Begriffsgeschichte im Umbruch 3787316930, 9783787316939

Gibt es eine Zukunft der begriffsgeschichtlichen Forschung nach dem Abschluß der disziplinären Großprojekte? In exemplar

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Begriffsgeschichte im Umbruch
 3787316930, 9783787316939

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Meiner

Ernst Müller (Hg.)

Begriffsgeschichte im Umbruch?

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft Jahrgang 2004

Archiv für Begriffsgeschichte Begründet von Erich Rothacker Herausgegeben von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Christof Rapp

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Begriffsgeschichte im Umbruch? Herausgegeben von Ernst Müller

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: – – – – –

Archiv für Begriffsgeschichte Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Aufklärung. Interdisziplinäre Zeitschrift für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie Hegel-Studien

Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter »www.meiner.de«.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über . ISBN 3-7873-1693-0 Archiv für Begriffsgeschichte · ISSN 1617-4399 · Sonderheft Jg. 2004 © Felix Meiner Verlag 2005. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type &Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Münzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/afb

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Ernst Müller Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxis und Methode Ralf Konersmann Wörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik . . . . .

21

Margarita Kranz ›Wider den Methodenzwang‹? Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosophie – mit einem Seitenblick auf die Ästhetischen Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Dietrich Busse Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Bild, Metapher und Palimpsest Helmut Hühn Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹, ›Orient‹ und ›Okzident‹ als begriffsgeschichtliche Herausforderung . . . . . . . . . . . .

59

Stefan Willer Metapher und Begriffsstutzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Klaus Krüger Bild – Schleier – Palimpsest. Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Begriffsgeschichte und politische Semantik Clemens Knobloch ›Rasse‹ vor und nach 1933 – vornehmlich in den Geisteswissenschaften . . .

113

Martin Wengeler Tiefensemantik – Argumentationsmuster – soziales Wissen: Erweiterung oder Abkehr von begriffsgeschichtlicher Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

6

Inhalt

Registrierung der Semantik – zwischen alten und neuen Medien Dieter Kliche Zwischen Lemmatisierung und Registrierung. Über die Schwierigkeit, ästhetische Grundbegriffe zu bestimmen . . . . . . .

147

Michael Niedermeier Grund- und Wesenswörter. Probleme der Darstellung in einem thesaurischen Autorenwörterbuch. Ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . .

159

Robert Charlier Synergie und Konvergenz. Tradition und Zukunft historischer Semantik am Beispiel des Goethe-Wörterbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Gunter Scholtz Vom Nutzen und Nachteil des Computers für die Begriffsgeschichte . . . . .

185

Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Im Februar 2004 fand am Zentrum für Literaturforschung (Berlin) ein zweitägiger Workshop unter dem Titel Begriffsgeschichte im Umbruch statt, zu dem Sigrid Weigel, Direktorin des Zentrums, und der Herausgeber eingeladen hatten. Ausgangspunkt der Tagung war die Vermutung, daß der voraussehbare Abschluß der zunächst letzten groß angelegten Begriffsgeschichtsprojekte (der Philosophie, Rhetorik und Ästhetik) keineswegs auch das Ende begriffs- und semantikgeschichtlicher Forschung bedeuten wird. In einer weiteren historischen Perspektive sollten deswegen die diskursiven Voraussetzungen der Begriffsgeschichte analysiert, in einer engeren die derzeit vor ihrer Beendigung stehenden disziplinären Projekte verglichen, ihre Realisierung an ihren Ansprüchen gemessen, der Forschungsstand und Desiderate der theoretisch-methodischen Debatten sowie begriffsgeschichtliche Experimente gesichtet werden. Vor allem ging es um die Frage, ob und wie sich der derzeitige kulturwissenschaftliche Umbau der Geisteswissenschaften auf den Gegenstandsbereich und die Methoden von Begriffsgeschichte und historischer Semantik auswirken könnte. Das betraf insbesondere die interdisziplinäre Konfiguration der Gegenstände von Begriffsgeschichte sowie das Verhältnis der herkömmlichen Begriffsgeschichte zur Metaphorologie, Diskursgeschichte, Epistemologie und Sprachpragmatik. Zugleich stand zur Diskussion, ob und wie die neuen Techniken des Computers für die begriffsgeschichtliche Recherche, die Registrierung und vernetzte Darstellung semantischer Wissensbestände genutzt werden können. Die Beitragenden waren aufgefordert, ihre methodologischen Überlegungen mit exemplarischen Fallstudien zu verbinden. Die Spannbreite der Teilnehmer (aus Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichts-, Kultur-, Kunst- und Literaturwissenschaft) reichte von den Vertretern solcher Projekte, die direkt in die großen begriffsgeschichtlichen Wörterbücher involviert sind, über ebenfalls zur historischen Semantik arbeitende, aber bislang in die Debatten weniger einbezogene Projekte, wie das Goethe-Wörterbuch, bis hin zu solchen, deren experimentierende Ansätze neue, die Begriffsgeschichtsforschung bereichernde Gegenstände und Methoden versprechen. Die Tagung fand eine die Erwartungen der Veranstalter übertreffende Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Daß die Beiträge des Workshops nun in einem Band publiziert werden können, verdankt sich der freundlichen Fürsprache des langjährigen Herausgebers des Archivs für Begriffsgeschichte, Gunter Scholtz (Bochum), und der Unterstützung durch die Lektorin des Felix Meiner Verlages, Marion Lauschke, aber auch der Bereitschaft fast aller Autoren, ihre zunächst lediglich als Diskussionsthesen gedachten Beiträge in kurzer Zeit für den Druck auszuarbeiten. Robert Charlier und Stefan Willer konnten nachträglich als Autoren gewonnen werden. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Vorwort

Silvia Pohl (Berlin) hat die Aufsätze des Bandes redaktionell bearbeitet. Der Herausgeber glaubt auch im Namen der Autoren sprechen zu können, wenn er ihr für die sorgfältige Redaktion der Texte einen besonderen Dank abstattet. Ernst Müller, Berlin Oktober 2004

Einleitung

Ernst Müller

Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Einen historischen Index haben nicht nur die Begriffe, sondern auch die Erforschung ihrer Geschichte. Das trifft auf beide, ursprünglich deutsche Ausgangspunkte der Begriffsgeschichte und historischen Semantik zu: auf das Historische Wörterbuch der Philosophie (HWPh), Vorbild für Lexika verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen, und auf die Geschichtlichen Grundbegriffe der historisch-politischen Sprache in Deutschland. Während letztere sowohl national wie international methodisch modifizierte Nachfolgeprojekte gefunden haben, ist das konkurrenzlose HWPh während seiner Realisierung nicht nur hinsichtlich der Lemma-Auswahl, sondern auch, was die methodische Konzeption betrifft, kontinuierlich verändert worden. Nicht zuletzt beruht die unbestreitbare Erfolgsgeschichte des HWPh darauf, daß die Herausgeber auf eine einheitliche Theorie und Methodologie aus pragmatischen Gründen weitgehend verzichteten (vgl. den Beitrag von Margarita Kranz in diesem Band). Das als Hilfsmittel viel benutzte HWPh hat deswegen auf die systematische Philosophie weniger innovativ gewirkt als etwa Reinhart Kosellecks Geschichtliche Grundbegriffe auf die Geschichtswissenschaften. Tatsächlich hat Joachim Ritter in seinem Vorwort die geisteswissenschaftlichen und hermeneutischen Prämissen nur äußerst zurückhaltend markiert: von der »sich realisierende[n] Bildung des Geistes« ist die Rede sowie davon, »daß die Philosophie im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Richtungen und Schulen sich als perennierende Philosophie fortschreitend entfaltet«.1 Ritter läßt das Programm weniger als Programm und die Ausschlüsse kaum als Ausschlüsse erkennen, sondern überführt beide in Pragmatik. Obwohl das HWPh im Grunde weniger Begriffsgeschichte im engeren Sinne bietet, sondern die Verwendungsgeschichte philosophischer Termini dokumentiert,2 erzeugt die Invarianz von Termini den Schein einer analogen Kontinuität philosophischer 1 Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter. Bd. 1 (Basel 1971) VI f. Zur Kritik des Konzepts von linguistischer Seite vgl. Clemens Knobloch: Überlegungen zur Theorie aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992) 7–24. 2 Vgl. Winfried Schröder: Was heißt ›Geschichte eines philosophischen Begriffs‹? In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz. Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft (Hamburg 2000) 159–172.

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Einleitung

Bedeutungen. Auch die Aussparung der Metaphorik wird von Ritter nicht theoretisch, sondern nur pragmatisch begründet. Dabei ist, wie zeitgleich Hans Blumenberg gezeigt hat und wie es Stefan Willer im vorliegenden Band noch zuspitzt, der zeichentheoretische Status von Metaphern so umfassend prekär, daß ihre Reflexion und Einbeziehung ein neues Licht auf die Begriffgeschichte insgesamt wirft.3 Schließlich geht Ritter implizit davon aus, daß Ausgangs- und Endpunkt der disziplinären Aufsplitterung der Wissenschaften die Philosophie bleibe. Philosophie als Geisteswissenschaft ist Universaldiskurs, wobei impliziert wird, daß auch die Genese wissenschaftlicher Begriffe keiner anderen als der ideengeschichtlichen Logik folgt. Diese vor 35 Jahren noch weithin akzeptierten, im weiteren Sinne geisteswissenschaftlichen und hermeneutischen Voraussetzungen, sind gerade im letzten Jahrzehnt einer prinzipiellen Neuorientierung gewichen, die nun als kulturwissenschaftlicher Umbau der Geisteswissenschaften gefaßt wird. Begriffsgeschichte ist dabei auch zu einem genuinen Thema der Literaturwissenschaft geworden, weil sie es mit Sprache in ihrer Entwicklung zu tun hat und philologisch arbeitet. Wenn im folgenden, trotz der Vagheit dessen, was heute darunter verstanden wird, von einem positiven Begriff von Kulturwissenschaften ausgegangen wird, dann durchaus in dem Bewußtsein, daß sich solche Bezugnahme zwischen der Charybdis traditioneller Geisteswissenschaften und der vielköpfigen Szylla modischer Trends bewegt. Es gibt aber Hinweise dafür, daß die Kulturwissenschaften nicht nur an Begriffsgeschichte interessiert sind, sondern die von ihnen in den Blick genommenen Gegenstände und Methoden befruchtend auf die Begriffsgeschichte zurückwirken können. Anknüpfend an jüngere Arbeiten4 betrifft das 1. die interdisziplinäre Konfiguration der begriffsgeschichtlichen Gegenstände, insbesondere die Einbeziehung der (Natur-)Wissenschaften und Künste, 2. die Verbindung von Begriffsgeschichte und historischer Semantik, 3. die Erweiterung der Begriffsgeschichte um Diskursgeschichte und die rhetorische Seite der Begriffe, insbesondere die metaphorische, und 4. das Bewußtsein der medialen Verfaßtheit von Wissensregistern.

I. Interdisziplinäre Konfiguration der Gegenstände der Begriffsgeschichte Während die wichtigsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen inzwischen die Geschichte ihrer Begriffe reflektiert haben, hat der seit dem 19. Jahrhundert gerade in der deutschen Entwicklung anhaltende Methodendualismus zwischen ideographisch-historischen Geistes- und nomothetisch konzipierten 3 J. Ritter konzediert mit Hans Blumenberg, daß die Einbeziehung der Metaphern an die »Substruktur des Denkens« heranführen würde, J. Ritter: Vorwort, a. a. O. [Anm. 1] IX. 4 Vgl. Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz, a. a. O. [Anm. 2]; Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002); Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt (Heidelberg 2003).

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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Naturwissenschaften dazu geführt, daß die historische Semantik der Naturwissenschaften bislang kaum erforscht worden ist. Rückblickend läßt sich feststellen, daß die methodische Ausprägung der philosophischen Begriffsgeschichte historisch nahezu parallel mit ihrer geistesgeschichtlichen Verengung verlief. Ernst Cassirer, Lehrer Joachim Ritters, hatte die historische Semantik zwar als Methode mit umfassendem Anspruch konzipiert. Gerade aber der heute für die kulturwissenschaftliche Öffnung der Begriffsgeschichte wiederholt in Anspruch genommene Satz aus dem Essay of Man: »Die Regeln der Semantik, nicht die Naturgesetze, liefern die allgemeinen Grundsätze für das historische Denken«,5 kann in seiner Oppositionsbildung verdecken, daß die Naturgesetze ebenso ihre historische Semantik haben, wie umgekehrt andere kulturelle Diskurse vielfach ihre Semantik den Naturwissenschaften entlehnen. Dabei verkennt eine (mehr oder weniger implizite) Unterscheidung von Fakten und ihrer Interpretation, daß bereits die Formierung von Fakten in einem diskursiven Feld stattfindet. Während es der lange von der Ideenund Terminologiegeschichte dominierten Begriffsgeschichte in Deutschland nur mühsam zu gelingen scheint, ihre geistesgeschichtliche Herkunft (im Anschluß an den Dilthey-Schüler Erich Rothacker und an Hans-Georg Gadamer) abzulegen, so hat sich unabhängig davon die französische Wissenschaftsgeschichte früh auf die Syntagmatik synchroner Diskurse und ihre Brüche konzentriert, wobei wiederum die Diachronie der Begriffsentwicklung oft ausgeblendet wird.6 Wenn Ritter davon ausging und dieses Prinzip im HWPh auch praktisch umgesetzt wurde, daß die verschiedenen Verwendungsweisen von Begriffen, »die sowohl in der Philosophie wie in fachwissenschaftlichen Disziplinen ihren Ort haben, und ebenso Begriffe, wie ›Feld‹, ›Struktur‹ u. a., die in verschiedenen Wissenschaften eine tragende, aber durchaus differenzierte Bedeutung haben«,7 jeweils in getrennten Abschnitten darzustellen seien, dann wird nicht nur das historischgenetische Prinzip durchbrochen, sondern es werden gerade die für diese verschiedenen Verwendungsweisen interessanten Phänomene der semantischen Übertragung ausgeblendet. Gleichwohl hat gerade die Begriffsgeschichte, in der sich zunehmend internationale Standards durchgesetzt haben, der kulturwissenschaftlichen Wende zugearbeitet: indem sie antiteleologisch ein verstärktes Bewußtsein davon entwickelt hat, daß sämtliche Wissensformen historisch erzeugt sind. Der methodische Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften kann unterlaufen werden, wenn die ›harte Ontologie‹ (Dietrich Busse) der Naturwissenschaften bezogen auf die Historizität ihrer Semantik nicht anders als die Gegenstände der Geisteswissenschaften behandelt wird. Dennoch ist ein historisch-semantischer Ansatz, der, dezidiert interdisziplinär, den Akzent auf semantische Übergänge, auf

5 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. A. d. Engl. übers. von Reinhard Kaiser (Hamburg 1996) 297. 6 Vgl. Friedrich Balke: Das Ethos der Epistemologie (Nachwort). In: Gaston Bachelard: Epistemologie (Frankfurt a. M. 1993) 235–252. 7 J. Ritter: Vorwort, a. a. O. [Anm. 1] X.

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Einleitung

disziplinenübergreifende Begriffe und die Semantik der Naturwissenschaften legen würde, ein Desiderat. Es ginge dabei um solche Konfigurationen von Gegenständen und ihren zugehörigen Praktiken, die quer zu den bestehenden Disziplinen stehen. Die vorliegenden Wörterbücher leisten das bestenfalls für die Zeit, in der sich die Einzeldisziplinen noch unter dem Dach der Philosophie entwickelten, also vor der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften. Umgekehrt gibt es in der Wissenschaftsgeschichte (der französischen Tradition von Gaston Bachelard, Georges Canguilhem bis Michel Foucault) methodische Ansätze, die Geschichte der Epistemologien von der ›Genealogie der Begriffe‹ her zu entwickeln.8 Und auch hierzulande wendet sich die Wissenschaftsgeschichte zunehmend der Historisierung gerade derjenigen Begriffe zu, die die Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften verfestigt haben.9 Was mit der interdisziplinären Konfiguration der Gegenstände und der Untersuchung ihrer historischen Semantik an der Schnittstelle von Natur und Kultur gemeint ist, läßt sich exemplarisch an Figuren zeigen, die am Zentrum für Literaturforschung bearbeitet werden. Das Projekt Generation, Genealogie etwa veranschaulicht, wie mit der Zäsur des Übergangs von der Präformationslehre zur Epigenesis ›Genealogie‹ zu einem zentralen Dispositiv für Biologie und Zeugungslehre wird, während gleichzeitig eine Familialisierung des ›Generationen‹Begriffs erfolgt, die das heutige soziologische Konzept präfiguriert; die semantische Dimension von Generation als mythologisches Narrativ, als zyklisches Zeitmodell und als Repräsentation von Verwandtschaftsordnungen verschwindet dabei. Das Projekt zu Erbe, Erbschaft wiederum zeigt, wie heute unterschiedlichen Fächern (Biowissenschaften, Recht, Soziologie, Ökonomie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Literatur- und Kunstwissenschaft) zugeordnete Phänomene ineinander verschränkten Umbrüchen von Vorstellungen und Praktiken um 1800 entsprangen: als Naturalisierung und ›Verinnerlichung‹ der Vererbung, als Kodifizierung des Erbrechts, als Futurisierung des Lebens, als Politisierung und Nationalisierung des kulturellen Erbes und als Familialisierung und Individualisierung. Die interdisziplinäre Konfiguration der begriffsgeschichtlichen Gegenstände öffnet sich aber nicht nur der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, sondern auch – jenseits der Textmedien – den Archiven der Ikonologie. Anknüpfend an Aby Warburgs Mnemosyne-Projekt, aber auch an Horst Bredekamps Studien zum Zusammenhang zwischen Bild und Philosophie wäre, neben der generellen Problematik der Metaphorik, deren Zusammenhang mit anderen Formen der bildlichen Repräsentation zu eruieren. Ins Zentrum der kulturwissenschaftlichen Per-

8 Georges Canguilhem: Die Geschichte der Wissenschaften im epistemologischen Werk Gaston Bachelards. In: ders.: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hg. von Wolf Lepenies (Frankfurt a. M.1979) 17. 9 Vgl. etwa Lorraine Daston / Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, hg. von Peter Geimer (Frankfurt a. M. 2002) 29–99.

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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spektive rückt dabei die Frage, was an der Grenze zwischen Sprachlichem und Nichtsprachlichem, Material und Bedeutung, Sachen und Wörtern passiert.10 Im vorliegenden Band bezieht der Berliner Kunstwissenschaftlers Klaus Krüger begriffsgeschichtliche Methoden auf die bildenden Künste, d.h. auf einen Gegenstandsbereich, der gemeinhin als begriffslos par excellence gilt.11 Indem er in einer – bislang weithin ungeschriebenen – Begriffsgeschichte von Palimpsest zeigt, wie der Begriff, der aus der bildendenden Kunst stammt, seine theoretische Karriere aber in der Literaturwissenschaft gemacht hat, nun auf die visuellen Künste zurückwendet werden kann, also einen mehrfachen Registerwechsel vornimmt, versucht Krüger semantische Beziehungen zwischen Dokumenten der Kunstgeschichte und verschiedenen Medien aufzuweisen. Warburgs Idee des Bilderatlasses wird so in einem nicht nur semiotischen, sondern auch die ästhetische Erfahrung umfassenden Sinne aufgenommen. Die kulturwissenschaftliche Perspektive verschiebt also insgesamt die Gegenstandsebene der Begriffsgeschichte: von der Wissenschaft zum Wissen, von der Ästhetik zu den Kunstwerken, von der Theorie zu Praktiken und Techniken, von der Schrift zu anderen Medien, von den absoluten Metaphern zum metaphorologischen Denken und den Referenzen, auf die sie sich beziehen.

II. Verbindung von Begriffsgeschichte und historischer Semantik Eine ebenso auf Wissen, statt allein auf Wissenschaft zielende Begriffsgeschichte hätte sich nicht nur auf andere Textsorten zu beziehen. Sie könnte auch die Dichotomie zwischen der bislang allein auf die politisch-soziale Semantik bezogene Thematisierung der Alltagswelt und die nach dem Vorbild des HWPh praktizierte Terminologiegeschichte überbrücken, deren Tendenz zur ›Gipfelwanderung‹ anhand kanonisierter philosophischer Großdenker vielfach kritisiert wurde; zumal sich in modernen Gesellschaften Macht nicht nur über den explizit politisch-sozialen Sprachgebrauch, sondern wesentlich auch über Wissen etabliert.12 Im vorliegenden Band konkretisiert Martin Wengeler (Düsseldorf) das Konzept sprachpragmatisch orientierter und topologischer Argumentationsanalyse am Beispiel zentraler Begriffe der bundesrepublikanischen Semantik (soziale Marktwirtschaft). Wie eng verflochten wissenschaftliche und gesellschaftliche Allgemeinlogiken auf die Formung von Begriffen wirken, so daß ihre Veränderungen nur mittels einer 10 Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne (München 2001). 11 Beim Berliner Workshop hatte der Zürcher Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken ein paralleles Unternehmen zur historische Semantik in der Musik vorgestellt, das demnächst separat in der Reihe Historische Semantik, hg. von Gadi Algati / Klaus Krüger / Ludolf Kuchenbuch, bei Vandenhoeck publiziert wird. 12 Im Anschluß an Kurt Röttgers: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik (Freiburg, München 1990).

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Einleitung

präzisen Analyse politischer und ökonomischer Diskurse erkennbar werden, zeigen – an weit auseinander liegenden Beispielen – der Sprachwissenschaftler Clemens Knobloch (Siegen) für die ›semantische Verkörperung‹ von ›Rasse‹ in den Geisteswissenschaften sowie Michael Niedermeier für das Goethische gotischgothaisch, d.h. den Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Begriff ›gotisch‹ und Goethes Bestreben, die Genealogie der Gothaer Herzöge von den Goten zu stützen. Dabei ließen sich – anschließend an Ludwik Fleck 13 – unterschiedliche Ebenen der Wissensrepräsentation unterscheiden: semantische Verschiebungen beim Transfer zwischen hochgradig formalisierten Wissenschaftssprachen und deren Popularisierungen (von Lehrbüchern bis zum Wissenschaftsfeuilleton). Zu vermuten ist, daß vor allem in diesem Vermittlungsprozeß interdiskursive, metaphorische Bedeutungen produziert werden. Dabei kann auch an Überlegungen Peter Galisons zu Kreolismen in der Kontaktzone unterschiedlicher Wissenstraditionen angeknüpft werden.14 Auch ›Kulturwissenschaft‹ ist ein Beispiel für die terminologiegeschichtlich kaum zu rekonstruierende Genese von Grundbegriffen, die nur in ihrer Einheit von (politisch-) sozialer Sprache und Wissen zu erfassen ist. Das HWPh führt zwar im vierten Band ›Kulturgeschichte‹ und ›Kulturanthropologie‹ auf, Kulturwissenschaft aber hat keinen eigenen Eintrag. Sicher wird auch ›Kulturwissenschaft‹ in einer verbesserten Neuauflage »vor das Forum der geschichtlichen Tradition« gestellt werden.15 Ein solcher Artikel würde sicher (was prinzipiell schon 1976 möglich gewesen wäre) u. a. vergegenwärtigen, das bereits Heinrich Rickert den Begriff in Unterscheidung zur Naturwissenschaft verwendet hat. Und doch ginge das wesentlich Neue in dieser Rückbindung verloren. Diente ›Kulturwissenschaft‹ einem liberalen Bildungsbürgertum noch dazu, ›Individuen‹ und ›Werte‹ gegenüber den positivistischen Naturwissenschaften zu akzentuieren, so avanciert der Begriff (wo er nicht etwa nur einen neuen Kulturkreis-Chauvinismus bezeichnet) heute auch in einem Kontext, in dem es den zunehmend marginalisierten Geisteswissenschaften um die Partizipation an den dominierenden, weil verwertbaren Natur-, Technik- und Medienwissenschaften, also um institutionelle Macht- und Ressourcenverteilung um den Preis der Verabschiedung sozialhistorischer und politischer Fragen geht. Dabei lebt der Begriff davon, daß er, obwohl er als Titel inzwischen schon ganze Handbücher füllt, vage, begrifflich keineswegs festgestellt, damit hochgradig umstritten, deswegen aber auch diskursiv lebendig ist. Natürlich gibt es namhafte Stichwortgeber (auf die künftige Wörterbücher zurückgreifen werden),

13 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935] (Frankfurt a. M. 1980). 14 Vgl. Peter Galison: Materielle Kultur, Theoretische Kultur und Delokalisierung. In: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, hg. von Helmar Schramm (Berlin, New York 2003). 15 J. Ritter mit Hans-Georg Gadamer: Vorwort, a. a. O [Anm. 1] VII.

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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aber die Logik seines Aufstiegs wird letztlich nur nachvollziehen können, wer andere Textsorten einbezieht, die, wie Feuilleton oder Drittmittelanträge, einen eher seriellen Charakter haben. Dieser offenbar unvermeidliche Aufstieg von Begriffen zu diskursiver Macht und Geltung ist nun gerade nicht etwas, wovon sich seriöse Begriffshistoriker mit dégoût abzuwenden hätten, sondern vielleicht sogar die Form, in der sich – was dann etwas euphemistisch klingt – Begriffe als ›Denkmäler von Problemen‹ (Theodor W. Adorno), nämlich von gesellschaftlichen Debatten konstituieren. Bezogen auf eine kulturwissenschaftlich orientierte Begriffsgeschichte könnte das, kritisch und reflexiv gewendet, zunächst heißen: die historische Semantik hat davon auszugehen, daß der Diskurs die Gegenstände erst bildet, von denen er spricht (Ralf Konersmann) – und zwar auf einer Ebene, die von den Wissensbereichen selbst meist unzureichend reflektiert wird. Sie unterstellt die Begriffe nicht als Subjekte, sondern beobachtet und reflektiert, wie und von wem Bedeutungen konstituiert werden. Wenn dagegen die sozialen Bedingungen, die Diskursstrategien der Akteure etc. ausgeblendet werden, dann gleicht die isolierte Geschichte von Begriffen der Übertragung eines Fußballspiels, bei dem einzig die Bewegung des Balls, aber weder die Mannschaften, Spieler und Schiedsrichter, noch die Regeln, noch das Publikum und die Medien sichtbar sind. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive ist, wie die Begriffsgenese, durchaus konstruktiv, indem sie das Selbstverständnis einer Epoche überschreitet und Verbindungen, Felder, Serien, Spuren und Streuungen beschreibt, die nicht mit einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Begriffe zusammenfallen. Wenn Begriffsgeschichten in Narration, Materialbasis, Ausschlüssen und methodischen Zugängen notwendig kontingent sind (Konersmann), wäre neben der Frage, ›wie Begriffe entstehen‹, auch diejenige zu thematisieren, wie ihre Geschichte erzählt wird. Die lexikalische Form scheint dagegen geradezu eine Schreibweise essentieller Geschichten gesicherten Wissens zu erzwingen. Die auch in vielen Beiträgen dieses Bandes praktizierte Synthese von begriffsgeschichtlicher Arbeit und methodischer Reflexion wäre insofern durchaus verallgemeinerbar. Die Abkehr von der ›Höhenkammlinie‹ (Rolf Reichardt) der Begriffsgeschichte müßte sich zugleich dem Problem der Verlaufsform von Begriffsgeschichten stellen: den für die Wissenschaftsgeschichte wichtigen Brüchen, Diskontinuitäten, Schwellenzeiten, der Sprengung traditioneller Epistemologien, also der Überwindung des »Axioms der Kontinuitisten«,16 aber auch der in Begriffsgeschichten oft ausgeblendeten Dimension der Verbreitung und Reichweite von Begriffen (zu statistischen Methoden der Lexikometrie vgl. Gunter Scholtz). Die Artikelstruktur des HWPh, philosophische Termini auf ihre antiken Wurzeln zurückzuführen, suggeriert den Schein einer philosophia perennis und verdeckt den diskontinuierlichen Verlauf von Begriffsgeschichten. Das umgekehrte Verfahren der Ästhetischen Grundbegriffe, selbst bei eindeutig historischen Grundbegrif16

G. Canguilhem: Die Geschichte der Wissenschaften, a. a. O. [Anm. 8] 18.

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Einleitung

fen, von der aktuellen Problemlage auszugehen, birgt dagegen die Gefahr in sich, geschichtliche Brüche von der Gegenwart her einzuebnen und kann erneut zu einer teleologischer Betrachtungsweise führen (etwa hin auf eine postmoderne Gemengelage, die sich auch sehr schnell wieder als historisch erweisen kann). Interessant erscheint die Begriffsgeschichte vor dem ›Sprung auf die Bühne des Wissens‹ (Foucault). Wenn ein Begriff fachwissenschaftlich geadelt und domestiziert wird, hat er seine diskursive Funktion meist schon verloren – deren Verlauf aber erscheint oft erst dann in den Wörterbüchern. Schließlich: Wie kann der Übergang von Begriffen in eine andere Terminologie dargestellt werden? Wie verschwinden Begriffe? Gehört die Darstellung der Semantik des Vergessenen, Verdrängten, Unbewußten, der blinden Flecke zur Begriffsgeschichte? Sich diesen Fragen zu stellen, würde wohl bedeuten, daß Begriffsgeschichte nicht mehr von Termini, sondern von einem semantischen Feld (unterschiedlicher Begriffswörter) ausgehen müßte. Das hieße zugleich, die vielfach kritisierten Zwänge einer alphabetischen Ordnung aufzugeben.17

III. Diskursgeschichte und rhetorische Figuren Umstritten ist, ob sich die im Zuge der Erforschung von Epistemologien in den Blick genommene synchrone Syntagmatik (Diskursgeschichte) mit der diachronen Perspektive der historischen Semantik verbinden läßt (vgl. dazu Busse im vorliegenden Band). Wird letztlich die Differenz zwischen Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte nicht ganz einzuebnen sein, so gibt es dennoch Anlaß zu der Vermutung, daß mit der kulturwissenschaftlichen und wissensgeschichtlichen Perspektivierung der Begriffsgeschichte solche Dichotomien in Frage gestellt werden können. Einen interessanten Zugang dazu liefert etwa Foucault im Anschluß an Canguilhem: Wenn er die Trias Irrtum (zugleich Ausschluß, Normierung) – Leben – Begriff der geisteswissenschaftlichen Trias: Wahrheit – Präsenz – Subjekt entgegensetzt, dann bezeichnet das die gegenüber den Geisteswissenschaften (einschließlich der ideengeschichtlich orientierten Begriffsgeschichte) veränderte Perspektive. Zugleich betont Foucault die katalytische Funktion der (definierten) Begriffe für die Formierung von Epistemologien.18 Die Schwelle eines über Begriffe formierten Gegenstandes ist dann aber nicht anders als begriffsgeschichtlich zu eruieren. Für die Wissen(schafts)geschichte wäre es wichtig, diejenigen –

17 Eine Verabschiedung der alphabetisch-lexikalischen Ordnung legen auch Dietrich Busse und Margarita Kranz nahe. Vgl. für die Sozialgeschichte Rolf Reichardt: Wortfelder – Bilder – semantische Netze. Beispiele interdisziplinärer Quellen und Methoden in der Historischen Semantik. In: Die Interdisziplinarität, a. a. O. [Anm. 2] 111–113. 18 Michel Foucault: Vorwort zu Georges Canguilhem ›On the Normal and the Pathological‹. In: ders.: Schriften in vier Bänden – Dits et Écrits, hg. von Daniel Defert u. a., Bd. 3 (Frankfurt a. M. 2003) 551–567.

E. Müller · Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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begriffsgeschichtlich oft nicht geadelten oder geistesgeschichtlich verstellten – Begriffe herauszuheben, deren Semantik Katalysator für die Formierung von Epistemologien ist und die die Wissenschaften unterhalb des Generalisierungsgrades der Philosophie verbinden. Oft handelt es sich dabei um solche Begriffen, die gar nicht zu Grundbegriffen wurden und dennoch epistemisch eine katalytische Funktion hatten (z. B. Ansteckung, Entropie, Information, Perspektive, Reflex). Abgesehen von der Diskursgeschichte rückt derzeit die Metaphorik ins Zentrum der Debatten um die Begriffsgeschichte. Neben Willers Prolegomena zu einer Begriffsgeschichte von Metapher stellt Helmut Hühn im vorliegenden Band Überlegungen zur Metapher ›Osten–Westen‹ vor, wobei er zugleich Verbindungen zu Methoden sozialhistorischer Semantik zieht. Dabei wäre zu klären, ob die zunächst ausgesparte Metapherngeschichte gleichsam als Supplement zu bestehenden Begriffsgeschichten zu thematisieren ist oder ob nicht vielmehr der Blick auf die figurale und tropische Verfaßtheit der Sprache zugleich die traditionelle, von ihr zunächst getrennt behandelte Begriffsgeschichte verändert. Vermeintlich scharf definierte Begriffe tragen Restbestände ihrer Ursprungsmetaphorik mit sich und in ursprünglichen Metaphern sind Bedeutungen angelegt (oder ausgeschlossen), die die Begriffsentwicklungen präformieren können. Entlehnungen und Registerwechsel bleiben den Begriffen offenbar nicht äußerlich, ihr semantischer Inhalt verweist nicht selten auf denjenigen Gehalt, der im terminologisierten Begriff verschwindet. Wenn etwa Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft den erkenntnistheoretisch zentralen Begriff der Deduktion zugleich dem Rechtsdiskurs entlehnt und in Analogie zur Epigenesis (gegen die Präformationstheorie) entwickelt, dann sind dies mehrfache Übersetzungen, wobei die Übernahme der Regel eines anderen Diskurses die Lösung des Erkenntnisproblems selbst mitformt. Ein Metaphernlexikon müßte entweder alle Begriffe noch einmal aufnehmen oder (im Sinne von Blumenbergs philosophisch-theologisch aufgeladenen ›absoluten Metaphern‹) selektiv verfahren. Willer fragt in seinem Beitrag, ob die genuine Relationalität von Metaphern es überhaupt erlaubt, sie zu ›Subjekten‹ (oder Stichwörtern) einer Begriffsgeschichte zu machen. Wie er mit Nietzsche und Derrida zeigt, ist die Trennung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Sprache nicht ohne metaphysische Voraussetzungen zu haben. Ist ›Figur‹ in den letzten Jahren in ihrer Repräsentationsfunktion, weniger in ihrer Beziehung zur Begriffsgeschichte reflektiert worden,19 so arbeiten gerade Kultur-, Literaturwissenschafts- und Wissenschaftshistoriker nicht selten anstelle des privilegierten Begriff-Begriffs mit dem der (Denk-)Figur. Während Begriff (mit seiner Herkunft von logos, idea) eher auf invariante geistige Bedeutungen

19 Eine interessante Ausnahme ist Horst Günther: Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Semantik der historisch-politischen Welt (Frankfurt a. M. 1979) 12 f., der in den Begriffsgeschichten von milieu/ambiance (Leo Spitzer) bzw. figura (Erich Auerbach) zugleich alternative Geschichtsmodelle und Narrationsmöglichkeiten von Geschichte erkennt.

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zielt und eine Teleologie präzisierter Terminologisierung aufruft, ist ›Figur‹ als alternatives Instrument zur Bedeutungserfassung weniger in der idealistischen Tradition verortet. ›Figur‹ könnte zu einem heuristischen interdisziplinären Instrument werden, mit dem sich die Dichotomien von Begriff, Metapher, Diskurs und Sprachpragmatik unterlaufen läßt, um insbesondere semantische Transfers, Registerwechsel und Übersetzungen zwischen verschiedenen Wissensbereichen zu erfassen. ›Figur‹ ist nicht bestimmten Diskursen zugeordnet (wie der Begriff traditionell der Philosophie und Wissenschaft, die Metapher dem literarisch-ästhetischen Diskurs) und erlaubt durch ihre Bedeutungsgeschichte unterschiedlichste Zugriffsmöglichkeiten, sie ist »offener Schauplatz von Darstellung und zugleich deren theoretischer Reflexion«.20 ›Figur‹ (griech. typos) steht im Spannungsfeld von antiken und christlich-jüdischen Deutungstraditionen und vereint theologische, rhetorische, bildliche, poetische, ästhetische, performativ-theatralische und räumlich-bewegungstechnische Bezüge.21 In ihrer säkularen Interpretation ermöglicht ›Figur‹, Walter Benjamins antihistoristischem dialektischen Bild vergleichbar, eine nicht-hermeneutische Lektüre, insofern die Deutung der Geschichte als ihre Umschreibung immer (auch) eine Konstruktion von der Gegenwart her ist.22

IV. Registrierung von Wissen und neue Medien Durch die neuen medientechnischen Speicher- und Recherchemöglichkeiten (statistische, korpuslinguistische Verfahren) wird die Frage zugespitzt, ob und wie serielle, vernetzte, in erheblicher Streubreite vorliegende Okkurenzen synthetisiert und in semantische Formen überführt werden können. Beim Workshop legte der Mediävist Bernhard Jussen erste Experimente mit korpuslinguistischen, statistischen Wortfeldanalysen mittelalterlicher Texte vor, bei denen er – abseits von Hermeneutik und Interpretation – die Relevanz theoretischer Probleme empirisch zu verifizieren versuchte. Zwar setzt vorerst auch die Digitalisierung die Konzentration auf klassische ›Volltexte‹ fort, doch ist es offenbar nur eine Frage der Zeit, bis auch andere Textsorten verfügbar sind. Überspitzt gesagt, ermöglicht der Computer, daß heute jeder Autor mit seinen ins Netz gestellten Texten wie ein Klassiker recherchierbar ist. Wer sich heute über die historische und gegenwärtige Begriffsverwendung kundig machen will, verwendet nicht allein die einschlägigen Wörterbücher. Überraschender sind oftmals (kombinierbare) Recherchen mit den Suchmaschinen des Internets. Neben ›Rauschen‹ verdeutlichen gerade deren Er-

20 De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, hg. von Gabriele Brandstetter / Sybille Peters (München 2002) 8. 21 Vgl. Erich Auerbach: Figura. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie (Bern, München 1967) 55–92. 22 In diesem Sinne auch E. Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Theorie (Bern, Stuttgart 1988) 510.

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gebnisse, daß das hierarchisch geordnete, disziplinäre Wissen einer anderen Struktur gewichen ist (die nur seriell zu erfassen wäre). Daß diese Fülle von Okkurrenzen keineswegs nur ein Segen ist und sich der Turmbau von Babel und eine babylonische Sprachverwirrung wechselseitig steigern können, sich also das Problem einer (menschlichen, d.h. endlichen) Synthese und Interpretation erneut und sogar verstärkt stellt, zeigt Gunter Scholtz in seinem Beitrag. Abseits der technischen Frage stellt sich die nach dem historischen Index der Ordnung und Registrierung des Wissens.23 Welche (realisierbare) Ordnung des Wissens wäre – nach Enzyklopädik und Lexikalik – der kulturwissenschaftlich-interdisziplinären Orientierung und den neuen Kommunikationsmedien angemessen? Funktionen der digitalen Technik (Hyperlinks, Volltextangebote etc.) bieten gegenüber den Printmedien bessere Möglichkeiten, um die oft kritisierte, weil äußerliche alphabetische Ordnung als klassisches Register (dazu Dieter Kliche) zu durchbrechen. Dabei wird die Vermutung, daß es eine Konvergenz zwischen Wort- und Begriffsfeldanalysen mit der entstehenden Computertechnik gab, dadurch bestätigt, daß das Goethe-Wörterbuch bereits seit den 40er Jahren mit Computertechniken gearbeitet hat. Heute rückt die Idee, daß verschiedene Wörterbuchprojekte mit ihren teils sich ergänzenden, teils sich überschneidenden Wissensbeständen und auch pluralen Methoden schrittweise in einem gemeinsamen Internetportal verbunden werden können (Niedermeier, Robert Charlier), in greifbare Nähe. Das Goethe-Wörterbuch, das bislang in den methodischen Debatten zur Begriffsgeschichte weniger Bedeutung hatte, überschreitet durch die neuen Techniken bereits die Grenzen zwischen Begriffsgeschichte und Wortverwendung. Charlier macht, wo sonst vor allem ein Bruch konstatiert wird, auf erstaunliche strukturelle Konvergenzen zwischen den Lexika und Thesauren des lexikalischen Gutenbergund des vernetzten Computerzeitalters sowie auf die Konventionalisierung szientistischer Prinzipien im Netz aufmerksam. Wenn der vorliegende Band den Titel Begriffsgeschichte im Umbruch? mit einem Fragezeichen versieht, dann auch deswegen, weil bereits die Tagung keineswegs eine Dichotomie vom ›Ende‹ der Begriffsgeschichte und einem fröhlichen ›weiter so!‹ erkennen ließ.24 In ihrer Gesamtheit zeigen die Beiträge, daß es dabei aber weder um das bloß additive Ausfüllen von Lücken gehen kann noch um angestammte Rechte, noch um eine durch redaktionellen Pragmatismus zu ersetzende Theorieenthaltsamkeit, aber auch nicht um eine verbindliche Metatheorie. Verschiedene Disziplinen und Interessen, sogar einzelne Begriffgeschichten erfordern

23 Vgl. Andreas B. Kilcher: Mathesis und poiesis: Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000 (München 2003). 24 Vgl. auch die Tagungsberichte von Michael Niedermeier: Begriffsgeschichte im Umbruch. In: Circular. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 8 (2004) H. 29/Juli, S. 29, sowie von Carlos Spoerhase: Begriffsgeschichte im Umbruch (Fachtagung in Berlin vom 20.–21. 2. 2004). In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 3 (2004) 626–628.

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Einleitung

einen ›Pluralismus der Methoden und Perspektiven‹ (Konersmann) oder ein ›geschmeidiges Regelwerk, eine ›regula lesbia‹ (Kranz). Dies eröffnet Räume für unterschiedliche Richtungen wie Projekte, die miteinander kooperieren und nicht nur konkurrieren könnten.

Praxis und Methode

Ralf Konersmann

Wörter und Sachen Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik

Der Weltgeist ist toleranter als man denkt. (Goethe an Reinhard, 12. Mai 1826)

Zu den fruchtbarsten Initiativen, die in der jüngeren Vergangenheit aus dem Kreis der geisteswissenschaftlichen Fächer hervorgegangen sind, gehört die Begriffsgeschichte. Das längst auf mehrere Disziplinen und auch international verbreitete Interesse am Bedeutungswandel theoriesprachlich konventionalisierter Formeln entstammt ursprünglich einem Fach, von dem man es am wenigsten erwartet hätte: der traditionell auf Abschlußgedanken abonnierten Philosophie. Am Anfang stand die Initiative des Baseler Verlagshauses Schwabe, das den Nachdruck des letztmals in den zwanziger Jahren erschienenen Wörterbuchs der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler ins Auge gefaßt hatte. Leise Zweifel an der Zeitgemäßheit des Vorhabens wurden rasch bestätigt und zwangen zu einem aktualisierten Entwurf. Das Ergebnis war das Historische Wörterbuch der Philosophie, das, unter der Verantwortung Joachim Ritters, als Neuausgabe des Eisler angelegt war. Die einstweilen in ihren Anfängen stehende begriffsgeschichtliche Forschung, so der auf Integration bedachte Vorsatz der ersten Stunde, »gelte es, als perennierende Philosophie« fortschreitend zu entfalten, und ebenso »die geschichtliche Prägung und Bildung« des philosophischen Gegenstandes ins Bewußtsein zu heben.1 Ausdrücklich sprach der Herausgeber sich dafür aus, die Entscheidung zwischen einem eher cartesianisch-systematischen und einem eher geschichtlichen Philosophieverständnis, deren Grundspannung zehn Jahre zuvor Hans Blumenberg herausgestellt hatte,2 im Rahmen der redaktionellen Belange des Wörterbuchs nicht weiter zu vertiefen, sondern offenzuhalten.

1 Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Bd. 1 (Basel, Stuttgart 1971) VII – Die Grundspannung deutet auf das spätestens seit Wilhelm Windelband geläufige »Dilemma« der Philosophiegeschichte, zwischen Genesis und Geltung, zwischen Historismus und Präsentismus einen philosophisch befriedigenden Ausgleich finden zu müssen. Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Theorie der Philosophiegeschichte. In: Philosophiegeschichte und Hermeneutik, hg. von Volker Caysa / Klaus-Dieter Eichler (Leipzig 1996) 46–69. 2 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960] (Frankfurt a. M. 1998).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Praxis und Methode

Das ist nun beinahe ein halbes Jahrhundert her. Inzwischen ist nicht nur der Abschluß des mittlerweile auf zwölf Bände angewachsenen Historischen Wörterbuchs in Reichweite, im Laufe der Zeit sind auch eine Reihe von Parallelgründungen erfolgt, die das methodologische Profil der Begriffsgeschichte weiter geschärft und erheblich differenziert haben. Die Geschichtlichen Grundbegriffe unter der Herausgeberschaft Otto Brunners, Werner Conzes und Reinhart Kosellecks erschienen seit Anfang der siebziger Jahre und wurden 1997 abgeschlossen. Gegründet wurde ebenso ein Historisches Wörterbuch der Rhetorik, seit 1992 geleitet von Gert Ueding, sowie schließlich die Ästhetischen Grundbegriffe, die unter dem geschäftsführenden Herausgeber Karlheinz Barck zügig erarbeitet werden und von denen heute fünf Bände vorliegen. Die Vorliebe für Wörterbuchpräsentationen ist zweifellos der Grund für die außerordentliche Produktivität der begriffsgeschichtlichen Forschung. Weniger offenkundig ist die allmähliche Veränderung der Konzeption, die sich seit der Neuausgabe des Eisler vollzogen hat. Sieht man einmal ab von den Historikern, die ihre begriffsgeschichtliche Arbeit von Beginn an theoretisch begleitet haben und eine international geführte Debatte anregten,3 vollzog sich der konzeptionelle Wandel der Begriffsgeschichte im stillen. Auch darin wird man ein Charakteristikum begriffsgeschichtlicher Forschungspraxis erkennen dürfen: Die in den Geisteswissenschaften notorische Methodendiskussion blieb marginal, während gleichzeitig die Dokumentation der Erträge in der sinnlich-sichtbaren Gestalt gewichtiger Folianten gleichmäßig voranschritt. Was nun den Stand der Dinge betrifft, so möchte ich die These wagen, daß die Begriffsgeschichte, wie sie einst von Ritter und seinen Schülern gedacht war, mit dem Abschluß der großen Wörterbuchunternehmungen ihr Potential unter Beweis gestellt und zugleich ausgeschöpft hat. Die historische Bedeutungsforschung befindet sich in einer Situation des Übergangs. Im folgenden möchte ich diese Situation beschreiben und zunächst rekapitulieren, was philosophische Begriffsgeschichte war und ist. Im zweiten Teil skizziere ich den methodologischen Balanceakt, der für die Begriffsgeschichte wie für die Historische Semantik bezeichnend ist, indem ich sie methodologisch als Versuche zur Überwindung reduktionistischer Verfahrensweisen profiliere. Schließlich erinnere ich an die theoretischen Anfänge der Historischen Semantik speziell im Kreis des französischen Enzyklopädismus und riskiere einen Ausblick.

3 Vgl. Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002) sowie Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan (Stuttgart 2002) 40–44.

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I. Zeitlichkeit Begriffshistoriker erkennt man daran, daß die Sprache des Wissens sie hellhörig macht – jener verbreitete »Gebrauch von Ausdrücken«, wie Georg Simmel einmal sagte, »die eigentlich wie verschlossene Gefäße von Hand zu Hand gehen, ohne daß der thatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete.« 4 Die Arbeit der Begriffsgeschichte unterläuft derlei Tendenzen, indem sie die im Gebrauch verschlissenen, moribunden Begriffe revitalisiert und auf einer Ebene mittlerer Allgemeinheit die Profillinie der Bedeutungsentwicklung nachzeichnet und scharf herausstellt. Für die Begriffshistoriker der ersten Stunde lag in dieser Leistung selbst schon ein Zweck. Der Umweg über die Geschichte, den sie einschlugen, diente der Erneuerung ebenjenes begrifflichen Anspruchs, der in den Nivellierungen, Verkürzungen und Simplifikationen des täglichen Gebrauchs verloren zu gehen droht. Die theoretische Handhabe für die Interventionen dieser Sprach- und Begriffskritik bot das hegelianische Erbteil der philosophischen Begriffsgeschichte, das neben Ritter selbst vor allem Hermann Lübbe bewußt gemacht und gegenwärtig gehalten hat.5 Es sollte die Pointe begriffsgeschichtlicher Forschung sein, sich auf die Spur des Fortschritts zu setzen, den die mit deutlicher Anspielung auf Hegel so genannte »Arbeit des Begriffs« in der Moderne bereits hinter sich gebracht hatte. Nicht im großen und ganzen, aber doch im Speziellen soll demnach die Begriffsgeschichte die Theorietauglichkeit einzelner Formeln und Figuren nicht nur rückblickend darstellen, sie soll auch im Blick auf Gegenwart und Zukunft über sie entscheiden. Tatsächlich, so Norbert Hinske noch 1986, sei die Praxis der Begriffsgeschichte in dem Maße philosophisch, wie sie sich der Autorität der kritischen Vernunft verpflichtet wisse. »Das Instrument des Begriffs nicht einfach nur zu gebrauchen, wie es in den Einzelwissenschaften oder im politischen Leben die Regel ist, sondern es ständig zu überprüfen, instandzuhalten und zu schärfen, zählt heute, im Zeitalter der Ideologien, vielleicht mehr denn je zu den elementaren Aufgaben der Philosophie.« 6 Hauptaufgabe der philosophischen Begriffsgeschichte sollte es demnach sein, die »historistische« Versuchung der von Hegel in seiner Logik explizierten »schlechten Unendlichkeit« abzuwehren, und zwar nicht so sehr durch eine wortgeschichtliche Besinnung, sondern durch eine ganz und gar gegenwartsbezogene Präparierung, ja Emphatisierung des Begriffs, bei der sich die Philosophie der geschichtlichen Zeugnisse als Mittel bedient. Der Ausgriff auf die Geschichte sollte

4 Georg Simmel: Philosophie des Geldes [1900]. Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 6 (Frankfurt a. M. 1989) 621. 5 Vgl. Hermann Lübbe: Begriffsgeschichte als dialektischer Prozeß. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975) 8–15; s. a. ders.: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg, München 1965) 7–22. 6 Norbert Hinske: Lebenserfahrung und Philosophie (Stuttgart-Bad Cannstatt 1986) 188 f.

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helfen, die eigentliche, die wahre Bedeutung der philosophischen Begriffe zu aktualisieren und vor dem Verschleiß durch Gedankenlosigkeit, Ignoranz oder Mißbrauch zu bewahren. In der Praxis der Wörterbucharbeit war dieser Vorsatz jedoch nicht durchzuhalten, ja er war, wie schon die äußerlichen Veränderungen allein des Historischen Wörterbuchs der Philosophie erkennbar machen, im Grunde konzeptionswidrig. Es hat sich gezeigt, daß begriffsgeschichtliche Auffrischungen das Vokabular der Vernunft weniger vereindeutigen als bereichern und es damit dem Andrang sachfremder Verwertungsinteressen ebenso entziehen wie dem Definitätsanspruch der Vernunfterkenntnis. Der kritische, aber eben auch distraktive Gestus begriffsgeschichtlicher Forschung ist der Grund, weshalb ihre Einstellung zu den Sprachformen des philosophischen Denkens die Ausnahme geblieben ist. Sie durchkreuzt jene Standardauffassung des Begriffs als eines letzten, unangreifbaren und fraglosen Besitzes,7 die bis auf den heutigen Tag verbreitet ist. Nach wie vor präsentiert die einschlägige Literatur, einschließlich der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung, ganze Begriffsfelder – Begriffe der Sinnlichkeit wie ›Hören‹, ›Sehen‹, ›Spiegeln‹; Begriffe der Forschung wie ›Struktur‹, ›Prozeß‹, ›Übersicht‹; Begriffe der Wissenschaft wie ›Objektivität‹, ›Wahrnehmung‹, ›Tatsache‹ – als transhistorische Gegebenheiten. Den entscheidenden Fingerzeig liefert hier die geläufige, auf Hegel und Schiller zurückgehende Rhetorik. Für gewöhnlich ist der Bericht über das Auftauchen eines Begriffs dem Mythos der Pallas Athene nachempfunden, welche mit einem Mal und als Ganze dem Haupte Jupiters entsprang.8 Begriffe, so gibt uns dieses Deutungsmuster zu verstehen, sind wie Götter: unvordenklich, wehrhaft und in allen ihren Erscheinungen sich selbst gleich – bewegliche Abbilder, wie Platon das zehnte Buch seines Timaios überschreibt, der Unvergänglichkeit. Die begriffsgeschichtliche Wörterbucharbeit der letzten Jahrzehnte hat diese Konvention einer Vernunfterkenntnis bloß aus Begriffen und damit das traditionelle Selbstbild des philosophischen Denkens in einem Maße erschüttert, das bis heute noch kaum wahrgenommen worden ist. Sie stellt uns das Bild einer Begriffsgeschichte vor Augen, welche die Begriffe weniger an der Reinheit der Idee bemißt als daran, wie sie tatsächlich verwendet wurden. Diese Arbeit ist historisch, sie ist philologisch und sie ist kritisch. Es handelt sich um eine Praxis, welche die Beglaubigungspraktiken der Tradition allein durch die Art ihres Zugriffs ins Wan-

7 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 1 [1906]. Gesammelte Werke, hg. von Birgit Recki. Bd. 2 (Hamburg 1999) 2 – Bekanntlich hat Cassirer diese frühe Begriffskritik weiter vertieft und 1910 in einer speziellen Monographie zusammenhängend dargestellt: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Ebd. Bd. 6 (Hamburg 2000) – Die Zusammenhänge zwischen Cassirers Begriffsschrift und der späteren Konzipierung der Begriffsgeschichte durch Joachim Ritter, der ein Schüler Cassirers gewesen ist, liegen noch weitgehend im dunkeln. 8 Zur Leitfunktion des Mythos für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung vgl. Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen zur Geschichte der Rationalität (Frankfurt a. M. 2001) 7 f., 128 f.

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ken bringt – einer Praxis, die an Vorbedingungen bindet, was eben noch absolut erschien; die in Kontexte einbettet, was Voraussetzungslosigkeit geltend macht; die das Unangreifbare der Neugierde aussetzt; und die bezweifelt, was eben noch fraglos galt. Die Begriffsgeschichte läßt die Zeitlichkeit der Wörter und Formeln als deren eigentliches Element hervortreten, so daß wir für ihren Geltungsbereich die Feststellung treffen können: Philosophische Begriffe haben nicht nur eine Geschichte, sie sind ihre Geschichte.

II. Sprachlichkeit Angestoßen durch ihre Praxis, hat sich die Begriffsgeschichte Schritt für Schritt auf die konzeptionellen Grundlagen eines Unternehmens zubewegt, dessen Titelbegriff auf eine Formulierung Ernst Cassirers zurückgeht: auf die Historische Semantik.9 Ungeachtet spezieller Zuschreibungen, die von unterschiedlichen Fächertraditionen und -differenzen in den nationalen Wissenskulturen herrühren, dürfte heute Konsens darüber bestehen, daß es die Aufgabe der Historischen Semantik sei, kulturell manifeste Bedeutsamkeiten im Horizont ihrer Geschichte zu zeigen. Ich bin versucht, diese Feststellung als Faustformel anzubieten. Sagen wir also: Historische Semantik – das ist die Untersuchung kulturell manifester Bedeutsamkeiten im Horizont der Geschichte. Wie unschwer zu erkennen ist, nimmt diese Formel die Sprache als Paradigma für die Gegenstandswelt der bedeutungsgeschichtlichen Forschung in Anspruch – die Sprache, verstanden als Inbegriff dessen (um die berühmte Formulierung Hans-Georg Gadamers zu variieren), was von Menschen verstanden werden kann.10 Dies vorausgesetzt, stellt sich die philosophische Begriffsarbeit als die bewußte Anstrengung dar, die Welt der Sachen und die Welt der Wörter aufeinander zu beziehen, das heißt den ebenso komplexen wie fragilen Zusammenhang zu be-

9 Vgl. Ralf Konersmann: Semantik, historische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a. a. O. [Anm. 1] Bd. 9 (1995) 593–598. 10 Die Formulierung lautet: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960] Gesammelte Werke, Bd. 1 (Tübingen 1990) 478. – Gadamers Sprachbegriff ist so weit gefaßt, daß er ins Metaphorische hinüberspielt: Verstehen dient Gadamer als Kriterium für Sprachlichkeit, nicht umgekehrt. Was hier ›Sprachlichkeit‹ heißt, schließt somit Laute, Gebärden, Bilder mit ein. Wer die solchermaßen konkretisierte Verhältnisbestimmung mit den Augen Johann Gottfried Herders und Cassirers wahrnimmt, wird die kulturphilosophische Pointe bemerken. Mit der Betonung der Sprachlichkeit unseres Weltverhältnisses verbindet sich die Einsicht, daß wir – so Herder 1774 – »immer in einer Welt« leben, »die wir uns selbst bilden« (Vom Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele. Werke, hg. von Wolfgang Pross. Bd. 2 [München, Wien 2002] 545–579, hier 566). Bei Cassirer, der ebendarin die Grunderfahrung der condition moderne erkennt, heißt es entsprechend: »Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun.« (Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [Frankfurt a. M. 1990] 50).

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wältigen zwischen dem, was ist, und dem, was die Leute sagen.11 Menschlich im deskriptiven Verständnis des Wortes wäre demnach eine Welt, für die wir Worte haben und in der wir hoffen dürfen, mit Worten ein gewisses Maß an Verständigung zu erreichen. In diesem Zusammenhang tritt die kulturelle Dimension der philosophischen Begriffsarbeit zutage: Begriffsbildung ist ein Akt der Welterschließung, ist ein originärer Beitrag zur Humanisierung der Welt. Der konsequente Bezug auf die Sprachwirklichkeit des Wissens und der Erkenntnis mag die assoziative Nähe anderer und älterer Fächer herstellen, etwa der Etymologie. Hier gilt es jedoch zu unterscheiden. Das Erkenntnisinteresse der Etymologie ist ausgesprochen in ihrem Namen, der auf seine Weise die etymologische Methode illustriert. Dem griechischen ›étymos‹ entsprechend, das üblicherweise mit ›wahrhaft, wirklich‹ übersetzt wird, benennt das ›Etymon‹, das dem Forschungsinteresse des Etymologen vorschwebt, den Ort der wahren, der eigentlichen Bedeutung. Wir haben es hier mit einer Intuition zu tun, deren Leuchtkraft weit über den Bereich der Sprachgeschichtsforschung hinausreicht.12 Die etymologische Faszination besteht darin, über die Veränderungen und Entstellungen, die im Laufe der Geschichte den Wortkörper verformt und seine ursprüngliche Bedeutung strapaziert haben, hinweg- und zurückzufragen bis zu dem Ursprung eines ersten Anfangs, an dessen reiner Quelle die eine und eigentliche Bedeutung des Wortes noch immer unversehrt bereitliegt und der Enthüllung seiner ursprünglichen, seiner stets gegenwärtigen und nun endlich nackten Wahrheit13 entgegensieht. Charakteristisch etymologisch ist der Denkzwang, das Frühere als das Ursprüngliche zu nehmen und das Ursprüngliche als das Eigentliche. Das Opfer dieses Essentialismus ist die geschichtliche Zeit, die nur als der Schutt der illegitimen Abweichungen, der Irrtümer und Verfehlungen in Betracht kommt, der sich über den Bestand der ursprünglichen ›Idee‹ gelegt hat.

