer rein leiblichen Existenz, die – im Gefolge schopenhauerischen Gedankengutes – allein dem Willen unterworfen ist. Damit reduziert Nietzsche die menschliche Existenz auf ihre animalische Komponente115 und destruiert die Idee von Vernunft und Erkenntnisfortschritt zugunsten eines Perspektivismus, der allen – auch den gegensätzlichen – Aussagen und Erkenntnissen eine Wahrheit zubilligt, deren Gültigkeit sich allein aus dem ›Willen zur Macht‹ rechtfertigen lässt, der allerdings – dies wäre die Wiedereinsetzung des Subjektivismus – nicht linear, sondern eben polyperspektivisch zu denken ist und so die Fragmentarizität des Lebens bzw. der menschlichen Existenz bedingt. Nach dieser Abdankung des Subjekts und seiner Deutung der Welt mit den Mitteln der Vernunft lässt sich die Welt nur noch als ästhetisches Phänomen betrachten und rechtfertigen, das allerdings nicht mehr länger auf den Prinzipien der Mi-

113 114 115

Vgl. Iris Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen: Francke 1992 (Edition Orpheus; 7), S. 21–25. Riedel, Subjekt und Individuum (wie Anm. 7), S. 134. Die Philosophie seit der Antike hat eine ihrer vornehmsten Aufgaben darin gesehen, den Menschen als ›animal rationale‹ zu konstituieren und ihn so über die anderen Lebewesen zu erheben. Nietzsche nimmt diese Erhebung des Menschen zurück und setzt ihn wieder auf eine Stufe mit den übrigen Lebewesen. Dagegen entwirft er den ›Übermenschen‹, den ›neuen Menschen‹ des Expressionismus, der sich über die bisherige Menschheit erhebt, indem er den Subjektivismus als Illusion erkennt und sich darüber, sich ständig neu erfindend und wieder zerstörend, erhebt.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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mesis, der Nachahmung von Natur, sondern auf denjenigen der Poiesis, der deutenden Neuschaffung der Welt beruht.116 Erst die philosophisch legitimierte Ablösung von der Idee des autonomen Subjekts als Gestalter seiner selbst und seines gelingenden Lebens ermöglichte eine Neubewertung sowohl der modernen Literatur und des modernen autobiographischen Schreibens als auch der zahlreichen, bislang als ›abweichend‹ bezeichneten Autobiographien früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte, die nach den Maßstäben einer idealistischen Ästhetik gemessen eben nur als misslungen betrachtet werden konnten: sowohl die proletarischen Lebensläufe von Vertretern der ersten Generationen von Industriearbeitern als auch die Lebensbeschreibungen von Angehörigen der Unterschichten des 18. und 19. Jahrhunderts erhalten jetzt nicht mehr den Status misslungener, den großen Vorbildern nicht gleichkommender Werke, die allenfalls noch durch die Kuriosität der in ihnen geschilderten Ereignisse und Erlebnisse ihrer Protagonisten Aufmerksamkeit erlangen können, sondern beanspruchen auch ästhetische Dignität durch ihre seismographische Funktion, die darin besteht, dass sie in ihrem scheinbaren Misslingen die Brüchigkeit des idealistischen Subjekt- und Weltverständnisses schon zu dessen Hochzeit offenbaren.117 Mit Oliver Sill, der diese Erkenntnis aus einer Untersuchung von Herders widersprüchlichen Aussagen zum Wert der Autobiographie sowie der allgemeinen Kritik der Romantiker an »alle[n] vom Primat der Vernunft geleiteten, kausallogisch geordneten Darstellungsformen«118 gewinnt, kann daher festgestellt werden, daß die ›klassische‹ bürgerliche Autobiographie sowohl in der Phase ihrer Herausbildung als auch in der Zeit ihrer fortschreitenden Überwindung durch Positionen in Frage gestellt worden ist, in denen sich der Zweifel an der Möglichkeit einer ›klaren Selbsterkenntnis‹ artikulierte, und die Forderung erhoben wurde, auch die ›Schattenseiten‹ der menschlichen Psyche, wie verworren sie auch immer erscheinen, in die Darstellung zu integrieren.119

Neben der Zersetzung idealistisch-subjektivistischer Wahrnehmungs- und Schreibformen finden sich in den autobiographischen Zeugnissen vor allem von Angehörigen der proletarischen Unterschichten seit dem 19. Jahrhundert aber auch schon Wege aus dieser Krise des Individualismus und Subjektivismus. Die Autobiographen jener Schichten sehen vor allem in der Betonung der Kollektivität des Schicksals der von politischer Repräsentation wie auch sozia116 117

118 119

Zur Rekonstruktion von Nietzsches Gedanken vgl. Günter, Anatomie des AntiSubjekts (wie Anm. 7), S. 42–52. Vgl. hierzu die »Einleitung« von Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe (1974/75): autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. 2 Bände. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974/75 (das neue buch; 50/61), Bd 1 und Bd 2 sowie Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung: Autobiographien der Zwanziger Jahre. München: Hanser 1978, S. 5–13 et passim. Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 119. Ebd., S. 120f.

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ler Integration in den von Adel und Bürgertum dominierten Staat ausgeschlossenen Massen den Antrieb ihres autobiographischen Schreibens. Ihre Autobiographien dürfen daher nicht als Ausdruck überragender individueller Größe gelesen werden, sondern sie erhalten ihre Bedeutsamkeit – ganz im Gegenteil – von ihrer Durchschnittlichkeit und Repräsentativität für die Hunderttausende ähnlich gelagerter Schicksale ihrer Standesgenossen bzw. Klassenangehörigen. Repräsentativ ist diese Form der kollektiven Autobiographie hauptsächlich – dies hat Wolfgang Emmerich in seinen Proletarischen Lebensläufen gezeigt – für Texte von Angehörigen der sozialistischen Arbeiterbewegung; Angehörige der vorindustriellen Unterschichten haben ihre Autobiographien überwiegend aus dem selben subjektivistisch-individualistischen Antrieb wie das Bürgertum und der Adel verfasst; autobiographische Zeugnisse dieses Personenkreises liegen daher auch vorwiegend dann vor, wenn ihre Autoren Außergewöhnliches zu berichten hatten – etwa als Soldaten, Hofnarren, pauperisierte Gelehrte oder Vertreter anderer am Rande der Gesellschaft stehender Schichten.120 In der Literatur wie auch in der Erzähltheorie findet sich das zu einer ›Entmächtigung des Ichs‹ und zu einem zunehmenden Verlust an Subjektivität führende Gedankengut in der literarischen Moderne der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wieder. Den Ereignissen des später dann sogenannten ›Ersten‹ Weltkriegs kommt dabei eine Initialfunktion zu, da sie den bislang eher theoretischen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Philosophie eine ungeahnte Relevanz für das tatsächlich gelebte Leben gegeben haben, die sich dann wiederum sehr schnell in Werken der Literatur und der Literaturtheorie niederschlug, die den Verlust der bürgerlichen Illusion von der Autonomie des Subjekts in den Materialschlachten dieses Krieges kenntlich machten. Für die literaturtheoretische Diskussion dieses Phänomens haben vor allem die geschichtsphilosophisch inspirierten Arbeiten von Georg Lukács und Walter Benjamin über den Wandel der großen epischen Formen bzw. über die Unmöglichkeit des Erzählens nach dem allumfassenden Verlust an mitteilbaren und verbindlichen Erfahrungen durch den Weltkrieg Bedeutung erlangt. Georg Lukács sieht in seiner erstmals 1916 veröffentlichten Theorie des Romans zwei wesentliche Brüche, durch die sich die epischen Großformen verwandelt haben. Die Ursachen für diese Brüche können Lukács zufolge nicht in der Literatur selbst, sondern müssen in den lebensweltlichen und philosophischen Grundlagen gesucht werden, die die epischen Großformen ermöglicht haben. Der erste große Bruch markiert den Übergang von der Epopöe, die das Versepos von Homer bis letztlich zu Dante meint, zum Roman, dessen Geschichte Georg Lukács mit Cervantes’ Don Quixote beginnen lässt. Den zweiten Bruch markiert Dostojewskij, der Georg Lukács als prophetischer Zertrümmerer der Romanform gilt, der sich inmitten von Epigonen dieser Form als Prophet eines erneuerten Epos erweist. Die geschichtsphilosophischen Brüche liegen – im ersten Fall – im Niedergang der Totalität der vom 120

Vgl. Wuthenow, Das erinnerte Ich (wie Anm. 48), S. 157–185.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

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Christentum erneuerten Antike begründet. Antike und Christentum haben die »Lebensimmanenz des Sinnes«121, die Einheit von Ich und Welt, das bruchlose Zusammengehen von »Seele und Tat«122 zur Grundlage, die in der Moderne zerbrochen ist und nur noch – das diesem Entwurf zugrunde liegende Gedankengut Hegels ist hier noch deutlich erkennbar – scheinhaft in der Kunstform des Romans zusammengefügt werden kann. Den Hauptteil der Theorie des Romans nimmt das Aufzeigen jener Sollbruchstellen ein, an denen sich der ästhetische Schein des Romans zeigt, der Sinn nur noch in der biographischen Form eines gelebten Lebens darzustellen vermag – und auch das nur unvollkommen, weil sich in der biographischen Romanform der Verlust der ›Lebensimmanenz des Sinnes‹ im Auseinanderklaffen von Ich und Welt bzw. von ›Seele und Tat‹, von »Innerlichkeit und Abenteuern«123 zeigt. »Der Roman« ist für Georg Lukács »die Epopöe der gottverlassenen Welt«,124 aus der sich mit Gott eben auch der Sinn zurückgezogen hat, und in der deshalb die Innerlichkeit des Romanhelden auf eine davon verschiedene und mit dieser Innenwelt nicht vermittelbare Außenwelt trifft: Der Roman ist die Form des Abenteuers des Eigenwertes der Innerlichkeit; sein Inhalt ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden, um an ihnen sich bewährend ihre eigene Wesenheit zu finden.125

Dass der Romanheld an dieser Aufgabe – mit der Ausnahme der Trivialliteratur – immer scheitert, ist eine richtige Beobachtung von Georg Lukács, der zwei Grundmuster dieses Scheiterns bemerkt: »die Seele ist entweder schmäler oder breiter als die Außenwelt«.126 Im ersten, historisch früheren Fall, für den exemplarisch der Don Quixote steht, und den der Verfasser den Weg des »abstrakten Idealismus«127 nennt, scheitert eine in sich ruhende, unproblematische Seele an einer widerständigen Außenwelt, die sie zu bezwingen versucht, im zweiten Fall, den Lukács als »Desillusionsromantik«128 bezeichnet und vor allem für den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts als charakteristisch ansieht, erreicht die Außenwelt die Innerlichkeit des Romanhelden kaum noch; hier ist eine »extreme Steigerung des Lyrischen«129 in der Darstellung dieser eigentlich epischen Gattung charakteristisch. In Goethes Wilhelm Meister sieht Lukács den Versuch einer Synthese der beiden divergierenden Konzepte verwirklicht.

121 122 123 124 125 126 127 128 129

Lukács, Die Theorie des Romans (wie Anm. 83), S. 32. Ebd., S. 21. Ebd., S. 77. Beide Zitate: ebd. Ebd., S. 78. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 103. Ebd., S. 100.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

Der zweite für die großen epischen Formen charakteristische Bruch ist für den Verfasser noch nicht recht greifbar; er ist aber wohl als Rückbesinnung auf die epische Form zu deuten – allerdings unter Verzicht auf jeden Versuch einer Wiedergewinnung von Sinn,130 die ja – Lukács zufolge – für die dualistische Struktur des Romans kennzeichnend ist. Dostojewskij ist ihm der Prophet einer erneuerten Epopöe, die »diese neue Welt, fern von jedem Kampf gegen das Bestehende, als einfach geschaute Wirklichkeit ab[]zeichnet«,131 die den Monismus der griechischen und christlichen Welt zwar wiedergewinnt, aber unter Preisgabe des Sinns und selbst der Illusion ihn wiederzugewinnen. Die Literatur der Moderne fällt jedoch hinter den von Dostojewskij prospektiv geschauten, von Lukács aber – wohl deswegen – nicht näher charakterisierten Stand des Erzählens zurück, indem sie sich auf die Darstellung des Bruchs im Verhältnis von Ich und Welt, von ›Seele und Tat‹ offensiv besinnt und ihre philosophischen, erkenntnistheoretischen, psychoanalytischen und sonstigen Grundlagen, die den Bruch der modernen mit der traditionellen Welt und dem traditionellen Selbstverständnis markieren, zum Gegenstand der Darstellung macht. Walter Benjamin bezieht sich in seinem 1936 publizierten Aufsatz »Der Erzähler« explizit auf die geschichtsphilosophischen Fundamente, die Georg Lukács in seiner Theorie des Romans gelegt hat. Sein Interesse ist aber viel stärker auf Phänomene der jüngsten Literatur gerichtet, die er im kontrastiven Modell zu den Erzählungen des Russen Nikolai Lesskow vor allem um den Begriff des ›Erfahrungsverlusts‹ zentriert. Benjamin macht den ›Erfahrungsverlust‹ in den Stahlgewittern des vergangenen Krieges und den darauf folgenden politischen und sozialen Wirren verantwortlich für die Unmöglichkeit, weiter in den Bahnen des traditionellen realistischen Romans zu schreiben: Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber.132

Er sieht den Krieg als Katalysator, der den Prozess der Entfremdung der Menschheit von den sie bislang umgebenden und die Grundlagen ihrer Lebenswelt determinierenden Traditionen beschleunigt hat, weil er »eine[] Landschaft, 130

131 132

Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 355), S. 47, nennt diese Romane Dostojewskijs deshalb auch in Anlehnung an Lukàcs »negative Epopöen. Sie sind Zeugnisse eines Zustands, in dem das Individuum sich selbst liquidiert und der sich begegnet mit dem vorindividuellen, wie er einmal die sinnerfüllte Welt zu verbürgen schien.« Lukács, Die Theorie des Romans (wie Anm. 83), S. 37. Walter Benjamin: Der Erzähler: Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp Bd II,2 (1977), S. 438–465 (Text) und Bd II,3 (1977), S. 1276–1315 (Kommentar), S. 439.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

45

in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper«133 zurückgelassen hat. In einer solchen sinnentleerten, weil von jedem Zusammenhang mit den Determinanten der menschlichen Existenz abgeschnittenen Welt lässt sich nicht mehr erzählen, in ihr und über sie lassen sich keine überindividuell gültigen Erfahrungen mehr vermitteln. In einer solchen Welt lassen sich nur noch Romane verfassen und rezipieren, keine Erzählungen mehr, deren wesentliche Funktion darin besteht, ihren Lesern ›Rat‹ für die Gestaltung des eigenen Lebens zu geben. Dieser modernen Welt ist nur noch die Form des Romans angemessen, weil sich die Situation des modernen Menschen in seiner Einsamkeit nur im Roman adäquat darstellen lässt: Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden.134

Die geschichtsphilosophische Parallele in der Begründung der Angemessenheit und Notwendigkeit des Romans für diese Zeit bei Lukács und Benjamin ist evident. Ebenso evident ist das Fehlen von Überlegungen zur formalen Struktur des Romans und der Position und Funktion des Erzählers – der Begriff mutet hier paradox an; diese Paradoxie lässt sich aber nicht umgehen – in ihm. Dessen Rolle hat Theodor W. Adorno in seinem erstmals 1954 in den Akzenten veröffentlichten Aufsatz »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman« beleuchtet und die oben genannte Paradoxie – »es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt«135 – zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gewählt. Adorno sieht also das Realismuspostulat als konstitutiv für die Form des Romans an, konstatiert aber zugleich die zunehmende Fragwürdigkeit des überkommenen Realismusbegriffs seit dem 19. Jahrhundert, der einer zunehmend unübersichtlich und sinnlos gewordenen Welt nicht mehr adäquat ist. Als Ausweg aus diesem Dilemma plädiert er für einen gewandelten Realismusbegriff, der die Scheinhaftigkeit seiner bisherigen Definition für die moderne Welt entlarvt, indem er den universalen Entfremdungszusammenhang, der das Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Umwelt prägt, zum Gegenstand der Darstellung macht: Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reprodu133 134 135

Ebd., S. 439. Ebd., S. 443. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman (wie Anm. 130), S. 41.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung ziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft. Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen.136

Das geeignete Stilmittel der modernen Romanästhetik ist für Adorno daher die gezielte Durchbrechung der bisherigen Technik des Romans, die für Adorno »eine der Illusion«137 war, die sich vor allem in ihrer auffälligen Reflexionslosigkeit gegenüber dem Dargestellten zeigt: »sie [die Reflexion; M. M.] wird zur Kardinalsünde gegen die sachliche Reinheit«.138 Im modernen Roman – Adorno nennt Proust, Gide, Thomas Mann, Musil – ist Reflexion »Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst«139 und Mittel zum Zweck der Auflösung oder doch zumindest Unterminierung der traditionellen Position des Erzählers und seiner sinngebenden Verfahren, mit denen er die Handlung vorantreibt: Das dichterische Subjekt, das von den Konventionen gegenständlicher Darstellung sich lossagt, bekennt zugleich die eigene Ohnmacht, die Übermacht der Dingwelt ein, die inmitten des Monologs wiederkehrt.140

Durch dieses Verfahren des Autors, durch diesen Umgang mit der Rolle des Erzählers, wird das wesensbestimmende Element modernen Erzählens, das den von Lukács und Benjamin benannten und geschichtsphilosophisch begründeten Bruch in seiner formalästhetischen Dimension sichtbar macht, benannt; es ist dies die Abwendung vom Subjektbegriff des deutschen Idealismus, der den Dualismus von Ich und Welt begründete und gleichzeitig das Subjekt als höchste Erkenntnisinstanz inthronisierte, zugunsten des Eingeständnisses der Ohnmacht dieses Subjekts, das in einer dualistischen Welt die Dinge eben nicht beherrscht, indem es sie erkennt, sondern im Gegenteil weil es sie nicht erkennt, von ihnen beherrscht wird. Die Theoriebildung der neueren Autobiographieforschung, die sich in Analogie zur Begriffsbildung des ›modernen Romans‹ dem modernen autobiographischen Schreiben zugewendet hat, geht nun erneut – auch die Autobiographie der Goethezeit orientierte sich, wie gezeigt, an den Innovationen der Romanform seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – von einer parallelen Entwicklung von Roman und autobiographischem Text aus. Sie kann allerdings bei ihrer Autobiographiedefinition nicht mehr den ontologischen Sonderstatus des autobiographischen Texts als ›differentia specifica‹ zum fiktionalen Roman für sich reklamieren, da ja ein zentrales Theorem jeglicher Definition von Moderne die Behauptung der Unerkennbarkeit von Welt und – damit korrespondierend – der 136 137 138 139 140

Ebd., S. 43. – Kursivierung im Zitat von Adorno. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Ebd., S. 47.

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

47

Entmächtigung des Subjekts ist, das seine Selbstgewissheit in demselben Maße verliert, in dem es diese Unerkennbarkeit von Welt erfährt. Der Autobiographie droht also entweder das Aufgehen im Bereich der fiktionalen Literatur141 oder das umgekehrte Extrem, das Verschwinden des Fiktionalen im Autobiographischen, wenn man das autobiographische Moment eines Textes nur als – von Seiten des Produzenten – eine Redefigur bzw. – von Seiten des Rezipienten – als eine Lese- oder Verstehensfigur deutet.142 Oliver Sill und Michaela Holdenried haben sich in ihren Dissertationen mit diesem Dilemma beschäftigt und in Anlehnung an H. R. Picard das Phänomen der Erinnerung zum konstitutiven Merkmal autobiographischen Schreibens unter den Bedingungen der Moderne erklärt. Dieser Gedanke rettet zum einen den ontologischen Sonderstatus der Gattung ohne sich in positivistisches Eruieren der historischen Wahrheit und den anschließenden Vergleich mit dem autobiographischen Text zu verlieren, ermöglicht zum anderen aber auch die bruchlose Integration des autobiographischen Texts in die literarische Ästhetik der Moderne. Das Phänomen der Erinnerung und die Reflexion des autobiographischen Ichs über das Dargestellte und den Prozess des Darstellens als (Re-) Konstruktion des eigenen Lebens und des darin aufgefundenen bzw. nicht aufgefundenen Sinns sind es, welche den Rekurs auf ein Referenzobjekt des Textes in der wirklichen Welt gestatten. Sie erlauben es auf der anderen Seite aber auch, die Problematik des subjektiven Erkennens der Welt in der Erinnerung zu thematisieren. Die Überlegungen Blumes zur Übernahme von Darstellungsmitteln aus der fiktionalen Literatur gehen einher mit Veränderungen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die sich seit der Mitte der 1970er Jahren wieder zunehmend den fiktionalen Gattungen zuwendet. Es kommt nun zu einer Phase der ›Neuen Subjektivität‹, die die Literatur aus dem Bereich der Dokumentation sozialer und politischer Zustände zurückholt in den Bereich der fiktionalen Darstellung individueller Erfahrungswelten. Dies zeigt sich in einem nahezu völligen Verschwinden der Dokumentarliteratur seit der Mitte der 1970er Jahre und einem Wiederaufstieg subjektiv gefärbter Schreibweisen,143 zu denen auch die Autobiographie zu zählen ist, die sich jetzt aber nicht mehr der traditionellen, am Goetheschen Schema orientierten Formen bedient, sondern sich den Theoremen zuwendet, die bereits den modernen Roman der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts kennzeichneten. Das Verdienst von Michaela Holdenried und Oliver Sill ist es nun, in ihren umfangreichen Arbeiten zur 141

142

143

Diese These vertritt M. Schneider, Die erkaltete Herzensschrift (wie Anm. 9). – Vgl. hierzu die Zusammenfassung der Kernthesen Schneiders bei WagnerEgelhaaf, Autobiographie (wie Anm. 6), S. 72–77. Dies ist die These von de Man, Autobiographie als Maskenspiel (wie Anm. 9). – Vgl. hierzu die Zusammenfassung der Kernthesen de Mans bei Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Anm. 6), S. 79–82. Vgl. Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Anm. 4), S. 18–31 und Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 4–13.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

Geschichte der deutschsprachigen Autobiographie in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nachgewiesen zu haben, wie sich die Schreibweisen, die den modernen Roman charakterisieren, auch in der Autobiographie durchgesetzt haben. Bei beiden Wissenschaftlern steht dabei die Funktion der Erinnerung im Zentrum ihrer Überlegungen zum autobiographischen Text. Im modernen autobiographischen Werk ist für Michaela Holdenried aber weniger das Organisationsprinzip »von einem retrospektiven Standpunkt aus unter dem Aspekt existentieller Bedeutsamkeit der Ereignisse [zu] erzähl[en]«,144 sondern vielmehr die »Art der ästhetischen Gestaltung dieser als bedeutsam erfahrenen Lebensmomente«.145 Neben der Intertextualität stehen für die Literaturwissenschaftlerin daher »das große Gewicht, das existentielle Erfahrungen wie Krankheit, Tod und anderen elementaren Lebenstatsachen beigemessen wird, die eine neue Dimension ästhetischer Erfahrung der Negativität eröffnen«146 im Zentrum ihres Interesses. Dabei spielt für Michaela Holdenried weniger die individuell-konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Erfahrungen eine Rolle als vielmehr die abstrakt-generelle Reflexion über diese existentiellen Grenzenbereiche. Einen ähnlichen Fokus besitzt auch die Arbeit von Oliver Sill: »Weniger das ›Was‹, sondern weit eher das ›Wie‹ unmittelbaren Erlebens verspricht, das Besondere eines individuellen Daseins in sich zu bergen«.147 Damit stehen auch bei ihm die Phänomene der Erinnerung und der Reflexion über das Erinnern im Zentrum des modernen autobiographischen Texts, [d]enn die Freiheit einer selbstbewußten und distanzierten Position, die es dem traditionellen autobiographischen Erzähler erlaubte, die Summe seines Lebens im Überblick zu gestalten, scheint endgültig verlorengegangen zu sein.148

Mit diesem Grundgedanken, den Prozess der Erinnerung und der Reflexion über die Konstitution und die Bedeutung des Erinnerns in den Mittelpunkt des modernen autobiographischen Schreibens zu stellen, haben Michaela Holdenried und Oliver Sill eine zentrale Motivation auch der modernen deutschsprachigen jüdischen Autobiographie benannt, obwohl in den Arbeiten beider Wissenschaftler jüdische Kontexte bei der Interpretation der ausgewählten Autoren keine Bedeutung haben.149 Manuela Günter hingegen geht in ihrer 144 145 146 147 148 149

Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Anm. 4), S. 219. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Anm. 9), S. 89. Ebd. Oliver Sill behandelt zwar Elias Canettis autobiographische Trilogie in seiner Dissertation sehr ausführlich als Zeugnis der ›behaupteten Individualität‹ ihres Autors, aber das jüdische Element spielt sicherlich nicht zu Unrecht bei seiner Interpretation kaum eine Rolle für seine Fragestellung. – Manuela Holdenried adaptiert zwar den Benjaminschen Begriff des ›Eingedenkens‹, versucht aber, »ihn bis zu einem gewissen Grad aus dem Benjaminschen Kontext zu lösen« (Holdenried, Im Spiegel ein anderer [wie Anm. 4], S. 221), was für sie den Verzicht auf die Be-

1.1 Zur Geschichte der Autobiographie im Spiegel der Forschung

49

Arbeit – auf der Basis der Beobachtung, dass die theoretischen Grundlagen modernen Schreibens sowie ihre radikalsten literarischen Ausformungen nahezu ausschließlich von jüdischen Autoren formuliert worden sind – davon aus, dass diesen Tendenzen der Entsubjektivierung genuin jüdische Welterfahrungen zugrunde liegen. Zwar hat sie die literarischen Beispiele, die ihre These untermauern – Siegfried Kracauers Ginster, Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 und Carl Einsteins nur im Manuskript überliefertes Romanprojekt BEB II (entstanden in den 1930er und 1940er Jahren) –, der Epoche der Weimarer Republik entnommen, sieht aber in diesen Texten die Katastrophe des Holocaust als letzte Konsequenz der Entsubjektivierung durch Auslöschung des Individuums bereits präfiguriert: Hoffnung fürs Subjekt gibt es also nicht in diesen Texten, nur nüchterne, bisweilen verzweifelte Bestandsaufnahme. Die radikale Negativität der Figuren erweist sich freilich als mit der realen Annihilierung inkompatibel: Nicht Bestätigung der historischen Tendenz, sondern Rettung vor ihr bestimmt das Pathos der Texte. Daß sie auf verlorenem Posten stehen, ändert nichts daran, daß es sich bei den jeweiligen Konstruktionen von Anti-Subjektivität um subversive Akte handelt, um Formen des Entzugs (Ginster), des geschichtsphilosophischen Einspruchs (Kind) oder der Auslöschung (Beb) in einer Zeit, in der sich die praktische Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zunehmend als unmöglich erweist. Dieser Gedanke ist festzuhalten, wenn im folgenden an ein anderes Anti-Subjekt erinnert wird: an jenes, das die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland in der Gestalt entmenschter Opfer fabrikmäßig produziert hat. Diesen Anti-Subjekten – von den Nationalsozialisten als ›Untermenschen‹ definiert – stehen die drei literarischen Figuren insofern nahe, als sie über die enge, wenn auch keineswegs autobiographische Bindung an ihre Schöpfer ebenfalls der ›Gemeinschaft der zu Ermordenden‹ angehören.150 Das Lager tritt den Beweis an, daß das Subjekt wirklich überflüssig geworden ist, daß unter bestimmten Bedingungen mit ihm alles gemacht und seine Bestimmung als souveränes und autonomes Individuum von der Gesellschaft jederzeit zurückgenommen werden kann.151

Das ›Anti-Subjekt‹, das Individuum, das »die reale Nichtigkeit des bürgerlichen Subjekts [...] in einer Gesellschaft [vorführt], die sich zusehends all seiner freien und schöpferischen Qualitäten bemächtigt«,152 und das Manuela Günter in diesen Texten im Mittelpunkt der Darstellung sieht, ist für sie dennoch nicht die literarische Vorwegnahme des Triumphs der Auslöschung des Subjekts im Genozid des Holocaust, sondern vielmehr ein subversiver Akt, der das Subjekt zwar nicht retten kann, das dahinter stehende Individuum aber zumindest

150 151 152

rücksichtigung des jüdisch-messianischen Moments von Benjamins Begriff meint. Auch in ihrer Interpretation von Werken eines jüdischen Autors, Peter Weiss’ autobiographischen Romanen Fluchtpunkt und Abschied von den Eltern, findet die jüdische Perspektive keine Berücksichtigung. Günter, Anatomie des Anti-Subjekts (wie Anm. 7), S. 210. Ebd., S. 212. Ebd., S. 209.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

durch die Darstellung seiner Verwundbarkeit und gesellschaftlichen Bedingtheit der Vernichtung zu entziehen vermag: Das Anti-Subjekt in seinen verschiedenen literarischen Gestaltungen steht also nicht für den Triumph über seinen Antagonisten; vielmehr manifestiert sich in ihm die letztmögliche Figur erkenntnistheoretischen, geschichtsphilosophischen und ästhetischen Einspruchs gegen die irreversible Tendenz der Entsubjektivierung, auf deren Höhe- und Endpunkt die einen der faschistischen Masse subsummiert und die anderen industriell vernichtet werden.153

Das Subjekt konstituiert sich hier also nicht mehr wie im bürgerlichen Zeitalter als ein positives, sich selbst setzendes, sondern als ein negatives, sich gegen etwas Zerstörerisches behauptendes, indem es sich den Tendenzen der Zeit entzieht: »Unter keinen Umständen will es für totale Herrschaft – sei es als Täter, sei es als Opfer – zur Verfügung stehen«.154 Das Anti-Subjekt erscheint somit in der Arbeit Manuela Günters als einzig adäquate Art des Umgangs mit der Entmächtigung und Destruktion des bürgerlich-idealistischen Subjekts unter den Bedingungen der Moderne, für die der nationalsozialistische Genozid an den Juden nur das schrecklichste, nicht aber das einzige und historisch jüngste Beispiel darstellt. Mit Theodor W. Adorno stellt sie einen »Zusammenhang von kapitalistischer Ökonomie und totaler Herrschaft«155 her, der dazu führt, »daß das Subjekt auch nach dem Ende des Nationalsozialismus nur als gefährdetes gedacht werden kann und das doch für Adorno gedacht werden muß, um der Logik der Vernichtung zu widerstehen«,156 weil es in der Behauptung seiner Anti-Subjektivität, wenn auch nicht seinen Subjektstatus, so doch zumindest »das Bewußtsein dieser Auslöschung«157 und »die Vorstellung davon, was sein könnte, ebenso wie die kompromißlose Kritik dessen, was ist«158 bewahren kann. Ob sich dieses Modell, das Manuela Günter an drei Beispielen aus der Weimarer Republik entfaltet hat, tatsächlich festschreiben lässt auf die autobiographische Produktion deutschsprachiger Juden in der Nachkriegszeit, die den Holocaust überlebt haben, sollen die nachfolgenden Textinterpretationen zeigen. Zuvor, im zweiten Kapitel dieser Arbeit, sollen einige Spezifika der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie beleuchtet werden, die sich vor allem mit dem Problem der Erinnerung im Judentum, die nicht nur individuell und persönlich organisiert ist, sondern darüber hinaus und wesentlich durch die Erinnerung an das kollektive Schicksal der Juden in ihrer Geschichte determiniert ist, durch die sich dann auch die eigene Existenz und Individualität spiegelt, und dem Phänomen der ›negativen Integration‹ als Charakteristikum des deutschjüdischen Zusammenlebens im nachemanzipatorischen Zeitalter beschäftigen. 153 154 155 156 157 158

Ebd., S. 220. Ebd., S. 224. Ebd., S. 223. Ebd. Ebd., S. 224. Ebd.

1.2 Zur Verortung der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jh.

1.2

51

Zur Verortung der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert innerhalb der Geschichte und Theorie der Gattung

Der letzte Abschnitt des vorangegangenen Teilkapitels endete mit der scheinbar unproblematischen Integration der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie in die Geschichte der literarischen Gattung ›Autobiographie‹ im 20. Jahrhundert durch Manuela Günter. Sie sieht in der jüdischen Existenz im 20. Jahrhundert die Erfahrung des Menschen unter den Bedingungen der Moderne quasi paradigmatisch verwirklicht. Diese Beobachtung gelingt ihr allerdings nur unter Ausblendung aller kulturellen, religiösen und sozialen Spezifika des jüdischen Lebens, die außerhalb und vor allem zeitlich vor der Erfahrung des Holocaust liegen, in dem sich für Manuela Günter die Grundprobleme des modernen Menschen fokussieren. Damit kann sie zwar möglicherweise tatsächlich die Integration der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie in die abendländische Gattungsgeschichte dieser Textsorte im 20. Jahrhundert erklären, schneidet ihr aber ihre spezifisch jüdischen Wurzeln ab; tatsächlich spielt die Rückbesinnung auf jüdische kulturelle und religiöse Traditionen in ihrer Arbeit, die sich ausschließlich mit Texten von Autoren jüdischer Herkunft beschäftigt, keine Rolle. Das ist für das heuristische Ziel ihrer Arbeit, Judentum und Moderne – also die Ablösung von der Tradition und die ungeschützte Erfahrung von Entfremdung unter den Bedingungen dieses Traditionsverlust – zu kontextualisieren, auch nicht von Belang. Unter der Prämisse, die meiner Arbeit zugrunde liegt – nämlich die deutschsprachige jüdische Autobiographie auf ihre jüdischen Wurzeln zurückzuführen und gleichzeitig die Spannung, in der diese Wurzeln zur im Wege der ›negativen Integration‹159 nachgeahmten deutschsprachigen Autobiographie stehen, zu zeigen –, trägt dieser Ansatz aber nicht, weil er das Judentum letztlich zu einer allgemeinmenschlichen Grunderfahrung abstrahiert, die allenfalls seismographische Bedeutung besitzt, ansonsten aber von der nichtjüdischen Erfahrungswelt ungeschieden ist. Im Gegensatz zu dieser These sollen hier die bereits genannten spezifisch jüdischen Wurzeln der jüdischen Autobiographie benannt und an Textbeispielen belegt werden. An dieser Stelle soll nun eine kurze Skizze des Spannungsverhältnisses von christlich-abendländischem und jüdischem Autobiographie-Verständnis erfolgen sowie ein kurzer Überblick über die seit der Aufklärung erfolgte Annäherung von jüdischem und europäisch-christlichem Autobiographie-Verständnis, die einhergeht mit dem aufklärerischen Konzept der Judenemanzipation und dem damit in engem Zusammenhang stehenden Weg der jüdischen Bevölkerung in der europäischen Diaspora aus dem Ghetto ihrer geistigen und physischen Existenz, der schließlich zur bereits benannten ›negativen Integration‹ der Juden in die abendländische 159

Zum Begriff der ›negativen Integration‹ vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

– in dem hier zu untersuchenden speziellen Anwendungsbeispiel: in die deutsche – Kultur und Gesellschaft geführt hat. Christoph Miething vertritt in seinem Aufsatz »Gibt es jüdische Autobiographien?« die Gegenposition zu Manuela Günter. In seinen sehr stark anthropologisch argumentierenden Ausführungen hebt er die unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen von Judentum und Christentum hervor, die eine Unvereinbarkeit von Judentum und Autobiographie im Sinne der abendländischen Traditionsbildung seit den Confessiones des Augustinus nahe legen, weil in der klassischen Tradition des Judentums der Einzelne so fest in den Strukturen des Rechts, des Gemeinwesens und der Geschichte verankert ist, dass die Vorgänge in seinem Innern für die Tradition als Ganzes keinerlei Bedeutung gewinnen.160

Jüdische autobiographische Texte, die vor der europäischen Aufklärung und damit noch im physischen und intellektuellen Ghetto des Judentums entstanden sind, lassen sich daher nur als »der jüdisch-literarischen Tradition der tsava `ah, des ethischen Testaments, verpflichtet, in welchem der Familienvater seinen Nachkommen sein geistiges Vermächtnis hinterläßt«161 betrachten, nicht aber als Autobiographie in dem oben benannten Sinne, der im Forschungsüberblick des Kapitels 1.1 entwickelt wurde. Diese Beobachtung belegen auch Einzeluntersuchungen zu jüdischen autobiographischen Werken der Zeit vor der Aufklärung. In diesem Zusammenhang von Interesse ist die vergleichende Untersuchung von Conrad Wiedemann über zwei in Deutschland verfasste jüdische Autobiographien des 18. Jahrhunderts, nämlich diejenige der Glückel von Hameln, die an seinem Beginn, und diejenige des Salomon Maimon, die an seinem Ende geschrieben wurde. Dazwischen liegt die bahnbrechende Bibelübersetzung Moses Mendelssohns aus den Jahren 1778/79, die – in deutscher Sprache, aber mit hebräischen Lettern gedruckt – als ein »Fundament der Aufklärung unter den Juden Deutschlands«162 betrachtet werden kann: Allen Juden, vor allem denen im Osten, die nur das Jiddische beherrschten, bot sie die Möglichkeit, zur deutschen Schriftsprache Zugang zu finden[.]163

Von dieser Zeit an kann man von dem Versuch sprechen, »den aufklärerischen Vernunftglauben mit der jüdischen Religion zu vereinigen«164 und somit also – um auf das von Christoph Miething konzipierte Gegensatzpaar zu rekurrieren 160

161 162 163 164

Christoph Miething: Gibt es jüdische Autobiographien? In: Zeitgenössische jüdische Autobiographie. Hg. von Christoph Miething. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 52f. Ebd., S. 53. Hans J. Schütz: »Eure Sprache ist auch meine«: eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte. Zürich, München: Pendo 2000, S. 32. Ebd., S. 32f. Ebd., S. 38.

1.2 Zur Verortung der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jh.

53

– ›jüdische‹ Tradition und ›christlich-abendländisches‹ Wissen zu verbinden. Erst durch diese Verbindung gegensätzlicher geistesgeschichtlicher Traditionen wird die jüdische Autobiographie möglich, die versucht, die jüdischen Wurzeln ihrer Verfasser mit dem christlich-abendländischen Subjekt- und Individualitätsverständnis zu kombinieren. Steht Glückels Text noch nahezu ausschließlich in der jüdischen Tradition, hat bei Salomon Maimon der Paradigmenwechsel hin zum christlich-abendländischen Autobiographiebegriff bereits stattgefunden. Glückels von Hameln, in Jiddisch verfasster, zwischen 1691 und 1719 sukzessive und ohne Veröffentlichungsabsicht nur zum internen Gebrauch innerhalb der Familie und für die Nachkommen abgefasster Text steht als Produkt des voraufklärerischen jüdischen Denkens daher noch ganz in der Tradition der tsava `ah. Ihr Anliegen ist es, ihren Kindern eine Familienchronik zu hinterlassen und ihnen jüdische Moral und jüdische Lebensart ans Herz zu legen. Dementsprechend lassen sich in ihrem Buch zwei Darstellungsebenen unterscheiden, die eines fakten- und erfahrungsgesättigten Berichts und die eines moralisierenden, genauer noch: eines religiösen Kommentars.165

Zwar attestiert Wiedemann ihrem Text eine zeitliche Koinzidenz zur »allgemeinen Wiederbelebung der Gattung aus religiösem Geist«166und stellt eine »spezifische Modernität«167 des Werkes fest, betont aber vor allem Glückels »traditionalistische[s] [...,] nichtsubjektivistisches Menschenbild«168 als einen Hauptunterschied zur gleichzeitigen frühpietistischen Autobiographie. Gleichzeitig ist der Text geprägt von einer Konzentration auf die eigene Lebenssphäre einer jüdischen Frau, Mutter und später Händlerin, die von der » jüdische[n] Außenwelt schon merklich abgerückt (vermutlich, weil es der Zuständigkeitsraum der Männer ist) [ist]« und in der »die christliche wie in weiter Ferne« erscheint: Obwohl konkret gegenwärtig, ja greifbar nahe, ist sie doch fremd und abgelöst, das unbefragbare Andere. 169

Im völligen Gegensatz dazu steht Salomon Maimons 1792/93 abgefasste Autobiographie. Sie beschreibt die nahezu völlige Loslösung ihres Autors von der (ost-) jüdischen Tradition und seine Hinwendung zur Aufklärungsphilosophie insbesondere Immanuel Kants. Zwar deutet Wiedemann die Maimonsche Autobiographie nicht als »die bare Umkehrfigur der Glückelschen«, weil 165

166 167 168 169

Conrad Wiedemann: Zwei jüdische Autobiographien im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Glückel von Hameln und Salomon Maimon. In: Juden in der deutschen Literatur: ein deutsch-israelisches Symposion. Hg. von Stéphane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 (suhrkamp taschenbuch materialien; 2063), S. 90. Ebd., S. 92. Ebd. Ebd., S. 93. Alle Zitate: ebd., S. 96.

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1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung er sich bewußt fremder Denk- und Formtraditionen [bedient]; während sie ohne Nachfolge bleibt, begründet er die moderne Autobiographie der Juden[,]170

sondern sieht auch in diesem Text durchaus noch Elemente der jüdischen Tradition, die über die bloß anekdotische Erzählung seiner ostjüdischen Kindheit und Jugend hinausweisen und grundlegende Strukturen des jüdischen Denkens beinhalten.171 Gerade dadurch aber bekommt die Deutung Maimons durch Conrad Wiedemann ihre Relevanz auch für diese Arbeit, die ja den Verbindungen von jüdischen und abendländischen Traditionen in der zeitgenössischen jüdischen Autobiographie nachgehen will. Neben Rudimenten der jüdischen Tradition sieht Wiedemann Maimon eben vor allem in der »Nachfolge des RousseauTyps«,172 einem Autobiographieschema, das sich vor allem der Introspektion des autobiographischen Subjekts verschrieben hat – »so wenig [er] bereit oder in der Lage ist [...], es essentiell zu füllen.«173 Diese formale Orientierung am Rousseauschen Schema ist wohl damit zu erklären, dass Maimon zeit seines Lebens ein Außenseiter geblieben ist, den sein Denkweg in die soziale Isolation geführt hatte, weil er sich durch seine Hinwendung zur kritischen Aufklärungsphilosophie Kants der jüdischen Tradition entfremdet hatte ohne deshalb wirklichen Zugang zur christlich-aufklärerischen Gesellschaft zu gewinnen, die ihn zwar als Kuriosum bestaunte, aber nicht wirklich akzeptierte.174 Diese autobiographischen Texte sind daher mit dem herkömmlichen Instrumentarium der abendländischen Autobiographieforschung, die sich ja für die Zeit bis zum 18. Jahrhundert tatsächlich auf die christlichen Momente und Motivationen der Autobiographie beschränkt, in ihrer Eigenständigkeit nicht adäquat zu erfassen. Erst mit dem Beginn der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, und der daraus resultierenden »Assimilation des jüdischen Wissens an das ›christliche‹, das analytische, kategorisierende und methodische Wissen«175 lassen sich die Kategorien der Autobiographieforschung auch auf die deutschsprachige jüdische Autobiographie anwenden. Für diesen Moment der 170 171 172 173

174

175

Beide Zitate: ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 105–109. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. – Dieser Deutung schließt sich Miething, Gibt es jüdische Autobiographien (wie Anm. 160), S. 69 an, der behauptet: »Er [Maimon; M. M.] ist durchaus fähig, sich von außen, mit den Augen anderer zu sehen. [...] Aber nicht nur gibt er keinen Reflex auf diese Außenwahrnehmungen, nein, er konstituiert durchgängig überhaupt keine Dopplung von Innenwelt und Außenwelt. Hier liegt der tiefere Grund, weshalb man sagen kann, daß Maimon der Rousseauschen Wirklichkeitskonstruktion gegenüber absolut immun geblieben ist.« Vgl. Schütz, »Eure Sprache ist auch meine« (wie Anm. 162), S. 46: »Eine erfolgreiche Emanzipation [...] stellte für Maimon kein wünschenswertes Ziel dar, wenn er auch alle Brücken hinter sich abbrach. Obwohl reich mit Verstand und Talent gesegnet, gelangte er nie zu einer gesicherten sozialen Stellung. Er blieb ein Außenseiter, ein asozialer Grübler, dem gesellschaftliche Realität und eigene Identität abhanden kamen.« Miething, Gibt es jüdische Autobiographien (wie Anm. 160), S. 65.

1.2 Zur Verortung der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jh.

55

Emanzipation und Assimilation an das christliche Denken benutzt Christoph Miething – hier trifft er sich mit einer Grundannahme von Manuela Günter – den Begriff der Moderne und wendet ihn auf die jüdische Existenz seit der Haskalah, die ja tatsächlich den Beginn einer Entfremdung von den Traditionen des Judentums markiert, an. Deshalb ist für Christoph Miething die Autobiographie des Salomon Maimon »der Beginn der modernen jüdischen Literatur überhaupt«, weil sie »als die erste Erzählung jüdischer Akkulturation in nicht-jüdischer Umwelt gewertet wird.« 176 Miething sieht in Maimons selbst erzählter Lebensgeschichte das Projekt der Moderne antizipiert, weil sie die »Autobiographie eines Umhergetriebenen« ist, »der fortwährend die eigenen Wurzeln ausgräbt«,177 um so das Alte – die eigene jüdische Tradition – mit dem Neuen – der Vernunftreligion der europäischen Aufklärung – zu verbinden. Damit ist das Programm benannt, das die deutschsprachige jüdische Autobiographie seit ihrer Konstituierung durch Salomon Maimon bis in die Gegenwart hinein kennzeichnet: die Darstellung der Spannung zwischen einer – wie auch immer definierten – jüdischen Identität und der häufig von außen geforderten Auseinandersetzung mit einer überwiegend nichtjüdischen Umwelt. Die Positionen, die die Autorinnen und Autoren der hier zu untersuchenden Texte dabei einnehmen, überspannen das ganze Spektrum der möglichen Identitätskonstruktionen deutschsprachiger Juden, die Klara Pomeranz Carmely in ihrer Dissertation für die Epoche vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik auf die grundlegenden Begriffe Assimilation bzw. Akkulturation, Zionismus und Sozialismus zurückgeführt hat. Da diese Begriffe als heuristisches Instrument tauglich sind, wurden sie für diese Untersuchung beibehalten und bilden die Klammer für die im dritten Kapitel dieser Arbeit zusammengefassten Interpretationen. Im 4. Kapitel, das sich den Überlebenden des Holocaust widmet, zeigt sich ein deutliches Übergewicht des Assimilatorischen bzw. der Akkulturation an das Volk der Täter. Alle hier untersuchten Texte handeln neben der Darstellung der Verfolgung bis zum Völkermord von der anschließenden beruflichen, kulturellen und sozialen Etablierung im Land, mit der Kultur und Gesellschaft der Täter. Die Kriterien der hier zu untersuchenden Autobiographien müssen also notwendig andere sein als bei den Texten der früheren Generation. Hier, im 4. Kapitel meiner Arbeit, stehen die unterschiedlichen Wege des Überlebens des Holocaust im Zentrum. Das folgende Kapitel soll aber zunächst, nachdem der Forschungsüberblick des Kapitels 1.1 sich mit den christlich-abendländischen Wurzeln der Autobiographie beschäftigt hat, die jüdischen Wurzeln der im folgenden zu untersuchenden Texte freilegen. Das ›Judentum‹ wird dazu nicht auf eine ›völki-

176 177

Beide Zitate: Ebd., S. 54. Ebd., S. 55.

56

1 Geschichte und Theorie der Autobiographie – zum Stand der Forschung

sche‹, ›rassische‹ oder ›religiöse‹ Basis reduziert,178 sondern als kultureller Hintergrund der autobiographischen Texte verstanden, mit dem sich die Autobiographen – affirmativ oder kritisch in allen möglichen Abstufungen – auseinander setzen. Dazu werden im folgenden Kapitel einige zentrale Topoi deutschsprachiger jüdischer Autobiographien im 20. Jahrhundert herausgearbeitet sowie die historischen Grundlagen jüdischer Existenz in Deutschland kurz skizziert, die eine Prämisse für die Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem Judentum darstellen. Diese bilden den Hauptgegenstand der Arbeit in den Interpretationskapiteln 3 und 4.

178

Zu den verschiedenen Definitionen des Begriffs der deutsch-jüdischen Literatur vgl. Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur: jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (suhrkamp taschenbuch; 3529), S. V–XIII. Kilcher unterscheidet die Definitionen der »völkischen Germanistik« (rassisch), des »Kulturzionismus« (Hervorhebung der genuin jüdischen kulturellen Bestandteile der jüdischen Literatur bzw., in der radikalen Variante, der Verwendung der hebräischen Sprache als Konstitutionsbedingung) und der Assimilation (allmähliches Aufgehen des jüdischen Elements im Kontinuum der deutschen Literatur).

2

Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert

2.1

Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

Das kulturelle Gedächtnis der Juden wurde über mehr als zweieinhalb Jahrtausende hinweg durch die Erfahrungen von Vertreibung, Verschleppung und Exil, von Verfolgung bis zum Massenmord geprägt. Seit dem Jahre 70 n. Chr. und der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels durch die Truppen des römischen Kaisers Titus waren sie ein Volk ohne eigenen Staat. Dennoch ist es dem jüdischen Volk gelungen, die eigene kollektive Identität zu bewahren – ein weltgeschichtlich wohl einmaliger Vorgang, der, ausgehend vom Gedanken des Bundes, den Gott nach der vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste nach der Flucht aus Ägypten Mose diktiert hat, Israel zum von Gott auserwählten Volk macht und – das ist entscheidend – die kollektive Identität nicht von einem territorial begründeten Staatswesen abhängen lässt: Exodus und Sinaioffenbarung als die zentralen Ursprungsbilder Israels beruhen auf dem Prinzip der Extraterritorialität. Der Bund wird geschlossen zwischen einem überweltlichen, fremden Gott, der auf Erden keinen Tempel und keinen Kultort hat, und einem Volk, das sich auf der Wanderung zwischen dem einen Land, Ägypten, und dem anderen Land, Kanaan, im Niemandsland der sinaitischen Wüste befindet. Der Bundesschluß geht der Landnahme voraus. Das ist der entscheidende Punkt. Er ist extraterritorial und daher von keinem Territorium abhängig. In diesem Bund kann man überall verbleiben, wohin auch immer auf der Welt es einen verschlägt.1

Diese Extraterritorialität der kollektiven Identität macht sie in hohem Maße anfällig für die Gefahren des Vergessens, die in den Schriften des Alten Testaments so häufig beschworen werden und schließlich zur Installierung einer ›kollektiven Mnemotechnik‹ führen, mit deren Hilfe die kollektive Identität als Bund Gottes mit dem von ihm auserwählten israelitischen Volk erinnert wird. Dadurch ist es dem jüdischen Volk gelungen, sich eine Erinnerungsfähigkeit zuzulegen, die diejenige aller anderen Völker weit übertrifft, die nach der Zerschlagung ihrer staatlichen Einheit in mehr oder minder kurzer Frist ihre nationale Identität vollständig vergessen haben und in ihren Eroberer- oder Immigrationsländern vollständig heimisch geworden sind. Das Judentum hat sich einen anderen geschichtsphilosophisch inspirierten Weg ›erwählt‹ und so die 1

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2., durchges. Aufl. München: Beck 1997, S. 201.

58

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

eigene kollektive Identität bewahrt. Die Dialektik von Vergessen und Erinnern, wie sie im Buch Deuteronomium kodifiziert ist, kann nur unter Zugrundelegung eines eschatologischen Programms wirksam werden, wie es der Bund mit Gott und der Gedanke der ›Auserwähltheit‹ darstellt. Die Plausibilisierung der eigenen Geschichte und damit auch der Erhaltung der eigenen kollektiven Identität war im babylonischen Exil – nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v. Chr. und der anschließenden Verschleppung – notwendig geworden, um einen Sinn in der seit dem ägyptischen Exil durch nationale Katastrophen geprägten Geschichte zu finden: Im babylonischen Exil begannen die Juden mit einer umfassenden Kodifizierung ihrer Geschichte. Es ist eine Geschichte von Rückschlägen und Katastrophen. In der Not, einen Sinn in den Bedrängnissen der Gegenwart zu finden, erklären sie sich ihnen in der Rückschau als Strafgericht Gottes. Gott hat mit Israel einen Bündnisvertrag geschlossen. Israel aber ist immer wieder von seinem Herrn abgefallen und hat immer wieder die Statuten dieses Vertrages gebrochen. Die Geschichte, wie sie in den Büchern des sog. deuteronomistischen Geschichtswerkes erzählt wird, ist eine einzige Geschichte der Untreue, des Abfalls, des Rückfalls ins »Heidentum«.2

Es kam – wie im Zitat belegt – in den folgenden Jahrhunderten, nach dem Fall des babylonischen Reiches und seiner Eingliederung in das persische Weltreich unter König Kyros II., zur Kodifizierung der religiösen und geschichtlichen Überlieferung der Juden,3 die die Geschichte des jüdischen Volkes als eine solche des Abfalls von Gott und die geschichtlichen Katastrophen als göttliche Strafen, als Gottes Eingreifen in die Geschichte interpretiert. Besonders deutlich wird dies in der von Jan Assmann so bezeichneten »Gründungslegende der kulturellen Mnemotechnik«,4 die in 2. Kg. 22ff. erzählt wird. Die josianische Reform, die auf der Grundlage des von dem Hohepriester Hilkia bei der Renovierung des Tempels ›wiedergefundenen‹ Buches Deuteronomium das monotheistische Judentum durchsetzt,5 wird eingeführt, um die Geschichte des jüdischen Volkes der vergangenen Jahrhunderte plausibel zu machen und um einen verborgenen Sinn in ihr entdecken zu können: Alle Drangsale und Schicksalsschläge der Vergangenheit und Gegenwart wurden nun als göttliches Strafgericht offenbar. Denn die religiöse und politische Praxis des Landes stand im krassesten Gegensatz zu dem, was in diesem Vertrag gefordert wird. Das deuteronomistische Geschichtswerk läßt sich als die Kodifikation einer Erinnerungsarbeit verstehen, die vom Prinzip der Schuld geleitet ist. Hier geht es darum, die katastrophalen Ereignisse der Gegenwart noch als Handeln Jahwes verstehen 2

3 4 5

Jan Assmann: Die Katastrophe des Vergessens: das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt am Main: Fischer 1993 (Fischer Taschenbuch Wissenschaft; 10724), S. 337. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 207–210. Ebd., S. 215. Vgl. ebd., S. 202–204.

2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

59

und verkraften zu können [...]. Unter dem Kriterium der Schuld ordnet sich nun die Sequenz der Ereignisse zu einer Verschuldungsgeschichte, die mit unausweichlicher Konsequenz auf die Katastrophe zusteuert. Die Geschichte, so wie sie im Buch der Könige erzählt wird, wird durch Schuld generiert, und die Schuld wird durch das Gesetz generiert, wie es im Buch kodifiziert ist.6

Indem König Josia die hier niedergelegten Gebote und Vorschriften, die Gott seinem Volk vor dem Einzug ins gelobte Land gegeben hat, liest und die Drohungen bei Missachtung dieser Gebote und Vorschriften mit dem Schicksal seines Volkes in den letzten Jahrhunderten vergleicht, entdeckt Josia das Prinzip der Schuld und der göttlichen Strafe für diese Schuld; er entdeckt das Prinzip des göttlichen Handelns in der Geschichte seines Volkes, dessen Erkenntnis für die Selbstinterpretation der Geschichte des Judentums durch die Juden wesentlich geworden ist: So hüte dich nun davor, den HERRN, deinen Gott, zu vergessen, so daß du seine Gebote und seine Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst. Wenn du nun gegessen hast und satt bist und schöne Häuser erbaust und darin wohnst und deine Rinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehrt, dann hüte dich, daß dein Herz sich nicht überhebt und du den HERRN, deinen Gott, vergißt, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft, und dich geleitet hat durch die große und furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser war, und ließ dir Wasser aus dem harten Felsen hervorgehen und speiste dich mit Manna in der Wüste, von dem deine Väter nichts gewußt haben, auf daß er dich demütigte und versuchte, damit er dir hernach wohltäte. [...] Wirst du aber den HERRN, deinen Gott, vergessen und andern Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten, so bezeuge ich euch heute, daß ihr umkommen werdet; eben wie die Heiden, die der HERR umbringt vor eurem Angesicht, so werdet ihr auch umkommen, weil ihr nicht gehorsam seid der Stimme des HERRN, eures Gottes.7

Dieses ›wiedergefundene‹ Buch thematisiert »die Motive des Vergessens und Erinnerns«8 im Augenblick der Rückkehr aus der ägyptischen Gefangenschaft nach Israel, aus der Gottes Wirken in der Geschichte die Israeliten errettet hat. Zur Bewahrung des Gedenkens an das göttliche Wirken für sein Volk werden hier verschiedene Verfahren ›kollektiver Mnemotechnik‹ vom israelitischen Volk gefordert. Diese sollen die Erinnerung an die für die kollektive jüdische Identität grundlegend gewordenen Ereignisse über die Erlebnisgeneration hinaus präsent halten und als Garanten für die Bewahrung des Bundes fungieren, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat. Als die wichtigsten Verfahren der ›kollektiven Mnemotechnik‹, wie sie dort festgesetzt werden, zählt das Buch Deuteronomium u. a. folgende auf:

6 7 8

Assmann, Die Katastrophe des Vergessens (wie Anm. 2), S. 338. Dt. 8, 11–16, 19f. Assmann, Die Katastrophe des Vergessens (wie Anm. 2), S. 338.

60

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie 1. Bewußtmachung, Beherzigung – Einschreibung ins eigene Herz [...] 2. Erziehung – Weitergabe an die folgenden Generationen durch Kommunikation, Zirkulation – davon reden allerorten und allerwege [...] 5. Speicherung und Veröffentlichung – Inschrift auf gekalkten Steinen [...] 6. Feste der kollektiven Erinnerung – die drei großen Versammlungs- und Wallfahrtsfeste, an denen »alles Volk, groß und klein« vor dem Angesicht des Herrn zu erscheinen hat:[...] »Mazzot« (= Pessach) – das Fest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten (»auf daß du dein Leben lang an den Tag deines Auszugs aus Ägypten denkest« 16.3); [...] »Schawuot« – das Wochenfest, an dem man des Aufenthalts in Ägypten gedenken soll (»und du sollst daran denken, daß du Sklave warst im Lande Ägypten« 16.12); [...] »Sukkot« – das Laubhüttenfest, in dessen Verlauf alle sieben Jahre der gesamte Text des Buches verlesen werden soll (s. u. 8). [...] 7. Mündliche Überlieferung, d. h. Poesie als Kodifikation der Geschichtserinnerung [...] 8. Kanonisierung des Vertragstextes (Torah) als Grundlage »buchstäblicher« Einhaltung [...]9

Die Notwendigkeit dieser kollektiven Mnemotechniken ist evident in einer »völlige[n] Veränderung der Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse«10 nach dem Ende der Unterdrückung und Verfolgung; nach der Rettung durch Gott und Führung ins gelobte Land werden der Wohltäter und der Bund, den er mit seinem Volk geschlossen hat, rasch vergessen, wie die Geschichte Israels zeigt, die – wenn man sich dem biblischen Interpretationsmuster anschließt – im wesentlichen eine solche des Abfalls vom Bund mit Gott und der anschließenden Bestrafung für dieses Vergehen ist. Die josianische Reform ist ein Beispiel für die ›Wiederentdeckung‹ der jüdischen kollektiven Identität nach dem Vergessen und nach den existenzbedrohenden Katastrophen, deren Abwendung göttlichem Wirken zugeschrieben wird. Es handelt sich hierbei um eine ›kontrapräsentische Erinnerung‹, d. h. eine Erinnerung, die in den Bezugsrahmen der jeweiligen Wirklichkeit nicht nur keine Bestätigung findet, sondern zu ihr in krassestem Widerspruch steht: die Wüste im Gegensatz zum Gelobten Land, Jerusalem im Gegensatz zu Babylon. Mit Hilfe dieser Mnemotechnik haben die Juden es verstanden, über fast zweitausend Jahre hinweg, in alle Weltgegenden verstreut, die Erinnerung an ein Land und an eine Lebensform, die zu ihrer jeweiligen Gegenwart in schärfstem Widerspruch standen, als Hoffnung lebendig zu erhalten: »Dieses Jahr Knechte, nächstes Jahr Freie, dieses Jahr hier, nächstes Jahr in Jerusalem«.11

Die kontrapräsentische Erinnerung wurde in den Jahrhunderten der Galut, d. h. der permanenten Diaspora des jüdischen Volkes seit der Zerstörung des Zweiten Tempels, zum Garanten der Bewahrung der jüdischen kollektiven Identität, 9 10 11

Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 218–221. Ebd., S. 224. Ebd., S. 227.

2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

61

die eben vom Prinzip der Extraterritorialität geleitet war. Wegen der Gefahren des Vergessens konnten bzw. mussten die Juden eine kollektive Identität entwickeln, die sich auch losgelöst von einer staatlichen Einheit behaupten konnte. Diese kollektive Identität diente den Juden über die Jahrtausende hinweg dazu, ihrer beispiellosen Leidensgeschichte, wie Yosef Hayim Yerushalmi gezeigt hat,12 einen eschatologischen Sinn zu geben. Ausgehend von der Beobachtung, dass es bis ins 19. Jahrhundert hinein keine jüdische Geschichtsschreibung gibt, stellt er fest, dass das kollektive Gedächtnis der Juden im Laufe der Diaspora nahezu ausschließlich nach dem Muster der in der Bibel niedergelegten Erfahrung des göttlichen Wirkens in der Geschichte funktioniert und immer dem Grundmuster ›Abfall von Gott – geschichtliche Katastrophe – Erneuerung des Bundes – Rettung aus größter Gefahr‹ gehorcht hat. So lagern sich an die Geschichte des ursprünglichen Bundes bzw. der verschiedenen biblischen Bundesschlüsse in konzentrischen Kreisen weitere Geschichten an, die das göttliche Wirken für sein Volk bezeugen. Daraus ergibt sich keine Geschichtsschreibung im modernen Sinn, wie sie etwa im Historismus theoretisch legitimiert wurde, sondern lediglich ein Interpretationsmuster zur Plausibilisierung gegenwärtiger Leiderfahrung, das die Ereignisse der nachbiblischen Epochen – von der Zerstörung des Zweiten Tempels über die Diasporaerfahrungen und Verfolgungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit bis hin zum Holocaust im vergangenen Jahrhundert – in ein eschatologisches Konzept einzugliedern versucht. Yerushalmi nennt die Juden daher im Gegensatz zu Herodot, dem ›Vater der Geschichtsschreibung‹, die »Väter des Sinns in der Geschichte«,13 die versuchen, die gegenwärtigen Ereignisse nach dem vorgegebenen Muster der biblischen Vergangenheit zu deuten. Die Aktualität dieses jahrhundertealten aus der Bibel abgeleiteten Deutungsmusters belegt etwa die in den Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren – nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg (1973), die die Furcht vor einem erneuten Genozid am jüdischen Volk evoziert haben – entstandene Holocaust-Theologie. In ihr werden die unvorstellbaren Verbrechen während des Nationalsozialismus, die im Holocaust kulminierten, mit dem Problem der Theodizee verknüpft und auf die (Un-) Vereinbarkeit der Existenz des in der Geschichte wirkenden Gottes mit der Tatsache des Holocaust befragt. Neben vereinzelten nietzscheanischen »Gott ist tot«-Theologien (Richard Lowell Rubenstein) und der Behauptung der Nichtvereinbarkeit des Holocaust mit traditionellen Deutungsmustern der jüdischen Geschichte (Arthur Allen Cohen, Marc H. Ellis) nimmt der Versuch, den Holocaust in die traditionelle eschatologische jüdische Geschichtsdeutung zu integrieren, in diesen Diskussionen breiten Raum ein (Ignaz Maybaum, Emil Fackenheim, 12

13

Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagenbach 1996 (Wagenbachs Taschenbuch; 260). Ebd., S. 20.

62

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Eliezer Berkovits, Irving Greenberg).14 Wie auch immer die HolocaustTheologie diese Frage beantwortet und mit dem Problem der Existenz eines säkular gegründeten jüdischen Staates verknüpft, bezeugt sie das große Interesse und die Virulenz dieses Deutungsmusters in der innerjüdischen Diskussion um den Holocaust und die Bedeutung der Erinnerung und des kollektiven Gedächtnisses für die jüdische Identität. Das Gebot »Zachor« (Erinnere dich!) ist also im Judentum fest verankert und bis in die Gegenwart als konstitutiv für die kollektive jüdische Identität anzusehen. Die Erinnerung an die in der hebräischen Bibel niedergelegten Urerlebnisse von Verfolgung und Vernichtung, von Vertreibung und Ermordung wird im Laufe der Geschichte unzählige Male aktualisiert, wie ein Blick in die Geschichte der Europäischen Judenverfolgungen und der jüdischen Zeugnisse darüber belegt.15 Der Rekurs auf das biblische Deutungsmuster diente vor allem dazu, den gegenwärtigen Leiderfahrungen einen aus der eigenen Geschichte ableitbaren Sinn zu geben, der die religiös vermittelte kollektive Identität der Juden als Juden, d. h. als das von Gott zum Bund auserwählte Volk, festigte und der Gegenwart somit eine eschatologische Bedeutung geben konnte: Alltägliche Diskriminierung und Entrechtung, Verfolgung und Leid, zwangen immer wieder auf schmerzlichste Weise zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Gefragt waren also nicht Fluchtwege aus der Geschichte, sondern Sinnrefugien, die es erlaubten, in der Auseinandersetzung und Konfrontation mit der bedrückenden geschichtlichen Gegenwart diese selbst interpretativ sinnvoll zu transformieren. Nicht der Rückzug aus der Geschichte und damit ihre Aufhebung, sondern die Besinnung auf die Verwurzelung in der eigenen Geschichte und damit ihre Rettung, waren das Motiv der Rückbesinnung auf die das jüdische Gedächtnis prägenden Muster.16

Zur Identifikation der gegenwärtigen Erfahrungen mit dem biblischen, die Auserwähltheit des jüdischen Volkes bestätigenden Grundmuster und zur Bestätigung des von Gott mit seinem Volk geschlossenen Bundes dienten dabei über die Jahrhunderte hinweg vor allem die religiösen Feste, die auch im säkularisierten Judentum der letzten beiden Jahrhunderte – zeitweilig nur aus folkloristischen Gründen, in Zeiten zunehmender Bedrängnis aber durchaus auch wieder mit der ursprünglichen religiösen Bedeutung – als Rudimente

14

15 16

Vgl. zur jüdischen Holocaust-Theologie die materialreiche Dissertation von Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben: geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz. 2. Aufl. Gütersloh: Kaiser 1996, der die wesentlichen Positionen der Diskussion kenntnisreich nachzeichnet. Einschlägige übersetzte Originalbeiträge aus dieser Diskussion sowie ein zusammenfassendes Nachwort der beiden Herausgeber Michael Brocke und Herbert Jochum enthält der Sammelband Wolkensäule und Feuerschein: Jüdische Theologie des Holocaust. Hg. von Michael Brocke und Herbert Jochum. Gütersloh: Kaiser 1993 (KaiserTaschenbücher; 131). Vgl. Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! (wie Anm. 12). Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben (wie Anm. 14), S. 144f.

2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

63

kollektiver religiös grundierter Identität überdauert haben.17 An erster Stelle ist hier das Pessach-Fest zu nennen, das die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten nicht lediglich wachhalten, sondern vergegenwärtigen soll, wie ein genauer Blick auf die Liturgie des Sederabends zeigt. Nicht nur werden in der zeremoniellen Mahlzeit die äußeren Umstände der damaligen Lebensbedingungen während der Flucht aus Ägypten und der vierzigjährigen Irrwanderung durch die Wüste nachvollzogen,18 darüber hinaus wird in dem sich anschließenden Frage- und Antwortspiel, bei dem der Vater dem jüngsten Sohn bzw. dem jüngsten Kind vier Antworten auf dessen vier zeremonielle Fragen gibt, die eigene Gegenwart in einen zeitlichen Zusammenhang mit der biblischen Vergangenheit gebracht, der eine Austauschbarkeit bzw. Identität der Erfahrungen garantiert. Dabei oszillieren die Personalpronomina, die von den beteiligten Personen verwendet werden, zwischen dem unbeteiligten ›Ich‹ des Kindes, dem distanzierten und exklusiven ›Sie‹, die damals aus Ägypten ausgezogen sind, und dem abschließenden ›Wir‹, das alle Beteiligten integriert und somit die überzeitliche kollektive Identität herstellt, die in der abschließenden, von allen geteilten Hoffnung gipfelt: »Im nächsten Jahr in Jerusalem«.19 Dass es sich dabei nicht bloß um eine folkloristische Veranstaltung handelt, belegen die zahlreichen Erinnerungen an das Pessach-Fest und insbesondere an den Sederabend in den hier zu untersuchenden Autobiographien. Besonders virulent wird der eschatologische Sinn dieses Festes der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten in Zeiten zunehmender Bedrohung der Juden. So findet sich etwa bei Elias Canetti, der in einem bulgarischen Schtetl seine ersten Lebensjahre verbracht und seine weitere Kindheit und Jugend hauptsächlich in England und in der Schweiz gelebt hat, die wegen des Fehlens nennenswerter jüdischer Bevölkerungsanteile beide vom Antisemitismus weitgehend frei waren, tatsächlich nur ein unbeteiligt-distanzierter Blick auf die religiösen Feste des Judentums; er nimmt diese Feiern nahezu ausschließlich als Familienfeste und unter folkloristischen Aspekten wahr.20 Dagegen verbinden sich bei der etwa zwei Jahrzehnte später im antisemitischen und inzwischen an Deutschland ›angeschlossenen‹ Wien aufgewachsenen Ruth Klüger,

17

18

19

20

Vgl. Monika Richarz in Jüdisches Leben in Deutschland (1976–1982): Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte. Hg. und eingeleitet von Monika Richarz. 3 Bände. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. 1976–1982 (Veröffentlichungen des Leo-Baeck-Instituts), Bd 1, S. 48f. Vgl. Friedrich Thieberger: Pessach. In: Jüdisches Fest Jüdischer Brauch. Hg. von Friedrich Thieberger. 3. Aufl. Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag im AthenäumVerlag 1985, S. 200–207. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 15–18, Thieberger, Pessach (wie Anm. 18) und Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! (wie Anm. 12), S. 56f. Vgl. Elias Canetti: Die gerettete Zunge: Geschichte einer Jugend. München, Wien: Hanser 1977, S. 26f., 31f., 35–37.

64

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

die sich die Rolle der Fragenden am Sederabend gegenüber einem Cousin ertrotzt hatte, gegenwärtige und biblische Verfolgungssituation: Diese rituelle Mahlzeit, überfrachtet mit poetischen und symbolischen Bedeutungen, war sehr aktuell, denn sie feiert die Erlösung des Volks durch Flucht und Auswanderung.21

Der in Berlin aufgewachsene Ludwig Greve betont während seiner Vorbereitungen zur Bar Mitzwa, im Jahr nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, weniger die Hoffnung auf Rettung, die am Sederabend verheißen wird, als vielmehr die vorangegangenen Nöte in der Fremde. Auch bei ihm findet sich – in der Tradition des jüdischen Gedächtnisses – die Gleichsetzung der vergangenen biblischen mit den bevorstehenden Verfolgungsszenen, wenngleich das Kind die Aktualität der biblischen Ereignisse noch nicht erkennen kann. Die Herstellung dieses Zusammenhangs gelingt erst dem erwachsenen, über die Ereignisse der Kindheit reflektierenden Autobiographen: Manches davon, was uns Berliner Kindern damals so fern schien, hat uns im Leben eingeholt; Moses Errettung in dem Kästlein aus Rohr, die Knechtschaft in Ägypten und die Plagen, wie Moses auf Geheiß des Herrn den Stab hob und ins Wasser schlug, »das im Nil war. Und alles Wasser im Strom wurde in Blut verwandelt. Und die Fische im Strom starben, und der Strom wurde stinkend, so daß die Ägypter das Wasser aus dem Nil nicht trinken konnten.« So wenig das vergangen war, damals achteten wir mehr darauf, wann Herr Auerbach [der jüdische Religionslehrer; M. M.], scheinbar zerstreut, damit es nicht auffiel, die Uhr aus seiner Westentasche fingern würde; das Klappern des goldenen Deckels zeigte uns an, daß der vergnügliche Teil des Nachmittags bald erreicht sein würde.22

Die Säkularisationstendenzen und die Einbindung in die Entwicklung der nichtjüdischen Umwelt in den beiden letzten Jahrhunderten (Emanzipation und Assimilation) sind natürlich auch am sich in diesem Zeitraum verbürgerlichenden Judentum nicht spurlos vorübergegangen (vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit), d. h. der eschatologische Sinn der jüdischen Geschichtserinnerung, der ursprünglich die Erinnerung an das göttliche Wirken in der Geschichte für sein Volk wach halten sollte, ist zunehmend hinter ein weltliches Interesse der Juden an der Deutung ihrer Geschichte zurückgetreten – ein Wechsel der Deutungsmuster, der übrigens mit dem jetzt auch im Judentum entstehenden Interesse an Geschichte im wissenschaftlichen, vom Historismus geprägten Sinne korrespondiert, aber nicht in ihm aufgeht.23 Die Notwendigkeit des Erinne-

21 22

23

Ruth Klüger: weiter leben: eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992, S. 42. Ludwig Greve: Wo gehörte ich hin? Geschichte einer Jugend. Hg. und mit einem Nachbericht versehen von Reinhard Tgahrt. Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 33. Zur Entstehung einer jüdischen Geschichtsschreibung im modernen, von den Traditionen des kollektiven jüdischen Gedächtnisses abgelösten Sinne, von der Entstehung der Wissenschaft des Judentums aus dem Geiste des entstehenden His-

2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

65

rungsgebots »Zachor« wird deshalb auch anders gefasst.24 Nicht mehr Gottes Wirken in der Geschichte, sondern lediglich die Tatsache der Unterdrückung und Verfolgung des jüdischen Volkes bis zum Massenmord soll nun erinnert werden. Häufig ist diese gemeinsame Erfahrung der europäischen Juden das einzige, was sie noch mit dem Judentum verbindet, was ihre jüdische Identität ausmacht und, wie das Beispiel Grete Weils zeigt, nur noch resignativ erfahren werden kann: Ich bin ein Teil einer Gemeinschaft des Leidens, der Schmerzen. Kann ich davon wegkommen? Offensichtlich nicht.25

Jüdische Identität konstituiert sich allem Anschein nach nicht mehr ausschließlich durch den gemeinsamen Glauben an den Gott der Bibel oder durch eine gemeinsame kulturelle Erfahrung, sondern – zumindest im assimilierten und säkularisierten Judentum – lediglich noch als Gedächtnis und Erinnerung an die geschichtlichen Katastrophen des jüdischen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart. Am eindringlichsten formuliert dies wohl der erklärte Atheist Manès Sperber im ersten Teil seiner Autobiographie:

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torismus in Deutschland vgl. Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! (wie Anm. 12), S. 87–110. Säkularisierte Varianten des jüdischen Erinnerungsgebotes finden sich in diesem Jahrhundert in großer Zahl. Ihre Bedeutung für Kunst und Wissenschaft kann kaum überschätzt werden, wenngleich die spezifisch jüdischen Grundlagen dieser Erinnerungsgebote noch kaum erforscht sind. Zu nennen sind hier etwa die Proustsche Recherche, die Arbeiten über Bedingungen und Funktionen des Gedächtnisses bei Henri Bergson und Maurice Halbwachs, die Freudsche Psychoanalyse. – Lutz Niethammer: Erinnerungsgebot und Erfahrungsgeschichte: Institutionalisierungen im kollektiven Gedächtnis. In: Holocaust: Die Grenzen des Verstehens: eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Hg. von Hanno Loewy. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 32, weist darauf hin, dass das Gedenken an die Opfer des Krieges und besonders der nationalsozialistischen Verbrechen aus der jüdischen Erinnerungskultur übernommen worden ist. Der christlicheuropäische Weg sei dagegen wesentlich stärker vom Imperativ des Vergessens geprägt gewesen, wie die Geschichte der europäischen Staaten, ihre Kriege und Friedensschlüsse zeigen. Die säkularisierte Übernahme des jüdischen Erinnerungsgebots etwa in Deutschland ist ein Hinweis auf die radikale ›Ausnahmsartigkeit‹ (Christian Meier) des Holocaust in der europäischen Geschichte (vgl. ebd., S. 33): »Im Ergebnis hat der Versuch, die Juden aus der Gesellschaft Europas auszutilgen, zur Institutionalisierung eines wichtigen Elementes der jüdischen Tradition, nämlich eines durchgreifenden Gedächtnis- und Erinnerungsgebots in der politischen Kultur Deutschlands geführt«. – Zur Notwendigkeit des Vergessens von Konflikten zur Herstellung eines dauerhaften Friedens in den europäischen Rechtssystemen vgl. Ivo Hölscher: Geschichte und Vergessen. In: Historische Zeitschrift 249 (1989), S. 16. Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. Zürich: Nagel und Kimche 1998, S. 74.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie »Gedenk! Erinnere dich! Thiskor!« In drei Sprachen klang es mir von frühester Kindheit ins Ohr: »Was deinen Ahnen irgendeinmal an Unrecht geschehen ist, vergiß es nie; was sie andern Böses angetan haben, denke daran und an die Gerechtigkeit der Strafe, die sie erlitten haben. Was ihnen Gutes zugestoßen ist, behalt es im Gedächtnisse; wer dir einen Trunk Wasser gereicht hat, lösch die Erinnerung an ihn nie aus, denn er hat gehandelt wie Rebekka, die dem fremden Elieser den labenden Trunk gereicht hat. Jedes Mal, wenn du den Fuß auf die Stelle setzt, an dem [sic!; M. M.] du jemandem Unrecht getan hast, sollst du das Weh empfinden, an dem du schuldig warst, bist, sein wirst.« Ja, die »Religion des guten Gedächtnisses«, der Erich von Stetten, eine Hauptfigur meiner Romane, anhängt, ist die meine geworden vor langer Zeit – sie ist die einzige, deren Gebote zu erfüllen ich mich bemühe, obschon ich auch an ihr zweifle, natürlich.26

Das Gebot »Zachor«, dessen Befolgung von Manès Sperber eindringlich eingefordert wird, bezieht sich aber nicht nur auf das Gedenken an die Verbrechen, die an dem jüdischen Volk bzw. durch es begangen worden sind, sondern es dient in der Tradition der seit dem frühen Mittelalter überlieferten Memorbücher auch dazu, die Erinnerung an die Namen der Opfer dieser Verbrechen, an die Märtyrer für das Judentum zu bewahren. Die Memorbücher des Mittelalters dienten als Gebetbücher in den jüdischen Gemeinden und enthielten – neben den Gebeten – ein Nekrologium, in dem »Personen allgemein-jüdischer oder lokaler Bedeutung« verzeichnet waren, sowie ein Martyrologium, in dem die lokalen Märtyrer für das Judentum nebst den Anlässen, bei denen sie den Tod fanden, verzeichnet sind.27 In die Tradition des Gedenkens an die Judenverfolgungen und an die ihnen zum Opfer gefallenen jüdischen Märtyrer für den Glauben28 lassen sich auch die offiziellen Gedenkveranstaltungen innerhalb des Judentums einreihen, die der Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung anlässlich des Jahrestages der Befreiung am 27. Januar 1945 gewidmet sind (Jom Hashoah in Israel,29 Gedenkfeiern in Auschwitz). Ihnen allen ist die Erinnerung an die Namen der Orte der Vernichtung und vor allem die Erinnerung an die Namen der Ermordeten gemeinsam, die in endlos anmutenden Litaneien bei diesen

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Manès Sperber: All das Vergangene ...: Die Wasserträger Gottes; Die vergebliche Warnung; Bis man mir Scherben auf die Augen legt. Wien, Zürich: Europaverlag 1983, S. 69. Vgl. den Artikel »Memorbuch« in: Neues Lexikon des Judentums. Hg. von Julius H. Schoeps. Neuauflage. Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1998, S. 560. – Hier finden sich – neben dem Zitat – auch weiterführende Literaturangaben. Vgl. Verena Lenzen: Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes: Studien über die Heiligung des göttlichen Namens. (Kiddusch HaSchem). München, Zürich: Piper 1995. Vgl. James E. Young: Jom Hashoah: Die Gestaltung eines Gedenktages. In: Shoah Formen der Erinnerung: Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. Hg. von Nicolas Berg, Jess Jochimsen und Bernd Stiegler. München: Fink 1996, S. 53–76.

2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

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Veranstaltungen genannt werden, um sie der Vergessenheit zu entreißen bzw. vor dem Vergessen zu bewahren. Dieser Zweck des Gedenkens an die Opfer findet sich auch in den jüdischen Autobiographien, die eben nicht nur der Darstellung des eigenen Lebens gewidmet sind, sondern darüber hinaus auch das Gedächtnis an die Verstorbenen und hier besonders an die wegen ihres Judentums Ermordeten, zumindest aber die Bewahrung der Namen der Toten, wachhalten sollen.30 Zumeist ist von diesen Toten nichts weiter geblieben als die Erinnerung an sie im Gedächtnis der Überlebenden. Kein Friedhof, kein Grabstein bewahrt die Namen; die Erinnerung an die Toten muss im Gedächtnis der Überlebenden weitergetragen werden: »Wir werden zu den wandelnden Friedhöfen unserer ermordeten Freunde werden«31 stellt Manès Sperber angesichts der Opfer, die Holocaust und stalinistische Säuberungen unter seinen jüdischen und kommunistischen Freunden gefordert haben, fest. Hans Sahl, dessen zweibändige Autobiographie 1983 und 1990 erschienen und von zahlreichen autobiographisch inspirierten Gedichten durchzogen ist, schreibt in seinem wohl ebenfalls autobiographisch zu nennenden Gedicht Die Letzten, wissend um die Notwendigkeit der Bewahrung der Erinnerung an das Geschehene, aber auch wissend um die Gefahren der Instrumentalisierung dieses Gedächtnisses zum bloßen ›shoah-business‹: Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig. Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde wie einen Bauchladen vor uns her. Forschungsinstitute bewerben sich um Wäscherechnungen Verschollener. Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie wie Reliquien unter Glas auf. Wir, die wir unsere Zeit vertrödelten, aus begreiflichen Gründen, sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden. Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz. Unser bester Kunde ist das schlechte Gewissen der Nachwelt. Greift zu, bedient euch. Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig.32 30

31 32

Vgl. Mona Körte: Der Krieg der Wörter: der autobiographische Text als künstliches Gedächtnis. In: Berg/Jochimsen/Stiegler (Hg.), Shoah Formen der Erinnerung (wie Anm. 29), S. 210–213. Sperber, All das Vergangene (wie Anm. 26), S. 616. Hans Sahl: Wir sind die Letzten. Der Maulwurf: Gedichte. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Luchterhand-Literaturverlag 1991, S. 7.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Auch hier klingt die Gefahr des Vergessens an, die mit dem Aussterben der Erlebnisgeneration nahezu zwangsläufig einhergeht. Dagegen gilt es anzudichten und anzudenken und diese Erinnerung auf unvergänglichere Medien als das individuelle Gedächtnis des sterblichen Menschen zu transformieren, wie es auch schon im Buch Deuteronomium gefordert wird. Elias Canetti, der große Feind des Todes, sieht in seinen autobiographischen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1945 eine Aufgabe seiner literarischen Arbeit eben auch darin, für ihn persönlich und historisch bedeutende Personen vor dem endgültigen Tod zu bewahren. Diesen erleiden sie dadurch, dass sie von der Nachwelt vergessen werden; vor diesem Schicksal versucht er sie zu bewahren, indem er ihnen in seiner Literatur, in seinem autobiographischen Schreiben einen Platz im Gedächtnis der lebenden und der kommenden Generationen anweist. Die zitierte Passage ist kurze Zeit nach dem Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verfasst, der auf den späteren Nobelpreisträger viel eher den Eindruck eines ›Zivilisationsbruchs‹ gemacht zu haben scheint als der inzwischen, wenn auch noch nicht in seiner gesamten Tragweite, bekanntgewordene Holocaust: Die Versuche, das Andenken der Menschen am Leben zu erhalten, statt sie selbst, sind immerhin noch das Größte, was die Menschheit bis jetzt geleistet hat. Menschen durch Worte am Leben erhalten, – ist das nicht beinahe schon so, wie sie durch Worte erschaffen?33

Dieser Impetus durchzieht die gesamte Autobiographie-Trilogie Canettis.34 Finden sich bei Canetti im dritten, der Memoirenform angenäherten Teil seiner Autobiographie fast nur Erinnerungen an bedeutende Persönlichkeiten des Wiener und Berliner literarischen Lebens und Kulturbetriebs, so wird in der jüdischen Autobiographie häufig auch die Erinnerung an die Namen und Lebensgeschichten des eigenen (nicht prominenten) Lebensumfelds bewahrt. Bei Canetti ist dies vor allem in den Passagen seiner autobiographischen Trilogie der Fall, in denen er das Verhältnis zu seiner abgöttisch geliebten Mutter, die ihm die deutsche Sprache und Kultur eröffnet hat, thematisiert – einschließlich des schwierigen Ablöseprozesses, der beinahe zum endgültigen Bruch zwischen Mutter und Sohn geführt hätte; die Lebensgeschichte endet daher auch mit der Versöhnung im Angesicht des Todes der Mutter, der er mit dieser Trilogie ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat. Es ist für die Autobiographie jeglicher Provenienz zwar durchaus nicht unüblich, dass die Namen der Kindheit, der Freunde und Verwandten, von Gestorbenen und noch Lebenden genannt werden; sie sind aber zumeist – wie 33 34

Elias Canetti: Die Provinz des Menschen: Aufzeichnungen 1942–1972. München: Hanser 1973, S. 94. Canetti, Die gerettete Zunge (wie Anm. 20), ders.: Die Fackel im Ohr: Lebensgeschichte 1921–1933. München, Wien: Hanser 1980 und ders.: Das Augenspiel: Lebensgeschichte 1931–1937. München, Wien: Hanser 1985.

2.1 Erinnerung und Gedächtnis im Judentum

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auch das Beispiel Elias Canettis gezeigt hat – eingebettet in einen Erzählzusammenhang, der mit dem Leben des Autobiographen direkt korrespondiert bzw. wesentliche Einflüsse auf den Werdegang des Autobiographen belegt. Eine solche Einbettung ist aber in vielen jüdischen Lebensläufen nicht möglich, weil es die Erfahrungen während des Nationalsozialismus unmöglich gemacht haben, solche Bindungen aufzubauen. Dies legt Ruth Klüger in ihrer Autobiographie dar: In jüdischen Kreisen auf der ganzen Welt besteht heutzutage die Gepflogenheit, die Ermordeten in der Verwandtschaft zu zählen, die Zahl den Nachgeborenen einzuschärfen und zu vergleichen, was blieb von der Mischpoche, der Sippschaft. Dabei kommen horrende Zahlen heraus, Massengräber in jeder Familie. »Hundertundfünf«, sagt der eine, und der nächste legt noch ein Dutzend zu. Lange habe auch ich, wenn nicht selbst gezählt, so doch versucht, mir solche Ziffern respektvoll einzuprägen und mir eingeredet, daß ich um diese Menschen, die ich oft nicht kannte oder an die ich nur die vageste Erinnerung habe, trauere. Aber es stimmt nicht, ich war nie eingebettet in eine solche Großfamilie; sie zersplitterte, als ich im Begriff war, sie kennenzulernen, nicht erst danach. Man möchte dazugehören, es geht jedoch nicht so einfach. Man hat eigentlich nie dazugehört, die Zerstreuung hat zu früh begonnen. Doch sieht man sich eben nicht gern als Monade, allein im Raum, dann schon lieber als das Glied einer, wenn auch zerrissenen, Kette.35

Deshalb finden sich in der jüdischen Autobiographie nach dem Holocaust zahlreiche Nennungen von nahezu vergessenen Namen bzw. Namen von nahezu Vergessenen, an die sich nur noch Rudimente von Erinnerungen lagern, die aber dennoch genannt werden – als Märtyrer für das Judentum, aber auch als Aufzählung eines Verlustes, den die Überlebenden erlitten haben, den sie aber, wie das Beispiel Ruth Klügers zeigt, nicht recht benennen können. Bei Stefan Heym finden sich solche ›Verlustlisten‹ an zahlreichen Stellen seiner Autobiographie Nachruf. Sie belegen durch die unvermittelte Gegenüberstellung von individueller Lebensplanung (die geplanten Hochzeiten der Schwestern des Vaters) und statt dessen kollektiv erlittenem Schicksal auf das Nachdrücklichste, wie hier Leben nicht zu Ende gegangen, sondern brutal vernichtet oder aus ihrem bisherigen Umfeld gerissen worden sind, etwa bei der Aufzählung der Namen der Geschwister seines Vaters, dem nach dem Tode seiner Eltern die Sorge um die Geschwister auferlegt worden [war], ihrer sieben an Zahl, darunter fünf Mädchen, die alle der Reihe nach unter die Haube gebracht werden mußten: Recha (vergast), Linka (vergast), Dora (emigriert), Regina (vergast), Liesel (emigriert).36

Die nahezu vollständige Ausrottung bzw. Vertreibung der väterlichen Verwandtschaft belegt – nur wenige Seiten später – ein weiteres Martyrologium, das der Autor anlässlich der Erzählung eines Ferienaufenthaltes mit den Verwandten der väterlichen Linie vor der NS-Zeit anzulegen gezwungen ist: 35 36

Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Anm. 21), S. 10. Stefan Heym: Nachruf. München: Bertelsmann 1988, S. 6f.

70

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie Ein ganzes Haus wurde am Orte gemietet, und zusammen mit den genannten Tanten [Recha, Linka, Dora, Regina, Liesel; M. M.] reisten an die Berliner Cousins und Cousinen Lutz, Hans und Gerda (emigriert), Alfred und Kurtchen (verstorben, vergast), und Evchen (emigriert).37

Die Bewahrung des eigenen Namens und der eigenen Identität, etwa durch das autobiographische Zeugnis, sowie der Namen der Toten kann aber auch als ein später Sieg über die nationalsozialistische Vernichtungsideologie gedeutet werden. Deren Ziel war ja nicht nur die physische Vernichtung der Juden, sondern darüber hinaus die Auslöschung jedweder Erinnerung an das jüdische Leben in Deutschland und in den besetzten Gebieten. Das lässt sich etwa an der Organisation der Konzentrationslager ablesen, die von der Ankunft der Opfer über ihre Verwaltung in den Arbeitslagern bis zu ihrer physischen Vernichtung auf die Auslöschung ihrer Individualität programmiert war und der man nur unter Aufbietung der letzten Kräfte entkommen konnte, wie Primo Levi in seinem ›autobiographischen Bericht‹ Ist das ein Mensch? bemerkt hat: Eben darum, weil das Lager ein großer Mechanismus ist, der uns zu Tieren herabwürdigen soll, dürfen wir keine Tiere werden; auch an diesem Ort kann man am Leben bleiben und muß deshalb auch den Willen dazu haben, schon um später zu berichten, Zeugnis abzulegen; und für unser Leben ist es wichtig, alles zu tun, um wenigstens das Gerippe, den Rohbau, die Form der Zivilisation zu bewahren.38

Bereits an der Tätowierung der Neuangekommenen, die nicht direkt ins Gas geschickt werden, lässt sich diese Entindividualisierung erkennen. Indem sie eine Häftlingsnummer bekommen, die in der Organisation des Lagerlebens den eigenen Namen ersetzt, wird ihnen der letzte Besitz, der letzte Rest ihrer Individualität und Identität genommen. Für Primo Levi wird dieser Akt der Entindividualisierung, zumindest aus dem retrospektiven Blickwinkel des Autobiographen, aber gerade zum Ansporn, diese Individualität wiederzugewinnen – eine Möglichkeit, die den Opfern versagt geblieben ist: Auch den Namen wird man uns nehmen; wollen wir ihn bewahren, so müssen wir in uns selber die Kraft dazu finden, müssen dafür Sorge tragen, daß über den Namen hinaus etwas von uns verbleibe, von dem, wie wir einmal gewesen.39

Sie, die ermordeten und verbrannten Juden, können nur durch die Nennung ihrer Namen für die Nachwelt gerettet werden, wie das Zitat von Manès Sperber gezeigt hat. Gläubigen Juden bleibt nicht einmal mehr die Hoffnung auf Auferstehung, die im Judentum an die Unversehrtheit des Leibes gebunden ist und deshalb als eine Auferstehung des Fleisches gedacht wird. Selbst diese Hoffnung wurde ihnen durch die Einäscherung und anschließende Verstreuung ihrer Asche genommen. 37 38 39

Ebd., S. 13. Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. Deutsch von Heinz Riedt. 5. Aufl. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1996 (dtv; 11561), S. 46. Ebd., S. 28.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

71

Die tragende Rolle der Geschichtserinnerung im Judentum und die Integration der eigenen Lebenserfahrungen in diese von Verfolgungsszenarien geprägte jüdische Kollektividentität, insbesondere in Zeiten radikalisierter Krisenerfahrungen, wie sie der Nationalsozialismus und der Holocaust für die Juden darstellen, sind in diesem Kapitel exemplarisch skizziert worden. Im folgenden sollen nun die Auswirkungen dieser Geschichtserinnerung auf die formale Gestaltung der jüdischen Autobiographie erörtert werden.

2.2

Autobiographie als Zeugenschaft: Repräsentativität und Kollektivität des eigenen Lebens

2.2.1 Die jüdische Autobiographie Die Beobachtung der Einbettung der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie in den Komplex der jüdischen Geschichtserinnerung beantwortet gleichzeitig die Frage nach dem ontologischen Status dieser Texte. Sie tendieren nicht – wie das die neuere Forschung zur Autobiographie der Gegenwart mehrheitlich erkannt hat – dazu, die Autobiographie in den Gattungen des fiktionalen Erzählens aufgehen zu lassen bzw. das autobiographische Element auf eine sich am Erinnerungsprozess orientierende Schreibweise zu reduzieren40, sondern sie behaupten beharrlich ihren ›ontologischen Sonderstatus‹ als ein historisches Dokument und als Geschichtsquelle. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Motiv der Zeugenschaft zu nennen, das zahlreiche Überlebende des Holocaust dazu bewogen hat, ihre Erinnerungen – bzw. das, was sie dafür halten – niederzuschreiben und im Vollzug der Niederschrift in das kollektive Gedächtnis des Judentums zu transformieren, wie Grete Weil ihr autobiographisch motiviertes Schreiben begründet: »War es der Wunsch, Erlebtes mitzuteilen? Nach der Verfolgungszeit das Bedürfnis, davon zu erzählen. Zeuge zu sein. Weil so etwas nie mehr geschehen durfte.«41 Hieraus erklärt sich auch die große Zahl der in den letzten Jahren erschienenen ›Holocaust-Autobiographien‹ und anderen autobiographischen Zeugnissen von Holocaust-Opfern und -Überlebenden, die – zumeist von nur geringer literarischer Qualität – im Buchhandel erschienen sind. Sie sind im allgemeinen nicht aus künstlerisch-literarischen Gründen verfasst und publiziert worden; dazu stehen die meisten der Autoren dem literarischen Leben zu fern. Ihre Absicht ist es daher nicht, ein literarisches Kunstwerk zu produzieren, sondern in erster Linie Zeugnis abzulegen von den eigenen Erlebnissen. 40

41

Vgl. zu diesem Komplex die Arbeiten von Günter, Anatomie des Anti-Subjekts (wie Kap. 1, Anm. 7), Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Kap. 1, Anm. 4) und Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Kap. 1, Anm. 9) sowie die im einleitenden Forschungsüberblick gemachten Bemerkungen. Weil, Leb ich denn, wenn andere leben (wie Anm. 25), S. 78.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Auch Ruth Klüger behauptet in einem Aufsatz über den Wahrheitsbegriff in der Autobiographie – in Anlehnung an den von Philippe Lejeune konstruierten ›autobiographischen Pakt‹ – »Autobiographie ist eine Art Zeugenaussage«,42 der sie einen Wahrheitscharakter zuweist, der von den gegenwärtig herrschenden Diskursen der Literaturwissenschaft, mit denen sie als Literaturwissenschaftlerin aufs engste vertraut ist, weit entfernt ist. In voller Kenntnis des Standes der Diskussion um den Erzähler und um das philosophische Subjekt, um die Debatten über die Wahrheit oder Fiktionalität von (literarischen) Texten beharrt sie auf dem Wahrheitsanspruch autobiographischen Schreibens, den sie gegen die (post-) strukturalistischen und dekonstruktivistischen Literaturtheorien setzt: Eine Autobiographie muß vom Anspruch, nicht vom Inhalt her, definiert werden, als ein Buch, in dem Autor und Erzähler nicht zu unterscheiden sind. Eine Autobiographie, in der Lügen stehen, ist noch immer eine Autobiographie, wenn auch eine verlogene, und kein Roman.43

Sie wendet sich in diesem Aufsatz entschieden gegen die Anwendung der Theoreme vom Tod des Subjekts in der Moderne und gegen die darin fundierte Behauptung der Unmöglichkeit eines autobiographischen Schreibens unter den Bedingungen der Moderne, das den Subjektstatus des Erzähler-Autors oder Autor-Erzählers nicht negiert und somit den ›ontologischen Sonderstatus‹ seiner Ausführungen als Wirklichkeitsaussagen nicht aufhebt. Die Frage nach Wahrheit und Lüge in der Autobiographie, die unter der Prämisse der Negation des Subjektstatus des Erzähler-Autors oder Autor-Erzählers an Bedeutung verliert, weil sie sich in der Pluralität von möglichen Wirklichkeiten auflöst, die ihre je eigenen Wahrheiten besitzen, steht für Ruth Klüger noch immer im Zentrum der an eine Autobiographie heranzutragenden Fragen. Sie lehnt deshalb alle möglichen ›Ersatzformen‹44 autobiographischen Schreibens ab, die vor allem »den Zweifel an der Ganzheit, der Unverwechselbarkeit des Subjekts«45 thematisieren, wie dies etwa in dem von ihr genannten Buch von Roland Barthes, Über mich selbst, geschieht, wo das autobiographische Subjekt in alphabetisch angeordnete Lemmata zerfällt und wo »die Ketten des eigenen Körpers, des eigenen Wahrnehmungsvermögens«,46 die das Ich zusammenhalten, aus dem Diskurs verschwinden zugunsten der Arbitrarität alphabetischer Aufreihung:

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Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur. Göttingen: Wallstein 1996 (Politik – Sprache – Poesie; 1), S. 409. Ebd., S. 408. Der Begriff ist bei Werner Kraft: Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie. In: Jahrbuch. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1971. Heidelberg, Darmstadt 1972, S. 72 entlehnt und wird in der Interpretation der Kraftschen Autobiographie näher erläutert werden. Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 42), S. 406. Ebd.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

73

Die Frage nach der Lüge im Schrifttum setzt die Möglichkeit wahrhaftigen Sprechens voraus. Sie wird jedoch bei uns, in der Literaturwissenschaft, ihrerseits in Frage gestellt durch Theorien, die diese Möglichkeit eines Durchbruchs zur Wirklichkeit, insofern die Wirklichkeit ein Teil der Wahrheit ist, in der Sprache überhaupt nicht anerkennen. Der Wahrheitsbegriff sei überholt, hören wir, und in der Literatur nicht anwendbar. Und was die Autobiographie betrifft, so wird die Integrität des Subjekts angezweifelt, das sich in verschiedenen Funktionalitäten immer neu definiere. Das führt zu ganz anderen Folgerungen als denen einer postulierten Zeugenschaft.47

Deshalb reagierte Ruth Klüger auch mit heftiger Ablehnung auf die vermeintlichen Kindheitserinnerungen des Schweizers Bruno Doesseker, die er mit dem Titel Bruchstücke: aus einer Kindheit 1939–1948 unter dem Namen Benjamin Wilkomirski veröffentlicht und die der Suhrkamp-Verlag 1999, lange nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe, schließlich doch zurückgezogen hat.48 Auch hier behauptet Ruth Klüger den ›ontologischen Sonderstatus‹ der Autobiographie als historische Quelle, als ›subjektive Form der Geschichtsschreibung‹ gegenüber dem fiktionalen Roman: Die Autobiographie ist die subjektivste Form der Geschichtsschreibung. Autobiographie ist Geschichte in der Ich-Form. Weil sie dank ihrer Subjektivität Dinge enthält, die nicht nachprüfbar sind – Gefühle und Gedanken – wird sie öfters mit dem Roman verwechselt. Sie ist sicherlich in einem Grenzdorf angesiedelt, wo man beide Sprachen spricht, die der Geschichte und die der Belletristik. Aber jedes Grenzdorf gehört dem einen oder dem anderen Staat an; und die Autobiographie gehört eindeutig zur Geschichte. Auf der anderen Seite der Grenze liegt der autobiographische Roman, der eindeutig zur Belletristik gehört. Man kann zu Fuß von einem Dorf ins andere spazieren, sehr weit ist es nicht, und doch geht man von einem Land ins andere, und die Bewohner haben verschiedene Ausweise.49

47 48

49

Ebd., S. 405. Die Diskussion um Benjamin Wilkomirskis Bruchstücke, die schon bald nach ihrem Erscheinen im Jüdischen Verlag, einem Imprint des Suhrkamp-Verlages, zu den ›Klassikern‹ der Holocaust-Literatur gezählt und in eine Reihe mit Primo Levi und eben Ruth Klüger gestellt wurden, begann mit den Recherchen des Schweizer Journalisten Daniel Ganzfried, dem Unstimmigkeiten in der Biographie Wilkomirskis aufgefallen waren, die sich auch nach intensiven Gesprächen mit dem Autor nicht aufklären ließen, und deren Ergebnisse er im September 1998 in der Weltwoche veröffentlichte. – Stefan Mächler hat die tatsächliche Biographie Wilkomirskis im Auftrag der Literaturagentur, die Wilkomirskis Buch u. a. an den Suhrkamp-Verlag verkauft hatte, rekonstruiert und dabei auch der Rezeption der Bruchstücke ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier weist er die starke Abhängigkeit der literarischen Wertung vom Status des Texts als erschütternder Tatsachenbericht bzw. kolportagehafter Kitschroman nach. – Vgl. hierzu Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski: über die Wahrheit einer Biographie. Zürich [u. a.]: Pendo 2000, S. 125–134. Ruth Klüger: Kitsch ist immer plausibel: was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In: Süddeutsche Zeitung vom 30.9.1998, S. 17. – Vgl. auch Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie

74

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Die in der jüngsten Forschung zur Geschichte der deutschsprachigen Autobiographie üblich gewordene Tendenz, die Autobiographie im Kreis des fiktionalen Erzählens aufgehen zu lassen und sie weniger als Lebenszeugnis denn als Symptom der Krise der bürgerlichen Subjektphilosophie und des damit einhergehenden Ichzerfalls zu behandeln, scheint also auf den größten Teil der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie nach dem Holocaust nicht anwendbar zu sein, obwohl es doch gerade diese Lebensläufe sind, in denen sich der Zusammenbruch der bürgerlichen Subjektivität wohl am nachdrücklichsten manifestiert. Autobiographische Texte, die diesen Weg der Fiktionalisierung beschreiten, sind hier eher in der – wenn auch qualitativ hochwertigen – Minderzahl.50 Statt dessen kann an dieser Stelle wieder auf jüdische Deutungsmuster zurückgegriffen werden, die auf das biblische Erinnerungsgebot verweisen, das die Zeit von vierzig Jahren – die Zeit, die die Wanderung Israels durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten dauerte und an deren Ende Jahwe seinem Volk die Notwendigkeit der Bewahrung der Erinnerung an das göttliche Wirken in die Geschichte verkündete – als »ein[en] Einschnitt, eine Krise in der kollektiven Erinnerung«51 bezeichnet: »Wenn eine Erinnerung nicht verlorengehen soll, dann muß sie aus der biographischen in kulturelle Erinnerung transformiert werden.«52 Um den Generationenwechsel zu überstehen, müssen die Erinnerungen der einzelnen aus ihrer Isolierung befreit bzw. aus ihrer Verankerung im ›kommunikativen Gedächtnis‹ der Erlebnisgeneration herausgenommen und dem ›kulturellen Gedächtnis‹ zugeführt werden.53 Dies kann man nicht nur an der Geschichte des Auszugs aus Ägypten, sondern auch heute, da die Erlebnisgeneration eines weiteren tiefgreifenden Einschnitts in der jüdischen Geschichte allmählich ausstirbt, in verschiedenen Varianten beobachten. Es geschieht – neben den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft – in der Form autobiographischer Darstellungen des Erlebten, das im Falle der Überlebenden des Holocaust nicht nur aus Erinnerungen an die Wechselfälle des individuellen Lebens besteht, sondern darüber hinaus die kollektive Erinnerung an die größte Katastrophe des jüdischen Volkes seit der Zerstörung des Zweiten Tempels beinhaltet und somit über eine bloß individuelle Bedeutung

50

51 52 53

Anm. 42), S. 407, wo sie diesen Unterschied zwischen Autobiographie und Roman bereits geltend macht. Zu nennen sind hier etwa Louis Begley: Lügen in Zeiten des Krieges. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (Suhrkamp-Taschenbuch; 3466), Georges Perec: W oder die Kindheitserinnerung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (Bibliothek Suhrkamp; 780), aber auch die autobiographischen Erzählungen Georges-Arthur Goldschmidts, die in Kapitel 4.3 dieser Arbeit besprochen werden. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 218. Ebd. Zur Entgegensetzung von rezentem ›kommunikativem‹ und identitätsstiftendem, zumeist auf einen mythischen Ursprung rekurrierenden ›kulturellem‹ Gedächtnis vgl. ebd., S. 48–66.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

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hinausreicht und deshalb Eingang in das kollektive, Identität stiftende ›kulturelle Gedächtnis‹ finden muss: Historisch signifikant wird das unmerkliche Absterben eines Gedächtnisabschnitts erst, wenn damit bleibende Erfahrungen verbunden sind, die dauerhaft sicherzustellen sind. Genau dieses Problem liegt dem Deuteronomium zugrunde, das sich an die letzten Augenzeugen des Exodus wendet. Das ist aber auch der Fall bei den Greueln der NS-Zeit. Nach diesen Jahrzehnten wird jene Generation ausgestorben sein, für die Hitlers Judenverfolgung und -vernichtung Gegenstand persönlich traumatischer Erfahrung ist. Was heute z. T. noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein. Dieser Übergang drückt sich schon jetzt in einem Schub schriftlicher Erinnerungsarbeit der Betroffenen sowie einer intensivierten Sammelarbeit der Archivare aus.54

Neben den hier zu untersuchenden in schriftlicher Form und für ein breites Publikum veröffentlichten (literarischen) Texten drückt sich die ›Sammelarbeit der Archivare‹ in zahlreichen Projekten aus, die überwiegend von jüdischen Stellen angeregt und durchgeführt werden. Zu nennen sind hier etwa die Sammlungen von schriftlichen autobiographischen Zeugnissen am New Yorker Leo-Baeck-Institut55 oder am von dem Historiker Wolfgang Benz geleiteten Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Ein weiterer Weg der Sammlung solcher Lebenszeugnisse besteht darin, Personen der Zeitgeschichte ihr Leben oder zumindest Episoden daraus vor laufenden Kameras oder wenigstens vor Mikrofonen erzählen zu lassen, so dass sich vermeintlich authentischeres Material gewinnen lässt. Diesen Weg ist etwa Stephen Spielberg mit seiner »Shoah-Foundation« gegangen; aber auch die durch ihre fragmentarische Anordnung und Montage fragwürdig gewordenen Aussagen von Zeitzeugen in den Sendungen des Historikers und Leiters der ZDF-Abteilung für Zeitgeschichte Guido Knopp sind hier zu nennen. Ein ähnliches Projekt der Zeitzeugenbefragung läuft zur Zeit am Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum.56 Allen diesen Formen der Zeugenschaft haftet jedoch der vermeintliche ›Makel‹ der bloß subjektiven Relevanz des jeweils individuell Erlebten an. Reflektiert wird dieser ›Makel‹ jedoch meist nur in den für ein breites Publi54 55

56

Assmann, Die Katastrophe des Vergessens (wie Anm. 2), S. 342. Vgl. Jüdisches Leben in Deutschland (1976–1982) (wie Anm. 17). Diese von Monika Richarz herausgegebene Sammlung enthält autobiographische Texte deutscher Juden von der Aufklärungszeit bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs und stellt nur eine kleine Auswahl aus den Archivbeständen dar. Auch im Bulletin des Leo-Baeck-Instituts werden von Zeit zu Zeit solche Lebenszeugnisse veröffentlicht. Diese werden zumeist nur als historische Quellen bzw. Monumente der Erinnerung der Überlebenden an die Toten und ihr kollektives Schicksal, dem sie selbst nur durch Zufall entgangen sind, veröffentlicht, nicht als literarische Texte. Gegen die vermeintlich höhere Authentizität dieser Lebenszeugnisse ist allerdings einzuwenden, dass sie zumeist einer Verfremdung der Erinnerung durch die Interviewtechnik der Fragenden und die Selektivität der Kameraeinstellungen und Schnitte unterliegt. Besonders Guido Knopp wird häufig mit solchen Vorwürfen konfrontiert – auch von den von ihm befragten Zeitzeugen.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

kum konzipierten und zur Veröffentlichung vorgesehenen Autobiographien und auch hier vorwiegend von solchen Autoren, die nicht von vornherein – etwa durch eine herausgehobene soziale Stellung als Person des öffentlichen Interesses (Politiker, Schauspieler, Schriftsteller, ...) – einen Anspruch auf öffentliche Relevanz ihres individuell gelebten Lebens erheben können. Neben dem Motiv einer zunächst bloß individuellen Zeugenschaft bzw. eng mit diesem verbunden findet sich daher in zahlreichen Autobiographien die Betonung der Repräsentativität des selbst Erlebten. Erst diese Stellvertreterfunktion legitimiert die Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte und deren anschließende Veröffentlichung, wie Egon Schwarz in der »Vorbemerkung« seiner Autobiographie das Vorhaben motiviert: Will ein Privatmensch, der niemals vor eine breitere Öffentlichkeit getreten ist, ein Publikum an seinen Erinnerungen interessieren, so müssen die Ereignisse, die sein Leben ausgemacht haben, in irgendeiner Weise exemplarisch sein, geprägt von den charakteristischen Einflüssen der Epoche, die an den Lesenden wie am Schreibenden wirksam waren. [...] Trotz seiner phantastischen Züge halte ich mein Leben für typisch: es drückt die geschichtlichen Tendenzen aus, die an den Schicksalen meiner Generation mitgewirkt haben.57

In dieselbe Richtung argumentiert Ruth Klüger in ihrer Rede vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung anlässlich ihrer Aufnahme in diese Institution im Jahre 1995, die ihr für ihr autobiographisches Buch weiter leben zuteil wurde. Sie motiviert ihr autobiographisches Schreiben als Ausbruch aus »einige[n] selbstgefällige[n] Jahre[n] als ordentliche Professorin«,58 die sie mit ›lebensfernem‹ Forschen, etwa ihrer Dissertation über das barocke Epigramm, zugebracht hat, und die in die Zuwendung zu »Themen [...], die mir hautnah waren«59 mündeten. Wie Egon Schwarz betont auch Ruth Klüger die Exemplarizität ihres Lebens für ihre Generation: Mein Leben ist zwar kein typisches aber freilich doch ein paradigmatisches Leben unseres Jahrhunderts gewesen. 1931 geboren, erlebte ich die dreißiger und vierziger Jahre, die Zeit der Verfolgung, des Kriegs und des Exils, als Verfolgte und später als Ausgewanderte. Das habe ich in dem erwähnten Buch, weiter leben. Eine Jugend darzustellen versucht.60

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Egon Schwarz: Keine Zeit für Eichendorff: Chronik unfreiwilliger Wanderjahre; mit einer Nachschrift 1991, 27 Abbildungen und einem Essay. Von Hans-Albert Walter. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 1992 (Bibliothek Exilliteratur), S. 9. Ruth Klüger: [Vorstellung neuer Mitglieder]. In: Jahrbuch. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1995, S. 109. Ebd. Ebd. – Zu ihrem autobiographisch motivierten Interesse an der deutschen Literatur vgl. auch die Aufsatzsammlungen von Ruth Klüger: Katastrophen: über deutsche Literatur. Göttingen: Wallstein 1994 über Juden und dies.: Frauen lesen anders: Essays. 2. Aufl. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1997, über Frauen in der deutschen Literatur.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

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Ähnlich wie die Literaturwissenschaftler Ruth Klüger und Egon Schwarz, die die Legitimation für eine verhältnismäßig detaillierte Erzählung der eigenen Lebensgeschichte aus der Behauptung der Repräsentativität des selbst Erlebten ziehen, betrachtet der Geschichtsphilosoph Karl Löwith sein Leben. In seiner Autobiographie überwiegt allerdings der Prozess der theoretischen Neugierde das individualhistorische Interesse, weshalb man hier mehr über die geistesgeschichtlichen Hintergründe der Entwicklung des deutschen ›Sonderwegs‹ erfährt, der schließlich zu Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust geführt hat,61 als über den konkreten Alltag Löwiths. Tatsächliche Erlebnisse dienen lediglich dazu, in den allgemeinen geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit überführt zu werden und so das kollektive Schicksal der Juden in Deutschland zu erklären. Zu diesem Standpunkt hat sich der aus einem bürgerlich-assimilierten Elternhaus stammende Löwith jedoch erst im Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit durchgerungen: Ich selbst empfand zunächst auch mehr das Besondere meiner persönlichen Lage als das Allgemeine des jüdischen Schicksals. Das war natürlich nach meiner ganzen Erziehung und Wahl, die beide auf der Emanzipation der Juden zum Deutschtum beruhten. Wer aber seine innere und äußere Existenz einmal darauf gestellt hat, der wird besonders empfindlich gegen bestimmte jüdische Eigenschaften, die den Juden vom Deutschen in Abstand halten und welche er darum an sich oder in anderen bekämpft. Allmählich habe ich aber verstanden, daß das Besondere nicht das Wichtigste ist, wenn ein allgemeines Geschick die Juden in ihrer Gesamtheit bedrängt.62