11 Schon 1850 präsentiert Jacob Grimm diese Relation unter der einschlägigen Begrifflichkeit: »Wenn überall die wörter aus den sachen entsprungen sind, so müssen, je tiefer wir noch in ihr inneres einzudringen vermögen, auf diesem wege uns verborgene bezüge auf die dinge kund gethan werden und um der dinge willen forschenswert erscheinen.« (Das Wort des Besitzes. Eine linguistische Abhandlung. In: Kleinere Schriften, Bd. 1 [Berlin 21879] 113–144, hier 124). – Die Zeitschrift Wörter und Sachen, hg. von Rudolf Meringer, erschien von 1909 bis 1937 und dann nochmals in vier Jahrgängen von 1938 bis 1942. 12 Wie die Universalsprachenbewegung ihrer Zeit ist auch die cartesianische Begriffskultur eine Kultur des wiederzufindenden wahren Wortes. ›Neuzeitlich‹ ist dieses Ansinnen insofern, als es der terminologischen Anstrengung mit der praecisio einen Zweck anweist, den eine Schwellenfigur wie Nicolaus Cusanus noch dem Absoluten – und ihm allein – hatte vorbehalten wollen. Vgl. Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins (Berlin 1992) 16 ff., 41 ff. 13 Vgl. R. Konersmann: Der Körper des Gedankens sei hüllenlos. Wie die Philosophie zur »nackten Wahrheit« kam. In: Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 17./18. November 2001, 49 f.; zu der benachbarten Vorstellung der stets gegenwärtigen Wahrheit (»res semper erat«) vgl. Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart (Frankfurt a. M. 2003) 190 f.

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An dieser Stelle berühren wir das gewichtige Problem der Kontexte, des Erfassens semantischer Relevanzen in den Bezügen ihrer Welt. Begriffe sind eingewoben in die institutionellen Geflechte von Diskursen, und Diskurse sind – immer noch die beste Bestimmung dieses heiklen Begriffs, die ich kenne – »Kontextualisierbarkeitsfelder«.14 Die Berücksichtigung solcher Bezüge, ohne die sich weder die Bedeutung noch die Geschichte der Wörter erfassen ließe, hat ihr eigenes Recht. Der Kontextbegriff birgt jedoch gleichfalls die Mißlichkeit, Reduktionismen zu fördern, indem er das Hervortreten der Phänomene auf ›Gründe‹ oder ›Hintergründe‹ zurückführt, die ihnen äußerlich sind. Die Suggestion entsteht, das zur Debatte stehende Objekt sei bloß ein Derivat sozialer, ökonomischer, dirigistischer, vitaler, libidinöser, in jedem Falle aber äußerlicher Faktoren, denen es sein Gepräge und sogar sein Dasein verdankt. Gerade das, was das Material der Forschung in seiner Gegen-Ständlichkeit, was es also in seiner paradigmatischen Präsenz als ›Werk‹ auszeichnet15 und wodurch es aus dem normativen Horizont vorgreifend bestimmter Kontexte herausfällt, wird ihm systematisch aberkannt. Natürlich ist dem Bedenken des Kontextualismus zuzustimmen, wonach, wer bloß Begriffe kennt, am Ende selbst diese niemals begreifen wird; ebenso aber gilt, daß die innere Logik des sprachlichen Gegenstandes in den äußeren Umständen nicht aufgeht. Aus diesem Grund ist zur anderen Seite hin dem Essentialismus der Etymologen zuzugestehen, daß die Begriffe ihre Autonomie mit Recht geltend machen; und doch sind damit die Rückbezüge des sprachlichen Gegenstandes ebensowenig erfaßt wie seine Genese. Wer die Sprache des Wissens erschließen möchte, ist deshalb gut beraten, diesseits der Alternative von Kontextualismus und Essentialismus zu operieren. Der Ort dieser Operation ist definiert durch den Versuch, Zeitlosigkeit und Zeitgebundenheit, so heterogen und doch auch unzertrennlich sie im Blick auf die Welt der Begriffe in ein und demselben Augenblick sind, aufeinander zu beziehen und bestehen zu lassen. Es kommt darauf an, sowohl die innere Logik des begrifflichen Denkens intakt zu lassen als auch die Kontingenzen zu berücksichtigen, die über die Figuren des Wissens und ihren Einsatz mitentscheiden: Die Begegnungen, Bündnisse und Zurechtweisungen auf der Ebene des sozialen Feldes; sodann die Theatralität und all die Mechanismen der Konformitätserzeugung auf der Ebene des politischen Feldes; schließlich die moralischen, ästhetischen und institutionellen Präferenzen auf der Ebene des kulturellen Feldes. Nur wer die teils einander überlagernden, teils einander ablösenden Tableaus manifester Möglichkeitsbedingungen einbezieht, wird auch den Akt der Verbegrifflichung selbst als Intervention erfassen können – als den in seiner ganzen Ernsthaftigkeit zu würdigenden Versuch mithin, einem bestimmten, dem »Vielsinn der

14 Kurt Röttgers: Philosophische Begriffsgeschichte. In: Geschichtlichkeit der Philosophie. Theorie, Methodologie und Methode der Historiographie der Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler (Bern u. a. 1991) 97–111, hier 110. 15 Vgl. R. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung (Hamburg 2003) 106 ff.

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Worte und Töne«16 abgetrotzten Verständnis eines Sachverhalts dauerhaft Gestalt zu geben. Aufgrund dieser Komplexität der Bezüge, die bei jedem theoretischen Begriff, aber auch bei jeder philosophischen Metapher und jeder wissenschaftlichen Figur anders definiert ist und daher eigens rekonstruiert werden muß, ist bedeutungsgeschichtliche Forschung nur als offenes Konzept realisierbar. Einmal abgesehen von der Ebene der Pragmatik redaktioneller Vorgaben, deren Berechtigung ernsthaft kaum zu bezweifeln ist, hat die begriffsgeschichtliche Forschung die Erfahrung machen müssen, daß sie über ein fertiges Verfahren zur Anwendung auf jeden nur denkbaren Fall nicht verfügt und wohl auch niemals verfügen wird. Kennzeichnend ist vielmehr ein Pluralismus der Methoden und Perspektiven, der Spielräume läßt und lassen muß für handwerkliches Geschick, für Fachkenntnis und Erfahrungswissen und vor allem für reflektierende Urteilskraft.17

III. Welthaltigkeit Philosophische Begriffsgeschichte und Historische Semantik stimmen darin überein, die Wahrheit zu perspektivieren. Sie tun dies auf doppelte Weise: Zum einen zeigen sie die Wahrheit in den Bezügen ihrer Zeitlichkeit, zum anderen in den Bezügen ihrer Sprachlichkeit. Als drittes kommt nun eine Art der Perspektivierung hinzu, die den allmählichen, ganz und gar unspektakulären Übergang von der Begriffsgeschichte zur Historischen Semantik verdeutlicht: die Wahrheit in den Bezügen ihrer Welthaltigkeit. Anders als die Geschichte hat es die Historische Semantik nicht geradewegs mit den Sachen zu tun, auch nicht, wie die Begriffsgeschichte der ersten Stunde, lediglich mit der Genese von Begriffen, sondern, weit umfassender, mit der Art und Weise, wie wir Gegenstände in den Blick nehmen – kurz: mit jenen von Erfahrung, Einsicht und Phantasie durchdrungenen Wechselbestimmungen, die Wörter und Sachen zueinander ins Verhältnis setzen. Die Pointe dieser Aufmerksamkeitsverschiebung ist alt und läßt sich, wie so oft in der Philosophie, bis in die Antike zurückverfolgen. Mustergültig ausgesprochen findet sie sich bei Epiktet, also im Kontext der stoischen Morallehre. Die entscheidende Bemerkung findet sich im fünften Abschnitt des Handbüchleins und lautet: Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge. Die weit über die Antike hinausreichende Faszination des stoisch-epikureischen Gedankenmotivs besteht darin, sich durch die Philosophie zu einer Position

G. Simmel: Philosophie des Geldes, a. a. O. [Anm. 4] 630. Zur reflektierenden Urteilskraft als Grundausstattung begriffsgeschichtlichen Forschens vgl. Gunter Scholtz: Wie wird aus Okkurenzen Geschichte? Die reflektierende Urteilskraft in der Begriffsgeschichtsschreibung. In: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, hg. von Frithjof Rodi (Weilerswist 2003) 211–224. 16

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individueller Unbetreffbarkeit führen zu lassen, der die Schläge des Schicksals nicht wirklich etwas anhaben können. Stärker als das Schicksal, das hingenommen sein will, ist unsere Fähigkeit, uns darauf einzustellen, es auszulegen und zu beurteilen. Das auf diese Weise gewonnene Welturteil unterliegt eudämonistischen Zwecksetzungen, denen alle übrigen Intentionen, einschließlich der Ansprüche der Epistemologie, unterworfen bleiben. Das Welturteil soll so ausfallen, daß es uns aus den Bedrängnissen unseres privaten Milieus herausführt und einen Punkt erschließt, in dessen Perspektive alle Nebendinge als das erkennbar werden, was sie sind: als Erscheinungsformen der Gleichgültigkeit (indifferentia). Über windungsreiche Rezeptionswege hinweg hat das klassische Gedankenmotiv der Selbsterrettung aus der Kontingenz in die Neuzeit gefunden und dort den Bereich des theoretischen Wissens durchdrungen. Besonders deutlich zeigen sich diese Rezeptionsspuren in der redaktionellen Praxis der großen Encyclopédie, die es sich in den mittleren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zur Aufgabe macht, aus dem Meer der kontingenten Themen, Aspekte und Stoffe dasjenige Wissen zu schöpfen und terminologisch zu präparieren, das jetzt und hier, unter den unvergleichlichen Bedingungen der Modernität, an der Zeit ist. Das Unternehmen der Klärung und Reinigung der Begriffe, das bekanntlich den Kampf gegen den »Mißbrauch der Wörter« ausdrücklich einschloß, wurde mit großem Elan begonnen.18 Schon bald sollte sich allerdings zeigen, daß der Anspruch der Terminologisierung des Wissens zweideutig ist. Von der philosophischen Begriffsform wurde erwartet, daß sie das Wissen vor Fremdbezügen bewahrt, indem sie es auf jene zweifelsbereinigte Erkenntnis festlegt, die der Begriff bezeichnet. Aber – und diese Beobachtung ist entscheidend – Herausgeber Diderot mochte sich mit dieser Erwartung nicht zufriedengeben. Ihr widerspricht, wie er selbst sehr bald feststellte, die Beobachtung, daß der Fortschritt des Wissens, sobald seine Spuren bis in die Welt der empirischen Bezüge hinein verfolgt werden, keineswegs linear, sondern auf Umwegen verläuft, und daß zu diesen Umwegen zunächst und vor allem die Sprache gehört. Die Sprache aber, so räumt Diderot ein, sei von ihm selbst und seinen Mitarbeitern vernachlässigt worden – »le côte de la langue est resté faible«.19 Diese Selbstkritik, die Diderot mit bemerkenswerter Konsequenz unter dem Stichwort ›Encyclopédie‹ vorträgt, ist mehr als eine einfache Korrektur oder Ergänzung. Was Diderot hier ins Auge faßt, ist die Umkehrung jenes stoisch-epikureischen Gedankenmotivs der Selbsterrettung aus der Kontingenz und, als Folge dieser Umkehrung, der klare Umriß einer bedeutungsgeschichtlichen Perspektive. Lange bevor der Begriffsname der Historischen Semantik gefunden ist, trifft Diderot erste Vorbereitungen zur theoretischen Grundlegung der Disziplin. Indem

18 Dazu und zum folgenden R. Konersmann: Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte (Frankfurt a. M. 1999) insbes. 54–105. 19 Denis Diderot: Encyclopédie [1756]. Œuvres complètes, Bd. 7, publ. par John Lough / Jacques Proust (Paris 1976) 188.

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er erwägt, »was zwischen Absicht und Horizont eines Autors an Differenz besteht«,20 durchbricht er die von ihm selbst und seinem Kreis gefestigten Routinen der Begriffsbildung und vergegenwärtigt die Kopräsenz des Mitgesagten, der Kontexte und Kontingenzen. Die auf diese Weise erzielte Aufmerksamkeitserweiterung ist folgenreich, sie revolutioniert die philosophische Sprache und ihre bevorzugte Form, den Status der Begriffe: Seit der Selbstkritik Diderots erscheinen Begriffe, überhaupt die Figuren des Wissens, als sprachliche Bestimmungen, die sich von den Umständen ihrer Herkunft gelöst, doch niemals vollständig befreit haben. Anders gesagt: Die Spuren der Kontingenz, die sich den Begriffen eingegraben haben, bereichern das Spektrum der Bedeutung. Wollen wir also die Begriffsgeschichte klassischen Zuschnitts und das Unternehmen der Historischen Semantik heuristisch voneinander abheben, so stoßen wir bereits bei Diderot auf den entscheidenden Hinweis. Das Stichwort lautet: Kontingenztoleranz. Während die herkömmliche Begriffsarbeit darauf aus ist, den Einfluß äußerer Umstände auszublenden, um, mit dem charakteristischen Paradox des Aufklärungsdenkens, in der Zeit ein Wissen für alle Zeit zu gewinnen, so schärft die Historische Semantik den Blick für die kontingenten »Möglichkeitsbedingungen von Sinn« (»les conditions de possibilité du sens«).21 Dieser Schritt mag geringfügig erscheinen, doch er verändert das ganze Konzept. Kontingenzen einzubeziehen heißt, den Entwicklungsverlauf des begrifflichen Aussagepotentials als Versuchsreihe zu rekonstruieren. Es heißt, Erwartungen und Bedürfnisse freizulegen, die in den Figuren des Wissens verdichtet sind, es heißt, Anschlüsse und Ausschlüsse zu benennen – es heißt, wie Paul Ricœur den Sachverhalt beschreibt, rückschauend Kontingenz in die Geschichte »einzuführen«.22 Kontingenztoleranz ist eine Haltung, ist eine Art der Gegenstandswahrnehmung und ›Einstellung‹. Wer in dieser Weise in das Laboratorium der historischen Begriffsarbeit vordringt, konfrontiert zwei komplementäre Dynamiken, deren Wirksamkeit die begriffsgeschichtliche Praxis im Normalfall ignoriert: auf der einen Seite die Formierung der Begriffe vor dem Hintergrund kontingenter Verhältnisse, also die ›Begriffsarbeit‹; auf der anderen Seite die rückblickende Rekonstruktion dieses Formierungsprozesses in der Reihe seiner eminenten Situationen, also die ›Deutungsarbeit‹. Die Metaphorik der ›Arbeit‹ ist ebendeshalb am Platze, weil wir es beiderseits mit kontingenten Verhältnissen zu tun haben. Der schon in der frühen Neuzeit betonte Sachverhalt, daß die Erkenntnisleistung als Arbeit zu verstehen sei, resultiert zum einen aus der Vorstellung, daß die Begriffe mit dem Wandel der Absichten und Zwecke koordiniert werden müßten, zum anderen aus der Überzeugung, daß

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt a. M. 21983) 165. Gérard Simon: De la reconstitution du passé. À propos de l’histoire des sciences, entre autres histoires. In: Le Débat 66 (1991) 134–147, hier 141. 22 Paul Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen (Göttingen 32002) 63 f., 127. 20

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die Wahrheit uns nicht zufällt, sondern im Widerstand gegen verbreitete Fehldeutungen und dubiose Verhüllungen errungen werden müsse. Es paßt zu dieser Vorstellung eines doppelten Widerstandes, daß die Göttin der Weisheit zugleich die Kriegsgöttin ist. Die Begriffsarbeit muß die Konzepte durchsetzen, sie müssen für den »Kampf mit dem Irrthum« gerüstet und, wie Schiller das Sapere aude-Motiv bellizistisch überhöht,23 wehrhaft und »kriegerisch« sein. Wie die ›Begriffsarbeit‹, die sowohl die Prägung als auch die Durchsetzung der Begriffe umfaßt, ist auf der anderen Seite auch die ›Deutungsarbeit‹ eine formund gestaltgebende Tätigkeit. Auch sie ist in dem Sinne Arbeit, daß sie Aktivitäten verlangt: den gesamten Leistungsumfang der Erschließung, der Aneignung und Aktualisierung, kurz, das ganze Pensum der Interpretation. Das Verhältnis von Begriffsarbeit und Deutungsarbeit ist also komplementär, aber – ich sage dies im Gegenzug gegen die identitätsphilosophischen Rudimente der herkömmlichen Begriffsgeschichtsschreibung – dieses Verhältnis ist kein Verhältnis der Symmetrie oder der Kontinuität. Eine tiefe Kluft zwischen den historischen Begriffsverwendern und ihm selbst verbietet es dem Bedeutungshistoriker, den theoretischen Formeln noch einmal mit jenem Vertrauen in die reine Zweckdienlichkeit für die Erkenntnis zu begegnen, die einstmals für deren Gebrauch bezeichnend war. Infolgedessen legt er die Geschichte des Wissens und der Begriffe nicht als eine Geschichte der Wahrheit an, die im Kenntnisstand seiner eigenen Zeit ihren Gipfelpunkt erreicht; vielmehr konzipiert er sie als eine Geschichte des Verstehens und des Mißverstehens, in der auch die Pseudegorien, die Irrtümer und Fehldeutungen ganz selbstverständlich ihren Platz haben. Er konfrontiert, mit einem Wort, die Sprache des Wissens mit der Tatsache ihrer Kontingenz. Die Frage nach der Wahrheit ist von nun an untrennbar verbunden mit der Frage nach der Art und Weise, wie die Wahrheit ausgesagt wird, und für die Frage nach dem Status des Wissens wird es nun entscheidend zu erfahren, wie es zu diesem Wissen und seiner Anerkennung kam. Auf denkbar unspektakuläre Weise hat die Wörterbuchpraxis der letzten Jahrzehnte den Übergang von der philosophischen Begriffsgeschichte zur Historischen Semantik vorangetrieben. Weniger die Idee der Begriffsgeschichte als ihre Durchführung erzwang die Preisgabe der in den Anfängen und namentlich bei Ritter noch gegenwärtigen Konzeption der philosophia perennis. Man muß die dadurch verstärkte Diskrepanz zwischen Begriffsverwendern und Bedeutungshistorikern nicht dramatisch überzeichnen, aber die Möglichkeit der freien Anerkennung einer theoretischen Figur, die uns jetzt noch bleibt, ist zweifellos etwas anderes als das herkömmliche, durch Bekenntnis oder Gewohnheit und in diesem Sinne ›immer schon‹ erfolgte Einrücken in den Geltungszusammenhang der Tradition. Welche Konsequenzen sich daraus für die Philosophie ergeben, die sich, weitgehend 23 Vgl. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1793/94]. Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen u. a. Bd. 20 (Weimar 1962) 309–412, hier 331.

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unbeirrt, noch immer aus dem Kanon der philosophischen Bibliothek und dem Paradigma einer Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen zu erneuern pflegt, ist, soweit ich sehe, trotz der inzwischen ein halbes Jahrhundert währenden begriffsgeschichtlichen Praxis noch kaum in das Bewußtsein des Faches vorgedrungen. Sobald sich aber die »feste Demarkationslinie« auflöst, »zwischen der Substanz selbst und dem, was lediglich kontingent zu ihr ist«,24 tritt die philosophische Kultur der Begriffe in ein qualitativ neues Stadium ein – in das Stadium der permanenten Kritik ihrer selbst und ihrer Implikationen. Seither ist nichts mehr, wie es einmal war. Aus den Autoritäten von einst sind Zeugen geworden, und jene Sprachfiguren, die uns einmal mit dem Geltungsanspruch metaempirischer Formeln entgegentraten, sind von nun an und für immer Begriffe in Geschichten.

24 Frank A. Ankersmit: Historismus: Versuch einer Synthese. In: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, hg. von Otto Gerhard Oexle / Jörn Rüsen (Köln, Weimar, Wien 1996) 389–410, hier 391.

Margarita Kranz

›Wider den Methodenzwang‹? Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosophie – mit einem Seitenblick auf die Ästhetischen Grundbegriffe

Im Jahr 1967 erschienen im selben Band des Archivs für Begriffsgeschichte zwei Ankündigungen für zwei begriffsgeschichtliche Nachschlagewerke: für das Historische Wörterbuch der Philosophie und für die Geschichtlichen Grundbegriffe.1 Beide Werke erschienen mit ihren ersten Bänden zu Beginn der 70er Jahre (Historisches Wörterbuch der Philosophie 1971, Geschichtliche Grundbegriffe 1972). Wenn jedoch ›Begriffsgeschichte‹ in den nächsten Jahrzehnten methodologisch diskutiert wurde,2 spielte das Historische Wörterbuch der Philosophie überhaupt keine Rolle, ja man muß sogar sagen, es wurde zumeist nicht einmal erwähnt. Die methodologische Diskussion bezog (und bezieht) sich fast ausschließlich auf das Programm und Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe. Warum wurde die Begriffsgeschichte des Historischen Wörterbuchs der Philosophie kaum reflektiert, die doch, auch wenn der nur auf die Philosophie bezogene Titel dies nicht vermuten läßt, von Anfang an schon durch die Nomenklatur interdisziplinär angelegt war? Die Antwort ist so einfach wie erstaunlich: Beim Historischen Wörterbuch der Philosophie hatte man aus pragmatischen Gründen auf eine einheitliche Methodologie ›verzichtet‹. Reinhart Koselleck hingegen bot ein ausgearbeitetes und höchst anspruchsvolles Programm einer historischen Semantik, einer begriffsgeschichtlichen Darstellung der großen ›Grundbegriffe‹; das war für die Geschichtsund Sozialwissenschaft methodisch neu und sollte deren wissenschaftliches Arbeiten revolutionieren. Dieses Programm forderte dazu heraus, methodologisch hinterfragt zu werden. Beim Historischen Wörterbuch der Philosophie war die Nomenklatur disziplinär sehr breit gefächert, im Detail dann in sehr engmaschige – in den ersten beiden Bänden fast 1000 – höchst unterschiedliche Stichworte eingeteilt. Das bot nie Anlaß zu methodischer, allenfalls materieller Kritik. Auch der Neuheitscharakter entfiel beim Historischen Wörterbuch der Philosophie, denn für die Betrachtung der Philosophiegeschichte war es seit längerem selbstverständlich, daß das, womit sie sich beschäftigt – Begriffe und Wortmaterial –, sich historisch in seinen Verwendungsweisen geändert hat und zu verschiedenen Zeiten in 1 Joachim Ritter: Leitgedanken und Grundsätze des ›Historischen Wörterbuches der Philosophie‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967) 75–80; Reinhart Koselleck: Richtlinien für das ›Lexikon Politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit‹. In: ebd. 81–99. 2 Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von R. Koselleck (Stuttgart1978); Hans Erich Bödeker: Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von H. E. Bödeker (Göttingen 2002) 73–121; Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt (Heidelberg 2003).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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verschiedenen Systemen durchaus Unterschiedliches bedeuten, ja mißverstanden und verkehrt werden konnte. Auch Irrwege, vergessene Pfade und Skurrilitäten der Terminologiebildung, die sich nicht durchgesetzt haben, wurden so für die historische Erinnerung archiviert, ohne daß damit ein systematisches Interesse verknüpft sein mußte. Das Projekt Joachim Ritters wollte ein nützliches Handwerkszeug für die philosophiegeschichtliche Beschäftigung an die Hand geben, in Anlehnung an das als Zitatensammlung angelegte Werk aus dem Anfang des Jahrhunderts, das Wörterbuch der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler. Noch heute – und das wirkt inzwischen kurios – bewirbt die Wissenschaftliche Buchgesellschaft das Historische Wörterbuch der Philosophie als »vollständig neubearbeitete Ausgabe des Eisler von 1929–31«. Obwohl es sehr aufschlußreich wäre, die parallel entstandenen Artikel zu denselben Begriffen in den Geschichtlichen Grundbegriffen und im Historischen Wörterbuch der Philosophie vergleichend methodologisch und im begriffsgeschichtlichen Ertrag zu analysieren, möchte ich mich hier darauf beschränken, die begriffsgeschichtliche Arbeit des Wörterbuchs an seinem Beginn und die jetzigen Ansprüche und Erwartungen an die Begriffsgeschichte einander gegenüberzustellen. Dazu werde ich das neue, zu Beginn des 21. Jahrhunderts publizierte begriffsgeschichtliche Unternehmen der Ästhetischen Grundbegriffe heranziehen, das historisch das Glück hatte, methodologisch und materialiter von seinen lexikalischen Vorgängern lernen zu können und sie zu korrigieren. Kehren wir zu den Anfängen zurück: Im Historischen Wörterbuch der Philosophie verzichtete man bewußt auf eine dezidierte reflektierte Methodologie der Begriffsgeschichte als ein Programm, das die Artikel zu erfüllen hätten. Der Anspruch an die Artikel war bescheiden, und die Form, in der er verwirklicht werden sollte, pluralistisch. Verschiedene Typen von Begriffen erfordern unterschiedliche Behandlungsweisen: manchmal definitorisch, problemorientiert enzyklopädisch, oder chronologisch nach dem Wandel des Wortgebrauchs. Für diesen bescheidenen Anspruch ist kennzeichnend: Als die Artikelmanuskripte 1965/1966 für das gesamte Alphabet bis Z eintrafen, war man schon glücklich darüber, daß die Autoren vor allem aus den benachbarten Einzelwissenschaften, aus der Psychologie, Medizin, Physik und Mathematik »sich mit Erfolg bemüht [hatten], in ihren Beiträgen das erste ›Aufkommen des Begriffswortes‹ nachzuweisen, früher oder gleichzeitig gebrauchte Äquivalente anzugeben und erst danach die mit dem Terminus verbundene vorgängige oder nachfolgende Theorieentwicklung realenzyklopädisch darzustellen.«3 Ritter selbst wehrt in einem Bescheidenheitsgestus »das Mißverständnis« ab – ich zitiere aus den als Faltblatt verbreiteten Leitlinien –, »als könne das Wörterbuch – zumal bei dem jetzigen Stand der Forschung – beanspruchen, unmittelbar als Instrument begriffsgeschichtlicher Forschung zu gelten und so als ›begriffsgeschicht3 Jacob Lanz: Begriffsgeschichte im Großversuch. In: Archiv für Begriffsgeschichte 22 (1978) 7–29, hier 17.

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liches‹ Wörterbuch aufzutreten: Damit würde es überfordert.« Hätte Ritter jetzt, 40 Jahre später, bei dem heutigen Stand der Forschung zugestanden, daß das nun abgeschlossene Werk mit zunehmender Bandzahl den Anspruch eines begriffsgeschichtlichen Nachschlagewerks erfüllt hat, weil es die Basisbedürfnisse historischer terminologischer Orientierung weitgehend befriedigt? Oder hätte er, wie der Mitherausgeber Ludger Oeing–Hanhoff schon 1977 im Rückblick auf die ersten vier Bände,4 auch jetzt noch zugegeben, daß gerade die großen Artikel – also die Herzstücke der Begriffsgeschichte – nur »provisorisch« und deshalb für eine neue Auflage »neu zu schreiben« sind? Fragen wir einmal genauer danach, welche Bedürfnisse es gab und ob sie nun befriedigt sind. Die Nomenklatur, die in den 60er Jahren für drei Bände von A–Z vorgesehen war (sie sollten innerhalb von 3 Jahren erscheinen), war so kleinteilig parzelliert, und die einzelnen Artikel waren umfangsmäßig so bemessen, daß oft kaum mehr als die Bedeutung eines Terminus und einige wenige Zitate dokumentiert werden konnten. So gibt es – um ein anschauliches Beispiel zu geben – im ersten Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie 14 ›causa‹-Artikel, die, von der ›causa cognoscendi‹ über die ›causa efficiendi‹ zur ›causa sui‹, auf jeweils einigen wenigen Zeilen, meist sogar ohne Stellenangaben, die Bedeutung des Ausdrucks angeben. Weder die griechischen Vorläuferausdrücke noch die Terminologien der Nationalsprachen sind angegeben, ganz zu schweigen von den Sachproblemen, die mit diesen Termini verknüpft sind. Was ist an diesen Artikeln begriffsgeschichtlich? Anders als bei definitorischen Artikeln aus dem Bereich der Logik z. B. wäre hier ja ein fruchtbares Feld begriffsgeschichtlicher Arbeit gewesen, das man an dieser Stelle brach gelassen und auf einen entsprechenden Gesamtartikel verschoben hat: die terminologische Vielfalt und Differenzierung des Ursache-Begriffs, die Übersetzungsprobleme und Mißverständnisse und die komplexen Problemzusammenhänge. Die ersten Bände des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zeigen noch mit einer Anzahl von über 500 Artikeln pro Band (in Band 12 ist es die Hälfte) und einem großen Anteil lateinischer und griechischer Termini, wie sehr man von Wortform und Terminus und sogar von terminologischen Wendungen, die nur bei einem Autor vorkommen, damals ausgegangen ist, und häufig gerade nicht von einem Begriff. Hier war nicht mehr als eine einfache lexikalische Erklärung einer Wortbedeutung in einem historischen Kontext oder bei einem Autor intendiert. Da, wo es sinnvoll war, oder die Kompetenz des Autors es zuließ, wurde ein Terminus ›vorwärts‹ oder ›rückwärts‹ verfolgt. De facto praktizierte man Wortverwendungsgeschichte, die Nomenklatur ist dafür ein Präjudiz; Ritter und später Karlfried Gründer bestätigen es in den Vorworten explizit. Gründer resümiert im Vorwort des vierten Bandes (1976), daß die Grenzen zwischen den Artikeltypen fließend seien, und als Artikeltypus die »geordnete Materialsammlung mit Thesauruscharakter« sich herausgebildet habe (eben in diesem Sinne »Neuauflage 4

so zitiert bei J. Lanz: ebd. 15.

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des Eisler«). Die immer etwas heimgewerkelte Verbindung von Terminologiegeschichte mit Theorie- und Problemgeschichte entsprach offensichtlich genau dem Informationsbedürfnis einer breiten wissenschaftlichen Leserschaft; sie war aber auch immer – sofern sie nicht nur ein Spaziergang auf viel begangenen Wegen war – eine Gratwanderung zwischen souveränen historischen Überblicken und philologisch-hermeneutischen Abstürzen. Von Anfang an ist Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosophie nicht ›streng‹ gewesen, sondern im Zusammenspiel von Sacherfordernissen und Autorkönnen unterlag sie je nach Stichwort einem geschmeidigen Regelwerk, wie es die ›Regula Lesbia‹5 in der philosophischen Tradition war. Die philosophiehistorische Aufbereitung – in den recht liberal gehandhabten Mischformen von Problem-/ Theorie-/ und Terminologiegeschichte – war im Gebrauch außerordentlich nützlich, wurde von Benutzern und Käufern höchst dankbar angenommen und machte das Historische Wörterbuch der Philosophie zu einem verlegerischen Erfolgsprojekt mit Traumauflage. Die Kritik reagierte fast ausnahmslos wohlwollend. Die Ansprüche, was ein begriffsgeschichtlicher Artikel bieten soll, wurden – auf verschiedene Weise – zunächst von den Autoren selbst, dann auch von den Herausgebern, immer höher geschraubt. In der zweiten Hälfte des Alphabets gibt es kaum Artikel mehr, die nur die Wortverwendung erklären und belegen. Der Zwang, selbst im Detail geschichtlich zu situieren, forderte seinen Raum. Selbst Artikel, z. B. zu den Wortprägungen Martin Heideggers, von denen es nicht wenige gibt im Historischen Wörterbuch der Philosophie, sind im Laufe des Gesamtwerks ›begriffsgeschichtlich‹ geworden: Es reichte nun nicht mehr, den Terminus ausschließlich mit Zitaten aus Sein und Zeit zu belegen, wie es die Heidegger-Forschung der 60er Jahre vielleicht auch nicht anders zuließ. Aus Heideggers Vorlesungen sind ›Genesen‹, aus dem Umfeld des Neukantianismus Einflüsse und aus seiner eigenen philosophiehistorischen Beschäftigung bestimmte Themenfelder ersichtlich, die erst dem von ihm selbst geprägten Begriff die eigentliche Tiefenschärfe gaben. Die wohlbegründete Entscheidung der ersten Herausgeber, die Nomenklatur nach einzelnen Termini sehr parzelliert zu gliedern, hatte pragmatische Vorteile, aber um den Preis, daß sowohl Zusammenhänge wie auch Distinktionen nicht ausreichend sichtbar wurden.6 In den späteren Bänden hat man sich vermehrt den Herausforderungen gerade der vielfältigen Terminologie unter einem Titelstichwort gestellt und auf das Register als notwendig erschließendes Instrument vertraut. Allein die Änderung der Nomenklatur aus den 60er Jahren (für die ja alle Artikel von A–Z von Beginn an fast komplett vorlagen) im Laufe der Bearbeitung

5 Vgl. Art. ›Regula Lesbia‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Bd. 8 (Basel 1992) 489 f. 6 Vgl. auch Gunter Scholtz: Begriffsgeschichte als historische Philosophie und als philosophische Historie. In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz. Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft (Hamburg 2000) 183–200, hier 193.

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der einzelnen Bände dokumentiert anschaulich den Weg, wie sich die Auffassung zur Begriffsgeschichte im Wörterbuch selbst gewandelt hat. Die Wissenschaftsgeschichtsschreibung hätte nicht nur in dieser Hinsicht ein interessantes Betätigungsfeld. De facto hat sich also eine Praxis der Begriffsgeschichtsschreibung von Artikeln herausgebildet und verfeinert, die sich aber auch jetzt kaum einheitlich fassen lassen dürfte. Am wenigsten liegt ein Begriffsessentialismus den einzelnen Artikeln zugrunde. Es wird historisch dokumentiert, nicht bedeutungsgeschichtlich hypostasiert. Das Spektrum dessen, was ein Artikel an Begriffsgeschichte zu bieten hat, bleibt breit: von der kontingenten chronologisch geordneten und als ›Geschichte‹ erzählten Belegsammlung bis zum Kondensat eingehender Bedeutungsanalysen eines Terminologiefeldes und dessen synchronen und diachronen Zusammenhängen oder Disparatheiten. Die eigentliche Herausforderung, der sich Begriffsgeschichtsschreibung nach wie vor zu stellen hat, ist weniger die methodologische Reflexion, wessen Geschichte sie behandeln soll, ob die von Termini, Bedeutungen oder Problemen, als die Bewältigung von Komplexität, materialiter und systematisch. Hier gibt es wohl kaum grundsätzliche ›Umbrüche‹, sondern in 40 Jahren sind unterschiedliche Bewältigungsstrategien und – möglicherweise – eine größere Reflektiertheit entstanden. Mit der Zunahme der Differenziertheit philosophiehistorischen Wissens in den letzten 40 Jahren sind natürlich auch die Ansprüche an die Begriffsgeschichte gestiegen. Ganze Epochen, die vorher nur ausnahmsweise im Blick waren (so z. B. die Spätantike, die arabische Welt als Mittler zwischen Antike und Mittelalter, das späte Mittelalter, die frühe Neuzeit), einzelne Autoren oder philosophische Probleme sind mit philologischer Gründlichkeit und systematisch weitreichenden Erträgen aufgearbeitet, fast immer mit begriffsgeschichtlich relevanten Konsequenzen. Immer deutlicher wird dabei, wie vor dem Hintergrund der Professionalisierung der historischen Arbeit in einzelnen Teil-Epochen gerade auf terminologischem und diskursgeschichtlichem Feld historische Globalaussagen sich sehr leicht dem Vorwurf von Dilettantismus aussetzen. Immer häufiger wird die begriffsgeschichtliche Kleinarbeit zum Korrektiv althergebrachter oder neu ersonnener historiographischer Großthesen, als daß diese selbst ein fertiges Raster vorgeben, mit dem die Materialfülle übersichtlich sortiert wird. Mehr noch als der materialen Komplexität einer Belegfülle muß sich der Begriffsgeschichtler der Komplexität dessen stellen, was systematisch das Umfeld eines Begriffs ausmacht: die Fülle von Termini, die Synonyme oder unterschiedlichen Bedeutungen auch in anderen Sprachen, kontingente Parallelführungen und Abhängigkeiten. Hier begriffsgeschichtliche Filiationen historisch herauszuarbeiten ist eine Sisyphos-Arbeit, die für viele auch in der heutigen Diskussion zentrale Begriffe noch nicht geleistet ist. Nehmen wir als Beispiel den wichtigen Begriff ›Zufall‹. Ein an Begriffsgeschichte nicht interessierter Mathematiker definiert ihn z. B. als eine beliebige Zahlenfolge, die durch keine kürzere Formel ausgedrückt werden kann als diese

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Zahlenfolge selbst. Das interessiert den Begriffshistoriker wenig, er geht zurück zu den Griechen, zu Tyche und Fortuna; das ist aber eigentlich ›Schicksal‹ oder ›glückliche Fügung‹ und nicht ›Zufall‹, der, wie auch die wörtlichen griechischen und lateinischen Vorgängertermini zeigen, das ›Symptom‹, das ›Accidens‹ ist, das durch die Übersetzungstradition nun wiederum zur ›Kontingenz‹ führt, und diese durch Übertragungsmißverständnisse zu ›Zufälligkeit‹, die nun wiederum gar nichts zu tun hat mit dem anderen griechischen Ausdruck für ›Zufall‹, dem ατóµατον, das mit ›spontan‹ übersetzt wird. Führt sich der Begriffshistoriker nur die Wortverwendungen des deutschen Wortes ›Zufall‹ vor Augen (bei ›hasard‹ und ›chance‹ läge die Sache wieder ganz anders), wird er ein heterogenes Feld vor sich haben, das die Regellosigkeit eines Ereignisses genauso bezeichnet wie die Absichtslosigkeit einer Handlung und in der Wahrscheinlichkeitsrechnung genauso einen Platz hat wie in der Handlungstheorie und Ethik. Kein Begriffsgeschichtler würde hier eine wie auch immer geartete Begriffsgeschichte erzählen wollen, weil es nicht eine unter vielen möglichen Geschichten zu erzählen gibt, sondern nur notwendig viele, die nicht, wie bei anderen Begriffen möglich, distinkte Traditionen haben, sondern durch mißverständliche Aufnahmen in ihren Abgrenzungen und Zusammenhängen erst noch transparent gemacht werden müßten. Das genau war immer die Aufgabe der Begriffsgeschichte und wird es weiterhin bleiben. Besonders dann, wenn das Historische Wörterbuch der Philosophie oder andere begriffsgeschichtliche Nachschlagewerke in andere Sprachen übersetzt werden, dürften sich diese Probleme vermehrt stellen: Müßte nicht z. B. der Artikel ›Geist‹ teilweise unter ›mind‹ und teilweise unter ›spirit‹ aufgeführt werden, und müßten dann diese Artikel nicht wiederum einen ganz eigenen Zuschnitt mit notwendigen ›englischen‹ Ergänzungen haben? Hier ist in Zukunft international viel zu erwarten, wofür erst bescheidene Grundlagen gelegt sind. Raymond Klibansky hat über viele Jahrzehnte ein Projekt bedeutenden Ausmaßes zur Übersetzung philosophischer Begriffe verfolgt. Mit Mitteln von UNESCO und CNRS finanziert, wurde als ›vorläufiges‹ Resultat 1995 ein bescheidenes Glossaire/Glossary vorgelegt,7 das mit tabellarischen Listen von ca. 300 philosophischen Schlüsselbegriffen in englischer, französischer, deutscher und spanischer Sortierung auf insgesamt 60 Seiten allenfalls fachliche Sprachunkenntnis kompensiert, die begrifflichen Vielschichtigkeiten aber gerade einebnet. Das Problem einer solchen sprachlichen Komplexität läßt sich anschaulich an einem Beispiel zeigen – alphabetisch zufällig aus der frühen Zeit des Wörterbuchs –, das erlaubt, das neuere begriffsgeschichtliche Nachschlagewerk Ästhetische Grundbegriffe einzubeziehen. Sehr dezidiert bildet dort »die Beschreibung und

7 Bibliographie de la philosophie / Bibliography of philosophy. Glossaire / glossary, publ. par Institut internationale de philosophie (Paris 1995); vgl. Irmeline Veit-Brause: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte als Brücke zwischen den Disziplinen. In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, a. a. O. [Anm. 6], 15–29, hier 19.

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Untersuchung der Transgressivität und des Austauschs zwischen den europäischen Kulturnationen eine programmatische Aufgabe«;8 der Übersetzung und den Begriffstransfers wird besondere Bedeutung beigemessen wie auch der begrifflichen Entwicklung in »nationalen Epizentren«.9 An diesem begriffsgeschichtlichen Programm dürfte auch in Zukunft keine Arbeit vorbeikommen. Nehmen wir als Beispiel die Begriffe ›Affekt‹, ›Gefühl‹, ›Leidenschaft‹, in griechischer und lateinischer Terminologie: pathos, affectus und passio. Von ›Gefühl‹ zu den ›Gemütsbewegungen‹ eröffnet sich ein ganzes Feld von Termini mit eigenen Bedeutungen und Bedeutungsnuancierungen wie engl. ›sens‹, ›sentiment‹ und frz. ›sentiment‹, von wo man einerseits auf beinahe das gesamte erkenntnistheoretische oder wahrnehmungspsychologische Vokabular zwischen ›Empfindung‹, ›sensation‹, ›instinct‹, ›Geschmack‹ und ›Urteil‹ verwiesen wird, aber auch auf das gesamte Spektrum zwischen ›Leidenschaft‹ und ›Enthusiasmus‹. Wir haben hier rein terminologisch ein Wespennest, in dem selbst innerhalb einzelner Termini das Emotive, Volitive und Kognitive sich überkreuzen und vielfältig überlagern. Wenn irgendwo der Teufel eine begriffsgeschichtliche Küche hat, dann hier, und auch ›Familienähnlichkeit‹ hilft nicht viel weiter, wenn man über nationalsprachliche oder Epochengrenzen geht. Nicht weniger vertrackt wird es durch die verschiedenen Diskurse, die in diesem Begriffsfeld zusammenlaufen oder auseinandergehen: auf der einen Seite haben wir eine antike rhetorische Affektentheorie mit kaum zu überschätzendem expliziten oder untergründigen Einfluß auf die neuzeitliche Wirkungsästhetik; wir haben detaillierte antike Theorien der Gefühle, die über die Schultraditionen von Aristotelismus und v. a. Stoizismus bis weit in die Neuzeit hinein reichen und präsent bleiben; auf der anderen Seite haben wir als spezifisch neuzeitlich angesehene Diskursformationen (Ästhetik der Empfindsamkeit), die einen eigenen Wortschatz ausgebildet haben, der von Begriffsgeschichtlern auf ihre tradierten Komponenten hin, auf Neues und dann vielleicht spezifisch Neuzeitliches zu untersuchen wäre. Relativ übersichtlich ist es, wenn der erste Begriffsname, nämlich πáθος, in seiner griechischen Wortform weiterverfolgt wird. Nur ist mit diesem Begriffsnamen für Affekt/Gefühl und Leidenschaft dann unter ›Pathos‹ seit dem 18. Jahrhundert ein ganz anderer, eigenständiger Begriff der Wirkungsästhetik, dann der Produktionsästhetik ausgebildet geworden, der das Pathos an die Lehre vom Erhabenen knüpft. Sowohl das Historische Wörterbuch der Philosophie wie auch die Ästhetischen Grundbegriffe haben deshalb begründeterweise einen eigenen Eintrag, der Pathos und das Pathetische zusammenbringt, aber natürlich keine Aufschlüsse mehr gibt und zu geben braucht für das Terminologiefeld von ›Gefühl‹. Andererseits fallen die Verwendungsweisen von πáθος weg, die z. B. in die Kategorienlehre von ›Tun/Leiden‹ gehören (eigener Artikel im Historischen Wörterbuch der Philo8 Vorwort der Herausgeber. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 1 (Stuttgart, Weimar 2000) VII–XIII, hier XII. 9 Ebd. VII.

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sophie) oder mit dem deutschen Wort ›Widerfahrnis‹ (auch eigener Artikel dort) wiedergegeben werden. Daß diese Konnotation von πáθος selbst noch im deutschen Wort ›Leidenschaft‹ im 17. Jahrhundert präsent ist, erwähnt dankenswerterweise der Art. ›Passion/Leidenschaft‹ in den Ästhetischen Grundbegriffen; dort wird Johann Christoph Adelung zitiert mit dem für heutige Ohren befremdlichen Satz: »so ist auch die Veränderung, welche in einem Schwamme vorgehet, wenn ich ihn zusammen drücke, eine Leidenschaft.«10 Genauso verzeichnet der ›Pathos‹-Artikel in den Ästhetischen Grundbegriffen11 die Abhängigkeit des Heideggerschen Stimmungs-Begriffs von den Aristotelischen πáθη und der Augustinischen affectio: ein begriffsgeschichtlicher Zusammenhang, den der ›Stimmungs‹-Artikel weder im Historischen Wörterbuch der Philosophie noch in den Ästhetischen Grundbegriffen erahnen läßt. Der ›Affekt‹-Artikel der Ästhetischen Grundbegriffe12 stellt – völlig gerechtfertigt durch die Ausrichtung des Werks – die wirkungsästhetische Affektenlehre dar, incl. der Katharsis-Lehre und ihrer Rezeption (genauso beschränkt sich auch das Historische Wörterbuch der Rhetorik 13 mit allem Recht unter dem Stichwort ›Affektenlehre‹ auf die Darstellung der rhetorischen Affektenlehre), ohne daß begriffsgeschichtliche Aspekte des Transfers des Gefühlsvokabulars eine große Rolle spielen müßten. Vom Artikel ›Affekt‹ im Historischen Wörterbuch der Philosophie erwartet man genau dieses Panaroma. Der Artikel14 bietet von πáθη über lat. affectus und passiones bis hin zu den Affekten und Leidenschaften der Neuzeit die Terminologie und macht deutlich, daß der Affekt-Begriff in der Neuzeit gegenüber πáθος und affectus an Umfang verliert und sich auf ein Teilgebiet dessen beschränkt, was vorher als Ganzes ihr Gegenstand war: die ›Gefühls-‹ oder ›Gemütssphäre‹, die ›Affektivität‹, das ›Emotionale‹. Von hier aus öffnet sich der ganze Strauß von Einzelartikeln zwischen Gemüt, Gemütsbewegung und Sentiment, die mehr oder weniger glücklich Übersetzungsleistungen und -mißverständnisse in unterschiedlichen Diskursen benennen, wenn sie denn an den Terminus und die Wortform geknüpft sind. Zitate und provisorische Hinweise werden gegeben, aber wenn man nun von Artikel zu Artikel wandert, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, und die Diskurse verschwimmen. Auch der Index, der die Zusammengehörigkeit unterschiedlicher Termini und ihrer Artikel sichtbar machen wird, bietet ein Band, aber nicht die Füllungen, die für die Fugen zwischen den Artikeln nötig sein werden, damit man aus dem Kontext des ganzen Argumentationsfeldes und Diskurses Abhängigkeiten oder Abstoßungen ausmachen kann. Erst diese ge10 Dieter Kliche: Art. ›Passion/Leidenschaft‹. In: Ästhetische Grundbegriffe, a. a. O. [Anm. 8] Bd. 4 (2002) 684–724, hier 687. 11 Martin Gessmann: Art. ›Pathos/pathetisch‹. In: ebd. 724–739, hier 739. 12 Hartmut Grimm: Art. ›Affekt‹. In: ebd. Bd. 1 (2000) 16–49. 13 Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding. Bd. 1 (Tübingen 1992). 14 Jürgen Hengelbrock / Jacob Lanz: Art. ›Affekt I./II.‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a. a. O. [Anm. 5] Bd. 1 (1971) 89–100.

M. Kranz · ›Wider den Methodenzwang‹?

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ben darüber Auskunft, welche Termini durch andere wie aufgeladen sind, ob man über etwas ganz anderes spricht oder nur mit anderen Worten und vielleicht anderen Absichten. Hier lag die Chance der Ästhetischen Grundbegriffe, die nicht nur von 30 Jahren Forschung auf diesem Gebiet profitieren konnten, sondern auch durch das breitere Darstellungsprinzip die Termini eines Diskurses bündeln, ein Diskursfeld abstecken und somit hermeneutisch rückläufig das Profil eines Terminus (und dessen was er transportiert) ausleuchten konnten. Der Artikel ›Passion/Leidenschaft‹ nutzt diesen Spielraum – auch wenn er sich weitgehend an die Wortform ›passion‹ und deren Übersetzungen hält – wie das Programm es fordert: nämlich »epochengeschichtliche Parallelen der Begriffsbildung als auch den Nachweis der konkreten Vermittlung beim Übergang von Sprachraum zu Sprachraum«15 aufzuweisen. Es werden hermeneutische Musterstücke dafür gegeben, wie aufgekommene Entgegensetzungen, hier z. B. die von ›Affekt‹ und ›Leidenschaft‹ bei Immanuel Kant, sich aus einem systematischen Gesamtanliegen ergeben und dieses auch erst die dann so wirksame spätere ›Besetzung‹ der Termini verständlich macht. Die Darstellungsform erlaubt den hermeneutischen Gang – Explikation des Terminus aus dem Gesamttext und dessen Situierung im historischen Diskursfeld – nachzuvollziehen. Der Artikel ›Passion/Leidenschaft‹ zeigt, wie fruchtbar begriffsgeschichtliche Arbeit für die Erhellung eines Diskurses sein kann und umgekehrt, wie begriffsgeschichtliches Fragen sich erst erfüllt und zum Ziel kommt, wenn es in den Horizont einer Argumentations- und Diskursgeschichte eingebunden ist. Der Art. ›Gefühl‹ der Ästhetischen Grundbegriffe16 verschenkt im Gegensatz dazu genau die Möglichkeit, epochengeschichtliche Signaturen begriffsgeschichtlich zu erhellen. Wir lesen zwar, daß sich die »Antike und später die lateinischen Gelehrtenkreise« unter den Leitbegriffen pathos, affectus und passio mit dem »Problem der Gefühle« befassen, aber: »Diese Begriffe gehören nicht zur unmittelbaren Vorgeschichte des neuzeitlichen Begriffspaares Gefühl/Emotion, weil in ihnen allein die passive Komponente des menschlichen Gefühlslebens zum Ausdruck kommt.« Es kann hier nicht um die Falschheit dieses Satzes gehen (der Art. ›Passion/Leidenschaft‹ im selben Werk hat da schon nötige Korrekturen angebracht); es geht mir hier nur darum, den methodologischen Zirkel aufzuweisen: der Dispens der Untersuchung der einschlägigen Vorgängertermini wird mit Differenzen begründet, die eine saubere philologische, diskurs- und argumentationsgeschichtliche Untersuchung ja als Ergebnis vorbringen würde, aber nicht als Voraussetzung nehmen kann. Genauso unfruchtbar ist die angebliche vorneuzeitliche Situierung der Gefühle im Körperlich-Animalischen. Was kognitiv oder körperlich bei den Gefühlen ist – ob bei πáθη, affectus, passiones oder sentiments –, wird in

15 Informationsbroschüre des Metzler-Verlags: K. Barck u. a.: Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe. Ankündigung (Stuttgart, Weimar 1997) 12. 16 Brigitte Scheer: Art. ›Gefühl‹. In: Ästhetische Grundbegriffe, a. a. O. [Anm. 8] Bd. 2 (2001) 629–660, hier 629.

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Antike und Mittelalter hochgradig komplex mit einem Vokabular analysiert, das die so einfache Zuordnung – emotiv – volitiv – kognitiv – nicht weniger unterläuft oder überformt als es später der Fall ist. Hier wird, mit einfachen geschichtlichen Vorurteilen eine Fabel von Neuzeit erzählt und perpetuiert, die es über eine Begriffsgeschichte gerade aufzulösen gälte. Natürlich könnte man dafür auch Beispiele im Historischen Wörterbuch der Philosophie finden. Es zeigt sich im Vergleich des alten und des neuen begriffsgeschichtlichen Werks, daß die nicht alphabetisch parzellierte Darstellungsform der begriffsgeschichtlichen Komplexität weitaus angemessener ist. Es hat sich aber vor allem gezeigt, daß die Freiheit vom Methodenzwang – die sich im Historisches Wörterbuch der Philosophie den eigentlich kontingenten Entstehungsbedingungen verdankt – in der sich entwickelnden Begriffsgeschichtsschreibung ihrem Gegenstand angemessen war. Die Standards freilich, die sich dadurch entwickelt haben, binden die weitere begriffsgeschichtliche Forschung, der damit mehr als genug zu tun bleibt.

Dietrich Busse

Architekturen des Wissens Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie ›Begriffsgeschichte‹ ist und meint schon seit vielen Jahren mehr als eine bloße auf Inhalte konzentrierte Wortgeschichte. Wohl nicht erst seit den Geschichtlichen Grundbegriffen und ihrer kongenialen Begründung und (bei weitem nicht immer durchgehaltenen) Zielbestimmung durch REINHART KOSELLECK1, aber seitdem in aller Bewußtsein, zielt eine moderne Historische Semantik auf eine Art Wissensgeschichte, eine Geschichte des gesellschaftlichen Sich-bewußt-Werdens sozialer und historischer Tatsachen, Programme, Konzepte. Schon früh (nämlich vor fünfundzwanzig Jahren) mahnten Forscher wie KARLHEINZ STIERLE und später ROLF REICHARDT2 eine Erweiterung der so verstandenen Historischen Semantik über die wortbezogenen Begrenzungen der Begriffsanalyse an und begannen, von dem Programm und der Methodik einer künftigen Diskursgeschichte zu sprechen. Kern dieser (alsbald auch in empirische Projekte eingebrachten) Zielpräzisierung und -ausweitung war, so kann man es bei distanzierter Betrachtung beschreiben, letztlich eine Analyse der Bedingungen und Strukturgefüge, in denen sich gesellschaftliches Wissen entfaltet. Da dieses Wissen sich aber nur (oder am direktesten) in Sprache, in Texten manifestiert und damit auch den Bedingungen dieses Mediums unterworfen ist, ergab sich der Bezug der Wissensanalyse, der Epistemologie, zur Semantik gleichsam von selbst. Dieser innige Zusammenhang wirft ein Licht gerade auf das, was Semantik (auch: linguistische Semantik) im Kern ist: nämlich eine methodisch reflektierte Analyse der Wissenselemente und -voraussetzungen, welche für die sich auf Sprachelemente, auf Zeichen und Texte stützende Bedeutungskonstitution seitens der sprachverstehenden Individuen und ihrer Gruppierungen notwendig aktiviert, aktualisiert werden müssen. Semantik ist also immer schon ab ovo und im innersten Kern eine Wissensanalyse, eine Epistemologie, auch wenn dies von Linguisten und Sprachtheoretikern immer wieder gerne und nach Kräften ignoriert, wenn nicht gar negiert wird. Begriffsgeschichte KOSELLECKSCHER Prägung stellte und stellt für Fachwissenschaftler der berührten Disziplinen eine Zumutung gleich in zwei Richtungen dar: Für viele Historiker (vor allem die quellen- und faktenverliebten und methodisch bzw. erkenntnistheoretisch wenig reflektierten unter ihnen) stellte die Anmutung,

1 Vgl. REINHART KOSELLECK: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner / Werner Conze /Reinhart Koselleck. Bd. 1 (Stuttgart 1972) S. XIII–XXVII; DIETRICH BUSSE: Historische Semantik (Stuttgart 1987). 2 Vgl. ROLF REICHARDT: Einleitung. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, H. 1/2 (München 1985) 39–148; D. BUSSE, ebd.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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den geschichtlichen Prozeß nur oder vor allem in Sprache, in sprachlich manifestierten Denkprozessen aufspüren zu wollen, eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen dar. Sprachen die Quellen nicht für sich selbst? War es nicht wichtiger, die Tatsachen selbst sprechen zu lassen als ›bloß‹ das Denken und Reden (bzw. Schreiben) darüber zu analysieren (und mehr noch: gerade dieses für den Kern des Untersuchungsgegenstandes zu halten)? Diese Ablehnung einer neuen, epistemologischen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft durch die traditionell denkenden Historiker korrespondierte (und korrespondiert noch immer) aufs trefflichste mit der spiegelbildlichen Ablehnung jeglicher epistemologischen, auf Wissensanalyse bezogenen Ausrichtung der Semantik seitens der modernen Linguisten. Beide Sorten von Fachvertretern ignorieren damit in trauter interdisziplinärer Einmütigkeit die zentrale Rolle, welche das gesellschaftlich tradierte und konstituierte Wissen für die Entstehung historischen Bewußtseins und damit für den Prozeß der Geschichte selbst einerseits und das Entstehen eines inhaltlich ausdifferenzierten sprachlichen Mediums, seiner Semantik und seiner Leistungen andererseits spielt (ganz nach dem Motto: Interdisziplinär ist, wenn man dem anderen, und damit sich selbst, am wenigsten weh tut). So weit die Zustandsbeschreibung. Nur: Hilft sie auch weiter? Was hindert (oder besser positiv gefragt: was sind die Bedingungen) eine(r) Analyse des gesellschaftlichen Wissens in historischer und semantischer Hinsicht? Hier ist noch eine letzte kleine Rückbetrachtung notwendig: Der Trick der Begriffsgeschichte bestand und besteht ja in der Verwendung des höchst dubiosen, zwei-, wenn nicht mehrdeutigen Terminus ›Begriff‹ zur Bezeichnung des zentralen Untersuchungsgegenstandes. Dieser Begriff schwebt ja (genauso wie übrigens seine modernistische Doublette, der ›Concept‹-Begriff in der aktuellen kognitiven Linguistik und Sprachpsychologie) aufs glücklichste zwischen den relevanten Bezugspunkten, ohne sich jemals eindeutig zu einer Seite hin zu neigen. Bezeichnet werden mit diesem Terminus je nach Perspektive und Interesse mal Einheiten des Denkens, der Kognition, der Episteme, also rein geistige Entitäten, mal die Bedeutungen der sprachlichen Zeichen, mal die sprachlichen Zeichen mit ihren beiden Seiten (also Inhalts- und Ausdrucksseite) selbst. Damit ist der Terminus der ideale Ankerpunkt für Analysen, welche den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken, zwischen Zeichen, Zeichenbedeutungen und Wissen aufklären wollen. Begriffsgeschichte sollte ja weder reine Ideengeschichte noch reine Wortgeschichte noch reine Sachgeschichte sein.3 Der je verschiedenen sprachvergessenen (und, wie man hinzufügen könnte: die Bedingungen der Episteme und ihrer gesellschaftlichen wie medialen Konstitution ignorierenden) Forschungshaltung und Methodik sollte eine Perspektive der als unhintergehbar aufgefaßten Integration der bezogenen Aspekte entgegengesetzt werden. Nur: Ist dafür der höchst problematische Terminus ›Begriff‹ ein geeigneter Zugriffspunkt?

3

So R. KOSELLECK: Einleitung, a. a. O. [Anm. 1].