Die Repräsentativität des eigenen Lebens für das kollektive Schicksal der Juden im nationalsozialistischen Deutschland wird natürlich erheblich eingeschränkt durch die simple Tatsache, dass die Autoren der Autobiographien den Holocaust, sei es in der Emigration, in Verstecken in Deutschland oder in den mit Deutschland verbündeten bzw. von Deutschland besetzten Ländern oder sogar in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern überlebt haben. Nur die Überlebenden können in autobiographischer Form »Zeugnis ablegen bis zum letzten«63 und sind damit eben nicht repräsentativ für das jüdische Schicksal während des Holocaust: der überwiegende Teil der europäischen Juden ist in den Vernichtungslagern umgekommen und hatte keine Chance zu

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Zur Entwicklung des deutschen ›Sonderwegs‹ vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation: über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 66). Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: ein Bericht. Mit einem Vorwort von Reinhart Koselleck. Stuttgart: Metzler 1986, S. 96. Das Zitat, dem vom Verlag hinzugefügten Titel von Victor Klemperers Tagebuch entnommen, weist auf einen anderen Weg der Zeugenschaft für die Nachgeborenen hin, der eben im Führen und Bewahren eines Tagebuchs besteht. Beide Beispiele – Autobiographie und Tagebuch – können aber nicht, was das Klemperer-Zitat behauptet, »bis zum letzten« Zeugnis ablegen; sie versagen notwendig vor dem Weg in die Vernichtung wie das Beispiel Anne Franks zeigt.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

überleben: »Überleben war Zufall, es entsprang keiner wie auch immer gearteten Rationalität.«64 Ruth Klüger, deren Autobiographie im Verlauf dieser Untersuchung noch ausführlich gedeutet werden soll, spricht in diesem Zusammenhang auch von den Gefahren der Rezeption solcher autobiographischen Zeugnisse, die schließlich nur verharmlosen können, was tatsächlich geschehen ist, weil ihre Verfasser nicht das Äußerste zu erleiden hatten, was der Nationalsozialismus seinen Opfern zugedacht hatte. Jede Holocaust-Autobiographie ist daher notwendigerweise die Geschichte eines ›happy end‹: »Es ist doch alles glimpflich abgelaufen. Wer schreibt, lebt.«65 Der Rezeption dieser Texte als »escape story mit happy end«66 muss daher vom Autor entgegengesteuert werden – und Ruth Klüger tut das auf jeder Seite ihrer Autobiographie mit dem Beharren auf der prinzipiellen Fremdheit von Juden unter den Deutschen nach der Erfahrung des Nationalsozialismus (vgl. hierzu Kapitel 4.2 dieser Arbeit): Aber Memoirenliteratur hat den Nachteil, daß sie von Überlebenden handelt. Man klammert sich beim Lesen an das Schicksal des Einzelnen, wünscht ihm alles Gute, ist erleichtert, daß er (oder sie) es schafft, zu entkommen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit abgelenkt von dem Außerordentlichen dieser Erfahrungen, dem so schwer beizukommen ist, und auf bekannte Schienen gelenkt. Die besten solcher Memoiren schmälern diesen Triumph des Überlebens, so gut es geht. [...] Aber es bleibt ein unvermeidlicher Nachteil dieser Erlebnisbücher, daß die Identifikationsgestalt, also der Icherzähler, mit dem Leben davonkommt, während diese Bücher eigentlich geschrieben wurden, um von denen zu erzählen, die nicht überlebt haben. Es besteht also das Paradox, daß in solchen autobiografischen Berichten das Entsetzen über den Massenmord gerade durch den entsetzten Erzähler, der ja nicht ermordet wurde, geschwächt wird.67

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Nicholas Berg: »Auschwitz« und die Geschichtswissenschaft: Überlegungen zu Kontroversen der letzten Jahre. In: Berg/Jochimsen/Stiegler (Hg.), Shoah Formen der Erinnerung (wie Anm. 29), S. 49. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Anm. 21), S. 139. Ähnlich argumentiert Niethammer, Erinnerungsgebot und Erfahrungsgeschichte (wie Anm. 24), S. 30f. Er betont allerdings – gegen meine Kollektivitätsthese –, »daß das Überleben, nämlich die Sonderbedingungen, durch die man sich aus dem Schicksal der Übrigen herausdrehen konnte, den eigentlichen Identitätskern und den roten Faden der Erzählung bildet« (S. 30). Indem er sie dennoch als »unschätzbare Zeugnisse für die wirklichen Lebensbedingungen während der Verfolgung bis hinein in die Konzentrations- und Vernichtungslager« (S. 31) anerkennt, plädiert er dennoch für ihre Repräsentativität. Irène Heidelberger-Leonard: Jüdische und deutsche Nicht-Identität? Zu Ruth Klügers weiter leben. In: Germanistik: disziplinäre Identität und kulturelle Leistung: Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Hg. von Ludwig Jäger. Weinheim 1995, S. 340. Ruth Klüger: Dichten über die Shoah: zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord. In: Spuren der Verfolgung: seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Hg. von Gertrud Hardtmann. Gerlingen: Bleicher 1992, S. 210.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

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Der Nobelpreisträger Elie Wiesel widmet deshalb seine Autobiographie denjenigen Opfern, die den nationalsozialistischen Völkermord nicht überlebt haben. Nicht die eigenen Erinnerungen, die Erinnerungen an das eigene Leben, stehen im Zentrum seines autobiographischen Schreibens, sondern die Erinnerung an die Toten, denen seine Zeugenschaft gewidmet ist: Meine Anstrengungen und meine Hingabe galten allein den Opfern. In meinem Gedächtnis war nur Platz für die Erinnerung an sie. Und wenn ich heute die Vergangenheit schildere, gilt mein Bemühen allein ihrer Vergangenheit: Für die Opfer lege ich Zeugnis ab, nicht für mich.68

Dieses Überleben, das sich in einer nicht geringen Zahl von Fällen zu einem Schuldkomplex der Überlebenden gegenüber den Toten auswächst – Ruth Klüger spricht in diesem Zusammenhang von den ›Gespenstern‹, die sie quälen –, bedarf der Rechtfertigung von Seiten der Autoren, um die von ihnen aufgestellte Repräsentativitätsthese aufrecht zu erhalten. Hierfür kann aber nicht mehr Gottes Wirken in der Geschichte verantwortlich gemacht werden, sondern es wird statt dessen seine säkularisierte Variante, der Zufall, bemüht, um das eigene Überleben zu erklären. Dies gilt etwa für den amerikanischen Germanisten Egon Schwarz, der seine Heimatstadt Prag noch kurz vor der deutschen Besetzung verlassen kann, um per Schiff nach Südamerika zu fliehen: Unter den Hunderttausenden, für die dieses Ereignis das Todesurteil bedeutete, waren wir auserkoren, zu überleben, ohne Sinn und Grund, ohne Verdienst, ja fast ganz ohne unser Dazutun.69

Auch Ruth Klüger selbst betrachtet ihr weiter leben deshalb als bloßen Zufall. Als Schlüsselszene ihres Überlebens kann eine Selektion im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für einen Transport in das Arbeitslager Groß-Rosen gelten. Nachdem sie beim ersten Versuch, ihre Arbeitstauglichkeit in der medizinischen Untersuchung zu beweisen, wegen ihrer eingestandenen Jugend (sie ist zwölf) zurückgewiesen und somit von ihrer für den Arbeitseinsatz ausgewählten Mutter getrennt wird, stellt sie sich erneut in die Reihe der noch zu Untersuchenden, und es gelingt ihr schließlich durch eine Lüge und die Hilfe einer Schreiberin, die ihr rät »[s]ag, daß du fünfzehn bist«,70 gemeinsam mit ihrer Mutter für den Transport in das Arbeitslager ausgewählt zu werden: Fast jeder Überlebende hat seinen ›Zufall‹, das Besondere, Spezifische, das ihn oder sie unvermutet am Leben erhalten hat.71

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Elie Wiesel: Alle Flüsse fließen ins Meer: Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Brigitte Große und Sabine Müller. Hamburg: Hoffmann und Campe 1995, S. 124. Schwarz, Keine Zeit für Eichendorff (wie Anm. 57), S. 105. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Anm. 21), S. 132. Ebd., S. 133.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Mit der Betonung der Kontingenz, des lebensbestimmenden und überlebenswichtigen Zufalls, stellt sich die deutschsprachige jüdische Autobiographie der Holocaust-Überlebenden in einen nahezu kontradiktorisch zu nennenden Gegensatz zur Autobiographie bürgerlicher Provenienz, die – wie im Forschungsbericht dargelegt – von der goetheschen Tradition der Darstellung eines entelechisch und teleologisch verlaufenden Lebens, seiner Providenz, also der zumindest retrospektiv konstruierbaren Vorhersehbarkeit des eigenen Lebens, geprägt war. Für die jüdische Existenz zumindest der Generationen, die in ihrer Mehrheit den Holocaust nicht überlebt haben, bedeutete Providenz den sicheren Tod in den Gaskammern der nationalsozialistischen Vernichtungslager oder durch andere Gewaltmaßnahmen nach den vorangegangenen seit 1933 währenden Repressionen bis hin zur totalen Entrechtung und zum Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft und Apostrophierung als Ungeziefer (›Volksschädlinge‹, ...), die die Voraussetzung des Holocaust darstellten. Die Prägung der nationalsozialistischen Herrschaft über die Juden durch ihre – bis auf den sicheren Tod am Ende – Willkür charakterisiert gleichzeitig auch die jüdischen Autobiographien über das Leben in dieser Zeit.72 Nur durch die Willkür des Lagerpersonals, die Willkür selbst der Helfer, die einzelne Juden vor der Verschleppung in die Konzentrationslager bewahrten, oder den Zufall der rechtzeitigen Emigration und Aufnahme in den Gastländern, die nicht immer selbstverständlich war, wurden die wenigen überlebenden europäischen Juden vor dem ihnen zugedachten Schicksal bewahrt. Die Kontingenz ist zum bestimmenden Prinzip in diesen Lebensläufen geworden; das eigene Leben kann unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik nicht mehr als ein autonom geplantes und teleologisch verlaufendes interpretiert werden, wie es den Theoremen der idealistischen Subjektphilosophie, die der bürgerlichen Autobiographie zugrunde liegen, entspricht. 72

Vgl. hierzu den eindrucksvollen Text von Perec, W oder die Kindheitserinnerung (wie Anm. 50), in dem der Autor die Willkür der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in den Konzentrationslagern mit dem militärisch organisierten Sportlerstaat W vergleicht, in dem die detaillierten Regeln, an die sich die Sportler unter Androhung härtester Strafen strikt zu halten haben, durch die Funktionäre völlig willkürlich und mit gleichfalls verheerenden Folgen für die Sportler außer Kraft gesetzt werden können. Auch hier wird das Überleben der Sportler, die im XXXVII. Kapitel mit den Insassen von Konzentrationslagern gleichgesetzt werden und deren körperliche Vernichtung von den Funktionären zumindest billigend in Kauf genommen wird, von bloßer Zufälligkeit abhängig gemacht. – Zur Deutung dieses Textes und seiner Interpretation als Autobiographie des Autors vgl. Doris Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman: ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Moderne. Münster, Hamburg: Lit 1994, S. 252–284, Lejeune, Der autobiographische Pakt (wie Kap. 1, Anm. 38), S. 423f. und Wolfgang Orlich: Buchstäblichkeit als Schutz und Möglichkeit vor/von Erinnerung: Anmerkungen zu Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance. In: Berg/Jochimsen/Stiegler (Hg.), Shoah Formen der Erinnerung (wie Anm. 29), S. 183–200.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

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2.2.2 Kollektivität in der proletarischen Autobiographie Die Autobiographie in der Tradition Goethes, die das 19. Jahrhundert, wenngleich nur in ihrer Verfallsform, nahezu vollständig determiniert und von deren entelechisch und teleologisch verlaufenden Modellen der Darstellung des eigenen Lebens sich erst im 20. Jahrhundert verstärkt Ablösungsversuche erkennen lassen, zeichnet sich durch die Betonung der Individualität des selbst gewählten und zielstrebig beschrittenen Lebenswegs aus. Die Kontingenz des Tatsächlichen, die Unterwerfung des Individuums, des neuzeitlichen Subjekts unter die politischen und sozialen Bedingungen des lebensweltlichen Zusammenhangs, in die das Individuum ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit qua Geburt geworfen wird, ist in der Autobiographie Goethescher Deszendenz faktisch eliminiert. Dies zeigt sich weniger schon bei Goethe, über dessen Selbstzweifel und Erkenntnis der Kontingenz der eigenen Existenz insbesondere im vierten Teil von Dichtung und Wahrheit bereits berichtet wurde, als vielmehr bei seinen Epigonen, die einen solchen universalen Lebenszusammenhang in ihren Autobiographien herzustellen versuchten – und daran nicht selten in exemplarischer Weise scheiterten.73 Nicht zufällig ist diese an Goethe als unerreichtem Höhepunkt der Gattung orientierte Tradition der Autobiographie vom städtischen Bürgertum entwickelt und vervollkommnet worden, dem Goethe – aus einem vermögenden Frankfurter Honoratiorenhaus stammend – selbst angehörte. Nur diesem Bürgertum war es im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert möglich, die Illusion des autonomen, sich selbst vervollkommnenden Subjekts aufrechtzuerhalten und über ein solchermaßen ›gelungenes‹ Leben in Form der entelechischen Autobiographie der staunenden Nachwelt Kunde zu geben.74 Mit dem Siegeszug der Industrialisierung, der zunehmenden Verflechtung der Wirtschaft, der Entstehung einer Industriearbeiterschaft und der Ermöglichung des Zugangs zu Wissen und Bildung – wenigstens in rudimentärer Form – für eine breitere Bevölkerungsschicht ist es neben dem Niedergang des städtischen (patrizischen) Bürgertums und seiner Ersetzung durch das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum auch zu einer Verbreiterung der ›autobiographietragenden‹ Schicht gekommen, die den Illusionen des städtischen Bürgertums von der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein Bild entgegensetzte, das von der kollektiven Erfahrung der proletarisierten Industriearbeiterschaft geprägt war.75 73

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Das Scheitern am goetheschen Modell zeigen die Arbeiten von Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung (wie Kap. 1, Anm. 37) und Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37). Vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37), S. 144–149 und S. 166f. Zu den sozialen Veränderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4 Bände. München: Beck 1987–2003, Bd 3 (1995), S. 106–195 (Revolution von 1848/49 bis zur Gründung des Kaiserreichs) und S. 700–847 (Kaiserreich). – Zum Niedergang des städtischen Bürgertums und der Ausdifferenzierung des ehemals homogenen ›Standes‹ vgl. besonders

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Es ist das Verdienst der literaturwissenschaftlichen Forschung seit den 70er Jahren, das Interesse der Germanisten von der bis dahin allein als relevant für die Gattungsentwicklung angesehenen bürgerlichen, mit der die ›literarische‹ zu identifizieren ist, auf weitere Erscheinungsformen der Autobiographie gerichtet zu haben. In diesen Forschungsbeiträgen, die zumeist auf komparatistischer Basis die konstitutiven Elemente bürgerlicher und nichtbürgerlicher Autobiographik kontrastiv einander gegenüberstellen, findet sich die Beobachtung, dass die Betonung der Individualität des Subjekts genuin bürgerlicher Provenienz ist und mit dem bürgerlichen Individualitätsprinzip entgegengesetzten Annahmen korrespondiert. Am intensivsten ist dieses – ideologisch fundierte, aber auch ästhetisch nachweisbare – Prinzip einer kollektiv begründeten Identität in den Untersuchungen zur proletarischen Autobiographie erforscht. In ihr wird der bürgerlichen Selbstverwirklichung des Individuums die besonders in der frühen Phase der Industrialisierung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, aber auch noch im von wirtschaftlichen Krisen, Inflation und Deflation geprägten Kaiserreich sowie der Weimarer Republik kollektiv erlittene, von Armut und existentieller Bedrohung geprägte Lebensweise der unteren gesellschaftlichen Schichten entgegengestellt. Der Grund für diese demonstrative Abwendung vom bürgerlichen Autobiographiemodell und der ihm zugrundeliegenden »Privilegierten-Anthropologie«76 kann – in Übereinstimmung mit den zeittypischen Erklärungsmustern, die von den philosophischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels sowie deren Modifikationen und Popularisierungen in den Parteien und anderen Organisationen der Arbeiterbewegung geprägt worden sind77 – mit den Exklusions- und Repressionsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft erklärt werden,78 die es für die ausgeschlossene Arbeiterklasse zur zwingenden Notwendigkeit machte, sich eine eigene neue ›zweite Kultur‹ zu schaffen und sich damit zum kulturell und politisch handelnden Bestandteil der Gesellschaft zu machen.79 Von diesen Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse berichten die proletarischen Autobiographien im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Deshalb steht hier nicht die individuelle Bildungsgeschichte im Vordergrund, sondern die Zugehörigkeit zum kollektiven Schicksal der eigenen Klasse und die von der Arbeiterbewegung genährten Hoffnungen auf Verbesserung ihrer sozialen und politischen Lage:

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ebd., Bd 3 (1995), S. 111–140 und 712–772; zur Entstehung und Ausdifferenzierung des Industrieproletariats vgl. ebd., Bd 3 (1995), S. 140–166 und S. 772–804. Emmerich (Hg.), Proletarische Lebensläufe (wie Kap. 1, Anm. 117), Bd 1, S. 17. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 75), Bd 3 (1995), S. 803f. Vgl. ebd., Bd 3 (1995), S. 789. Vgl. Emmerich (Hg.), Proletarische Lebensläufe (wie Kap. 1, Anm. 117), Bd 1, S. 30–35.

2.2 Autobiographie als Zeugenschaft

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Wer Tag für Tag seit seiner Kindheit Lohnarbeit verrichten muß, wer von der Hand in den Mund lebt und nie sicher sein kann, wie lange er noch seine Arbeitskraft und die seiner Familie erhalten kann, wer von fast jeglicher Bildung ausgeschlossen ist, kann sich nicht um den »Prozeß der Individuation«, seine eigene Bildungsgeschichte kümmern. Sein Lebenslauf ist von vornherein nicht nur sein eigener, individueller, sondern der seiner ganzen sozialen Klasse. Von daher (und nicht aus irgendeiner literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeit) bestimmt sich der Charakter und die zumindest potentielle gesellschaftliche Funktion der proletarischen Selbstdarstellung: nämlich Exempel zu sein für das Leben der Arbeiterklasse insgesamt, stellvertretend für sie zu sprechen.80

Dieser Befund Emmerichs findet sich in der wenig später erschienenen Dissertation von Peter Sloterdijk für die Autobiographie der 20er Jahre in stärker differenzierter Ausformung bestätigt. Indem Sloterdijk die autobiographischen Texte bürgerlicher und proletarischer Selbstrepräsentation unter literaturpragmatischem Aspekt81 als Zeugnisse einer »Protopolitik der Erfahrung« rezipiert, kann er sie zum einen als historische Dokumente betrachten und zum zweiten als Sprechhandlungen interpretieren, die eine bestimmte Intention verfolgen und dazu an ein bestimmtes Publikum adressiert sind: Wann immer der Autor seine Lebenserfahrungen auszubreiten beginnt, tut er es im Bewußtsein, eine repräsentative Rolle zu spielen hinsichtlich historischer, sozialer, geistiger Instanzen, die durch seine Erzählung hindurch sichtbar gemacht werden sollen.82

Er spricht den proletarischen Autobiographien daher eine Wirkung zu, die sie von der »bürgerlichen kontemplativen Form der autobiographischen Rückbesinnung«83 und somit von der Kunst unterscheidet: »sie sind nicht literarische Fetische, sondern Arbeitsmittel«.84 Dadurch unterscheiden sie sich von der bürgerlichen Betonung der Individualität des Autobiographen und des von ihm Erlebten: Das Schwergewicht ist auf den Begriff Gemeinsames zu legen. Er deutet auf ein konkretes Erfahrungskollektiv hin, das seine Erfahrungen miteinander teilt – im Unterschied zu der Konstruktion des bürgerlichen Autors, aus der sich kein bestimmter Bezug auf konkrete Menschengruppen ergab, sondern nur eine allgemeine Signifikativität und Transparenz des Einzellebens auf Allgemeines hin, das ungezählte andere ähnlich erlebt haben mögen. Der bürgerliche Autobiograph setzt sich selbst als singuläres Individuum einer abstrakten gesellschaftlichen Totalität gegenüber, mit der er sich nur verbunden sieht durch das »Grundgeheimnis des geschichtlichen Le80 81

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Ebd., S. 22f. – Alle Auszeichnungen im Text entsprechen dem Original. Die Autobiographie als Sprechakt untersuchen Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten: Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen: Niemeyer 1988 (Studien zur deutschen Literatur; 98) und Elizabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt. In: Niggl (Hg.), Die Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 17), S. 258–279. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung (wie Anm. Kap. 1, 117), S. 305. Ebd., S. 314. Ebd., S. 317.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie bens«, daß alles Einmalige mit Gleichförmigem, Wiederkehrendem vermischt und verschlungen ist. Das bürgerliche Individuum [...] kommuniziert mit dem Publikum so, daß es sich selbst als eine Monade darstellt, die zu ihren Mit-Monaden in Kontakt tritt, indem sie an ihrer eigenen Existenz dasjenige hervorhebt, was sie im geschichtlichen Lebensraum mit den anderen gleichzeitig erlebt hat.85

2.3

Der Ort der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert – eine historische Herleitung

Die in den beiden vorangegangenen Abschnitten entwickelte Gegenüberstellung von jüdischer und proletarischer Autobiographie hat zwei bemerkenswerte formale Gemeinsamkeiten erbracht, die beide in Opposition zum herkömmlichen bürgerlichen Autobiographiemodell Goethescher Deszendenz stehen und wohl auch in distanzierender Auseinandersetzung mit diesem entstanden sind. Kontingenz und Kollektivität, so könnte man schlagwortartig zusammenfassen, sind dabei die Gegenbegriffe zu den bürgerlichen, in der Autobiographie verkündeten Lebensidealen Providenz – Teleologie in einer stärker säkularisierten Formulierung – und Individualität. Trotz dieser beiden genannten formalen Übereinstimmungen basiert die hierin konstituierte Opposition zur bürgerlichen Autobiographie in der jüdischen und in der proletarischen Selbstdarstellung auf divergenten Fundamenten, die sich dennoch in einem Begriff zusammenfassen lassen und im folgenden nur für die jüdische Autobiographie näher entfaltet werden sollen. Dieser Begriff der ›negativen Integration‹ basiert auf einigen geschichtswissenschaftlichen Annahmen, die von Dieter Groh in seiner Habilitationsschrift86 für das Verhältnis zwischen dem überwiegend vom Bürgertum getragenen Bismarckreich und der überwiegend sozialdemokratisch ausgerichteten (Industrie-) Arbeiterschaft benutzt worden sind, und wurde von Shulamit Volkov auf das Verhältnis von Bürgertum und Judentum im 19. Jahrhundert übertragen. Zwar rekurriert Groh überwiegend auf die politischen und ökonomischen Ausgrenzungsmechanismen und Sanktionen, die gegen die Sozialdemokratie eingesetzt worden sind und denen die Juden seit der Reichsgründung nicht (mehr) ausgesetzt waren; darüber vernachlässigt er die sozialen und kulturellen Ausgrenzungsmechanismen. Gemeinsam bleibt ihnen aber die Motivation, die Moder85 86

Ebd., S. 315. Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus: die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt am Main, Berlin: Propyläen 1973. – Die Definition des Begriffs der ›negativen Integration‹ bei Groh, ebd., S. 54 lautet folgendermaßen: »Dieser ist gekennzeichnet durch zunehmende ökonomische Besserstellung und Tendenzen zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung einerseits bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verweigerung der Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft und Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits.«

2.3 Der Ort der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

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nisierungskrisen des Kaiserreichs zu rationalisieren, indem ihre Entstehung auf das Verhalten gesellschaftlicher ›Außenseiter‹-Gruppen zurückgeführt wird: Der Blick der betroffenen Schichten wurde von den eigentlichen Ursachen der Verunsicherung, dem Übergang zur Industriegesellschaft und den damit einhergehenden sozioökonomischen Umwälzungen, abgelenkt und auf den angeblichen, konkreten Feind – Sozialdemokraten und Juden – gerichtet. Auf diese Außenseitergruppen konnten die Ängste dann als Aggressionen projiziert werden.87

Seit der Aufklärung befand sich das Judentum in Deutschland, aber auch das deutsch-jüdische Verhältnis in einem Umbruch, der es im Verlauf des 19. Jahrhunderts ›aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft‹ führte88 und mit der Verabschiedung der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 die rechtliche Gleichstellung der Juden brachte.89 Die Emanzipation der Juden in Deutschland, die sie bis zur Entziehung der deutschen Staatsbürgerschaft im Dritten Reich zumindest formal zu deutschen Juden oder jüdischen Deutschen machte, stand dabei seit ihren Anfängen unter dem Primat der ›Verbürgerlichung‹, des Aufstiegs der Juden aus den zum überwiegenden Teil niedrigsten sozialen Verhältnissen zu bürgerlichen Lebens-, Arbeits- und Umgangsformen, der paradigmatisch für den Aufstieg breiter Gesellschaftskreise des 19. Jahrhunderts geworden ist: Was das Beispiel der Juden auf den ersten Blick so einzigartig und zugleich aufschlußreich erscheinen läßt, ist der Grad, mit dem dieser Weg ›nach oben‹ absichtsvoll angetreten und bewußt verfolgt wurde. Einlaß in die bürgerliche Gesellschaft zu finden, in sie integriert zu werden und sich ihr anzugleichen, stellte für viele Juden im 19. Jahrhundert, wenn auch sicherlich nicht für alle, ein wichtiges Lebensziel und den einzigen, alles entscheidenden Prüfstein für Erfolg oder Versagen dar.90

Wichtiger als die rechtlichen und politischen Voraussetzungen dieser Verbürgerlichung (›Emanzipation‹91) ist für die hier verhandelte Fragestellung das Problem der sozialen Integration in das sich im 19. Jahrhundert neu formierende, ausdifferenzierende und aus seinen ständischen und zünftigen Schranken befreiende Bürgertum (›Assimilation‹ bzw. ›Akkulturation‹),92 das sich im 87 88

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Ebd., S. 54. Vgl. J. Katz, dessen Monographie einen gründlichen Überblick über den in Frage stehenden Zeitraum liefert: Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft: jüdische Emanzipation 1770–1870. Aus dem Englischen von Wolfgang Lotz. Frankfurt am Main: Athenäum 1988 (Athenäum Taschenbücher: Die kleine weiße Reihe; 113). Vgl. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code: zehn Essays. 2., durch ein Register erw. Aufl. München: Beck 2000, S. 111. Ebd., S. 112. Zum Begriffsfeld ›Akkulturation‹, ›Assimilation‹ und ›Emanzipation‹ der Juden vgl. Jacob Toury: Emanzipation und Assimilation. In: Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums (wie Anm. 27), S. 228–232. Zur Sozialgeschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

wesentlichen nicht mehr als gesellschaftlicher ›Stand‹ oder – wie die entstehende Arbeiterschaft es bald tun sollte – ›Klasse‹ definierte, sondern vielmehr »als eine Kultur, als ein spezifisches Ensemble von Normen und Werten, Lebensstilen und Weltanschauungen«.93 Utopisch antizipiert wurde diese rechtlich noch nicht abgesicherte Assimilation des Judentums in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert im Berlin der Aufklärungszeit. Hier ist allen voran Moses Mendelssohn zu nennen, der das ›Ghettoidiom‹ des Jiddischen94 abwarf, die deutsche Sprache erlernte und schließlich, 1783, sogar eine erste deutsche Übersetzung mit hebräischer Kommentierung des Pentateuchs und eine Übersetzung der Psalmen unternahm, die allerdings – um überhaupt von den zumeist armen Land- und Ghettojuden, die noch immer die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung bildeten, gelesen werden zu können – noch in hebräischen Lettern gedruckt war.95 Hintergrund dieses einer aufklärerischen Motivation entspringenden Vorhabens war eine profunde Kenntnis der deutschen Sprache, Literatur und Philosophie, die er sich zuvor in entsagungsvollem Studium angeeignet und zu deren Themen er zahlreiche Schriften publiziert hatte, die ihm schließlich – neben der Freundschaft mit Gotthold Ephraim Lessing – den Zugang zur bürgerlichen Gesellschaft eröffneten. Einen ähnlich schwierigen Weg musste auch der 24 Jahre jüngere, mit Moses Mendelssohn in dessen letzten Lebensjahren befreundete Salomon Maimon gehen, um schließlich, aus niedrigsten Verhältnissen stammend, Zugang zur Welt des Bürgertums zu erhalten. In seiner Autobiographie beschreibt er seinen Lebensweg als allmähliches Voranschreiten auf dem Weg von der gelehrten Unwissenheit eines angehenden Rabbiners zur philosophischen Wissenschaft, als Weg aus der starren Orthodoxie des Ostjudentums zur aufklärerischen Vernunft der Berliner

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späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert. In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Kocka. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987 (Sammlung Vandenhoeck), S. 21–63, Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 75), Bd 2 (1987), S. 174–241 sowie Bd 3 (1995), S. 111–140 und S. 712–772. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code (wie Anm. 89), S. 113f. – Vgl. Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit (wie Anm. 92), S. 42–48, Friedrich H. Tenbruck: Bürgerliche Kultur. In: Kultur und Gesellschaft: René König, dem Begründer der Sonderhefte, zum 80. Geburtstag gewidmet. Hg. von Friedhelm Neidhardt [u. a.]. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Sonderhefte; 27/1986), S. 263–285. Das Jiddische ist eine »Mischsprache auf der Basis spätmittelalterlicher deutscher Dialekte mit hebräisch-aramäischen (Talmud, Kabbala), rom[anischen] und slaw[ischen] Einflüssen« (Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. Unter Mithilfe und mit Beiträgen von Fachkolleginnen und -kollegen. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Kröner 1990, S. 361), die mit hebräischen Schriftzeichen geschrieben wird. Frühere jüdische Autobiographien, die im deutschen Sprachraum entstanden sind, wurden in dieser Sprache abgefasst, etwa die Memoiren der Glückel von Hameln (1645–1719). Vgl. Julius H. Schoeps: Moses Mendelssohn. Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag im Athenäum-Verlag 1979, S. 131–136.

2.3 Der Ort der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

87

Gesellschaft, zu der er schließlich Zugang erlangt.96 Einen weiteren Schritt auf diesem Wege stellen die jüdischen Salons etwa der Henriette Herz oder Rahel Varnhagen dar, die bis in die Zeit der napoleonischen Kriege die literarische Intelligenz der Aufklärung und Romantik bei sich versammelten und sich so unter beträchtlichem finanziellen Aufwand Zugang zu den bis dahin für Juden strikt abgeschotteten (bildungs-) bürgerlichen Kreisen verschafften.97 Zusammenfassend lassen sich die Anforderungen, die an die ›Verbürgerlichung‹ der Juden gestellt worden sind und die nach der Schaffung der politischen und rechtlichen Voraussetzungen weiten Teilen der jüdischen Minorität in den deutschen Staaten den Zugang zum Bürgertum eröffneten, in vier Punkte gliedern, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts vom assimilationswilligen Judentum bereitwillig erfüllt worden sind: die Veränderung der Berufsstruktur, die Aneignung und Anwendung der deutschen Sprache, die Annahme des Bildungsideals und die Übernahme der sich neu entfaltenden bürgerlichen ›Sittlichkeit‹.98

Diese Form der Emanzipation durch Assimilation bzw. Akkulturation stellt einen wesentlichen Fortschritt im Zusammenleben von Deutschen und Juden dar, weil nun erstmals nicht mehr die Preisgabe der eigenen kollektiven Identität als Voraussetzung für den Zugang zu den Sozialstrukturen einer christlichen Umwelt gefordert wurde, d. h. die Taufe, sondern lediglich eine Anpassung an äußere Lebensformen und -normen, die – vermittelt über die soziale Angleichung – auch die politische und rechtliche Gleichstellung der Juden als Juden zum Ziel hatte: Die Emanzipation verlangte nun zum ersten Mal von den Eintrittswilligen keine vorherige Abtrünnigkeitserklärung und stellte damit eine ganz neue Herausforderung dar. Sie weckte das Bedürfnis nach einer neuartigen Synthese, einem konstruk-

96

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Vgl. Salomon Maimon: Salomon Maimons Lebensgeschichte: von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Neu hg. von Zwi Batscha. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1995. Die Autobiographie wird in der Forschung als eine Mischform zwischen ›abenteuerlicher Lebensgeschichte‹ und ›Gelehrtenautobiographie‹ eingeordnet, ohne auf die durch Maimons Judentum bedingten spezifischen Formalia einzugehen, etwa die großangelegte, das Judentum einer nichtjüdischen Leserschaft nahebringenden Darstellung des Judentums und der Philosophie des Maimonides, die von den Editoren zumeist in einen Anhang verbannt wird, um den Lauf der Lebensgeschichte nicht zu stören. – Zur Forschungssituation vgl. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Kap. 1, Anm. 26), S. 141–144 sowie Wuthenow, Das erinnerte Ich (wie Kap. 1, Anm. 48), S. 101–110. Zur (Sozial-) Geschichte der jüdischen Salons im Berlin der Aufklärungszeit vgl. Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt am Main: Hain 1991. – Vgl. auch Volkov, Antisemitismus als kultureller Code (wie Anm. 89), S. 114f. Ebd., S. 116.

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2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie tiven Zusammenspiel jüdischer und nicht-jüdischer Elemente, einer Mischung vorteilhafter, aus beiden kulturellen Milieus gewonnener Wesenszüge.99

Diese Hoffnungen belebten das deutsch-jüdische Zusammenleben und führten insbesondere auf der Seite der jüdischen Minderheit zur Erwartung der vollständigen Integration in die deutsche bürgerliche Gesellschaft, die sich mit der rechtlichen Gleichstellung im Kaiserreich zunächst auch zu erfüllen schien: Sie wollten nicht nur wie die anderen, sondern auch mit den anderen leben, und Assimilation war alles in allem lediglich eine Voraussetzung, um dazugehören zu können.100

Schon bald zeigte sich jedoch das Illusorische dieser Erwartungen, das sich an den Zugangshürden für die Juden in die Institutionen bürgerlicher Öffentlichkeit und Geselligkeit illustrieren lässt. Was sich in den jüdischen Salons der Aufklärungszeit verheißungsvoll ankündigte, entpuppte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein gescheitertes Experiment mit äußerst beschränkter Reichweite: der Zugang zu den Institutionen des Bürgertums (Lesegesellschaften, Vereine, Freimaurerlogen, Burschenschaften) blieb den Juden nämlich zumeist verwehrt – ebenso wie bestimmte Positionen des Staatsdienstes (Professuren, Offiziersstellen, Richterämter, ...): Die bürgerliche Gesellschaft verhielt sich trotz anderslautender Rhetorik immer deutlicher restriktiv. Ungebundene Individuen, die über ein Minimum von Besitz und Bildung verfügten, wurden akzeptiert, doch Angehörigen einer Gruppe, die sich als solche zu erkennen gaben, blieb nur die zweite Wahl: eine »negative Integration«, die mehr auf Nachahmung als auf einer wirklichen Gemeinschaft fußte.101

Spätestens mit der Phase der ›Großen Depression‹, der Gründerkrise des Bismarckreiches, und der verstärkten Einwanderung der Ostjuden im Gefolge der Pogrome im russischen Zarenreich nach der Ermordung Zar Alexanders II. (1881) kam es zu einer Gegenbewegung, die die Assimilation und Emanzipation der Juden rückgängig machen wollte, um auf diese Weise die Krise des jungen Reichs zu beheben. In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Begriffs ›Antisemitismus‹, der nicht mehr eine religiös motivierte, notfalls durch Konversion zum Christentum überwindbare Judenfeindschaft (›Antijudaismus‹) meint, sondern einen ›wissenschaftlich‹ fundierten Rassenhass, der das emanzipierte und assimilierte Judentum mit dem politischen Liberalismus und der sozialen und ökonomischen Modernisierung identifizierte und es deshalb besonders für die mit dieser Modernisierung verbundenen Krisen verantwortlich machte.102 Dieser Argumentation bedient sich unter anderen auch Heinrich 99 100 101 102

Ebd., S. 123. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Vgl. Thomas Nipperdey/Reinhard Rürup: Antisemitismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.

2.3 Der Ort der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

89

von Treitschke, der in seinem im November 1879 in den Preußischen Jahrbüchern erstveröffentlichten Aufsatz über Unsere Aussichten bemerkt: Unbestreitbar hat das Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens großen Anteil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht.103

Mit diesem Aufsatz, der in dem Satz »Die Juden sind unser Unglück«104 kulminierte, eröffnete Treitschke den ›Berliner Antisemitismusstreit‹105 und machte, neben den Publizisten Otto Glagau und Wilhelm Marr sowie dem Hofprediger Adolf Stöcker, den Antisemitismus populärer und eröffnete so die Möglichkeit seiner institutionellen Verankerung, etwa in antisemitischen Parteien, Verbänden und Publikationen. Es entstand auf diese Weise ein jederzeit aktivierbares Potential antisemitischer Stereotypen, das bei Bedarf einfach abgerufen werden konnte und – nach der Überwindung der Gründerkrise in den 1890er Jahren – bis zur Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg latent blieb, um dann in der Weimarer Republik nicht zuletzt von Adolf Hitler instrumentalisiert zu werden. Es ist daher communis opinio der Forschung, dass von hier aus eine »Kontinuitätslinie [...] bis hin zum nationalsozialistischen Antisemitismus«106 führt, der »das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte insgesamt«107 nach sich gezogen hat. Trotzdem oder deswegen hat das deutsche Judentum insbesondere in den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Kultur geleistet, nicht zuletzt um die ›negative Integration‹, die Simulation bürgerlichen Lebens zu überwinden und eine ›positive Integration‹ zu erreichen, in der das Judentum lediglich noch eine Konfession neben anderen bildete, nicht aber einen Ausgrenzungsmechanismus seitens der Gesellschaft in Gang setzte. Die in dieser Arbeit untersuchten Autobiographien stehen an dem historischen Wendepunkt, an dem für die deutschen Juden die Unmöglichkeit dieses Wunsches erkennbar wird: am Ende des Ersten Weltkriegs, als der politische

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104 105

106 107

Hg. von Otto Brunner [u. a.]. Bd 1: A–D. Stuttgart: Klett-Cotta 1972, S. 129–153, bes. S. 135–137. Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. In: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hg. von Walter Boehlich. Frankfurt am Main: Insel 1988 (Insel Taschenbuch; 1098), S. 9. Ebd., S. 13. Vgl. die Dokumentation Der Berliner Antisemitismusstreit, die die wesentlichen Texte der zeitgenössischen Publizistik versammelt. – Zur Einordnung des Berliner Antisemitismusstreits in die politische, ökonomische und soziale Situation der Zeit vgl. das »Nachwort« von Boehlich in demselben Band: Walter Boehlich: Nachwort. In: Ders. (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit (wie Anm. 103), S. 239– 266. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 75), Bd 3 (1995), S. 1064. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code (wie Anm. 89), S. 130.

90

2 Spezifische Voraussetzungen der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

Antisemitismus neuen Zulauf bekam und schließlich in die größte Katastrophe des deutsch-jüdischen Verhältnisses führte – den Holocaust.

3

Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik in der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

3.0

Einleitung

Die historische Situation des deutschsprachigen Judentums im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ist am Ende des vorigen Kapitels mit dem aus der Geschichtswissenschaft entlehnten, ursprünglich auf die Situation der Arbeiter im Kaiserreich angewandten Begriff der ›negativen Integration‹ umschrieben worden. Diese Situation und die damit verbundene Frage nach der eigenen kollektiven Identität hat sich selbstverständlich in der zeitgenössischen Publizistik niedergeschlagen, zumeist in Reaktionen jüdischer Schriftsteller und Publizisten auf antisemitische Ausfälle sowie in innerjüdischen Diskussionen über die verschiedenen Entwürfe einer kollektiven Identität. Dabei lassen sich drei Grundpositionen herausarbeiten, die im folgenden kurz benannt werden sollen, weil sie die Grundlage für die Auswahl der im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu interpretierenden autobiographischen Texte darstellen. Die Skizze orientiert sich hauptsächlich an der Dissertation von Klara Pomeranz Carmely, in der nämlich die Zeit vom letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, das mit der Entstehung der zionistischen Bewegung dem Juden eine neue Alternative zur Überwindung seiner Identitätskrise eröffnete, bis zum Jahre 1933 [behandelt wird], in dem der Nationalsozialismus die Problematik »Deutschtum-Judentum« von außen her gewaltsam löste; damit waren alle innerjüdischen Auseinandersetzungen mit dem Problem [...] überflüssig geworden.1

In Arthur Schnitzlers 1908 erschienenem Roman Der Weg ins Freie, der – durchaus autobiographisch inspiriert – die eigenen Erfahrungen als Jude in der Gesellschaft der Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie spiegelt,2 erkennt die Autorin in den Positionen von drei bzw. vier Freunden 1

2

Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum: von der Jahrhundertwende bis zu Hitler. Königstein/Ts.: Scriptor 1981 (Monographien Literaturwissenschaft; 50), S. 1. Zur Interpretation von Schnitzlers Roman vgl. Norbert Miller: Das Bild des Juden in der österreichischen Erzählliteratur des Fin de siècle: zu einer Motivparallele in Ferdinand von Saars Novelle ›Seligmann Hirsch‹ und Arthur Schnitzlers Roman ›Der Weg ins Freie‹. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hg. von Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1985, S. 195–204. – Die Kritik an Schnitzlers gesellschaftskritischen Werken stützte sich zumeist nicht

92

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

des Protagonisten des Romans, des antriebslosen Musikers Baron Georg von Wergenthin, die Paradigmata der zeitgenössischen Diskussionen über die Frage der kollektiven Identität der in Deutschland bzw. Österreich um die Jahrhundertwende lebenden Juden. Im Zeitalter des Nationalismus, der nach der Wirtschaftskrise von 1873 den prinzipiell egalitären Liberalismus abgelöst hat,3 müssen sich Leo Golowski, Heinrich Bermann und Edmund Nürnberger sowie Therese Golowski der Frage nach ihrer – nach der aufklärerischen Illusion der Gleichberechtigung durch Assimilation erneut problematisch gewordenen – jüdischen Identität stellen. Die im Umgang mit dieser von der nichtjüdischen Außenwelt an das jüdische Personal des Romans herangetragenen Frage entwickelten Strategien der genannten Romanfiguren lassen sich als die drei großen Denkströmungen innerhalb des zeitgenössischen Judentums identifizieren: Zionismus, Assimilation (Bermann repräsentiert ein bloß noch ›konfessionelles‹ Judentum, Nürnberger distanziert sich als ›konfessionslos‹ sogar vollständig von seiner jüdischen Herkunft) und Sozialismus, die alle drei auf je verschiedene Weise versuchen, mit den von ihrer Umwelt an sie herangetragenen Erwartungshaltungen bezüglich ihres Judentums umzugehen.4 Ohne eine detaillierte und in die Tiefe der Schnitzlerschen Komposition des Romans eindringende Interpretation des Werkes zu versuchen,5 nutzt die Autorin diesen Befund, um ihn auf die Positionen realer historischer Personen zu übertragen: Denn in Schnitzlers Roman zeichnen sich bereits die drei erwähnten Kategorien von Assimilation, Sozialismus und Zionismus ab, in die sich die Vertreter des deutsch-

3 4 5

auf ihre literarische Qualität, sondern diffamierte den Autor wegen seines Judentums. So etwa im Skandal um Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl (1900), in der Schnitzler sowohl den Antisemitismus als auch den überholten Wertekanon und Ehrenkodex der besseren Gesellschaft Kakaniens bloßstellte (vgl. ebd., S. 196f.). Vgl. ebd., S. 191–194. Zu Carmelys Interpretation von Schnitzlers Roman vgl. Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 1), S. 7–13. Dies ist für ihr Vorhaben, das den Schnitzlerschen Text lediglich nutzt, um daraus ihr Paradigma der drei Denkströmungen abzuleiten, auch nicht nötig. Dennoch ist – aus heutiger Perspektive – darauf hinzuweisen, dass es einen ›Weg ins Freie‹ für keine der Figuren aus Schnitzlers Roman gibt, weil sie sich tatsächlich nicht von der Stelle bewegen, also keine Konsequenzen aus ihren theoretischen Erkenntnissen ziehen, sondern allenfalls von der Zeit getrieben werden. Die Juden gehen dabei ihrem unabwendbaren Schicksal in Deutschland und Österreich nach 1933 bzw. 1938 in lethargischer Trägheit und Blindheit entgegen; sie nehmen also den den Diskussionen über ihre Identitätsproblematik zugrunde liegenden Antisemitismus letztlich nicht ernst. In dieser Interpretation des jüdischen Lebens aus der damaligen Gegenwart heraus erweist sich die visionäre Kraft von Schnitzlers Roman, der freilich in erster Linie den Untergang des Vielvölkerstaates der Habsburger und noch nicht den Aufstieg des Nationalsozialismus antizipiert.

3.0 Einleitung

93

österreichischen Judentums vor dem zweiten Weltkrieg im allgemeinen einordnen lassen.6

Als Vertreter der Assimilation benennt sie Karl Kraus, Walther Rathenau und Jakob Wassermann;7 den Sozialismus repräsentieren Arnold Zweig, Ernst Toller und Gustav Landauer;8 die zionistische Position wird mit Alfred Döblin, wiederum Arnold Zweig sowie Max Brod und Franz Kafka besetzt.9 Der Hauptteil ihrer Arbeit ist dann der Rekonstruktion der Positionen der genannten Autoren in der Frage ihrer kollektiven jüdischen Identität gewidmet. Im folgenden sollen nun kurz die wesentlichen Merkmale der drei Denkströmungen skizziert werden, in die sich die Lebensläufe der in diesem Kapitel zu untersuchenden Autoren einordnen lassen. Die sicherlich am weitesten verbreitete Verhaltensform deutscher Juden im Kaiserreich war die Assimilation oder Akkulturation an Sitten und Gebräuche, an die politische und soziale Werteskala – durch Konversion oder Marginalisierung des eigenen Judentums zur bloßen ›Konfession‹ auch im religiösen Bereich –, die nach der flächendeckenden rechtlichen Gleichstellung im Zuge der Reichsgründung jetzt auch zur sozialen Integration der Juden in die Gesellschaft des Kaiserreichs führen sollte. Aufgrund der wenig pluralistischen Struktur des Kaiserreichs scheiterte das verbreitete Assimilationsbestreben der Juden am Widerstand der nichtjüdischen Umwelt Sie schrieb dem Judentum als dem ›Fremden‹ eine Sündenbockfunktion für die Probleme und Schwierigkeiten des jungen Reiches, die vor allem wirtschaftlicher Art waren, zu und mündete – nachdem der traditionelle Antijudaismus durch eine zunehmende Zahl von Konversionen und eine Pluralisierung des innerjüdischen Lebens, das den einzelnen Juden äußerlich unsichtbar werden ließ, ungreifbar geworden war – in den Antisemitismus. Der moderne Zionismus,10 der ungefähr zeitgleich mit dem neuen Antisemitismus entstand, ist die Reaktion des Judentums darauf in Verbindung mit der Nationalstaatsidee, die in Europa zuletzt zur Einigung Italiens und Deutschlands geführt hatte. Der Nationalstaatsgedanke verbindet sich hierbei mit der messianischen Komponente des Judentums – der Erwartung der Wiederherstellung des israelischen Königreichs am Ende der Zeiten durch göttlichen Beistand –, die hier in einer säkularisierten, dem menschlichen Handeln zugänglicheren Variante11 eingegangen ist. Ursprünglich zur Weiterleitung des 6 7 8 9 10

11

Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 1), S. 2. Vgl. ebd., S. 16–73. Vgl. ebd., S. 74–100. Vgl. ebd., S. 101–173. Zum Zionismus vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. 4 Bände. München: Beck 2000, Bd 3, S. 287–301 und Bd 4, S. 91–95. Der biblische Zionismus ist eher passiv, besteht er doch lediglich aus der Erwartung der Ankunft des Messias und seines Handelns in der Geschichte zur Wiederherstellung des Reiches Israel.

94

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Zustroms von orthodoxen Juden gedacht, die vor den Pogromen in Ost- und Mitteleuropa vor allem nach Deutschland und in die Doppelmonarchie flüchteten, entwickelte der Zionismus, also der Plan der Wiedergründung des ›Judenstaats‹, so der Titel von Theodor Herzls 1896 erschienener Programmschrift, in Palästina, bald auch ungeahnte Anziehungskräfte auf das gesamteuropäische Judentum. Im Gefolge des Ersten Weltkriegs und nach der BalfourDeklaration von 1917, in der sich Großbritannien verpflichtete, in seinem palästinensischen Mandatsgebiet eine ›jüdische Heimstatt‹ zu errichten, entstanden dort große jüdische Siedlungsgebiete, in die aber zunächst nur wenige deutsche Juden emigrierten. Nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland stieg ihre Zahl jedoch stark an. Im hier in Frage stehenden Zeitraum beschränkte sich die Wirkung des Zionismus jedoch auf einen verschwindend geringen Teil der deutschsprachigen Juden, vor allem emigrierte Ostjuden und Studierende, die sich von den Ideen Herzls überwiegend theoretisch angezogen fühlten ohne praktische Konsequenzen daraus ziehen zu wollen, also etwa die Emigration nach Palästina zu erwägen. Die dritte Möglichkeit, als Jude im deutschen Sprachraum eine kollektive Identität zu finden, bestand in der Hinwendung zum Sozialismus.12 Nach eher geringem Interesse der Juden am revolutionären Sozialismus in dessen Frühzeit und in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung, als sich die Juden überwiegend dem Liberalismus zuwandten, folgte im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts eine Annäherung an die sozialistischen Parteien, vor allem an die SPD, die zu diesem Zeitpunkt ihren Aufstieg zur ›Volkspartei‹ begann, der mit einer zustimmenden Haltung zum Kaiserreich einherging. Neben der Tatsache, dass in die sich im Gefolge der Industrialisierung konstituierende Arbeiterklasse zunehmend auch Juden Eingang fanden, die sich wie zahlreiche andere Arbeiter auch dem Sozialismus zuwandten, kann vor allem die Hoffnung auf eine »Gesellschaft, in der ererbte oder willkürliche Unterscheidungen – seien es klassenbedingte oder zugeschriebene – verschwinden würden«,13 was ja noch immer Ziel der sozialistischen Utopie ist, als Grund für die starke jüdische Präsenz in der sozialistischen Bewegung gelten, zu dem sich freilich noch ein zweiter hinzufügen lässt: »Darin drückte sich [auch die] Sehnsucht aus, dem Antisemitismus, in vielen Fällen aber auch dem Judentum zu entrinnen.«14 Die drei konkurrierenden Standpunkte des Selbstverständnisses der Juden vor dem Ausbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, die Carmely gefunden hat, liegen der Gliederung diese Kapitels sowie der Auswahl der in ihm zu untersuchenden Autoren zugrunde. Der 1873 im bayerischen Fürth geborene Jakob Wassermann, der eine Generation älter ist als die übrigen in diesem Kapitel behandelten Autoren, verkörpert dabei die Ausgangsposition. Er führt 12 13 14

Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit (wie Anm. 10), Bd 3, S. 268–277. Ebd., Bd 3, S. 273f. Ebd., Bd 3, S. 274.

3.0 Einleitung

95

sein Leben im Geist des politischen Liberalismus mit seiner ausgeprägten individuellen Leistungsethik und der damit in engem Zusammenhang stehenden liberalistischen Ideologie, dass persönliche Erfolge bzw. Misserfolge lediglich von der individuellen Einsatzbereitschaft abhängig seien. Zwar setzt er in seiner Autobiographie sein Judentum mit seinem Deutschtum in Verbindung und sieht in dieser Symbiose die Voraussetzung für sein schöpferisches Genie, mit dem er sich eine hervorragende Stellung in der deutschen Kultur zu erarbeiten sucht. In der autobiographischen Rückschau erkennt er aber auch, dass sein ›Misserfolg‹ in gesellschaftlicher und literarischer Hinsicht – trotz immenser Auflagen fand er bei der Literaturkritik nur wenig positive Resonanz – stark von der Tatsache seines von ihm selbst allerdings lebenslang positiv gewerteten Judentums beeinflusst ist, das er dann – ob zu Recht oder zu Unrecht sei an dieser Stelle noch offengelassen – zur alleinigen Ursache seiner Misserfolge hypostasiert. Darin liegt zumindest eine partielle Rücknahme der liberalistischen Ideologeme begründet, die die folgende Generation stärker über ihr Judentum reflektieren lässt und die daraus verschiedene Konsequenzen für ihr Leben bzw. in den hier zu untersuchenden Fällen für den autobiographischen Blick auf ihr eigenes Leben zieht. Die knapp vor der Jahrhundertwende geborenen Werner Kraft und Gershom Scholem beschreiten dann die einander diametral entgegengesetzten ›Wege‹ der Assimilation bzw. des Zionismus, die beide bewusste Entscheidungen für den Umgang mit der gefühlten und von außen herangetragenen Diskrepanz zwischen Deutschtum und Judentum darstellen. Sie kommen aus der selben Problemstellung heraus zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen, die sie beide letztlich wieder in Jerusalem zusammenführen: Scholem war 1923 aus freien Stücken dorthin ausgewandert, um beim Aufbau des jüdischen Staates mitzuhelfen, Kraft 1933 vor den Nazis, die ihm durch das ›Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ die Existenzgrundlage geraubt hatten, dorthin geflüchtet; Scholem war aus dem nachbiblischen Exil in die Heimat seines Volkes heimgekehrt, Kraft aus seiner kulturellen Heimat ins Exil gegangen. Das Kapitel wird abgeschlossen mit einigen Gedanken und Überlegungen über die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie an den Beispielen Max Fürsts und Ernst Tollers, die beide zwar aus einer jüdischen Familie stammen, sich aber mit der Entscheidung für den Sozialismus faktisch von ihrem Judentum losgesagt hatten, das infolgedessen auch nahezu keine Rolle in ihren autobiographischen Schriften spielt und für ihre Bindung an eine kollektive Identität völlig ausfällt. Ein wesentlicher Unterschied in der Zielsetzung dieses Kapitels zu derjenigen in der Dissertation von Carmely besteht darin, dass die Argumentation dieser Arbeit im wesentlichen keine ideengeschichtliche Absicht verfolgt, d. h. nicht die jeweilige Position der Autoren zu ihrem Judentum darstellen will (dies ließe sich in der Tat aus den publizistischen Arbeiten, die die meisten der untersuchten

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Autoren auch bzw. sogar überwiegend verfasst haben, besser herausarbeiten), sondern diese lediglich zum Ausgangspunkt einer Untersuchung der literarischen Form der autobiographischen Texte dieser Autoren nimmt. Die autobiographische Form, das Grundmuster der hier zu untersuchenden Texte, weist dann wiederum eine Parallele zu Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie auf, die in der – schon im Titel vorkommenden – Verwendung der ›Weg‹-Metapher besteht. Norbert Miller weist in seiner Untersuchung von Schnitzlers Roman darauf hin, dass der Titel des Werks zu seinem Inhalt in einem ironisch-gebrochenen Verhältnis steht, das in der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Verhalten der Protagonisten des Textes besteht. Er stellt Schnitzlers Prosawerk daher in die Tradition des Bildungsromans, die – zumindest in Millers Interpretation – ein ebenfalls ironisch-gebrochenes Verhältnis zu seinem Gegenstand aufweist und deshalb im wesentlichen Desillusionierung und Fügung in die überindividuell geprägten, vom einzelnen daher nicht veränderbaren Zustände thematisiert: So ist sein großer autobiographischer Roman ›Der Weg ins Freie‹, den er selbst immer als einen pessimistisch getönten Bildungsroman verstanden hat, als ein Buch im Gefolge des ›Wilhelm Meister‹, des ›Grünen Heinrich‹, aber auch der ›Education sentimentale‹ von Flaubert, zu einem Zeitroman über die Wiener Großbourgeoisie, über Besitz und Bildung am Ausgang des Jahrhunderts geworden. Das Thema steht über beidem: der Lebensgeschichte des Musikers Georg von Wergenthin und über den deutschen und jüdischen Kreisen des Habsburger Wien, in denen er sich bewegt. Auch die Verneinung, in die sich das utopische, aufbruchsfrohe Motto des Titels ironisch gegen sich kehrt, gilt für beide, die schäbige Aufopferung jeder Bindung durch den unproduktiven Egoismus des Helden und für die Eitelkeit und Aussichtslosigkeit aller diskutierten Lösungen innerhalb der Gesellschaft. Die Erlösung in einer höheren, und sei sie nur geträumten Sphäre einer denkbaren Neuordnung der Gesellschaft findet nicht statt.15

Ähnlich stellt sich die Lebenssituation für die Protagonisten der meisten der hier untersuchten Autobiographien dar. Der Weg ihres Lebens ist – obwohl der formale Anspruch, wie die von ihnen gewählte Metapher des Lebenswegs andeutet, durchaus besteht – keineswegs mehr der von Goethe in seiner Autobiographie paradigmatisch komponierte der Entelechie des autonomen Individuums. Die Texte sind geprägt von der zunehmenden Diskrepanz zwischen der Verwendung der tradierten Form der entelechischen Autobiographie und der damit nicht mehr in Einklang zu bringenden Lebenserfahrung, die von Antisemitismus, Ausgrenzung und Emigration geprägt ist. Die Diskrepanz zeigt sich insbesondere an den Lebensläufen von Jakob Wassermann, Werner Kraft und den beiden Vertretern der sozialistischen jüdischen Identität, weniger bei dem Zionisten Gershom Scholem, der den Antisemitismus und die Judenverfolgung sowie die Entscheidung zur Emigration

15

Miller, Das Bild des Juden (wie Anm. 2), S. 198.

3.1 Jakob Wassermann

97

nach Palästina bruchlos in seine zionistische Identität einzufügen vermag. Eine solche Integration gelingt den eng mit Deutschland und der deutschen Kultur verbundenen Vertretern der Assimilation nicht; dies belegen die nachfolgenden Untersuchungen.

3.1

Jakob Wassermann

Am historischen Ausgangspunkt dieser Untersuchung deutschsprachiger jüdischer Autobiographien im 20. Jahrhundert steht Jakob Wassermann. Das Leben des 1873 in Fürth geborenen und am 1. Januar 1934 im österreichischen Altaussee gestorbenen Schriftstellers16 umfasst jenen Zeitraum, in dem sich der moderne Antisemitismus entfaltete, ohne dass seine mörderischen Konsequenzen im Nationalsozialismus bereits sichtbar geworden wären. Das Geburtsjahr Wassermanns markiert dabei den Beginn der ›Großen Depression‹, der Wirtschaftskrise der Bismarckzeit, die – neben der Einwanderung osteuropäischer Juden – als einer der Hauptgründe für das Entstehen dieser neuen Abart des Antisemitismus gilt. In Wassermanns Jugendzeit fällt der ›Berliner Antisemitismusstreit‹, der die grundlegenden Argumentationsmuster antisemitischer Diskurse für Jahrzehnte festlegt; auch Jakob Wassermann bedient sich in seiner 16

Eine umfassende, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie Wassermanns existiert nicht. Ansätze zu einer solchen Biographie, die einen kritischen Zugang zu Wassermanns Leben und Werk ermöglicht, liefert der Ausstellungskatalog: Jakob Wassermann 1873–1934: ein Weg als Deutscher und Jude; Lesebuch zu einer Ausstellung. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar hg. von Dierk Rodewald. Bonn: Bouvier 1984 (Schriften des Arbeitskreises selbständiger Kultur-Institute; 3). Eine kurze Einführung zu Leben und Werk bietet aber Rudolf Koester: Jakob Wassermann. Berlin: Morgenbuch-Verlag 1996 (Köpfe des XX. Jahrhunderts; 122). Er schöpft überwiegend unkritisch (zumeist in nicht kenntlich gemachten, direkten Zitaten) aus dem hier zu behandelnden Werk Mein Weg als Deutscher und Jude und beschränkt sich darüber hinaus auf kurze Inhaltsangaben der wichtigsten Werke Wassermanns. Der Gerechtigkeit wegen sei angemerkt, dass sich diese Biographie auch nicht an den wissenschaftlich interessierten Leser wendet, sondern in der populär ausgerichteten Reihe Köpfe des XX. Jahrhunderts erschienen ist. – Die Biographie von Siegfried Bing (Jakob Wassermann: Weg und Werk des Dichters. Nürnberg: Ernst Fromman & Sohn 1929) ist völlig unzureichend. Neben einer aus Wassermanns Roman Engelhart Ratgeber, der erst 1973 posthum erschienen ist, dessen Manuskript Bing jedoch einsehen konnte, und Wassermanns Mein Weg als Deutscher und Jude kompilierten sechzigseitigen Biographie bilden Nacherzählungen von Wassermanns zentralen literarischen Werken den hauptsächlichen Gegenstand des Buches. – Die Biographie von Marta Karlweis (Jakob Wassermann: Bild, Kampf und Werk. Mit einem Geleitwort von Thomas Mann. Amsterdam: Querido 1935), der zweiten Ehefrau Wassermanns, enthält zahlreiche unveröffentlichte Dokumente und Texte des Dichters, die über den autobiographischen Hintergrund seines Werkes informieren; wissenschaftlichen Ansprüchen genügt aber auch sie nicht.

98

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

autobiographischen Schrift Mein Weg als Deutscher und Jude zur Verteidigung der deutschen Juden gegen die Ostjuden teilweise der hier entwickelten Argumentationsstruktur und ihrer spezifischen, antisemitischen Stereotypen – affirmativ, wenn er sie benutzt, um die Distanz der deutschen von den Ostjuden und die Zugehörigkeit der erstgenannten zur deutschen Gesellschaft und Kultur zu betonen, durchaus kritisch, wenn er sie in den in der Autobiographie enthaltenen Gesprächen den antisemitischen Dialogpartnern in den Mund legt, um sie sodann durch die eigene Existenz und Leistung zu entkräften. Nach ihrem Abflauen seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und dem auch die Juden einbeziehenden ›Burgfrieden‹ zu Beginn des Weltkriegs, erreichte die antisemitische Hetze ihren Höhepunkt nach dem ›verlorenen‹ Krieg und dem als ›Schanddiktat‹ empfundenen Versailler Vertrag, der Deutschland die Alleinschuld am Krieg zusprach und ihm massive Reparationsleistungen aufbürdete, die den Wiederaufbau des Staats empfindlich behinderten und verzögerten. Jetzt mussten Schuldige für die Niederlage gesucht werden und man fand sie schließlich – neben den Sozialdemokraten vor allem auch in den Juden. Wassermanns Lebenszeit ist aber auch von einer grundlegenden Neuorientierung des europäischen Judentums geprägt. Mitverursacht durch den neu entfachten Antisemitismus, der ja kein rein deutsches Phänomen gewesen ist – man denke etwa an die Dreyfus-Affäre in Frankreich oder die Pogrome in Russland nach der Ermordung des Zaren Alexanders II. –, entwickelten sich nach der Periode der Emanzipation durch Assimilation, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist, im Judentum neue Strömungen, die sich kritisch mit der Assimilationsideologie auseinandersetzten (Sozialismus und Zionismus) und denen Wassermann verständnislos gegenüberstand; sie wurden in der Einleitung zu diesem Kapitel bereits benannt und kurz skizziert. Wassermanns Autobiographie ist in der aufgeheizten Atmosphäre der ersten Nachkriegsjahre entstanden und im Frühjahr 1921 bei S. Fischer erstmals veröffentlicht worden.17 Ihr war im Gegensatz zu seinem erzählerischen Werk keine große Wirkung beschieden – bis auf »das kopfschüttelnde, begriffsstutzige Unverständnis der Empfänglichen und Gleichgesinnten«18 wurde sie kaum rezipiert. Zwar verkaufte sich die erste Auflage mit 15.000 Exemplaren 17

18

Die Selbstbetrachtungen, der andere größere autobiographische Text Wassermanns, sind eine Zusammenstellung von Aufsätzen des Autors, die zwischen 1931 und 1933 an verschiedenen Orten veröffentlicht worden sind. Sie lassen sich nicht bruchlos zu einem autobiographischen Text formen. Außerdem beschäftigen sie sich hauptsächlich mit dem Selbstverständnis Wassermanns als Schriftsteller, sind in dem Zusammenhang dieser Arbeit also nur von randständigem Interesse. Vgl. Jakob Wassermann: Deutscher und Jude: Reden und Schriften 1904–1933. Hg. und mit einem Kommentar versehen von Dierk Rodewald. Heidelberg: Schneider 1984 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt; 57), S. 161–222 und S. 280–284. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt am Main: S. Fischer 1970, S. 852.

3.1 Jakob Wassermann

99

innerhalb eines Jahres, die 16. bis 20. Auflage von 1922 aber war noch im Verlagsprospekt anlässlich des 60. Geburtstags des Dichters angezeigt;19 auch fand die Schrift keine Aufnahme in die Gesamtausgabe der Werke Wassermanns von 1924/25.20 Die Gesamtauflage der Autobiographie steht also in keiner Relation zu derjenigen der übrigen literarischen Werke. In seiner »Selbstschau am Ende des sechsten Jahrzehnts«, die Wassermann noch kurz nach der ›Machtergreifung‹ Hitlers im Märzheft des Jahres 1933 der Neuen Rundschau veröffentlichen konnte, schreibt er über seine Bemühungen, als eine zwischen ›Deutschen‹ und ›Juden‹ vermittelnde Instanz zu wirken. Sie seien das Hauptmotiv seines schriftstellerischen Wirkens, dem jedoch die ethische Wirksamkeit weitgehend versagt geblieben ist: Künstlerisch genommen, vom Prinzip des Schöpferischen aus betrachtet, ist die einzige Genugtuung die, daß man die große Galerie der Menschenbilder um einige wenige vermehrt hat (vielleicht, auch das weiß man nicht mit Sicherheit); ethisch angesehen, ist das Ergebnis zum Verzweifeln. Nicht als ob es nicht da und dort Ergriffene gäbe, Reuige und der Verwandlung Fähige, aber am Lauf der Welt ändert sich nichts, am Haß, an der Lüge, am Mißverständnis, am Wahn und an der Ungerechtigkeit nichts. Als ich vor zwölf Jahren das kleine Buch veröffentlichte, worin ich, mit allzu schwachen Mitteln, wie ich gern gestehe, die unheilvollen Folgen nachwies, die diese welthistorische Schande [des Antisemitismus; M. M.] für mein eignes Leben gehabt hatte, schrieben mir Menschen aus den verschiedensten Kreisen des deutschen Volkes, Frauen und Mädchen, ehemalige Offiziere, Lehrer, Professoren, Beamte, von all dem hätten sie eigentlich keine Ahnung gehabt, ich hätte ihnen die Binde von den Augen gerissen, und sie gelobten mir, manche in feierlicher Weise, sich in Zukunft dafür einzusetzen, daß es anders werde. Es waren leere Worte. Es ist alles viel schlimmer geworden.21

Im Zentrum der Autobiographie steht deshalb auch nicht das individuelle Leben des Autors, sondern das Verhältnis von Deutschtum und Judentum in seiner Zeit und die Vergeblichkeit der Assimilation, die letztlich immer an der Zurückweisung der Juden durch die Vorurteile der deutschen Umwelt scheiterte. Vor der Untersuchung des formalen Aufbaus der Autobiographie soll aber ein Blick auf die Entstehungsbedingungen des Werkes die gewandelte Position Wassermanns in der Frage des deutsch-jüdischen Verhältnisses seit dem Weltkrieg deutlich machen.

19

20 21

Vgl. Jakob Wassermann 1873–1934 (wie Anm. 16), S. 87f. – Auch nach 1945, als das Interesse an Wassermanns Werken allmählich erlosch, sind nur zwei Neuauflagen des Buches erfolgt: 1987 im Berliner Nishen-Verlag und 1994 im Deutschen Taschenbuch-Verlag in München. Beide Auflagen sind wohl weniger einer Wassermann-Renaissance zu verdanken als vielmehr einem gesteigerten Interesse an den Problemen der jüdischen Existenz in Deutschland vor dem Nationalsozialismus. P. de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag (wie Anm. 18), S. 944. Zitiert nach Wassermann, Deutscher und Jude (wie Anm. 17), S. 220.

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3.1.1 Jakob Wassermanns Autobiographie als Stellungnahme zur Frage des deutsch-jüdischen Verhältnisses im Kontext der zeitgeschichtlichen Situation Jakob Wassermann hat sich nahezu während seiner gesamten schriftstellerischen Laufbahn in zahlreichen Publikationen immer wieder zum Problem der jüdischen Existenz in Deutschland geäußert. Neben seinen Romanen und Erzählungen sind vor allem seine Reden und Aufsätze zu nennen, die er diesem Thema gewidmet hat.22 Die meisten dieser Arbeiten sind nach dem Weltkrieg 22

Die Schriften Wassermanns zur Judenfrage sind zusammengefasst in dem Band Deutscher und Jude (wie Anm. 17). Weitere, hier nicht aufgenommene Schriften finden sich bei Jakob Wassermann: Lebensdienst: gesammelte Studien; Erfahrungen und Reden aus drei Jahrzehnten. Leipzig, Zürich: Grethlein 1928. – Forschungsbeiträge zu diesem Themenkomplex liefern neben den Dissertationen von Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 1) und Christa Joeris: Aspekte des Judentums im Werk Jakob Wassermanns. Phil. Diss. Aachen: Shaker 1995, die Aufsätze von Erwin Poeschel: Jakob Wassermann. In: Juden in der deutschen Literatur: Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Hg. von Gustav Krojanker. Berlin: Welt-Verlag 1922, S. 76–100, Rainer S. Elkar: Jakob Wassermann – ein deutscher Jude zwischen Assimilation und Antisemitismus: Versuch einer politisch-biographischen Skizze. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 3 (1974), S. 289–311, Hans Otto Horch: »Verbrannt wird auf alle Fälle …«: Juden und Judentum im Werk Jakob Wassermanns. In: Im Zeichen Hiobs: jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. von Gunter E. Grimm und Hans Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 124–146, Birgit Stengel-Marchand: Das tragische Paradox der Assimilation – der Fall Wassermann. In: Deutschunterricht 37 (1985), S. 38–41, Margarita Pazi: Identitätssuche und Ehrgeiz im Frühwerk Jakob Wassermanns. In: Sinn und Symbol: Festschrift für Joseph P. Strelka zum 60. Geburtstag. Hg. von Karl Konrad Polheim. Bern [u. a.]: Lang 1987, S. 387–401, Leibl Rosenberg: Jakob Wassermann (1873–1934): vergebliches Tun – sein Weg als Deutscher und als Jude. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern: Lebensläufe. Hg. von Manfred Treml. München [u. a.]: Saur 1988, S. 285–291, Wulf Segebrecht: Jakob Wassermanns fränkische Erzählungen oder: Sein Weg als Franke und Jude. In: Einige werden bleiben. Und mit ihnen das Vermächtnis: der Beitrag jüdischer Schriftsteller zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Ortwin Beisbart und Ulf Abraham. Bamberg: Bayerische Verl.-Anstalt 1992, S. 12–32, Gershon Shaked: Der Fall Wassermann. In: Ders.: Die Macht der Identität: Essays über jüdische Schriftsteller. Aus dem Englischen von Ulrike Berger. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1992, S. 95–114, Rolf Schneider: Lachodisch braucht man nicht mehr: Jakob Wassermann in der deutsch-jüdischen Vergangenheit. In: Merkur 48 (1994), S. 49–61, Birgit Stengel: Kurt Tucholsky und das Judentum: Dokumentation der Tagung der KurtTucholsky-Gesellschaft vom 19. bis 22. Oktober 1995 in Berlin. Hg. von Michael Hepp. Oldenburg: Bis 1996, S. 137–150 und Sarah Fraiman: Jüdische Identität und Identitätskrise: Bewußtes und Unbewußtes bei Lion Feuchtwanger und Jakob Wassermann. In: Aschkenas 8 (1998), H. 2, S. 511–524. – Die meisten der hier verzeichneten Arbeiten beschäftigen sich jedoch mit dem dichterischen Werk Wassermanns oder reflektieren seine Stellung als deutsch-jüdischer Autor. Eine literatur-

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entstanden und wohl auch als Reaktion auf den zunehmenden und immer aggressiver werdenden Antisemitismus zu interpretieren. Seine letzten, nach der ›Machtergreifung‹ Hitlers veröffentlichten Schriften zu diesem Thema haben beinahe schon prophetischen Charakter, obwohl er sich die Realisierung seiner Befürchtungen nicht recht vorzustellen vermag und sie deshalb nach Übersee verlagert und lediglich als Metapher verstanden wissen will: Es ist alles viel schlimmer geworden. Als ich in New York, oft und oft, durch die Straßen von Bronx ging, stierte mich jüdisches Elend in solchen Massen an, daß es den Augen schwer wurde zu schauen. Dieses Riesenghetto hat eine Bevölkerung von eindreiviertel Millionen Seelen; in jedem Jahr wandern davon etwa tausend zu Wohlhabenheit und hundert zum Reichtum ab; diese Minorität bildet den Zündstoff für den Ofen des Antisemitismus, die Millionen werden ohnehin drin verbrannt. Verbrannt wird auf alle Fälle. Wenn auch nicht mehr wirklich, so doch in effigie, was die Dinge vor Gott um kein Jota bessermacht.23

Aber bereits 1922 in einer Gedenkschrift »Zu Walther Rathenaus Tod« für den ermordeten Außenminister, der für Wassermann darüber hinaus auch ein persönlicher Freund war, schreibt er Sätze, die als Vorahnung des Kommenden gelesen werden können, die aber vor allem als ein Dokument der Hoffnungslosigkeit in der Gegenwart interpretiert werden müssen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt hat er die Ansicht vertreten, dass durch diese Tat nicht nur eine Einzelperson ermordet worden ist, sondern dass in diesem Attentat das Schicksal der Juden in Deutschland exemplifiziert und vorweggenommen wird, weil ich bei keinem Ereignis wie bei diesem die Empfindung hatte: das gilt dir, das raubt dir Ungeheures, Zusammengehörigkeit, Vertrauen, Bindungen, die dir teuer waren, Heimatsboden unter den Füßen, Glut der Gemeinsamkeit und des Füreinanderstehens, dieses raubt es und bringt Tod in einer vorher nicht gespürten Weise.24

In seiner Würdigung Rathenaus finden sich deshalb zweifellos auch autobiographische Züge: im Lebensweg des Politikers Rathenau, wie er sich für Wassermann darstellt, entdeckt er spiegelbildlich die eigene Liebe zu Deutschland, zu seiner Landschaft und zu seiner Sprache, zu seiner Bevölkerung und zu seiner Kultur, aber auch die bittere Erfahrung des Zurückgewiesenwerdens

23 24

wissenschaftliche, d. h. hier formgeschichtlich argumentierende Untersuchung seines autobiographischen Buchs Mein Weg als Deutscher und Jude wurde meines Wissens bislang noch nicht geleistet; im Rahmen der Frage nach Wassermanns deutsch-jüdischer Identität spielt dieses Buch aber eine wesentliche Rolle. – Auch in der zeitgenössischen Rezeption wurde dieses Buch weniger als literarisch gestaltete Autobiographie denn als Bestandsaufnahme des deutsch-jüdischen Verhältnisses aufgefasst. Vgl. hierzu Martin Neubauer: Jakob Wassermann: ein Schriftsteller im Urteil seiner Zeitgenossen. Frankfurt am Main: Lang 1994 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1 Deutsche Sprache und Literatur; 1485), S. 105–109. Wassermann, Deutscher und Jude (wie Anm. 17), S. 220. Wassermann, Lebensdienst (wie Anm. 22), S. 23f.

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durch die ›herzlose Geliebte‹, als die sich ihm Deutschland immer wieder – wenngleich lockend und verführerisch – entzieht: Es war da ein Mann, Würdenträger im besten Sinn, Repräsentant im schönsten und einleuchtendsten, ein von seiner Sache besessener, von seiner Mission beschwingter Geist, edler Überzeugungen voll, reich an Gedanken, feurigen Willens, rein von Sitten, Fanatiker der Arbeit, unbestechlich, geborener Herr. Und dennoch: woher kam es, diese Sache und der Mann stießen an irgendeinem Punkt im Raume hart zusammen. Die Sache wie eine herzlose Geliebte, die sich verweigert; der Mann wie ein unbedingt und grenzenlos sich Hingebender, der keinen Lohn findet oder den rechten Lohn nicht, den nicht, auf den er Anspruch erheben darf. Das erkennend, gibt er mehr und immer mehr, verschwendet sich, achtet Tag und Nacht für nichts, das Übermaß seiner Kraft für nichts, und muß doch sehen und erfahren, daß an seiner Leistung selbst dort noch Abstriche geschehen, wo ja keine gleiche an die Seite gesetzt werden kann, daß seine Person selbst dort noch bezweifelt wird, wo sie allen andern überlegen ist. Das Opfer wurde mißachtet, die Liebe verschmäht. [...] Die Tragik der unerwiderten Liebe, nie erwiderten Freundlichkeit und Bereitschaft hat den seltenen Menschen unheilbar verdüstert und sein Gemüt vergiftet.25

Eine Parallele zu diesen Sätzen, die von Rathenaus verschmähter Liebe zu Deutschland zeugen, ist im 24. Kapitel von Wassermanns ein Jahr zuvor erschienenen Autobiographie Mein Weg als Deutscher und Jude ausformuliert. Bereits hier findet sich der Vorwurf des Schriftstellers vorgebildet, den er in dem späteren Nachruf auf Rathenaus Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen überträgt. In kurzen, stakkatoartigen Sätzen schreit er dem deutschen Publikum seine Anklage entgegen, doch klingt bereits hier die Resignation an, die sich in den »Selbstbetrachtungen« von 1933 – wie gezeigt – über die hier noch erkennbare Kampfeslust legt, obwohl das zehnfach wiederholte ›es ist vergeblich‹ Gegenteiliges nahelegt: Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit in der Brust zum tödlichen Krampf. Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. Es ist vergeblich, die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen worden ist. Es macht sie nicht im mindesten bedenklich, es rührt sie nicht, es entwaffnet sie nicht: Sie schlagen auch die rechte. Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. Es ist vergeblich, beispielschaffend zu wirken. Sie sagen: wir wissen nichts, wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört. 25

Ebd., S. 26. – Zur Rolle Rathenaus im Krieg und in der Weimarer Republik vgl. Saul Friedländer: Die politischen Veränderungen der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf die Judenfrage. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916– 1923: ein Sammelband. Hg. von Werner E. Mosse. Tübingen: Mohr 1971, S. 36f. und S. 58–60.

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Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: der Feigling, er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn dazu. Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu bieten. Sie sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit? Es ist vergeblich, ihnen Treue zu halten, sei es als Mitkämpfer, sei es als Mitbürger. Sie sagen: er ist der Proteus, er kann eben alles. Es ist vergeblich, ihnen zu helfen, Sklavenketten von den Gliedern zu streifen. Sie sagen: er wird seinen Profit schon dabei gemacht haben. Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude.26

Damit hat sich Wassermanns Haltung in der Frage der Assimilation seit Kriegsbeginn radikal gewandelt. 1915 noch hatte er seinen Hoffnungen auf bedingungslose Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft Ausdruck gegeben. Der Anlass für diese Hoffnung ist in der ›Burgfrieden‹-Politik Deutschlands zu suchen, die den Kaiser schließlich dazu bewogen hat, ›keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche‹ zu kennen und in diese nationale Gemeinschaft auch die Juden einzubeziehen. Es ist – zumindest aus heutiger Sicht – evident, dass diese Politik lediglich aus der Not des Krieges und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Mobilisierung aller Kräfte erwachsen ist. Dies wurde schon in den folgenden Kriegsjahren sichtbar, als die Juden als ›Kriegsgewinnler‹ und ›Drückeberger‹ apostrophiert wurden und ihnen auf diese Weise eine Mitschuld an der sich abzeichnenden Niederlage zugeschrieben wurde. Die ›Judenzählung‹ vom Herbst 1916, die die unterdurchschnittliche Beteiligung der Juden an den Frontkämpfern ergeben sollte und durch die tatsächlich das Gegenteil belegt wurde, zeigt – insbesondere durch die Unterdrückung ihrer Ergebnisse bis nach Kriegsende – die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus durch die herrschenden Kreise.27 Wie viele andere Intellektuelle seiner Zeit hat auch Jakob Wassermann dies nicht erkannt oder nicht erkennen wollen und seine Integrationshoffnungen auf den Krieg gesetzt. In seinem Aufsatz über das »Nationalgefühl«, den er im Juni 1915 in der Neuen Rundschau veröffentlicht hat, findet sich diese Hoffnung wieder – ohne irgendeinen Gedanken an die Gefahren und die Bedeutung eines Krieges zu verschwenden: Der Gemeinschaft angehörig ist, wer sich zu ihr bekennt und mit seiner Leistung für sie einsteht. [...] Es bedarf aber keines tausendjährigen Testimoniums, um als Mitarbeiter aufgenommen zu werden; eine lebenskräftige Organisation kennt keine Exklusivität, die die Gefahr der Verarmung in sich trägt. [...] Wenn die Fähigkeit und

26 27

Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. München: Dt. TaschenbuchVerlag 1994 (dtv; 11867), S. 122f. Vgl. Friedländer, Die politischen Veränderungen der Kriegszeit (wie Anm. 25), S. 33–39.

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der Entschluß zur Anpassung, zur Einfügung vorhanden sind, ist das neue Blut niemals von Unsegen. Juden und Emigranten beweisen es.28

Dieses Zitat illustriert darüber hinaus die weltanschauliche Grundlage, auf der die Assimilationsbestrebungen der Generation Wassermanns beruhen: Es ist die Ideologie des Liberalismus, die in den Jahren nach der Reichsgründung in Politik und Gesellschaft, vor allem aber auch in der sich konstituierenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung bestimmend war.29 Wassermann leitet sein Recht auf Assimilation aus seiner Leistung – nicht auf wirtschaftlichem, dafür um so stärker auf kulturellem Gebiet30 – für das Deutschtum her. Deshalb kann er das Ostjudentum mit antisemitischen Stereotypen abwehren, die Anwendung derselben Vorurteile auf sich selbst aber empört zurückweisen. Auch sein Unverständnis für Sozialismus und Zionismus, die ja beide nahezu ausschließlich über die Herstellung kollektiver Identitäten funktionieren – der frühe Zionismus war ja durchaus von kollektiven Vorstellungen geprägt, die sich etwa in der Kibbuzbewegung niedergeschlagen haben –, lässt sich daraus erklären. Zu diesem frühen Zeitpunkt scheint ihm eine Zurückweisung durch die Deutschen aus Gründen, die nicht in seiner individuellen Persönlichkeit begründet liegen, auch noch nicht vorstellbar. Obwohl er sein Judentum zeitlebens nicht verborgen oder gar abgelegt hat, bleibt die jüdische Komponente seiner Identität merkwürdig blass hinter der erstrebten Zugehörigkeit zum Deutschtum. Seine letztendliche Akzeptanz einer etwas diffus bleibenden jüdischen Identität für sich selbst ist daher nur eine solche ex negativo, die auf die Zurückweisung des Individuums durch das Kollektivurteil ›Jude‹ von Seiten der Deutschen zurückzuführen ist. Dass seine Hoffnungen, durch eigene Leistungen zum ›Deutschen‹ zu werden, vergebens waren, hat Wassermann spätestens nach dem Krieg erfahren: ›Dolchstoß‹ und ›Erfüllungspolitik‹ wurden nicht zuletzt den Juden angelastet; der Mord an Rathenau, dem ›Kriegsgewinnler‹ und ›Erfüllungspolitiker‹, beweist den blutigen Ernst der Antisemiten, mit dem sie die ›Schuldigen‹ zur Rechenschaft ziehen wollten. Neben diesem politisch inspirierten Antisemitismus existierte aber auch ein kulturell grundierter, der sich zur Zeit der Entstehung von Wassermanns Autobiographie hauptsächlich an Arthur Schnitzlers Reigen entzündete, der seit Januar 1921 mit großem (Skandal-) Erfolg in Berlin und Wien aufgeführt wurde. In dieser Argumentationslinie werden die antisemitischen Stereotypen als Unfähigkeit der Juden zur Partizipation an der deutschen Kultur vorgeführt und die Juden deshalb als Gefahr für diese Kultur diffamiert. Obwohl dieser Skandal, der sich schon länger vorbereitet hatte, erst losbrach, nachdem Wassermann sein Manuskript abgeliefert hatte, illustriert er die aufgeheizte 28 29

30

Jakob Wassermann: Nationalgefühl. In: Die neue Rundschau 26 (1915), S. 772. Vgl. Elkar, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), S. 29, der die Orientierung Wassermanns am politischen Liberalismus und ihren Niederschlag im literarischen Werk auf das Jahr 1910/11 datiert. Vgl. ebd., S. 301.

3.1 Jakob Wassermann

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Stimmung jener Jahre und die Unversöhnlichkeit der Antisemiten,31 die Wassermann zu folgendem Vorwort seiner Autobiographie veranlasst hat: Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.32

3.1.2 Mein Weg als Deutscher und Jude Schon im Titel werden die beiden leitenden Problemkomplexe des autobiographischen Schreibens Jakob Wassermanns thematisiert. Es handelt sich hierbei um die Metapher des Weges, die die autobiographische Selbstvergewisserung – um eine solche handelt es sich im Falle Wassermanns trotz aller die eigene Identität in Frage stellenden Hindernisse auf diesem Weg – als eine entelechische und teleologisch angelegte ankündigt, und um den die Entelechie und Teleologie dieses Lebens störenden Dualismus zwischen Wassermanns deutscher und seiner jüdischen Identität. Ausgehend von einigen Überlegungen zu diesem Titel und der Widmung des Bandes an den Freund Ferruccio Busoni, den italienischen Komponisten, soll dann eine Interpretation des Wassermannschen Textes versucht werden, die die beiden im Titel aufgeworfenen Problemkomplexe zum Leitfaden der Interpretation macht und sie in einen Zusammenhang mit Wassermanns Selbstverständnis als deutschem Schriftsteller bringt. Mit der Wahl der Metapher des Wegs,33 die Wassermann auf das eigene Leben anwendet und auf zwei spezifische Rollen, nämlich die als Deutscher und Jude, einengt, ist bereits eine wesentliche Entscheidung über die Komposition der Autobiographie getroffen. Die Metapher des Wegs und das durch das vorangestellte Possessivpronomen Mein hier implizierte Beschreiten dieses Wegs setzt eine gewisse Zielgerichtetheit voraus, die sich von keinerlei Störungen – Hindernisse auf oder Ablenkungen von diesem Weg – beirren lässt. Der Weg, den das autobiographische Individuum beschreiten wird bzw. zum Zeitpunkt der Abfassung der Autobiographie zu einem großen Teil bereits beschritten hat, ist vorgegeben und führt an ein Ziel. Das Possessivpronomen, das der Wegmetapher vorangestellt ist, behauptet eine Identifizierung des Individuums mit diesem Weg; das Individuum akzeptiert den bereits hinter ihm bzw. noch vor ihm liegenden Teil des Weges als den eigenen.34 Wassermanns Autobio31 32 33

34

Vgl. P. de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag (wie Anm. 18), S. 838–840. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 7. Zur Metapher des Lebenswegs und ihrer Anwendung im biographischen Erzählen seit dem 18. Jahrhundert, sei es im Roman, in der Autobiographie oder in der unbestimmbaren Grauzone, in der sich diese Gattungen vermischen, vgl. Vollers-Sauer, Prosa des Lebensweges (wie Kap. 1, Anm. 56), passim. Ebd., S. 200 macht darauf aufmerksam, dass dieser Weg selbstverständlich kein a priori vorgegebener ist, sondern sich im Prozess des Erzählens erst konstituiert. Wie diese Konstruktion des Lebenswegs im Spannungsfeld zwischen Dichtung und Wahrheit, Roman und Autobiographie, sich seit dem späten 18. Jahrhundert in Aus-

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graphie ist also dem traditionellen Schema der teleologisch und entelechisch verlaufenden Lebensgeschichte verpflichtet, wenngleich sie nicht die gesamten Verästelungen der Wassermannschen Existenz nachzeichnen will. Dies belegt ein Zitat, mit dem Wassermann von der Erzählung seiner Jugendzeit zur Darstellung des entscheidenden Lebenskonflikts überleitet: Da eine eigentliche Lebensbeschreibung hier nicht beabsichtigt ist, sondern nur Darstellung eines schicksalhaften Konflikts, genüge als Zusammenhängendes der bisherige Bericht, der lediglich aufzeigen soll, wie ich geworden, und auf welchem Boden ich gewachsen bin. Der Weg wird nun schmaler und bestimmter, die Richtung energischer sein müssen, Gebot der Verknüpfung hat zurückzutreten gegen die Folge und Stufung des Entscheidenden.35

Die beiden Elemente der Identität des einen Individuums sind im Titel der Autobiographie – so paradox es klingen mag – unversöhnt miteinander verbunden; die Konjunktion ›und‹ stellt den klaffenden, unüberwindbaren Abgrund zwischen ihnen dar. Sie zeigt auf semantischer Ebene aber auch die gleichberechtigte, gleichrangige Position der beiden Elemente in Wassermanns Identität. Eine Versöhnung zwischen ihnen, die sprachlich und grammatikalisch nur als Subordination des einen Elements als Adjektiv unter das dominierende Substantiv des anderen Elements zu deuten ist – etwa in der Form des ›deutschen Juden‹ oder des ›jüdischen Deutschen‹ –, wird hier im Titel vermieden, obwohl sie sich im Text zuweilen finden lässt.36 Dennoch kann man so etwas wie eine Rangordnung zwischen den beiden Elementen von Wassermanns Identität konstruieren: wenn man von der Schreib- und Leserichtung des Deutschen von links nach rechts ausgeht, ergibt sich ein Vorrang des deutschen vor dem jüdischen Element. Diese Beobachtung lässt sich auch bei der Lektüre des autobiographischen Textes selbst verifizieren; das jüdische Element der Identität Wassermanns kommt in der Autobiographie kaum vor. Es dient lediglich als eine Negativfolie für seine Bemühungen um die eigene deutsche Identität, die ihm von seiner nichtjüdischen Umwelt immer wieder verweigert wird, indem sie sich auf seine jüdische Herkunft beruft, um ihn aus der von ihm selbst erstrebten kulturellen Wahlheimat auszugrenzen. Die Forschung hat daraus einen Vorrang des deutschen vor dem jüdischen Element konstruiert und ihn daher als einen ›Assimilanten‹ bezeichnet.37 In letzter Zeit hingegen wird die Tatsache stärker betont, dass der Vorrang des deutschen Elements seiner Identität sich lediglich daraus herleitet, dass ihm der jüdische

35 36

37

einandersetzung mit Konzepten des realistischen Schreibens durchsetzt, ist das Thema der Dissertation von Elisabeth Vollers-Sauer. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 38. Vgl. ebd., S. 7, 108 und 119. – ›Deutsch‹ bedeutet hier aber lediglich eine Abgrenzung gegenüber dem ›nur jüdischen‹ Juden, der außer an sein Judentum keinerlei kulturelle Bindungen besitzt. – Vgl. Shaked, Der Fall Wassermann (wie Anm. 22), S. 95. Vgl. Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 1), S. 56f.

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Teil sowieso von niemandem bestritten wurde und er schon deswegen gezwungen war, das deutsche Element vorrangig zu betonen.38 Die Gleichrangigkeit des deutschen und des jüdischen Bestandteils seiner Identität erklärt Wassermann schließlich in seiner Autobiographie, ohne aber einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen der deutschen und der jüdischen Identität finden zu können. Das folgende Zitat ist als ein ›Trotzdem‹ aufzufassen, das er den oben zitierten zehn Sätzen, warum es vergeblich ist, den Deutschen gegenüber seine Zugehörigkeit zu ihnen zu behaupten, entgegenstellt: Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen.39

Vor einem ähnlichen Problem einer zwischen zwei Nationalitäten gespaltenen Identität stand – wenn man der Wassermannschen Interpretation glauben mag – der Komponist Ferruccio Busoni, mit dem Wassermann bis zu dessen Tod im Jahr 1924 befreundet war und dem er deshalb seine Autobiographie gewidmet hat. In seinem Nachruf auf Busoni40 betont er neben der auch hier vorhandenen metaphysischen Überhöhung des Künstlertums, in der sich Wassermann und Busoni – wenn auch in verschiedenen künstlerischen Disziplinen – gleichen, deshalb vor allem, daß er außerdem noch leiblich und buchstäblich ein Mensch der Grenze war. Zweien Nationen gehörte er an; bei der einen war seine Erde, bei der andern war seine Luft; dort war er gewachsen, hier nur konnte er atmen; missen konnte er keine, jene nicht verleugnen, diese nicht entbehren. Dem Süden dankte er äußere Form, dem Norden innere. Beide hatten ihn vorgeschoben, nirgends stand er in der Mitte, in der natürlichen Heimat nicht, wo er die Kindheit verbracht und deren Sprache er geredet, in der gewählten nicht, die ihn erzogen und ihm den Arbeitskreis und das Wirkungsgefühl gegeben hatte. Er suchte die Synthese der zerstückelten Teile; sein lebelang baute er daran. Ein geheimes Bewußtsein beseelte ihn, daß er als Mensch zwischen den Rassen eine Mittler-Sendung zu erfüllen hatte, die in eine ferne Zukunft wies.41

Diese Zwischenstellung Busonis korrespondiert mit der eigenen Gespaltenheit Wassermanns. Beide haben sich ihre deutsche Identität gegen äußere Widerstände erkämpft und sie dann dauernd verteidigen müssen, ohne freilich das jeweils andere Element dieser Identität – sei es das italienische oder das jüdische – verleugnen zu können. Angriffen, wie sie Wassermann wegen seines Judentums zu erleiden hatte, war Busoni in der Zeit des Weltkriegs und besonders nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 mit der Kriegserklärung an Österreich ausgesetzt. Bis 1914 und wiederum nach dem Krieg in Berlin wohnend, lebte er nach einer Amerikareise in den Jahren 1914 und 1915 bis 1920 in Zürich, in der neutralen Schweiz. Während dieser Zeit, besonders nach der 38 39 40 41

Vgl. Segebrecht, Jakob Wassermanns fränkische Erzählungen (wie Anm. 22), S. 24f. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 126. Wiederabgedruckt in Wassermann, Lebensdienst (wie Anm. 22), S. 3–22. Ebd., S. 18.

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italienischen Kriegserklärung an Deutschland am 28. 8. 1916, wurde Busoni in der deutschen Presse vor allem wegen seiner Parteinahme für den futuristischen Maler Umberto Boccioni heftig angegriffen. Daraufhin erschien eine Rezension des Komponisten Hans Pfitzner über Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, der 1916 in der Insel-Bücherei veröffentlicht worden ist. Darin versucht Pfitzner, Busoni vom ›Wesen der deutschen Kunst‹ wegen der darin enthaltenen avantgardistischen Ideen zur Überwindung der Krise der Tonalität auszuschließen.42 Diese Kriegserfahrungen Busonis mit einer deutschnational gesinnten Kritik, die ihm die Partizipation am ›deutschen Wesen‹ absprechen wollte, obwohl er einen großen Teil seiner Ausbildung und seiner beruflichen Laufbahn der deutschen Musik gewidmet hatte, setzt Wassermann in Parallele zu der von ihm als Jude erlebten Exklusion aus der deutschen Kultur und dem deutschen Geist, ebenso wie das trotzige Festhalten Busonis an Deutschland, wohin er 1920 im Triumphzug wieder zurückkehrte.43 In diesem Sinne schreibt Wassermann in seinem Nachruf auf Busoni: Busonis Vater war Italiener, seine Mutter kärntnerische Deutsche. Die Blutmischung entschied über sein Schicksal und über seinen Charakter. Sie gab seinem Wesen die Form, seinem Geiste die Richtung, seinem Temperament den Flug und die Glut; sie bezeichnete auch den tiefsten Zwiespalt in seiner Seele. Deutschland wurde ihm Wahlheimat in Konflikten, die der Zeitgeschichte angehören, schmerzlich eroberte, sonderbar ähnlich wie einst bei Adelbert von Chamisso; deutsche Sprache, in deren Rhythmus und Wortschatz er sich so einzuwohnen wußte, daß er mit Leichtigkeit und Reinheit als Schriftsteller seine bedeutenden Gedanken in ihr auszudrücken vermochte, und deutsche Bildung, in dem hohen Sinn eines nun erlöschenden humanistischen Ideals, erzeugten die Atmosphäre, in welcher er allein gedeihen konnte; deutsche Musik, in ihren Gipfeln Bach und Mozart, war sein Bekenntnis und sein Aufblick. Allem Südlichen wehrte er, auch dem, was er davon in sich selber spürte; und das war viel. Er bekämpfte es; er erstickte es; er fürchtete es beinahe, wie einer, der auf der Flucht ist, den Verfolger fürchtet; er wollte nicht daran erinnert werden, als sei es ihm Last oder Schatten. Und doch wieviel Italienisches war in ihm.44

Der Weg, den Jakob Wassermann in seinem Leben beschritten und in seiner Autobiographie dargestellt hat, ist aber nicht, wie der Titel glauben machen 42 43 44

Vgl. Reinhard Ermen: Ferruccio Busoni. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 (rowohlts monographien; 483), S. 83–100. Vgl. ebd., S. 101–118. Wassermann, Lebensdienst (wie Anm. 22), S. 5. – So einseitig auf die deutsche Kultur fixiert, wie Wassermann ihm das in seinem Nachruf unterstellt, war Busoni freilich nicht. Die Stilisierung der Busonischen Identität auf den Konflikt zwischen deutscher und italienischer Identität entspricht eher dem Konflikt Wassermanns zwischen seiner deutschen und seiner jüdischen Identität und seiner Entscheidung für die Zugehörigkeit zur deutschen Identität als Busonis tatsächlicher Lebenssituation. Die kulturelle Offenheit Busonis zeigt Ermen, Ferruccio Busoni (wie Anm. 42), passim.

3.1 Jakob Wassermann

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möchte, ausschließlich der Lebensweg eines Deutschen und Juden, sondern vor allem auch derjenige eines ›deutschen Schriftstellers‹, wie eine Selbstdefinition Wassermanns wohl lauten könnte. Das teleologische Voranschreiten auf diesem Lebensweg wird jedoch gestört durch den unauflösbaren Dualismus zwischen seiner deutschen und seiner jüdischen Identität. Er wird für Wassermann erst dann virulent, als seine schriftstellerische Karriere nicht den erhofften geradlinigen Verlauf nimmt, sondern in zunehmendem Maße von antisemitischen Angriffen gegen seine Person und sein Werk behindert wird. Dies beginnt bereits mit der Rezeption von Wassermanns erstem, 1897 publizierten Roman Die Juden von Zirndorf, den der völkisch-rassistische Schriftsteller und Literaturhistoriker Adolf Bartels als »jüdisches Produkt«45 diffamiert, und setzt sich fort bis zum Ausschluss aus der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste im März 1933 und dem Verbot seiner Bücher im Dezember 1934, nur wenige Tage vor seinem Tod.46 Bernd Neubauer hingegen betont in seiner Arbeit zumindest für den Zeitraum bis 1933 den Aspekt des Vorrangs der ästhetisch-literarischen Wertung in der Rezeption. Aus dieser Untersuchung wird deutlich, dass die mangelnde Anerkennung, die Wassermanns Werk bei der Literaturkritik fand – sein überragender Erfolg beim Publikum kann nicht bestritten werden – keinesfalls ausschließlich oder überwiegend auf antisemitische Ressentiments zurückzuführen ist, sondern dass genügend ästhetische Kriterien für eine negative Wertung vorhanden sind und eine Verbindung dieser ästhetischen Verurteilungen mit seinem Judentum keinesfalls die Regel ist. Wassermanns Hypostasierung des eigenen ›Schöpfertums‹, des Geniekults, den er mit dem eigenen Schreiben betrieben hat, und die daraus resultierende Missachtung nahezu sämtlicher Einwände gegen dieses ›Schaffen‹ – schließlich ist die Produktion des Genies nicht hinterfragbar –, es sei denn, sie kamen von als ›gleichrangig‹ anerkannten Künstlern und Autoren,47 haben bei ihm 45

46

47

Bernd M. Kraske: »Das stärkste jüdische Talent dieser Zeit ...«: zur Rezeption Jakob Wassermanns in der völkischen Literaturgeschichtsschreibung. In: Jakob Wassermann: Werk und Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn: Bouvier 1987 (Sammlung Profile; 28), S. 47. Zur Rezeption Wassermanns durch die Vertreter einer völkisch-rassistischen Literaturkritik oder Literaturgeschichte vgl. Kraske (ebd.), der sich überwiegend der Zeit vor 1933 widmet, und Neubauer, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), S. 26–30 und S. 111–116, der in diesen Passagen den Zeitraum seit der ›Machtergreifung‹ Hitlers abdeckt. Dazu zählen etwa sein Freund und Lektor im S. Fischer-Verlag, Moritz Heimann, aber auch der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes. – Vgl. Wassermann, Deutscher und Jude (wie Anm. 17) in den Selbstbetrachtungen (über Heimann), und Klaus Bohnen (»Zauber des Unbedingten« und »Gebändigtes Gefühl«: zu Jakob Wassermanns literarischer Entwicklung in unveröffentlichten Briefen an Georg Brandes. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1980, S. 403–420), der einige Briefe Wassermanns an Brandes ediert hat. – Vgl. zum Umgang Wassermanns

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eine Immunisierung gegen nahezu jede Form von Kritik bewirkt, die sich – zumindest in der Autobiographie – in der Strategie des Antisemitismusvorwurfs gegen seine Kritiker manifestiert. Die Einseitigkeit, mit der er sich in der Autobiographie auf diesen Dualismus konzentriert, liegt – es sei an dieser Stelle noch einmal wiederholt: bei aller Berechtigung der von Wassermann geäußerten Vorwürfe – hierin zumindest mitbegründet. Jakob Wassermann hat seinen Lebensweg ganz auf seine schriftstellerische Existenz hin komponiert. Sie ist für ihn der logische Schnittpunkt der beiden Pole seiner Identität als Deutscher und Jude; in ihr gelingt es ihm, die beiden auseinanderstrebenden Bestandteile dieser Identität zu vereinen, ohne sich zwischen ihnen entscheiden zu müssen, wie das seine Umwelt immer wieder von ihm gefordert hat.48 Aus der Vereinigung von ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ erwächst das schriftstellerische Genie, das sich Wassermann in grandioser Selbstüberschätzung reichlich zubilligt und auf dem seine ›Sendung‹ beruht, die sich schon zeitig in seinem Leben andeutet: Kunde zu geben, davon hing für mich alles ab, schon im frühesten Alter.49

Neben frühen Phasen der Inspiration am heimischen Herd50 bilden die Erzählungen für den jüngeren Bruder den Beginn seiner poetischen ›Sendung‹. Nach dem frühen Tod der Mutter bei dem Vater und einer Stiefmutter in einem von Armut geprägten Haushalt aufgewachsen, erhält der junge Jakob Wassermann von einem Bruder der Verstorbenen »eine gewisse Summe für die Bestreitung dringender Auslagen«. Er soll davon, heimlich, für seinen Bruder und sich selbst zusätzliche Nahrungsmittel kaufen. Weil er einen kleinen Teil des Geldes für den Erwerb »billige[r] Bücher« abzweigt, droht »der gierige Rebell«, dem durch die Buchkäufe des Bruders die dringend benötigte Zusatzverpflegung entgeht, mit Denunziation bei der Stiefmutter.51 Die Zeilen des folgenden Zitats erinnern an die orientalische Scheherazade, die in der Rahmenerzählung des orientalischen Märchenzyklus aus Tausendundeiner Nacht ihr Weiterleben von Tag zu Tag durch das Erzählen spannender Geschichten und die Aussicht auf eine noch bessere, noch spannendere Geschichte in der nächsten Nacht vom König erkauft, der sie in seinem Palast gefangenhält: Mein Bruder und ich schliefen in einer Art Verschlag in demselben Bett, und in meiner Bedrängnis verfiel ich nun auf den Ausweg, ihm vor dem Einschlafen Geschichten zu erzählen. Wider Erwarten fand ich an ihm den aufmerksamsten Zuhörer, und ich nützte den Vorteil aus, indem ich jeden Abend meine Geschichte an der spannendsten Stelle abbrach. Zeigte er sich dann während des folgenden Tages ungebärdig, so hatte ich

48 49 50 51

mit »Lob und Tadel« sowie zum Umgang seiner Freunde mit seinem Verhältnis zur Kritik an seinen Werken Neubauer, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), S. 141–148. Vgl. etwa die Gestaltung dieser Forderung in den beiden Gesprächen mit ›einem Freund‹ in seiner Autobiographie. Auf diese Gespräche wird noch eingegangen. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 23. Vgl. ebd., S. 23. Alle Zitate: ebd., S. 24.

3.1 Jakob Wassermann

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meinerseits eine wirksame Waffe und Drohung: ich erklärte einfach, daß ich die Geschichte nicht weitererzählen würde. Je verwickelter, spannender, aufregender die von mir ersonnene Begebenheit war, je erpichter war er natürlich, die jedesmalige Fortsetzung zu hören, und ebenso natürlich mußte ich, um ihn im Zaum zu halten und nach meinem Willen lenken zu können, alle Geistes- und Kombinationskraft zu Hilfe rufen. Es war keineswegs leicht; ich hatte einen unerbittlichen Forderer, und ich durfte nicht langweilig und nicht flüchtig werden. So erzählte ich wochen- ja monatelang an einer einzigen Geschichte, im Finstern, mit leiser Stimme, bis wir beide müde waren, und bis ich im Durcheinander der Figuren zu der Situation gelangt war, von der ich selbst noch nicht wußte, wie sie zu lösen sei, die aber den atemlosen Lauscher wieder für vierundzwanzig Stunden in meine Gewalt gab.52

Diese Episode aus dem frühen Jugendleben weist Wassermann »auf [s]einen Weg, auf [s]eine Wurzeln«.53 Der ›Weg‹ ist die Schriftstellerei und die Entwicklung einer ersten Poetik des späteren Dichters, die sich – wie böswillige Kritiker, wenngleich ohne direkten Bezug auf diese frühe Kindheitsszene, behaupten – im weiteren Verlauf seines Schaffens nicht mehr wesentlich modifiziert hat.54 Die ›Wurzeln‹ sind ein »orientalischer Trieb«, »das Verfahren der Scheherasade«, die »erzählt, um ihr Leben zu retten, und während sie erzählt, wird sie zum Genius der Erzählung schlechthin«.55 Diese ›Wurzeln‹ sind für Wassermann in seinem ›orientalischen‹ Judentum begründet, aus dem er seine ›Schöpferrolle‹ herleitet und das er gegen die zeitgeistkonform abwertend gebrauchte ›Literatenrolle‹ stellt. Im europäischen Juden sieht er den Prototyp des ›Literaten‹, dem er den ›Schöpfer‹ gegenüberstellt. Hier begegnet – in leicht modifizierter Form – das Stereotyp vom die europäische Kultur zersetzenden Juden, dem Wassermann sein eigenes positiv konnotiertes Judenbild gegenüberstellt. Darin weist er dem ›orientalischen‹ Juden, der sich seiner Verwurzelung in einer historischen, sozialen und landschaftlichen Heimat bewusst ist, seinen Platz in der europäischen Kultur zu:56 52 53 54

55 56

Ebd., S. 24f. Ebd., S. 23 und – leicht abgewandelt – S. 25. Vgl. hierzu Neubauer, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), passim. – Immer wieder tauchen in der Kritik Vorwürfe auf, die eine Überfrachtung der Werke Wassermanns mit Personen, Stoffen und Motiven bis zum Kolportagehaften und zum unfreiwillig Komischen feststellen und den Texten deshalb mangelnde literarische Qualität, Inkohärenz und Unglaubwürdigkeit attestieren. Alle Zitate: Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 25. Eine genaue Untersuchung des Geniebegriffs bzw. des Schöpfergedankens bei Wassermann ist ein Desiderat der Forschung, das hier nicht beseitigt werden kann. Ein Blick in Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur (wie Kap. 1, Anm. 32), Bd 2, S. 213–237, der Wassermann nicht erwähnt, zeigt jedoch, dass sich Wassermanns Judentum nur schwerlich mit den herrschenden Genievorstellungen in Einklang bringen lässt, die ›Schöpfertum‹ nur Vertretern der ›arischen Rassen‹ zubilligen und das Judentum nicht nur als ›unschöpferisch‹, sondern sogar als ›zersetzend‹ aus dem Kreis der kreativen Völker ausgrenzen und so seine Vernichtung als ›Schädlinge‹ zumindest geduldet haben (vgl. bes. S. 220f.). Umgekehrt ist es aber für Wassermanns Streben nach Anerkennung geradezu eine

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Das Schicksal der Nation, ihre Vereinzelung unter fremden Nationen, ihre ungeheuren wirtschaftlichen und geistigen Anstrengungen im Kampf gegen die widrigsten Umstände, der fortwährende Zustand der Abwehr, der Selbstbehauptung, das plötzliche Erwachen am Morgen eines Kulturtags, das leidenschaftliche Ergreifen der Hilfsmittel und Waffen dieser Kultur und die darauf erfolgte gewaltsame Unterdrückung und Zerschneidung der Tradition, all das hat die Juden als ganzes Volk zu einer Art von Literatenrolle vorbestimmt. Wo sich hingegen der einzelne wieder des großen Zusammenhangs bewußt wird, wo er im Schoß der Geschichte, der Überlieferung ruht, wo urewige Symbole ihn tragen, urewige Blutströme ihm Adelsbewußtsein verleihen und zugleich alles Errungene und Erworbene organisch damit verschmilzt, da mag er wohl den Weg zu Göttlichem leichter als andere finden. Der Jude als Europäer, als Kosmopolit ist ein Literat; der Jude als Orientale, nicht im ethnographischen, sondern im mythischen Sinne, als welcher die verwandelnde Kraft zur Gegenwart schon zur Bedingung macht, kann Schöpfer sein.57

Schon bald wird ihm in der autobiographischen Rückschau das Schreiben zur Notwendigkeit und zum Lebenselixier, aber es entwickelt sich gleichzeitig zum Streitpunkt in der Familie. Noch ist es nicht der Antisemitismus der literarischen Welt, der seine schriftstellerische Karriere hemmt, sondern der Widerstand von »Verwandte[n], Lehrer[n], Kameraden«.58 Es kommt, wie es kommen muss: ein von ihm im Alter von 15 Jahren eingeschickter Roman wird von der Zeitung angenommen, ein erster Teil erscheint im Druck und löst, nachdem ihn der stolze Autor dem Vater beim Abendessen beiläufig vorlegt, einen veritablen Familienkrach sowie weitere Unannehmlichkeiten aus, die den angehenden Künstler, der unbeirrt auf seinem Lebensweg voranschreitet, aber nicht anfechten:

57

58

Notwendigkeit, sich des Genie- bzw. Schöpferbegriffs zu bemächtigen, um seinen Anspruch auf Zugehörigkeit durch seine Fähigkeit zur schöpferischen Leistung zu bestätigen und dadurch gleichzeitig die Vorurteile gegen das Judentum an sich als solche zu widerlegen: schließlich gibt es ja (zumindest) einen schöpferischen Juden, der aus dem Kreise der Literaten, der wohl auch Nichtjuden beinhaltet, hervorragt. Wassermann, Deutscher und Jude (wie Anm. 17), S. 29f. – Das Zitat stammt ursprünglich aus dem Buch Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit (1910) und wird hier in einem Aufsatz Wassermanns, »Der Jude als Orientale« (1913), präzisiert. Diese Hochschätzung des Juden als Orientale korrespondiert in bemerkenswerter Inkonsequenz mit der Verachtung seines in Österreich und zunehmend auch in Deutschland auftretenden Phänotyps, nämlich des Ostjuden, der der beschworenen Tradition deutlich näher steht als Wassermann selbst: »Hier [in Wien; M. M.] wurde ich eine gewisse Scham nie ganz los, ich schämte mich ihrer Haltung.« (Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude [wie Anm. 26], S. 103). – Wassermanns Verachtung lässt sich allenfalls aus der mangelnden Assimilationsbereitschaft der Ostjuden erklären, die Wassermanns Identitätsmodell eines fest mit der ›Landschaft‹ seines Lebensumfelds verwachsenen Judentums konterkariert. – Vgl. hierzu Segebrecht, Jakob Wassermanns fränkische Erzählungen (wie Anm. 22), S. 23f. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 26.