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Diese Frage kann und sollte nicht dadurch beantwortet werden, daß in Widerspruch zu seiner wechselvollen Geschichte und heterogenen Einbindung nun dieser Terminus selbst einer künstlichen Eingrenzung per definitorischem Gewaltakt zugeführt wird. Das Problem sollte vielmehr von der Seite des eigentlich interessierenden Untersuchungsgegenstandes angegangen werden: nämlich dem sich in Begriffen, in sprachlichen Zeichen und Zeichenketten bzw. Texten manifestierenden Wissen und der Frage, wie, d. h. unter welchen Bedingungen und Strukturgegebenheiten sich der Zusammenhang zwischen Wissen und Semantik, zwischen Episteme, Bedeutungen und Zeichenverwendungsregeln immer wieder neu und möglicherweise anders herstellt. Dazu gehört auch die Klärung der Frage, welche Aussagekraft einzelne Sprachzeichen als Indizien gesellschaftlichen Wissenswandels haben können. Es waren ja nicht die Begriffe im Sinne von Sprachzeichen allein, welche Ziel der Begriffsgeschichte und danach einer historisch-semantischen Diskursanalyse waren. Vielmehr zielte die Analyse mittels sprachlicher Quellen auf die Beschreibung des hinter ihnen stehenden, in ihnen wirksam werdenden Wissens selbst. Es geht also um die Chancen und Gefahren einer Forschungsstrategie, welche Strömungen und Strukturierungen des sich in sprachlich verfaßten Quellen manifestierenden gesellschaftlichen Wissens erschließen will und dabei die Analyse des Sprachmaterials eher als notwendiges und unhintergehbares Zugriffsobjekt denn als eigentlichen Untersuchungsgegenstand begreift. Der Titel dieses Essays Architekturen des Wissens stellt dabei natürlich eine gezielte Provokation dar, die ich nun ein wenig sezieren möchte. In der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raums kann ich dabei nur auf drei zentrale (und eine weniger zentrale) Fragen eingehen: (1) Gibt es Strukturen des gesellschaftlichen Wissens? Und wenn ja: welche (welcher Art, welchen Status’)? (2) Lassen sich Strukturen des Wissens analysieren und beschreiben, oder entziehen sie sich dem wissenschaftlichen Zugriff? (3) Wie steht es beim gesellschaftlichen Wissen um das Verhältnis von Stase und Dynamik, von Beharrung oder Tradierung und Veränderung? (Oder um in der metaphorischen Redeweise zu bleiben: Impliziert die Rede von Architekturen nicht eine Statik, die vorauszusetzen oder anzunehmen es gerade zu vermeiden gilt? – Zumindest nach seligen Foucaults Angedenken bzw. dekonstruktivistisch gedacht?) Und (4): Warum redet über so etwas ausgerechnet ein Linguist? Zu (1): Gibt es Strukturen des gesellschaftlichen Wissens? Und wenn ja: welche? Für uns als Begriffshistoriker oder Semantiker ist es eine selbstverständliche Reaktion, den konstitutiven und konstruktiven Charakter jeder Begriffsbildung, jeden terminologischen Zugriffs auf Untersuchungsobjekte und Fragestellungen zu hinterfragen, auch unseres eigenen. Was impliziert also ein Begriff wie ›Strukturen‹ in bezug auf das Wissen, welche Gefahren sind damit möglicherweise verbunden? Wissen wird erzeugt, ausgesprochen, zeigt sich, kommt zum Vorschein, kommt zur Wirkung – und zwar zunächst in menschlichen Handlungen und allen (durch Handlungen hervorgebrachten) Artefakten. Was rechtfertigt es, in der scheinbar unüberschaubaren Vielfalt alltäglicher Handlungen so etwas wie Strukturierungen er-

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kennen zu wollen? Leistet man mit einer solchen Suchstrategie nicht einer problematischen Verdinglichung und damit Hypostasierung Vorschub, die – so will es die erkenntniskritische modernistische Fama – seit der Kritik am Platonismus eigentlich in den Ablagekorb der abendländischen Kulturgeschichte gehört? Schon der erste genauere Blick auf diese Problematik zeigt indes, daß es weniger um das Ob von Strukturen geht als darum, wie hoch man in der Analyse der Hierarchie von zunehmend komplexer werdenden Strukturierungsprozessen steigen will. Schon ›Begriffe‹ im herkömmlichen Sinne sind Strukturen des Wissens auf elementarer Ebene. Sie fassen je nach Gusto Dingeigenschaften oder semantisch gesetzte Merkmale nach Maßgabe des durch den Erkenntnisakt gestifteten Blickwinkels in einer semantischen Ordnung zusammen und stiften dabei zugleich Beziehungen zu nebengeordneten, übergeordneten oder untergeordneten Begriffen, in deren Semantik sich einzelne oder mehrere der jeweiligen Begriffsmerkmale wiederholen oder ihre Entsprechungen und Gegenpole finden. Die Redeweise von den Begriffen führte in der klassischen Sichtweise daher gleichsam notwendig zur Betrachtung von Begriffsordnungen, die vor allem im Enzyklopädismus des 17. und 18. Jahrhunderts zu kunstvoll konstruierten Begriffssystemen ausgebaut worden sind. Noch die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts war ein später Nachklang des solchen Ansätzen innewohnenden Bestrebens, in der Ordnung der Begriffe die Ordnung der Welt (oder eigentlich: die Ordnung des menschlichen Wissens von der Welt) nachzubilden. Epistemologie ist hier zu ihrem Beginn also vor allem Ordnung des Wissens, Strukturierung auf komplexer und vom Gedanken her tendenziell weltumspannender Ebene. Seit dem Scheitern dieser Ansätze wohnt jeglichem Versuch einer Strukturbeschreibung des Wissens (und sei es nur des sprachbezogenen Wissens) der Ruch des Enzyklopädismus inne, weil er dem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch gleichkommt, das Wissen der gesamten Welt in einem systematischen Ganzen ordnen und beschreiben zu wollen. (Beispiele dafür finden wir in der Linguistik etwa bei der Klassifikation semantischer Rollen, den Systematisierungsversuchen für inhaltsbezogene Typen kommunikativer Handlungen in der Textlinguistik und Textsortentypologie und den Klassifikationsversuchen für Wortschatzelemente.) Um diese – zu Recht als problematisch anzusehenden – Ebenen der Betrachtung von Wissensstrukturen muß es aber gar nicht gehen. Auch wenn man von den Begriffen als Nuclei von Wissensordnungen absieht, so kommen bei reflektierter Betrachtung in jeglicher Semantik Wissensstrukturen vielfältiger Art zur Wirkung. Ganz abgesehen davon, daß schon die Verwendungsregel (bzw. Konvention) eines einzelnen Wortes wegen des für sie konstitutiven Wissens über die erfolgreichen bisherigen Fälle der Wortverwendung eine Wissensstruktur elementarer Ebene darstellt. Linguisten und Kognitionswissenschaftler verwenden für die in der Semantik sprachlicher Zeichen zur Geltung kommenden Wissensbezüge seit über zwanzig Jahren den Begriff ›Wissensrahmen‹ (frame), der ein Strukturgefüge bezeichnet, in dem einzelne für das Verstehen eines Wortes oder einer in einem Satz ausgedrückten Prädikation notwendige Wissensaktivierungen zu einer sich nach

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Inhaltsaspekten ergebenden mehr oder weniger stabilen Ganzheit zusammenkommen.4 Diese elementaren Ordnungsgefüge gesellschaftlichen Wissens schlagen sich (und dadurch gerade läßt sich ihr gesellschaftlicher, überindividueller Charakter nachweisen) in den Aktivierungsbedingungen für Zeichenbedeutungen unmittelbar nieder. Dies zeigt nicht nur, daß die bei formallogisch orientierten Linguisten so beliebte reinliche Scheidung zwischen sprachlich-semantischem und enzyklopädischem bzw. Welt-Wissen vom epistemologischen Standpunkt aus gesehen so gar nicht möglich ist. Dies zeigt vor allem auch, daß Semantik (auch die nur scheinbar enger gefaßte linguistische Semantik) immer schon, wenn nicht explizit, dann implizit (als unausgesprochene Voraussetzung der explizit beschriebenen semantischen Elemente) mit vorausgesetzten Strukturen des Wissens arbeitet und damit auf sie verweist. Wissensrahmen sind im Gebrauch und Verstehen sprachlicher Zeichen an so elementarer Stelle und Funktion wirksam, daß sprachliche Verständigung und damit die Ausdrückbarkeit von Wissen ohne sie nicht denkbar ist. Diese Einsicht sollte als Nachweis dafür gelten können, daß Wissensstrukturen in dieser Hinsicht tatsächlich ›existieren‹ und nicht eine bloße Erfindung epistemologischer und erkenntnisgeschichtlicher Schwarmgeister darstellen. Da die zum Verstehen sprachlicher Zeichen notwendigen Wissensrahmen vielfältig miteinander vernetzt sind, wird man von Strukturierungen auch auf höheren Organisationsebenen der Episteme reden können, ohne damit schon zugleich einen falschen Anschein an Geordnetheit und Systematizität unterstellen zu müssen (und damit denselben Fehler zu begehen wie die Begriffs-Hierarchen des 18. Jahrhunderts). Sprachliche Zeichen sind nicht nur Anlässe zur Aktivierung von Wissen, sondern können zugleich als Strukturelemente des Wissens selbst fungieren, indem sie innerhalb des Kontinuums der Episteme Bezugspunkte assoziativer (wissensaktivierender) Leistungen setzen, auf die hin sich vielfältige andere Wissenselemente ordnen lassen. Ordnungen stellen sich dabei nicht statisch her, sondern dynamisch und damit veränderlich, gelenkt von den je unterschiedlichen Aktivierungsperspektiven. Schon allein dies negiert die Möglichkeit jeglichen Platonismus. Jeder (in den Nomina eines Satzes sprachlich vollzogene) Referenzakt (d. h. jede Bezugnahme auf Gegenstände der Welt, seien diese konkret oder abstrakt, realweltlich oder fiktiv, narrativ oder argumentativ) setzt bereits ein elementares Ordnungsdatum (sozusagen einen Strukturpunkt), indem er im Wege der Existenzpräsupposition unterstellt: Dieses Ding da, von dem ich spreche, ist ein Etwas und es existiert. Diese Existenzbehauptung (nehmen wir als Beispiel einen Begriff wie Empfindsamkeit) formuliert ein Urteil, das nur in bezug auf seine (nicht explizierten) Urteilsgründe verstanden und epistemisch-gedanklich nachvollzogen werden kann. D. h. schon der (nominal vollzogene) Referenzakt konstituiert eine elementare (implizierte, unterstellte) Ordnungsstruktur, die epistemisch gesehen über das einfache Benen4 Vgl. dazu D. BUSSE: Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik (Opladen 1991).

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nen von Vorhandenem hinausgeht. Die Prädikation fügt dem Referenzakt dann eine weitere Ordnungsstruktur hinzu und erzeugt damit schon im einfachen Satz ein komplexes epistemisches Strukturgefüge. Zu diesen elementaren Ordnungen kommen höhere Strukturebenen des Wissens hinzu. Zum lexikalisch-semantischen Wissen um die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gehört die Fähigkeit, die Wörter bzw. Begriffe je nach Kontext und vermuteten kommunikativen Zielen in unterschiedliche Teilstrukturen des gesellschaftlichen Wissens einordnen zu können. D. h. das Wort wird auf einen Wissensrahmen projiziert und erhält erst darin und dadurch seine eigentliche bedeutungsstiftende (bzw. -aktualisierende) Funktion. Der eigentliche ›Mitteilungscharakter‹ einer sprachlichen Äußerung ist damit epistemisch gesehen eigentlich nichts anderes als ein Synergieeffekt, der sich durch die im Satz hergestellte Vernetzung verschiedener Wissensrahmen in einer den Satzrezipienten möglicherweise bisher noch nicht geläufigen Form ergibt. Damit stiftet der Satz (wie jeder Satz) aber einen potentiell neuen Wissens-Konnex, der den Keim für eine neue Ordnungsstruktur (einen neuen Wissensrahmen) darstellen kann. Oder anders ausgedrückt: Wörter setzen Bezüge zu Wissensrahmen, Sätze (bzw. Syntagmen) setzen Bezüge zwischen Wissensrahmen, vernetzen Wissenselemente und können damit zugleich auch selbst wieder als Verweisungen auf weitere Wissensrahmen wirken. Damit haben die Begriffswörter viel eher die Funktion von Anspielungen auf Wissensstrukturen als diejenige, Wissen tatsächlich zu explizieren, sprachlich eins-zu-eins auszudrücken. (Oder, um es in den Worten von CHARLES FILLMORE, dem Begründer des Wissensrahmen-Konzepts, auszudrücken: Wörter evozieren Wissensrahmen.)5 Je nach Evokationskraft der Wörter, je nach Komplexität und Struktur der Wissensgebiete, auf die die einzelnen Wörter anspielen, kann ein einfacher Satz ein tiefgestaffeltes und hochkomplexes Wissensnetz aktivieren, das jede gängige Vorstellung von ›Wortbedeutung‹ sprengt. (So aktiviert das kleine Wort fremd in der Formulierung »fremde bewegliche Sache« im Diebstahlparagraphen des deutschen Strafgesetzbuches den gesamten Wissensrahmen des Eigentumsrechts des BGB.) Die Komplexität der modernen Episteme bringt es mit sich, daß sich das für jede sprachliche Tätigkeit geltende Ökonomieprinzip in epistemisch-semantisch im höchsten Maß verdichteten Texten niederschlagen kann. Diese Tatsache gilt nicht nur für wissenschaftliche und philosophische Traktate und Diskurse, sondern kann bereits in den meisten Feuilleton-Texten nachgewiesen werden. Insofern historischsemantische Forschung, sei es Begriffsgeschichte, sei es Diskursanalyse, auf das sich in den Begriffen und Diskursen zeigende Wissen zielt, erschließt sie derartige (möglicherweise) hochkomplexe Bezüge und Strukturen, ist selbst also Teil einer Ordnungsaktivität des Wissens. Es kann daher fraglos gelten, daß Strukturen des Wissens existieren und daß sprachliche Zeichen in ihnen eine zentrale Ordnungsund Orientierungsleistung erbringen. Dies gilt auch dann, wenn man zugesteht, daß 5 CHARLES J. FILLMORE: Frame Semantics. In: Linguistics in the Morning Calm. Selected Papers from SICOL-1981, ed. by The Linguistic Society of Korea (Seoul 1982) 111–137, hier 117.

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die Gegebenheitsweise dieser Strukturen eher dynamisch als statisch ist, daß sich diese Strukturen eher im Gebrauch der Wörter und Sätze zeigen, in der Analyse ihrer Verstehensbedingungen zum Vorschein kommen, als daß sie als schon vorab feststellbare Seinsdinge da seien, daß ihre Analyse (wie jede hermeneutische Aktivität) rückverweist auf den Standpunkt und die Perspektive derjenigen, die sie durchführen. (2) Dies leitet über zum Versuch der Beantwortung der zweiten Frage: Lassen sich Strukturen des Wissens analysieren und beschreiben, oder entziehen sie sich dem wissenschaftlichen Zugriff? Wir sprechen von Strukturen, von Architekturen des Wissens, die man als vorhanden annehmen kann, deren Erfassung und Deskription aber gerade wegen der Art ihres Vorhandenseins schwierig, wenn nicht in vielen Fällen unmöglich ist. Warum schwierig oder unmöglich? Bevor ich auf die praktischen methodischen Probleme eingehe, eine grundsätzlichere Frage, die bereits MICHEL FOUCAULT im Zusammenhang mit der von ihm propagierten Archäologie des Wissens aufgeworfen hat.6 Verstehensrelevantes Wissen reicht weit in Regionen hinein, in denen es nicht nur um das kurzlebige, quasi episodische Wissen geht, welches kaum eine Chance hat, in das überdauernde kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft einzugehen, sondern in denen die Fundamente der Möglichkeit, überhaupt Wissen auszubilden, zu artikulieren, zu strukturieren, gelegt werden. FOUCAULT sprach hier von den Möglichkeitsbedingungen, die einzelne Wissenselemente und Wissensstrukturen für gesellschaftliches Wissen bestimmter Sorte überhaupt bilden. Er wies zurecht darauf hin, daß sich solche fundamentalen Wissensvoraussetzungen, welche unser Denken in bestimmten Bereichen ermöglichen, strukturieren und in Bahnen lenken, für diejenigen, die die Träger dieses Wissens sind, nicht zu jeder Zeit vergegenwärtigen und diskursiv verfügbar machen lassen. Mit anderen Worten: Im epistemischen Akt, im Moment der Wissensaktivierung lassen sich deren Bedingungen und Voraussetzungen nicht zugleich bewußt machen und würden sich in der Konsequenz auch jeder explizierenden wissenschaftlichen Analyse entziehen. Für den Gegenstandsbereich, der ihn interessierte, nahm FOUCAULT eine zeitlich-epistemische Distanz von einem ganzen Jahrhundert an, nach der man sich dann ernsthaft mit einiger Aussicht auf Klarheit an die Analyse der Wissensfundamente und damit auch der Wissensstrukturen in allen ihren Dimensionen machen könnte. Diese methodische Skepsis mag für solche Grundlagenstrukturen des abendländischen Denkens, wie FOUCAULT sie offenbar vor Augen hatte (und wie sie schon vorher LUDWIG WITTGENSTEIN in Über Gewißheit vergleichbar skizziert hatte), also z. B. die abendländische Logik, die Ontologie, Kategorien wie Raum und Zeit usw. angebracht sein. Andererseits zeigt ja gerade das Werk von FOUCAULT und WITTGENSTEIN und anderen Analytikern und Kritikern der abendländischen Denktraditionen wie NIETZSCHE, HEIDEGGER, DERRIDA, daß sich Philosophie und 6 M. FOUCAULT: L’archéologie du savoir (Paris 1969), dt.: Die Archäologie des Wissens (Frankfurt a. M. 1973); Vgl. dazu D. BUSSE: Historische Semantik, a. a. O. [Anm. 1].

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Erkenntniskritik der Moderne ja gerade durch das Erreichen eines solchen Reflexionsstandes und -vermögens auszeichnen, der es möglich macht, auch in der Gegenwart Möglichkeitsbedingungen für diskursive Strömungen, für bestimmte (durchaus auch fundamentierende) Strukturen des Wissens und ihres sprachlichen Ausdrucks ausfindig zu machen und annähernd präzise zu beschreiben. In der für die Moderne charakteristischen Situation des vielfältigen und bunten Nebeneinanders und Gegeneinanders der Philosophien, Moden, Denktraditionen, Schulen und Paradigmen besteht immer die Möglichkeit (freilich vom Standpunkt der einen Seite), das Treiben der anderen scharf unter die Lupe der Erkenntnis-, Wissens- und Diskurskritik zu nehmen. Man bezeichnet diese Tätigkeit ja auch als Kulturkritik und Kulturgeschichte; die Feuilletons und Buchreihen sind, würde ich behaupten wollen, voll davon. Man muß FOUCAULTS methodische Skepsis daher nicht unbedingt teilen, sondern sollte sie kompensieren durch die Forderung methodischer Stringenz, Überlegtheit und vor allem ständiger und nie nachlassender bzw. abreißender Selbstprüfung und -kritik. Dies leitet über zu den praktischen methodischen Problemen der Analyse von Wissensstrukturen. Diese sind nicht unerheblich. Schon die wenigen Ansätze einer wissensbezogenen Strukturanalyse in nur einer der dafür relevanten Wissenschaften, hier der Sprachwissenschaft, die bislang noch sämtlich in den programmatischen Anfängen steckengeblieben sind, zeigen, daß hier vor allem ein Material- und Komplexitäts-Problem größten Ausmaßes besteht. Vorhandene Strukturbeschreibungen sind allenfalls exemplarischer Art (Analyse semantischer Netze und Frame-Semantik) oder beschränken sich auf abstrakte Kataloge (Typologien thematischer Rollen/Kasusrollen und Textsortentypologien), die ihre Probleme teilen mit den Begriffssystemen des 18. Jahrhunderts. Gerade die theoretisch vielversprechendsten Ansätze, wie etwa die Analyse semantischer Rahmen nach dem FrameKonzept von FILLMORE7 (die ich lieber Wissensrahmen nenne) sind (offenbar aufgrund des diskursiven Drucks der methodischen und theoretischen Standards der Durchschnitts-Linguistik) durch einen unübersehbaren Reduktionismus gekennzeichnet, der unter weitgehender Aufgabe der weiterführenden Möglichkeiten dieses Ansatzes den Schwerpunkt auf zwar akribische, aber doch mehr oder weniger in den engen Grenzen eines Mainstream-Begriffs von Bedeutung verharrende wortbezogene und satzgliedbezogene Analysen legt. Hier werden die weitergehenden Möglichkeiten des Modells zwar zugestanden, aber nicht praktiziert. Ähnliches gilt für die Analyse semantischer Netze, die vor allem in der jüngeren Kognitionsforschung verbreitet ist, aber sich gerade vor den kulturwissenschaftlich und epistemologisch interessanten Konsequenzen des Modells scheut, wohl, weil es hier vor allem um die Implementierung von semantischen Bezügen in Systemen der Künstlichen Intelligenz geht, die wegen ihrer vorwiegend utilitaristischen Motivierung unter dem starken Diktat des Zeit- und Kostenfaktors steht. 7 CHARLES J. FILLMORE: Scenes and Frames semantics. In: Linguistic Structures Processing, ed. by Antonio Zampolli (Amsterdam 1977) 55–81.

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Gleichwohl handelt es sich bei den methodisch-praktischen Problemen der Strukturanalyse von verstehensrelevantem Wissen nicht bloß um eine Angelegenheit des Wollens, sondern mindestens ebensosehr um sachlich bedingte Probleme. Diese entstehen vor allem aus der epistemischen Komplexität des Mediums Sprache (als dem Mittel der explizitesten Präsentation von gesellschaftlichem Wissen). Nicht nur jedes einzelne Wort eines Satzes ist je für sich in ein Gefüge von semantisch-epistemischen Bezügen eingestellt (und kann in der kommunikativen Verwendung eine diesbezügliche Evokationskraft entfalten); dies gilt darüber hinaus auch für Wortteile komplexer Wörter und für Wissensbezüge, die sich aus dem syntagmatischen Zusammenwirken von Wörtern im Satz ergeben. Auf diese Weise kann schon ein syntaktisch einfacher Satz bei entsprechend evokationsfähigem Vokabular eine hochkomplexe epistemologische Explikation verlangen. So wird schon die bloße Explikation der semantisch-epistemischen Strukturvoraussetzungen einfacher Aussagen und Texte zu einer unter Umständen breitgefächerten Darstellung bereits dann, wenn es noch gar nicht einmal um Querverweisungen innerhalb und Weiterverweisungen jenseits des unmittelbar verstehensrelevanten Wissens geht. (Dies gilt ziemlich sicher nicht nur für ohnehin schon komplexe und tiefgestaffelt vernetzte Wissensgebiete wie das Recht, an dessen Beispiel ich solche Bezugsgeflechte näher untersucht habe, sondern wohl für das meiste kulturell relevante Wissen der modernen sog. Alltagswelt.) Auch wenn Strukturkomplexität keine akzeptable Ausrede für das Ausbleiben systematischer Wissensanalysen sein sollte, so sind doch die praktischen Probleme nicht zu unterschätzen, wenn bereits die einfache satzsemantische Explikation eines syntaktisch simplen Satzes aus einem vielgenutzten Paragraphen des deutschen Strafrechts nach dem Ankleben der siebten DIN-A-4-Seite im Querformat mangels der Bereitschaft heutiger Buchverlage, solche einfachen Strukturbeschreibungen drucktechnisch umzusetzen, unvollendet abgebrochen werden muß. Und dies noch ganz ohne Explikation der epistemischen Bezüge, welche von den so zunächst lediglich ausdrucksseitig explizit gemachten Bauelementen des Satzinhalts ausgehen. Nimmt man eine echte Strukturbeschreibung der Wissensnetze hinzu, dann müßte von jedem Punkt (jedem Item) eines rekonstruierten semantisch-epistemischen Netzwerks wieder eine größere Zahl von Bezugslinien zu anderen Punkten/ Items ausgehen, die selbst wiederum in Wissensnetzen stehen, in denen sie weitere Bezüge zu anderen von deren Elementen entfalten, die dann auch … usw. usf. ad infinitum. Diese sachlichen Probleme des tendenziell unendlich untereinander vernetzten gesellschaftlichen Wissens zeigen, daß es eine objektive Explikation epistemischer Strukturen gar nicht geben kann. Vielmehr entfaltet sich eine sprachbezogene Wissensanalyse in Perspektiven, in denen spotlightartig bestimmte Aspekte und Bezugslinien hervorgehoben werden, denen andere (prinzipiell ebenfalls anzunehmende und möglicherweise gleichrangige) Bezugslinien geopfert werden müssen. (3) Dies leitet über zum dritten Teil meiner Überlegungen zur Problematik der Darstellung von Wissensstrukturen, nämlich dem Verhältnis von Stase und Dyna-

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mik des sich in Sprache entfaltenden gesellschaftlichen Wissens. Erinnert sei die Frage: Wie steht es beim gesellschaftlichen Wissen um das Verhältnis von Beharrung oder Tradierung und Veränderung? Oder, um in der metaphorischen Redeweise zu bleiben: Impliziert die Rede von ›Architekturen des Wissens‹ nicht eine Statik, die vorauszusetzen oder anzunehmen es gerade zu vermeiden gilt? Dies ist, wenn ich es recht sehe, das Thema der meisten sog. Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten, kann aber auch sozialpsychologisch oder kognitivistisch angegangen werden. Man kann den Grundgedanken folgendermaßen formulieren: Wissen zeigt sich, wird benutzt, artikuliert, evoziert, ist aber kein statisches Etwas, keine feste, gegebene und temporär unveränderliche Struktur, die man wie einen vorgegebenen Gegenstand in quasi eingefrorener Perspektive stillhalten und deskriptiv erfassen kann. Wissen ist danach reine Dynamik, reine ενéργεια (energeia) in WILHELM VON HUMBOLDTS Sinne, mehr noch, es ist dem unaufhörlichen Gewimmel der Aktivierungen und Aktualisierungen, der Neu-Arrangements und -Ausbeutung anheimgegeben, der beständigen Iteration, in der jede Wiederholung wegen der Vielzahl der kaum zweimal in vollständig identischen Settings vorkommenden Anschlußmöglichkeiten einer Verschiebung im Gefüge des Wissens gleichkommt. Dies verbietet (so die Schlußfolgerung) jeden Versuch einer Strukturbeschreibung und -analyse, weil so mit konzeptueller Gewalt und damit kontrafaktisch festgemauert und ontologisiert wird, was eigentlich nur als flüchtige Bewegung in Erscheinung tritt. Diese Beschreibung hat sicherlich einen richtigen Kern, und zwar bzw. allerdings eher auf der Ebene der theoretischen Grundlagen von Kommunikation, Kognition und Episteme. Es fragt sich nur, ob dieses Zugeständnis bereits jede Beschreibung und Analyse von Strukturen des Wissens verbieten muß. Man könnte eine solche Forderung als überzogen ansehen und darauf etwa folgendermaßen replizieren: Wissen ist im wesentlichen gesellschaftliches Wissen. (WITTGENSTEIN hat in seiner Privatsprachen-Argumentation am Beispiel der Schmerzausdrücke gezeigt, daß auch das scheinbar individuelle, höchstpersönliche Wissen aufgrund seiner unhintergehbaren Bindung an die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gesellschaftlich überformt ist.) Als gesellschaftliches ist das Wissen so dynamisch und wandelbar oder so stabil und tradiert wie die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Hier lohnt es sich nun, genauer hinzuschauen, von welchen Wissensarealen (und damit von welchen gesellschaftlichen Verhältnissen) man jeweils redet. Mit anderen Worten: Differenzierung ist notwendig. Das schnell wandelbare, dynamische, sich in ständig wechselnden Re-Formierungen neu arrangierende Wissen findet sich prototypischer Weise eher in den Wissensarealen und Diskursformationen des kulturellen Überbaus (wenn man mir diesen kleinen rückwärtsgewandten terminologischen Schlenker erlaubt). Dies kann und darf aber nicht den Blick darauf verstellen, daß es andere Gesellschaftsbereiche und damit Wissensareale gibt, in denen Handlungs- und Lebensstrukturen wie das diesbezogene Wissen eine beeindruckende Latenz und Stabilität aufweisen. Wenn ich es recht sehe, ist die Intention der Diskursanalytiker und Dekonstruktivisten vom Schlage eines FOUCAULT und DERRIDA ja unter anderem gerade, das Gleiche im scheinbar Unter-

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schiedlichen, das Identische und Stabile im scheinbar Neuen aufzuspüren und damit zu einer Analyse der epistemologischen Bedingungen für die Ausformung, Tradierung und Ausübung gesellschaftlicher Macht beizutragen. Hier gibt es tatsächlich Strukturen (und damit auch Strukturen des Wissens), die Stabilität besitzen und sich deshalb auch als Strukturen, meinetwegen als Architekturen des gesellschaftliche Zusammenhänge konstituierenden Wissens analysieren und beschreiben lassen. Ich scheue mich, hierfür den in der Soziologie seit über hundert Jahren eingeführten, aus dem alten römischen Recht kommenden Begriff der Institution zu verwenden, weil mit ihm im Alltagsverständnis (auch der meisten Wissenschaftler) ein problematischer Schein von Irreversibilität verbunden ist, der bei weitem nicht allem, was an relativ stabilen Strukturen im gesellschaftlichen, sprachlich geprägten Wissen aufzufinden ist, gerecht wird. Wenn man freilich einen reflektierten, auf die Grundlagen dieses konstitutiven gesellschaftlichen Phänomens zurückgeführten Begriff der Institution oder besser Institutionalisierung einsetzt, dann lohnt es sich schon, die Strukturierungen des verstehensrelevanten Wissens unter der Perspektive von zumindest teilweise gegebener Institutionalität zu betrachten. Dazu nur kurz: Institutionalisierung kann zurückgeführt werden auf eine relative Stabilität im sozialen, interaktiven Handeln gesellschaftlicher Agenten und Instanzen, die sich in der Stabilität der Erwartbarkeit dieses Handelns niederschlägt. Stabile Erwartbarkeit und regelmäßige Erwartungsbestätigung (zusammen mit dem Auffangen von Erwartungsenttäuschungen in einem alternativen Deutungssystem) ermöglichen Strukturen des gesellschaftlichen Handelns, die sich dann in entsprechenden Strukturen des Wissens niederschlagen. Auch sprachliches Handeln ist gesellschaftliches Handeln, soziale Interaktion und damit auf Erwartungen und Erwartungssicherheit gestützt. (Schon FERDINAND DE SAUSSURE hat die Sprache auf den damals ganz neuen und noch nicht etablierten Begriff der Institution bezogen.8) Insofern beim Verstehen sozialer Handlungen (und erst recht beim Verstehen sprachlicher, symbolgestützter Handlungen) Erwartungen und damit Erwartungssysteme konstitutiv sind, baut es notwendig auf gegebenen Strukturen des Wissens auf, die als die epistemischen Entsprechungen der gegebenen gesellschaftlichen Strukturen gelten können. Solche Strukturen können historisch über längere Zeiträume stabil sein und dann m. E. auch als solche in ihrem epistemischen Niederschlag, eben als Wissensstrukturen, untersucht werden. Diese Einsicht oder Schlußfolgerung hebt allerdings nicht die für andere Wissensareale geltende Beobachtung auf, daß dort sich vergleichbare Verfestigungen nicht überall einstellen, sondern ein spielerischer Umgang mit (verstehensrelevantem) Wissen und seinem beständigen Neu-Arrangement bestehen kann. Insofern in diesen Wissensspielereien sprachliche Mittel zum Einsatz kommen (also quasi zwangsläufig), wird zumindest auf der elementaren Ebene dieser Mittel selbst der Aspekt der relativen Stabi8 FERDINAND DE SAUSSURE: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. von Charles Bally / Albert Sechehaye, unter Mitwirk. von Albert Riedlinger [1931]. 2. Aufl. mit neuem Reg. u. e. Nachw. von Peter von Polenz (Berlin 1967) 12.

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lität von Teilbestandteilen des verstehensrelevanten Wissens jedoch auch dort eine gewisse Gültigkeit behaupten. Zwei kleine Beispiele können vielleicht einiges veranschaulichen, was ich mit den bisherigen Überlegungen andeuten möchte: Der Begriff (das Wort) Ehe evoziert komplexe, vielfältig vernetzte gesellschaftliche Wissensstrukturen, auf die durch selbst wieder evokative Leitvokabeln wie ›Familie‹, ›Eigentum‹, ›Liebe‹, ›Patriarchat‹, ›Mutterschaft‹, ›Versorgungsgemeinschaft‹ usw. verwiesen werden kann. Das Charakteristische der Semantik von Ehe ist gerade diese Komplexität und Vernetzung gesellschaftlich zentraler Handlungsmuster und Organisationsformen, die sich in entsprechend komplexen und damit auch stabilen (weil sich gegenseitig stützenden) Wissensstrukturen niederschlagen. Wenn nun für neuentstehende, bislang nicht in diesen Wissenskomplex eingeschriebene gesellschaftliche Handlungsformen (WITTGENSTEIN sagte: Lebensformen) in politisch-plakativer Absicht gleichfalls das Wort ›Ehe‹ verwendet wird (z. B. in der Wortprägung ›HomosexuellenEhe‹), dann hat dies keineswegs automatisch zur Folge, daß nun alle epistemischen Aspekte auch für die Semantik dieser Neuverwendung einschlägig sind. Wenn sich größere Teile der Sprachgemeinschaft weigern, ihr Wissenssystem in Richtung auf die politisch gewollte Neu-Semantik umzuordnen, dann kann dies durch die Struktur des verstehensrelevanten Wissens des herkömmlichen Begriffs Ehe sehr gut begründet werden und ist dann nicht mehr eine Sache des Beliebens, die Vorwürfe wie ›konservativ‹, ›hinterwäldlerisch‹, ›minderheitenfeindlich‹ usw. rechtfertigt, sondern eine Konsequenz aus dem vernetzten Charakter des verstehensrelevanten Wissens über gesellschaftliche Handlungsweisen und Institutionalisierungen. Wenn also bereits nach einem halben Jahr die erste ›Homosexuellen-Ehe‹ auf ihre Auflösung zusteuert, dann kann dies u.U. ein Hinweis darauf sein, daß – trotz allem Jubel bei der Einführung der neuen Vertragsart – eben nicht alle epistemischen Aspekte, die sich an den hergebrachten Begriff Ehe knüpfen, automatisch auf das neue Wissenselement übertragen lassen. Ein zweites Beispiel: Der Begriff Empfindsamkeit ist, wenn ich es richtig sehe, eingeschrieben in eine Wissensstruktur, die typisch ist für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts und entfaltet seine epistemische Wirksamkeit in einem Kontext, in dem Wissenskomplexe wie ›Familie‹, ›Bürgertum‹, ›bürgerliches Leben‹, ›Konversation‹ usw. in ihrem damaligen Zuschnitt eine wichtige Rolle spielen. Die Aktivierung diesbezüglichen Wissens ist daher für ein vollständiges Verstehen (»Bedeutungserfüllung« im Sinn EDMUND HUSSERLS9) vorauszusetzen. Auch hier zeigt sich, daß die Semantik gesellschaftlicher Begriffe auch dort nicht ohne Einbezug relevanter Wissensbereiche beschrieben werden kann, wo dieses Wissen weit über den herkömmlichen Bedeutungsbegriff der Sprachwissenschaftler hinausreicht.

9 EDMUND HUSSERL: Logische Untersuchungen. Bd. II/1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis [1906] (6. Aufl. d. 2., umgearb. Aufl. 1913, Tübingen 1980) 37 f.

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(4) Dies leitet über zum vierten und letzten Teil meiner Überlegungen, nämlich der Frage: Warum redet ausgerechnet ein Linguist über die Problematik der Beschreibung von Wissensstrukturen? Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der größte Teil der Fachkollegen einer Epistemologie, einer Verbindung von linguistischer Semantik und Wissensanalyse eher fern steht. Es ist auch kein Geheimnis, daß Mainstream-Bedeutungstheorien in der Linguistik eher reduktionistisch verfahren, d.h. bemüht sind, einen großen Teil des verstehensrelevanten Wissens aus der linguistischen Analyse auszuschließen und fernzuhalten. Diesem Zweck dienen Versuche, zwischen sprachlich-semantischem Wissen und enzyklopädischem bzw. Weltwissen in der Theorie eine scharfe Grenze zu ziehen, deren Existenz in der Empirie und Deskription überzeugend nachzuweisen allerdings noch niemandem gelungen ist. Textsemantik und nicht logizistisch reduzierte Satzsemantik und Sprachverstehensforschung haben jedoch gezeigt, daß eine reduktionistische (eventuell gar allein an Wahrheitswerten orientierte) Semantik das Phänomen sprachlicher Bedeutung nicht hinreichend erklären kann. Neuere und sprachtheoretisch reflektiertere Positionen erkennen daher an, daß es semantische Forschung stets mit der Explikation von Voraussetzungen der korrekten (d. h. den gesellschaftlich verbreiteten Regeln des Sprachgebrauchs entsprechenden) Aktualisierung von Bedeutung mit Bezug auf sprachliche Ausdrucksstrukturen zu tun hat. Man könnte dies auch anders ausdrücken und sagen: Aufgabe der Semantik ist die Analyse und Explikation des verstehensrelevanten Wissens. Eine solche Analyse schließt eo ipso die Explikation von Strukturen des Wissens ein. Indem in der Semantik sprachlicher Zeichen und Zeichenketten das gesellschaftliche Wissen zum Ausdruck und zur Wirkung kommt, ist Semantik besonders gut geeignet, zur Analyse der Strukturen des gesellschaftlichen Wissens beizutragen. Nun kommt Wissen keineswegs nur in sprachlichen Handlungen und Produkten zum Ausdruck. Schon PETER BERGER und THOMAS LUCKMANN sprachen von dem epistemologischen Wert des auf den Kopf eines Demonstranten herabsausenden Polizeiknüppels;10 FOUCAULT beschrieb die Architektur von Gefängnissen im Sinne von Diskurselementen.11 Aber Sprache bzw. sprachliche Äußerungen sind der herausragende Ort der Artikulation und Bearbeitung von gesellschaftlichem Wissen. Gerade die sich über mehrere Ebenen der Zeichenorganisation (Phoneme, Morpheme, Wörter, Sätze, Texte) erstreckende interne Verweisungs- und KohärenzStruktur von Sprache bzw. Spracherzeugnissen macht es besser als jede andere menschliche Hervorbringung möglich, Wissenselemente zu erschließen und daraus Wissensstrukturen abzuleiten. Zwar wäre es wohl überzogen zu sagen, daß die Architektur der Sprache die Architekturen des Wissens direkt widerspiegelt, doch zeigen sich die Strukturen des Wissens in den Strukturen der Verstehensvoraussetzun-

10 PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (Frankfurt a. M. 1969) 117. 11 M. FOUCAULT: Surveiller et punir. La naissance de la prison (Paris 1975); dt.: Überwachen und Strafen (Frankfurt a. M. 1976).

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gen für sprachliche Zeichen und Zeichenketten in besonders zugänglicher Weise, lassen sich tendenziell auf diesem Weg rekonstruieren. Sprachbezogene Bedeutungsforschung, linguistische Semantik kann also, wenn sie sich nicht reduktionistisch selbst fesselt, einen wichtigen Beitrag zur Analyse gesellschaftlichen Wissens und seiner Strukturen leisten. Zeitgenössische Bedeutungstheorien und semantische Methoden stellen genügend Instrumente bereit, um einen wichtigen Beitrag zur Analyse von Strukturen des sich in Sprachzeugnissen zeigenden gesellschaftlichen Wissens leisten zu können. Dazu zählen neuere, von vielen Linguisten als eher am Rande der Sprachwissenschaft angesiedelt aufgefaßte Ansätze wie die Analyse von Wissensrahmen, von semantischen Netzwerken, Argumentationsanalyse, Topos-Analyse, Bestimmung von Präsuppositionen und Implikaturen, linguistisch-semantische Diskursanalyse ebenso wie klassische Kernmethoden der linguistischen Semantik, wie z. B. Merkmalsanalyse, Wortfeldanalyse, Untersuchung von IsotopieRelationen u.a. All diese Methoden können – richtig gewendet – dazu benutzt werden, verstehensrelevantes gesellschaftliches Wissen nicht nur isolierend deskriptiv, sondern auch in bezug auf Strukturen des Wissens zu beschreiben. Die Architekturen des Wissens sind (darauf haben nicht nur HUMBOLDT und WITTGENSTEIN schon vor langem hingewiesen) mit den Architekturen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten aufs engste verknüpft – auch wenn sie sich sicherlich nicht vollständig in ihnen erschöpfen. Was können diese Überlegungen – um sie abschließend noch einmal auf den Ausgangspunkt und Anlaß zurückzuwenden – zur Begriffsgeschichte beitragen? Begriffsgeschichte ist so, wie sie von KOSELLECK und anderen konzipiert ist – und sicherlich auch so, wie sie im Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe verstanden wurde – nie als historische Wortforschung gemeint gewesen. Vielmehr ging und geht es um die Analyse gesellschaftlichen Wissens in der Struktur von dem, was man mit einem sehr ungefähren Verständnis Begriffe zu nennen pflegt. Es ist kein Zufall, daß es in Philosophie, Sprachwissenschaft und Kognitionsforschung bis heute keine allgemein akzeptierte Definition von Begriff gibt. Dieser Terminus ist auch zu eng mit den zentralen erkenntnistheoretischen, denktheoretischen und kognitionswissenschaftlichen Fragen verknüpft, als daß eine allgemeingültige Definition überhaupt möglich schiene. Das einigende Band im Verständnis dieses parawissenschaftlichen Begriffs scheint mir zu sein, daß es um die Beschreibung von Strukturen des vergesellschafteten Wissens geht (auch dann, wenn dies nicht explizit zugestanden wird). Solche Strukturen lassen sich aber (dies hat die bisherige Erfahrung gezeigt) nicht strikt auf die Semantik einzelner Wortformen begrenzen. Insofern Begriffsgeschichte immer schon über den Tellerrand der einzelnen Wortform hinausschaut und auf großräumigere semantische Organisationseinheiten zielt, leistet sie – richtig angewendet – implizit einen Beitrag zur Analyse von Wissensstrukturen. Besser ist es, diesen Beitrag auch bewußt zu leisten, weil erst die offene Reflexion über Ziel und Methode es erlaubt, einen Ansatz zu entwickeln, der in reflektierter und selbstkritischer Anwendung auch gezielt zur Analyse der Wissensstrukturen selbst beitragen kann. Solche Ansätzen können in allen beteiligten Dis-

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ziplinen verankert sein, werden aber bei dem fachübergreifenden Gegenstand, mit dem sie es beim gesellschaftlichen Wissen zu tun haben, zu einem entscheidenden Erkenntnisgewinn nur oder am ehesten dann beitragen, wenn sie die sich aus wechselseitiger Vernetzung ergebenden Synergieeffekte zu nutzen verstehen.12

12 Die vorstehenden Überlegungen sind im Kontext einer kulturwissenschaftlich gewendeten Linguistik entstanden. Zum methodischen und theoretischen Hintergrund dieser Forschungsrichtung finden sich weitere Überlegungen (auf denen der vorliegende Aufsatz aufbaut) ausgeführt in: DIETRICH BUSSE: Historische Diskurssemantik. Ein linguistischer Beitrag zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 31(2000) H. 86, 39–53; DERS.: Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? Zu theoretischen Grundlagen und Methodenfragen einer historisch-semantischen Epistemologie. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt (Heidelberg 2003) 17–38; FRITZ HERMANNS: Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik. In: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände – Methoden – Theorien, hg. von Andreas Gardt / Klaus J. Mattheier / Oskar Reichmann (Tübingen 1995) 69–101.

Bild, Metapher und Palimpsest

Helmut Hühn

Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹, ›Orient‹ und ›Okzident‹ als begriffsgeschichtliche Herausforderung Lexikographen sind, ob sie es wollen oder nicht, in der Rolle von ›Generalisten‹. Sie schärfen am Besonderen immer wieder ihre Urteilskraft und vertiefen durch die beständige Konfrontation mit dem eigenen Nicht-Wissen und Nicht-Können ihr methodisches Bewußtsein. Kurzfristig mußte ich den Artikel »Westen; Okzident« im Historischen Wörterbuch der Philosophie redaktionell betreuen und war dann auch selbst mit der Ausarbeitung des ersten Teiles dieses Artikel-Komplexes befaßt.1 Einige Problemzusammenhänge dieser Begriffsgeschichte werde ich im folgenden vergegenwärtigen, um daran zugleich exemplarisch den gegenwärtigen Stand der Disziplin2, so wie er mir sich darstellt, zu verdeutlichen.

I. Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹ gehört zu jenen grundlegenden Oppositionen, die bis zum Ost-West-Konflikt im 20. Jahrhundert und den gegenwärtigen Zeitdiagnosen vom Kampf der Kulturen die Welt in Atem hält. Die Antithese wird früh und in prägender Weise überlagert von zwei weiteren begrifflichen Zweiteilungen: a) ›Hellenen‹ und ›Barbaren‹ und b) Europa und Asien. Obwohl bereits Herodot, auf den die ›weltgeschichtliche‹ Opposition von Ost und West gerne zurückgeführt wird, die Relativität des Barbarenbegriffes darlegt, Platon sich über die asymmetrische Begriffsteilung der Menschheit in Griechen und Barbaren lustig macht und Marc Aurel in kosmopolitischer Perspektive Europa und Asien als »zwei Fleckchen im All« (goniai tou kosmou)3 beschreibt, verfestigen sich die Dichotomien. Sie werden in der abendländischen Geschichte, mit wechselnden Protagonisten, aber vergleichbaren ideologischen und projektiven Mustern, immer wieder aufs neue konstatiert und konstruiert.

1 Vgl. Art. Westen; Okzident I.–III. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel. Bd. 12 (Basel, Darmstadt 2004) 661–675. 2 Vgl. hierzu auch: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002). 3 Marc Aurel: Ad se ipsum VI, 36.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Eine relativ klare Trennungslinie zwischen Orient und Okzident festigt erst die Teilung des Römischen Reiches, die Auflösung des Westteils und die Entfremdung zwischen den lateinischen und griechischen Kirchen. Territorial betrachtet, bezeichnet die Rede von ›dem Westen‹ bzw. ›dem Osten‹, wie die geschichtliche Entwicklung zeigt, höchst veränderliche Phänomene. Auch dort, wo mit Blick auf die Kugelgestalt der Erde der geographisch-astronomische Gegensatz von Ost und West als »fließend und unbestimmt« erkannt wird4, kann vehement an einem prinzipiellen Gegensatz festgehalten werden. Dessen Charakter wird dann vornehmlich politisch, kulturell und religiös bestimmt. ›Westen‹ und ›Osten‹ fungieren dabei, begriffsgeschichtlich betrachtet, als identifikationsfähige Großstereotype, deren häufig persuasive geschichtliche Selbst- oder Fremdbeschreibung von den jeweiligen Deutungsinteressen abhängig ist. Die Begriffsgeschichte dieser Entgegensetzung führt bis in das Zentrum nationaler Selbstverständigungsprozesse hinein. Kennzeichnend ist eine Fülle im einzelnen zu rekonstruierender und zu problematisierender politischer, kultureller und religiöser ›Wir/Sie‹-Diskurse. Die Begriffsgeschichte zeigt den Sog abendländischen Polaritätsdenkens, und sie demonstriert – auch in der neueren Geschichte – die beständige Mythisierung eines Gegensatzpaares. Trotz aller Entmythisierungsversuche bleibt der Mythos am Leben und wird in immer neuen Varianten revitalisiert. Ich kann hier keine Skizze eines Längsschnittes dieser begriffsgeschichtlichen Entgegensetzung geben. Ich werde vielmehr mit Blick auf wenige ausgewählte Problemzusammenhänge, die im Rahmen dieser Untersuchung wichtig werden, andeuten, was alles noch zu tun ist (auch nach einem Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie) und wie, d. h. mit Rückgriff auf welche Methoden, dies geleistet werden kann. Wie würden wir heute eine solche Begriffsgeschichte angehen, wenn wir sie – frei von den Vorgaben, Zwecken und Zwängen einer bestimmten lexikalischen Darstellungsweise – im Kampf gegen unsere eigene Ignoranz Schritt für Schritt in ihrer Komplexität erarbeiten wollten? In welcher Weise würden wir Begriffsgeschichte treiben? Auf welche Verfahren würden wir notwendigerweise zurückgreifen? Beginnen wir mit einem ersten Problemkreis, der bei der Vergegenwärtigung des begriffsgeschichtlichen Materials in den Blick rückt: der Art und Weise, wie Kulturen sich im Raum orientieren. Osten und Westen werden als Weltgegenden nach den Himmelsrichtungen benannt, in denen sie liegen. Die Orientierung im Raum erfolgt mit kulturspezifischen Unterschieden. In den einzelnen Kulturen gibt es zumeist konfligierende Formen der Raumorientierung, die auch zu Über-

4 Carl Schmitt: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift: ›Der Gordische Knoten‹ [1955]. In: Ders.: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 bis 1969, hg. von Günter Maschke (Berlin 1995) 523–551, 525: »Im geographischen Verhältnis zu Europa ist Amerika der Westen; im Verhältnis zu Amerika sind China und Rußland der Westen; und im Verhältnis zu China und Rußland ist wiederum Europa der Westen.«

H. Hühn · Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹

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determinierungen führen. Die Ausrichtung auf den Sonnenaufgang ist ein grundlegendes Muster, das sich auch unabhängig von Gestalten solarer Theologie anbietet. Heißt der Osten nach dem Sonnenaufgang im Griechischen anatole (lat. sol oriens), so der Westen nach dem Untergang der Sonne dusis (lat. sol occidens). Auch der Begriff der Orientierung, in der Philosophie seit Immanuel Kant prominent, hat hier seinen Ursprung im Problemzusammenhang menschlicher Raumorientierung. Dieses gewichtige lebensweltliche Problem wird sehr häufig durch kulturelle Formen der Symbolisierung zu lösen versucht. Den Himmelsrichtungen werden religiöse Bedeutungen zugeschrieben, sie werden gleichsam ›spiritualisiert‹. Im frühen Christentum hat dabei der Osten eine gewisse Präferenz gegenüber dem Westen, die sich auch darin bemerkbar macht, daß sich Christen für lange Zeit als »filii orientis« und nicht als »filii occidentis« bezeichnen. Die alttestamentliche Heilsbedeutung des Ostens als einer Gegend, in der das Paradies zu suchen (Gen. 2, 8) und Weisheit zu finden ist (1. Kön. 5, 10) etc., wirkt dadurch weiter, daß auf den Osten bezogene Heilsformen prototypisch mit Christus identifiziert werden. Unter dem Einfluß der Septuaginta und Philons konnotiert die frühchristliche Theologie das Kommen Christi als des »Lichtes der Welt« (Joh. 8, 12: to phos tou kosmou) mit dem Osten und beschreibt es mit dem Bild des Sonnenaufgangs. Nach Clemens von Alexandrien hat Christus den Untergang (Westen) in den Aufgang (Osten) verwandelt, den Tod in das Leben. Die ›Sonne der Gerechtigkeit‹, d. h. Christus, durchwandele in gleicher Weise die Menschheit, wie sie das Weltall durcheile. Ich komme zu einem zweiten, hiermit zusammenhängenden, Problemkreis: der christlichen Geschichtstheologie. Deutet bereits Augustinus mit Blick auf die Heilsgeschichte einen göttlichen Erziehungsweg von Osten nach Westen an, so hat die göttliche Vorsehung nach Hugo von St. Viktor den Ablauf der Geschehnisse so geordnet, daß die Dinge, welche im Anfang der Welt gemacht wurden, im Osten entstünden, daß aber schließlich die Summe der Dinge im Auslauf der Zeiten auf das Ende der Welt hin zum Westen niedersteige. Der Osten fungiert bei Hugo gleichsam als »principium mundi«, der Westen als »finis mundi«. Die geographische Grundlinie der Geschichtsbewegung und die Grundrichtung der gesamten eschatologisch perspektivierten Heilsgeschichte ist damit die Ost-West-Linie. Hugos Schüler Otto Bischof von Freising arbeitet heraus, daß das Geschehen der »Übertragung der Weisheit« (translatio sapientiae) wie das der »Übertragung der Macht« (translatio potentiae) sich von Osten nach Westen vollzieht. Ich breche die Evozierung dieser beiden ersten Problemkreise ab und gehe zur Reflexion der methodologischen Fragen über: a) Die Absicht der Klärung und Explikation eines solchen Gegensatzpaares nötigt von selbst zur Freilegung der historischen Wurzeln. Begriffsgeschichte hat eine Tendenz, sich zum jeweiligen Anfang einer Problemlage zurück- und zu ihrer gegenwärtigen Gestalt hinzuwenden, weil es ihr um die Aufklärung von Mustern und von Konnotationen geht, die den Gebrauch der Begriffe oft bis zur Gegenwart unbewußt mitbestimmen. Solche Weichenstellungen sind zu analysieren.

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Gerade die emotiven (wertenden) Momente von Begriffsbestimmungen sind für die begrifflichen Rekonstruktionen häufig von großer Bedeutung. Begriffsgeschichte ist damit aber nicht archäologisch und auch nicht teleologisch orientiert. Sie verfolgt das Prinzip der ständigen Überschreitung von Autor- und Epochenselbstverständnis, sie setzt auf das erkenntnisstiftende Prinzip der Konfrontation von geschichtlicher Vergangenheit und Gegenwart. b) Begriffsgeschichte ist eine spezielle Form auch der Kulturgeschichte. »Man wird sich daran gewöhnen müssen«, schreibt Fritz Mauthner vor hundert Jahren in der Einleitung seines Wörterbuchs der Philosophie, »in jeder Wortgeschichte eine Monographie zur Kulturgeschichte der Menschheit zu erblicken.«5 Ernst Cassirer bringt die Bewegung des kulturalistisch orientierten und hermeneutisch versierten Historismus, der mit zur Ausbildung auch der Begriffsgeschichte geführt hat, auf die zentrale Formel: »The rules of semantics … are the general principles of historical thought.«6 c) Begriffsgeschichte geht heute ›Hand in Hand‹ mit der Metapherngeschichte. Begriffe werden nicht nur durch ganze Begriffs- und Argumentationsfelder, sondern auch durch Bild- und Metaphernfelder bestimmt. Die Bildlogiken von Sonnenaufgang und -untergang prägen die begriffliche Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹, was hier nicht ausgeführt werden kann, bis in die Gegenwart hinein. Religiöse Bedeutungszuweisungen wie etwa im Falle der Himmelsrichtungen verdanken sich einer ›Übertragungslogik‹, die häufig nur mit Hilfe von Metaphernanalysen aufzuklären ist. Wir entwickeln zur Zeit für das initiierte Metaphernprojekt Analyse und Archiv der Metaphorik in den Wissenschaften7 auch Prototypen solcher auf die Erkenntnisfunktionen von Metaphern zielender ›Metaphernanalysen‹. Begriffsgeschichte greift heute nicht in erster Linie deswegen auf Metapherngeschichte zurück, weil sie gleichsam ›hinter‹ die begrifflichen und argumentativen Formationen zurückkommen, d. h. an die »Substruktur des Denkens«, an »die Nährlösung der systematischen Kristallisationen« herankommen will, sondern deswegen, weil sie ein Bewußtsein davon gewonnen hat, daß die komplette Ausdruckssphäre eines Denkens in die analytische Arbeit einzubeziehen ist. Damit ist sie interessiert an dem im weiteren Sinne argumentativen Verhältnis von Begriffen und Metaphern, Definitionen und Bildern.8

5 Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache [1910] 2., verm. Aufl. Bd. 1 (Leipzig 1923) XV. 6 Ernst Cassirer: Essay on man (New Haven 1944) 195; vgl. auch Ralf Konersmann: Art. Semantik, historische. In: Historisches Wörterbuch, a. a. O. [Anm. 1] Bd. 9 (1995) 593–598. 7 Vgl. die Ankündigung des Schwabe-Verlags Basel [siehe www.metaphernlexikon.ch]. 8 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960] (Frankfurt a. M. 1997) 13, 49; zur Darstellung des komplexen Zusammenspiels von Begriffen und Metaphern vgl. etwa Friedrich Ohly: Metaphern für die Sündenstufen und die Gegenwirkungen der Gnade (Opladen 1990).

H. Hühn · Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹

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II. Ich skizziere nun im groben Entwurf zwei weitere Problemlagen zu Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts, die ich anschließend zum Anlaß der Weiterführung der methodologischen Überlegungen nehme. Das geschichtstheologische Theorem einer von Osten nach Westen fortschreitenden Geschichte erhält sich in säkularisierter Form bis ins 20. Jahrhundert. Um 1800 bringt die Hinwendung zum Osten vielfältige neue kulturelle Vermittlungsbewegungen mit sich. Johann Gottfried Herder lokalisiert die Wiege und Bildungsstätte der Menschheit in Asien und stellt auch heraus, daß die europäische Kultur nicht der Maßstab für andere Kulturen sein kann. Friedrich Hölderlin vergegenwärtigt den Gang der Kultur von Ost nach West am Flußlauf der Donau und zeigt in ganz neuer Weise die Zusammengehörigkeit von Orient und Okzident auf, indem er den Bildungsgang der griechischen Kultur von »Asia« her zu entziffern sucht. Auf diese Weise bricht er auch mit dem Antike-Bild der Weimarer Klassik. Johann Wolfgang Goethe bringt die kulturellen Vermittlungsbewegungen seiner Zeit auf die Maxime: »Sinnig zwischen beyden Welten / Sich zu wiegen laß ich gelten, / Also zwischen Ost und westen / sich bewegen sey zum besten.« 9 In höchster Weise folgenreich wird Georg Wilhelm Friedrich Hegels Geschichtsphilosophie, die den ›Stufengang‹ der Weltgeschichte von Ost-Asien nach West-Europa verfolgt und dem »Abendland« eine Superiorität über das »Morgenland« attestiert. Sie stellt heraus, daß der Orient den Begriff der »für sich seyenden Freyheit«10 nicht gekannt habe: »Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist, oder der Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sind sie es nicht; sie wissen nur, daß Einer frei ist«: der Despot.11 Zwischen der »äußerlichen physischen Sonne« und der »Sonne des Selbstbewußtseins« unterscheidend, wertet Hegel den verbreiteten Topos ›Ex oriente lux‹ um: »Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter, und damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitz des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich eine Welt erschafft.«12 In ökonomischer Hinsicht denkt auch Karl Marx im Rahmen einer auf Europa fokussierten Fortschrittsgeschichte. Eine an die Stelle des Feudalismus tretende

9 Johann Wolfgang von Goethe: Sinnig zwischen beyden Welten … [1826], Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 11/1, 1, hg. von Karl Richter / Christoph Michael (München 1998) 247. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], § 482, Gesammelte Werke, Akademie-Ausgabe, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 20 (Hamburg 1992) 477. 11 Ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1822/1823 ff.], Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, hg. von Hermann Glockner. Bd. 11 (Stuttgart 1928) 45. 12 Vgl. ebd. 149 f.; ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1 [1816/1817 ff.], Sämtliche Werke, ebd. Bd. 17, 133.

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Bild, Metapher und Palimpsest

›asiatische Produktionsweise‹ nimmt er als außerokzidental abzweigenden Seitenweg der europäisch-universalen Gesellschaftsentwicklung an. In Aufnahme solcher Analysen wird Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts fragen, warum außerhalb Europas »weder die wissenschaftliche noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein[lenken], welche dem Okzident eigen sind.«13 Webers Ausarbeitung der Erscheinungsformen des okzidentalen Rationalismus auf den Gebieten der Gesellschaft, der Kultur und der Persönlichkeit avanciert in der Folge zu einem Paradigma gesellschaftlicher Ost-West-Vergleiche. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebt der Gegensatz von Ost und West auf, verschärft sich spürbar, sichtbar auch in der Geschichtsschreibung. Im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte Jean-Baptiste Mailly seine Geschichte der Kreuzzüge unter die Devise eines Kampfes der Kulturen gesetzt: »Cest l’Europe luttant contre l’Asie.«14 Wiederbelebt wird hier die Rhetorik der Kreuzzugsideologie, die schon im 12. Jahrhundert nach der Eroberung Jerusalems konstatierte, daß der Okzident sich gegen den Orient erhob, Europa gegen Asien. In Deutschland und England werden nun die Auseinandersetzungen der Griechen mit den Lydern und Persern nach dem Muster von Nationalkriegen verstanden. Der weltgeschichtliche Glanz der griechischen Siege über die Perser erscheint in neuem Licht, wo das apokalyptische Motiv eines Weltendkampfes zwischen Orient und Okzident beschworen wird. Zwiespältig erscheint Friedrich Nietzsches Haltung: Einerseits hinterfragt er die sich verfestigende weltanschauliche Kategorisierung von Osten und Westen: »Orient und Okzident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsre Furchtsamkeit zu narren.«15 Andererseits übernimmt er diese Kategorisierung und setzt sie ein, etwa wenn er dem Christentum vorhält, alles getan zu haben, »um den Occident zu orientalisiren«.16 Ich breche hier, noch vor dem Ost-West-Konflikt, ab. Was ergibt sich in methodischer Hinsicht? a) Die sich im 20. Jahrhundert zu ›Superkategorien‹ entwickelnden Begriffe ›Osten‹ und ›Westen‹ deuten Geschichte. Sie sind selbst nicht nur »Indikatoren«, sondern auch, wie Reinhart Koselleck sagen würde, »Faktoren« im Prozeß der Geschichte. Was ›Osten‹ und ›Westen‹ etwa in Deutschland (bzw. in Frankreich / Rußland / China oder Japan) jeweils an einer bestimmten Zeit-

13 Max Weber: Vorbemerkung, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1 (Tübingen 1920) 1–16, hier 11. 14 Jean-Baptiste Mailly: L’Esprit Des Croisades‹ Ou Histoire Politique Et Militaire Des Guerres entreprises, par les Chrétiens contre les Mahométans, pour le recouvrement de la TerreSainte, pendant les XIe. XIIe. [et] XIIIe. siecles. Bd. 1 (Dijon 1780) 3. 15 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher 1 [1874], Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Bd. 3/1 (Berlin, New York 1972) 335. 16 Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, 475 [1886]. In: ebd. Bd. 4/2 (1967) 321.