3.1 Jakob Wassermann

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Es gab schlimme Szenen, Vorwürfe, Drohungen, Beschimpfungen, Hohn. Auch in der Schule wurde ich zur Rechenschaft verhalten, vor den Rektor zitiert und wegen verbotener Publikation zu zwölfstündigem Karzer verurteilt. Der Vater aber wurde mein unerbittlicher Verfolger, und die Frau war seine getreue Spionin, so daß ich keine ruhige Arbeitsstunde mehr fand und des Nachts bisweilen bei Mondschein das Bett verließ und am Fenster, in einem leidenschaftlichen inneren Zustand, Blatt um Blatt vollschrieb. [...] Schwer und dunkel waren die Jahre des Werdens. Um von der Unbill und dem Gefühl erlittenen Unrechts nicht erdrückt zu werden, flüchtete ich mich gern in die Vorstellung, daß der Weltgeist für mich im stillen wirkte. Es war ziemlich wunderbar, daß ich an der kerkerhaften Wirklichkeit nicht zerschellte.59

Die Stellungen sind also bezogen, und der weitere Lebensweg Wassermanns verläuft nun gegen den erklärten Willen des Vaters und der übrigen Familie, die fest im Kaufmannsstand und der von diesem favorisierten Realbildung verwachsen ist. Sie setzt deshalb dem humanistischen Bildungs- und Lebensideal Jakob Wassermanns entschiedenen Widerstand entgegen,60 den dieser ebenso beharrlich unterläuft und alle Zweifel an seiner schriftstellerischen Eignung, etwa seitens des literarisch ambitionierten Hausarztes der Familie61 oder – einige Jahre später – durch den Münchner Schriftsteller Paul Heyse,62 zurückweist. Der Weg zum Ruhm ist noch lang und verschlungen. Er führt über ein abgebrochenes Studium in München und die anschließende Militärzeit, über Aushilfs- und Schreibertätigkeiten, Phasen der Obdachlosigkeit und der ›schlechten Gesellschaft‹, bis zur Tätigkeit als Sekretär bei dem Münchner Schriftsteller Ernst von Wolzogen, der ihn in seinen literarischen Ambitionen fördert: Er war der erste Mensch, der mich ermunterte, der erste überhaupt, der mich als Dichter uneingeschränkt ernst nahm, und das bedeutete für mich soviel wie Rettung und Erlösung. Aber er tat mehr. Er warb und wirkte für mich und jene sehr unfertigen, sehr fragwürdigen Gebilde; er scheute nicht Spott und Abwehr, ja Spott und Abwehr reizten ihn zu bedingungslosem Enthusiasmus, und als Heißsporn, der er war, begab er sich in Fehden; ich wurde unversehens ein Objekt von Für- und Widermeinung, was mich eher verzagt als stolz machte.63

59 60

61 62 63

Beide Zitate: ebd., S. 27. Vgl. Elkar, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), S. 295f., der die Haltung der Familie aus den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen des Kaufmannsstandes erklärt, der die Voraussetzungen seines Aufstiegs auf den kaufmännischen Erfolg zurückführte, den die Realbildung eher als eine humanistische Erziehung zu gewährleisten schien. Vgl. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 29f. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 65. – Hier versagt Wassermanns seismographisches Gespür für den Antisemitismus, den er wohl nur bei seinen Kritikern, nicht aber bei seinen Förderern vermutete. In seiner Autobiographie ließ Ernst von Wolzogen seinen antisemitischen Ausfällen gegenüber Wassermann freien Lauf. – Vgl. Neubauer, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), S. 118f.

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Die Münchener Jahre sind eine Zeit des Suchens und der Unsicherheit, an deren Ende sich die Verwandlung des ›Literaten‹ zum ›Schöpfer‹ vollzogen hat. Zunächst bewegt sich Wassermann hier im »Kreis des literarischen Lebens«,64 dessen Mitglieder er mit allen Epitheta belegt, die zu seiner Definition des ›Literarischen‹ bzw. des ›Literaten‹ passen. Es ist ein Kreis, dem die kulturellen Fundamente fehlen und dessen Mitgliedern damit die Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Ganzen mangelt, der Wassermanns ganzes Streben gilt.65 Wassermanns Lebensweg führt durch diese Episode des Literatentums, in dem sein frühes Werk entstanden ist, von dem er sich später bis zur Verleumdung distanziert hat: Es sind in der Mehrzahl Entlaufene, Entgleiste, sozial Verwundete und Kranke; Exponierte alle. Ihrem Zirkel, ihrer Erde sind sie alle entflohen, nicht um frei zu sein, sondern freischweifend, ob es nun Proletarier, Bürger oder Aristokraten sind. Sie bauen daher nicht auf einem gegebenen Fundament; sie müssen sich das Fundament erst errichten, und zwar jeder für sich und auf seine Weise. So vergeuden sie von vornherein Blut, Kraft und Geist für etwas, das Voraussetzung und Mitgift sein sollte. Sie zersplittern sich, ummauern sich, keiner hat die Bindung mit dem Volk, den Rückhalt an ihm, ja, das Volk verargwöhnt und verleugnet sie, es ist keine Mitte da, keine Übereinkunft, kein Vertrauen vom einen zum andern, nicht einmal Respekt vor der Arbeit oft, und auch wo wahrhaft Berufene sich vereinen, bilden sie Partei und hochmütige Sippe.66 Die Schwierigkeit, vor der ich mich sah, war gewaltig. Wie sollte ich eindringen in die vielfach abgegrenzten Zirkel? Wie über die flache Wahrheit des bloßen Sehens hinaus zur tieferen der Anschauung gelangen? Ich stand an der Peripherie; Hunderte wie ich dorthin verwiesen, setzten darein gerade ihre Ehre, ich aber hatte da nichts zu suchen, ich brauchte die Mitte oder wenigstens das Segment, ein Mittleres, einen Durchschnitt, den einfach seienden Menschen und seine noch nicht in Spiegeln aufgefangene Bewegung; ich brauchte Anschluß, menschliche Wirkung, soziale Erfahrung, eine Tragfläche, ein umschlingendes Band. Statt dessen fand ich mich zurückgeworfen und isoliert unter dreifach erschwerenden Umständen: als Literat; als Deutscher ohne gesellschaftliche Legitimation; als Jude ohne Zugehörigkeit.67

Seine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Anerkennung ist die Triebfeder des schriftstellerischen Schaffens Wassermanns. Mit seinem 1897 erschienenen Roman Die Juden von Zirndorf meint Wassermann sich diese Zugehörigkeit – die ja das eigentliche Thema des Romans bildet – erschrieben zu haben. Tatsächlich waren Die Juden von Zirndorf Wassermanns erster merkantiler Achtungserfolg, der ihm – vermittelt durch Moritz Heimann – die Aufmerksamkeit Samuel Fischers und schließlich einen Vertrag mit dessen Verlag einbrachte. Dieser Vertrag bot ihm eine dauerhafte materielle Grundsicherung und ermöglichte dadurch den Umzug nach Österreich, wo er ab 1898 bis zu seinem Tod 64 65 66 67

Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 66. Vgl. ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 72.

3.1 Jakob Wassermann

115

lebte, und somit die Wiederaufnahme einer bürgerlichen Existenz.68 Nach einer kurzen Schilderung des Schaffensprozesses, der zu diesem Werk geführt hat, und der wiederum alle Anzeichen des inspirierten Schreibens eines schöpferischen Genies trägt,69 stellt er die Aufnahme dieses Werkes bei seinem deutschen Publikum dar. Er muss aber schon bald erkennen, dass der Roman nur ein Achtungserfolg gewesen ist, dessen Wirkung sich kaum über die jüdischen Kreise hinaus verbreitet hat, und der das gewünschte Ergebnis, die bedingungslose Integration in die deutsche Gesellschaft, nicht herbeizuführen vermocht hat: Ich stand auf der Scheide; bisweilen erschien ich mir wie ein Prätendent ohne Anhänger, ohne Beglaubigung; ein Johann ohne Land; mir war, wie wenn der Boden unter jedem Schritt wiche, der Lunge die Luft entsaugt würde; dazu das brodelnde Gewühl einer noch unerlösten Gestalten- und Bilderwelt in mir und nie weichende Sorge um die Existenz.70

Aber auch mit seinen weiteren Werken, Caspar Hauser (1908) und Das Gänsemännchen (1915), deren Rezeption er in seiner Autobiographie paradigmatisch vorstellt, gelingt es ihm nicht, die unsichtbaren Grenzen zu überschreiten und sich seine Zugehörigkeit zu erschreiben: Ich bildete mir ein, den Deutschen ein wesentlich deutsches Buch gegeben zu haben, wie aus der Seele des Volkes heraus; ich bildete mir ein, da ein Jude es geschaffen, den Beweis geliefert zu haben, daß ein Jude nicht durch Beschluß und Gelegenheit, sondern auch durch inneres Sein die Zugehörigkeit erhärten, das Vorurteil der Fremdheit besiegen könne. Aber in dieser Erwartung wurde ich getäuscht.71 Das ›Gänsemännchen‹, 1911, 1912 und 1913 entstanden, wurde erst im zweiten Jahr des Krieges veröffentlicht, und es fügte sich, daß das Buch, wie keines meiner Bücher zuvor, sogleich ein herzliches und weittragendes Echo fand. Ich hatte damals oft den Eindruck, daß die Übergewalt der Ereignisse ihm eine Art von Anonymität verlieh, durch die es reiner in sich selbst ruhte, stärker aus sich selbst wirkte; ein neues, wohltuendes Gefühl für mich. [...] Am Gesetzhaften meiner Stellung zur Gesellschaft und zur deutschen Öffentlichkeit änderte sich so gut wie nichts.72

Sein Bekanntheitsgrad als Schriftsteller wächst nun rasch, und er kann sich dauerhaft mit seinen literarischen Erzeugnissen identifizieren, wohl auch, weil sie kommerziellen Erfolg haben – sie erreichen in den Jahren bis zum Ende der Weimarer Republik konstant hohe Auflagen. Dadurch ermöglichen ihm seine Werke die Etablierung einer bürgerlichen Existenz, die seit dem 18. Jahrhundert die unabdingbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Anerkennung 68 69 70 71 72

Vgl. P. de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag (wie Anm. 18), S. 335f. Vgl. ebd., S. 72f. Ebd., S. 75. Ebd., S. 78 über den Caspar Hauser. Ebd., S. 86–88.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

der Juden darstellte. Dennoch stößt Wassermann zunehmend an die Grenzen einer staatlich verordneten Gleichberechtigung, die den Juden trotz aller Bemühungen um Assimilation und Akkulturation immer deutlicher werden mussten. Es handelt sich hier um die mangelnde soziale Akzeptanz, um die Außenseiterrolle der Juden in der deutschen Gesellschaft, die Wassermann in zahlreichen seiner Romane thematisiert hat,73 die aber darüber hinaus – und seine Autobiographie ist der wohl intensivste Beleg dafür – das beherrschende Problem seiner persönlichen Existenz gewesen ist. Je größer sein literarischer, d. h. merkantil-kommerzieller, Erfolg war, desto drängender ist dieses Problem in seinem Leben geworden. Bereits früh zeigte sich dieser Konflikt als Hindernis auf seinem ›Lebensweg‹: Es war ein trübes Medium zwischen mir und allen geistigen und bürgerlichen Dingen. Bei jedem Schritt nach vorwärts stieß ich auf Hemmnisse und Verschleierungen, nach keiner Richtung hin war offener Weg.74

Seine ganze Autobiographie ist daher von dem Versuch durchzogen, die Existenz dieser ›Hemmnisse und Verschleierungen‹ offenzulegen und sie gleichzeitig als Vorurteile zu entlarven, d. h. ihre fehlende Berechtigung zu belegen. Dies beginnt mit der Zurückweisung antisemitischer Stereotypen durch das Beispiel der eigenen Familie, in der »[i]n Kleidung, Sprache und Lebensformen [...] die Anpassung durchaus vollzogen«75 war: Mein Vater war kleiner Kaufmann, dem es auf keine Weise wie den meisten seiner Glaubens- und Altersgenossen gelingen wollte, Reichtümer zu erwerben. [...] Seine Geistesrichtung war die sentimental-freiheitliche, laues Nachzüglertum der Märzrevolution, das seine verwässerten Tendenzen ins neue Reich getragen hatte. [...] Er liebte Schiller und sprach mit Hochachtung von Gutzkow. [...] Meine Mutter starb, als ich neun Jahre alt war. Sie war eine Schönheit, von blondem Typus, sehr sanft, sehr schweigsam.76

Zur jüdischen Gemeinde steht man in einem distanzierten Verhältnis, akzeptiert sie »nur im Sinn des Kultus und der Tradition«,77 »nach der zweiten Ver73

74 75 76

77

Vgl. etwa die Figur des Warschauer–Waremme in seinem Roman Der Fall Maurizius. – Vgl. dazu Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle …« (wie Anm. 22), S. 131– 133, Martina Landscheidt: Mutmaßungen über Waremme, Annäherungen an Warschauer: zu der jüdischen Doppelfigur Warschauer–Waremme in Jakob Wassermanns Roman Der Fall Maurizius. In: Wolff (Hg.), Jakob Wassermann (wie Anm. 45), S. 14–32, und Shaked, Der Fall Wassermann (wie Anm. 22), S. 107–111. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 15. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10f. – Darüber hinaus treten in der Autobiographie Wassermanns auffallend häufig Juden auf, die den gängigen Klischees der Antisemiten über die jüdische Physiognomie nicht entsprechen, etwa der »sehr stattliche[n] blonde[n] Rabbiner[s]« (S. 14), oder aber Juden, die »die Vorsehung selbst blond und blauäugig geschaffen« (S. 110) hat bzw. die »erstaunlich blond und blauäugig« (S. 112) sind. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 10.

3.1 Jakob Wassermann

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heiratung des Vaters [war] von einer religiösen Bindung und Erziehung nicht die Rede«,78 »[d]er jüdische Gott war Schemen für mich«.79 Er selbst fühlt »keinerlei tieferen Zusammenhang«80 mit der jüdischen Gemeinschaft und ist auch äußerlich nicht als Angehöriger dieser Gemeinschaft zu erkennen: Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden.81

Ein späterer Arbeitgeber in Freiburg fühlt sich sogar durch »meine Photographie und dann auch mein Auftreten getäuscht«,82 drängt ihn schließlich – wegen seines Judentums – sogar aus seiner Stellung und treibt ihn, der zu diesem frühen Zeitpunkt seines Lebens alle Brücken ins bürgerliche Leben hinter sich abgebrochen hat, bis er sich schließlich durch seine Schriftstellerkarriere für das bürgerliche Leben rehabilitiert, in die Obdachlosigkeit. Gleichzeitig ist diese Szene der Anlass für das große Gespräch über den Antisemitismus, das Jakob Wassermann mit einem Freund in Zürich führt, zu dem er sich nach seiner Entlassung durchgeschlagen hat. Auf die Konstruktion und Funktion dieses Gesprächs wird noch zurückzukommen sein. Die zitierten Stellen dienen Wassermann zum einen zur Konstruktion der unaufhebbaren Polarität zwischen Deutschtum und Judentum, die bei ihm vor allem als Vorurteil von deutscher Seite aus skizziert wird. Zum anderen enthalten sie bereits den Hinweis auf die Unhaltbarkeit dieser Vorurteile, indem etwa die in der Autobiographie auftretenden Juden, allen anderen voran er selbst und seine Familie, den aufgeführten antisemitischen Stereotypen in keiner Weise entsprechen – davon ausgenommen sind die von Wassermann angefeindeten Ostjuden, die er wie bereits gezeigt wegen ihres ›typisch jüdischen‹ Aussehens und Verhaltens für den anschwellenden Antisemitismus verantwortlich macht. Was durch diese Konstruktion aber deutlich wird, sind die Folgen, unter denen die Angehörigen der so zunächst definierten und dann ausgegrenzten Minorität zu leiden haben. Indem etwas »Unüberbrückbares«83 definiert wird, entsteht eine Differenz zwischen Deutschen und Juden, die den letzteren – in positiver Wertung – als ›Gast‹ oder – ins Negative gewendet – als ›Fremden‹ ausgrenzt. Der Begriff des ›Gastes‹ definiert das Dilemma, dem Wassermann zeit seines Lebens nicht entkommen kann:

78 79 80 81 82 83

Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12. Ebd., S. 43. Ebd., S. 18.

118

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht, als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer, der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in einer gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen.84

An diesen Zitaten lässt sich auch das Motto der Autobiographie erklären, das Lukrez, De rerum natura III, 499–501, einer Schilderung der Wirkungen der Epilepsie auf den menschlichen Geist, entnommen ist. Es erscheint hier jedoch aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang gerissen und bezeichnet die Ätiologie der schizoiden Situation der Juden in Deutschland, die Wassermann in seiner Autobiographie darstellen möchte: Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit, Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt, die sich ihrerseits hierzu auch nur auf ein Wort, auf Phrase, auf falschen Tatbestand stützte. Wozu war man also noch Jude, und was war der Sinn davon? Diese Frage wurde immer unabweisbarer für mich, und niemand konnte sie beantworten.85 Ich wurde als Mensch nicht als zugehörig gefordert, weder von einem einzelnen, noch von einer Gemeinschaft, weder von den Menschen meines Ursprungs, noch von denen meiner Sehnsucht, weder von denen meiner Art, noch von denen meiner Wahl. Denn zu wählen hatte ich mich ja nachgerade entschlossen, und die Wahl hatte stattgehabt. Von jenen habe ich mich mehr durch inneres Geschick, als durch freien Entschluß geschieden, diese aber nahmen mich nicht auf und an, und mich selber darzubieten, ging gegen Stolz und Ehre.86

Die theoretische Ausfaltung der Unhaltbarkeit antisemitischer Stereotypen erfolgt vorwiegend in Wassermanns Dialogen mit ›einem Freund‹, mit dem er zweimal grundlegende Gespräche über den Dualismus zwischen Deutschen und Juden im allgemeinen und seine, Wassermanns, Sonderstellung zwischen ›Deutschen‹ und ›Juden‹ im besonderen führt. Diese Gespräche sind weniger als Wiedergabe tatsächlich geführter Unterhaltungen zu verstehen, sondern vielmehr als eine Zusammenfassung der Wassermannschen Gedanken zum Problem, zu denen ihm der Freund als Antipode dient, der den traditionellen antisemitischen Diskurs aufgreift, damit Wassermann ihn mit seinen eigenen Argumenten widerlegen kann. Das Verfahren des Dialogs hatte Wassermann auch schon in früheren Schriften benutzt, so etwa in Faustina. Ein Gespräch über die Liebe (1907)87 oder in seiner literaturtheoretischen Erörterung Die Kunst der Erzählung. Ein Dialog (1904).88 Auch seine »Selbstschau am Ende des sechsten Jahrzehnts. Ein imaginäres Gespräch von Jakob Wassermann« 84 85 86 87 88

Ebd., S. 18f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 34. Vgl. Wassermann, Lebensdienst (wie Anm. 22), S. 452–501. Vgl. ebd., S. 550–586.

3.1 Jakob Wassermann

119

(1933), das Bestandteil seiner Selbstbetrachtungen (1933)89 ist und neben kunsttheoretischen Reflexionen ebenfalls den deutsch-jüdischen Dualismus zum Thema hat, bedient sich dieses Stilmittels. Ähnlich den Dialogpartnern des Sokrates in den platonischen Schriften haben die jeweiligen ›Freunde‹ bzw. die im Titel genannte ›Faustina‹ nur die Funktion von Stichwortgebern, die zwar durchaus ausführlich zu Wort kommen, um etwa gängige Meinungen und Vorurteile zu referieren und mit ihrem Alltagsverstand zu verteidigen. Letztlich besteht ihre Aufgabe aber darin, dem dialogisierenden Ich als Negativfolie für seine Reflexionen über das in Frage stehende Thema zu dienen; aus der Widerlegung ihrer Argumente erwächst die Position des dialogisierenden Ich, die über die Irrtümer der Dialogpartner triumphiert. Dies zeigt sich auch darin, dass es zu keiner Verständigung zwischen den Dialogpartnern kommt, sondern dass Wassermann und der ›Freund‹ am Ende unversöhnt auseinandergehen; in dieser Hinsicht sind die Dialoge getreue Abbilder des deutschjüdischen Verhältnisses, weil es auch in ihm zu keiner wirklichen Verständigung kommt. Damit nähert sich die Form der Autobiographie in diesen beiden durchaus umfangreichen Kapiteln derjenigen des Essays an, der zumeist ebenfalls autobiographisch inspiriert ist, aber darüber hinaus zumeist ein Thema von allgemeinem Interesse abhandelt und daher von den individuellen Erfahrungen abstrahiert bzw. diese ins Allgemeine, über das Kontingente des eigenen Lebens Hinausreichende transzendiert.90 Der autobiographische Anlass tritt hier – in dieser essayistischen Passage wie auch in Wassermanns gesamter Autobiographie – ganz hinter das Thema zurück. In Wassermanns Autobiographie zeigt sich dies an der vollständigen Anonymisierung der Situation. ›Der Freund‹, mit dem Wassermann die Gespräche über das Judentum führt, bleibt – wie so viele andere Gestalten in seiner Autobiographie – namenlos, obwohl er lange Zeit mit Wassermann dessen wohl schlimmsten Lebensabschnitt, mittellos in Zürich, teilt. Auch die Situation, das äußere Umfeld, in dem diese Gespräche stattfinden, wird nicht näher ausgeführt. Lediglich der Anlass zu dem Gespräch, Wassermanns Niedergeschlagenheit nach seiner Entlassung durch den Freiburger Kaufmann wegen seines ›verschwiegenen‹ Judentums, wird kurz erwähnt. Dies geschieht allerdings nur, um auf die 89 90

Vgl. Wassermann, Deutscher und Jude (wie Anm. 17), S. 161–222, die »Selbstschau« S. 203–222. Die Definition des Essays ist vielschichtig und widersprüchlich, weil er – wie alle literarischen Zweckformen, darunter auch die Autobiographie – auf keine kanonische Form zurückblicken kann und sich deshalb nicht in der klassischen Gattungstrias wiederfinden lässt. Im folgenden wird daher auf die Minimaldefinition von Heinz Schlaffer: Essay. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar. Berlin [u. a.]: de Gruyter 1997ff., Bd 2 (2000), S. 522–525 zurückgegriffen. Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise.

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Allgemeingültigkeit der im Anschluss referierten Gespräche hinzuweisen und so die eigene Lebensgeschichte und Lebenserfahrung in einen überindividuellen Erfahrungshorizont einzubetten. Die entsprechende Stelle liest sich deshalb auch wie ein Auszug aus einer Definition des Essays: Der an sich unbedeutende Vorfall führte uns ins Allgemeine und Schicksalhafte und wieder zurück ins begrenzt Persönliche meiner Existenz.91 Der Essay ist der schriftliche Diskurs eines empirischen (d. h. nicht-fiktionalen) Ich über einen kulturellen Gegenstand, dessen Aspekte durch subjektive Erfahrung erschlossen worden sind und für den gleichwohl das allgemeine Interesse gebildeter Laien gewonnen werden soll.92

Die Gespräche, die Wassermann hier referiert, sind deshalb nicht als direkte Lebenszeugnisse zu verstehen. Zum einen – »jede Erinnerung ist ja ein Stück Konstruktion«93 – bedient sich Wassermann der literarischen Verfahren der Raffung und Montage dieser ›Gespräche‹ zu einem einzigen Dialog von ungefähr zehn Seiten, in dem die gesamte Argumentation entfaltet wird: Niemand wird erwarten, das Gespräch sei hier im Wortlaut angeführt. In Wirklichkeit war es eine lange Abfolge von Gesprächen, und ich gebe davon den Extrakt, die Legende.94

Zum anderen sind die Einwürfe und Auslassungen des Freundes über das Judentum den zeitgenössischen antisemitischen Stereotypen verpflichtet, die die Leser aus eigener ›Erfahrung‹ bzw. aus eigenem ›Wissen‹ kennen und die sich dann doch als höchst unsicher erweisen – auch dies ein Merkmal des Essays: Mit Vorliebe knüpft er an vertraute Sujets und Meinungen an, um daran durch Verstehen und Kritik bislang Unbeobachtetes zu entdecken und bestehende Vorurteile zu korrigieren.95

Der Inhalt dieses Gesprächs wie auch dessen Reprise bei einer Wiederbegegnung, nachdem Wassermann seine ersten literarischen Erfolge errungen und damit seine ›Zugehörigkeit‹ bestätigt hat, lässt sich als eine Summe der Wassermannschen Gedanken zum Problem der deutsch-jüdischen Existenz verstehen, mit dem sich Wassermann während seiner gesamten schriftstellerischen Laufbahn in zahlreichen Aufsätzen, aber auch immer wieder in seinen fiktionalen Werken befasst hat. Die Gesprächsbeiträge des Freundes spiegeln daher keine authentische Gesprächssituation wider, sondern sind Konstruktionen Wassermanns, der als Autor dem Freund diejenigen antisemitischen Argumente in den Mund legt, die Wassermann zeitlebens als Vorurteile bekämpft hat. Das Gespräch, der vermeintlich offene Schlagabtausch einander entgegenge91 92 93 94 95

Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 45. Schlaffer, Essay (wie Anm. 90), S. 522. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 21. Ebd., S. 51. Schlaffer, Essay (wie Anm. 90), S. 522.

3.1 Jakob Wassermann

121

setzter Positionen, entpuppt sich so als Monolog mit verteilten Rollen96 – als Essay, der ein Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet, dessen Ergebnis aber von vornherein feststeht. Darüber hinaus finden sich Wassermanns Gedanken zu diesem Thema auf der Folie antisemitischer Stereotypen an zahlreichen weiteren Stellen seiner Autobiographie, so besonders – wie schon gezeigt – in der exemplarischen Darstellung der Rezeption seiner Werke. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass die Autobiographie tatsächlich weniger ein individuelles Lebenszeugnis bzw. Zeugnis eines individuell gelebten Lebens ist als vielmehr die repräsentative Autobiographie eines deutschen Juden und seines Leidens an und in der deutschen Gesellschaft.97 Dies wird exemplifiziert an der individuellen Emanzipationsgeschichte Wassermanns, der sich gegen die herrschenden Vorurteile aus der jüdischen Außenseiterexistenz heraus- und in der Gesellschaft durch seine schriftstellerischen Leistungen voranarbeiten will, aber immer wieder an den ihm entgegengeschleuderten Vorurteilen scheitert. Die allgemeine Verbreitung dieser Vorurteile wird durch die Anonymisierung ihrer Träger unterstrichen. Kaum eine Figur, die in Wassermanns Autobiographie auftritt, erhält individuelle Züge und Charakterisierungen; von den meisten wird dem Leser nicht einmal der Name mitgeteilt: die ›jungen Menschen‹, die sich zurückziehen, nachdem er sein Judentum offenbart hat, die Vorgesetzten und Kameraden während seiner Militärzeit, der Freiburger Kaufmann, der ihn wegen seines Judentums entlassen hat, der Freund, mit dem er lange Gespräche über das Judentum geführt hat. Sie alle sind nicht als Individuen, sondern nur als Typen, als Vertreter verschiedener Spielarten des Antisemitismus von Interesse. Ausgangspunkt des Gesprächs in diesem 9. Kapitel, das im 17. Kapitel, nachdem Jakob Wassermann seine ersten schriftstellerischen Erfolge errungen 96

97

Zur Diskussion über den Gesprächscharakter des Essays und über die Frage, mit wem der Autor denn nun eigentlich dialogisiere, vgl. Gerhard Haas: Essay. Stuttgart: Metzler 1969 (Sammlung Metzler; 83), S. 48–50. Den Gedanken der Repräsentativität der Wassermannschen Autobiographie und des essayistischen Charakters ihrer literarischen Form stützt auch ein Blick auf die beiden letzten Kapitel des Textes, die unter den Rubriken »Was soll Deutschland tun?« (Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude [wie Anm. 26], S. 125) bzw. »Was sollen aber die Juden tun?« (ebd., S. 126) Appelle an die beiden Antagonisten dieses Dualismus bereithalten. Diese Appelle, gewonnen aus der Betrachtung des eigenen Lebenswegs, bezeugen die repräsentative Stellung des Schriftstellers als schöpferisches Genie, die ihm – an anderer Stelle – die Behauptung erlaubt, »daß es einen lebensfremden Dichter von Rang nie gegeben hat und nicht geben kann, daß die Phantasie und Seherkraft des wahren Dichters Welt und Menschheit sicherer umfaßt und klarer schaut, als die Augen von hundert praktisch erfahrenen und hundert zweckhaft Forschenden vermögen, denn Welt und Menschheit sind ihm Idee und eingeborenes Bild, und das Wunder der Imagination kann durch keine Realität übertroffen werden« (Wassermann, Lebensdienst [wie Anm. 22], S. 149).

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hat, seine Wiederaufnahme und einen unbefriedigenden Abschluss findet, ist die für Wassermann traumatische Erfahrung seiner Entfernung aus der Freiburger Stellung und ihre Motivierung durch den Antisemitismus seines dortigen Arbeitgebers: [I]ch fühlte mich als Mitglied einer Nation, gleichgeordnet als Mensch, gleichberechtigt als Bürger; da mich aber ein Beliebiger ohne zureichenden Grund, und ohne daß es möglich war, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen, als untergeordnetes Wesen behandeln dürfte, so beruhe entweder mein Gefühl auf einem Irrtum, oder die Übereinkunft, von der es gestützt gewesen, sei Lüge und Betrug.98

Im Verlauf des Gesprächs erweist sich der Freund dann als durchaus ›aufgeklärter‹ Antisemit, der seinen Antisemitismus den Gepflogenheiten der Zeit folgend auf eine (pseudo-) wissenschaftliche Basis stellt und sich von den »politischen und sozialen Unheilstiftern« distanziert, die die Juden »als Ratten und Parasiten« behandeln und – der Logik der Metaphorik von Schädlingen und Ungeziefer folgend – auszurotten gewillt sind. Zwar anerkennt er, »was [die Deutschen] den Juden zu verdanken haben und ihnen in Zukunft auch noch werden danken müssen«, beharrt aber dennoch auf einer »Trennung der Begriffe«99 ›Deutscher‹ und ›Jude‹. Bei aller angemaßten Wissenschaftlichkeit der Argumentation gelingt es dem Freund aber nicht, eine konzise Argumentation zu entwickeln, die die Berechtigung des Antisemitismus nachweist. Statt dessen scheinen die von Wassermann selbst in diesem Gespräch entwickelten Argumente denen des Freundes überlegen zu sein. Schließlich ist der Freund schon zu Beginn des Gesprächs gezwungen, auf einen Einwand Wassermanns hin diesem eine Sonderstellung unter den Juden, die ihn nahe an die Deutschen heranrückt, zuzugestehen: Statt einer Antwort fragte er mich sehr ernst, sehr feierlich, ob ich mich, Hand aufs Herz, wirklich als Jude fühle. [...] Er fragte, ob meine Mutter zweifellos eine Jüdin gewesen sei? Ob in der Vergangenheit der Familie kein Fall von Kreuzung bekannt oder nur der Verdacht davon vorhanden sei? Als ich jenes unbedingt bejahte, dieses lächelnd verneinte, schüttelte er den Kopf und sagte, mein Fall sei außerordentlich interessant; es sei ein ganz besonderer Fall.100 Ich [hier: der Freund; M. M.] will es zugeben, weshalb nicht? Ich war ja stets der Meinung, du seiest ein Ausnahmeexemplar, ich will zugeben, daß du Ströme des Ostens zu uns geleitet, Gesichte des Ostens uns entschleiert hast; zugeben, daß deutsche Art in dir ist, Art von unserer Art, rätselhaft wie, aber sie ist da; zugeben, daß

98 99 100

Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 45f. Alle Zitate: ebd., S. 46. Ebd., S. 47f.

3.1 Jakob Wassermann

123

da etwas wie Verschmelzung, neue Synthese vor sich gegangen ist; aber was ist damit bewiesen? Es wäre nur die Regel bestätigt.101

Auch sonst steht die Argumentation des Freundes auf wackligen Beinen, weil er sich selbst der Gültigkeit seiner Argumente nicht sicher ist und sie deshalb »mit einer beinahe imperativen Autorität«102 verteidigt und die existierenden Argumentationslücken mit Hilfskonstruktionen und Hinweisen auf den Wassermannschen Sonderstatus innerhalb der Judenheit zu überbrücken versucht: Er antwortete, es sei vielleicht so. Es scheine ihm, [...]. Das gerade sei vielleicht der kritische Punkt.103 Ja und nein, entgegnete der Freund. Diese Argumente erhellten meine besondere Situation; im allgemeinen lägen die Dinge ganz und gar nicht so.104

Deshalb wirkt es tatsächlich beinahe wie sokratische Ironie, mit der der Sokrates der platonischen Dialoge seine Gesprächspartner überzieht, bevor er ihre Argumente rücksichtslos demontiert, wenn Wassermann behauptet, »daß ich mich der Logik und Kraft seiner Argumente nicht entziehen konnte«.105 Schließlich behauptet er doch, dass die Argumentation des Freundes stellenweise »rätselhaft«106 sei. Der Schwächung der Argumente des Freundes dient auch die Form der Wiedergabe des Gesprächs. Sind Wassermanns Widerlegungen der Argumente des Freundes ausschließlich im Modus der Wirklichkeitsaussage, also des Indikativs, gehalten, überwiegt bei der Darstellung der Aussagen des Freundes der Konjunktiv der indirekten Rede, der zunächst nur die Distanz des Referenten zum Referierten, dann aber auch die bloße Subjektivität des Referierten als Meinung, als nicht verifizierte Möglichkeitsaussage ausdrückt. Dazu passt auch der von Wassermann herausgehobene imperative Charakter der Argumentation des Freundes: die Argumente sollen gültig sein – auch wenn ihnen keine empirisch überprüfbare Wirklichkeit entspricht. Aus dieser stilistischen Gestaltung des Gesprächs erhellt sich die Funktion der Wassermannschen Argumentation als sachliche Widerlegung der Vorurteile des Freundes, als die sie sich in der Wassermannschen Darstellungsform zeigen. Die Argumente, die Wassermann den Freund vorbringen lässt, reihen die gängigen antisemitischen Klischees aneinander und sind schon vielfach überzeugend widerlegt worden – zumeist auch überzeugender als es Wassermann selbst gelingt. Letztlich kulminiert die gesamte Argumentation des Freundes in der rassistischen Behauptung, die auch Jakob Wassermann, dem er selbst ja eine Ausnah101 102 103 104 105 106

Dies Zitat aus dem zweiten Gespräch mit dem Freund, ebd., S. 96. Ebd., S. 51. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. Ebd., S. 46.

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mestellung attestiert hat, dem Antisemitismus aussetzt, weil er letzten Endes eben doch einer fremden Rasse, einer fremden Nation angehört: Er erwiderte, die Feindseligkeit habe nicht mir gegolten, sondern meiner Abstammung, der Zugehörigkeit zu einem Fremdkörper innerhalb der Nation.107

Die Aufhebung dieser Aporie, die in dem Dualismus zwischen individuellem Phänotyp und Genotyp begründet ist, scheint dem Freund nicht möglich zu sein. Es kann höchstens zu einer ›äußerlichen‹ Überwindung der sichtbaren Grenzen kommen, wie sie sich seit der Emanzipation im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Was aber bestehen bleibt, so der Freund, ist eine tiefgreifende unüberbrückbare Fremdheit, die sich nur im ›Blut‹, also im äußerlich nicht Sichtbaren manifestiert: Jedes neue Jahrzehnt knüpfte festere Bande zwischen ihnen und uns. Äußerlich nur, zugegeben; solche des bürgerlichen Zusammenschlusses, wirtschaftliche, vaterländische sogar, in jedem Fall gesetzlich sanktionierte, vielfach auch in freiem Ermessen, schönem Vergessen, sittlicher Einsicht entstandene. Bedingungslos wurde die Beziehung, bedingungslos menschlich, nur gegen Ausnahmeindividuen. Woran liegt die Schuld? Ist es deshalb, weil sie sich trotz alledem als Juden zu bewahren suchten? Warum aber? Solange sie Geächtete waren, war es ihr Recht, ihre Pflicht, ihr Schutz, ihre Waffe, das Mittel zur Selbstachtung und Selbstaufrichtung, sich zu verschließen, an der engen Gemeinschaft zu bauen, eine halb imaginäre, halb schwärmerische und um desto süßere, verführerische, tragisch-erhöhende Volkheit zu pflegen. Doch nachdem ihnen die Wege zur Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. Ich sage nicht, daß sie hätten Christen werden sollen. Das haben viele getan, aus Utilitätsgründen, oder weil sie sich nicht mehr verkettet fühlten, oder auch aus Überzeugung. Die Frage ist nur, ob sie Christen werden können, anders als im oberflächlichen Sinn, wie es ja die Mehrzahl der Christen selbst ist. Die Frage ist, ob sie deshalb aufgehört haben, Juden zu sein und dies in einem tieferen Sinn; man weiß es nicht, man kann es nicht kontrollieren. Ich glaube an ein Weiterwirken der Einflüsse. Judentum ist wie ein intensives Färbemittel; die geringste Quantität reicht hin, um einer unvergleichlich größeren Masse seinen Charakter zu geben oder wenigstens Spuren davon. Nicht zu leugnen, daß sie, wieder in einem gewissen Sinn, Deutsche geworden sind. Aber es steht dem etwas entgegen. Was mag es sein? Ist es das eigentümliche Beharren der Seele oder der Sinne im Kontrast zur Flüssigkeit, Mobilität, Vielgesichtigkeit des Geistes? Es beweist und erklärt zu wenig. Macht der Tradition ist es nicht, oder nicht ausschließlich, oder nicht mehr. Tradition wird überwunden und jeweilig gemildert durch das Diktat des Lebens; bildet als Disziplin einen wohltätigen Damm gegen Maßlosigkeit und Individualisierungsgier, hütet als politische Maxime Scheunengut und bewahrt die Nation vor überstürzten Neuordnungen. Aber gerade die

107

Ebd.

3.1 Jakob Wassermann

125

Maßlosigkeit, gerade die Individualisierungsgier, gerade die Sucht nach Neuordnung muß man den Juden zum Vorwurf machen. Was ist es also?108

Gegen diese Argumentation des Freundes entwickelt Wassermann seine individualistische, aus der liberalen Leistungsethik entspringende Antwort, die »jenes Allgemeine«,109 das der Freund gegen die Juden vorbringt, forschungslogisch korrekt durch das Verfahren der Falsifikation umstoßen möchte, ihm aber gerade dadurch seine Bedeutung und Berechtigung belässt, weil er es für ›überwindbar‹, also generell vorhanden bezeichnet: Ich antwortete ihm, seine Gefahr und sein Unrecht läge in der Verallgemeinerung. Es gäbe solche und solche Juden. Alle Gesamturteile seien schief und führten zur Vergewaltigung, zur Verzerrung, zur Ausnützung im Dienste von Parteiinteressen. Warum nicht menschlich den Menschen sehen, nur den Menschen? Oft rufe man durch Mäkeln erst die Fehler hervor, und in der Wiederholung entstehe die Übertreibung.110

In dem erwähnten zweiten Gespräch, das Wassermann Jahre später mit dem Freund führt, antwortet er ihm, der seine Vorurteile noch immer pflegt, in ähnlicher Weise. Er erweitert seine Argumentation allerdings um eine Lösung des ›Induktionsproblems‹, wie es nämlich möglich ist, von einem konkreten Einzelfall zu einer generalisierenden Aussage zu gelangen. Er greift hierzu auf den an verschiedenen Stellen dieses Buches entwickelten, aber auch in zahlreichen anderen Schriften explizierten Geniegedanken zurück und sieht sich deshalb als Avantgarde einer zukünftigen allgemeinen Integration des Judentums in die deutsche Gesellschaft: Hat es ein Einzelner erreicht, so ist es überhaupt erreichbar. Ich bin nur scheinbar ein Einzelner, ich stehe für alle, ich bin Ausdruck eines bestimmten Zeitwillens, Geschlechterwillens, Schicksalswillens. In mir sind alle, auch die Widerstrebenden, ich schaffe Bahn für alle, ich räume die Lüge weg für alle, und daß ich da bin, ist Beweis. Die Ausnahme bestätigt nicht die Regel, sie bricht die Regel. Es ist immer ein erster Tropfen, der den Fels durchhöhlt.111

Dennoch gelingt Wassermann eine überzeugende Widerlegung der antisemitischen Argumentation des Freundes nicht, weil er keinen fundierten theoretischen Standpunkt entwickeln kann. Für ihn stellt sich der Antisemitismus »als individueller Konflikt mit der Gesellschaft«112 dar, der sich – wie das Zitat hier zeigt – auf das Vortrefflichste mit dem Wassermannschen Geniegedanken vereinbaren lässt. Was diese Argumentation nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass die Zuschreibung von ›Genie‹ immer Auslegungssache und daher keinesfalls an objektiven Merkmalen ablesbar ist. So zumindest könnte man die eigentümliche Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung im 108 109 110 111 112

Ebd., S. 51–53. Ebd., S. 49. Ebd., S. 53. Ebd., S. 96f. Elkar, Jakob Wassermann (wie Anm. 22), S. 299.

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Falle Wassermanns eben auch erklären, wenn man den Antisemitismusvorwurf, den der Autobiograph seinen Gegnern aus der literarischen Welt macht, einmal außer acht lässt. Auf der Basis der Argumentation Wassermanns ist die Überwindung des Antisemitismus aber durch individuelle Anstrengung und die produktive Leistung des ›Genies‹ möglich, was letztlich die Berechtigung des Vorwurfs impliziert, die Wassermann in seiner Kritik am Ostjudentum und an vermeintlichen spezifischen jüdischen Eigenschaften bestätigt, wie sie etwa der talentierte, aber nicht geniale Literat (nicht: Schriftsteller oder Dichter) Heinrich Heine113 oder die orthodoxen Wiener Juden verkörpern. Mit dieser Argumentation und der darin implizit enthaltenen Begründbarkeit (nicht: Begründetheit) antisemitischer Stereotypen und ihrer von der Mehrheit jederzeit widerrufbaren Überwindbarkeit fällt Wassermann weit hinter den Argumentationsstand zurück, den die Antworten auf die Vorwürfe Heinrich von Treitschkes im ›Berliner Antisemitismusstreit‹ erreicht hatten. Treitschke hatte mit ähnlichen Argumenten, wie sie Wassermann dem Basler Freund in den Mund legt, die Fremdheit der Juden gegenüber der deutschen Nation begründet und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierungskrisen des Kaiserreichs dem fremden Element des Judentums angelastet; als eine Folge dessen wurden dann in Deutschland Stimmen laut, vor allem im studentischen Milieu, die einen Widerruf der Emanzipation forderten.114 Treitschkes Opponenten hingegen hatten bereits damals grundsätzlicher argumentiert als Wassermann vierzig Jahre später und die Neutralität des Staates »in den Fragen der Religion, der Abstammung und der Herkunft« gefordert: Nur in einem solchen Staat hätten sie als gleichberechtigte Bürger überhaupt ungestört leben können. Daher polemisierten sie so heftig gegen Treitschkes germanischen und christlichen Staat, in dem sie Fremdlinge bleiben mußten.115

Für die Vertreter der folgenden Generation sind diese Auseinandersetzungen bereits zu Scheingefechten geworden. Sie, die mit den antisemitischen Vorurteilen und Stereotypen aufgewachsen sind, wissen um ihre ›Fremdheit‹ und akzeptieren das Judentum als determinierendes Moment ihrer Existenz. Die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit diesem Wissen, das freilich schon von den Erfahrungen des Nationalsozialismus mit seiner Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden geprägt ist, zeigen die folgenden Untersuchungen der Autobiographien Werner Krafts, Gershom Scholems, Max Fürsts und Ernst Tollers.

113 114 115

Vgl. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Anm. 26), S. 56–59. Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit (wie Anm. 10), Bd 3, S. 201–206. Beide Zitate: Boehlich, Nachwort (wie Kap. 2, Anm. 105), S. 252.

3.2 Werner Kraft

3.2

127

Werner Kraft

3.2.1 Die Aporie der Entelechie: Werner Kraft und die autobiographische Tradition Werner Krafts Autobiographie Spiegelung der Jugend ist 1973 im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienen, und bereits ihr Titel zeigt an, dass es sich hierbei um ein unzeitgemäßes Werk handelt, das mit den zeitgenössischen Theorien und der daraus resultierenden Praxis autobiographischen Schreibens nur wenig gemeinsam hat. Die resümierende Forschung, die sich mit der Autobiographie der Nachkriegszeit – genauer der siebziger und achtziger Jahre – beschäftigt, spricht zur Charakterisierung der autobiographischen Produktion jener Jahre sogar überwiegend von ›zerbrochenen Spiegeln‹ bzw. davon, dass den Autobiographen ›Im Spiegel ein anderer‹116 anblickt als der, der man selbst ist bzw. zu sein glaubt. Werner Kraft hingegen geht in seiner Autobiographie den entgegengesetzten Weg. Nicht Identitätsverlust und Zerstörung des autobiographischen Subjekts sind seine Themen, sondern das klassische und seit Dichtung und Wahrheit kanonische Programm der literarischen Selbstdarstellung, wie es Goethe, mit dessen Werk sich Kraft als Literaturwissenschaftler zeit seines Lebens immer wieder beschäftigt hat,117 im Vorwort seines Werkes aufgestellt hat (es sei hier noch einmal angeführt): Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.118

Das Unzeitgemäße dieser Autobiographie, das sich vorwiegend in der Abhängigkeit ihres Programms von demjenigen des Goetheschen Urbilds zeigen lässt, hat bereits ein Rezensent des Werkes erkannt und deshalb unter Zugrundelegung der Leitmetapher darin vorwiegend »›Spiegelung‹ – nämlich des Außen einer Kindheit und Jugend in Familie, Schule, Studien- und Freundeswelt und erster Berufserfahrung; und des Weltzustands jener Jahre«119 gesehen. Tatsächlich beschränkt sich Werner Kraft in seiner Autobiographie weitgehend auf die der Metapher von der ›Spiegelung‹ inhärente Außenperspekti116

117

118 119

Vgl. die Arbeiten von Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Kap. 1, Anm. 9) und Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Kap. 1, Anm. 4). – Vgl. dazu auch die Ausführungen im einleitenden Forschungsbericht dieser Arbeit. Eine Sammlung der von Kraft über Goethe publizierten Arbeiten enthält der Band Werner Kraft: Goethe: wiederholte Spiegelungen aus fünf Jahrzehnten. München: Edition Text u. Kritik 1986. Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Kap. 1, Anm. 63), S. 11. Rudolf Lennert: Werner Kraft: Spiegelung der Jugend [Rezension]. In: Neue deutsche Hefte 20 (1973), S. 186.

128

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

ve. Er stellt sein autobiographisches Schreiben damit in die Tradition des ›deutschen Geistes‹ und seines von Goethe geprägten Autobiographiemodells. Mit seiner Berufung auf eines der Leitgestirne der deutschen Kultur bekennt er sich eindeutig zu seiner Verwurzelung in dieser Kultur und Geisteswelt, die für diese Generation deutscher Juden oder jüdischer Deutscher – zumindest sofern sie im weitesten Sinne dem Bürgertum zugehörig waren – charakteristisch ist. Das deutsche Autobiographiemodell ist etwa dem französischen, von JeanJacques Rousseau in seinen Bekenntnissen entworfenen und in Deutschland nur wenig später von Karl Philipp Moritz in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser virtuos adaptierten Modell einer kausalpsychologisch motivierten detaillierten Darstellung innerer Vorgänge und Deutung jeglichen äußeren Handelns in der Welt aus diesen inneren Beweggründen entgegengesetzt.120 Dies stellt auch Rudolf Lennert in seiner Rezension fest, in der er der Autobiographie Krafts zwar einen hohen allgemeinen historischen Erkenntniswert zubilligt, darin aber wenig über die Befindlichkeit des Individuums Werner Kraft findet: Fast in allem, was Kraft geschrieben hat, steckt mehr »innere Autobiographie« als in diesen Erinnerungen. Aber sie geben aus der Sicht eines »dezidierten Einzelnen« ein wie wenige andere intensives Bild von 30 deutschen Jahren in ihrem Glanz und ihrem Elend.121

Inwieweit diese allgemeinen Vorüberlegungen dem autobiographischen Schreiben Werner Krafts gerecht werden, soll eine eingehende Darstellung seiner theoretischen Einlassungen zum Problem der Autobiographie sowie die anschließende Interpretation seiner Autobiographie Spiegelung der Jugend zeigen. In seiner Dankesrede »Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie«,122 die er auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa im Jahr 1971 vorgetragen hat, finden sich einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema. Hier setzt Kraft Autobiographie und Biographie in eins. Er folgt damit sowohl dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit, die zwischen diesen beiden Gattungen noch nicht differenziert hat,123 als auch der Fragestellung der Tagung, deren Ziel es gewe120

121 122

123

Zur Entgegensetzung von Goethe und Rousseau, von Innen- und Außenperspektive in der Autobiographie und den daran sich anschließenden Diskussionen über die möglichen Leistungen der Autobiographie vgl. Wuthenow, Das erinnerte Ich (wie Kap. 1, Anm. 48), S. 62–72. Lennert, Werner Kraft: Spiegelung der Jugend (wie Anm. 119), S. 189. Vgl. Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 70–78. – Die Rede Krafts ist zugleich ein Diskussionsbeitrag zum Thema der Tagung. Vgl. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Kap. 1, Anm. 26), S. 22f. und S. 41–56.

3.2 Werner Kraft

129

sen ist, die durch die Konjunktion im Titel eindeutig als existent vorausgesetzten Gemeinsamkeiten zu erkennen. Seine »Überlegungen« werden ergänzt durch die Gedanken, die er in seinem Aufsatz über Goethes »Biographische Einzelnheiten«124 in der Süddeutschen Zeitung 1970 veröffentlicht hat. Alle diese Äußerungen verbleiben streng im Paradigma der Goetheschen Autobiographiekonzeption, die sich durch die beiden Schlagworte Teleologie und Entelechie kennzeichnen lässt. Zunächst einmal ist Kraft geneigt, mit Goethe zuzugeben: »Die Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen.«125 Damit ist sowohl das eigene autobiographische Vorhaben durch das Wohlwollen des Olympiers legitimiert, das dieser auch inferioren Autobiographen entgegenzubringen gewillt war, als auch in gebührender Bescheidenheit von demjenigen Goethes, das sich Kraft, wie bereits gezeigt, zum Vorbild der eigenen Selbstdarstellung erkoren hat, als gegenüber diesem inferiores Werk abgesetzt. Diese Hochschätzung der Autobiographie hindert ihn jedoch nicht daran, die grundlegenden Schwierigkeiten und Probleme bei der Darstellung eines gelebten Lebens anzuerkennen und zu analysieren, die Biographie und Autobiographie in gleichem Maße betreffen: [D]ie Vorzüge mögen sichtbar geworden sein, verschwiegen werden die Grenzen, die Mängel, die Lücken. Aber dem, den sie betreffen, sind sie fühlbar. Wie man darüber hinauskommen will, wie es gelingt und dann wieder mißlingt, wie man doch weiter will und sogar muß, wie man sich selbst nicht entfliehen kann, um mit Goethe zu sprechen, das könnte schon im weitesten Sinne der eigentliche Inhalt eines Menschenlebens sein, einer Biographie, wenn sie von anderen geschrieben wird, einer Autobiographie, wenn der Betroffene sie selbst schreibt, mit schroffer Einseitigkeit oft, aber auch mit einer gewissen erhöhten Kompetenz gegenüber dem Biographen, denn er ist beteiligt, er ist als Hauptzeuge dabeigewesen, er weiß genau, wie es gewesen ist, und bezeugt eben das, was dem Historiker trotz aller Häufung der Dokumente nur in Ausnahmefällen gelingt, wie Justi in seinem Winckelmann oder Dilthey in seinem Schleiermacher.126

Die Teleologie und Entelechie eines Lebens darzustellen und dem Leser plausibel zu machen, sich nicht in den vielen kontingenten Details eines Lebens zu verlieren, zählt für Kraft hier also zur ›Hauptaufgabe der Biographie‹, und diese ist für den Fremd- wie für den Selbstbiographen in gleicher Weise schwierig und zumeist nicht für das ganze Leben realisierbar. Für den Biogra124 125

126

Vgl. Kraft, Goethe: wiederholte Spiegelungen aus fünf Jahrzehnten (wie Anm. 117), S. 130–139. Ebd., S. 130. – Kraft zitiert hier aus Goethes »Bedeutung des Individuellen« (vgl. Johann Wolfgang Goethe: Bedeutung des Individuellen. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert. Bd 9, S. 935f. [Text] und S. 1411f. [Kommentar], hier S. 935). Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 70.

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phen eines fremden Lebens, dem sein Gegenstand im allgemeinen in abgeschlossener Form vorliegt, weil die Biographie zumeist post mortem verfasst wird, liegt die Schwierigkeit zumeist in der Fülle der Details, die über das darzustellende Leben bekannt sind, und in der je individuellen Beschränktheit der Perspektive des Biographen begründet, wie Kraft am Beispiel der von Verehrern und Verächtern Goethes verfassten Biographien zeigt: [E]s gibt über Goethe keine Einheit des Urteils, es muß unendlich schwer sein, eine völlig befriedigende Biographie Goethes zu schreiben. Wir wissen einfach zuviel von seinem Leben und immer noch zu wenig von seinen Werken, und vielleicht wissen wir sogar zu wenig von dem Wesentlichen seines Lebens. Gewiß, es gibt große Durchblicke, wir glauben ganz nah zu sein, dann schließt sich der Vorhang, wir wissen nichts, wir sind als Augen- und Ohrenzeugen für immer ausgeschlossen. Die Wirklichkeit ist durch Briefe und Gespräche nur bedingt rekonstruierbar.127

Für den Selbstbiographen, der eben sein eigenes, zwangsläufig noch unvollendetes Leben zum Gegenstand der Darstellung gewählt hat, bestehen die Schwierigkeiten darin, einen Überblick über das noch Unvollendete zu gewinnen und einen sinnvollen Schlusspunkt in der Darstellung zu finden. Deshalb wird der Zeitpunkt der Abfassung einer Autobiographie zumeist weit hinausgezögert, in die Nähe des vom autobiographischen Subjekt vermuteten Lebensendes, um den Bogen der eigenen Lebensdeutung möglichst weit spannen zu können und um eine gewisse Deutungshoheit über diesen Lebensbogen zumindest zu beanspruchen, häufig sogar über die eigene psychische Existenz hinaus tatsächlich zu behalten.128 Dennoch stellt sich dem Autobiographen die Frage der Konstruktion einer sinnvollen Zäsur, einem befriedigenden Ende der eigenen Autobiographie, das ja nicht – wie in der zumeist posthumen Biographie – der eigene Tod sein kann.129 Mit Goethe stellt Kraft, der hierzu auf die eigene autobiographische Erfahrung zurückgreifen kann, die Begrenzung der Darstellung auf die Jugendjahre als eine sinnvolle, in sich abgeschlossene, die ›Bedeutung‹ eines Lebens stiftende Epoche fest: Aber schon während des Schreibens stellte sich als zwingend die Begrenzung ein, daß ich über meine Jugend nicht hinausgehen würde, daß ich zwar die formierenden Kräfte darstellen könnte, die meinen Charakter und die besondere Ordnung meines 127 128

129

Ebd., S. 75. Dass der Lebensbogen zumeist dann nur die Kindheit und Jugend sowie summarische Ausblicke oder exemplarisch bedeutsam gedachte Episoden des weiteren Lebens umfasst – so etwa bei Goethe, der neben der Kindheits- und Jugendgeschichte in Dichtung und Wahrheit seine Italienische Reise sowie die Kampagne in Frankreich für mitteilenswert erachtet –, ist zumeist wohl eher nachlassender Schöpfungskraft, Krankheit oder Tod als dem Verzicht auf die genannte Deutungshoheit zuzuschreiben. Zum Problem des Abschlusses von Autobiographien als formkonstitutives Merkmal derselben vgl. den Beitrag von Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Niggl (Hg.), Die Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 17), S. 170–199.

3.2 Werner Kraft

131

Lebens entwickelt haben, daß aber diese Ordnung selbst als ein unabschließbarer Prozeß meiner Darstellung entzogen sei. Vielleicht auch wäre diese Ordnung, so scheint es mir, in ihrer Bedeutung vorausgesetzt und nur im Wege einer gewissen Selbstüberhöhung darstellbar.130

Die Erfassung und Darstellung der ›Bedeutung‹ eines Lebens, über deren Charakter als nachträgliche Konstruktion er sich – wie das soeben Zitierte gezeigt hat – sehr wohl bewusst ist, stellt für Kraft das höchste Ziel einer (Auto-) Biographie dar, und es besteht Kraft zufolge hauptsächlich in der Eliminierung derjenigen Kontingenzen, die nahezu jedes Leben zu überwuchern drohen und auf diese Weise sein ›Exemplarisches‹ vernichten. Mit Dilthey, der der (Auto-) Biographie den höchsten Erkenntniswert zubilligt, weil sie den höchsten Ausdruck historischen (Selbst-) Verstehens darstellt, und gegen Misch, der der (Selbst-) Biographie den Vorwurf der ›Geschichtsverfälschung‹ unter den zum Zeitpunkt der Abfassung vorherrschenden Ideen macht, behauptet Kraft den Erkenntniswert der (Auto-) Biographie gegen die Praxis ihrer gegenwärtigen Verfasser: Es mag wenige Biographien geben, die diesem Ideal gerecht werden. Wo es gelingt, ist der Maßstab der Geschichte für den Dargestellten und die Darstellung unerschüttert. Darum wächst vielleicht im Zeitalter des zersetzten Geschichtsbewußtseins die Zahl der Biographien, wie die Zahl der Bücher überhaupt wächst und nicht einmal vorweg nur der schlechten, aber das Exemplarische fehlt, der Strom des Vergessens wird reißend und schlingt alles, Darstellung und Dargestellten, nach kurzer Zeit wieder ein, die Lebensumstände werden weniger wichtig, die Werke sprechen an, aber die Ohren sind schon anderswohin gerichtet, der Nächste wartet.131 130 131

Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 71. Ebd., S. 74. – Kursivierung im Original. – In diesem Befund trifft sich Kraft mit der früheren zeitkritischen Diagnose Rudolf Borchardts, der in seiner 1966 erstmals in Buchform veröffentlichten, 1927/28 entstandenen und sogleich in der Unterhaltungsbeilage der »Münchner Neueste[n] Nachrichten« veröffentlichten Autobiographie seiner frühen Kindheitsjahre folgendes Urteil über den gegenwärtigen Stand der (Auto-) Biographik fällt: »Die Biographie erlebt keine guten Zeiten während wir diese Zeilen schreiben, und hat sich gegen mancherlei Widerwillen und Leugnung zu verteidigen; die Unwahrhaftigkeit und unbewußte Heuchelei zweier Generationen von Biographen und Autobiographen nimmt den Beschreibungen von Lebensläufen im öffentlichen Interesse den Reiz der ihnen früher gehörte: man ist schon beim Aufschlagen dieser Bücher so gewiß, das Wirkliche verschwiegen zu finden, daß nur die Freude am Banalen, zu dem auch das Gemeine und Schadenfrohe gehören, dieser Gattung Leser einer geringen Klasse erhält. Die Literatur, seit den gleichen beiden Generationen im wesentlichen in Händen von Literaten die aus alten Büchern neue machen, hat sich eine Theorie erfunden, um ihren Mangel an Kraft des Erlebnisses zu einer Tugend von der Unbrauchbarkeit und Leere des Erlebnisses zu machen; und schließlich ist es die Wissenschaft, die geschichtliche in erster Linie, die ihren Strom im Winkel von der Biographie abgekehrt hat, man kann kaum mehr ein Buch öffnen, das eine geistige Person zum Ge-

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Um die Bedeutung eines Lebens rein und unverfälscht als Spiegel der geschichtlichen Epoche, in der es stattgefunden hat, darzustellen, bedarf es – Kraft zufolge – dichterischer Kompetenz, deren Definition wohl den im ersten Kapitel benannten Grundlagen der idealistischen Ästhetik gehorchen dürfte und die sich von der Arbeitsweise des Historikers unterscheidet. Diese ist zur Zeit der Abfassung von Krafts Text, die durch das Aufkommen des Strukturalismus geprägt ist, vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich zunehmend von der Betrachtung der Handlungsweise einzelner bedeutender Persönlichkeiten löst und statt dessen die Relevanz von Strukturen und Prozessen betont, die das Handeln des historischen Individuums determinieren. Auf der Grundlage der dichterischen Kompetenz kann daher die ›Bedeutung‹ eines einzelnen Lebens klarer hervortreten, weil es eben nicht in allen, letztlich kontingenten und fremdbestimmten Verwicklungen und Verästelungen dargestellt wird, sondern – wie der Fall Goethes zeigt – lediglich seine »symbolische Bedeutung«132 entfaltet wird: Daher dann der Titel »Dichtung und Wahrheit«, und nicht umgekehrt. Der endgültige Titel besagt auch, daß die Wahrheit zwar ausgesprochen, aber durch das Gebot der Dichtung verwandelt wird, so daß vorausgenommen in der Jugend die Bedeutung desselben Dichters offenbar werde, der an dem Faust und an dem Wilhelm Meister sein ganzes Leben lang gearbeitet hat.133

Für Kraft, der seine »Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie« auf Künstler und Literaten beschränkt, offenbart sich – das ist der Hintergrund seiner Darlegungen – die ›Bedeutung‹ eines Lebens sowieso zunächst in den Werken, die ein Künstler oder Autor in seinem Leben hervorbringt, und nicht in den historischen Überrestquellen, in denen sich nur die Kontingenz des Lebens spiegelt und die nur zu oft die ›Einheit des Urteils‹ bei der Nachwelt gefährden, weil sie sich in den Nebensächlichkeiten des ›äußeren‹ Lebens verlieren: Das wirkliche Leben geht in die Werke ein, wird zu Tasso, Klärchen oder Gretchen, löst sich aber nicht in ihnen auf, sondern führt ein Eigenleben, das von der dichterischen Figur abzulösen überaus schwierig ist. Ich möchte so weit gehen, zu sagen, daß wir aus Walter Benjamins Aufsatz über die Wahlverwandtschaften Rechtmäßiges über Goethes Leben erfahren, gerade weil ihm das Werk über der Biographie steht.134

132 133 134

genstande hat, ohne der streitenden Verwahrung zu begegnen, daß die Betrachtung natürlich von den biographischen Momenten absehen werde, und sich ausschließlich auf das vermeintliche Werk und das vermeintliche Wesen einrichte.« (Rudolf Borchardt: Rudolf Borchardts Leben: von ihm selbst erzählt. Mit einem Nachwort von Gustav Seibt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 [Bibliothek Suhrkamp; 1350], S. 7). Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 71. Ebd., S. 72. Ebd., S. 75.

3.2 Werner Kraft

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Aus der »Iphigenie«, aus dem »Wilhelm Meister«, aus dem »Faust« müssen wir den Menschen Goethe aufbauen, aus dem Charakter des Werkes, aus der Ethopoesie, von der das Altertum im Zusammenhang mit Sophokles gesprochen hat, und bleibt ein Rest, so bleibe er, verhüllt.135

Deshalb auch ist Goethes Dichtung und Wahrheit mehr Dichtung als Wahrheit, gebührt der Dichtung der Vorrang vor der Wahrheit der Prosa des eigenen Lebens, die in ihrer Kontingenz nicht in der Lage ist, der ›Bedeutung‹ des Dichterlebens, die sich eben in Form und Gedanken der Werke spiegelt, gerecht zu werden. Nur insofern die Autobiographie zum dichterischen Werk gehört, vermag sie etwas über die ›Bedeutung‹ des Lebens auszusagen, das über die Wahrheit der letztlich kontingenten Fakten hinausreicht. Diese das Leben nicht weniger als die nachträglich konstruierte ›Bedeutung‹ bestimmenden Kontingenzen sind auch Goethe nicht verborgen geblieben, wie Kraft in seinem Aufsatz über die »Biographische[n] Einzelnheiten« zeigt.136 Die kleineren autobiographischen Aufzeichnungen Goethes, die unter diesem Titel in der von Ernst Beutler besorgten ›Artemis-Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Goethes‹ zusammengestellt sind, zeugen von dieser Einsicht: In einer Aufzeichnung zu »Dichtung und Wahrheit« spricht Goethe von »niederträchtigen Necrologen«. Das bedeutet, daß er von dem individuellen Leben der Menschen die genaueste Erfahrung hatte, daß es nur bedingt eine feststellbare Einheit ist, die rechtmäßig in einen Nekrolog einginge, daß dieser notwendigerweise lügen muß, damit er überhaupt etwas sagen kann. [...] Von solcher Einsicht sind die »Biographischen Einzelnheiten« voll. Darum sind sie nicht nur eine Ergänzung von »Dichtung und Wahrheit«, sondern sie behaupten sich auch neben dieser gestalteten Selbstbiographie. Was Goethe ihr an sinnvoller Einheit mit Kunst gegeben hat, hier dröselt er es wieder auf, in Einzelheiten, die kaum als Stützpunkte für eine Darstellung seines ganzen Lebens gedacht waren.137

Mit diesen Überlegungen, die Werner Kraft als Postulat auch an die moderne Biographie und Autobiographie herangetragen hat, verbleibt er in dem von Goethe gestifteten Paradigma (auto-) biographischer (Selbst-) Darstellung. Dennoch hat er die aus der Problematik der Moderne resultierenden Fragestel135 136

137

Kraft, Goethe: wiederholte Spiegelungen aus fünf Jahrzehnten (wie Anm. 117), S. 135. Dass diese Kontingenzerfahrung auch bereits – wenn auch in deutlich gebändigter und zurückgestauter Form – in Dichtung und Wahrheit eingeflossen ist, hat die moderne Autobiographieforschung erkannt. – Vgl. hierzu den Forschungsbericht im ersten Kapitel dieser Arbeit. Kraft, Goethe: wiederholte Spiegelungen aus fünf Jahrzehnten (wie Anm. 117), S. 130. – Zu Krafts philologisch unorthodoxem Herangehen an diese aus verschiedenen Zeiten stammenden Aufzeichnungen Goethes, die hier als eine Einheit interpretiert werden, vgl. Jörg Drews: Der »große Goethe« und seine Lücken: Notizen zu Werner Krafts Goethe-Lektüre. In: Werner Kraft 1895–1991. Mit Briefen, Gedichten und Prosatexten sowie Auszügen aus seinen Tagebüchern. Bearbeitet von Jörg Drews. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1996 (Marbacher Magazin; 75/1996), S. 133.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

lungen und Darstellungsformen natürlich rezipiert. Mit Walter Benjamin etwa, der in seinem »Erzähler«-Aufsatz in Anlehnung an Georg Lukács’ Theorie des Romans über die Unmöglichkeit des Erzählens unter den Bedingungen der Moderne, über den Verlust mitteilbarer Erfahrungen geschrieben hat, war Werner Kraft seit seinem Studienaufenthalt in Berlin 1914/15 bis 1921, aber auch später, 1933/34 im gemeinsamen Pariser Exil, eng befreundet und stand mit ihm in regem intellektuellem Austausch.138 Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er dessen Theorien,139 aber auch die sich daran in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren entzündenden Diskussionen um den ›Tod des Erzählers‹, die poststrukturalistische Theorieansätze auf die Literaturwissenschaft übertragen und damit die Position des Autors, aber auch diejenige des auktorialen Erzählers grundlegend in Frage gestellt haben, nicht rezipiert hat. 138

139

Den Bruch dieser Freundschaft führte schließlich eine Kontroverse um die Priorität der Entdeckung des Rigaer Universalgelehrten und Sprachkritikers Carl Gustav Jochmann herbei, die sich an einer Publikation Benjamins in der von Horkheimer und Adorno herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung im Jahr 1938 über Jochmann entzündete. Benjamin war Kraft, dessen Jochmann-Buch erst 1972 erscheinen konnte, mit dieser Publikation zuvorgekommen. – Vgl. Werner H. Preuß: Literarische Freundschaftsbriefe von Werner Kraft an Hubert Breitenbach. In: Drews (Bearb.), Werner Kraft 1895–1991 (wie Anm. 137), S. 87–105, und Markus Malo: Sprachkritik und (k)ein Ende (?): zur Ausgabe von Jochmanns Gesammelten Schriften. In: Scientia Poetica 5 (2001), S. 122–142. – Beide Aufsätze enthalten weiterführende Literaturangaben. Auf eine solche Rezeption verweist der frühe, einzige Roman Werner Krafts, Der Wirrwarr, den dieser in den Jahren 1939/40 in Jerusalem niedergeschrieben hat und der erst 1960 bei S. Fischer veröffentlicht worden ist. Ernst Simon schreibt in einem Beitrag zum 70. Geburtstag Werner Krafts über dessen Roman mit besonderer Betonung der in diesem Roman verwendeten Elemente des modernen Erzählens: »Wie auch andere moderne Prosaisten verzichtet Kraft auf die Pose des allwissenden Erzählers, der, wie ein kleiner Gott seiner Welt, die Geschichte der Gestalten an unsichtbaren, festen Schnüren bewegt und ihre seelischen oder triebhaften Motive, die wirklichen und die scheinbaren, ironisch durchschaut, dem gelehrigen Leser mitunter leutselig zuzwinkernd. Die Zeit für solche epische Souveränität scheint – vorläufig wenigstens – vorüber zu sein: sie setzte, selbst bei atheistischen Verfassern, den Glauben an die relative Durchschaubarkeit des erzählten Stückes Wirklichkeit voraus. Heute hat gerade der (undogmatisch) gläubige Dichter, wie Kraft einer ist, diesen Glauben nicht mehr parat. Gott ist nicht tot, aber seine Schöpfung ist in heil-lose Unordnung geraten, ins Stadium der Negativität, eben in den »Wirrwarr«. So entwickelt sich nichts mehr in scheinbar historischer Zeitfolge oder in noch scheinbarer soziologischer Gesetzmäßigkeit: alles geschieht sozusagen gleichzeitig und anarchisch. Man kann den Knoten nicht mehr fein säuberlich in seine Fäden auseinanderspulen; auch besitzt niemand das Zauberschwert, ihn zu durchhauen, und wer mitten in ihn hineinspringt, verstrickt sich zunächst noch unentwirrbarer.« (Ernst Simon: Das Ja aus dem Nein: Werner Kraft zum 70. Geburtstag. In: Ders.: Entscheidung zum Judentum: Essays und Vorträge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 [Bibliothek Suhrkamp; 641], S. 288f.)

3.2 Werner Kraft

135

Tatsächlich finden sich in den »Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie« Krafts Reflexionen und Beobachtungen, die sich auf diese Diskussionen beziehen lassen, wenn auch nicht affirmativ, sondern in kritischer Auseinandersetzung. Das Hauptaugenmerk Krafts gilt aber in diesen Zeilen nicht den zuletzt genannten Theorieansätzen, die sich zwar ebenfalls mit dem Funktionieren der Sprache, vor allem mit ihren verborgenen Tiefenstrukturen, auseinandersetzen, sondern dem Phänomen der ›Sprachkrise‹ der Wiener Moderne. Hugo von Hofmannsthal hat sie in seinem ›Chandos-Brief‹ eloquent dargestellt und – im Gegensatz zu den Theorien der Poststrukturalisten, aber auch denen Georg Lukács’ und Walter Benjamins – als Diagnose einer zeitbedingten Symptomatik letztlich auch als durch die Zeit heilbar beschrieben: Die letzten siebzig Jahre zeigen eine überaus reiche Entwicklung der Literatur in der Welt und auch in Deutschland trotz der entsetzlichen Zäsur von 1933 bis 1945, mit allen ihren Folgen. Aber überall wird, und oft in großen Figuren, das Bestreben deutlich, das Fundament zu erschüttern, auf dem man steht. Man zweifelt an allem und vor allem an der Sprache, [...]. Man zweifelt selbst an der Muttersprache [...]. Man zweifelt auch an dem Individuum. Dieser Zweifel wirkt auch auf die heutige Autobiographie ein.140

In diesen wenigen Zeilen werden in sehr summarischer Form die Zweifel der Moderne an der literarischen Tradition zusammengefasst141 – und trotz aller Anerkennung der erkenntnisleitenden Zweifel letztlich zurückgewiesen. Dominantes Prinzip der Kraftschen Überwindung des Zweifels und der Verzweiflung an der Moderne ist ein nicht näher ausgeführtes, aber wohl an Ernst Bloch angelehntes, Prinzip Hoffnung, auf das er sowohl in seiner Erörterung des Phänomens der ›Sprachkrise‹142 als auch in seinen ›Überlegungen zur Autobiographie‹ sowie in seiner Spiegelung der Jugend selbst verweist:

140 141

142

Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 77. Eine ausführliche Diskussion des Phänomens der ›Sprachkrise‹ findet sich in einer Rede, die Werner Kraft anlässlich der Verleihung des Freiburger Ehrendoktorats 1977 gehalten hat. – Die Rede mit dem Titel »Muttersprache und Sprachkrise« ist wiederabgedruckt in dem Sammelband: Werner Kraft: Herz und Geist: gesammelte Aufsätze zur deutschen Literatur. Wien, Köln: Böhlau 1986 (Literatur und Leben: Neue Folge; 35), S. 22–34. Vgl. ebd., S. 34: »Niemand weiß, was werden wird. Es könnte sein, daß wir vor der Sintflut stehen. Möge aber in der Arche getrost leidenschaftlich über die Sprachkrise diskutiert werden, wenn nur dabei die Sprache nicht vergessen wird, die Muttersprache! Wir müssen durch.« – Grundlage dieser Hoffnung ist die höchst eloquente und stilsichere Form der Diskussionen um die ›Sprachkrise‹, wie sie seit Hugo von Hofmannsthals »Ein Brief« geführt wird und die Werner Kraft in diesem Aufsatz kenntnisreich nachzeichnet.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Die Wüste des Todes mit dem Wasser des Lebens zu durchtränken, das ist das Ziel, dem alles sittliche Bemühen des Geistes gilt. Ich heiße uns hoffen.143

In diesen letzten Sätzen der Autobiographie fällt – zum wiederholten Male in diesem Text – ein Zentralbegriff des Kraftschen Denkens, der für ihn auch zur Rettung der Biographie vor dem Undarstellbaren des Lebens, seinen die ›Bedeutung‹ überlagernden Zufälligkeiten, beiträgt: ›Geist‹. Aus ihm, aus den Gedanken und Werken eines Individuums, in denen sich die Epoche spiegelt, lässt sich seine Biographie eher rekonstruieren als aus den kontingenten Details seines äußeren Lebens, die den historischen Verwerfungen seiner Lebenszeit geschuldet sind, über die sich allein der ›Geist‹ zu erheben vermag.144 Dies illustriert Kraft neben einem pauschalen Rückgriff auf Borchardts Deutung der Antike und ihrer anonymen Überlieferungstradition145 mit der »biographische[n] Leere, aus der Shakespeares Werke entstanden sind«,146 und mit der Shakespeare-Deutung von Borges, der Leben und Werk des englischen Dichters kategorisch trennt und keinen Zusammenhang der äußeren Lebensumstände mit dem literarischen Werk anerkennt. In derselben Weise deutet Borges auch seine eigene Existenz, die zerfällt in die biographisch kontingente des Bibliotheksdirektors sowie in diejenige des Autors mit seinem Werk, in dem sich die Person Borges nicht mehr wiedererkennt, weil es sich eben nicht aus dem Leben, sondern nur aus der Lektüre und dem ›Geist‹ ableiten lässt:147 143 144

145 146 147

Werner Kraft: Spiegelung der Jugend. Mit einem Nachwort von Jörg Drews. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (Bibliothek Suhrkamp; 356), S. 154. Der Gedanke an Hegel und sein Programm einer Phänomenologie des Geistes steht sicherlich auch im Hintergrund von Krafts Autobiographiekonzeption. Dies belegt auch die Kraftsche Interpretation des ›Geistes‹ der Hegelschen Phänomenologie in seinem Aufsatz »Herz und Geist«: »Dieser ›Geist‹ wirkt sich mit Gesetzes Kraft aus in allen überindividuellen Verhältnissen von Familie, Volk und Vaterland.« (Kraft, Herz und Geist [wie Anm. 141], S. 7). Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 75f. Ebd., S. 77. Heinz Schlaffer: Borges. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1993 (Fischer Taschenbuch; 11709), S. 119 schreibt in seiner zusammenfassenden Einleitung des Kapitels über das autobiographische Element im Werk des Argentiniers: »Literatur ist ein Komplex von Büchern, die zwar von lebendigen Schriftstellern geschrieben werden, aber nach dieser Niederschrift weiterleben, auch wenn ihre Autoren fern, unbekannt oder tot sind. Borges hat in dieser Grundbedingung aller Literatur geradezu eine Analogie zum metaphysischen Konzept einer ideellen Ewigkeit sehen wollen. Da er eine so noble Ähnlichkeit zwischen Literatur und Ewigkeit, die beide den Banalitäten des Alltags entrückt sind, zu erkennen glaubte, war er gerne dazu bereit, seine Existenz als zufällig und unbedeutend hinter den fremden Werken, die er las, und den eigenen, die er schrieb, verschwinden zu lassen. Lesen und Schreiben sollten die einzigen, weil notwendigen Berührungspunkte zwischen Leben und Literatur sein. Von einem Schriftsteller darf man rechtens demnach Auskünfte nur über seine Lektüre und seine Produktion erwarten, nicht aber über Liebesaffären oder Steckenpferde.«

3.2 Werner Kraft

137

Der Mensch und der Schriftsteller werden als getrennte Wesen erlebt, und zwar so, daß der Mensch sich von dem Schriftsteller ausbeuten läßt, ohne daß er die Kraft hätte, sich zur Wehr zu setzen.148

Dennoch geht Kraft in seiner Autobiographie einen anderen Weg als etwa Borges in seinen biographischen und autobiographischen Aufzeichnungen. Für ihn, Werner Kraft, steht nicht der Identitätsverlust des Subjekts, das Verschwinden des Autors hinter seinem Werk, im Zentrum, sondern vielmehr die Objektivierung des ›Geistes‹ einer Epoche in einem Individuum, das in seiner Epoche lebt und die prägenden Ereignisse und Einflüsse dieser Epoche aufnimmt und verarbeitet – nicht zuletzt in seiner Autobiographie, die als niedergeschriebene und veröffentlichte eben auch zum literarischen Werk gehört. Als ein solches, in eine literarische Form gefasstes Zeugnis einer Epoche hat die Autobiographie ihren Wert, gewinnt das eigene Leben eine exemplarische ›Bedeutung‹, die seine Niederschrift und Veröffentlichung rechtfertigt. Von den Verwerfungen, die Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust jedoch für Krafts an Goethe und Hegel orientierte Autobiographiekonzeption bedeuten, war bislang noch nicht die Rede. Tatsächlich gelingt es Kraft nicht, die Epoche des Nationalsozialismus in seine Darstellung des eigenen Lebens und seine Konzeption der Autobiographie zu integrieren. Sowohl die Möglichkeit der Objektivierung des ›Geistes‹ einer Epoche im (jüdischen) Subjekt als auch die entelechische und teleologische Entwicklung dieses Subjekts aus sich selbst heraus, im Einklang mit den Zeitverhältnissen und dem ›Geist‹ der Epoche, sind mit dem Ausbruch der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland an ihr Ende gekommen. Ohne daraus für sein eigenes autobiographisches Schreiben die Konsequenzen zu ziehen und seine damit ›historisch‹ gewordene Autobiographiekonzeption an die gewandelten Verhältnisse anzupassen, kann er nur noch die theoretische Unmöglichkeit einer affirmativen Haltung zur literarischen Tradition anerkennen. Die Darstellung des eigenen Lebens im Rahmen dieser Tradition gelingt ihm nur, weil er nicht gezwungen ist, sie über das Jahr der Machtergreifung hinauszuführen, sondern weil er seine die ›Bedeutung‹ seines Lebens gebende und konstituierende Kindheits- und Jugendgeschichte an ihr (gewaltsames) Ende bringen kann: Die Zweiteilung des Lebens als Problem der Darstellbarkeit scheint mir zu dem Wesen der Autobiographie zu gehören. Wenn ich noch einmal auf mein eigenes Leben zurückkommen darf, so wird diese Zweiteilung ausgedrückt durch das Jahr des Verhängnisses, durch das Jahr 1933, in dem ungefähr meine Jugend zuendeging und ein Leben mit normalem Glück und normalem Unglück hätte beginnen können. Es begann aber das wahrhaft Andere, mit unnormalem Leben und Überleben, mit unnormalem Sterben und allen ungeheuerlichen Folgen für die Juden und für die Deutschen und für die Welt als ganze, auf deren Fortbestand unser aller fragende Sorge gerichtet ist. Die Aussichten, diesem fallenden Weltzustand mit seinen sich auflösenden Individuen autobiographisch gerecht zu werden, sind auf ein Minimum ein148

Kraft, Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie (wie Kap. 2, Anm. 44), S. 78.

138

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

geschränkt, immer vorausgesetzt, daß es sich um echte Autobiographien handelt und nicht um noch so sympathische Ersatzformen, an denen kein Mangel ist. Auch nicht an Ersatzformen von Biographien.149

Seine diesbezüglichen, auch in den ›Überlegungen‹ zum Ausdruck gebrachten Hoffnungen auf eine Erneuerung der (Auto-) Biographie verbleiben im Dunkeln und können nicht überzeugen, weil sie nicht auf das Aushalten, sondern auf das Überwinden dieses ›fallenden Weltzustands‹ ausgerichtet sind – mithin weil sie utopischen und nicht realistischen Charakter besitzen: Vielleicht, ich gehe noch weiter, könnten Werke entstehen, die sich einer sinnvoll geordneten Welt zur Verfügung stellen. Ich wiederhole meinen Dank und schließe mit dem Wort –: Hoffnung.150

3.2.2 Spiegelung der Jugend Werner Krafts Autobiographie ist konventionell erzählt, d. h. ohne formale Experimente, die zu einer Erweiterung der traditionell definierten Gattungsgrenzen der Autobiographie zwingen. Sie folgt einer ›relativen Chronologie‹ und erzählt in äußerster Verdichtung, überwiegend mit kurzen aneinandergereihten Hauptsätzen, die kaum von Nebensätzen unterbrochen werden, in einer stellenweise der Sprache seiner Lyrik angenäherten Form von den Jahren, die der Autor in Deutschland zwischen 1896, dem Jahr seiner Geburt in Braunschweig, und 1933, dem Jahr seiner Emigration über Paris nach Jerusalem, verbracht hat.151 Hier beginnt – wie gezeigt – das für Kraft Unsagbare, das sich einer Darstellung in den konventionellen Grenzen der Autobiographie entzieht, die er mit seinen erzählerischen Mitteln nicht überschreiten kann oder will. Werner Krafts Autobiographie folgt in groben Zügen dem chronologischen Lauf seines Lebens. Diese Chronologie wird immer wieder überlagert von Kommentaren des Erzählers, die Erinnerungen an eine spätere als die gerade erzählte Zeit als ein Mittel der Illusionsdurchbrechung benutzen. Diese Kommentare verhindern eine Flucht des Autobiographen in die seligen Gefilde der Kindheit, indem sie die Diskrepanz zwischen einst – der Zeit der Kindheit und 149 150 151

Ebd., S. 72. Ebd., S. 79. Werner Kraft hat in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang nur wenig Beachtung gefunden – weder als Autor literarischer Werke noch als Literaturwissenschaftler, wie die Bibliographie von Ulrich Breden: Werner Kraft (1896– 1991): Bibliothekar und Schriftsteller; Chronologie seines Lebens und Verzeichnis seiner Werke. Hildesheim 1992 (Kleine Schriften der Niedersächsischen Landesbibliothek; 1), S. 90–102 zeigt. Die meisten hier verzeichneten Beiträge sind journalistischer Provenienz. – Über Leben und Werk Werner Krafts informiert neben Breden, ebd., S. 9–80 (eine Collage aus Texten von und über Werner Kraft und Stationen seines Lebens) vor allem das Marbacher Magazin Werner Kraft 1895–1991 (wie Anm. 137), das zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstags erschienen ist.

3.2 Werner Kraft

139

Jugend bis zur Emigration – und jetzt – der Zeit in Jerusalem – gegenwärtig halten. Markiert, aber nicht erzählerisch gestaltet, wird dieser Epochenbruch, der gleichzeitig auch die größtmögliche Zäsur im Leben eines Individuums darstellt, durch den Nationalsozialismus und den Holocaust, über den kein Weg mehr zurück in die Kindheit führt: Als ich fünf Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Hannover. Da war ich zuhause, da wuchs ich auf, pflanzenhaft. Als ich 1951 wieder hinkam, in die zerstörte und eben halbwegs wieder aufgebaute Stadt, war mir alles fremd und vertraut zugleich. Ich orientiere mich schwer in der Welt, hier war ich traumsicher. Nichts war da und niemand, nur ich, wie ich fünfzig Jahre früher dagewesen bin, ein kleiner Junge. Ich stand auf dem jüdischen Friedhof an der Strangriede, wo meine Eltern begraben sind. Er ist eng und häßlich, von Häusern eingefaßt, aber durch Erinnerung geweiht. Die Grabsteine weg. Die meiner Großeltern standen.152 Als ich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder nach Hannover kam, war unser Haus weg. Einige Jahre später stand es neu.153 Wir sprachen, endlos. Wir lasen einander vor, wir sangen die Gedichte, in jener kleinen Wohnung in der Fritschestraße in Charlottenburg, auf jenem Balkon [in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg; M. M.]. In den 50er Jahren war ich wieder da. Alles fremd, alles tot. Was mich da hinauftrieb, vermag ich kaum zu sagen. Ich klingelte, und eine junge Frau öffnete mir. Ich erklärte, wer ich war und woher ich kam und was ich wollte: nur einmal einen Blick in die Wohnung werfen und vom Balkon herabblicken. Das war sinnlos. Sie lehnte ängstlich ab. Hatte sie Angst vor mir? Ich ging. Es ist unmöglich, die Vergangenheit wiederherzustellen.154

Diese Beobachtung der Distanz zu der einstigen Heimat, die Heimatlosigkeit des Emigranten, illustriert auch eine Aussage, die Werner Kraft in einem Interview Anfang der achtziger Jahre gemacht hat: Aber ich würde sagen, als ich jetzt in Hannover war und auch das erste Mal, 1951, glaube ich, das ist sehr schwierig: Es ist alles so, wie es gewesen ist und nichts ist so, wie es gewesen ist. Von einer Heimat kann ich heute in dem exakten Sinne gar nicht mehr sprechen, es ist eine völlig verwandelte Welt. Obwohl die Straßen noch alle so stehen, aber das sieht ja alles völlig anders aus. Dadurch wird es schwer, ein Heimatgefühl zu realisieren.155

Eine weitere Motivation dieser Erzählerkommentare besteht darin, aus dem Wissen der Gegenwart des Schreibenden die Unwissenheit des jungen Werner Kraft zu kommentieren – ohne deshalb freilich die Position eines allwissenden Erzählers einzunehmen und die damals erlebte und gefühlte Offenheit der 152 153 154 155

Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 7f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 44f. Werner Kraft: »Es ist alles so, wie es gewesen ist, und nichts ist so, wie es gewesen ist«: Werner Kraft im Gespräch mit Peter Schulze. In: Werner Kraft: Selbstdenker. Barsighausen: C & P Druck u. Verlag 1986 (Laurentius/Sonderheft; 1986), S. 36.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Zukunft, die sich dem Autobiographen, der in den frühen 70er Jahren schreibt, als geradliniger Weg in das Verhängnis des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung und -vernichtung darbietet, zu negieren.156 Dies belegt ein Zitat, das die Stimmung des jungen Studenten nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst unverfälscht wiedergibt, es aber gleichzeitig in Kontrast zum Wissen des gealterten Autobiographen stellt, der um das Verhängnis weiß, das dem jungen Werner Kraft noch nicht erkennbar ist: Die neuen Fronten formierten sich, es kam –: das Alte. Und doch ging es in chaotisch undurchdringbarer Form auch aufwärts. In Wirklichkeit bereitete sich in dieser Aufwärtsbewegung der neue Untergang vor. Daß wir es anders sahen, war das Recht unserer Jugend.157

Darüber hinaus wird die Chronologie der erzählten Zeit durchbrochen von Ausgriffen in die Zukunft und von Rückgriffen in die Vergangenheit des autobiographischen Ichs. Die Chronologie orientiert sich sowohl an den weltgeschichtlichen Zäsuren, denen das Individuum Werner Kraft als in die Geschichte seiner Epoche involviertes unterworfen ist (Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Machtergreifung des Hitler-Regimes), als auch an den gesellschaftlich bedingten einschneidenden individuellen Erlebnissen (Einschulung, Schulwechsel, Studium, Kriegsdienst) und den rein persönlichen Lebensentscheidungen (Studienfach, Promotion, berufliche Laufbahn), die in die weiteren politisch-gesellschaftlichen Möglichkeiten und Beschränkungen, denen Werner Kraft unterworfen ist, darstellerisch ein- und untergeordnet werden. Das Buch ist unterteilt in 27 Kapitel, die keine Überschriften, sondern nur eine fortlaufende Kapitelzählung aufweisen. Die Kapitel behandeln nicht nur chronologisch aufeinanderfolgend die Lebensstationen Werner Krafts, sondern 156

157

Die Diskussion um Sebastian Haffners Erinnerungen aus den Jahren 1914–1933, Geschichte eines Deutschen, setzt genau hier an (Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen: die Erinnerungen 1914–1933. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. 2000). Das Buch, das ab 1939 im englischen Exil geschrieben worden sein soll, enthalte Anachronismen, die Begriffe, Wertungen und Erkenntnisse nutzen, die erst in späterer Zeit gewonnen worden sein können. Hierzu zählt vor allem seine Wertung jener Jahre der Weimarer Republik, die derjenigen in Werner Krafts Autobiographie gänzlich konträr ist, weil sie bereits von der ersten Zeile an das Unheil des Dritten Reichs als in der Politik und Gesellschaft der ersten deutschen Demokratie angelegt sieht. Der gerühmte prophetische Charakter des Buches beruhe daher auf falschen, von Verlag und Familie Sebastian Haffners genährten Prämissen, die die Möglichkeit einer deutlich späteren Überarbeitung des Manuskripts vernachlässigen. – Bei Kraft findet sich beides: sowohl die Rekonstruktion der eigenen Gedankenwelt jener Jahre als auch, deutlich abgetrennt, die Erkenntnisse und Reflexionen aus späterer Zeit. – Zu den Vorwürfen gegenüber Verlag und Erben Haffners, die vor allem von der unsicheren Überlieferung des Textes genährt werden, vgl. Henning Köhler: Anmerkungen zu Haffner: Haffners posthumer Bestseller »Geschichte eines Deutschen« ist nicht authentisch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 189 vom 16.8.2001, S. 7. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 87.

3.2 Werner Kraft

141

sind – innerhalb der groben chronologischen Ordnung – thematisch gegliedert und machen deshalb fortwährende Rück- und Ausblicke nötig, die das jeweils behandelte Thema in den Zusammenhang seines Lebens stellen bzw. nach dem Ausbrechen aus der Chronologie des Lebens durch die thematische Darstellung wieder in die Chronologie zurückführen. Die Chronologie des Lebens wird also durch die Ahistorizität des Gedächtnisses und der Erinnerung aufgebrochen, die eben eher thematische Zusammenhänge erinnert und so vielleicht auch erst stiftet, als dass sie sich an den kontingenten Fakten des äußeren Lebens festmacht, die letztlich nicht zuverlässig erinnert, sondern nur recherchiert und dokumentiert werden können: Meine Erinnerung springt, nur so kann ich mich überhaupt erinnern.158

Als Beispiel für die Ahistorizität der Erinnerung und ihre Auswirkungen auf die Komposition der Autobiographie mag das 17. Kapitel über die problematische Beziehung zu Walter Benjamin und seine Einbettung in den Erzählzusammenhang der Autobiographie gelten.159 In der Chronologie steht dieses Kapitel im Zusammenhang mit der Darstellung seines ersten Studienjahres in Berlin (1914/15), das durch die Einberufung zum Militärdienst beendet wurde, und der Darstellung der in die Kriegsjahre fallenden prägenden geistigen Einflüsse (alles Kapitel 16). Das 15. Kapitel behandelt die Militärzeit Krafts, die von September 1915 bis Januar 1919 dauerte und während der er als Sanitätssoldat in einem Lazarett für Kieferkranke, denen im Krieg der Kiefer weggeschossen worden war, diente und später dann in einer Irrenanstalt in Ilten, wo er mit Kriegshysterikern und -neurotikern zu tun hatte. Abgeschlossen wird die Darstellung dieser Militärzeit, während der Werner Kraft wohl akut suizidgefährdet war,160 aber erst im 18. Kapitel, das das letzte Kriegsjahr, nach seiner

158

159

160

Ebd., S. 28. – Leider enthält die Autobiographie Krafts keine ausgeführte Poetik des Erinnerns, wie sie sich etwa bei Marcel Proust in der Recherche oder bei Walter Benjamin in der Berliner Kindheit um 1900 findet. Zu dieser Beziehung vgl. Preuß, Literarische Freundschaftsbriefe von Werner Kraft an Hubert Breitenbach (wie Anm. 138), S. 87–111, Volker Kahmen: Walter Benjamin und Werner Kraft. In: »Für Walter Benjamin«: Dokumente, Essays und ein Entwurf. Hg. von Ingrid und Konrad Scheurmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 34–55 sowie die Dokumentation in Walter Benjamin: Einleitung zu Die Rückschritte der Poesie von Carl Gustav Jochmann. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp Bd II,2 (1977), S. 572–598 (Text) und Bd II,3 (1977), S. 1392–1409 (Kommentar), S. 1392–1403. Vgl. hierzu Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem: Jugenderinnerungen. Aus dem Hebräischen von Michael Brocke und Andrea Schatz. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1994, S. 116: »Kraft litt unendlich unter den Zeitumständen und seinem Dienst als nur garnisonsfähiger Sanitätssoldat in Hannover. [...] In der Tat war er in diesen Monaten, wie seine trostlosen und tief

142

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Rückversetzung an das Krankenhaus für Kieferkranke schildert. In diesen Zusammenhang gehört die Darstellung der Freundschaft mit Walter Benjamin. Sie wird vorbereitet durch das 16. Kapitel, das die geistigen Anregungen und Freundschaften Krafts während und – soweit das möglich war – abseits des Krieges erzählt. Als deren wichtigste wird diejenige mit Walter Benjamin herausgegriffen. Ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Eingerahmt werden diese Ausführungen von der Darstellung der allgegenwärtigen und darum allumfassenden Schrecken des Krieges, die Kraft zwar nur in der Etappe bzw. an der Heimatfront erlebte, für die ihm aber die Irrenanstalt in Ilten und sein Dienst als Krankenwärter als eine passende Metapher, die den Irrsinn des Krieges illustriert, erscheinen: Ich glaube, daß mit diesem Augenblick, mit diesem Blick der Augen meine befriedete Kindheit, meine befriedete Jugend endgültig zuende war. Wohl hatte ich die Irren-Gedichte von Georg Heym gelesen, wohl hatte ich einen Blick auf diese Dinge geworfen, es war nichts, dies war die Wirklichkeit, dies war die Krankheit der Welt, auf die ihre mörderische Gesundheit im geheimen bezogen war. Bei den Kranken, mit denen ich es nun selbst zu tun bekam, war es das gleiche, in abgeschwächter Form, ihnen war noch zu helfen, jenen nicht mehr.161

Das 17. Kapitel schildert aber nicht nur den Beginn der (ersten) Freundschaft Krafts mit Walter Benjamin, der in Krafts Militärdienstzeit fällt, sondern die ganzen 25 Jahre des schwierigen Verhältnisses zwischen ihnen. Dieses Verhältnis war geprägt von intellektueller Abhängigkeit, Freundschaft, Distanzierung, erneuter Annäherung während des gemeinsamen Pariser Exils in den Jahren 1933/34, schließlich dem Bruch über die Frage der Priorität der Entdeckung Carl Gustav Jochmanns und der literarischen (Erst-) Verwertung dieser Entdeckung, und es reicht bis zum persönlichen Nachruf (-Gedicht) Krafts auf den am 26. 9. 1940 durch Selbstmord an der spanischen Grenze umgekommenen Walter Benjamin. Im Zentrum der Darstellung des Verhältnisses zu Walter Benjamin stehen weniger die Zeugnisse einer schwierigen Freundschaft als vielmehr die Gespräche und Briefe, die geführt und gewechselt worden sind, sowie die geistige Befruchtung Krafts, die aus ihnen resultierte und die so einen ›Spiegel‹ des ›Geistes‹ jener Zeit bietet. Die Kontroverse um Carl Gustav Jochmann sowie seine teilweise doch recht harsche Kritik an dem buchstäblich um sein Leben schreibenden Benjamin, der keinen ›Brotberuf‹ wie Kraft vorweisen kann, verschweigt Kraft in seiner Autobiographie162 in edler Größe, weil sie nicht in den Zusammenhang seiner Geistesbildung gehört.

161 162

melancholischen Briefe bezeugten, nicht weit vom Selbstmord, und auch seine Gedichte waren von Verzweiflung durchzogen.« Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 56. Die Kritik Krafts an Benjamin hat Kahmen, Walter Benjamin und Werner Kraft (wie Anm. 159), S. 40–54 aus Krafts Tagebüchern zusammengestellt. Hierin zeigt sich, wie belastet das Verhältnis der beiden zueinander tatsächlich gewesen ist.

3.2 Werner Kraft

143

Ähnliches lässt sich für Krafts Darstellung seines Verhältnisses zu dem Hannoveraner Philosophen Theodor Lessing feststellen, mit dem Kraft erstmals 1913 in Kontakt kam. Gemeinsamer Anknüpfungspunkt war das Interesse für Rudolf Borchardt: jugendlich-schwärmerisch bei Kraft, kritisch-distanziert bei dem 1872 geborenen Lessing. Nach der Schilderung der ersten Begegnung bei einem Antiquar und einer sich anschließenden Einladung Krafts bei Lessing, bei der sie über Borchardt diskutierten und die Kraft zu einem Aufsatz über Borchardts autobiographisches Gedicht »Wannsee« anregte,163 taucht Lessing – mit Ausnahme einiger marginaler Erwähnungen – erst wieder im 25. Kapitel auf, das sich dann nahezu ausschließlich mit den »zwanzig Jahre[n], die ich Theodor Lessing gekannt habe«164 beschäftigt. Die zwanzig Jahre, von der ersten Begegnung 1913 bis zu Theodor Lessings Ermordung am 30. August 1933 in Marienbad durch sudetendeutsche Nationalsozialisten, werden hier – in der Chronologie an der Stelle der wohl intensivsten persönlichen Kontakte während Krafts Hannoveraner Bibliothekarstätigkeit zwischen 1927 und 1933 – zusammenfassend dargestellt. Auch auf den neuneinhalb Seiten dieses Kapitels, von denen lediglich die erste der Darstellung der biographischen Details dieses Lebensabschnitts des Autobiographen gewidmet ist, dominiert die Rekonstruktion des ›Geistes‹ jener Zeit durch die gemeinsamen Gespräche. Diese Passagen, in denen Werner Kraft den ›Geist‹ der Epoche rekonstruieren möchte, sind verhältnismäßig ausführlich geraten. Das Kapitel über Walter Benjamin umfasst zwölf Seiten, ebenso viele wie dasjenige über den Krieg, und es ist damit mehr als doppelt so lang wie ein durchschnittliches Kapitel dieser Autobiographie.165 Das Kapitel 16, das die übrigen geistigen Einflüsse und Freundschaften während Krafts Kriegsdienst schildert, umfasst sechs Seiten, von denen wiederum vier für die Mitteilung der ersten persönlichen Bekanntschaft mit Rudolf Borchardt verwendet werden. Borchardt sind im weiteren Verlauf des Textes noch zwei ganze Kapitel gewidmet – nämlich das 13., das die erste Annäherung des jugendlichen Werner Kraft an das Denken und Werk Borchardts zum Inhalt hat, und das mit fünfzehn Seiten längste 24. des Buches, das die letzte Begegnung mit Borchardt und die beginnende Distanzierung von seinem nationalkonservativen Gedankengut nachvollzieht. Dieser statistische Exkurs illustriert zwei Dinge, die sich auch inhaltlich belegen lassen: die Relevanz, die Werner Kraft seinen geistigen Auseinandersetzungen mit den Bewegungen des Weltgeistes, der sich hier wohl eher als Zeitgeist manifestiert, zumisst, und die daraus – bei dem geringen Umfang der Autobiographie notwendig – resultierende Vernachlässigung des privaten Lebens, das in dieser Autobiographie kaum vorkommt und von Kraft auch mit 163 164 165

Vgl. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 28f. Ebd., S. 133. Werner Krafts Autobiographie umfasst in der Suhrkamp-Ausgabe 148 Seiten, die in 27 Kapitel gegliedert sind. Der durchschnittliche Kapitelumfang beträgt also ca. fünfeinhalb Seiten.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

einer gewissen Lässigkeit behandelt wird. Dies zeigt sich an der Beiläufigkeit, mit der er die im engeren Sinne autobiographischen Exkurse in sein Panorama des Geistes einstreut – und die etwa mit der epischen Breite der Auslassungen Goethes über die Kaiserkrönung und die darin eingesponnene Liebesgeschichte mit Gretchen im fünften oder über die Liebe zu Friederike Brion im 9. bis 11. Buch von Dichtung und Wahrheit nicht konkurrieren kann.166 Das private Leben wird also weder in einen epischen Zusammenhang mit der Weltgeschichte gebracht, obwohl Kraft um seine Abhängigkeit von den Zeitläuften weiß, die er spätestens bei seiner Entlassung aus dem Staatsdienst 1933 erfahren musste, noch verliert er sich in der Erzählung von Details aus seinem Leben, die nur von persönlichem oder privatem Interesse sind. Statt dessen werden diese Einblicke in das private Leben nur en passant gegeben und notdürftig in die Geschichte des ›Geistes‹ integriert, der sich eben in der Bildungsgeschichte individueller Personen manifestiert: Ich las nicht nur, ich lebte. Im Winter [...]167 Daneben begann das kleine Leben, ich trat in die Dresdener Bank als Lehrling ein. [...]168 Wir lebten noch in diesen letzten Jahren. Unsere Tochter wurde geboren. Freunde kamen. [...]169

An diese Passagen schließen sich jeweils ausführliche Darlegungen des Kraftschen Geisteslebens an. Entscheidend für die Vernachlässigung des privaten Lebens sind hier die pejorativ konnotierten Partikel, die die additive Reihung der äußeren Lebensumstände einleiten, die jeweils in nur wenigen Zeilen dargestellt werden und daher lediglich wie ein Zugeständnis des Autobiographen an das Interesse des Lesers wirken, keinesfalls aber einem Herzensbedürfnis des Verfassers zu entspringen scheinen. Dies korrespondiert mit seiner Geringschätzung der äußeren Faktoren für das Leben eines geistigen Menschen, auf die bereits in dem Teilkapitel über Krafts »Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie« hingewiesen wurde. Somit wird deutlich, dass sich die ›Spiegel‹Funktion der Autobiographie kaum auf die Darstellung der materiellen Außenwelt und auf die politischen, sozialen und familiären Bedingungen seiner Existenz erstreckt, sondern nahezu ausschließlich das geistige Werden des Autobiographen in Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen der Zeit zeigt. Darüber hinaus sind diese Passagen, die sich mit dem privaten Leben Werner Krafts, aber auch mit den Verstrickungen des Individuums in die Zeitläufte beschäftigen, von einer besonderen aphoristischen Sprachform, die sich deut166

167 168 169

Zur Interpretation dieser beiden Episoden aus Dichtung und Wahrheit vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Kap. 1, Anm. 27), S. 298–310 und S. 318–330. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 24. Ebd., S. 41. Ebd., S. 142.

3.2 Werner Kraft

145

lich von der ausführlichen Darstellungsweise, wie sie in der Erzählung seiner geistigen Auseinandersetzungen mit den Zeitströmungen benutzt wird, unterscheidet. Die aphoristische Sprachform ist einem Prinzip verpflichtet, das auch der Lyrik Werner Krafts zugrunde liegt, und über das er in einem Kapitel seiner Autobiographie, das die Lösung von Rudolf Borchardt behandelt, gesprächsweise berichtet: Wir kamen dann auf meine eigenen Gedichte, und er ging eine Anzahl mit mir durch. Er gab sich Mühe, etwas in ihnen zu finden, es gelang ihm nicht, die Dialektik stieß ihn ab, und er sagte es. Als ich dann gestand, daß mir zu jedem positiven Gedanken sofort der negative einfalle, war er entsetzt und mit Recht.170

Das dialektische Prinzip der Darstellung eines Sachverhalts aus zwei einander entgegengesetzten Perspektiven findet auch in der Darstellung des eigenen Lebens Verwendung. Die Kraftsche Dialektik ist von derjenigen Hegels jedoch radikal verschieden. Dies zeigt sich nicht nur in dem aphoristischen Stil Krafts, der im Gegensatz zu dem voluminösen Gedankengebäude Hegels steht, sondern vor allem in der Unvollständigkeit der Anwendung des Hegelschen Dreischritts bei Kraft, im Fehlen einer Synthese, die These und Antithese versöhnt und dadurch den Fortschritt des Weltgeistes garantiert. Was sich für Hegel noch auf der ›Makroebene‹ des objektiven Geistes im preußischen Staat als diese Synthese verkörperte und was Goethe auf der ›Mikroebene‹ des individuellen Subjekts in seinem Leben noch durch die autobiographische Darstellung zur Einheit zwingen konnte und was dadurch sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene die Legitimität der ›herrschenden Verhältnisse‹ – im schönsten Doppelsinn des Begriffs – bestätigte, gelingt Werner Kraft in seiner autobiographischen Rückschau nicht mehr: Unversöhnt und unversöhnlich prallen hier die Gegensätze einer Zeit und eines Lebens aufeinander. Versöhnen lassen sie sich nicht mehr; sie können lediglich in den Hintergrund gedrängt werden zugunsten eines vermeintlich höheren Prinzips, demjenigen des Geistes nämlich, das auf einer höheren Ebene als derjenigen der letztlich kontingenten Einzelexistenz die Gegensätze aufzuheben und somit eine Kontinuität des Individuums zumindest im Geist und entgegen der äußeren Lebensbedingungen zu sichern vermag. Zur Illustration dieses Verfahrens Werner Krafts seien hier zwei Zitate angeführt, die sich mit der beruflichen Lebensentscheidung, Bibliothekar zu werden, auseinandersetzen. Sie stellen gleichzeitig in höchster aphoristischer Verdichtung eine Auseinandersetzung mit dem Entelechie-Problem dar, dem Goethe selbst in Dichtung und Wahrheit ausführliche Überlegungen widmet.171 170 171

Ebd., S. 118. Zum Entelechie-Problem bei Goethe vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37), S. 136–149, K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Kap. 1, Anm. 27), S. 270–276 und Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Kap. 1, Anm. 26), S. 162–164.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Ich wollte nichts werden, ich mußte.172 Nicht in Coimbra fand ich 1927 eine Anstellung als Bibliothekar, sondern in Hannover. Sie war lebenslänglich und hörte 1933 auf.173

Im ersten Zitat finden sich die Umstände, die Kraft zu dieser Entscheidung getrieben haben. Aus einer »eher arm[en]«174 Familie stammend, nach dem Tod des Vaters (1916) und der Mutter (1922) verwaist,175 ist dieser Entschluss, die bibliothekarische Laufbahn einzuschlagen, nicht das Ergebnis eines ausgedehnten Bildungsprozesses, in dessen Verlauf sich das Individuum frei entwickelt und deshalb seine Erfüllung im Beruf findet, der das ›natürliche‹ Ergebnis seines Bildungsprozesses ist. Im Gegenteil, sein Studium der Germanistik in Berlin, Freiburg und Hamburg, das durch den Kriegsdienst lange unterbrochen war, endet nicht etwa mit der üblichen ›Kavalierstour‹ in den Süden, die den traditionellen Höhe- und Abschlusspunkt der Ausbildung einer allseitig gebildeten bürgerlichen Persönlichkeit darstellt, sondern die nackte Not im inflationsgeschüttelten Nachkriegsdeutschland zwingt ihn zum Abbruch des Studiums. Es war Welt, es war schön, man lernte, es war nicht mehr das. Die Zeit saß mir im Nacken. Wir [Werner Kraft und seine zukünftige Frau Erna; M. M.] waren bei Hamburger Großkaufleuten zum Abendessen eingeladen. Dreißig Personen an einem gewöhnlichen Tage! Der Tisch barst von Speisen. Draußen das Elend! Die Hausfrau klagte über die Streiks. Keine Autos zur Verfügung! Ich machte große Augen. Alle kamen aus Italien oder fuhren nach Italien und nahmen als selbstverständlich an, daß auch ich –? Ich brach meine Studien ab und ging in Berlin auf die Bibliothekarschule für den mittleren Bibliotheksdienst, um mich für einen Brotberuf vorzubereiten. Wir wollten heiraten.176

Doch auch diese Lebensentscheidung lässt sich nicht mit der Entelechie des autobiographischen Individuums in Übereinstimmung bringen, das erneut mit den Zeitumständen kollidiert. Nach der Ausbildung für den mittleren Bibliotheksdienst, der anschließenden Promotion in Germanistik neben seinem ›Brotberuf‹ und dem darauffolgenden Volontariat mit der abschließenden Prüfung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst durchkreuzt das nationalsozialistische ›Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ vom 7.4.1933 seine Zukunftspläne und -hoffnungen erneut. Gleichzeitig ist mit seiner Beurlaubung und anschließenden Entlassung sein erstes Leben in Deutschland faktisch beendet, weil ihm die Existenzgrundlage genommen worden ist und er erneut gezwungen wird, seinen ganzen Lebensplan neu zu entwerfen. Andererseits bedeutet dies die Rettung des eigenen Lebens und derjenigen seiner Frau und seiner Kinder, weil sie ihn faktisch in die Emigration zwingt, die ihn und seine Familie vor dem Holocaust bewahrt. 172 173 174 175 176

Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 94. Ebd., S. 132. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 95.

3.2 Werner Kraft

147

Trotzdem hält Kraft am Gedanken sowohl der Entelechie als auch der Teleologie seines Lebens fest. Dass sich beide nicht in den äußeren Lebensumständen erschöpfen bzw. erfüllen können, zeigt der Lebenslauf des Emigranten ebenso deutlich wie die Selbstinterpretation des Autobiographen; das belegen die vorangegangenen Erörterungen. Für Kraft besteht die Entelechie seines Lebens in der Entwicklung seines Geistes und der sein ganzes Leben währenden kontinuierlichen Beschäftigung mit dem Geist, den er am reinsten in der deutschen Literatur und Philosophie vorfindet. Der Entfaltung dieses Geistes in seinem Leben ist die Autobiographie gewidmet. In diesen Passagen prallen die Gegensätze, die sein äußeres Leben bestimmt haben, nicht unversöhnt aufeinander, sondern – hier kommt die Dialektik zur Synthese – sind aufgehoben in der Universalgeschichte des Geistes wie er sich in Werner Kraft konkretisiert. Hier überwindet der Autobiograph die lakonische Kürze, die den aphoristischen Stil der Darstellung seiner äußeren Lebensumstände prägt, weil hier die Entelechie seines Lebens als Partizipation an der Entwicklung des ›Weltgeistes‹ die Irrelevanz des individuellen Daseins überwindet, aber auch weil die Hindernisse und Hemmnisse des äußeren Daseins für nichtig erklärt werden angesichts der Möglichkeiten, die sich in der Welt des Geistes auftun. Letztlich ist die Entfaltung der geistigen Welt also lediglich eine Form des Eskapismus vor den mörderischen Konsequenzen, die ihm und seiner Familie während der nationalsozialistischen Judenverfolgung tatsächlich drohten. Schon in frühester Jugend zeigte sich die verhängnisvolle Anlage, die den jungen Werner Kraft »aus meiner Welt [...] in die Welt des deutschen Geistes«177 entführt, der ihn von seinen jüdischen Wurzeln entfremdet. In einer Zeit, in der sich die Zeichen mehren, dass das aufklärerische Projekt der durch Assimilation zu erreichenden deutsch-jüdischen Symbiose gescheitert ist, stellt sich Kraft ganz in den Dienst dieser Sache. Damit bewegt sich Kraft in einer Tradition, die von seinem Jugendfreund Gershom Scholem und anderen Freunden, aber auch von seinem eigenen Bruder Fritz zugunsten des Zionismus verworfen worden ist.178 Tatsächlich bildet die Entfaltung dieses ›Geistes‹, der für Kraft in überwiegender Mehrzahl von deutsch-jüdischen Autoren der Jahrhundertwende geprägt ist, den umfassendsten Rahmen, innerhalb dessen sich Krafts bewusstes Leben vollzieht: Irgendwann in einem unvorhersehbaren Augenblick meiner Jugend ist der Geist in mich gefahren [...]. Ich habe später oft über dieses ungreifbare Ereignis nachgedacht und habe es im Maße meiner wachsenden Eitelkeit als ein Glück, im Maße der schwindenden als ein Unglück empfunden, dem ich mich abgewann als der ich bin, als der ich gleichzeitig nicht bin, und niemals sein werde.179

177 178 179

Ebd., S. 22f. Vgl. ebd., S. 21f. Ebd., S. 19.