H. Hühn · Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹

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stelle bedeuten, ist selbst geschichtsabhängig. Die Arbeit der Begriffsgeschichte ist hier auch auf die sozialhistorischen Semantiken angewiesen. b) Die Begriffsgeschichte der Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹ wird die Ergebnisse und Verfahren der Mentalitätsforschung einbeziehen, wenn sie Bewußtseinslagen sozialer Gruppen in geschichtlichen Situationen zum Thema macht. c) Begriffsgeschichte muß zweifellos ein Sensorium entwickeln für die Brisanz rhetorischer Muster, für die Rhetoriken der »Wortgebrauchspolitik«17 und deren Interessegeleitetheit und Durchsetzungsmacht. Begriffsgeschichte greift also auch auf die Methoden der Ideologiekritik zurück. d) Begriffsgeschichte hat heute die Voraussetzungen und Annahmen interkultureller Vergleiche und Konstruktionen kulturwissenschaftlich zu reflektieren. Durch die an Michel Foucault anschließenden Überlegungen von Edward W. Said 18 ist eine Debatte um kulturspezifische Wahrnehmungsmuster von »Orientalism« und »Occidentalism« entstanden, die – auch unfreiwillig – demonstriert, wie fragwürdig jene essentialistischen Deutungen sind, die Kulturen als homogene und weithin unveränderliche Einheiten vorstellen. e) Begriffsgeschichte betreibt in weitestem Sinne Konstellationsforschung.19 Sie untersucht die durch Begriffe gebildeten Denkräume und deren Koordinaten. Die Bedeutung eines Beleges (wie etwa des Nietzsche-Zitates) ist häufig nicht allein im unmittelbaren Kontext, auch nicht im Kontext des Werkes allein zu explizieren, in dem es sich befindet, auch nicht im größeren Kontextes des Œuvres eines Autors allein; vor den Hintergrund der zugehörigen Epochenkonstellation gerückt, läßt sich die Semantik neu profilieren.

III. Um die Überlegung noch einmal zu bündeln: Begriffsgeschichte ist heute nicht mehr einfach theoretisch und methodologisch ›unbeleckt‹ oder ›generös‹ und optiert deswegen für einen Methodeneklektizismus. Sie öffnet sich vielmehr bewußt den mit ihr verwandten und zum Teil auch aus ihr hervorgegangenen wissenschaftlichen Verfahren, weil sie nur so die Dichte und Bedeutungsfülle der Begriffe erforschen und deren Problemlagen explizieren kann. Das spezifische Erkenntnisinteresse bestimmt die konkrete Realisierung einer begriffsgeschichtlichen Arbeit. Was sich seit den 60er Jahren, den Zeiten der programmatischen Überlegungen

17 Vgl. etwa Hermann Lübbe: Wortgebrauchspolitik. Zur Pragmatik der Wahl von Begriffsnamen. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt (Heidelberg 2003) 65–80. 18 Edward W. Said: Orientalism (London 1978). 19 Vgl. auch Konstellationsforschung, hg. von Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Frankfurt a. M. 2005).

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Bild, Metapher und Palimpsest

Joachim Ritters und Reinhart Kosellecks, geändert hat, ist die Einsicht in den Komplexionsgrad begriffsgeschichtlicher Forschung. Die Begriffsgeschichte ist heute nicht im Umbruch, die methodischen Neuerungen haben sich bereits schleichend und unspektakulär vollzogen. Wir beziehen, wenn wir uns von der Wortverwendungs- zur Argumentations- und Diskursgeschichte hin orientieren, immer größere und übergeordnete Ganzheiten in die Untersuchung ein. Dabei kommen wir automatisch an unsere Grenzen und in den sogenannten ›hermeneutischen Zirkel‹ hinein. Schon Schellings Schüler Friedrich Ast hat das historische Verstehen insgesamt durch ein »Grundgesetz« charakterisiert: »aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen.«20 Versuchen wir, immer komplexere Zusammenhänge zu erfassen, so wissen wir zugleich, daß eine wissenschaftlich zu nennende Überschau eines Argumentationsund Problemfeldes »erst aus der Summe des begriffenen Einzelnen hervorgehen« darf.21 Deswegen können wir die ›gute alte‹ Wortverwendungsgeschichte (inklusive der Übersetzungsgeschichte) mit ihren philologischen und hermeneutischen Anforderungen auch nicht als antiquiert betrachten. Sie ist die Basis unserer Projekte und wird eine maßgebliche Korrekturinstanz aller unserer weiter gespannten Vorhaben bleiben. Unsere Lexikonartikel leben, das wissen wir alle, von Schematismen, von Filiationslogiken, deren Gewißheiten immer wieder neu zu überprüfen sind. Machen wir uns auch klar, daß gerade die abstrakte Bindung an das isolierte Begriffswort und die alphabetische Darstellung uns neben vielen Übeln (disiecta membra) nicht nur einiges Neue über die Verfassung der übergeordneten Kontexte und ihrer geschichtlichen Veränderung deutlich gemacht, sondern auch unsere Unwissenheit über Zusammenhänge oftmals erst ans Licht gebracht hat – Erkenntnisse, die wir nicht gewonnen hätten, wenn wir uns eingebildet hätten, darauf verzichten zu können, »jedes Einzelne einzeln«22 auszuarbeiten. Ich komme damit zum Schluß: Begriffe sind, wie schon Johann Friedrich Herbart lehrt, der die Philosophie mit der Aufgabe interdisziplinärer analytischer Begriffserklärung betraut,23 Antworten auf Problemstellungen. Ihre Bildung hat Folgen für die weitere Theorieentwicklung. Philosophisch orientierte Begriffsgeschichte versucht, diese Probleme zu ›bergen‹, zu bewahren, zu unterscheiden, in ihrer Genese und in ihren jeweiligen Zusammenhängen zu rekonstruieren, zu prä-

20 Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. § 75 (Landshut 1808) 178 ff. 21 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: Schriften 1, hg. von Jean Bollack u. a. (Frankfurt a. M. 1978) 263–286, hier 276. 22 Vgl. zum Problem Johann Gottfried Gruber: Wörterbuch zum Behuf der Aesthetik, der schönen Künste, deren Theorie und Geschichte, und Archäologie. Bd. 1/Theil 1 (Weimar 1810) XIII. 23 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Kurze Encyklopädie der Philosophie [1831], Sämtliche Werke, hg. von Karl Kehrbach / Otto Flügel (Langensalza 1897–1912, Neudr. Aalen 1964) Bd. 9, 25; ders.: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813], ebd. Bd. 4, 38 ff., 53; ders.: Ueber philosophisches Studium [1807], ebd. Bd. 2, 234, 291, 293.

H. Hühn · Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹

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zisieren und zu explizieren. Dabei intendiert sie, die vorausgegangenen Fragestellungen, Problemlösungsstrategien und -potentiale kritisch und im Interesse eigener Fragestellungen zu analysieren. Begriffsgeschichtler müssen daher, um mit Jakob Friedrich Fries zu sprechen, »Philosophen des Witzes« wie des »Scharfsinns« 24 zugleich sein, d. h. Ähnlichkeiten zwischen Problemlagen wie auch deren feine Unterschiede wahrnehmen. Begriffsgeschichte zielt darauf, die Problemlagen in ihrem Werden zu ›konstruieren‹, um dabei zugleich auf das weiterhin Ungelöste aufmerksam zu werden und darüber hinaus neue Probleme allererst zu entdecken, die »noch unter der Oberfläche terminologisch beruhigt erscheinender theoretischer Bereiche schwelen«.25 Erst in dieser Anstrengung von schöpferischem Nachvollzug und gleichzeitiger Analyse und Reflexion, das ist ihr philosophisches Erbteil, kommt die eigentliche Produktivität der Begriffsgeschichte zum Tragen.

24 Vgl. Gottfried Gabriel: Ästhetischer »Witz« und logischer »Scharfsinn«. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung (Erlangen, Jena 1996). 25 Hans Blumenberg: Nachbemerkung zum Bericht über das Archiv für Begriffsgeschichte. In: Jahrbuch 1967 / Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (Wiesbaden 1968) 79–80, hier 80.

Stefan Willer

Metapher und Begriffsstutzigkeit

I. Metapher als Begriff Die hier angestellten Überlegungen verstehen sich als Propädeutik für ein weitläufiges und daher einzugrenzendes lexikographisches Unternehmen: den Artikel ›Metapher/metaphorisch‹ für das historische Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe.1 Weitläufig ist das Unternehmen aufgrund der zweieinhalb Jahrtausende langen Karriere der Metapher als einer master trope und der daraus resultierenden unübersehbaren Menge aufzuarbeitender Literatur; eingegrenzt werden kann es aufgrund des Wechselverhältnisses von Metapher und Begriff. Denn als begrifflicher Eintrag in einem begriffsgeschichtlichen Wörterbuch ist die Metapher hinsichtlich ihrer Begrifflichkeit selbst zu problematisieren, die in diesem speziellen Fall als Grundbegrifflichkeit bestimmt und durch das zentrale Beiwort des Ästhetischen angereichert wird.2 Worin aber liegt für die Metapher der – möglicherweise ästhetische – Grund dieser Begrifflichkeit? Zur Hypothetik und Heuristik des Artikels gehört die Annahme, daß er diese Frage in seinem eigenen Verfahren abspiegeln kann, daß er also, wie potentiell jeder enzyklopädische Eintrag, als mise-en-abyme des enzyklopädischen Gesamtkonzepts fungieren kann. Der Artikel beabsichtigt nicht, eine historische Übersicht über Metapherntheorien zu geben, aber er kann sich der Theorie-Affinität der Metapher schon aus Gründen historischer Angemessenheit nicht widersetzen. Genauso beabsichtigt er nicht, Fallstudien zur Geschichte einzelner Metaphern zu liefern, die dann als exemplarische auf die Metapher hochgerechnet werden, aber auch dem Drang jeglicher Metaphorik in die sprachliche Konkretion kann er sich nicht widersetzen. Der gleichsam als Bruch geschriebene Doppeleintrag ›Metapher/metaphorisch‹ läßt sich in der Weise lesen, daß tatsächlich jede Bestimmung der Metapher durch metaphorische Redeweisen wieder gebrochen werden kann, was auch bedeutet, daß diese Redeweisen auf jene Bestimmungen zurückwirken können. Das Brechungsverhältnis von ›Metapher‹ und ›metaphorisch‹ spricht allerdings dagegen, die Untersuchung der Metapher von vornherein als selbst metaphorisch auszuweisen. Denn damit wäre eine gedankliche Zweiteilung impliziert, der man mit einem lexikographischen Doppeleintrag Rechnung tragen müßte, so daß ›Metapher, metaphorisch‹ und ›Metapher, begrifflich‹ voneinander zu trennen wären – wobei man 1 Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, hg. von Karlheinz Barck u. a. (Stuttgart, Weimar 2000 ff.) Der Artikel erscheint im Supplement-Band; Teile des vorliegenden Beitrags werden in den einleitenden Abschnitt des Artikels eingehen. 2 Zur Konzeption des Wörterbuchs vgl.: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch, hg. von Karlheinz Barck / Martin Fontius / Wolfgang Thierse (Berlin 1990).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Bild, Metapher und Palimpsest

ja immer noch zu klären hätte, wie in einer solchen Trennung ›Metapher, wörtlich‹ und ›Metapher, buchstäblich‹ ins Spiel kämen. Statt dessen geht es in den folgenden Überlegungen darum, gerade das Verhältnis von Metapher und Begriff zu thematisieren und dabei weder die Begrifflichkeit der Metapher noch ihre Nicht-Begrifflichkeit als gegeben vorauszusetzen. Die Prämisse lautet vielmehr, daß die Metapher – und spätestens hier muß man wohl pluralisieren: daß also Metaphern begriffsstutzig machen und selbst begriffsstutzig sind. Der Versuch, dieser Begriffsstutzigkeit auf die Spur zu kommen, führt mehr oder weniger zwangsläufig dazu, komplementär zum Problem der Begrifflichkeit der Metapher auch dem der Metaphorik von Begriffen nachzugehen. Das soll hier in einem zweiten Schritt geschehen. Die Frage nach der Begrifflichkeit der Metapher läßt sich nicht nur auf verschiedene Weisen beantworten, sondern auch auf verschiedene Weisen stellen: etwa, in welchem Verhältnis genau die Einheit Metapher zur Einheit Begriff steht, ob es sich bei der Metapher um einen Ausdruck begrifflichen Denkens handelt, ob Metaphern als solche tatsächlich begriffliche Funktionen übernehmen können usw. Die historisch variierenden Funktionen und Konzeptualisierungen der Metapher zeigen, daß man hinsichtlich dieser Probleme kaum Übereinstimmung erzielen wird. Lautet statt dessen die Frage, ob ›Metapher‹ ein Begriff sei, so wird die Antwort in der Regel und mit Recht positiv ausfallen. Schließlich zeigt der Blick in Nachschlagewerke aller Art, daß ›Metapher‹ in den verschiedensten Wissensbereichen als Begriff vorkommt, also lemmatisiert wird. Wenn von Begriff-lichkeit im Sinne der Lemmatisierung die Rede ist, lohnt es sich aber um so mehr, über die Anführungszeichen nachzudenken, mit denen versehen ›Metapher‹ zu einem Begriff wird. Denn die Anführungszeichen rahmen zunächst einmal nicht den Begriff, sondern das Wort ›Metapher‹, als einen Eintrag im Wortvorrat einer endlichen Anzahl von Sprachen. Damit ist für den Fall der Metapher ein neuralgischer Punkt berührt. Für die Frage nach ihrer Begrifflichkeit hat die Reflexion über ihre Wörtlichkeit Entscheidendes beizutragen. Daß dies nicht unbedingt zum Standard des Nachdenkens über die Metapher gehört, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die dichotomische Entgegensetzung von ›metaphorisch‹ und ›wörtlich‹ (oder auch ›metaphorisch‹ und ›buchstäblich‹) im Sinne der Unterscheidung zwischen ›uneigentlich‹ und ›eigentlich‹ alltagssprachlich wie fachsprachlich weitgehend unhinterfragt praktiziert wird. Trotzdem ist es ebenso gängig, das Wort ›Metapher‹ bei seiner Wörtlichkeit zu nehmen, es also etymologisch zu lesen. ›Metapher‹ heißt Übertragung: Das ist allgemein bekannt und trägt zur metaphorologischen Begriffsbildung in ihren unterschiedlichen Spielarten entscheidend bei. Daß aber diese Übertragung im Bereich des Begrifflichen stattfindet, kann schon allein deshalb nicht als ausgemacht gelten, weil ›Übertragung‹ eben eine wörtliche Übertragung von ›Metapher‹ darstellt. Man kann diesem Problem anhand einer Textstelle weiter nachgehen, in der die Metapher selbst nicht ›Metapher‹ heißt, sondern ›translatio‹: in der also der Ausdruck ›Metapher‹ seinerseits übertragen worden ist. In De oratore behandelt

S. Willer · Metapher und Begriffsstutzigkeit

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Cicero die Metapher, den modus transferendi verbi, zwar im Zusammenhang des Ornatus, also der »Mittel, die der Redner anwenden kann, um seiner Rede Glanz und Wirkung zu verleihen«3; er bestimmt aber den eigentlichen Vorgang der Übertragung in einer Weise, die sich mit den Inventionstechniken der Topik berührt. Die entscheidende Kategorie, die hier hinzugezogen wird, ist die des locus, also des Ortes oder der Stelle. Auf den loci sind – so Cicero in seiner Topik – die Argumente angesiedelt (»in quibus argumenta inclusa sunt«) und können hier zum Zwecke der Rede abgeholt werden.4 Der Schrift über den Redner zufolge kann Ähnliches auch mit den Wörtern geschehen. Die translatio ist demnach ein Gebrauch von Wörtern, bei dem sie »quasi in alieno loco conlocantur«, also »gleichsam an eine fremde Stelle gestellt werden«. Alle bedeutungstheoretischen Aussagen, die Cicero hier trifft, insbesondere zur Ähnlichkeit der bezeichneten Sachen, die die Übertragung der Wörter motiviert, unterliegen diesem räumlichen modus transferendi. Für dessen Konkretheit ist allerdings grundlegend, daß er selbst gleichnisweise vorgestellt wird: »quasi conlocantur« oder etwas später: »verbum in alieno loco tamquam in suo positum«, »als ob es an seiner eigenen Stelle stünde«.5 Die begriffliche Definition, derzufolge die Metapher eine Übertragung ist, verdankt sich also der Topik von ›über‹ und ›tragen‹ und damit zugleich dem Wörtlichnehmen des griechischen Wortes meta-pherein. Wer über die Modalitäten des Über-Tragens nachdenkt, tut das zwangsläufig im Modus der Wörtlichkeit von ›Metapher‹. Wenn man auf diese Weise den räumlichen Aspekt der Übertragung betont, muß man allerdings dem Einwand begegnen, gerade damit eine Substanzialisierung des Metaphernbegriffs zu befördern, weil man notwendig das Etwas, das getragen wird, ontologisieren und das Diesseits und Jenseits der Grenze, über die es getragen wird, als Territorium bestimmen müsse. Ein solcher Verdacht liegt der Entlarvung der Metaphorik als Metaphysik zugrunde. So hat Jacques Derrida in seiner Metaphern-Studie Die weiße Mythologie formuliert, die »alleinige These der Philosophie« sei es, den »Begriff der Metapher« auf die »Gegensätze des Eigentlichen und Nicht-Eigentlichen, des Wesens und des Zufalls, der Intuition und des Diskurses, des Denkens und der Sprache, des Intelligiblen und des sinnlich Wahrnehmbaren usw.« zu beziehen.6 Diese Kritik der – als Begriff verstandenen – Metapher schließt an Martin Heideggers Überlegung an, derzufolge es die Metapher überhaupt nur zu den Bedingungen der Metaphysik gibt. Auch hier ist von einer territorialen Unterscheidung die Rede: »Die Vorstellung von ›übertragen‹

3 Marcus Tullius Cicero: De oratore / Über den Redner, übers. u. hg. von Harald Merklin (Stuttgart 1976) III, 152. 4 Ders.: Topik. Lateinisch–Deutsch, übers. u. mit e. Einl. hg. von Hans Günter Zekl (Hamburg 1983) II, 8. 5 Ders.: De oratore, a. a. O. [Anm. 3] III, 149 u. III, 157. 6 Jacques Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, übers. von Mathilde Fischer u. Karin Karabaczek-Schreiner. In: ders.: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann (Wien 1988) 205–258, hier 222.

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und von der Metapher beruht auf der Unterscheidung, wenn nicht gar Trennung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen als zweier für sich bestehender Bereiche. Die Aufstellung dieser Scheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen, des Physischen und des Nichtphysischen ist ein Grundzug dessen, was Metaphysik heißt und das abendländische Denken maßgebend bestimmt. Mit der Einsicht, daß die genannte Unterscheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen unzureichend bleibt, verliert die Metaphysik den Rang der maßgebenden Denkweise.« Mit dieser »Einsicht in das Beschränkte der Metaphysik«, so Heidegger weiter, werde auch die »maßgebende Vorstellung von der ›Metapher‹ hinfällig. […] Das Metaphorische gibt es nur innerhalb der Metaphysik.«7 Indem sowohl Heidegger als auch Derrida für die Metapher eine Territorialisierung betonen, die insbesondere das Sinnliche und das Nichtsinnliche trennt, profilieren sie beide den metaphysischen Begriff der Metapher als einen nichtästhetischen. Allerdings erscheint diese Metaphysierung der Metapher nicht zwingend notwendig. Vielmehr läßt sich die jeweilige Grenzziehung, die durch jede Metapher konstituiert wird (und durch die jede Metapher konstituiert wird), statt in der Monumentalität ihres Ergebnisses in der Prozessualität ihres Verfahrens beschreiben. Damit wird auch das, was jeweils übertragen wird, allererst aus der Art seiner Positionierung bestimmbar. Das Moment der Relationalität wäre hier stark zu machen, das seit Aristoteles zentraler Bestandteil all jener Metapherntheorien ist, die auf die Gedankenoperation der Analogie abzielen8 – einschließlich derer, die für eine Anlehnung von Metaphern- an Übersetzungstheorie plädieren.9 Rhetorisch konkret wird dieses Moment in der grundsätzlichen Umkehrbarkeit einer jeden Metapher. Auf dieses Phänomen hat der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hingewiesen, und zwar mit präzisem Rückgriff auf die bei Cicero angedeutete Topik der Metapher. In einem frühen Essay zur Ästhetik weist Ortega darauf hin, daß das Wort ›Metapher‹ (als spanische Äquivalente werden transferencia und transposición genannt) etymologisch die »Versetzung einer Sache an den Ort einer anderen« meine. Damit zitiert er Ciceros Erläuterung – mit der fundamentalen Abweichung, daß er für Ciceros verbum nun die res (span. cosa) setzt –, versucht dann aber, sie über das Argument der Gegenseitigkeit zu schärfen: »Allerdings ist die Übertragung (transferencia) in der Metapher immer gegenseitig: die Zypresse in der Flamme und die Flamme in der Zypresse – was nahelegt, daß der Ort, an den beide Sachen versetzt werden, nicht der der jeweils anderen ist, sondern ein Empfindungsort (lugar sentimental), der für beide der-

Martin Heidegger: Der Satz vom Grund (Pfullingen 1957) 88 f. Vgl. zur Spannweite der Analogie-Theorien zwei neue Veröffentlichungen: Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede (Berlin 2002); Petra Drewer: Die kognitive Metapher als Werkzeug des Denkens. Zur Rolle der Analogie bei der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse (Tübingen 2003). 9 Wohl am weitestgehenden formuliert von Christiaan Hart Nibbrig: Metapher : Übersetzung (Lausanne 1993). 7 8

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selbe ist. Die Metapher besteht also aus der Übersetzung (transposición) einer Sache aus ihrem Ort an ihren Empfindungsort [Übers. v. Vf.].«10 Ortegas Konzept des lugar als eines dritten Ortes, der beiden Gliedern der metaphorischen Operation gleichermaßen fremd ist, versteht sich also als eine Topisierung des tertium comparationis – wobei man die Bestimmung dieses dritten Ortes als sentimental wohl nicht als Indiz eines Programms unverbindlicher Innerlichkeit, sondern als nachdrücklichen Hinweis auf eine ästhetische Lesart der Metapher verstehen sollte. Wichtiger im vorliegenden Zusammenhang ist aber die Formulierung, das Wort ›Metapher‹ indiziere die räumliche Transposition auf etymologische Weise (»etimológicamente«). Die Art, wie Ortega hier von Etymologie spricht, bezieht sich zunächst auf ein nicht weiter problematisiertes Verständnis der Etymologie als wahrer Sinn und ursprüngliche Bedeutung. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, daß sich diese etymologisierende Erläuterung selbst übersetzend vollzieht. Die Metapher – das Wort ›Metapher‹, wie ausdrücklich gesagt wird – wird in dem, was es etymologisch ›anzeigt‹, schon übersetzt: in die spanischen Wörter »transferencia« und »transposición«. Die vermeintlich einfache, auf der sprachhistorischen Erläuterung von Wörtlichkeit beruhende Operation der Etymologie wird somit strukturanalog mit der der Metapher – oder sogar mit ihr identisch.11 Wenn es also das Wort ›Metapher‹ ist, das auf dem Wege der Etymologie die Topik des Über-Tragens ›anzeigt‹, dann ist in diesem gesamten Gefüge der Stellenwert der Wörtlichkeit grundlegend. Von hier aus betrachtet, ist die Entgegensetzung des Metaphorischen und des Wörtlichen vollends unplausibel. In der zunächst unverdächtigen Begriffsbestimmung ›Metapher heißt Übertragung‹ ist somit nicht nur die Übertragung zu problematisieren, sondern auch das Heißen, das die begriffliche Definition mit dem Akt der Benennung zusammenbringt, demjenigen sprachlichen Verfahren also, für dessen Erkundung die Etymologie zuständig ist. Offenkundig ließe sich dieses Benennungsproblem nur durch eine tautologische Definition aussparen, die dann schon keine mehr wäre: ›Metapher heißt Metapher‹. Um der Tautologie zu entgehen, muß jede begriffliche Definition zugleich eine wörtliche Umbenennung sein. Das gilt schon für die immer wieder als grundlegend herangezogene Definition in der Poetik des Aristoteles, derzufolge die Metapher die »Übertragung eines anderen Wortes« ist.12 Im ein-

10 José Ortega y Gasset: Ensayo de estética a manera de prólogo [1914]. Obras completas, Bd. 6 (Madrid 1961) 261, Fußnote: »La palabra ›metáfora‹ – transferencia, transposición – indica etimológicamente la posición de una cosa en el lugar de otra: quasi in alieno loco collocantur, dice Cicerón. Sin embargo, la transferencia es en la metáfora siempre mutua: el ciprés en la llama y la llama en el ciprés – lo cual sugiere que el lugar donde se pone cada una de las cosas no es el de la otra, sino un lugar sentimental, que es el mismo para ambas. La metáfora, pues, consiste en la transposición de una cosa desde su lugar a su lugar sentimental.« 11 Für eine nicht-substanzialistische Lesart der Etymologie vgl. Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik (Berlin 2003). 12 Aristoteles: Poetik, 1457 b. Die Übersetzung »Übertragen eines anderen Wortes« findet sich bei Ekkehard Eggs: Metapher. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert

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sprachig griechischen Text zeigt sich die Umbenennung nicht als Übersetzung, sondern als Veränderung der Vorsilbe: Aristoteles definiert hier die meta-phora als epi-phora. Dieses letztere Wort mit »Übertragung« zu übersetzen, folgt ganz offensichtlich der begrifflichen Notwendigkeit, die Metapher als eine Übertragung zu bestimmen. Um der Wörtlichkeit des Ausdrucks epiphora besser gerecht zu werden, müßte man wohl versuchen, auch in der Übersetzung meta- und epi- zu unterscheiden, und etwa von einer ›Nach-‹ oder ›Bei-‹ oder ›Zutragung‹ sprechen. In jedem Fall darf man die aristotelische Definition ›Die Metapher ist eine Epipher‹ als einen Zuspruch in Sachen Begriffsstutzigkeit verstehen, um so mehr als der Hilfsausdruck epiphora in keinem einschlägigen Begriffslexikon zu finden ist. Selbst wenn es zutrifft, daß hier die Metapher »ganz entsprechend der Aristotelischen Sprachauffassung begriffsrealistisch zu verstehen« ist,13 trägt doch die eigentliche Begriffsdefinition von vornherein eine nicht unerhebliche Irritation in diesen Realismus hinein.

II. Begriffe als Metaphern Mit Blick auf die Metapher erscheint es naheliegend, die Metaphorizität des Wortes ›Begriff‹ in Erinnerung zu rufen und darauf hinzuweisen, daß sich hier bei näherem Hinsehen und -hören gerade keine Abstraktionsleistung, sondern ein konkret haptisches Greifen, Betasten, Anfassen zu erkennen gibt. Diese Konkretion ist keine Besonderheit deutschsprachiger philosophischer Terminologie, sondern gilt auch für andere entsprechende oder verwandte Bezeichnungen: So verweisen terminus und seine Derivate auf eine räumliche Begrenzung, das Wortfeld von concept auf eine geschlechtliche Empfängnis. Nach allem bislang Gesagten dürfte aber auch deutlich geworden sein, daß mit solchen etymologisch-metaphorischen Übersetzungen keineswegs der Bereich einer eigentlichen oder ursprünglichen Bedeutung erreicht ist. Mit der Behauptung, das Abstrakte sei im Grunde konkret, wäre ebensowenig gewonnen wie mit der Behauptung, der Begriff als solcher sei im Grunde eine Metapher. Allerdings beruht die moderne Begriffskritik genau auf dieser Behauptung. Sie schließt an den bereits erwähnten Metaphysikverdacht gegen die Metapher an: Demnach wird dieselbe unangemessene Trennung zwischen dem Sinnlichen und dem Nicht-Sinnlichen, die die Metapher als Begriff vollzieht, dadurch unterstützt, daß die Begriffe ihre eigene Metaphorizität vergessen. »Die These lautet dann folgendermaßen«, so Paul Ricœur, »wo die Metapher ausgelöscht wird, erhebt sich der metaphysische Begriff.«14 Wie Begriffs- und Metaphernkritik miteinander engUeding. Bd. 5 (Tübingen 2001) 1099–1183, hier 1103. Manfred Fuhrmann übersetzt Aristoteles‹ »onómatos allotríou epiphorà« erläuternd mit »Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird)«, siehe Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch (Stuttgart 1982) 67. 13 E. Eggs: ebd. 1103. 14 Paul Ricœur: Die lebendige Metapher, übers. v. Rainer Rochlitz (München 1986) 262.

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geführt werden können, zeigen etwa zwei kurz aufeinander folgende Abschnitte aus Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Während es zunächst heißt, »ein Gleichnis, das in die Formen unserer Sprache aufgenommen ist, bewirkt einen falschen Schein«, so folgt kurz darauf die Ermahnung, man müsse sich, wenn »die Philosophen ein Wort gebrauchen […] und das Wesen des Dings zu erfassen trachten«, immer fragen: »Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?« Und Wittgenstein fügt an: »Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.«15 Mit noch weitaus mehr Emphase hat Friedrich Nietzsche diesen falschen Schein der verbegrifflichten Metaphern herausgestellt und namentlich der Wissenschaftssprache attestiert, sie arbeite »unaufhaltsam an jenem grossen Columbarium der Begriffe, der Begräbnissstätte der Anschauung«. Demgegenüber handle es sich beim »Trieb zur Metapherbildung« um einen »Fundamentaltrieb des Menschen«, der »dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt« sei.16 Dieser nicht weiter hinterfragten »Wahrheit« der Sprache steht bei Nietzsche im selben Aufsatz bekanntlich ein erheblicher Wahrheitsrelativismus gegenüber, der die Wahrheit insgesamt zu einem »Heer von Metaphern, Metonymien« diversifiziert; im herkömmlichen Sinn »wahrhaft« zu sein, heißt demnach nicht mehr, als »die usuellen Metaphern zu brauchen«.17 Die Anregung, die von Nietzsches Überlegungen ausgeht, ist nun aber weniger die Aufforderung, von nun an nur noch in wahrhaft wahrhaften, also ›kühnen‹ Metaphern zu sprechen und sich dem »Bau der Begriffe« zu verweigern, sondern die nüchternere Einsicht, daß der Begriff »doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt, und dass die Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs ist.«18 Während das bloße Umdeklarieren aller Begriffe zu Metaphern zu einer Entdifferenzierung führen würde – so daß nun statt des Begriffs die Metapher als Monolith dastünde –, lenkt Nietzsches Redeweise von der »Großmutter des Begriffs« von der Geltung auf die Genesis über. Somit liegt der Mehrwert der antimetaphysischen Begriffskritik nicht in einer Durchstreichung der klaren Kantischen Unterscheidung von Begriff und Anschauung, sondern in ihrer Genealogisierung. In einer solchen Genealogisierung liegt die Aufgabe und das Ansinnen der Begriffsgeschichtsschreibung. Elementar für ihr Verfahren ist es, Begriffe nicht als 15 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [1945/1953]. Werkausgabe, Bd. 1 (Frankfurt a.M. 1984) 225–580, hier 299 f. (Nr. 112 und 116). 16 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873]. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Bd. 1 (München 1988) 873–890, hier 886 f. 17 Ebd. 880 f. 18 Ebd. 882.

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feststehend, sondern als variabel zu betrachten. Was Begriffe sind, wie sie sich definieren oder identifizieren lassen, ist in dieser Betrachtungsweise unweigerlich angewiesen auf die Modalitäten ihrer Veränderung. Was aber ist es genau, das sich in der Geschichte eines Begriffs verändert? Gewiß ist, daß die Veränderungen in der einen oder anderen Weise sprachlich indiziert sind, aber welches genau das Medium dieser Sprachlichkeit ist, läßt sich nur schwer verallgemeinern. Da aber zur Pragmatik jeder Begriffsgeschichtsschreibung eine enge Bindung des Begriffs ans Wort gehört, haben sich gerade die begriffsgeschichtlichen Standardwerke immer auch grundsätzlich mit dem Verhältnis von Wort und Begriff beschäftigen müssen – immer eingedenk der Tatsache, daß dieses Verhältnis begriffstheoretisch nicht geklärt ist und wohl auch kaum definitiv geklärt werden kann. Dennoch findet sich eine sehr einfache Bestimmung im Historischen Wörterbuch der Philosophie, das in seinem ersten Band unter dem Lemma ›Begriff‹ einen eigenen Teil- oder Nebenartikel über ›Begriff und Wort‹ einfügt. Dieser Artikel, verfaßt von Jürgen Mittelstrass, ist von programmatischer Kürze.19 Anders als der Hauptartikel ›Begriff‹ (von Rudolf Haller) argumentiert Mittelstrass’ Eintrag gezielt unhistorisch und unterwirft das Verhältnis von Wort und Begriff der Aussagen- und Prädikatenlogik, in deren Chiffrenschrift der Artikel durchgängig abgefaßt ist. Mit Bezug auf Paul Lorenzens ›methodischen Konstruktivismus‹ heißt es eingehend, Begriffe würden »aus einigen Wörtern, nämlich Prädikaten, durch die logische Operation der Abstraktion (s. d.) gewonnen«. Diese Prämisse der grundsätzlichen und zweifelsfreien Trennbarkeit von Wort und Begriff wird durch die in der noch folgenden Spalte notierten Junktoren und Quantoren nicht in Frage gestellt, sondern nur weiter formalisiert. Eine solche Kurzfassung scheint nur dadurch überhaupt formulierbar zu sein, daß sie ihre Prämissen nicht weiter problematisiert oder sie gleich ganz aus sich heraussetzt: in diesem Fall durch die Delegation der fundamentalen Begriffsklärung von ›Abstraktion‹ an einen anderen Wörterbuchartikel (»s. d.«). Eine weitere Bedingung ist der Verzicht auf eine genetische Betrachtungsweise: und zwar sowohl, was Erwägungen zur Genese einzelner Begriffe als auch, was solche zur Genese des Begriffs-Begriffs angeht. Mittelstrass’ Kurzfassung des Verhältnisses von Wort und Begriff steht in fast polemischer Beziehung zum Programm der begriffsgeschichtlichen Enzyklopädie, in der sie sich findet. Ein Blick in Joachim Ritters Vorwort zum selben Band zeigt, daß die Beschränkung des Wörterbuchs auf »Begriffe und Termini« für das eigentliche Anliegen des Projekts schon fragwürdig ist. Auf die weitergehende Entscheidung, auch »Metaphern und metaphorische Wendungen in die Nomenklatur des Wörterbuches aufzunehmen«, haben die Herausgeber, in Ritters Worten, »nicht leichten Herzens« verzichtet. Der Sache nach scheint genau diese Ausweitung eigentlich geboten zu sein: Hans Blumenbergs These, derzufolge »gerade 19 Jürgen Mittelstrass: Begriff II: Begriff und Wort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Bd. 1 (Basel 1971) 785–787.

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die der Auflösung in Begrifflichkeit widerstehenden Metaphern ›Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe‹ haben und an die ›Substruktur des Denkens‹ heranführen, die die ›Nährlösung der systematischen Kristallisationen‹ ist«, wird hier bereits als gesichertes Ergebnis angeführt, das nur aus forschungspraktischen Gründen nicht im Wörterbuch selbst repräsentiert werde.20 Wohl nicht von ungefähr betont Ritter im Fortgang seiner programmatischen Erklärungen gerade für die umfangreicheren Wörterbuchartikel, die philosophische ›Leitbegriffe‹ zum Gegenstand haben und in denen sich das Problem des Bedeutungswandels in besonders komplexer Weise darstellt, die lexikographische Zurückhaltung in Fragen der Definition und operiert im selben Zug mit der weitläufigeren Kategorie des »Begriffswortes«.21 Die zur selben Zeit wie das Historische Wörterbuch der Philosophie begonnenen Geschichtlichen Grundbegriffe befassen sich in ihrer von Reinhart Koselleck verfaßten Einleitung zum ersten Band eigens mit der »Unterscheidung zwischen Wort und Begriff«.22 Von dieser Unterscheidung sagt Koselleck einerseits, sie sei »pragmatisch getroffen worden«, andererseits aber, daß sich »von der historischen Empirie her […] die meisten Wörter der gesellschaftlich-politischen Terminologie definitorisch von solchen Wörtern unterscheiden lassen, die wir hier ›Begriffe‹, geschichtliche Grundbegriffe nennen«. Streng genommen würde das bedeuten, daß Begriffe eine besondere Klasse von Wörtern bildeten und daß die Unterscheidung zwischen Wort und Begriff eigentlich eine zwischen Wort und Wort wäre. Dafür spricht auch, daß das Argument der Bedeutungsfülle – für die Herausgeber das entscheidende Kriterium für einen ›Grundbegriff‹ – auf das Wort angewendet wird, wenn es ausdrücklich heißt, die vielfache Bedeutung gehe »in das eine Wort« ein. Bemerkenswerterweise entgeht nun gerade das an dieser Stelle in der Einleitung genannte Musterbeispiel ›Staat‹ (»Was alles geht z.B. in das Wort ›Staat‹ ein, daß er [sic] zu einem geschichtlichen Begriff werden kann«) in seinem eigentlichen Eintrag im sechsten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe der Festlegung auf das »eine Wort«: Der umfangreiche Artikel steht nämlich unter dem doppelten Lemma ›Staat und Souveränität‹. Koselleck fügt dort eine eigene Vorrede an, um darzulegen, daß und wie die beiden Wörter zu einem Begriff zusammentreten.23 20 Joachim Ritter: Vorwort. In: ebd. III–XII, hier VIII f. Die Zitate stammen aus dem Schluß der Einleitung von Hans Blumenbergs: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], vgl. den Neudr. Frankfurt a. M. 1998, 13. Zu dieser Passage vgl. Rüdiger Zill: ›Substrukturen des Denkens‹. Grenzen und Perspektiven einer Metapherngeschichte nach Hans Blumenberg. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002) 209–258, hier 221–229. 21 J. Ritter: Vorwort, ebd. X. 22 Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck. Bd. 1 (Stuttgart 1972) XIII–XXVII, alle Zitate XXII f. 23 Werner Conze, Reinhart Koselleck, Görg Haverkate, Diethelm Klippel, Hans Boldt: Staat und Souveränität. In: ebd., Bd. 6 (1990) 1–154, hier 1–4.

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Die Art, in der Begriffe und Bedeutungen am Wort »haften« (so gleich zweimal in der Einleitung der Geschichtlichen Grundbegriffe 24), läßt sich ganz unterschiedlich formalisieren. Der lexikographische Sonderfall der doppelten Lemmatisierung ist dabei insofern exemplarisch, als er mit der enzyklopädischen Technik der internen Vernetzung durch Verweise zusammenhängt: Hier wie dort geht es darum, einen Begriff an verschiedene Wörter anzuheften, was ebenfalls bedeutet, ihn in der enzyklopädischen Topik mehrfach zu verorten. Aufgrund der schwierigen Differenzierbarkeit von Wort und Begriff ergibt sich dabei eine Nähe zur Kategorie der Synonymie, die begriffstheoretisch kaum noch einholbar scheint. Das genau umgekehrte Verfahren besteht darin, ein Lemma in mehrere Unter-Einträge aufzuteilen wie im schon genannten Artikel ›Begriff‹ des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Diese Aufteilung kann im Einzelfall so weit gehen, daß für ein und dasselbe Wort mehrere ganz unterschiedliche Begriffe nachgewiesen werden – womit man auf der Ebene des Wortes bei der Homonymie wäre. Um solche Überlagerungen auszuschließen und die Differenz von Wort und Begriff im Detail zu kontrollieren, kann wiederum die Parzellierung begriffsgeschichtlicher Lexikonartikel so weit getrieben werden wie im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, wo in jedem Eintrag auf die erste »Explikation« getrennte Abschnitte zur »Wortgeschichte« und zur »Begriffsgeschichte« folgen, an die sich dann noch »Sach-« und »Forschungsgeschichte« anschließen.25 Auch die Herausgeber der Ästhetischen Grundbegriffe befassen sich im gesondert veröffentlichten Konzeptband mit der Klärung der »Verhältnisse zwischen Wort – Terminus – Bedeutung – Begriff«.26 Hinsichtlich der Sprachlichkeit des Begriffs versuchen sie eine Art Befreiungsschlag, indem sie rundheraus formulieren: »Begriffe selbst sind nichts unmittelbar Sprachliches, sind also keine Zeichen (und haben deshalb auch keine ›Bedeutungen‹).« Statt dessen seien Begriffe, wie es in einem Wechsel der medialen Ebene heißt, die »Endstufe von Abbildungsvorgängen« und somit »Gedächtnisbesitz«. Summarisch lautet die Definition: »Im Sinne dieser Bestimmungen verstehen wir Begriffsgeschichte als Bedeutungsgeschichte ausgewählter Termini.« Dabei erscheinen die intermittierenden Größen ›Terminus‹ und ›Bedeutung‹ allerdings eher als Platzhalter denn als Definitionshilfen. Das zeigt sich in den komplexen und voraussetzungsreichen Nebenbestimmungen, die jene Definition flankieren, etwa die, daß die »ästhetischen Termini« die »Namen der Begriffe« seien, oder auch, daß das »Wort als Terminus« sich als »Name des Begriffs« verstehen lasse. Gerade der Umstand, daß für die »ästhetischen Termini« die sprachliche Kategorie des Namens so nachdrücklich in Anschlag 24 Vgl. die konzessiven Formulierungen: »Dabei haftet die Bedeutung zwar am Wort […]«; »Der Begriff haftet zwar am Wort […]«, siehe R. Koselleck: Einleitung, a. a. O. [Anm. 22] XXII. 25 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Klaus Weimar u. a. 3 Bde. (Berlin, New York 1997–2003). 26 K. Barck / M. Fontius / W. Thierse: Ästhetik, Geschichte der Künste, Begriffsgeschichte. Zur Konzeption eines ›Historischen Wörterbuchs ästhetischer Grundbegriffe‹. In: Ästhetische Grundbegriffe, a. a. O. [Anm. 2] 11–48, alle Zitate 22 f.

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gebracht wird, läßt es als zweifelhaft erscheinen, ob man die zu untersuchenden »ästhetischen Grundbegriffe« in ihrer Begrifflichkeit tatsächlich von Sprachlichkeit und Zeichenhaftigkeit suspendieren kann und soll oder ob nicht der Kontext des Ästhetischen selbst von vornherein eine produktive Verunsicherung der Begrifflichkeit als solcher nahelegt. Sollte daher ein Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe vor allem an einer Ästhetisierung des Begrifflichen arbeiten? Sollte ein Historisches Wörterbuch der Rhetorik die Rhetorizität der in ihm versammelten Begriffe darlegen? Ganz offenkundig würden solche Programme den Intentionen der jeweiligen Herausgebergremien ebenso zuwiderlaufen wie den pragmatischen Anforderungen eines Nachschlagewerks. Für das Historische Wörterbuch der Rhetorik zeigen sich aber die genannten Probleme der Abgrenzbarkeit von Begriff und Wort nochmals besonders deutlich. Wenn man von »rhetorischen Begriffen« spricht wie Franz-Hubert Robling in seinen methodologischen Erörterungen zu diesem Wörterbuchprojekt, verschärft sich die Spannung zwischen den Aussagen »Begriffe sind keine Namen« und »Jeder Begriff ist nur als Wort gegeben«.27 In diesem Zusammenhang fordert dann auch die Metapher ihr Recht: »Wichtig für die Identifizierung eines rhetorischen Begriffs ist die Analyse seiner Semantik, insbesondere des metaphorischen Gehalts.«28 Allerdings erscheint gerade unter rhetorischen Gesichtspunkten kaum etwas so problematisch wie das Konzept eines »metaphorischen Gehalts«, das, indem es sich auf eine feststellbare anschauliche Grundbedeutung richtet, vom begriffsgeschichtlich interessanteren Aspekt der Metapher, dem der tropischen Beweglichkeit, absieht. Daß auch hier gewisse Fragen unabschließbar sind, kann man wiederum dem Eintrag ›Begriff‹ im Rhetorik-Wörterbuch ablesen. Dort steht einleitend, als Resultat eines »Abstraktionsprozesses« sei der Begriff »von der Metapher, der ›Übertragung‹, dem ›bildlichen‹ Ausdruck, dem Gleichnis, der ›uneigentlichen‹ Rede […] abzugrenzen«, aber kurz darauf folgt die Bemerkung: »Für die Rhetorik als Kunst der Rede oder Beredsamkeit ist gerade der sprachliche Aspekt des B.[egriffs] in seiner Verbindung z. B. mit: Metapher, Definition, inventio, argumentatio von Bedeutung.«29 Diese Zusammenstellung programmatischer Inkonsistenzen zielt keineswegs darauf ab, sie billig als solche zu entlarven und dann zu fordern, es müsse eine konsistente Bestimmung des Verhältnisses von Begriff, Wort und Metapher geben, die hier alle Fragen beantworten würde – oder gar zu behaupten, es gäbe sie schon. Vielmehr haben die Inkonsistenzen selbst programmatischen Stellenwert, weil sie unabgegoltene Schwierigkeiten der Begriffsgeschichtsschreibung auf den Punkt bringen. Unabgegolten heißt dabei nicht, daß es nicht in der Praxis eine Fülle von

27 Franz-Hubert Robling: Probleme begriffsgeschichtlicher Forschung beim ›Historischen Wörterbuch der Rhetorik‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 38 (1995) 9–22, hier 12. 28 Ebd. 18. 29 Jakob Hans Josef Schneider / Stefan Majetschak: Begriff. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, a. a. O. [Anm. 12] Bd. 1 (1992) 1399–1422, hier 1400 u. 1402.

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Lösungsmöglichkeiten gäbe. Mit Recht kann man auf die Machbarkeit von Begriffsgeschichte jenseits von Programmen hinweisen, und ebenso auf die von Lexikon zu Lexikon, von Eintrag zu Eintrag variierenden Begrenzungen und Möglichkeiten der historischen Darstellung. Trotzdem ist das methodologische Argument der Pluralität zweischneidig. Denn was im einzelnen pragmatisch gemacht wird, sind lexikographische Sprechakte, die als solche entschieden mehr als ihre eigene Pragmatik behaupten, nämlich definitorische Gültigkeit. Diesen Sachverhalt muß sich eine Begriffsgeschichte der Metapher und des Metaphorischen vor Augen halten. Das gilt um so mehr, als mittlerweile, da die großen begriffsgeschichtlichen Projekte wie das Historische Wörterbuch der Philosophie und die Ästhetischen Grundbegriffe in absehbarer Zeit abgeschlossen sein werden, die Metapher zunehmend in den Blickpunkt der Begriffsgeschichtsschreibung rückt. Seit einiger Zeit ist ein großangelegtes Metaphernprojekt unter dem Titel Scientia metaphorica in Vorbereitung, das neben zwei Buchreihen zur Analyse einzelner Metaphern und zur Erforschung des Metapherngebrauchs in bestimmten Werken oder Epochen auch ein Historisches Wörterbuch der Metaphern in Philosophie und Wissenschaften plant.30 Daß ein solches Projekt »Sinn und Unsinn« haben kann, hat einer seiner Initiatoren, Lutz Danneberg, selbst formuliert.31 Insbesondere die Lexikographierung von Metaphern muß dem Einwand begegnen, daß sie einem entscheidenden Kriterium des Metaphorischen, nämlich der Relationalität, grundsätzlich nicht gerecht wird. Angesichts der spezifischen, der übertragenen und übertragenden Wörtlichkeit der Metapher ließe sich mit Ricœur das Argument vorbringen, daß »lexikalische Einheiten – die Wörter in einem Wörterbuch – nur potentielle Bedeutung haben, und auch das nur kraft ihrer potentiellen Verwendung in Sätzen«, und daß folglich »die metaphorische Bedeutung eines Wortes nicht im Wörterbuch zu finden ist«.32 Dies ist wohlgemerkt kein Verdikt über ein lexikographisches Metaphernprojekt, sondern ein Einwand, dem es in irgendeiner Weise Rechnung zu tragen hat, zumindest darin, daß es den Unähnlichkeiten von Metapherngeschichte, Wortgeschichte und Begriffsgeschichte auf der Spur bleiben sollte. Um eine Lesart der Metapher als Begriff oder des Begriffs als Metapher kann es dann nicht mehr gehen – jedenfalls nicht ohne die Einsicht in die Metaphorizität des »Als als Als«.33

30 Vgl. die Ankündigung des Schwabe-Verlags: Das Metaphernprojekt. Scientia metaphorica. Analyse und Archiv der Metaphorik in den Wissenschaften. Initiatoren sind Lutz Danneberg, Petra Gehring, Helmut Hühn, Roland Kany, Margarita Kranz und Jörg Niederhauser. 31 Vgl. L. Danneberg: Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, a. a. O. [Anm. 20] 259–421. 32 P. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik [1972], übers. von Ursula Christmann. In: Theorie der Metapher, hg. von Anselm Haverkamp (Darmstadt ²1996) 356–375, hier 360 f. 33 Vgl. Dietrich Mathy: Das Als als Als. Anmerkungen zur Differentialität des Metaphorischen. In: Die Dichter lügen, nicht. Über Erkenntnis, Literatur und Leser, hg. von Carola Hilmes / Dietrich Mathy (Würzburg 1995) 21–30.

Klaus Krüger

Bild – Schleier – Palimpsest Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik Die Frage, was für die ästhetische Erfahrung der Moderne den irreduziblen Eigensinn von Bildern und Texten bzw. ihren Status der Unbegrifflichkeit ausmacht, hat Michel Foucault einmal mit dem Hinweis auf einen neu sich eröffnenden Spielraum des Dazwischen beantwortet, ein Dazwischen, das nicht mehr nach hergebrachten Mimesisansprüchen die Abgehobenheit von einer Wirklichkeit bezeichnet, auf die sich Bilder und Texte in ihrer Alterität beziehen, sondern vielmehr jene Spanne, die aus der Rückbezüglichkeit auf ihre eigenen Produktionsbedingungen und näherhin auf ihre eigene mediale Existenzform entsteht: »Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen, um es abzuleugnen oder zu kompensieren; es dehnt sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus, im Spielraum des Noch-einmal-Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte.« Denn es sind, so Foucault, immer nur »die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen, die der modernen Erfahrung die Mächte des Unmöglichen zutragen.«1 Nicht aus ihren Relationen zu einer prätendierten Wirklichkeit speist sich demzufolge das den Bildern oder Texten innewohnende Imaginäre, sondern vielmehr aus jenen Bezügen, die sich zwischen ihnen selbst entfalten. Denn auch als Organismen eigenen Rechts und eigener Totalität sind Bilder – respektive Texte – keine hermetischen, in sich geschlossenen Einheiten, sondern mit interpikturalen bzw. intermedialen Relationen aufgeladene Gefüge, die sich mit anderen Bild- und Textstrukturen verflechten, sie überlagern, durchdringen und ebenso durchdrungen werden. Édouard Manets »Déjeuner sur l’herbe und Olympia«, so hat Foucault diesen Sachverhalt geschichtlich exemplifiziert, »sind wohl die ersten ›Museums‹-Bilder gewesen: zum ersten Mal in der europäischen Kunst sind Bilder gemalt worden – nicht eigentlich als Replik auf Giorgione, auf Raphael und Velasquez, sondern um im Schutz dieser einzelnen sichtbaren Beziehung, unter der identifizierbaren Verweisung eine neue substantielle Beziehung der Malerei auf sich selbst zu bezeugen, um die Existenz der Museen und die in Museen er-

Für Hinweise, Anregungen und die Diskussion der vorliegenden Ausführungen danke ich Karin Gludovatz und Thomas Hensel. 1 Michel Foucault: Nachwort. In: Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius (Frankfurt a. M. 1996) 215–251, hier 222 f. Der zuerst 1964 auf deutsch publizierte Text erschien französisch 1967 unter dem Titel: Un ›fantastique‹ de bibliothèque. In: ders.: Dits et Écrits 1954–1988, publ. par Daniel Defert / François Ewald. Bd. I: 1954–1969 (Paris 1994), hier 297 f.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Abb. 1 Édouard Manet, Das Frühstück im Freien, 1863, Paris, Musee d’Orsay

worbene Art des Vorhandenseins und der Verwandtschaft von Bildern darzutun. […] jedes Bild gehört jetzt der großen quadrierten Fläche der Malerei […] an.«2 Wird man den von Foucault apostrophierten Zusammenhang von Selbstreferenz und Autonomisierung auch heute kaum mehr ohne weiteres als eigentliches Schlüsselkriterium, ja als Epochensignatur der Moderne anerkennen, sondern im Licht aktueller Vorstellungen und Kenntnisse über die longue durée metapikturaler Bildverfahren zu einer differenzierteren und zugleich komplexeren Historisierung gelangen, so weist seine Feststellung doch ohne Frage auf eine wesentliche Grundlage von Manets Schaffen der frühen 1860er Jahre hin, nämlich auf jenen dialektischen Zusammenhang, der zwischen dem manifesten Rekurs auf die kunstgeschichtliche Tradition und dem gleichzeitigen Bewußtsein besteht, daß diese Tradition unrettbar verlorengegangenen ist. Die Aneignung des Vergangenen scheint bei Manet als eine substantielle Umverwandlung zu geschehen, in deren Folge das verfügbar gemachte Bilderrepertoire gleichsam nur mehr an der Oberfläche einer konkret gewordenen Malerei treibt und eine neue, opake Konsistenz von ikoni2

Ebd. (1996) 224 f.; vgl. ebd. (1994) 298 f.

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Abb. 2 Giorgione, Ländliches Konzert, ca. 1505–1510, Paris, Musée du Louvre

schen Zeichen ausbildet, deren hergebrachte Referenz zum signatum sich als durchtrennt erweist. Das besagte Dazwischen entfaltet sich in Manets Malerei also als ein Spannungsbezug von Aneignung und Auslöschung, von Rettung und Verlust, von Identität und Differenz. So greift Manet im Frühstück im Freien (Abb. 1) in offenkundiger und Abb. 3 Marcantonio Raimondi, Das Urteil des Paris (nach Raffael), Ausschnitt mit liegendem Flußgott unverhüllter Weise auf ein Sujet von und Nymphe, ca. 1530, Kupferstich Giorgione zurück,das berühmte Ländliche Konzert mit seinem idyllischen Beisammensein von zwei bekleideten Männern und zwei unbekleideten Frauen (Abb. 2); er greift zugleich zurück auf eine Motivprägung Raffaels mit der Versammlung zweier Flußgötter und einer Nymphe, deren Überlieferung und weite Verbreitung durch einen Kupferstich des Marcantonio Raimondi von etwa 1530 erfolgte (Abb. 3), und die ihrerseits wiederum auf ein antikes Sarkophagrelief mit dem Urteil des Paris zurückgeht

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Abb. 4 Das Urteil des Paris, Römischer Sarkophag, Rom, Villa Medici

(Abb. 4); und er greift für die im seichten Wasser stehende Frau im Hintergrund schließlich auf eine Vorgabe von Jean-Antoine Watteau zurück.3 Doch fügt er seine Traditionsanleihen nicht mehr in hergebrachter Weise zum System einer mimetisch plausiblen und in der Kohärenz auch der psychologischen Bezüge glaubhaften Repräsentation. Wie man oft festgestellt hat, erscheinen die verschiedenen Bildmotive zueinander im Verhältnis von Vereinzelung und Isolation: Die Gesten und Blicke der Figuren bleiben untereinander ebenso beziehungslos, wie die Figurengruppe insgesamt optisch unverbunden vor der Folie der Landschaft und ihr wie appliziert erscheint; das Stilleben vorne links bildet eine solitär ins Bild gesetzte Komposition; und die Frau im Hintergrund nimmt maßstäblich eine zu ihrem Umraum gänzlich unverhältnismäßige Größe an. Die Diskontinuität, die auf solche Weise in das ganze figurative System des gemalten Bildes einkehrt, signalisiert auf der einen Seite die Brüchigkeit und Fragwürdigkeit von dessen Konzeption als mimetisch aufgefaßte Darstellung, während sie auf der anderen Seite eine kategorial andere, alternative ästhetische Logik der mit Farben bemalten, opaken Fläche demonstriert. Nicht zuletzt betrifft diese Brüchigkeit und Ambiguität auch die semiotische Struktur des Bildes und näherhin die inhaltliche Auffassung des Sujets, dergestalt daß hier sichtbar zeitgenössische, modern gekleidete Modelle im Gewand einer tradierten Bildformel auftreten und dem idyllischen Beisammensein das Signum des Uneigentlichen verleihen. Die Darstellung gewinnt hier in der Tat, wie man treffend festgestellt hat, die Züge eines Tableau vivant, einer kunsthaft inszenierten »Zurschaustellung des Lebens in der Pose des Klassischen«.4 Im Blick auf diesen Sachverhalt und auf die irritierend diskrepante Dimension, die das Imaginäre bei Manet entfaltet, hat einmal Jeff Wall aus seiner doppelten 3 Die betreffende Literatur ist Legion. Vgl. bes. Françoise Cachin: Das Frühstück im Freien. In: Manet 1832–1883 (Ausst. Kat. Paris – New York 1983) (Berlin 1984) 165–174; Michael Fried: Manet’s Modernism or, The Face of Painting in the 1860s. (Chicago, London 1996) 56 ff.; Hans Körner: Édouard Manet. Dandy, Flaneur, Maler (München 1996) 62 ff.; Manet’s Le Déjeuner sur l’herbe, publ. par Paul Hayes Tucker (Cambridge 1998). 4 F. Cachin: ebd. 170.

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Perspektive als Künstler und zugleich als Kunsthistoriker von einer »Krise in den inneren Bezügen des Bildes« gesprochen, wodurch »die menschliche Figur, der menschliche Körper, als gemalt und gleichzeitig als dargestellt etabliert« würden.5 Man könne daher, so Jeff Wall, Manets Werk »als eine klassische Formulierung der Entfremdung sehen [...]. Die Figuren, die er malt und darstellt, sind gleichzeitig greifbar, das heißt traditionell erotisiert, und doch aufgelöst, ausgehöhlt und sogar ansatzweise ›dekonstruiert‹ dadurch, daß sie von dieser Krise […] gezeichnet sind.«6 Nicht unähnlich zu Manet, bietet sich auch Jeff Walls eigenes künstlerisches Werk als Kontamination und Ineins verschiedener Bilder oder Bildmotive wie ebenso verschiedener Auffassungen vom Bild dar, ein Ineins, das sich auch hier, gleich einem Palimpsest, als eine Struktur der Schichtung, der mehrfachen Überlagerungen und wechselseitigen Transparenzen von Vergangenheit und Gegenwart, besser gesagt: von Bildern der Vergangenheit und solchen der Gegenwart erweist. Storyteller von 1986 kann davon eine anschauliche Vorstellung vermitteln (Abb. 5).7 Technisch als Foto hergestellt und sich als dokumentarische Aufnahme im Stile eines Reportagefotos gebend, nimmt die Darstellung doch entschieden die

Abb. 5 Jeff Wall, Storyteller, 1986, Großbild-Dia in Lichtkasten, Frankfurt a.M., Museum für Moderne Kunst

5 Jeff Wall: Einheit und Fragmentierung bei Manet [1984]. In: ders.: Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit: Essays und Interviews, hg. von Gregor Stemmrich (Dresden 1997) 235–248, hier 237. 6 Ebd. 243. 7 Jeff Wall. The Storyteller, hg. vom Museum für Moderne Kunst Frankfurt a. M. von Robert Linsley / Verena Auffermann / Jean-Christophe Ammann (Frankfurt a. M. 1992); Thierry de Duve: The Mainstream and the Crooked Path. In: Tierry de Duve / Arielle Pelenc / Boris Groys: Jeff Wall (London 1996) 26-53, hier 46 ff.; Kerry Brougher: Jeff Wall (Zürich 1997) 32.