148

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Seit 1934 lebe ich in Jerusalem. Es heißt, die Luft dieses Landes macht weise; das Exil wurde zur Heimat. Aber die Mühe des Anfangs war groß. Nicht nur die materiellen, auch die geistigen Lebensadern waren mir durchgeschnitten. Ich hatte Freunde, dankbar sage ich es, ja sogar einen einzigartigen Freundeskreis, ich war nicht verlassen. Nur in dem, was ich zu sein glaubte, ein Schriftsteller und Dichter der deutschen Sprache, konnte mir niemand helfen. Was sollte ich tun? Ich setzte mein Leben fort. Ich schöpfte wie bisher aus den Quellen des deutschen Geistes und der deutschen Sprache. Ich tat es noch angesichts des ungeheuren Frevels, der von Deutschland aus das große Unglück über das jüdische Volk und die Welt als ganze gebracht hat. Mir blieb keine Wahl. Und es war nicht leicht, es war maßlos schwer, so Jahr für Jahr ins Leere hinein zu schreiben.180

Diese beiden Zitate, die die Darstellung seines bewussten Lebens einleiten bzw. im letzten Kapitel seiner Spiegelung der Jugend stehen, umfassen zugleich die gesamte Tragik der Kraftschen Existenz. In ihnen ist begründet, warum Kraft seine Autobiographie mit der Emigration enden lässt: die Fundamente seiner geistigen Entwicklung sind unverrückbar festgelegt und können – auch durch seine Exklusion aus dem Geltungsbereich des deutschen Geistes – nicht mehr erweitert werden. Kraft selbst hat den retrospektiven Charakter seines weiteren Lebens nach der Emigration erkannt und akzeptiert. Dies bemerkt auch Jakob Hessing in seinem Nachruf auf den 1991 Verstorbenen, der den treffenden Titel von Krafts Autobiographie trägt und so darauf aufmerksam macht, dass Krafts Leben in der Emigration tatsächlich eine ›Spiegelung‹ seiner Jugend war, ein Weiterleben in den tradierten Kultur- und Sprachgrenzen, aus denen er sich nicht befreien konnte und wollte – auch nachdem die Hoffnungen auf eine deutsch-jüdische Symbiose durch den Epochenbruch Holocaust endgültig gescheitert waren: Er blickte in seine Vergangenheit, weil er keine Zukunft hatte und keinen neuen Weg mehr gehen konnte, auch in Israel nicht. Der alte Weg hatte an kein Ziel geführt, und Werner Kraft ging ihm nach, folgte seinem Schatten, trug das Erbe einer unlösbaren Aufgabe.181

Durch dieses resignative ›trotzdem‹ unterscheidet sich Krafts Bekenntnis zum Deutschtum und zum deutschen Geist signifikant von demjenigen des eine Generation älteren, von der liberalistischen Ideologie der Gründerjahre beeinflussten Jakob Wassermann. Dieser glaubte, sich seine Zugehörigkeit zum Deutschtum durch schriftstellerische ›Leistungen‹ erwerben zu können, um so 180

181

Ebd., S. 152. – R. Lennert (Werner Kraft: Spiegelung der Jugend [wie Anm. 119]) gibt einen Überblick »Über das Leben der deutschen Sprache in Jerusalem«, das durch die erzwungene Emigration deutsch-jüdischer Schriftsteller seit 1933 befördert wurde. Ein Kronzeuge hierfür ist Werner Kraft, aber auch Else LaskerSchüler, Max Brod, Ludwig Strauß und Ernst Simon werden hier vorgestellt. – Eine ausführliche Würdigung dieses Phänomens ist aber immer noch ein Desiderat der Forschung. Jakob Hessing: Spiegelung der Jugend: zum Tode von Werner Kraft, In: Jahrbuch/Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1991, S. 167.

3.2 Werner Kraft

149

die Anerkennung zu bekommen, die ihm seiner Ansicht nach gebührte. Kraft weiß um die Unmöglichkeit dieses Ansinnens und verlagert seine Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu der Welt der Deutschen in die Welt des deutschen Geistes, die sich auch unabhängig von den Manifestationen des Deutschtums in der empirischen Welt denken lässt und die vor allem die Ausblendung unerwünschter Produktionen dieses Geistes ermöglicht. Daher sind hier Entelechie und Teleologie eines Lebens noch problemlos synthetisierbar. Die Bildungsgeschichte des Kraftschen Geistes verläuft im Paradigma des goetheschen Entelechiegedankens, den dieser in einem – verworfenen – Vorwort zum dritten Teil seiner Autobiographie konzipiert hat und der mit einer bereits zitierten Stelle im ersten Kapitel von Krafts Spiegelung der Jugend korrespondiert: Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drei Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln. In zweiten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Bande ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen.182

Auf dieses Entwicklungsprinzip als Grundlage auch des eigenen Lebens und seiner Darstellung weist Werner Kraft hin, bevor er mit der Erzählung dieses Lebens beginnt, dessen ihm bewusster Teil mit dem Umzug seiner Familie nach Hannover seinen Anfang nimmt: Als ich fünf Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Hannover. Da war ich zuhause, da wuchs ich auf, pflanzenhaft.183

Diese Aussage, die sich auf Hannover als Stadt seiner Kindheit und Jugend bezieht, in der er – mit Unterbrechungen – bis 1933 lebte, präzisiert Kraft in einem Gespräch, das er Anfang der achtziger Jahre mit Peter Schulze geführt hat.184 Nach der Bedeutung seiner Erinnerungen an Hannover gefragt, antwortet Kraft: Ich würde sagen, zunächst einmal der vollkommene Ablauf dessen, was man im menschlichen Leben als die Jugend bezeichnet. Das würde bis zum dreißigsten Lebensjahre gehen und da habe ich alle entscheidenden Einflüsse oder die meisten eben aufgenommen, auf natürliche Weise durch die Umwelt, in der ich aufgewachsen bin, also an Familie, an Freunden, an Beeinflussung durch die Schule und durch ältere Menschen, die klüger waren als ich, wie etwa Theodor Lessing. [...]. Alles das was atmosphärisch zur Jugend gehört, wurde mir in Hannover geboten, gewissermaßen noch ohne Störungen von außen, soweit sie nicht eben in meiner eigenen Person lagen, die 182 183 184

Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Kap. 1, Anm. 63), S. 868. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 7. Dieses Gespräch fand 1981 im Rahmen eines Forschungsprojekts von Schulze über die Geschichte der Juden in Hannover statt. Es enthält daher wenig Ergiebiges über Krafts literarisches Werk und seine geistige Entwicklung.

150

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

vielfach unsicher war und unwissend, die zu irgendetwas strebte, wovon man noch keinen Begriff hatte, unzulängliche Dinge schrieb oder dachte und ähnliches.185

Der Entelechie des Kraftschen ›Geistes‹ werden in dieser Zeit keine Beschränkungen von außen auferlegt, wie sie sich in den Autobiographien deutscher Juden in späteren Jahren vielfach dargestellt finden. Nahezu unbeeinflusst von Beschränkungen – mit Ausnahme der genannten materiellen – wächst Werner Kraft in Hannover auf, und deshalb kann er sich der Darstellung seiner ungestörten geistigen Entwicklung widmen. Dem Goetheschen Modell entsprechend stellt er diese Entwicklung als allmähliche Entfaltung seiner zunächst noch undifferenzierten Anlagen dar. Die Ausbildung seines ›Geistes‹, die von seinem literarisch durchaus ungebildeten Elternhaus mit skeptischer Neugier und großer Distanz, die teilweise aus der Affinität der Familie zum Zionismus herrührte, betrachtet wurde, beginnt mit früher undifferenzierter Lektüre, als ich im Meer der Literatur zu ertrinken drohte, ich verschlang alles, die gute und die schlechte Literatur, die gute als schlechte und die schlechte als gute.186

Schon bald schält sich aber ein spezifisches literarisches Interesse heraus, das sich 1910/11 an Gedichten von Rudolf Borchardt entzündet und allmählich zur Ausbildung literarischer Wertkriterien führt, die ihn zunächst – wohl eher aus Sympathie für das Borchardtsche Weltbild als aus formalen Gründen – eng an Borchardt binden, der das Kraftsche Ideal einer deutsch-jüdischen Symbiose bis zur vollständigen Verleugnung seiner jüdischen Identität lebte und propagierte. Am Beispiel seiner Bekanntschaft mit Borchardt lässt sich der Gedanke der Entelechie des Kraftschen Geistes deutlich zeigen. Nach dem ersten zufälligen Herantreten Krafts an das Werk Borchardts fühlt sich der Heranwachsende auf unbestimmte Weise von diesem Werk angezogen, das er noch nicht recht zu beurteilen weiß: Die Gedichte machten tiefen Eindruck auf mich, besonders die Ballade, aber der Eindruck hätte auch weniger tief sein können und durch andere Eindrücke abgeschwächt, denn ich las noch alles und erst ganz langsam mit Wertakzenten, die das Gute vom Schlechten trennen. Es mußte etwas hinzukommen. [...] Der Eindruck war entscheidend. Dieser große Stil des Rhetors, dem es um Wahrheit ging! Vieles in der Rede verstand ich noch gar nicht, und doch ging mir gerade das Nichtverstandene positiv ein. Das Apodiktische des Stils fing mich und schlug mich für Jahre in Bann, wenn auch allmählich nicht mehr ganz.187

Untrennbar ineinander verwoben sind hier sowohl die jugendliche Begeisterungsfähigkeit Krafts, der sich »auf unreife Weise von Borchardts Kulturnationalismus erfüllt«188 sieht, als auch schon das Wissen um die Distanzierung 185 186 187 188

Kraft, »Es ist alles so, wie es gewesen ist, und nichts ist so, wie es gewesen ist« (wie Anm. 155), S. 20. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 13. – Vgl. ebd., S. 22f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 29.

3.2 Werner Kraft

151

der späteren Jahre, die sicherlich das Resultat einer erst allmählich einsetzenden Horizonterweiterung des jungen Werner Kraft ist – zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Borchardt-Kritik, die Theodor Lessing und Walter Benjamin ihm gegenüber äußern und die auch in die Autobiographie Eingang gefunden hat. Immerhin aber hat ihm diese Lektüre den Eintritt in die Welt des Geistes ermöglicht: Alles, alles las ich, gänzlich hingegeben, gänzlich unkritisch, aber eine Welt ging mir auf, eine Welt fing an, sich zu bilden, nebelhaft, falsch, schief, unendlich bereichernd. Wo nichts war, fing etwas an zu entstehen. Ich war dankbar, ich bin es noch heute.189

Sein Interesse für Borchardt verschafft ihm die Bekanntschaft mit dem Hannoveraner Philosophen Theodor Lessing, der Borchardt mit kritischer Distanz gegenüberstand.190 Aus den Gesprächen mit ihm erwächst ein Aufsatz über Borchardt, auf den dieser antwortet, und der eine Bekanntschaft einleitet, die bis 1927 dauerte und einem Lehrer-Schüler-Verhältnis ähnelt, aus dem Kraft sich schließlich lösen kann. Bei der Wiedergabe der letzten Gespräche mit Borchardt anlässlich eines Besuchs in dessen Landhaus nahe der italienischen Stadt Pistoja stellt er – nun in kritischer Distanz – fest:

189 190

Ebd., S. 47. Zur Bewertung Borchardts durch Lessing vgl. die Ausführungen in seiner Autobiographie (Theodor Lessing: Einmal und nie wieder. Gütersloh: Bertelsmann 1969, S. 318f.): »Rudolf Borchardt entstammte einer Berliner Judenfamilie, deren Lebenshaltung nicht unähnlich war der zerklüfteten Talmikultur meines eignen Elternhauses. Aus dieser für die dichterische Natur allerungünstigsten Umwelt entwuchs ein Knabe, dessen wohl von keinem zweiten Zeitgenossen erreichte sprachlich-dichterische Begnadung nur von einer einzigen verhängnisvollen Eigenschaft überboten wurde: Dem männischen Willen zur geistigen Usurpatur. Aus diesem heroisch gespannten Wollen aber brach eine Erhabenheit der Kunst und des Könnens, die je nach Gunst oder Abgunst als die höchste Glorie unsrer gegenwärtigen Kultur oder als ihr fragwürdigstes Hochstaplertum gedeutet werden konnte, sicherlich aber das würdigste Phänomen ist zum Nachdenken für einen Psychologen. [...] Eine solche Vorherrschaft des Willens rückte ihn aus dem Reigen der Dichter an die Seite der Tatmenschen, machtwilliger Eroberer, Staatsmänner, Politikanden [...]. Aber auch den Propheten glich er, den Fanatikern und Ketzerrichtern, die, gleich dem ihm wesensverwandten Karl Kraus, vom Wortgeist und Sprachrausch her schöpferisch werden. – Ich kannte bei Borchardt auch Züge, die im Licht des gemeinen Menschenverstands einfach als Prahlhanserei, Aufschneiderei, ja als Schlimmeres zu betrachten wären und dennoch zusammenhängen mit Grundwurzeln der dichterischen Seele, deren erhabene Bildkräfte überwuchert wurden von einem unmenschlich rechthaberischen Willen zur großen Leistung. Denn wie die wahrhaftig Gläubigen eines jeden Glaubens stets nach Absurditäten verlangen, an denen die Kraft ihres Glaubens sich bewähren kann [...] so fordert eine Geistigkeit wie die Rudolf Borchardts stündlich gewaltsame Aufgaben.«

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

[E]r war ein Kosmos enormer Fehler und ungeheurer Vorzüge, so sehe ich ihn noch heute und bedaure noch heute, daß ich viel zu sehr innerlich bedroht war, um ihm auch nur im bescheidensten Sinne hilfreich sein zu können.191

Bei seiner ersten Begegnung mit Borchardt in Berlin während des Kriegsjahres 1917 steht Kraft aber zunächst noch ganz im Bann der Gedanken Borchardts, der »mythisch großartige und schreckliche Dinge über den Krieg«192 sagte, und in deren Geist Kraft »einen Propagandaaufsatz für seine [Borchardts; M. M.] zweite Kriegsrede«193 schreibt, der glücklicherweise ungedruckt geblieben ist. Diese Form der Darstellung, das Aufgreifen von Anregungen und Einflüssen, die in ihrer Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit schließlich zu einer Synthese im Geist Werner Krafts gelangen, ist charakteristisch für den Stil der Autobiographie und für den Entelechiegedanken des Autobiographen, der sich dadurch vom Goetheschen Konzept unterscheidet, das diese Einheit noch als gegeben voraussetzt. Aus den zahlreichen divergierenden Anregungen, die Kraft in seiner Jugend erhält, bildet sich schließlich diese Synthese heraus, die nicht nur ein Konvolut der eingegangenen Anregungen darstellt, sondern ihre denkerische Verwandlung beinhaltet. Das Resultat dieser Verwandlung findet sich jedoch nicht hier, in der Autobiographie, sondern vorwiegend in den literarischen, essayistischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten des Autobiographen,194 die nach dessen eigenen Ausführungen, die im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt worden sind, das ›wirkliche Leben‹ des Autobiographen enthalten – nämlich die gültigen Zeugnisse seines Geistes. Dargestellt wird die Entfaltung des Kraftschen Geistes aber nur äußerst selektiv. Er beschränkt sich zwar nicht nur – wie in dieser exemplarischen Analyse – auf die Verarbeitung der durch Rudolf Borchardt an ihn herangetragenen Anregungen, aber doch auf diejenigen Einflussgeber, mit denen er im Laufe seiner Jugend in persönlichen Kontakt getreten ist. Er benutzt dazu vorwiegend das Stilmittel der indirekten Wiedergabe von Gesprächen, bei deren Rekonstruktion er sich wohl auf seine umfangreichen, noch immer unveröffentlichten Tagebücher stützt,195 und auf dasjenige der Montage von Briefen, 191 192 193 194

195

Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 130. Ebd., S. 68. Ebd., S. 67. Im Falle Borchardts ist dies eben die große 1961 erschienene Monographie, die auf über 500 Seiten Borchardts Leben und Werk einer kritischen Würdigung unterzieht. Die verschiedenen Stadien der Reifung dieses Urteils findet sich in der Autobiographie dargestellt. Vgl. Kahmen, Walter Benjamin und Werner Kraft (wie Anm. 159), S. 37: »Werner Kraft begann am 7. Januar 1915, er war neunzehn Jahre alt, kontinuierlich Tagebuch zu schreiben. Diese Gewohnheit hat er sein Leben lang mit wenigen Ausnahmen bis zu seinem Tod am 14. Juni 1991 beibehalten. Eine [...] bedauerliche Lücke bilden die Jahre 1920–1924, denn am 15. Dezember 1919 bricht das Tagebuch ab und wird erst am 2. Dezember 1924 wieder systematisch aufgenommen. Aus dieser Zeitspanne sind nur vereinzelte Aufzeichnungen erhalten. Von beson-

3.2 Werner Kraft

153

die ihm von seinen Freunden und Förderern geschickt worden sind. Auf diese Weise wird der Leser zwar über die Einflüsse von Zeitgenossen, die Kraft persönlich bekannt waren – seien es nun Lehrer, Universitätsdozenten, Dichter oder Literaten –, detailliert informiert, darüber hinausgehende Anregungen bleiben dem Leser hingegen weitgehend verborgen: Goethe und Jochmann sowie Karl Kraus und Stefan George tauchen nur als Randfiguren auf, insofern sie Gegenstand seiner Lektüre oder seiner geistigen Freundschaften sind. Das Theater, das Kraft in einem Gespräch als »geradezu eine Leidenschaft« schildert, die ihm die »allergrößten Erlebnisse« beschert hat,196 wird in der Autobiographie gleichfalls nur kurz erwähnt, ebenso etwa Franz Kafka. Einen verhältnismäßig breiten Raum nehmen hingegen – neben dem Leitstern Borchardt sowie Benjamin und Lessing – die gleichaltrigen Jugendfreunde und Bekanntschaften ein, die er während seiner Studien- und Militärzeit gemacht hat. In den Gesprächen mit ihnen bildet sich der Geist Werner Krafts aus, empfängt Anregungen und spiegelt gerade durch diese bildungsbürgerliche Durchschnittlichkeit die allmähliche Entfaltung des Geistes zu den späteren Leitsternen, die im deutschen Bildungsbürgertum der Zeit den Geist prägten: In Leipzig traf ich zum ersten Male Paul. [...] Nun war des Wechselstroms und der lebendigen Menschenrede kein Ende und kein Anfang [...]. Wovon wir sprachen? Von allem. Von allen Dichtern, den kleinen und den großen, von Rilkes Mädchenliedern und dem »Stundenbuch«, von Dehmel und Liliencron, von George und Hofmannsthal, von Borchardts Jugendgedichten, von Goethe und Hölderlin, später, aber auch früher, wir waren jung, von Georg Heym, von Werfels »Weltfreund«, von Kafka und Sternheim.197 Plötzlich wurde es still, wir merkten es gar nicht, so vertieft waren wir in unser Gespräch, Hubert und ich. Wovon wir sprachen? Von Borchardt, von Kraus, aber Borchardt stand im Vordergrunde. 198

So entwickelt sich allmählich der Kosmos des Kraftschen Geisteslebens, der ihn über seine physische Existenz in Deutschland hinaus lebenslang an die deutsche Kultur bindet. Die Entelechie dieses Geistes darzustellen, insofern sie sich aus persönlichen Begegnungen herleiten lässt, ist das Ziel der Autobiographie Krafts, und auf diesen Geist, der den Tod überwindet und auf diese Weise ihn selbst mittelbar dem Tode entreißt, setzt Kraft seine Hoffnung, die er an einer kurzen Interpretation eines Gedichts von Karl Kraus, »Der Flieder«, festmacht, in der sich auch die eigene Lebenssituation als Repräsentant des deutschen Geistes in Jerusalem widerspiegelt:

196 197 198

derer Bedeutung ist, daß Werner Kraft auch wichtige Briefe im Tagebuch entworfen oder in Abschrift festgehalten hat. So konnte manches Dokument überdauern, das im Original längst verloren war.« Beide Zitate: Kraft, »Es ist alles so, wie es gewesen ist, und nichts ist so, wie es gewesen ist« (wie Anm. 155), S. 20. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 26. Ebd., S. 53.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Er hat das Gedicht am Ende des ersten Weltkrieg gedichtet. Auch der zweite ging vorüber, drei Kriege hier. Was kommt ist die dunkle Frage, vielleicht aber auch die klare Antwort. Was hat die Welt aus uns gemacht! Beides ist da, das Rettende und das Vernichtende, wie der herrliche Wasserfall in Ein Gedi, der Oase am Toten Meer, und rings herum die tödlich steinerne Wüste. Die Wüste des Todes mit dem Wasser des Lebens zu durchtränken, das ist das Ziel, dem alles sittliche Bemühen des Geistes gilt. Ich heiße uns hoffen.199

In der Identität von Geist und Sittlichkeit, ein Gedanke, den auch schon Karl Kraus angesichts seiner offensichtlichen Unhaltbarkeit mit zorniger Vehemenz vertreten hatte, liegt Kraft zufolge der Wert des Geistes, dem sein lebenslanges Bemühen galt, und in dieser Identität ist seine Hoffnung begründet, die er auf den Geist setzt und die es ihm ermöglicht hat, sein Leben in den einmal eingeschlagenen Bahnen auch unter den widrigsten äußeren Umständen fortzuführen.

3.3

Gershom Scholem

Gershom Scholem, 1897 in Berlin geboren, gehört derselben Generation an wie der Hannoveraner Werner Kraft. Beide lernten sich 1915 in Berlin kennen. Ihre Freundschaft bewährte sich durch die Wirren der folgenden Jahrzehnte und dauerte bis zu Scholems Tod im Februar 1982 in Jerusalem, wo Kraft seit 1934 im Exil lebte. Scholem war bereits 1923 dorthin emigriert, um an der Verwirklichung seiner zionistischen Utopie, die eher auf dem Gebiet der geistig-kulturellen Erneuerung des Judentums als auf staatlich-politischer Ebene anzusiedeln ist, auf seinem Fachgebiet als judaistischer Gelehrter an der hebräischen Universität mitzuarbeiten. Die beiden Lebensläufe sind – bei aller äußeren Gemeinsamkeit und den zahlreichen Kreuzungspunkten ihrer Biographien – völlig unterschiedlich verlaufen und von beiden in ihren Autobiographien, deren Erstausgaben ungefähr gleichzeitig erschienen sind, 1973 diejenige von Werner Kraft bzw. 1977 diejenige Gershom Scholems, auch verschieden interpretiert worden. Dennoch lassen sich im formalen Aufbau der beiden Texte zahlreiche Gemeinsamkeiten feststellen, obwohl sie an signifikanten Stellen differieren. Die formalen Unterschiede lassen sich auf die unterschiedliche Bewertung der in ihnen dargestellten Lebenswege zurückführen. Nachdem Krafts Spiegelung der Jugend als Ausdruck der Dialektik der Assimilation interpretiert und die Unmöglichkeit der Anwendbarkeit der Lebensweg-Metapher auf diese von äußeren Brüchen gekennzeichnete Existenz gezeigt worden ist, soll in diesem Kapitel die Autobiographie Scholems als paradigmatische Entfaltung einer teleologischen Entwicklung im Rahmen der Lebensweg-Metapher dargestellt werden. Vieles hierzu ist in dem Kapitel über Wassermann, das diese Metapher in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, aber auch in dem Kapitel über Kraft, das die Dialektik von Teleologie und Entelechie 199

Ebd., S. 154.

3.3 Gershom Scholem

155

der geistigen Entwicklung und der äußeren Lebensumstände behandelt, bereits gesagt worden; die Ausführungen hierzu werden deshalb in diesem Kapitel zurückgestellt zugunsten der Fokussierung auf eine rein jüdische bzw. – wenn man diese genauer definieren möchte – auf eine jüdisch-zionistische Identität (im Gegensatz zu den – voneinander verschiedenen – deutsch-jüdischen Identitäten Wassermanns und Krafts) und der daraus resultierenden stringenten Durchführung der Lebensweg-Metapher ohne Aberrationen, wie sie für die Autobiographien Wassermanns und Krafts charakteristisch sind.

3.3.1 Scholems Negation der Assimilation: Kein Weg als Deutscher und Jude Die Identität Scholems ist gekennzeichnet von einer radikalen Ablehnung des Gedankens einer deutsch-jüdischen Symbiose oder der Möglichkeit eines deutsch-jüdischen ›Dialogs‹, wie er für das Verhältnis von Deutschen und Juden vor dem Nationalsozialismus – einer weitverbreiteten Meinung zufolge – charakteristisch war.200 Der seit seiner Jugend überzeugte Zionist hat in einigen Schriften der sechziger Jahre diesen Gedanken als einen ›Mythos‹ zurückgewiesen, der nicht erst durch die Erfahrung des Holocaust von Deutschen an Juden, sondern bereits seit den Anfängen des deutsch-jüdischen Verhältnisses illusorisch war. In der Festschrift für Margarete Susman (1964) entwickelt er seine Überlegungen »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch«, die sich an den Entwürfen einer dialogischen Philosophie orientieren, wie sie etwa Martin Buber und andere niedergelegt haben. Diese Zurückweisung wird präzisiert in einem Brief an Rudolf Kallner, »Noch einmal: das deutsch-jüdische Gespräch«, der die Scholemschen Thesen von der Unmöglichkeit dieses Gesprächs bezweifelt, und durch eine Rede über »Juden und

200

Auch Schalom Ben-Chorin: In memoriam Gershom Scholem. In: Tribüne 21 (1982), S. 16, vertritt in seinem Nachruf auf Gershom Scholem diesen Standpunkt, wenn er im Hinblick auf Scholems Leben und Werk schreibt: »Hier stehen Theorie und Existenz einander antagonistisch gegenüber, denn Scholem selbst war ein lebender Beweis der deutsch-jüdischen Symbiose. Er dachte und schrieb gleichzeitig deutsch und hebräisch, beides in vollendeter Meisterschaft. Seine Wirkung war, vor allem in den letzten drei Jahrzehnten, in Deutschland kaum geringer als in Israel.« – Dagegen ist zu sagen, dass Scholem mit seiner These ja nicht die Fähigkeit der Juden zur Partizipation an der deutschen Kultur negiert, sondern die unüberbrückbare Distanz zwischen Deutschen und Juden behauptet, die den Juden immer wieder als den ›Fremden‹ ausgrenzt und somit seine Partizipationsbemühungen und -hoffnungen ad absurdum führt. Scholem hat diese Distanz erkannt und konsequent seiner Autobiographie zugrunde gelegt. – Vgl. Gershom Schocken: Gershom Scholem und die deutsch-jüdische Romantik. Übersetzt vom Verfasser. In: Philobiblon 27 (1983), S. 112.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Deutsche« (1966),201 in der er das deutsch-jüdische Verhältnis der letzten 200 Jahre unter den 1964 entworfenen Prämissen untersucht. Scholems Beitrag zur Festschrift für Margarete Susman ist in die Form der Verweigerung eines solchen Beitrags gekleidet. Er erscheint deshalb als Absagebrief an den Herausgeber dieser Festschrift, Manfred Schlösser. Der Grund für Scholems Verweigerung ist die Ablehnung des Programms der Festschrift, die – der Intention des Herausgebers zufolge – »als Dokument eines im Kern unzerstörbaren deutsch-jüdischen Gespräches zu verstehen«202 sei: Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als solchen Begriff auf die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden. Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen und ist nie zustande gekommen. Es erstarb, als die Nachfolger Moses Mendelssohns, der noch aus irgendeiner, wenn auch von den Begriffen der Aufklärung bestimmten, jüdischen Totalität her argumentierte, sich damit abfanden, diese Ganzheit preiszugeben, um klägliche Stücke davon in eine Existenz hinüberzuretten, deren neuerdings beliebte Bezeichnung als deutsch-jüdische Symbiose ihre ganze Zweideutigkeit offenbart.203

Statt eines Gesprächs zwischen Deutschen und Juden, die Scholem als zwei prinzipiell gleichberechtigte Nationen ansieht, hat es sich lediglich um ein Zusammenleben gehandelt, das in letzter Konsequenz zum Untergang der jüdischen Nation hat führen müssen. Allerdings nicht im Sinne dessen, was der Nationalsozialismus im Holocaust mit der physischen Vernichtung der Juden erreicht hat, sondern vielmehr im Sinne des Liberalismus, der – wie dies bereits im Kapitel über Wassermann angedeutet worden ist – das Judentum als Konfession zur Privatangelegenheit der betroffenen Individuen degradiert und im übrigen ein bedingungsloses Aufgehen des Judentums im Deutschtum favorisiert, also die Preisgabe jeder eigenständigen Kultur und Identität der Juden. Nur unter dieser Voraussetzung hat überhaupt ein Gespräch zwischen Deutschen und Juden stattgefunden: Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets [...] auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die einzelnen, sei es als Träger reinen Menschentums, sei es selbst als Träger eines inzwischen geschichtlich gewordenen Erbes rezipiert werden konnten. Jene berühmte Losung aus den Emanzipationskämpfen: »Den 201

202 203

Alle drei genannten Texte sind wiederabgedruckt in dem Sammelband Gershom Scholem: Judaica II. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 7–11, 12–19 und 20– 46. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7f.

3.3 Gershom Scholem

157

Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt: als Juden) nichts« ist es, die verhindert hat, daß je ein deutsch-jüdisches Gespräch in Gang gekommen ist.204

Die ›Schuld‹ hieran – wenn man ›Schuld‹ in diesem Zusammenhang als einen adäquaten Begriff überhaupt verwenden kann205 – liegt aber nicht nur bei den Deutschen, sondern vor allem auch bei den Juden, die sich seit dem Beginn der Emanzipation in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Illusion einer solchen Gemeinschaft hingegeben haben und die Selbstpreisgabe der eigenen jüdischen Identität als stillschweigende Voraussetzung dieser Symbiose akzeptiert und oft sogar befördert haben: Die angeblich unzerstörbare geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewohnt haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her bestanden und war, auf der Ebene historischer Realität, niemals etwas anderes als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, daß sie zu hoch bezahlt worden ist.206

Als literarisches und biographisches Exempel für die Unterwerfung der Juden unter diese Illusion nennt Scholem die Existenz Jakob Wassermanns in Deutschland und bezeichnet dessen autobiographisches Buch Mein Weg als Deutscher und Jude als »eines der ergreifendsten Dokumente dieser Fiktion, ein wahrer Schrei ins Leere, der sich als solchen wußte«.207 Diese Interpretation der deutsch-jüdischen Geschichte ist aus Scholems dezidiert zionistischer Sichtweise hervorgegangen, die sich bereits in seiner frühen Jugend und in kämpferischer Auseinandersetzung mit seiner Familie, besonders mit den Anschauungen seines Vaters, entwickelt hat. Der in einer weitgehend assimilierten Berliner Familie aufgewachsene Gerhard Scholem, der seinen Namen schon bald nach seiner Übersiedlung nach Palästina zu Gershom hebräisierte, distanzierte sich – wie auch sein älterer Bruder Werner – schon früh von der Assimilationsideologie seines Elternhauses. Werner und Gershom stehen zwei weitere Brüder antipodisch gegenüber, die die Assimilationsbestrebungen der Eltern übernommen haben; einer von ihnen, Reinhard, der älteste der vier Brüder, bezeichnet sich sogar bis in die sechziger Jahre und trotz der Ereignisse der Hitlerherrschaft, die ihn in die australische Emigration 204 205

206 207

Ebd., S. 9. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die ›Schuld‹ an dem Holocaust, die den Juden zuzuschreiben absurd wäre. Es geht um die Schuld einer Illusion, die die Juden letztlich daran gehindert hat, rechtzeitig die Konsequenzen zu ziehen und Deutschland spätestens nach der ›Machtergreifung‹ Hitlers zu verlassen. Ebd., S. 10. Ebd. – Mit ebensoviel, wenn nicht größerer Berechtigung hätte Scholem hier auch den – freilich wesentlich weniger bekannten und damit als Exemplum auch wesentlich weniger geeigneten – Werner Kraft nennen können. Dessen Autobiographie thematisiert ja genau diesen ›Schrei ins Leere‹, dessen Qual durch die Erfahrung des Holocaust in Verbindung mit der Unfähigkeit, sich von dieser Illusion, zumindest auf kulturellem Gebiet, zu lösen, aber wesentlich tragischer im ursprünglichen Wortsinne einer unlösbaren Aporie ist als diejenige Wassermanns.

158

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

gezwungen haben, als einen ›Deutschnationalen‹ – in der Familie Scholem finden sich also die drei typischen Existenzmodelle deutsch-jüdischen Lebens vor Hitler vereint,208 so dass Gershom Scholem alle diese Möglichkeiten aus nächster Nähe kannte und seine eigene zionistische Identität in Auseinandersetzung mit ihnen herausbilden konnte. Auf welcher Seite seine Sympathien liegen, verdeutlicht die seinem im Juni 1940 in Buchenwald ermordeten Bruder Werner gewidmete Autobiographie dadurch, dass die Schicksale der beiden anderen Brüder, von denen einer sogar nicht einmal namentlich genannt wird, im Dunkeln bleiben bzw. äußerst mühsam erschlossen werden müssen. Neben dem eigenen Schicksal wird nur dasjenige Werners erzählt, der als einziger der vier Brüder als Märtyrer für den Glauben, dem er zwar nicht anhing, der ihm aber von den Nationalsozialisten zugeschrieben wurde, gestorben ist. Sein Bruder Gershom hält in seiner Autobiographie die Erinnerung an diesen Märtyrer für das Judentum lebendig.209 Werner tendierte nach der Distanzierung vom Elternhaus allerdings zum Internationalismus des Sozialismus, während Gerhard dem jüdischen Nationalismus oder Zionismus zuneigte, der in den ersten Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende auch in Deutschland eine Blüte erlebte. Gershom Scholems zionistisches Engagement während der in der Autobiographie geschilderten Jahre zielte allerdings weniger auf die Gründung eines jüdischen Nationalstaates auf dem Territorium des damaligen Palästina ab, sondern forderte vor allem die Rückbesinnung auf die kulturellen und religiösen Grundlagen des Judentums, die in der zwei Jahrtausende währenden Diaspora unterzugehen drohten.210 Diese Erfahrung machte er im jüdischen Berlin, 208

209

210

Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 47. – Vgl. hierzu auch die Rezensionen von Egon Schwarz: So kam Lenchen auf das Land: Gershom Scholems Autobiographie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.10.1978, und Salcia Landmann: Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen [Rezension]. In: Kontinent (Heft 13), Juni 1980 sowie Jörg Drews: Arbeit an der jüdischen Identität: zum 80. Geburtstag von Gershom Scholem (6.XII.1977). In: Merkur 31 (1977), S. 1207. Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 253. – Das Register führt das Erscheinen des Bruders Werner in der Autobiographie Gershom Scholems akribisch auf. Dem Schicksal Werners sind zahlreiche Seiten gewidmet, die sich über den ganzen chronologisch aufgebauten Text erstrecken, der somit auch eine (wenngleich bruchstückhafte ) Parallelbiographie des Bruders enthält. Zu Scholems zionistischem Programm, das auf säkularer Grundlage ruht und den anarchistischen Grundsätzen Gustav Landauers verpflichtet ist sowie einen friedlichen Ausgleich mit den Palästinensern als Voraussetzung eines jüdischen Staates sieht, vgl. David Biale: Gershom Scholem between german and jewish nationalism. In: The german-jewish dialogue reconsidered: a symposium in honor of George L. Mosse. Ed. by Klaus L. Berghahn. New York [u. a.]: Lang 1996 (German life and civilization; 20) sowie Stéphane Mosès: Gershom Scholems Autobiographie. In: Gershom Scholem: Literatur und Rhetorik. Hg. von Stéphane Mosès und Sigrid Weigel. Köln [u. a.]: Böhlau 2000 (Literatur – Kultur – Geschlecht; 15), S. 9f. – Beide betonen den Vorrang der geistig-kulturellen Erneuerung des Ju-

3.3 Gershom Scholem

159

der Hochburg des assimilationswilligen, bürgerlich geprägten deutschen Judentums, und besonders intensiv in seinem Elternhaus, in dem die jüdischen Traditionen nur noch mit christlichen Versatzstücken kontaminiert weiterexistieren konnten und die er deshalb als vom Untergang bedroht ansah. Als Ausweg kam für Scholem nur der zionistische Weg der Übersiedlung nach Palästina in Frage. Tatsächlich zielte der Zionismus ja ursprünglich nicht auf die (Wieder-) Gründung eines israelischen Staates, sondern auf die kulturelle Erneuerung des Judentums ab.211 Scholem übersiedelte deshalb nach dem Abschluss seines Studiums bereits 1923 nach Palästina, wo er an der Gründung der Universität von Jerusalem, an der er schließlich einen Lehrstuhl für Kabbalistik erhielt, beteiligt war. Seine Autobiographie erzählt die Geschichte seines Lebens von seiner Kindheit und Jugend in Berlin an über die Studienjahre in Deutschland und der Schweiz bis zu seiner wissenschaftlichen Etablierung an der Jerusalemer Universität.

3.3.2 Von Berlin nach Jerusalem Gershom Scholem ist mit seinen – wenigen literarischen – Werken in der germanistischen Literaturwissenschaft fast nicht präsent. Wenn überhaupt, dann tritt er hier als Freund und intellektueller Widerpart Walter Benjamins, Werner Krafts oder anderer zeitgenössischer Autoren auf. Auch seine Autobiographie hat deshalb nahezu ausschließlich als Lebenszeugnis im Zusammenhang mit diesen Personen Interesse gefunden oder wird als autobiographische Darstellung eines zionistischen Gelehrtenlebens von der Geschichtswissenschaft oder der Judaistik wahrgenommen, wie ein Blick in die Rezensionen dieses Werkes zeigt.212 Ein erster Blick auf Scholems Werk aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist erst in den letzten Jahren erfolgt;213 zur Autobiographie selbst ist mir nur ein Beitrag bekannt, der sich allerdings nicht um eine Gesamtdeu-

211 212

213

dentums in Scholems zionistischem Denken vor der Wiedergründung des jüdischen Staats. – Vgl. hierzu auch die Äußerungen Scholems in seiner Autobiographie Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), passim, bes. S. 61–63, 186–188 und 224–227. Vgl. Shlomo Avineri: Zionismus. In: Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums (wie Kap. 2, Anm. 27), S. 889–893. Ich danke an dieser Stelle dem Frankfurter Suhrkamp-Verlag und besonders dessen Presseabteilung, die mir die Rezensionen der verschiedenen Auflagen zugänglich gemacht hat. Vgl. den Sammelband Gershom Scholem (wie Anm. 210), der die Beiträge eines Symposiums über »Literatur und Rhetorik« bei Scholem aus dem Jahr 1997 zusammenfasst. Neben seiner Autobiographie und seinen frühen Gedichten behandelt der Band Scholems Symbol- und Geschichtsbegriff sowie weitere, allerdings bereits stark judaistisch orientierte Themen.

160

3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

tung des Werkes bemüht, sondern lediglich einen punktuellen Zugriff auf einzelne Phänomene unternimmt.214 Gershom Scholem hat seine Lebensgeschichte erstmals 1977 bei Suhrkamp veröffentlicht. Sie wurde in den Jahren 1975/76 niedergeschrieben. Wie zahlreiche seiner wissenschaftlichen Werke ist sie ursprünglich in deutscher Sprache entstanden; einem breiteren Publikum in Israel – die Autobiographie erreichte hier mehrere Auflagen – ist sie erst ab 1982 in einer vom Autor stark erweiterten, ungefähr auf den doppelten Umfang angewachsenen und auf Hebräisch niedergeschriebenen Fassung bekanntgeworden, die 1994 von Michael Brocke und Andrea Schatz ins Deutsche zurückübersetzt worden und wiederum bei Suhrkamp, im Jüdischen Verlag, erschienen ist. Die Übersetzung der Ausgabe ›letzter Hand‹, die dieser Untersuchung zugrunde liegt, vereint den Text der deutschen Urausgabe von 1977, die Scholems hebräischer Textfassung zugrunde liegt, mit den Erweiterungen und Veränderungen, die die hebräische Ausgabe von der ursprünglichen deutschen unterscheidet. Die Veränderungen der neuen Ausgabe beruhen vor allem auf den gewandelten Publikumserwartungen, die Scholem in seiner hebräischen Ausgabe zu berücksichtigen hatte. Neben Streichungen unwichtiger Details und hinzugefügten Erklärungen von Besonderheiten aus dem deutschen Kulturkreis für seine israelischen Leser sind vor allem die schärfere Akzentuierung seiner zionistischen Sendung, zahlreiche Porträts von Persönlichkeiten seines zionistischen Umfelds sowie die ausführlichere Darstellung der ersten beiden Jahre in Jerusalem, vor allem die Gründungsgeschichte der Jerusalemer Universität, als wesentliche Veränderungen dieser Fassung zu nennen.215 Dem Titel der Scholemschen Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem ist die Metapher des Lebenswegs inhärent, die sich aus den Ortsveränderungen im Leben des Autobiographen ergibt. Der Untertitel »Jugenderinnerungen« weckt zugleich eine bestimmte Rezeptionshaltung, die eine an den Erinnerungsbüchern des 19. Jahrhunderts orientierte Darstellung alltäglicher Erinnerungen aus der Kinderzeit erwarten lässt. Diese Erwartungshaltung, in der der aufmerksame Leser vielleicht schon durch die ungewöhnlich große Distanz zwischen den beiden genannten geographischen Punkten irritiert wird, unterläuft der Autor aber bereits im ersten Absatz seines Buches: Wenn ich einige Erinnerungen aus meinen Jugendjahren bis 1925, als ich Dozent an der neugegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem wurde, niederschreibe, weiß 214 215

Vgl. Mosès, Gershom Scholems Autobiographie (wie Anm. 210) in dem erwähnten Sammelband. Vgl. das »Nachwort der Übersetzer« in Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 239–243 sowie die Vergleichsfassung der Autobiographie Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem: Jugenderinnerungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (Bibliothek Suhrkamp; 555). Die Kursivierungen in den Zitaten aus Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160) gehen auf die Übersetzung der Herausgeber zurück und bezeichnen die Veränderungen gegenüber der Urausgabe von 1977.

3.3 Gershom Scholem

161

ich natürlich, daß an dergleichen aus der Feder Berliner Kinder kein Mangel ist, wenn ich es auch kaum gelesen habe. Aber das Besondere wäre in meinem Fall wohl, daß ich von dem Weg eines jungen Juden sprechen will, dessen Weg aus dem Berlin meiner Kindheit und Jugend nach Jerusalem und Israel führte. Mir erschien dieser Weg als sonderbar direkt und von klaren Wegzeichen erhellt, anderen – meine eigene Familie eingeschlossen – erschien er unbegreiflich, um nicht zu sagen, ärgerlich.216

Nicht zielloses Erinnern, gar das Verlieren in nur für das eigene Leben bedeutsamen Mosaiksteinchen der Erinnerung, sondern – ganz im Gegenteil – das zielstrebige Vorangehen auf dem eigenen Lebensweg darzustellen ist die Intention dieser Autobiographie, die deshalb »dem Leser jeden Einblick in Allzuprivates erspart«, weil sie sich »auf Zusammenhänge, die für seinen geistigen Werdegang und sein Werk bedeutsam wurden«217 beschränkt. ›Berlin‹ und ›Jerusalem‹ sind für Scholem deshalb nicht bloß zwei beliebige Punkte auf der Landkarte, zwischen denen sich das eigene Leben abgespielt hat, sondern gleichzeitig auch zwei Metaphern, die für einander entgegengesetzte Lebensentwürfe stehen. Von Berlin nach Jerusalem ist also auch die Kurzfassung einer bewussten Lebensentscheidung, die von der einen in die andere Identität führt. Sigrid Weigel hat in ihrer Untersuchung über die Lyrik Scholems bemerkt, dass sich die Metaphorik des Wegs bereits in seinen frühen, von ihr als ›politisch‹ apostrophierten, zionistischen Gedichten der zehner und zwanziger Jahre auffinden lässt.218 In dieser Lyrik setzt sich Scholem mit den verschiedenen zeitgenössischen Strömungen des Zionismus auseinander und bezieht dezidiert Stellung zu ihren Positionen. Deshalb findet sich hier »die bekannte Wegmetaphorik politischer Richtungskämpfe – Weg, Scheideweg, Wegweiser, vom Weg fortgeraten, weiterziehen«.219 Im autobiographischen Rückblick ist diese Auseinandersetzung, die sich in der Verwendung der ganzen Breite des Wortund Metaphernfeldes ›Weg‹ widerspiegelt, einer abgeklärten Betrachtung gewichen, die aus der Retrospektive eines teleologisch konstruierten Lebenswegs mit einer eingeschränkten, die Affirmation des gewählten Lebenswegs unterstreichenden Metaphorik auskommt. Aberrationen sind in der Darstellung dieses Lebenssweges nicht vorgesehen. Die »Zeit meiner Reife«,220 die für Scholem mit der Aufnahme der (zunächst reinen) Forschungs- und (später dann) Lehrtätigkeit an der Hebräischen Universität begann, ist nicht mehr Thema dieser Autobiographie, die – wenn man will – nur die ›Zeit der Reifung‹ umfasst und mit seiner Jerusalemer Antrittsvorlesung und einem Ausblick auf die Widerlegung ihrer Thesen im Verlauf seines weiteren Forscherlebens endet. 216 217 218

219 220

Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 9. Beide Zitate Landmann, Gershom Scholem (wie Anm. 208). Vgl. Sigrid Weigel: Scholems Gedichte und seine Dichtungstheorie: Klage, Adressierung, Gabe und das Problem einer biblischen Sprache in unserer Zeit. In: Mosès/Weigel (Hg.), Gershom Scholem (wie Anm. 210), S. 40–42. Ebd., S. 40f. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 237.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Aber das autobiographische Schreiben Gershom Scholems speist sich noch aus einem weiteren Traditionsstrang, der mit der Metapher des Lebenswegs durchaus kompatibel ist. Es handelt sich hierbei um das Muster der Gelehrtenautobiographie, die zwar eigentlich das Leben des etablierten Forschers, seinen wissenschaftlichen Werdegang und seine beruflichen Erfolge sowie – eng damit verbunden – die wissenschaftlichen Kontroversen, die diese Gelehrtenexistenz notwendig begleiten, behandelt, deren typische Erscheinungsformen aber natürlich auch auf den Bildungsprozess des sich etablierenden Wissenschaftlers angewandt werden können.221 Dies ist am Beispiel Gershom Scholems der Fall, bei dem sich das Erwachen der jüdischen Identität durch das Studium der historischen und religiösen Schriften des Judentums allmählich zu einem tiefer reichenden, wissenschaftlichen Interesse an diesen Texten verbindet, das schließlich den Prozess der kollektiven Identitätsfindung überlagert und zur beruflichen Lebensentscheidung hinführt. In den sozialpsychologischen Kategorien von Bernd Neumann gesprochen transformiert sich hier Identitätssuche, die traditionell in der Form der Autobiographie des ›innengeleiteten‹ Individuums ihren Ausdruck findet, in ihr Ergebnis, das Aufgehen des Individuums in seiner beruflichen und sozialen ›Rolle‹, die bei Scholem eben in derjenigen des ›Kulturzionisten› und gelehrten Kabbala-Forschers besteht, die in der Form der Memoiren des ›außengeleiteten‹ Individuums ihren Ausdruck findet.222 In Scholems Autobiographie, das werden die folgenden Darlegungen zeigen, überwiegt die memoirenartige Darstellung des eigenen Lebenswegs, der nahezu ausschließlich von außen betrachtet wird und der individuellen, psychologischen und kausalen Motivation der Lebensentscheidungen keinen Raum gibt. Formal lässt sich dies am allmählichen Wechsel der Darstellungsweisen schon im ersten Viertel des Textes zeigen. Überwiegt am Anfang noch die Darstellung der Familienverhältnisse und der individuellen Entwicklung in Auseinandersetzung mit seiner Familie und seiner näheren Umgebung, tritt schon bald das literarische Porträt von zionistischen und wissenschaftlichen Weggenossen, die theoretische Ausfaltung seines zionistischen und politischen 221

222

Zu den Konstituenten der Gelehrtenautobiographie vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Kap. 1, Anm. 27), S. 30–33 und Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Kap. 1, Anm. 26), S. 21–26 sowie Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37), S. 149–155. – Die beiden erstgenannten Autoren beziehen sich allerdings auf die Entstehungszeit der Gattung im 18. Jahrhundert, wohingegen Neumann auf die Autobiographie von Carl Gustav Carus aus dem späten 19. Jahrhundert rekurriert. – Die grundlegenden Konstituenten, auf die im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch zurückzukommen sein wird, bleiben aber über die Zeiten hinweg unverändert gültig. Vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37), S. 175–186, dessen geschichtsphilosophische Deutung der Unmöglichkeit wirklicher Autobiographien im Zeitalter des ›außengeleiteten‹ Individuums im Zeitalter des Kapitalismus allerdings nicht übernommen werden soll.

3.3 Gershom Scholem

163

Standpunkts, die Darlegung der Gründe seiner Gegnerschaft zur Assimilation in den Vordergrund, so dass das Individuum Gerhard Scholem hinter diesen allgemeingültigen Ausführungen schließlich beinahe verschwindet. Die Verwandlung der autobiographischen Form in die der Memoiren findet nahezu unmerklich statt und beginnt spätestens mit dem Kapitel »Student in Berlin (1915–1916)«.223 Hier kündigt sich seine Lösung vom Elternhaus an, die sich nach seinem Hinauswurf aus der Wohnung durch den Vater sowohl aufgrund des zionistischen Engagements des Sohnes als auch wegen seiner Sympathien für den sozialistischen Bruder Werner und seiner Übersiedlung in die »Pension Struck (1917)« endgültig vollzieht.224 Hier wird er in seiner zionistischen Identität gefördert und nimmt erstmals näheren Kontakt zu der zionistischen Bewegung und ihren führenden Köpfen auf. Scholem selbst nimmt eine andere Zweiteilung seiner Autobiographie vor, die weniger formal als die soeben vorgeschlagene ist. Die Zäsur, die Scholem als für sein Leben entscheidend ansieht, ist seine Übersiedlung nach München, wo er sich an der dortigen Universität und in der Bayerischen Staatsbibliothek mit ihren judaistischen Schätzen der Erforschung der Kabbala widmen möchte. Mit dieser Entscheidung nach München zu gehen (»als ich die Schwelle zur Erforschung der Kabbala überschritt«225) ist – zumindest aus der Perspektive des emeritierten Kabbalaforschers, die der Autobiograph nahezu zwangsläufig einnimmt – der weitere Lebensweg definitiv festgelegt. Was bis dahin noch eher unbestimmtes Suchen nach einer jüdischen Identität war, konkretisiert sich hier zur lebensbestimmenden Entscheidung – ohne freilich eine ausreichende Motivierung für diese Entscheidung zu liefern: Meine Jahre in München, Berlin und Frankfurt bis zur Einwanderung nach Palästina bedeuteten im Grunde das Ende meiner inneren Entwicklung zu jener Konkretion des Daseins, von der ich geträumt hatte. In diesen vier Jahren wußte ich schon, wohin mich wenden, ich suchte aber noch nach Wegen, mich vorzubereiten, und die Parole lautete: Lernen!226

Deshalb ist Stéphane Mosès, der die Autobiographie Scholems als den ›Bericht einer Konversion‹ bezeichnet hat, nicht zuzustimmen, weil er damit – wohl in Analogie zu den pietistischen Autobiographien aus der Frühzeit der Gattungsgeschichte227 – im Leben Scholems einen ›Bruch‹ ausmacht, der – das ist Kernthe-

223 224 225 226 227

Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 65–91. Vgl. ebd., S. 92–107. Ebd., S. 140. Ebd. Zur Entstehung der Gattung aus der pietistischen Tradition, die eben das Bekehrungserlebnis zur Legitimation einer immer exzessiveren Autobiographik heranzieht, vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Kap. 1, Anm. 27), S. 38–41 und Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Kap. 1, Anm. 26), S. 6–14.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

se meiner Interpretation – gerade bei Scholem, im Gegensatz zu Wassermann und Kraft etwa, nicht zu erkennen ist. Mosès behauptet nämlich folgendes: Die Autobiographie Scholems handelt nicht so sehr von einem Prozeß, in dem die geschilderte Gestalt sich nach und nach verändert, sondern vielmehr von einem jähen Bruch, von einem grundlegenden Riß, der das Leben des Subjekts in zwei radikal entgegengesetzte Abschnitte aufteilt. Von hier aus gesehen ist Von Berlin nach Jerusalem der Bericht einer Konversion: von der Assimilation zum wiedergefundenem Judentum, vom Deutschjudentum zum Zionismus, von der in seinem Milieu herrschenden Unkenntnis der jüdischen Quellen zur Neuentdeckung der Kabbala. Diese Konversion drückt sich aber vor allem in der Ortsveränderung aus, auf die der Titel des Buches sich bezieht.228

Der Bruch, der charakteristisch ist für die Darstellung der deutsch-jüdischen Identität und sich zumeist tatsächlich entlang der Sollbruchstelle des Bindestrichs vollzieht, bleibt in Gershom Scholems jüdischer bzw. jüdischzionistischer Identität aus. Wohl bricht er mit der deutsch-jüdischen Identität, die ihm von seinem Elternhaus aufgezwungen werden sollte, aber nur, um seiner selbstgewählten jüdisch-zionistischen Identität treu bleiben zu können. Der Bruch in Scholems Existenz ist ein rein äußerlicher und wird durch den Hinauswurf aus seinem Elternhaus, die nur oberflächliche Versöhnung mit seinen Eltern, die seinem späteren Entschluss, nach Palästina überzusiedeln, verständnislos und ohne ihn (auch finanziell) mitzutragen gegenüberstehen, versinnbildlicht. Dass ihn selbst diese Entscheidung der Eltern nicht sonderlich getroffen hat bzw. zumindest wohl nicht unerwartet über ihn kam, verrät der ruhige und leidenschaftslose Ton, mit dem er ›sine ira et studio‹ von diesem einschneidenden Erlebnis berichtet; er nimmt es nicht als eine lebensentscheidende Adoleszenzkrise wahr, sondern sieht es lediglich als notwendige Folge seiner Lebensentscheidung an, die mit der im Haus seiner Eltern herrschenden Assimilationsideologie nicht kompatibel ist.229 Von einem Bruch innerhalb des eigenen Lebens, wie er sich im pietistischen Bekehrungserlebnis spiegelt, kann gleichfalls keine Rede sein. Die Entscheidung für den Zionismus kann bei Scholem nicht mit einem religiösen Erlebnis gleichgesetzt werden: zu überlegt stellt er die ›Reifung‹ seiner zionistischen Ideen und seine Beschäftigung mit den jüdischen Traditionen dar, die schließlich in eine wissenschaftliche Karriere mündet. Gerade die Existenz dieser ›Reifezeit‹ spricht gegen ein Bekehrungserlebnis oder eine Konversion, schließlich kommt Gershom Scholem schon in frühester Jugend mit zionistischem Gedankengut in Kontakt (durch den jüngeren Bruder seines Vaters) und orientiert sich schrittweise an und in der jüdischen Tradition. Dies alles motiviert seine schließliche, überlegt vorbereitete230 Übersiedlung nach Palästina, 228 229 230

Mosès, Gershom Scholems Autobiographie (wie Anm. 210), S. 4. Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 92–95, 108 und 200f. Vgl. ebd., S. 190–200.

3.3 Gershom Scholem

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ohne dass ein bestimmtes Ereignis für diesen Schritt verantwortlich zu machen wäre. Abschließend ist zu bemerken, dass an keiner Stelle der Autobiographie die Erfahrung des Bruchs in der individuellen Entwicklung zu erkennen ist, die es für den Autor notwendig macht, von seinem Leben in einer VorherNachher-Polarität zu erzählen, wie es in den von Bekehrungserlebnissen berichtenden Autobiographien üblich ist. Die Autobiographie verläuft streng entelechisch und teleologisch aus der Perspektive des gealterten Autobiographen, vor dessen geistigem Auge sich der eigene Lebensweg in bruchloser Kontinuität entfaltet. Dies wird deutlich an der ironischen und satirischen Darstellung seiner frühen Kindheit im Haus der Eltern und der dort herrschenden Assimilationsideologie, die ihn schließlich dem Zionismus in die Arme treiben. Dies zeigt der Blick, den Scholem auf die Feier des Weihnachtsfestes im Haus der Eltern bzw. auf die Feier des jüdischen Lichterfestes (Chanukka) wirft, das ungefähr gleichzeitig mit dem christlichen Weihnachtsfest stattfindet. Da das Weihnachtsfest im Judentum nicht existiert, weil Jesus im Judentum keine herausragende Rolle spielt, ist das Begehen dieses Festes in einer jüdischen Familie ein Zeichen für die sehr weit reichende Assimilation an die christliche Umwelt, ebenso wie die Kontamination des jüdischen Chanukkafestes mit umdefinierten, ihres ursprünglichen religiösen Gehaltes entkleideten christlichen Bräuchen. Scholem wirft auf beide Phänomene einen kritisch-distanzierten Blick: Es war schon so, daß vieles in dieser Lebensform der assimilierten Juden, in der ich aufgewachsen bin, durcheinander ging. So kam ich etwa auf sonderbare Weise zu dem Bild Theodor Herzls, des Begründers der Zionistischen Bewegung, das viele Jahre in meinem Zimmer in Berlin und München hing. In unserer Familie wurde schon seit den Tagen der Großeltern, in denen dies Durcheinander einsetzte, Weihnachten gefeiert, mit Hasen- oder Gänsebraten, behangenem Weihnachtsbaum, den meine Mutter am Weihnachtsmarkt an der Petrikirche kaufte, und der großen »Bescherung« für Dienstboten, Verwandte und Freunde. Es wurde behauptet, dies sei ein deutsches Volksfest, das wir nicht als Juden, sondern als Deutsche mitfeiern. Eine Tante, die Klavier spielte, produzierte für die Köchin und das Zimmermädchen »Stille Nacht, heilige Nacht«, und nicht nur diese, sondern auch einige der Geladenen sangen die herzergreifende Melodie. Als Kind ging mir das ein, aber 1911, als ich gerade begonnen hatte, Hebräisch zu lernen, nahm ich das letztemal an diesem Fest teil. Unter dem Weihnachtsbaum stand das Herzl-Bild in schwarzem Rahmen. Meine Mutter sagte: weil du dich doch so für Zionismus interessierst, haben wir dir das Bild ausgesucht. Von da an ging ich Weihnachten aus dem Haus. Bei meinem Onkel wurde Weihnachten natürlich nicht gefeiert, dafür aber Chanukka, aus dem die Kirche das Weihnachtsfest entlehnt hat. Das Fest, das seinen Ursprung dem Sieg der Makkabäer im Aufstand gegen die Hellenisierungsversuche des Königs von Syrien (also gegen »Assimilation«!) und der Reinigung des Tempels in Jerusalem von hellenistischen Götterbildern verdankte, wurde von der Zionistischen Bewegung erst richtig hochgespielt – als seien die Makkabäer zionistische Pioniere gewesen. [...] Als ich in den Kriegsjahren einmal Chanukka zu meinem Onkel kam und die Töchter fragte, woher sie denn all die schönen Geschenke bekommen hätten, sagten sie: das hat uns der liebe Chanukkamann gebracht – ein Ersatz für den christ-

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lichen Weihnachtsmann. Der Onkel erschien auch stets zu Chanukka, obwohl die Chanukkalichter bei uns nicht entzündet und »Maos Zur« [das dabei fällige, sehr populäre hebräische Lied; M. M.] nicht gesungen wurde, und brachte, ironisch genug, meinen Eltern und uns je ein Paket Pfefferkuchen mit und statt der beliebten Weihnachtsstolle ein geflochtenes und mohnbestreutes Sabbatbrot.231

Das Paradoxe dieses Festes in einem jüdischen Haushalt wird besonders deutlich an der Tatsache, dass er selbst zu diesem Fest im Jahr seines jüdischen und zionistischen ›Erwachens‹ ein Bild Theodor Herzls geschenkt bekommt, ›weil du dich doch so für den Zionismus interessierst‹. Diese Szene ist ein Beweis für die Distanz, ja Entfremdung, die zwischen dem sechzehnjährigen Gerhard Scholem und seinen Eltern, die sich der Geschmacklosigkeit dieses Geschenks in den Augen des die jüdischen Traditionen gerade wiederentdeckenden Sohnes gar nicht bewusst sind bzw. sein zionistisches Interesse als nichtige Kinderei und Episode abtun, die den Prozess der Assimilation nicht aufhalten kann; dies zeigt die Geschenkübergabe im – freilich folkloristisch und nicht religiös motivierten (die Familie Scholem war nicht konvertiert) – christlichen Rahmen. Ausgerechnet Herzl, der Kämpfer für ein Wiedererwachen der jüdischen Identität und eine erneute ›Heimstatt‹ der Juden in Palästina, wird zum Gegenstand eines christlichen Rituals in einer jüdischen Familie. Gleichzeitig bezeugt diese Episode – ähnlich wie dies im nächsten Kapitel am Beispiel von Ludwig Greve und der in seinem Elternhaus stattfindenden »Weihnukka«-Feierlichkeiten gezeigt wird – die Distanz, die sein Elternhaus zum traditionellen Judentum bereits aufgebaut hat. Sie äußert sich in der Übernahme christlicher Formen und Riten als nach innen und außen gleichermaßen gerichtetes Zeichen der Assimilation bzw. Akkulturation, gegen die sich schon beim jugendlichen Gerhard Scholem Widerwillen regt, der sich im Verzicht auf die Teilnahme an weiteren Veranstaltungen dieser Art in den folgenden Jahren manifestiert. Diese Entfremdung sogar der oberflächlich zionistischen Berliner Juden bildet den steten Gegenstand der Missbilligung des Autobiographen., Dies zeigt sich etwa in der Darstellung der Person des ›Onkel Theobald‹, der »vor seiner Heirat der einzige Zionist in der Familie«232 gewesen ist und in dessen Haus das zitierte, gleichfalls mit christlichen Formen kontaminierte Chanukkafest stattgefunden hat. Das Hauptziel von Scholems Angriffen auf die Assimilationsideologie ist aber die Person des Vaters, an der sich Identitäts- und Entwicklungskrisen traditionsgemäß zumeist entzünden. Der Vater ist durch »einen – damals modischen – wilhelminisch emporgezwirbelten Schnurrbart«233 und sein Abonnement des Berliner Tageblatts, dem Zentralorgan des deutschen Bürgertums in jenen Jahren, charakterisiert. Er hat also die Ideologie der Assimilation buchstäblich bis in die Haarspitzen verinnerlicht und wird in Scholems Darstellung fast zur Karikatur eines Assimilanten, der den sozialisti231 232 233

Ebd., S. 32f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 13.

3.3 Gershom Scholem

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schen (Werner) bzw. zionistischen (Gerhard) Ideen seiner Söhne äußerst unwillig gegenübersteht und es über diese weltanschaulichen Konflikte sogar zum Bruch mit ihnen kommen lässt. Ob es sich nun um die Missachtung der Sabbatruhe oder die Nichteinhaltung der Fasten- und Speisevorschriften handelt, immer gibt Scholem seine Missbilligung dieses Verhaltens deutlich zu erkennen. Fast immer zieht er auch die – von seinem zionistischen Standpunkt aus gesehen – richtigen Konsequenzen, indem er sich isoliert und seinen Unmut über die assimilatorischen Tendenzen mit ironischer Deutlichkeit artikuliert. Aber auch die zionistischen Strömungen seiner Umwelt, deren assimilatorische, weil letztlich auf ein ›Bleiben‹ in Deutschland ausgerichteten Tendenzen er deutlich erkennt, unterzieht er diesem ironisch-kritischen Blick. Die Kritik Scholems richtet sich in diesen Beispielen weniger gegen den Inhalt als gegen die Form dieser Bemühungen einer Wiederbelebung der jüdischen Identität, die von Scholem als der eigentlich zu bewahrenden jüdischen Tradition entgegengesetzt erfahren werden. Seine Ironie gilt deshalb in der Hauptsache der Form der ›Parallelaktion‹ im Sinne Robert Musils, mit der die jüdischen Studentenverbindungen und die jüdische Jugendbewegung ihre christlichen Pendants nachahmen. Die Mimesis deutscher, vorwiegend bürgerlicher Lebensformen lässt sich mit dem Zionismus Scholems, der eine Wiederbelebung der authentischen jüdischen Kultur und Tradition im Land der Väter zum Ziel hat, nicht vereinbaren, weil sie die Illusion der Assimilation, nämlich ein gleichberechtigtes Leben in Deutschland führen zu können, noch nicht abgelegt hat. Dies zeigen zwei Episoden aus dem Beginn seiner Berliner Studienzeit, als er das Treiben der jüdischen Studentenverbindungen betrachtet oder in Kontakt mit dem jüdischen Wanderbund ›Blau-Weiß‹ kommt: Ich habe erzählt, wie ich der Aguda [eine sich bald der Orthodoxie zuwendende zionistische Jugendorganisation; M. M.] beigetreten und wie ich sie wieder verlassen habe. Doch immerhin kann man sagen, daß die Aguda eine stärkere Anziehungskraft auf mich ausgeübt hatte als die zionistischen Studentenverbände, die in den Mitgliedern der »Jung Juda« ihren natürlichen Nachwuchs sahen. [...] Beide luden uns im Herbst 1913 und im Frühjahr 1914 zu ihren Antrittskommersen ein. Auf mich machte, was ich da an studentischem »Comment« zu sehen und hören bekam, als Exempel gerade jener Assimilation, mit der ich nichts zu tun haben wollte, – und dann auch noch als zionistisches Ereignis –‚ einen so empörenden Eindruck, daß ich, mit noch drei oder vier von uns, den Entschluß faßte, mit derartigen Organisationen auf gar keinen Fall je etwas zu tun zu haben. Diesen Entschluß habe ich auch durchgeführt und galt seitdem bei den von mir mit so schmählicher Verachtung Bedachten als verstiegener Sektierer und asozialer Typ. Ähnlich verlief auch der Versuch, mich für den jüdischen Wanderbund »BlauWeiß« zu gewinnen, dem sich ein Teil meiner Jugendfreunde anschloß. Das war eine zionistische Version des »Wandervogels«, die deutsche Romantik mit neujüdischer verband. Ich lief zwar gern durch die schöne Umgebung von Berlin, tat das aber am liebsten allein oder zusammen mit Erich Brauer, einem Freund aus der »Jung Juda« [...]. In Rudeln und unter Absingung der Lieder des Zupfgeigenhansels

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oder des jungjüdischen Liederbuches, das auch einige zionistische, ja sogar hebräische und jiddische Lieder enthielt, darunter »Ha-Tikwa«, » Techesaqna« (»Kraft, stärke die Hand unserer Brüder«), »Se’u Ziona Nes wa-Degel« (»Traget gen Zion Fahne und Banner«) u.ä., durch die Landschaft zu ziehen – danach stand mein Sinn nun gar nicht. Nach zwei, wie man das nannte, Probefahrten kam ich nicht wieder. Das war 1915. Meine zwischen 1915 und 1918 geschriebenen frühesten Aufsätze spiegelten meine Ablehnung der Kriegsstimmung und meine Polemik gegen das, was sich damals jüdische Jugendbewegung nannte, wider. Meine Forderung, die jungen Juden sollten vor allem einmal Hebräisch lernen, war zwar ideologisch einwandfrei, verlangte aber mehr Opfer und Anstrengung als jene Zeremonien und Landschaftserlebnisse der Studenten und Wanderer. Mein Eifer und meine scharfe Zunge riefen zornige Reaktionen hervor. In den Antworten an mich hieß es, ich sei wohl willensstark, aber total unkünstlerisch und ein rein intellektueller Typ, und nicht jeder Kopf halte das aus. Nun ja; da war nichts weiter zu sagen.234

Dennoch bestimmt sich die Identität Scholems nicht vorwiegend negativ aus seiner kämpferisch verfochtenen Ablehnung der Assimilation, sondern – das scheint auch im eben angeführten Zitat auf – positiv durch seine frühzeitige Hinneigung zu zionistischen Ideen, deren Eigenständigkeit dort belegt wird, indem er auf seine schriftlichen Arbeiten verweist, die diese Ablehnung legitimieren sollen und innerhalb der zionistischen Bewegung auf großen Widerstand stoßen. Scholem legt in seiner Autobiographie großen Wert darauf, die Autonomie seiner intellektuellen Entwicklung zu betonen. In den diesen Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung behandelnden Abschnitten lässt sich auch eine deutliche Nähe zum Typus der Gelehrtenautobiographie konstatieren. Zu nennen ist hier etwa das Hervorheben der eigenen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete, die Aufzählung der hierin erzielten Fortschritte und Erkenntnisse sowie die Aufzählung der Kontroversen mit rivalisierenden Wissenschaftlern und ihren Schulen, mit Forschungsansätzen und -ergebnissen der Konkurrenz. Dies lässt sich sowohl an seinen Kontroversen belegen, die er – wie gesehen – bereits in seiner Jugendzeit sowohl mit Assimilanten als auch mit Vertretern der verschiedenen zionistischen Richtungen führt, als auch an der entschiedenen Betonung der Eigenständigkeit und Ungebundenheit seines Geistes. Dies zeigt sein frühes, dem Zeitgeist entgegengesetztes Interesse für die Traditionen des Judentums sowie seine spätere Entscheidung, sich der philologisch exakten Erforschung der Kabbala zu widmen und auf diesem Gebiet zu einer anerkannten Kapazität zu werden, die ein wissenschaftlich bislang noch unerschlossenes Gebiet erkundet. Der Zentralbegriff, der die intellektuelle Neugier kennzeichnet, mit der sich Scholem der nahezu verschütteten jüdischen Tradition zuwendet, ist dabei derjenige des ›Lernens‹, den er im Sinne dieser Tradition benutzt. Wie ›Schul‹ und ›Synagoge‹, die weitgehend synonym gebraucht werden, so gehört auch der Begriff des ›Lernens‹ ursprünglich der religiösen Sphäre an und bezeichnet nicht den Erwerb weltlicher Bildung, der den Juden die meiste Zeit ihrer Diasporaexistenz verwehrt war, sondern die Aneignung der religiösen Inhalte des 234

Ebd., S. 63f.

3.3 Gershom Scholem

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Judentums, wie sie in der Synagoge gelehrt wurden. Scholems lebenslanges ›Lernen‹ ist zwar an diese Gegenstände der jüdischen Tradition gebunden, weswegen er diesen Begriff benutzt, sein ›Lernen‹ ist allerdings geprägt von den modernen Methoden der philologischen Wissenschaft, die er sich während seines Studiums angeeignet hat.235 Auch der allmähliche Zuwachs seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten spiegelt sich in den angeführten Zitaten, die die Entelechie seines Geistes belegen und den zunehmenden Reflexionsgrad seiner Beschäftigung mit den Quellen des Judentums verdeutlichen: Da ich die Schule spielend bewältigte, blieb mir viel Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, daß Vater oder Mutter je versucht hätten, mich in diesen Jahren in eine bestimmte Richtung zu lenken.236 So ging ich nach den großen Sommerferien zusammen mit meinem Klassenkameraden Edgar Blum, mit dem ich eng befreundet war [...] zu unserem Religionslehrer und fragte ihn, ob er bereit sei, uns Hebräischlesen und die Anfangsgründe der Sprache zu lehren. [...] Da wir lernen wollten, ging es sehr schnell, und nach einem Monat teilte ich meinen Eltern mit, daß ich keinen Extralehrer für die »BarMizwa« brauche, da ich mich entschlossen hätte, Hebräisch zu lernen und mich Dr. Barol alles lehren würde, was für diesen Tag notwendig sei. [...] 235

236

Diese Ausführungen verweisen auf einen umstrittenen Gegenstand der ScholemPhilologie, der in seiner Autobiographie nur kurz angerissen wird: sein Verhältnis zur Wissenschaft des Judentums, wie sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und deren Methoden der Textkritik Scholem selbst sich in seinen Forschungen bedient. Dennoch steht Scholem dieser Wissenschaftstradition ambivalent gegenüber. Seiner Hochschätzung ihrer Begründer Leopold Zunz und Moritz Steinschneider korrespondiert die Verachtung ihrer Nachfolger, die im Gefolge der Assimilationsideologie der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts den »Selbstmord des Judentums in der sogenannten Wissenschaft vom Judentum« (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem [wie Anm. 160], S. 147f.) vorantreiben. Hintergrund dieser Anschuldigungen ist das nur archivarische und musealisierende Interesse, das Scholem dieser »Gruppe der gelehrten Liquidatoren« (ebd., S. 147) unterstellte, und dem auch der oben erwähnte Moritz Steinschneider, der in Scholems Kinderjahren noch in Berlin lebte, am Ende seines Lebens zuneigte: »Im höchsten Alter sah er die Funktion der Wissenschaft vom Judentum darin, diesem Phänomen, dem er sein ganzes Leben gewidmet hatte, ein anständiges Begräbnis zu verschaffen (ebd., S. 147). – Scholems Forschungsinteresse verfolgte hingegen eine entgegengesetzte Intention, die durch die philologische Textkritik eine Erneuerung und Befruchtung der jüdischen Tradition für die Gegenwart ermöglichen sollte, die freilich erst in einem jüdischen Nationalstaat bzw. einer autonomen jüdischen Kultur möglich sein konnte. Auf diese Weise verbindet sich für Scholem zionistisches und wissenschaftliches Interesse an den historischen und religiösen Quellen des Judentums. – Zu diesem Problem der Scholemforschung vgl. Peter Schäfer: Gershom Scholem und die »Wissenschaft des Judentums«. In: Gershom Scholem zwischen den Disziplinen. Hg. von Peter Schäfer und Gary Smith. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 (edition suhrkamp; 1989) und Joseph Dan: Gershom Scholem: between mysticism and scholarship. In: The Germanic review 72 (1997), H. 1, S. 4–22. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 39.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

[...] Mein Freund Edgar Blum, den seine Mutter in eine Religionsschule geschickt hatte, sagte mir, man lerne da viel zu wenig und könne die Zeit bei intensivem Lernen weit besser verwenden. So kaufte ich mir hebräische Grammatiken und Übungsbücher, an denen auch auf deutsch kein Mangel war, oder ich lieh sie mir in der Bibliothek und lernte etwa fünfviertel Jahre lang allein.237 Schon im Jahre 1915 regte sich mein Interesse für die Kabbala, und ich besitze noch meine ersten Aufzeichnungen über die Bücher, die ich damals las, und die Betrachtungen, die ich dazu anstellte. [...] [...] Zaghaft begann ich, mich an Originaltexten der kabbalistischen und chassidischen Literatur zu versuchen, [...] bei denen mir deutlich wurde, daß sie ohne Kenntnis kabbalistischer Vorstellungen und Symbole unverständlich bleiben würden – aber woher solche Kenntnis nehmen? Das war in Deutschland damals mit großen Schwierigkeiten verbunden. Denn während man Talmudkenner [...] immer finden konnte, gab es niemand, der einen auf diesem Gebiet anleiten konnte (und wenn es welche gab, so behielten sie ihr Wissen für sich, wie mir Jahrzehnte später klar wurde).238 Ich dachte, mit dem schon erwähnten Plan »Sprachphilosophie der Kabbala« zu promovieren. In Clemens Bäumker fand ich einen bedeutenden Historiker der mittelalterlichen Philosophie, zu dessen Verdiensten auch ein wichtiger Beitrag zur Judaistik zählte [...]. Als ich im März 1920 nach Schluß des Seminars zu ihm kam, empfing er mich gnädig und erklärte sich bereit, eine Doktorarbeit von mir auf diesem Gebiet der Kabbala, das er selbst eine wissenschaftliche »terra incognita« nannte, anzunehmen.239

Scholems Interesse für die Traditionen des Judentums erwacht nicht etwa beim, auch in den assimiliertesten Familien erteilten »jüdische[n] Religionsunterricht, bei dem man in unserer Schule nicht einmal Hebräisch lesen lernte und der mit Vollendung des vierzehnten Lebensjahres sowieso als obligatorisches Fach aufhörte«,240 sondern beim Selbststudium von Heinrich Graetz’ Geschichte der Juden241 und wird – wie belegt – vertieft durch ein intensives HebräischStudium, das die üblichen oberflächlichen Vorbereitungen auf die erste (und zumeist auch einzige) Tora-Lesung bei der ›Bar Mizwa‹ überflüssig macht. Dieser Unterricht ermöglicht ihm den ersten Zugang zu den authentischen, originalsprachlichen Quellen des Judentums – eine Voraussetzung seiner späteren wissenschaftlichen Arbeit und eine Novität für jüdische Religionswissenschaft237 238 239 240 241

Ebd., S. 42. Ebd., S. 130f. Ebd., S. 141. Ebd., S. 40. Heinrich Graetz (1817–1891) lehrte am Jüdischen Theologischen Seminar sowie an der Universität von Breslau. Seine monumentale elfbändige Geschichte der Juden zählt zu den herausragenden Arbeiten der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert, weil sie philologisch exakt und mit genauer Kenntnis sowohl der jüdischen Tradition als auch ihrer weltgeschichtlichen Hintergründe die Entwicklung jüdischen Denkens und Lebens »von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart« – so der Untertitel des Werkes – nachzeichnet.

3.3 Gershom Scholem

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ler, wie das Miniaturporträt des Professors Philipp Bloch zeigt, das er anlässlich seiner Bekanntschaft mit diesem Gelehrten aus dem Jahr 1922 zeichnet: Er zeigte mir seine kabbalistische Sammlung und ich bewunderte alles, besonders aber die Handschriften, die meisten davon Werke der Schüler Lurias. In meiner Begeisterung sagte ich durchaus harmlos: »Wie schön, Herr Professor, daß Sie das alles studiert haben!« Der alte Herr erwiderte: »Was, den Quatsch soll ich auch noch lesen?« Es war ein großer Moment in meiner Biographie.242

Scholems »Jüdisches Erwachen«243 fällt in das Jahr 1911, das gleichzeitig den Bruch mit der Assimilationsideologie seines Elternhauses bedeutet. Erst hier, im dritten Kapitel seiner Autobiographie, beginnen die Mitteilungen und Erinnerungen aus Scholems eigenem Leben. Die beiden vorhergehenden Kapitel, »Herkunft und Kindheit« sowie »Jüdisches Milieu« enthalten lediglich einen kursorischen Überblick über die Vorfahren und die Familienverhältnisse Scholems, der in der Hauptsache dazu dient, den Weg von der traditionellen jüdisch-orthodoxen Lebensweise der schlesischen und posenschen Juden, die die überwältigende Majorität der Berliner Judenschaft bildeten, bis zur weitestgehenden Assimilation an die Lebensart der Umgebung,244

den die Familie gegangen ist, nachzuvollziehen. Erst vor dieser Negativfolie lässt sich die Entwicklung der jüdisch-zionistischen Gelehrtenidentität Gershom Scholems nachvollziehen. Bedauerlicherweise enthält der Autobiograph seinen Lesern den größten Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung während dieser Jahre vor. In den Kapiteln, die Scholem seiner Studienzeit und den ersten Jahren seines Lebens in Jerusalem widmet, setzt sich fort, was sich bereits in der Darstellung seines ›jüdischen Erwachens‹ als Schüler abzeichnete: das vollständige Zurücktreten privater Erinnerungen und persönlicher Entwicklungsstufen, sofern sie sich nicht in einen Zusammenhang mit seiner jüdisch-zionistischen Identität oder seinen intellektuellen Werdegang als Kabbala-Forscher bringen lassen. Dieses vollständige Zurücktreten des Privaten und Persönlichen spiegelt sich auch in seiner Lebensentscheidung während des Studiums, sich künftig nahezu ausschließlich der Erforschung der Kabbala zu widmen. Joseph Dan bemerkt zu dieser Passage von Scholems Autobiographie, dass sie zwar »deals in great detail with the circumstances that surrounded Scholem’s decision to make the Kabbalah the subject of his study, but it does not state his reasons for doing so.«245 Über die wahren Gründe seiner Entscheidung kann deshalb auch Dan nur spekulieren. Er sieht in ihr neben der überindividuellen Leistung der Bewahrung eines wesentlichen, nahezu vergessenen Bestandteils der jüdischen Tradition entgegen dem assimilatorischen ›mainstream‹ vor allem eine Entscheidung des Trotzes und der Selbstbestimmung: 242 243 244 245

Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 178f. Ebd., S. 40. Ebd., S. 10. Dan, Gershom Scholem (wie Anm. 235), S. 9.

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He told many anecdotes concerning the ignorance and lack of interest of previous scholars in the subject. Knowing the central facts concerning the young Scholem’s character, this seems to have been reason enough. His rebellious attitude toward his family and his culture, his embracing of despised and abused Judaism, his studying of Hebrew and the Talmud in spite of the prevailing antagonism toward it in his cultural surroundings correspond very well with this explanation. He refused to accept the verdicts of his elders and his teachers concerning what was worthwhile and what was not; his adherence to the despised Kabbalah is in line with this basic attitude.246

In den Kapiteln, die der Autor seinen Studienjahren widmet, wechseln sich kurze Porträts von Freunden, Weggefährten, Gegnern, akademischen Lehrern und bekannten Zionisten247 ab mit den Referaten seiner zahlreichen Kontroversen sowohl innerhalb der zionistischen Kreise, in denen er sich jeweils bewegte, als auch im akademischen Milieu, wo er durch seine intensiven Quellenstudien kabbalistischer Texte manche bislang offensichtlich mangels akribischer philologischer Quellenarbeit wenig hinterfragten Forschungsergebnisse erschütterte – auch hier sind Ironie und Satire bewährte Formen der Darstellung, um den Positionen der anderen ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen. Dies zeigt etwa das bereits zitierte Porträt Philipp Blochs, aber auch die Schilderung einer Begegnung mit dem Prager Schriftsteller Gustav Meyrink, der sich in seinen Romanen ausgiebig aus dem reichen Fundus der jüdischen Mystik bedient hatte, ohne sich freilich um den historischen Gehalt und die Verwurzelung der von ihm herausgebrochenen Versatzstücke in der jüdischen Tradition zu kümmern. Bei diesem Treffen wird Scholem von Meyrink über diese Zusammenhänge befragt und nutzt die Gelegenheit, um von der Warte seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses gegen die Kontamination der jüdischen Tradition durch fiktionale Verflachungen zu polemisieren und um sein wissenschaftliches Programm der philologischen Quellenkritik und der Rekonstruktion des Überlieferungszusammenhangs zu verkünden. Gleichzeitig gilt diese Attacke nicht nur dem Schriftsteller, der sich wenigstens auf die Freiheit der Fiktion berufen konnte, sondern auch den zahlreichen Forschern, die sich ähnlich unseriös bei ihren kabbalistischen Forschungen verhalten haben und – kurios genug – von den zeitgenössischen okkultistischen Strömungen – etwa von Gustav Meyrink248 – beeinflusst waren: 246 247

248

Ebd., S. 10. Dies belegt auch das umfangreiche Namensregister, das diesem Band beigegeben ist, und in dem alle porträtierten Personen und die sich auf sie beziehenden Stellen nachgewiesen sind. Ein solches Register ist in ›reinen‹ Autobiographien im Sinne Bernd Neumanns, die sich um die Darstellung der inneren Entwicklung des Individuums kümmern, selten, in Memoiren, die sich den äußeren Ereignissen eines Lebens widmen, dagegen häufig anzutreffen. Vgl. Heidemarie Oehm: Gustav Meyrink »Der Golem«. In: Spiegel im dunklen Wort: Analysen zur Prosa des frühen 20. Jahrhunderts. Hg. von Winfried Freund und Hans Schumacher. Frankfurt am Main, Bern: Lang 1983 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1 Deutsche Sprache und Literatur; 513), S. 177–203.

3.3 Gershom Scholem

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Das [die Rekonstruktion der Zusammenhänge aus den Quellen; M. M.] war nun nicht so schwer, wenn man nicht nur etwas von Kabbala, sondern auch von deren Mißbrauch oder Entstellung in okkultistischen oder theosophischen Schriften aus dem Umkreis der Madame Blavatsky wußte – und meine Beschäftigung mit der Kabbala hatte mich auch hin und wieder zu einem kritischen Blick auf diese Literatur veranlaßt. Aber es steckte mir auch ein Licht darüber auf, wie ein Autor pseudomystischen Eindruck schinden konnte.249

Breiten Raum in seiner Autobiographie nehmen die Studienjahre ein, während denen er sein Studium der Quellen des Judentums und sein zionistisches Engagement vertieft. Die Wahl seiner Studienfächer Mathematik, Philosophie und Judaistik ist dabei so angelegt, dass er möglichst wenig in Kontakt mit der deutschen Kultur tritt. Sogar in der Philosophie beschränkt er sich weitgehend auf Logik und Erkenntnistheorie. Das Ziel seines Studiums war deshalb keine akademische Karriere, vor allem nicht in Deutschland, sondern das Lehrerexamen, um nach seiner Emigration in das Land der Väter dort jüdische Kinder zu unterrichten – an eine akademische Karriere war zunächst angesichts der Notwendigkeit, eine elementare zivilisatorische Infrastruktur in den weitgehend unbewohnten Landstrichen des britischen Mandatsgebiets Palästina aufzubauen, nicht zu denken. Auch seine Übersiedlung nach Palästina ändert an dieser memoirenhaften Form der Darstellung nichts. Die Vorbereitungen für die Auswanderung und die Schwierigkeiten, sich eine neue Existenz aufzubauen, werden zwar eingestanden und in anekdotenhafter Weise – wie er seine Anstellung an der neugegründeten Nationalbibliothek erhält – erzählt, stellen den Autor aber vor keinerlei der Mitteilung würdige Herausforderungen – weder was die weitere Ausgestaltung seines Lebens betrifft noch was die Form der Autobiographie anbelangt. Er bewegt sich auch hier weiterhin in zionistischen und Gelehrtenkreisen und kann sein Leben bruchlos fortsetzen. Im Gegensatz etwa zu Werner Kraft, der auch in Jerusalem der deutschen Literatur und Kultur verhaftet bleibt, findet er hier sofort seine Heimat, muss er sich nicht mit einem kulturellen Bruch auseinandersetzen, der ihn von seinen bisherigen ›Wurzeln‹ abgeschnitten hat: Das Jerusalem, in das ich kam, war also wie vom Himmel für mich bestimmt oder doch wenigstens wie für mich gemacht, und ich fühlte mich darin zu Hause.250 Schon im April 1933 verließ ich Deutschland. Seit 1934 lebe ich in Jerusalem. Es heißt, die Luft dieses Landes macht weise; das Exil wurde zur Heimat. Aber die Mühe des Anfangs war groß. Nicht nur die materiellen, auch die geistigen Lebensadern waren mir durchgeschnitten. Ich hatte Freunde, dankbar sage ich es, ja sogar einen einzigartigen Freundeskreis, ich war nicht verlassen. Nur in dem, was ich zu sein glaubte, ein Schriftsteller und Dichter der deutschen Sprache, konnte mir niemand helfen.251 249 250 251

Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 164. Ebd., S. 215. Kraft, Spiegelung der Jugend (wie Anm. 143), S. 152.

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Nichts illustriert die Verschiedenheit der beiden Lebensentwürfe und der ihnen zugrundeliegenden Identitätskonzepte deutlicher als diese beiden Zitate. Was bei Scholem als notwendige Konsequenz seiner ganzen bisherigen Lebensführung bejaht wird und nicht auf äußeren Druck zurückzuführen ist, erscheint bei Kraft als ein das ganze Leben in Frage stellender Einbruch überindividueller Mächte, die es dem Autor nicht erlauben, die Illusion eines entelechischen und teleologisch organisierten Lebens aufrecht zu erhalten. Erst die normative Kraft des Faktischen zwingt Kraft dazu, Jerusalem als seine Heimat anzuerkennen – nachdem er im letzten Moment aus dem nationalsozialistischen Deutschland entkommen konnte. Dennoch blieb ihm Jerusalem für den Rest seines Lebens Heimat nur in einem rein äußerlichen, seine intellektuellen Bezugspunkte252 nicht tangierenden Sinn. Dies wird deutlich im dialektischen Denken Krafts, das zwar – mit Hegel – These und Antithese sehr wohl kennt, beide aber nicht zu einer die Widersprüche seines Lebens versöhnenden Synthese vereinigen kann. Geistiges Leben und äußere Existenz in Jerusalem stehen unverbunden nebeneinander. Im Falle Scholems lässt sich der umgekehrte Sachverhalt beobachten. Für ihn ist Deutschland, ist die deutsche Kultur nicht Heimat, sondern Fremde. Sein ganzes Streben, wie er es in seiner Autobiographie darstellt, ist darauf gerichtet, aus dieser Fremde in seine wahre Heimat ›zurückzukehren‹. Dieser Weg von der Fremde in die Heimat liegt der Topographie seiner Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem zugrunde. Unter dieser Prämisse lassen sich auch seine Studienaufenthalte in den verschiedenen deutschsprachigen Universitätsstädten, die alle deutlich südlich von seiner Heimatstadt Berlin und somit näher an Jerusalem liegen, als allmähliche Annäherung an das Ziel seines Lebenswegs denken: nicht nur im genannten, platt geographischen Sinne, sondern auch in demjenigen einer zunehmenden intellektuellen Annäherung an die Traditionen des Judentums, die – je weiter südlich sie stattfindet – allmählich, versinnbildlicht durch den Fortschritt seiner Studien, intensiver wird. Die Auseinandersetzung mit der Assimilationsideologie der Eltern findet im nördlichen Berlin statt, sein Studium der jüdischen Quellen führt ihn über Jena (»Die Universität selbst hatte wenig, um mich besonders anzuziehen, aber ich fand Zeit, um nachzudenken und zu lesen.«253), Bern (»Die Schweizer Landesbibliothek hatte [...] gelehrte Literatur über die Bibel und viele Dissertationen judaistischen Charakters«254), München, wo er seine Dissertation verfasst (»Nun kam nur noch München in Frage, wo die größte hebräische, darunter auch an kabbalistischen Manuskripten reichste Handschriftensammlung 252

253 254

Dies hinderte ihn natürlich nicht an einem teilnehmenden Interesse für die politischen und sozialen Belange Palästinas und Israels, wie etwa die Grabrede Joav Tibons, des Schwiegersohns, bei Werner Krafts Beerdigung zeigt. – Abgedruckt in Werner Kraft 1895–1991 (wie Anm. 137), S. 180–182. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 109. Ebd., S. 124.

3.3 Gershom Scholem

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Deutschlands lag und noch liegt«255), und kurze Aufenthalte vor seiner endgültigen Emigration in Frankfurt und Berlin schließlich nach Jerusalem. Dort findet er schließlich seine Bestimmung. Geplanter und gezielter (im geographischen wie im intellektuellen Sinne) kann ein Leben nicht verlaufen, und Scholem stellt sich damit – wenngleich er sich überwiegend der Memoirenform und damit der Darstellung seines äußeren Lebens bedient – in die Traditionslinie der entelechischen und teleologisch verlaufenden Autobiographie eines bruchlos gelingenden Lebens. Beide, Scholem und Kraft, bedienen sich dieser Tradition, indem sie einen chronologischen Lebensweg konstruieren, der sie aus dem deutschen Kaiserreich nach Jerusalem und Palästina führt. Aber Kraft fährt in die Fremde, ins ›Exil‹,256 das ihm erst allmählich zur ›Heimat‹ im oberflächlichsten Sinne des Wortes wird, während sich Scholem gleich ›zu Hause‹ fühlt: Ich gehörte zu den wenigen glücklichen Einwanderern, die die Zeit ihrer Anpassung an die klimatischen und hygienischen Bedingungen im Lande bei bester Gesundheit überstanden.257

Für Kraft dagegen bedeutet die Übersiedlung einen Bruch mit seiner bisherigen Existenz, für Scholem, dessen vorheriges Leben nur eine Vorbereitung auf dasjenige in Jerusalem gewesen ist, nicht. Deshalb setzt sich bei Kraft der Bruch innerhalb des Lebens bis in die Form der Darstellung dieses Bruchs hinein fort. Zwar bedient er sich noch der Form der Autobiographie, wie sie in der bürgerlich-idealistisch geprägten Gattungstradition angelegt ist, weil sich seine ganze geistige Existenz innerhalb dieses Paradigmas entfaltet hat; dies belegen seine eigenen Ausführungen zu seiner Geistesbildung deutlich. Der Verlauf seines äußeren Lebens widerspricht dieser geistigen Identität einer deutsch-jüdischen Symbiose auf das Eklatanteste, weshalb Kraft gezwungen ist, dieses äußere Leben als Antithese zu seiner geistigen Entwicklung in seine Lebensbeschreibung zu ›integrieren‹, soweit ihm das eben möglich scheint, 255 256

257

Ebd., S. 133. Wenn man Werner Krafts in seiner Autobiographie entfaltetes Itinerar mit demjenigen Scholems vergleicht, kann man feststellen, dass er sich kreuz und quer durch Deutschland bewegt und nahezu keine Landschaft auslässt, wenngleich sich deutliche Schwerpunkte – etwa im heutigen Niedersachsen, in Berlin und in Sachsen – benennen lassen. Dies deutet auf den Versuch hin, der durchaus auch im Einklang mit Theoremen etwa Rudolf Borchardts, aber auch Jakob Wassermanns und – in völkischer Pervertierung – Josef Nadlers steht, die deutsche Kultur und den deutschen Geist aus und in seiner landschaftlichen Bedingtheit und Verwurzelung zu verstehen bzw. zu erklären, wenngleich ein solches Bemühen bei Werner Kraft nicht ausdrücklich thematisiert wird. Die Emigration führt ihn deshalb auch aus der Kreisbewegung seiner bisherigen Ortsveränderungen innerhalb der deutschen Landschaft heraus und versetzt ihn an einen Ort, der sich keinesfalls – wie das bei Scholem eben problemlos möglich ist – als Endpunkt einer zielgerichteten Reise interpretieren lässt, sondern statt dessen einen Punkt äußerster Exzentrizität markiert. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 211.

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und so den harmonischen Lauf seiner Autobiographie immer wieder aufzubrechen und zu stören, weil es in seinem Leben zu keiner Zeit zu einer die Widersprüche seiner Existenz aufhebenden Synthese gekommen ist. Ganz anders dagegen verläuft die Lebensbeschreibung Gershom Scholems, die sich bruchlos der Entfaltung von äußerem Leben und geistiger Entwicklung, die weitestgehend konform verlaufen, hingibt. Ungestört entfaltet sich der Lebensweg in nahezu parodistischer Geradlinigkeit, obwohl sich der Verdacht der Parodie an keiner Stelle der Autobiographie aufdrängt. Formen der Ironie sind zwar vorhanden, aber sie beziehen sich immer und ausschließlich auf Inhaltliches, das durch seine Ironisierung charakterisiert und abgelehnt wird: die Assimilation, bestimmte Erscheinungen des Zionismus, die sich formal an die deutsche Kultur anlehnen, oberflächliche Vertreter des Wissenschaftsbetriebs, der Künste usw. Die Autobiographie Scholems kommt deshalb auch nicht an ein Ende, weil es in seinem Leben keine Zäsur gibt, die – wie bei Kraft – diesem Leben eine entscheidend neue Richtung gegeben hätte. Es fängt nichts Neues an, weil nichts Altes zuende geht. Der Entschluss, seine Autobiographie mit dem Verfassen seiner Jerusalemer Antrittsvorlesung enden zu lassen, ist ebenso willkürlich wie jeder mögliche andere auch. Verändert hätten sich durch die Wahl eines anderen chronologischen Schlusspunkts der Autobiographie nicht ihr Impetus, sondern lediglich die Anzahl der Anekdoten, die Namen der Porträtierten, die Liste der erworbenen Bücher. Deshalb lässt dieses Ende auch die Mehrzahl der Rezensenten des Werkes ratlos zurück. Salcia Landmann flüchtet in eine impersonale Feststellung über den Zeitpunkt im Leben Scholems, mit dem das Buch endet,258 Yizhak Ahren stellt anlässlich des Erscheinens der erweiterten Neuauflage des Bandes lediglich fest, dass »er [...] zahlreiche neue Glossen und Profile [enthält]«,259 auf die schon Alois M. Haas in seiner Besprechung der Erstauflage von 1977 hofft260 – an ein notwendiges Ende der Autobiographie an dieser Stelle und eine mögliche Interpretation dieses Endes scheint keiner von ihnen zu denken. 258

259

260

Vgl. Landmann, Gershom Scholem (wie Anm. 208): »Es bricht in dem Augenblick ab, da Scholem in den zwanziger Jahren an der neu gegründeten Universität Jerusalem seine Lehrtätigkeit beginnt.« Yizhak Ahren: Ein zionistischer Bildungsroman. In: Israelitisches Wochenblatt 1998, Nr 45 vom 6.11.1998. – Da sich diese Erweiterungen tatsächlich überwiegend am Ende der Autobiographie finden, ist auch diese Feststellung ein Hinweis auf die Beliebigkeit ihres Schlusses. Scholem hätte ja auch noch die Kollegen und Schüler seiner sich anschließenden Lehrtätigkeit porträtieren sowie Schnurren aus dem Universitätsalltag, von Vortragsreisen usw. anfügen können. Vgl. Alois M. Haas: »…von den Juden als Juden sprechen«: Gershom Scholem zu seinem 80. Geburtstag. In: Neue Zürcher Zeitung vom 5.12.1977: »Eine Fortsetzung, in der die wissenschaftliche Existenz in der beharrlichen Erforschung der jüdischen Mystik, aber auch das Persönlich-Private dieses Lebens einen Austrag fänden, ist aufs lebhafteste zu wünschen«. – Seinen Wunsch hat Scholem mit der erweiterten Neuauflage wenigstens teilweise erfüllt.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

3.4

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Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

3.4.1 Judentum und Sozialismus Klara Pomeranz Carmely hat in ihrer Dissertation drei grundlegende Möglichkeiten der deutsch-jüdischen Identität im Kaiserreich und in der Weimarer Republik herausgearbeitet und exemplarisch – an den publizistischen Arbeiten einzelner Autoren – nachgezeichnet. Bei ihrer Darstellung fällt auf, dass die Beiträge zu Assimilation und Zionismus sehr ausführlich abgehandelt werden, der Sozialismus sich aber mit knapp der Hälfte bzw. lediglich einem Drittel des Raumes begnügen muss, der den beiden anderen Möglichkeiten zugestanden wird. Außerdem ist die Behauptung einer sozialistischen Identität Arnold Zweigs, der von Carmely sowohl im Kapitel über den Sozialismus als auch in demjenigen über den Zionismus behandelt wird, einigermaßen fragwürdig. Dies zeigt ein Blick in die jüngere Forschungsliteratur: Zweigs Affinität zum Zionismus und – nach erster Kriegsbegeisterung, die aber schon bald nach seiner Einberufung und dem Einsatz an der Westfront, u. a. in Verdun, rasch der Ernüchterung bis hin zum psychischen Zusammenbruch gewichen ist – Pazifismus dominierte von Anfang an sein literarisches und publizistisches Œuvre;261 eine Wendung zum Sozialismus262 lässt sich – wenn überhaupt – nur für den späten Arnold Zweig behaupten, der – nach seiner Emigration im Dezember 1933 nach Haifa – 1948 nach Deutschland zurückgekehrt war und sich in Ostberlin niedergelassen hatte. Dort wurde er vom herrschenden Regime gezielt für seine Zwecke vereinnahmt und mit Privilegien ausgestattet, die ihm das getroffene Arrangement mit den Machthabern erleichterten: Er fügte sich hier der Zensur der Mächtigen, arbeitete alte Texte nach den Erfordernissen des Tages um und äußerte sich weder zum dezidierten Antizionismus der regierenden Partei noch veröffentlichte er seine früheren Texte wieder, in denen er sich mit dem eigenen Judentum intensiv auseinandergesetzt 261

262

Allenfalls lässt sich für den frühen Arnold Zweig eine gewisse Affinität zum sozialistischen Anarchismus Gustav Landauers feststellen, dessen Intention einer antikapitalistischen, vom Staat losgelösten Gemeinschaft Zweig in der zionistischen Kibbuz-Bewegung verwirklicht sieht, die dann auch eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern in Palästina ermöglichen soll. – Vgl. David R. Midgley: Arnold Zweig: zu Werk und Wandlung 1927–1948. Königstein/Ts.: Athenäum 1980, S. 8– 10 und Sigrid Thielking: Auf dem Irrweg ins »Neue Kanaan«? Palästina und der Zionismus im Werk Arnold Zweigs vor dem Exil. Frankfurt am Main: Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1 Deutsche Sprache und Literatur; 1178), S. 29–105. Betrachtet man den jungen Zweig, finden sich utopisch-sozialistische Züge in seinem Zionismus, so etwa in seiner Unterstützung des jüdischen Siedlungssozialismus wie er in seinem 1920 erschienenen Roman Das ostjüdische Antlitz zum Ausdruck kommt. – Ich tendiere allerdings eher dazu, dieses Phänomen unter den Oberbegriff des Zionismus zu stellen.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

hatte. In seinen nun neu entstehenden Werken bediente er sich dann einer äußerst oberflächlichen, der sozialistischen Parteidoktrin angepassten Argumentation, die sich wesentlich von seinen jüdischen und zionistischen Grundpositionen der Vor- und Zwischenkriegszeit unterscheidet.263 Diese ersten Beobachtungen markieren bereits die Schwierigkeiten einer jüdisch-sozialistischen Identität, die die beiden Elemente zu gleichen Teilen integriert. Deshalb muss Carmely die für die Argumentation ihrer Arbeit verhängnisvolle Beobachtung machen: Zweifellos könnten wir noch viele andere Autoren anführen, die in der Assimilation die Lösung des deutsch-jüdischen Problems sahen. Die Zahl der Beispiele für den Sozialismus dagegen ist, zumindest für diese Arbeit, bei weitem nicht so groß. Das liegt nicht etwa daran, daß nur wenige deutsche Juden Sozialisten waren. Im Gegenteil: es gab deren viele. Aber es lag in der Absicht dieser Arbeit, nur diejenigen Persönlichkeiten zu behandeln, die selbst Judentum und Sozialismus in direkte Beziehung setzten.264

Leider hat sie es in ihrer Arbeit versäumt, einen plausiblen Erklärungsversuch für diesen Sachverhalt zu unternehmen. Anstatt eine kurze Darlegung der theoretischen Unvereinbarkeit von Judentum und Sozialismus zu liefern, die den eklatanten Materialmangel erklären kann, an dem ihre wie auch meine Arbeit für den in Frage stehenden Problemkomplex krankt, beschränkt sie sich 263

264

Diese scharfe Interpretation von Zweigs biographischer und poetischer Entwicklung als eine solche des pragmatischen Opportunismus findet sich so vor allem bei Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost. Neuausgabe. Stuttgart: Dt. Verlags-Anstalt [u. a.] 1983, S. 253–288. Etwas differenziertere Urteile finden sich bei Midgley, Arnold Zweig (wie Anm. 261), Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig: das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Königstein/Ts.: Athenäum 1983, Thielking, Auf dem Irrweg ins »Neue Kanaan« (wie Anm. 261) sowie in dem von Midgley herausgegebenen Symposiumsband: Arnold Zweig – Poetik, Judentum und Politik: Akten des Internationalen Arnold Zweig-Symposiums aus Anlaß des 100. Geburtstags Cambridge 1987. Hg. von David Midgley, HansHarald Müller und Geoffrey Davis. Bern [u. a.]: Lang 1989. Den Versuch einer Interpretation Zweigs aus einer orthodox-marxistischen Perspektive heraus unternimmt Eva Kaufmann: Arnold Zweigs Weg zum Roman: Vorgeschichte und Analyse des Grischaromans. Berlin: Rütten & Loening 1967 (Germanistische Studien), die sich der »Vorgeschichte und Analyse des Grischa-Romans« von 1928 widmet und zu folgendem Ergebnis kommt: »Daß sich nach 1933 die sozialistischen Züge in Zweigs Weltanschauung, die Bereitschaft zum aktiven Kampf, die Einsicht in die geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse verstärken und er nicht etwa angesichts der deutschen Entwicklung verzweifelte, ist darauf zurückzuführen, daß jene Züge – mehr oder minder ausgeprägt – bereits seit den langwierigen Auseinandersetzungen mit Krieg und Revolution in ihm lebendig waren und bereits im Grischaroman ihren Niederschlag fanden.« (S. 293). – Die Windungen dieses Satzes deuten die Schwierigkeiten einer solchen orthodox-marxistischen Interpretation hinreichend offen an. Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 1), S. 74.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

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auf eine kurze Darstellung der formalen Ähnlichkeiten zwischen ihnen, die sie mit Jakob Wassermann, Martin Buber und Helmut Gollwitzer »als eine Übertragung der messianischen Idee von der religiösen auf die soziale Ebene«265 erklärt. Das ist sicherlich richtig gesehen, hilft ihr aber bei der Erklärung der inhaltlichen Unvereinbarkeit der beiden Positionen, aus der allein sich das Fehlen geeigneter Repräsentanten einer jüdisch-sozialistischen Identität erklären ließe, nicht weiter. Hier soll dagegen versucht werden, diese Unvereinbarkeit – ungeachtet allen Schwankens der sozialistischen Bewegung im tagesaktuellen Umgang mit der ›Judenfrage‹ – an drei Grundprinzipien des Sozialismus darzulegen – freilich ohne dabei in eine komplexe philosophische Argumentation zu verfallen –, die den drei seit der Mitte des 19. Jahrhunderts möglichen bzw. üblichen Definitionen des Judentums266 widersprechen. Es handelt sich bei diesen drei Prinzipien des Sozialismus um den Atheismus, der einer religiösen Definition des Judentums widerspricht, um den Internationalismus, der der nationalistischen oder zionistischen Definition des Judentums entgegensteht, und um den Antirassismus, der der vorwiegend von Antisemiten benutzten, aber auch von Juden selbst verwandten rassischen Definition des Judentums konträr ist. Diese drei Prinzipien des Sozialismus fußen auf einem von ihm behaupteten Primat der Gesellschaft und der sie beherrschenden Klassenantagonismen, in denen religiöse, nationale und Rassengesichtspunkte nur eine untergeordnete Rolle spielen, die mit der Aufhebung der Klassengegensätze in der utopisch antizipierten klassenlosen Gesellschaft an ihr Ende kommen: Was Juden zum Sozialismus zog, waren Idealismus und Utopismus, die Suche nach einer Gesellschaft, in der ererbte oder willkürliche Unterscheidungen – seien es klassenbedingte oder zugeschriebene – verschwinden würden. Darin drückte sich Sehnsucht aus, dem Antisemitismus, in vielen Fällen aber auch dem Judentum zu entrinnen.267 Zuerst der Kapitalismus und dann der Sozialismus, so behauptete man, würden jegliche Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden beseitigen, und es war die Pflicht der Bewegung der Arbeiterklasse, die Assimilation der Juden in die allgemeine Gesellschaft zu fördern und zu beschleunigen.268

Durch diese Theorie wird das Problem der jüdischen Identität, das sowohl die von Carmely behandelten Autoren als auch die in dieser Arbeit untersuchten Verfasser von Autobiographien wesentlich beschäftigt hat, zwar nicht beseitigt, aber zumindest zu einem Teilproblem im allumfassenden Klassenkampf marginalisiert, das des weiteren Nachdenkens nicht lohnt; dies zeigen die spärlichen Belege, die Klara Pomeranz Carmely gefunden hat, ebenso wie das Fehlen einer charakteristischen jüdisch-sozialistischen Autobiographie in dieser Arbeit. 265 266 267 268

Ebd., S. 74. Vgl. hierzu ebd., S. 3–7. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit (wie Anm. 10), Bd 3, S. 273f. Ebd., Bd 3, S. 276.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Ohne auf diesen Zusammenhang näher einzugehen bzw. ohne ihm überhaupt einen Gedanken zu widmen, hat auch Carmely dies erkannt und sieht darin die Ursache ihres Darstellungsproblems in diesem Kapitel ihrer Dissertation: Viele Sozialisten jüdischer Abkunft sehen in der Judenfrage deshalb kein von den anderen gesellschaftlichen Fragen losgelöstes Problem. Auch die Aussöhnung von Deutschtum und Judentum ergibt sich für sie nur daraus, daß sie beides dem umfassenderen Begriff »Menschheit« unterordnen. Da sie vom Gedanken an die Verbesserung des gesamtmenschheitlichen Schicksals bewegt sind, schenken sie dem jüdischen Problem keine gesonderte Beachtung.269

Judentum und Sozialismus gehen nur in einem einzigen Punkt zusammen, der in Verbindung mit der bereits zu Anfang dieses Teilkapitels erwähnten formalen Korrespondenz zwischen religiösem und säkularisiertem Messianismus steht. Diese Korrespondenz hat bereits Arnold Zweig in seiner 1933, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung verfassten und durchaus als Abgesang auf das deutsch-jüdische Zusammenleben zu verstehenden Bilanz der deutschen Judenheit gesehen: Dabei nehmen wir all die verschiedenartigen Männer und Frauen, um die es hier geht, als Ausdrucksformen einer und derselben Gruppenleidenschaft: der zur Gerechtigkeit, zur Identifikation mit allen Unterdrückten. Der Jude hat eine Erziehung zu dieser Identifikation hinter sich, die seine ganze Geschichte hindurch gewirkt hat. Solange es überhaupt jüdisches Gemeinschaftsleben gibt, wird die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten in jedem jüdischen Kinde und Manne wachgehalten. Die Formel: »Gedenket, daß ihr Knechte wart dem Pharao in Ägypten«, wird so zum Erbgut. Mindestens einmal in jedem Jahr brennt sich diese Gleichsetzung des Juden mit einer unterdrückten Gruppe den Heranwachsenden ein; dazu kommt der hämmernde Satz des ersten Gebots, der die Erkenntnis des wirkenden Gottes unverrückbar an die Befreiung aus diesem Elend knüpft, an die revolutionäre Tat. Und schließlich steht zahllose Male in den Gebeten des Sabbaths und der Feste dieser Hinweis, der eigenen Unterdrückung nicht zu vergessen und darum andere Unterdrückte ins eigene Gefühl einzubeziehen. So erwächst organisch aus dem Gruppenleben der Juden und den Geburtswehen einer jüdischen Gemeinschaft der Satz, den die Christen für sich annektieren möchten, mit dem sie aber nur in den kurzen, großen Zeiten ihrer Religion etwas anfangen konnten: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (III. Mose, 19, 18 u. 24). Dies ist das Gebot der Identifikation, es ist die vollzogene Identifikation selbst, und die Geschichte der Juden in ihrer unaufhörlichen, höchst fruchtbaren Zerstreuung hat dafür gesorgt, daß es niemals lehrhafte Gebärde blieb, sondern daß es sich bis auf den heutigen deutschen Tag an den Leiden der Entrechtung, des Ausnahmegesetzes und der blutigen Mißhandlung mit Leben anreichern mußte. Dabei entwertete der Jude niemals dieses Leben selbst. Bei aller Jenseits269

Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 1), S. 75. – Dies erklärt auch, warum sich viele Vertreter der Assimilation, nachdem ihnen von ihrer deutschen Umwelt nur Verachtung entgegengeschlagen war, dem Sozialismus zugewandt haben, versprach dieser doch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft über die religiösen, nationalen und rassischen Grenzen hinweg. Zugespitzt könnte man den jüdischen Sozialismus daher auch als eine Variante der Assimilation bezeichnen. – Vgl. etwa ebd., S. 111f.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

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Hoffnung blieb ihm stets das Diesseits, unser einziges bißchen Leben, der Ort der Erfüllung für jede Segensverheißung. Diese irdische Vitalität erhielt ihn gesund und bewirkte, daß er noch zweitausend Jahre nach seinen heroischen Zeiten die heroische Prophetie aus sich gebären konnte, die seinen Beitrag zum europäischen Sozialismus ausmacht.270

Aus dieser allgemeinen Beobachtung über die jüdische Existenz als eine solche der Unterdrückung und der Knechtschaft in der Diaspora entwickelt Zweig hier den Gedanken der Sympathie der unterdrückten Juden mit jeglichen Opfern bis hin zur totalen Identifikation, die Grundlage des Aufbegehrens ist und den Juden zum Revolutionär und somit eben auch zum Sozialisten prädestiniert. Diese Denkfigur findet sich – so oder in ähnlicher Form – tatsächlich häufig, wenn es darum geht, die Existenz einer jüdisch-sozialistischen Identität zu behaupten. Das Motiv der Unterdrückung und Knechtschaft der Juden in der Diaspora lässt sich in einer großen Zahl jüdischer Autobiographien nachweisen, ohne dass sein ursprünglicher religiöser Hintergrund beachtet wird. Es ist daher keineswegs bloß ein typischer Bestandteil der jüdisch-sozialistischen Autobiographie, vielmehr ist die Sozialistenverfolgung, die selbstverständlich und selbstverständlich auch in verschärftem Ausmaß die jüdischen Sozialisten getroffen hat, nur ein Sonderfall, der die Verwendung dieses Motivs rechtfertigt; es wird in dieser Arbeit im nächsten Kapitel als ein zentrales Motiv wiederkehren, das die Erfahrung der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung darstellbar und – tatsächlich! – vergleichbar, d. h. in einen historischen Zusammenhang und in die kollektive Erinnerung integrierbar machen soll; Ruth Klügers Theorie des Vergleichs und ihre Anwendung in der Autobiographie weiter leben zeugen von diesem Versuch.

3.4.2 Max Fürst: Gefilte Fisch und Talisman Scheherezade Im Gegensatz zu allen anderen bislang in dieser Arbeit untersuchten Autoren ist Max Fürst, der hier als Repräsentant einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie bzw. ihrer Unmöglichkeit vorgestellt werden soll, nicht zu den professionellen Autoren zu zählen, Helmut Heißenbüttel nennt ihn in seinem »Klappentext für Max Fürst«, der dem ersten Band von dessen Erinnerungen beigegeben ist, einen »dilettierende[n] Schriftsteller«.271 Der 1905 in eine liberalbürgerliche assimilierte Königsberger Familie hineingeborene Sohn eines jüdischen Kaufmanns erfüllt die Erwartungen seiner Eltern bezüglich Abitur und akademischer Berufsausbildung nicht, sondern verlässt nach einem Konflikt 270

271

Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit: ein Versuch. Hg. und mit einem Nachwort von Kurt Pätzold. Leipzig: Reclam 1990 (Reclam-Bibliothek; 1391), S. 222f. Helmut Heißenbüttel: Klappentext für Max Fürst. In: Max Fürst: Gefilte Fisch: eine Jugend in Königsberg. Mit einem Nachwort von Helmut Heißenbüttel. München: Hanser 1973, S. 352.