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Präsentationsform eines Museumsgemäldes an. Damit ist mehr gemeint als nur das monumentale Format von 2,29 m auf 4,37 m. Die Anverwandlung an ein Gemälde erfolgt vielmehr durch eine Adaption sowohl von motivischen Bildformeln als auch von Darstellungsweisen, die der kunsthistorischen Tradition entstammen. Die Figurengruppe unten links folgt der bereits bekannten Komposition bei Manet respektive Raffael (vgl. Abb. 1 u. 3). Die Zweiergruppe von liegendem Mann und hockender Frau, die im Mittelgrund des Bildes unter den Bäumen lagern, entstammt dagegen Georges Seurats nicht minder berühmtem Gemälde Une Baignade, Asnière von 1883/1884 in London (National Gallery), doch wird sie bei Jeff Wall in subtiler Inversion gegeben: wir sehen auf sie aus einer Blickwarte, die bei Seurat hinter der Leinwand liegt, wenn man so will: aus metabildlicher Sicht (Abb. 6). Schließlich rekurriert der unter der Brücke vorne rechts auf steinigem Grund hockende Mann mit angewinkelten Beinen auf ein analoges Motiv von Seurats La Grande Jatte von 1884–1886, diesmal in sozialer Inversion: aus dem Mann mit Anzug und Zylinder ist eine Person aus niedriger Schicht in schlichten Jeans und kariertem Hemd geworden (Abb. 7).8

Abb. 6 Georges Seurat, Une Baignade, Asnière (Ausschnitt), 1883/1884, London, National Gallery

Abb. 7 Georges Seurat, La Grande Jatte (Ausschnitt), 1884–1886, Chicago, Art Institute

Der vermeintlich dokumentarische, wie zufällig erfaßte Alltagsaugenblick, den das Foto darzubieten scheint, offenbart sich vor diesem Hintergrund als planvoll gestellte, in paradoxer Aufladung arretierte Inszenierung: Als lebendes Bild (Tableau vivant) ist die Darstellung doch kein Bild des Lebens, sondern vielmehr dessen kunsthafte Nachbildung. Deren performativer, situationistischer Bedingungsrahmen wiederum wird durch das fotografische Verfahren bildlich immanentisiert, ikonisch archiviert und dabei zugleich medial transformiert. Was dabei entsteht, ist ein bildliches Dispositiv, das die Konstruktion des Authentischen als

8 Zu diesen Motivanleihen siehe R. Linsley / V. Auffermann / J.-C. Ammann: ebd.; T. de Duve: ebd. sowie Gregor Stemmrich: Zwischen Exaltation und sinnierender Kontemplation. Jeff Walls Restitution des Programms der ›peinture de la vie moderne‹. In: Jeff Wall: Photographs (Wien 2003) 154–173.

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Fiktion markiert, wie es umgekehrt die Schaffung der Fiktion als Authentizität bezeugt.9 Der Zugriff gerade auf Manet und Seurat, wie ihn Jeff Wall hier ins Werk setzt, erfolgt nicht absichtslos, insofern beide als Inkunabeln der beginnenden Moderne figurieren und geradezu paradigmatisch deren neuen Bildbegriff verkörpern.10 Den Rekurs auf diese Paradigmen vollzieht die Darstellung aber nicht nur als eine Aneignung figürlicher Motivprägungen, sondern grundsätzlicher noch in der reflektierten Konzeption der ganzen Bildanlage mit ihren inhärenten Kontradiktionen. Auf den ersten Blick wird das Bild zunächst beherrscht von der Wucht und regelrechten Dominanz der Zentralperspektive und ihren auf das Zentrum hin zustoßenden Fluchtlinien. Man kann dies geradezu als einen Index für jenes in der Renaissance erarbeitete, klassische Bildkonzept mit seinem zentralperspektivisch erschlossenen Systemraum lesen, das mit Leon Battista Albertis Bestimmung des Bildes als Schnitt durch die Sehpyramide normativ wurde. Auch das hierfür entwickelte Verfahren, das Bildfeld in ein regelmäßiges System von Netzkoordinaten einzuteilen, wird im Motiv des Stahlseils, das auf vorderster Ebene und wie von außerhalb des Bildes gespannt die ganze Darstellung horizontal durchzieht, ebenso lakonisch wie sichtbar konnotiert. Und in der Tat verwirklicht die faktische Transparenz des großformatigen, von hinten beleuchteten GroßbildDiapositivs die Vorstellung Albertis vom Bildträger als einer durchsichtigen Fläche in geradezu vollkommener Weise.11 In entschiedenem Kontrast zu diesem normativ bestimmten Konzept steht jedoch die gänzlich leer belassene Mitte des Bildes, ein Umstand, der angesichts ihrer kompositorischen Fokussierung nur umso deutlicher ins Auge fällt. Diese demonstrative Nichtbesetzung des Bildzentrums mit Figuren, ja deren regelrechte Marginalisierung offenbart eine formal wie semantisch signifikante Verkehrung eben jener Kategorie, die der klassischen Bildauffassung substantiell zugehört: nämlich die allererst von den Figuren ver-

9 Vgl. u. a. Ursula Frohne: Berührung mit der Wirklichkeit. Körper und Kontingenz als Signaturen des Realen in der Gegenwartskunst. In: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, hg. von Hans Belting / Dietmar Kamper / Martin Schulz (München 2002) 401–426, hier 416 ff.; Doris Kolesch / Annette Jael Lehmann: Zwischen Szene und Schauraum – Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitskonstruktionen. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth (Frankfurt a. M. 2002) 347–365, hier 358 ff. 10 Vgl. u. a. Timothy J. Clark: The Painting of the Modern Life. Paris in the Art of Manet and his Followers (Princeton 1984), dort 201 f. auch zu den beiden Gemälden Seurats; M. Fried: Manet’s Modernismus, a. a. O. [Anm. 3]. 11 Zu diesen Aspekten von Albertis Bildkonzept: Kim H. Veltman: Linear Perspective and the Visual Dimension of Science and Art (Studies on Leonardo da Vinci, 1) (München 1986) 107 ff.; Samuel Y. Edgerton, Jr.: The Heritage of Giotto’s Geometry. Art and Science on the Eve of the Scientific Revolution (Ithaca, London 1991) bes. 191 ff.; G. Bora: Il problema della restituzione prospettica: dal metodo geometrico agli strumenti di misurazione empirica. In: Arte Lombarda. Rivista della storia dell’Arte 110–111 (1994) 35–42; Frank Büttner: Rationalisierung der Mimesis. Anfänge der konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti. In: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz / Gerhard Neumann (Freiburg 1998) 55–87.

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körperte, allererst durch sie in Handlung, Mimik und Gebärde vorgetragene Erzählung oder historia des Bildes.12 Diese Entleerung und Inversion des Bildes, wenn man so will: die Aushöhlung des klassischen Paradigmas der mimetischen Darstellung geschieht hier durch ein anderes, neues mimetisches Paradigma, nämlich dasjenige der Fotografie, doch wird seinerseits auch dieses im selben Zuge invertiert und paradoxiert, insofern sich das fotografische Dokument als Fiktion, die Authentizität des Wirklichkeitsabbildes als Inszenierung offenbart. Das von Jeff Wall in solcher Weise vielschichtig angelegte Widerspiel der wechselseitigen Verkehrung, der Durchdringung und Kontamination von historisch konturierten Bildauffassungen und ihren medial bestimmten Konstitutionsbedingungen schlägt sich in der thematischen ebenso wie in der formalen Dimension des Werkes nieder. In thematischer Hinsicht teilt sie sich vor allem als semantische Umbesetzung der Pastorale mit, deren herkömmliche Lokalisierung in die gewollte, selbst gewählte Ferne des Menschen von seiner urbanen Zivilisation, wie sie etwa bei Giorgione und auch noch, wenngleich bereits gebrochen, bei Manet vor Augen steht, hier tiefgründig konterkariert wird: einerseits als eine Versetzung des vormals pastoralen Ambientes in ein abseitiges Brachland und damit gewissermaßen an den Randbereich von Zivilisation und von Natur, und andererseits durch seine gleichzeitige soziale Besetzung mit Vertretern einer gesellschaftlich marginalisierten Minderheit, nämlich dem sozial und ökonomisch degradierten Bevölkerungsteil indianischer Abstammung im kanadischen Vancouver, wo sich der Spielort der gezeigten Szenerie unterhalb einer Autobahnbrücke faktisch befindet. Was im Motiv der Figurengruppe vorne links mit der jungen Frau, die gestikulierend zu den beiden Männern spricht, zunächst sehr unscheinbar als das Erzählen einer Geschichte figuriert, offenbart sich vor diesem Hintergrund als Anspielung darauf, daß das kulturelle Gedächtnis dieser indianischstämmigen Volksgruppe maßgeblich auf oraler Überlieferung basiert und damit ebenso von der Überformung, Verdrängung und allmählichen Auslöschung bedroht ist wie die Gemeinschaft derer selbst, die als Träger dieses mündlich verwahrten Traditionsbesitzes bereits ein sichtbar entfremdetes Dasein fristen. Der Bildtitel Storyteller meint folglich mehr als nur die Kennzeichnung einer in ihrer Rolle nicht eigentlich exponierten Protagonistin. Er thematisiert vielmehr das komplexe Phänomen des Traditionsverlustes durch eine gesellschaftliche Akkulturation, die sich als Prozeß der Anverwandlung und Verdrängung vollzieht und dabei durchaus einseitige Beziehungsgefüge des Austauschs (»exchange«) und des Aushandelns (»negotiation«) wie schließlich auch der hegemonialen Überformung etabliert.13

12 Vgl. Kristine Patz: Zum Begriff der ›Historia‹ in L.B. Albertis ›De Pictura‹. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986) 269–287. 13 Vgl. zum betreffenden Diskurs der Kultur- und Geschichtstheorie u.a. Robert Weimann: Text, Author-Function, and Appropriation in Modern Narrative. Towards a Sociology of Representation. In: Critical Inquiry 14 (1988) 431–447; Stephen J. Greenblatt: Shakespearean Negotia-

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In formaler Hinsicht findet die besagte Inversion ihren Niederschlag in einer Bildfeldordnung, die sich als Formation von breiten, planimetrisch angelegten Segmenten oder Feldern mit unterschiedlich gerasterten Flächenmustern darbietet. Namentlich die so prominent die Bildmitte besetzende, mit wild wucherndem Gestrüpp überzogene Grünfläche steht geradezu als Demonstration einer luminaristisch-pointillistischen Bildauffassung vor Augen, ähnlich wie im Mittelgrund das goldene, gleich Farbtupfern vor dunklem Grund ins Licht gesetzte Flirren des Laubes an Bildwirkungen des Impressionismus erinnert. Die entschieden malerische Wirkung, die das Medium der Fotografie hier anstrebt, wird nicht zuletzt durch die Technik seiner Anbringung gefördert, dergestalt daß das monumental dimensionierte Cibachrome-Dia, das an der Frontseite eines Lichtkastens angebracht ist, von der Rückseite her beleuchtet, also in der Tat von fluoreszierendem Licht durchflutet wird und zumal bei nahsichtiger Betrachtung eine luminaristisch-opake Wirkung entfaltet. Was damit vor Augen steht, ist eine ebenso subtil wie systematisch ins Werk gesetzte wechselseitige Affizierung eben jener beiden Techniken der Bilderzeugung, die bereits seit der Zeit eines Manet oder Seurat als gegenstrebige, ja konkurrierende Paradigmen künstlerischer Wirklichkeitserschaffung und Wirklichkeitsbezeugung diskursiviert wurden.14 Resümiert man diese Beobachtungen und bringt sie auf den Punkt, so kann man sagen, daß hier durch die Inversion des klassischen Bildes, betreffend Form, Inhalt und Medium, zwar die hergebrachte Strategie von Narration eliminiert wird, daß jedoch damit nicht grundsätzlich jegliche Erzählung aus dem Bild weicht. Vielmehr ist die Umbesetzung und Inversion selbst nunmehr die eigentliche Erzählung des Bildes, sein eigentliches Thema, wie auch der Titel des Bildes – Storyteller – dies hintersinnig indiziert. Denn nicht nur im besagten Motiv der erzählenden Frau wird der Prozeß von Aneignung und Verlust, von kultureller Verdrängung, Anverwandlung und Umbesetzung thematisch. Er findet sich vielmehr in der Darstellung selbst konkretisiert, in ihrer vielschichtigen Refiguration des überlieferten und verfügbar gemachten Bilderrepertoires. Das Spannungsgefüge von Aneignung und Abstoßung, Fortdauer und Verlust, Identität und Differenz wird hier als ein Amalgam zweier Medien der Bilderzeugung manifest, der Fotografie und der Malerei, die sich palimpsestartig wie Schichten über- und ineinanderlegen, in einer von der aktuellen Gegenwart über Manet, Raffael und Giorgione bis in die Antike zurückreichenden Überlagerung von dokumentarischer Abbildung und fiktionalem Bildkonstrukt, von Darstellung und Vorstellung, von Imagination und Projektion. Es versteht sich, daß diese strukturelle Kennzeichnung intermedialer Verfahren und interpikturaler Bezugnahmen nicht nur das Bild selbst, sondern ebensosehr seine Rezeption betrifft, insofern sich die Erfahrung des Bildes ihrerseits als ein tions. The Circulation of Social Energy in Renaissance England (Berkeley, Los Angeles 1988) und ders.: Marvelous Possessions. The Wonder of the New World (Chicago, Oxford 1991). 14 Vgl. K. Brougher: Jeff Wall, a. a. O. [Anm. 7] 22 ff.

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dynamischer Prozeß von Aneignung und Verdrängung entfaltet: als fortwährende Bewegung des Eindringens und der Aufdeckung, der Enthüllung und Überlagerung und dabei der unablässigen Veränderung durch Projektion und Imagination. Kurz: die Schichtung, Sedimentierung und Kontamination von Bildformeln der Vergangenheit und Lebensbildern der Gegenwart wird im Betrachter allererst als ein Ereignis der ästhetischen Erfahrung produktiv, und eben hierdurch vermag sich ihm das bildlich Geschichtete zugleich als ein Modus der Geschichte und des geschichtlichen Wandels, das bildliche Oszillieren zwischen Wirklichkeit und Inszenierung, Künstlichkeit und Leben zugleich als ein Modell der menschlichen Erfahrungsbildung zu erschließen. In der Tat konstituiert sich hier im Spielraum des »Dazwischen«, wie man im Anschluß an Foucault formulieren könnte, eben jenes kognitive Potential, das dem Bild als einem Medium der unbegrifflichen und nichtdiskursiven Artikulation im Kontext kultureller Produktion und Erkenntnisbildung in besonderer Weise zur Verfügung steht. An diese Feststellung lassen sich weiterreichende, systematische wie auch begriffsbezogene Überlegungen anknüpfen. Denn beide hier exemplarisch betrachteten Werke von Manet und von Jeff Wall verbindet über ihren evidenten Motivbezug hinaus vor allem die strukturelle Gemeinsamkeit, daß das Phänomen einer Schichtung, Verflechtung und Durchdringung heterogener Bestandteile als konstitutiv für die Transitorik oder Schwellenstruktur – Foucaults »Dazwischen« – sowohl des Werkes (Objektseite) als auch seiner Erfahrbarkeit (Subjektseite) zu begreifen ist, und daß in eben dieser Verschränkung der eigentliche Kern oder die Bedingung der Bildproduktivität, durch Darstellung oder Vorstellung, durch Projektion oder Imagination, auszumachen ist.15 Es liegt auf der Hand, daß diese Bedingungsstruktur gerade im Hinblick auf die Gegenwartskunst eine besondere Relevanz besitzt, ist diese doch, zumal nach dem Auftreten der Appropriation Art, in hohem Maß durch eine interpiktural bestimmte Produktion von Bildern zweiter Ordnung (Bilder über Bilder), durch eine Hybridisierung der Künste, Gattungen und Medien sowie in vielfältiger Weise durch eine »mediale Blick-Verschiebung«16 gekennzeichnet: von der Darstellung als einer abgeschlossenen, in sich organisierten Einheit zur Darstellung als einem Akt der Repräsentation, dessen ästhetische Logik sich performativ entfaltet. Mit dem Aufkommen der neuen Medien (Foto, Film, Video bis hin zu elektronischen und digitalen Bildern) tritt dabei in einem beschleunigten und komplexer werdenden Ausdifferenzierungsprozeß verstärkt die Problematik von Bildrelationen (zwischen Kopie und Original, Vorbild und Nachbild etc.) und von Medienrelationen (Intermedialität) ins Zentrum künstleri15 Zur ästhetischen Erfahrung als Schwellenerfahrung vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative (Tübingen, Basel 2001) bes. 347 ff. und dies.: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. In: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. von Joachim Küpper / Christoph Menke (Frankfurt a. M. 2003) 138–161. 16 Gabriele Brandstetter: ›Fälschung wie sie ist, unverfälscht‹. Über Models, Mimikry und Fake. In: Mimesis und Simulation, a. a. O. [Anm. 11] 419–449, hier 425.

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scher Produktivität. Um die in Bildern konkretisierte Kohärenz bzw. Koexistenz nicht nur von Original und Kopie, von Vorbild und Nachbild, sondern weiter gefaßt auch von Erinnerung und Gegenwart, von Authentizität und Inszenierung, von Identität und Differenz etc. systematisch als eine heterogene Schichtenordnung zu erfassen und sie darüber hinaus theoretisch als ein symbolisches Bezugsgeflecht von Aneignung und Auslöschung, von Nehmen und Geben, von Imagination und Macht zu konzeptualisieren, scheint sich der Begriff des Palimpsests, von dem bislang eher implizit die Rede war, in der Tat als ein operatives Denkmodell anzubieten. Dies zumal, wenn man seine in kultur- und literaturtheoretischen Diskursen bereits mannigfaltig fruchtbar gemachte Anwendung in Betracht zieht.17 Dabei zeigt sich, daß dem Begriff ungeachtet seiner angestammten Provenienz aus der Paläographie für dieses Vorhaben im besonderen Maß zugute kommt, daß er seit alters eine facettenreiche metaphorische Bedeutungsaufladung erfährt. Wie man weiß, bedeutet der Begriff im ursprünglichsten, literalen Sinn ›wieder abgekratzt‹ (gr. palímpsestos) und bezeichnet eine Kulturtechnik frühen Recyclings, bei der bereits beschriebene Trägermaterialien wie Papyrus oder Pergament abgeschabt, abgekratzt oder anderweitig, etwa mit Tinkturen, behandelt wurden, um eine Überschreibung der alten durch neue Texte zu ermöglichen. Die Motivation lag im Wiedergebrauch des kostbaren Materials wie auch in der Notwendigkeit des Rekodifizierens von nicht mehr Gültigem in Recht und Kult, Liturgie und Brauchtum. Dabei begegnet von Anbeginn das Phänomen, daß die getilgte Schrift entweder nach geraumer Zeit selbst wieder zum Vorschein gelangt oder daß ihre vormalige Existenz in Restbeständen, in Schriftspuren, in Rasuren etc. erkennbar bleibt.18 Diese spezifische Struktur einer zumeist mehrfachen Schichtung und Verdrängung, Überlagerung und wechselseitigen Durchdringung, die sich weniger als Abfolge denn als materielle Koexistenz bzw. strukturelle Kohärenz bekundet, hat den Begriff des Palimpsests bereits in der Antike zu einem metaphorischen Gebrauch prädestiniert. So etwa bei Plutarch, dem er zur Beschreibung der komplexen Interrelation zwischen dem wandelbaren Äußeren eines Menschen und seiner dahinter nie gänzlich tilgbaren Natur dient.19 Bereits hier offenbart sich der Begriff 17 Eine umfassende Begriffs- und Bedeutungsgeschichte zum Palimpsest steht noch aus; der Terminus wird weder im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, noch in den Ästhetischen Grundbegriffen, noch im Historischen Wörterbuch der Philosophie geführt. Vgl. neben der in nachfolgenden Anmerkungen genannten Literatur v.a. Claus Uhlig: Palimpsest. In: ders.: Theorie der Literarhistorie. Prinzipien und Paradigmen (Heidelberg 1982) 87–99; Meinhard Winkgens: Palimpsest. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning (2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001) 488 f. 18 Vgl. Wilhelm Wattenbach: Palimpseste. In: ders.: Das Schriftwesen im Mittelalter (4. unverä. Aufl. d. 3., verm. Aufl. von 1896, Graz 1958) 299–317; Herbert Hunger / Otto Stegmüller u. a.: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Bd. 1 (Zürich 1961) 37 f., 366 f., 369 f.; Gerhard Karpp: Palimpsest. In: Lexikon des Mittelalters, hg. von R.-H. Bautier /R. Auty / N. Angermann. Bd. 6 (München u.a. 1993) 1641–1642. 19 Plutarch berichtet, Platon habe den Tyrannen Dionysios von Syrakus mit einem Palim-

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in seiner Bedeutung als ein »dynamisches, zweipoliges Vorstellungsgeflecht«20 von Identität und Differenz und in seinem Doppelaspekt, der die Objektseite ebenso wie die Subjektseite umfaßt, sich also auf den Gegenstand wie auf seine Wahrnehmung und Erfahrbarkeit bezieht. In dieser metaphorischen Dimension gelangt der Begriff späterhin zu vielfacher Verwendung im Bereich der Geschichts- und Kulturtheorie, aber auch in den unterschiedlichen Theorien und Konzepten vom Bewußtseinsaufbau des Menschen, d. h. im Bereich der Universalgeschichte wie auch der Individualgeschichte.21 Dies geschieht in besonderer Weise immer dann, wenn es darum geht, die Wirklichkeit (der Außen- oder der Innenwelt, der Objekt- oder der Subjektseite) als transitorisch konstituierte, prozeßhaft geformte Ordnung von Seinsschichten bzw. als Schichtung von Erfahrungswelten und semiotischen Formationen zu beschreiben. Schon Thomas Carlyle,22 Thomas De Quincey 23 oder Charles Baudelaire 24 deuten das menschliche Gehirn im expliziten Rekurs auf den Palimpsest-Begriff als eine fortwährende Überlagerung von Ideen, Bildern und Gefühlen, als »endless strata […] not as a succession, but as parts of a coexistence«.25 Ähnlich entwickelt später Sigmund Freud seine Vorstellung vom »Wunderblock«, in dem er ein Analogon zum menschlichen Wahrnehmungsapparat als einer dynamischen Struktur der Erfahrungsbildung, Erfahrungsspeicherung und Erfahrungssedimentierung erkennt.26 Im Horizont dieses metaphorisierenden Gebrauchs gelangt der Begriff als Denkmodell in der Folge auch in Felder der Mentalitätsgeschichte und Zivilisationstheorie, wo er etwa dazu dient, den fortgesetzten Überschreibungsprozeß von Kultur über Natur als eine dynamisch strukturierte Kohärenz zu kennzeichnen.27 psest verglichen, da er trotz aller philosophischen Äußerlichkeiten immer wieder den alten Menschen, d. h. seine »nicht abwaschbare« (gr. düsékplütos) Natur durchblicken ließ (Moralia, 504d; 779c); vgl. Wilhelm Wattenbach: ebd. 301. 20 M. Winkgens: Palimpsest, a. a. O. [Anm. 17] 489. 21 Vgl. bes. C. Uhlig: Palimpsest, a. a. O. [Anm. 17]. 22 Thomas Carlyle: On History [1830]. Works, 18 Bde. (London 1904/1905) Bd. 5, 500–507. 23 Thomas De Quincey: The Palimpsest of the Human Brain [1845]. Collected Writings, ed. by David Masson. 14 Bde. (Edinburgh 1889/1890) Bd. 13, 340–349. 24 Charles Baudelaire: Les Paradis artificiels: Opium et haschisch (Paris 1860); vgl. Christine Buci-Glucksmann: La folie du voir. De l’esthétique baroque (Paris 1986) 197 ff. sowie Karlheinz Stierle: Rhetorik und Poetik der Metapher. In: ders.: Ästhetische Rationalität, Kunstwerk und Werkbegriff (München 1997) 224–233, hier 230 ff. zur »Poetik der Erinnerung als Palimpsest« in Les Fleurs du Mal. 25 Thomas De Quincey: The Palimpsest, a. a. O. [Anm. 23] 346, 348. 26 Sigmund Freud: Notiz über den Wunderblock [1925]. In: ders.: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Bd. 3 (Frankfurt a. M. 1975) 363–369. Als »Wunderblock« bezeichnet Freud einen auch heute bisweilen noch als Schreibgerät benutzten wachsbeschichteten Block, auf dem frühere Schriftversionen zwar gelöscht werden, ihre einmal eingeprägten Spuren aber weiterhin vorhanden sind. 27 M. Winkgens: Natur als Palimpsest. Der eingeschriebene Subtext in Charles Dickens ›David Copperfield‹. In: Das Natur/Kultur-Paradigma in der englischsprachigen Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Konrad Groß / Kurt Müller / M. Winkgens (Tübingen 1994) 35–61.

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Nicht zuletzt wird er im späteren 20. Jahrhundert verstärkt in der Literaturwissenschaft aufgegriffen und dort für die Theorie literarischer Historizität und für Modelle der Einflußgeschichte fruchtbar gemacht. In bewußter Absetzung von der angestammten rhetorischen Begrifflichkeit bzw. von den damit bezeichneten Verfahren (interpretatio, imitatio, aemulatio etc.)28 greift ihn v. a. die Intertextualitätsforschung auf. Am exponiertesten geschieht dies bei Gérard Genette, der den Palimpsest-Begriff geradezu in den Rang einer Leitmetapher erhebt, welche die semantische Koppelung verschiedener Textschichten und damit überhaupt eine elementare Charakteristik von Textualität respektive Literarizität beschreibt.29 ›Text‹ wird dabei verstanden als ein selbstreferentielles System, das aus der Rückbezüglichkeit auf die eigenen Produktionsbedingungen und aus der Abgehobenheit von der Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, einen eigenen theoretischen Status gewinnt und somit Literatur immer bereits als Metaliteratur fassen läßt. In der Kunstgeschichte kam der Palimpsest-Begriff, abgesehen von seiner paläographisch definierten Engführung in kodikologischen Untersuchungen, bislang nur höchst sporadisch und ohne systematischen Anspruch zur Anwendung, und dies zumeist im Rahmen produktionstechnischer Studien, etwa zur Praxis mehrfacher Überarbeitungen in der mittelalterlichen Wandmalerei30 oder zum Werkprozeß bei Künstlern wie Michelangelo oder Caspar David Friedrich. 31 28 Vgl. dazu etwa Barbara Bauer: Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hg. von Wilhelm Kühlmann / Wolfgang Neuber (Bern u. a. 1994) 31–61, hier 36 ff., bes. 40 f. 29 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Frankfurt a. M. 1993) (frz. 1982). 30 Ein prominentes, vielfach untersuchtes Beispiel bietet etwa die sogenannte ›Palimpsestwand‹ in S. Maria Antiqua in Rom, die seit dem 7. Jahrhundert wiederholt übermalt wurde, so daß sich in den erhaltenen Schichtenfragmenten das ganze Repertoire stilistischer, aber auch ikonographischer Traditionserneuerung vom 6. bis zum 9. Jahrhundert in der römischen Malerei bezeugt; vgl. dazu Ernst Kitzinger: Byzantinische Kunst im Werden. Stilentwicklungen in der Mittelmeerkunst vom 3. bis zum 7. Jahrhundert (Köln 1984) 227 ff. Zu analogen Überarbeitungspraktiken bereits in der Antike vgl. Hans Jucker: Julisch-Claudische Kaiser- und Prinzenporträts als ›Palimpseste‹. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 96 (1981) 236–316. 31 John T. Paoletti: The Rondanini Pietá: Ambiguity Maintained Through the Palimpsest. In: Artibus et historiae. Rivista internazionale di arti visive e cinema 42 (2000) H. 21, 53–80; Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion (München 2003) 59 ff. Ansätze einer theoretischen Nutzbarmachung des Begriffs als einer interpretativ fundierten Kategorie für die vormoderne Kunst sind bislang Ausnahmen; so etwa Gerals Finley: J. M. W. Turners’ ›Rome from the Vatican‹: A Palimpsest of History? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986) 55–72, der Turners Rom-Gemälde in Hinblick auf »the picture’s underlying discursive patterns of meaning« (60) untersucht und es als ein »Palimpsest of History« beschreibt; oder unlängst Thomas Hensel: Bildersturm und Landschaft. Ikonoklastische Impulse ›autonomer‹ Landschaftsdarstellungen in der Frühen Neuzeit. In: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500, hg. von Norbert Nußbaum / Stephan Hoppe / Claudia Euskirchen (Köln 2003) 390–423, der Albert Altdorfers Landschaft als Palimpsest analysiert und historisiert, im Sinn eines der Bildstruktur eingeschriebenen Aufeinandertreffens unterschiedlicher Paradigmen visueller Repräsentation.

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In seinem konzeptuellen Wert als theoretisches Denkmodell wird er freilich erst in Hinblick auf Struktur und Wirkung intermedialer Verfahren in der Postmoderne verwendet, doch auch hier bleibt sein Gebrauch bisher höchst vereinzelt und ohne systematische Verbindlichkeit. In einem einflußreich gewordenen Essay von 1980 spricht etwa Craig Owens in bezug auf das »allegorische Verfahren« der Postmoderne, jeden Text durch einen anderen, jedes Bild durch ein anderes sprechen zu lassen, vom Palimpsest als dem maßgeblichen Paradigma.32 Ähnlich definiert Douglas Crimp das nachmoderne Bild im kategorialen Sinn als eine Überlagerung von »Schichten der Repräsentation«,33 um in einem späteren Beitrag die künstlerische Praxis der Aneignung (»appropriation«) sowohl als kritisches wie auch als affirmatives, regressives Verfahren im Kunstdiskurs der Postmoderne auszudifferenzieren.34 Ob der angeeignete und anverwandelte ›Prätext‹, das ›Bild‹ unter dem ›Bild‹, dabei aus dem Bereich der kunstgeschichtlichen Tradition, aus demjenigen der Werbung und der Medien, oder aber aus der Natur stammt, erscheint nur zweitrangig von Bedeutung gegenüber der vorrangigen Maßgabe der ins Werk gesetzten Diskontinuität selbst. In diesem Sinn bestimmt auch Rosalind Krauss in einem jüngeren Beitrag über Raymond Pettibon und vor allem über William Kentridge die Durchdringung und wechselseitige Affektation einerseits von graphischen Verfahren (d. h. des Handgemachten, des ›Autographischen‹) und andererseits mechanisierter Verfahren der Bilderzeugung (Film, Foto) als Palimpsest.35 Noch vor diesen sporadischen Rückgriffen auf den Palimpsest-Begriff begegnet dessen Anwendung bereits bei Roland Barthes.36 Seine Überlegungen sind vor allem deshalb vorausweisend und von systematischem Wert, weil er die Vorstellung von einer Schichtung des Bildes in einem kategorialen Sinn nicht auf dessen materielle, sondern auf seine mediale Struktur bezieht, die inhärente Diskontinuität also nicht in der materiellen Konsistenz und Werkbeschaffenheit, sondern in der im Werk vermittelten Koexistenz heterogener Vorstellungen und Referenzen, Sinnbezüge und Imaginarien verortet. Barthes versucht mit dem Begriff des Palimpsests die spezifische, eigentümliche Bildlichkeit von Filmstills bzw. Standphotos zu erklären, die bekanntlich darin besteht, daß sie sich im Unterschied zu 32 Craig Owens: The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism (Part 1 u. 2). In: October. Art, theory, criticism, politics 12 (1980) 67–86 u. 13 (1980) 58–80. 33 Douglas Crimp: Pictures. In: Art After Modernism. Rethinking Representation, ed. by Brian Wallis (New York 1984) 175–187, 186 (zuerst in: October. Art, theory, criticism, politics 8 (1979) 75–88): »Those processes of quotation, excerption, framing, and staging that constitute the strategies of the work […] necessitate uncovering strata of representation […]: underneath each picture there is always another picture.« 34 D. Crimp: Über die Ruinen des Museums [engl. 1993] (Dresden, Basel 1996). 35 Rosalind Krauss: ›The Rock‹. William Kentridge’s Drawings for Projection. In: October. Art, theory, criticism, politics 92 (2000) 3–35. 36 Roland Barthes: Der dritte Sinn. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III (Frankfurt a. M 1990) 47–66. Barthes’ Beitrag erschien zuerst 1970 in Cahiers du cinéma.

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extrapolierten und vergrößerten Einzelbildern von der Rolle des Filmnegativs, also den Action Stills, nicht als authentische ›Abbilder‹ eines Filmes definieren, sondern vielmehr als von einem eigens dafür engagierten Fotografen in gesonderter, nachträglicher Prozedur neu aufgenommene Bilder (vgl. Abb. 8 u. 9). Stand-

Abb. 8 Francois Truffaut, Die Braut trug Schwarz: Action Still, 1967, Fotografie

photos oder Filmstills sind also »inszenierte fotografische Bilder, definiert durch ihren öffentlichen Gebrauch, viel näher dem ebenfalls theatralischerstarrten ›Tableau Vivant‹ als dem Abb. 9 Francois Truffaut, Die Braut trug Schwarz: Film Still, 1967, Fotografie Schnappschuß bei den Dreharbei37 ten.« Die Verschiedenheit der Standphotos von reinen Film-Abbildern macht sie, wenn man so will, zu Bildern einer zweiten Ordnung, zu Bildern über Bilder. In der Kenntlichkeit des Gestellten, der Pose, der Verkleidung, des Make up, kurz: des ›Unechten‹, das den Standphotos eignet, begründet sich das, was Barthes den »Dritten Sinn« genannt hat, einen Sinn, der jenseits einer auf die erzählte Geschichte des Films und seiner Gegenstandswelt bezogenen Semantik liegt. Diese doppelte Ordnung, den Umstand, daß der Schauspieler im Standphoto sich selbst als Schauspieler des Films nachstellt, beschreibt Barthes als »eine Schichtung von Sinn, die den vorhergehenden Sinn immer bestehen läßt, wie in einer geologischen Konstruktion […]. Film und Standphoto«, so Barthes, »stehen in einer Palimpsestbeziehung, ohne daß man sagen

37 Alois Martin Müller: Vorbilder und Nachbilder In: Film Stills. Emotions Made in Hollywood, hg. von Annemarie Hürlimann / Alois Martin Müller (Zürich 1993) 15–17, hier 15 f. Zur Theorie des Standfotos vgl. zuletzt v. a. K. Bruogher: Hall of Mirrors. In: Art and Film Since 1945: Hall of Mirrors, ed. by Russell Ferguson (Los Angeles, New York 1996) 138–187, hier 112 ff.; Winfried Pauleit: Einzeleinstellungen, Film Stills und ›Untitled Film Stills‹ in der bildenden Kunst. In: FFK 9: Dokumentation des 9. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums an der Bauhaus-Universität Weimar, Oktober 1996, hg. von Britta Neitzel (Weimar 1997) 289–302; DERS .: Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino (Frankfurt a. M., Basel 2004), dort 135 ff. zu Barthes.

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könnte, daß das eine über dem anderen liegt oder das eine dem anderen entnommen ist.«38 Der bei den Stills beinahe obligatorisch ins Off gerichtete Blick weist auf eine Geschichte, auf ein Vorher und Danach der filmischen Erzählung, der das Still allererst entspringt und die doch nur implizit bzw. fragmentiert in ihm zur Erscheinung gelangt, während sich im selben Zug ein anderer Sinn des Sich-in-Szene-Setzens vor der Kamera des Fotografen in ihm entfaltet. Barthes’ Anwendung des Palimpsestbegriffs auf das Bild ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Zum einen, weil er mit der Fotografie bzw. dem Film Beispiele aus dem Feld der technisch generierten ›Neuen Medien‹ wählt. Zum anderen, weil er in impliziter Abkehr von einem statisch bestimmten Bildverständnis bildliches Bedeuten als Prozeß begreift, als ästhetisches Ereignis, das sich dynamisch durch Verdrängung, Austausch, Überlagerung von Bedeutungen entfaltet. Und schließlich, weil er diesem Prozeß bildlichen Bedeutens, obschon er auf Erfahrungskategorien beruht und Erlebnisgehalte generiert, die jenseits von Begriffen und Begriffsbildung angesiedelt sind, eine eigene theoretische Dimension und ein genuines Potential der Sinnreflexion zumißt. Eben weil es Barthes darum geht, die Formationsregeln und Strukturen bildlicher Sinnproduktion in ihrer Alterität zu rhetorischen Nomenklaturen und zu begriffstheoretischen Denksystemen zu konturieren, bedient er sich mit dem Palimpsestmodell einer interpretativen Kategorie, die kraft ihrer metaphorischen Aufladung bereits selbst, um mit Hans Blumenberg zu sprechen, ein »Artikulationsmittel des Unbegreifens und Vorbegreifens« darstellt,39 also auch ihrerseits nicht in die ›eigentliche Rede‹ von Begrifflichkeiten übersetzbar ist, zumindest nicht ohne Reduktion ihres interpretativen Potentials. Bemerkenswert ist Barthes’ Analyse nicht zuletzt auch deshalb, weil sie in besonderer Weise auf Aspekte abhebt, die in der Folgezeit im Diskurs künstlerischer Bilderzeugung, etwa in der Appropriation Art, einen zunehmenden Stellenwert erhalten sollten. Bei Cindy Sherman und ihren seit 1977 entstehenden Untitled Film Stills etwa potenziert sich die beschriebene Schichtung tendenziell in eine nicht mehr absehbare Staffelung von Resonanzen, Interferenzen und Projektionen (Abb. 10 u. 11).40 Die Fotos adaptieren die besagte Verweis- und Palimpseststruktur, ohne daß es noch das Dahinter eines wirklichen, konkreten Filmes gäbe. Sie

R. Barthes: Der dritte Sinn, a. a. O. [Anm. 36] 54, 66. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale. Zeitschrift für interdisziplinäre Studien 10 (1957) 432–447, hier 432. Vgl. ferner zum betreffenden Projekt einer Metapherngeschichte als Möglichkeit zur Strukturierung der Welterschließung jenseits von Begriffsbildung: DERS .: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960) 7–142 u. 301–305; DERS.: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (Frankfurt a. M. 1979) 75–93; DERS.: Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt a. M. 1986). 40 Artur C. Danto: Photographie und Performance: Die Stills der Cindy Sherman. In: Cindy Sherman: Untitled Film Stills (München 1990) 5–15; Cindy Sherman. 1975–1993. Mit Texten von Rosalind Krauss / Norman Bryson (München 1993). 38

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Abb. 11 Cindy Sherman, Untitled Film Still Nr. 52, 1979, Fotogafie

sind Bilder von Film Stills, ohne tatsächlich Film Stills zu sein, worauf im übrigen auch die paradoxe Titelgebung Untiteld Film Still verweist.41 Als fotografisch inszenierte Einbildungen von Filmbildern tragen sie gleichwohl Abb. 10 Cindy Sherman, Untitled Film Still Nr. 16, 1978, Fotografie durchaus spezifizierte und individualisierbare Spuren ihres Referenzmedi42 ums, des Films, in sich, wobei sich aus dem ganzen Repertoire der einzelnen, von Film Still zu Film Still jeweils unterschiedlich konstituierten Bezüge wiederum ein Binnengefüge an Interferenzen innerhalb der Serie ergibt. Wie Jörg Huber treffend formuliert hat, geht es bei dieser komplexen rekursiven Strategie »nicht mehr um die dem Medium eigene Differenz von Realität und medialer Reproduktion, sondern um die Künstlichkeit der ›Realität‹, die dem fotografischen Bild zugrunde liegt: Die fotografierte Realität ist hier immer eine medial vermittelte, ein Surrogat, das auf Inszenierung beruht [...]. Was die Fotografie vermittelt, ist nur in bezug auf diese von Bedeutung, und sie verweist denn auch einzig auf sich selbst. Die Inszenierung der menschlichen Figuren richtet sich nicht nur auf das, was sie darstellen, sondern wie sie es tun, auf ihr ›Erscheinen‹ im Bild [...].«43 Die in den Untitled Film Stills vollzogene Nachbildung von Nachbildern (also der Gattung der tatsächlichen Stills) bedeutet demzufolge nicht deren Reproduktion, sondern ihre metareflexive Aneignung und die Problematisierung, besser gesagt: die Dekonstruktion ihres Systems der Repräsentation. Shermans Film Stills sind Signifikanten ohne Signifikat, Standbilder ohne Film, denn das eigentlich maßgebliche Signifikat sind sie selbst, Standbilder als Standbilder. Als solche aber

41 Dazu neuerdings Tobias Vogt: Untitled. Benennung von Kunst in New York 1940–1970 (Diss. phil., Freie Universität Berlin 2004). 42 Vgl. dazu jüngst v. a. W. Pauleit: Filmstandbilder, a. a. O. [Anm. 37] 255 ff. 43 Jörg Huber: The Big Sleep und das Erwachen. Standbild und ›staged photography‹: Aspekte gestellter Fotografie. In: Film Stills, a. a. O. [Anm. 37] 61 f., hier 62.

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evozieren sie gleichwohl eine Lektüre als Rekonstruktion des entschwundenen, abwesenden Signifikats, des Films eben, den es nicht gibt. Der Blick ins Off kündet je von Suche oder Erwartung, von Begehren, Hoffen oder Verzweifeln und damit immer neu von der Konstruktion des Ich (des weiblichen Ich) durch den Blick des anderen. In dieser weiterreichenden Bedeutung wird hier, wie Sigrid Schade es ausgedrückt hat, in der Tat »das Bildermachen selbst inszeniert«, nämlich im Sinn von Sich-ein-Bild-machen, von unterschiedlich wertbesetzten Projektionen und weiblichen Rollenentwürfen.44 Der spezifische Einsatz technischer Mittel, wie etwa einseitige Fokussierungen, absichtsvolle Unschärfen, mitunter grobe Körnungen, aber auch die bestimmte Wahl von Ausschnitt, Perspektive, Nah- oder Fernsicht usw. bringen dabei zur Einsicht, daß unser Blick allererst immer von den Bildern selbst geprägt ist. Sei es, daß wir etwa bei Untitled Film Still Nr. 16 von 1978 (Abb. 10) die Pose der weiblichen Selbstbestimmtheit, wie sie durch den frontal und von unten angelegten Aufnahmewinkel suggeriert wird, in einem unausgesprochenen Spannungsbezug zu dem darüber wachenden Photo des Mannes an der Wand (ihres Gatten? ihres Vaters?) wahrnehmen, daß wir unmerklich auch die Fügung der Frau in strenge, ihr scheinbar auferlegte Bezüge von Vertikalen und Horizontalen empfinden, und daß sich hinter alledem unsere Assoziationen auf Filmrollen etwa von Bette Davis richten; oder sei es, daß wir bei Nr. 52 von 1979 (Abb. 11) angesichts des delikaten Szenarios mit zwei blumenübersäten Kissen und den in reinem Weiß ausgebreiteten Stoffen über das offenkundige Assoziationsfeld von Begehren und Unerfülltheit, Erotik und Reinheit etc. medienproduzierte Idealbilder von der Art einer Elizabeth Taylor imaginieren (Abb. 12). Stets sind es ›Bilder‹ und ›Projektionen‹, die jene Leerstelle zu besetzen suchen, die sich aus dem abwesenden Signifikat ergibt. Dabei wird, wie Abb. 12 Clarence Sinclair Bull, Film Still mit Elizabeth man weiß, vieles akut, was innerhalb Taylor in Richard Brooks ›Cat on a Hot Tin Roof‹ (Die der kulturellen und gesellschaftliKatze auf dem heißen Blechdach), 1958, Fotografie

44 Sigrid Schade: Cindy Sherman oder die Kunst der Verkleidung. In: Weiblichkeit in der Moderne. Ansätze feministischer Vernunftkritik, hg. von Judith Conrad / Ursula Konnertz (Tübingen 1986) 229–241, hier 239.

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chen Matrix von Geschlechterbildern an Typisierungen, an codierten Rollen und an Mustern von Weiblichkeit gespeichert und sedimentiert ist.45 Die Gattung der Film Stills kann die diskursive Dimension, die dem Palimpsestmodell als interpretativer Kategorie gerade in Hinblick auf bildliche Dispositive der Postmoderne und der ›Neuen Medien‹ innewohnt, anschaulich beleuchten. Doch bietet sie nur ein Beispiel unter vielen. Wie nachhaltig der Gedanke vom Bild als einem Palimpsest – im Sinne einer in der Darstellung konkretisierten Schichtung, Verflechtung und Durchdringung sei es zeitlich divergenter oder auch synchroner und nicht nur technisch, sondern auch und gerade kategorial unterschiedlich definierter Bilder – in der Praxis und in der Selbstreflexion der zeitgenössischen Kunst tatsächlich verankert ist, ließe sich vielfach belegen. »Ich trage Schicht auf Schicht auf, bis das Bild fast darunter zusammenbricht«, so beschreibt etwa Vija Celmins ihre Prozedur des Anhäufens von teilweise bis zu zwanzig Schichten desselben Bildes übereinander.46 Dies ist nichts anderes als die im Werkprozeß selbst konkretisierte Einsicht in die Unverfügbarkeit des Originals, das stets nur als ›Bild‹ und immer neu nur als Oberfläche ins Auge zu fassen ist. Dem entspricht die von ihr bevorzugte Motivwahl. T.V. von 1964 (Abb. 13) bietet das Bild eines Fernsehbildes von einem in dieser bildlichen Vermittlung unabmeßbar fernen, unfaßlich gewordenen Geschehnis einer am Himmel sich vollziehenden Flugzeugexplosion. Der thematischen Auslöschung des Gegenstandes korrespondiert hier der Status des Uneigentlichen, den er durch die medial gestaffelte Darbietung als Bild eines Bildes gewinnt. Auch in Moon Surface von 1971/1972 (Abb. 14) bezeugt sich das systematisch betriebene Verfah-

Abb. 13 Vija Celmins, T.V., 1964

Abb. 14 Vija Celmins, Moon Surface, 1971–1972, Graphitzeichnung

ren einer mehrfachen Transkription von Bildern: Es handelt sich um die Graphitzeichnung nach einem Foto, das seinerseits eine Vielzahl einzelner Fotos wieder45 Vgl. auch Doris Kolesch: Zur Theatralität nicht-theatraler Bilder. Überlegungen zu den Photographien von Cindy Sherman. In: Kulturen des Performativen, hg. von Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch (Berlin 1998) 179–195. 46 Vija Celmins: Interview mit Jeanne Siverthorne. In: Parkett. The Parkett series with contemporary artists 44 (1995) 44–47, hier 45.

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gibt, die rasterartig aneinandergelegt und so zu einer großen Fläche, zu einem ›Hyperbild‹ gefügt wurden. Auf diesem figuriert in seinen fotografisch parzellierten Einzelsegmenten die Oberfläche des Mondes, der sich als ebenso fern wie in seiner ganzen Flächenerstreckung als niemals vollständig überschaubar erweist, und dessen Wirklichkeit auf diese Weise einen bildhaft-opaken, erneut auch hier uneigentlichen Zustand annimmt. Analoges gilt auch für Galaxy von 1973 (Abb. 15), das die unendliche Tiefendimension des Weltraumes als ›Rück-Bildung‹ in ein opakes Streumuster von funkelnden Lichtpunkten konAbb. 15 Vija Celmins, Galaxy I (Coma Bernices), 1973, Graphit mit Acrylgrund auf Papier struiert, oder etwa für Web von 1992 (Abb. 16), das in seinem Bildmotiv autoreflexiv das Widerspiel von Gewebe und Transparenz, aber auch von Bild und Natur thematisiert und damit nicht nur erneut die Schichtung von Fiktion und Faktizität pointiert, sondern diesen Diskurs auch in der materiellen Faktur der Darstellung konkretisiert, insofern sich diese in übereinandergelagerten Schichten von Ölmalerei auf einer gleich einem Netz aus Abb. 16 Vija Celmins, Web, 1992, Öl auf Leinwand Fäden geflochtenen Leinwand aufbaut.47 »Eine meiner Hauptstrategien ist es gewesen«, so beschreibt in verwandter Perspektive Sherrie Levine ihre metareflexiven Darstellungsabsichten, »ein Bild über ein anderes zu legen, in der Hoffnung, einen interessanten Abstand zwischen

47 Vgl. u. a. Sheena Wagstaff: Vija Celmins. In: Parkett. The Parkett series with contemporary artists 32 (1992) 12–19; James Lingwood: Tatsachenbilder. In: Vija Celmins, hg. von James Lingwood, dte. Red. von Dieter Schwarz (Ausst. Kat. Kunstmuseum Winterthur 1996 u. Museum für Moderne Kunst Frankfurt a. M. 1997) (Köln 1996) 22–27.

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Abb. 17 Sherrie Levine, After Walker Evans: 4, 1981, Fotografie

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Abb. 18 Walker Evans, Hale County, 1936, aus: Let Us Now Praise Famous Men, 1941, Fotografie

dem Original und dem neuen Bild zu erlangen. Dieses allegorische Verfahren scheint mir eine gute Methode zu sein, ein Modell historischer Bewegung, eine Art Geschichte der Einflußnahme hervorzubringen.«48 Das berühmte After Walker Evans von 1981 (Abb. 17) ist ein fotografisches Duplikat nach dem Werk des bekannten Fotografen, das 1936 bzw. 1941 entstand (Abb. 18). Es irritiert eine Aufmerksamkeitsform, die auf die Identität des Werkes als eines Originals und näherhin auf das Medium des Fotos als der authentischen Bezeugung einer zwar aktuell nicht mehr einholbaren, doch einst tatsächlich so gewesenen Präsenz gerichtet ist.49 Es ist ein Bild ›über‹ dem Bild, bei dessen Betrachtung sich die unlösbare Aporie ergibt, ob sich in ihm die Präsenz der dargestellten Person oder die Präsenz des sie darstellenden Fotos bezeugt. Wird also das durch Vervielfältigung beliebig wiederholbare Foto, das seine Singularität erst eigentlich aus seiner musealen Institutionalisierung bezieht, hier in seiner semiotischen Identität problematisiert, so wird doch zugleich auch der Umstand fokussiert, daß ihm sein kontextueller Bedingungsrahmen, sein Ort im ›Betriebssystem Kunst‹,50 als signifikante Matrix eingeschrieben ist und seiner Struktur einer heterogenen Schichten48 Sherrie Levine: Born Again In: Original. Symposium Salzburger Kunstverein, Red. von Silvia Eiblmayr (Osterfildern 1995) 121–124, 123. 49 Vgl. Erich Franz: Entzogene Gegenwart. In: Parkett. The Parkett series with contemporary artists 32 (1992) 88–94. Barthes spricht vom regelrechten »Sinngehalt des ›Es-ist-so-gewesen‹« des Fotos, vgl. R. Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (Frankfurt a. M. 1989) 90. 50 Betriebssystem Kunst – Kunst (Themenheft). In: Kunstforum International 125 (1994).

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Abb. 19 Sherrie Levine, Untitled, 1978, Fotografie

ordnung in substantieller Weise zugehört. Mit einem analogen, doch auf ein anderes Feld der Konstruktion gesellschaftlich und kulturell wirksamer Imaginarien gerichteten Darstellungsinteresse bedient sich Levine in Untitled von 1978 (Abb. 19) des Fotos einer Mutter mit Kind aus einer Modezeitschrift. Indem sie es als Silhouette des Profils von Präsident John F. Kennedy ausschneidet, konfrontiert sie zwei Bilder von unterschiedlicher visueller Konsistenz, die ihre Bedeutung nicht aus sich selbst erhalten, sondern jeweils ›durch‹ das andere ›hindurch‹, also in ihrer heterogenen Fügung gelesen werden müssen.51

Abb. 20 Giulio Paolini, Giovane che guarda Lorenzo Lotto, 1967, Fotoleinwand, 30 x 24 cm, Sammlung FER

Abb. 21 Lorenzo Lotto, Bildnis eines jungen Mannes, ca. 1505, Öl auf Holz, 28 x 22 cm, Florenz, Uffizien

Levines After Walker Evans (Abb. 17) problematisiert die Referentialität des Fotos als eines Mediums der Reproduktion und zugleich seine museale Kontextualisierung als eines nicht substituierbaren Originals. Bei einem Werk Giulio Pa51

Vgl. D. Crimp: Pictures, a. a. O. [Anm. 33] 185 ff.

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olinis von 1967, das Levines künstlerischem Verfahren prima vista verwandt erscheint, liegen die Sinnabsichten anders (Abb. 20).52 Es handelt sich um eine Fotoreproduktion auf Leinwand nach einem Original von Lorenzo Lotto, dem Bildnis eines jungen Mannes in den Uffizien von ca. 1505 (Abb. 21).53 Beide Werke besitzen nahezu gleiche Maße. Paolini wählte für seine Kopie einen neuen Titel, der die Betrachtung des Bildnisses in eine kaum lösbare Sinnverwirrung führt: Giovane che guarda Lorenzo Lotto – Jüngling, der Lorenzo Lotto betrachtet. Der Betrachter sieht sich hier beim Akt der Betrachtung in den Autor des Bildes, Lorenzo Lotto, transformiert, so daß der Vorgang des Betrachtens in eine paradoxe Analogie zur Hervorbringung des Betrachteten gerät, während gleichzeitig als der eigentliche Protagonist der Betrachtung durch den Bildtitel der Betrachtete selbst ausgewiesen wird: Giovane che guarda, und im gleichen Zug der Betrachter vor dem Bild als Gegenstand der Betrachtung durch diese Bildperson. Damit wird eine mehrfache Sinnverschränkung angelegt: zum einen die Vorstellung von der Präsenz und authentischen Gegenwart des Porträtierten in seinem Bildnis, das gleichwohl nur dessen Reproduktion bzw. Substitut ist; zum anderen die Vorstellung von der extern vollzogenen Betrachtung als eigentlicher Werkkonstitution: Erst im betrachtenden Gegenüber vermag sich die Funktion der bildlichen Vergegenwärtigung zu erfüllen; und schließlich die Vorstellung vom Prozeß der Subjektkonstitution durch die ästhetische Erfahrung im Angesicht des Werkes. Im Spiel mit dem reziproken Blickaustausch bündelt sich hier also eine Reflexion über den Zusammenhang von Bild und Abbild, Bild und Wahrnehmung, Bild und Imagination. Wiederum andere Bildabsichten bestimmen ein Gemälde des englischen Malers Victor Pasmore von 1938/1939 (Abb. 22).54 Es zeigt, nahezu in Originalgröße, eine Nachschöpfung nach Abb. 22 Victore Pasmore, Die Spitzenklöpplerin (nach Vermeer), 1938-39, engl. Privatbesitz Jan Vermeers Spitzenklöpplerin 52 Giulio Paolini. Ausstellungskatalog der Staatsgalerie Stuttgart 1986, hg. von Gudrun Inboden. 4 Bde. (Stuttgart 1986), Bd. 2, S. 23 u. Bd. 4, Kat. 9. 53 L’opera completa di Lorenzo Lotto, a cura di Rodolfo Pallucchini, app. critici e filologici di Giordana Mariani Canova (Mailand 1975) 89, Kat. 17. 54 Christiane Hertel: Vermeer. Reception and Interpretation (Cambridge 1996) 2 f.

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im Louvre (Abb. 23). Pasmore setzt sich dabei weniger mit dem gegenständlichen Motiv des Bildes, als vielmehr mit der Weise seiner Darstellung, weniger mit dem Was als vielmehr mit dem Wie des Bildes auseinander. Vermeers Original operiert bekanntlich planvoll mit unterschiedlichen Schärfegraden der Darstellung. Es lenkt und reguliert damit den externen Blick und bündelt ihn zu einer Konzentration, die sich in der internen Blickkonzentration der Frau thematisiert und darin gleichsam gespiegelt findet. Der Darstellungsgegenstand konvergiert hier also tenAbb. 23 Jan Vermeer, Die Spitzenklöpplerin, ca. 1669-70, Öl auf Leinwand, Paris, Louvre denziell mit seiner externen Wahrnehmung durch den Betrachter.55 Pasmore legt über dieses Bildsystem nachgerade kontrafaktisch eine Schicht der malerischen Unschärfe und wendet die Darstellung, wenn man so will, damit entschieden ins Modernistische, indem er die Blickkonzentration vom gegenständlichen Sujet auf den materiellen Farbauftrag, auf malerische Flächenwerte als dem neuen, eigentlichen ›Gegenstand‹ des Bildes umlenkt und damit den künstlerischen Akt der Entgegenständlichung, treffender gesagt: der Abstraktion, als prozeßhaft sich ereignenden Abb. 24 Salvador Dalí, Paranoisch-Kritisches Gemälde der Spitzenklöpplerin von Vermeer, 1955, Vollzug im Gemälde selbst verankert. New York, Solomon R. Guggenheim Museum Vergleicht man Pasmores palimpsestartiges Vermeer-Gemälde mit einem durch dasselbe Bild Vermeers inspirierten Werk von Salvador Dalí, dem Paranoisch-Kritischen Gemälde der Spitzenklöpplerin von Vermeer (Abb. 24) aus dem Jahr 1955,56 so zeichnet sich deutlich ab, wie sehr die hier in Rede stehende bildliche Struktur eines heterogenen Vorstellungsgeflechtes im Diskursfeld diskre55 56

259.

Dazu bes. Daniel Arasse: L’Ambition de Vermeer (Paris 1993) 154 ff. Salvador Dalí: 1904–1989, hg. von Karin von Maur (4. rev. Aufl. Stuttgart 1989) 340, Kat.

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panter Positionen und Zielvorstellungen zu einer regelrechten Manifestationsform von künstlerisch heterogenen Ambitionen werden kann. Verfolgt Pasmore eine modernistische Programmatik, so setzt Dalí seine künstlerische Anverwandlung der Vermeerschen Vorlage ganz aus dem Anspruch einer sich als dezidiert subjektivistisch exponierenden Schaffensauffassung ins Werk. »Ich mußte«, so bekräftigte er später in outrierter Formulierung, »die Spitzenklöpplerin explodieren lassen in Form von Rhinozeroshörnern, den einzigen im Tierreich, die nach einer perfekten logarithmischen Spirale gebildet sind. Es ist die gleiche logarithmische Perfektion, die Vermeers Hand beim Malen seiner Spitzenklöpplerin führte«.57 Es versteht sich, daß sich die Reihe solcher und anderer Beispiele palimpsestartiger Bildverfahren gerade im Bereich der modernen bzw. postmodernen Kunst in unbegrenzter Vielfalt erweitern ließe, in einem prominent besetzten Spektrum, das von Gerhard Richter bis Jasper Johns, von Cy Twombly bis Arnulf Rainer, von Thomas Struth oder Lutz Dammbeck bis Robert Rauschenberg, Richard Prince und zahlreichen anderen mehr reicht. Vor dem Hintergrund dieser Sachlage wird klar, daß es bei der Anwendung des Palimpsest-Begriffs nicht um die Erstellung einer strengen Taxonomie gehen kann, ein Unterfangen, daß sich schon bei Genette als letztlich wenig fruchtbar erwiesen hat,58 sondern zunächst vor allem darum, Interpikturalität und Intermedialität substantieller in ihrer strukturellen Heterogenität zu erfassen. Wie zuvor bereits deutlich wurde, ist die ersichtliche Differenz im Zusammenfall, die Verflechtung uneinheitlicher Bestandteile nicht nur konstitutiv für die Transitorik oder Schwellenstruktur sowohl des Werkes (Objektseite) als auch seiner Erfahrbarkeit (Subjektseite) – in dieser Verschränkung kann vielmehr die eigentliche Bedingung der Bilderzeugung gesehen werden. Wie die Analyse derartiger Strukturen allerdings erweist, wird die manifeste Heterogenität der Schichten auch immer wieder vielfältig überspielt und die ersichtliche Differenz zugunsten einer neuen integrierten Gesamtwirkung des Werkes, einer neuen Totalität und Simultaneität seiner Bestandteile, verschoben. Es gilt also, das ästhetisch wirksame Potential an der Schnittstelle dieses Antagonismus zu beleuchten und das Palimpsest-Modell einerseits als ein konstruktives, verknüpfendes Verfahren zu konturieren, in dem sich Schicht über Schicht fügt, um aus deren Summe ein homogenes Gesamtbild zu erzeugen, während es sich andererseits als eine Struktur bekundet, bei der jeder dieser Schichten wesentlich die Auslöschung, Tilgung und Destruktion des jeweiligen Substrates immanent ist. Was vor diesem Hintergrund die Anwendung des Palimpsest-Begriffs als besonders lohnend und ertragreich erscheinen läßt, ist der Umstand, daß der zentrale Analyseansatz stets die konkrete, materielle Gegebenheit des Bildes, also der mi-

Zit. ebd. Vgl. z. B. die kritischen Bemerkungen bei Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Das Gespräch, hg. von Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik, 11) (München 1984) 139–150, 149 f. 57 58

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krostrukturelle Bereich des Werkes bleibt, das heißt, daß ästhetische Erfahrung in untrennbarer Weise in Hinblick auf die Materialität des Werkes begriffen wird. Darin liegt, wie es scheint, ein maßgeblicher Unterschied zu Genettes Unternehmung: Der Palimpsest-Begriff in kunst- bzw. bildwissenschaftlicher Perspektive ist aufgrund seiner metaphorischen Doppelnatur als Gegenstandsbegriff und als strukturtheoretische Kategorie geeignet, Schichtung, Überlagerung, Verflechtung allererst als konkrete Relationen sichtbar zu machen, Relationen, die sich materiellen Aneignungsverfahren als gegenwartsbezogenen Praktiken verdanken, um sie doch im selben Zug anhand der abstrakten Instanz ›Palimpsest‹ in Hinblick auf den Status des Bildes zu theoretisieren. Als weiterer Umstand kommt hinzu, daß die hohe Anschlußfähigkeit des Begriffs, etwa an aktuell diskutierte Fragen der Fragmentarisierung oder der Transkriptivität, seine Vernetzung mit aktuellen Problemfeldern der Bildkonstitutierung ebenso begünstigt wie in Relation dazu seine kritische Konturierung bzw. Abgrenzung gegenüber anderen, jüngst intensiv diskutierten Leitmetaphern und Anschauungsbegriffen des Bilddiskurses, wie etwa ›Schleier‹, ›Spiegel‹, ›Abdruck‹.59 So ist insbesondere der Begriff des Schleiers als Referenzfigur zu verstehen, insofern sich auch mit dessen Funktion und Bedeutung einerseits ein metaphorisch-übertragener, andererseits ein durchaus materieller, stofflich-konkreter Aspekt verbindet. Anders als im Fall des Palimpsest-Begriffs wurde die Geschichte und Bedeutung der gleichfalls bis ins Altertum zurückreichenden Vorstellung vom Bild als einem Schleier (»linteum depictum«), der zugleich verhüllt und enthüllt, verbirgt und offenbart, in jüngster Zeit durch eine ganze Reihe von Studien untersucht und in historischer Perspektive konzeptualisiert.60 Wie sich dabei zeigt, konstituiert sich das in dieser Vorstellung greifbar werdende Verständnis des Bildes als eines materiell geformten Vorscheins für eine inkommensurable, bildlich 59 Vgl. Georges Didi-Hubermann: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks (Köln 1999); Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Transkribieren. Medien – Lektüre, hg. v. Ludwig Jäger / Georg Stanitzek (München 2002) 19–41. 60 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen u. a. die Arbeiten von Wolfgang Kemp: Rembrandt. Die Heilige Familie, oder die Kunst, einen Vorhang zu lüften (Frankfurt a. M. 1986); Ralf Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik (Frankfurt a. M. 1994); Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei (München 1998) 80 ff.; Aleida Assmann / Jan Assmann: Schleier und Schwelle. 3 Bde. (Köln 1997–1999); Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien (München 2001); Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären (München 2002); Gerhard Wolf: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance (München 2002), jeweils mit reicher Literatur. Die Apostrophierung des Bildes als »linteum depictum« mit suggestiver, verhüllend-enthüllender Täuschungskraft (»linteum depictum ita veritate repraesentata«) findet sich bekanntlich bereits bei Plinius, vgl. Gajus Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde, Buch 35: Farben, Malerei, Plastik, hg. u. übers. von Roderich König (2., überarb. Aufl. Düsseldorf, Zürich 1997) 62 ff., Kap. 36, § 64–65; vgl. zuletzt Hermann Ulrich Asemissen / Gunter Schweikhart: Malerei als Thema der Malerei (Berlin 1994) 12 ff., 172 ff.

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nicht faßbare Wahrheit offenkundig im Rekurs auf ein religiöses Grundparadox, nämlich die Ineinsbildung von Ähnlichkeit und Differenz in der Erfahrung des Göttlichen. Dieses Paradox, das sein eigentliches Paradigma in der Fleischwerdung des Logos besitzt, hat im religiösen und theologischen Diskurs die Entstehung einer reichen Tropik begründet, in der nicht zuletzt auch die Metaphorik des Schleiers und der Umhüllung, die die Auffassung von der Unsichtbarkeit und dem Geheimnis des Göttlichen zum Ausdruck bringt, verankert ist. Sie durchdringt in diesem Sinne die Heilige Schrift und ihre Terminologie ebenso wie die exegetische Literatur, und sie wird bereits seit mittelalterlicher Zeit in vielfältigen Zusammenhängen auf das gemalte Bild und seine inhärente Dialektik von Präsenz und Absenz, Transparenz und Opazität etc. angewendet. Ohne die betreffende Erörterung an dieser Stelle auszudehnen, läßt sich sagen, daß die Metaphorik vom Bild als einem Schleier im Gegensatz zu einer entsprechenden Anwendung des Palimpsest-Begriffs eine angestammte und seit alters etablierte Tradition besitzt, daß jedoch die semantische Aufladung dieser Metapher und der entsprechende Funktionsbegriff des Bildes dabei wesentlich von metaphysischen (religiösen) Begründungszusammenhängen und von den Zielvorstellungen einer bildlich vermittelten Transzendenzerfahrung dominiert werden. Das gilt auch noch für jene Diskurse, in denen das metaphysisch fundierte Bezugssystem brüchig wird und ein antiplatonisches Potential hervortreibt. So etwa im Umbruch der mittelalterlichen integumentum-Lehre, wie ihn die Kunst- und Dichtungstheorie seit dem 13. Jahrhundert in Absetzung zur allegorischen Bibelexegese und in Hinblick auf die Emanzipation und Durchsetzung eigener künstlerischer Ansprüche auf eine genuine »Sinnvermittlung über das PoetischFiktive«61 betreibt. Oder in der humanistisch begründeten Kunsttheorie der frühen Neuzeit, die im Rekurs auf antike Vorgaben und in einer breit diversifizierten Argumentationsvielfalt das faktische, gemalte Bild als anschaulich gestaltete Umhüllung einer anderen, unsichtbaren Wirklichkeit und die Malerei als eine Kunst der Fiktion im Schleier der gemalten, aus Farben komponierten Fläche konzeptualisiert. Verkürzt gesagt, scheint sich vor diesem Hintergrund abzuzeichnen, daß die Metaphorik des Schleiers, bei aller Vielzahl ihrer Spielarten und Manifestationsformen in Theorie und Praxis, in ihrem Kern doch stets auf eine kategoriale Dialektik zwischen einem Diesseits und einem Jenseits des Bildes abhebt, wohingegen sich mit dem Begriff des Palimpsests eine Verschiebung und Immanentisierung dieser Dialektik zu einer innerbildlichen Relation verbindet. Das Bild, statt selbst als ein Dazwischen zu fungieren, birgt dieses Dazwischen, so könnte man erneut in Fortführung von Foucault formulieren, nunmehr als internalisierten Bezug in sich. Diese innerbildliche Dialektik, die Grundstruktur eines dynamisch bestimm-

61 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts (Darmstadt 1985) 225.

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ten, zweipoligen Vorstellungsgeflechts ließe sich über ein breit gefächertes Register antinomischer Begriffspaare beschreiben, die dem Phänomen der wechselseitigen Überlagerung immanent sind: Alterung und Erneuerung, Absenz und Präsenz, Kontingenz und Notwendigkeit, Auslöschung und Konservierung, Tilgung und Spur, Identität und Differenz, Transparenz und Opazität, Fixierung und Prozeß, Original und Kopie, Einst und Jetzt, Erinnerung und Gegenwart, Authentizität und Vermitteltheit, Aneignung und Verlust. Dabei deutet sich bereits an, daß eine allzu strikte Abgrenzung des Palimpsest-Begriffs gegen denjenigen des Schleiers nicht ohne weiteres Abb. 25 Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne: Tafel 55 praktikabel oder gar sinnvoll erscheint. Ein systematischer Ansatz zur Verwendung des Begriffs bedingt vielmehr zugleich und unerläßlich Fragen nach einer Historisierung des Phänomens, d. h. nach Phasen einer merklichen Konjunktur oder aber solchen der Latenz von palimpsestartigen Bildstrukturen, und weiterführend schließlich danach, inwiefern dabei im weitesten Sinn Modelle der Transzendenzerfahrung gegen solche der Immanentisierung und der Vorstellung von ›Geschichtetem‹ als Kategorie von ›Geschichtlichkeit‹ stehen. Ähnlich wie der Begriff des Schleiers ist als ein Regulativ hinsichtlich begrifflicher Konkretisierung auch die ›Pathosformel‹ anzusehen, der zentrale Terminus von Aby Warburgs Ikonologie, welcher jenes Konzept eines energetischen Engramms benennt, in das kollektive Erfahrungen eingeschrieben und sedimentiert sind, um auf diese Weise, d. h. als Traditionsbesitz eines sozialen Bildgedächtnisses, fortzubestehen. Wie man weiß, hat sich Warburg in Hinblick auf dieses Konzept auch mit Manets Frühstück im Freien (Abb. 1) und mit der Frage beschäftigt, inwieweit auch bei ihm die aus der Überlieferung angeeignete Figuration als Träger einer spezifischen Ausdrucksaufladung fungiert (Abb. 25). Sein erstes Augenmerk gilt dabei den »anscheinend ganz unbedeutenden Abweichungen im Spiel der Gebärden und des Gesichts«. Im Blick auf sie glaubt Warburg bei Manet »eine energetische Umverseelung des dargestellten Menschentumes« erkennen zu können: »Aus der kultlich zweckgebundenen Geste untergeordneter blitzfürchtiger Naturdämonen auf dem antiken Relief vollzieht sich über den italienischen Stich

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die Prägung freien Menschentums, das sich im Lichte selbstsicher empfindet.«62 Angesichts der zuvor diskutierten Zusammenhänge ließe sich demgegenüber fragen, inwieweit hier nicht die dominante Orientierung an der Gegenständlichkeit der Darstellung die mediale Vielschichtigkeit des Bildes und damit dessen wesentliche Artikulationsformation verkennt. Der Begriff der Pathosformel tendiert zumindest dazu, die Komplexität des Bildes v. a. auf Aspekte der Figuration zu reduzieren, und er läßt andere Weisen der bildlichen Affektsteigerung, etwa solche, die in der schieren Faktur des Farbauftrags oder in der materiellen Spezifik des Darstellungsmediums und seiner Semantik begründet sind, ebenso außen vor wie etwa solche Formen der Bedeutungssedimentierung und der Generierung eines neuen bildlichen Zeichensinns, die sich aus der Überlagerung von visuellen Graphemen und graphemischen Figurationen ergeben, und die ihr imaginatives Potential in einer breiten Vielfalt von Bild-Text-Verfahren, von Materialkombinationen etc. bis hin zu den monumentalen Schriftbildern eines Cy Twombly oder den Materialbildern eines Anselm Kiefer bezeugen.63 Ebenso bleibt zu fragen, inwieweit das Instrumentarium der Pathosformel an die Analyse wirkungsästhetischer Überlagerungen von Darstellung, Vorstellung und Projektion auch und gerade bei solchen Bildsujets hinreicht, die durch ihre performativ verfaßte Medialität just den Grenzbereich von Künstlichkeit und Leben, von Wirklichkeit und Inszenierung thematisieren. Deutlich abzusetzen und in seinem interpretativen Potential des konkreten Werkbezugs zu profilieren ist der Palimpsest-Begriff im übrigen auch gegen unterschiedliche Modelle der sog. ›Schichtenlehre‹, wie sie als methodisches System etwa bei Emil Utitz, Hans Sedlmayr oder Erwin Panofsky zur Differenzierung verschiedener sogenannter ›Sinn- und Bedeutungsebenen‹ des Werkes (z. B. Phänomensinn, Bedeutungssinn, Dokumentsinn etc.) begegnet.64 Dies um so mehr als die Werk und Betrachter zusammenschließende Prozessualität als wesentliche

62 Zit. nach Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie (Frankfurt a. M. 1981) 368. Vgl. Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. von Martin Warnke unter Mitarb. von Claudia Brink (2., erg. Aufl. Berlin 2003) 100 f. 63 Vgl. hierzu etwa die Bemerkungen von Gottfried Boehm: Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens. In: Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, hg. von Gottfried Boehm / Karlheinz Stierle / Gundolf Winter (München 1985) 37–57, bes. 45 ff., 53 ff.; Johannes Meinhardt: Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei (Osterfildern-Ruit 1997) 212 ff. (»Cy Twombly: Schichtung und Vielschichtigkeit«, im Rekurs auf den Palimpsestbegriff, 224 f.); sowie Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne (München 2001) 109 ff. (»Das Gedächtnis des Materials«). 64 Emil Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft [1920] (München 21972); Hans Sedlmayr: Pieter Bruegel: Der Sturz der Blinden [1957]. In: ders.: Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 1 (Mittenwald 1977); Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [1932]. In: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer / Egon Verheyen [1964] (Berlin 31985) 85–97; DERS.: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance. In: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst [engl. 1957] (Köln 1978) 36–67.

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Dimension von ästhetischer Erfahrung bei diesen Modellen, die einen Begriff von Darstellung als in sich geschlossene, organische Einheit zur Voraussetzung haben, gerade ausgeblendet bleibt. Schließlich kann das Palimpsest-Modell auch alternativ zu Foucaults epistemologisch begründetem Konzept eines ›archäologischen Verfahrens‹ gedacht werden, insofern dem »letztlich dispersen Nebeneinander chronologisch differenter Diskurse«, wie Claus Uhlig treffend formuliert, mit dem bildlichen Palimpsest eine historische Tiefenstruktur als Ordnung von Schichten gegenüber zu stellen ist, »deren momentane Koexistenz sich akkumulierter Geschichte verdankt«.65 Was den mit all diesen Fragen einer begriffsgeschichtlichen Konturierung in so zentraler Weise verknüpften Zusammenhang des Palimpsest-Begriffs mit dem Konzept der ästhetischen Erfahrung angeht, läßt sich, nach allem, noch einmal deutlich machen, daß die palimpsesthafte Gegebenheit des Bildes als ein Dispositiv zu verstehen ist, das unsere Sichtbarkeitsordnungen und Einstellungen fortgesetzt aktualisiert, neu justiert, herausfordert, ergründet, erforscht etc., ein Dispositiv also, dessen metamorphotisches Potential und dessen innere Prozessualität nicht nur die Produktionsseite betrifft, die Bildwerdung als Medium über Medium, als Bild über Bild, als Schicht über Schicht, sondern ebensosehr die Rezeptionsseite, dergestalt daß sich die Erfahrung des Bildes als fortgesetzte Bewegung des Eindringens und Aufdeckens und dabei der immerwährenden Veränderung, also als Prozeß der eigenen, projektiven oder imaginativen Bildergenerierung vollzieht. Kurz gesagt: das Bild selbst ist Manifest einer ästhetischen Erfahrung, weil es sich als eine transitorische Struktur aus einer Dialektik von Vorgabe und Reaktion, von Aneignung und Verlust konstituiert, und es ist zugleich wiederum der Gegenstand und Auslöser einer ästhetischen Erfahrung. An einem Kreuzungspunkt steht dabei, sozusagen als Problemfigur, der Künstler, dessen eigene Autorschaft, besser gesagt: dessen Selbstverständnis als eigentlicher Protagonist der Bilderzeugung ebenfalls zwischen Auslöschung und Setzung schwankt. Geradezu exemplarisch lassen sich in diesem Zusammenhang die repräsentationskritischen Arbeiten von Marcel Broodthaers nennen. So etwa sein 1973 ediertes Künstlerbuch Magie. Art et Politique, in welchem er einen – an Joseph Beuys gerichteten – fiktiven Briefwechsel von Richard Wagner und Jacques Offenbach schreibt und überschreibt, und in welchem er, das Autorschaftskonzept noch offensichtlicher dekonstruierend, vier ›Wunderblöcke‹ (»ardoise magique«) publiziert, von denen drei sein eigenes Monogramm tragen, während es auf dem vierten fehlt bzw. im Kontext als gelöscht imaginiert wird. Die so pointiert vollzogene Veranschaulichung des Zusammenfalls von Künstler und Werk und die gleichzeitig damit einhergehende kritische Hinterfragung dieser Einheit unter Einbeziehung und Involvierung des Rezipienten ist ein zentraler Aspekt von Broodthaers’ künstlerischer Produktion, und sie entsteht kaum übersehbar im engen Dialog mit theoretischen Diskursen jener Jahre, im besonderen der heftig 65

C. Uhlig: Palimpsest, a. a. O. [Anm. 17] 91.

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diskutierten Position des Autors als eines prozessualen Wesens, das im Austausch mit dem Werk ebenso entsteht wie vergeht.66 Im selben Zusammenhang steht etwa auch ein Werk wie Hanne Darbovens Schreibzeit, das sich auf fast 4000 Blättern als die autographische Abschrift eines breit gefächerten Sortiments von fremden Textzitaten mit divergierendem Status und heterogener Provenienz darbietet und einen undefinierten Zwitter zwischen ikonischer und literaler Kunst, zwischen mechanischer Reproduktion und schöpferischer Kreation, zwischen künstlerischer Individualität und anonymisierender Selbstauslöschung hervorbringt.67 Besonders virulent wird diese Frage auch in appropriativen Praktiken. Levine erklärt ihr Verfahren der Re-Fotografie mit der Findung gerade jenes Raums, der sich im Bruch der Überlagerung, im Aufeinandertreffen der disparaten Schichtungen auftut: »Ich wollte in sich widersprüchliche Bilder herstellen. Ich wollte ein Bild über ein anderes legen, so daß man mal beide Bilder sehen kann und mal beide Bilder verschwinden. Im Grunde hat mich diese Vibration am meisten interessiert – jener Zwischenraum, an dem kein Bild auszumachen ist, eher eine Leere, ein Vergessen.«68 Dieser Zwischenraum aber ist, ganz im Sinn von Foucaults Lokalisierung des Imaginären, ein Ort der Reflektion, der das kurzfristige Amalgam aus Bildern und Autoren immer wieder auflöst und im Akt der Rezeption erfahrbar wird. Dabei kann der künstlerische Akt durchaus konträren, ja widerstreitenden Motivationen folgen, solchen der Konstruktion oder solchen der Destruktion. Exemplarisch für letztere steht Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing von 1953, ein Werk, das sich bei aller inhärenten Verweiskraft auf die Poetizität des Bildes – als Kunst über Kunst, Faktur über Faktur, Dematerialisierung versus Materialitätsbehauptung – am Ende doch wesentlich als avantgardistischer Impuls einer Verwerfung und Auslöschung des Vorhergehenden, als Versuch einer Bedeutungsentleerung des Angeeigneten und als symbolische Verdrängung eines anderen Künstlers durch die regelrechte Okkupation und Selbstbesetzung von dessenWerk versteht.69 Wenn demgegenüber Levine 1981 eine ebenfalls – und dies

66 Vgl. v. a. R. Barthes: La mort de l’auteur [1967]. Œuvres complètes, publ. par Eric Marty. Bd. 2: 1966–1973 (Paris 1994) 491–495; M. Foucault: Was ist ein Autor? [frz. 1969] In: ders.: Schriften zur Literatur, übers. von Karin von Hofer / Anneliese Botond (Frankfurt a. M. 1988) 7–31. Den Hinweis auf Marcel Broodthaers und die Beobachtungen zu seinem Künstlerbuch verdanke ich Karin Gludovatz, die in ihrer Dissertation diese und verwandte Autorschaftskonzeptualisierungen im Horizont ihrer historischen Entwicklung seit der frühen Neuzeit untersucht, vgl. Karin Gludovatz: Fährten legen – Spuren lesen. Die Künstlersignaturen als poietische Referenz (Diss. phil., Universität Wien 2004). 67 Vgl. K. Krüger: Die Zeit der Schrift. Medium und Metapher in Hanne Darbovens ›Schreibzeit‹. In: Hanne Darboven. Schreibzeit, hg. von Bernhard Jussen (Von der künstlerischen Produktion der Geschichte, 3) (Göttingen 2000) 43–68. 68 S. Levine: Why I appropriated. In: Texte zur Kunst 46 (2002) 84–85, hier 85. 69 Vgl. zu derartigen Zerstörungspraktiken, ihrer Funktion und Bedeutung: Justin Hoffmann: Destruktionskunst. Der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre (München 1995); Dario Gamboni: Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert (Köln

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nicht zufällig – von Willem De Kooning stammende Zeichnung in akribischer Prozedur und nachgerade minutiöser Selbstverleugnung abzeichnet und damit das Paradox einer autographischen Reproduktion schafft, so artikuliert sich darin eine subtile Verschiebung von der Negation zur Irritation, von der Destruktion zur Dekonstruktion, eine Verlagerung, die allererst wieder den Betrachter und seinen individuellen wie auch institutionalisierten Kontext ins Zentrum der Bilderzeugung rückt.70 Nicht nur aus der Blickwarte der rezeptiven Interpretation, sondern auch und gerade aus derjenigen der Produktion vermag sich also das Palimpsest als konstruktive Denkfigur zu bezeugen.

1998), bes. 241 ff., 265 ff. (zu Rauschenberg: 278 f.); Birgit Mersmann: Bilderstreit und Büchersturm. Medienkritische Überlegungen zu Übermalung und Überschreibung im 20. Jahrhundert (Würzburg 1999), bes. 34 ff., 95 ff. 70 Vgl. Daniela Salvoni: Die Überschreitungen der Sherrie Levine. In: Parkett. The Parkett series with contemporary artists 32 (1992) 76–80.

Begriffsgeschichte und politische Semantik

Clemens Knobloch

›Rasse‹ vor und nach 1933 – vornehmlich in den Geisteswissenschaften I. Einleitung Stofflich entstammt das, was ich hier vortrage, dem Umkreis eines Forschungsprojektes über den ›semantischen Umbau‹ zentraler geisteswissenschaftlicher Fächer nach 1933 und nach 1945. Das Forschungsprojekt, in dem ich die Sprachwissenschaft betreut habe (und Georg Bollenbeck die Literaturwissenschaft), ist in den vergangenen Jahren an der Universität Siegen durchgeführt (und von der Volkswagenstiftung großzügig gefördert) worden. Unsere auch begriffsgeschichtlich inspirierte These war, daß man die Druckempfindlichkeit der legitimationsschwachen geisteswissenschaftlichen Fächer, ihre Empfänglichkeit für den allgemeinen Zeitgeist und Denkstil, an den politischen Systembrüchen des 20. Jahrhunderts aufweisen kann. Wir haben untersucht, was sich an den Grenzen und Übergängen zwischen Fachdiskurs und Allgemeindiskurs, an den Membranen zwischen der Fachkommunikation und der politisch-sozialen Allgemeinkommunikation tut. Wir haben uns dabei begriffsgeschichtlicher und argumentationsgeschichtlicher Verfahren bedient. Was den semantischen Komplex der ›Rasse‹ betrifft, so haben wir herausgefunden, daß er vor und besonders nach 1933 im Umkreis der Sprachwissenschaft eine bedeutendere Rolle spielt als in der literaturwissenschaftlichen Fachkommunikation, die ihn lediglich als zeitgeistigen Ersatzbegriff für ›Stil‹, ›Seele‹, ›Persönlichkeit‹ und andere etablierte Fachausdrücke verwendet. In der Sprachwissenschaft gibt es dagegen eine Reihe von fachlichen Themen, die dem Rassebegriff als ›Einfallstor‹ dienen können: Substrat- und Superstratlehren, die populäre Frage nach der ›Urheimat der Indogermanen‹, die (vermeintlich ›blutnahe‹) Mundartforschung und einiges mehr.1 1 Vgl. unten Anm. 11; Für Einzelheiten muß ich auf das ›Rasse‹-Kapitel von Clemens Knobloch: »Volkhafte Sprachforschung« – Studien über den Umbau der Sprachwissenschaft in Deutschland zwischen 1918 und 1945 (Tübingen) (im Druck) verweisen. Ich unternehme hier gar nicht erst den Versuch, die hochgradig unübersichtlich und spezialistisch gewordene ›Rasse‹-Literatur zu sichten. Eine gute Einführung in die neuere Debatte, die den Vorzug hat, Human- und Naturwissenschaften zu verklammern, bietet der Band: Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, hg. von Heidrun Kaupen-Haas / Christian Saller (Frankfurt a. M. 1999). Für den Diskussionsstand in der Theorie der Begriffsgeschichte verweise ich auf: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Begriffsgeschichte und politische Semantik

Wer die Ladungen und konnotativen Schichtungen rekonstruieren möchte, die den Begriff der ›Rasse‹ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts konturieren, der braucht zunächst die gleichsam mitlaufenden älteren Anlagerungen: Die erste Konjunktur des Ausdrucks ›Rasse‹, zu der Joseph Arthur de Gobineaus Werk2 zählt, spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ist nach ihrer politischen Stoßrichtung gegen den nationalen Pöbel, gegen den Nationalstaat und für die ›natürliche‹ Überlegenheit der feudal-adeligen europäischen Herrscherhäuser eingestellt, kurz, er positioniert die Adels-Rasse gegen die Bürger-Nation, wie Hannah Arendt treffend schreibt.3 Die zweite Konjunktur des Ausdrucks ›Rasse‹ um 1900 ist nach ihrer politischen Stoßrichtung bereits ganz anders gelagert, sie ist eine Begleiterscheinung der imperialistischen Expansion der avanciertesten Nationalstaaten und codiert (jenseits der imperialistischen Konkurrenz dieser Staaten) deren gemeinsame Überlegenheit über die kolonialisierte oder zu kolonialisierende Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg erleben wir die dritte Konjunktur des Ausdrucks ›Rasse‹ als eines historisch-politischen ›Begriffs‹, die wieder neu kontextualisiert ist gegenüber gemein-imperialistischen. Zwar gelten die ›Rassen‹ weiterhin als ethnodarwinistische Subjekte der Geschichte, mit deren Hilfe man die nationale Einund Ausschließung flexibilisieren kann. Indessen verschafft ihr die Kopplung mit der eugenischen und rassehygienischen Genetik den Nimbus und die Konnotation ›naturwissenschaftlicher‹ und zugleich politischer Modernität für den Begriff der ›Rasse‹, der damit auch anderseits ein radikal erweitertes innenpolitisches Macht- und Ordnungspotential zu kommandieren beginnt. Die ›rassische‹ Bedrohung der Völker liegt jetzt nicht allein in den anderen (und natürlich minderen) ›Rassen‹, sondern gewissermaßen im ›Inneren‹ der Völker selbst, die somit vor der (weithin als modern anerkannten) Aufgabe stehen, sich ›rassisch‹ (oder ›blutlich‹ oder ›genetisch‹) zu optimieren. Aus dem imperialistischen Legitimationsbegriff ist ein ethnodarwinistischer Ziel- und Programmbegriff geworden, dessen Ausläufer die zwischen 1900 und 1930 überbordende populäre Literatur füllen.4 Der politische Rassebegriff wendet, salopp gesagt, den Imperialismus nach innen.

2 Joseph Arthur de Gobineau: Essai sur l’inégalité de races humaines. 4 Bde. (Paris 1853–1855); dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen (Stuttgart 1898–1901). 3 Hanna Arendt: The Origins of Totalitarianism (New York 1951), dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (München 1986) 272. 4 Etwa ab 1900 wird auch die Germanen-, Arier- und Nordschwärmerei populär; vgl. Werner Conze: Art. Rasse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck. Bd. 8 (Stuttgart 1984) 135–178. Sie ist allerdings stärker begrenzt auf die Bildungsschichten, in denen umgekehrt die Bevölkerungseugenik insofern weniger populär ist, als sie vielfach Bildungshypertrophie als ›Entartungserscheinung‹ codiert (vgl. etwa Ludwig Flügge: Erbbiologisches Denken in Justiz und Verwaltung (Berlin, Leipzig 1933) als Beispiel für die zahllosen einschlägigen Traktate).

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Aus der Erkenntnis dieser für den ›Rassebegriff‹ neuen Lage heraus hat Arendt den sarkastischen Satz formuliert, die Nazis hätten nur zu gut gewußt, daß ihre Rassenpolitik ihre beste Auslandspropaganda war.5 Eugenische Volksoptimierung war modern und selbst bei denen beliebt, die den politischen Antisemitismus degoutant fanden. Umgekehrt ist es leicht nachzuweisen, daß zahllose Akteure, die den Rassebegriff in den Geisteswissenschaften als ›naturwissenschaftlichen‹ Übergriff und Kolonisationsversuch ablehnen, gleichwohl nach 1933 gerne beteuern, daß sie politisch Antisemiten sind.6 Das ist jedoch nur ein grober Grundriß der politischen Vorgeschichte. Ich befasse mich im folgenden Text mit der ›Rasse‹ in den Geisteswissenschaften, nicht mit dem (natürlich durchgängig gegen die ›Gleichheit‹ der Menschen gerichteten) politisch-sozialen Programm- und Fahnenwort gleichen Namens. Gleichwohl wird deutlich werden, warum dieser Grundriß gegeben werden mußte: Wenn es richtig ist, daß Begriffe wie ›Rasse‹ in erster Linie von ihren konnektiven Potentialen und von ihrer Reichweite und Streubreite über das enge Anwendungsfeld hinausleben, dann sind gerade die Verbindungen, die ›Rasse‹ zwischen unterschiedlichen Diskursebenen und unterschiedlichen Diskursniveaus stiftet, von Bedeutung.

II. Thesen Meine Thesen lauten: 1. Nach dem Ersten Weltkrieg erlangt ›Rasse‹ in der öffentlichen Kommunikation den Status einer ›semantischen Verkörperung‹.7 Solche Verkörperungen kondensieren und fixieren einen heterogenen Komplex von Bedeutungen und Narrationen in einem einzelnen Ausdruck. Sie sind nicht artikuliert (wie es Begriffe im Sinne der Terminologielehre oder Theorien sind), sie sind hoch plausibel und leicht kommunizierbar, sie sind von vielen Seiten identifikationsfähig und werden von vielen verschiedenen Diskursen geteilt. Sie können auch leicht zu Theorien und Systemen ausgesponnen werden, die dann untereinander in Verbindung zu stehen scheinen. Verkörperungen können deshalb fachlich Interdisziplinarität sowohl suggerieren als auch substituieren, sie treten außerfachlich in enge Beziehungen zum geteilten Denkstil der Epoche (im Sinne von Ludwik Fleck 1935).8 H. Arendt: Elemente, a. a. O. [Anm. 3] 267. Prominent in der völkisch politisierten Sprachwissenschaft um 1933 z. B. Georg SchmidtRohr: Die Sprache als Bildnerin der Völker (Jena 1932) und in der 2. Aufl. u. d. T.: Mutter Sprache. Vom Amt der Sprache bei der Volkwerdung (Jena 1933), dessen Hauptwerk in den Jahren des Machtwechsels eine heftige Debatte über ›Sprache‹ und ›Rasse‹ als konkurrierende ›volksbildende Kräfte‹ auslöste; s. u. 7 Zum Terminus ›semantische Verkörperung‹ vgl. Eckart Scheerer: Vom Nutzen der Geistesgeschichte für die Psychologiegeschichte. In: Theorien und Methoden psychologiegeschichtlicher Forschung, hg. von Helmut E. Lück / Rudolf Miller (Göttingen 1991) 20–32. 8 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935] (Frankfurt a. M. 1980). 5 6

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2. Verkörperungen des umrissenen Typs wirken historisch nicht durch ihren Inhalt, durch ihre begriffliche oder kognitive Substanz, sondern durch ihr konnektives Potential, durch die Verbindungen, die sie zwischen unterschiedlichen Feldern, Themen, Niveaus der öffentlichen Kommunikation stiften und präsent halten können. Das gilt auch für geisteswissenschaftliche Grund- und Leitbegriffe, sofern sie (wie außer ›Rasse‹ im Untersuchungszeitraum auch noch ›Geist‹, ›Kultur‹, ›Volk‹ und viele andere) an semantischen Verkörperungen andocken. 3. Unter den Verbindungen, die mit Hilfe der Verkörperung ›Rasse‹ hergestellt werden, rangiert neben der durchlaufenden ›naturwissenschaftlichen‹ Konnotation, die Verbindung zum politisch hegemonialen Diskurs der völkischen Strömungen. Im NS-Staat wird ›Rasse‹ zwar als völkisches Leit- und Fahnenwort heraufgestuft in der Hierarchie der ›volksbildenden Kräfte‹ (neben ›Sprache‹, ›Kultur‹, ›Boden‹, ›Raum‹ etc.), das verändert jedoch den Status von ›Rasse‹ in den geisteswissenschaftlichen Fachdiskursen nur unwesentlich. Erheblich verändert präsentiert sich jedoch die ›Rasse‹ nach 1933 im fachlichen Außenfeld der politisch an-getriebenen Karrieren. Hier wird ›Rasse‹ zum battle ground, zum diskursiven Haifischbecken, zum Entscheidungsfeld für exoterisch angetriebene Fachkarrieren. 4. Gelockt und gebunden werden völkisch ehrgeizige Geisteswissenschaftler durch die von der NS-Bewegung genährte Illusion, die Intelligenz könnte durch verbindliche und autoritative Definitionen des ›Rasse‹-Begriffs geistig an der Macht partizipieren. Offiziöse oder gar offizielle Definitionsversuche ›von oben‹ gab es bekanntlich nicht, wohl aber intensive definitorische Konkurrenz ›von unten‹, unter denen, die sich zu geistigen Führern der Bewegung aufschwingen wollten.9 5. ›Rasse‹ liefert insofern ein Beispiel für die (historisch variable) Beziehung semantischer Verkörperungen in das Feld politischer Machtentscheidungen. Je stärker Machtentscheidungen vor einer (wie auch immer medial organisierten) ›Öffentlichkeit‹ legitimiert werden müssen, desto interessanter wird begriffsgeschichtlich die Beziehung zwischen dem ›Sagbaren‹ und dem ›Machbaren‹ (um die suggestive Formel von Willibald Steinmetz10 zu zitieren). 6. In diesem Sinne sind (in einer massendemokratischen Szene) die jeweils kurrenten und zirkulationsfähigen Verkörperungen und Leitbegriffe der Zeit analysierbar als eine Art semantischer ›Werkzeugkasten‹ für die öffentliche Präsentation politischer Machtentscheidungen. Und die in den Geisteswissenschaften theoriefähigen Verkörperungen sind analysierbar als semantische und rhetorische Ressourcen, mit deren Hilfe das Fach die ›weltanschaulichen‹ und politischen Potentiale der Verkörperung gleichsam in den Fachdiskurs importieren und dort verfügbar machen kann. 9 Die ›Freigabe‹ der Leitbegriffe für eine sozialdarwinistische Konkurrenz ehrgeiziger Geister bildet einen markanten Unterschied zwischen der Herrschaftstechnik des NS und der stalinistischen Phase der Sowjetunion, während derer sogar der Sprachwissenschaft die Axiomatik verbindlich von oben vorgegeben wurde. 10 Willibald Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume: England 1780–1867 (Stuttgart 1993).

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III. Ein exemplarischer Konflikt und seine Hintergründe: Georg Schmidt-Rohrs »Die Sprache als Bildnerin der Völker« Im Kreise begriffgeschichtlicher Praktiker muß ich vermutlich nicht eigens warnen vor den methodischen Fallstricken des ›Rasse‹-Begriffs, vor der Konnotationsfalle, in die man nur zu leicht tappt, wenn man den Ausdruck um 1930 bereits mit den (völkermörderischen) Konnotationen versieht, die er für uns hat. Ich muß auch nicht eigens an die Selbstverständlichkeit erinnern, daß man politischer Antisemit sein konnte und doch den ›Rasse‹-Begriff in den Geisteswissenschaften ablehnen, daß keineswegs als Anti-Nazi ausgewiesen ist, wer mit irgend einer Dienststelle der NS-Bewegung massiven Ärger hatte oder wer (wie Georg Schmidt-Rohr und Leo Weisgerber) eher der sprachvölkischen als der rassevölkischen Fraktion der Bewegung verbunden und verpflichtet war. Die akademische Sprachwissenschaft ist in den 20er Jahren (gerade bei ihren jüngeren Wortführern) auf dem Weg zur Erneuerung als völkisch-kulturalistische Geisteswissenschaft. Der Rassebegriff hat insgesamt keinen guten Klang, er konnotiert naturwissenschaftlich und stiftet daher eine unerwünschte Verbindung zum allgemein abgelehnten ›Positivismus‹. Als positivistischer Sündenfall des Faches gilt, daß man nach 1850 mit August Schleicher, Charles R. Darwin und den Junggrammatikern auf einen ›naturwissenschaftlichen‹ Weg geraten ist.11 Charakteristisch für die Propagandisten der ›Rasse‹ ist daher der Verweis darauf, daß ›Rasse‹ gar kein naturwissenschaftliches Konzept sei, sondern vielmehr geeignet, Brücken und Verbindungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu schlagen.12 Wer einen Geisteswissenschaftler für den Rassebegriff gewinnen wollte, der mußte den Begriff vom Makel der ›Naturwissenschaft‹ befreien (versteht sich, daß Biologen, Mediziner, Genetiker da in einer ganz anderen Lage waren!).13 Als Beleg ein Zitat aus Ludwig Schemanns monumentalem, wirkungsgeschichtlich aber eher randlichen Werk über die ›Rasse‹ in den Geisteswissenschaften: »Erfreulicherweise haben sich nun aber auch in den letzten Jahrzehnten die leidigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mehr und mehr

11 An welchen Fachthemen ›Rasse‹-Fragen gleichwohl andocken können (und das auch tun), ist wohl eher für Fachhistoriographen interessant: Substrat/Superstrat, Urheimat der Indogermanen, Artikulationsbasis, Experimentalphonetik, Dialekt. Für die Sprachwissenschaft ist ›Rasse‹ eine Öffnungsformel hin zu den ›Naturwissenschaften‹, an deren Prestige allerdings die fachlich vorherrschenden Befürworter einer neuen und soziologisierten ›Geistwissenschaft‹ nicht teilhaben wollten. 12 Diesen Verweis findet man wiederholt bei Ludwig Schemann : Die Rasse in den Geisteswissenschaften. Studien zur Geschichte des Rassengedankens. 3 Bde. (München 1928–1931), dessen Werk uns heute als monumental imponiert, der aber in den akademischen Geisteswissenschaften der Zeit nur wenig Resonanz hatte. 13 Die Rassenkunde sei eine ›Spielart des Materialismus‹ oder ›die letzte Konsequenz eines antiphilosophischen Zeitalters‹ sind Sätze, die man allenthalben zu lesen bekommt. Exemplarisch für die Ablehnung der Rasselehren als »materialistisch« bei den geisteswissenschaftlichen Mandarinen dürfte die Position von Karl Jaspers sein: Die geistige Situation der Zeit (Berlin 31932).

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verloren. [Und über die Rassenlehre heißt es wenige Seiten später:] Auf naturwissenschaftlicher Grundlage erwachsen, erhebt sie sich in die idealsten Regionen des Geistes.«14 Daß die beim (halbgebildeten) Publikum wirklich erfolgreichen Rasseideologen des NS samt und sonders verirrte Philologen und Geisteswissenschaftler waren, ist nur scheinbar ein Widerspruch (Hans F. K. Günther, der ›Rasse-Günther‹, der Husserl-Schüler Ferdinand Ludwig Clauß), waren doch gerade die populären Rasseideologen weitgehend ohne akademisches Ansehen. Den methodologisch gut geschulten Philologen waren ihre Ableitungen zu windig, und bei den Schädel messenden Anthropologen galten sie ohnehin wenig. Von den Genetikern und Bevölkerungsbiologen wurden sie sogar verachtet als Usurpatoren eines eigentlich präzise-›naturwissenschaftlichen‹ Themas. Auch und gerade die geisteswissenschaftlichen Mandarine der älteren Generation sahen in den Rasselehren eine Bedrohung ihrer eigenen öffentlichen Position, eine Konkurrenz, noch dazu eine doppelte, qua Übergriff aus den ›Naturwissenschaften‹ einerseits und qua Dilettantismus andererseits. Ein hoch repräsentativer Text für die Befindlichkeit der geisteswissenschaftlichen Bildungsgruppen ist Karl Jaspers Geistige Situation der Zeit (1932). Hier finden wir das Rassedenken unter die Übel der Epoche gemischt (neben Soziologie und Sozialismus auf der einen, Psychoanalyse auf der anderen Seite). Das Rassedenken befriedigt den Wunsch der ›Masse‹, etwas Besseres zu sein als die anderen und widerspricht der meritokratischen Grundüberzeugung der Bildungsschicht, die ihre gesellschaftliche Stellung ihren geistigen Leistungen verdanken möchte und nicht ihrer rassischen Abkunft. Über die rassische Anthropologie heißt es darum: »Diese Anthropologie ist ein Aggregat, zusammengehalten durch den Grundbegriff der Rasse. [...] Die anthropologische Auffassung nimmt die Möglichkeiten geistigen Sehens in sich auf, um das von ihnen Ergriffene zugleich zu einem naturalistischen Sein zu degradieren. Ihr Denken ist beherrscht von dem Maßstab vitaler Dauer, [...] ihre unwillkürliche Voraussetzung ist, man könne pflegen, züchten, herstellen, eingreifen. [...] Eine Neigung, sich seinsmäßig für edler zu halten oder, weil man nun einmal niedriger sei, auf Ansprüche an sich zu verzichten, läßt die Freiheit in einer naturalistischen Notwendigkeit erlahmen.«15 Die ›Naturalisierung‹ des ›geistigen Seins‹, das dürfte eine weithin unter den Gebildeten zustimmungsfähige Formel für die ›Rasse‹ gewesen sein. Das positioniert den Rassebegriff nicht nur ›zwischen‹ den Lagern der Geistes- und Naturwissenschaftler, sondern tendenziell auch zwischen den Generationen. Für ehrgeizige Nachwuchskräfte konnte es, bei enger werdenden Möglichkeiten in den geisteswissenschaftlichen Fächern, aussichtsreich erscheinen, im Namen der ›Rasse‹ gegen Kultur- und Bildungshypertrophie zu wettern. Der Rassebegriff konnotiert Modernität, und er hat den Vorzug, semantisch so plastisch zu sein, daß man auch 14 15

L. Schemann: Rassen, a. a. O. [Anm. 12] Bd. 1 (1928) 4 bzw. 12. K. Jaspers: Situation, a. a. O. [Anm. 13] 156 ff.

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unter diesem modernen Etikett weitermachen kann wie bisher. Vielfach findet man (vor wie nach 1933) in den Geisteswissenschaften rassisch umgetaufte Kultur-, Wesens- und Ausdruckskunden, in denen die klassischen Begriffe ›Stil, Kultur, Seele, Persönlichkeit‹ etc. einfach ein wenig rassisch aufgeputzt einherschreiten.16 Nicht zu übersehen ist das bei dem schillernden und äußerst erfolgreichen Literaturwissenschaftler Herbert Cysarz, der den Text, welcher dem folgenden Zitat zugrunde liegt, gleich mehrfach veröffentlicht hat: »Immer genauer versuchen wir denn nach den Punkten zu greifen, wo die leiblichen und die sittlichen Züge ineinstreffen. Nach diesen Schlüsselstellen zielte einst der klassische Begriff der Persönlichkeit, zielt jetzt, gemeinschafts- und geschichts- und naturverbundener der gesichertste Begriff der Rasse. Kein zoologischer, nicht einmal ein bloß biologischer Begriff , sondern ein anthropologisch-totaler, der die besondere Stellung des Menschen unter den Lebewesen, ja im Weltgeschehen herausarbeitet! Rasse, im fortschreitend wissenschaftlichen Sinn des Namens, bedeutet uns nicht einfache Abhängigkeit hinzukommender seelischer von vorweggegebenen leiblichen Dingen. Sie besagt eine unzerreißbare Einheit der leiblichen, seelischen, geistigen, verhaltens- und ausdrucksmäßigen Eigenschaften.«17 Der bekannteste und erfolgreichste Fall einer bloß terminologisch herausgeputzten Rassenlehre, die eigentlich eine Kultur-, Stil-, Persönlichkeitslehre ist, dürfte von dem Husserl-Schüler Clauß stammen, der neben dem Rasse-Günther vor und nach 1933 einer der gefragtesten Schulungsredner der NSDAP gewesen ist.18 Ganz offensichtlich standen die Geisteswissenschaftler allenthalben vor der taktischen Entscheidung: Sollten sie ›Rasse‹ als ›naturwissenschaftlichen‹ Übernahmeversuch, als Übergriff in das eigene Geist-Terrain, ablehnen oder sollten sie den Begriff rhetorisch eingemeinden, als Modernitätssignal einbauen und in der Sache wie gehabt weitermachen (mit ›Rassengeist, Rassenstil, Rassenpersönlichkeit, Rassenseele‹)? Skepsis wird gespeist aus dem meritokratischen Selbstverständnis der Mandarine und aus dem deterministischen, die (zumal geistige) ›Freiheit‹ verleugnenden Charakter der ›Rasse‹-Konstruktionen. Das für einen Wert zu nehmen, was die Natur aus einem gemacht hat, widerstrebt den Generalen des Bildungsbürgertums. Einen gangbaren semantischen Ausweg liefert da bestenfalls die ethnodarwinistische ›Naturalisierung‹ von ›Geist‹ und ›Sprache‹ als den Gaben, welche die Natur (und das heißt dann eben auch: die ›Rasse‹) den Völkern für ihren Lebenskampf mit- und aufgegeben haben. In diese Abteilung gehört der Alt16 Vielfach ist bemerkt worden, daß die ›rassisch‹ naturalisierte Ausschließung bereits in den 20er Jahren die Schulen erobert, bevor sie auch in den akademischen Geisteswissenschaften Boden gewinnt. 17 Herbert Cysarz: Weltbild und Forschungslage der deutschen Geisteswissenschaften. In: Veröffentlichungen des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts Bukarest (Jena, Leipzig 1940) 16 f. 18 Zu dessen einigermaßen abenteuerlichem Leben vgl. die Arbeit von Peter Weingart: Doppel-Leben. Ludwig Ferdinand Clauss: Zwischen Rassenforschung und Widerstand (Frankfurt a. M. 1995).

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germanist und Religionswissenschaftler Hermann Güntert, der wesentlich an der Nazifizierung der renommierten sprachwissenschaftlichen Zeitschrift Wörter und Sachen beteiligt war: »Mit der Sprache hat sich der einzelne Volksgeist eine Festung gebaut, um sich selbst in dem unendlichen Wandeln und Fluten der Kräfte und Erscheinungen behaupten zu können. So werden die Sprachen zu Spiegelbildern der verschiedenen Denkweisen der Völker, der Volksgeist hat sich in der Muttersprache gleichsam objektiviert. Wir sahen im ersten Vortrag, daß nur Besinnung auf Geist, und zwar – da es keinen allgemein gleichen Menschengeist gibt – auf den deutschen Geist unser Volk retten kann.«19 Der ›erste Vortrag‹, auf den hier Bezug genommen wird, trägt den Titel Die Rache der Natur und naturalisiert den ›Geist‹ als Waffe für das Überleben des Menschen; der zweite Vortrag trägt den Titel Vom Wesen des deutschen Geistes als Folge seiner Erbanlage und rekonstruiert die ›Herrenvölker‹-Mischung, aus welcher die Germanen hervorgegangen sein sollen: »Rassenmäßig waren sie recht ähnlich, beide ausgesprochene Langköpfe im Gegensatz zu den mehr rundköpfigen, kleiner gewachsenen einheimischen Jäger- und Fischerstämmen.«20 Konstruktionen dieses Typs waren sicherlich darum nicht selten, weil sie ›Blut‹ und ›Rasse‹ als ursächliche Faktoren für ›Geist‹ und ›Sprache‹ der Völker an deren fernen Anfang verlegen. Auch das erlaubt es den Geisteswissenschaftlern, am Nimbus der ›Rasse‹ zu partizipieren und doch weiter zu machen wie gewohnt. Bei den völkischen Aktivisten wiederum gibt es eine ganz andere Motivlage für die verbreitete Ablehnung des Rassegedankens, die jedoch nicht ganz ohne Verbindungen zum Vorbehalt der Gebildeten ist. In den völkischen Auseinandersetzungen gilt der Rassebegriff vielfach als nicht mobilisierend, als ungeeignet für die völkische Propaganda, denn er schließt, salopp gesagt, die falschen Leute aus. Konsens bei den populären Propagandisten à la Günther ist der rassisch gemischte Charakter des deutschen Volkes. Es besteht aus ›nordischen‹, ›dinarischen‹ und einigen anderen Gruppen. Die Befürchtung der völkischen (insbesondere der sprachvölkischen) Propagandisten lautet, diejenigen, die nicht dem nordischen Ideal entsprechen und rassisch gewissermaßen zweite Wahl sind, möchten nicht sonderlich motiviert sein, sich für die gerechte Sache ›ihres‹ Volkes einzusetzen. Empörung weckt vielfach der Widerspruch zwischen rassischer und nationaler Ein- bzw. Ausschließung. Da wir bei der Auseinandersetzung zwischen Sprach- und Rassevölkischen sind, hören wir zunächst Schmidt-Rohr, den jugendbewegten Wortführer der sprachvölkischen Fraktion im Volksdiskurs: »Selten wird es entschieden ausgesprochen, daß der folgerichtig zu Ende gedachte Rassegedanke dem deutschen Nationalgedanken ganz notwendig feindlich ist. […] Gobineau nennt mit erfrischender Klarheit die Idee des Vaterlandes eine ›semitische Monstrosität‹.«21 19 20 21

Hermann Güntert: Deutscher Geist. Drei Vorträge (Bühl-Baden 1932) 102. Ebd. 46. G. Schmidt-Rohr: Mutter Sprache, a. a. O. [Anm. 6] 295.

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In diesem Gobineau-Zitat erkennen wir mühelos ein Produkt der politischen Konstellation des ersten, antinationalen und pro-adeligen Rassebegriffs. Der Adelselite mußte es erlaubt und geradezu natürlich sein, »sich nach Bundesgenossen im Ausland umzusehen und den Vorwurf des Landesverrats zu bagatellisieren.«22 Eine ähnliche Konstellation zieht wieder herauf, als die Nazis um 1940 fast ganz Europa besetzt halten und sich nach ›artverwandten‹ (oder dazu erklärten) Quislingen und Fünften Kolonnen umschauen. Erst dann schlägt die Stunde des politischen Rassenbegriffs. Erst dann erweist der Rassebegriff sein enorm flexibles Potential für Einschluß und Einbindung, seine Fähigkeit, Staats- und Völkergrenzen propagandistisch zu unterlaufen. Diese unheimliche außenpolitisch-imperiale Flexibilität ist jedoch gerade das, was ihm nach dem Urteil seiner sprachvölkischen Feinde in den Jahren um 1933 für die innenpolitische Szene zum verhängnisvollen Nachteil gereicht. Vorerst, um 1933, sieht keiner diese Potentiale der ›Rasse‹. Statt dessen streitet man um die respektiven Ein- und Ausschließungspotentiale von ›Rasse‹ und ›Muttersprache‹, und es lohnt, einen Augenblick bei den drei folgenden Zitaten zu verweilen: »Indem so das Volk zwischen einen rassischen Ursachenbestand und ein rassisches Zielbild gleichsam als ein Durchgangspunkt hineingeschoben wird, entsteht die eigentümliche Relativierung, die heute der eigenständigen Volklichkeit durch dogmatische Rassentheorie und Rassenpolitik droht.«23 »Von hier aus ist dem Gegensatz [Sprache vs. Rasse; C. K.] also nicht beizukommen. Auf der anderen Seite besteht unleugbar die Notwendigkeit, dem Rassegedanken durch Hochhaltung der Sprache eine Schranke zu setzen, die ihn vor Internationalisierung schützt. Denn wenn z. B. H. F. Günther mit Triumph verkündet, in Zukunft würden gewisse nordische Engländer lieber auf nicht-nordische Volksgenossen als auf nordische Deutsche schießen, so muß man in der Tat fragen, ob er diesen Gesichtspunkt auch von dem nordischen Teil des Deutschtums entsprechend angewendet wissen will.«24 »Auch für die Sprachgemeinschaften gilt ja, daß ihre Mitglieder im allgemeinen unter den Begriff der rassisch verwandten Menschen fallen. Immerhin ist dieser Begriff nicht so eindeutig, daß es nicht Meinungsverschiedenheiten über seine Auslegung geben könnte, und an diesem Punkt macht sich bemerkbar, daß der Rassegedanke seinem Wesen nach mehr das Ziel der Auslese, der Sprachgedanke dagegen mehr das Ziel der Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Beiden Gedanken wohnt unbestreitbar Berechtigtes inne, die Aufgabe besteht also darin, sie auch im H. Arendt: Elemente, a. a. O. [Anm. 3] 291. Max Hildebert Boehm: Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften (Göttingen 1932), Nachdr. u.d.T.: Das eigenständige Volk. Grundlegung der Elemente einer europäischen Völkersoziologie (Darmstadt 1965) 18. 24 Heinz Kloß: Rez. zu Georg Schmidt-Rohr: Sprache, a. a. O. und ders.: Mutter Sprache, a. a. O. [Anm. 6]. In: Der Auslandsdeutsche. Deutsches Ausland-Institut Stuttgart 17 (1934) 127–131. 22 23

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Hinblick auf das Problem des Volkes zu einer fruchtbaren Begegnung zu bringen.«25 Was Max Hildebert Boehm, jungkonservativer Wortführer einer ›volklichen‹ Geisteswissenschaft und einflußreicher Autor des Eigenständigen Volkes 26, hier äußert, das sieht zunächst aus wie der übliche Vorbehalt der ›Geistigen‹ gegenüber den ›naturwissenschaftlichen‹ Rassekonstruktionen. Tatsächlich plädiert das Hauptwerk Boehms indessen für die begriffspolitische Anerkennung des ›Volkes‹ gewissermaßen als Letztbegründungskategorie, über die weder ›geistige‹ oder ›kulturelle‹ noch ›rassische‹ oder sonstige ›volksbildende‹ Kräfte hinausführen. Im Unterschied zu zahllosen Vertretern des ›Volkes‹ als einer geistig-sprachlichen Größe27 setzt Boehm (trotz seiner Äußerungen 1933 in Jena als ›Volksforscher‹ akademisiert, aber trotz mehrerer Versuche nie in die NSDAP aufgenommen) auf das ›eigenständige‹ Volk. Und in der Herabstufung des ›Volkes‹ durch die ›Rasse‹ sieht auch er den Verlust flexibler Ein- und Ausschließungsmöglichkeiten, die das ›Volk‹ mit seinen fließenden Bindungen eher bietet. Erkennbar wird am zweiten Zitat, daß die volkspolitisch-propagandistischen Potentiale von ›Rasse‹ und ›Muttersprache‹ bewußt verglichen und beurteilt werden, bis in die akademische Sprachwissenschaft hinein (deren Wortführer ist Leo Weisgerber um 1933 bereits). Zumal die grenz- und auslandsdeutschen Aktivisten, die langsam auch in das Feld der akademischen Sprachwissenschaft hineinrücken (qua Sprachsoziologie, Sprachinselforschung, Dialektologie), sehen ihre ›Brüder außerhalb der Reichsgrenzen‹ mit dem Reichsvolk vor allem durch die ›Muttersprache‹ verbunden, diese Bande wollen sie erforschen und stärken, in der ›rassischen‹ Zugehörigkeit sehen sie kein Bindungspotential, das sich in der praktischen Arbeit ausnutzen ließe. Man kann an die Grenz- und Auslandsdeutschen appellieren, ihre ›Muttersprache‹ zu pflegen, aber welcher ›Rasse‹ einer zugehört, das ist keine Frage von Wille und Entscheidung. Die Sprachpolitiker und Sprachsoziologen im völkischen Lager befanden sich fast zwangsläufig in einem Dauerkonflikt mit den Rassevölkischen, weil sie sprachliche Affinitäten, naheliegende

25 Leo Weisgerber: Die Stellung der Sprache im Aufbau der Gesamtkultur. 2. Teil (Heidelberg 1934) [Sonderdruck aus Wörter und Sachen, Bd. 16] 230. 26 M.H. Boehm: Das eigenständige Volk, a. a. O. [Anm. 23]. 27 Die geistig-sprachliche Volksauffassung hat ihr fachliches Pendant in der an den höheren Schulen und in den universitären Neuphilologien fest verankerten ›deutschkundlichen‹ bzw. kultur- und wesenskundlichen Sprachauffassung, für die das ›methodische‹ Postulat gilt, daß jede Einzelheit in der Struktur einer Sprache bzw. in Duktus und Anlage eines Textes kulturalistisch zu interpretieren ist: Als Hinweis auf das ›Wesen‹ und die ›Kultur‹ des Volkes, das die jeweilige Sprache spricht. Es versteht sich, daß diese ›Wesenskunde‹ fließende Übergänge zur NS-Feind- und Gegnerforschung aufweist. Zur Wesenskunde vgl. Walter Apelt : Die kulturkundliche Bewegung im Unterricht der neueren Sprachen in Deutschland in den Jahren 1886 bis 1945. Ein Irrweg deutscher Philologen (Berlin 1967), zu ihrer Radikalisierung in Anglistik und Romanistik vgl. FrankRutger Hausmann: Anglistik und Amerikanistik im »Dritten Reich« (Frankfurt a. M. 2003) bzw. ders.: »Vom Strudel der Ereignisse verschlungen«. Deutsche Romanistik im »Dritten Reich« (Frankfurt a. M. 2000).