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mit dem Elternhaus vorzeitig die Schule, um Tischler zu werden – um also einen für einen Sohn aus bürgerlichem Hause ungewöhnlichen handwerklichen Beruf zu erlernen. Sein selbstgewählter Beruf bringt ihn schon bald in näheren Kontakt mit den proletarischen Schichten der Industriearbeiter und Handwerksgesellen. Gemeinsam mit den Einflüssen, die er von der jüdischen Jugendbewegung in ihren verschiedensten Erscheinungsformen erhält, prägen der hier an ihn herangetragene Sozialismus und das Elend der proletarischen Schichten in einer sich im deutschen Kaiserreich gerade erst formierenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, das er nun hautnah miterleben konnte, seinen weiteren Lebensweg. Über sein Engagement für die sozialistische (jüdische) Jugendbewegung, das ihn auf zahlreichen Wanderungen durch nahezu ganz Deutschland führt, gerät er schließlich in den zwanziger Jahren nach Berlin in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten. Er ist dort ein enger Freund des jungen Rechtsanwaltes Hans Litten, der in der Endphase der Weimarer Republik die fürchterliche, die letzten Endes mörderische Ehre hatte, Hitlers persönlichen Zorn erweckt zu haben, weil er ihn [im Mai 1931; M. M.] als Zeugen vor Gericht zitierte und zu programmatischen Äußerungen zwang.272

Außerdem heiratet Max Fürst dessen engste Mitarbeiterin. Nachdem er bereits in den ersten Wochen nach der Machtergreifung in die Fänge der Gestapo geraten war und schließlich nach kurzer Haftzeit wieder freigelassen worden war, versuchte er, den Freund aus dem Konzentrationslager zu befreien. Dabei bediente er sich unglücklicherweise der Hilfe von Nazispitzeln, woraufhin er erneut inhaftiert und noch einmal freigelassen wurde. Daraufhin kann er mit seiner Frau Margot nach Palästina emigrieren, wo beide bis 1950 leben, bevor sie wieder nach Deutschland zurückkehren. Dort arbeitete Fürst weiterhin als Tischler sowie als Berater und Lehrer an der Odenwald- und Bernsteinschule, wo er zum Freundeskreis um HAP Grieshaber und Ludwig Greve gehörte. Nachdem Grieshabers Kunstschule auf dem Bernstein an der Ignoranz und dem Antisemitismus der Behörden gescheitert war,273 zogen Max und Margot Fürst nach Stuttgart. Dort entstanden, nachdem er seine Tischlerei aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, auch seine beiden autobiographischen Erinnerungsbücher Gefilte Fisch und Talisman Scheherezade, die 1973 und 1976 im Münchner Hanser-Verlag erschienen und von der Kritik nahezu einhellig mit Begeisterung aufgenommen worden sind. Sie erzählen im ersten Band das Leben des Autors in Königsberg bis zum Ende seiner Lehrzeit als Tischler im Jahr 1924 und thematisieren im zweiten Band »die schwierigen 272

273

Heinrich Böll: Vergebliche Suche nach politischer Kultur: über Max Fürst, ›Talisman Scheherezade‹. In: Ders.: Spuren der Zeitgenossenschaft: literarische Schriften. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1980 (dtv; 1580), S. 263. Vgl. hierzu Kurt Hochstuhl: Das Ende der Bernsteinschule: zur Frage der Kunstförderung im neuen Bundesland Baden-Württemberg. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 49 (1990), S. 419–432.

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zwanziger Jahre« – so der Untertitel des Werkes – mit ihrer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung des öffentlichen Lebens von rechts und links. Max Fürst ist 1978 in Stuttgart gestorben, ohne seine Erinnerungen – wie dies sein Rezensent Heinrich Böll gefordert hatte274 – bis in die Gegenwart fortführen zu können.275 In seinem »Klappentext für Max Fürst« erinnert sich Helmut Heißenbüttel an seine erste Begegnung mit dem Tischler im Jahr 1955 und an die langen Erzählungen und politischen Diskussionen mit ihm: Seine Erzählweise kam mir zuerst umständlich vor. Dann merkte ich, daß das, was ich für umständlich hielt, nur eine Methode war, vieles gleichzeitig und korrekt auf den Punkt hinzuführen, auf den es ankam. Er breitete erzählend die Dispositionen aus, die notwendig waren, wollte er dem einzelnen wie dem Zusammenhang gleicherweise gerecht werden. Seine Erzählung bestand in dem Gleichgewicht zwischen konkretem Detail und dem Zusammenhang, für den das Detail als Beleg dienen konnte.276

In dieser Beobachtung finden sich zwei wesentliche Elemente, die den Fürstschen Erinnerungsstil, über den er selbst an zahlreichen Stellen seiner Autobiographie reflektiert, kennzeichnen. Dies ist – zum einen – der anachronistische, assoziative Stil, der die einzelnen Erlebnisse und Begebenheiten, die Miniaturen und Porträts aus seinem Leben zu einer Einheit verbindet, die aber eben nicht diejenige der Chronologie des eigenen Lebens ist, sondern einen überindividuellen Sinnzusammenhang stiftet, der – zum anderen – weniger die individuellen Befindlichkeiten des Autobiographen, seine Gemütsbewegungen oder geistigen Entwicklungsschübe akribisch ausformuliert. Durch diese Zurücknahme der eigenen Individualität und Identität, die durch das Erzählte allenfalls durchscheint, keineswegs aber im Mittelpunkt steht, wird die Autobiographie Max Fürsts – wieder mit Heißenbüttel gesprochen – zur »Education sociale«:277 Nicht als ob ich unterstellen wollte, Max Fürst habe angefangen zu schreiben, weil er so etwas hat darstellen wollen. Sondern das, was er aus dem Rückblick gespiegelt sah in dem Bewußtsein seiner jetzigen Gegenwart, erwies sich sozusagen von selbst als die Geschichte einer solchen Erziehung zu politischem und gesellschaftlichem 274

275

276 277

Böll, Vergebliche Suche nach politischer Kultur (wie Anm. 272), S. 265: »Das Versprechen, das im ersten Band von Max Fürst enthalten war, ist im zweiten mehr als erfüllt. Dreißig seiner Lebensjahre sind mit diesen beiden Bänden ›gedeckt‹. Es fehlen noch vierzig: seine Zeit in Israel und die 25 Jahre nach der Rückkehr.« Der Nachlass von Max Fürst ist im Jahr 2004 an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach gegangen. Neben Manuskripten und Materialien zu den beiden erschienenen autobiographischen Werken enthält er Fürsts Briefwechsel mit Autoren und bildenden Künstlern. Im Nachlass sind möglicherweise Vorarbeiten zu einer Weiterführung der Autobiographie enthalten. – Vgl. die dpa-Meldung aus der Stuttgarter Zeitung vom 9.6.2004. Heißenbüttel, Klappentext für Max Fürst (wie Anm. 271), S. 343f. Ebd., S. 350.

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Selbstbewußtsein. Vielleicht ist etwas davon in jedem Versuch, Erinnerungen zu fixieren, enthalten. Deutlich werden kann es nur (und es ist deutlich geworden bei Max Fürst), weil es gesehen wird aus der Position, in der der Prozeß zum Gewinn politischen Selbstbewußtseins abgeschlossen erscheint. Gerade das führte zu der besonderen Form des Erzählens, das ja mündlich über viele Jahre hinweg vorgeprobt war, einer Form, in der der erzählend sich Erinnernde jedem im Gedächtnis aufbewahrten Detail nachgeht, um an ihm zu prüfen, wie weit es zum Prozeß beigetragen hat, oder auch, wie weit es etwas hergibt zu einer Einsicht, die sich erst noch abrunden muß, deren Formulierbarkeit vielleicht gerade von dem einen Erlebnis abhängt, das es nun ganz deutlich zu machen gilt. Erinnerungsbilder, Anekdoten, Familienzusammenhänge, Bekanntschaftsketten, Einflußfelder, Motivationen, Konflikte, all das findet sich zusammen nicht als ein Farbfeld privatpersonaler Kuriosität, sondern als ein vielfach abgestuftes Repertoire von Einzelelementen, die alle für das sich bildende politische Bewußtsein stehen.278

Alle hier genannten Beobachtungen Heißenbüttels, der seine genauen Kenntnisse über Max Fürst der persönlichen Bekanntschaft mit ihm verdankt, die durch Ludwig Greve vermittelt worden ist, haben keinerlei Beziehung zu Max Fürsts Judentum. Wohl aber entsprechen sie dem einleitend über die sozialistische Autobiographie Gesagten. Fürsts Judentum kommt in Heißenbüttels Argumentation nahezu nicht vor. Auch Heinrich Böll sieht in seiner Rezension von Fürsts autobiographischem Werk Gefilte Fisch dessen Judentum nicht als bestimmendes Element seiner Lebensgeschichte an. Für Böll steht die Auflehnung gegen das bürgerliche – nicht gegen das jüdische – Elternhaus im Zentrum dieses ersten Bandes der Erinnerungen: Für Max Fürst jedenfalls war diese erste Vertreibung nicht »rassisch« bedingt. Es war die Flucht aus den aufflackernden Resten eines peinlichen Wilhelminismus in eine »neue Zeit«, eine Flucht, die Katholiken, Protestanten, Atheisten und Juden gleichermaßen und mit vergleichbaren Motiven in die Jugendbewegung, in die Sozialarbeit, nach Berlin trieb, die Stadt der großen Hoffnung und der größeren Freiheit.279

Auch in der Besprechung des zweiten Bandes, Talisman Scheherezade, wird die Tatsache von Fürsts Judentum von Böll systematisch zugunsten der Betonung der Bedeutung, die sein sozialistisches oder kommunistisches Engagement für seine Verfolgung durch die Nationalsozialisten gehabt hat, in den Hintergrund gedrängt. Mögen bei Heinrich Bölls Beurteilung auch tagespolitische Überlegungen mitspielen, die ihn eine unüberlegte Parallele zwischen der Situation der Kommunisten in der Endphase der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik der siebziger Jahre ziehen lassen,280 so ist doch bei beiden 278 279 280

Ebd., S. 351f. Heinrich Böll: »Ich glaube, meine Erinnerung liebt mich«: über Max Fürst, ›Gefilte Fisch‹. In: Ders., Spuren der Zeitgenossenschaft (wie Anm. 272), S. 73. Vgl. Böll, Vergebliche Suche nach politischer Kultur (wie Anm. 272), S. 262f.: »Es wird mir bei der Lektüre von Talisman Scheherezade klar, was die zwölf Nazijahre alles zerstört haben – und was ›aufzubauen‹ nicht gelang. – In den ersten

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Rezensenten die Marginalisierung des jüdischen Elements in der Autobiographie Fürsts deutlich zu erkennen. Diese Beobachtung findet ihre Entsprechung in den Texten. Weder in seinem assimilierten Elternhaus noch im offenbar wenig antisemitischen Königsberg stellt sein Judentum für den Autor ein in der Autobiographie zu thematisierendes Problem dar. Zwar scheint er sich in der Jugendbewegung vor allem in jüdischen Kreisen zu bewegen, aber auch hier dominiert das Interesse am Sozialismus über die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums. Nicht einmal zur Zeit seiner palästinensischen bzw. israelischen Emigration gelingt es ihm, für die religiösen Riten und Glaubensinhalte des Judentums Verständnis oder gar ein tiefergehendes Interesse aufzubringen: In Palästina war ich nie in einer Synagoge. Die jüdische Religion, vermischt mit Nationalismus als Staatsreligion, ist mir nicht nur gleichgültig, wie sie es für mich in meinen Berliner Jahren wurde, sondern bekämpfenswert.281

Daher stoßen auch die zionistischen Bestrebungen bei ihm auf blankes Unverständnis, das sich aus seiner sozialistischen und internationalistischen Grundauffassung speist, die er freilich im autobiographischen Rückblick des heimatvertriebenen ostpreußischen Juden, den dieses Schicksal ein gutes Jahrzehnt vor seinen deutschen »Volksgenossen« ereilt, aber darum nicht weniger heftig getroffen hat,282 etwas differenzierter einschätzt: Es ist heute schwer, begreiflich zu machen, wie absurd wir jeden Partikularismus, jeden Nationalismus fanden. Einerseits waren wir fasziniert von der Idee, daß wir in einer Übergangszeit lebten, in einer Zeit, die durch Weltrevolution oder friedliche Übereinkunft die Staaten aufheben würde, andererseits waren auch wir sehr befangen in unseren eigenen Vorstellungen, die wir als Maßstab ansahen. Die scheinbare Bindungslosigkeit an Stammesgemeinschaften ließ uns die Vielfalt der Völker unterschätzen. Wir, die wir Wert darauf legten, die hochdeutsche Schriftsprache zu sprechen, natürlich stark in ostpreußischem Dialekt, empfanden Mundarten als romantische Anhängsel, hinter denen sich reaktionäre Neigungen verbargen. Wir hatten noch keine Freude an einem aus vielen Blumen zusammengesetzten Strauß, und ich habe auch gegen uns den Verdacht, daß wir die Menschen nach unserem Eben-

281 282

Nachkriegsjahren gab es Ansätze, doch der stupide Antikommunismus, die strikte, bis heute praktizierte Leugnung des kommunistischen Widerstands, haben das alles weggewischt, und wenn es Ansätze zu einer Wiederbelebung in den Jahren nach 1967 gab, so hat jene ideologische Drahtbürste, die man Radikalenerlaß oder Extremistenbeschluß nennt, sie hinweggefegt. Ein ›Linker‹, ein Sozialist, ein Kommunist muß sich immer noch rechtfertigen; verlangt man Rechtfertigung von einem Nazi, so wird das als peinliche Zumutung empfunden – man lese nicht nur die Zeitungen, vor allem die Leserbriefe. Ich hoffe, daß Max Fürst in seinen so schweigsamen Erinnerungen bald die Gegenwart erreicht und in seiner erfahrungssatten Weisheit seinen Kommentar zu dieser Entwicklung liefert.« Fürst, Gefilte Fisch: eine Jugend in Königsberg (wie Anm. 271), S. 177. Vgl. Böll, »Ich glaube, meine Erinnerung liebt mich« (wie Anm. 279), S. 74.

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bilde formen wollten. Wir lebten ja noch in dem Glauben an die internationale Solidarität der Arbeiter und den Beginn der internationalen Bewußtseinsbildung der Schriftsteller, der Kunst.283 Wir wußten das alles [die Schicksale Vertriebener früherer Zeiten, insbesondere auch vertriebener Juden; M. M.], aber wir glaubten nicht an Völkerschicksale, »bei uns ist das nicht möglich«, und wir wähnten die Zeit nahe, wo durch Reformation oder Revolution eine sozialistische Gesellschaft entstehen würde, in der jeder sicher leben könne.284

Fürsts Leben und Denken kreiste in jenen Jahren – neben Freunden und Familie – vor allem um den Sozialismus und den aussichtslosen Kampf zwischen Linken und Rechten in der Weimarer Republik, aus dem schließlich die Nationalsozialisten als Sieger hervorgingen und nach dem 30. Januar 1933 rücksichtslos mit ihren Gegnern aufräumten. So erlebte Max Fürst auch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten während der letzten beiden Jahre vor der erzwungenen Emigration weniger als Juden- denn vielmehr als Sozialistenverfolgung. Von der doppelten Gefährdung als Jude und Sozialist scheint nur diejenige als Sozialist in sein Bewusstsein getreten zu sein, die – lange vor der Rücknahme der bürgerlichen Gleichstellung durch die ›Nürnberger Gesetze‹ und auch lange vor der Wannseekonferenz auf der die Ausrottung der europäischen Juden organisiert wurde, aber schon zur Zeit zunehmender antisemitischer Repressionen – in seinem Fall als Freund und Mitbewohner Hans Littens sowie als Aktivist der sozialistischen Bewegung zu dieser Zeit auch tatsächlich dominierend gewesen sein dürfte. Dennoch lässt sich an der Behandlung der Gestalt Hans Littens in der Autobiographie Max Fürsts das Weiterwirken jüdischer Tradition auch bei denjenigen Juden erkennen, die sich als Sozialisten von ihrem Judentum distanziert hatten. Dem Rechtsanwalt, der sich schließlich am 5. Februar 1938 nach mehreren erfolglosen Suizidversuchen den Schikanen des Konzentrationslagers durch Erhängen entziehen konnte, ist ein wesentlicher Teil von Fürsts Erinnerungsbüchern gewidmet. Bereits im ersten Teil taucht er auf, als der junge Max Fürst seine Bekanntschaft im Königsberger jüdischen Jugendverein macht.285 Im weiteren Verlauf der beiden Bände nimmt seine Gestalt einen immer breiteren Raum ein, und seine Persönlichkeit dominiert über das autobiographische Eigeninteresse des Autors: das 9. Kapitel, das seinen Namen trägt, ist ihm vollständig gewidmet, in weiteren Kapiteln wird der Versuch, sein Charakterbild zu formen und seinen Lebenslauf zu erinnern, fortgeführt. Im zweiten Band tritt Max Fürst

283 284 285

Fürst, Gefilte Fisch: eine Jugend in Königsberg (wie Anm. 271), S. 320f. Max Fürst: Talisman Scheherezade: die schwierigen zwanziger Jahre. München: Hanser 1976, S. 106. Vgl. Fürst, Gefilte Fisch: eine Jugend in Königsberg (wie Anm. 271), S. 218ff.

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nahezu zurück hinter die Gestalt des nunmehrigen Rechtsanwalts und Strafverteidigers der gemeinsamen sozialistischen Freunde.286 Dies geht weit über das in einer Autobiographie übliche Ausleuchten des privaten Umfelds des Ich-Erzählers hinaus und lässt sich auch nicht mehr mit den weiter vorn angestellten Überlegungen zur sozialistischen Autobiographie vereinbaren, weil ja hier nicht die eigene Person zugunsten der Darstellung gesellschaftlicher Entwicklungen oder Verwerfungen ins zweite Glied gestellt wird, sondern hinter die Darstellung einer anderen Person und ihrer Individualität zurücktritt. Diese Beobachtung lässt sich aber nicht nur am Beispiel Hans Littens, das sicherlich das beeindruckendste ist, festmachen, sondern findet sich auch an zahlreichen weiteren Porträts und Charakteristiken von Freunden und Bekannten (die weiblichen Pendants sind hier immer mitgedacht), die Max Fürsts autobiographische Texte in großer Zahl bevölkern. Dass es sich bei den hier porträtierten Personen zumeist um spätere Opfer des nationalsozialistischen Regimes handelt, ist auch den Rezensenten besonders des zweiten Bandes aufgefallen: Wie die unermüdlich um ihr Leben erzählende Scheherezade – sein Talisman im Unglück – erzählt Max Fürst die Geschichte von den Freunden, erzählt, zählt ihre Namen auf, versucht die zahllosen Toten zu beschwören, sie mit Worten vor dem Vergessenwerden zu bewahren.287 Diese Zeit wieder hervorzuholen, festzuhalten in all ihrer Widersprüchlichkeit ist Max Fürsts Anliegen. [...] Das, wofür viele seiner Freunde im Konzentrationslager umgekommen sind, zu erhalten, daraus einen Sinn zu machen, sieht er als seine Aufgabe, sein Vermächtnis[.]288

Nicht immer freilich erkennen die Rezensenten diesen Zusammenhang. In seiner bemerkenswert unverständigen Rezension von Talisman Scheherezade schreibt Armin Ayren in der Stuttgarter Zeitung, die Fürsts Buch wohl nur aus Lokalpatriotismus besprochen und deshalb keinen geeigneten Rezensenten aufzutreiben vermocht hat: Er reiht unermüdlich Erinnerungsfetzen aneinander, wie sie ihm gerade einfallen. Das wirkt spontan, ergibt aber ein wirres Durcheinander. Fürst entschuldigt sich immer wieder damit, er werde von seinen Erinnerungen überflutet und müsse über bestimmte Personen, die er gerade erwähnt, später ausführlicher berichten, vergißt 286

287

288

Zur Illustration dieser Behauptung vgl. den Registereintrag zu Hans Litten in Fürst, Talisman Scheherezade (wie Anm. 284), S. 447. – Der erste Band von Fürsts Autobiographie verfügt leider über kein derartiges Register, so dass für diesen Band keine statistischen Angaben gemacht werden können. Hans J. Fröhlich: Meine Erinnerung liebt mich: Max Fürsts Biographie einer Epoche. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 215 vom 25.9.1976, Beilage Bilder und Zeiten, S. V. Vera Botterbosch: Memoiren eines Zeitgenossen: Max Fürsts Erinnerungen »Talisman Scheherezade. Die schwierigen zwanziger Jahre«. In: Deutsche Volkszeitung, Nr 30 vom 28.7.1977, S. 14.

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das dann oft, schmeißt mit den Jahren um sich, bekommt seinen Stoff nie in den Griff und begnügt sich schließlich mit einem kuriosen Fleckerlteppich, der einem humoristischen Gegenstand angemessener wäre. [...] Fürst glaubt, die bloße Aufzählung von Namen müsse auch beim Leser Erinnerungen wachrufen.289

Allen drei Rezensenten ist – wenn auch die beiden zuerst zitierten die Fürstsche Intention erkannt haben – das Unverständnis für die Verwurzelung Fürsts in der jüdischen Tradition gemeinsam, obwohl der Autobiograph doch in dem rezensierten Werk in einer Anrede an einen imaginierten Leser auf diesen Zusammenhang seines Schreibens mit dem jüdischen Zakhor-Gebot hinweist und gleichermaßen die Ausführlichkeit seiner Erinnerungen, etwa an Hans Litten und die gemeinsame Berliner Freundin »Hannchen«, wie auch die z. B. von Armin Ayren bemängelte Fragmentarizität und Isoliertheit dieser Erinnerungen im autobiographischen Zusammenhang rechtfertigt:290 Aber bedenke, der Du das Buch bis hierher gelesen hast, es ist nicht nur für Dich geschrieben. Jeder Freund hat ein Stückchen von mir mitgenommen und mir ein Stückchen von sich gegeben. Nach dem jüdischen Gebot darf ein Toter nicht zerstückelt werden, er muß unbeschädigt Gott beim Jüngsten Gericht übergeben werden. So sammle ich in diesem Buch die Stücke wieder ein, die ich fortgegeben habe, und gebe zurück, was ich genommen habe.291 In diesem Zusammenhange befürchte ich beinahe, in den Verdacht zu kommen, ich wollte Material abwerfen, wenn ich jetzt versuche, einige Lebensläufe meiner Freunde zu beschreiben; sie sind schwer in der weiteren Geschichte unterzubringen; wie kann ich es beweisen, daß sie in meinem Leben nie in Vergessenheit geraten sind, daß sie am Ursprung meiner Zweifel und meiner Hoffnungen stehen.292

Nicht der Sozialist, sondern der Jude in Max Fürst fühlt sich hier veranlasst, die Namen der ermordeten Freunde zu nennen und sie in dem Memorbuch, zu dem seine Autobiographie durch diese Namenkataloge und Biographien wird, vor dem Vergessen zu bewahren. Er beruft sich zur Legitimation seines Ver289

290

291 292

Armin Ayren: Eine lange Liste aller Leute: der zweite Band der Memoiren von Max Fürst – aus den wilden zwanziger Jahren. In: Stuttgarter Zeitung, Nr 130 vom 8.6.1977, S. 39. Dies ist natürlich auch im Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen, dass zu jener Zeit weder die Forschung noch die Literaturkritik in dem heute üblichen Maß für Fragen des Judentums sensibilisiert waren. Statt dessen, die Rezension von Heinrich Böll zeigt dies, konzentrierte man sich auf Anderes, Gegenwärtigeres, z. B. auf die Parallelen zwischen den ›Kommunistenverfolgungen‹ während der Nazizeit und nach dem bundesrepublikanischen Radikalenerlass oder auf das Problem der Heimatvertriebenen, das Heinrich Böll auch im Hinblick auf die Emigranten des Hitlerregimes, mithin also mit Blick auf das deutsche Unrecht, das ebenfalls schon zur Vertreibung von Deutschen aus ihrer deutschen Heimat geführt hat, betrachtet wissen will. Fürst, Talisman Scheherezade (wie Anm. 284), S. 117. Ebd., S. 207.

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fahrens an einer Stelle explizit auf die Bibel und wendet es an mehreren Stellen seiner Autobiographie an, von denen hier nur eine, dafür aber die ausführlichste, zitiert werden soll: Es gehört wohl zur abendländischen Mentalität, daß dem Fortleben nach dem Tode ein Beim-Namen-gerufen-sein vorausgehen muß, schon dokumentiert durch die langen Geschlechterfolgen in der Bibel.293 Deshalb will ich einmal alle Namen aus der Gruppe aufsagen, soweit ich sie in Erinnerung habe. Ich will sie noch einmal nennen wie in einem Gedicht, die gerade noch Lebenden, die über die Welt Zerstreuten und die Toten. Auch ihre Gebeine sind über die Welt verstreut, ich wüßte nicht, wo ich sie finden könnte, und ich will sie auch nicht finden. Ich will die damals Lebenden finden. [...] [...] Ich zähle die Namen einfach auf, vielen wird der Leser an anderen Stellen wiederbegegnen, wenn er sich die Mühe macht, sie zu identifizieren, sonst sind sie so stumm oder beredt wie Straßenschilder in einer zerstörten Stadt. Hans Litten, Rudi Arndt, Fritz Bloch, Frida Peiser (Bloch), Heinz Pächter, Karl Lehrburger, Kate Grünwald, Herbert Hamburger, Rubin Mittelmann, Nati Steinberger, Sammy Gläsel, Leo Roth, Alexander Dienstfertig, Leo Rosenthal, Grete Frank (Rosenthal), Fritz Sauer, Irma Ginsberg (Sauer), James Löwensohn, Serge Rakusin, Raphael Samuelowitsch, Siegfried Adler, Rosa Fürst (Adler), Max Kahane, Sieke Kahn, Rosa Hutterer (Kahn), Berthold Moses, Bertold Jacoby, Hertha Gottfeld, Hilde Pächter (Ehlen), Gisa Peiper, Ilse Kroner, Hanna Fürst, Walter Herz, Hanna Levy (Herz), Lotte Frank (Ehrlich), Ruth Prager, Edith Finkelstein, Walter Fisch. Jeder Name ist eine Geschichte für sich.294

Dennoch wäre nichts verfehlter, als Max Fürst zu einem religiösen Juden zu stempeln. Seinem Rückgriff auf Elemente der religiösen Traditionen des Judentums liegt eine Umdeutung ihrer Inhalte zugrunde, die den Sinn dieser Namensnennung in die Sphäre des Diesseitig-Politischen transzendiert. Das Jüdische bzw. der eigentliche religiöse Inhalt des von Fürst aus der jüdischen Tradition Herausgelösten ist hier nur noch unbewusstes und in seinen theologischen Zusammenhängen wohl auch ungewusstes Substrat für eine Galerie von dem Sozialismus anhängenden Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungen. Der Namenkatalog dient nicht mehr der Bewahrung der Erinnerung an die Namen von Märtyrern für das Judentum, die ihr Leben für ihren Glauben geopfert haben, weil sie lieber den Tod auf sich genommen haben als ihren 293 294

Fürst, Gefilte Fisch: eine Jugend in Königsberg (wie Anm. 271), S. 314. Fürst, Talisman Scheherezade (wie Anm. 284), S. 199f. – Weitere Namenkataloge findet sich etwa ebd., S. 20 und S. 105. – Dass das Phänomen dieser Namenkataloge bei Max Fürst nicht singulär ist, zeigt ein Blick in die Autobiographie Stefan Heyms, wie er bereits in Kapitel 2 unternommen wurde. Dort handelt es sich aber tatsächlich um die Nennung von Märtyrern für das Judentum, weil die genannten Verwandten und Bekannten, zumeist Kinder oder alte Leute, tatsächlich ausschließlich wegen ihres Judentums von den Nazis verfolgt und umgebracht worden sind.

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Glauben preiszugeben (Kiddusch ha-Schem).295 Er soll vielmehr die Erinnerung an ein Verhalten im Gedächtnis der Menschen präsent halten, das die gemeinsame Sache, den Sozialismus und den Kampf für eine sozialistische Zukunft, über die individuellen Partikularinteressen stellt. Hans Litten ist in Max Fürsts Autobiographie das leuchtendste Beispiel für ein solches Verhalten: er hat nicht nur in der Endphase der Weimarer Republik den Nazis die Stirn geboten, sondern sogar noch nach der ›Machtergreifung‹ standgehalten, und selbst im Konzentrationslager, wo er bald nach seiner Verhaftung im Gefolge des Reichstagsbrands bis zu seiner Selbsttötung 1938 interniert war, stellte er die Belange der Gemeinschaft über die eigenen. Es trägt schon beinahe legendäre Züge, wenn Max Fürst über den letzten Lebensabschnitt Hans Littens schreibt: Nach kurzem Aufenthalt im Krankenhaus wurde er ins KZ Lichtenburg gebracht. Dort gelang es seinen Mithäftlingen, ihn in der Buchbinderei unterzubringen. Die meisten seiner Briefe über Kunst sind in dieser Zeit geschrieben. Er war jetzt ein Krüppel, aber sein Geist war ungebrochen. Die letzte Station seiner Todesfahrt war Dachau; Häftlinge, die dort mit ihm zusammen waren, berichten von seinen Vorträgen über Politik, Psychologie und Kunst während der monatelangen Dunkelhaft im Jahre 1937, zu der sie wegen der »Greuelnachrichten« im Ausland verurteilt waren. Neuen Vernehmungen Anfang 1938 war er nicht mehr gewachsen. Er erhängte sich am 5. Februar 1938.296

Das Judentum selbst findet sich – dadurch unterscheidet sich die Autobiographie Fürsts von derjenigen anderer jüdischer Sozialisten – noch an zahlreichen weiteren Stellen in seinen Erinnerungsbüchern, besonders in Gefilte Fisch. Hier schildert der Autobiograph Begebenheiten aus und Organisationsformen des jüdischen Lebens in Königsberg in den letzten Jahren des Kaiserreichs und der jungen Weimarer Republik. An diesen Passagen, etwa dem vierten, »Juden in Königsberg« betitelten oder dem sechsten, »Die Synagoge« überschriebenen Kapitel, fällt jedoch die Distanz auf, die der Autor gegenüber diesen Erinnerungen aus seiner Kindheit wahrt. Die dahinterliegende Intention Fürsts ist es daher, die Bedeutung des Judentums für die persönliche Entwicklung systematisch in den Hintergrund zu drängen bzw. nur diejenigen Elemente als bedeutsam für das eigene Leben zu dokumentieren, die ex negativo seine frühe Hinwendung zum Sozialismus beeinflusst haben. Dazu dienen ihm vor allem die im Exil gesammelten jüdischen Grunderfahrungen: Ausgrenzung, Unterdrückung und Verfolgung, die das Leben der Juden im kaiserzeitlichen Deutschland spätestens seit dem Berliner Antisemitismusstreit zu Beginn der 1880er Jahre wieder verstärkt bestimmt haben. In diesen jüdischen Grunderfahrungen bzw. in ihrer gegenwärtigen Aktualisierung liegt für Max Fürst seine Hinwendung zum Sozialismus zumindest mitbegründet. So ist für ihn der Sederabend des Pessachfestes nicht nur religiöse 295 296

Vgl. Lenzen, Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes (wie Kap. 2, Anm. 28). Fürst, Talisman Scheherezade (wie Anm. 284), S. 441.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

191

Vergegenwärtigung des ägyptischen Exils in biblischer Zeit, verbunden mit der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat der Urväter, sondern Grundlage seines emanzipatorischen sozialistischen Denkens. Für ihn ist die Situation der Juden, die letztlich noch bis zur Gründung des deutschen Kaiserreichs, von der Episode der 1848er-Revolution abgesehen, keine staatsbürgerlichen Rechte, sondern nur individuelle Privilegien besaßen, die ihnen jederzeit wieder entzogen werden konnten, nur ein spezielles Anwendungsbeispiel der Funktionsweise einer (kapitalistischen) Klassengesellschaft, die aus den Antagonismen zwischen Herren und Sklaven ihre Legitimation bezieht und sich auch durch Revolutionen nicht grundsätzlich verändert, weil dabei nur die gegenwärtig herrschende Klasse gegen eine neue ausgetauscht wird. Die Stigmatisierung der Juden ist für ihn deshalb – damit befindet er sich durchaus im Einklang mit dem zeitgenössischen sozialistischen Denken – auch nur die Stigmatisierung einer weiteren Opfergruppe im Klassenkampf der kapitalistischen Gesellschaftsordnungen. Max Fürst als Vertreter der unterdrückten Sklaven kann diesen Zusammenhang eher wahrnehmen als die derzeitigen Herren, die ja selbst vor wenigen Generationen noch zu den Unfreien gezählt haben, wie Fürst betont. Emanzipation ist für den Sozialisten deshalb auch nicht an eine bestimmte soziale Schicht oder Klasse gebunden, sondern ist ein menschliches Grundbedürfnis, das der Sozialismus verwirklichen soll. In der imitatio Mosis, dessen Namen er trägt, sieht er deshalb seine Aufgabe: Bei uns war das Assimilationsbedürfnis schon gebremst. Bei den meisten Juden hatte sich schon die Enttäuschung gezeigt, daß man, richtig besehen, kein Deutscher war, kein wilhelminischer Deutscher, daß man zu dieser Oberschicht nicht gehörte. Das Pendel schlug zurück. Wie schwierig war das alles damals für uns Kinder zu durchschauen. Man tat überall, als ob man dazugehörte und man versteckte sich mit seinem Judentum. Später nannten wir es Verlogenheit, wo es doch nur Hilflosigkeit war. Ich stieß auch darauf in der Pessach-Hagada, zusammen mit dem Satz der Forderung: »Gedenke, daß Deine Väter Sklaven waren in Ägypten.« Jahrelang hatte ich den Spruch gehört, aber er war an mir vorbeigeglitten und ich erinnere mich, wie ich rot wurde im Gesicht. Ich lebte ja in einer Welt, die vorgab, nur von Freien abzustammen. Ich hatte das Abendland mit den freien Griechen, die die Vorbilder für die freien Germanen waren, noch nicht durchschaut. Monatelang schämte ich mich, daß ich von Sklaven abstammte, und dunkel wußte ich ja, daß die Befreiungstat Moses, der mein hebräischer Name war, nur eine zeitweilige Befreiung bewirkte. Dunkel ahnte ich es, wie unfrei und unwürdig meine Vorfahren handeln mußten, um am Leben zu bleiben. Ich verstehe heute nur schwer, wie ich den Zwiespalt überwunden habe: das krallenbewehrte Abendland in der Schule eingepaukt zu bekommen und zu wissen, daß man zu den bespuckten Opfern gehörte. Aber der Satz »Vergiß nicht, daß Deine Väter Sklaven waren in Ägypten«, hat sich in mich eingefressen. Ich weiß nicht, wann all das in mich hineingeträufelt ist. Langsam, wahrscheinlich schon in der Vorschule; sicher, als ich in die Sexta des Realgymnasiums kam, als ich aus der Umgebung der Familie heraustrat, als mir das bürgerliche Deutschland in der Gestalt der Oberlehrer, die sich damals noch Professoren nannten, entgegentrat. Lange lag das alles weit unter dem Bewußtsein und lange Zeit brauchte ich, um es zu erkennen und in mein Leben einzuordnen. Lange brauchte ich, bis ich erkannte, daß auch an-

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dere sich hätten erinnern sollen, daß ihre Väter Sklaven waren, und daß die, die sich als Herren aufspielten, Betrüger waren.297

Seine Anteilnahme am Judentum ist – für einen Sozialisten – untypisch stark ausgeprägt. Wenn er sich auch darauf beschränkt, zentrale Erfahrungen und daraus resultierende Gedächtnistraditionen des Judentums ihrer ursprünglichen Zusammenhänge und damit ihres eigentlichen Bedeutungsgehalts zu entkleiden, so bleibt immer noch die Tatsache bestehen, dass er wenigstens die ihres ursprünglichen Sinns beraubten Formen bewahrt, um sie – in einen neuen Bedeutungszusammenhang überführt – für seine eigenen sozialistischen Intentionen mit neuen Inhalten zu füllen. Dadurch erhält sein Sozialismus eine gewisse religiöse Überformung, die ihren deutlichsten Ausdruck in der imitatio Mosis findet.

3.4.3 Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland Betrachtet man dagegen andere Autobiographien jüdischer Sozialisten unbekannter wie prominenter Provenienz, wird man bald feststellen, dass sich nahezu keine Rudimente ihrer jüdischen Identität mehr in ihren Autobiographien finden. Dies hängt, wie bereits erwähnt, mit der Verortung der ›Judenfrage‹ in den allgemeinen historischen Zusammenhänge der existierenden Klassengesellschaft zusammen. Dem Judentum selbst wird jeder Zusammenhang mit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung entweder implizit – durch Verschweigen – oder explizit – durch Betonung seiner Bedeutungslosigkeit – abgesprochen. Diese Behauptung lässt sich an der Autobiographie Ernst Tollers belegen. Der 1893 in Samotschin bei Bromberg geborene Sohn einer kleinbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie entwickelte sich wie viele Intellektuelle seiner Generation – Arnold Zweig wurde bereits benannt – nach anfänglicher Kriegsbegeisterung durch die Schrecknisse des ›Fronterlebnisses‹ zum radikalen Pazifisten und, nachdem er sich während seiner Haftzeit intensiv dem Studium der sozialistischen Klassiker gewidmet hatte, schließlich zum Sozialisten. In der Münchner Räterepublik spielte er eine bedeutende Rolle, weswegen er nach ihrem Scheitern zu fünf Jahren Festungshaft in Niederschönenfeld verurteilt wurde. Hier entstanden einige seiner bedeutendsten literarischen Arbeiten, überwiegend Dramen und Gedichte. Nach seiner Entlassung aus der Haft und der Ausweisung aus Bayern widmete er sich dem Kampf gegen das – aus seiner Sicht – herrschende Unrechtssystem und schon bald der Auseinandersetzung mit dem heraufziehenden Nationalsozialismus. Deswegen musste er Deutschland bereits kurz nach der ›Machtergreifung‹ im August 1933 verlassen.298 Seine Autobiographie Eine Jugend in Deutschland, die durch den Indefinitartikel bereits die überindividuelle Repräsentativität des hierin Geschilderten 297 298

Fürst, Gefilte Fisch: eine Jugend in Königsberg (wie Anm. 271), S. 53–55. Einen einführenden Überblick über Tollers Leben und Werk bietet Wolfgang Rothe: Ernst Toller: in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983 (rowohlts monographien; 312).

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

193

für seine Generation ausdrückt, ist während dieser Endphase der Weimarer Republik geschrieben. Das Vorwort, das eine gewisse Zwangsläufigkeit der politischen Entwicklung in Deutschland von Wilhelm II. zu Hitler suggeriert, ist auf den »Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland«,299 also den 10. Mai 1933, datiert. In seiner Autobiographie stellt Toller seinen Lebensweg als Entwicklung vom unpolitischen jüdischen Bürgerskind zum bewussten – freilich parteipolitisch zu keiner Zeit gebundenen – sozialistischen Revolutionär und Schriftsteller dar. Das Buch zerfällt in zwei Teile. Das ›Fronterlebnis‹ markiert darin den entscheidenden Einschnitt, der Toller schließlich von einem patriotisch gesinnten, nicht besonders reflektierten Kriegsfreiwilligen über einen eher instinktiven Pazifisten zu einem theoretisch fundierten Sozialisten führt. Während seines Kriegsdienstes ist er dann auch aus überbordendem Patriotismus aus der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt ausgetreten, ohne damit aber dem ›Makel‹ seiner jüdischen Abkunft entgehen zu können. Bei dem Hochverratsprozess nach seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik in führender Position, aber auch während seiner Festungshaft und seiner weiteren literarischen und politischen Betätigung in der Weimarer Republik werden ihm deshalb auch seine (Land-)Fremdheit, die für die Ankläger zwangsläufig aus seinem Judentum resultiert, und seine Einmischung in bayrische Angelegenheiten zum Vorwurf gemacht.300 Dennoch ist Eine Jugend in Deutschland keine theoretische Programmschrift, sondern Autobiographie im lebendigsten und anschaulichsten Sinne, bei der die Erlebnisse des Protagonisten im Mittelpunkt des Erzählten stehen.301 Aus dem hier Ausgeführten darf dennoch nicht auf ein völliges Fehlen von Spuren und Einflüssen des Judentums in und auf Tollers Werk geschlossen werden.302 Die Autobiographie Tollers ist nur zum geringsten Teil eine Aussa299 300

301

302

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. München: Hanser 1978, S. 11. Vgl. Carel ter Haar: Ernst Toller: Appell oder Resignation. München: tuduvVerlagsgesellschaft 1977 (tuduv-Studien: Reihe Sprach- und Literaturwissenschaften; 7), S. 83–85. Auf die extreme Stilisierung der eigenen Existenz in Tollers Autobiographie weist Rothe, Ernst Toller (wie Anm. 298), S. 14 hin: »So sind die Schreckensgemälde, die Toller in Eine Jugend in Deutschland und Briefe aus dem Gefängnis von Niederschönenfeld gab, überaus subjektiv und als historische Quellen von eingeschränktem Wert; das gilt übrigens für sämtliche lebensgeschichtliche Mitteilungen Tollers, die häufig ersichtlich zurechtgebogen, stilisiert sind.« Die Spuren des Judentums in Tollers Werk werden gründlich erforscht, wenngleich sie kaum – und das zu Recht – in der Autobiographie, sondern vor allem in seinem dramatischen Werk gesucht werden. Genannt seien hier nur die Arbeiten von Haar, Ernst Toller (wie Anm. 300), Michael Ossar: Die jüdische messianische Tradition und Ernst Tollers Wandlung. In: Im Zeichen Hiobs: jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. von Gunter E. Grimm und Hans Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 295–308, Carsten Schapkow: Judentum als zentrales Deutungsmuster in Leben und Werk Ernst Tollers. In:

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

ge über sein tatsächliches Verhältnis zum und seine Beeinflussung durch das Judentum als vielmehr eine Selbstinterpretation aus einer bestimmten, das eigene Judentum marginalisierenden Perspektive. Tatsächlich eignet sich Toller sein überwiegend von außen an ihn herangetragenes Judentum mit kritischdistanziertem Blick an. Von dessen – in seinem persönlichen Umfeld – in traditioneller Religiosität verharrenden Inhalten fühlt er sich von frühester Jugend an eingeengt und abgestoßen.303 Seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum erfolgt daher nicht – wie etwa bei Gershom Scholem – um es zu bewahren und neu zu entwickeln, sondern um es zu überwinden. Zu diesem Zweck ist Toller Sozialist geworden, weil der Sozialismus die Erfahrungen des Juden in der modernen Welt zu verallgemeinern und in der Bekämpfung der zugrunde liegenden Gesellschaftsstrukturen aufzuheben versucht: »Toller hat stets im Juden nur die reinste und auffallendste Verkörperung der leidenden Kreatur gesehen.«304 Aus diesem Grunde treten die Erfahrungen Tollers mit seinem Judentum im zweiten Teil seiner Autobiographie gänzlich zurück hinter seinen vorrangigen Kampf für die sozialistischen Ideen: Im ersten Teil fällt dem Leser die ausschlaggebende Rolle, die das Judentum sogar in einer fast völlig assimilierten Familie spielt, auf; im zweiten Teil tritt dieses Thema zurück, zugunsten einer alles andere ausschließenden Hingabe an den Kampf um eine gerechtere Welt, eine neue Gesellschaft der Verbrüderung, also der Abschaffung aller die Menschen voneinander trennenden Schranken wie Religion und Klasse. [...] So erscheint zum Beispiel jede Erwähnung des Judentums in einem seltsam zwiespältigen Lichte, das einerseits das Judentum als sinnloses Überbleibsel und leere Orthodoxie, zum anderen als Zeichen für den ausgebeuteten, geschändeten Menschen überhaupt erscheinen läßt.305 Diese erzwungene Auseinandersetzung mit dem Judentum tritt jedoch meistens nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Kritik an der nationalistischen, bürgerlichen Gesellschaft, in der Toller aufgewachsen ist, in Erscheinung.306

303

304 305 306

Exil 16 (1996), S. 25–39, Alfred Bodenheimer: Ernst Toller und sein Judentum. In: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Hg. von Itta Shedletzky [u. a.]. Tübingen: Niemeyer 1993 (Conditio judaica; 5), S. 185–194 und Carsten Schapkow: Judenbilder und jüdischer Selbsthaß: Versuch einer Standortbestimmung Ernst Tollers. In: Ernst Toller und die Weimarer Republik: ein Autor im Spannungsfeld von Literatur und Politik. Hg. von Stefan Neuhaus [u. a.]. Würzburg: Königshausen und Neumann 1999 (Schriften der Ernst-TollerGesellschaft; 1), S. 71–87. Vgl. Schapkow, Judentum als zentrales Deutungsmuster (wie Anm. 302), S. 25–28 und Schapkow, Judenbilder und jüdischer Selbsthaß (wie Anm. 302), der Tollers jüdischen Selbsthass in dieser Ablehnung traditioneller Orthodoxie begründet sieht. Ossar, Die jüdische messianische Tradition und Ernst Tollers Wandlung (wie Anm. 302), S. 295. Ebd., S. 294. Haar, Ernst Toller (wie Anm. 300), S. 75.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

195

Im ersten Teil, der Darstellung einer Kindheit und Jugend in Preußen, bedient sich Toller – ohne daran irgendwelche Reflexionen über den Erinnerungsdiskurs zu knüpfen – einer äußerst sprunghaften, diskontinuierlichen und assoziativen Erzählweise, indem er Bruchstücke und Erinnerungsfragmente scheinbar wahllos, in kurze Absätze gegliedert, aneinanderfügt. Erinnerungen an das Elternhaus, an Jugendfreunde und das Zusammenleben der verschiedenen Nationalitäten sowie die erste Liebe und erste journalistische, von zweifelhaftem Erfolg gekrönte Versuche wechseln sich in unregelmäßiger Reihe ab. Tatsächlich sind die solchermaßen zusammengefügten Erinnerungsfetzen – natürlich – nichts weniger als unzusammenhängend, sondern stellen das Bild der wilhelminischen, von Klassen- und – in diesem Grenzgebiet des Reichs – nationalen Gegensätzen gespaltenen Gesellschaft dar, wie es sich dem gereiften sozialistischen Geist, aber aus der fingierten Perspektive des ideologisch noch ungefestigten bzw. im wilhelminischen Untertanengeist des Kleinbürgertums verfangenen Kindes darbietet.307 Der tatsächliche Zusammenhang dieser Erinnerungsfetzen bietet sich erst dem erwachten sozialistischen Bewusstsein dar, das der junge Erwachsene durch die Schrecken des Fronterlebnisses und den Fanatismus der Heimatfront, die den nunmehrigen Pazifisten auf Betreiben seiner ratlosen Eltern zur Untersuchung vom Gefängnis in die Irrenanstalt überführen lässt, entwickelt und ihn die Verhältnisse in bemerkenswerter Simplifizierung ›klar‹ sehen lässt: [I]ch lerne, daß es zwei Arten Kranke gibt, die harmlosen liegen in vergitterten klinkenlosen Stuben und heißen Irre, die gefährlichen weisen nach, daß Hunger ein Volk erzieht und gründen Bünde zur Niederwerfung Englands, sie dürfen die harmlosen einsperren.308

Aus dieser Perspektive heraus lassen sich auch die Kindheitserlebnisse in einen übergeordneten Zusammenhang bringen, die an dem der Chronologie der Ereignisse entsprechenden Ort zusammenhanglos als unreflektierte, vom bür307

308

Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Kap. 1, Anm. 9), S. 127 sieht in diesem Verfahren – er beruft sich hier auf Hans-Robert Jauss und dessen Studie über die Erinnerungstechnik bei Marcel Proust – »eine der hervorragenden Neuerungen modernen Erzählens im 20. Jahrhundert« verwirklicht: »die weitestgehende Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens. Durchgängig im Präsens gestaltet, bleiben die einzelnen Passagen gekennzeichnet durch die Offenheit des Zukunftshorizonts des erlebenden Ichs. [...] [D]em Autobiographen gelingt es mit seiner komplexen Erzählweise, den begrenzten Bewußtseinshorizont des dargestellten, weithin unwissend erlebenden Ichs zu überschreiten, um die radikale Vergesellschaftung des Kindes, selbst seiner Träume und Phantasien transparent werden zu lassen.« – Damit reiht sich Tollers Autobiographie nahtlos in die Vielzahl der Belege ein, die Sills Theorie einer ›Entmächtigung des Ich‹ in Verbindung mit einer ›Verselbständigung der Welt‹ als Voraussetzungen modernen autobiographischen Schreibens stützen. Toller, Eine Jugend in Deutschland (wie Anm. 299), S. 107 über seinen Arzt in der Irrenanstalt, dem Tollers mangelnde Siegeszuversicht bereits als Grund für dessen Einweisung auszureichen scheint.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

gerlichen deutschnationalen Bewusstsein des Elternhauses geprägte Erfahrungen erzählt werden. Dieser Zusammenhang setzt die antisemitischen Ausfälle, denen das autobiographische Subjekt in seiner Jugend ausgesetzt war, in eine Kausalbeziehung zu den von ihm und anderen Kindern, die aus ihrem Deutschtum eine gefühlte Superiorität über die Angehörigen der anderen Nationalitäten des Grenzgebiets ableiten, aus rassistischen und religiösen Motiven begangenen Taten. In ihnen allen – sowohl in den antisemitischen als auch in den antipolnischen und antikatholischen Ressentiments, denen sich die Kinder in diesem östlichen Teil Preußens gegenseitig ausgesetzt haben und so ein Spiegelbild der realen Klassenverhältnisse im wilhelminischen Deutschland liefern – zeichnet sich die kapitalistische Gesellschaftsordnung mit ihren Klassenantagonismen ab, von denen der Antisemitismus nur ein spezielles Anwendungsbeispiel unter vielen ist: Samotschin war eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den Ton angaben. Erst bei der zweiten Teilung Polens fiel die Ostmark an Preußen. Aber die Deutschen betrachteten sich als die Ureinwohner und die wahren Herren des Landes und die Polen als geduldet. [...] Wir Kinder sprachen von den Polen als »Polacken« und glaubten, sie seien die Nachkommen Kains, der den Abel erschlug und von Gott dafür gezeichnet wurde. Bei allen Kämpfen gegen die Polen bildeten Juden und Deutsche eine Front. Die Juden fühlten sich als Pioniere deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, ›gehütet und gepflegt‹. Den Polen, deren Kinder in der Schule nicht die Muttersprache sprechen durften, deren Vätern der Staat das Land enteignete, warf man vor, daß sie keine Patrioten seien. Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm hoch leben.309 Der Sohn des Nachtwächters ist mein Freund. Wenn die anderen ›Polack‹ schreien, schreie ich auch ›Polack‹, er ist trotzdem mein Freund. Die Polacken hassen die Deutschen, ich weiß es von Stanislaus [dem polnischen Freund; M. M.].310 – Glaubst Du wirklich, frage ich Stanislaus, daß die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen. – Quatsch! Gib sie mir. – Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep? – Rufst Du nicht auch Polack? – Das ist etwas anderes. – Ein Dreck! Wenn Du’s wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.311 309 310 311

Ebd., S. 12f. Ebd., S. 14. Ebd., S. 20f.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

197

Ich bin neun Jahre alt, als ich die Volksschule verlasse und zu Herrn Pfarrer Kusch in die Knabenschule geschickt werde. Stanislaus besucht mich nicht mehr. – Du bist was Besseres, sagt er, außerdem ist Dein Vater Stadtverordneter geworden, das kommt gleich hinter dem Kaiser, adiö. Bisher haben wir mit allen Jungen gespielt, jetzt sehen wir hochmütig auf die Kinder der armen Leute, die in die Volksschule gehen und nicht lateinisch lernen.312 Ich nutze die Zeit, ich lese Werke von Marx, Engels, Lassalle, Bakunin, Mehring, Luxemburg, Webbs. Eher aus Zufall denn aus Notwendigkeit war ich in die Reihen der streikenden Arbeiter geraten, was mich anzog, war ihr Kampf gegen den Krieg, jetzt erst werde ich Sozialist, der Blick schärft sich für die soziale Struktur der Gesellschaft, für die Bedingtheit des Krieges, für die fürchterliche Lüge des Gesetzes, das allen erlaubt zu verhungern, und wenigen gestattet, sich zu bereichern, für die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, für die geschichtsbildende Bedeutung der Arbeiterklasse. Wieder denke ich an Stefan [= Stanislaus; M. M.], den Freund meiner Kindheit, an seinen Haß gegen die Reichen, an die Antwort meiner Mutter, daß Armut gottgewollt sei. Die Erde hat Nahrung für alle in Fülle, des Menschen Geist fand Mittel und Wege, die Kräfte der Natur zu übermächtigen, Stein in wahrhaftes Gold zu wandeln, in Brot. Und doch sterben hier die Menschen vor Hunger, dort wird Weizen ins Meer geschüttet, hier prunken leer die Paläste, dort hat der Mensch keine Bleibe, hier verkümmern Kinder, dort werden Güter verbrecherisch vertan, die Stätten des Geistes bleiben den Besitzlosen verschlossen, die edelsten Kräfte der Menschheit werden verschüttet und zerbrochen, Opfer, maßlos, fordern die falschen Götzen. [...]313

Trotz dieser Reduktion der ›Judenfrage‹ auf die soziale Frage berührt Toller das Judentum an weiteren Stellen seiner Autobiographie. Nirgends aber wird es bestimmend für den Weg seines Lebens, für seine Identität, die vorwiegend sozialistisch und pazifistisch geprägt ist. Dennoch hat auch ihn die Frage der Assimilation, die Frage nach einer Vereinbarkeit von Deutschtum und Judentum, die sich im späten Kaiserreich wie auch in der frühen Weimarer Republik noch hat stellen lassen, in einem ähnlichen Sinne wie Jakob Wassermann beschäftigt. Allerdings sieht Toller die Überwindung der inneren Zerrissenheit nicht in einer nahezu protestantischen Leistungsethik aus dem Geiste des politischen Liberalismus erwachsen, mit der er seine Zugehörigkeit zu beweisen versucht und die nach ihrem Scheitern bei Wassermann mangels vorstellbarer Alternativen in die tiefste Resignation geführt hat, sondern in einer Überwindung der dieser Debatte zugrunde liegenden Kategorien von Nationalismus, 312 313

Ebd., S. 24. Ebd., S. 95. – Die hierzulande eher unbekannten Sidney (1859–1947) und Beatrice (1858–1943) Webb waren zwei prominente britische Sozialreformer, Publizisten und Historiker, die zahlreiche Werke gemeinsam publiziert haben, darunter detaillierte Untersuchungen über Ursachen und Auswirkungen der durch einen ungebändigten Kapitalismus und die Industrialisierung hervorgerufenen Verelendung breiter Bevölkerungsschichten.

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3 Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik

Rassismus und Klassendünkel, wie er ihn als in seiner Zeit in allen europäischen Nationen vorherrschend ansieht. In diese Interpretation der Gesellschaft des wilhelminischen Deutschland wie auch noch der Weimarer Republik, in der ja dieselben Kräfte fortwirken, lässt sich ebenfalls seine sicherlich traumatisch nachwirkende Psychiatrieerfahrung integrieren: eine psychisch kranke Gesellschaft weist den Klarsichtigen ein; Verrücktsein ist eben keine absolute Größe, sondern immer Zuweisung und – darauf aufbauend – Ausgrenzung von einem bestimmten, mehrheitsfähigen Standpunkt aus. Dass ihn diese von seiner Mutter veranlasste Einweisung eventuell vor dem Kriegsgericht bewahrt und ihm so das Leben gerettet hat, ist für Toller dabei nur von untergeordnetem Interesse. Das ›Wissen‹ um die Krankheit der Gesellschaft ermöglicht ihm schließlich auch das Aushalten der von dieser Gesellschaft an ihn herangetragenen Kränkungen, Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen seit seiner frühesten Jugend, von denen der Antisemitismus zwar die erste, sicherlich aber nicht die folgenreichste gewesen ist. Es schließen sich die Verfolgungen des Pazifisten und sozialistischen Revolutionärs, die Jahre der Festungshaft nach der gescheiterten Räterevolution sowie, nach seiner Freilassung, die in Deutschland keinesfalls mehrheitsfähige und daher mit weiteren Ausgrenzungsversuchen verbundene Agitation für eine sozialistische Gesellschaft an. Trotz all dieser Erfahrungen ist es ihm während der gesamten Zeit gelungen, seinen Blick auf die Gesellschaft und ihre Verwerfungen sowie seine Utopie einer besseren und gerechteren sozialen Ordnung durchaus mit großer Breitenwirkung zu kommunizieren: in Zeitungsbeiträgen, in Reden und Diskussionen, durch seine politische Aktivität zur Zeit der Münchner Räterepublik, durch seine dramatischen und lyrischen Werke während seiner Haftzeit und danach sowie erneutes politisches und schriftstellerisches Wirken nach seiner Entlassung aus der Festungshaft und der Ausweisung aus Bayern bis zu seiner schließlichen Selbsttötung in New York. Es liegt auf der Hand, aus diesen Elementen von Tollers Existenz sowie in seiner autobiographischen Selbstinterpretation eine Parallele zum jüdischen Messianismus zu ziehen, wie dies Carel ter Haar getan hat.314 Es ist dabei aber mit Michael Ossar zu beachten, dass es sich bei Tollers anarchistischsozialistischer Utopie um eine säkulare innerweltliche Variante des Messianismus handelt, die sich von seiner Glaubensbasis, den religiösen Inhalten des Judentums, nahezu vollständig emanzipiert hat und ein anarchistisches Element beinhaltet, das die intendierte Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt erst ermöglicht.315 314 315

Vgl. Haar, Ernst Toller (wie Anm. 300), S. 86–105. Vgl. Ossar, Die jüdische messianische Tradition und Ernst Tollers Wandlung (wie Anm. 302), S. 296–306. – Paradigmatisch sieht Ossar den durch einen anarchistischen Sozialismus beeinflussten Messianismus bei Gustav Landauer verwirklicht, der in der Tat maßgeblich auf Ernst Toller eingewirkt hat. – Literarisch verwertet hat Toller die Messianismusidee vor allem in seinem ersten Drama Die Wandlung.

3.4 Die Unmöglichkeit einer jüdisch-sozialistischen Autobiographie

199

Bei der Form des Messianismus, wie Ernst Toller sie vertritt,316 kann daher allenfalls noch von einer »structural homology«317 zum ursprünglich religiös motivierten jüdischen Messianismus gesprochen werden. Sie lässt sich aus soziologischen und wissenssoziologischen Überlegungen zur sozialen Struktur und Geistesgeschichte der deutschen Juden herleiten318 und besteht im Fall Ernst Tollers eben aus einer Ideologie »adheren[t] to a romantic-revolutionary utopia of universal character«,319 die ihn zu Gustav Landauers anarchistischem Sozialismus hingeführt hat.

316

317 318

319

– Auf die messianischen Elemente im Werk Gustav Landauers weist Michael Löwy: Jewish Messianism and Libertarian Utopia in Central Europe. In: New German Critique (1980), H. 20, S. 105 hin. Inwieweit eine mögliche psychische Störung Tollers Leben und Wirken beeinflusst haben könnte und möglicherweise Grundlage seines Messianismus (übersteigertes Selbstgefühl u. ä.) gewesen ist, soll hier nicht diskutiert werden, zumal es äußerst schwierig ist, aus Lebenszeugnissen eines längst Verstorbenen sowie alten Krankenakten einen klinischen Befund abzuleiten – insbesondere für einen Germanisten. Hingewiesen werden soll hier aber dennoch auf die psychische Gefährdung, der Toller zeit seines Lebens ausgesetzt war und die ihn seit seinem zwölften Lebensjahr immer wieder mit psychischen und psychosomatischen Auffälligkeiten in Behandlung gezwungen hat. Es ist dabei ebenfalls zu berücksichtigen, dass die von Toller selbst erkannte Tendenz, einen Kriegsgegner zum Fall für die Psychiatrie zu machen, während des Ersten Weltkriegs nicht ungewöhnlich war. – Vgl. hierzu etwa die Aussagen von Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 160), S. 108 in seiner Autobiographie: »Meine Militärzeit im ostpreußischen Allenstein verlief kurz und stürmisch, und ich will nicht von ihr sprechen. Ich lehnte mich gegen alles auf, was da geschah, und mein Benehmen ließ nur die Wahl: mich entweder vor ein Militärgericht zu bringen oder als geisteskrank zu entlassen. Man entschied sich für letzteres, und nach zwei Monaten wurde ich als »Psychopath« entlassen. Tatsächlich schrieben die Ärzte, unter deren Aufsicht ich mich etwas mehr als einen Monat befand, daß bei mir durch jahrelange Entwicklungen und die Krise mit meinem Vater eine Schizophrenie ausgelöst worden sei (die damals »dementia praecox« hieß), was ich drei Monate später durch einen Irrtum der Jenaer Stadtverwaltung erfuhr.« – Bei Scholem ist freilich weiter nichts über psychische Auffälligkeiten bekannt. – Zu Tollers Krankengeschichte und ihre möglichen Auswirkungen auf Leben und Werk vgl. Rothe, Ernst Toller (wie Anm. 298), S. 12–18. Löwy, Jewish Messianism and Libertarian Utopia (wie Anm. 315), S. 108. Vgl. Ossar, Die jüdische messianische Tradition und Ernst Tollers Wandlung (wie Anm. 302), S. 304 mit Bezug auf Löwy, Jewish Messianism and Libertarian Utopia (wie Anm. 315), S. 109f. Löwy, Jewish Messianism and Libertarian Utopia (wie Anm. 315), S. 111. – Vgl. hierzu auch ebd., S. 113, der drei Varianten der Säkularisation des jüdischen Messianismus ausmacht, deren Vertreter sich um die Pole »Jewish particularism« und »universal character« bzw. dazwischen gruppieren. Über die letztgenannte Gruppe, zu der er Toller zählt, bemerkt er: »[T]he university of utopia is the preponderant dimension, and messianism tends to be devoid of its Jewish specificity.«

4

Das Zeitalter des Nationalsozialismus in der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie

4.0

Einleitung

Die Einleitung des dritten Kapitels versammelte die breitgefächerten Möglichkeiten jüdischer Existenz im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Sie reichten von der nahezu bedingungslosen Assimilation über den Zionismus als Abkehr von diesem Weg und Hinwendung zu einer dezidiert jüdischen Identität mit dem Ziel der Wiederansiedlung in der alten Heimat im Nahen Osten bis hin zum Sozialismus als einer Möglichkeit, durch das Aufgehen in einem zumindest theoretisch weder durch religiöse noch durch soziale oder nationale bzw. rassische Schranken abgegrenzten Kollektiv das eigene Judentum vergessen zu machen. Eine ähnliche Aufgliederung der Existenzmöglichkeiten für die nachfolgende Generation, die – soweit sie überlebt hat – ihre Sozialisation entweder unter den Bedingungen des Dritten Reichs in Deutschland und in den besetzten Territorien oder nach der rechtzeitigen Emigration in einem fernen nichteuropäischen bzw. nicht von der Drohung einer deutschen Okkupation erfassten europäischen Land erhielt, ist nicht möglich. Schließlich gab es in Deutschland und in den besetzten Staaten keinerlei Möglichkeiten jüdischer Existenz, die über den nackten Überlebenskampf hinausgingen, und die Lebensbedingungen in den Immigrationsländern waren zu verschieden, um über den Einzelfall hinaus eine deduzierbare Bedeutung zu haben. Dieses Kapitel widmet sich dennoch den Autobiographien und den in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Territorien verbliebenen deutschsprachigen Juden,1 die sich schon bald nach der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten und ersten antisemitischen Boykottaktionen am 1. April 1933 als ›Schicksalsgemeinschaft‹ empfanden, die trotz aller Unterschiede in der sozialen Schichtung, in den politischen und religiösen Anschauungen ei1

Die folgende kurze Skizze zur Situation der deutschen und europäischen Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft folgt überwiegend den Ausführungen von Wolfgang Benz: Die Juden im Dritten Reich. In: Deutschland 1933–1945: neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Hg. von Karl Dietrich Bracher [u. a.]. 2., erg. Aufl. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 1993, S. 273–290 und ders.: Geschichte des Dritten Reiches. München: Beck 2000. – Wesentlich ausführlicher und differenzierter ist die Darstellung in Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit (wie Kap. 3, Anm. 10), Bd 4, S. 193–371.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

nem gemeinsamen Schicksal entgegengingen, das schon bald die Bündelung der verschiedenen Anschauungen und Richtungen erzwang. Mit der zunehmenden Ausgrenzung und Diskriminierung im öffentlichen Leben sowie im privaten Raum schränkten sich in den Jahren 1933 bis 1939 die Möglichkeiten jüdischer Existenz in Deutschland zunehmend ein, ohne dass sich unter den deutschen Juden zunächst allzu große Emigrationsbestrebungen zeigten; die repressive Politik der beteiligten Staaten – sowohl Deutschlands als auch der potentiellen Aufnahmeländer – behinderten diesen Entschluss zusätzlich. Die ›Nürnberger Rassegesetze‹ vom September 1935 – das »Reichsbürgergesetz«, das den Juden die volle Staatsangehörigkeit und politische Gleichberechtigung aberkannte, die sie seit der Gründung des Kaiserreichs besessen hatten, und das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, das Beziehungen zwischen ›Ariern‹ und Juden für unzulässig erklärte – stellten dann die Rücknahme der im letzten Jahrhundert erkämpften Emanzipation dar und schufen erneut Sondergesetze für die jüdische Bevölkerung. Seit dem Novemberpogrom 1938 (›Reichskristallnacht‹) verzichtete das Deutsche Reich auf jeden »Schein rechtsstaatlicher Tradition«,2 den die Regierung bis dahin noch zu wahren versucht hatte. Die darauffolgende kurzzeitige Internierung von ca. dreißigtausend jüdischen Männern sowie die Verurteilung der gesamten deutschen Judenheit zur Zahlung einer ›Sühneleistung‹ im Gesamtwert von über einer Milliarde Reichsmark leitete jetzt die große Emigrationswelle ein, in deren Gefolge trotz hohen bürokratischen Hürden und großen Schwierigkeiten, ein Aufnahmeland zu finden, zahlreiche Juden unter Verlust ihres gesamten Vermögens Deutschland verließen, bis die Behörden im Herbst 1941 ein Auswanderungsverbot erließen. Die Zurückbleibenden waren unterdessen immer stärkeren Repressionen ausgesetzt, während die Regierungsstellen bereits mit Plänen zur Organisation der Ausrottung der europäischen Juden beschäftigt waren. Seit 15. September 1941 wurde die Kennzeichnung der Juden durch den gelben Stern Pflicht. Zur gleichen Zeit erreichten die Deportationen in den Osten ihren Höhepunkt, und das Deutsche Reich war bis auf einige wenige in der Illegalität lebende oder durch sogenannte ›Mischehen‹ privilegierte Juden ›judenrein‹. In den besetzten Gebieten wurde bereits kurze Zeit nach ihrer Eroberung die Ermordung von politischen Gegnern des Nationalsozialismus, vor allem Kommunisten, und Juden, die mit diesen weitgehend synonym gesetzt wurden, durchgeführt. Der Entschluss zur fabrikmäßigen Tötung und die Organisation ihrer Durchführung fiel auf der Berliner ›Wannseekonferenz‹ am 20. Januar 1942; erste Experimente zur möglichst effektiven Durchführung fanden in den Konzentrationslagern des Ostens bereits im Sommer 1941 statt. Der nationalsozialistischen Judenverfolgung fielen im gesamten europäischen Raum bis Kriegsende ca. sechs Millionen Menschen zum Opfer. 2

Benz, Die Juden im Dritten Reich (wie Anm. 1), S. 280.

4.0 Einleitung

203

Spätestens mit der Deportation in die Vernichtungslager des Ostens, tatsächlich aber schon mit Beginn der antisemitischen Maßnahmen kurz nach der Machtergreifung ist es zumindest aus der Gegenwartsperspektive, die alle im folgenden zu untersuchenden Autobiographien – sie sind ausnahmslos in den 1980er und 90er Jahren entstanden – teilen, nicht mehr sinnvoll, von den ›Möglichkeiten‹ jüdischer Existenz in Deutschland zu sprechen, wo es nur noch die verzweifelte Hoffnung auf das nackte Überleben geben konnte. In diesem Kapitel stehen dann auch nicht mehr Autobiographien im Zentrum, die verschiedene Möglichkeiten und Wege der Identitätssuche und Identitätsfindung deutschsprachiger Juden thematisieren und interpretieren. In dieser Generation dominiert die Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten des Überlebens der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der ihre Herrschaft über weite Teile Europas ausdehnenden Nationalsozialisten sowie der Versuch, mit dem eigenen Überleben und der den Toten gegenüber empfundenen Schuld fertigzuwerden, um der persönlichen Weiterexistenz einen Sinn und eine Perspektive jenseits des Vergessens und Verdrängens zu geben, die das gemeinhin als ›unsagbar‹ Apostrophierte in die eigene Existenz zu integrieren vermag. Die Auswahl der Autobiographien beschränkt sich hierbei auf Überlebende, die Verfolgung und Vernichtung in Deutschland bzw. im von Deutschland besetzten Teil Europas überstanden haben. Ursache hierfür ist nicht die geringe Zahl von Emigrantenautobiographien in dieser Generation, sondern ihre nahezu durchgängig erkennbare Prägung durch Kultur und vor allem Sprache des Gastlands, die eine Einbeziehung in das thematische Umfeld dieser Arbeit nicht mehr zulässt. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache und Kultur bei den Angehörigen dieser Generation, die sich schon als Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern integrieren mussten, spielt hier keine Rolle mehr; im Vordergrund steht vielmehr die Auseinandersetzung mit der neuen, zuerst als fremd empfundenen Heimat, die allmähliche Eroberung der neuen Lebenswelt und schließlich die erfolgreiche Etablierung einer eigenständigen beruflichen und privaten Existenz unter den Bedingungen des Gastlands. Als charakteristisch für diese Form der Autobiographie mag die Aussage des 1924 in Berlin geborenen, 1933 mit seinen Eltern nach England emigrierten nachmaligen Lyrikers, Universitätsdozenten und Übersetzers Michael Hamburger gelten, der in seiner nahezu 300 Seiten starken Autobiographie lediglich knapp zwanzig Seiten den Berliner Jahren widmet, in die darüber hinaus noch die Vorgeschichte der Eltern und Großeltern eingebettet ist. Den Bericht über diese Zeit, auf die er im weiteren Verlauf der Autobiographie auch nicht mehr zu sprechen kommt, schließt er mit einer Bemerkung ab, die die Irrelevanz jener Jahre im deutschen Kulturraum für seine nachfolgende Entwicklung charakterisiert: Die Trennung, das wußten wir, war endgültig, und ihre Plötzlichkeit war mir ein Zeichen dafür, wie wenig wir eigentlich mit ins neue Leben hinüberretten konnten,

204

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

wie wenig von den Gewohnheiten, Verpflichtungen, Neigungen. Wie wenig Kontinuität gab es doch mit dem Vorausgegangenen.3

Folgerichtig ist diese Trennung auch eine solche von der deutschen Sprache seiner Kindheit, die er zwar als Übersetzer zeitlebens weiter genutzt hat, die aber nicht mehr Alltagssprache für den Heranwachsenden und Erwachsenen war. Vom Zeitpunkt seiner frühesten Veröffentlichungen an war Michael Hamburger im anglo-amerikanischen Sprachraum naturalisiert; weder seine 1973 erschienene Autobiographie noch seine Gedichte und literarischen Essays sind in deutscher Sprache entstanden.4 Der zumindest in der Autobiographie nicht weiter reflektierte Verlust seiner Muttersprache bedeutete für den Dichter sowohl Hemmnis als auch Antrieb für die eigene lyrische Produktion, wird aber nicht als eigentlicher Verlust, sondern vielmehr als Bereicherung der lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten empfunden: Wenn man in einer Sprache schreibt, die nicht die Muttersprache ist, so entsteht eine Distanz von der scheinbaren Einheit von Wort und Ding. Die Kluft, die durch diesen Entzug entsteht, läßt sich überbrücken, indem man sich eng an die Konvention klammert, wie ich es in meinen frühen Gedichten tat; man kann sie aber auch annehmen, offen stehen lassen, erforschen, wie in meinen späteren Gedichten.5

Das Bewusstsein einer gänzlichen Trennung vom deutschen Sprach- und Kulturraum ist in dieser Emigrantengeneration, die ja tatsächlich schon in frühester Kindheit und Jugend vertrieben worden ist, weit verbreitet; lediglich solche Emigranten, deren spätere Lebenswege eine enge Verbindung zur deutschen Sprache und Kultur erforderlich machen – etwa diejenigen der Literaturwissenschaftler Egon Schwarz, der 1938 nach dem Anschluss Österreichs mit seiner Familie flüchtete, und Ruth Klüger, die allerdings erst wenige Jahre nach Kriegsende emigrierte – nutzen sie in ihren wissenschaftlichen und autobiographischen Publikationen. Das Überleben der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland oder in den von Deutschland im Verlauf des Krieges besetzten Gebieten war nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, von denen die Duldung durch die Behörden die am häufigsten vorkommende war. Man erreichte sie, indem man entweder in einer ›privilegierten Mischehe‹ mit einem Nichtjuden bzw. einer Nichtjüdin und christlich erzogenen Kindern lebte oder als ›Vierteljude‹ einge-

3 4

5

Michael Hamburger: Verlorener Einsatz: Erinnerungen. Übersetzt von Susan NurmiSchomers und Christian Schomers. Stuttgart: Flugasche-Verlag 1987, S. 25. Dies unterscheidet die jüdischen Emigranten dieser Generation von denen der vorigen, die die deutsche Sprache und Kultur auch im Exil als ihre Muttersprache bzw. als ihre kulturellen Wurzeln betrachteten und beibehielten bzw. in einer echten Zweisprachigkeit lebten und arbeiteten. Als Beispiele hierfür seien etwa die im dritten Kapitel dieser Arbeit behandelten Werner Kraft und Gershom Scholem benannt. Hamburger, Verlorener Einsatz (wie Anm. 3), S. 91.

4.0 Einleitung

205

stuft und somit der unmittelbaren Verfolgung entzogen war.6 Eine zweite, eng mit der ersten verbundene Möglichkeit bestand darin, die eigene jüdische Identität so weit wie möglich zu verbergen und sich zu verstecken. Da mit zunehmender Kriegsdauer die Duldung durch die Behörden immer unsicherer wurde, stellte das Untertauchen in die Illegalität, häufig in Form des Anschlusses an eine Flüchtlingsgruppe unter Vorspiegelung des Verlustes der Wohnung und aller Papiere bei einem Bombenangriff bzw. auf der Flucht vor den vorrückenden sowjetischen Streitkräften, auch für diese Menschen häufig den letzten Ausweg dar.7 Das Überleben in der Illegalität konnte nur mit Helfern aus der nichtjüdischen Bevölkerung gelingen, die sowohl eine Unterkunft zur Verfügung stellen als auch die Versorgung mit Lebensmitteln übernehmen mussten, was sich infolge der Rationierung und Ausgabe von Lebensmittelmarken faktisch nur auf dem Lande durchführen ließ, wo sich Nahrungsmittel auch auf andere Weise beschaffen ließen. Die dritte und letzte Möglichkeit des Überlebens bestand in der Befreiung aus den Lagern durch die vorrückenden Alliierten. Für die hier zu untersuchende Generation stellt sie sicherlich die absolute Ausnahme dar, weil ihre Angehörigen zumeist zu jung waren, um in den Lagern als arbeitsfähig eingestuft und somit nicht gleich nach der Selektion bei der Ankunft ins Gas geschickt zu werden. Für die deutschsprachigen Juden fasst der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz die Chancen des Überlebens folgendermaßen zusammen: Von den rund 500 000 deutschen Juden emigrierten etwa 278 000, die Emigration bedeutete aber bei weitem nicht für alle die Rettung vor dem Holocaust. Die Zahl der Ermordeten liegt zwischen 160 000 und 195 000, ungefähr 15 000 Juden überlebten als Partner in ›Mischehen‹, weniger als 6000 überstanden die Lager im Osten (die meisten wurden in Theresienstadt befreit), einige überlebten in der Illegalität, vor allem im Untergrund in Berlin und Wien. Ihre Zahl, meist mit 5000 vermutet, ist noch weniger genau zu bestimmen als die der Ermordeten.8

In der Realität vermischten sich diese hier zu heuristischen Zwecken getrennten Möglichkeiten des Überlebens. Dies belegen auch die zur Interpretation ausgewählten autobiographischen Texte, die – trotz dieser historisch ausgerichteten Einleitung – nicht in erster Linie als historische Dokumente, sondern als Belege literarischer Darstellungsformen betrachtet werden sollen. Dennoch lassen sie sich auch den genannten Möglichkeiten zuordnen. Der älteste der 6

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Der Romanist und besessene Tagebuchschreiber Victor Klemperer (1881–1960) ist – spätestens seit der Publikation dieser Diarien 1995 und ihrer anschließenden TVVerfilmung – hier wohl an erster Stelle zu nennen. Die Gegenüberstellung von Autobiographie und Tagebuch – beide sind zumindest teilweise parallel entstanden – zeigt das bei aller Gelehrsamkeit völlige Unverständnis des leidenschaftlichen Patrioten, als der er sich in der Autobiographie erweist, gegenüber den Repressionsmaßnahmen, die er in seinem Tagebuch beschreibt. Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit (wie Kap. 3, Anm. 10), Bd 4, S. 343–368. Benz, Geschichte des Dritten Reiches (wie Anm. 1), S. 228.

206

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Autobiographen, der 1924 geborene Ludwig Greve, lebte in Berlin. Seine Emigration mit der Familie im Anschluss an das Novemberpogrom 1938 mit dem Schiff nach Kuba scheiterte, und es schloss sich eine Flucht mit der Familie vor dem nationalsozialistischen Angriffskrieg durch halb Europa an, den Greve schließlich in Oberitalien überlebte. Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren, überlebte die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in wechselnden Konzentrationslagern; bei der Evakuierung von Christianstadt konnte sie schließlich fliehen und in der Masse der Ostflüchtlinge untertauchen. GeorgesArthur Goldschmidt schließlich, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, wurde von seinen weitsichtigen Eltern schon vor dem Krieg in die savoyischen Alpen geschickt, wo er in einem katholischen Kinderheim und – während der Zeit der deutschen Besatzung – in verschiedenen Verstecken bei Bauern überlebte. Bei der Untersuchung der autobiographischen Texte der hier im Überblick kurz vorgestellten Autoren werden Darstellungsformen der Alterität im Mittelpunkt stehen. Die Erfahrung der Andersheit, der Fremdheit im eigenen Land und im eigenen Kulturkreis, die sich schon bei den Autobiographien der vorangegangenen Generation – mal latent, mal manifest – feststellen ließ, wird hier nun zur bestimmenden Lebens- und Überlebenserfahrung, die sich zumindest im tatsächlich gelebten Leben während des Nationalsozialismus nicht mehr – wie eine Generation zuvor noch durchaus möglich – verdrängen ließ. Von der späteren Verdrängung der Ereignisse und der mit der Wiedererinnerung verbundenen äußersten Alteritätserfahrung legen die Texte beredt Zeugnis ab; bei ausnahmslos allen bildet die mühsame Arbeit an der Überwindung des Verdrängungsprozesses, die ja eine notwendige Voraussetzung ist, um die autobiographische Erinnerung in Gang zu setzen, ein zentrales Motiv des Schreibens. Am ausgeprägtesten lässt sich dies wohl an den Texten GeorgesArthur Goldschmidts erkennen, dessen autobiographische Prosa sich am stärksten denjenigen Modi modernen Erzählens zuwendet, die die größtmögliche Distanz zum autobiographischen Subjekt ermöglichen. Dazu zählen vor allem das Wechseln zwischen den beiden Muttersprachen Deutsch und Französisch sowie die durchgehende Fiktionalisierung der frühen autobiographischen Texte, denen sich erst 1999 bzw. 2001 eine explizit als solche bezeichnete, der Einhaltung der von Philippe Lejeune aufgestellten Regeln des ›autobiographischen Pakts‹ verpflichtete Autobiographie zugesellt. Die Reihenfolge der zu untersuchenden Autoren folgt in diesem Kapitel nicht – wie im vorangegangenen – der Chronologie der Geburtsjahre, sondern der zunehmenden Abkehr vom subjektzentrierten Autobiographiemodell, die mit einer stärkeren Orientierung der Autoren an dekonstruktivistischen Theoriemodellen einhergeht. Die Interpretation der Texte folgt diesen Argumentationsmustern dabei nicht, bemüht sich aber um ihre Rekonstruktion, soweit sie für das Verständnis der Texte nötig erscheint.

4.1 Ludwig Greve

4.1

207

Ludwig Greve

Die Reihe der Interpretationen jüdischer Autobiographien, die das jüdische Leben im nationalsozialistischen Deutschland aus der Perspektive eines um seine individuelle und kollektive Identität ringenden Menschen darstellen, wird eröffnet durch den Fragment gebliebenen Text Wo gehörte ich hin? von Ludwig Greve.9 Der 1924 in Berlin geborene Sohn aus bürgerlichem Haus lebte bis Anfang des Jahres 1939 in Berlin und kehrte nach der erzwungenen (und fehlgeschlagenen) Emigration nach Kuba, nach Krieg und Verfolgung durch halb Europa, nach der Befreiung in Italien und der anschließenden (erfolgreichen) Emigration nach Palästina im Jahr 1950 wieder nach Deutschland zurück. Er arbeitete zuletzt als Leiter der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Zwei Jahre nach seiner Pensionierung ist er im Juli 1991 beim Baden vor Amrum nach einem Schwächeanfall ertrunken. Zu Lebzeiten ist er, wenn man von seinen wissenschaftlichen Arbeiten und Ausstellungen in Marbach absieht, vor allem mit Lyrik hervorgetreten, die – neben zahlreichen Einzelveröffentlichungen in Zeitschriften – zumeist nur in Privatdrucken dem Kreis der Freunde und Kenner zugänglich war.10 Erst mit der Veröffentlichung seines letzten Gedichtbandes Sie lacht von 1991, der eine Auswahl letzter Hand darstellt, und der posthumen Verleihung des Peter-Huchel-Preises 1992 ist Ludwig Greve einem breiteren Publikum bekannt geworden. Greves Text weist viele Parallelen zu Scholems Autobiographie auf, die weniger im Stilistischen und Formalen als vielmehr im thematischen und motivischen Bereich liegen. Dies hängt mit der gemeinsamen Herkunft aus bürgerlichen Berliner Elternhäusern, in denen die Assimilation an die nichtjüdische Gesellschaft sehr weit fortgeschritten war, und der daraus resultierenden Konformität der Erziehung und Lebenswelt, in der diese Erziehung stattgefunden hat, zusammen. Im Stilistischen und Formalen sind die Texte nicht vergleichbar, was sich auf die im weiteren radikal unterschiedlichen Lebensläufe zurückführen lässt, die den Autobiographen eine deutlich unterschiedliche Perspektive bei der Darstellung ihres Lebens nahelegt. Konnte Scholem seinem Werdegang noch eine gerade Linie abgewinnen, die ihn im geographischen und kulturellen Sinne Von Berlin nach Jerusalem führte, ist die Greve9

10

An dieser Stelle möchte ich Reinhard Tgahrt, dem langjährigen Freund, Mitarbeiter und schließlich Nachfolger Ludwig Greves in der Leitung der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, danken für die konstruktiven Gespräche und die kritische Lektüre dieses Kapitels. Sämtliche dennoch im Text verbliebenen Irrtümer und Fehler gehen vollständig zu meinen Lasten. Ein ausführliches Verzeichnis der literarischen Werke Greves (ohne Berücksichtigung seiner fachlichen bibliothekarischen Schriften) bietet die Bibliographie von Jutta Salchow: Ludwig Greve: Bibliographie 1952–1993. Marbach am Neckar: [Schiller-Nationalmuseum] 1994. Der Band verzeichnet ebenfalls die bis zur Drucklegung erschienene Sekundärliteratur, zumeist Rezensionen und Nachrufe, soweit sie aus den Beständen des Marbacher Archivs nachweisbar waren.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

sche Existenz von einem ›Mangel an Zutrauen‹ geprägt, der allein sich wie ein roter Faden durch Leben und Werk des Autors zieht. Die Erfahrung des Anders-Seins ist deshalb ein bestimmendes Motiv seiner Biographie, die sowohl in seiner Lyrik als auch in seiner Autobiographie an zentralen Stellen thematisiert wird und die im Formalen und Stilistischen einen wesentlichen Unterschied zu Gershom Scholems um die Metapher des Lebenswegs herum konzipierten, autobiographischen Schreiben markiert. In seiner 1979 vor Freiburger Studenten gehaltenen Rede »Warum schreibe ich anders?« beschreibt Greve dieses Anders-Sein als ein zentrales Movens seiner Lyrik, das er aus seiner Biographie herleitet. Was Greve in dieser Rede nur fragmentarisch andeuten kann, sonst »käme ich zu sehr ins Erzählen«,11 bildet dann den zentralen Gegenstand seiner Mitte der achtziger Jahre begonnenen und unvollendet hinterlassenen Autobiographie. Dennoch lassen sich aus dieser Vorlesung wesentliche Einblicke in die Motivation seines Schreibens gewinnen, zumal seine Lyrik sowohl im Thematischen und Motivischen als auch im Formalen und Stilistischen autobiographisch inspiriert ist. Die Frage »Warum schreibe ich anders?«, die Ludwig Greve hier mit einer autobiographischen Einlassung beantwortet, ist deshalb eng verwandt mit der Leitfrage der Autobiographie Wo gehörte ich hin?, die der Verlag mit sicherem Gespür zum Titel dieses Textes bestimmt hat. Die gemeinsame Antwort auf diese beiden Fragen12 findet sich dann folgerichtig sowohl in der Freiburger Rede als auch in seiner Autobiographie: »mir fehlte das Zutrauen: zu mir, zur Sprache«.13 Diesem ›Mangel an Zutrauen‹ in die Sprache, aber auch in die eigene Identität, der sich wiederum in der Sprache ausdrückt, sind die folgenden Ausführungen gewidmet.

4.1.1 »Warum schreibe ich anders?« Der Ausgangspunkt von Ludwig Greves Überlegungen zu einer Poetik seiner Lyrik ist die Beobachtung ihrer Unzeitgemäßheit, die er an einem Vergleich mit einem nicht namentlich genannten – aber anhand der erwähnten biographischen Details unschwer als Rolf Dieter Brinkmann zu identifizierenden – »jüngeren Kollegen«14 festmacht. In Brinkmanns von keiner Konvention bedrängten Lyrik findet er

11 12

13 14

Ludwig Greve: Sie lacht: und andere Gedichte. Frankfurt am Main: FischerTaschenbuch-Verlag 1992 (Fischer Taschenbuch; 11524), S. 68. Die Leitfrage der Autobiographie wird mit dieser Aussage freilich nicht völlig beantwortet, weil sie sich für Greve nicht völlig beantworten lässt. Sie formuliert vielmehr eine kausale Begründung für die faktische Unbeantwortbarkeit dieser Frage. Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 73. Ebd., S. 67.

4.1 Ludwig Greve

209

ein[en] geradezu orgiastische[n] Ekel vor der Wirklichkeit, der von Menschen gemachten natürlich, also doch wohl vor sich selbst. Ich fragte mich, wie lange er diese verschwenderische Allüre durchgehalten hätte[.]15

Es ist hier nicht der Ort, um über die Stichhaltigkeit von Greves apodiktischem Brinkmann-Urteil zu diskutieren. Vielmehr findet sich in Greves BrinkmannBild ein ›portrait of the artist as a young man‹, das demjenigen entspricht, das der gereifte Autor von sich selbst in seinen Jugendjahren zeichnet, als er – nach Verfolgung, Emigration und Krieg – im italienischen Lucca erstmals Zeit, Muße und »ein Zimmer für sich«16 findet, wo er sich ersten lyrischen Schreibversuchen widmen kann: Morgens setzte ich mich an den Tisch, im Fenster vor mir die staubige Palme, wählte ein Thema und schrieb drauflos, wie’s das Gefühl mir eingab. Wenn das ausblieb, das kam bei soviel Fleiß schon vor, ging es auch anders herum, vom Stabreim zur Empörung. An Themen litt ich keinen Mangel, die Welt im Aufruhr und mein eigner lieferte mir genug, je allgemeiner, desto besser. Als Gattungen, wenn man’s so nennen kann, bevorzugte ich den gereimten Aufruf, auch mal so was wie eine lange Ballade, und zur Erholung gönnte ich mir ein Liebesgedicht.17 Ich gestand dem, was ich in dem verdunkelten Zimmer schrieb, keine Pausen zu, als ob nicht auch der Leser – wer anders als ich – das Bedürfnis hätte, Luft zu holen. So geriet mir alles bedeutungsschwer, steil und vertrackt, Expressionisten hätten ihre Freude daran gehabt. Dabei wollte ich mich gar nicht wichtig tun, ich hatte ja durchaus etwas zu sagen; ein heimlicher Respekt, vor was? vor der Schulbildung, bewirkte, daß ich zu hoch hinauswollte, sobald ein leeres Papier vor mir lag.18

Die ›Gemeinsamkeit‹ zwischen Brinkmann und dem jungen Greve besteht demnach in einer ›Bindungslosigkeit‹ im Formalen, die allerdings auf verschiedenen Ausgangspunkten beruht und verbunden ist mit einem ›Weltekel‹, der – wenn man Greves Schicksal kennt – zwar verständlich ist, die Lyrik aber in eine schwer verdauliche ›Weltanschauungsliteratur‹ verwandelt. Hat Brinkmann die Bindungen an die tradierten Formen der (deutschen) Lyrik zu Gunsten einer Orientierung an der amerikanischen Popkultur verworfen, ist es Greve nicht möglich gewesen, diese Bindungen aufzubauen, weshalb für ihn neu und erstrebenswert ist, was Brinkmann als alt und verbraucht aus dem Kanon lyrischer Formen aussondert, um sich experimentellen Formen zuzuwenden. Greve hingegen empfindet diese Bindungslosigkeit seiner frühen Jahre als gravierenden Mangel, weshalb er sich – mit zunehmender Kenntnis der literarischen Tradition – von seiner frühen Lyrik distanziert:

15 16 17 18

Ebd. Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71.

210

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Was den Anstoß gab, habe ich vergessen, ich fing dort eines Tages zu schreiben an, obwohl mir jegliches Handwerkszeug dazu fehlte. Die Sprache zuerst.19

Der Erwerb dieses ›Handwerkszeugs‹ war dem jungen Ludwig Greve, der mit vierzehn Jahren die Schule verlassen musste, um sein Leben zu retten, fürs erste verwehrt. Deutsch war ihm die »Stiefmuttersprache«,20 mit der er zwar aufgewachsen war und sich verständigen konnte, aus deren Geltungsbereich er aber von den Machthabern verwiesen worden war, die durch den Gebrauch, den sie von ihr machten, diese Sprache für eine ganze Generation von Autoren diskreditiert haben.21 Darüber hinaus ist das Deutsche für ihn auch die Sprache, deren er sich nicht bedient hat, um seine Schwester vor der Deportation und der Ermordung in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager zu bewahren. Dieses ambivalente Verhältnis zur deutschen ›Stiefmuttersprache‹ beleuchtet die autobiographische »Selbstprüfung«,22 mit der Ludwig Greve – statt eine Poetik zu entwickeln – die Reflexionen über sein Schreiben und dessen charakteristische Eigenart einleitet: Es fing an wie bei vielen jungen Leuten, deren Erwartungen vom Leben, großgeschrieben natürlich, sie in diesem behindern, und war gleich dunkel grundiert. Der Übergang vom Knabenalter zur, na ja, Männlichkeit, wie ich mir einbildete, geschah nicht schrittweise, sondern in Schrecken: ich war gerade vierzehn, als zwei Männer in Staubmänteln meinen Vater ins »KZ« abführten, wie es im Volksmund hieß; bald darauf Emigration, Krieg, Flucht, warum nicht empfindsam, durch Frankreich und Italien – das sind für Sie soviel Chiffren wie für mich Einschnitte, aber wenn ich sie auflösen wollte, käme ich zu sehr ins Erzählen – schließlich der Januartag 1944, an dem beide Eltern, übrigens als einzige in dem piemontesischen Bergdorf, durch Granatsplitter verwundet wurden, die Mutter schwer. Da wir glaubten, daß sie eine weitere Flucht nicht überstehen würde, sahen wir keinen Ausweg, als der erklärten Freundlichkeit ausgerechnet der Carabinieri zu trauen, die unser Versteck entdeckt hatten. Am nächsten Morgen machte sich mein Vater mit meiner fünfzehnjährigen Schwester, dazu hatte der Dorfpfarrer geraten, auf den Weg in die Provinzhauptstadt Cuneo. Ich brachte sie zur Straße hinunter, der gefrorene Schnee knirschte unter den Sommerschuhen. Meine kleine Schwester hatte Angst wie so oft, ich schalt sie aus. Als sie sich in einiger Entfernung noch einmal umdrehten, hob ich den Arm und rief: »Bis heute abend!« Ich rief sie nicht zurück.23

In diesem »nichtgerufenen Wort«,24 wegen dessen Unterlassung er die Schuld des Überlebenden gegenüber den Ermordeten verspürt, weil er glaubt, dass er sie, wenn er sie zurückgerufen hätte, vor ihrem Schicksal hätte bewahren können, liegt die Ursache verborgen, warum er zwar »keine Mühe« hat, »mich wie 19 20 21

22 23 24

Ebd., S. 69. Ebd. Zum Sprachgebrauch des Nationalsozialismus vgl. Victor Klemperer: LTI: Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam 1982 (Reclams Universal-Bibliothek; 278), S. 7–14. Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 68. Ebd. Ebd., S. 69.

4.1 Ludwig Greve

211

in Menschen, zu denen ich Zutrauen gefasst hatte, in ihre Sprache einzufühlen«,25 aber genau deswegen keine eigene individuelle Sprache finden kann, deren er sich bedient, um seine Erlebnisse in Worte zu fassen. Das Adornosche Diktum von der ›Barbarei‹, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, das in der zeitgenössischen Rezeption häufig als ein Lyrikverbot missverstanden wurde, klingt hier an26 und scheint sich in Greves eigenen ›Gedichten‹ jener frühen Jahre zu bestätigen: Es entstehen Elaborate, über deren Inhalt und Form Greve in distanziertem, ironiesattem Ton berichtet; die voranstehenden Zitate belegen dies. Zu einer eigenen, von den Schlacken des Nationalsozialismus gereinigten Sprache findet er erst viele Jahre nach dem Krieg, nach der Emigration nach Palästina und der anschließenden Remigration nach Deutschland im Jahr 1950. In den Jahren nach seiner Rückkehr und nach dem Beginn seiner Tätigkeit am Deutschen Literaturarchiv in Marbach, wo er sich in täglichem Kontakt mit der aktuellen Entwicklung der deutschen Sprache und ihrer Literatur befindet, gelingt es Greve, »eine Sprache, sagen wir, der Sterblichkeit«27 zu entwickeln, die sich substantiell von derjenigen seiner frühen in Lucca und in Palästina entstandenen Gedichte, die allesamt verschollen sind, unterscheidet und in seinen wenigen, seit 1961 teilweise als Privatdruck veröffentlichten Gedichtbänden Anwendung findet.28 Deren Sprache ist charakterisiert durch ihre Abwendung vom gesteigerten Pathos der frühen Jahre und wendet sich stärker der persönlichen und individuellen Erfahrung zu,29 die sich formal in seiner Hinwendung zu der »alten, immer neu zu gewinnenden Form der Ode«30 manifestiert. In dieser Form gelingt es ihm, sich an ein ›Gegenüber‹ zu wenden und von einer abstrakten Verlautbarungslyrik zugunsten der Darstellung konkreter Gefühle und Reflexionen, alltäglicher Beobachtungen und Erlebnisse wegzukommen.31 Bei einer Analyse seiner frühen Lyrik stellt er deshalb selbstkritisch fest: 25 26

27 28 29 30 31

Beide Zitate ebd. Vgl. ebd., S. 73. – Zur Diskussion des Adornoschen Diktums und seiner Bewertung in der deutschen Nachkriegsliteratur vgl. die Anthologie Lyrik nach Auschwitz: Adorno und die Dichter. Hg. von Petra Kiedaisch. Stuttgart: Reclam 1995 (Reclams Universal-Bibliothek; 9363), die sowohl philosophische und poetologische Stellungnahmen als auch lyrische Texte der Nachkriegszeit, die sich als eine Auseinandersetzung mit Adornos Thesen verstehen lassen, versammelt. Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 74. Die ›gültigen‹ Gedichte Greves versammelt der Band Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), in dem auch die Freiburger Rede enthalten ist. Vgl. Wulf Kirsten: Laudatio auf Ludwig Greve bei der Verleihung des PeterHuchel-Preises 192 in Staufen. In: Allmende 12 (1992), H. 34/35, S. 239. Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 74. Vgl. etwa die Rezension von Reinhard Tgahrt: Ludwig Greve: Bei Tag [Rezension]. In: Neue deutsche Hefte 22 (1975), S. 362 zu dem 1974 erschienenen Gedichtband Bei Tag. – Zur Entwicklung von Greves Lyrik seit den sechziger Jahren vgl. David Scrase: Correcting emotion: the poetry of Ludwig Greve within the context of West German trends. In: German life and letters 41 (1988), S. 494–503.

212

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Da ich kein Gegenüber hatte, mangelte den Gedichten solch mimisches Vermögen; statt dessen suchte ich alles und jedes zu explizieren, ach, bis zur Unverständlichkeit.32

Als Initial dieses gewandelten Verständnisses von Lyrik und der Hinwendung zu einer eigenen dichterischen Sprache gilt ihm das 1966 entstandene Gedicht »Mein Vater«, mit dem ihm die Anverwandlung der antiken Form der Ode für das eigene Schreiben gelingt. Diese streng reglementierte Form ermöglicht es ihm erstmals, sich der eigenen Vergangenheit und möglicherweise auch der ›Schuld‹ des eigenen Überlebens zu stellen: Andere suchen Halt in einer Gruppe oder Überzeugung, ich fand ihn in der alten, immer neu zu gewinnenden Form der Ode. Anfangs scheute ich davor noch zurück, weniger aus Angst, einem Schulmuster zu unterliegen oder es zu parodieren als aus dem Gefühl des Ungenügens; erst, als ich mich stellen mußte, in dem Gedicht an meinen Vater, faßte ich Mut zu ihr, weil sie der bald drängenden, bald stockenden Anrede Widerstand bot. 33

Nicht um sklavische Wiederholung einer definierten Form, sondern um produktive Aneignung einer sich seit der Antike beständig wandelnden, aber immer erkennbaren Form geht es Ludwig Greve. In dieser »Wendung zur Tradition«34 findet sich Greves Selbstverständnis wieder, das der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, mit der aus der Tradition hervorgegangenen Gegenwart oberste Priorität beimisst und sich somit von dem ›orgiastischen Ekel vor der Wirklichkeit‹, den er Rolf Dieter Brinkmann attestiert, unterscheidet. Die Odenform ermöglicht es Greve durch die ihr immanente Spannung von Syntax und Metrik, eine Ordnung in die Unordnung des eigenen Lebens, in die von außen – durch den Nationalsozialismus – herangetragene Unterbrechung und Zerstörung familiärer und sozialer Bindungen und Strukturen sowie in die daraus resultierende Verwirrung der Gefühle und Ideen zu bringen.35 Hierin liegt sicherlich auch die Ursache für seine Rückkehr nach Deutschland und die Aneignung seiner kulturellen und literarischen Tradition begründet, der er sich in seinen weiteren Lebensjahren seit der Remigration gewidmet hat. Es ist das Wissen um die Unmöglichkeit einer ›bindungslosen‹ Existenz, die er sich nur als ›verschwenderische Allüre‹ denken kann, die kein ganzes Leben trägt, wie er wiederum am Beispiel Brinkmanns suggerieren möchte:

32 33 34 35

Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 73. Ebd., S. 74. Ebd. Vgl. hierzu exemplarisch die Interpretation von Uwe Pörksen: Form als Widerstand [Interpretation zu Ludwig Greves Ode »Mein Vater«]. In: Frankfurter Anthologie: Gedichte und Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Bd 11. Frankfurt am Main: Insel 1988, S. 215–218.

4.1 Ludwig Greve

213

Ich fragte mich, wie lange er diese verschwenderische Allüre durchgehalten hätte, wäre er nicht in dem Moment, den zufällig zu nennen man sich scheut, da er den Gedichten so entsprach, über den Fahrdamm gerannt.36

Dementsprechend beantwortet er die Eingangsfrage seiner Freiburger Rede mit einer autobiographischen Einlassung, die seine Suche nach Identität thematisiert und ihm schließlich ›Halt‹ in der Form der Ode gewährt, die wohl als stellvertretend für die gesamte literarische Kultur zu denken ist, in der sie die ganzen Jahrhunderte hindurch Bestand hatte und Verwandlung erfahren hat, aber auch als einzig adäquate lyrische Form für seine ›Sprache der Sterblichkeit‹. Ludwig Greves Lyrik ist deshalb im selben Maß eine Reaktion auf den gefühlten Mangel an Bindungen und Traditionen wie das Schreiben dekonstruktivistischer und postmoderner Autoren eine Reaktion auf den gefühlten Überdruss dieser Autoren an Bindungen und Traditionen ist: Warum schreibe ich also anders als heute erwartet wird? Meine Ausgangsposition war anders, ich habe sie Ihnen beschrieben. Keine Bindungen, die ich hätte abstreifen müssen; eher verlangte mich danach. Bei aller Befangenheit vor dem Land meiner Herkunft kam ich von der Sprache nicht los. Wie ein Flüchtling nach und nach seine Habe wegwirft, suchte ich das Verworfene Stück für Stück zusammen; nicht, um etwa ein früheres Verhältnis wiederherzustellen, das lag in niemandes Hand; wenn ich es überlege, suchte ich Identität. Eine Sache, die mir noch dunkel war, beim Namen zu nennen, schien aller Inbrunst wert; und daran, leider, muß ich wohl sagen, ließ ich es selten fehlen. Das Gedicht, an dem ich schrieb, war sowas wie mein Boden, mehr hatte ich nicht.37

Von hier aus ergibt sich eine zwanglose Verbindung zur Autobiographie, in der die erste Phase dieser Suche nach Identität in der Prosaform der Autobiographie nachvollzogen wird. Verbindungen zur Lyrik lassen sich nachweisen, etwa im Vorhandensein eines Ansprechpartners (›Gegenüber‹), an den sich der Text wendet und der den Erinnerungsprozess überhaupt erst in Gang setzt (›Golem‹), aber auch in der Verwendung der ›Sprache der Sterblichkeit‹, die durch eine Fokussierung auf das Individuelle und Alltägliche charakterisiert ist. Dahinter offenbart sich aber das Weltgeschichtlich-Allgemeine mehr als dass es sich verbirgt, ohne dass Greve deshalb in den Ton der ›Weltanschauungslyrik‹ seiner frühen Jahre zurückfällt.

4.1.2 Wo gehörte ich hin? Die Autobiographie Greves ist Fragment geblieben; ein früher Tod beim Schwimmen in der Nordsee verhinderte ihre Vollendung. Die veröffentlichten Teile des Manuskripts, die von Reinhard Tgahrt herausgegeben worden sind, stellen jedoch eine in sich abgeschlossene Periode aus der Lebensgeschichte Greves dar, die die Zeit bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 zum 36 37

Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 67. Ebd., S. 72.

214

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Inhalt hat. Vier minimale Lücken, eine provisorische Kapitelzählung sowie ein Schwanken in der Frage, wie weit Freunde, Bekannte und Verwandte mit ihrem wahren oder einem fiktiven Namen bezeichnet werden sollen, das sich in unterschiedlichen Benennungen für ein und dieselbe Person zeigt, lassen den Fragmentcharakter des Werkes erkennen, das bis auf die genannten Ausnahmen als abgeschlossen betrachtet werden kann. Textimmanente Hinweise legen die Vermutung nahe, dass der Text über die Ankunft im Kinderheim in Montmorency und die Nachricht vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hinaus hätte fortgeführt werden sollen.38 Darauf deutet auch der erstmals 1975 in der Festschrift für Rudolf Hirsch veröffentlichte Prosatext mit dem Titel »Ein Freund in Lucca« hin, der eine Episode aus Greves Leben erzählt, die sich Anfang 1944 ereignet hat. In äußerster Konzentration werden hier sowohl die Verlusterfahrungen und -ängste des Verfassers – der Tod des Vaters und der Schwester, die schweren Verletzungen der Mutter nach einem Granatangriff – als auch die ersten Schritte der Normalisierung des Lebens – hier erlebte der Verfolgte die Solidarität der Einheimischen und schloss erste Freundschaften – thematisiert. Auch dieser kurze Text ist in die Edition aufgenommen worden.39 Eine Chronologie der weiteren Lebensstationen Greves im ›Nachbericht‹ von Reinhard Tgahrt ermöglicht die Verfolgung des weiteren Lebenswegs des Bibliothekars, an dessen autobiographischer Darstellung er durch seinen frühen Tod gehindert wurde. Im Jahr 2001 ist ein weiterer autobiographischer Text in einem gleichfalls von Reinhard Tgahrt herausgegebenen Band mit kleinen Prosaschriften Greves veröffentlicht worden. Dieser Text mit dem Titel »Ein Besuch in der Villa Sardi«40 schließt chronologisch an den Bericht Greves über seine Zeit in Lucca an, den er selbst 1975 an die Öffentlichkeit gegeben hat, und ist ungefähr zeitgleich mit jenem entstanden. Dennoch orientiert er sich formal und in der Verwendung der Motive stärker an Wo gehörte ich hin? als an dem anderen aus dieser Zeit stammenden Text. In beiden Fällen, sowohl bei »Ein Besuch in der Villa Sardi« als auch bei »Ein Freund in Lucca«, handelt es sich um eigenständige, in sich abgeschlossene und deshalb wohl auch stärker verdichtete Texte und keinesfalls um weitere Fragmente oder Paralipomena zu seiner hier zu untersuchenden Autobiographie. In diesem Zusammenhang ist auch noch wenigstens kursorisch auf zahlreiche weitere autobiographisch gefärbte und inspirierte Texte hinzuweisen, die Ludwig Greve während seiner Marbacher Jahre verfasst hat. Es sind vorwiegend Bemerkungen in Eröffnungsreden zu Marbacher Ausstellungen, aber auch Vignetten, Porträts und Miniaturen, die 38 39 40

Vgl. etwa den nicht mehr eingelösten Hinweis auf der letzten Textseite: »[...] erzähle ich gleich« (Greve, Wo gehörte ich hin? [wie Kap. 2, Anm. 22], S. 166). Vgl. zur Editionsgeschichte von Ludwig Greves Autobiographie den »Nachbericht zum Fragment der Geschichte einer Jugend« von R. Tgahrt in ebd., S. 181–190. Der Text ist abgedruckt in Ludwig Greve: Ein Besuch in der Villa Sardi: Porträts, Gedenkblätter, Reden. Hg. von Reinhard Tgahrt. Warmbronn: Keicher 2001, S. 7– 32 und S. 265f. (Erläuterungen des Herausgebers Reinhard Tgahrt).

4.1 Ludwig Greve

215

anlässlich von Geburtstagen, Nachrufen, Jubiläen und bei weiteren Gelegenheiten verfasst und veröffentlicht worden sind.41 In der Forschungsliteratur ist Greves Autobiographie bislang noch kaum gewürdigt worden. Neben einigen wenigen durchweg enthusiastischen Rezensionen des Werkes liegt nur eine Studie des Amerikaners David Scrase vor, der die ›Berlin autobiographies‹ von Stephan Hermlin und Ludwig Greve unter sozialhistorischem Aspekt vergleicht und dabei jede spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellung und Analyse sorgfältig vermeidet.42 Legitimation von Erinnerung als Legitimation des eigenen autobiographischen Schreibens ist ein fester, wenngleich nicht zwingend notwendiger Bestandteil des autobiographischen Diskurses des 20. Jahrhunderts: ohne Erinnerung an das eigene Leben kann kaum eine Autobiographie geschrieben werden; ohne künstlerische Überformung, ohne Auswahl, Anordnung und Herstellung von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen ist Erinnerung nicht in einen literarischen Text zu verwandeln. Die Auswahl des Dargestellten und die Art der Darstellung sind meist nicht begründungslos: die Erzählung des eigenen Lebens wird fast immer durch einen übergeordneten Zusammenhang legitimiert, durch den erst das eigene Leben eine – auch für den beim Schreiben immer mitgedachten Leser – Bedeutung bekommt. Für die moderne Autobiographieforschung stellt das Wesen der Erinnerung sogar den eigentlichen autobiographischen Gehalt eines Textes dar, weil in ihm allein sich die Subjektivität des modernen Individuums nach dem Zerfall aller bisherigen Gewissheiten über seine Konstituenten manifestiert.43 Bei Greve findet sich die Legitimation von Erinnerung am Beginn seiner Autobiographie; sie ist zugleich Erzählung der Entstehungsbedingungen der Lebensgeschichte, weil hier der langwierige und schmerzhafte Prozess der Erinnerung an eine verdrängte Kindheit durchscheint. Greve versucht diesen Prozess des Erinnerns als Sieg über das Verdrängen für den Leser durchschaubar und plausibel zu machen, indem er vom ersten Unbehagen, das ihn in seinem gewohnten Tagesablauf stört, bis zur Ergründung der Ursachen dieses Unbehagens zurückgeht und den Leser dadurch am allmählichen Erwachen des Erinnerungsprozesses teilhaben lässt. Dadurch wird gleichzeitig deutlich, dass es sich hierbei nicht um Reminiszenzen an eine unbeschwert erlebte und interpretierte Kindheit handelt, sondern dass traumatische Erlebnisse erinnert werden müssen, deren Vergegenwärtigung sich die Psyche des 41 42

43

Auch sie sind in dem Band (ebd.) gesammelt wiederabgedruckt. David Scrase: »Wo gehörten sie hin?«: The Berlin autobiographies of Stephan Hermlin and Ludwig Greve. In: Politics in german literature: essays in memory of Frank G. Ryder. Edited by Beth Bjorklund and Mark E. Cory. Columbia/S. C.: Camden House 1998, S. 153–165. Vgl. hierzu die Beiträge zur Geschichte der Autobiographie im 20. Jahrhundert von Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Kap. 1, Anm. 4) und Sill, Zerbrochene Spiegel (wie Kap. 1, Anm. 9).

216

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Autobiographen widersetzt und die durch die Macht des Wortes herbeigezwungen werden muss. Auslöser von Greves Erinnerungsarbeit ist die »stumme Verabredung«,44 die der Autobiograph mit einem anderen Fahrgast der Straßenbahnlinie 5 »in der Bahn kurz nach sieben, mit der ich jahrelang gefahren bin«45 getroffen und schließlich ›vergessen‹ hat: Warum sollte ich mich schuldig fühlen, daß ich nach ein paar Wochen die stumme Verabredung, sagen wir, vergaß – ich wachte offensichtlich immer früher auf, weil eine Terminarbeit mir zu schaffen machte, nichts sonst.46

Auffällig ist die Betonung, mit der Greve sich versichert, dass lediglich die ›Terminarbeit, nichts sonst‹ zum Versäumen der ›Verabredung‹ geführt hat, die ja eigentlich keine Verabredung, sondern lediglich ein zufälliges Zusammentreffen gewesen ist, das er zudem nur äußerst skrupulös als ›vergessen‹ zu bezeichnen wagt. Er fährt jetzt ein paar Bahnen früher als nötig zur Arbeit [...]. Da kann ich immerhin dem Wortlaut, wenn schon nicht immer dem Sinn, in meiner Lektüre folgen, ohne daß ein Stampfrhythmus sich einmischt, der knöchern aus dem Walkman eines Halbwüchsigen dringt, von den Explosiv- und Grunzlauten, mittels derer ein paar minder introvertierte Schüler sich den Western vom Vorabend erzählen, zu schweigen.47

Auch hier werden wieder rein rationale Gründe der Arbeitsökonomie und Lärmempfindlichkeit bemüht, um die Entscheidung, »um halb sieben«48 statt um »kurz nach sieben«49 zu fahren, zu begründen. Aber es gibt für Greve noch einen weiteren Grund früh aufzustehen, der jedoch bereits im folgenden Nebensatz wieder relativiert wird und in dieser Formulierung für den Leser noch undeutlich bleibt: Natürlich könnte all das mich nicht abhalten, morgens auszuschlafen; doch seit ein paar Jahren überkommt mich beim Geräusch der ersten Lastwagen die Panik meiner Jugend, vielleicht ist es auch nur Ärger im Büro, nun aber unentrinnbar wie in der griechischen Tragödie, genug, ich breche aus der dumpfen Höhle aus, in der die Bettdecke mich einschließt, und suche Klarheit unter der Dusche.50

Wirklicher Grund für Greve, den Zug zu wechseln, ist die Tatsache, dass er den Fahrgast kennt: »ich nannte ihn Golem, weil er so unangepasst, um es mal so zu sagen, wie jene Lehmfigur wirkte, die im mittelalterlichen Prag ihr Unwesen trieb«. Er hat ihn »auf dem jüdischen Friedhof vor ein paar Monaten« 44 45 46 47 48 49 50

Greve, Wo gehörte ich hin? (wie Kap. 2, Anm. 22), S. 11. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd.

4.1 Ludwig Greve

217

das erste Mal bei der »Beerdigung eines Kollegen«51 gesehen, ist also ein ›memento mori‹, das den Autobiographen – vor allem durch die permanente Wiederbegegnung in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit – an die eigene Sterblichkeit bzw. an die Sterblichkeit der eigenen Generation und an das eigene, lange verdrängte Judentum erinnert, das der Golem als jiddisch sprechender,52 der Orthodoxie anhängender53 Vertreter des Judentums in exemplarischer Weise verkörpert. Dass der Golem mehr als ein zufällig dieselbe Bahn benutzender Fahrgast ist, zeigt die Ohnmacht des Autobiographen gegenüber dem von diesem Fahrgast ausgehenden Zwang zur Erinnerung, dem er Greve aussetzt: Wer geht schon gern auf den Friedhof, noch dazu, wenn da eine, was sage ich, seine Vergangenheit auf ihn wartet, gänzlich begraben? Etwas von dieser Scheu oder gar Abwehr rief der Schammes [i. e. der Golem; M. M.] in mir wach, als ich ihn ausgerechnet in meiner Straßenbahn sitzen sah. Das ist dein Tod, so ähnlich.54

Mit der Apostrophierung dieses ›Gegenübers‹ als Golem erschließt sich Ludwig Greve ein weites Feld der jüdischen Überlieferung, das er aber nur sehr eingeschränkt nutzt. Es interessieren ihn weder die Schöpfungsmythen, die sich um den Golem ranken, noch das Diener- und Automatenmotiv, das mit dieser Sage eng verbunden ist. 55 Greves Golem ist weder sprachlos noch taugt er zum (physischen) Retter der Judenheit – Rettung kann er allenfalls durch die Erinnerung, die er durch sein Erscheinen in Gang zu setzen vermag, verbürgen. Statt sich dieser traditionellen Bestandteile der Golemsage zu bedienen, orientiert sich Greve an einem Motivkomplex, den erst Gustav Meyrink dem Golemstoff hinzugefügt hat.56 Es handelt sich hierbei um das Doppelgängermotiv, das den Golem als Alter ego des Erzählers einführt,57 in das die ver51 52 53 54 55

56

57

Alle Zitate: ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 11: »[D]ann erkannte ich die Sprache. [...] Jiddisch.« Vgl. ebd., S. 85 und S. 104. Ebd., S. 10. Vgl. Sigrid Mayer: Golem: die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern, Frankfurt am Main: Lang 1975 (Utah studies in literature and linguistics; 2), S. 9–45, die dem Golemmotiv in der deutschen Literaturgeschichte seit 1837, als es in Berthold Auerbachs Spinoza-Roman erstmals auftauchte, nachspürt sowie seinen biblischen und kabbalistischen Ursprüngen nachgeht. – Zu den biblischen und kabbalistischen Ursprüngen vgl. auch Gershom Scholem: Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen. In: Eranos-Jahrbuch 22 (1953), S. 235–289. Vgl. S. Mayer, Golem (wie Anm. 55), S. 198 und S. 213 sowie Oehm, Gustav Meyrink »Der Golem« (wie Kap. 3, Anm. 248), S. 177–179, die auf die Kontamination des Stoffes mit zeitgenössischen okkultistischen Strömungen bei Meyrink hinweisen. Die entsprechende Passage aus Scholems Autobiographie wurde bereits angeführt. Vgl. Oehm, Gustav Meyrink »Der Golem« (wie Kap. 3, Anm. 248), S. 186: »In der gespenstischen Doppelgängererscheinung des Golem tritt Pernath der abgespaltene und ins Unterbewußte verdrängte Teil seines lebensgeschichtlichen Ich gegenüber, der nach bewußter Gestaltung verlangt.« – Zum Doppelgängermotiv in der Litera-

218

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

drängte Vergangenheit des Erzählers hineinprojiziert wird, die er sich in Anlehnung an die psychologischen und psychoanalytischen Methoden mühsam wieder erarbeiten muss – ein Prozess, dem er sich auf der anderen Seite aber auch nicht entziehen kann: die Erinnerung an das jahrzehntelang Verdrängte verläuft, ist ein bestimmter Schwellenwert erst einmal überschritten, mit Notwendigkeit ab. Initial dieses Erinnerungsprozesses ist bei Meyrink wie bei Greve die Figur des Golems, die irgendwann ins Leben der Hauptfigur – sei es der Gemmenschneider Athanasius Pernath oder der Bibliothekar Ludwig Greve – tritt. In diesem Alter ego, das der Golem bei Meyrink verkörpert,58 ist aber nicht nur die individuelle Vergangenheit, sondern darüber hinaus diejenige des gesamten Judentums verborgen: Der Golem steht also hier gleichzeitig für die Existenz aller und jedes einzelnen im Ghetto, und dies erklärt seine Doppelfunktion im Roman als Abbild der »Massenseele« [...] und als unwillkürliche Doppelerscheinung des Athanasius Pernath.59

Tatsächlich erzählt auch Ludwig Greve nicht nur die eigene Biographie, sondern darin enthalten die Geschichte des Judentums in der Diaspora mit all ihren Verfolgungen, von denen die selbst erlebte nur eine Wiederholung der früheren Leidensgeschichten ist60 und das individuell erlebte Schicksal – die gescheiterte Assimilation, die Emigration und Flucht vor dem Nationalsozialismus – demjenigen zahlloser anderer gleicht, die dasselbe wie er erlebt, aber nicht überlebt haben – zuerst ist hier an seinen Vater und seine Schwester zu denken, die noch 1944 kurz vor der Befreiung in Italien deportiert worden sind.

58

59

60

turgeschichte vgl. die Ausführungen von Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur: ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4., überarb. und erg. Aufl. Stuttgart: Kröner 1992 (Kröners Taschenausgabe; 301), S. 94–113; dort finden sich auch weiterführende Literaturhinweise. Bei Gustav Meyrink: Der Golem. Mit 25 Ill. von Hugo Steiner Prag; Nachwort von Eduard Frank. 17. Aufl. Berlin: Ullstein 2000 (Ullstein-Taschenbuch; 20140), S. 110 sogar im Wortsinn: »Immer wieder: der weißliche Fleck – – – der weißliche Fleck – –! Eine Karte, eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir ins Hirn hinein – – – umsonst – – jetzt hat er sich dennoch – dennoch Gestalt erzwungen – der Pagat – und hockt in der Ecke und stiert herüber zu mir mit meinem eigenen Gesicht.« S. Mayer, Golem (wie Anm. 55), S. 199. – Vgl. Oehm, Gustav Meyrink »Der Golem« (wie Kap. 3, Anm. 248), S. 185, die den Aspekt der Entwicklung von der individuellen zur kollektiven Erinnerung Pernaths betont. »Offenbar handelt es sich dabei nicht nur um ein Verhältnis gegenseitiger Spiegelungen, sondern es läßt sich zugleich eine Entwicklungstendenz erkennen, in der – vereinfachend ausgedrückt – der Doppelgänger zunächst als Abspaltung eines Teiles von Pernaths individueller Lebensgeschichte und am Ende als Objektivation seiner überindividuellen, generischen Vergangenheit gefaßt ist.« Vgl. Greve, Wo gehörte ich hin? (wie Kap. 2, Anm. 22), S. 33, wo der Autor selbst sein Schicksal mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten vergleicht und die Wiederkehr dieser Ereignisse in der erzwungenen Auswanderung der deutschen Juden sieht.

4.1 Ludwig Greve

219

Gemeinsam ist den beiden Texten weiterhin – auch das wurde bereits angedeutet – das Motiv der Verborgenheit der Erinnerung und die daraus resultierende Mühseligkeit ihrer Freilegung, die sowohl bei Meyrink als auch bei Greve auf die Mühsal psychoanalytischer Verfahren, die die Erinnerung freisetzen sollen, hinweist. Aus diesem Grunde ist der Weg, den Pernath zurücklegen muss, um in die Behausung des Golems zu kommen, lang, verwinkelt und dunkel; auch gibt es keinen anderen Zugang außer einer nicht sehr bequem erreichbaren Falltür im Fußboden: Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben benützt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern immer wieder von neuem absuchte.61

Hier, in diesem Zimmer, kommt es dann auch zur entscheidenden Begegnung mit dem Golem, die schließlich dazu führt, dass Athanasius Pernath sich seiner bislang durch eine Hypnosebehandlung in seiner Jugend verdrängten Erinnerung stellt und auf diese Weise den Golem in sich selbst reinkorporiert (»Ich hielt ihn fest« bzw. »ich [...] ging hinüber zu ihm und steckte ihn in die Tasche«62). Auch bei Greve sind es die mehrfachen Begegnungen mit dem Golem, dem er jeden Morgen in der Bahn gegenübersitzt, die schließlich den Erinnerungsprozess auslösen, weil er sich ihm gegenüber, der sein Judentum so öffentlich zur Schau stellt, zur Rechtfertigung verpflichtet fühlt. Obwohl er sich durch den Wechsel der Bahn der körperlichen Begegnung mit dem Golem entzieht, kann er sich dem Erinnerungsprozess nicht mehr entziehen: »Aber der Haken steckt«63 und der Golem ist jetzt als imaginäres ›Gegenüber‹ in den Autor zurückgekehrt. Die ›ungeformte Masse‹, die ursprüngliche Bedeutung des hebräischen Wortes ›golem‹, aus der nach talmudischem Verständnis schließlich der beseelte Mensch hervorgegangen ist,64 hat sich verwandelt in geformte Erinnerung, wie sie dem Leser in der Autobiographie gegenübertritt. Dies führt im Verlauf des Textes dazu, dass der Golem immer seltener zur Selbstvergewisserung und Selbstrechtfertigung gebraucht wird.65 Statt dessen treten ein imaginäres »wertes Publikum«66 und sein Enkel Arnon67 als Adressaten des Textes in die Erzählung ein. Damit stellt sich Greves Autobiographie in die Tradition der jüdischen Geschichtserinnerung, die die selbst erlebte Verfolgung in den Leidenszusammenhang des Judentums stellt und der Nachwelt zur Erinnerung und zum Gedenken übergeben will. 61 62 63 64 65 66 67

Meyrink, Der Golem (wie Anm. 58), S. 106. – Auf den beiden vorangegangenen Textseiten wird der Weg in die Behausung des Golems dargestellt. Beide Zitate: ebd., S. 110. Greve, Wo gehörte ich hin? (wie Kap. 2, Anm. 22), S. 12. Vgl. S. Mayer, Golem (wie Anm. 55), S. 11–14. Im letzten Drittel des Textes taucht der Golem selbst nur noch einmal auf (vgl. Greve, Wo gehörte ich hin? [wie Kap. 2, Anm. 22], S. 139). Ebd., S. 122. Ebd., S. 122f.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Im Golem verkörpert sich für Greve somit zweierlei Verdrängtes: zum einen die individuelle Lebens- und Leidensgeschichte, zum anderen aber auch die kollektive jüdische Identität, die die assimilierten Juden erst im Holocaust wieder eingeholt hat und deren sie sich nach der überlebten Vernichtung durch Verdrängung erneut so schnell wie möglich zu entledigen trachteten. Erst hier, im Zusammenhang mit der Einführung des Golems als Legitimationsinstanz der Erinnerung und gleichsam beiläufig, erwähnt Greve sein Judentum, das für ihn in seinem gegenwärtigen Leben kaum mehr eine Bedeutung besitzt und sich deshalb auch ohne Schwierigkeiten hat verdrängen lassen – bis zum Auftauchen des Golems, der als Repräsentant des eigenen Unbewussten fungiert: Habe ich schon gesagt, daß ich Jude bin? jedenfalls für die anderen, vor meinesgleichen mache ich keine gute Figur. Immerhin bemühte ich mich darum, wie jemand, der im Konzert den Faden verloren hat.68 Ach, Golem. Du weißt inzwischen, wie gemischt die Gefühle waren, mit denen ich zu dir hinübersah, damals in der Linie 5. Wie soll es meinen Vorfahren, ja den deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens mehr oder minder insgesamt, anders gegangen sein, als man sie mit deines-, ich meine mit unseresgleichen in einen Topf, redensartlich gesprochen, warf? Sie sahen weg, solange sie konnten.69

Sein Judentum, das dem Autobiographen – durchaus im psychoanalytischen Sinn – erst bei der Beerdigung eines gleichfalls jüdischen Kollegen wieder ins ›Bewusstsein‹ rückt, aus dem Bereich des Verdrängten und Unbewussten wieder erinnerbar wird, ist das Prisma, durch das die gesamte hier erzählte Lebensgeschichte gebrochen wird. In diesem Judentum, das haben die Ausführungen in Ludwig Greves Freiburger Rede gezeigt, liegt das ›anders‹ Schreiben begründet, das auf der Basis eines ›anders‹ Leben fundiert ist. Aus diesem beiläufigen Satz (›Habe ich schon gesagt, daß ich Jude bin?‹) lässt sich das ganze Schicksal Ludwig Greves, der im nationalsozialistischen Deutschland aufgewachsen ist, ableiten. Auch der kryptische Hinweis auf die ›Panik meiner Jugend‹ ›beim Geräusch der ersten Lastwagen‹ wird erst jetzt verständlich: es ist die Erinnerung an den Gefühlszustand, der den jungen Ludwig Greve beschlich, wenn die Juden frühmorgens mit dem LKW in die Konzentrationslager deportiert bzw. wenn Haussuchungen durchgeführt wurden, um Juden aufzuspüren und in die Lager zu bringen. Die Erinnerung an diese Vergangenheit hat Greve also eingeholt: erst unbewusst als nicht näher zu definierendes Unbehagen, dann, durch die Gegenwart des Golems, der auf vielen Seiten als Gesprächspartner und Legitimationsinstanz des autobiographischen Erzählers wiederkehrt, bewusst als erinnerte und zu reflektierende Vergangenheit. Die ersten erzählten Erinnerungsfragmente der Autobiographie sind deshalb auch nichts anderes als eine Illustration des kindlichen Erlebens dieser Andersheit: die Zurückweisung Ludwigs durch die staatlichen Gymnasien, die im 68 69

Ebd., S. 9. Ebd., S. 101.

4.1 Ludwig Greve

221

Frühjahr 1935 keine jüdischen Schüler mehr aufnehmen, und die gespenstische Feier zum 50. Geburtstag des Vaters in dessen Betrieb, die eine Normalität vorspiegelt, die im Sommer 1936 – trotz der Lockerung der antisemitischen Agitation während der Olympischen Spiele, um die Weltöffentlichkeit von der Harmlosigkeit des nationalsozialistischen Deutschlands zu überzeugen – für die Betroffenen schon längst nur noch bedrohlich wirken konnte. »Wir sollten stolz darauf sein, hatte mein Vater gesagt«,70 um den Demütigungen, denen die Juden in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland ausgesetzt waren, zu begegnen. – Diesen Stolz zu entwickeln und dadurch die nahezu täglich erlittenen Demütigungen im Alltagsleben zu kompensieren, ist Ludwig Greve nicht möglich. Zuwenig ist seine jüdische Identität hierfür ausgeprägt, zu wenig Wissen über das eigene Judentum besitzt er, um überhaupt so etwas wie jüdisches Bewusstsein entwickeln zu können. Sein Wissen über das eigene Judentum erschöpft sich in der diffusen Erkenntnis einer spezifischen, lebensbestimmenden ›Andersheit‹, die über die hier erwähnte ›Freistunde‹ weit hinausgeht: So wäre es also falsch zu behaupten, ich hätte nicht schon in der Volksschule gewußt, was einen Juden ausmacht. Etwas mit Religion, da hatten wir eine Freistunde. Mit den paar Jungen, die das außer mir betraf, verband mich sonst wenig, wir redeten auch nicht darüber.71

Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum, das wird an diesem Zitat deutlich, findet in dieser Generation überhaupt nicht mehr statt. Die Kämpfe, die die Generation von Jakob Wassermann, aber auch noch diejenige von Gershom Scholem und Werner Kraft, geprägt haben, sind ausgestanden. Für die Generation Greves ist die Assimilation – so zynisch es klingen mag – zumindest in eine Richtung erfolgreich abgeschlossen: die jüdische Kollektividentität, die schon bei den assimilierten Eltern weitestgehend verdrängt worden war, ist nun endgültig vergessen. Das Judentum scheint zur bloßen Konfession der ›deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens‹ degradiert, über die man nicht öffentlich spricht und die im alltäglichen Leben keinerlei Bedeutung mehr besitzt, wie die oben angeführte aus der Perspektive des damaligen Kindes erzählte Stelle belegen soll. Dass die Assimilation auf einer Illusion beruht, hat die Generation derjenigen, die zur Zeit der Weimarer Republik geboren und aufgewachsen sind und zu der Ludwig Greve und die anderen in diesem Kapitel behandelten Autoren zählen, auf das schrecklichste erfahren. Diese Illusion beruhte vor allem auf der Annahme, dass mit dem Vergessen der eigenen, jüdischen Identität auch die anderen Deutschen das Judentum der Juden vergessen bzw. nur noch als eine Konfession neben den beiden christlichen wahrnehmen würden. Die Illusion erklärt das Schweigen der Elterngeneration intra et extra muros, aber auch 70 71

Ebd., S. 12. Ebd., S. 15.

222

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

die Hilflosigkeit ihrer Kinder im Umgang mit dem eigenen, nicht wirklich gewussten und bewussten Judentum. Dieses musste ihnen deshalb als eine von außen aufgedrängte Identität erscheinen, die mit ihrem ›wirklichen‹ Leben, das sich in der Öffentlichkeit, in der Schule und beim Spielen mit Freunden, ereignete, nichts zu tun hatte und mit der sie sich – mangels grundlegender Kenntnisse – nicht einmal produktiv auseinandersetzen konnten. Die Zurückweisungen, die sie insbesondere seit der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ erfahren haben, haben ihnen jedes Zugehörigkeitsgefühl geraubt und erneute Anstrengungen beim (Wieder-)Aufbau einer neuen individuellen und kollektiven Identität abgefordert, die eben wegen ihrer Infragestellung durch die Nationalsozialisten den Betroffenen einen hohen Grad an Reflektiertheit abverlangte, weil es für diese Generation von deutschen Juden keine ›fraglose‹ Identität in Deutschland mehr geben konnte. Die titelgebende Frage, die Ludwig Greve in seiner Autobiographie stellt – Wo gehörte ich hin? – ist deshalb der ratlose Ausdruck der misslungenen Seite der Assimilation, der Nichtzugehörigkeit, die erst dann zum Problem wird, wenn ihr keine Zugehörigkeit, keine positiv erlebte Gruppenidentität, auf deren Grundlage sich eine individuelle Identität überhaupt erst ausbilden kann, gegenübersteht. Greves Frage ist deshalb nicht als Ausdruck einer Wahlmöglichkeit misszuverstehen, sondern sie ist der Ausdruck der Ratlosigkeit eines bindungslosen Individuums. Diese doppelte Nichtzugehörigkeit, die sich durch die Abwendung vom Judentum und die Nichtzulassung zum Deutschtum zeigt, ist das Leitproblem dieser Autobiographie. In diesem Zusammenhang entfaltet sich das beherrschende Motiv seiner Autobiographie in der Form eines Gedankenexperiments. Greve überlegt sich, wie er sich wohl verhielte, wenn es durch das jiddische »Tuscheln und Zetern«72 des Golems mit einem weiteren jüdischen Mitreisenden zu antisemitischen Pöbeleien in der S-Bahn käme. Es geht Greve hierbei weniger um das Problem der ›Zivilcourage‹, die sein Eintreten für die Angegriffenen erforderlich machen würde, als vielmehr um ein »Erkennungszeichen«73, das Bekenntnis seiner Zugehörigkeit zum Judentum, das er Zeit seines Lebens vermieden hat und das er durch sein Eintreten für den Golem und seinen Begleiter ablegen würde: Oder daß ein Fahrgast, dann die anderen, ich war dessen schon gewärtig, die Juden anpöbelte: dann wäre ich, wie leicht oder schwer, weiß ich nicht, aufgestanden und hätte mich zu ihnen gestellt, uns trennte ja nur der Gang. Wirklich? So weit ich zurückdenken kann, habe ich mich immer bemüht, nein, nein, nicht bemüht, es kam ganz natürlich – nicht aufzufallen.74

Dieses Nicht-Auffallen-Wollen, auch um den Preis der radikalen Selbstverleugnung, ist schon dem jungen Ludwig Greve zu seiner zweiten Natur geworden. Es setzt eine Distanzerfahrung voraus, die aus dem Bewusstsein einer 72 73 74

Ebd., S. 11. Ebd. Ebd.

4.1 Ludwig Greve

223

Nichtidentität gegenüber der eigenen Umwelt erwächst, die charakteristisch ist für das Judentum jener Jahre. Mit diesem Nicht-Auffallen-Wollen geht der Zwang zu einem mimetischen Verhalten einher, das ein Aufgehen der Juden in der christlichen Umwelt sichern soll und – wie Ludwig Greve es beschreibt – in einer perversen ›Lust‹ an der Selbstverleugnung gipfelt: [I]nsofern ist Mühe wirklich das falsche Wort, es war auch Lust im Spiel. Ja, das war es, ein Spiel von freiem Benehmen. Lässig-, meinetwegen sogar Wurstigkeit, darin konnte ich es schon zu einiger Vollendung bringen[.]75

Mit der Interpretation der eigenen Lebensgeschichte als ein ›Spiel von freiem Benehmen‹, das die Unfreiheit des Judentums (wenn auch nicht in juristischem Sinne) voraussetzt, hat sich Greve ein weites Feld von Metaphern aus der Welt des Theaters und der Bühnenwirklichkeit erschlossen, das zum Leitmotiv seines autobiographischen Schreibens wird. Die Metaphorik des mimetischen Spiels wird dabei als konstitutiv für die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte angesehen. Noch der Erwachsene ist bestrebt, ›nicht aufzufallen‹. Was ihm die Zivilcourage, der Anstand, in einem Gedankenexperiment gebietet (gegen den Antisemitismus aufzustehen), wird durch die Lebenswirklichkeit als illusorisch erkannt: Man könnte ihn, wenn er solchermaßen auffällt, als Juden ›entlarven‹, d. h. ihm die Maske deutscher Bürgerlichkeit, deren Aufrechterhaltung seine ganze Erziehung gegolten hat, vom Gesicht reißen. Schon die Darstellung seiner Kindheit steht deshalb unter dem Bann der Theaterwirklichkeit, die ihn das eigene Leben als eine Bühnenexistenz zu begreifen lehrt, die von dem Dualismus zwischen Deutschen und Juden geprägt ist. Die Rollen bei diesem ›Spiel‹ sind klar verteilt: die Juden sind die Schauspieler, deren Leben sich auf einer Theaterbühne abspielt, während die Deutschen im Publikum sitzen und über die Wirklichkeit des Lebens gebieten. In der Macht des Publikums liegt es, die Aufführung zu goutieren (die Assimilation zumindest nicht zu behindern, vielleicht ja sogar zu fördern), abzulehnen (einen ›Theaterskandal‹ durch antisemitisches Verhalten zu provozieren) oder auch – im schlimmsten, im Holocaust realisierten Fall – zu beenden. Im allgemeinen sind bei diesem Spiel die beiden ›Wirklichkeiten‹, die der Bühne und die der Außenwelt, tatsächlich so streng voneinander getrennt wie im Theater – nur mit dem Unterschied, dass das Stück für die Akteure mit der Geburt beginnt und erst mit dem Tod endet. Die jüdische Mimesis bürgerlicher Lebenswelt verläuft stets getrennt vom ›wirklichen‹ bürgerlichen Leben, das sich außerhalb der jüdischen Exklaven ereignet. In der elterlichen Wohnung, in der ›inszenierten‹ Bürgerlichkeit der Familie des Hemdenfabrikanten Ernst Greve fühlt sich der junge Ludwig deshalb auch äußerst unwohl. Er betrachtet das eigene Leben wie dasjenige der Eltern als ein Theaterspiel, von dem im elterlichen Haushalt nur die nicht jüdische Haushälterin Mimi ausgenommen ist, zu der er sich deshalb besonders 75

Ebd., S. 11f.

224

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hingezogen fühlt und in deren Räumen er sich der ›Wirklichkeit‹, der Zugehörigkeit zur Welt, nahe fühlt: Bei ihr in der Küche oder der Schlafkammer daneben fühlte ich mich weit mehr zuhause als im Eß-, Wohn- oder gar Herrenzimmer, wo man sich immer wie auf der Bühne vorkam.76

Der Welt der Haushälterin entgegengesetzt ist die eigene Existenz und diejenige seiner Familie, der er keinerlei ›Wirklichkeit‹ zubilligt, weil hinter den eingeübten Rollen keine positiv erlebte Identität steht: [Ich konnte] doch nicht vergessen [...], daß ich eine Rolle spielte. Das taten bei uns mehr oder minder alle, nur Mimi hatte gar kein Talent dafür, doch was meine Mutter, etwa wenn Besuch kam, aufführte, war in meinen Augen, ich verstand etwas davon, allzu routiniert. Nein, um in dem Schwindel zurechtzukommen, der sich so undurchdringlich als Leben gab, mußte man selber pausenlos schwindeln; auch das ist gewissermaßen ein Schwindel, denn es setzt etwas Wahres voraus, einen Kern, der war bei meiner Geburt wohl vergessen worden. Mir blieb also nichts übrig, als jeden Morgen, den Gott gab (ein Lieblingsausdruck von Mimi), mich von neuem zu erfinden, mit Haut und Haar sozusagen, damit es bis zum Abend vorhielt[.]77

›Wirklichkeit‹ findet für das Kind Ludwig Greve nur außerhalb der fest, doch zunächst noch unsichtbar gezogenen Grenzen des Judentums statt. Als Kind ist es ihm möglich, diese Barriere wenn auch nicht dauerhaft zu überwinden, so doch gelegentlich zu überschreiten. In der Schule und im Sport findet er die ersehnte Zugehörigkeit, hier scheinen die Grenzen für wenige Stunden zu verschwinden: Das wirkliche Leben fing erst in der Schule an, und es füllte mich so aus, daß ich, wenn ich nach Hause kam, vor meinem Bild im Spiegel der mahagonigetäfelten Eingangshalle so etwas wie Beklemmung spürte. Wo gehörte ich hin? Hier war alles unverändert, dunkel, still, ewig. Wie anders schmeckte die Luft auf dem Schulhof inmitten der Kumpane!78 Auf dem Spielfeld, der Rennbahn usw. konnte jeder, so glaubte ich, unbeschadet seiner Herkunft sich bewähren, da galten Wendigkeit, Ausdauer, Spielwitz. Die Aufnahme in eine Mannschaft, nur mal so in die Luft geschrieben, verhieß Wirklichkeit, das Ende der Angst, mit der ich großgeworden war. Warum sollte ich mir nicht eines Tages ein Trikot, längs oder quer gestreift, über den Kopf ziehen können, um so, wenn schon nicht unsichtbar, doch wenigstens unkenntlich zu werden?79

Verstärkt wird das Gefühl der Nichtzugehörigkeit durch die Versuche der Eltern, das Kind von der ›Wirklichkeit‹ seiner deutschen Umwelt – hier also vor allem die Schule und seine Schulfreunde80 – zu isolieren. Dies geschieht, 76 77 78 79 80

Ebd., S. 14. Ebd., S. 19f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 51. Ebd., S. 20.

4.1 Ludwig Greve

225

zumindest nach der ›Machtergreifung‹, wohl weniger, um den Jungen zu strafen, als ihn vielmehr vor antisemitischen Angriffen zu schützen.81 Dennoch nimmt das Kind diese Beschränkungen seines ›Spielraums‹ deutlich als solche wahr und verbindet sie mit seinem Judentum, das es, in einem bürgerlichen und assimilierten Haushalt aufgewachsen, noch nicht mit Inhalten füllen kann. Virulent wird diese Erfahrung der Grenzüberschreitung immer dann, wenn der Junge von den Eltern aus den Spielen mit seinen Klassenkameraden gerissen wird oder wenn er sich bei diesen Spielen eine Verletzung zuzieht, die er als Auszeichnung betrachtet, weil sie sich als Wirklichkeitsfragment mit in die jüdische Umgebung seiner Familie und ihrer Wohnung nehmen lässt: Warum regten sich meine Leute bei jeder Kleinigkeit auf? Die andern kam niemand holen. Es hing wohl mit dem Jüdischsein zusammen.82

Die Verwendung von Metaphern aus dem Bereich des Theaterlebens zur Charakterisierung des bürgerlichen jüdischen Lebens in Deutschland und insbesondere die Interpretation der eigenen Existenz als das Rollenspiel eines Individuums ohne eigene Identität verweist auf den sozialpsychologischen Ansatz der Autobiographieforschung, den Bernd Neumann für die literaturwissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht hat. Neumann unterscheidet zwischen Autobiographie und Memoiren, denen er verschiedene sozialpsychologische Aufgaben, die sich auch in der literarischen Form der Texte belegen lassen, zuweist. Sieht er in der Autobiographie die Identitätsfindung des heranwachsenden und sich eine Position im Gesellschaftsgefüge suchenden Individuums dargestellt, bieten die Memoiren die Entfaltung der verschiedenen öffentlichen Rollen des erwachsenen, sich seiner Identität bereits bewussten Individuums;83 diese Rollen sind nicht ablösbar von der einmal erworbenen Identität, sondern aus ihr hervorgegangen und mit ihr verwachsen, weil sich in ihnen die Zugehörigkeit des Individuums zum Kollektiv der Gesellschaft, in dem es lebt, manifestiert.84 Das Rollenspiel, das Ludwig Greve von frühester Kindheit an zu spielen gezwungen ist, um den verschiedenen, von außen an ihn herangetragenen Forderungen gerecht zu werden, ist von diesem Rollenspiel, das Neumann in seiner Dissertation als Charakteristikum der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft erkannt hat,85 wesentlich verschieden. Der Unterschied besteht vor allem in seiner Voraussetzungslosigkeit bei Greve: sein Rollenspiel beruht auf 81

82 83 84 85

Vgl. ebd., S. 61: »Vielleicht hat gerade der Schutz, den wir mehr oder minder unwillig genossen, verhindert, daß das Alltägliche sich besser einprägte, ich meine schmerzhaft.« Ebd., S. 25. Vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37), S. 16–25. Vgl. ebd., S. 24. Zu den ideologiekritischen Implikationen der Neumannschen Unterscheidung von Autobiographie und Memoiren, von Identität und Rollenzwang vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang (wie Kap. 1, Anm. 37), S. 166–186.

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der faktischen Unmöglichkeit, sich eine eigene individuelle und kollektive Identität in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu erwerben. Diese Unmöglichkeit ist durch die Umstände verschuldet, die das jüdische Leben in Deutschland in den letzten Jahren vor der ›Machtergreifung‹ durch die Nationalsozialisten und erst recht danach mit den Repressionen bis zum industrialisierten Massenmord immer weiter erschwert haben. Was der älteren Generation noch gelingen konnte, nämlich eine eigene individuelle und kollektive Identität durch Auswahl aus verschiedenen Identifikationsmöglichkeiten und -angeboten sowie Orientierung an verschiedenen Vorbildern zu entwickeln – paradigmatische Möglichkeiten einer solchen jüdischen Identitätsfindung zeigt das vorangegangene Kapitel –, wird der jetzt, unter diesen Bedingungen heranwachsenden Generation schon durch die äußeren Umstände versagt, die einer uneingeschränkten Persönlichkeitsentwicklung im Wege stehen, weil sie es nicht mehr erlauben, eigene Erfahrungen zu sammeln, sondern dazu zwingen, auf Wirklichkeitssurrogate zurückzugreifen. Mit der Wahl des Metaphernfeldes der Theaterwelt und des Bühnenspiels hat Greve ein stilistisches Instrument gefunden, das die Darstellung dieses Mangels an wirklicher Erfahrung ausdrucksstark ermöglicht und damit das Ursprungskonzept der Autobiographie wirkungsvoll travestieren kann: statt Identitätsfindung steht die Identitätslosigkeit des Autobiographen im Mittelpunkt der Darstellung. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft »wurde für den jungen Schüler Ludwig im Berlin der dreißiger Jahre sein wortwörtlicher Spielraum [immer enger]«.86 Es ist nun nicht mehr nur die Ängstlichkeit der Eltern und die Selbstabschottung der Juden, sondern die Allgegenwart eines totalitären Regimes, die die Lebenswelt des Kindes beschränkt. Erst beinahe unmerklich, dann in einer immer stärker beängstigenden Geschwindigkeit engt sich der ›Spielraum‹ ein und Greve beschreibt die Erlebnisse, die dazu führen, in ansteigender, der Chronologie jener Jahre entsprechender Reihe. Die bislang unsichtbaren, aber trotzdem immer schwerer zu überwindenden ›Grenzen‹ werden im Lauf der Jahre zuerst sicht- und lesbar, dann schließlich unüberschreitbar – sie münden in die Zurücknahme der Emanzipation, weil sie den Juden wieder einen besonderen Rechtsstatus zuweisen, der sie zunächst in der Gesellschaft isoliert und dadurch ihre physische Vernichtung vorbereitet: Ich stieg aber [statt den Aufzug zu benutzen; M. M.], wenn ich von der Schule kam, lieber die Treppe hoch, um nicht die Friseuse, die da übers Eck wohnte, grüßen zu müssen, vielleicht gar mit erhobenem Arm; es hieß nämlich, sie sei »in der Partei«.87 An meinem Alltag änderte sich wenig durch den Umzug, nur daß ich jetzt mit der Straßenbahn zur Schule fuhr; und doch genügten schon zwei Haltestellen, das Band 86 87

Karl Otto Conrady: Zum Abschied verdammt: die Jugenderinnerungen Ludwig Greves. In: Frankfurter Rundschau, Nr 127 vom 4.6.1994, S. IV. Greve, Wo gehörte ich hin? (wie Kap. 2, Anm. 22), S. 27.

4.1 Ludwig Greve

227

zwischen den Freunden und mir zu lockern. Oder machten das die roten Fahnen mit der ominösen schwarzen Rune, unter denen wir tollten, als sei alles beim alten?88 In der Schule brachte mir der Gipsverband, die anfängliche Neugier abgezogen, kaum Gewinn; im Gegenteil, meine Kameraden zogen jetzt guten Gewissens ihre neuen Freunde vor, da ich ja bedauerlicherweise bei ihren Spielen nicht mithalten konnte.89 Dabei konnten wir bald nicht mehr ins Kino gehen, und selbst im Winter, obwohl sich niemand auf eine Bank setzte, hieß es in Parks und Anlagen Juden unerwünscht.90

Am einschneidendsten wirkt sich für das Kind in diesem Zusammenhang der Schulwechsel von 1935 aus, der den Jungen endgültig von seinen bisherigen Schulfreunden trennt, die auf das Gymnasium oder die Realschule wechseln: Ludwig Greve, dem Judenjungen, wird die Aufnahme in beiden Schulen verwehrt. Er ist gezwungen, die immer noch dem Assimilationsideal anhängende, private jüdische Leßlerschule zu besuchen, obwohl seine Eltern bis zur Selbstverleugnung alles versucht haben, um ihm das Abitur an einer staatlichen Schule zu ermöglichen: Im neuen Jahr verengte sich das Klassengefühl [...] zu der Frage, wer nach Ostern ins Gymnasium, wer in die Realschule komme. [...] Dem stand [...] entgegen, daß Papa zwar im Krieg, jedoch nicht an der Front gewesen war, ein schlimmes Versäumnis, das zeigte sich jetzt; denn gerade das hätte ich vorweisen müssen, um in eine Staatspenne aufgenommen zu werden.91

Schließlich sind die Juden in Deutschland vollständig isoliert und dem Jungen ist der Grenzübertritt in die ›Wirklichkeit‹ nicht mehr möglich. Von den bisherigen Kameraden getrennt, die ihre Nachmittage zunehmend in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen verbringen, bleiben ihm nur wenige neue und jetzt ausschließlich jüdische Bekanntschaften bzw. das einsame Spiel mit imaginierten Freunden und Mitspielern.92 Auch die wenigen jüdischen Freundschaften dieser letzten Jahre sind zumeist nur von kurzer Dauer. Immer stärker wird der Auswanderungsdruck durch den nationalsozialistischen Terror, von immer mehr Menschen seines persönlichen Umfelds muss er sich verabschieden. Ludwig Greve fasst dieses Erlebnis in die Form der Darstellung seiner neu erwachten philatelistischen Sammelleidenschaft. Reziprok zum Anwachsen seiner Briefmarkensammlung verhält sich die Zahl der noch verbleibenden Freunde und Verwandten; auch die abschlägigen Antworten auf die Bittbriefe seines Vaters ins Ausland vermehren die Sammlung. In wenigen Zeilen entwirft Ludwig Greve eine Geschichte der deutsch-jüdischen Emigration zur Zeit 88 89 90 91 92

Ebd., S. 29. Ebd., S. 39. Ebd., S. 102. Ebd., S. 45f. Vgl. ebd., S. 52 und S. 54.

228

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

des Nationalsozialismus aus ihrem Niederschlag in seiner Briefmarkensammlung, die ihr Entstehen überhaupt erst der erzwungenen Emigration verdankt. Darüber hinaus lässt sich aus den seiner Sammlung zugrunde liegenden Briefen die Zersplitterung der Lebensbeziehungen des Kindes nachvollziehen, dessen Bezugspersonen sich in alle Welt zerstreuen: Damit ist schon gesagt, daß mich eher der Posteingang zum Sammeln anregte als etwa Leidenschaft. [...] Indessen nahm meine Sammlung in dem Maß zu, in dem der Verwandten- und Freundeskreis sich lichtete, selbst ich bekam schon Post aus Ländern, die ich erst im Atlas nachschlagen mußte. Dennoch blieben ganze Seiten in meinem Album – etwa Japan und China mit der einzigen Ausnahme von Schanghai – unberührt. [...] Unterdessen wuchs die Menge des Unsortierten, ja nicht mal Abgelösten, schneller an, als ich mit dem Wünschen nachkam[.]93

An diesem Zitat lässt sich eine Eigenheit von Ludwig Greves autobiographischem Schreiben aufzeigen, die zwar schon mehrmals erwähnt, aber noch nicht genauer beleuchtet wurde: der Wechsel der Erzählperspektive von der olympischen Darstellung alltäglicher Begebenheiten aus der Sicht des sich erinnernden Autors hin zu einer Annäherung an die Perspektive des erlebenden Kindes, das der Autor-Erzähler in der erzählten Zeit gewesen ist, an denjenigen Stellen, wo weltgeschichtlich bedeutsame Ereignisse in seinen Blick geraten. Gerade hier verlässt der Autor den Erzähler-Olymp und bemächtigt sich der kleinsten möglichen Perspektive, die aus dem völligen Unverständnis des erlebenden Kindes die unverständlichen Begebenheiten und Erlebnisse berichtet und so ein Licht auf die Irrationalität der Verhältnisse wirft.94 In diesen Passagen findet sich jene ›Sprache der Sterblichkeit‹ wieder, die für Greves Lyrik kennzeichnend ist. Sie ist nichts weniger als der Versuch, das Unbegreifbare durch abstrakt-theoretische Erörterungen zu verstehen, sondern – ganz im Gegenteil – das Experiment, das Unbegreifbare als solches und in seinen Aus- und Einwirkungen auf das ihm unterworfenen Individuum, das hier deshalb nicht Subjekt, sondern Objekt der Weltgeschichte ist, darzustellen. Dennoch verzichtet Greve ganz bewusst auf »die leidigen Gesten, in denen mit Hilfe bloßer Negationspartikel Abwesenheit und Verlust von irgend etwas [...] beklagt werden«,95 oder auf die plakative Zurschaustellung des eigenen Opferstatus. Alles dies würde der Perspektive eines Heranwachsenden nicht 93 94

95

Ebd., S. 90–93. Vgl. hierzu auch ebd., S. 13f. (die Betriebsfeier aus Anlass des 50. Geburtstags des Vaters), S. 15 (die Bedeutung des Judentums), S. 29f. und S. 34f. (die zunehmende Distanz zu den ›arischen‹ Freunden), S. 86f. (die ›Arisierung‹ der väterlichen Firma) sowie S. 118–122 (das Novemberpogrom und die anschließende Inhaftierung des Vaters). Tgahrt, Ludwig Greve (wie Anm. 31), S. 362. – Diese Worte aus Tgahrts Rezension von Greves Gedichtband Bei Tag haben auch für seine Autobiographie Gültigkeit.

4.1 Ludwig Greve

229

gerecht, wäre bloße nachträgliche Reflexion ohne das in seiner Freiburger Rede geforderte ›mimetische Vermögen‹. Parallel zu den eigenen Auswanderungsbemühungen und als Reaktion auf die immer wirksamer werdenden Ausgrenzungsmechanismen gegen die Juden versuchen die Greves, eine eigene jüdische Identität auszubilden. Die erste Erinnerung Greves an seine Jugend ist deshalb auch jene Szene, in der ihn der Vater zum Stolz auf seine Herkunft mahnt, nachdem ihm deshalb gerade die staatliche Gymnasialausbildung verweigert worden ist. Auch die zweite Erinnerung Greves an sein Judentum ist nicht eigentlich dazu geeignet, Stolz hervorzurufen: Sie besteht im Bild des Vaters, der nach seiner Verhaftung im Gefolge des Novemberpogroms als gebrochener Mann zu seiner Familie zurückgekehrt ist. Dementsprechend unbeholfen und letztlich erfolglos verlaufen die Versuche, eine solche positiv zu bewertende jüdische Kollektividentität aufzubauen. Diese Versuche nehmen erstmals um 1934 Gestalt an, als die Herausdrängung der Juden aus der deutschen Öffentlichkeit bereits erkennbar ist. Die bevorstehende Exklusion des jungen Ludwig Greve aus dem staatlichen Schulsystem im folgenden Jahr wird diese Tendenz bestätigen. In diesem Jahr 1934 wird das christliche Weihnachtsfest in der Familie Greve erstmals nicht mehr offiziell begangen. Statt dessen findet das jüdische Chanukkafest statt. Der ›Sinn‹ des Festes als eine Ersatzhandlung ist Ludwig und seiner Schwester Evelyn – im Gegensatz zu seiner tieferen religiösen Bedeutung, die den beiden Kindern verschlossen bleibt – bald klar, und sie können mit den neuen, fremdartigen Zeremonien, die in der ihnen unverständlichen hebräischen Sprache stattfinden, nur wenig anfangen. Wenige Tage später begehen die Kinder deshalb gemeinsam mit ihrer christlichen Haushälterin doch noch das Weihnachtsfest, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Ausdruck dieses Dilemmas des Lebens zwischen zwei Religionen ist die Bezeichnung des neuen Festes als »Weihnukka«96. Dieser Neologismus, auf dessen Auftreten bei Gershom Scholem bereits hingewiesen wurde und der die Verschmelzung von christlichem und jüdischem Gedankengut bzw. die Kontamination von kaum noch gewussten jüdischen Inhalten mit christlichen Traditionen zum Ausdruck bringt, symbolisiert die schizoide Situation, in der die assimilierten jüdischen Familien gefangen sind: sie sind aus ihrer vertrauten Lebenswelt ausgestoßen und auf ihr ›überwunden‹ geglaubtes Judentum zurückgeworfen, das für sie nur noch aus Versatzstücken einer unverstandenen, weil unverständlich gewordenen Tradition besteht, die sie nicht mehr mit Sinn erfüllen und an ihre Nachkommen weitergeben können. Sie sind deshalb gezwungen, ein synkretistisches und eklektizistisches Weltbild aufzubauen, das christliche und jüdische Traditionen zu vereinen sucht, aber letztlich keine neue Identität formen kann. 96

Greve, Wo gehörte ich hin? (wie Kap. 2, Anm. 22), S. 42.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

An dieser Szene zeigt sich am deutlichsten das innerhalb einer Generation radikal gewandelte Verhältnis der Juden zu ihrem Judentum. War für Scholem noch eine Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung zur Festigung der eigenen Identität, die ihn zum Zionismus geführt hat, möglich und nötig, fehlen der Generation Ludwig Greves bereits alle Grundlagen für eine solche Auseinandersetzung, weil die elementaren Kenntnisse fehlen, um überhaupt eine Entscheidung zwischen zwei Alternativen treffen zu können. Ohne Bindung an das eigene Judentum verkommen die elterlichen Bemühungen, denen die Kinder verständnislos gegenüberstehen, zur Farce, weil ihnen keinerlei Hintergrund zu eigen ist. Der Versuch der Eltern, ihren Kindern eine eigene, jüdische Identität zu geben, um ihnen den Ausschluss aus der deutschen ›Volksgemeinschaft‹ weniger schmerzlich erscheinen zu lassen, kulminiert in der Feier der Bar-Mitzwe des dreizehnjährigen Knaben im Oktober 1938. Auch hier ist sich Greve der Surrealität der Szenerie bewusst, die – der gewandelten Situation angepasst – ein Judentum ›inszeniert‹, das den meisten Beteiligten ebenso fremd ist wie dem autobiographischen Beobachter der Szenerie, in das man sich aber – mangels Alternativen – resignierend fügt. In seiner wenig wohlwollenden ›Rezension‹ dieses ›Bühnenspiels‹ bemerkt er über die ›Akteure‹: Es war ein Fest für die Erwachsenen, viele Anlässe hatten sie nicht mehr, da kam ihnen meine Bar-Mitzwe wohl gerade recht. [...] An diesem Fest meiner Mündigkeit ist mir wohl zum ersten Mal aufgegangen, was eine Gesellschaft unserer Art zusammenhielt, wenigstens für die Dauer eines Abends. Es war, wenn ich so (aus gehörigem Abstand) sagen darf, die Schonung, die Dilettanten einander angedeihen lassen. Jeder sucht etwas vorzustellen, einen Zyniker oder steuerzahlenden Bürger, Spielarten des Duweißtschon, des Jüdischen (man könnte auch des Menschlichen sagen), und die andern, toi-toi-toi, bestätigten ihn darin, vielleicht augenzwinkernd; ja, Golem, auch das Jüdische wollte gelernt sein, so laut man’s uns nachrief.97

Eine jüdische Identität, das wird hier deutlich, lässt sich genausowenig erlernen wie eine bürgerliche deutsche, die ihnen durch die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik geraubt worden war. Diese Erfahrung der Ausgrenzung, der Entfremdung von den als gesichert angesehenen Lebenszusammenhängen, ist das beherrschende Thema des Buches. Gleichzeitig zeigt diese Szene, dass noch Ende 1937, ein Jahr vor dem Pogrom der Nacht des 9./10. November 1938, versucht wurde, eine Normalität aufrechtzuerhalten, die von den meisten der Beteiligten schon längst als Fiktion entlarvt worden war, an die man sich dennoch und paradoxerweise immer weiter klammerte. Die Unhaltbarkeit der Situation und damit die Notwendigkeit der Emigration wird nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 deutlich, in dessen Folge auch Greves Vater inhaftiert wird. Für den Heranwachsenden bedeutet dieser Moment, in dem er die absolute Hilflosigkeit der Eltern gegenüber den Repressionen der staatlichen Macht erkennen muss, das Ende seiner Kindheit 97

Ebd., S. 83f.

4.1 Ludwig Greve

231

und die Entthronung des Vaters als Ernährer und Oberhaupt der Familie, an dessen Platz nun eine weitere Leerstelle im Leben des Kindes tritt. Auch aus der Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität, um eine eigene Identität zu gewinnen, ist nicht zu denken: An diesem 10. November 1938 ist mir in der Tat die Kindheit abhanden gekommen, so wenig ich gleich was anderes fand. Ich sah zum ersten Mal meines Vaters Hilflosigkeit.98

Die Hilflosigkeit des Vaters verhindert eine für das ›Wachstum der gesunden Persönlichkeit‹ notwendige ›Lebenskrise‹,99 die – aus der Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität – es dem Heranwachsenden ermöglicht, eine eigene positiv erlebte Identität zu gewinnen. Eine solche Auseinandersetzung ist ein wesentliches Element autobiographischen Schreibens. Sie findet sich bei Goethe, der sich über den väterlichen Willen hinwegsetzt, um nach Weimar an den dortigen Fürstenhof zu gehen,100 wie auch bei Jakob Wassermann und Gershom Scholem, die ihren Lebensweg gegen die Pläne der Väter entwickeln und schließlich erfolgreich verwirklichen.101 Ihr Fehlen bei Ludwig Greve deutet weniger auf einen Mangel an Darstellungsvermögen als auf einen Mangel an Gelegenheit zu einer solchen Auseinandersetzung: zu schwach erscheint der Vater dem Kind zu sein, um eine solche Auseinandersetzung zu provozieren, immer schwächer scheint er dem Heranwachsenden in den folgenden Jahren zu werden, weil er sich der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nicht widersetzen kann, sondern – um seine Familie zu retten – durch Flucht entzieht. Erst viele Jahre später, in dem Gedicht an seinen Vater, kann Greve ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, weil er sich erstmals mit dessen Lebenssituation auseinandersetzt und so eine posthume Versöhnung mit dem Vater erreicht.102 Nach diesem Ereignis ist der Entschluss zur Auswanderung endgültig gefasst und wird nach der Entlassung des Vaters aus dem Lager energisch vorangetrieben. Der bislang schon nur mühsam aufrechterhaltene Schein der Alltäglichkeit, des geregelten Lebens, wird aufgegeben und weicht nackter Panik und Existenzangst. Die Bühne, auf der das bürgerliche Leben inszeniert wurde, die elterliche Wohnung, wird zur Rumpelkammer und zum Lager der für die Auswanderung gebrauchten Dinge:

98 99

100 101 102

Ebd., S. 119f. Zu den psychoanalytischen Hintergründen dieses Gedankens vgl. Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus: drei Aufsätze. Übersetzt von Käte Hügel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 16), S. 55–124. Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Kap. 1, Anm. 63), S. 816–832. Vgl. meine Interpretation dieser Szenen in den Kapiteln 3.1 und 3.4 dieser Arbeit. Vgl. Greve, Sie lacht: und andere Gedichte (wie Anm. 11), S. 7 und Scrase, »Wo gehörten sie hin?« (wie Anm. 42), S. 162f.

232

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Zu einem auch nur halbwegs geregelten Alltag haben wir’s dann nicht mehr gebracht, dazu fehlte nicht nur der Rahmen, Pflichten, Gewohnheiten usw., auch der Inhalt, gewissermaßen, das Zutrauen.103 Die Eltern, ausgeplündert wie sie waren, schien kurz vor der Auswanderung ein wahrer Kaufrausch zu erfassen. [...] Mama fuhr wie in alten Zeiten [...] wieder regelmäßig »in die Stadt«, einen Tag um den andern klingelten Lieferanten, und zwar ungeniert an der Vordertür, als werde da ein Hausstand gegründet, nicht aufgelöst. Das Herrenzimmer, längst nicht mehr der Ort geheimnisvoller Konferenzen, diente als Zwischenlager[.]104

Alles ist jetzt auf schnelle Abwicklung bedacht, obwohl die Schwierigkeiten, ein Aufnahmeland zu finden, immens sind. Schließlich erklärt sich Kuba bereit, ein Auswandererkontingent aufzunehmen, zu dem auch die Familie Greve gehört. Dieser Auswanderungsversuch misslingt: das Schiff mit über 900 Passagieren an Bord muss, schon vor Havanna liegend, mit allen Auswanderern nach Europa zurückkehren, wo die Passagiere auf England, Frankreich, Belgien und die Niederlande aufgeteilt werden. Greve kommt mit seiner Familie nach Frankreich und ist dort mit anderen Emigranten in einem Heim untergebracht. Erst hier, im bürokratischen Akt der Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Städte, wird den Flüchtlingen ihre Situation klar, die ihnen keine Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln mehr lässt: Erst hier, glaube ich, begriffen die meisten, daß sie ihr Zuhause wirklich verloren hatten, ja die Würde, über sich selbst zu bestimmen.105

Hier, in Frankreich, wird Ludwig Greve von seinen Eltern getrennt und in ein Heim in der Nähe von Paris gebracht, wo er am 1. September 1939 den Kriegsausbruch erlebt. An dieser Stelle bricht das Fragment der Autobiographie ab, so dass der weitere Verlauf von Greves Identitätssuche, insbesondere die mit der späteren Emigration nach Palästina und der anschließenden Rückkehr nach Deutschland verbundenen Entscheidungen, nicht fassbar wird. Weiteren Aufschluss darüber geben nur die Bemerkungen, die in der Freiburger Rede abgedruckt und weniger der Entwicklung als der schließlichen Vollendung dieser Identität gewidmet sind. Das Grundproblem der jüdischen Autobiographie des Holocaust ist aber dennoch klar zutage getreten: die Entfremdung von den bisherigen, als gesichert angesehenen Lebenszusammenhängen und die daran anknüpfende Suche nach einer eigenen Identität, die zu finden den Juden unter den nationalsozialistischen Verhältnissen nicht mehr gelingen konnte, zwingt die Autobiographen zu einer Abwendung von bisherigen Konventionen des autobiographischen Schreibens, weil die bisher gültigen Kriterien eines gelingenden Lebens für die jüdischen Autoren außer Kraft gesetzt sind. 103 104 105

Greve, Wo gehörte ich hin? (wie Kap. 2, Anm. 22), S. 123. Ebd., S. 130. Ebd., S. 157.

4.2 Ruth Klüger

4.2

233

Ruth Klüger

Ruth Klügers 1992 erschienene Autobiographie weiter leben war ein unerwarteter Erfolg, sowohl was die Beachtung beim Publikum als auch die Rezeption bei den professionellen Lesern der Literaturkritik anbelangt. Die Entwicklungen haben sich gegenseitig verstärkt, und die Literaturwissenschaft hat versucht, den Erfolg dieses Werkes sowohl beim Publikum als auch bei der Literaturkritik auf ein trivialisierendes Missverstehen seines Inhalts und seiner Intention als Darstellung einer »escape-Story [...] mit Happy-end«106 zurückzuführen. Auf diese wahrscheinlich richtige Beobachtung ist wohl auch der schon bald einsetzende Boom von Erlebnisberichten von Überlebenden der nationalsozialistischen Judenverfolgung zurückzuführen – Ruth Klüger spricht im Zusammenhang mit diesem Phänomen, das ungefähr zeitgleich auch in Amerika einsetzte und dort sicherlich von Stephen Spielbergs 1993 gedrehten und mit sieben Oscars prämierten Spielfilm Schindlers list beeinflusst worden ist, vom »Shoah-Business«.107 Obwohl Ruth Klügers Autobiographie für diese Untersuchung ausgewählt wurde, sollen diese Aspekte – die Rezeptionsgeschichte und der Aspekt des Überlebens des Holocausts und seiner Darstellung – nicht im Zentrum der Untersuchung stehen, weil Ruth Klügers Text eben nicht, zumindest aber nicht ausschließlich, zur nicht gerade präzise definierten literarischen Gattung der Holocaust-Literatur,108 sondern zu derjenigen der Autobiographie gehört. Dies 106

107

108

Irène Heidelberger-Leonard: Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend: Interpretation. München: Oldenbourg 1996 (Oldenbourg-Interpretationen; 81), S. 64. – Es haben sich zahlreiche weitere Untersuchungen mit dem Erfolg des Werkes beim Publikum und bei der Literaturkritik beschäftigt, so vor allem Stephan Braese und Holger Gehle in dem Sammelband Ruth Klüger in Deutschland (Hg. von Stephan Braese und Holger Gehle. Bonn: Selbstverl. H. Gehle 1994), Stephan Braese/Holger Gehle: Von »deutschen Freunden«: Ruth Klügers weiter leben – Eine Jugend in der deutschen Rezeption. In: Der Deutschunterricht 47 (1995), H. 6, S. 76–87, und Sigrid Bauschinger: Uns verbindet, was uns trennt: Ruth Klügers weiter leben und seine Leser. In: Jüdischer Almanach (1996/5756), S. 126–137. Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Kap. 2, Anm. 42), S. 35. – Ruth Klügers Autobiographie ist in Amerika erst im Jahr 2001 in einer feministischen Buchreihe erschienen. Auch die 2003 im Londoner Bloomsbury-Verlag erschienene Ausgabe betont im Titel die ›girlhood‹ der Autorin gleichberechtigt neben dem ›Holocaust‹. Grund dafür war die Weigerung der Autorin, das Buch zu Lebzeiten ihrer Mutter in den Vereinigten Staaten zu publizieren, da es wenig schmeichelhafte Kommentare über das Mutter-Tochter-Verhältnis enthält. – Dennoch hat die Mutter schon früh von der deutschen Publikation des Werkes erfahren. – Vgl. Thedel von Wallmoden: »Ein knallroter Umschlag wäre mir für Ruth Klügers Buch unpassend erschienen ...«: Interview mit dem Verleger Thedel von Wallmoden. In: Focus on Literatur 4 (1997), S. 99. Zur Unschärfe des Begriffs, seinem Oszillieren zwischen den traditionellen Gattungsgrenzen der fiktionalen Literatur, aber auch die Einbeziehung nichtfiktionaler Texte in diese Bezeichnung bis hin zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

klingt bereits im Titel des zu untersuchenden Texts, weiter leben. Eine Jugend, an,109 der zwar die zentrale Lebenserfahrung Ruth Klügers als Leerstelle im Titel führt (die Wortfolge ›weiter leben‹ impliziert ja geradezu die hier allerdings noch nicht zu beantwortende Frage ›wonach‹ und – mindestens genauso schwerwiegend – ›wie‹ weiter leben), dem ›davor‹ und dem ›danach‹ aber ebenso Raum gibt. Im Zentrum dieser Interpretation stehen daher nicht Fragen nach dem historischen Hintergrund des Dargestellten oder den psychischen Auswirkungen des Erlebten auf die Autobiographin, sondern stärker an der Formgeschichte der Autobiographie und ihrer spezifischen Ausprägung bei Ruth Klüger interessierte Beobachtungen, die sich der Darstellung der Thematik des weiter lebens, der Integration des Er- und Überlebten in die – bei Ruth Klüger vorausgesetzte – Kontinuität der eigenen Biographie widmen, ohne freilich auf die oben genannten thematischen Bezüge ganz verzichten zu können.

4.2.1 Frauen lesen anders – Schreiben Frauen anders? Frauen lesen anders ist eine erstmals 1996 erschienene Sammlung von literaturgeschichtlichen oder vielleicht besser: literaturtheoretischen Essays betitelt, in der Texte der Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger aus den 1970er bis frühen 1990er Jahren wiederabgedruckt sind. Allen diesen Aufsätzen ist eine Gegenlektüre wichtiger Texte bedeutender Autoren vom Barock bis zur Neuen

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mit diesem Thema sowie die mögliche Ausdehnung des Begriffs auf alle Opfergruppen des Nationalsozialismus, d. h. auch auf Sinti und Roma, geistig Behinderte, Homosexuelle und andere Opfer der Vernichtungspolitik, vgl. die »Einleitung« in der Anthologie: Holocaust Literatur Auschwitz. Für die Sekundarstufe I. Hg. von Sascha Feuchert. Stuttgart: Reclam 2000 (Reclams Universal-Bibliothek; 15047), S. 5–29, bes. S. 15–26. – Eine Untersuchung der autobiographischen Holocaust-Literatur auf literaturwissenschaftlicher Basis unternehmen Sem Dresden: Holocaust und Literatur: Essay. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1997 und Andrea Reiter: »Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit«: die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien: Löcker 1999. Vgl. die kurze Zusammenfassung des Buchinhalts von Bauschinger, Uns verbindet, was uns trennt (wie Anm. 106), S. 126: »Klüger erzählt von ihrer jüdischen Kindheit in Wien, in Konzentrations-, Arbeits- und Todeslagern; ihrer Jugend im Niederbayern der Nachkriegszeit, der Besatzer und Flüchtlinge; ihrem Leben im New York alter und neuer Immigranten«. – Folgerichtig bezeichnet sie das Buch deshalb auch als »Autobiographie«, die aber – korrekt – im »Themenkreis der Shoa-Literatur« situiert ist. – Vgl. etwa auch Helgard Mahrdt: »Auch das Schreckliche bedarf der näheren Untersuchung«: Ruth Klügers Autobiographie weiter leben im Lichte Arendtscher Gedanken. In: Jura Soyfer 9 (2000), H. 2, S. 4f.: »Ihr Buch ist kein monotoner Bericht einer Überlebenden von Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern sie erzählt uns ihre Geschichte, die vor Auschwitz ihren Anfang nimmt und noch kein Ende hat.« (Auszeichnung im Zitat von H. Mahrdt)

4.2 Ruth Klüger

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Sachlichkeit,110 aber auch längst vergessener Unterhaltungsromane aus der Zeit des Bürgerlichen Realismus unter feministischer Prämisse gemeinsam, die sich von den tradierten Fragestellungen und Argumentationsschemata einer überwiegend männlich dominierten Germanistik zu lösen versucht. Ohne dass sie sich auf Vertreter poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Literaturtheorien beruft,111 lässt sich doch eine starke Orientierung der Leserin Ruth Klüger an denjenigen literaturtheoretischen Tendenzen konstatieren, die sich weniger um die Rekonstruktion dessen bemühen, was der Autor gemeint haben könnte und wie er es gestaltet hat,112 als sich vielmehr daran orientieren, was der vorliegende Text dem konkreten Leser – oder besser und von hier an in diesem Kapitel ausschließlich: der konkreten Leserin – zu sagen hat. Mit den Worten Ruth Klügers aus dem »Vorwort« einer anderen Essaysammlung, Katastrophen. Über deutsche Literatur betitelt, lässt sich dieser Ansatz folgendermaßen formulieren: Was uns ein geliebtes oder auch ein nur anregendes Buch sagt, ist nicht dasselbe wie das, was »der Dichter uns sagen will.« Wir haben jeder und jede unsere eigene Sprache, und diese Sprachen sind so unterschiedlich wie die Handschriften und die Fingerabdrücke. Die Autoren sprechen eine Sprache, wir eine andere, sie sind gesättigt von ihren, wir von unseren Erfahrungen, sie werfen uns mit ihren Büchern ein Seil zu und ziehen an dessen einem Ende, wir am anderen, zwischen uns ist die Spannung.113

Die hier zum Ausdruck kommende Ablehnung einer »werkimmanenten Interpretation«114 bedeutet gleichzeitig die Aufwertung einer Gegenlektüre aus der Perspektive der jeweiligen Leserin, die verborgene Schichten des Textes freilegt und einen anderen, individuellen, vielleicht auch von männlich dominierten Lektüren unverstellten Blick auf die Texte ermöglicht. Er liegt allein im Standpunkt der Leserin begründet und vermittelt durch deren individuellkonkrete Perspektive, aber auch durch deren kollektive Zugehörigkeiten einen neuen Zugang, vielleicht sogar ein produktives ›Missverstehen‹ der gelesenen

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Es handelt sich tatsächlich beinahe ausschließlich um männliche Autoren, die hier behandelt werden, so etwa Erich Kästner, Johann Wolfgang Goethe, Erich Hartung und Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen. Im nicht besonders umfangreichen Fußnotenapparat dieses Essaybandes werden – neben den zitierten Editionen und ihren Bearbeitern – ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der traditionellen Literaturwissenschaft bemüht, i. A. mit dem Ziel der Distanzierung von den dort niedergelegten Ergebnissen. Auf diesen groben Nenner lassen sich die Bemühungen der traditionellen Literaturwissenschaft, etwa des amerikanischen ›New Criticism‹, aber auch der an Geistesgeschichte und Hermeneutik geschulten europäischen Literaturwissenschaft bringen, gegen die sich die Vertreter der poststrukturalistischen Schulen gewendet haben. Klüger, Katastrophen: über deutsche Literatur (wie Kap. 2, Anm. 60), S. [7]. Ebd., S. 70.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Texte, das es bei dieser Form der Lektüre eigentlich gar nicht geben kann.115 Diese Art des Zugangs zu Texten bedeutet in der Sichtweise Ruth Klügers, die sich in diesem Punkt signifikant von der üblichen dekonstruktivistischen Lektüre unterscheidet, gleichzeitig aber auch die Verabschiedung von der ästhetischen Autonomie von Literatur und der Möglichkeit ihrer kontemplativen Betrachtung außerhalb der empirischen, sozialen, ethischen und politischen Wirklichkeit ihrer Leserinnen und Leser, die in diese Form der Lektüre einfließt. Den Texten kommt jetzt eine neue Qualität zu, die sie außerhalb ihrer ästhetischen Dignität stellt – deshalb kann Ruth Klüger auch Produkte der Trivialliteratur und des Kitsches umstandslos neben bedeutenden Werken der Weltliteratur betrachten und unter einer übergreifenden Perspektive beleuchten – und ihnen so eine Rolle im außerliterarischen Diskurs zuweisen. Durch die Beleuchtung dieser außerliterarischen Diskurse gelingt es der Literaturwissenschaftlerin, diese Texte in einen Wirklichkeitsbezug zu stellen und sie so für die historische und nicht mehr nur die ästhetische Erkenntnis fruchtbar zu machen: Denn sogenannte rein ästhetische Kriterien können auch ein Alibi sein, das einer vorherrschenden Lebensanschauung dient, zum Beispiel der männlichen, indem sie Inhalte, unter dem Deckmantel der künstlerischen Allgemeingültigkeit, einer weiteren Debatte einfach entziehen.116

Mit diesem Zitat aus dem titelgebenden Essay der erstgenannten Sammlung ist gleichzeitig die Perspektive benannt, aus der sich Ruth Klüger der Literatur nähert, und die in den letzten Jahrzehnten, vor allem in den Vereinigten Staaten, wo die Autorin überwiegend lebt und arbeitet, zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: Es ist der Blickwinkel einer feministischen Literaturkritik, die ein anderes thematisches Interesse als das bislang dominierende, auf männlicher Perspektive und männlicher Lektüre beruhende in den Fokus ihrer Interpretation stellt: Viele feministische Kritikerinnen behaupten, daß weibliche Erfahrung sie dazu führt, Werke anders zu bewerten als ihre männlichen Kollegen, die die Probleme, auf die Frauen charakteristischerweise stoßen, nicht besonders interessant finden. [...] Die Überzeugung, daß ihre Erfahrung als Frau ihren Lesereaktionen Autorität verleiht, ermutigt feministische Kritikerinnen in ihrer Neubewertung berühmter wie auch vernachlässigter Werke.117

Diese Erkenntnis findet ihre Anwendung auch im genannten Aufsatz Ruth Klügers und wird von ihr selbst ebenda auf ihr autobiographisches Schreiben übertragen. Das Fragezeichen der Kapitelüberschrift lässt sich an dieser Stelle also durch ein Ausrufezeichen ersetzen. 115

116 117

Jonathan Culler: Dekonstruktion: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 194–199. Klüger, Frauen lesen anders (wie Kap. 2, Anm. 60), S. 85. Culler, Dekonstruktion (wie Anm. 115), S. 48f.

4.2 Ruth Klüger

237

Vor zwei Jahren veröffentlichte ich eine Autobiographie, in der ich dieses Problem ansprach. Ich hielt mein Buch ganz unbefangen für ein Frauenbuch, das heißt, ich stellte in Rechnung, daß mehr Frauen als Männer es lesen würden, schon darum, weil Männer selten Bücher von und über Frauen lesen. Das Buch wurde zwar ein weitaus größerer Erfolg, als ich voraussehen konnte, doch ich hatte recht: Der Großteil meines Publikums ist weiblich. [...] Ich weiß das von Buchhändlern, Leserbriefen und Lesungen. Ich bin damit zufrieden, warum auch nicht? Nun muß man wissen: Das Buch hat einen feministischen Grundzug, und man findet darin die schwersten Vorwürfe gegen das Patriarchat.118

Dennoch ist mit der Betonung des feministischen Aspekts119 die Perspektive Ruth Klügers noch nicht in erschöpfendem Ausmaß benannt. Dazu ist die Heranziehung eines weiteren Zitats aus dem selben Aufsatz sowie einer Parallelstelle aus ihrer Autobiographie notwendig, die eine radikal subjektive Identifizierung von weiblicher bzw. feministischer und jüdischer Perspektive nahelegen und dieser Perspektive in der Wertung »des weißen, christlichen, männlichen Autors«120 eine pejorative Konnotation zuweisen: Eine Herabsetzung als Frau trifft mich genauso wie eine Herabsetzung als Jüdin, ob sie nun auf der Straße, in der Literatur oder in der von Kollegen verfaßten Sekundärliteratur stattfindet.121 118 119

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Klüger, Frauen lesen anders (wie Kap. 2, Anm. 60), S. 90f. Die Kritik Weigels (Sigrid Weigel: Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust: Symbolisierungen, Zeugenschaft und kollektive Identität. In: Sprache im technischen Zeitalter Nr 135 [1995], S. 265f.) an Ruth Klügers autobiographischem Text gilt zum einen dieser Perspektive, weil sie die in den Lagern betriebene »Zerstörung gerade von Geschlechterpositionen« (S. 264) – sie nennt die radikalsten, Kastration und Sterilisation in großem Ausmaß – nicht erkennbar werden lässt und durch diese Positionierung des Subjekts »Narrationsmuster des Autobiographischen und der Vorgeschichte, in deren Fluchtlinien Auschwitz erklärt oder mit Sinn positioniert« (S. 265) wird. Sie zielt zum anderen auf eine Vermischung von ›Erinnerungstext‹ und ›Historiographie‹ bei Klüger, wo »individuelle Erfahrung« »schließlich in allgemeine Aussagen über die Geschlechter übergeh[en]« und »kraft der Autorposition der Zeugenschaft [dann] den Status einer Aussage, die nicht mehr befragt werden kann« (alle Zitate: S. 265) erhält. Damit – so der daraus resultierende Vorwurf Weigels – wurden die Opfer ihres ›Eigenwerts‹ beraubt, indem sie für eine bestimmte Interpretation des Geschehens zu einem gegenwärtigen Zweck instrumentalisiert werden. Dagegen plädiert Weigel mit Ingeborg Bachmann für eine »Bewahrung der Opfer vor der Inanspruchnahme für eine Aussage oder Botschaft« (S. 266). – Tatsächlich besteht bei Ruth Klüger diese Gefahr der Instrumentalisierung der Opfer durch eine identifikatorische Lektüre, die durch ihre moralisch begründete Ausgrenzungsstrategie gegen bestimmte Lesergruppen – »wer rechnet schon mit männlichen Lesern?« (Klüger, weiter leben: eine Jugend [wie Kap. 2, Anm. 21], S. 81) – noch gefördert wird, die aber gleichzeitig durch die Aufforderung zu einer streitbaren Lektüre, zum Widerspruch von Seiten des Lesers, relativiert wird. Dadurch wird Klügers Interpretation als Ausdruck ihrer Subjektivität eben doch wieder hinterfragbar. Klüger, Frauen lesen anders (wie Kap. 2, Anm. 60), S. 96. Ebd., S. 96.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Erst hatte es die Verachtung der arischen Kinder für die jüdischen in Wien, danach die der tschechischen Kinder für die deutschen in Theresienstadt gegeben, jetzt die der Männer für die Frauen. Diese drei Arten der Verachtung sind inkommensurabel, werdet ihr sagen, ich aber erlebte sie an mir selber, in der angegebenen Reihenfolge. Ich war das tertium comparationis, das Versuchskarnickel dieses Vergleichs, und darum stimmt er für mich.122

In dieser Konstruktion von – mit Jonathan Culler gesprochen – ›hierarchischen‹ Gegensatzpaaren (›Mann‹ – ›Frau‹; ›Arier‹ – ›Jude‹), zu denen sich in der Autobiographie noch zahllose weitere hinzufinden lassen (etwa die Entgegensetzung von ›Verwandtschaft‹ und ›Freundschaft‹), trifft sich die Autorin mit den Thesen eines weiteren – allerdings männlichen – gebürtigen Wiener Juden, der in seinem 1903 erschienenen Hauptwerk Geschlecht und Charakter diese Entgegensetzung entwickelt und zu akademischen Würden – das Buch ist die überarbeitete und erweiterte Dissertationsschrift des Autors – gebracht hat. Dennoch wäre es verfehlt, Weininger allzu große Originalität zu attestieren. Die neuere Forschung hat vielmehr erbracht, dass die Thesen Weiningers Kondensat bestimmter Strömungen und Tendenzen der Kultur um die vorletzte Jahrhundertwende sind, die unter dem Begriff der ›Wiener Moderne‹ zusammengefasst werden und sich sowohl aus medizinischen und naturwissenschaftlichen Quellen als auch aus literarischen und philosophischen Diskursen der Zeit speisen. Weiningers kreative Leistung besteht vor allem darin, diese äußerst heterogenen Strömungen und Tendenzen mit einer naturwissenschaftlich anmutenden Methode der rationalen Deduktion, die sich bei genauem Lesen rasch als Aneinanderreihung pseudowissenschaftlich verallgemeinerter Vorurteile entpuppt,123 in einem einzigen Werk zu vereinigen, weshalb es sich in allen Synthesekapiteln zur Darstellung der Wiener Moderne großer – und durchaus berechtigter – Beliebtheit erfreut124 – so auch hier. In Weiningers Dissertation finden sich die beiden zentralen Positionen, mit denen sich Ruth Klüger in ihrer Autobiographie auseinandersetzt, bereits vorgeprägt und in Zusammenhang gebracht: der Antifeminismus und der Antisemitismus, die das Leben im Wien der Jahrhundertwende genauso prägten (nicht: bestimmten) wie noch in der späten Zwischenkriegszeit der 1930er Jahre – jetzt freilich stärker in der Form des ›gesunkenen Kulturguts‹125 als Humus für den über 122 123

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Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 214. Vgl. Nike Wagner: Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (edition suhrkamp: Neue Folge; 1446), S. 70: »Die Schlußfolgerungen jedoch, zu denen er kommt, sind so absurd, daß die an sich nötige Synthese von Natur- und Geisteswissenschaften, daß die Methode der Verschmelzung beider selbst diskreditiert erscheint.« Vgl. etwa ebd., bes. S. 69–83 und S. 152–162 und Allan Janik/Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Merkel. Wien: Döcker 1998, bes. S. 84–87. Otto Weiningers Werk hat von 1903 bis 1932 insgesamt 28 Auflagen erlebt, zuletzt sind zwei in den Anmerkungen radikal gekürzte »Volksausgaben« erschienen.

4.2 Ruth Klüger

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Österreich hereinbrechenden Nationalsozialismus –, als die 1931 geborene Ruth Klüger in Wien lebte, der Stadt, die sie später als »[b]is ins Mark hinein judenkinderfeindlich«126 bezeichnet hat. Otto Weininger hat seine »prinzipielle Untersuchung« – so der Untertitel des Werkes – zweigeteilt: in einen »[e]rste[n] (vorbereitende[n]) Teil«, der anhand empirischer Beobachtung, aber auch durch Konsultation der reichlich produzierten sexualkundlichen Literatur der Zeit, »[d]ie sexuelle Mannigfaltigkeit« und die zahlreichen »sexuellen Zwischenformen« klassifiziert, um diese dann im zweiten Teil auf die beiden grundlegenden Prinzipien oder »sexuellen Typen«127 ›M‹ und ›W‹ zurückzuführen, die sich in den tatsächlichen Individuen in unterschiedlichen Anteilen wiederfinden und so den ›Charakter‹ des jeweiligen Individuums prägen, wobei es im allgemeinen zu einer weitgehenden Übereinstimmung von (biologischem) Geschlecht und Charakter kommt: »d as hö chststeh end e W e ib steh t no ch unend lich tief unter d e m tiefststehend en Mann e.«128 In einem weiteren Kapitel über »Das Judentum« hat er die bislang gewonnenen Ergebnisse dahingehend modifiziert, dass

126 127

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– Eine Auflistung sämtlicher deutschsprachiger Ausgaben von Geschlecht und Charakter findet sich bei Jacques le Rider: Der Fall Otto Weininger: Wurzeln d. Antifeminismus u. Antisemitismus. Mit der Erstveröffentlichung der Rede auf Otto Weininger von Heimito von Doderer. Übersetzt aus dem Französischen und bearbeitet von Dieter Hornig. Wien, München: Löcker 1985, S. 275. – Die Konjunktur von Weiningers Werk in der Zwischenkriegszeit sowie Belege für Rezeptionsspuren betonen auch Barbara Hyams/Nancy A. Harrowitz: A critical introduction to the history of Weininger reception. In: Jews & Gender: responses to Otto Weininger. Ed. by Nancy A. Harrowitz and Barbara Hyams. Philadelphia: Temple Univ. Press 1995, S. 8f. und Le Rider, ebd., S. 220–243. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 67. Alle Zitate dieses Absatzes sind dem Inhaltsverzeichnis des Weiningerschen Werkes entnommen. Da es sich überwiegend um Grundbegriffe seines Denkens handelt, finden sie sich an zahlreichen Stellen des Werkes wieder. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter: eine prinzipielle Untersuchung; im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calasso. München: Matthes & Seitz 1997, S. 404 (Auszeichnung im Zitat von O. Weininger). – In umgekehrter Satzstellung auch ebd., S. 342: »Der tiefststehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe.« – Gisela Brude-Firnau: Wissenschaft von der Frau? Zum Einfluß von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter auf den deutschen Roman. In: Die Frau als Heldin und Autorin: neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur. Hg. von Wolfgang Paulsen. Bern, München: Francke 1979, S. 138 bemerkt dazu: »Und mit logischen Bocksprüngen geht es zwischen dem methodisch so inkonsequent definierten Typ W und der realen Frau hin und her. [...] Dem unkritischen Leser mag es jedoch kaum auffallen, daß sich häufig die Prämisse eines Satzes auf das Abstraktum W bezieht, während auf ›das Weib‹, das heißt die reale Frau, konkludiert wird.«

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

[e]s [...] nämlich Völkerschaften und Rassen [gibt], bei deren Männern, obwohl sie keineswegs als sexuelle Zwischenformen können gedeutet werden, man doch so wenig und so selten eine Annäherung an die Idee der Männlichkeit findet, wie sie aus der hier entworfenen Zeichnung derselben hervortritt, daß die Prinzipien, ja, die ganzen Fundamente, auf welchen diese Arbeit ruht, hiedurch stark könnten erschüttert scheinen.129

Dies erklärt Weininger damit, dass seine »bisherigen Deduktionen zuvörderst auf den arischen Mann und das arische Weib sich beziehen«,130 nicht aber auf die anderen ›Rassen‹, zu denen er auch die »Chinesen« und »Neger« zählt, vorrangig aber das »Judentum«, das er nicht nur als ›Rasse‹, sondern vorrangig als »eine Geistesrichtung, [...] eine psychische Konstitution«131 betrachtet, zu deren genauer Erkenntnis ihn nur die eigene Zugehörigkeit zu eben derselben befähigt, die gleichzeitig seine entschiedene Ablehnung des Judentums bis hin zum schließlichen Selbstmord begründet: Man haßt nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat. Nur macht uns oft erst der andere Mensch darauf aufmerksam, was für unschöne und gemeine Züge wir in uns haben. So erklärt es sich, daß die allerschärfsten Antisemiten unter den Juden zu finden sind.132

In diesem Kapitel kommt Weininger daher zu der Erkenntnis, dass »gerade das Judentum durchtränkt scheint von jener Weiblichkeit«133, die er in den vorangegangenen Kapiteln seiner ›prinzipiellen Untersuchung‹ dargestellt und als das negative und unschöpferische Prinzip identifiziert hat.134 Otto Weininger allerdings – zumindest darin ganz dem Typus ›Mann‹ zugehörig – hat aus dieser ›wissenschaftlichen‹ Herleitung des minderwertigen, weil weiblichen Charakters des eigenen Judentums die Konsequenz gezogen und versucht, sich seines Judentums zu entledigen: erst durch Konversion zum Protestantismus – einer im katholischen Habsburgerreich ungewöhnlichen Form der Assimilation – und dann durch Selbsttötung in einem eigens angemieteten Zimmer des Wiener Beethovenhauses, dem letzten Wohnsitz und Sterbehaus des ›arischen‹, ›männlichen‹ und ›schöpferischen‹ ›Genies‹.135 Ruth Klüger hat sich der Bewertung dieser hierarchisch gewichteten Gegensatzpaare aus einer männlichen Perspektive heraus verschlossen und in ihrer Autobiographie eine Umwertung dieser Gegensatzpaare versucht, die implizit 129 130 131 132 133 134 135

Weininger, Geschlecht und Charakter (wie Anm. 128), S. 404. Ebd. Ebd., S. 406. Ebd., S. 407. Ebd., S. 409. Bei seiner Charakterisierung des Judentums trifft sich Weininger mit verbreiteten Stereotypen der Zeit. Diese Würdigung Beethovens unternimmt Weininger vor allem im IV. Kapitel über »Begabung und Genialität« des zweiten Teils von Geschlecht und Charakter.

4.2 Ruth Klüger

241

schon in Weiningers Leben und Werk selbst als eine Form der semantischen Antinomie enthalten ist, das sich ja allein schon durch seine Existenz selbst widerspricht, weil der homosexuelle Jude – sowohl im Homosexuellen136 als auch im Juden, wie gezeigt, dominiert das Prinzip ›W‹ – zu dieser kreativen und intellektuellen Leistung aus eigenem Antrieb gar nicht fähig sein dürfte (›W‹ ist weder kreativ noch intellektuell und darüber hinaus antriebslos und passiv). Völlig widerlegt Weininger sich dann durch seine Selbsttötung, die definitiv die Dominanz von ›M‹ in seinem Charakter belegt, weil er damit auch eine (dem Prinzip ›W‹ fremde) moralische Handlung ausführt. Weininger selbst ist sich der Arbitrarität seiner ›prinzipiellen Untersuchung‹ durchaus bewusst, bezeichnet er selbst doch ihre Ergebnisse als Konstrukt männlichen Denkens und Handelns, das sich der von Natur aus passiven und somit durch die männliche Schöpferkraft formbaren Frau bedient, und das sich die Frau deshalb nach diesem Bilde, zumindest jenseits ihrer biologischen Determinanten, konstruiert hat und das also – wie jedes beliebige andere Konstrukt auch – wieder dekonstruiert werden kann: Es ist die allgemeine Passivität der weiblichen Natur, welche die Frauen am Ende auch die männlichen Wertungen, zu welchen sie gar kein ursprüngliches Verhältnis haben, acceptieren und übernehmen läßt.137 So erklärt sich denn die absolute Gewalt der männlichen Geschlechtlichkeit über das Weib. [...] Nur indem der Mann sexuell wird, erhält das Weib Existenz und Bedeutung: sein Dasein ist an den Phallus geknüpft, und darum dieser sein höchster Herr und unumschränkter Gebieter. Der Geschlecht gewordene Mann ist das Fatum des Weibes; der Don Juan der einzige Mensch, vor dem es bis zum Grunde erzittert.138

Bei der Formbarkeit der Weiningerschen Geschlechterstereotypen setzt diese Deutung von Ruth Klügers Autobiographie an, indem sie der Autorin eine dekonstruktive Lektüre von Geschlecht und Charakter unterstellt, die als im Text selbst nicht weiter explizierte Folie den Hintergrund der frühesten ›Zeitschaft‹ in weiter leben bildet. Auf dieser Grundlage entwickelte sich das Selbstbewusstsein, die Identität Ruth Klügers als Frau und Jüdin, die auf einer Aufhebung der hierarchischen Gegensätze der Weiningerschen Theoreme beruht und so ihre Arbitrarität offenlegt: Es sollte inzwischen klar sein, daß die Dekonstruktion keine Theorie ist, die Sinn definiert, um Anweisungen zu geben, wie man ihn findet. Als kritische Aufhebung der hierarchischen Gegensätze, von denen Theorien abhängen, weist sie die Schwierigkeiten jeder Theorie auf, die Sinn eindeutig definieren möchte: als Intention des Autors, als determiniert durch Konventionen, als Erfahrung des Lesers.139 136

137 138 139

Vgl. Weininger, Geschlecht und Charakter (wie Anm. 128), S. 53–62, vor allem S. 53: »Es fehlt also beim sexuell Invertierten nie eine anatomische Annäherung an das andere Geschlecht.« Ebd., S. 355. Ebd., S. 400f. Culler, Dekonstruktion (wie Anm. 115), S. 146.

242

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Zur Aufrechterhaltung dieser These ist es nicht entscheidend, ob Ruth Klüger Weininger rezipiert hat (was sehr wahrscheinlich ist), sondern nur, dass sich auf der Folie des im Wien der 1930er Jahre noch immer weiterwirkenden Weiningerschen Gedankengutes, das durch den Nationalsozialismus aufgegriffen und modifiziert wurde, Ruth Klügers Feminismus und Judentum entwickelt haben, und dass sie in Umkehrung des weit verbreiteten Antifeminismus und des jüdischen Selbsthasses daraus eine eigene positiv konnotierte Identität aufgebaut hat. Weil sie ihre prägenden Kindheits- und Jugendjahre, in denen sich die künftige individuelle und kollektive Identität der Heranwachsenden herausbildet, unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und den zunehmend restriktiver werdenden Lebensbedingungen zuerst noch in ihrer Geburtsstadt Wien, ab September 1942 dann als Gefangene in wechselnden Konzentrationslagern verbracht hat, war es ihr – wie nahezu allen anderen jüdischen Angehörigen ihrer Generation im deutschen Kulturkreis – eben nicht mehr möglich, sich eine frei gewählte Identität aufzubauen, sondern sie konnte nur in Auseinandersetzung mit den von außen an sie herangetragenen negativ konnotierten Stereotypen – dem der Frau seitens einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft und dem des Juden in einer immer stärker antisemitisch eingestellten Umwelt – ein positives Selbstbild entwickeln.140 Versinnbildlicht wird dieser Prozess im Wechsel des Rufnamens, von ›Susanne‹ bzw. ›Susi‹ zu ›Ruth‹ in den ersten Monaten nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich, den sie mit einer Bibellektüre aus einer feministischen Perspektive heraus erklärt: Ich kenne die Stadt meiner ersten elf Jahre schlecht. Mit dem Judenstern hat man keine Ausflüge gemacht, und schon vor dem Judenstern war alles Erdenkliche für Juden geschlossen, verboten, nicht zugänglich. Juden und Hunde waren allerorten unerwünscht[.] [...] [...] Jüngere als mich gab es zufällig nicht in diesem Kreis, ich war die Jüngste und daher die einzige, die nicht in ein sich erweiterndes Leben hineinwachsen konnte, die einzige, die nicht im Dianabad schwimmen lernte, und die einzige, die die österreichische Landschaft nur den Namen nach kannte: Semmering, Vorarlberg, Wolfgangsee. Namen, die vom Nichtkennen her noch idyllischer wurden. Wie eine volle Generation lag es zwischen mir und den Cousins und Cousinen und noch heute zwischen mir und den Exulanten aus Wien, die sich dort einmal frei bewegt haben. Alle, die nur ein paar Jahre älter waren, haben ein anderes Wien erlebt als ich, die schon mit sieben auf keiner Parkbank sitzen und sich dafür zum auserwählten Volke zählen durfte.141 140

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Dass dieses Selbstbild wesentlich auf ihrer feministischen Identität beruht, zeigt das übernächste Zitat. Wie sich dieses Selbstbild in der Autobiographie – durchaus selbstwidersprüchlich in der Gegensätzlichkeit von theoretischer Konstruktion der Geschlechterpolaritäten und tatsächlich erlebter, von Frauen ausgehender Gewalt, etwa gegenüber der Mutter im Konzentrationslager bzw. von Männern empfangener Freundschaftsbeweise – konstruiert, zeigt mit ausführlichen Werkzitaten Eva Lezzi: Zerstörte Kindheit: literarische Autobiographien zur Shoah. Köln [u. a.]: Böhlau 2001 (Literatur und Leben; 57), S. 254–266. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 16f.

4.2 Ruth Klüger

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Und nun, als mein ungefestigter Glaube an Österreich ins Schwanken geriet, wurde ich jüdisch in Abwehr. Bevor ich sieben war, also schon in den ersten Monaten nach dem Anschluß, legte ich meinen bisherigen Rufnamen ab. Vor Hitler war ich für alle Welt die Susi, dann hab ich auf dem anderen Namen bestanden, den ich ja auch hatte, warum hatte ich ihn denn sonst, wenn ich ihn nicht benutzen durfte? Einen jüdischen Namen wollte ich, den Umständen angemessen. Niemand hat mir gesagt, daß Susanne genau so gut in der Bibel steht wie Ruth. Wer war schon bibelfest bei uns zu Haus? Ich hab die Erwachsenen mit großer Sturheit ausgebessert, wenn sie mich beim alten Namen riefen, und siehe, man gab nach, lächelnd, ärgerlich oder anerkennend. Es war das erste Mal, daß ich etwas durch reine Hartnäckigkeit durchsetzte, und so hab ich mir den richtigen Namen ertrotzt, ohne zu wissen, wie sehr er der richtige war, den Namen, der »Freundin« bedeutet, den Namen der Frau, die ausgewandert ist, weil sie die Freundschaft höher schätzte als die Sippschaft. Denn Ruth ist ausgewandert, nicht um des Glaubens, sondern um ihrer Schwiegermutter Naomi willen, die sie nicht allein ziehen lassen wollte. Sie war einem Menschen treu, und dieser Mensch war eben nicht der geliebte oder angetraute Mann, sondern es war eine frei gewählte Treue, von Frau zu Frau und über die Volkszugehörigkeit hinweg. (Diese Lesart des Buches Ruth wird mir kein Theologe rauben und schon gar nicht ein männlicher. Dafür schenk ich euch das Buch Esther und Makkabäer dazu. Die brauch ich nicht, diese Fabeln vom Sieg durch Sex und Gewalt, die könnt ihr so nationalistisch und chauvinistisch lesen, wie ihr wollt.)142

Nur in diesem Sinne lässt sich Ruth Klügers Text als eine dekonstruktive Lektüre Weiningers interpretieren: Weiningers Wien, das antisemitische und antifeministische Wien ist die früheste der ›Zeitschaften‹ Ruth Klügers;143 die Stadt ist für sie bevölkert mit ›Gespenstern‹, die sie ihr Leben lang begleiten werden und mit denen sie sich in ihrer Autobiographie intensiv auseinandergesetzt hat; die Stadt hat sie ex negativo stärker geprägt als alle anderen späteren ›Zeitschaften‹: Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nicht gelang.144 Wien ist Weltstadt, von Wien hat jeder sein Bild. Mir ist die Stadt weder fremd noch vertraut, was wiederum umgekehrt bedeutet, daß sie mir beides ist, also heimatlich unheimlich. Freudlos war sie halt und kinderfeindlich. Bis ins Mark hinein judenkinderfeindlich.145

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144 145

Ebd., S. 40. – Dieses Zitat liefert das dritte hierarchische Gegensatzpaar, nämlich dasjenige von ›Verwandtschaft‹ und ›Freundschaft‹. ›Freundschaft‹ ist neben Feminismus und Judentum der dritte Zentralbegriff zur Charakterisierung von Ruth Klügers Identität. Freundschaften ermöglichen ihr sowohl das Überleben in den Lagern (ebd., S. 87–90) als auch nach der Emigration die Integration in die amerikanische Nachkriegsgesellschaft (ebd., S. 245–256). Vgl. Jennifer Taylor: Ruth Klüger’s weiter leben: eine Jugend: a jewish woman’s »Letter to her mother«. In: Out from the shadows: essay on contemporary austrian women writers and filmmakers. Ed. and with an introduction by Margarete LambFaffelberger. Riverside: Ariadne Press 1997, S. 77f. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 17. Ebd., S. 67.

244

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

[I]ch komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien. Wien läßt sich nicht abstreifen, man hört es an der Sprache, doch Auschwitz war mir so wesensfremd wie der Mond.146

Ruth Klügers Schreiben – das gilt nicht nur für die Autobiographie, sondern in gleichem Maße auch für ihre literaturwissenschaftlichen Arbeiten – lässt sich aber dennoch nicht auf einen postmodernen Umgang mit anderen Texten unter Ausschluss der Wirklichkeit reduzieren, obwohl die kritische Relektüre klassisch-kanonischer Texte nahezu sämtliche Arbeiten der Autorin in den letzten 25 Jahren dominiert, seit sie sich von der Erforschung von ›historisch neutralem Boden«, etwa der Barockzeit, der ihre Dissertation gewidmet war, abgewandt und »hautnahen Themen«147 zugewandt hat. Zwar findet sich auch in ihrer Autobiographie eine intensive Auseinandersetzung mit zahlreichen Texten und Autoren, die von Ruth Klüger teils ausdrücklich genannt werden – etwa Peter Weiss, Jean Amery, Primo Levi, Tadeusz Borowski, Christa Wolf, Cornelia Edvardson148 – teils nur – wie etwa das Beispiel Otto Weiningers gezeigt hat – aus dem Kontext erschlossen werden können. Die dekonstruktive Lektüre zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk der Autorin und hat immer einen konkreten Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit: Sie soll bisherige Fragestellungen und Erklärungsmuster, die an die Texte herangetragen worden sind, ungültig machen, indem sie die Arbitrarität ihrer Perspektive thematisiert und dadurch die Möglichkeit, in den meisten Fällen sogar die Notwendigkeit ihrer Umkehrbarkeit demonstriert. Dahinter verbirgt sich ein grundlegender Erklärungsansatz für Ruth Klügers Leben und Werk, der sowohl ihrem ›Jüdisch-Sein in Abwehr‹ als auch ihrem offensiven Dialogangebot an die Leserinnen ihrer Autobiographie zugrunde liegt: Ich wollte mich als oppositionell statt als Opfer sehen.149

So funktioniert etwa die Erklärung ihres Abfalls vom jüdischen Glauben (nicht: vom Judentum!) als Infragestellung der Befreiung der Juden aus ihrer Knechtschaft in Ägypten und der institutionalisierten Erinnerung daran, weil es eben die Befreiung einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft und Religion gewesen ist, in der sich die Unterdrückung der Frauen bis in die Gegenwart erhalten hat, wie sie selbst am eigenen Leib erfahren musste. Pessach ist für Ruth Klüger deshalb »leider ein Fest für Männer und Kinder, nicht eines für Frauen«.150 Dies zeigt sich daran, dass die liturgischen Funktionen des Erinnerungsfestes allein den Männern und Söhnen zukommen, für die Frauen und Töchter aber nur die häuslichen Pflichten und das passive Zuhören übrig146 147 148 149 150

Ebd., S. 138. Beide Zitate: Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend: Interpretation (wie Anm. 106), S. 39. Vgl. ebd., S. 29–31. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 51. Ebd., S. 43.

4.2 Ruth Klüger

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bleiben. Obwohl es ihr gelingt, sich das Recht des jüngsten Sohnes zu ertrotzen, die Frage, die das Erinnerungsritual in Gang setzt, zu stellen, markiert diese Position, die sich mit einer negativen Antwort auf die TheodizeeFrage151 angesichts des nationalsozialistischen Judenmordes verbindet, ihren Abschied vom Judentum als Religion, was sie mit einer Lesefrucht erklärt: Nicht lange danach schrieb Friedrich Torberg in New York, die Hagadah in einem nachdenklichen Pessach-Gedicht in finsteren Zeiten gegen den Strich lesend und den Herrn bittend, er möge ihm die besagte Frage ersparen: Denn ich bliebe dir stumm. Herr, ich weiß nicht warum deinen Knechten Ausgezeichnet vor allen Nächten Diese heutige Nacht ist. Warum? Mir gefällt diese Strophe, weil sie wie ein Nein vor dem Traualtar anmutet. Man ist aufsässig vor Gott, wenn man ‚ich weiß nicht‘ antwortet auf die Frage, warum die Nacht, in der wir die Rettung aus der ägyptischen Fron feiern, vor allen anderen Nächten ausgezeichnet sei. Damals zankte ich mich mit meinem Cousin um die Ehre, die Frage stellen zu dürfen. Heute schätze ich ihre Dekonstruktion, weil mir das Wenige, was mir an jüdischem Glaubensbekenntnis geboten wurde, abbröckelte, bevor es gefestigt war. Das wäre auch ohne Nazis geschehen. Unter den Nazis war es die Enttäuschung, bei einem Schiffbruch eine morsche Rettungsplanke umklammert zu haben.152

Wie auch dieses Beispiel gezeigt hat, lässt sich eine dekonstruktivistische Lektüre für Ruth Klüger nicht auf den Umgang mit Texten reduzieren, die gelesen und gegengelesen werden, um dann in die Produktion neuer Texte zu münden, die das Ergebnis des Lektüreprozesses festhalten und damit zur Grundlage weiterer Lektüren und Gegenlektüren werden. Ganz im Gegenteil gilt die Kritik der Autorin – neben der werkimmanent und formalästhetisch argumentierenden Schule des ›new criticism‹ – vor allem einer dekonstruktivistischen Schule, mit der sie ihr ganzes akademisches Leben lang konfrontiert war, und gegen die sie sich – wie sich auch an der Autobiographie belegen lässt – mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften gewehrt hat: Alles war festgelegt, die Fakten waren die Fakten, und die Dichtung war beschränkt aufs rein Menschliche, und etwas später, mit der Dekonstruktion, aufs rein Textliche – die ein belgischer Kritiker, der einiges aus der eigenen Karriere zu verschleiern 151

152

Vgl. ebd., S. 124f. und Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend: Interpretation (wie Anm. 106), S. 6f. – Hier findet sich die Klügersche Formulierung der Theodizee-Frage in Form eines 1944 im Lager Christianstadt, nach der nur knapp überlebten Selektion in Auschwitz und der anschließenden Verlegung aus dem Vernichtungs- in ein Arbeitslager, entstandenen Gedichts. Die Autobiographie überliefert nur die beiden ersten Strophen, Heidelberger-Leonard ergänzt die übrigen sechs. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 44.

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hatte, mit großem Erfolg an amerikanischen Universitäten einführte. Und wenn man jetzt zurückblickt, so kann man nicht umhin zu fragen, ob das alles nicht eine Flucht vor der Geschichte war, nämlich eine Geschichte, die man am eigenen, fast verbrannten Fleisch erlebt hatte.153

In der dekonstruktivistischen Verfahrensweise und ihrer Konjunktur bei akademischen Lehrenden und Studierenden sieht sie, auch hier völlig subjektiv argumentierend, den Versuch einer Verdrängung der eigenen Erfahrungen, nämlich »dass man sich der Erniedrigung des Holocaust entziehen wollte«.154 Dem widersetzt sie sich entschieden und entwickelt dagegen ein Konzept der ›Wahrheit‹ des Erlebten und der notwendigen ›Zeugenschaft‹: Die Frage nach der Lüge im Schrifttum setzt die Möglichkeit wahrhaftigen Sprechens voraus. Sie wird jedoch bei uns, in der Literaturwissenschaft, ihrerseits in Frage gestellt durch Theorien, die diese Möglichkeit eines Durchbruchs zur Wirklichkeit, insofern die Wirklichkeit ein Teil der Wahrheit ist, in der Sprache überhaupt nicht anerkennen. Der Wahrheitsbegriff sei überholt, hören wir, und in der Literatur nicht anwendbar. Und was die Autobiographie betrifft, so wird die Integrität des Subjekts angezweifelt, das sich in verschiedenen Funktionalitäten immer neu definiere. Das führt zu ganz anderen Folgerungen als denen einer postulierten Zeugenschaft.155

Das bringt Ruth Klüger zu einer unmissverständlichen Ablehnung moderner und experimenteller Formen des autobiographischen Schreibens, das sich an den grundlegenden Theoremen des postmodernen und poststrukturalistischen Zeitalters orientiert, vor allem an demjenigen der radikalen Abkehr vom idealistischen Subjektdiskurs. Deshalb lehnt die Autorin und Literaturwissenschaftlerin auch solche autobiographischen Versuche ab, die »Zweifel an der Ganzheit, der Unverwechselbarkeit des Subjekts«156 wecken wollen. Sie bezieht sich in diesem 153

154 155

156

Ruth Klüger: Dichter und Historiker: Fakten und Fiktionen. Wien: Picus 2000 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 73), S. 36f. – Gemeint ist hier natürlich – und er wird wenig später auch ausdrücklich genannt – der Literaturwissenschaftler Paul de Man, der in den Jahren 1939 bis 1943 für eine in Brüssel erscheinende französischsprachige Tageszeitung, deren Redaktion von den deutschen Besatzungsbehörden eingesetzt und kontrolliert wurde, sowie weitere Organe Rezensionen und Beiträge zum literarischen Leben verfasst hat. Diese ›Kollaboration‹, die in der Publikation antisemitischer Artikel gipfelte, wurde 1987 zuerst in den Vereinigten Staaten zum Gegenstand des öffentlichen Interesses und im folgenden Frühjahr von den deutschen Feuilletons aufgegriffen. Ruth Klügers Deutung der de Manschen Theorie als »Produkt einer totgeschwiegenen Schuld« (Raimund Fellinger: De Manologie. In: Literaturmagazin 26 [1990], S. 169) folgt dabei sowohl einer Linie der Diskussion in den Vereinigten Staaten als auch den Thesen Frank Schirrmachers aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.2.1988. – Zur Rekonstruktion der Debatte um Paul de Man vgl. ebd. Klüger, Dichter und Historiker (wie Anm. 153), S. 37. Ruth Klüger: Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In: Autobiographien von Frauen: Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. von Magdalene Heuser. Tübingen: Niemeyer 1996 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 85), S. 405. Ebd., S. 406.

4.2 Ruth Klüger

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Zusammenhang explizit auf Roland Barthes, der in seinem autobiographischen Text Über mich selbst die Unmöglichkeit der Biographie – und damit eben auch der Autobiographie – damit begründet, dass die Sprache und die davon abgeleitete Schrift, zumal bei einer ihr Leben überwiegend mit der Produktion von Texten verbringenden Person, immer eine Form der Entäußerung des Ichs bedingt, weil sie sich – um verstanden zu werden – zwangsläufig auf Intersubjektives und Objektives beziehen muss, folglich nie ausschließlich Eigenes, sondern immer auch Fremdes, Vermitteltes zur Darstellung bringen kann: [E]ine Biographie gibt es nur von unproduktivem Leben. Sobald ich produziere und schreibe, nimmt mir (zum Glück) der Text selbst meine narrative Dauer. Der Text kann nichts erzählen; er trägt meinen Körper woandershin, weit weg von meiner imaginären Person zu einer Art Sprache ohne Gedächtnis, die bereits die des Volkes ist, der unsubjektiven Masse (oder des verallgemeinerten Subjekts), auch wenn ich davon noch durch meine Art zu schreiben getrennt bin.157

Die ›Autobiographie‹ Barthes’ verzichtet deshalb – um jeglicher Illusion über die Subjektivität des Dargestellten vorzubeugen – auf jede Form der Sinngebung, indem sie als Zusammenhang der Textfragmente lediglich die arbiträre Reihung der Fragmente in der alphabetischen Folge ihrer Überschriften zulässt und folgende Leseanweisung gibt, die die Suche nach einem hinter den Texten stehenden autobiographischen Subjekt verbietet: »All dies muß als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.«158 Die Biographie des ›unproduktiven‹ Lebens wird deshalb auch in einem Fotovorspann aus Kindheit und Jugend quasi vorsprachlich vermittelt, wenngleich auch diese Bilder, die das Subjekt ›zeigen‹ und nicht durch objektivierte Sprache ›deuten‹, dem Dilemma, durch Texte erklärt werden zu müssen und somit am Entäußerungsprozess teilzunehmen, nicht entkommen können und in ihrer Auswahl außerdem ein radikal subjektives Moment enthalten ist, das Ruth Klüger für ihre eigene Autobiographie, die ja den exemplarischen Untertitel »eine Jugend« trägt, ablehnt, was sich z. B. in der Weigerung, eine Kindheitsfotografie für den Umschlag zuzulassen, zeigt: Ich wollte meine Wirklichkeiten nicht derartig an meine Persönlichkeit festnageln, die mir im geschichtlichen Zusammenhang eher als paradigmatisch vorkam.159

Statt dessen beharrt die Autorin auf ihrem Subjektstatus und auf der subjektiven Richtigkeit ihrer Wahrnehmungen und Erinnerungen sowie den damit in engem Zusammenhang stehenden Wertungen und Bewältigungsversuchen des Erlebten, die den ›ontologischen Sonderstatus‹ der Autobiographie ausmachen, von dem im ersten Kapitel dieser Arbeit so oft die Rede war. Der für Ruth Klüger durchaus problematischen Nähe zum biographischen und autobiogra157 158 159

Roland Barthes: Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. München: Matthes & Seitz 1978 (Batterien; 7), S. [8]. Ebd., S. [5]. Klüger, Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 155), S. 406.

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phischen Roman ist sie sich durchaus bewusst, und sie sieht die Trennlinie dabei weniger in der Menge der verifizierbaren bzw. falsifizierbaren historischen Fakten – Autobiographien können sich in Bezug auf nachprüfbare Fakten irren – als vielmehr in dem ›Vertrag‹, den die Schreibenden mit den Lesenden schließen und der gattungsspezifisch verschieden ist, je nachdem ob es sich um einen Roman, ein Sachbuch bzw. wissenschaftliches Werk oder um eine Autobiographie handelt: Zwischen dem Geschichtswerk und dem Roman stehen Biographie und Autobiographie, erstere, die Biographie, ein wenig näher an der Geschichte, letztere, die Autobiographie, ein Stückchen weiter in Richtung Roman. [...] Bei der Autobiographie indessen kommt ein komplizierendes und erweiterndes Moment hinzu, nämlich daß sie, dank der Subjektivität der Gattung, Stellen enthält, die für die Leser zwar nicht verifizierbar sind, wohl aber für die Schreibende.160

Das objektive Unterscheidungskriterium, das die Autobiographie von den übrigen genannten Gattungen trennt, ist für Ruth Klüger dasjenige, das auch schon Philippe Lejeune in seinen frühen Arbeiten genannt hat und das – wie das voranstehende Zitat gezeigt hat – nachdrücklich mit dem Subjektstatus der oder des Schreibenden und der darauf bezogenen Selbstwahrnehmung verknüpft ist: Die Autobiographie ist ein Werk, in dem Erzähler und Autor zusammenfallen, eins sind. [...] Die Frage ist also nicht, ob und wieviel vom eigenen Leben die Autorin (oder der Autor) in ihrem (seinem) Buch verarbeitet hat – denn das kann er oder sie sowohl in dem einen wie in dem anderen Genre. Eine Autobiographie muß vom Anspruch, nicht vom Inhalt her, definiert werden, als ein Buch, in dem der Autor und Erzähler nicht zu unterscheiden sind. Eine Autobiographie, in der Lügen stehen, ist noch immer eine Autobiographie, wenn auch eine verlogene, und kein Roman.161

Der Gedanke des autobiographischen Paktes in Verbindung mit dem daraus abgeleiteten Recht, in Fragen der eigenen Biographie zugleich als erste Instanz und Informationsquelle sowie als letzte Instanz und unhinterfragbare Autorität zu gelten, ist für Ruth Klüger deshalb Motivation ihres autobiographischen Schreibens und ihres darin offerierten Dialogangebots an ihre Leser und Zuhörer, mit dem sie sich vorwiegend – die Sprache des Buches legt dies nahe – an ›Deutsche‹ richtet.162

4.2.2 weiter leben Auf den ersten Blick und für den flüchtigen Leser scheint sich Ruth Klügers weiter leben in den traditionellen Bahnen der europäischen Autobiographik zu 160 161 162

Ebd., S. 407. Ebd., S. 407f. – Vgl. hierzu auch Klüger, Dichter und Historiker (wie Anm. 153), S. 41–43. Vgl. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 141.

4.2 Ruth Klüger

249

bewegen,163 obwohl die Lebensstationen und Erlebnisse der Autorin für dieses Schema zunächst nicht recht passend erscheinen wollen. Vielmehr scheint die Biographie ihrer Kindheits- und Jugendjahre eher zur Illustration jener subjektkritischen Philosopheme gegenwärtiger Diskursstrategien in Literatur und Geisteswissenschaft geeignet zu sein, die eine experimentelle Form der Autobiographie nahelegen. Als Beispiele für solche Unterfangen mögen etwa Georges Perecs W oder die Kindheitserinnerung, die autobiographischen Erzählungen von Michel Leiris oder die im nächsten Abschnitt dieses Kapitels zu untersuchenden Texte Georges-Arthur Goldschmidts gelten, die sich alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – mit den Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen, die von den Nationalsozialisten gegen die Juden in Gang gesetzt wurden, sowie ihren destruktiven Auswirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur des autobiographischen Individuums auseinandersetzen. Bei Ruth Klüger hingegen erzählt ein autobiographisches Ich in chronologischer Abfolge völlig unangefochten von den subjektkritischen Diskursen der Gegenwart164 das eigene Leben. Dennoch wird die chronologische Struktur häufig von Anachronismen – Ausblicke in die Zukunft oder Rückblicke auf frühere Geschehnisse – durchbrochen, in denen die Abhängigkeit der autobiographischen Erinnerung von den Strukturen und Mechanismen des Gedächtnisses deutlich wird, in denen »die Linien einer vollständigen Autobiographie projiziert sind«,165 die über den selbstgewählten chronologischen Schlusspunkt – die Trennung von der Mutter und die Übersiedlung nach Kalifornien – bis in die Gegenwart reichen. Diese Aus- und Rückblicke dienen darüber hinaus der Akzentuierung und Perspektivierung des Erinnerten aus dem Blickwinkel zur Zeit der Abfassung der Erinnerungen durch das Stilmittel des Vergleichs, das eine bewusste Gestaltung und Bewertung von ›Wegmarken‹ der eigenen Vergangenheit durch die Autorin ermöglicht. In dieser so gestalteten Erzählung des eigenen Lebens stellt das Erlebnis von Verfolgung und Vernichtung, der sie knapp entkommen kann, zwar eine zentrale ›Wegmarke‹ dar, ist aber keinesfalls alleiniges Darstellungsinteresse des Textes. Dadurch gelingt Ruth 163

164

165

Vgl. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), die der Autorin bei aller oberflächlichen Affinität von weiter leben zum »Genre der Kindheits- und Jugendautobiographik« (S. 228) zu Recht ein »immer wieder artikuliertes Mißtrauen« (S. 235) diesem Genre und seinem zumeist äußerst naivem Historismus gegenüber attestiert. Vgl. Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend: Interpretation (wie Anm. 106), S. 43f., die die offensive und »ungeschützte Subjektivität« dieser Autobiographie trotz des exemplarischen Anstrichs, den Titel und Untertitel dem Text geben, betont. Dies kommt vor allem in dem dem Buch vorangestellten Motto von Simone Weil zum Ausdruck, in dem der subjektive Ausdruck der ›Einbildung‹ gegenüber der objektiven Darstellung des ›Sachverhalts‹ bevorzugt wird. Walter Hinck: Über autobiographisches Schreiben in der Gegenwart: (Greve, Klüger, de Bruyn, Harig, Walser). In: Resonanzen: Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hg. von Sabine Doering [u. a.]. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 463.

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Klüger in ihrem Buch auch eine radikale »Individualisierung und Differenzierung der Erinnerung«166 im Gegensatz zu den mittlerweile ›klassisch‹ gewordenen Werken der Holocaust-Literatur, in denen sich die Autoren auf die Darstellung des einen Lebensabschnittes der Konzentrationslagerhaft [beschränken; M. M.], um mittels Objektivierung ihrer Erfahrung den nationalsozialistischen Terror zu dokumentieren, aufzuklären oder anzuklagen. Den Autoren jüngerer Erinnerungstexte ist es im Unterschied dazu oft um die Beschreibung eines Lebensbogens zu tun, der die biographischen Phasen vor und nach der Lagerhaft umschließt. Sie gehen der Frage nach, welche subjektive Bedeutung die Erinnerung an das Lager für sie im Kontext ihres ganzen Lebens hat.167

Das Hauptaugenmerk der Autobiographin gilt deshalb der klassischen Periode der Selbstfindung und Ausbildung der individuellen und kollektiven Identität – der Kindheit und Jugend –, die ähnlich wie in Goethes Dichtung und Wahrheit mit dem Auszug aus dem elterlichen Haus und dem damit notwendig gewordenen Aufbau einer eigenen Existenz endet. ›Auschwitz‹ als Synonym für die Erfahrung des Holocaust stellt für Ruth Klüger lediglich eine Episode dar, von der sie sich nicht vorstellen kann, daß dieser eine von mir nicht gewollte Zustand etwas Wesentliches in mir beschreiben soll. Das dauerte eigentlich einen Sommer lang, wenn man Auschwitz biographisch genau nimmt und nicht als Kürzel für Massenmord. Das war ein einschlägiges Erlebnis, wenn Sie wollen, aber weiß Gott nicht das einzige.168 Auschwitz [ist] keine Lehranstalt für irgend etwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz. [...] Sie s[ind] die allernutzlosesten, unnützesten Einrichtungen gewesen, das möge man festhalten, auch wenn man sonst nichts über sie wisse.169

Viel wesentlicher sind für die Autobiographin jene Bildungserlebnisse, die sich um die Zeitschaften ›Wien‹, ›Bayern‹ und ›New York‹ herum angelagert haben, und die ihr das begriffliche und intellektuelle, vor allem aber das menschliche Rüstzeug in Gestalt der in Vermont gewonnenen Freundinnen mit auf den Weg gegeben haben, um sich dieser größten Herausforderung des 166

167

168 169

Christian Angerer: »Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung«: Ruth Klügers weiter leben im Kontext der neueren KZ-Literatur. In: Sprachkunst 24 (1998), S. 70. Ebd. – Aus dieser Beobachtung heraus ist auch zu erklären, dass »Deutsche [...] lediglich als Randfiguren in Klügers Memoiren auf[tauchen]«, wie Leslie A. Adelson: Ränderberichtigung: Ruth Klüger und Botho Strauß. In: Zwischen Traum und Trauma – Die Nation: Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Hg. von Claudia Mayer-Iswandy. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1994, S. 96 richtig bemerkt. Das Subjekt Ruth Klüger und ihre Erinnerungen an das eigene Leben stehen im Zentrum des Texts, nicht eine objektivierende Darstellung ihrer Erfahrungen in Deutschland und mit Deutschen. Beide tauchen nur auf, insofern sie für die Darstellungsintention der Autorin eine Rolle spielen. Ruth Klüger: »Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien«: Gespräch mit Ruth Klüger. In: Mittelweg 36 2 (1993/94), S. 39. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 72.