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sprachliche ›Verwandtschaftsverhältnisse‹, für die völkische Propaganda und für die Ausdehnung deutscher ›Weltgeltung‹ nutzen wollten, möglichst ohne weit gehende ›rassische‹ Einschränkungen. Das führt z. B. zu der später friktionsreichen Planung (vorangetrieben durch Heinz Kloß im Stuttgarter Ausland-Institut und durch Franz Thierfelder in der Deutschen Akademie München), die große Verbreitung des Jiddischen in Osteuropa zur Förderung des Deutschen als allgemeiner Kultur- und Zivilisationssprache dort zu nutzen, sind doch Sprecher des Jiddischen ohne große Mühe in der Lage, hochdeutsch zu lesen und zu verstehen. Kloß formuliert das gegen Ende der Weimarer Jahre, mit deutlichem Blick auf die Rassevölkischen, folgendermaßen: »Landschaft oder Züchtung, Dingwille oder Menschenwille können Rassen schaffen. Den seßhaften Menschen schafft seine Landschaft, aber da die Menschen sich übereinander und durcheinander schoben, finden wir selten in einem Lande einen einheitlichen Menschentyp. Die großen Farbenrassen nennen wir Horizontalrassen, ihre Unterrassen Dialektrassen, als überbrückende Möglichkeit haben wir die durch den Menschenwillen, durch Züchtung geschaffene Vertikalrasse, die notwendig heimatlos ist. […] Wie die Sprache als Mittel der Rasse verwendet werden kann, dafür ein Beispiel: Wir können den nordischen Menschen, wenn wir an seine nicht landgebundenen Eigenschaften denken, mit dem dinarischen und dem sogenannten vorderasiatischen (armenoiden) Menschen zusammenstellen. Das Judentum hat als wesentlichen Bestandteil viel vorderasiatisches Blut in sich, das gleiche Judentum hat als Umgangssprache in seiner Mehrzahl das Jiddische, eine dem Deutschen nahe verwandte Sprache. Will man eine psychische Zusammenarbeit zwischen nordeuropäischen und jüdischen Menschen ermöglichen, so wird das mit Hilfe des Jiddischen sehr leicht […].«28 Insbesondere Kloß hegte große Erwartungen bezüglich der Nutzbarkeit des Jiddischen zugunsten der ›Weltgeltung‹ der deutschen Sprache. Nicht nur in Osteuropa, auch in den USA (die waren sein eigentliches Fachgebiet) wollte Kloß das Einflußgebiet der deutschen Sprache mit Hilfe des Jiddischen erweitern, das er für eine geborene »Mittlersprache« und (im Anschluß an den großen französischen Indogermanisten und Sprachsoziologen Antoine Meillet) für einen sprachpolitischen »Aktivposten« des Deutschen hielt.29 Dieser Umstand hat freilich Kloß’ Laufbahn nach 1933 kaum behindert, wenn auch manche Parteigenossen mit Mißtrauen auf den sprachvölkischen Aktivisten geschaut haben dürften, der, wie man oben lesen kann, auch nach 1933 durchaus zu provozieren wußte.30

28 H. Kloß: Rassen. In: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur 19 (1928) März, H. 12, 960. 29 H. Kloß: Deutsche und Jidden. In: Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums / Deutsche Akademie 1 (1930) Febr., 1–13. 30 Zu Heinz Kloß (auch: ›Kloß‹ sowie einige Pseudonyme, z. B. ›Klaus Brobst‹) vgl. das einschlägige Kapitel in: Christopher M. Hutton: Linguistics and the Third Reich: Mother-Tongue Fascism, Race and the Science of Language (London 1999).

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Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Bevölkerungsgenetik (Eugenik, Rassenhygiene), die Richtung innerhalb des ›wissenschaftlichen Rassismus‹, die bei den Geisteseliten ebenfalls mit Mißtrauen beäugt wurde. Dort finden wir das verbreitete (und in der Tat für die Mandarine bedrohlich klingende) Motiv von der bevölkerungsbiologischen »Unterwertigkeit« der Gebildeten und von den schädlichen »Zehrwirkungen« der Kultur und der übertriebenen Kultivierung des Geistigen: »Jenes natürliche Phänomen von der biologischen Unterwertigkeit fast jeder eminenten Persönlichkeit verstärkt sich in der Gegenwart dadurch, daß auch diejenigen, die von Natur guter Durchschnitt sind, in der heutigen Umwelt schon durch das bloße Streben nach Hochleistung in eine ähnliche Lage geraten. Nicht nur Künstler und andere Menschen von individueller Sonderleistung, sondern z. B. auch höhere Beamte und solide Geschäftsleute kommen in der heutigen Umwelt […] zunehmend häufig zu der Ansicht, daß der Karriere und dem wirtschaftlichen Erfolg das Kind schade, […]. Hier gilt es jetzt auch für die nationalen Parteien, den Wind in die Segel zu nehmen, damit bei Bewertung der Menschen Phänotyp und Biotyp in billiger Weise gegeneinander abgewogen werden.«31 Während ein Propagandist des rassenhygienischen ›Normalismus‹ in Justiz und Verwaltung wie Ludwig Flügge pseudomodern für die Hebung des genetischen Massenniveaus argumentiert (»flexibel normalistisch« im Sinne von Jürgen Link32 und mit der Gaußschen Normalverteilungskurve in der Hand gleichsam), konstruiert Theodor Steche aus dem nämlichen Motiv ein Argument für die wachsende Bedeutung der Sprache (eine ähnlich pfiffige Umkehrung des bevölkerungsbiologischen Argumentes habe ich bei sonst niemandem gefunden): »Je ungünstiger die Vererbung arbeitet, desto leistungsfähiger muß die Sprache sein, wenn man überhaupt die jetzige Kulturhöhe ungeschmälert der nächsten Generation übergeben will.«33 Aus der mißlichen eugenischen Lage wird hier eine zwangsläufig größere Bedeutung der sprachlich-kulturell-geistigen ›Vererbung‹ hergeleitet, eine Idee, die zwar nicht unbedingt den (immerhin auch ganz tüchtigen) Sprachdidaktiker Steche ehrt, aber den fachpolitischen Stichwortgeber. Innerhalb der Geisteswissenschaften, so das knappe Resümee, war man sich durchaus bewußt, welche Verbindungen der Rassebegriff schlägt und worauf man sich mit seiner Übernahme einlassen würde. Ebenso aber auch im vielstimmigen Lager der politisch hoch bewußten völkischen Aktivisten, die Reichweite und Programmfähigkeit ihrer Fahnenwörter mit hohem Reflexionsniveau prüfen. Der Streit um Schmidt-Rohr, den beredten Wortführer der Sprachvölkischen, der zugleich Gewährsmann der akademischen ›Muttersprache‹-Fraktion um Weisger-

31 32

L. Flügge: Erbbiologisches Denken, a. a. O. [Anm. 4] 22 ff. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (Opladen

1996). 33 Theodor Steche: Die Wirkungen der Sprache innerhalb eines Volksganzen. In: Volksspiegel 1 (1934) 257–263, hier 261.

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ber war, war also doppelt bedeutsam. Einerseits meldet er den Anspruch der Sprachfraktion an, auch nach der Machtübergabe ein gewichtiges Wort mitzureden, andererseits gefährdet er mit seinem Angriff auf die Rassevölkischen nach 1933 zusehends die Akademisierungsbemühungen der akademischen und außerakademischen Sprachkämpfer. Nach der Machtübergabe an die NSDAP, so läßt sich leicht zeigen, verändern sich nämlich die argumentativen Konstellationen um den Rassebegriff zunächst kaum. Was sich jedoch sofort und radikal verändert, ist der Rückhalt, den die ›rassisch‹ argumentierenden Fraktionen nunmehr in Staat und Bewegung haben und den sie sofort als Ressource für die Stärkung der eigenen Position zu nutzen suchen. Der Streit um Schmidt-Rohr, den Wortführer der sprachvölkischen Fraktion im Volkstumsdiskurs, führt alsbald zu einem allerdings nicht erfolgreichen Parteiausschlußverfahren. Markant ist, daß Schmidt-Rohr trotz seiner abweichenden Linie in der ›Rassenfrage‹ sowohl akademisch als auch außerakademisch weiterhin zitiert, diskutiert, berücksichtigt wird. Lediglich seinem Aufstieg in die Parteielite stehen nunmehr Widerstände entgegen: Die Rosenberg-Fraktion läuft Sturm gegen seine ›volksfeindliche Sprachphilosophie‹, und damit er später als Leiter der geheimen sprachsoziologischen Abteilung im SS-Ahnenerbe seine Politkarriere fortsetzen kann, muß er 1939 in den Zeitschriften Rasse und Muttersprache offiziell den Primat der ›Rasse‹ für die »Volkserhaltung« anerkennen.34 In diesem Konflikt zeigt sich ein Muster, das zwischen 1933 und 1945 immer wiederkehrt und von dem auch NS-Prominenz nicht verschont bleibt. ›Rasse‹ wird zum diskursiven Schlachtfeld, zum Feld, auf dem man Ehrgeizige und Konkurrenten in der Partei ausstechen kann (vergleichbar vielleicht dem Feld der polit-moralischen Verfehlung in der heutigen BILD-Zeitungsdemokratie, wo man ja auch gehen muß, wenn man Parteigelder gewaschen, Hausangestellte an der Steuer vorbei beschäftigt oder Beraterverträge ohne öffentliche Ausschreibung vergeben hat, nicht wenn einen die politischen Gegner und Konkurrenten zur Strecke gebracht haben!). Im Feld der Geisteswissenschaften führt das zu einer Konstellation, in der ›Rasse‹ eine rhetorische Überbietungsressource für politisch enthemmte Ehrgeizlinge wird. Mit der Einführung in die rassenkundliche Sprachforschung versucht etwa der Romanist Edgar Glässer zugleich, die sprachvölkische Fraktion auszustechen und durch demonstrative NS-Bekenntnisrhetorik Platz für fachliche Theoriedebatten freizuräumen.35

34 G. Schmidt-Rohr: Die zweite Ebene der Volkserhaltung. In: Rasse. Monatsschrift für den nordischen Gedanken 6 (1939) 81–89; ders.: Rasse und Sprache. In: ebd. 161–168; identischer Abdruck beider Texte in: Muttersprache. Zeitschrift für deutsches Sprachleben 54 (1939) 7, 201–207 u. 9, 265–270. 35 Edgar Glässer: Einführung in die rassenkundliche Sprachforschung. Kritisch-historische Untersuchungen (Heidelberg 1939).

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IV. Schlußfolgerungen für die Begriffsgeschichte Die Begriffsgeschichte von ›Rasse‹ in den Geisteswissenschaften versorgt uns mit dem Beispiel einer ereignisgeschichtlich variablen Kopplung von Begriffsentwicklung und Macht- bzw. Entscheidungsprozessen. Wer weitere, gleichwohl in der Sache ganz anders gelagerte Beispiele für solche Kopplungen sucht, der wird leicht fündig. Ein politischer Feind- und Kampfbegriff, der in der kulturkritischen Publizistik und bei der katholischen Rechten der späten Weimarer Jahre zu verorten ist, wäre z. B. der ›Kulturbolschewismus‹-Vorwurf gegen alles, was sich mit der furchteinflößenden kulturellen Moderne in Verbindung bringen ließ.36 Der ›Kulturbolschewismus‹ verschwindet nach 1933 spurlos, nachdem er die bildungsbürgerlich imprägnierten Schichten in die NS-Front einzuordnen half. Ohne die skizzierte Rückbindung an die krisenhaften Weimarer Endjahre wird er zu einer funktionslosen Reminiszenz an die ›Systemzeit‹. Der master term der ethnopolitisch geprägten Debatten, das ›Volk‹, liefert natürlich ebenfalls Beispiele für die Transformationen, denen macht- und entscheidungsnahe Grundbegriffe im 20. Jahrhundert unterliegen. Ich plädiere für eine Begriffsgeschichte, die sich ihrer historisch variablen Bindung an Macht- und Entscheidungsprozesse bewußt wird. Eine Begriffsgeschichte von ›Globalisierung‹ wird künftig nicht möglich sein, wenn sie nicht einbezieht, welche macht- und wirtschaftspolitischen Entscheidung der Bevölkerung der Ersten und der Dritten Welt als globalisierungsbedingte Sachzwänge vermittelt worden sind. In diesem Sinne sind in einer Massendemokratie (mit ihrer dezidiert doppelten Machtlogik, die aus den Komponenten ›Logik der Entscheidung‹ und ›Logik der öffentlichen Inszenierung‹ besteht) öffentliche Leitbegriffe als Kopplungsfiguren zwischen diesen beiden Logiken zu analysieren. Im konnektiven Potential der Grund- und Leitbegriffe sehe ich deren eigentlich distinktive Eigenschaft. Was solche Verkörperungen von den Objekten der klassischen Ideengeschichte und auch von den Objekten der sprachwissenschaftlichen Bedeutungsgeschichte unterscheidet, das ist eben ihre durch Trägerschicht und Reichweite der Kommunikation ergänzter ›strittiger‹ Charakter. Verkörperungen des Typs ›Rasse‹ stehen für semantische Fährenfunktionen im gesellschaftlichen Diskurs. Sie machen die öffentliche Machtkommunikation zu einer auch innerfachlich verfügbaren Ressource, und sie unterfüttern den fachexternen Machtdiskurs mit den Weihen der ›Wissenschaftlichkeit‹. Insofern partizipieren und profitieren beide Seiten von den konnektiven Potentialen. Für philosophisch imprägnierte Begriffshistoriker dürfte freilich die Vermutung kränkend sein, daß die Wirkung politischer Leitbegriffe (und ihrer mehr oder minder ›fachlichen‹ Adaptionen) gerade nicht auf den ›begrifflichen‹ Merkmalen dieser semantischen Gebilde zu beruhen scheinen, sondern eben auf den kognitiv ele36 Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945 (Frankfurt a. M. 1999).

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mentaren Leistungen der Konnektivität und der Streuung. Bei Ausdrücken wie ›Rasse‹, ›Geist‹ oder ›Kultur‹ sind die fachlichen Terminologisierungsversuche nicht viel mehr als bescheidene Anfänge kognitiver Strukturbildung vor dem Hintergrund weiter wirkender (und die Plausibilität und Zirkulationsfähigkeit befördernder) Konnotationen.37 So wenig, wie wir heute die konnotativen Ladungen einfach ignorieren können, die der NS-Völkermord dem Rassebegriff erteilt hat, so wenig konnten sich die Akteure um 1933 von den modernisierenden, ›naturwissenschaftlichen‹ und schließlich hoch polarisierenden Potentialen des Ausdrucks im NS freihalten. In diesem Sinne kann man durchaus nicht zwischen dem ›Gebrauch‹ und dem ›Mißbrauch‹ semantischer Verkörperungen abgrenzen. Auch der ›fachliche‹ Gebrauch kann die propagandistischen Gehalte nicht einfach aushängen. Die Theoretisierung und Terminologisierung semantischer Verkörperungen wie ›Rasse‹ ist eine Strategie der ›Diskursverknappung‹ (im Sinne von Michel Foucault38). Wer einen solchen Ausdruck aufnimmt und ihn fachlich definiert, in ein ›System‹ einsetzt, der sorgt dafür, daß künftig nur ausgewählte Verwendungen des Ausdrucks fachliche Dignität genießen. Welche das sind, ist aber im Zweifel nicht weniger strittig als im politischen Gebrauch. Auch fachliche Gebrauchsweisen sind autoritativ, aber sie sind nicht auf die gleiche Weise mit weiterführenden Machtpraktiken verbunden, wie der ›Letztstatus‹ von ›Rasse‹ im Übergang von politischem und fachlichem Diskurs der NS-Jahre belegt: Alle Scharmützel um den ›richtigen‹ Rassebegriff im NS enden mit der Disqualifizierung eines Kombattanten durch Staats- und Parteistellen (meistens durch Walter Groß, den Leiter des Rassepolitischen Amtes der NSDAP). Programmatisch wäre für die Untersuchung solcher variabler Kopplungen zwischen ›Begriffen‹ bzw. ›Verkörperungen‹ und Machtpraktiken auf die folgenden (in der sprachwissenschaftlichen Semantik eher stiefmütterlich behandelten) Eigenschaften solcher Ausdrücke zu achten: a. Konnektivität, Konnektionspotential der Wörter: Welche Diskurse werden im Gebrauch des Ausdrucks verknüpft, welche Differenzen überbrückt? b. Streupotential: Wie weit reicht ein solcher Ausdruck? Fungiert er in Kommunikationen ganz unterschiedlicher Ordnung mit unterschiedlichen Werten, aber unter dem nämlichen Wortkörper?39 c. Flexibles Inklusions- und Exklusionspotential: Welche Akteure, Gruppierungen, Themen werden mit Hilfe des Ausdruckes ein- bzw. ausgeschlossen? 37 Zum Konnotationsbegriff ist immer noch heranzuziehen die konzise und programmatische Darstellung von Utz Maas: Konnotation. In: Politische Sprachwissenschaft. Zur Analyse von Sprache als kultureller Praxis, hg. von Franz Januschek (Opladen 1985) 71–95. 38 Michel Foucault: L’ordre du discours (Paris 1972), dt.: Die Ordnung des Diskurses (München 1974). 39 Wie ›Rasse‹ für einen Eugeniker, einen Anthropologen, einen Philosophen, einen Literaturwissenschaftler etc. ganz unterschiedliche semantische Werte verkörpert und zugleich deren Zusammenhang suggeriert.

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d. Konnotative Ladungen: Welche Spuren vergangener sprachlicher und soziale Praktiken transportiert der Ausdruck für die Benutzer zum Untersuchungszeitpunkt? Mit welchen Erfahrungen und Erwartungen verbindet er sich?40 e. Zustimmungspflicht: Wie wird der Ausschluß alternativer Artikulationen derjenigen Probleme organisiert, auf die sich der Begriff bezieht?41 f. Narrativität: Für welche ›Geschichten‹ bietet der untersuchte Ausdruck ein kommunikatives ›Kürzel‹?42 Im Fall der ›Rasse‹ ist es ein Konglomerat von Erzählungen über vergangene Größe und gegenwärtige Korruption, das in beinahe allen Feldern der öffentlichen Kommunikation konkretisiert und aktualisiert werden kann. In den Geistes- und Kulturwissenschaften wird naheliegenderweise gerne die Geschichte von der kulturschöpferischen Überlegenheit der ›Arier/Indogermanen/Nordischen‹ etc. erzählt, sie schwingt mit in allen Applikationen von ›Rasse‹ in den Geisteswissenschaften. Während die breite Öffentlichkeit von ›Rasseforschern‹ wie Günther oder Clauß mit Phänotypik und Bildchen typischer Vertreter der einen oder der anderen ›Rasse‹ traktiert wird, ist der phänotypisch fundierte Rassebegriff in der Bevölkerungsbiologie zum Untersuchungszeitraum bereits weitgehend diskreditiert. Das hindert aber die Genetiker nicht daran, ihn weiterhin zu gebrauchen, denn er verspricht Resonanz bei Öffentlichkeit und Politik, eben weil er auch genetische Überwertigkeits- und Korruptionsgeschichten mitführt. Semantische ›Verkörperungen‹ taugen zur Verbindung und Streuung von gesellschaftlichen Wissensformen und -beständen, weil sie mit sehr viel weniger innerer Konsistenz auskommen als theoriegebundene ›Begriffe‹. Insofern belegt auch das synchrone Mit- und Nebeneinander zahlloser Varianten von ›Rasse‹, daß Ausdrücke dieses Typs keine Geschichte im strengen Sinne haben, sondern eine Rezeptionslogik und eine Rezeptionsgeschichte.43 Jeder tut nolens volens mit ihnen, was sich unter den jeweils aktuellen Bedingungen mit ihnen tun läßt. Es ist eigentlich semiotisch naiv, den imperialistischen Rassebegriff auf seinen adelspolitischen ›Vorgänger‹ zurückzuführen. Es sind ja die jeweils neuen Zusammenhänge, die einen mit ›alten‹ Kon-

40 Die ›Konnotationsfalle‹ dürfte methodologisch ein zentrales Problem der begriffsgeschichtlichen Praxis sein, ist es doch kaum möglich, von den konnotativen Ladungen gänzlich abzusehen, die ein Ausdruck in der Gegenwart des Begriffshistorikers akkumuliert hat. Wir können uns eben nur schwer vorstellen, daß man z. B. im Krisendiskurs der Weimarer Geisteswissenschaften ›Rasse‹ einfach als Modernitätssignal brauchen konnte (so wie gegenwärtig die ›Medien‹). 41 In dieser Sparte (und nur in dieser) gibt es einen klaren Bruch 1933. Der offene publizistische Kampf gegen das ›Rasse‹-Prinzip wird unterbunden und das Feld der konkurrierenden autoritativen Definitionsversuche von ›Rasse‹ wird zum diskursiven ›Schlachtfeld‹, auf dem politisch getriebene Karrieren gefördert oder abgebrochen werden können. 42 Über die von historischen Grund- und Leitbegriffen und diskursiven ›Verkörperungen‹ mitgeführten narrativen Gehalte und deren Wirkung wird in der Theorie der Begriffsgeschichte seit längerem diskutiert. 43 Reinhart Koselleck hat das immer wieder betont, zuletzt in: Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels. In: Begriffsgeschichte, hg. von H.E. Bödeker, a. a. O. [Anm. 1] 29–47.

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notationen und Bezeichnungsleistungen aufgeladenen Ausdruck wieder attraktiv machen. Die Identifikation von ›Vorläufer-Diskursen‹ ist daher in der Regel nur von begrenztem Wert, zumal dann, wenn den Trägern des ›alten‹ Zusammenhangs Verantwortung für spätere Verwendungen zugeschrieben werden soll. Im Prinzip sind die diachronen Beziehbarkeiten, die ein Ausdruck wie ›Rasse‹ kumuliert, nicht anders aufgebaut als die im synchronen Nebeneinander angeordneten Beziehbarkeiten. Eine Kontinuitätssuggestion vermittelt der durchgehaltene Ausdruck nach der einen wie nach der anderen Seite. Umbauten eines fachlich-politischen Begriffes, wie hier am Beispiel ›Rasse‹ gezeigt, vollziehen sich selbstverständlich auch auf der Ebene der Nennwerte und der lexikalischen Semantik. Sie haben dort Reflexe und Auswirkungen. Die stehen indessen nicht in klaren, direkten oder vorhersagbaren Beziehungen zum machtpolitischen Tauschwert der Ausdrücke. Am Beispiel des neueren Gebrauchs von ›Reform‹ ließe sich zeigen, wie politisch erfolgreich eingeführte, breitstreuende, mit weitgehendem Zustimmungszwang versehene und eben darum zur massendemokratischen ›Weiterverwendung‹ prädestinierte Ausdrücke mit neuen und radikal umgewälzten Machtverhältnissen kompatibel bleiben, ihren diagnostisch-programmatischen Doppelsinn den neuen Lagen anpassen und im Zuge dieser Umbauten neue lexikalische und konnotative Werte annehmen. Fatal ist es, wenn auch der Begriffshistoriker der Kontinuitätssuggestion zum Opfer fällt und nicht bemerkt, daß es auch zur Leistung durchgehaltener Ausdrücke gehört, das grundstürzend Neue als altvertraut zu präsentieren.

Martin Wengeler

Tiefensemantik – Argumentationsmuster – soziales Wissen: Erweiterung oder Abkehr von begriffsgeschichtlicher Forschung?

I. Vorbemerkungen Wir, eine Düsseldorfer Forschungsgruppe in der germanistischen Sprachwissenschaft, haben 1995 eine Art Begriffsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bezüglich öffentlich brisanter Themenfelder vorgelegt. Mit einem Korpus von Pressetexten und Bundestagsprotokollen wird darin die Bedeutungs- bzw. Gebrauchsentwicklung von ›Begriffen‹ wie Soziale Marktwirtschaft, Wachstum, Nachrüstung, Gastarbeiter oder multikulturelle Gesellschaft beschrieben, und dies mit dem Anspruch, anhand dieser Bedeutungsentwicklung Aufschlüsse über die Veränderungen des gesellschaftlichen Bewußtseins, des sozialen Wissens zu erhalten. Die Ergebnisse dieses Projektes sind in dem Band Kontroverse Begriffe publiziert.1 Anders als bei den begriffsgeschichtlichen Großprojekten ist also der analysierte Zeitraum der, den die Historiker Zeitgeschichte nennen, und es geht, ähnlich wie in Rolf Reichardts Projekt(en), eher um alltagsnähere Textsorten. Im Laufe dieser Analysen politisch-gesellschaftlich zentraler und umstrittener ›Schlüsselwörter‹ sind wir u. a. darauf aufmerksam geworden, daß man über verbreitetes gesellschaftliches Wissen oder Bewußtsein nicht nur und vielleicht auch nicht in fruchtbarster Weise etwas erfahren kann, wenn man sich auf die Bedeutungsentwicklung von Schlüsselwörtern oder ›Begriffen‹ konzentriert. Metaphern und Argumentationsmuster erschienen uns als wichtige weitere Zugänge zum sozialen Wissen und seiner Veränderung durch die Zeit. Die Analyse von Argumentationsmustern kann als tiefensemantische Analyseebene diskursgeschichtlicher Arbeit aufgefaßt werden,2 womit eine Verbindung von semantisch orientierter ›Begriffsgeschichte‹ und stärker sprachpragmatisch orientierter Argumentations(muster)geschichte hergestellt ist. Vor diesem Hintergrund habe ich eine Methode der Analyse von Argumentationsmustern bzw. -topoi vorgeschlagen, mit der

1 Georg Stötzel / Martin Wengeler u. a.: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland (Berlin, New York 1995). Detaillierter auf die 50er Jahre geht ein: Karin Böke / Frank Liedtke / Martin Wengeler: Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära (Berlin, New York 1996). Die Ausführungen in Kap. II sind mit Quellenbelegen in diesen beiden Büchern genauer nachzulesen. 2 Vgl. Dietrich Busse / Wolfgang Teubert: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, hg. von Dietrich Busse / Fritz Hermanns / Wolfgang Teubert (Opladen 1994) 10–28.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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ich mir erhoffe – ähnlich wie dies mit anderen methodischen Instrumentarien soziologisch orientierte Diskursanalysen tun –, einen besseren Zugang zu gesellschaftlich verbreiteten Denkgewohnheiten, zum sozialen Wissen in einer Zeit, in gesellschaftlichen Gruppen zu erhalten.3 In meinem Beitrag möchte ich sowohl die erwähnte alltagsnähere Begriffsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland als auch den eher sprachpragmatisch fundierten diskursgeschichtlichen Analyseansatz skizzieren und exemplarisch je ein Forschungsergebnis vorstellen.

II. Kontroverse Begriffe Trotz vereinzelter kritischer Stimmen – die aber in der Regel Einzelaspekte betreffen (›falscher‹ Foucault-Bezug, Nicht-Umsetzbarkeit in konkrete empirische Forschung) oder gar nicht klar sagen, worin die Kritik besteht4 – haben sich seit Ende der 80er Jahre viele linguistische, aber auch literaturwissenschaftliche, soziologische oder historiografische Studien auf Dietrich Busses Programm einer Historischen Semantik von 1987 berufen,5 in dem er sich kritisch mit dem Koselleckschen Programm der Geschichtlichen Grundbegriffe (im folgenden: GG) auseinandersetzt. Dieser aus seiner Sicht sprachtheoretisch unzulänglichen Programmatik setzt Busse ein theoretisch ambitioniertes Programm für die Erforschung von Bedeutungswandel entgegen, das unter Einbezug von Foucaults Diskurs-Begriff sowie der wissenssoziologischen Fokussierung auf die sprachlichgesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit insofern eine Erweiterung der Begriffsgeschichte darstellt, als es umfassend alle Faktoren einbezieht, die in sprachlichen Quellen zu berücksichtigen sind, wenn man aus diesen etwas über das in einer vergangenen Zeit herrschende, verfügbare und bezüglich unterschiedlicher sozialer Gruppen möglicherweise differierende soziale Wissen, Bewußtsein und Denken erfahren will. Wie er dies zu einem Programm einer linguistisch fundierten Epistemologie zu erweitern gedenkt, ist im vorliegenden Band nachzulesen. Neben anderen haben sich ja auch die »konzeptionellen Fixpunkte des Projekts« der »ästhetischen Grundbegriffe« (im folgenden: ÄGB) bereits auf Busses Diktum berufen, daß Begriffsgeschichte darauf ziele, »›geschichtliche Wirklichkeit als sprachlich gebundene‹ (Busse 1987, S. 83) und nur so zugängliche zu erkennen«.6

3 Vgl. insbes. Martin Wengeler: »Gastarbeiter sind auch Menschen«. Argumentationsanalyse als diskursgeschichtliche Methode. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 86 (2000) 54–69 sowie ders.: Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985) (Tübingen 2003). 4 Z. B. Peter Schöttler: Historische Semantik und Diskursanalyse. In: Geschichtswerkstatt 15 (1988) 87–88. 5 Dietrich Busse: Historische Semantik. Analyse eines Programms (Stuttgart 1987). 6 Karlheinz Barck / Martin Fontius / Wolfgang Thierse: Ästhetik, Geschichte der Künste, Begriffsgeschichte. Zur Konzeption eines »Historischen Wörterbuchs ästhetischer Grund-

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Wenn dieses vielerorts rezipierte Programm7 hier also als eine theoretisch fundierte und zusätzliche Perspektiven eröffnende diskursgeschichtliche und epistemologische Erweiterung begriffsgeschichtlicher Programmatik und Forschungspraxis aufgefaßt wird, so ist es doch noch eine ganz andere Frage, wie auf der Grundlage dieses Programms empirische Forschungsergebnisse erzielt werden können, die etwas über das soziale Wissen vergangener Zeiten ›verraten‹. Statt nur zu beklagen und vorzuwerfen, daß Busse in seinem Programm nicht zeigt, wie dies möglich ist und/oder daß er mit der Vielfalt der Faktoren, die bei der Analyse sprachlicher Bedeutungskonstitution und -veränderung zu beachten ist, den empirischen Forscher überfordert,8 haben wir versucht, mit konkreten methodischen Hilfsmitteln Bestandteile dieses Programms zu verwirklichen und somit dessen Anspruch einer ›tiefensemantischen‹ Analyse von Bedeutungswandel und sprachlicher Wirklichkeitskonstitution bzw. -organisation9 gerecht zu werden. Der erste Versuch verbleibt insofern in der begriffsgeschichtlichen Tradition, als er ebenfalls den Bedeutungswandel zu ›Grundbegriffen‹ erklärter sprachlicher Benennungen untersucht. Dabei vermeiden wir allerdings diesen Ausdruck auch deshalb, weil die von uns analysierten ›Begriffe‹ wohl nicht die Qualität der in den GG oder in den ÄGB so geadelten Bezeichnungen haben. Sie haben deren Qualitäten auch deshalb nicht, weil wir nicht für die Gesamtgeschichte der europäischen Kultur zentrale Ausdrücke analysieren und weil wir als Quellen alltagsnahe statt hochkultureller Textsorten nutzen. Uns interessierte die ›Begriffsgeschichte‹ der Bundesrepublik Deutschland auf der Ebene der in den öffentlich-politischen Auseinandersetzungen im Mittelpunkt stehenden und zumeist programmatisch aufgeladenen ›Leitvokabeln‹ oder ›Schlüsselbegriffe‹. Ganz im Sinne der Koselleckschen Begriffsgeschichte verstehen wir diese als ›Vehikel von Gedanken‹, so daß über die Analyse ihres Gebrauchs etwas über das Denken, das Bewußtsein von sozialen Gruppen und wie sich dieses im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte verändert, zu erfahren ist: Weil ein Wort in einer je ähnlichen Weise gewohnheitsmäßig verwendet wird, kann die Analyse seines Gebrauchs Aufschlüsse

begriffe«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch, hg. von Karlheinz Barck / Martin Fontius / Wolfgang Thierse (Berlin 1990) 11–48, hier 21. 7 Z. B. bei Rolf Reichardt: Historische Semantik zwischen lexicométrie und New Cultural History. Einführende Bemerkungen zur Standortbestimmung. In: Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 21: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, hg. von Rolf Reichardt (Berlin 1998) 7–28; Willibald Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780–1867 (Stuttgart 1993); Ralf Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik (Frankfurt a. M. 1994) 275. 8 Z. B. R. Konersmann: ebd. und Walther Dieckmann: Vielleicht ist Wortsemantik doch noch erlaubt? In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 17 (1989) 221–225. 9 Vgl. dazu Clemens Knobloch: Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992) 7–24.

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geben über »das habituelle Denken von gewohnt gewordenen Gedanken«,10 die im Wortgebrauch impliziert sind. ›Analyse des Gebrauchs‹ ist eben die sprachpragmatisch fundierte Übersetzung dessen, was traditioneller als Begriffsgeschichte oder als Darstellung des Bedeutungswandels benannt werden würde. In der Darstellung kann eine solche nur interpretativ zu leistende Gebrauchs- und damit eben auch tiefensemantische Analyse nur auf eine narrative Form hinauslaufen. Für diese Interpretation und Narration braucht es methodische Anhaltspunkte, um aus der Vielzahl der Quellen für die Bedeutungsentwicklung relevante auszuwählen und so zu interpretieren, daß sich die ›Begriffsgeschichte‹ nicht als beliebig, sondern als methodisch so abgesichert darstellt, wie es für ein solches hermeneutisches Vorgehen möglich ist. Als methodisches Hilfsmittel dazu haben wir ein Verfahren gewählt, das z. B. auch Rolf Reichardt für sein Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe schon genutzt hat11: Sowohl in Dietrich Busses als auch in Ludwigs Jägers sich auf unterschiedliche Sprachtheoretiker berufenden Bedeutungswandelkonzept aus den 80er Jahren12 wird der Moment, in welchem dem Sprachbenutzer die Relevanz einer sprachlichen Benennung, eine Bedeutungsveränderung oder ein Wandel im Gebrauch eines Ausdrucks bewußt wird und er dies anspricht, in dem also explizit Sprache thematisiert wird, als entscheidender Indikator und Umschlagplatz für Bedeutungswandel angesehen. Daraus folgernd werden Quellen, in denen eine solche Thematisierung belegt ist, als bevorzugte Indizien für Bedeutungswandel gesucht und interpretiert. Das allein reicht aber nicht aus, denn Sprachbenutzer können mit ihrer Thematisierung von Ausdrücken auch rein idiosynkratisch oder interessegeleitet handeln, so daß solche Belege nicht zwingend etwas über den realen Gebrauch, die ›Bedeutung‹ der thematisierten Ausdrücke aussagen. Hinzukommen muß die Interpretation des unproblematisierten Gebrauchs von Ausdrücken, der dort besonders interessant ist, wo gleiche Ausdrücke von verschiedenen Gruppen mit offensichtlich unterschiedlichen Bedeutungsgehalten benutzt werden und auch dort, wo auf einen vortheoretisch als gleich gedachten ›Sachverhalt‹ mit verschiedenen Ausdrücken Bezug genommen wird. Mit der Analyse solcher zentraler Vokabeln kann und soll gezeigt werden, welches gesellschaftliche Wissen als selbstverständlich gilt, wenn mit diesen Ausdrücken unkritisch/unthematisiert sprachlich gehandelt wird, und an den Auseinandersetzungen um diese und andere Ausdrücke lassen sich konkurrierende Wirklichkeitskonstruktionen zeigen. 10 Fritz Hermanns: Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik. In: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, hg. von Andreas Gardt / Klaus J. Mattheier / Oskar Reichmann (Tübingen 1995) 69–101, hier 83. 11 Rolf Reichardt: Zur Geschichte politisch-sozialer Begriffe in Frankreich zwischen Absolutismus und Restauration. Vorstellung eines Forschungsvorhabens. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (1982) 49–74. 12 Vgl. Dietrich Busse: Überlegungen zum Bedeutungswandel. In: Sprache und Literatur in

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Um nicht nur bei solchen theoretischen und methodischen Vorüberlegungen stehen zu bleiben, möchte ich diese Form der Erweiterung der traditionellen Begriffsgeschichte an einem Beispiel zeigen. Die Erweiterung besteht also in dreierlei Hinsicht: 1) Der analysierte Zeitraum ist der, den die Historiker Zeitgeschichte nennen; 2) Die Quellengrundlage sind alltagsnähere Textsorten (Presseartikel, Bundestagsprotokolle), mit denen man etwas näher an das gesellschaftlich verbreitete Wissen herankommt als mit der Analyse der sog. Höhenkammtexte; 3) Methodisch stehen explizit sprachthematisierende Belege im Mittelpunkt der Analyse, so daß ein nachvollziehbares Kriterium der Textauswahl gegeben ist. Ich wähle ein Beispiel aus dem zur Zeit öffentlich besonders brisanten wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurs, allerdings nicht einen der Begriffe, die im letzten Jahr so umfassend vor allem in der Sozialdemokratie diskutiert worden sind. Nicht soziale Gerechtigkeit, Sozialstaat oder demokratischer Sozialismus werde ich betrachten, sondern ich möchte die Geschichte des zentralen bundesrepublikanischen Programm- und Selbstverständnisbegriffs Soziale Marktwirtschaft darstellen: Ideengeschichtlich und wirtschaftstheoretisch fußt das Konzept der ›Sozialen Marktwirtschaft‹ auf den liberalen Klassikern Adam Smith und John Stuart Mill, deren Theorien in den 30er Jahren von Vertretern der sog. Freiburger Schule (Walter Eucken, Leonhard Miksch, Franz Böhm) sowie von den sog. Ordoliberalen (Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke) aufgrund der Erfahrungen mit dem klassischen Liberalismus abgeändert wurden. Für die Umsetzung dieser Theorien, vor allem derjenigen der Freiburger Schule, in Westdeutschland und für die Durchsetzung der Terminologie waren der erste bundesrepublikanische Wirtschaftsminister und spätere Kanzler Ludwig Erhard und sein wirtschaftspolitischer Berater Alfred Müller-Armack von herausragender Bedeutung. Beide legten Wert darauf, daß ihre Konzeption nicht als freie Wirtschaft – was ihnen zu stark nach liberalistischem Kapitalismus alter Prägung klang –, sondern als Marktwirtschaft bzw. freie Marktwirtschaft und später eben als soziale Marktwirtschaft bezeichnet wurde. In zahlreichen Äußerungen und Publikationen seit den frühen Nachkriegsjahren – vor allem von Erhard – wurden sowohl diese Terminologie als auch die ihr korrespondierenden Antonyme wie Planwirtschaft oder Lenkungswirtschaft verbreitet. 1946 hatte Müller-Armack in einer Schrift die Wortzusammenstellung Soziale Marktwirtschaft geprägt. In CDU-Gruppierungen und im öffentlichen Sprachgebrauch etablierte sie sich im Laufe des Jahres 1948 neben den ebenfalls verwendeten Ausdrücken Marktwirtschaft und freie Marktwirtschaft sowie umständlicheren Wendungen wie sozial verpflichtete Marktwirtschaft und sozial gebundene Marktwirtschaft. »Peinlich vermieden«13 wurden von den Protagonisten der ›Sozialen

Wissenschaft und Unterricht 58 (1986) 51–67 und Ludwig Jäger: Notizen zu einer Theorie des Zeichenwandels. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 52 (1983) 59–68. 13 Gerold Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949 (Stuttgart 1977) 196.

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Marktwirtschaft‹ dagegen schon in dieser frühen Nachkriegszeit die Ausdrücke freie Wirtschaft und liberale Marktwirtschaft. Nachdem Soziale Marktwirtschaft 1949 in die Düsseldorfer Leitsätze der CDU aufgenommen worden war, konnte der Ausdruck allgemein etabliert und als Selbstbezeichnung von Erhardscher und CDU-Wirtschaftspolitik für die politische Werbung erfolgreich eingesetzt werden. Mit dieser Prägung gelang es, »die bis dahin konträren Kontexten zugeordneten Wörter sozial und Marktwirtschaft zum Begriff Soziale Marktwirtschaft zusammen[zuspannen].« Sowohl als Ausdruck wie als Konzept war dies neu: »Damals war es ein Programmbegriff, dessen Referenzobjekt(e) in der politischen Realität der künftigen Bundesrepublik erst hergestellt werden mußte(n).«14 Die Werbewirksamkeit dieses komplexen Ausdrucks ist wohl zum einen auf diese unterschiedlichen Herkunftskontexte seiner Teile zurückzuführen, durch die eine »Versöhnung zwischen der ökonomischen und sozialen Dimension von Politik«15 suggeriert wurde. Zum anderen ist sie das Ergebnis der gelungenen Herstellung einer engen Verbindung des Ausdrucks mit dem wirtschaftlichen Aufstieg seit der Währungsreform, insofern Aufschwung und Währungsreform als Ergebnis der mit Soziale Marktwirtschaft bezeichneten Wirtschaftsordnung dargestellt wurden. In den ersten Nachkriegsjahren, bis zur parteioffiziellen Übernahme des Ausdrucks durch die CDU im Jahre 1949, hatte dieser wirtschaftliche Aufschwung noch nicht bzw. gerade erst eingesetzt. Entsprechend war auch die Werbewirksamkeit des neuen Schlagwortes noch nicht gegeben, weil sich mit ihm noch keine konkreten Erfolge und Erfahrungen verbinden ließen. Jedenfalls zeigt das häufige Vorkommen der Ausdrücke Marktwirtschaft und freie Marktwirtschaft bei den ›Soziale Marktwirtschaft‹-Protagonisten Müller-Armack und Erhard, daß sich in diesen ersten Jahren Soziale Marktwirtschaft zur Hervorhebung des Sozialen in dieser Marktwirtschaft noch nicht durchgesetzt hatte. Seit der programmatischen Festlegung des ›Begriffs‹ in den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU von 1949 wurde Soziale Marktwirtschaft von der CDU zur Bezeichnung ihrer Wirtschaftskonzeption verwendet. Vor allem in den 50er Jahren wurden mit dem Schlagwort Wahlkämpfe bestritten und gewonnen, indem es gelang, den Wirtschaftsaufschwung dieser Zeit als Folge dieser Wirtschaftskonzeption darzustellen. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die von Unternehmensverbänden getragene ›Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs‹ mit dem Namen Die Waage, die Werbekampagnen zur Propagierung der Sozialen Marktwirtschaft mit dem Slogan »Zum Wohlstand Aller durch geeinte Kraft führt die Soziale Marktwirtschaft« organisierte. Obwohl die SPD deshalb zunehmend gezwungen war, Elemente des Konzepts zu übernehmen, um sich als regierungsfähig und

14 Josef Klein: Kann man »Begriffe besetzen«? Zur linguistischen Differenzierung einer plakativen politischen Metapher. In: Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, hg. von Frank Liedtke / Martin Wengeler / Karin Böke (Opladen 1991) 44–69, hier 52. 15 Ebd. 53.

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wirtschaftspolitisch kompetent darzustellen, stand doch das Attribut sozial immer wieder im Mittelpunkt sprachkritischer Reflexionen. Von gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Seite, ab und zu auch vom christdemokratischen Gewerkschaftsflügel wird in den Anfangsjahren angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und später angesichts der ungleichen Verteilung des neuen Wohlstands die Angemessenheit des Attributs sozial zur Bezeichnung der bestehenden Wirtschaftsordnung angezweifelt und dabei das Adjektiv als Euphemismus kritisiert. Die tatsächliche freie Marktwirtschaft werde durch das »Tarnungsadjektiv« (Lübecker Freie Presse 15. 8. 1953) sozial in ihrer wirklichen Gestalt verschleiert. Häufig wird dabei auch auf den Wahlerfolg des Schlagwortes hingewiesen. Gegen diese Kritik melden sich immer wieder Vertreter der Bundesregierung, vor allem Ludwig Erhard, öffentlich zu Wort und zählen soziale Erfolge der Bundesregierung auf, um die Adäquatheit des Attributs sozial für die bestehende Wirtschaftsordnung zu belegen, um zu zeigen, daß sie zu Recht »das Prädikat verdiene, sozial zu sein« (Frankfurter Allgemeine Zeitung 9. 5. 1952). Das zweite Argumentationsmuster, die Legitimität des Ausdrucks sozial zu behaupten, besteht darin zu erklären, daß die Soziale Marktwirtschaft aus sich heraus, durch ihr eigenes Funktionieren, d.h. auch ohne staatliche Maßnahmen sozial sei: »Sozial verdient nur jene Volkswirtschaft genannt zu werden, die ein Volk und eine Volkswirtschaft zu höchster Leistung entfacht […]«. Die dadurch ausgelöste »zunehmende Produktivität der Volkswirtschaft« sei sozial, während die Planwirtschaft, da sie diese »Leistungssteigerung« nicht schaffe, unsozial sei (Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung 10. 1. 1953). Seltener wird das Attribut sozial von unternehmerischer bzw. wirtschaftsliberaler Seite kritisiert. Sie hält den Anspruch des Attributs sozial in der Marktwirtschaft für verheerend, weil durch dieses Wort Versprechungen gemacht und auch eingehalten würden, die dem wirtschaftlichen Fortschritt oder der deutschen Wettbewerbsfähigkeit entgegenstünden und so im schlimmsten Fall unsoziale, weil die Wirtschaftsentwicklung hindernde Auswirkungen hätten. Sie wendet sich gegen die mit dem Attribut geweckten Erwartungen, die den unternehmerischen Interessen offenbar entgegenstehen.16 Die vielfältige Sprachkritik hat allerdings am Erfolg des Schlagwortes nichts geändert. Vielmehr wird es bis heute als Fahnenwort für wirtschaftspolitische Konzeptionen benutzt. Sie hat allerdings in den 50er Jahren noch dazu beigetragen, daß der Ausdruck im Godesberger Programm der SPD von 1959 nicht vorkommt, obwohl die inhaltliche Konzeption weitgehend übernommen worden ist.

16 Z. B. Friedrich A. Hayek: Was ist und was heißt »sozial«? In: Louis Baudin u. a.: Masse und Demokratie (Erlenbach-Zürich, Stuttgart 1957) 71–84; ders. dazu auch in: Industriekurier, 13. 7. 1957. Eine Neuauflage solcher Kritik wird wiedergegeben in: Frankfurter Rundschau, 30. 10. 1997.

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Heutzutage wird manchmal angezweifelt, daß das Schlagwort noch bekannt ist bzw. ob es noch mit Konzeptionen verbunden ist, die der Zweifler für konstitutiv hält (vgl. z. B. eine Karikatur in der Frankfurter Rundschau [im folgenden: FR] 30. 10. 1997). Wenn dem so wäre, hieße das, daß einiges so wie in den 50er Jahren heute nicht mehr sagbar ist, und das sagt dann eben etwas aus über das Bewußtsein verschiedener Zeiten. Ich mache zunächst einen Sprung über die von uns als sprachgeschichtliche Zäsur von ›1968‹ aufgefaßte Zeitspanne hinweg. Im Zusammenhang des wirtschaftspolitischen Diskurses kann ›1968‹ – als Chiffre für die damit verbundenen Ereignisse, nicht das Jahr – insofern als Zäsur gelten, als es durch die KapitalismusKritik der 68er, durch die erste bundesrepublikanische Wirtschaftsrezession 1967/68 und durch die seit 1973 entstehenden längerfristigen Wirtschaftsprobleme zu einer neuerlichen Diskussion wirtschaftspolitischer Konzeptionen kam. Zum einen wurden dabei (aus SPD, Gewerkschaften etc.) wieder Ideen lauter, die forderten, daß der Staat wirtschaftlich lenkend tätig sein müsse. Damit kam auch ein neues Vokabular auf (Konzertierte Aktion, Globalsteuerung, soziale Symmetrie). Zum anderen wurde auch die bundesrepublikanische Leitvokabel Soziale Marktwirtschaft wieder neu debattiert. Als ein typisches Beispiel der Sprachkritik von links kann eine Stellungnahme in einer sprachwissenschaftlichen Publikation vom Anfang der 70er Jahre gelten, in der der inzwischen renommierte Soziolinguist Ulrich Ammon Soziale Marktwirtschaft als ein Beispiel sprachlicher Manipulation der Herrschenden brandmarkt – und dabei überdies als ein Neuwort aus den 60er Jahren sprachgeschichtlich falsch einordnet. Zur Zeit der sozialliberalen Koalition wird die ›Rückkehr‹ zur Sozialen Marktwirtschaft von der CDU immer wieder eingefordert und es werden die wirtschaftspolitischen Probleme als Folge der ›Abkehr‹ von dieser Wirtschaftsordnung durch die Regierungsparteien dargestellt. In der SPD dagegen wird weiterhin die Bezeichnung der bundesrepublikanischen Wirtschaftsordnung als Soziale Marktwirtschaft als unangemessen angesehen, indem unsoziale Folgen der Wirtschaftsordnung herausgestellt werden. Seit den 80er Jahren versuchen beide großen Volksparteien, an die Werbewirksamkeit des alten CDU-Fahnenwortes anzuknüpfen und dieses in Zeiten eines etablierten ökologischen Problembewußtseins zu erweitern: In der SPD wird eine ökologische resp. eine sozialökologische Marktwirtschaft gefordert, die CDU überschreibt ein einschlägiges Kapitel in ihrem Grundsatzprogramm von 1994 mit »Für eine ökologische und soziale Marktwirtschaft«. Nach dem Kalten Krieg wird Soziale Marktwirtschaft (ohne ›ökologische‹ Erweiterung) zudem als Exportschlager für andere Länder angepriesen. Bei den wirtschaftspolitischen Diskussionen der letzten Jahre spielt die Berufung auf die Soziale Marktwirtschaft bei Kritikern von verschiedenen staatlichen Sparbeschlüssen und in der Gegnerschaft gegen marktradikale, auch neoliberal genannte wirtschaftspolitische Konzeptionen wieder eine Rolle: So beklagt der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, »die soziale Marktwirtschaft sei längst nicht mehr Leit-

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bild der Politik« (FR 30. 12. 1997), und der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte vertritt dieses Leitbild implizit, wenn er kritisiert, »die soziale Marktwirtschaft sei für ›viele Unternehmer höchstens noch ein Stück aus einer Oper der fünfziger Jahre, aber schon längst nicht mehr eine Leitlinie ihres Handelns‹« (FR 19. 1. 1998). Zudem haben inzwischen SPD und Grüne und zuletzt auch die PDS das CDUFahnenwort, das sie zuvor aufgrund seiner eindeutigen ›Besetzung‹ als CDU-Konzept immer vermieden hatten, übernommen bzw. sogar ausdrücklich erklärt, daß sie das Fahnenwort nun für ihre Ziele beanspruchen und vereinnahmen wollen (insbesondere der 98er-Wahlkampfleiter Bodo Hombach): »Die Wirtschaftspolitik der SPD setzt auf eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Die Regierung Kohl hat die Soziale Marktwirtschaft aufgekündigt. […] Soziale Marktwirtschaft ist die Verbindung von individueller Leistung und sozialer Verantwortung […]«17; »Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft« ist auch der Titel eines Strategiekonzepts Gerhard Schröders von Anfang 2003 (vgl. FR 6. 1. 2003); der ehemalige Grünen-Bundesvorsitzende Fritz Kuhn stellt in einem Interview im Mai 2000 heraus, »daß wir soziale Marktwirtschaft in einem neu definierten Sinne zum Markenzeichen der Bundesrepublik machen wollen« (FR 5. 5. 2000, S. 5). Und da nun alle Soziale Marktwirtschaft befürworten und sie erneuern wollen, greifen auch die Nachfolger der Urheber des ›Begriffs‹ auf ihn zurück, um ihre ›neuen‹ Vorstellungen und Pläne damit anzupreisen: 2001 legte Angela Merkel ein CDU-Konzept zur neuen sozialen Marktwirtschaft vor (vgl. Rheinische Post und FR 4. 1. 2003) – wobei gerade die Erweiterung der erfolgreichen Wortverbindung um das Attribut neu erkennen läßt, daß zwar das alte ›Schlüsselwort‹ beibehalten wird, daß damit aber neue, nämlich wirtschaftsliberalere Konzepte verbunden werden. Letzteres wird auch deutlich in der Namengebung der »von den Arbeitgebern der Metall- und Elektroindustrie« (FR 18. 6. 2004, S. 6) finanzierten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, wenn man sie in Beziehung setzt zu ihren politischen Aktivitäten. Das bedeutet aber auch als diskursgeschichtliches ›Ergebnis‹ der Entwicklung, daß – wie Martin Nonhoff es in einer politologischen Analyse ausdrückt – »diskursive [wirtschaftspolitische] Positionen vorerst ausschließlich innerhalb der ›Sozialen Marktwirtschaft‹ verortet werden können, wenn sie ernst genommen werden wollen.«18

17 Oskar Lafontaine am 13. 10. 1997 vor dem Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn (zit. aus: Eckpunkte einer Reform der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dokumentation. In: Frankfurter Rundschau, 16. 10. 1997, S. 16). 18 Martin Nonhoff: Soziale Marktwirtschaft – ein leerer Signifikant? Überlegungen im Anschluß an die Diskurstheorie Ernesto Laclaus. In: Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, hg. von Johannes Angermüller / Katharina Bunzmann / Martin Nonhoff (Hamburg 2001) 193–208, hier 203.

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III. Argumentationstopoi Ebenso als Erweiterung und nicht als Ablösung der begriffsgeschichtlichen Tradition möchte ich ein zweites methodisches Verfahren vorstellen, das eine im Anschluß an Kosellecks GG-Programm des öfteren formulierte Kritik aufgreift: Soweit sich Begriffgeschichte als eine Analyse sprachlich konstituierten und sprachlich zum Ausdruck gebrachten gesellschaftlichen Wissens verstehe, müsse beachtet werden, daß dieses sich nicht nur und im Zweifelsfall auch nicht bevorzugt in einzelnen sprachlichen Ausdrücken niederschlägt, sondern auch dort zur Geltung kommt, wo solche zentralen Ausdrücke = ›Begriffe‹ nicht benutzt werden. Und selbst wenn sie benutzt werden, gehörten zu ihrer ›tiefensemantischen‹ Gebrauchsanalyse die Kontexte, innerhalb derer diese Ausdrücke eine Funktion erfüllten, und damit eben die Funktionen, die sie in konkreten Sprachhandlungen haben: »Sprache besteht darin, dass und wie sie funktioniert, das Funktionieren ist ihr Wesen.«19 Diese Funktion aber läßt sich gerade in öffentlich-politischen Auseinandersetzungen, denen wir unsere Untersuchungen widmen, hauptsächlich als eine implizit oder explizit argumentative Funktion verstehen. Und deshalb ist einerseits die Gebrauchsentwicklung zentraler Ausdrücke auf der Folie der Argumentationen, innerhalb derer sie ›funktionieren‹, zu interpretieren und zu beschreiben. Das habe ich bezüglich der rüstungspolitischen Debatten im Kalten Krieg von der Wiederbewaffnungsdiskussion bis zur Debatte um die Stationierung von atomaren Kurzstreckenraketen Ende der 80er Jahre unternommen, bei denen ›Begriffe‹ wie Verteidigungsbeitrag oder Nachrüstung ihre legitimatorische Funktion eben innerhalb der zentralen Bedrohungs- und Gleichgewichts-Argumente entfalten.20 Zum anderen kann man aber auch in vielen Texten, in denen keine zentralen ›Begriffe‹ vorkommen, gleichbleibende, wiederkehrende, auch sich verändernde Argumentationsmuster finden, die Aufschlüsse über das ›soziale Wissen‹ einer Zeit bzw. verschiedener Gruppen in einer vergangenen Zeit geben. So wird im Migrationsdiskurs immer wieder die Belastung der deutschen Gesellschaft, ihrer Institutionen, Individuen oder Gruppen beklagt, ohne daß immer ein zentraler, ›leitender Begriff‹ wie Überlastung oder Überfremdung gebraucht wird. Dennoch läßt sich aus solchen Äußerungen ein Bewußtsein, ein ›Wissen‹ ihrer Produzenten herauslesen, daß Migranten eine Belastung für die deutsche Gesellschaft seien und deshalb etwas gegen ihr Kommen unternommen werden muß. Man erhält mit einem solchen Analyse-Ansatz einen methodischen Zugang zu Quellen, die durch

19 Fritz Hermanns: Linguistische Hermeneutik. Überlegungen zur überfälligen Einrichtung eines in der Linguistik bislang fehlenden Teilfaches. In: Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis, hg. von Angelika Linke / Hanspeter Ortner / Paul R. PortmannTselikas (Tübingen 2003) 125–163, hier 126. 20 Vgl. Martin Wengeler: Die Sprache der Aufrüstung. Zur Geschichte der Rüstungsdiskussionen nach 1945 (Wiesbaden 1992).

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das Raster fallen, wenn Bedeutungskonstitutionen, soziales Wissen nur anhand des Gebrauchs von ›Begriffs‹-Worten untersucht werden. Daß es daher Sinn macht, der Begriffs-Analyse eine Argumentationsanalyse, der Begriffsgeschichte eine Argumentationsgeschichte zur Seite zu stellen, ist seit den frühen Debatten um das Konzept der Geschichtlichen Grundbegriffe ja schon häufig postuliert worden, so etwa von Heiner Schultz in Kosellecks Sammelband Historische Semantik und Begriffsgeschichte,21 von Clemens Knobloch in seiner Auseinandersetzung mit den GG,22 von den britischen Begriffshistorikern der sog. ›Cambridge School‹ und von Quentin Skinner selbst und eben auch in Dietrich Busses Programm einer Historischen Semantik, jedenfalls in einem dem theoretischen Programm folgenden, mit forschungspraktischen Hinweisen versehenen Beitrag von Busse / Teubert 1994, in dem Argumentationsanalyse als tiefensemantische diskursgeschichtliche Methode vorgeschlagen wird.23 Was ich aber bei all diesen Postulaten vermißt habe, ist eine handhabbare Methode, mit der man gleichbleibende und/oder sich verändernde Argumentationen als Indikatoren gesellschaftlicher Wissensbestände in einer Vielzahl von Texten durch die Zeit hindurch, also diachron erkennen, beschreiben und vergleichen kann. Hilfen dazu lassen sich in der argumentationstheoretischen und argumentationsanalytischen Literatur finden. Als besonders anregend haben sich dabei die Methodik der Argumentationsanalyse von Josef Kopperschmidt, der ambitionierte Versuch eines gegenwartssprachlichen Topos-Kataloges von Manfred Kienpointner sowie Lothar Bornscheuers Herausarbeitung von vier Strukturmerkmalen, die den Aristotelischen Topos-Begriff auszeichnen, erwiesen.24 Diese Anregungen haben mich in der Überzeugung bestärkt, daß mit einem argumentationstheoretisch fundierten Topos-Begriff eine diskursgeschichtliche Analyse zu leisten ist, die Aufschlüsse gibt über das soziale Wissen vergangener Zeiten, ohne daß sich dieses ›Wissen‹ in einem Begriff oder – in unserer Terminologie – in einem ›Schlüsselwort‹ bündeln/kondensieren muß. En passant kann bei einer solchen Analyse allerdings auf die Relevanz einzelner ›Begriffe‹ verwiesen werden, deren ›tiefensemantische‹ Analyse die Herausarbeitung eben der Argumentationsmuster bzw. Topoi ist, innerhalb deren sie eine Rolle spielen/funktionieren. Nach Bornscheuer zeichnen den Topos-Begriff die folgenden Strukturmerkmale aus: Er ist habituell, das heißt gewohnheitsmäßig und kollektiv verbreitet und abrufbar. Sein Potenzialitätsmerkmal begründet die relative Abstraktheit der Topoi: Sie können als Denk- und Argumentationsmuster jeweils für und gegen die 21 Heiner Schultz: Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von Reinhart Koselleck (Stuttgart 1979) 43–74. 22 C. Knobloch: Überlegungen, a. a. O. [Anm. 9] 9, 21. 23 Vgl. D. Busse / W. Teubert: Diskurs, a. a. O. [Anm. 2] 23. 24 Josef Kopperschmidt: Methodik der Argumentationsanalyse (Stuttgart-Bad Cannstatt 1989); Manfred Kienpointner: Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern (Stuttgart-Bad Cannstatt 1992); Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft (Frankfurt a. M. 1976).