4.2 Ruth Klüger

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›weiter lebens‹, dem Umgang mit den hier von der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie produzierten ›Gespenstern‹ zu stellen. Zu diesen Bildungserlebnissen zählen auch die zahlreichen literarischen Vorbilder und Reibungspunkte, mit denen sich die Autorin in ihrer Autobiographie auseinandersetzt und mit deren Hilfe es ihr gelingt, die eigenen Erinnerungen darstellbar und – in gewissen Grenzen – kommensurabel zu machen. Die Literarisierung der eigenen Autobiographie, also die Orientierung an anderen Texten, geschieht bei Ruth Klüger nicht aus Gründen der Fiktionalisierung – dazu legt sie viel zu großen Wert auf die Einhaltung des autobiographischen Pakts –, sondern vor allem zur Erleichterung der Einordnung und Darstellung der eigenen Erlebnisse.170 Die Kapitelgliederung der Autobiographie folgt dabei – auch dies entspricht der Tradition und findet sich etwa in Gershom Scholems schon besprochenen Lebenserinnerungen Von Berlin nach Jerusalem bereits im Titel, aber auch in der überwiegenden Mehrzahl der Kapitelüberschriften wieder – den topographischen Wegmarken, die dem Buch seine Vierteilung geben: auf die Darstellung der ersten Lebensjahre im nationalsozialistischen Wien, die vom zunehmenden staatlich gelenkten Antisemitismus geprägt sind, folgen im zweiten Kapitel die Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern mit der Selektionsszene in Auschwitz als vermeintlich zentralem Wendepunkt der Autobiographie,171 wo es Ruth Klüger gelingt, sich durch wiederholtes Anstehen und eine Lüge sowie durch die barmherzige Mithilfe eines weiblichen ›Funktionshäftlings‹ für einen Arbeitseinsatz zu qualifizieren, der sie und ihre Mutter vor der für sicher gehaltenen Ermordung in den Gaskammern rettet.172 Bis hierher kann 170

171

172

Mit dem Aufspüren solcher ›Intertexte«, die in Ruth Klügers Autobiographie eingegangen sind, beschäftigen sich zahlreiche Arbeiten über weiter leben. Ich habe mich daher bemüht, in diesem Kapitel auf die Wiederholung von Bekanntem weitgehend zu verzichten und nur solches darzustellen, was ich bislang so noch nicht in der Sekundärliteratur finden konnte – etwa die umfangreichen Erörterungen zu Otto Weininger. Zur Interpretation dieser Szene vgl. etwa Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend: Interpretation (wie Anm. 106), S. 64: »Nicht von ungefähr befindet sich der Bericht über diese gute Tat etwa im Zentrum ihres Buches, ist sozusagen sein Herzstück, die eigentliche Achse, um das sich das Vorher und Nachher dreht.« – Die Verbindung zu Kants transzendentalem Freiheitsbegriff, der ein moralisches Handeln losgelöst von allen äußeren Zwängen der empirischen Welt postuliert, zeigen Clemens Kammler: Ein Ereignis im Auschwitz-Diskurs: Ruth Klügers Autobiographie weiter leben. Eine Jugend im Unterricht. In: Der Deutschunterricht 47 (1995), H. 6, S. 26 und – wenn auch ohne direkten Bezug auf den Philosophen – Herta Müller: In der Falle. Göttingen: Wallstein 1996 (Politik – Sprache – Poesie; 2), S. 27f. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 248f. weist der Autobiographin hier eine »historiographisch ungenau[e]« Darstellung der Selektionsszene nach, die aber auf einem Missverständnis Lezzis beruht. In der die damalige Erfahrung rekonstruierenden Erinnerung der Autobiographin kann die Selektion durchaus eine solche »zum Tod« gewesen sein, auch wenn die ex post argumentierende Ge-

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die Autobiographie tatsächlich als Darstellung eines sich durch äußere Einflüsse immer stärker verengenden Lebens- und Entscheidungsspielraums gelesen werden, der schließlich nahezu nicht mehr existent ist und beinahe zwangsläufig in die Gaskammern von Auschwitz zu führen scheint. Erst durch die ›freie Tat‹ jenes Häftlings kann dieser Spielraum – zunächst nur in engen, sich allmählich ausweitenden Grenzen – wiedergewonnen werden und so zu einer allmählichen Wiederausweitung der biographischen Möglichkeiten führen. Auf dem ›Todesmarsch‹ während der Evakuierung aus Christianstadt, einem Außenlager von Groß-Rosen, in dem die Autorin interniert war, gelingt Ruth Klüger mit ihrer Mutter und deren ›Adoptivkind‹ Ditha, das schließlich zur lebenslangen Freundin wird, die Flucht. Die frei gewählte Entscheidung, dem Todesmarsch zu entfliehen und das eigene Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, die sie mit ähnlichem Vokabular beschreibt wie zuvor die ›freie Tat‹ des Funktionshäftlings, ist der eigentliche ›Wendepunkt‹ der Autobiographie. Hier beginnt ein Leben in der Wiedergewinnung von Lebens- und Entscheidungsspielraum – versinnbildlicht in der Flucht vor äußeren Zwängen, die Ruth Klügers ganzes weiteres Leben bestimmen sollen173 – neu: Damals erlebte ich das unvergeßliche, prickelnde Gefühl, sich neu zu konstituieren, sich nicht von anderen bestimmen zu lassen, ja und nein nach Belieben zu verteilen, an einem Scheideweg zu stehen, wo eben noch gar keine Kreuzung gewesen war, etwas hinter sich lassen, ohne etwas vor sich zu haben. Wie bedingt von den Umständen eine solche Entscheidung ist? Sicher gab es Gründe und Ursachen, warum wir uns zum Handeln aufrafften, wie es eben auch Gründe und Ursachen gab, sich so zu verhalten

173

schichtswissenschaft weiß, dass es im ›Theresienstädter Familienlager‹ keine Selektion für die Ermordung in den Gaskammern gegeben hat. Die Reflexionen der Autorin über die eigene Erfahrung und über die »freie[], spontane[] Tat« (Klüger, weiter leben: eine Jugend [wie Kap. 2, Anm. 21], S. 134) des Funktionshäftlings, der diese Erkenntnis gleichfalls nicht haben konnte, bleiben daher gültig. Flucht ist neben der Allgegenwart des Todes Leitmotiv der Autobiographie. Schon seit frühester Kindheit zählt »dieses herrliche Spiel mit der Flucht vor Gefahr« (Klüger, weiter leben: eine Jugend [wie Kap. 2, Anm. 21], S. 21) zur Lieblingsbeschäftigung des Kindes, zumindest im Rückblick der Autobiographin. Bereits auf der ersten Seite von weiter leben bezeichnet sich Ruth Klüger als »[e]ine, die sich auf die Flucht begibt, nicht erst, wenn sie Gefahr wittert, sondern schon, wenn sie nervös wird.« (ebd., S. 7). – Während der ersten antisemitischen Ausgrenzungsund Verfolgungsmaßnahmen wird Flucht dann zum einzig möglichen Ausweg (ebd., S. 59), wie sie auch auf dem Flüchtlingstreck nach Westen gemeinsam mit der Mutter und der ›Adoptivschwester‹ Ditha, nachdem sie dem Todesmarsch zur Evakuierung von Groß-Rosen entkommen waren, häufig zur Flucht gezwungen sind, um die Aufdeckung ihrer jüdischen Identität zu verhindern (ebd., S. 174 und S. 176). Auch ihre zahllosen Wohnungswechsel in der neuen amerikanischen Heimat sind als kleine Fluchten vor der Erinnerung zu werten (ebd., S. 256 und S. 258f.). Noch während des Göttinger Unfalls setzt sich als erste Lebensregung der Fluchtversuch in Klügers Gedanken fest.

4.2 Ruth Klüger

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wie die Mehrheit und sich weiterzuschleppen mit dem Transport. Wir wählten: ich vor allem, zappelig vor Überzeugung, wählte ich die Vogelfreiheit.174

Der dritte Teil der Autobiographie erzählt davon sowie von der weiteren Flucht vor den Russen nach Westen bis ins bayerische Straubing. Das Kriegsende erlebt die kleine Familie dann in Bayern, wo die Mutter bis zur Emigration in die Vereinigten Staaten im Herbst 1947 für die alliierten Behörden arbeitet und die Tochter nach dem Notabitur ein Studium aufnimmt, bei dem sie eine lebenslange Freundschaft mit ›Christoph‹ alias Martin Walser schließt, die aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven freilich häufig stärksten Belastungsproben ausgesetzt gewesen ist.175 Auch hier in Straubing ist die Rumpffamilie neben den ersten Verdrängungsleistungen der eigenen Schuld weiteren antisemitischen Ressentiments durch die deutsche Bevölkerung ausgesetzt. Die schwierigen ersten Jahre in New York mit dem Besuch des Hunter-Colleges und dem Aufbau eines lebenslang haltenden Kreises von Freundinnen unter den Kommilitoninnen schildert der letzte Teil der Autobiographie, der mit dem Auszug der Tochter aus dem gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnten Haus und somit – auch hier folgt sie der Tradition der Kindheitsund Jugendautobiographen – dem Aufbruch in die Selbständigkeit endet. Abgeschlossen wird der Text mit einem Epilog – versehen mit der Ortsbezeichnung »Göttingen« –, der die Legitimation des Vorhabens, die Gründe und Ursachen, die Ruth Klüger bewogen haben, ihre Autobiographie zu schreiben, und die metaphorische Erklärung des Klügerschen Gedächtnismodells, die die Form und Struktur der Erinnerung und ihre Darstellung in der Autobiographie begründet, enthält. Der Epilog gibt gleichzeitig das Deutungsmuster dieser Interpretation von weiter leben vor und soll deshalb zunächst genauer betrachtet werden. Das Deutungsmuster basiert auf der Logik des Vergleichs, die im Zentrum des Werkes steht und Grundlage für Ruth Klügers Dialogangebot bei allem Wissen um die eigene Alterität ist, die einen Dialog über gewisse Grenzen hinaus deutlich erschwert. Im Zentrum des Epilogs steht ein Unfall, der die Jüdin Ruth Klüger, die für zwei Jahre von Kalifornien nach Göttingen gekommen ist, um »das dortige kalifornische Studienzentrum zu leiten«,176 sowie um am 9. November als »Betroffene«177 einen Vortrag anlässlich der ›Reichskristallnacht‹ zu halten, mit einem sechzehnjährigen Fahrradfahrer kollidieren lässt. Jener hat, »[n]icht aus aggressivem Denken, wohl aber aus aggressivem Instinkt«178 die Fußgän174 175

176 177 178

Ebd., S. 168. Zur unterschiedlichen Perspektive der beiden beim Blick auf das kollektive jüdische Schicksal und ihrer dramaturgischen Funktion in weiter leben vgl. Irène Heidelberger-Leonard: Auschwitz, Weiss und Walser: Anmerkungen zu den »Zeitschaften« in Ruth Klügers weiter leben. In: Peter-Weiss-Jahrbuch 4 (1995), S. 87f. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 269. Ebd. – Die Autorin selbst setzt den Begriff an dieser Zitatstelle in distanzierend ironische Anführungszeichen. Ebd., S. 272.

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gerin angefahren und so schwer verletzt – die Literaturwissenschaftlerin erleidet eine Hirnblutung –, dass sich ein monatelanger Krankenhausaufenthalt anschließt. Hier, während des Krankenhausaufenthalts, kommt es zur ersten Wiederbegegnung der Autorin mit der eigenen Vergangenheit, mit jenen »Gespenster[n] [...], die mich wichtigtuerisch, wie bei einer Konferenz, umlärmten«179 und mit denen sie sich erst jetzt, vierundvierzig Jahre nach dem Ende der Verfolgung und des Krieges, auseinanderzusetzen beginnt. Noch freilich ohne die Absicht, ein Buch aus den ›alten Papieren‹ zu machen, sondern nur aus dem Bedürfnis heraus, diese neu zu ordnen: Es war, als hätten Einbrecher alles durcheinandergeworfen, die sorgfältig verpackten alten Papiere aus hinterster Ecke hervorgeholt, sie dann aus Wut, weil sie unbrauchbar und wertlos waren, im Haus verstreut, alle Schubladen aufgerissen, Kleider zerschnitten (wie mit den Sachen für die chemische Reinigung im aufgebrochenen Auto, vor Jahren in Charlottesville), und die Schränke sperrangelweit offen; und uralte Gegenstände, von denen man glaubt, man hätte sie längst in den Müll geworfen, wieder ans Tageslicht gezerrt. Man kommt sich enteignet vor, weil das Haus selbst durch die gewaltsame Störung so geschädigt und auch fremd erscheint. Nach und nach merkt man, daß in dem anscheinend heillosen Chaos mehr vom eigenen Ich steckt als in den früheren, scheinbar geordneten Verhältnissen.180

Der Anstoß für dieses Bedürfnis waren der Unfall und die durch ihn geweckten Assoziationen, die sie ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit zurückkatapultieren und den letzten Vergleich des Buches ausmachen, der in der Rekonstruktion der Vergangenheit allerdings der erste ist, der als Initial der Erinnerung dient und gleichzeitig die Grundstruktur des Erinnerungsmodells vorgibt, wie Ruth Klüger in einem 1994 gegebenen Interview erklärt hat: Ich bin schließlich zu dem Punkt gekommen, wo mir etwas zur Technik eingefallen ist, das Gegenwärtige und das Vergangene so zusammenzubringen, wie ich es in diesem Buch getan habe.181

Ruth Klüger erzählt dieses Initial ihrer Erinnerung in einem atemlosen, die bei aller Subjektivität durchgängig feststellbare Distanziertheit der übrigen Autobiographie vergessen lassenden Sprachgestus, der das momentane Überwältigtwerden des Opfers im Angesicht der Bedrohung und der durch die Erinnerung verstärkten Panik nachvollziehbar macht.182 Was in dieser Episode geschieht, ist die reflexartige Gleichsetzung zweier in Deutschland und mit Deutschland gemachten Erfahrungen, die Vergangenheit und Gegenwart in einem Punkt verschmelzen lassen: 179 180 181

182

Ebd., S. 278. Ebd., S. 276. Ruth Klüger: »Daß ich eine Sprache gefunden habe, daß ich mich jetzt nicht mehr herumquälen muß ...«: Interview mit Ruth Klüger. In: Focus on literature 1 (1994), H. 1, S. 88. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 267.

4.2 Ruth Klüger

255

Seine Fahrradampel, ich war stehengeblieben, um ihn ausweichen zu lassen, er versucht aber gar nicht, um mich herumzukommen, er kommt gerade auf mich zu, schwenkt nicht, macht keinen Bogen, im letzten Bruchteil einer Sekunde springe ich automatisch nach links, er auch nach links, in dieselbe Richtung, ich meine, er verfolgt mich, will mich niederfahren, helle Verzweiflung, Licht im Dunkel, seine Lampe, Metall, wie Scheinwerfer über Stacheldraht, ich will mich wehren, ihn zurückschieben, beide Arme ausgestreckt, der Anprall, Deutschland, ein Augenblick wie ein Handgemenge, den Kampf verlier ich, Metall, nochmals Deutschland, was mach ich denn hier, wozu bin ich zurückgekommen, war ich je fort?183

Diese Erfahrungen sind möglicherweise – wenn man bestimmte gängige Diskursschemata zugrunde legt – nicht vergleichbar, zumindest aber lassen sie sich nicht gleichsetzen. Abgesehen von dem Unterschied zwischen staatlich organisiertem Terror und individuellem Fehlverhalten sind die Fakten des Fahrradunfalls andere als die, die sich das Opfer des Unfalls zunächst zurechtlegt und – in gedanklicher Rekonstruktion des Vorfalls – den Lesern mitteilt. Der Unfallverursacher erweist sich nicht als ein namenloser deutscher Aggressor, sondern als »a young Vietnamese, the adopted son of a German couple, who, ironically, belonged to Klüger’s circle of colleagues«.184 Deshalb ist die Gleichsetzung in ihrer Konstruktion der Kontinuität von Erfahrungen mit Deutschland zumindest fragwürdig – ihre weiteren Erfahrungen während der Rekonvaleszenz mit den ›Göttinger Freunden‹, denen das Buch ja gewidmet ist, belegen dies: Die Freunde geben ihr Beistand und Unterstützung sowohl beim Rekonvaleszenzprozess als auch bei der schwierigen, dem Buch zugrunde liegenden Erinnerungsarbeit und der schließlichen Transformation des Erinnerten in einen geschriebenen Text. Aus diesen, den ersten Eindruck bereits im Augenblick des Erlebens transformierenden Gründen schließt sich an die atemlose Erzählung des Unfalls und der damit verknüpften Assoziationen unmittelbar eine distanzierte, um rationale Klärung des Vorfalls bemühte Rekonstruktion der Ereignisse aus ihrer feministischen Perspektive an, in der die zuvor gemachte Gleichsetzung zurückgenommen wird: Darum bin ich so dumm gefallen, ich hatte die Arme in Abwehr nach vorne gestreckt und konnte mich nicht mehr stützen, als ich nach hinten fiel. Und diese Vorstellung, oder auch nur Einbildung, daß mich der Sechzehnjährige aus Aggression umgefahren hat? Nicht aus aggressivem Denken, wohl aber aus aggressivem Instinkt, wie die Buben hinterm Steuerrad der Autos, Herrschaft über die Maschine, eine Art Trunkenheit. Schließt nicht aus, daß es ihm nachher leid getan hat. Oder 183 184

Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 271f. Dagmar C. G. Lorenz: Memory and criticism: Ruth Klüger’s weiter leben. In: Women in German Yearbook 9 (1993), S. 213, eine mit Ruth Klüger wohl näher bekannte amerikanische Germanistin, die demselben Kreis der WiGgies wie Ruth Klüger angehört, teilt dies in dem genannten Aufsatz mit. – Die WiGgies, eine Abbreviatur für ›Women in German‹, sind ein Zirkel amerikanischer Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen, die sich mit der deutschen Literatur und Kultur vorwiegend aus feministischer und poststrukturalistischer Perspektive beschäftigen.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

auch, daß er vergaß, was ihm in den kurzen Sekunden durch den Kopf ging. Ich stand, er fuhr, fest im Sattel und gut im Zug, freie Bahn heischend, warum weicht mir die alte Ziege nicht aus, der werd ich's zeigen. So ungefähr denke ich es mir.185

Der Unfall und die damit verbundenen, aber gleich wieder in distanzierender Reflexion zurückgenommenen Assoziationen sind das Initial ihrer sehr differenzierten autobiographischen Erinnerungen, mit denen sie sich der eigenen Geschichtsvergessenheit, die ihr Leben in Amerika seit den ersten Tagen in New York geprägt hat, entledigt. Den Rat »Was in Deutschland passiert ist, mußt du aus deinem Gedächtnis streichen und einen neuen Anfang machen. Du mußt alles vergessen, was dir in Europa geschehen ist. Wegwischen, wie mit einem Schwamm, wie die Kreide von einer Tafel«.186 gibt ihr eine rechtzeitig emigrierte Tante bei einem Abendessen in deren Haus für die notleidenden Verwandten. Wahrscheinlich ohne Freuds »Notiz über den Wunderblock«187 zu kennen, gibt sie Ruth Klüger jedoch den Rat zu verdrängen, nicht zu vergessen. Obwohl die junge Ruth Klüger sich diesem Ratschlag verweigert, kann sie sich dem schleichenden Prozess der sich als Vergessen tarnenden Verdrängung nicht entziehen, für den das Leben in Kalifornien – mit dem Umzug dorthin im Sommer 1951 endet die Autobiographie – als Synonym steht: Ich lebe gern hier. Diese von Erdbeben bedrohte Meer- und Wüstenlandschaft, mit Sonne gesegnet, von Wassernot geplagt, hat sich die törichte, tragische Aufgabe gestellt, die Vergangenheit abzuschaffen, indem man sie abstreitet, indem man die Gegenwart durch eine andere Gegenwart ersetzt, bevor die erste alt werden kann. Das geht nicht, darum ist es töricht. Das rächt sich, darum ist es tragisch. Flüchtlinge sind die Kalifornier und lassen die gelebten Stunden hinter sich, um sich schnell in die nächste zu retten[.]188

Klügers Erinnerungsmodus ist aber nicht nur eine Distanzierung von der kalifornischen Geschichtsvergessenheit, sondern zugleich auch ein Gegenentwurf 185 186 187

188

Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 272. Ebd., S. 228. Das Zitat ist ein schöner Beleg für das Verfahren der Literarisierung in Ruth Klügers Autobiographie. Die Rekonstruktion der Aussage der Tante ermöglicht die Zurückweisung ihres Vorschlags aus der Kenntnis von Freuds kleiner Schrift. Mit Sigmund Freud: Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich [u. a.]. Ergänzungsband Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 205–215 entlarvt sich die Tante als Repräsentantin eines Umgangs mit Vergangenheit, der lediglich auf Verdrängung abzielt und somit psychopathologischen Ursprungs ist. Weil das Gedächtnis aber nicht – wie die Tante glauben machen möchte – wie eine Schiefertafel funktioniert, von der sich etwas rückstandsfrei entfernen lässt, sondern wie der bei Freud erwähnte Wunderblock die Spuren der Schrift bzw. der Erinnerung in seinen tieferen Schichten bewahrt, auch wenn sie oberflächlich ausgelöscht worden sind, erfordert Vergangenheit vom Betroffenen – wiederum mit Freud – ›Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten‹, um sich eine gesunde Psyche zu erhalten bzw. wiederzugewinnen. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 282.

4.2 Ruth Klüger

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zu den beiden Formen des Umgangs mit der Vergangenheit in Deutschland, wie sie bei ihrer Rückkehr nach Irvine feststellt: Hierher zurückgekommen, scheint mir das Deutschland, das ich in meinen zwei Göttinger Jahren kennenlernte, wie das verkehrte Spiegelbild meines Kaliforniens. Weil man dort nämlich die Vergangenheit, wie der Gläubige das heiße Eisen beim Gottesurteil, beherzt in die Hand nimmt, um sie mit einem Aufschrei (»Aber ich bin doch unschuldig!«) fallen zu lassen, wenn sie brennt.189

Diese beiden aufeinander aufbauenden Verhaltensweisen, das ›beherzte In-dieHand-Nehmen‹ wie auch das anschließende ›Fallenlassen‹, thematisiert Ruth Klüger in den Gesprächen, die sie mit Deutschen geführt und in ihrer Autobiographie aufgeschrieben hat. Zu nennen sind hier zum ersten die ›Zaunanstreicher‹, junge Leute, die ihren Zivildienst in Auschwitz mit der Erhaltung der Überreste des Konzentrationslagers verbracht haben und hier Repräsentanten jener ›Museumskultur‹ sind, die die Erinnerung – sei es in Konzentrationslagern oder in ›zentralen Kranzabwurfstellen‹, wie der Berliner Volksmund Kohls Projekt der Neuen Wache spöttisch aber zutreffend benannt hat – einfriedet, nivelliert190 und mit dem Nimbus der ›Einzigartigkeit‹ und ›Unaussprechlichkeit‹ der Ereignisse versieht. Durch diesen Umgang mit der Vergangenheit wird sie dem alltäglichen Leben entzogen und verliert dadurch ihre Relevanz für die Gegenwart, macht sie aber gleichzeitig zum Ort verlogener Sentimentalität bei der Betrachtung der »renovierten Überbleibsel alter Schrecken«191 und somit zu Repräsentanten jenes ›Kitschs‹, den die Autorin aufs schärfste ablehnt.192 Zum zweiten ist es jene ›Gisela‹, die deutsche Frau eines amerikanischen Kollegen, die keine persönliche Betroffenheit zulässt, um sich ein »akzeptable[s] deutsche[s] Gewissen[]«193 zu erhalten. Die Notwendigkeit, über Schuld und Sühne zu reflektieren, will sie überhaupt nicht erkennen, weil 189 190

191 192 193

Ebd. Vgl. hierzu Weigel, Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust (wie Anm. 119), S. 260f. – Die Nivellierung liegt in der Gleichsetzung der Toten des Tätervolks mit denen der überfallenen Völker und denen der nahezu ausgerotteten Juden, Sinti und Roma sowie allen weiteren Opfern der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Die Gleichsetzung vollzieht die Inschrift, mit der in der Neuen Wache »[d]en Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft« gedacht wird und die das Volk der Täter im Kollektiv der Opfer aufgehen lässt. – Die Vorgeschichte dieser Berliner ›Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft‹, die bis in die frühen 80er Jahre und also die Bonner Republik zurückreicht als Ausdruck jener ›zweiten Schuld‹, die Deutschland durch die Verdrängung der nationalsozialistischen Greueltaten und die Integration ihrer Täter in die bundesrepublikanische Gesellschaft auf sich geladen hat, beschreibt Ralph Giordano: Die zweite Schuld: oder von der Last Deutscher zu sein. Berlin: Verlag Volk und Welt 1990, S. 322–333. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 76. Vgl. hierzu ebd., S. 69–78 und Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Kap. 2, Anm. 42). Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 85.

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sie die Ereignisse des Dritten Reichs und insbesondere die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden umstandslos in eine Aufrechnung von gegenseitig zugefügtem Unrecht in der Geschichte mit einbezieht. Das schließt jede Form von differenzierender Betrachtung oder gar Schuldanerkenntnis aus, weil Schuld – bei einer entsprechenden Interpretation der historischen Ereignisse – in einem Nullsummenspiel verschwindet: Die scheute sich nicht zu vergleichen, nur wurden aus ihren Vergleichen gleich Gleichungen, und schlechte Rechnerin, die sie war, stimmten die Lösungen nicht. Wenn man andererseits gar nicht vergleicht, kommt man auf gar keine Gedanken, und es bleibt beim Leerlauf der kreisrunden Phrasen, wie in den meisten Gedenkreden.194

Ralph Giordano spricht im Zusammenhang mit dieser weit verbreiteten Haltung im Deutschland der späten achtziger Jahre vom ›Verlust der humanitären Orientierung‹, den er in acht paradigmatische ›kollektive Affekte‹ der Geschichtsverdrängung gliedert,195 die allesamt Formen der »Abwehr gegen Leid, das als fremd empfunden wird[,]«196 sind und daher am eigenen individuellen und kollektiven Selbstbewusstsein nagen. – Mit dieser Kritik an ›Giselas‹ nivellierendem Gleichsetzen bei Verteidigung des Vergleichs als heuristisches Instrument auch und gerade zur Erkenntnis und Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen bezieht Ruth Klüger eine eigenständige Position im deutschen ›Historikerstreit‹, der 1986 über die Frage der Singularität des Holocaust ausgebrochen war.197 Ralph Giordano führt diese Auseinandersetzung in seinem bereits zitierten Buch als weiteren Beleg für seine These von der ›zweiten Schuld‹ an: die Thesen Ernst Noltes von den stalinistischen GuLags als Präfigurationen von Hitlers Konzentrationslagern und die Erklärung beider Phänomene als gleichzusetzender Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierungskrisen auf dem Weg von einer agrarisch zu einer industriell geprägten Gesellschaft, die seit dem 19. Jahrhundert in der Literatur ein stehender Topos der utopischen Staatsliteratur von links und rechts sei, sind die jüngsten wissenschaftlich abgesicherten Versuche der Verdrängung und Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen.198 Ruth Klügers Plädoyer für einen Vergleich jenseits plumper Gleichsetzungen, der das vermeintlich ›Einzigartige‹ und ›Unsagbare‹ auch im Gedächtnis der Nachgeborenen verankern will, hat daher den Versuch zum Ziel, eine Anschlussfähigkeit der vermeintlich unvermittelbaren Erfahrungen des Holocaust, 194 195 196 197

198

Ebd., S. 110. Vgl. Giordano, Die zweite Schuld (wie Anm. 190), S. 29–40. Ebd., S. 36. Eine Dokumentation der wichtigsten Beiträge in den deutschen Feuilletons und historischen Fachzeitschriften sind in dem Sammelband »Historikerstreit«: die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München, Zürich: Piper 1987 [Serie Piper; 816], publiziert. Vgl. Giordano, Die zweite Schuld (wie Anm. 190), S. 342–352 und »Historikerstreit«, ebd., S. 13–35 (Beitrag von Ernst Nolte).

4.2 Ruth Klüger

259

die sie selbst ja nur insofern teilt, als sie der drohenden äußersten Gefahr eben noch entkommen konnte, herzustellen.199 So wie sie selbst sich nur vergleichsweise in die tatsächlichen Opfer einfühlen kann, weil sie – bis auf die letzte – die Stationen der Ermordeten in den Lagern geteilt hat, so versucht sie eine Vergleichbarkeit der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse sowohl mit Alltagserlebnissen herzustellen, um etwa die klaustrophobische Enge in den Viehwaggons, in denen die zur Vernichtung Bestimmten in die Lager transportiert wurden, wenigstens annähernd zu vermitteln, als auch mit den Kriegserlebnissen gleichaltriger Deutscher, um den Mantel des Schweigens von den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen zu nehmen:200 Dieses Erlebnis [des Konzentrationslagers; M. M.] ist nicht salonfähig. [...] Über eure Kriegserlebnisse dürft und könnt ihr sprechen, liebe Freunde, ich über meine nicht. Meine Kindheit fällt in das schwarze Loch dieser Diskrepanz.201

Umgekehrt sieht sie diese eigene Erfahrung wiederum nur als eine – wahrscheinlich unzureichende – Vergleichsmöglichkeit an, um sich jene letzte und äußerste Erfahrung vorzustellen, die ihr selbst erspart geblieben ist: Menschen, die in engen Räumen Todesangst erlebt haben, besitzen von daher eine Brücke zum Verständnis für so einen Transport, wie ich ihn beschreibe. So wie ich von meinem Transport her eine Art Verständnis für den Tod in den Gaskammern habe. Oder doch meine, ein solches Verständnis zu haben. Ist denn das Nachdenken über menschliche Zustände jemals etwas anderes als ein Ableiten von dem, was man kennt, zu dem, was man erkennen, als verwandt erkennen kann. Ohne Vergleiche kommt man nicht aus.202

Obwohl sie hier das Unzureichende jedes Vergleichs anerkennt, sieht sie – jenseits der objektivierenden Formen der Geschichtsschreibung – darin die einzige Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse im vollsten Bewusstsein ihrer Differenz203 zu kommunizieren: »Sonst kann man die Sache nur ad acta legen, ein Trauma, das sich der Einfühlung entzieht. Da baut jeder seine eigenen Barrieren auf.«204 Die Stellungnahme zu diesen beiden Formen der kollektiven Verdrängung der Vergangenheit erfolgt bei Ruth Klüger nicht in Form eines Presseartikels oder einer wissenschaftlichen Abhandlung, wie er für die Stellungnahmen im 199 200 201 202 203

204

Vgl. Andrea Reiter: »Ich wollte, es wäre ein Roman«: Ruth Klügers Entwurf vom Überleben. In: Literatur für Leser 23 (2000), S. 224. Vgl. Taylor, Ruth Klüger’s weiter leben (wie Anm. 143), S. 79f. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 109. Ebd., S. 110. Vgl. Christian Angerer: Mitfühlen und mitdenken: Ruth Klügers Autobiographie weiter leben im Deutsch- und Geschichtsunterricht. In: Fächerübergreifender Literaturunterricht: Reflexionen und Perspektiven für die Praxis. Hg. von Günther Bärnthaler und Ulrike Tanzer. Innsbruck, Wien: Studien-Verlag 1999 (die-extra; 5), S. 209. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 110.

260

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Historikerstreit kennzeichnend war, sondern sie ist integriert in ihre Autobiographie und teilt deshalb auch deren radikal subjektive Darstellungsweise. Sie ist in die Form des Dialogangebots an die eigentlichen Adressaten der Autobiographie gekleidet und zeigt in den Reaktionen der Dialogpartner (›Gisela‹, ›Christoph‹ oder auch die beiden ›Zaunanstreicher‹ sowie zahlreiche weitere, nicht namentlich genannte Personen) die individuellen Ausprägungen derjenigen Haltungen, die in objektivierter Form in die Argumentationen der Stellungnahmen im Historikerstreit eingegangen waren. Sie wendet sich damit letztlich gegen die beiden im Historikerstreit vertretenen Paradigmen des Umgangs mit der Vergangenheit, die sie auf ihre Gesprächspartner aufteilt, und setzt ihnen das eigene Konzept als eine – freilich subjektive – weibliche und jüdische Stimme und Perspektive entgegen, die sich innerhalb dieses nahezu ausschließlich von nichtjüdischen deutschen Historikern und Publizisten geführten Streits Gehör zu verschaffen versucht. Die Autobiographie als derjenige Ort, an dem sie ihre Stimme erhebt, sowie die formale Ausgestaltung des Texts verweisen gleichzeitig darauf, dass ihr weniger daran gelegen ist, in diesem akademischen Streit gehört zu werden, als vielmehr daran, vom nicht oder noch nicht akademisch gebildeten Publikum rezipiert zu werden.205 Dies belegt auch der einfache, an den Wiener Sprechduktus zur Zeit ihrer Kindheit angelehnte Stil der Autobiographie, der unter weitgehendem Verzicht auf komplizierte hypotaktische Gebilde ihre Gedanken mitteilt und sich – auch mit den Mitteln der direkten appellativen Leseranrede206 – sein eigenes Publikum sucht, um mit ihm zu streiten – etwa über den richtigen Umgang mit der Vergangenheit oder mit dem allgegenwärtigen Fremden: Für wen schreib ich das hier eigentlich? Also bestimmt schreib ich es nicht für Juden, denn das täte ich gewiß nicht in einer Sprache, die zwar damals, als ich ein Kind war, von so vielen Juden gesprochen, gelesen und geliebt wurde, daß sie manchen als die jüdische Sprache schlechthin galt, die aber heute nur noch sehr wenige Juden gut beherrschen. Also schreib ich es für die, die nicht mit den Tätern und nicht mit den Opfern fühlen wollen oder können, und für die, die es für psychisch ungesund halten, zuviel von den Untaten der Menschen zu lesen und zu hören? Ich 205

206

Vgl. Neva Slibar: Anschreiben gegen das Schweigen: Robert Schindel, Ruth Klüger, die Postmoderne und Vergangenheitsbewältigung. In: Jenseits des Diskurses: Literatur und Sprache in der Postmoderne. Hg. von Albert Berger und Gerda Elisabeth Moser. Wien: Passagen-Verlag 1994, S. 341: »Die Sprachfähigkeit, die Ruth Klüger von so manchem Rezensenten und Zunftkollegen in doppeltem Sinn (Adolf Muschg und Urs Widmer) attestiert wird, bewegt sich in erster Linie innerhalb herkömmlicher diskursiver und narrativer Modelle und ist durchaus einem konventionellen Kommunikationsverständnis verhaftet, was der Textsorte der Jugenderinnerungen freilich entspricht.« – Die abschließende Feststellung ist selbstverständlich Unsinn, wenn man die autobiographische Literatur der Gegenwart betrachtet. Die Orientierung des Textes an ›herkömmlichen diskursiven und narrativen Modellen‹ resultiert vielmehr aus den Erwartungen der Autorin an das Rezeptionsvermögen und -verhalten der angepeilten und erwarteten Leserschaft. Vgl. ebd., S. 340.

4.2 Ruth Klüger

261

schreibe es für die, die finden, daß ich eine Fremdheit ausstrahle, die unüberwindlich ist? Anders gesagt, ich schreib es für Deutsche. Aber seid ihr das wirklich? Wollt ihr wirklich so sein? Ihr müßt euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut; und wenn ich euch »artfremd« erscheine, so will ich auch das hinnehmen (aber ungern) und, falls ich euch durch den Gebrauch dieses bösen Wortes geärgert habe, mich dafür entschuldigen. Aber laßt euch doch mindestens reizen, verschanzt euch nicht, sagt nicht von vornherein, das gehe euch nichts an oder es gehe euch nur innerhalb eines festgelegten, von euch im voraus mit Zirkel und Lineal säuberlich abgegrenzten Rahmens an, ihr hättet ja schon die Photographien mit den Leichenhaufen ausgestanden und euer Pensum an Mitschuld und Mitleid absolviert. Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung.207

Mit dem hier ausgesprochenen Dialogangebot verlässt Ruth Klüger das traditionelle Schema der Autobiographie, das ja im allgemeinen ihr höchstes Ziel in der Selbstreflexion und Selbstdarstellung nach außen findet,208 ohne sich freilich experimentellen Formen des autobiographischen Schreibens zuzuwenden. Die Infragestellung des autobiographischen Subjekts, seines Lebens und seiner Lebensinterpretation in der eigenen Erinnerung, erfolgt zwar auch hier werkimmanent, aber nicht durch Auflösung der Autor-Erzähler-ProtagonistIdentität, sondern in der Auseinandersetzung mit von außen an dieses Subjekt herangetragenen Zweifeln und (In-)Fragestellungen, denen Ruth Klüger das trotzige Beharren auf der eigenen Subjektivität mit all den Widersprüchlichkeiten, die ihre Erinnerungen charakterisieren,209 bei gleichzeitiger Ermunterung zur Infragestellung entgegengesetzt. Ziel der Autobiographie ist also nicht, die bedingungslose Anerkennung des Aufgeschriebenen beim Leser zu forcieren, sondern ihn im Gegenteil dazu zu ermutigen, sich mit dem hier präsentierten Lebensentwurf und seinen Lebensstationen auseinanderzusetzen. Damit wendet sich Ruth Klüger auch gegen einen bislang in der jüdischen Holocaust-Literatur nachweisbaren Ausgrenzungsmechanismus gegenüber all jenen, die die Erfahrung des Lagers nicht kennen und daher nur als »unwürdige Empfänger« der aufgeschriebenen Erinnerungen fungieren, 207 208

209

Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 141. Vgl. Irmela von der Lühe: Das Gefängnis der Erinnerung: Erzählstrategien gegen den Konsum des Schreckens in Ruth Klügers weiter leben. In: Bilder des Holocaust: Literatur – Film – Bildende Kunst. Hg. von Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe. Köln [u. a.]: Böhlau 1997 (Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe; 10), S. 36. Vgl. etwa Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 102f.: »Ich hab Theresienstadt irgendwie geliebt [...]. Ich hab Theresienstadt gehaßt.« – Reiter, »Ich wollte, es wäre ein Roman« (wie Anm. 199), S. 223 bezeichnet dieses Phänomen als Kennzeichen des poststrukturalistischen Denkens in Ruth Klügers Werk: »Widersprüchlichkeit und Subversion, die die poststrukturalistische Theorie als Effekt des freien Spiels der Signifikanten definiert, bestimmen nicht nur weiter leben bis zu einem hohen Grad, sondern sind auch in Klügers Essays nachzuweisen.« – Diese Beobachtung trifft sich mit meinen Ausführungen in Kapitel 4.2.1.

262

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denn nur derjenige, der Auschwitz am eigenen Körper erlitten hat, ist in der Lage, das Beschriebene nachzuvollziehen. Jeden Vergleich wehrt der Autor ab. Die Möglichkeit zum konstruktiven Austausch mit der Täterseite ist von vornherein nicht gegeben.210

Was Ruth Klüger hier versucht, ist die Etablierung eines ›interkulturellen‹ Dialogs zwischen Deutschen und Juden, zwischen Mann und Frau, in dem sie selbst gewillt ist, als Frau und Jüdin die Position einer zweifach marginalisierten Minderheit offensiv zu vertreten und gegen die Mehrheitsmeinung zu verteidigen. Sie wendet sich ausdrücklich gegen eine oberflächliche Versöhnung,211 die letztlich in der Aufgabe der Position der marginalisierten Minderheit besteht, indem sie auf dem Status ihrer ›Fremdheit‹, ihrer Andersartigkeit besteht, aus dem heraus sich ihre sehr individuelle Perspektive herleitet.212 Sie besteht auf der Offenhaltung der Differenz jenseits der gemeinsamen Sprache und verwahrt sich schon in ihrem Dialogangebot gegen jede Form der Vereinnahmung, wie sie etwa Martin Walser – der ›Christoph‹ der Autobiographie – bei ihrer Vorstellung in einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks vom 27.9.1992 versucht hat: Ich glaube eben, es sei nicht der Ausweis, der sagt, wozu man gehört, sondern die Sprache. Wenn ich auch keinen Ort und keine Gesellschaft angeben kann, wenn ich von Rückkehr spreche, so ist eins doch unabweisbar und ganz frei vom Verdacht, die Zurückkehrende vereinnahmen zu wollen: Ruth Klüger ist zurückgekehrt in die deutsche Sprache; und dies sofort auf meisterhafte Art. Deshalb darf ich sie so begrüßen: Welcome back!213

In diesen Sätzen – sowohl im Zitat von Ruth Klüger als auch in Martin Walsers Begrüßungsworten – versteckt sich die Erkenntnis der doppelten Aporie, die ihrem Dialogangebot innewohnt. Es ist zum einen die mangelnde Anschlussfähigkeit der eigenen Erinnerungen bei den Nachgeborenen und hier vor allem bei den Nachgeborenen der Täter, für deren Unverständnis und mangelnde Bereitschaft zum Zuhören paradigmatisch jene ›Gisela‹ steht, deren 210

211 212

213

Irène Heidelberger-Leonard: Ruth Klüger weiter leben – ein Grundstein zu einem neuen Auschwitz-»Kanon«? In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Hg. von Stephan Braese. Frankfurt am Main, New York: Campus 1998 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts; 6), S. 159. Vgl. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 279. Vgl. zu dieser Interpretation des ›deutsch-jüdischen Gesprächs‹ die These von Scholem, Judaica II (wie Kap. 3, Anm. 201), der dieses scheinbar gleichberechtigte Gespräch, das sich seit der jüdischen Aufklärung, der ›Haskalah‹ des späten 18. Jahrhunderts, abzuzeichnen begann und ein Jahrhundert später in der Emanzipation und Assimilation des Kaiserreichs gipfelte, als unter der Bedingung der Selbstpreisgabe der tradierten jüdischen Identität erkauft entlarvte. – Vgl. hierzu Braese/Gehle, Von »deutschen Freunden« (wie Anm. 106), S. 80, die in ihrer Rezeptionsanalyse darlegen, dass die deutsche Kritik sich genau jener Vereinnahmung und Einebnung jeder störenden Differenz schuldig gemacht hat, die bereits Scholem in seinem Aufsatz beklagt bzw. als Voraussetzung des Dialogs erkannt hatte. Zitiert nach: ebd., S. 85.

4.2 Ruth Klüger

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Erinnerungsvermögen sich in falschen Vergleichen zur Exkulpierung der eigenen Erinnerungen erschöpft. Zum anderen ist hier die sentimentale Selbstbespiegelung zu nennen, die sich in letzter Konsequenz nicht um die Opfer kümmert, sondern lediglich – wie bereits beim Erinnerungsmodell ›Gisela‹ – zur Beruhigung und Erforschung des eigenen Gewissens dient. Repräsentanten dieses Erinnerungsmodells sind die jugendlichen ›Zaunanstreicher‹ in Auschwitz, die »nur beharrlich festh[alten] an dem, was übrig blieb, dem Ort, den Steinen, der Asche.«214 Andererseits ist dazu auch ›Christoph‹ zu zählen, der »wie alle deutschen Intellektuellen [...] sein Wort zu Auschwitz gesagt hatte«215 und die Freundin und ehemalige Insassin des Lagers nicht über ihre dortigen Erfahrungen befragt hat, bevor er seinen Aufsatz geschrieben hat, um die eigene Identität, die eigene Position und die eigene Erinnerung nicht in Frage stellen zu müssen: Was mir am meisten imponierte und mich gleichzeitig irritierte, war, daß der seine Identität hatte. Der war beheimatet in Deutschland, verwurzelt in einer bestimmten deutschen Landschaft und wurde für mich der Inbegriff des Deutschen. Der wußte, wo und wer er war. Auch heute noch. Großzügig, liebenswürdig zieht er aus, die Fremde zu erobern, und dabei will er nicht mehr von ihr lernen, als ohne Gefährdung der Eigenständigkeit zu machen ist.216

»Erinnerung verbindet uns, Erinnerung trennt uns«217 ist die resignierte Erkenntnis aus dem Dialogangebot und den im Buch erzählten Reaktionen darauf. Vor allem Irene Heidelberger-Leonard hat das die Autobiographie abschließende Gedicht »Aussageverweigerung« daher auch als Rücknahme des Dialogangebots bezeichnet,218 ohne zu berücksichtigen, dass die Autorin selbst 214 215 216

217 218

Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 70. Ebd., S. 215. Ebd., S. 211f. – Vgl. hierzu auch Bernd Witte: Jüdische und deutsche NichtIdentität? Zu Ruth Klügers weiter leben. In: Germanistik: disziplinäre Identität und kulturelle Leistung: Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Hg. von Ludwig Jäger. Weinheim: Beltz, Athenäum 1995, S. 346. – Aus dieser Haltung gegenüber Ruth Klüger und ihren Erfahrungen wird auch Walsers Position in der Walser-Bubis-Debatte deutlich, die in der Verabsolutierung der eigenen Erinnerung und der Hoheit über diese Erinnerung besteht: Martin Walser: Die Banalität des Guten: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 236 vom 12.10.1998, S. 15 hat »es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen« und möglicherweise daraus die Rechtfertigung gezogen, den Versuch nicht einmal unternommen zu haben, deren Perspektive zu erkennen und zu verstehen. Er hat das Thema in seinem Aufsatz »Unser Auschwitz« abgehandelt (›die Vergangenheit bewältigt‹), und damit ist es letztinstanzlich geklärt; einer weiteren »Dauerpräsentation unserer Schande« bedarf es nicht mehr. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 218. Vgl. Heidelberger-Leonard, Auschwitz, Weiss und Walser (wie Anm. 175), S. 81: »Von versuchter Nähe und fatalem Scheitern handelt auch Ruth Klügers Buch. Die versuchte Nähe dokumentiert sich bei ihr in der offenherzigen Widmung an die deutschen Freunde. Das fatale Scheitern liegt in Klügers Schlussgedicht besiegelt –

264

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das Gedicht als »aus den sechziger Jahren [stammend], als ich zum ersten oder zweiten Mal wieder in Deutschland war«219 kennzeichnet und somit einer Erinnerungs- bzw. Verdrängungsstufe zugehörig zuweist, die sie selbst nach ihrem Göttinger Unfall überwunden hat, wo sie die ›Gespenster‹ der Vergangenheit gezwungen haben, sich mit dem lange Verdrängten auseinanderzusetzen: »Schließlich haben sie mir ein Bein gestellt, so dass ich auf den Kopf fiel, und was mir danach einfiel, oder was dabei herausfiel, hab ich ausgesagt.«220 Die hinter dem Dialogangebot kaum versteckte Frage nach der ›Darstellbarkeit‹ des Holocaust, die Ruth Klüger ja nicht nur für die nicht- und semifiktionale (wissenschaftliche und autobiographische Literatur etwa), sondern auch für die fiktionale Literatur und andere Kunstgattungen vehement bejaht hat, beantwortet die Literaturwissenschaftlerin in einem 1992 – also im selben Jahr wie die Autobiographie – erschienenen Aufsatz »Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord«. Hier warnt sie vor der »rührselige[n] Vergangenheitsbewältigung in der gängigen Literatur«,221 die Ruth Klüger zufolge eine Hypostase der Erinnerung darstellt, weil sie sie deren eigentlicher Funktion, der Erinnerung an etwas oder an jemanden, nahezu vollständig entkleidet und lediglich als Trägersubstanz für die eigene Sentimentalität missbraucht. Die Gegenstände der Erinnerung, das etwas, an das erinnert wird, mutieren dabei – mit Ludwig Giesz – zum »Vergangenheits-Fetisch«, der nur in Bezug auf den Betrachter noch eine Funktion erfüllt, die aber völlig losgelöst ist von ihren Ursprungskontext und dadurch zum Kitsch wird.222 In ihrer Autobiographie ist Ruth Klüger deshalb auch bestrebt, der Versuchung aller Autobiographen, der Nostalgie, d. h. der Verklärung der Vergangenheit aus in der Gegenwart des Autobiographen liegenden Motiven, zu entkommen und die Vergangenheit mit all ihren Brüchen und Widersprüchlichkeiten darzustellen: Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit, sondern ist eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit. Und zwar deshalb, weil wir ja keine Kontrolle über das, was schon passiert ist, haben, weder als Einzelne noch als Mitglieder einer Gruppe. Erlebtes wurde von außen herangetragen, ist verinnerlicht worden, ist gefährlich, kann sich als Widersacher aufführen.223

219 220 221 222 223

Aussageverweigerung nennt sie es und stellt die Legitimation des ganzen Buches, in dem zeilenweise Verständigungsmöglichkeiten aufleuchteten, mit diesem radikalen Rückzieher wieder in Frage. Dabei dürfte die Unerbittlichkeit des Schlusses keineswegs überraschen, denn Klügers Buch ist von vornherein als Widerruf konzipiert[.]« – Vgl. auch Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend: Interpretation (wie Anm. 106), S. 50, dagegen etwa Bauschinger, Uns verbindet, was uns trennt (wie Anm. 106), S. 131. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 283. Ebd., S. 284. Klüger, Dichten über die Shoah (wie Kap. 2, Anm. 67), S. 219. Vgl. Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Kap. 2, Anm. 42), S. 42. Ebd., S. 30.

4.2 Ruth Klüger

265

Daraus folgert Ruth Klüger aber nicht notwendig die Preisgabe ihrer Eigenständigkeit als Subjekt und ihrer mit dem Subjektstatus verbundenen individuellen Erinnerungen an die eigene Vergangenheit, die selbstverständlich in einen überindividuellen und kollektiven Bezugsrahmen eingebunden sind, sondern entwickelt die bereits häufig zitierte Idee der ›Kommensurabilität‹. Mit dieser Idee stellt Klüger die eigenen Erinnerungen in einen übergeordneten Zusammenhang, der über die unabweisbare Partikularität und Fragmentarizität des trotz aller Verlockungen des – angesichts des traumatischen Charakters überhaupt Erinnerbaren – Verdrängens dennoch Erinnerten hinausreicht. Um diese ›Kommensurabilität‹ zu gewährleisten, verzichtet sie auf jene Formen experimentellen Schreibens, die sich mit dem Unsagbarkeitspostulat Adornos und seiner Nachfolger verbinden und eigentlich ›Unlesbarkeit‹ meinen, weil sie ja von dem vermeintlich Unsagbaren schreiben, sich dabei aber einer hochartifiziellen und hermetischen Sprache bedienen, die große Teile des Publikums ausschließt. Dagegen plädiert Ruth Klüger in dem bereits zitierten Aufsatz von 1992 für eine althergebrachte literarische Gattung, in der ein durchaus eigenständiges, fest in der empirischen Wirklichkeit verankertes Subjekt mit einer Vergangenheit konfrontiert wird, die sich zunächst als bedrohlich ›inkommensurabel‹ mit der Gegenwart zeigt und eine ernste Gefährdung für die Identität des Subjekts darstellt: Wenn ich eine frei erfundene Geschichte zum Thema der jüdischen Katastrophe schreiben müßte, so würde ich keinen realistischen Rahmen wählen. Ich würde eine Gespenstergeschichte erfinden, denn ein Gespenst ist etwas Ungelöstes, besonders ein verletztes Tabu, ein unverarbeitetes Verbrechen.224

Obwohl die ›Gespenster‹ bzw. der ›Spuk‹ bei Ruth Klüger nicht zum »Zentralmotiv [des] Textes werden, so dass ihr Wesen und Erscheinen im Mittelpunkt der Handlung steht und für Handlungsverlauf und Erzählaufbau konstituierend wird,«225 es sich bei weiter leben also nicht um eine reine Gespenstergeschichte handelt, enthält die Autobiographie zahlreiche Elemente der Gespenstergeschichte, die im folgenden kurz anhand der von Gero von Wilpert entwickelten Phänomenologie dargestellt werden sollen.226 Ruth Klügers Gespenster sind 224 225

226

Klüger, Dichten über die Shoah (wie Kap. 2, Anm. 67), S. 220. So definiert Gero von Wilpert: Die deutsche Gespenstergeschichte: Motiv – Form – Entwicklung. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 406), S. 32, die Gattung ›Gespenstergeschichte‹. Witte, Jüdische und deutsche Nicht-Identität? (wie Anm. 216), S. 346 weist darauf hin, dass weiter leben in der Kritik viel eher – in Übereinstimmung mit dem bereits mehrfach zitierten von Stephan Braese und Holger Gehle aufgestellten Rezeptionsschema – als ›Märchen‹ mit nach zahlreichen erfolgreich bestandenen Abenteuern und überwundenen Gefahren letztlich gutem Ausgang interpretiert worden ist. – Den Versuch des Nachweises von Motiven und Stilelementen des Märchens in Ruth Klügers Autobiographie unternehmen Taylor, Ruth Klüger’s weiter leben (wie Anm. 143), S. 80–82 und Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger weiter leben

266

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schreckenerregende, anthropomorph zumindest gedachte Erscheinung[en], die [...] über eine durchaus zielstrebige Individualität und einen Willen verfüg[en] und aufgrund ihrer körperhaft vorgestellten Menschengestalt als ehemalige[r] Mensch[en], meist als Totengeist[er], Wiedergänger, Revenant[s], also umgehende[r] Geist[er] [von] Verstorbenen, verstanden w[erden.]227

Sie spuken aus den von Wilpert definierten Gründen der besonderen Todesumstände und der Schuldgefühle der mit ihnen zumeist in enger persönlicher oder verwandtschaftlicher Beziehung stehenden Überlebenden gegenüber diesen Toten, die sie durch ihr Spuken zur Einlösung der ›Schuld‹ zwingen wollen,228 und während einer gleichfalls dort definierten Dauer, nämlich solange bis diese ›Schuld‹ abgetragen ist.229 Ruth Klügers Buch ist der Versuch, den Gespenstern ein ›kommensurables‹ Umfeld jenseits der herrschenden Museums- und Gedenkstättenkultur zu geben und sie dadurch, dass sie von ihnen erzählt, zu erlösen, so dass sie nicht mehr gezwungen sind, in einer Zeit, die nicht die ihre ist, herumzuspuken. Diese Interpretation macht die Gespenster also weniger zu »Figur[en] eines irrational dämonistischen Weltbildes, sondern [zu] Metapher[n] für vieles Unsagbare und Beängstigende, Uneingestandene und Verunsichernde auch im modernen Weltbild[.]«230 Weil die Präsenz dieser ›Gespenster‹ die Autorin schließlich dazu gezwungen hat, sich ihnen zu stellen und sie durch das Erzählen zu erlösen, gelingt ihr dadurch, dass sie sich in der Erzählung ihren verdrängten Erinnerungen stellt, die Überwindung der Traumata ihrer Kindheit, die sie nach der Auseinandersetzung mit ihnen weitgehend in die traditionellen Formen der Autobiographie kleiden kann:231 »Jetzt könnten sie mich in Ruhe lassen und mir weiteres Umziehen ersparen.«232

227 228 229 230 231

232

(wie Anm. 210), S. 162 in Anlehnung an Klügers Bericht ihres Besuchs einer Vorstellung der Walt Disney-Verfilmung von »Schneewittchen« (weiter leben: eine Jugend [wie Kap. 2, Anm. 21], S. 45–48). – Eine Analyse des Werkes als ›Gespenstergeschichte‹ steht hingegen noch aus. v. Wilpert, Die deutsche Gespenstergeschichte (wie Anm. 225), S. 8f. Vgl. ebd., S. 11f. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 50. Eva Lezzi (Zerstörte Kindheit [wie Anm. 140]) liest die von ihr untersuchten Autobiographien vorwiegend als Zeugnisse kindlicher Traumatisierungserfahrungen, darunter auch weiter leben. Im Gegensatz dazu halte ich weiter leben gerade nicht für den literarischen Ausdruck dieser Traumatisierungserfahrung – wie etwa die autobiographischen Erzählungen Georges-Arthur Goldschmidts –, sondern im Gegenteil für den Ausdruck autobiographischen Schreibens nach ihrer Überwindung – wie das auch für Goldschmidts Autobiographie Über die Flüsse gilt. Dies erklärt, weshalb sich Ruth Klüger gegen alle diesbezüglichen Vereinnahmungsstrategien aufs heftigste wehrt und psychoanalytische Deutungen ihres Texts, die ihn ja nur als Ausdruck eines psychopathologischen Befundes lesen könnten, ablehnt. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 284.

4.2 Ruth Klüger

267

Ruth Klügers ›Gespenster‹ sind in ihrer Funktion sicherlich vergleichbar mit dem ›Golem‹, der Ludwig Greves Erinnerungen und ihre Niederschrift angeregt hat. Beiden Motiven ist die psychoanalytische Grundierung ihrer Funktion als Stimulans der Erinnerung gemeinsam. Beide geraten im zunehmenden Verlauf der Erzählung immer mehr in den Hintergrund der Darstellung, weil je weiter der Erinnerungsprozess gegen die Widerstände des Unbewussten voranschreitet der Schuldkomplex gegenüber den Ermordeten sich auflöst. Die Überlebenden befreien sich, indem sie die Verdrängung der Erinnerung überwinden, von einer Schuld, die im Vergessen besteht und durch Erinnerung getilgt wird. Indem die Ermordeten durch die Erinnerung ins Leben bzw. ins Bewusstsein der Überlebenden zurückgeholt werden, verlieren sie ihren unheimlichen Charakter. Zu den ›Gespenstern‹, die Ruth Klüger nie verlassen haben, zählen alle jene Toten, alle jene nicht zu Ende gelebten Leben, die »Kette von Erinnerungen an verlorene Menschen, an Fäden, die nicht weitergesponnen wurden«,233 die ihr »zu schaffen machen, weil ich am Leben war«,234 jene aber nicht mehr. Zu nennen sind hier vor allem der Vater und der Bruder, aber auch alle anderen Ermordeten, die in irgendeiner durch den Holocaust zerschnittenen Beziehung zu der Autobiographin gestanden haben. Es sind jedoch nicht nur die Schuldgefühle der Überlebenden jenen gegenüber, die nicht überlebt haben,235 es ist darüber hinaus ein unbewältigtes und letztlich wohl auch nicht zu bewältigendes Verlustgefühl, das sich nicht durch religiöse Kompensation lindern lässt, weil die jüdische Religion die Zeremonien und Riten des Gedenkens den Männern vorbehält: Nicht los werde ich den Impuls, ihn zu feiern, eine Zeremonie, eine Totenfeier für ihn zu finden oder zu erfinden. Doch Feierlichkeiten sind mir suspekt, lächerlich, und ich wüßte auch nicht, wie ich es anstellen sollte. Bei uns Juden sagen nur die Männer den Kaddisch, das Totengebet. [...] Wär’s anders und ich könnte sozusagen offiziell um meine Gespenster trauern, zum Beispiel für meinen Vater Kaddisch sagen, dann könnte ich mich eventuell mit dieser Religion anfreunden[.]236

Die Verlusterfahrung ruft eine Leerstelle in der Erinnerung hervor, die sich nicht auffüllen lässt, weil die Autorin durch den Mangel an ›kommensurablen‹ Erinnerungen an jene Toten ihrem selbst aufgestellten Postulat, jeden »denkende[n] Mensch[en], der dahinter steckt und sein Leben bewältigt«237 in seiner Ganzheit darzustellen und sein Handeln zu verstehen, nicht gerecht werden kann. Mit diesem Anliegen trifft Ruth Klüger nicht nur eine individuell im Kontext ihrer Autobiographie gültige Feststellung, sondern bezieht darüber hinaus auch Stellung im Zusammenhang mit der jüdischen Geschichtserinnerung, zu der sie – freilich aus einer säkularisierten Weltsicht heraus – ihren Beitrag 233 234 235 236 237

Ebd., S. 85. Ebd., S. 243. Vgl. etwa ebd., S. 11. Ebd., S. 23. Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Kap. 2, Anm. 42), S. 36.

268

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

leistet. Durch den Leitgedanken der ›Kommensurabilität‹ erhebt sie die Individualität ihrer Erinnerungen an die eigene Vergangenheit und des Gedenkens an ihre Toten sowohl in den Bereich der kollektiven Geschichtserinnerung als auch in eine universale Perspektive, die Position bezieht gegen jegliche Form von Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung, die sie – wie bereits gezeigt – ihr ganzes Leben hindurch erfahren hat, wenngleich in deutlich abgeschwächtem Maßstab, weshalb sie die ›Einzigartigkeit‹ des Holocaust in seiner unvorstellbaren Grausamkeit und in seinem unvorstellbaren Ausmaß nicht abstreitet oder relativiert. Statt dessen benennt sie zusätzlich und auch innerhalb des Holocaust differenziert weitere Ausschließungs- und Verfolgungsmechanismen, etwa die Hierarchie in den Lagern, in der die ›Politischen‹ deutlich über den rassisch Verfolgten rangieren,238 in der die Lagerverwaltung Gefangene zur Unterdrückung von Mitgefangenen einsetzt,239 in der sich die deutschen Juden erhaben über die tschechischen oder polnischen bzw. umgekehrt240 dünken, in der die Männer selbstverständlich hoch über den Frauen stehen – obwohl ihnen allen letztlich dasselbe Schicksal bestimmt ist, nämlich der Tod im Gas. Mit dem Beharren auf ihrer persönlichen Identität und ihrem individuellen Schicksal sowie dem Anspruch, den Individualitäten der erinnerten Personen in ihrer Autobiographie möglichst gerecht zu werden, ist ein weiteres Charakteristikum der Geschichtserinnerung bei Ruth Klüger benannt. Es ist nicht das Zurücktreten der kollektiven Katastrophe hinter das individuelle Schicksal und damit eine Verharmlosung des Gesamtgeschehens, sondern vielmehr das exemplarische Herausheben des individuellen Leids aus der gesichtslosen Masse des Opferkollektivs. Dieses Bild liegt den meisten wissenschaftlichen Studien, aber auch zahlreichen Erlebnisberichten von Überlebenden der Konzentrationslager zugrunde, die sich viel eher um Strukturen und allenfalls durch besondere Grausamkeit herausragende Täter kümmern als um die Individualität der Opfer und ihres je eigenen Todes, an dessen Kenntnis und Mitteilung Ruth Klüger seit ihrer frühesten Kindheit gelegen war, als »[d]er Tod, nicht Sex [...] das Geheimnis [war], worüber die Erwachsenen tuschelten«.241 Damit klingt bereits im ersten Satz der Autobiographie das – neben der Flucht vor dem drohenden Tod – wichtigste Leitmotiv des gesamten Texts an. Nur der je eigene Tod gewährleistet die Individualität der Ermordeten und ermöglicht den Überlebenden die Auseinandersetzung mit den Getöteten, die Ruth Klüger ihre ›Gespenster‹ nennt: Es ist schon wichtig, wie und wo einem etwas passiert, nicht nur, was einem passiert. Sogar der Tod. Besonders der, besonders die Tode; weil es ihrer so viele gibt, liegt viel daran, welchen Todes man stirbt.242 238 239 240 241 242

Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 74. Vgl. ebd., S. 121. Vgl. ebd., S. 92 und S. 149. Ebd., S. 7. Ebd., S. 33.

4.2 Ruth Klüger

269

Wo kein Grab ist, hört die Trauerarbeit nicht auf. Oder wir werden wie die Tiere und leisten gar keine. Mit Grab meine ich nicht eine Stelle auf einem Friedhof, sondern das Wissen um das Sterben, den Tod eines Nahestehenden.243

Fehlt dieses Wissen, bleiben die Toten unerlöst, und sie sind gezwungen, weiter als ›Gespenster‹ umzugehen und die Überlebenden heimzusuchen – solange, bis diese sich ihrer Aufgabe stellen und die Toten begraben, d. h. sich mit ihrem Leben und Sterben auseinandersetzen. Für Ruth Klüger, die noch ein Kind war, als die Nazis jene Toten industriell produzierten, die sie bis in die Gegenwart als ›Gespenster‹ besuchen, ist diese Aufgabe doppelt schwierig, weil sie über keine zusammenhängenden Erinnerungen verfügt: weder an den Vater, den die Tochter nach einem banalen Streit ohne sich mit ihm zu versöhnen ins Exil gehen lassen musste, von wo aus er schließlich deportiert wurde, um in den Gaskammern von Auschwitz getötet zu werden,244 noch an den Halbbruder, der »mein erstes Vorbild und wohl das einzige uneingeschränkte«245 war und von einer Urlaubsreise zu seinem leiblichen Vater nach Prag nicht zurückkehrte und schließlich in Riga während eines Transports ermordet wurde.246 Ruth Klügers Skrupulosität im Umgang mit ihrer Vergangenheit und den Erinnerungen daran beruht auf der Fragmentarizität ihrer Erinnerungen, die sie nicht einmal die Umstände des Todes ihrer beiden engsten Verwandten kennen lässt. Von beider Todesumstände erfährt sie erst viel später und durch Konsultation alter Dokumente bzw. zufällig durch das Gespräch mit einem Historiker, der von seinen Quellenstudien zur Judenvernichtung berichtet. Aus der Fragmentarizität und ›Inkommensurabilität‹ der Erinnerungen erklärt sich, warum sie für ihre Toten über lange Jahre und Jahrzehnte hinweg keine solchen Grabmäler zimmern kann: sie kann ihnen in ihrer Individualität damit nicht gerecht werden. Die Erinnerungsfragmente, die sich über all die Zeit hinweg gehalten haben und sich teilweise an den geretteten ›Erinnerungs-Fetischen‹, etwa dem Taschenmesser des Bruders,247 festmachen, bergen viel eher die Gefahr der Selbstbespiegelung des eigenen Gefühls in sich. Sie wären also eher jenem Kitsch der Erinnerung zuzuordnen, den Ruth Klüger in der Literatur und in den anderen Künsten so vehement ablehnt, als dass sie den Toten in ihrer Individualität gerecht werden: So verführen gerade die genauesten Erinnerungen zur Unwahrheit, weil sie sich auf nichts einlassen, was außerhalb ihrer selbst liegt, und den auf ein später entwickeltes Urteil und weiteres Wissen gegründeten Gedanken stur ihre eigene Beschränktheit entgegensetzen und daher auch keine kommensurablen Gefühle aufkommen lassen. Keine Notwendigkeit hält diese disparaten Vaterfragmente zusammen, und so ergibt

243 244 245 246 247

Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 33–36. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 92–99. Ebd., S. 27.

270

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

sich keine Tragödie daraus, nur hilflose Verbindungen, die ins Leere stoßen oder sich in Rührseligkeit erschöpfen. Ich kann’s nicht besser machen und versuche vor allem, dieses, wie mir scheint, unlösbare Dilemma am Beispiel meiner eigenen Unzulänglichkeit zu demonstrieren. Mein Vater ist zum Gespenst geworden. Unerlöst geistert er. Gespenstergeschichten sollte man schreiben können.248

Statt dessen schreibt sie eine Autobiographie, die neben einem Zeugnis des eigenen gelebten Lebens auch eine Art Kaddisch, ein säkulares Totengebet zur Bewahrung der Erinnerung an ihre Toten, darstellt.249 Das Gespenstermotiv hält die Aporie offen, die durch die Diskrepanz zwischen ihrem Wunsch, »für meinen Vater Kaddisch sagen«250 zu können, und seiner Unmöglichkeit durch die Skrupulosität ihres Erinnerungsmodells besteht, weshalb der Aussage von Jennifer Taylor nur unter dieser Einschränkung zugestimmt werden kann: The book becomes the kaddish she never said for her father, for her grandfather, and for her lost brother, for even as she complains bitterly about not having been allowed to say the prayer, she begins to remember her father, to recount his life, and to mourn for him.251

Der Aufrechterhaltung der Differenz zwischen erinnerter Vergangenheit und gelebter Gegenwart und der daraus resultierenden Aporie jeder Erinnerung jenseits aller notwendigen Vergleichbarkeit dient das Konzept der ›Zeitschaften‹, das Ruth Klüger ihrer Form der Autobiographie zugrunde legt. Sie entwickelt dieses Konzept in dem »Die Lager« betitelten zweiten Teil von weiter leben in direkter Auseinandersetzung mit Peter Weiss’ Aufsatz »Meine Ortschaft« und im Dialog mit den beiden jugendlichen ›Zaunanstreichern‹, die die Gedenkstätte Auschwitz bewahren helfen. Nicht ausdrücklich aber dennoch erkennbar ist es auch eine Kritik an Martin Walsers gleichfalls zur Zeit der Frankfurter Auschwitz-Prozesse geschriebenem Aufsatz »Unser Auschwitz«, der die Vereinnahmung der Ortschaft – wie auch bei Peter Weiss – bereits im Titel führt, hier aber die von Ruth Klüger so vehement angegriffene Ausgrenzung des Fremden und die Marginalisierung der Opfer zum Ziel hat252 und damit als reine Selbstbespiegelung Ruth Klügers Definition des Kitsches nahezu paradigmatisch erfüllt. 248 249

250 251 252

Ebd., S. 28. Taylor, Ruth Klüger’s weiter leben (wie Anm. 143), S. 86 macht deshalb auf die doppelte Bedeutung des Titels für die Überlebenden und ihre Toten aufmerksam: »Her title and the book itself is an ambiguous exhortation to both the living and the dead to live on, if only in memory[.]« Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 23. Taylor, Ruth Klüger’s weiter leben (wie Anm. 143), S. 83. Vgl. Heidelberger-Leonard, Auschwitz, Weiss und Walser (wie Anm. 175), die Ruth Klügers ›Zeitschaften‹ in Zusammenhang mit den genannten Aufsätzen bringt und als Ergebnis die Unvereinbarkeit der deutschen und der jüdischen Perspektive auf diesen Sachverhalt konstatiert.

4.2 Ruth Klüger

271

Das Konzept der ›Zeitschaften‹ soll dieser Schwierigkeit, der Martin Walser sowie die ›Zaunanstreicher‹ erliegen und der Peter Weiss knapp entgeht, für Ruth Klügers eigenes Schreiben ein Konzept entgegensetzen, das diese Gefahr bannt, in der sie bei der Darstellung der eigenen Erinnerung an Vater und Bruder – auch für sie selbst deutlich erkennbar und thematisiert253 – schwebt. Den Neologismus ›Zeitschaft‹ verwendet sie deshalb, »um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.«254 Die Ortsnamen der einzelnen Kapitelüberschriften sind daher nur bei oberflächlicher Betrachtung als Ausdruck traditioneller Autobiographik zu werten, weil sie für die Autorin eben nicht Kontinuität signalisieren, sondern nur »Pfeiler gesprengter Brücken«255 sind, Brücken, die neu gebaut, neu erfunden werden müssen, um tragfähig zu werden für die Erinnerung an die eigene Vergangenheit.256 Dazu taugen insbesondere die Museen, wie etwa in Auschwitz oder Dachau, nicht, die über eine Rekonstruktion der materiellen Reste der Vergangenheit die damaligen Menschen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse innerhalb des Bezirks der Baracken, Lagerstraßen und Appellplätze vernachlässigen und die Besucher durch die zwangsläufige Sterilität einer solchen Rekonstruktion eher ein »Gespensterhaus«257 oder ein ›Ferienlager‹ assoziieren lassen denn ein nationalsozialistisches Vernichtungslager: Dachau hab ich einmal besucht, weil amerikanische Bekannte es wünschten. Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde. Steine, Holz, Baracken, Appellplatz. Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind, und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben. Und heimlich denkt wohl mancher Besucher, er hätte es schon schlimmer gehabt als die Häftlinge da in dem ordentlichen deutschen Lager. Das mindeste, was dazu gehörte, wäre die Ausdünstung menschlicher Körper, der Geruch und die Ausstrahlung von Angst, die geballte Aggressivität, das reduzierte Leben.258

Darum bezeichnet es Ruth Klüger auch als »Aberglaube [...], [...] dass die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein.«259 Statt dessen erkennt sie in den Museen und Gedenkstätten nur Repräsentanten jenes Kitschs der Erinnerung, der sich der schon mehrmals genannten ›Erinnerungs-Fetische‹ bedient, der »weg von dem Gegenstand, auf den sie 253 254 255 256

257 258 259

Vgl. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 27. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Vgl. Jakob Hessing: Spiegelbilder der Zeit – Wolfgang Koeppen und Ruth Klüger. In: In der Sprache der Täter: neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hg. von Stephan Braese. Opladen [u. a.]: Westdeutscher Verlag 1998, S. 115. Klüger, weiter leben: eine Jugend (wie Kap. 2, Anm. 21), S. 76. Ebd., S. 77. Ebd., S. 76.

272

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle«260 führt. Sie bezeichnet Gedenkstätten, etwa diejenige in Auschwitz, als instrumentalisierbar, weil »sie oft ebensoviel [verschweigen] wie sie vermitteln«,261 etwa den polnischen Antisemitismus, der in der Vereinnahmung der getöteten polnischen Juden als polnische Opfer eine Form der Geschichtsklitterung darstellt, die sich mit Ruth Klügers sehr differenzierter Opferperspektive nicht verträgt.262 Die ›Zeitschaften‹ hingegen halten diese Differenz offen, indem sie Vergangenheit und Gegenwart einen jeweiligen Eigenwert zuerkennen, der nicht aufgrund einer scheinbaren Verlängerung der Vergangenheit in die Gegenwart hinein durch die Bewahrung und Rekonstruktion materieller Hinterlassenschaften Authentizität suggeriert, sondern in der bewussten und erkennbaren Aufladung der Vergangenheit mit Gegenwartsbezügen eine Erinnerung jenseits der Grenzen des bloßen Kitschs ermöglicht, die sowohl die Alterität der Vergangenheit bewahrt als auch durch den Leitgedanken der ›Kommensurabilität‹ diesen Bruch, den die Betonung der Alterität markiert, überwindbar macht.

4.3

Georges-Arthur Goldschmidt

In dem diese Arbeit einleitenden Forschungsbericht wurde die Frage nach der Gattungsdefinition der Autobiographie im Spannungsfeld von Dichtung und Wahrheit, von literarischem Werk und historischer Quelle, die Frage nach ihrer Fiktionalität bzw. nach ihrer Faktizität sowie diejenige nach dem Subjektdiskurs, der dem autobiographischen Anliegen zugrunde liegt, bereits gestellt und dilatorisch behandelt: Es gibt keine definitiven textimmanenten Merkmale zur Unterscheidung der Autobiographie von den fiktionalen Literaturgattungen, obwohl die Autobiographie einen Anspruch auf Nichtfiktionalität erhebt, der sich allerdings werkimmanent nicht verifizieren lässt und mit zunehmender historischer Distanz auch aus außerliterarischen Quellen immer schwieriger zu verifizieren ist.263 Der Vorschlag, durch Rekurs auf paratextuelle Elemente, die eine Identität von Hauptfigur, Erzähler und Autor beweisen können, die Gattung zu definieren, weist über den reinen Text hinaus (ist also auf die Existenz solcher Informationen angewiesen) und ermöglicht darüber 260 261 262 263

Ebd. Ebd., S. 78. Vgl. ebd. und Hessing, Spiegelbilder der Zeit (wie Anm. 256), S. 112f. Dieselbe Beobachtung gilt natürlich auch für die Geschichtsschreibung, die sich nicht (unbedingt) in der verwandten Sprache von den Werken der schönen Literatur unterscheidet, sondern hauptsächlich in ihrem Anspruch, historische und nicht ästhetische Wahrheit zu zeigen. Das literarische Werk gehorcht also den Gesetzen der jeweils zugrunde liegenden Poetik, das historische Werk der Kontingenz der faktischen Ereignisse, die sowohl die Auswahl des Dargestellten als auch die Suche nach Zusammenhängen motivieren.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

273

hinaus nur die Identifikation traditioneller Formen der Autobiographie. Er erweist sich – wie Philippe Lejeune, der Verfasser dieses Vorschlags, selbst erkannt hat – als inadäquat zur Erfassung moderner Formen autobiographischen Schreibens, die eben die fraglosen Voraussetzungen traditioneller Autobiographik (personale Identität, objektive Darstellung des eigenen Lebens, Unterscheidung von Faktizität und Fiktionalität) in Frage stellen, ohne deshalb notwendigerweise den autobiographischen Anspruch aufzugeben. Bei Philippe Lejeune basiert diese Entdeckung auf der Lektüre der autobiographischen Texte von Georges Perec und Michel Leiris, die beide mit fiktionalen Elementen in ihren autobiographischen Texten experimentieren und den traditionellen Subjektdiskurs aufgeben, um eine neue Form zu finden, durch die sie die Verwerfungen ihres Lebens adäquat wiedergeben zu können hoffen.264 Bei Georges-Arthur Goldschmidt ist das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit anders als bei den beiden genannten Autoren, obgleich auch ihn ähnliche Erfahrungen – die traumatischen Erlebnisse eines jüdischen Kindes während des Dritten Reiches und das letztlich zufällige und mit Schuldkomplexen beladene Überleben der nationalsozialistischen Judenverfolgung – motiviert haben, die traditionelle Form der Autobiographie zu durchbrechen, um einen eigenen Ausdruck für den schwierigen Prozess der strukturierten Erinnerung an diese Geschehnisse zu finden. Obwohl der Autor selbst seine autobiographischen Erzählungen im Untertitel mit Bezeichnungen fiktionaler Gattungen (›Erzählung‹ bzw. ›recit‹, ›Roman‹) versehen hat und in der dritten Person von seinem Protagonisten erzählt – und damit den autobiographischen Pakt mit dem Leser explizit verweigert –, hat er in zahlreichen Selbstinterpretationen und Werkkommentaren diese Arbeiten stets als autobiographisch bezeichnet und kommentiert. Die literaturwissenschaftliche Forschung ist ihm dabei gefolgt und hat das Dargestellte als Fragmente seiner Lebensgeschichte interpretiert. Die Fiktionalisierung, die Dissoziation des autobiographischen Subjekts, der Wechsel zwischen den beiden Muttersprachen in den Texten sowie die Fragmentarizität und Zirkularität des Erinnerungsprozesses wurden dabei als Stilmittel zur Darstellung des Unsagbaren verstanden. 1999 ist eine in den traditionellen Bahnen autobiographischen Erzählens verlaufende Autobiographie Goldschmidts erschienen. In diesem Kapitel wird deshalb zu fragen sein, wie sich autobiographische Erzählungen und Autobiographie zueinander verhalten. Dazu sollen zuerst die vorwiegend sprachphilosophisch geprägten Selbstkommentare des Autors zu seinen vielfach preisgekrönten autobiographischen Erzählungen als eine Strategie der durch Distanzierung erst möglich gewordenen Erinnerung an die eigene Vergangenheit interpretiert werden, bevor dann die wesentlichen Gestaltungselemente der autobiographischen Erzählungen herausgearbeitet und denjenigen der Autobiographie gegenübergestellt werden sollen. 264

Vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt (wie Kap. 1, Anm. 38), S. 423f. und S. 294–375.

274

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

4.3.1 Vom Leben in zwei Sprachen – Ein Stuhl mit zwei Lehnen Georges-Arthur Goldschmidt ist in zwei Muttersprachen aufgewachsen, die er unter gegensätzlichen inneren und äußeren Lebensumständen erworben hat. Deshalb sind sie für ihn weder austauschbar noch ohne weiteres ineinander übersetzbar. Dies zeigt sowohl die Tatsache, dass er – bis auf seine Autobiographie, die auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt – keinen seiner autobiographischen Texte selbst in die jeweils andere Sprache übersetzt hat, als auch der Umstand, dass ein Teil seines autobiographischen Gesamtwerks in deutscher Sprache geschrieben ist, und zwar derjenige, der sich mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen in Frankreich befasst, und ein anderer Teil, der sich mit seinen frühen, in Reinbek bei Hamburg verbrachten Kinderjahren beschäftigt, auf französisch abgefasst ist. Diese Überkreuzstellung der Sprachen und der in ihnen berichteten Erlebnisse und Erfahrungen ist nicht zufällig. Der Grund hierfür liegt in seiner Sprachphilosophie, die von einer gemeinsamen ›Ursprache‹ ausgehend alle Sprachen nur als Interpretationen dieser einen Ursprache ansieht. Durch den Gebrauch, den die Sprechergemeinschaft von einer Sprache macht, bildet sich dann eine bestimmte Interpretationsrichtung der gemeinsamen Ursprache heraus, die beim Deutschen und Französischen einander diametral entgegengesetzt sind. Diese Erkenntnis ist es, die Georges-Arthur Goldschmidt die Erinnerung an die eigene Kindheit überhaupt erst ermöglicht hat. Sie ist einer Lesefrucht geschuldet: Man braucht nur das schmale Bändchen von Leopold von Wiese zu lesen oder wiederzulesen, sechzig Seiten, um zu ermessen, bis zu welchem Grad der Ursprung des Schreibens dem Wort unzugänglich ist, das buchstäblich erstarrt ist durch das Grauen der Kindheit. Dieses Büchlein ist gleichsam die erweiterte Erklärung: Das Deutsche ist zu sehr vom Exil geprägt, um den Dingen auf den Grund zu gehen, die Kindheit bleibt in ihm unzugänglich. Kindheit von Leopold von Wiese macht das unheilbare Unglück einer zerstörten Kindheit sichtbar. Es ist ein wahrhaftes Umschwenken in eine andere Sprache nötig, um damit fertigzuwerden, als wäre die zweite Sprache rein von den Anschuldigungen, Erstickungsanfällen, den Ängsten, die man in der ersten erlebt hat. [...] Das Französische ist für mich unschuldig von dem, was begangen wurde. In ihm kann ich mir eine Kindheit erfinden. Was französisch ist, läßt sich auf deutsch sagen, doch was deutsch ist, läßt sich nur auf französisch sagen, als wäre eine gewisse Teilnahmslosigkeit nötig, als hätte das Schreiben die Funktion, sich von der Sprache zu entfernen und die Sprache zu entfernen. Diese Umkehrung der Sprachen macht sie dem Gegenstand gegenüber neutral, den sie zum Ausdruck bringen. Die deutsche Blende auf die französischen Dinge und die französische Blende auf die deutschen Dinge erlaubt diese Distanzierung, durch welche die Sprache die Genauigkeit erreicht.265 265

Georges-Arthur Goldschmidt: Une chaise à deux dossiers/Ein Stuhl mit zwei Lehnen. In: Sirene 4 (1991), H. 8, S. 89–91. – Alle Kursivierungen im Zitat vom Autor. – Das angesprochene Buch des Soziologen Leopold von Wiese ist dessen 1924 erstmals erschienene Autobiographie Kindheit (Kindheit: Erinnerungen aus

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

275

Die traumatischen Erfahrungen der eigenen Kindheit und Jugend, die im folgenden Teilkapitel genauer beleuchtet werden sollen, bedürfen also der Distanzierung, der ›Teilnahmslosigkeit‹, um überhaupt der poetologisch strukturierten Erinnerung zugänglich werden zu können. Als Gegenbeispiel fungieren hier die Kindheitserinnerungen Leopold von Wieses, die – aus soziologischer Perspektive und in soziologischer Absicht verfasst – genau dies nicht leisten. Sie erschöpfen sich in der additiven Darstellung der äußeren Schrecken der Kindheit und bemühen sich in keiner Weise um die Wiedergewinnung der kindlichen Perspektive, sondern lassen diese nur durch einige, in dokumentarischer Absicht in den Text eingefügte verzweiflungsvolle Briefe des Knaben an seine Mutter punktuell zur Darstellung kommen. Der Text zerfällt so in zwei ineinander gemischte Bestandteile (die soziologische und die kindliche Perspektive), die beziehungslos nebeneinander stehen. Goldschmidt erreicht diese Distanzierung als Voraussetzung einer kohärenten Darstellung der prägenden Kindheitserlebnisse durch die Verwendung der Muttersprache des jeweils anderen Landes. Zu diesem Zweck ist zunächst auf die verschiedenen Interpretationsrichtungen, die das Deutsche und das Französische den in ihnen dargestellten Erlebnissen und Erfahrungen geben, hinzuweisen. Dazu erzählt Georges-Arthur Goldschmidt sowohl in seinem autobiographischen Werk Die Absonderung als auch in seinen beiden sprachphilosophischen Essays eine Schlüsselszene, die gleich nach der Ankunft in Frankreich den Jungen für die französische Sprache einnimmt: Schon bei der Ankunft auf dem wie ein Garten von der Nachmittagssonne beleuchteten Bahnsteig hatte man ihnen das Gepäck getragen, und der Gepäckträger hatte gesagt: »Hitler, caca!«266 Am 18. März 1939 trafen mein älterer Bruder und ich an einem herrlichen Nachmittag auf dem Bahnhof von Chambéry ein, wo ein Gepäckträger – oder Eisenbahner – »Hitler, caca« zu uns sagte, und augenblicklich herrschte vollkommenes Einverständnis. Und mir fiel auf, daß dieser Mann anstatt »Hitler« zu sagen, »Itler« gesagt hatte! Das war die erste Begegnung – sie war symbolisch – mit der französischen Sprache.267 In Chambéry auf dem sonnigen Bahnsteig stand ein Bahnbeamter, der benachrichtigt worden war und uns in Empfang nahm und lachend rief: ›Itler, caca!‹. Mehr hatte ich gar nicht zu hören brauchen, um zu wissen, wo ich war und schon alles von der Sprache erraten.268

266 267 268

meinen Kadettenjahren. Hannover: Paul Stegemann 1924), in der der Verfasser über seine Jahre in der preußischen Kadettenanstalt Wahlstatt berichtet. Georges-Arthur Goldschmidt: Die Absonderung: Erzählung. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 27. Goldschmidt, Une chaise à deux dossiers (wie Anm. 265), S. 75. Georges-Arthur Goldschmidt: Vom Leben in zwei Sprachen. In: Stint 8 (1994), H. 15, S. 12.

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Hier wird ein wesentlicher Unterschied zwischen der Sprachintention des Deutschen und der des Französischen bezeichnet. Mit dem knappen, den Namen des deutschen Diktators durch die französische Aussprache verfremdenden und ihn auf diese Weise seines Schreckens zumindest vorläufig entkleidenden Kommentar des Bahnbeamten wird ein ganzes politisches System, das in naher Zukunft einen Weltkrieg entfesseln, in dem Millionen Soldaten und Zivilisten umkommen werden, und das ein ganzes Volk der physischen Vernichtung zuführen wird, durch einen nicht besonders differenziert argumentierenden Satz auf das Wesentliche reduziert – durch die Bezeichnung seines führenden Repräsentanten mit einem Fäkalwort. Der französischen Sprache gehört fortan die ganze Sympathie des heimatvertriebenen und vom Tod bedrohten Jungen. Eine Sympathie im übrigen, die zunächst auf wenig Gegenliebe stößt, erfährt der Junge doch im französischen Internat, in französischer Sprache und von Franzosen begangen jene Verfolgung und Demütigung, jene Unterdrückung und sadistische Quälerei im Kleinen, der er im Großen durch seine Flucht von Deutschland über Italien nach Frankreich entkommen ist. – Eine Tatsache, die erzwingt, dass die im französischen Internat gemachten Erfahrungen eben nicht in der dadurch der Diskreditierung anheimfallenden französischen, sondern in der deutschen Sprache, in der diese Erfahrungen ursprünglich beheimatet sind, erinnert werden. Das Französische ist für ihn die Sprache, in der er schließlich seine Identität gefunden hat. Das Deutsche bleibt für ihn die Sprache des Exils – die Sprache, in der er den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt war, die Sprache, aus der er vertrieben wurde und in der seine Eltern in die Konzentrationslager geschickt worden sind und in der schließlich die Ermordung seiner Mutter befohlen worden ist. Es bleibt die Sprache, deren Verwendung ihm während der Zeit im Internat in dem unter deutscher Besatzung stehenden Hochsavoyen den sicheren Tod gebracht hätte:269 Meine Schuld ist es nicht, daß das Deutsche nun für immer meine Exilsprache blieb; eine Sprache, die zutiefst meine eigene war, zu der ich aber nicht gehörte und in der ich zu keinem Erfassen meines Selbst kommen konnte, weil sofort die Verurteilung zur Vernichtung damit aufkam. Jetzt, Jahrzehnte später, entdecke ich, daß das Verstoßenwerden und die Gewißheit, zum ›lebensunwerten Menschenmaterial‹ zu gehören, die Selbstentdeckung unmöglich gemacht hat; nicht aus sprachlichen Gründen, weil mir die Muttersprache etwa abhanden gekommen wäre, sondern aus reinsten Existenzgründen politischer Natur, weil Deutsche sich meiner Sprache bedienten, um das Morden zu organisieren und Kinder umzubringen.270 269

270

Vgl. hierzu Goldschmidt, Die Absonderung (wie Anm. 266), S. 160f.: »Er war stolz gewesen, alles zu verstehen, und hatte sich zurückhalten müssen, um nicht dazuzutreten und zu zeigen, er könne genausogut deutsch wie sie. Der untersetzte Mann mit dem steifen, roten Nacken hätte sofort begriffen, ihn beim Arm gepackt und gezwungen, miteinzusteigen.« Goldschmidt, Vom Leben in zwei Sprachen (wie Anm. 268), S. 17.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

277

Hitler und die Lingua tertii imperii haben das Deutsche, das für ihn ursprünglich die Sprache seiner Eltern gewesen ist, die direkt aus dem 19. Jahrhundert – dem Jahrhundert Goethes und Schillers, dem Jahrhundert der klassischen deutschen Literatur und Philosophie – zu ihm gekommen ist, entwertet und zu einer mit Angst- und Bedrohungsgefühlen besetzten Sprache gemacht: Es verband sich auch immer eine unverständliche Angst mit der deutschen Sprache, ab und zu schon hatte der Knabe das Wort ›Saujude‹ rufen hören, aber da er doch keiner war, wußte er nicht, wem es wohl gelten konnte. Immer mehr Verbote aber hingen mit der Sprache zusammen und Ängste vor den ›ganz Großen‹, den wahrscheinlich Vierzehn- bis Achtzehnjährigen, die einen auf dem Waldweg nicht durchlassen wollten. [...] [...] So wurde die Sprache eine sich ausschließende, abweisende, verengte und bornierte Sprache, die Sprache der Boshaftigkeit, die Nazisprache.271 Das Französische bleibt für mich merkwürdigerweise eine Sprache des Schutzes, eine Sprache der Hoffnung, der Befreiung im geschichtlichen wie biographischen Sinn [...]. Das Französische war für mich vor allem ohne Erinnerung. In meiner Jugend konnte ich umso leichter meine Vorstellungswelt darauf projizieren, als meine Vergangenheit keine französische Erinnerung hatte und ich sie mir darin erfinden mußte.272

Ist Hitler für ihn die Stimme der deutschen Sprache, so symbolisiert Charles de Gaulle und nicht etwa der Führer der Kollaborationsregierung im unbesetzten Teil Frankreichs, Marschall Petain, für ihn »die Stimme Frankreichs, die Stimme der Republik, die Stimme der Unbotmäßigkeit, des Rebellierens, des Widerstands«,273 die eben die Bemerkung »Hitler, caca!« erlaubt, weil sie ihrer Sprachintention entspricht, die »die listig-boshafte Frechheit Voltaires, die sich immer gegen die Mächtigen, gegen die vermeintliche Obrigkeit (eines der schlimmsten Wörter der deutschen Sprache übrigens), gegen die Untertänigkeit richtet«,274 ist. Auch in der Schule, bei der Lektüre der französischen Klassiker in den Schulbüchern, macht er immer wieder dieselbe Erfahrung: Die Texte, die ich in den verschiedenen Schulanthologien zu lesen anfing, enthielten immer jene Mischung aus Aufrührerischem, Erfahrenem und Distanziertem. So lernte ich, obgleich ich in einem streng katholischen, konformistischen Internat lebte, daß auch wenn man es gar nicht wollte, Rebellisches, Unbeugsames, Kritisches immer dabei war.275

Seine Interpretation der deutschen Sprache als Manifestation des Untertanengeistes und der politischen Unreife bezieht sich hier übrigens ausdrücklich auf Carl Gustav Jochmann und dessen Kritik der deutschen Sprache und der deutschen Intellektuellen, die durch ihren Gebrauch dieser Sprache die herrschen271 272 273 274 275

Ebd., S. 10 f. Goldschmidt, Une chaise à deux dossiers (wie Anm. 265), S. 89. Goldschmidt, Vom Leben in zwei Sprachen (wie Anm. 268), S. 13. Ebd., S. 14. Ebd.

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den Zustände stützen und legitimieren.276 Ohne diese Parallele näher auszuführen, soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass sowohl Werner Kraft als auch Walter Benjamin ihre Wiederentdeckung Jochmanns mit denselben Argumenten wie Goldschmidt und aus denselben Zeiterfahrungen heraus begründet und für notwendig erachtet haben. Erst durch die Entdeckung der Unterschiedlichkeit der beiden Sprachen und der diesem Unterschied innewohnenden Ausdrucks- und Distanzierungsmöglichkeiten gelingt es Goldschmidt dann, die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend zu Papier zu bringen, das heißt, sie in Sprache zu übersetzen. Vorher war ihm diese Erinnerung verschlossen, weil sich die Sprachen und die in ihnen erlebten und erlittenen Erfahrungen nicht miteinander in Übereinstimmung haben bringen lassen, wie das in der traditionellen Autobiographik, in der der Erinnerungsprozess weitgehend unproblematisch verläuft, der Fall zu sein pflegt: Der unmittelbare Zugriff so vieler Autoren auf ihre Kindheit hat mich immer erstaunt: Rousseau, Proust scheinen gerade durch den Faden des Schreibens mit ihr verbunden. Für sie gab es eine Kontinuität des Erlebten innerhalb ein und desselben Sprachbereichs. Dieselbe Sprache hat sie ununterbrochen begleitet. Für mich überlagern sich zwei Kindheiten in zwei Sprachen, wobei die eine die Leinwand der anderen ist, auf die sie sich projiziert und beschränkt. Mein eigenes Schreiben, sofern es um die Jugend kreiste, drang nicht bis zur Kindheit vor, gerade weil sie in einer anderen Sprache stattfand, der Sprache, die mir verboten, aus der ich auf Befehl ausgeschlossen worden war. Man erklärte, diese Sprache sei nicht die meine, ich hätte nicht das Recht, sie zu sprechen, noch weniger sie zu leben; die mörderischste und lächerlichste politische Niedertracht kann verfügen, daß diese Sprache, die das Kind mit ihren feinsten Nuancen, ihren Landschaften, ihren Entdeckungen, ihren Wünschen umgibt, nicht die ihre ist.277

Weil sich seine – zunächst wohl unbewusste – Interpretation der französischen Sprache nicht mit seinen in dieser Sprache gemachten Jugenderfahrungen hat in Übereinstimmung bringen lassen, ist es ihm nicht gelungen, eine adäquate Sprache für die im Internat erlebten und erlittenen Ereignisse zu finden. Erst das Deutsche hat ihm hierfür einen treffenden Ausdruck ermöglicht.278 Umgekehrt war eine Erinnerung der Ereignisse in Deutschland nur in einer Sprache möglich, die sich diesen Ereignissen widersetzt, die keine Affirmation zu den Ereignissen, die das Kind im Sommer 1938 erleben musste, darstellt, sondern sich in Widerspruch zu ihnen stellt und sich dadurch von ihnen distanziert. Inwieweit sich diese Distanzierung von den eigenen Erinnerungen im autobio276 277 278

Vgl. ebd., S. 18f. Goldschmidt, Une chaise à deux dossiers (wie Anm. 265), S. 83. Das Deutsche ist darüber hinaus auch die Sprache der Internatsgeschichten. Wie diese, die ja zumeist das Leben in militärischen Erziehungsanstalten des deutschen oder kakanischen Militärwesens thematisieren, präfaschistische Ahnungen antizipieren, so antizipiert Goldschmidts Kinderheimerfahrung die Hölle der Konzentrationslager mit dem täglichen Hunger, dem Sadismus der Wachmannschaften und ihrer Hilfstruppen unter den Insassen sowie der ständigen Todesdrohung.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

279

graphischen Werk textimmanent zeigt, sollen die folgenden Ausführungen verdeutlichen, die eine genaue Interpretation dieser Texte versuchen.

4.3.2 Die autobiographischen Erzählungen Das ganze literarische Werk von Georges-Arthur Goldschmidt, also die beiden frühen, nicht ins Deutsche übersetzten autobiographischen Romane Un corps dérisoire (1971) und Le Fidibus (1972) sowie die weiteren Romane und Erzählungen279 Le miroir quotidien (1981, dt. 1982 u.d.T. Der Spiegeltag), Un jardin en Allemagne (1986, dt. 1988 u.d.T. Ein Garten in Deutschland), La forêt interrompue (1991, dt. 1992 u.d.T. Der unterbrochene Wald), Die Absonderung (1991) und Die Aussetzung (1998) lässt sich durchaus als autobiographisch bezeichnen, wenngleich der Autor diesen Texten 1999 eine in französischer Sprache abgefasste, dezidiert so bezeichnete Autobiographie La traversée des fleuves hat folgen lassen, die er anschließend selbst ins Deutsche übersetzt hat280 und die 2001 bei seinem deutschsprachigen Verlag, Ammann in Zürich, unter dem Titel Über die Flüsse erschienen ist. Die beiden frühen, bislang nicht ins Deutsche übertragenen Romane werden im folgenden nicht berücksichtigt, weil sie aus formalen wie inhaltlichen Gründen kaum Zusammenhänge mit den übrigen autobiographischen Erzählungen aufweisen. Diese Texte sind formal noch durch eine »strikte Trennung von personalem Erzähler und Autorschaft«281 sowie die Verwendung der Stilprinzipien von Ironie und Sarkasmus gekennzeichnet.282 Inhaltlich wird der Fokus der Handlung in diesen beiden Bänden »einer unvollendet gebliebenen Trilogie«283 von den Erlebnissen und Erfahrungen des Protagonisten in den ersten Nachkriegsjahren bestimmt. Ebensowenig wird in diesem Abschnitt die Autobiographie von 1999/2001 genauer untersucht, der das Teilkapitel 4.3.3 dieser Arbeit gewidmet ist. Der Grund für die Zusammenfassung der autobiographischen Erzählungen ist die thematische und formale Geschlossenheit dieses Textkorpus, das im folgenden – der Einfachheit halber – mit dem Terminus ›autobiographische Erzählungen‹ bezeichnet wird.

279 280

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Im französischen Original lauten die Gattungsbezeichnungen der Erzählungen ›récit‹. Die oben genannten Erzählungen dagegen hat er nicht selbst übersetzt, sondern von Peter Handke, den er selbst ins Französische übersetzt hat, und Eugen Helmlé übertragen lassen, der unter anderem auch die autobiographische Prosa von Georges Perec übersetzt hat. Constanze Baethge: Zwei erste Romane oder eine Archäologie des Leibes und des Leidens: zu Un corps dérisoire (L’Empan und Le Fidibus) von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Grenzgänge der Erinnerung: Studien zum Werk von GeorgesArthur Goldschmidt. Hg. von Wolfgang Asholt. Osnabrück: Secolo 1999, S. 51. Vgl. ebd., S. 52–54. Ebd., S. 51.

280

4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Die autobiographischen Erzählungen behandeln von wechselnden Erzählerstandorten aus, die allesamt in der Zukunft des Autobiographen selbst liegen, aber dennoch versuchen, die (personale) Erlebnisperspektive der Zeit der dargestellten Ereignisse einzunehmen, das Leben des Protagonisten zwischen 1938, dem Jahr der Trennung von den Eltern, die den Jungen zum Schutz vor dem immer stärker um sich greifenden Antisemitismus erst nach Italien und dann nach Frankreich, in ein Kinderheim in Hochsavoyen, schicken, und ungefähr 1949, als der inzwischen zum Vollwaisen gewordene Fünfundzwanzigjährige noch immer in einem Kinderheim, jetzt nahe Paris, lebt und studiert. Den chronologischen Endpunkt der Texte bildet dabei die Erkenntnis der Unschuld des Kindes an den Ereignissen jener Jahre. Sie haben sich für die Hauptfigur der Texte zu einem einzigen Schuldkomplex verwoben, der sich durch entdeckte und bestrafte Masturbationshandlungen aufgebaut hat, den erst der Fünfundzwanzigjährige nach der Lektüre eines Märchens auflösen kann. Es handelt sich dabei um ein von den Brüdern Grimm überliefertes Märchen, das unter dem Titel »Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben« von einem Kinderspiel mit tödlichem Ausgang berichtet. Bei diesem Spiel hat ein Kind als Metzger ein anderes Kind – als zu schlachtende Sau – abgestochen. Die moralische Unschuld des Kindes belegt dann der Nachweis der fehlenden Berechnung bei dieser Tat, die lediglich Nachahmung des Alltagsverhaltens Erwachsener gewesen ist: [»]Einer unter ihnen [...] gab den Rat, der oberste Richter solle einen schönen roten Apfel in die Hand nehmen, in die andere einen rheinischen Gulden, solle das Kind zu sich rufen und beide Hände gleich gegen dasselbe ausstrecken: nehme es den Apfel, so soll’ es ledig erkannt werden, nehme es aber den Gulden, so solle man es töten. Dem wird gefolgt, das Kind aber ergreift den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig erkannt.« Er las das Märchen einige Male. Jede Scham fiel von ihm ab. Auch er hätte den Apfel genommen. Jetzt brach er einen davon mitten durch, so wie man Brot bricht. Er trocknete ihn nicht einmal; schmeckte mit der gekrümmten Zunge jenen unerhörten Geruch des eigenen Körpers. Er drückte die Daumen da hinein, benetzte sich damit das Gesicht. Das Apfelinnere wurde schon braun, aber an den Bruchstellen waren noch helle, saftperlende Ränder. Auch er war also unschuldig.284

284

Georges-Arthur Goldschmidt: Der Spiegeltag: Roman. Deutsch von Peter Handke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 164. – Zur Interpretation dieses Märchens, das sich bis auf Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein (1555) zurückverfolgen lässt, vgl. Wilhelm Solms: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1999, S. 151f.: »Die Unschuldsprobe [...] dokumentiert [...] eine moderne Gerichtsbarkeit, die nach dem Schuldprinzip urteilt. Das Kind entscheidet sich spontan oder naiv für den schönen Apfel, statt zu berechnen, daß es mit dem Taler hundert solcher Äpfel kaufen könnte, und wird freigesprochen. Denn damit hat das Kind bewiesen, daß es nicht absichtlich, sondern [...] durch die spielerische Nachahmung der Tat eines Erwachsenen, das andere Kind umgebracht hat.« (S. 152).

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

281

Die fünf Erzählungen beabsichtigen dabei keineswegs eine vollständige chronologische und in den nachprüfbaren Fakten stimmige Darstellung der äußeren und inneren Ereignisse im Leben des heranwachsenden Georges-Arthur Goldschmidt, sondern versuchen eine punktuelle, kreisförmige Annäherung an wesentliche, die eigene Persönlichkeit prägende Einschnitte im Lebenslauf des aus einer konvertierten jüdischen Familie stammenden Kindes bzw. Jugendlichen bis hin zur Befreiung des jungen Erwachsenen aus dem in seiner Kindheit und Jugend entwickelten Schuldkomplex. Die zuerst erschienene Erzählung, der ›Roman‹ Der Spiegeltag, markiert dabei so etwas wie den zeitlichen Rahmen der übrigen Texte. Der Erzähler befindet sich in einer Provinzstadt nahe Paris, in der Mansarde eines Waisenhauses im Jahr 1949, nach einem Besuch im Elternhaus in Reinbek bei Hamburg, das nun von nahen Verwandten bewohnt wird. Dieser Verlust des äußerlich nahezu unverändert gebliebenen Elternhauses, dessen neue Bewohner das Haus bereits mit ihrem gegenwärtigen Leben und ihren Erinnerungen in Besitz genommen haben und ihn das Gefühl, ein unerwünschter Eindringling in ihrem Leben zu sein, deutlich spüren lassen, ist der Anlass seiner ›Suche nach der verlorenen Zeit‹. Dieser Verlust der Kindheit ist bei Goldschmidt im Gegensatz zu Proust eine – vom Unterbewusstsein bestimmte – Strategie des Überlebens.285 Nur durch sie in Verbindung mit den Strafen und Quälereien der Heimleiterin und seiner Mitzöglinge im Internat kann er das lähmende Heimweh bezwingen.286 285

286

Vgl. Goldschmidt, Die Absonderung (wie Anm. 266), S. 94f.: »Er hatte sich in ein Innengebäude in ihm selbst eingezimmert, das er zylinderartig bewohnte; er ließ keine Erinnerung mehr an sich heran. Bei gewissen schrägen Nachmittagsbeleuchtungen galt es aufzupassen, keine wehenden Waldgräser, keine Backsteinbrücken, kein Laubrascheln, keine gebirgshohen, weißen Wolken an sich herankommen zu lassen. Man mußte den Blick anstrengen, sich immer irgendwo zwischen den Bäumen oder an einem Hang einen Punkt aussuchen, den man nicht aus den Augen verlieren durfte. Allmählich hatte man gelernt, die Eltern nicht mehr heranzulassen: wenn sie weit in den Vorgedanken nebelartig erschienen, war es leicht geworden, sie zu verdrängen Er hatte sich eine Wand aufgerichtet, hinter der es nichts mehr gab.« Vgl. Wolfgang Asholt: Mémoire volontaire und Erinnerungsarbeit in den Romanen Georges-Arthur Goldschmidts. In: Literatur Sprache Kultur: Studien zu Ehren von Lothar Knapp. Hg. von Wolfgang Asholt und Siegfried Kanngießer. Osnabrück: secolo 1996, S. 12–23. – Asholt bezeichnet Goldschmidts Strategie der Erinnerung deshalb auch in anlehnendem Gegensatz zu Proust als eine solche der ›memoire volontaire‹, der bewusst und unter Schmerzen herbeigeführten Erinnerungsarbeit: »Diesem Prozeß des Verlustes und dem nur selten angedeuteten und fast nie direkt evozierten Unvorstellbaren der Shoah, das ihn irreversibel gemacht hat, widmen sich die folgenden Romane, und ihr Freilegen der Erinnerung kann zugleich nichts anderes sein als eine schmerzhafte Trauerarbeit« (S. 13). – Dieses Muster einer erzwungenen Erinnerung, die sich an Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Gegenwart des Erzählers festmacht, ist kennzeichnend für alle autobiographischen Erzählungen Goldschmidts.

282

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Die folgenden Werke widmen sich dann einzelnen Abschnitten dieser Kindheit und Jugend. Die Erzählung Ein Garten in Deutschland, aus einer Perspektive »dreißig Jahre später«287 verfasst, berichtet von den letzten in Deutschland verbrachten Jahren und der Genese jenes Schuldkomplexes, der das Leben des Heranwachsenden bestimmen sollte und in der Emigration im Mai 1938 eine erste Bestätigung findet. Die Absonderung berichtet aus der Perspektive der späten achtziger Jahre von der Ankunft und den ersten Jahren im Kinderheim in Hochsavoyen, wo der Knabe schwersten Züchtigungen und Misshandlungen ausgesetzt ist und Zuflucht nur in der Hinwendung zum eigenen Körper – in der Masturbation – findet, die wiederum seinen Schuldkomplex verstärkt. Der unterbrochene Wald schildert die Zeit im Kinderheim nach dem Einmarsch der Deutschen in Hochsavoyen und parallel dazu den Besuch bei den Verwandten in Reinbek im Jahr 1949. Die Erzählung ist auf der letzten Seite auf den 9. Juli 1989 datiert. Die zuletzt entstandene, den letzten Abschnitt seines Kindheitsmartyriums abdeckende Erzählung, Die Aussetzung, schildert die Flucht vor den Deutschen im letzten Jahr der Besatzungszeit vom Oktober 1943 an, die der Jugendliche in wechselnden Verstecken bei einheimischen Bauern erlebt; sie endet mit dem Abzug der Deutschen und der Rückkehr des Jungen ins Internat. Der Text ist auf der letzten Seite auf den 4. XII. 1993 datiert. Goldschmidt verzichtet in allen diesen Schriften auf eine einheitliche autoritative Überformung durch paradigmatisch gewordene Erzählmodelle, die eine biographische Kontinuität im Leben des Protagonisten herstellen und sich dabei häufig der Metapher des Lebenswegs bedienen bzw. sich zumindest chronologisch am Gerüst der äußeren Fakten eines Lebens entlangbewegen. Aus diesem Grunde gibt es auch keinen auktorialen Erzähler, der um den Lebensweg seines Protagonisten weiß und sich erzählend um seine (Re-) Konstruktion bemüht. Mit diesem Verzicht auf biographische Kontinuität in der Darstellung verzichtet der Autor auch auf die Seinsgewissheit des traditionellen Autobiographiediskurses, die er durch seine Strategien der Dissoziation und Repetition unterläuft. Aufgelöst und in einzelne Aspekte dezentralisiert werden die zeitliche Chronologie, die räumlichen Koordinaten der Erzählung, die Erzählperspektive, die Identität und Körpererfahrung des Protagonisten ebenso wie seine Wahrnehmung von anderen Personen.288 Die Wiederholung immer gleicher Schrecken, denen das Kind und der Jugendliche in scheinbar nur äußerlich sich verändernden Kontexten ausgesetzt sind, wird nicht nur thematisiert, sondern wiederum auf mehreren Ebenen aktualisiert. Einzelne Mo-

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Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Garten in Deutschland: eine Erzählung. Aus dem Französischen übersetzt von Eugen Helmlé. 2. Aufl. Zürich: Ammann 1989, S. 134. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 285f.

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tive, ja ganze Formulierungen kehren nicht nur innerhalb eines Buches, sondern über alle Textgrenzen hinweg wie Grundakkorde redundant wieder[.]289

Die Erzählstrategien der »abweichenden Autobiographie« ermöglichen Goldschmidt die »Darstellung nicht gelingender, verhinderter oder zerstörter Identität.«290 Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Autor auf jeden Versuch der Erklärung des Dargestellten verzichtet und statt dessen vor allem durch das Mittel der Repetition der immer gleichen Erfahrungen, Erlebnisse und Vorstellungen »eine beklemmend dichte Atmosphäre«291 konstruiert, die durch die Unzulänglichkeit und Unverständlichkeit der kindlichen Weltbedeutungen das Verständnis des Dargestellten extrem erschwert und genau dadurch die Lebenswelt des Kindes, die ja vor allem aus Unverstandenem besteht, nachvollziehbar macht – freilich um einen hohen Preis: Goldschmidts Texte wirken sehr hermetisch [...] aufgrund des Circulus vitiosus kindlicher Erklärungsmodelle.292

Die Hermetik der Texte Goldschmidts spiegelt natürlich die Schwierigkeit des Autors und seines als mit ihm identisch zu denkenden Erzählers wider, sich seiner eigenen mit traumatischen Erfahrungen aufgeladenen Kindheit zu erinnern. Eva Lezzi hat in ihrer Dissertation darauf aufmerksam gemacht, dass sich Goldschmidt durch die Verwendung der oben genannten Strategien eines Verfahrens bedient, das Sigmund Freud als eines der prominentesten psychoanalytischen Verfahren bezeichnet hat, das die Verdrängung der Vergangenheit durch beständiges Wiederholen der traumatisierenden Lebensumstände überwindet und die vollständige Erinnerung an die Vergangenheit ermöglicht: Die unendliche Autobiographie ist vielmehr eines der adäquatesten Mittel, Traumata literarisch zu gestalten. 293

Die Hermetik der Erzählungen rührt aber auch daher, dass der Erzähler in ihnen eine – zumindest im deutschen Sprachraum unübliche – Innenperspektive einnimmt, die sich vor allem den eigenen Gemütszuständen einerseits und den kindlichen Erklärungsmodellen einer letztlich unverstandenen Außenwelt andererseits widmet. Im Gegensatz zu seinen Vorbildern bei der Verwendung dieser Innenperspektive – zu nennen sind hier der in Deutschland isoliert dastehende Karl Philipp Moritz mit seinem autobiographischen Roman Anton Reiser294 und der in Frankreich das Genre einer der Innenperspektive und Gewissenserforschung des Protagonisten verpflichteten Autobiographieform begründende Jean-Jacques Rousseau – radikalisiert Goldschmidt diesen 289 290 291 292 293 294

Ebd., S. 289. Beide Zitate: Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Kap. 1, Anm. 4), S. 132. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 282. Ebd., S. 333. Ebd., S. 332. Vgl. Holdenried, Das Ende der Aufrichtigkeit? (wie Anm. 290), S. 8.

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4 Das Zeitalter des Nationalsozialismus

Blickwinkel durch den Verzicht auf jede Erklärung oder Darstellung der äußeren Umstände, die die dargestellten inneren Vorgänge des Protagonisten motiviert haben. Dies gilt vor allem für die in französischer Sprache abgefasste Erzählung Ein Garten in Deutschland. Hier verzichtet der Autor-Erzähler auf jede historische Einordnung aus einer übergeordneten auktorialen Erzählperspektive zugunsten einer totalen Verengung der Darstellung auf den kindlichen Erfahrungshorizont. Dies ist insoweit konsequent, als es die kindlichen Ängste intensiviert und dadurch eine beklemmende Authentizität schafft, die durch das repetitive Moment, das diesen Texten eigen ist, verstärkt wird. Indem der Zirkel des Nichtverstehens bzw. des durch Schuldkomplexe verursachten Falschverstehens immer wieder nachvollzogen, aber nicht erklärt wird, verdeutlicht sich die ausweglose, sich schließlich zum traumatischen Erlebnis verdichtende Grunderfahrung im Leben des Jungen. Gleichzeitig bezeichnet diese radikalisierte Innenperspektive einen nicht ausgesprochenen Mangel an Kontakten zur Außenwelt. Dies schließt sowohl die absolute Kommunikationsunfähigkeit innerhalb der Familie ein, wie sie sich etwa am Nichtwissen des Kindes um sein Judentum oder um die Gründe seiner Verschickung nach Florenz zeigt, als auch die Isolation der jüdischen Familie innerhalb der ›arischen‹ Dorfgemeinschaft bzw. – weniger radikal in den anderen Erzählungen – des jüdischen Waisenkindes im französischen Kinderheim: Wie einsam der Junge zuhause bis zuletzt in der Auseinandersetzung mit seinem vage bewußten Judesein bleibt, zeigt sich daran, daß die Eltern ihm bis zu seiner Wegfahrt nichts davon gesagt haben, so daß ihm selbst der genaue Grund der Trennung offensichtlich nicht genannt worden ist. Wiederum sind es nur Überlegungen, Ahnungen und Vermutungen, die ihn an das Verständnis seiner Lage heranführen. In aller Deutlichkeit wird ihm nun das Judesein zu etwas, das nur dadurch definiert ist, daß es sich zu verbergen hat, dessen Hervorbrechen vor der Außenwelt alleine schon ein verurteilungswürdiger Verstoß gegen die allgemein akzeptierten Regeln ist[.]295 Gleichzeitig drückt die hermetische Abgeschlossenheit vor den literarisierten Erfahrungen anderer Verfolgter aus, wie abgetrennt der Protagonist von jeglicher kollektiver jüdischer Zugehörigkeit und Geschichte ist. Er bleibt mit seiner jüdischen ›Identität‹ durchwegs allein und ohne jegliche Kommunikationsmöglichkeit.296

Die fünf autobiographischen Erzählungen umkreisen dabei immer wieder die traumatische Erfahrung des eigenen Judeseins, das an den Jungen, der im Deutschland der dreißiger Jahre aufwächst, ausschließlich von außerhalb seiner Familie, die ja schließlich schon lange evangelisch getauft und ängstlich darauf bedacht ist, das eigene Judentum vor sich selbst und den Kindern zu 295

296

Alfred Bodenheimer: Kenntlichkeit und Schuld – Zur literarischen Jugendautobiographie Georges-Arthur Goldschmidts. In: In der Sprache der Täter: neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hg. von Stephan Braese. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 156. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 312.

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verschweigen, herangetragen wird. Dies führt zu einem völligen Unverständnis dessen, was der Begriff ›Jude‹ eigentlich meint, zu einem totalen Ausgeschlossensein aus der jüdischen Tradition. Er verbindet sich für ihn mit dem Ausleben der eigenen kindlichen Sexualität und ihrer Abstrafung durch eine geistliche Schwester während einer Solariumkur: Die Diakonissin, das Bein auf eine der Stufen des Schemels gestellt, drehte ihn plötzlich um und legte ihn übers Knie – er ragte darüber hinaus, sich selber im Gleichgewicht haltend, während die Arme durch die Luft schlugen –‚ und die Hand in der genauen Verlängerung des Armes hochhebend, begann sie ihn mit aller Kraft zu schlagen, sie ließ die Hand regelmäßig abprallen, hob sie wieder und ließ sie von neuem schwungvoll niedersausen. [...] »Ekelhafter Bengel, kleine Drecksau«, dann, nach kurzem Schweigen, »du kleiner... kleiner Dreckjude.« [...] Die Diakonissin würde ihr alles erzählen, sie würde zu ihr sagen, daß er »ein kleiner Dreckjude« sei. Und seine Mutter, im Raum stehend, würde dieser Person zuhören, die mit ihr sprach und Worte sagte: »Kleiner Dreckjude.«297

Das Erwachen der ersten Sexualität konstituiert einen Schuldkomplex bei dem Jungen, der durch die lust- und körperfeindliche Erziehung im nachwilhelminischen Deutschland verstärkt wird. Die Eltern sind es, die sich fortan seiner ›Abartigkeit‹ annehmen und durch beständiges Überwachen und Strafen seinen Schuldkomplex mehren. In Verbindung mit dem Verschweigen seiner jüdischen Abkunft und dem Verzicht auf jede Erklärung seines Judeseins kann er die schließliche Trennung von den Eltern nur als weitere Bestrafung für seine schwere Schuld erkennen: Seine Eltern wußten alles, sie hatten ihn fortgeschickt, sie hatten am ersten Schultag alles gesehen.298 Vielleicht wußte man alles. Vielleicht war er schon schuldig.299 Vielleicht war er dabei ertappt worden, wie er die großen Schüler beobachtete, wenn sie, mit heruntergezogenen Hosen auf dem Pferd liegend, bestraft wurden. Mußte er deshalb fort?300

Die ganzen Reaktionen und Phänomene seiner Umwelt – soweit sie überhaupt in sein Bewusstsein treten – stehen im Zusammenhang mit dieser Erfahrung und dem daraus resultierenden Phänomenen der Schuld, zu deren Sühne er sich nach Strafe sehnt, durch die wiederum er sich sexuell erregt fühlt – der nahezu endlose Kreislauf von Schuld und Sühne ist damit begonnen: 297 298 299 300

Goldschmidt, Ein Garten in Deutschland (wie Anm. 287), S. 43–45. Ebd., S. 101. Ebd., S. 146. Ebd., S. 169.

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Liest man Goldschmidts spätere autobiographische Schriften im Licht von Ein Garten in Deutschland, so läßt sich die These aufstellen, daß mit der Bestrafung durch die Diakonissin und mit ihrer desavouierenden Verknüpfung von Judentum und Sexualität eine traumatisch prägende Urszene stattgefunden hat, die der Protagonist durch Selbstanklage beständig wiederholen wird.301

Diese sadomasochistische Grundprägung durchzieht auch die übrigen autobiographischen Erzählungen, und das Kind bzw. der heranwachsende Jugendliche wird zum willigen und schweigenden Opfer seiner sadistisch veranlagten Internatsleiterin und seiner Mitschüler im Internat, die den Jungen als Sündenbock und Objekt ihrer sadistischen und erotischen Phantasien missbrauchen. Sein Schuldgefühl – er ist Jude (im oben bezeichneten Sinn) und wird deshalb, also aus persönlicher Schuld, von den Nationalsozialisten verfolgt – verhindert jedes entschiedene Sich-zur-Wehr-Setzen und legitimiert das Verhalten der anderen ihm gegenüber: Dem Jugendlichen dient seine Onanie als gültige Erklärung für die drohende Deportation und Vernichtung.302

An den autobiographischen Erzählungen Goldschmidts fällt vor allem die überragende Bedeutung auf, die der eigenen Körperlichkeit und ihrer Wahrnehmung durch den Protagonisten selbst beigemessen wird. Die körperliche Erregung, die er bei der Bestrafung durch die Internatsleiterin empfindet und die sich in der anschließenden Masturbation entlädt, ist dabei sicherlich nur ein hervorstechendes Merkmal. Häufig wird der eigene Körper, aber auch derjenige der Eltern etwa, deren Judesein sich auch in einer übersteigerten Körperwahrnehmung manifestiert, als grotesk empfunden. Dieselbe Beobachtung des grotesken Körpers macht der Protagonist der Autobiographie Jahre später an sich selbst, als er – auf der Flucht vor den Deutschen – diesen vor dem Kinderheim begegnet: Eine undeutliche Angst hatte sich bereits in dem großen Haus breitgemacht: die Gebärden der Eltern waren nicht mehr dieselben, sie waren etwas kürzer oder ganz im Gegenteil allzu gedehnt. [...] Die Eltern hatten nicht mehr die passenden Gebärden, wenn sie mit ihm sprachen, ahmten sie sich nach, sie waren bemüht, sich an sich selber zu erinnern, doch sie vergaßen es, sobald sie nicht mehr daran dachten: ihr Blick wurde starr, sie liefen unaufhörlich von Zimmer zu Zimmer, stießen sich an den Heizkörpern und den Kredenzen, gedankenversunken wie sie waren, fanden sie nicht mehr die Richtung. Es bedurfte mehrerer Bewegungen, um eine einzige zu machen, sie täuschten sich über ihre Körper und wenn sie sprachen, fanden sie nicht den richtigen Ton; die Kehle war ihnen zugeschnürt und es gelang ihnen nicht mehr, ihre Stimme richtig einzustellen.303

301 302 303

Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 316. Ebd., S. 318. Goldschmidt, Ein Garten in Deutschland (wie Anm. 287), S. 156f.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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Angst hatte er keine; die Beine nur waren ihm zu kurz geworden, als ginge er auf Stümpfen, er fühlte genau den Umriß seines Körpers, wie er in der Luft ausgeschnitten sich nach vorne schob; er wurde gegangen, wie wenn ein anderer es in ihm besorge. Die Knie knickten ihm ein.304 Er war nur noch ein Pappstück, in dessen Mitte die Last wuchtete, und zugleich gelang es ihm, zu tun, als sei das gar nicht er, der da bergauf ging, indes sie von oben kamen, auf der Suche nach ihm. Die Zeit war so kompakt, stand derart still, daß man alle Einzelheiten der Uniformen mustern konnte: jenen Stoff, der an den Körpern hing und sich mit ihnen fortbewegte, das schwarze Leder der Gürtel oder der Stiefel, welches gegerbt worden war, beschnitten, gelackt, und sich jetzt unterwegs auf diesem Weg befand.305

Als die Eltern die Bedrohung durch den Nationalsozialismus realisieren, verlieren sie ihre Seinsgewissheit, ihre Zugehörigkeit zu ihrer bisherigen Lebenswelt, durch die sie sich bislang ungezwungen in ihr bewegen konnten. Nun sind sie Fremdkörper in einer feindlichen Umwelt geworden, deren Fremdheit sich in ihrer grotesken Körperlichkeit spiegelt, die das Kind mit seismographischem Gespür wahrnimmt und für die es sich nur allzu oft schämt und oft mit Zornesausbrüchen reagiert. Ähnlich ergeht es dem Knaben selbst, als er – nach mehreren sicheren Jahren in dem unbesetzten Tal in Hochsavoyen – wieder in Kontakt mit Deutschen kommt, die ihn verfolgen. Auch seine späteren Erfahrungen bei einer Reise nach Deutschland sind von dieser grotesken Körpererfahrung geprägt, die seine Nichtzugehörigkeit zu dieser Welt, zu diesen Leuten und zu dieser Gesellschaft demonstriert, die ihm von seinen Verwandten, die jetzt in seinem Elternhaus leben, nur allzu deutlich gemacht wird. Die Betonung der eigenen Körperlichkeit und ihrer Selbstwahrnehmung geht einher mit einer – für autobiographisches Schreiben, zumal bei Intellektuellen, ungewöhnlichen – Vernachlässigung geistiger und sozialer Anknüpfungspunkte, die in den übrigen hier besprochenen autobiographischen Texten im Zentrum der Darstellung stehen bzw. eine wesentliche Rolle bei der Identitätsfindung des Autobiographen spielen. Ausnahmen von dieser Vernachlässigung stellen bei Goldschmidt hier lediglich diejenigen Szenen dar, in denen der Protagonist Anregungen – im doppelten Wortsinn – für die Entdeckung oder Erklärung der eigenen Körperlichkeit empfängt, etwa durch die Kunstbände des Vaters mit ihren Abbildungen gemarterter Knaben oder die katholische Erbauungsliteratur, mit der der Heranwachsende auf dem Bauernhof konfrontiert wird, wo er sich vor der Gestapo versteckt hält und wo ihn vor allem die Märtyrerlegenden in ihren Bann ziehen, weil er in ihnen eine Parallele zur eigenen Existenz zu finden glaubt: wie es den Märtyrern geschehen ist, hofft auch er, der von der Gegenwart nur Verfolgung und Tod zu gewärtigen

304 305

Goldschmidt, Die Absonderung (wie Anm. 266), S. 172f. Georges-Arthur Goldschmidt: Der unterbrochene Wald: Erzählung. Aus dem Französischen von Peter Handke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 46.

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hat, auf die Einsicht der Nachwelt, die in ihm nicht den schuldigen Täter, sondern das unschuldige Opfer erkennen wird. Diese Vernachlässigung weist auf ein Fehlen intellektueller Anregungen und sozialer Kontakte hin, durch die sich Identität überhaupt erst gewinnen lässt. Tatsächlich hat das Kind bzw. der Jugendliche eine eigene Identität primär durch Ausgrenzung, als Absonderung von den anderen, als ›Jude‹ unter ›Ariern‹, als Deutscher unter Franzosen, als Opfer unter lauter Tätern erfahren. Alle diese Ausgrenzungserfahrungen waren mit harten körperlichen Züchtigungen verbunden, die dann – um doch noch so etwas wie eine positiv konnotierte Identität zu finden – umdefiniert wurden. Das gequälte Kind findet schließlich in dieser Qual seine Erfüllung und Bestimmung, es identifiziert sich mit der Opferrolle und bettelt geradezu um weitere Strafen, die es ihm ermöglichen, seine Körperlichkeit stärker zu fühlen, je stärker es missbraucht wird: Man entschloß sich zur äußersten Strafe: er sollte als bald Fünfzehnjähriger mit der Rute gezüchtigt werden. Es war schon öfters geschehen, und er hatte es immer wieder sofort vergessen.306 [Als er sich sein Strafwerkzeug selbst suchen muß:] Unter allen anderen erkannte er den geeigneten Zweig, der ihm entgegenleuchtete. Sorgfältig brach er die Haselgerte – sie hatte die passende Länge, damit konnte man ausholen, sie würde sich um seine Hüften winden, und er würde sich unter ihr vor Schmerz aufbäumen. Er versuchte das faserige Holz so glatt abzubekommen wie nur möglich; er freute sich, daß es so zäh war. Es war ihm beim Abbrechen, als gäbe es ihn selber doppelt. Er fühlte sich durch sich hindurch stehen: stehen, das war er. Die wippende Gerte hielt er nun in der Hand, ihr leichtes Wiegen, so leicht zu handhaben! [...] Als er dann wieder zum Heim hinaufkletterte, war es, als führe er sich selbst am Arm, aus ihm wuchs die Rute hinaus, an deren gegabelter Spitze er über den eigenen Kopf baumelte. Er kam kaum noch zu Atem, die Brust war ihm wie in ein eisernes Korsett eingegossen, und doch empfand er keine Angst: es war wie ein Sterben, nach dem er auferstehen würde, aber auch eine unverständliche Freude, eine Begeisterung.307

Ähnliche Gefühle und Empfindungen wie die Bestrafungen rufen in dem Heranwachsenden sowohl die nächtliche Selbstbefriedigung im Schlafsaal als auch der systematische Missbrauch und die sadistische Folter durch die Mitzöglinge hervor. Dabei verbinden sich Strafe und sexuelles Erlebnis zu einem Gefühl der Identität: Am Abend dann im Bett schloß er die Augen und wurde dieser Jüngling, er ließ das so lange angeschaute Bild in ihm wieder erscheinen, er lag da, das Gesicht dem Zuschauer zugewandt, damit man ihm die Strafe aus den Augen lesen könne. Er überließ sich der leisen Berührung der eigenen Finger, das Nachthemd hatte er sich vom Leib gerissen, um der Strafe nackt ausgeliefert zu sein, er war der junge Römer. Ganz langsam ließ er die Finger die Vorhaut hinauf- und hinuntergleiten, bis er sich vor Wollust aufbäumte. Aber genau wie unter der Rute hatte er sich zu beherrschen 306 307

Goldschmidt, Die Absonderung (wie Anm. 266), S. 124. Ebd., S. 126–128.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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gelernt. Zehnmal ließ er sich bis zum äußersten Punkt kommen, ließ aber doch jedesmal von sich ab, ließ sich mit ausgestreckten Armen minutenlang liegen. Er wand sich unter der Strafe, wie der junge Römer. Noch nie hatte er eine derartige gotthafte Schärfe empfunden, er schrie auf, jubelte in sich hinein. Das würde man ihm nicht nehmen können, er wußte nun, er hatte die größte Freude entdeckt, die ihn über alles hinwegretten würde, allabendlich.308

Das Fühlen des eigenen Körpers durch die Strafexzesse der Heimleiterin, aber auch durch das Benutztwerden von seinen Mitschülern, die ihn zur eigenen sexuellen Erregung missbrauchen, gibt ihm, dem jede Form der Anerkennung versagt wird, eine Möglichkeit, seine eigene Identität auszubilden, indem er sich völlig unterordnet. Es ist die Identität eines Domestiken, eines Gebrauchsgegenstandes, der seine Erfüllung in diesem Benutztwerden findet: Er war nun einmal Diener und hatte sich ihrem Willen zu fügen, sie nahmen ihm den Kopf zwischen die Beine, saßen auf ihm und ließen sich von ihm mit dem Munde erregen.309 Er wäre gerne Diener geworden, er hätte sich nicht zu fürchten brauchen, es hätte ihn gar nicht gegeben, er wäre nur eine Verrichtung gewesen, man hätte seine Arbeit eingeschätzt, ihn selber hätte man nicht einmal gemerkt.310

Diese Domestikenidentität – der erzwungene Verzicht auf eine eigene Identität durch Individualität – ist es, die ihm das Weiterleben überhaupt erst ermöglicht. Bei allen damit verbundenen Schmerzen und Qualen gelingt es ihm auf diese Weise, den Schmerz seiner größten Wunde, den der Verlust der Eltern und der Reinbeker Heimat für ihn darstellt, zu verdrängen: So brauchte man nicht an die Eltern zu denken, der Haß ließ einem keine Zeit mehr dazu.311

In einem Gespräch mit dem Schriftstellerkollegen Hans Ulrich Treichel bestätigt Goldschmidt diese Interpretation: Wahrscheinlich, ein Ausweg, den ich mir im Kleinen erschuf, das ist sehr gut möglich. Ich habe das auch irgendwie gebraucht, wie gesagt, weil es mich vom Heimweh ablenkte und es war auch eine Herausforderung. Diese Anstaltsleiterin, die mich schlug. Ich sagte ihr, sie sollte noch viel mehr schlagen, bitte immer mehr. Ich wollte durch diesen Widerstand, den ich leistete, mich irgendwie größer machen. Ich besiege dich, du besiegst mich nicht.312

Eine philosophische Legitimation dieser zweifellos ungewöhnlichen Form der Identitätsgewinnung liefert der Autor in seinem 1994 auf deutsch erschienenen, 308 309 310 311 312

Ebd., S. 138f. Ebd., S. 94. Georges-Arthur Goldschmidt: Die Aussetzung: eine Erzählung. Zürich: Ammann 1996, S. 113. Goldschmidt, Die Absonderung (wie Anm. 266), S. 46. Georges-Arthur Goldschmidt/Hans-Ulrich Treichel: Jeder Schriftsteller ist zweisprachig: ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 32 (1994), S. 280.

290

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erstmals 1990 in Frankreich veröffentlichten Essay Der bestrafte Narziß. Ausgehend von der Beobachtung, dass »ich keine Sprache für mich habe«,313 postuliert der Autor die prinzipielle Unerkennbarkeit des eigenen Seins durch jede Form sprachlicher Kommunikation, weil Sprache nie proprium eines Individuums, sondern immer gesellschaftlich vermittelt ist. Sprachliche Zuschreibungen sind daher immer primär Fremdbestimmung, zumeist von übermächtigen Erwachsenen gegenüber einem wehrlosen Kind, so wie er selbst es erlebt hat: Jedermann ist eines Tages bezeichnet worden als einer, der er nicht ist. Wer war noch nie jenes schuldlose, angeklagte Kind, erstickend unter der Macht seiner eigenen Offenkundigkeit, gefangen in der klaren Gewißheit seiner Schuldlosigkeit? Und wer erfährt nicht jeden Augenblick, wie ihm in größter Not die Worte fehlen?314

Gegen diese Determination von außen vermag sich das Kind nicht zu wehren bzw. nur mit den Mitteln der Subversion, d. h. in Form der scheinbaren Akzeptanz der sprachlichen Fremdbestimmung, die es fast immer als Schuldzuschreibung erlebt. Neben der eigenen Existenz, die hier nur der Wissende unter dem Indefinitpronomen ›er‹ bzw. unter dem Terminus ›der Jüngling‹, ›das Kind‹ u. a. erkennt, dient ihm auch hier vor allem die Figur des Anton Reiser als literarische Gewährsperson für diese Beobachtung. Dagegen können beide nur die vorsprachliche, sprachlose Körpererfahrung setzen: So geht es auch dem kleinen Anton Reiser: Sein Tun und Treiben wird ständig anders wahrgenommen, als er selbst es empfindet. Unerwartete Gesten, unglückliche Worte, sie allein »übersetzen« sein Gefühl, seine innere Verzweiflung. Und damit erreicht er die joy of grief, diese »Wonne der Tränen«, in der er sich gefällt, diesen Genuß des durch Untauglichkeit der Zeichen entstandenen Leidens.315

Ein ähnlich subversiver Akt, ein weiterer Protest gegen die Erwachsenenwelt liegt in der Masturbation nach der Demütigung und Bestrafung verborgen. Auch in diesem vorsprachlichen Rückzug in sich selbst mit Hilfe von imaginierten Bildern heiliger Märtyrer kann er der Fremdbestimmtheit, der er in der Erwachsenenwelt ausgesetzt ist, entfliehen. Gleichzeitig ist das Wissen um diese Fluchtmöglichkeit der Grund für die Repressionen und Verfolgungen, denen das masturbierende Kind ausgesetzt ist: Nun sollte man vielleicht einmal untersuchen, aus welchen Gründen die Selbstbefriedigung immer wieder unterdrückt worden ist. Mit ihr entgeht der Heranwachsende dem Befehl. Mit ihr wird er auf einen Gipfelpunkt gehoben, dessen Mittel und Zweck er zugleich ist. Er entdeckt durch die Absonderung. Mit ihr verharrt er in der freien Unbestimmtheit der Jugend, in der grundsätzlichen Unentschlossenheit zu sein, in diesem »alles taugt«, das von manchen »polymorphe Perversion« genannt

313 314 315

Georges-Arthur Goldschmidt: Der bestrafte Narziß. Aus dem Französischen von Mariette Müller. Zürich: Ammann 1994, S. 11. Ebd., S. 12. – Kursivierung im Zitat von Georges-Arthur Goldschmidt. Ebd., S. 28f. – Kursivierung im Zitat von Georges-Arthur Goldschmidt.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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wird. Von nun an ist es ihm verwehrt, an etwas zu glauben, er denkt an anderes, wo er doch nichts als seine Pflichten und Aufgaben im Kopf haben sollte.316

Die Bestrafung durch die Heimleiterin wie auch das Benutztwerden zur eigenen sexuellen Befriedigung durch seine Mitzöglinge, aber auch ihre sonstigen Quälereien des Waisenkindes sind dabei – entgegen der ursprünglichen Absichten der Täter – nicht nur Strafe und Qual, sondern auch Mittel zur gesteigerten Erfahrung des ausschließlich Eigenen, des Körpers. Den Zustand der Straflosigkeit und damit den Verzicht auf die gesteigerte Erfahrung der eigenen Körperlichkeit als Remedium gegen sprachliche Zuschreibungen erträgt der Jugendliche nur, wenn er seine ›tatsächliche‹ schuldbeladene jüdische Identität verdrängen und sich eine andere unschuldige Existenzform herbeiphantasieren kann. Dass ihm dies weder im nationalsozialistischen Deutschland noch im protofaschistischen Internat in Hochsavoyen gelingen kann, ist aus dem bislang Gesagten evident. Eine derartige Selbstverleugnung gelingt ihm nur in den Monaten bei den Hochsavoyer Bauern während der Zeit der deutschen Besatzung des Tals. Obwohl für ihn die Gefahr des Entdecktwerdens in diesen Monaten objektiv am größten ist, kann er sich gerade hier in die Identität eines autochthonen Bauernsohnes hineinleben, in der er eine Aufgabe hat und dem Bauern bei seinen alltäglichen Verrichtungen zur Hand geht; in dieser Identität kann er sein Judesein, den Masturbationszwang, die Lust an der Unterwerfung und der Verdinglichung der eigenen Person, den »Ekel, er selbst zu sein«317 wenigstens zeitweise zurückdrängen: Sollte ein Fremder vorbeikommen, hätte dieser den Knaben für jemand beliebigen gehalten, vielleicht für einen hiesigen, sogar für den Sohn des Bauern und er atmete auf im Gedanken, einstweilen nicht mehr er selbst sein zu müssen.318

Diese Versuche, sich von der eigenen Identität zu distanzieren, finden sich auch in der Form wieder, die diesen autobiographischen Texten eigen ist, und die sich – wie bereits angedeutet – in keiner Weise mit den Forderungen decken, mit denen Philippe Lejeune den ›autobiographischen Pakt‹ definiert. Dennoch verweigert Goldschmidt den autobiographischen Pakt nicht absolut, sondern spielt mit dessen Konstituenten und den diesbezüglichen Erwartungen seiner Leser, die in der überwiegenden Zahl den autobiographischen Charakter seiner Texte erkannt haben. Dies gilt vor allem für die professionellen Leser, die Kritiker und Literaturwissenschaftler, die sich mit dem Goldschmidtschen Œuvre beschäftigt haben. Im folgenden sollen einige formale Besonderheiten des Goldschmidtschen Spiels mit dem autobiographischen Pakt als Distanzierungsstrategien von der eigenen Identität gezeigt werden, die dann überleiten zur Untersuchung der tatsächlichen Autobiographie, die sich in eindeutiger Weise zum autobiographischen Pakt bekennt. 316 317 318

Ebd., S. 58f. – Kursivierungen im Zitat von Georges-Arthur Goldschmidt. Goldschmidt, Die Aussetzung (wie Anm. 310), S. 16. Ebd., S. 29.

292

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Erstes und wohl auffälligstes Merkmal der Distanzierungsstrategie des Autors von seinem Text und dessen Hauptperson ist die Vermeidung der Verwendung derjenigen paratextuellen Elemente, die eine Identifikation von Autor, Erzähler und Hauptfigur des jeweiligen Textes ermöglichen. Dazu zählt die Verwendung von Gattungsbezeichnungen für die Texte, die im allgemeinen Hinweise auf die Zugehörigkeit dieser Texte zu fiktionalen Gattungen sind: Der Spiegeltag ist als ›Roman‹ bezeichnet, die übrigen Bände verwenden den mehrdeutigen Terminus ›Erzählung‹, der sowohl eine fiktionale literarische Gattung bezeichnet als auch zur Darstellung nichtfiktionaler Sachverhalte etwa in der Geschichtswissenschaft oder in beliebigen Alltagssituationen Anwendung findet.319 In der autobiographischen Literatur jedenfalls ist die Verwendung dieses Terminus ohne Verbindung mit einem den autobiographischen Pakt dezidiert herstellenden Personalpronomen unüblich.320 Auch die weiteren paratextuellen Elemente der vorliegenden fünf Bände ermöglichen keine Identifikation von Autor, Erzähler und Hauptfigur, obwohl sich die Parallelen im Schicksal des Protagonisten, von dem man in den Texten liest, und des Autors, über den die Klappen(para)texte informieren, natürlich aufdrängen. Einer Gleichsetzung verweigern sich aber die Texte, die den Protagonisten an keiner Stelle mit dem Namen des Autors, wie er auf den Titelblättern erscheint, nennen. In dem Roman Der Spiegeltag wie auch in drei der Erzählungen bleibt der Protagonist namenlos; lediglich in der Erzählung Ein Garten in Deutschland erhält die Hauptfigur an mehreren Stellen den Namen ›Arthur‹,321 der in der Forschungsliteratur zuweilen zur Identifizierung von Autor und Protagonist geführt hat,322 obwohl ›Arthur‹ in erster Linie der Name des Va319

320

321 322

Vgl. die Definition G. von Wilperts (Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 7., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Kröner 1989 [Kröners Taschenausgabe; 231], S. 266): »allg. mündl. oder schriftl. Darstellung des Verlaufs von wirklichen oder erdachten Geschehnissen« oder Reiner Schönhaar in: Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 1990, S. 138: »mündl. oder schriftl. Darstellung von realen oder fiktiven Ereignisfolgen« bzw. von Manfred Schmeling/Kerst Walstra in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (wie Kap. 3, Anm. 90), S. 517: »Oberbegriff für die Textsorten-Klasse, Darstellung von tatsächlichen oder fiktiven Ereignissen bzw. Handlungen in mündlicher, schriftlicher oder visueller Form.« Ähnliches gilt für den Begriff ›Geschichte‹, der poetologisch ähnlich unbestimmt ist und, wenn er in Titelbestandteilen von Autobiographien zur Anwendung kommt, immer mit besitzanzeigendem Personalpronomen verwendet wird, etwa in Meno Burgs Geschichte meines Dienstlebens (EA 1854). Vgl. Goldschmidt, Ein Garten in Deutschland (wie Anm. 287), S. 82, 120, 122, 125, 138 und 140. Vgl. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 281: »Obwohl einzig in Un jardin en Allemagne (1986) der Protagonist den Namen ›Arthur‹ erhält und nur im zweisprachig gedruckten Essay ›Une chaise à deux dossiers/Ein Stuhl mit zwei Lehnen‹ das Pronomen ›ich‹ in einer den Autor identifizierenden Weise benutzt

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293

ters des Verfassers ist. Georges-Arthur Goldschmidt hat diesen durch und durch französischen Doppelvornamen erst nach seiner erzwungenen Emigration aus Deutschland erhalten. Als Kind, in Reinbek, wurde er wohl ›Jürgen‹ gerufen – ein Name, der wegen des darin enthaltenen Umlauts für eine französische Zunge nicht zu artikulieren ist – dieser doppelte Rufname bringt die gespaltene Identität des Autors wirkungsvoll zum Ausdruck.323 Die Abfassung dieser Texte in der dritten Person, die in der traditionellen Erzähltheorie zuweilen auch mit der auktorialen Erzählperspektive synonym gesetzt wird, ist hier gleichfalls ambivalent zu werten. Zwar bedient sich die klassische Autobiographie überwiegend der Ich-Perspektive, die Erzählung in der dritten Person ist aber – das Beispiel Rousseaus etwa belegt dies – durchaus nicht völlig unüblich; im allgemeinen wird sie dann aber durch die Benennung des Protagonisten mit dem Namen des Autors als autobiographisch beglaubigt. Verwendung findet die auktoriale Perspektive zumeist dann, wenn es gilt, überindividuellen Zusammenhängen und Ereignissen breiten Raum in der Autobiographie zu geben; sie ist zumeist einer Strategie der Objektivierung des Dargestellten geschuldet, die einen übergeordneten Blick auf das Dargestellte erfordert, wie ihn nun einmal nur der auktoriale Erzähler haben kann.324 Im Gegensatz dazu ist der personale Ich-Erzähler zumeist auf seine Subjektivität, auf seine individuelle Sicht der Dinge eingeschränkt, die sowohl in fiktionalen Formen als auch in der Autobiographie eingesetzt wird. Bei Goldschmidt hingegen vermischen sich Erzählung in der dritten Person und totale Subjektivität, wie sie im allgemeinen nur dem Ich-Erzähler zusteht. Dies führt dazu, dass der vermeintlich auktoriale Erzähler intime Kenntnisse des Seelenlebens des Protagonisten besitzt und nahezu ausschließlich aus dessen Perspektive zur Zeit der im Text dargestellten Ereignisse berichtet. Er verzichtet andererseits nahezu vollständig darauf, dem Leser Anhaltspunkte oder Hilfsmittel zur Erklärung des Seelenlebens des Helden zu geben. Nur an wenigen Stellen der hier besprochenen Erzählungen finden sich Einlassungen eines genuin auktorialen Erzählers, der dem Leser die Vorgeschichte des Dar-

323

324

wird, ergeben sich aus diesem textuellen Geflecht zahlreiche autobiographische Bezüge.« Vgl. hierzu den Beitrag zur Familiengeschichte der Goldschmidts von Alfred Schulz: Perspektiven eines Gleichaltrigen im Blick auf Georges-Arthur Goldschmidt, seine Familie und Reinbek. In: Asholt (Hg.), Grenzgänge der Erinnerung (wie Anm. 281), S. 35–47, vor allem dessen Brief vom 27.4.1998 zum 70. Geburtstag des Übersetzers und Autors, der im Anhang dieses Beitrages (S. 47) abgedruckt ist und mit der Anrede »Lieber Jürgen, lieber Georges-Arthur« beginnt. – Besser lässt sich die gespaltene Identität, die nicht nur selbst gefühlt, sondern auch von anderen wahrgenommen wird, kaum belegen. Vgl. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten (wie Kap. 2, Anm. 81), S. 86, der diese Form der Autobiographie als ›berichtend‹ einordnet. In seiner detaillierten Untersuchung einer berichtenden Autobiographie bezieht er sich auf die ebenfalls in der dritten Person abgefasste Autobiographie von Georg Gottfried Gervinus, die allerdings zahlreiche andere Stilmittel der Distanzierung verwendet.

294

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gestellten eröffnet, die Motivation der aus der Erlebnisperspektive mitgeteilten inneren Vorgänge des Protagonisten durch Rekurs auf die Ereignisse in der Außenwelt erklärt und geschichtliche Zusammenhänge herstellt. Der Verzicht auf die Herstellung lebensgeschichtlicher Kontinuität in der Vita des Protagonisten und die Sicherung seiner Identität mit derjenigen des Erzählers und Autors zeigt sich auch in der Verwendung der je fremden Sprache für die Erzählung des im Lande Erlebten; dies wurde bereits im ersten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich dargestellt. Ein weiteres wesentliches Merkmal der Distanzierung des Autors von seinem Protagonisten ist die Gestaltung weiter Teile der Autobiographie nach literarischen Mustern, allen voran dasjenige der Kadettengeschichte, das für die Darstellung der Kinder- und Jugendjahre in Frankreich prägend ist. Dieses Genre war in nahezu allen europäischen Nationalliteraturen beheimatet, gab es doch die zugrundeliegende Institution – die Kadettenanstalt – in allen europäischen Nationen. Es handelt sich hierbei um eine vormilitärische Erziehungsanstalt, eine Art Internat, in dem die Kinder neben einer rudimentären Gymnasialausbildung vor allem paramilitärischen und protofaschistischen Gehorsam mit allen diesen befördernden Disziplinarmaßnahmen erlernten. Mit der Aufnahme in eine solche Anstalt war der weitere Lebensweg für die Zöglinge, die Offizierslaufbahn, weitgehend determiniert. Je nachdem, welches Ansehen die militärische Laufbahn und der soldatische Ehrenkodex in einer Gesellschaft besessen haben, wandelte sich auch die Gestalt der Kadettengeschichte, die es nicht nur in der fiktionalen Gattung der Erzählung oder des Romans,325 sondern auch in autobiographischer Einkleidung gibt.326 Zählte zum selbstverständlichen Nationalstolz des 19. Jahrhunderts die Verehrung und Nachahmung militärischer Tugenden im zivilen Bereich – man denke etwa an den Typus des preußischen Leutnants der Reserve und die gesellschaftliche Stellung, die er in seiner Heimatstadt genoss –, so wandelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem aber nach dem (für Deutschland und Österreich ›verlorenen‹) Ersten Weltkrieg, die Einstellung der zivilen Gesellschaft zum Militär. Die seismographische Funktion des Schriftstellers führte daher schon bald auch zu einer Verwandlung der Kadettengeschichte. In ihr stehen jetzt nicht mehr soldatische Tugenden und die innere Disziplin der Kadettenkompanien im Mittelpunkt, durch die zumeist ein den disziplinarischen Anforderungen nicht gewachsener Kadett oder ein neu in die Anstalt aufgenommener Sonderling in die Gemeinschaft der Kadetten (zurück-) geholt wird. Jetzt bildet die protofaschistische Formierung selbständiger Individuen zu bedingungslos gehorchenden Elementen der Gemeinschaft bzw. die Vernichtung nicht thera325 326

Vgl. hierzu etwa die Erzählungen Rainer Maria Rilkes (»Die Turnstunde«, 1899/1902) und Nikolai Lesskows (»Das Kadettenkloster«, 1880). Vgl. hierzu etwa Leopold von Wieses bereits genannte Autobiographie Kindheit (wie Anm. 265) und Ernst von Salomons autobiographischen Roman Die Kadetten (1933).

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

295

pierbarer, d. h. nicht in den Schoß der Gemeinschaft rückführbarer Subjekte den Fokus der Handlung. In einem seiner beiden sprachphilosophischen Essays327 verweist GeorgesArthur Goldschmidt ausdrücklich auf eine solche Kadettengeschichte, die nicht nur autobiographisches Erinnerungsbuch ist, sondern gleichfalls soziologische Analyse der zum Militarismus führenden Gesellschaftsformen und Erziehungsmethoden sein will. Es handelt sich dabei um die bereits angeführte Kindheits- und Jugendautobiographie des 1876 geborenen Soziologen Leopold von Wiese, die dieser erstmals 1924 veröffentlicht hat und deren Ziel – zeituntypisch – weniger in der Verklärung einer glücklichen Kindheit besteht, als vielmehr in einer Warnung vor den Erziehungsgrundsätzen der preußischen Kadettenanstalten. Sie stellen für ihn die Basis einer militaristischen Gesellschaft und ihrer Kriegsbereitschaft dar, die schließlich in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mündete, die von Wiese allerdings schon 1924 wieder weitgehend vergessen wähnte: Wenn ich diese Aufzeichnungen veröffentliche, geschieht es, weil sie mir Warnungen zu enthalten scheinen, deren die Gegenwart bedarf. Viele Eltern und Lehrer sehnen sich heute nach der alten, mehr oder weniger militärischen Erziehungsweise zurück und wähnen, daß den Kindern die Zucht und Bindung der Internate alten Stils, vor allem des Kadettenkorps not täte. Überall in Deutschland mehren sich die Anzeichen einer freiwilligen »Militarisierung« des Erziehungswesens, wobei ich unter Militarisierung nicht äußere Kriegsvorbereitung, sondern eine innere Formung der Jugend nach Regeln und Grundsätzen eines unfreien Geistes verstehe.328

Goldschmidts Bekanntschaft mit Form und ideologischem Gehalt der Kadettengeschichte im allgemeinen und Leopold von Wieses Autobiographie im besonderen dürfte auf seinen akademischen Lehrer im Paris der frühen fünfziger Jahre, den Romanisten Robert Minder zurückgehen, der sich in seinen Seminaren diesem Thema widmete und zumindest einen Aufsatz über die Form der Kadettengeschichte geschrieben hat und dabei zu den oben bereits gezogenen Schlussfolgerungen gelangt ist.329 Georges-Arthur Goldschmidts Internatserfahrungen spiegeln die Erlebnisse der Kadetten in der europäischen Literatur der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg wider. Der Protagonist seiner autobiographischen Erzählungen ist den Außenseitern und Sonderlingen der Kadettengeschichte gleichgestellt, die unter Kameraden und Vorgesetzten zu leiden haben. Der Sadismus der prügelnden und den Jungen demütigenden Heimleiterin ist demjenigen der Offiziere in den Kadettenanstalten vergleichbar, die jedes abweichende Verhalten, jedes Anderssein bedingungslos bestrafen. Die Internatszöglinge vollenden in 327 328 329

Vgl. Goldschmidt, Une chaise à deux dossiers (wie Anm. 265), S. 89–91. v. Wiese, Kindheit (wie Anm. 265), S. 5. Vgl. Robert Minder: Kadettenhaus, Gruppendynamik und Stilwandel von Wildenbruch bis Rilke und Musil. In: Ders.: Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich: fünf Essays. Frankfurt am Main: Insel 1962, S. 73–93.

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vorauseilendem Gehorsam – wie in der Kadettengeschichte – das Werk der Erzieher, indem sie den Sonderling durch weitere Qualen völlig isolieren. In seinem autobiographisch inspirierten Essay Der bestrafte Narziß kann Goldschmidt deshalb auch die in einer solchen Erziehungsanstalt herrschenden Prinzipien in ihren Auswirkungen auf die Zöglinge als ein »Auschwitz im Kleinmaßstab«330 bezeichnen, weil sie die Vernichtung der ursprünglichen Identität und Individualität des Kindes durch Vergesellschaftung zum Ziel haben. Auf den Ausweg des gequälten Kindes, den völligen Rückzug in das proprium der eigenen Körpererfahrung, wurde bereits verwiesen. Da Leopold von Wiese in seiner autobiographischen Kadettengeschichte nahezu völlig darauf verzichtet, das Innenleben des gequälten Kadetten vor den Lesern auszubreiten, ist Goldschmidt hierbei auf ein anderes Vorbild aus der deutschen Literaturgeschichte angewiesen: Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Auch dieses Werk ist von den Rezipienten durchaus autobiographisch gedeutet worden. Goldschmidt selbst, der dem Anton Reiser einen Essay im Themenheft zu Karl Philipp Moritz von Text + Kritik gewidmet hat, begreift diesen ›Roman‹ so und konzentriert sich in seiner Deutung vor allem auf die Darstellung des Innenlebens seines Protagonisten, das ihm – wie sein eigenes – durch das gänzliche Fehlen von Anerkennung und Akzeptanz seitens der Außenwelt331 Identität fast nur über die »Selbsterfassung durch das ständige Zurückgeworfenwerden auf sich selbst«332 ermöglicht, das sich vor allem in seinem körperlichen und seelischen Leiden manifestiert: »Das innere Leiden scheint wie eine Antwort auf das alltägliche körperliche Leiden zu sein – als seien beide in einem fast zynischen Einklang«.333 Zu dieser Seelenverwandtschaft zwischen dem namenlosen Protagonisten in Goldschmidts Texten, den er in einem Essay als »kleine[n] Bruder Anton Reisers«334 bezeichnet, und Anton Reiser kommt noch eine gewisse Parallelität – bei aller Vorsicht, die die beiden dazwischenliegenden Jahrhunderte bei einem solchen Vergleich nahelegen – der Lebensumstände: die Trennung von den Eltern, die Quälereien und Demütigungen durch die jeweiligen Ausbildungsherren, Lehrer und Internatsleiter, die bedrückende äußere Armut bis hin zu Bewusstlosigkeit hervorrufenden Hungergefühlen. Goldschmidt zeigt diese Parallele in den inneren und äußeren Lebensumständen des Protagonisten der eigenen Texte und desjenigen Moritz’ in seinem Roman Der Spiegeltag auf, als er seine Hauptfigur in Moritz’ Roman lesen lässt:

330 331

332 333 334

Goldschmidt, Der bestrafte Narziß (wie Anm. 313), S. 42. Vgl. Georges-Arthur Goldschmidt: Die beflügelte Wahrnehmung des Leidens: zu Karl Philipp Moritz’ Roman »Anton Reiser«. In: text + kritik, H. 118/119 (April 1993), S. 31f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 25. Goldschmidt, Der bestrafte Narziß (wie Anm. 313), S. 44.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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Er nahm den Anton Reiser aus der Tasche. Die mit Bleistift unterstrichenen Passagen darin las er immer wieder. Er liebte dieses fast zweihundert Jahre alte Buch mehr als alle anderen; es erzählte, sehr genau, eine Geschichte, die er dabei als die eigene erkannte. Anton Reiser, »von der Wiege an unterdrückt«, Waisenkind zu Lebzeiten seiner Eltern, ist ein Heranwachsender, der aus christlicher Nächstenliebe gekleidet und ernährt wird von gutmütigen Hannoveranischen Bürgersleuten, wofür er diesen in einigem zu Diensten sein muß. Überzeugt, ein Auserwählter zu sein, der zu Außerordentlichem bestimmt sei, erlebt er eine Demütigung nach der anderen. Unaufhörlich zurückgestoßen (oder es sich auch bloß einbildend), ständig in einem Maße verletzt, daß ihm bei der kleinsten Tonfalländerung einer Stimme am ganzen Körper der Schweiß ausbricht, lebt Anton Reiser in einem Wechsel von Verzweiflung und Überschwang, woran das Dauerhafte einzig der Wechsel ist.335

Auch in seinem Essay über Karl Philipp Moritz scheint diese Identifikation noch einmal auf. Obwohl er hier an keiner Stelle eine unmissverständliche Parallelisierung versucht, wird sie dem informierten Leser an zahlreichen Stellen deutlich, etwa in Formulierungen, die sich mit dem sexuellen Erleben Anton Reisers beschäftigen und eine Parallele in Goldschmidts Erzählungen finden: Gerade weil Anton eine von gotthafter Schärfe gezeichnete autoerotische Erfahrung gemacht hat, die von unübertragbarer Intensität war [...] versucht er um so vehementer, dieses unübertragbare Gemeinsame an anderen zu erfassen oder zumindest zu erproben.336 Er wand sich unter der Strafe, wie der junge Römer [dessen Züchtigung in einem Lateinbuch abgebildet war; M. M.]. Noch nie hatte er eine derartige gotthafte Schärfe empfunden, er schrie auf, jubelte in sich hinein. Das würde man ihm nicht nehmen können, er wußte nun, er hatte die größte Freude entdeckt, die ihn über alles hinwegretten würde, allabendlich.337

Es sind sicherlich noch zahlreiche weitere literarische Einflüsse auf Goldschmidts autobiographische Erzählungen nachzuweisen, die alle Wesentliches zur Deutung des jeweiligen Textes beitragen können. Ich denke hier etwa an Martin Rectors Vergleich von Goldschmidts Die Absonderung und Peter Weiss’ Abschied von den Eltern338 oder an weitere Bezüge etwa zu Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törless, wo vor allem die sadomasochistisch geprägte Sexualität der Zöglinge als Grundmuster ihres protofaschistischen Verhaltens offengelegt wird. Der Nachweis des Vorhandenseins zahlreicher literarischer Bezüge, die vor allem in den Bereich einer ›semifiktionalen‹ Prosa weisen, sollte vor allem dazu dienen, das Spiel des Autors mit dem Genre der Autobiographie und somit auch mit der eigenen Identität deutlich zu machen. In dem bereits ange335 336 337 338

Goldschmidt, Der Spiegeltag (wie Anm. 284), S. 110f. Goldschmidt, Die beflügelte Wahrnehmung des Leidens (wie Anm. 331), S. 33. Goldschmidt, Die Absonderung (wie Anm. 266), S. 139. Martin Rector: Frühe Absonderung, später Abschied: Adoleszenz und Faschismus in den autobiographischen Erzählungen Georges-Arthur Goldschmidts und Peter Weiss. In: Peter Weiss Jahrbuch 4 (1995), S. 122–139.

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führten Interview mit dem Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel bekennt sich Goldschmidt ausdrücklich zu diesem Spiel, indem er seine Texte als »Autofiktionen« bezeichnet und in die Tradition der literarisierten Autobiographie, etwa Goethes Dichtung und Wahrheit, stellt: [E]s steht immer die Wirklichkeit im Hintergrund, aber sie erdichtet selbst ihren Rahmen. Le mentir vrai sagen die Franzosen, das wahre Lügen. Das ist ein sehr treffender Ausdruck. Ich glaube Aragon hat den geprägt. Es ist zugleich Lüge und Wahrheit. Wie bei Goethe: Dichtung und Wahrheit.339

Wobei zu berücksichtigen ist, dass Goldschmidt sich – zumindest in den autobiographischen Erzählungen – nur insoweit an Goethe anlehnt, als es das Prinzip der Literarisierung, die Formung eigener Erlebnisse nach literarischen Mustern (vgl. etwa die Sesenheim-Episode in Dichtung und Wahrheit und ihre Gestaltung nach dem literarischen Muster des Vicar of Wakefield von Oliver Goldsmith) betrifft, die sich über die Tatsachenwirklichkeit des Erlebten legen.340 Die Welthaltigkeit der Goetheschen Autobiographie übernimmt Goldschmidt nicht; in der Konzentration auf die Innenperspektive bedient er sich des Rousseauschen Vorbilds. Den ›Rahmen‹ bilden bei Goldschmidt die aus der literarischen Tradition überlieferten und für das eigene Schreiben fruchtbar gemachten Formen, durch die die ›Wirklichkeit‹ zum Ausdruck drängt. Ihre Verwendung ermöglicht es gleichfalls, dem eigentlich ›Unsagbaren‹ eine Form zu geben. Dabei erschöpft sich die literarische Arbeit des Autors nicht in bloßem Epigonentum oder Eklektizismus, die ein existierendes Schreibmodell bedingungslos übernehmen und fortsetzen bzw. unzusammenhängende Versatzstücke zu einem neuen Text aneinanderreihen. Durch die bewusste, äußerst kundige und fruchtbare Anverwandlung von Elementen der literarischen Tradition entsteht ein neues zusammenhängendes Ganzes, das einen adäquaten Ausdruck für das gemeinhin als ›unsagbar‹ Apostrophierte findet. Die starke Orientierung an der literarischen Tradition ist gleichzeitig Ausdruck der im Essay Der bestrafte Narziß dargestellten Grunderfahrung, sich selbst sprachlich eben nicht ausdrücken zu können, sondern in der Sprache immer verborgen zu sein. Dieses Verborgensein wird in den autobiographischen Erzählungen durch die Verwendung von Zitaten und literarischen Mustern offengelegt. Das ›Unsagbare‹, das Goldschmidt im üblichen Wortsinn eben nicht er- und überlebt hat, ist für ihn nicht die Erfahrung des Konzentrationslagers, sondern die der eigenen Individualität und Identität, die er in einer als feindlich erfahrenen Umwelt nur auf diesem nichtsprachlichen Weg bewahren kann. 339 340

Goldschmidt/Treichel, Jeder Schriftsteller ist zweisprachig (wie Anm. 312), S. 283. Zur literarischen Überformung der Wirklichkeit in den Sesenheim-Kapiteln von Dichtung und Wahrheit vgl. K.-D. Müller, Autobiographie und Roman (wie Kap. 1, Anm. 27), S. 298–310.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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Der Paradoxie, eine Autobiographie schreiben zu wollen, obwohl der eigentliche autobiographische Gehalt eines solchen Werkes ›unsagbar‹ bleiben muss, weicht er aus durch die Verwendung bzw. Anverwandlung von literarischen Zitaten und Formen, hinter denen die Wirklichkeit der eigenen Existenz zwar durchscheint, in denen sie sich aber nicht erschöpft. Unter dieser Prämisse ist deshalb auch das Motto zu verstehen, das Goldschmidt seiner Erzählung Ein Garten in Deutschland mit auf den Weg gibt: Alles über sich erzählen und doch nichts verraten.341

4.3.3 Über die Flüsse Im Gegensatz zu den ›autofiktionalen‹ Werken seiner autobiographischen Erzählungen beschreitet Goldschmidt in seiner unmissverständlich so bezeichneten ›Autobiographie‹ Über die Flüsse den traditionellen Weg der europäischen, oder noch enger gefasst: der deutschsprachigen Autobiographie in der Tradition Goethes und der französischsprachigen in der Nachfolge Rousseaus. Nicht mehr das Innenleben und die Leiblichkeit des Protagonisten in einer unverstandenen Welt stehen hier im Zentrum des Geschehens, sondern die äußeren Ereignisse und Zäsuren, die Welthaltigkeit des eigenen Lebens, mit denen sich das autobiographische Subjekt auseinanderzusetzen hat, um sich die in den autobiographischen Erzählungen erschriebene Erinnerung und psychische Disposition zu erklären.342 Da die Autobiographie erst 1999 im französischen Original publiziert und dann vom Autor selbst – auch dies eine Novität im Werk Goldschmidts – ins Deutsche übersetzt und hier 2001 von seinem deutschsprachigen Verlag veröffentlicht worden ist, liegt bislang außer einigen Rezensionen nur wenig wissenschaftliche Literatur über die Autobiographie vor. In diesen Arbeiten wird 341 342

Goldschmidt, Ein Garten in Deutschland (wie Anm. 287), S. [7]. Ina Hartwig: Verhältnisse von Hell und Dunkel: in seiner Autobiographie Über die Flüsse vollendet sich die Selbstfindung des Georges-Arthur Goldschmidt. In: Frankfurter Rundschau, Nr 276 vom 27.11.2001, S. Literatur 3, die in ihrer Rezension die Autobiographie Goldschmidts als »eine große Hommage« an Jean-Jacques Rousseau bezeichnet und sogar so weit geht, die Confessions als »das Muster seiner Selbstfindung« zu benennen, ist aber nicht zuzustimmen, weil Rousseau keinesfalls das alleinige ›Muster‹ Goldschmidts, sondern allenfalls gleichberechtigt, wenn nicht sogar dem Goetheschen Traditionsstrang untergeordnet ist. – Die Orientierung am Goetheschen Muster betont Walter Hinck: Der weiße Hund des Seins: Georges-Arthur Goldschmidts Memoiren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 234 vom 9.10.2001, S. L28, in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der er die »Phase der Unfreiheit« in Kindheit und Jugend als diejenige erkennt, die der Goetheschen – hier schon mehrfach zitierten – Formel ›den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen‹ am stärksten entspricht. Dem an Goethe orientierten Strang der Autobiographie soll deshalb hier die hauptsächliche Aufmerksamkeit gelten.

300

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Über die Flüsse zumeist in die Reihe der übrigen autobiographischen Werke integriert und der formale Bruch, der die Autobiographie von den früheren Erzählungen trennt, negiert. Neben der erst kurzfristigen Verfügbarkeit des Werkes343 liegt dies vor allem in den zahlreichen Parallelstellen und Rückverweisungen begründet, mit denen der Autor selbst für die Darstellung bestimmter Erfahrungen usw. von der Autobiographie auf die autobiographischen Erzählungen verweist, wie die beiden folgenden Zitate exemplarisch belegen: Diese Begebenheit habe ich in Ein Garten in Deutschland erzählt.344 Mehrmals habe ich schon, sowohl in Ein Garten in Deutschland wie in Der unterbrochene Wald, den Abschied [von den Eltern; M. M.] erzählt.345

Aufgrund dieser Beobachtungen kommt der Rezensent Walter Hinck zu der Erkenntnis, dass »[d]ie Lektüre [...] auf vielfache Weise zum Déjà-vu-Erlebnis wird. Denn schon die fiktionalen Texte, mit denen der Erzähler rasch die Literaturkritik überzeugte, sind an den Stromkreis seiner Lebensgeschichte unmittelbar angeschlossen«.346 Das sollte aber weniger als Ausdruck der Kontinuität zwischen den beiden Werkgruppen gesehen, sondern vielmehr als ein solcher des Bruchs interpretiert werden: Form und Inhalt der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit haben sich zwischenzeitlich gewandelt – wenn auch nicht gänzlich ins Gegenteil verkehrt –, deshalb werden bestimmte zentrale Lebensereignisse noch einmal neu erzählt. Diese Beobachtung des Bruchs bedeutet freilich nicht, dass sich nicht auch in der Autobiographie literarische Formen und Techniken finden, die Goldschmidt bereits in den autobiographischen Erzählungen benutzt hat. Hier ist vor allem an die Verwendung von »Inbildern« zu denken: Landschaften, Gegenstände und Ereignisse, die sich unauslöschlich in das visuelle Gedächtnis des »Augenmensch[en]«347eingegraben haben. Werden diese ›Inbilder‹ in den Erzählungen aber noch ohne Erklärungen verwandt und tragen so maßgeblich zur Hermetik dieser Texte bei, dienen sie hier nur noch zur Illustration des Seelenlebens des Autobiographen und seiner tiefenpsychologischen Deutung – ein Element, das Goldschmidt seiner Rousseau-Lektüre verdankt – und werden von den äußeren Bedingungen ihres Entstehens (und Fortbestehens) umrahmt. 343

344 345 346 347

Wolfgang Asholt: Ironie des Schicksals oder Notwendigkeit der Erinnerung: die Autobiographie von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Ders. (Hg.), Grenzgänge der Erinnerung (wie Anm. 281), S. 135–150, stützt seine Untersuchung auf das französische, noch ungedruckte Manuskript des Autors, das dieser ihm vorab zur Verfügung gestellt hat. Georges-Arthur Goldschmidt: Über die Flüsse: Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser. Zürich: Ammann 2001, S. 117. Ebd., S. 140. Hinck, Der weiße Hund des Seins (wie Anm. 342), S. L28. Diese Charakterisierung verwendet Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 37 für den Vater, der in seiner Freizeit begeistert und wohl auch begabt gemalt hat und von dem er »das Mitsehen« (ebd., S. 129) gelernt hat.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

301

Zugleich stellt Über die Flüsse aber auch den Abschluss seiner autobiographischen Bemühungen dar, die man nicht nur als eine sich seiner selbst versichernde bloße schriftstellerische Tätigkeit, sondern vor allem auch als persönliches Ringen mit der eigenen Vergangenheit und der eigenen Identität, als psychoanalytisch deutbare Erinnerungsarbeit und Selbsttherapie verstehen kann. Die unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Stadien dieser Therapie lassen sich in den autobiographischen Erzählungen und der eigentlichen Autobiographie erkennen, in ihnen spiegeln sich die verschiedenen Phasen des psychoanalytischen Therapieprozesses. Eva Lezzi hat in ihrer Dissertation die autobiographischen Erzählungen als eine »unendliche Autobiographie« und als »adäquateste[s] Mittel, Traumata literarisch zu gestalten«348 bezeichnet. Dabei beruft sie sich auf Freuds kleine Schrift zur Behandlungstechnik der Psychoanalyse von 1914, »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«, in der der komplizierte, langwierige und spiralförmig verlaufende Prozess der gelingenden Analyse über die allmähliche Aufsprengung des Prozesses der Wiederholung von Deckerinnerungen beschrieben wird.349 Mit Lezzi lassen sich unter dieser Prämisse die autobiographischen Erzählungen als die beiden ersten Stationen einer solchen Analyse begreifen, wie bereits im vorigen Abschnitt dieser Arbeit dargelegt wurde. Die Autobiographie Über die Flüsse hingegen stellt den Abschluss einer solchen psychoanalytischen Selbsttherapie in Form eines autobiographischen Projekts dar. Sie ist die Überwindung der ›unendlichen Autobiographie‹, die Integration des durch Deckerinnerungen Verdrängten in die eigene Identität des erwachsenen, verheirateten, beamteten französischen Staatsbürgers, die Erklärung der unverstandenen Kindheit als konstituierender Bestandteil der Identität des Autobiographen. Ohne die Autobiographie schon detailliert zur Kenntnis nehmen zu können, nimmt Lezzi diese Beobachtung in einer Fußnote ihrer Arbeit bereits vorweg: Für einen solchen gelungenen Prozeß des Durcharbeitens spricht auch die Tatsache, daß Goldschmidt mit der nächsten Publikation – mit La traversée des fleuves – eine Autobiographie zu schreiben vermag, in der die Ich-Perspektive auf einen sich selbst gewissen Erzähler und Protagonisten verweist. La traversée des fleuves ist nicht mehr als Fragment geschrieben, sondern erhält eine familiäre und – mit der darin verflochtenen Geschichte der Juden Deutschlands – eine soziohistorische Tiefendimension. Zudem führt diese Autobiographie bis in die Schreibgegenwart, in der sich der Erzähler – nach aller Erfahrung radikalster Einsamkeit – wiederum als Mitglied einer Familie, als Ehemann und Vater, zeigt.350

Goldschmidt selbst bestätigt diese Deutung des autobiographischen Schreibens als eine Form der psychoanalytischen Selbsttherapierung in einem Interview, das er der Tageszeitung Die Welt am 8. Dezember 2001 anlässlich der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises gegeben hat – ohne freilich den psychoanalytischen Hintergrund bloßzulegen: 348 349 350

Beide Zitate: Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 332. Vgl. Freud, Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten (wie Anm. 187), S. 205–215. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 335f. (Fußnote 96).

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DIE WELT: Was hat diese Beschäftigung mit dem eigenen Herkommen emotional in Ihnen ausgelöst? Es muss doch auch mit Traurigkeit verbunden gewesen sein, da es sich um ein abgeschlossenes Kapitel der europäischen Geschichte handelt. Goldschmidt: Die Traurigkeit habe ich zum Glück in den langen Jahren seit meiner Vertreibung aus Deutschland überwinden können. Das ist inzwischen alles Geschichte. Es entfernt sich von mir, weil ich darüber geschrieben habe. Die Traurigkeit war groß, als ich noch schwieg. DIE WELT: Der Akt des Schreibens hat Sie also erlöst? Goldschmidt: Ja. Jetzt habe ich mich freigeschrieben. Das Thema ist nun auch erledigt. Ich arbeite inzwischen an etwas ganz anderem.351

Der Erfolg der Anwendung der psychoanalytischen Technik in den autobiographischen Schriften und die darin begründete Rückkehr zum traditionellen europäischen Autobiographie- und Subjektdiskurs zeigt sich vor allem in der schließlichen Identifizierung von Autor, Erzähler und Protagonist – der autobiographische Pakt wird jetzt vom Autor eingehalten – und in der kontinuierlichen Darstellung des äußeren Lebens des Protagonisten von der Geburt bis hin zur beruflichen und sozialen Etablierung und Integration in die französische Nachkriegsgesellschaft, wobei der Fokus der Darstellung noch immer auf den Jahren nach der erzwungenen Trennung von den Eltern bis hin zum Abschluss seiner Studien in Paris liegt. Die folgende Zeit der zunehmenden sozialen Integration in die französische Nachkriegsgesellschaft bis hin zur unmittelbaren Gegenwart, aus der heraus vor allem die Kommentierungen des Erzählten in den Text hineinreichen, stellt Goldschmidt dann nur noch »in geraffter Form«352 dar, wohl weil »das Mirakel ungefährdeten Existierens, ohne Todesangst und ›ekelhafte Einsamkeiten‹ unglaubwürdig«353 sei. Waren die autobiographischen Erzählungen noch von der Namenlosigkeit des Protagonisten und seiner distanzierenden Ansprache in der dritten Person gekennzeichnet, erzählt der Autor nun in der Ich-Form von sich und gibt diesem Ich zur besseren Identifizierbarkeit den eigenen Namen. Aus dieser Tatsache, verbunden mit dem Rückbezug auf die autobiographischen Erzählungen, kann dann im übrigen auch para- und intertextuell auf den intentional autobiographischen Charakter schon der Erzählungen geschlossen werden.354 351

352 353 354

Georges-Arthur Goldschmidt: »Frankreich hat mich Deutschland zurückgegeben«. Der diesjährige Nelly-Sachs-Preisträger Georges-Arthur Goldschmidt über seine deutsch-französische Prägung. In: Die Welt vom 8.12.2001, Beilage »Die literarische Welt«, S. 2. Hinck, Der weiße Hund des Seins (wie Anm. 342), S. L28. Thomas Schaefer: Endlose Kindheit: Georges-Arthur Goldschmidts Lebenserinnerungen. In: Badische Zeitung, Nr 283 vom 7.12.2001, S. III. Vgl. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), S. 281: »Diese Autobiographie ergänzt und decouvriert viele der in den Erzählungen dargestellten Begebenheiten und unterstreicht somit noch einmal deren autobiographischen Charakter.« – Eine genauere Untersuchung der Autobiographie unterbleibt jedoch auch noch bei Lezzi.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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In formaler Hinsicht bemerkenswert an der Autobiographie ist auch, dass es Goldschmidt nun möglich ist, sich tatsächlich zweisprachig zu erinnern, d. h. den eigenen Text adäquat in die ›andere‹ Muttersprache zu übertragen. Die wenigen Stellen, an denen er seine Übersetzungen mit sehr sorgfältigen Kommentaren versieht, um vor sich selbst und dem Leser Rechenschaft über seine Übersetzertätigkeit abzulegen, wie auch das »Vorwort« zeigen, dass er die frühen und durchaus überzeugend begründeten sprachphilosophischen Thesen zur Unvereinbarkeit der beiden Sprachen so nicht mehr aufrechtzuerhalten gewillt ist. Statt dessen ist es ihm gelungen, die seelischen Widerstände und Verdrängungsmechanismen zu überwinden, die ihm die eigenen Erinnerungen nur in einer in die jeweils andere Muttersprache übersetzten Form zugänglich gemacht haben. Im »Vorwort« zu seiner Autobiographie reflektiert er über diesen Perspektivwechsel: Möglicherweise weiß doch der Autor am besten, was und wie er es meinte, er versteht den Text, so wie er ihn im Entstehen in sich fühlte; jedenfalls, wenn er das Glück hat, »zweisprachig« und selber Übersetzer zu sein, weiß er genau, wie und ob er seinen Text in der anderen Sprache erkennen würde. Er weiß, wie seine Inbilder aussehen, wie sie liegen, und es kommt darauf an, daß diese Inbilder auch für ihn in der anderen Sprache die gleichen sind, daß sie erkennbar bleiben, in ihm so stehen, wie er sie empfand.355 Es geht um die Übermittelbarkeit des Erlebten, welches zwischen den Sprachen liegt, aber sich nur in der Sprache verwirklicht. Auch braucht der Übersetzer-Autor das Übersetzen als Bestätigung der dargestellten Inwelt, und dabei merkt man, daß man doch nur aus einem stummen Vortext, der schon immer da war, übersetzt hat. Hat man nun wirklich das Glück gehabt, von diesem Vortext als vom eigenen Unbewußten geleitet worden zu sein, kann man dann selber, soweit man sie beherrscht, den Text in alle Sprachen der Welt übertragen, denn das Sprachliche überhaupt ist doch das Allermenschlichste an sich.356

In diesem »Vorwort« nennt Goldschmidt noch ein weiteres Argument für die eigene Übersetzertätigkeit, das mit Überlegungen in den frühen sprachphilosophischen Essays korrespondiert und diese aufhebt. Der früheren Behauptung, das Deutsche sei seine ›Exilsprache‹ geworden, aus der ihn der Nationalsozialismus mit seinem Missbrauch dieser Sprache ausgestoßen habe, setzt er nun die trotzige Selbstbehauptung in genau dieser Sprache entgegen: Vor allem soll gezeigt werden, daß keiner die Sprache eines anderen bestimmen kann im Namen irgendwelcher sogenannter Zugehörigkeit. Jede Sprache gehört jedem. Mir aber wurde von den Hitlerbarbaren die deutsche Sprache verboten, ich wurde als zehnjähriger Junge aus ihr verstoßen. Mir wurde bestellt, ich löge, wenn ich ein deutsches Wort in den Mund nähme, ich sei nicht zum Deutschen berechtigt. In der deutschen Sprache wurden auch alle Vorkehrungen erdacht und getroffen, um meinesgleichen abzuschaffen. Das Deutsche wurde die Sprache des Verbrechens und des Mordens, die Sprache wurde geschändet und verdorben wie sonst keine an355 356

Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 7. Ebd., S. 9.

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dere, Paul Celan hat es in Bremen gesagt: »Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah«, aber, wie er auch sagte: »Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja trotz allem«, und mir, trotz allem, wurde sie zurückgeschenkt, bewahrt geblieben.357

Das Leben dieses Ichs wird dann fast ausschließlich aus einer auktorial zu nennenden Außenperspektive des Erzählers dargestellt, der aus einer gewissen Distanz heraus die individuellen und kollektiven Bedingungen seiner Existenz reflektiert. Dies bedingt den nahezu vollständigen Verzicht auf die erzählerischen Mittel der autobiographischen Erzählungen, die hier nicht noch einmal aufgezählt werden sollen. Durch diese Veränderung des point of view gewinnt der Autor die Möglichkeit der Wertung des Dargestellten aus einer quasiolympischen Position heraus. Er erreicht dies vor allem durch den Verzicht auf die Rekonstruktion des kindlichen Blickwinkels auf die Ereignisse und ihre Interpretation. Die jetzt gewählte Erzählperspektive lässt sich als identisch mit derjenigen des schreibenden Autors denken, der zwar noch immer versucht, die jeweilige Erlebnisperspektive seines damaligen Ichs zu rekonstruieren (aber nicht mehr sie nachzuerleben), aber gleichzeitig auch zu kommentieren und zu deuten. Dazu bedient er sich der Kenntnisse, die er im Laufe seines Lebens erworben bzw. für die Arbeit an seiner Autobiographie neu erarbeitet hat. Die Duldsamkeit der autobiographischen Erzählungen, in denen der Text an nahezu keiner Stelle die Fiktion der Erlebnisperspektive des wehrlosen Kindes verlässt, ist einer wehrhaften und wertenden Gegenwartsperspektive gewichen. Durch sie wirft er einen stark reflektierenden – manchmal vielleicht ein wenig ungerechten358 – Blick sowohl auf das eigene Leben als auch auf die es bedingenden historischen, politischen und sozialen Komponenten sowie die anderen Akteure dieser Autobiographie. Zu diesem Zweck ist vor allem die Situierung des autobiographischen Individuums in seinem Umfeld wichtig, die perspektivisch auf das eigene Leben hinführt. Dazu zählt eine ausführliche Rekonstruktion des familiären Hintergrunds, den Goldschmidt mit dem »Ur-Urgroßvater Schwabe«,359 der in der Mitte des 18. Jahrhunderts geboren ist, beginnen lässt. Parallel dazu gibt Goldschmidt eine ausführliche Darstellung des Lebens der Hamburger jüdischen 357 358

359

Ebd., S. 8. Hinck, Der weiße Hund des Seins (wie Anm. 342), S. L28 etwa weist darauf hin, dass die Interpretation des Verhaltens von Ludwig Landgrebe, Goldschmidts Schwager, höchst einseitig und stellenweise wohl auch unzutreffend ist. Goldschmidt stellt den Husserl-Schüler als hemmungslosen und überangepassten Opportunisten im Geiste Heideggers dar, dem Goldschmidts ganzer Hass gilt. Tatsächlich konnte Landgrebe während des Dritten Reichs seine Universitätskarriere, auch wegen seiner jüdischen Frau, nicht fortsetzen. Goldschmidts Blick ist hier – das Recht des Autobiographen – von dem Verhalten seiner Schwester und Landgrebes nach dem Krieg, als sie ihn in einer Erbschaftsangelegenheit wohl übervorteilt hatten, geprägt. Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 13.

4.3 Georges-Arthur Goldschmidt

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Gemeinde seit dem »Ende des 17. Jahrhunderts«.360 Der Zeitraum, den die Familiengeschichte der Goldschmidts in dieser Autobiographie umfasst, ist somit derjenige vom Beginn des Emanzipationszeitalters an, in das die Familie – der Gang der Autobiographie belegt dies – sehr stark involviert ist, bis in die unmittelbare Gegenwart des Autor-Erzählers hinein, in der das Leben der Schwester in Deutschland als ein Gegenentwurf zu der radikalen Loslösung Goldschmidts von den Leitgedanken der Assimilation begriffen und verurteilt wird. Der Weg der Assimilation führt die Vorfahren Goldschmidts zu einer zunehmenden Entfremdung von der jüdischen und zu einer Annäherung an die deutsche Kultur bis hin zur scheinbar vollendeten Assimilation der deutschnational eingestellten Eltern, deren Leben peinlich genau in den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit verläuft und nach ihrer protestantischen Taufe schon in der Kindheit keinerlei Beziehung mehr zum Judentum hatte: Mit Leidenschaft und Begeisterung wurden die Juden bald noch deutscher als die Deutschen selbst. Dem war jedenfalls so in meiner Familie, einer an sich deutschen Familie[...].361

»[W]ie es damals Mode war«, »wie es sich so gehörte«,362 »[w]ie es sich gehörte«363 lauten daher auch die durchgängigen Charakterisierungen des elterlichen Lebensstils. Die Verwendung der Impersonalpronomina ›es‹ und ›man‹ belegen scheinbar die Zugehörigkeit zum deutschen Großbürgertum und die vermeintliche Selbstverständlichkeit ihrer Behauptung. Aus der Distanz des in der Gegenwart lebenden Autors und Erzählers wird diese Behauptung eher bestritten als bestätigt, weil sie durch die inzwischen gemachten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse als illusorisch entlarvt worden ist. Dies belegt das folgende Zitat, das sowohl die Illusion der Zugehörigkeit als auch die Wahrnehmung der auch in der Weimarer Republik noch unüberbrückbaren Differenzen von Deutschen und Juden zeigt: [M]an entsprach in jeder Beziehung den Anforderungen der sozialen Klasse, der man angehörte. Meine Eltern taten alles, um nicht aufzufallen, als kämen sie aus der Verblüffung nicht heraus, doch als ›salonfähig‹ erachtet zu werden.364

Neben den eigenen Erinnerungen »durch die Übermittlung der Anekdoten und Erzählungen, des Wortschatzes, der Gewohnheiten, ja sogar der Verhaltensweisen«365 im Familienkreis stützt sich Goldschmidt in diesen der Familienge360 361 362 363 364

365

Ebd., S. 14. Ebd., S. 22. Beide Zitate: ebd., S. 36. Ebd., S. 56. Ebd. – Diese Passage in Goldschmidts Autobiographie erinnert stark an Ludwig Greves Wahrnehmung der Behauptung des bürgerlichen Status der eigenen Eltern, deren Leben allerdings in strikter Trennung von demjenigen des nichtjüdischen Bürgertums abgelaufen ist. Greve bediente sich in seiner Autobiographie der Metaphorik des Theaterspiels zur Charakterisierung dieser Existenzform. Ebd., S. 31.

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schichte gewidmeten Kapiteln verstärkt auf Werke wissenschaftlichen Charakters, die die eigenen Erfahrungen objektiv untermauern und das individuelle Schicksal der jüdisch-assimilierten Familie in den größeren Zusammenhang der historischen und sozialen Entwicklungen stellen, wie er dem unmittelbar Erlebenden im allgemeinen nicht zur Verfügung steht. Dieses Zitieren wissenschaftlicher und autobiographischer Quellen – etwa Stefan Zweigs Autobiographie Die Welt von gestern366 oder Victor Klemperers Tagebücher367 – ist ein durchgängiges Verfahren dieser Autobiographie,368 um den nichtfiktionalen Charakter des Textes durch Beglaubigung der darin enthaltenen Fakten durch Bezug auf andere, ebenfalls nichtfiktionale Texte zu unterstreichen. Es markiert so eine wesentliche Distanz zu den früheren autobiographischen Erzählungen und dem dort überwiegenden Verfahren des Erzählens aus der Innenperspektive des Protagonisten, das die Hermetik der Texte wesentlich bedingt. Parallel dazu bedient sich Goldschmidt in den autobiographischen Erzählungen – zumindest formal und in der Wahl seiner literarischen Motive – aus dem reichen Reservoir des fiktionalen Erzählens. Die Forschung hat sich der Aufdeckung dieser Spuren mit großer Hingabe gewidmet; ihre Erkenntnisse sind auch in die Interpretationen des vorangegangenen Abschnitts eingeflossen. Auch diese Erkenntnis markiert die Distanz zwischen jenen autobiographischen Erzählungen und dieser explizit so benannten Autobiographie. Durch das Verfahren der Rekonstruktion der äußeren Wirklichkeit aus den überlieferten Quellen nähert sich Goldschmidt also von außen der eigenen Existenz, indem er »Die Herkunft«,369 »Die Eltern«,370 »De[n] Ort und das Haus«371 als überindividuelle Bedingungen der eigenen Existenz präsentiert, bevor er dann den eigenen Lebensweg chronologisch nachzeichnet. Die Vorgeschichte des eigenen Lebens situiert Goldschmidts eigene Existenz an einem Wendepunkt des deutsch-jüdischen Verhältnisses, das seit dem 18. Jahrhundert von einer zunehmenden, aber einseitigen Annäherung der Juden an die nichtjüdische deutsche Kultur und Lebensform geprägt war. Seine eigene Verwobenheit in diese Sozialgeschichte des deutschen Judentums seit der Aufklärung, die sich in der hier erzählten Familiengeschichte verdichtet, zeigt bereits der Eingangssatz des ersten Kapitels der Autobiographie, der von den beiden Porträts der Urgroßeltern im Korridor seiner Pariser Wohnung erzählt. Gleichzeitig reflektiert Goldschmidt aber auch hier schon die eigene Abgeschnittenheit von der Familientradition: Die beiden ovalen Bilder [...] sind die einzigen Erbstücke, die mir zuteil wurden.372 366 367 368 369 370 371 372

Vgl. ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. etwa ebd., S. 22, 24, 38, 122, 133f. und 311. Ebd., S. 13–35. Ebd., S. 36–52. Ebd., S. 53–63. Ebd., S. 13.

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Der weitere Verlauf der Autobiographie wird dann zeigen, dass diese Abgeschnittenheit auch eine vom Autor selbst gewollte Loslösung von seiner deutschen Vergangenheit ist: »Eine überflüssige Rückkehr« ist das Kapitel überschrieben, das seinen ersten Besuch nach dem Krieg im noch zerstörten Deutschland beschreibt, der keine Heimkehr ist, sondern so etwas wie den endgültigen mentalen Abschied vom deutschen Judentum und seinen Assimilationsbestrebungen markiert. Auf Drängen seiner Schwester und aus Abscheu sowohl vor ihrer Anbiederung an das Volk der Täter, wie er ihre anhaltenden Assimilationsbestrebungen wohl deutet, als auch vor der ›Unfähigkeit zu trauern‹, die seine Schwester mit der übrigen deutschen Restbevölkerung teilt und die Goldschmidt nur als zynisch zu verstehen vermag, verzichtet er auf jede materielle Entschädigung seines Verlustes, auf jeden weiteren Erinnerungsgegenstand: Ich bin aber sehr froh und war es schon immer, Deutschland nichts verdanken zu müssen, das wäre eine Art Anerkennung derer gewesen, die meine Abschaffung wollten, es wäre schließlich eine Legalisierung des Genozids gewesen.373

Seit der Gründung des Kaiserreichs waren die legislativen Barrieren, die die Sonderstellung der Juden in Deutschland begründet haben, weggefallen und – so stellt Goldschmidt es dar – die sozialen vermeintlich im Schwinden begriffen, da setzt plötzlich ein völliger Umschwung in diesem von vielen Zeitgenossen als unumkehrbar wahrgenommenen Prozess ein, der in die intendierte Auslöschung des gesamten jüdischen Lebens münden sollte: Der Autor weist ausdrücklich auf die zwiespältige Situation gerade dieses ursprünglich liberalen Großbürgertums jüdischer Herkunft zur Zeit des Wilhelminismus hin. Zum einen hatte die Assimilierung eben dieser Schicht in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts erhebliche Fortschritte gemacht, zum anderen wurden jedoch angesichts des Bismarckreiches liberale Prinzipien zugunsten der nationalen Integration mehr und mehr aufgegeben[.] [...] Die Assimilierung tangiert also nur die gesellschaftliche Oberfläche; ohne daß es noch zu direkten Manifestationen von Antisemitismus käme, existiert dieser zumindest latent weiter. Dann aber scheint es so, als sollte mit der Generation der Eltern eine wirklich unumkehrbare Integration gelingen.374

In diese historische Situation wird der kleine Jürgen hineingeboren. Die wesentlichen Erinnerungen an seine Kindheit gruppieren sich daher um diesen Dualismus zwischen subjektiver Selbstwahrnehmung der Eltern, die sich auf das Kind überträgt, und objektiver Fremdwahrnehmung durch die zunehmend stärker antisemitisch eingestellte Außenwelt des Heimatdorfes, die das Nichtverstehenkönnen zur zentralen Lebenserfahrung des Jungen macht, aus der heraus sich schließlich ein Schuldbewusstsein manifestiert, das sich – mangels 373 374

Ebd., S. 312. Asholt, Ironie des Schicksals oder Notwendigkeit der Erinnerung (wie Anm. 343), S. 138.

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Kenntnis seiner jüdischen Herkunft – durch die repressive Sexualmoral auf die eigene frühkindliche, von den Eltern und dem Hausarzt unterdrückte Sexualität fokussiert. Das alles und vor allem die daraus resultierenden psychischen Störungen des Kindes hat Goldschmidt ausführlich in seinen autobiographischen Erzählungen, vor allem in Ein Garten in Deutschland berichtet; es soll hier nicht noch einmal dargelegt werden.375 Wolfgang Asholt hat in seiner Untersuchung darauf hingewiesen, dass dieser Dualismus in der Autobiographie dann aber zum prägenden Stilmittel der Darstellung der Reinbeker Jahre des Kindes geworden ist: Während die Eltern und in besonderer Weise der Vater eine soweit wie möglich vorangetriebene Integration repräsentieren, die nach 1933 für sie völlig unvorbereitet und brutal zerstört wird, muß der Sohn von Beginn seiner Entwicklung an mit dem Bewußtsein einer zunehmend stärkeren Ausgrenzung seiner Person und seiner Familie leben. So verwundert es nicht, daß seine Weltsicht aufgrund dieser Erfahrung dichotomisch strukturiert ist. Zweiteilungen charakterisieren die elterliche Villa ebenso wie den Garten oder die sich an ihn anschließende Landschaft[.] [...] Auch wenn es sich dabei teilweise um eine retrospektive Projektion handeln kann, so liegt dem doch eine fundamentale Erfahrung zugrunde, welche die gesamte Kindheit zu einer Grenzverschiebung, zu einem erzwungenen Wechsel von einem Bereich in den anderen werden läßt.376

Vorrangiges Interesse des Autobiographen bleibt aber immer die Erklärung und Objektivierung des Dargestellten. Dazu dienen neben den historischen Exkursen mit ihren angelesenen Erkenntnissen, die selbstverständlich nicht nur die Familiengeschichte kommentierend begleiten, sondern auch der Erzählung der Jahre im Kinderheim beigegeben sind,377 vor allem die Porträts der Personen um den Protagonisten der Autobiographie. Diese Porträts reichen von Miniaturen von Personen, die nur kurz in Goldschmidts Leben getreten sind – etwa der Junge, der neben Goldschmidt im Internat als ›Bettnässer‹ isoliert wurde und dessen »Andenken zumindest auf diesen Seiten erscheine[n]«378 375 376

377

378

Vgl. hierzu vor allem Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 88f., 94– 96 und das Kapitel »Eine schuldhafte Kindheit«, S. 97–110. Asholt, Ironie des Schicksals oder Notwendigkeit der Erinnerung (wie Anm. 343), S. 139. – Auch der Titel der Autobiographie, Über die Flüsse, weist auf diesen Dualismus hin, ebenso die Metaphorik der Doppeltüren zwischen zwei Räumen, zwischen denen das Kind sich so gerne aufhält. – Vgl. Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 66f. Sie werden allerdings mit dem allmählichen Erwachsenwerden des Protagonisten weniger, wohl weil hier genügend eigene Einsichten in die Zeitläufte vorausgesetzt werden, um das eigene Leben sinnvoll in einen überindividuellen Zusammenhang einordnen zu können. Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 194. – An dieser Stelle wird der Memorialaspekt dieser Miniaturen und Porträts besonders deutlich, auch wenn es sich bei dem Jungen nicht um einen Märtyrer für den jüdischen Glauben handelt.

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soll –, bis hin zu ausgefeilten Charakterstudien etwa der Mutter oder des Vaters, denen ein ganzes Kapitel sowie zahllose weitere Stellen gewidmet sind. Das zeigt sich auch in den Passagen, die seine Jahre im Kinderheim zum Gegenstand haben, die ja bereits in den autobiographischen Erzählungen ausführlich behandelt worden sind. Wurde die Außenwelt dort nur wahrgenommen, insofern sie die Innenwelt des Protagonisten tangierte, stehen hier die Außenwelt und die sie bevölkernden Personen nahezu im Zentrum der Erzählung. Ausführlich wird etwa der Charakter der Heimleiterin und die Motivation ihres Handelns dargelegt, die der Autor selbst nur durch langwierige Recherchen erfahren haben kann. Aber auch die Person des Bruders erfährt eine ausführliche Würdigung. War den autobiographischen Erzählungen seine gleichzeitige Anwesenheit mit dem Autobiographen im Kinderheim kaum zu entnehmen, geschweige denn andere Informationen über ihn zu bekommen,379 erfährt man in der Autobiographie die wesentlichen Wegmarken auch seines Lebenswegs, der ihn – einige Jahre älter als der Autor – vom Kinderheim direkt in die Resistance führt. Zwar kommen auch hier die existenzbedrohenden Ängste jener Jahre zur Sprache, gewinnen aber nicht das Übergewicht, das sie in den Erzählungen besitzen. In der Autobiographie werden sie als zwar prägende, die eigene Existenz aber nicht ausschließlich bestimmende und formende Bestandteile des Lebens begriffen. Ihre Darstellung dient vor allem – hier stellt Goldschmidt sich eindeutig in die Tradition Rousseaus oder etwa auch Karl Philipp Moritz’ – der tiefenpsychologischen Deutung und Erklärung seiner psychischen Disposition, was es notwendig macht, auf die Hermetik der Darstellung, wie sie für die autobiographischen Erzählungen charakteristisch ist, zu verzichten. Chronologisch neben, aber auch vor und nach ihnen gibt es weitere zahlreiche wesentliche Faktoren, die gleichgewichtig zur Darstellung kommen und damit ein weiteres Charakteristikum der Autobiographie im Unterschied zu den autobiographischen Erzählungen markieren. Tatsächlich nehmen jene Jahre im Kinderheim, um die letztlich alle autobiographischen Erzählungen – bis auf Ein Garten in Deutschland – kreisen, lediglich ein Fünftel des Textes ein, das chronologisch in den Lebensweg des Protagonisten eingebettet ist. Sind in diesen Passagen inhaltliche Redundanzen und Überschneidungen mit den Erzählungen unumgänglich, ist das letzte Drittel der Autobiographie der Zeit nach der Befreiung bis in die Gegenwart gewidmet. Einzelheiten aus dieser Zeit, insbesondere aus den Pariser Studienjahren, hat Goldschmidt bereits in Der Spiegeltag berichtet, wo diese Zeit allerdings nur als Folie zur Darstellung der Erinnerung an Kindheit und Jugend und an das Überwältigt379

Vgl. hierzu z. B. jene beiden Sätze aus Die Aussetzung: »Auf einmal, unerwartet, fiel ihm der größere Bruder ein, den sie ihm immer vorgezogen hatte, als Beispiel gegeben hatte. Seit dem Tag, als die Deutschen gekommen waren, beide abzuholen, hatte er kein einziges Mal mehr an ihn gedacht, ihn einfach vergessen, so sehr war er mit sich selber beschäftigt gewesen.« (Goldschmidt, Die Aussetzung [wie Anm. 310], S. 175).

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werden von den Schuldgefühlen des Überlebenden dient. In der Autobiographie gewinnen die Jahre der Vorbereitung auf das Abitur und des Studiums einen Eigenwert für die Persönlichkeitsentwicklung des Autobiographen; sie werden hier nicht mehr ausschließlich als Zeit der Stagnation und der Retrospektive interpretiert, sondern als Beginn der Orientierung und Etablierung in der französischen Gesellschaft.380 Deshalb gewinnen in diesen Passagen die traditionellen Elemente der europäischen Autobiographik wieder breiteren Raum als in den Kapiteln, die den Jahren im Kinderheim gewidmet waren. Immer stärker treten jetzt intellektuelle und soziale Bildungserlebnisse in den Blick des Autobiographen, die es ihm schließlich auch ermöglichen, seinen Schuldkomplex zu überwinden. Zu dieser Rückführung in die Tradition zählt aber zunächst einmal das Phänomen der »endlich entdeckte[n] Kindheit«,381 die dem nunmehr beinahe schon Erwachsenen erst jetzt, als er zum französischen Abitur gebracht werden soll zugestanden wird: Im Alter von siebzehn Jahren holt er die Spiele der Kindheit nach und erlebt das Erwachen der Sexualität als normalen Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung. Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung ist die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Lektüre von Rousseaus Confessions, die in jenem Jahr Gegenstand der Abiturprüfung waren. Das erste intellektuelle Bildungserlebnis leitet also die Befreiung von jenem seit frühester Kindheit durch die Erziehung im Geist der Schwarzen Pädagogik seitens der Eltern und der Heimleiterin in Florimontane sowie durch das unverstandene Judentum verstärkten Schuldkomplex ein, der sich mit seiner frühkindlichen Sexualität verbunden hat. Erst jetzt – durch die Erfahrung der Normalität seiner ›Taten‹ (die er aber auch bei seinen Mitzöglingen, von denen er ja missbraucht worden ist, kennengelernt hat) und 380

381

Die Darstellung jener Jahre in Der Spiegeltag ließe sich vielleicht am treffendsten mit einem Rekurs auf Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« deuten. Goldschmidt hat Benjamin ins Französische übersetzt und dürfte deshalb mit seinen geschichtsphilosophischen Thesen vertraut sein. Der Blick des Engels aus der IX. These, der den Blick dem ursprünglichen Paradies zugewandt hat, von ihm aber unablässig weiter weg in die Zukunft getrieben wird, gleicht jenem des Protagonisten der autobiographischen Erzählungen, der »wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen« (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp Bd I,2 [1974], S. 691– 704 [Text] und Bd I,3 [1974], S. 1223–1266 [Kommentar], S. 697) möchte, aber den Gesetzen der Zeit nicht entrinnen kann: der pathologische Blick jenes Engels ist es, den Goldschmidt in der Autobiographie zu überwinden vermag, indem er sich umwendet, sich von der Vergangenheit löst und in die Zukunft blickt. Die von Eva Lezzi erkannte traumatische Perspektive auf die eigene Vergangenheit entspricht dem pathologischen Blick des Engels (auch wenn Benjamins Thesen weniger von den Erkenntnissen der Psychoanalyse als denjenigen der marxistischen Geschichtsdeutung inspiriert gewesen sind). Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 271.

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vor allem seiner Gedanken, die er erst durch die Lektüre als ›normal‹ und weit verbreitet fand – kann er sich selbst als ›normal‹ akzeptieren: Ich war in einem Zustand völliger Verwirrung, das Blut schlug mir in den Schläfen, ich kam kaum noch zu Atem und stand auf und setzte mich wieder, immerfort. Die Tränen traten mir in die Augen, es war eine Befreiung, ich war also nicht der einzige, der auf sonderbare Weise die Strafe genoß und daraus den Gegenstand seiner Wachträume machte.382

Gleichzeitig ist in dieser frühen Rousseaulektüre und ihrer ziemlich ausführlichen Darstellung in der Autobiographie383 auch ein poetologisches Muster vorgegeben, das ihm nicht mehr nur die Erkenntnis der eigenen psychischen Disposition, sondern auch die Möglichkeit ihrer Darstellung und Reflexion – nämlich die auktoriale Erzählperspektive – erlaubt. Damit sind die beiden zentralen Phänomene des weiteren Verlaufs der Autobiographie als Bildungsgeschichte Goldschmidts benannt: die intellektuelle und soziale Etablierung in der französischen Nachkriegsgesellschaft und somit das Nachholen einer normalen Persönlichkeitsentwicklung, die äußerlich in der Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft am 4. März 1949 gipfelt: Es gab keinen Bruch mehr zwischen der Umgebung und mir. Bis dahin hatte ich immer eine merkwürdige Illegitimität zwischen mir und meinen Empfindungen gefühlt, alle meine Empfindungen endeten immer in der Falte meines rosafarbigen ziehharmonikaartig zusammengelegten Ausländerausweises, als »bevorzugter ausländischer Resident«. Das war eine leise und vertraute Drohung, die mich in der Emigration bleiben ließ. Von nun an zeigten die Michelinwegweiser aus emailliertem Beton Ortschaften an, die zur natürlichen Kontinuität meines Blickfeldes gehörten. Es war als ob auf einen Schlag die ganze Räumlichkeit des Landes und seine geschichtliche Vergangenheit bis zu mir hinführten, ich gehörte dazu wie jeder andere Franzose.384

In diesen Zusammenhang der neu gewonnenen Zugehörigkeit zu Frankreich, seiner Landschaft, seiner staatlichen und gesellschaftlichen Organisation sowie seinen Menschen gehört auch die Verwurzelung in der Geschichte des neuen Heimatlands, die er sich auf archäologischen Radreisen durch die nähere Umge-

382 383

384

Ebd., S. 250. Die Stelle Rousseaus nimmt in den und für die autobiographischen Erzählungen – sowohl was die psychologische Durchdringung des Dargestellten als auch die poetologische Funktion (Erlebnisperspektive, Fiktionalisierung) anbelangt – die Lektüre von Moritz’ Anton Reiser (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser: ein psychologischer Roman. Mit einem Nachwort von Max von Brück. 9. Aufl. Frankfurt am Main: Insel 1993 [insel taschenbuch; 433]) ein, die vor allem in Der Spiegeltag ausführlich reflektiert wird. – Vgl. hierzu etwa Goldschmidt, Ein Garten in Deutschland (wie Anm. 287), S. 78f., 98 sowie 110–112. Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 309.

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bung seiner neuen Heimat ›erfährt‹. Die ersehnte Autochthonie,385 die den tatsächlich Eingeborenen von Anfang an zugehört, muss er sich durch Versenkung in Architektur, Geologie und Geographie seiner neuen Heimat erst erwerben: Diese Vergangenheit war auch die meinige, man brauchte sich nur hineingleiten zu lassen mit ein wenig Aufmerksamkeit, und wenn man den Körper gehen ließ, nahm diese Vergangenheit in einem Platz.386

Das Wunder der Normalität, das sich erst allmählich und von zahlreichen Rückschlägen behindert einstellt, schlägt sich vor allem in der Verwendung kollektiver Formeln nieder, die die eigene Zugehörigkeit bezeichnen. »Wie viele Schüler in meiner Generation entdeckte ich«,387 »[w]ie jedermann entdeckte ich auch«,388 »[a]ndere vor mir [...] hatten [...] wie ich«389 usw. betonen das Glück dieser Zugehörigkeit. Die tatsächliche Zugehörigkeit wird durch die Verwendung der Personalpronomina ›ich‹ und – viel entscheidender – ›wir‹ symbolisiert und unterscheidet sich von der angemaßten der Eltern in Deutschland, die sich selbst durch die Verwendung der Impersonalpronomina ›man‹ und ›es‹ entlarvt. Erst jetzt kommt es zu wirklichen persönlichen Freundschaften, die über die kurzfristigen Notgemeinschaften der Internatszeit hinausgehen, etwa mit Gérard Genette an der Sorbonne oder Jean Zimmermann, mit dem er sogar selbstverfasste Literatur austauscht. Die Internatszeit mit ihrem durch die sadistisch strafende Aufseherin geprägten Frauenbild, das ihn wohl auch zunehmend homoerotisch und homosexuell geprägt hat, tritt zunehmend in den Hintergrund und macht einem ›normalen‹ Bild der Frau und der Sexualität Platz: Von nun an war die Frau, die ich nur mit Vorwürfen im Munde oder zum Strafen bereit gekannt hatte, nicht mehr die einzige, sie würde in Zukunft immer weniger Platz in meiner Phantasie einnehmen, und die wahre Frau würde sich mir offenbaren. Ich war mir dessen sicher, ich würde heiraten, Kinder haben. Es war eine Sicherheit meines tiefsten Wesens, ich wußte meine zukünftige Frau irgendwo, sie lebte an einem ganz präzisen Ort, von dem ich überhaupt nichts ahnte.390

Natürlich gibt es zahlreiche Rückschläge in dieser Entwicklung, die ihn auf seine Einsamkeit – der Mangel an Geld, Wohnung und Familie kann hier wohl als Grund angegeben werden – und seine Homosexualität, die er selbst als »überhaupt nicht [...] meine tiefere Neigung«391 bezeichnet, zurückwerfen. Es 385

386 387 388 389 390 391

Vgl. hierzu etwa die in Die Aussetzung geschilderten Bemühungen auf dem Bauernhof La Lavraz, wohin er vor der deutschen Besatzung geflohen war, heimisch zu werden, um seine Vergangenheit vergessen zu machen – vor sich selbst und den anderen. Goldschmidt, Über die Flüsse (wie Anm. 344), S. 331. Ebd., S. 228. Ebd., S. 229. Ebd., S. 248. Ebd., S. 269. Ebd., S. 305.

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gelingt ihm schließlich diese Rückschläge zu überwinden und sein Leben in die bürgerliche Lebensform der Ehe und Kleinfamilie zu überführen. Auf diesem Weg durchlebt er die üblichen Adoleszenzkrisen gut ausgebildeter, aber über ihren weiteren Lebensweg unsicherer junger Intellektueller, die ihn über Hauslehrertätigkeiten und Militärdienst schließlich in den Staatsdienst führen, wo er an verschiedenen Stellen tätig ist und schließlich während seines Referendariats als Gymnasiallehrer seine zukünftige Frau kennenlernt, die ihn die letzten Schritte auf dem Weg ins Erwachsenenleben tun lässt: Ab diesem Augenblick öffnete sich für mich, jeden Tag mehr, der Weg in die Normalität, ich verließ Maubuisson und mietete bei der Mutter eines in l‘Isle-Adam wiedergefundenen Mitschülers aus Florimontane ein Dienstmädchenzimmer im sechsten Stock eines Wohnhauses des Boulevard Péreire. [...] Natürlich war es mir schwer, den Schritt zwischen schuldbeladener Adoleszenz und Reife zu machen, und mit meiner Braut war ich so boshaft und aggressiv, wie man es nur sein kann. Ich mußte unbedingt versuchen, daß nicht stattfinde, was aus mir einen normalen Menschen gemacht hätte. Auch wenn jemand anderer darunter leiden würde, war ich mir selbst gegenüber zur Rolle des vom Schicksal Verworfenen, des Außenseiters, des genialen Unverstandenen verpflichtet, obgleich ich eigentlich nie wirklich daran geglaubt hatte.392

Dieser letzte Schritt auf dem Weg in die Normalität sowie der weitere Verlauf des Lebens werden – obwohl sie chronologisch natürlich den längsten Zeitraum markieren – in lediglich einem Kapitel der Autobiographie, das allerdings das letzte und längste ist, abgehandelt. Hier fällt vor allem die ironische Distanz in der Darstellung jener aus der Überfülle des Wohlstands erwachsenen Adoleszenzkrisen auf,393 die in keinem Verhältnis zu den existentiellen Krisen seiner Kindheit und Jugend stehen, die er deshalb auch mit gebührendem Ernst und Aufmerksamkeit abgehandelt hat. Dieses Unverhältnis zu den (eigentlich) prägenden Jahren und Erfahrungen sowie ihre extrem verknappte und ironisch distanzierte Darstellung, verbunden mit dem Übergewicht der Familiengeschichte sowie der eigenen Kindheit und Jugend, markieren den wesentlichen Unterschied zur traditionellen europäischen Autobiographik, wo ja der Fokus der Handlung auf den späteren Jahren der Adoleszenz liegt. Die Erfahrungen der Verfolgung und Traumatisierung in der Kindheit und Jugend sowie ihre Bewältigung in den darauffolgenden Jahren als Voraussetzungen für die Schaffung der primären Existenzgrundlagen, die in den ›gewöhnlichen‹ Autobiographien im allgemeinen Voraussetzung der Darstellung der eigenen Individualität sind, müssen hier zunächst erzählt werden, bevor – mit deutlich abgeschwächter Relevanz – die Darstellung der Integration in die französische Nachkriegsgesellschaft erfolgt. Aufgrund der 392 393

Ebd., S. 382f. Vgl. hierzu vor allem ebd., S. 363f., wo er die Irrwege zum Ruhm des frisch graduierten Studenten darstellt, der sowohl das philosophische Werk der Gegenwart als auch den »Roman[s] der Zukunft« zu verfassen gewillt ist.

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Exzeptionalität der frühen Jahre, die deshalb eine ausführlichere Darstellung verlangen, kann die verblüffende Normalität, mit der sich diese Integration letztlich vollzieht, verhältnismäßig knapp abgehandelt werden. Viel auffälliger aber ist die radikale Abkehr von den Konzeptionen der modernen Autobiographie, wie sie sich in Abkehr von der idealistischen Subjektphilosophie und der Dekonstruktion des Subjekts durch die Psychoanalyse und die philosophischen Strömungen seit der letzten Jahrhundertmitte entwickelt haben. Gilt Goldschmidt in seinen autobiographischen Erzählungen noch durchaus und zu Recht als Vertreter einer solchen modernen Autobiographiekonzeption,394 hat er mit Über die Flüsse eindeutig den (Rück-) Weg in die Tradition angetreten, indem er in voller Überzeugung seiner Identität und Individualität die Kontinuität seines Lebens bestätigt und ihm dadurch einen ›Sinn‹ unterlegt, der es ihm ermöglicht, auch die bislang verdrängte bzw. in ein unbenanntes ›er‹ ausgelagerte Kindheit und Jugend als Bestandteil seiner gegenwärtigen Identität als Franzose, als Lehrer, als Ehemann und Vater zu integrieren und nicht mehr als ›das Fremde‹ oder ›das Andere‹ verdrängen zu müssen.

394

Vgl. etwa die Arbeiten von Holdenried, Im Spiegel ein anderer (wie Kap. 1, Anm. 4) und Holdenried, Das Ende der Aufrichtigkeit? (wie Anm. 290) und Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 140), die sich um eine Gesamtdeutung der autobiographischen Erzählungen (soweit sie schon erschienen waren) bemühen.

Literaturverzeichnis

Das Literaturverzeichnis ist in drei Abteilungen untergliedert: – die erste enthält die Nachweise aller gedruckten zur Recherche deutschsprachiger jüdischer Autobiographien verwendeten bibliographischen Hilfsmittel; sie tauchen in den Fußnoten nicht auf. – die zweite enthält die Nachweise aller zitierten Autobiographien. – alle übrige zitierte Literatur findet sich – in alphabetischer Folge nach Autoren bzw. Sachtiteln geordnet – in der dritten Abteilung des Literaturverzeichnisses.

Bibliographische Hilfsmittel Bode, Ingrid: Die Autobiographien zur deutschen Literatur, Kunst und Musik 1900– 1965: Bibliographie und Nachweise der persönlichen Begegnungen und Charakteristiken. Stuttgart: Metzler 1966. Jessen, Jens: Bibliographie der Autobiographien. 4 Bände. London, New York [u. a.]: Saur 1987–1996. Klańska, Maria: Aus dem Schtetl in die Welt 1772–1938: ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien [u. a.]: Böhlau 1994. Literatur zum Judentum: Hg. von Rachel Salamander. München: Literaturhandlung Literatur zum Judentum 1997ff. Literaturlexikon (1988–1993): Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy u. a. 15 Bände. München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1988–1993. Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur: jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (suhrkamp taschenbuch; 3529). Malo, Markus: Bibliographie jüdischer Autobiographen. (Elektronische Ressource: http://www.markus-malo.de/Autobiographien_Bibliographie.html).

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Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei all jenen, die mir in den immerhin neun Jahren, die die Fertigstellung dieser Arbeit – die letzten sieben davon neben meiner Vollzeitberufstätigkeit – in Anspruch genommen hat, geholfen haben. Genannt sei an erster Stelle Professor Dr. Klaus H. Hilzinger, der Betreuer dieser Arbeit, der mich in manchen schwierigen Situationen geduldig begleitet und in der Fortsetzung meiner Untersuchungen bestärkt hat. Auch Professor Dr. Horst Thomé hat mich in meiner Arbeit immer wieder bestärkt und mir wertvolle Impulse gegeben; auch ihm danke ich an dieser Stelle. Weiterhin seien die zahlreichen Bibliotheken mit ihren hilfreichen Kolleginnen und Kollegen bedankt, die mir besonders in der mühevollen Anfangsphase beigestanden haben. Danken möchte ich weiterhin meinen geduldigen Korrekturleserinnen, die der Masse von Tipp- und Bezugsfehlern (hoffentlich) Frau geworden sind. Dass es ihnen wahrscheinlich nicht gelungen ist, alle verschlungenen Satzkonstruktionen lesbar zu machen, ist allein meine Schuld. Deshalb möchte ich mich auch noch bei Professor Dr. Hans Otto Horch, der die Arbeit trotzdem in die Reihe Conditio Judaica aufgenommen hat, und bei Frau Doris Vogel bedanken, die mein Typoskript gemäß den redaktionellen Richtlinien der Reihe überarbeitet und das mühevolle Geschäft der Umsetzung der neuen Rechtschreibregelung auf sich genommen hat.

Personenregister

Adler, Siegfried 189 Adorno, Theodor W. 33–34, 45–46, 50, 265 Ahren, Yizhak 176 Aichinger, Ingrid 31, 33, 35, 37 Alexander II. (Zar) 88, 98 Amery, Jean 244 Arndt, Rudi 189 Asholt, Wolfgang 308 Assmann, Jan 58 Ayren, Armin 187–188 Bach, Johann Sebastian 108 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 197 Bartels, Adolf 109 Barthes, Roland 72, 247 Bäumker, Clemens 170 Benjamin, Walter 17, 33–34, 42, 44–46, 49, 132, 134–135, 141– 143, 151, 153, 159, 278 Benz, Wolfgang 75, 205 Berkovits, Eliezer 62 Beutler, Ernst 133 Beyer-Fröhlich, Marianne 11 Bismarck, Otto von 16 Blanckenburg, Friedrich von 20–21 Bloch, Fritz 189 Bloch, Philipp 171–172 Blum, Edgar 169–170 Blume, Bernhard 37–38, 47 Boccioni, Umberto 108 Böll, Heinrich 183–184

Borchardt, Rudolf 136, 143, 145, 150–153 Borowski, Tadeusz 244 Brinkmann, Rolf Dieter 208–209, 212 Brocke, Michael 160 Brod, Max 93 Buber, Martin 155, 179 Burckhardt, Jacob 8, 13, 33 Busoni, Ferruccio 105, 107–108 Canetti, Elias 63, 68–69 Carmely, Klara Pomeranz 55, 91, 94–95, 177–180 Celan, Paul 304 Cervantes, Miguel de 42 Cohen, Arthur Allen 61 Culler, Jonathan 238 Dan, Joseph 171 Dante Alighieri 42 Dienstfertig, Alexander 189 Dilthey, Wilhelm 1, 6, 8–12, 23, 129, 131 Döblin, Alfred 93 Doesseker, Bruno Siehe Wilkomirski, Benjamin Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 42, 44 Eckermann, Johann Peter 22 Edvardson, Cornelia 244 Einstein, Carl 49

336 Ellis, Marc H. 61 Emmerich, Wolfgang 42, 83 Engels, Friedrich 82, 197 Fackenheim, Emil 61 Finkelstein, Edith 189 Fisch, Walter 189 Fischer, Samuel 114 Flaubert, Gustave 96 Francke, Hermann 19 Frank, Grete 189 Frank, Lotte 189 Freud, Sigmund 39–40, 128, 283 Fuhrmann, Manfred 14 Fürst, Hanna 189 Fürst, Margot 182 Fürst, Max 95, 126, 181–191 Fürst, Rosa 189 Gaulle, Charles de 277 Genette, Gérard 27, 312 George, Stefan 153 Gide, André 46 Giesz, Ludwig 264 Ginsberg, Irma 189 Giordano, Ralph 258 Glagau, Hans 12 Glagau, Otto 89 Gläsel, Sammy 189 Glückel von Hameln 52–53 Goethe, Johann Wolfgang 1, 9, 16, 18, 22–25, 27–30, 32–37, 43, 81, 96, 127–130, 132–133, 137, 144– 145, 153, 231, 250, 277, 298–299 Goldschmidt, Georges-Arthur 3, 206, 249, 272–275, 278–279, 281–283, 286–287, 289, 291, 293, 295–309, 311, 314 Goldsmith, Oliver 28, 298 Gollwitzer, Helmut 179 Gottfeld, Hertha 189 Graetz, Heinrich 170 Greenberg, Irving 62 Greve, Evelyn 229

Personenregister

Greve, Ludwig 3, 64, 166, 182, 184, 206–232, 267 Grieshaber, HAP 182 Grimm, Brüder 280 Groh, Dieter 84 Grünwald, Kate 189 Günter, Manuela 39, 48–52, 55 Gutzkow, Karl 116 Haar, Carel ter 198 Haas, Alois M. 176 Hamburger, Herbert 189 Hamburger, Michael 203–204 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 25, 27, 43, 137, 145, 174 Heidelberger-Leonard, Irene 263 Heine, Heinrich 126 Heißenbüttel, Helmut 181, 183–184 Herz, Henriette 87 Herz, Walter 189 Herzl, Theodor 94, 165–166 Hessing, Jakob 148 Heym, Stefan 69, 142, 153 Heyse, Paul 113 Hinck, Walter 300 Hirsch, Rudolf 214 Hitler, Adolf 75, 89, 99, 101, 140, 158, 182, 193, 243, 258, 275, 277 Hofmannsthal, Hugo von 135, 153 Holdenried, Michaela 5–6, 47–48 Homer 42 Hutterer, Rosa 189 Jacoby, Bertold 189 Jochmann, Carl Gustav 142, 153, 277–278 Jung-Stilling, Johann Heinrich 18– 20, 25, 28 Justi, Carl 129 Kafka, Franz 93, 153 Kahane, Max 189 Kahn, Sieke 189 Kallner, Rudolf 155

337

Personenregister

Kant, Immanuel 53–54 Kleiber, Theodor 11 Klemperer, Victor 306 Klüger, Ruth 3, 63, 69, 72–73, 76– 79, 181, 204, 206, 233–259, 261– 262, 264–272 Knopp, Guido 75 Kracauer, Siegfried 49 Kraft, Werner 2, 95–96, 126–155, 159, 164, 173–176, 221, 278 Kraus, Karl 93, 153–154 Kroner, Ilse 189 Kyros II. 58 Landauer, Gustav 93 Landmann, Salcia 176 Lassalle, Ferdinand 197 Lehrburger, Karl 189 Leiris, Michel 249, 273 Lejeune, Philippe 17, 72, 206, 248, 273, 291 Lennert, Rudolf 128 Lessing, Gotthold Ephraim 86 Lessing, Theodor 143, 149, 151, 153 Lesskow, Nikolai 44 Levi, Primo 70, 244 Levy, Hanna 189 Lezzi, Eva 283, 301 Litten, Hans 182, 186–190 Löwensohn, James 189 Löwith, Karl 77 Ludwig I. (König von Bayern) 24 Lukács, Georg 17, 29, 33–34, 42– 46, 134–135 Lukrez 118 Luxemburg, Rosa 197 Mach, Ernst 39–40 Mahrholz, Werner 12 Maimon, Salomon 52–55, 86 Mann, Thomas 35, 46

Marr, Wilhelm 89 Martini, Fritz 37 Marx, Karl 39–40, 82, 197 Maybaum, Ignaz 61 Mayer, Hans 36–37 Mehring, Franz 197 Mendelssohn, Moses 52, 75, 86, 156 Meyrink, Gustav 172, 217–219 Miething, Christoph 52, 55 Miller, Norbert 96 Minder, Robert 295 Misch, Georg 1, 5–6, 8–12, 23, 131 Mittelmann, Rubin 189 Moritz, Karl Philipp 22, 114, 128, 283, 296–297, 309 Moses, Berthold 189 Mosès, Stéphane 163–164 Mozart, Wolfgang Amadeus 108 Müller, Klaus-Detlef 14, 18, 21, 30, 34 Musil, Robert 46, 167, 297 Neubauer, Martin 109 Neumann, Bernd 12, 33, 35, 37, 162, 225 Nietzsche, Friedrich 39–40 Niggl, Günter 6, 14–16, 18–19 Nolte, Ernst 258 Ossar, Michael 198 Pächter, Heinz 189 Pächter, Hilde 189 Peiper, Gisa 189 Peiser, Frida 189 Perec, Georges 249, 273 Petain, Philippe 277 Pfitzner, Hans 108 Picard, H. R. 47 Prager, Ruth 189 Proust, Marcel 46, 278, 281

338 Rakusin, Serge 189 Rathenau, Walther 93, 101–102, 104 Rector, Martin 297 Riesman, David 35 Rosenthal, Leo 189 Roth, Leo 189 Rousseau, Jean-Jacques 54, 128, 278, 283, 293, 299–300, 309–310 Rubenstein, Richard Lowell 61 Sahl, Hans 67 Samuelowitsch, Raphael 189 Sauer, Fritz 189 Schatz, Andrea 160 Schiller, Friedrich 32, 116 Schlösser, Manfred 156 Schnitzler, Arthur 91–92, 96, 104 Scholem, Gershom 2, 95–96, 126, 147, 154–172, 174–176, 194, 207–208, 221, 229–231, 251 Scholem, Reinhard 157 Scholem, Werner 157–158 Schulze, Peter 149 Schwarz, Egon 37, 76–77, 79, 204 Scrase, David 215 Shakespeare, William 136 Sill, Oliver 21, 41, 47–48 Sloterdijk, Peter 83 Sokrates 119, 123 Sperber, Manès 65–67, 70 Steinberger, Nati 189 Stöcker, Adolf 89 Susman, Margarete 155–156 Tgahrt, Reinhard 213–214 Toller, Ernst 2, 93, 95, 126, 192– 195, 197–199

Personenregister

Torberg, Friedrich 245 Treichel, Hans Ulrich 289, 298 Treitschke, Heinrich von 89, 126 Tynjanov, Jurij 36 Varnhagen, Rahel 87 Volkov, Shulamit 84 Vollers-Sauer, Elisabeth 26 Wagner-Egelhaaf, Martina 6 Walser, Martin 253, 262, 270–271 Wassermann, Jakob 2, 93–94, 96– 111, 113–114, 116–123, 125– 126, 148, 154–157, 164, 179, 197, 221, 231 Weigel, Sigrid 161 Weil, Grete 65, 71 Weininger, Otto 238–244 Weiss, Peter 244, 270–271, 297 Wiedemann, Conrad 52–54 Wieland, Christoph Martin 20, 26 Wiese, Leopold von 274, 295–296 Wiesel, Elie 79 Wilhelm II. 193 Wilkomirski, Benjamin 73 Wilpert, Gero von 265–266 Wolf, Christa 244 Wolzogen, Ernst von 113 Yerushalmi, Yosef Hayim 61 Zimmermann, Jean 312 Zweig, Arnold 93, 177, 180–181, 192, 288 Zweig, Stefan 306