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in Frage stehenden Positionen eingesetzt werden. Das Intentionalitätsmerkmal betont, daß die sprechenden Individuen mit ihren Interessen und Intentionen die vorhandenen Denkmuster, Topoi, Bedeutungen zwar auch perpetuieren (Habitualitätsmerkmal), sie aber gleichzeitig mit jeder sprachlichen Handlung modifizieren. Das Symbolizitätsmerkmal hebt darauf ab, daß Topoi in verschiedener Weise sprachlich/symbolisch realisiert werden können. Diese Merkmale lassen den Topos-Begriff als ideal für eine diskursgeschichtliche Analyse erscheinen, die sowohl davon ausgeht, daß sprachlich Handelnde Bedeutungen, gesellschaftliches Wissen mit ihren einzelnen individuellen Handlungen konstituieren und in jeder einzelnen Sprechhandlung auch minimal verändern, als auch davon, daß sie dies nur im Rahmen des geschichtlich, sozial, diskursiv im Moment der Sprachhandlung Denk- und Sagbaren tun: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken.«25 Sie machen sie deshalb nicht aus freien Stücken, weil die »vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umstände« sie daran hindern – so kann die Fortführung des Satzes interpretiert werden. Und die gemeinten Umstände sind solche der »Tradition«, der »Geister der Vergangenheit« in Form von »Namen, Schlachtparole[n], Kostüm[en]«, einer von der Vergangenheit »erborgte[n] Sprache«. Dies ist aber nur ein theoretischer Aspekt, der noch keinen Hinweis darauf gibt, wie Topoi nun konkret für die Analyse genutzt werden. Orientiert habe ich mich dabei an Kienpointners Typologie formaler Argumentationsmuster, die den Anspruch hat, alle ›alltagslogischen‹ Schlußmuster, mit denen wir argumentieren, zu erfassen. Solche allgemeinen Schlußmuster wie etwa das a-minore- und a-maioreSchema, das Gerechtigkeitsargument oder das Kausalitätsmuster und das Analogieargument lassen sich zwar ebenfalls für Textanalysen nutzen. Will man aber nicht nur etwas über formale Denk- und Schlußschemata aus den Texten erfahren, was bei zeitgeschichtlichen politischen Debatten im Zweifel auf die wenig erhellende Aussage hinausläuft, daß dort fast ausschließlich mit Kausalitätsmustern argumentiert wird, müssen die formalen Muster inhaltlich, material gefüllt werden. Diese Füllung läßt sich nun nicht aus Topos-Katalogen oder Ähnlichem herleiten, sondern nur aus den Quellentexten selbst. Während und nach deren Lektüre muß der Interpret erkennen und festhalten, welche kontextspezifischen Argumentationsmuster, welche ›materialen Topoi‹ (Kopperschmidt) vorkommen, sich wiederholen, neu hinzukommen, sich in ihrer Ausgestaltung verändern. So wie Kienpointners sechzig kontextabstrakte Argumentationsmuster »zum ›kollektiven Wissen‹ einer Sprechgemeinschaft gehören«,26 so sind die kontextspezifischen Topoi ein Teil des sozialen Wissens öffentlich handelnder Gruppen zu einem Themenbereich in bestimmten Zeitspannen.

25 Karl Marx / Friedrich Engels: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1848– 1851]. Werke, Bd. 8 (Berlin 1960) 115. 26 M. Kienpointner: Probleme einer Argumenttypologie. In: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 8 (1982) 175–190, hier 181.

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Erprobt habe ich diese Methode anhand der Analyse der öffentlichen Auseinandersetzungen um die Arbeitsmigration von 1960 bis 1985, wie sie sich in Presseartikeln insbesondere der überregionalen Tageszeitungen niedergeschlagen haben. Genauer gesagt bewegen sich die von mir herausgearbeiteten Argumentationsmuster auf einer mittleren Abstraktionsebene zwischen den rein formalen Mustern und material so weit spezifizierten Mustern, wie sie in der literaturwissenschaftlichen Curtius- oder der ›soziale Topik‹-Tradition der Soziologie und Soziolinguistik untersucht werden. Die mittlere Abstraktionsebene erlaubt es, Argumentationsmuster zu erfassen, die nicht nur in einer inhaltlich spezifizierten Diskussion, z. B. zu den Fragestellungen ›Nachzugsalter begrenzen?‹ oder ›Asylrecht ändern?‹, zu finden sind, sondern in allen Einwanderungsdebatten vorkommen können. Sie erlaubt es auch, unabhängig von der konkreten sprachlichen Realisierung gleiche Grundmuster der Argumentationsweise in den Texten aufzufinden und einzuordnen. Zwei herausragende für und gegen Arbeitsmigration verwendete Topoi sollen diese Methode abschließend ansatzweise illustrieren: Der Belastungs-Topos wird ausschließlich in Argumentationen gegen Zuwanderung benutzt. Er ist erst seit der Wirtschaftskrise von 1973 für den Diskurs zentral und kann so definiert werden: Weil eine Person / eine Institution / ein Land mit bestimmten Problemen stark belastet oder überlastet ist oder weil eine solche Belastung droht, sollten Handlungen ausgeführt werden, die diese Belastung vermindern bzw. verhindern. Wie viele der von mir definierten kontextspezifischen Topoi gehört dieser Topos zu den Kausalschemata (in Kienpointners Typologie). Mit ihm wird aus einer bestimmten Wahrnehmung der Realität auf für notwendig gehaltene Maßnahmen gefolgert. In normativer Weise wird also von einem Grund (der Belastung) auf eine Folge (die Notwendigkeit der die Belastung vermindernden Maßnahmen) geschlossen oder umgekehrt von der befürchteten Folge (der Belastung) auf die Notwendigkeit der Verhinderung ihres Grundes. Weil der Topos auch aktuell noch sehr wichtig im Zuwanderungsdiskurs ist, seien als Beispiele einige Realisierungen aus den frühen 70er Jahren angeführt, die zeigen, wie kontinuierlich und stereotyp diese Argumentations- und somit auch Denkweise im Einwanderungsdiskurs vorkommt: »Jede Prognose, die ein weiteres Ansteigen der Gastarbeiterzahl signalisiert, läßt die Frage nach der Belastbarkeit der Infrastruktur (Wohnraum, Schulen, Krankenhausbetten) durch diese arbeitenden Gäste und ihre Angehörigen lauter werden. Doch erst jetzt, nachdem wir nach Ansicht der Bundesregierung bereits an der ›Grenze der Belastbarkeit‹ angekommen sind […].« (Die Zeit 23. 3. 1973) »›Wir kommen damit an die Grenze der Aufnahmefähigkeit‹, sagte am Montag Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher. Auch Bundeskanzler Willy Brandt hat sich vor kurzem in Kassel in diesem Sinne geäußert.« (FR 17. 10. 1973) »Nach Ansicht der Oppositionsabgeordneten […] ist die Grenze der Belastbarkeit der Infrastruktur durch die […] rund vier Millionen Gastarbeiter und ihre

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Familienangehörigen ›vielerorts bereits erreicht und in Ballungsgebieten sogar schon überschritten‹.« (FR 13. 8. 1974) Als zweiter Topos sei der Realitäts-Topos angeführt, der ebenfalls seit den 70er Jahren bis heute relativ stereotyp, zumeist aber zur Begründung von Haltungen, die einwandererfreundliche Maßnahmen befürworten, angeführt wird. Er ist wie folgt definiert: Weil die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, sollte eine bestimmte Handlung / Entscheidung ausgeführt / getroffen bzw. nicht ausgeführt / nicht getroffen werden. Die bestehende ›Realität‹ wird als Grund dafür angeführt, daß bestimmte Maßnahmen durchgeführt, Entscheidungen getroffen oder Handlungen ausgeführt werden sollten. Dabei wird mehr oder weniger explizit definiert, wie aus Sprechersicht ›die Realität‹ aussieht. Daraus wird dann die eigene Konklusion abgeleitet. Prototypisch für die Einwanderungsdiskussion ist die folgende Realisierung: Die Realität sei, daß Deutschland (k)ein Einwanderungsland sei, und daher müßten bestimmte politische Folgerungen gezogen werden. Auch dafür seien ein paar Beispiele aus den 70er Jahren angeführt, die die Kontinuität bestimmter Denk- und Argumentationsweisen im Einwanderungsdiskurs, z. T. aber auch die je zeitspezifische konkrete Realisierung der Topoi illustrieren: »Die Beschäftigung von ausländischen Arbeitern ist keine vorübergehende Zeiterscheinung, keine kurzfristige Notwendigkeit. Die deutsche Wirtschaft wird den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte auch in der Zukunft brauchen. Es ist an der Zeit, sich dieser Realität in der vollen Tragweite bewußt zu werden.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung 22. 10. 1970) »Das haben Gastarbeiter mit der Oder-Neiße-Grenze gemeinsam, sie sind da und sie bleiben da. Das Provisorium muß beendet, die Realitäten müssen anerkannt werden.« (Kölner Stadt-Anzeiger 4. 11. 1970) »›[…] sollen Bund, Länder und Arbeitsverwaltung davon ausgehen, daß die Bundesrepublik praktisch heute schon Einwanderungsland ist. […] Über 20 Prozent der Gastarbeiter und ihrer Familien seien schon mehr als sieben Jahre in der Bundesrepublik.‹ [Wiedergabe einer Stellungnahme der CDU-Sozialausschüsse]« (Die Welt 2. 7. 1971) »So nur erklärt sich die bundesrepublikanische Lebenslüge, daß wir kein Einwanderungsland seien. Natürlich sind wir längst ein Einwanderungsland.« (Die Zeit 6. 4. 1973) Genutzt wird die Analyse solcher Topoi insofern für eine diskursgeschichtliche Erweiterung der Begriffsgeschichte, als damit die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der öffentlichen Sichtweisen auf das Phänomen Zuwanderung und damit die gleichbleibenden und die sich verändernden Bestandteile des sozialen Wissens zu diesem Thema über den betrachteten Zeitraum von 25 Jahren konstatiert werden können. Bezüglich der exemplarisch dargestellten Topoi stellt der Belastungstopos ein Denkmuster dar, das erst zu Beginn der 70er Jahre aufkommt. Mit einigen anderen Topoi, die z. T. schon in den Jahren 1973–1975, z. T. erst in den 80er Jahren bei der Ablehnung von Zuwanderung wichtig werden, zeigt er, daß Ein-

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wanderung zunehmend als ein Prozeß empfunden und diskutiert wird, der zahlenmäßig zu umfangreich geworden ist und der im politischen Raum Begrenzungsbzw. Abwehrmaßnahmen erfordert. Die Belastung der deutschen Gesellschaft oder bestimmter Institutionen wird ab 1973 zu dem neben der Gefahren-Beschwörung zentralen Argument, Zuwanderung abzulehnen. In den 70er Jahren ist es dabei zumeist die Infrastruktur, die überlastet sei und keine weitere Zuwanderung zulasse, in den 80er Jahren sind es die Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge oder die mit Asylverfahren befaßten Gerichte, die über- oder belastet seien. Und allgemein wird die Grenze der Belastbarkeit, der Aufnahmefähigkeit der deutschen Gesellschaft seither stereotyp angeführt, wenn es darum geht, die Verhinderung von Zuwanderung zu legitimieren. Der Mißbrauchs-Topos wird erst in den 80er Jahren im Einwanderungsdiskurs relevant und verweist ebenfalls auf die Zunahme eines Abwehrdiskurses. Zwar wird auch bereits in den 60er Jahren ab und zu gegen Zuwanderer die Befürchtung laut, sie nutzten das deutsche Sozialsystem aus, aber erst in der Asyldiskussion wird diese Argumentationsweise beständig wiederholt. Einwanderung wird dabei als ein Vorgang ›konstruiert‹, bei dem die Zuwandernden deutsche Rechtsregelungen systematisch ausnutzen, mißbrauchen, um in Deutschland leben und arbeiten zu können. Solchem unrechtmäßigen Verhalten müsse durch politische Maßnahmen begegnet werden. Auch der Realitäts-Topos zeigt ein Denkmuster, das in der öffentlichen Migrationsdebatte zunehmend wichtig geworden ist. Quantitativ durchgängig dominant bei der Befürwortung von Zuwanderung sind seit Anfang der 60er Jahre humanitäre und individuell-pragmatische Überlegungen. Die ›realistische‹ Sichtweise der Zuwanderung, die von Beginn an neben der humanitären und pragmatischen Sichtweise vorhanden ist, nimmt kontinuierlich zu: Einwanderung und Einwanderer begünstigende Maßnahmen werden hierbei damit gerechtfertigt, daß es nun einmal Realität, ein Faktum sei, daß der Einwanderungs-Prozeß stattgefunden habe, auf den man nun mit angemessenen rechtlichen und sozialen Maßnahmen reagieren müsse. In den 80er Jahren ist dieser Realitäts-Topos zum häufigsten pro Einwanderung verwendeten Argumentationsmuster geworden. Zusammen mit der Zunahme juristischer Argumentationen pro Zuwanderung gehört der Topos zu einer in dieser Zeit dominanten defensiven Pro-Einwanderungs-Argumentation, die den nun vorherrschenden Abwehrdiskurs gegen Einwanderer bestätigt: Während in den 70er Jahren und in Rudimenten auch von 1980 bis 1982 noch offensiv Gerechtigkeits- und ›Realitäts‹-Gesichtspunkte für eine Besserstellung der Einwanderer angeführt wurden, gilt es nun, mit der Realitäts-Argumentation rigide Nachzugsbeschränkungen zu verhindern. Mit einer solchen topologischen Analyse scheint mir eine Möglichkeit gegeben, begriffsgeschichtliche Analysen und Beschreibungen methodisch abgesichert in Richtung diskurs- und mentalitätsgeschichtlicher Forschungsinteressen und -ergebnisse zu erweitern. Bewußt bin ich mir aber auch über die Grenzen, die dieser Analyseansatz hat. Insofern betrachte ich ihn nicht als den ›Königsweg‹ diskursgeschichtlicher Forschungsmöglichkeiten, aber doch als eine fruchtbare Möglichkeit,

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Begriffsgeschichte und politische Semantik

diachron vergleichend etwas über dominante, sich durch die Zeit verändernde oder gleichbleibende Denkweisen von sozialen Gruppen zu erfahren. Zudem soll die Methode eine empirisch handhabbare und sprachtheoretisch abgesicherte Möglichkeit zeigen, die vielfachen Forderungen nach einer argumentationsgeschichtlichen Erweiterung der Begriffsgeschichte umzusetzen. Demgegenüber verbleibt die zuerst vorgestellte bedeutungsgeschichtliche Analyse eher im traditionellen Paradigma der Begriffsgeschichte, möchte diese aber zeitlich, sozial und methodisch ergänzen.

Registrierung der Semantik – zwischen alten und neuen Medien

Dieter Kliche

Zwischen Lemmatisierung und Registrierung Über die Schwierigkeit, ästhetische Grundbegriffe zu bestimmen1

I. Lemmatisierung Bei der Entscheidung darüber, welche Wörter als Begriffsnamen in die Lemmaliste des historischen Wörterbuchs Ästhetische Grundbegriffe aufgenommen werden sollen, war zuallererst von einem weiten Begriff des Ästhetischen auszugehen. Weil eben keine Ästhetik geschrieben wurde, sondern eine gegenwartsoffene begriffsgeschichtliche Bilanz von rd. 300 Jahren ästhetischen Denkens versucht werden sollte, war auch ein offener Begriff von Ästhetik zugrunde zu legen, der es erlaubte, das ästhetische Wissen in seiner Breite zu erfassen. Damit rennt man natürlich offene Türen ein, allein schon deshalb, weil es gar keinen einigermaßen eindeutigen Begriff von Ästhetik gibt. Wolfgang Welsch hatte vor Jahren einmal den Versuch unternommen, die verschiedenen Bedeutungselemente von ›Ästhetik‹ und ›ästhetisch‹ zu sortieren: das aisthetische Bedeutungselement in der Spannung von Wahrnehmung und Empfindung; das form- und proportionsbezogene mit seiner vorrangig kontemplativen Orientiertheit; der kallistische Bedeutungssektor, in dem der Gegensatz von schön und häßlich leitend ist; der poietische Bedeutungsstrang, in dem es vor allem um das Kunstwerk bzw. allgemeiner um die Hervorbringung/Erzeugung von Gegenständlichkeit geht; das ästhetizistische Bedeutungselement, das mit einer ›Ästhetik der Existenz‹ zu tun hat usw. Er bestätigte das Fazit, daß es eine einzige verbindliche Bedeutung des Ausdrucks ›ästhetisch‹, die allen seinen diversen Bedeutungen gemeinsam wäre, nicht gibt. 2

1 Der Beitrag resümiert Erfahrungen aus der Arbeit an dem begriffsgeschichtlichen Wörterbuch: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a. (Stuttgart, Weimar 2000 ff.). Die Bände 1 bis 5 (›Absenz‹ bis ›Synästhesie‹) liegen gedruckt vor. Der 6. Band (›Tanz‹ bis ›Zeitalter/Epoche‹) wird Anfang des Jahres 2005 erscheinen. Der abschließende 7. Band mit einem Personen-Werk-Register, einem Begriffsregister und einem Artikel-Supplement ist in Planung. 2 Vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven. In: ders.: Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart 1996) 24 ff. Zur Diskussion von ›Ästhetik‹ in begriffsgeschichtlicher Perspektive vgl. ausführlicher: Dieter Kliche: Ästhetik und Aisthesis. In: Weimarer Beiträge 4 (1998) 485–505 und Dieter Kliche: Ästhetische Pathologie: Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2000) 197–229.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Registrierung der Semantik

So war auch bei dem Unternehmen eines Wörterbuchs ästhetischer Grundbegriffe nicht von einer Definition des Ästhetischen bzw. einer ästhetischen Theorie auszugehen, sondern von der ›Verfranstheit‹ des Begriffs – und dies war auch als eine begriffsgeschichtliche Chance zu begreifen: als Herausforderung, chronologisch simultane Gebrauchsformen eines Wortes in ihrer Überlagerung und Interferenz zu beobachten. Gleichwohl sollte in dem Rhizom von Bedeutungen ein konzeptioneller Fixpunkt maßgebend bleiben, der sich an einer bestimmten Bedeutung des Ästhetischen orientierte: Gegen eine Verengung von Ästhetik auf Kunsttheorie oder Philosophie der Kunst wurde der aisthetische Gesichtspunkt stark gemacht, um die Suche nach dem Ästhetischen offenzuhalten für die massenhaften ästhetischen Erfahrungen von nichtspezialisierten Menschen – und dieses Offenhalten wurde als gegenläufig verstanden zur Trennung des Angenehmen vom Schönen, die durch Kant in die philosophische Ästhetik eingeführt worden ist. Was diese Trennung des Angenehmen und Schönen für den Begriff des Ästhetischen bedeutete, kann an einer Debatte plausibel gemacht werden, die Ende der 70er Jahre zwischen den beiden in der DDR avanciertesten Konzepten einer marxistischen Ästhetik, zwischen den Autoren des Bandes Ästhetik heute (1978) auf der einen Seite, dem Architekturtheoretiker und Ästhetiker Lothar Kühne auf der anderen Seite geführt wurde. Die Autoren von Ästhetik heute, die das ästhetische Verhältnis durch einen zentralen theoretischen Grundsatz, den Widerspruch zwischen Gestalt- und Gebrauchswert, definieren wollten, hatten die These gesetzt, daß ästhetisches Verhalten »nur unter der Voraussetzung relativer Freiheit von der Dominanz unmittelbarer Zwecksetzung, der Begierde, der Notdurft zustandekommt, das heißt im uneigennützigen kommunikativen Gebrauch per sinnlichem Genuß, der nicht Verbrauch und Verzehr ist« 3. Kühne brachte dagegen vor, daß damit der praktische Lebensprozeß des Menschen vom Reich des Ästhetischen getrennt werde. »Der rationelle Kern, der in dem Gesichtspunkt der relativen Freiheit gegenüber der Dominanz unmittelbarer Zwecksetzung enthalten ist, findet in dieser Sprache nicht nur eine falsche Form, weil auch das Ästhetische durch die Begierde gefaßt und als Zweck unmittelbar gesetzt sein kann, sondern auch eine total verkehrte inhaltliche Gestalt. Ästhetisch wertig ist so das Brot nicht mehr für den Hungrigen, der es kaut, im Speichel löst, schmeckt und im Schlucken sein Hingleiten zum Magen spürt, sondern nur für die bloß anschauende Wahrnehmung des Satten oder des Übersättigten. Da aber für den Sinn des Übersättigten nicht das einfache Brot, sondern nur das konditorische Kunstwerk Torte ästhetisch wertig ist, haben es die Autoren von Ästhetik heute nicht versäumt, ihren Begriff des ästhetischen Gegenstandes nicht nur wahrnehmungs-, sondern auch gestalttheoretisch so zu konkretisieren, daß in die Objektwelt des Ästhetischen nicht noch menschliche Lebensmittel wie Brote dazwischengeraten.« Kühne führte diese Haltung zurück auf die überhöhte Bedeutung des Gestaltaspekts für die Ästhetik und dies wiederum darauf, daß implizit und gegen den an3

Joachim Fiebach / Michael Franz u. a: Ästhetik heute (Berlin 1978) 272.

D. Kliche · Zwischen Lemmatisierung und Registrierung

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derslautenden Anspruch hier doch eine am Modell der Kunst orientierte Ästhetik gegeben werde.4 Mit der Streubreite der Begriffsextension von ›Ästhetik‹ und ›ästhetisch‹ mußte man also rechnen, und dieser Umstand führte auch dazu, daß man bei der Lemmatisierung ästhetischer Terminologie mit verschiedenen Begriffstypen umzugehen hatte, die jeweils andere Bedeutungen von Ästhetik konzeptualisierten. So lassen sich ästhetische Begriffe im engeren Sinn (das sind Begriffe ästhetischer Wertung, wie ›komisch‹, ›tragisch‹, ›häßlich‹) von Begriffen der Kunstarten (wie ›Literatur‹, ›Musik‹, ›bildende Kunst‹, ›Tanz‹), von methodologischen Begriffen (wie ›künstlerische Technik‹, ›Text‹, ›Autonomie‹) oder von produktions- und wirkungsästhetisch orientierten Begriffen (wie ›Aneignung‹, ›Einfühlung‹, ›Katharsis‹) unterscheiden. Diese Uneinheitlichkeit galt es bei der Aufstellung der Lemmaliste zu berücksichtigen. Es war nicht von einer ästhetischen Theorie auszugehen, sondern man mußte empirisch verfahren und die das Ästhetische im weiten Sinn betreffenden Wortinventare von Ästhetiken, Wörterbüchern, Enzyklopädien und anderen einschlägigen Textsorten mustern. Auf dieser Grundlage und mit dem Sach- und Fachverstand der beteiligten Ästhetiker, Kunst- und Literaturwissenschaftler erfolgte die Auswahl von Grundbegriffen: nach dem Kriterium des kommunikativen Gebrauchs in Geschichte und Gegenwart. So war bei den auszuwählenden Grundbegriffen unter dem Gesichtspunkt der Intension zu fragen, ob dem bestimmten Begriff eine längere und reichere Reflexions- und Problemgeschichte zukommt, ob mit ihm grundlegende, den Gegenstand der Ästhetik ausmachende Zusammenhänge benannt werden, ob ihm ein dauerhafter deskriptiver, analytischer oder methodologischer Wert zukommt. Nach der Seite der Extension war zu fragen, ob dem Begriff eine gewisse Anwendungsbreite zukommt, ob er also in mehr als einem theoretischen Paradigma, mehr als einer Kunstwissenschaft oder Kunstgattung vorkommt. Nach diesen Musterungen schälte sich ein Grundbestand von rd. 170 Lemmata heraus. Das ist wenig, vergleicht man diese Zahl mit der Lemmaliste eines in der Vorbereitung befindlichen Lexikons Ästhetik, wo über das Doppelte, an die 420 Einträge geplant sind.5 Die Begrenzung auf wenige Artikel war Programm: Es sollte die Bedeutungsgeschichte ausgewählter Termini in monographischer Form erzählt werden. Deshalb wurde den Autoren auch möglichst breiter Raum zugestanden, um ihr Stichwort in der Vielfalt seiner Verwendungen und ausführlich begriffsgeschichtlich dokumentiert zu entfalten. Ihnen wurden dabei weniger ästhetiktheoretische Vorgaben gemacht als methodische Fingerzeige zur begriffsgeschichtlichen Methode gegeben, von denen hier drei herausgehoben werden sollen: 1. Um den onomasiologischen Blick der Artikelautoren zu schärfen, wurde in der ersten Phase des Projekts eine umfangreiche Übersicht angelegt, in der die 4 Lothar Kühne: Kritische Revue. Anmerkungen in drei Abschnitten zur ›Ästhetik heute‹ [1978]. In: ders.: Haus und Landschaft (Dresden 1985) 150. 5 Vgl. Metzler Lexikon Ästhetik, hg. von Achim Trebeß [in Vorber.].

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Registrierung der Semantik

ausgewählten Grundbegriffe in Beziehung gesetzt wurden zu subordinierbaren und zu koordinierbaren Begriffen. So tauchten beispielsweise bei dem Lemma Maß als subordinierbare Begriffe auf: ›maßvoll vs. maßlos/unmäßig‹, ›Maßstab‹, ›Regel‹, ›Symmetrie‹, ›Ordnung vs. Chaos‹, ›Qualität‹, ›taktlos vs. taktvoll‹. In dieser Relation wurden also die Begriffe in Erinnerung gerufen, die bei der Musterung für den Haupteintrag als Grundbegriffe durchgefallen waren, die aber bei der Ausarbeitung der Artikel unbedingt mit zu berücksichtigen wären. Als koordinierbare Begriffe erschienen im Falle von Maß: ›Norm/normativ‹, ›Harmonie‹ und ›Werk‹, jene Begriffe also, die mit eigenen Artikeln vertreten waren. Mit diesem Bezug wurde daran erinnert, daß vom eigenen Stichwort aus sicherlich Bezüge zu diesen Artikeln zu erwarten sind und Abstimmung zwischen den Autoren erfolgen muß. Es ging also in beiden Relationen darum, die Vernetzung der Begriffe, die durch die Entscheidung, nur wenige Grundbegriffe aufzunehmen, verdunkelt worden war, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Freilich war diese Vernetzung nur eine vorausgeschickte Hypothese, die bei der Arbeit an den jeweiligen Artikeln auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen war. Im Falle von Maß ist aus dem vormals subordinierten Stichwort ›Ordnung/Chaos‹ doch noch ein Haupteintrag und ein begriffsgeschichtlich sehr interessanter Artikel (Autorin: Bianca Theisen) geworden. 2. Um den begriffsgeschichtlichen Ansatz zwischen Wort und Sache einigermaßen präzise zu situieren, wurde großer Wert auf die Markierung der Ebenen gelegt: Einer Objektebene ästhetischer und künstlerischer Praxis steht die Metaebene der Ästhetik als Reflexion ästhetischer und künstlerischer Praxis gegenüber. Begriffsgeschichtliche Untersuchung aber situiert sich erst auf einer zweiten semantischen Ebene der Reflexion; sie ist nicht auf ästhetische Praxis selbst bezogene, sachgeschichtliche Forschung, auch nicht Geschichte der Ästhetik(-en), sondern ihre ›Sache‹ sind die Begriffe – und pointiert: Das Projekt Ästhetische Grundbegriffe soll ein (Sach-)Wörterbuch der ästhetischen Begriffe sein. Die Objekte (Sachen) und Wissenssysteme (z. B. Ästhetiken und ästhetische Theorien) sind die materiellen und ideellen Kontexte. 3. Zwischen Sach- und Wortgeschichte wurde auf eine problemgeschichtlich ausgerichtete Begriffsgeschichte orientiert. Für jeden Artikel war also eine problemgeschichtliche Hypothese zu finden, die Materialauswahl wie Darstellung steuert. Die Schwierigkeit dabei: Problemgeschichtliche Ansichten sind in concreto erst zu gewinnen, wenn Materialforschung auf einer bestimmten Stufe absolviert ist, das ganze Unternehmen also als ein Forschungsprojekt angelegt ist. Dafür gab es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre an der Akademie der Wissenschaften der DDR gute Voraussetzungen. Im Rahmen des Wörterbuch-Projekts sollten wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten geschrieben werden und neben den Artikeln auch Monographien entstehen usw. Beim Neueinsatz des Projekts nach der Wende in der Wissenschaftslandschaft, die von den alten Bundesländern bestimmt wurde, veränderte sich das Forschungsprojekt zu einem Expertenprojekt. Es mußten jetzt Autoren gewonnen werden, die auf dem vom Stichwort bezeichneten Wissensge-

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biet bereits als ausgewiesene Fachleute galten. Diese Fachleute waren in den wenigsten Fällen aber auch in der begriffsgeschichtlichen Methode geübte Spezialisten oder bereit und willens, sich über ihr sachliches Fachwissen zum bestimmten Stichwort hinaus um eine neue Methode zu bemühen. Das erklärt, daß der Anspruch einer problemgeschichtlich orientierten Begriffsgeschichte nicht immer eingehalten wurde, daß es einen Hang zur Sachgeschichte und damit zur Herabstimmung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes gibt. Vom Ergebnis her betrachtet, hat das intendierte Sachwörterbuch der ästhetischen Begriffe also auch eine Tendenz zu einem ›Realwörterbuch‹ der Ästhetik.

II. Wörterbuch – Alphabetisierung des Wissens – Vernetzung Der Zwang der Lemmatisierung, Grundbegriffe ästhetischen Denkens vor aller Explikation ästhetischen Wissens zu bestimmen, entsteht durch die Entscheidung, das Darstellungsmedium Wörterbuch zu wählen, statt eine ästhetische Theorie oder eine Geschichte der Ästhetik zu schreiben. Mit dieser Wahl stellt man sich in die Tradition des aufklärerischen Projekts des Sachwörterbuchs, durch das die auf eine Ontologie gegründete, systematisch fundierte Enzyklopädie des 17. Jahrhunderts von einer anderen enzyklopädischen Ordnung des Wissen, nämlich der des systemfreien Alphabets, abgelöst wurde. Diese verschiedenen Ordnungs- und Aufschreibsysteme der Enzyklopädie operieren mit den Schreibparametern der Literatur. Als literarisch und »artistisch kann sich Enzyklopädie folglich gerade in ihren Verfahren der Systematisierung, der Disposition, der Klassifikation, der Kombination, der Alphabetisierung etc. erweisen, und das bedeutet: im breiten Spektrum ihrer Aufschreibverfahren« 6. Für den systematischen bzw. alphabetischen Typus der Enzyklopädie lassen sich zwei prominente Beispiele benennen: Der erste Typus: die Encyclopaedia von Johann Heinrich Alsted 7 aus dem Jahre 1620 mit ihrem streng systematischen Aufbau, der Gliederung in Ober- und Unterkapitel, ihren systematischen Übersichten usw. Der zweite Typus: die Diderotsche Encyclopédie 8 als enzyklopädisches Wörterbuch. Der ontologischen Ordnung wird das Klassifikations- und Notationssystem des Alphabets entgegengesetzt. Das ist ein einschneidender Vorgang in der Geschichte der Enzyklopädie, weil es die Entkopplung der Formation des Wissens von der Ordnung des Seins bedeutet, denn die ›Ordnung‹ des Alphabets besteht lediglich in der Arbitrarität 6 Andreas B. Kilcher: Mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000 (München 2003) 17. Auch die folgende Darstellung stützt sich auf die überaus anregende Studie von Kilcher und referiert streckenweise Ergebnisse dieser Studie. 7 Vgl. Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia. 4 Bde. (Herborn 1630, Faks.-Neudr. Stuttgart-Bad Canstatt 1989/1990). 8 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de gens de lettres. Mis en ordre & publié par M. Diderot, […] & quant à la partie mathématique, par M. d‹Alembert […] 35 Bde. (Paris, Neufchastel, Amsterdam 1751–1765).

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und Konventionalität der Buchstabenfolge. Wort und Sache lösen sich voneinander. Vor diesem Hintergrund ist der Umstand hervorzuheben, daß bereits mit der Inaugurierung einer alphabetischen Ordnung des Wissens im Sachwörterbuch das Ungenügen an dieser Ordnung mal mehr mal weniger laut wird. Diderot und d’Alembert sind sich des Problems der Fragmentierung des Wissens in Artikel (in ›Glieder‹) bewußt und installieren verschiedene supplementierende Ordnungen, so d‹ Alembert den alten porphyrischen Baum des Wissens, seinen discours préliminaire und den Artikel Dictionnaire, so Diderot den Prospectus und den Artikel Encyclopédie. Während d‹Alembert eher der alten systemischen Ordnungsstiftung zuneigt, sucht Diderot nach einem System der Verweise (›système de renvois‹) und nach den ›rapports‹. Mit dieser Verbindungskunst hebt er die Atomisierung und Arbitrarisierung des Textes nicht auf, sondern verbindet sie mit einem anderen Typus der Ordnung: einer disseminativen Verflechtung von Fragmenten, im Unterschied zu d‹Alembert, der die Terminologien unter die totalisierende Systematik einer metaphysischen Weltkarte subsumiert. Es geht Diderot um Vernetzung des Wissens.9 Damit fällt das Stichwort für das dritte enzyklopädische Paradigma neben System und Alphabet: Textur. Aufschlußreich ist, daß sich diesem enzyklopädischen Paradigma nicht in gleicher Weise wie im Falle der Enzyklopädien von Alsted und Diderot ein herausragendes Beispiel zuordnen läßt. Andreas Kilcher macht dieses Paradigma fest an der Entwicklung fragmentarischer und kombinatorischer Schreibweisen in der Romantik. Die Klassifikationsform des Alphabets wird dereguliert, damit die Klassifikationsform der Repräsentation des Buches überhaupt. Die enzyklopädische Organisation der Daten wird methodischer Entropie überantwortet.10 Vernetzung und Textur des ästhetischen Wissens durch eine poietische Verbindungskunst herzustellen – das ist eine Aufgabe, der sich auch ein die Ästhetischen Grundbegriffe abschließendes Register zu stellen hat. Vor dem Blick auf die praktischen Probleme kann gefragt werden, wie frühere Wörterbücher der Ästhetik mit der Registrierung ästhetischen Wissens umgegangen sind. Die ersten Sachwörterbücher, die den Kriterien eines ästhetischen Wörterbuchs genügen können, sind Johann Christoph Gottscheds Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste von 1760 und Johann Georg Sulzers zweibändige Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt (1. Aufl. Leipzig 1771/1774). Beide verzichten, man muß es gar nicht besonders betonen, auf ein Register, weil die alphabetische Ordnung des Wörterbuchs selbst als ausreichendes Ordnungsschema betrachtet wird und die Artikel auch so lexikalisch übersichtlich und definitorisch an einer noch weitgehend intakten Theorie der schönen Künste und Wissenschaften orientiert sind, daß 9 10

Vgl. A. B. Kilcher: Mathesis, a. a. O. [Anm. 6] 245–264. Vgl. ebd. 379–431.

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sich die Frage eines Registers gar nicht stellte: Das Alphabet ist das Register.11 Dies trifft auch noch zu auf Ignaz Jeitteles Ästhetisches Lexikon. Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der schönen Künste, nebst Erklärung der Kunstausdrücke aller ästhetischen Zweige, als: Poesie, Poetik, Rhetorik, Musik, Plastik, Graphik, Architektur, Malerei, Theater etc. (Wien 1835/ 1837). Etwas anders stellt sich die Sache dar in Johann Gottfried Grubers Wörterbuch zum Behuf der Aesthetik, der schönen Künste, deren Theorie und Geschichte, und Archäologie (1. Band Weimar 1810).12 Bemerkenswert ist, was Gruber in der Vorrede zum ersten Band über das Verhältnis von ästhetischem Wissen und Wörterbuch sagt. Er kenne alles das Böse, welches man Real-Wörterbüchern nachsagt. Dagegen wolle er nur einen der vielen Vorteile namhaft machen. Er hebt gerade das als Gewinn hervor, was gemeinhin als entschiedener Nachteil des Wörterbuchs benannt wird: »Das Bedeutendeste, was im Fache der Aesthetik geschrieben war, hatte ich gelesen, kante alle Systeme und Lehrbücher [Gruber hatte 1805/1806 in den Ergänzungsblättern der Jenaischen allgemeinen Literatur-Zeitung über mehere Folgen hin den ersten Forschungsbericht zur Ästhetik gegeben. D. K.], hatte selbst Vorlesungen über Aesthetik gehalten, und glaubte wirklich über Manches so gewiß zu seyn, so klar darin zu sehen, daß ich jederzeit ohne Anstoß darüber hin ging. Wie ganz anders, als ich, jezt nicht blos auf Zusammenhang und Konsequenz bedacht, jedes Einzelne einzeln ausarbeitete. Auf wie manche Bedenklichkeit, manche Ungewißheit, Unhaltbarkeit, Wilkür stieß ich da! Und nun bemüht, Klarheit, Bestimtheit, Gewißheit zu erlangen, wie brach mir oft da, wo ich es sonst am wenigsten vermutet haben würde, plötzlich ein Licht hervor, welches mir nicht blos den einzelnen kleinen Punkt, den ich eben im Auge gehabt hatte, sondern oft eine weite Gegend, bisweilen das ganze Gebiet erhellte.«13 Durch das Wörterbuch, durch die Ordnung des Alphabets eröffnet sich demnach die Möglichkeit der Intensivierung des Wissens im Detail und seiner neuen Vernetzung, gerade weil die herkömmlichen System-Zusammenhänge verlassen werden können und die Fragmentierung des ästhetischen Wissens die Anstrengung des Begriffs und der Kontexte verlangt. Es ist im übrigen derselbe Gruber, der dann zusammen mit Johann Samuel Ersch ein weiteres Wörterbuch-Fragment von immensen Ausmaßen produziert, die Allgemeine Encyclopädie der Wis-

11 Es kennzeichnet das zunehmende Ungenügen an dieser bloß alphabetischen Ordnung ästhetischen Wissens, daß der Sulzer-Bearbeiter Christian Friedrich von Blankenburg neben seinen Zusätzen in der 2., vierbändigen Auflage der von ihm bearbeiteten Ausgabe (Leipzig 1792–1799) schließlich noch einen 5., einen Registerband hinzufügt, der allerdings das ästhetische Wissen nur ›literarisch‹ aufarbeitet, d.h. über die Registrierung von Personen und deren Schriften. 12 Nach dem ersten Band brach Friedrich Johann Bertuch das Unternehmen ab, weil Gruber bereits aus dem ersten Band zwei Teilbände gemacht hatte und dem Weimarer Verleger das finanzielle Risiko wohl nicht mehr kalkulierbar schien. 13 Johann Gottfried Gruber: Wörterbuch zum Behuf der Aesthetik, der schönen Künste, deren Theorie und Geschichte, und Archäologie. Ersten Theiles Erster Band (Weimar 1810) XIII.

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senschaften und Künste (1818–1889), mit insgesamt 168 großformatigen Bänden ein einzigartiges Monument des 19. Jahrhunderts, und Monument gerade darin, daß ein hochgetriebener, allumfassender enzyklopädischer Anspruch scheitert. Und auch dafür ein Monument, wie das Ordnungssystem des Alphabets durch diesen Anspruch, umfassendes enzyklopädisches Wissen unter den einzelnen Lemmata zu liefern, ad absurdum geführt wird. Das Stichwort Griechenland allein wird unter der Hand zu einer eigenen Enzyklopädie mit fünf Bänden! So wird die feste Abfolge des Alphabets bei diesem lexikalischen Unternehmen spürbar zu einem Prokrustesbette. Man sucht dem Zwang des Alphabets zu entkommen, indem ab 1827, also nach knapp zehn Jahren Arbeit an den Stichwörtern, drei Sektionen eröffnet werden, die das Alphabet portionieren. Aber auch mit dieser Teilung des enzyklopädischen Wörterbuchs bleibt es Fragment – mit nunmehr drei Fragmenten. In Wilhelm Hebenstreits Wissenschaftlich-literarischer Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der aesthetischen Kunstsprache (1843) dagegen gibt es eine Reaktion auf die Spannung zwischen Alphabet und Textur des ästhetischen Wissens. Hebenstreits Wörterbuch, nicht viel umfangreicher als das von Jeitteles, richtet sein Interesse auf die ästhetische Kunstsprache: »die möglich klare und verständliche Entwickelung der Begriffe mit Berücksichtigung ihrer Benennungen«. Und hier liege so einiges im argen. Man lebe in einer Zeit, in der das »Wissenschaftliche zurückgedrängt wird, wohl auch Unberufene mit einem Wust zusammengetragener Lappen, mit einem ordnungslosen, nicht selten sich widersprechenden, sich wieder aufhebenden Herzählen von dem, was Dieser und Jener gesagt und wieder gesagt hat […] als Stimmführer aufgetreten sind«14. Bei solcher Kritik der Unordnung nimmt es nicht wunder, daß Hebenstreit auch der Ordnungsmacht des Alphabets in seinem Wörterbuch mißtraut und sie mit anderen Prinzipien untersetzen möchte. Er präzisiert in seinem Vorwort den Titel seines Werks: »Wissenschaftlich-literarische Enzyklopädie der Aesthetik als ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache«15. Das ›wissenschaftlich-literarisch‹ bezieht sich auf den ausführlichen Literaturbericht zur Ästhetik, den er in seinem Vorwort mitliefert. ›Enzyklopädie der Ästhetik als etymologisch-kritisches Wörterbuch‹ signalisiert ein bestimmtes methodisches Verfahren, das man als begriffsgeschichtlichen Ansatz bezeichnen kann: »Der etymologischen Grundlage bediene ich mich, um auf diesem Wege zur ursprünglichen Bedeutung und durch sie zur Begriffsbestimmung zu gelangen. Daß die ursprüngliche Bedeutung nicht überall wieder in Anwendung kommen und als die allein zusagende und erschöpfende nicht empfohlen werden darf und kann, leuchtet von selbst ein. Es soll vielmehr nur angedeutet oder auch nachge-

14 Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache (Wien 1843, Nachdruck Hildesheim, New York 1978) LXXXII. 15 Ebd. LXXXIV.

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wiesen werden, wie dieselbe […] in der Folge sich erweitert und in verschiedener Richtung größere Ausbildung und Tiefe erlangt hat. Eine Vergleichung der Bedeutung von ehemals und jetzt gibt gleichsam die geschichtliche Grundlinie der Begriffsentwicklung, ist in so fern von wesentlichem Nutzen und nur in den Augen Jener verwerflich, die in der philologischen Bedeutung des Worts auch noch den durch den Verlauf der Zeit erweiterten und berichtigten Begriff auffinden und erkennen wollen.«16 Hebenstreit ist denn auch, soweit ich sehe, der erste, der über ein Register der ästhetischen Begriffe, das nicht in der alphabetischen Ordnung aufgeht, ernstlich nachdenkt. Er bildet ein zweites, zum Alphabet querliegendes Ordnungsschema, indem er ein Fachregister angliedert, in welchem er die alphabetische Anordnung der Artikel unterbricht und Gruppen bildet: Ästhetik in allgemeiner Beziehung; es folgen die Begriffe der einzelnen Künste, der Poetik und Rhetorik. Das ästhetische Register im eigentlichen Sinn (Begriffe der Ästhetik in allgemeiner Beziehung) ist von erstaunlicher Differenziertheit und zeichnet sich dadurch aus, daß viele Adjektive aufgenommen worden sind: von abgeschmackt, absurd, artig, angenehm bis reizend, rührend, typisch und zierlich. Diesem starken Gebrauch des Adjektivs kann insofern Bedeutung beigemessen werden, als es die begriffsgeschichtliche Tendenz des Hebenstreitschen Wörterbuchs unter Beweis stellt. Bei der Arbeit an den Ästhetischen Grundbegriffen war es eine der Regeln, die Autoren immer wieder auf die adjektivischen Formen zu orientieren, um die Tendenz zur Sachgeschichte zu stoppen, die sich ja vorzugsweise am Substantiv orientiert. Es ist eben etwa anderes, ob man über ›Komik‹ oder ›das Komische‹, über ›Malerei‹ oder ›malerisch‹ schreibt. Machen wir einen Sprung in die Gegenwart und fragen wir in anderer Richtung: wie die den Ästhetischen Grundbegriffen verwandten begriffsgeschichtlichen Unternehmungen mit der Registrierung des in den Artikeln ausgebreiteten Wissens umgegangen sind. Bislang abgeschlossen sind allein die Geschichtlichen Grundbegriffe, zu denen auch der Registerband vorliegt.17 Kosellecks Begriffswort-Register hat eine Reihe von Besonderheiten, auf die kurz eingegangen werden muß. Ursprünglich war kein Register geplant. Die rd. 200 Grundbegriffe sollten in den Artikeln diachron auf der Achse der Sattelzeit 1750–1850 behandelt werden und so für sich stehen. Im Ergebnis aber hat sich gezeigt, daß es lohnen würde, den Reichtum an Belegen aus der politisch-sozialen Sprache (insgesamt rd. 180 000) durch ein Register abzuschöpfen. Dazu sind alle Substantive der Quellenbelege aufgenommen worden, unabhängig davon, ob sie

Ebd. LXXXIII. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck. 8 Bde. (Stuttgart 1972–1997). Band 8 (bearbeitet und hg. von Reinhart Koselleck und Rudolf Walther) gibt in zwei Teilbänden verschiedene Register, von denen hier nur das Register der deutschsprachigen Begriffe interessiert. 16

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der politisch-sozialen Sprache im weitesten Sinn zugeordnet werden können oder darüber hinausgehen. In dieser Qualität versteht sich das Register als Nachtrag/Ergänzung des Grimmschen Sprachwörterbuchs. Es biete weniger als der Grimm, weil Adjektive nicht aufgenommen worden sind – aber mehr als der Grimm, weil es primär den sozialen und politischen Wortgebrauch erfaßt, der von Grimm zugunsten literarischer und theologischer Quellen nur peripher berührt wurde. »Die Sprache der sogenannten ›Dichter und Denker‹ taucht natürlich auch in unserem Lexikon auf, auf der Ebene der Klassiker, sie wird aber methodisch von den seriellen Quellen der Lexika und von zahlreichen alltagssprachlichen Quellen eingefaßt und relativiert. Insofern bietet das Register eine wirkliche Bereicherung und Ergänzung zum Grimm.«18 Über seinen Beitrag zur Ergänzung eines Sprachwörterbuchs hinaus gibt es bei Koselleck aber auch Bemühungen, die Textur des Wissens zu erfassen: Die aufgenommenen Substantive werden in einem Untereintrag mit ihrem Kontext belegt, indem das Satzgefüge mitgegeben wird. »Hier tauchen deshalb auch verbale oder adjektivische Erläuterungen auf, die einen jeweiligen Begriff konstituieren helfen. Ebenso werden im Zitat belegt – soweit möglich – die Ergänzungs-, Nachbar- oder Oppositionsbegriffe, so daß unsere Quellenzitate den Stellenwert eines Begriffs im Argumentationshaushalt mit erschließen. Das Register leistet also Vorarbeit, um diachron oder synchron die Querverweise unserer zentralen Begriffe zusammenzuführen. Die Vernetzung aller Grundbegriffe […] läßt sich vom Register her aufbereiten. Damit wird hier ein eigenes Forschungsprogramm gleichsam fundiert.«19 Auch wenn man den Anspruch nicht so weit steckt, wie Koselleck es tut,20 – in dieser Orientierung auf das Querlesen großer, alphabetisch geordneter Begriffsmonographien kann die Bauart des Registers der Geschichtlichen Grundbegriffe beispielgebend sein. Es muß auch bei den Ästhetischen Grundbegriffen um eine Lektüre gehen, die quer zu den alphabetisch geordneten Begriffsmonographien zu organisieren ist – eine Lektüre, mit der die bei der Lemmatisierung erfolgte Verdunkelung der Begriffsvernetzung wieder sichtbar gemacht werden kann, und nun mit dem reicheren Wissen um ästhetische Begriffe, das in den einzelnen Artikeln als surplus schlummert. Bei der Erarbeitung eines solchen Registers kann einem der Computer nur eine Wegstrecke weit helfen. Computernah könnte man arbeiten, indem unter dem Begriffsnamen, beispielsweise Dilettantismus, alle ästhetisch wertigen Wörter (Adjektive wie Substantive) aufgenommen werden. Mit den Listen aus anderen Artikeln kollationiert und alphabetisch geordnet, ergäbe sich ein reich differenziertes

Vgl. Reinhart Koselleck: Vorwort. In: Ebd. Bd. 8/1 (1997) V. Ebd. VI. 20 In einer amüsierten Rezension der beiden Registerbände der Geschichtlichen Grundbegriffe hat Dieter Simon Möglichkeit und Sinn des Querlesens durch Register eher in Zweifel gestellt, vgl. D. Simon: Einfache Häkchen. Geschichtliche Grundbegriffe, Register. In: Rechtshistorisches Journal 17 (1998) 35–41. 18 19

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Vokabular, wie man bei Hebenstreit gesehen hat, von dem aus allerdings kaum eine Begriffs- und Problemgeschichte aufschließende Leistung zu erwarten ist. So käme man an Textur und Vernetzung des ästhetischen Wissens kaum heran. Weiter hilft eben nur die Einführung einer zweiten Ebene: Die Gliederung des Registers in Haupt- und Nebeneinträge, wobei der Nebeneintrag jeweils die Kontextualisierung leisten muß. Voraussetzung dieser Registeraufnahme ist eine die begrifflichen Verhältnisse genau analysierende Lektüre der Artikel, die zugleich möglichst das Ganze mit im Auge haben muß. Denn erst mit dieser erweiterten Struktur wird es möglich, von der Verzeichnung von Worten her auf Begriffe zu öffnen und zwar qua Bildung von Argumenten, Kontexten, Konzepten und Aussagen. Der Weg bei der Register-Herstellung muß also umgekehrt verlaufen wie bei der Lemmatisierung. Die Lemmatisierung unterwarf die begriffliche Vielfalt der Zusammenfassung unter einem Wort/Terminus. Die Registrierung mit diesem erweiterten Verfahren öffnet von den Wörtern her wieder auf die Begriffe. Man kann die Hoffnung haben, daß mit dem fertigen Register, wenn denn sorgfältig genug vorgegangen wird, eine disseminatorische Lektüre der Ästhetischen Grundbegriffe möglich wird: sowohl im Register selbst wie auch bei dem durch die Querverweise des Registers provozierten Blättern in den Bänden. Damit würde prinzipiell eine Lektüre möglich, mit der über die nur durch das Alphabet verbundenen begriffsgeschichtlichen Monographien hinaus sich dem Leser ein nach vielen Seiten offener Raum ästhetischen Wissens auftut.

Michael Niedermeier

Grund- und Wesenswörter Probleme der Darstellung in einem thesaurischen Autorenwörterbuch. Ein Werkstattbericht Das Goethe-Wörterbuch (GWB) ist ein autorensprachliches Bedeutungswörterbuch und hat sich die Aufgabe gestellt, alle von Johann Wolfgang Goethe benutzten Wörter unterschiedslos semantisch aufzuschließen und in einzelnen Wortartikeln darzustellen. Goethes Wortschatz ist der weitaus größte, je bei einem Menschen dokumentierte. Mehr als 90 000 Einzellemmata umfaßt unser Wortarchiv, das mehr als 3,2 Millionen Einzelbelege enthält. Das Goethe-Wörterbuch stellt den gesamten Wortschatz Goethes in alphabetischer Anordnung und systematisch nach Gebrauchsweisen gegliederten Wortartikeln dar. Goethes Wortschatz umfaßt zudem sehr weite und verschiedene Bereiche: Ein entsprechendes ›ABC‹ reicht von der Fachterminologie der Anatomie, Botanik, Chemie über Geologie, Mineralogie, Optik bis zu Verwaltungswissenschaft, Zivilrecht und Zoologie. Entscheidend für die aufwendige lexikalische Bearbeitung der Goethesprache ist, daß sie nicht nur Idiolekt eines einzigartig sprachmächtigen Autors ist, sondern gleichzeitig in hohem Maße die allgemeine Zeitsprache des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts repräsentiert, in die sie mitvollziehend, vor allem aber selbst aktiv mitgestaltend, verwoben ist: vom Zeitalter des ausgehenden Barock, der Aufklärung, des Sturm und Drang über Klassik/Romantik bis zum Biedermeier, vom Ancien Régime über die Französische Revolution und die Befreiungskriege bis zur Restauration und weiter ins heraufziehende Industrie- und moderne Medienzeitalter. Diese Epoche gilt nicht zuletzt wegen Goethe als Formationsepoche des neueren Deutsch. So ist das Goethe-Wörterbuch nicht nur ein Instrument der Goethe-Philologie, sondern auch eine Informationsquelle für Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Begriffs- und Ideengeschichte. Der Sprachwissenschaft bietet es, neben repräsentativen wortgeschichtlichen Befunden zur Formationsepoche unserer Gegenwartssprache, ein solides Fundament für jede umfassende Darstellung des Deutschen in seiner kultursprachlichen Dimension.1 Und doch liegt einem solchen Unternehmen von Anfang an ein an sich kaum lösbarer Widerspruch zugrunde. Schon in der Gründungsphase Ende der 1940er Jahre standen sich zwei Denkweisen gegenüber. Wolfgang Schadewaldt, der Altphilologe, wollte ausgehend von den Erfahrungen des Thesaurus Linguae Latinae und anderer altsprachlicher Text- oder Autorenwörterbücher, daß alle Goetheschen ›Grund- und Wesenswörter‹, wie er sich ausdrückte, vollständig ex1 Vgl. neuerdings unsere Broschüre: Goethe-Wörterbuch, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [im folgenden: BBAW] (Berlin 2004) – hier auch weiterführende Literatur.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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zerpiert, alle übrigen Wörter ausgewählt exzerpiert werden. Auf Basis dieses Belegarchivs sollte der gesamte Wortschatz dargestellt werden.2 Hermann Grapow, gestützt auf seine Erfahrungen mit dem Altägyptischen Wörterbuch, plädierte hingegen für eine mechanische Erfassung des gesamten Wortmaterials und setzte sich – auch angesichts der Tatsache, daß man studentische und andere Hilfskräfte damit beauftragen wollte – durch. Nicht zuletzt aus diesem Grunde zog sich nicht nur die Exzerptionsphase von anfänglich geschätzten fünf, dann zehn Jahren, schließlich bis 1962/63 in die Länge und verzögerte den Beginn der Lieferungsproduktion erheblich. Unter Zeit- und Erwartungsdruck geraten, unterschied die Darstellung dann auch nicht grundsätzlich zwischen wichtigen Begriffen oder umgangssprachlichem Gemeinwortschatz. Diese Entscheidung stand zudem unter dem Einfluß Schadewaldts, der eine mögliche Ideologieferne der Darbietung zu erreichen hoffte, indem er Goethe durch Goethe erklären wollte. Die Tendenz zur weltabgewandten Werkimmanenz oder hier zur Sprachimmanenz in der Nachkriegszeit, die durch die Sprache Goethes nicht zuletzt die deutsche Sprache, ja das ganze deutsche Volk in einem gleichsam kathartischen Kulturakt reinigen und damit gleichsam entsühnen wollte, versteht sich besser, wenn man weiß, daß Schadewaldt und mit ihm andere aufsteigende Alt- und Neuphilologen ihre Professuren nach 1933 nicht zuletzt ihrer ideologisch angepaßten Geschmeidigkeit verdankten.3 Auch wollte Schadewaldt den Eindruck erwecken, als sei das Goethe-Wörterbuch eine reine Erfindung der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus, und so verschleierte er vorsorglich, daß schon Julius Petersen nach Vorarbeiten von Otto Pniower und Konrad Burdach damit begonnen hatte, das Goethe-Wörterbuch an der Berliner Akademie einzurichten. Petersen, Präsident der Goethe-Gesellschaft, hatte Goethe anbiedernd an die Mächtigen im Dritten Reich in markigen Festreden als »Hüter und Bewahrer unserer Anlage« und »Führer im Kampfe«4 bezeichnet. Die Verantwortlichen des Goethe-Wörterbuchs pflegten selbst die Ursprungslegende von einer plötzlichen hellen Eingebung Schadewaldts, die ihm gekommen sei, als er nach einem Nickerchen in einer Sitzung 1946 vom Akademiepräsidenten aufgerufen wurde, einen Vorschlag für ein neues, zeitgemäßes Akademieunternehmen zu machen. Aus seiner Idee eines großen Goethe-Institutes mit vielen, ganz Deutschland umspannenden Arbeitsstellen, eines Goethe-Institutes mit Goethe-Wörterbuch, umfassendem Goethe-Kommentar und Goethe-Bibliographie, das der gesamten Germanistik, ja der ganzen deutschen Kultur einen neuen Impuls geben sollte, ist dann nichts geworden. Von heute aus gesehen, kann man vielleicht sagen, glück2 Wolfgang Schadewaldt an Johannes Stroux vom 8. 12. 1948, Archiv Goethe-Wörterbuch Berlin, BBAW; Bericht der Deutschen Kommission vom 1. 11. 1947, Akademiearchiv der BBAW. 3 Vgl. Gustav Seibt: Aus dem Souterrain einer moralischen Anstalt. Arbeit an der NS-Vergangenheit: Wie Walter Jens seinen Lehrer Wolfgang Schadewaldt 1977 in der Geschichte der Universität Tübingen einschrieb. In: Süddeutsche Zeitung, 11. Dez. 2003, 15. 4 Vgl. Julius Petersen: Drei Goethe-Reden (Leipzig 1942) 51. – Frdl. Hinweis von Hartmut Schmidt.

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licherweise. Denn daß die noch stärkere Konzentration auf Goethe zwangsläufig zu einem völligen Überdruß geführt hätte, darf man füglich annehmen. Das anspruchsvolle Wort von der »Magna Charta des neueren Deutsch«5 jedenfalls kündet von dem Bewußtsein einer Zeitenwende. Latent standen sich im Wörterbuchteam selbst Sprach- und Literaturwissenschaftler konkurrierend gegenüber. Die anfangs übermächtige linguistische Fraktion maß dem gemeinsprachlichen Wortschatz in der Bearbeitung so ziemlich den gleichen Stellenwert zu wie den ›klassischen‹ Symbolwörtern und Kernbegriffen wie ›anmutig‹, ›schön‹, ›Genuß‹, ›Gegenwart‹, ›Stille‹, ›Tat‹ oder ›tätig‹6, die Schadewaldt gleichsam in Anlehnung an die römischen Parolewörter Fides, Pietas oder Concordia als statische, überzeitliche Wertbegriffe ansah.7 Dagegen suchten einige Lexikographen, wie der Hamburger Arbeitsstellenleiter Horst Umbach, den begriffs- und kulturgeschichtlichen Aspekt der Wortdarstellung auszubauen.8 Diese unterschiedlichen Sichtweisen führten immer wieder zu Rangeleien zwischen den Arbeitsstellen in Berlin und Hamburg oder Tübingen um die Deutungshoheit, die zeitweilig die politischen Spannungen zwischen den beiden deutschen Staaten sogar wesentlich überlagerten.9 Mit den anderen Wörterbüchern, nicht zuletzt dem Grimm, teilen wir vom Goethe-Wörterbuch die Lust und die Last, der relativ langen Vorgeschichte und Entstehungszeit. Während sich unsere Kollegen vom Grimm unter dem ständig steigenden Zeitdruck gezwungen sehen, in ihrer Neubearbeitung auf geringer belegte Lemmata zu verzichten, mußten wir als autorensprachliches Wörterbuch 5 Wolfgang Schadewaldt: Das Goethe-Wörterbuch. Eine Denkschrift. In: Goethe Jahrbuch, NF, Bd. 11 (Weimar 1949) 294. 6 Gertrud Hager: Gesund bei Goethe. Eine Wortmonographie (Berlin 1955); Irmgard Nickel: Studien zum Wortgebrauch Goethes: Anmut, anmutig (Diss. Berlin 1955); Manfred Gräfe: Der Bedeutungsgehalt der Wortgruppe ›genießen – Genuß‹ bei Goethe (Diss. Berlin 1956); Ursula Schönfisch: Ruhe und Stille bei Goethe (Diss. Berlin 1957); Christa Dill: Die Bedeutungsentfaltung der Wörter Tat, tätig und Tätigkeit (Diss. Berlin 1957); Johannes Kraus: Wort und Begriff ›Gegenwart‹ bei Goethe (Diss. Berlin 1962); Wolfgang Schadewaldt: Zu den Begriffen Augenblick – Moment – Stunde. In: ders.: Goethestudien. Natur und Altertum (Zürich, Stuttgart 1963) 433–446. 7 Horst Umbach: Individualsprache und Gemeinsprache. Bemerkungen zum Goethe-Wörterbuch. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 14/2 (1986) 161–174, hier 163. 8 Vgl. H. Umbach: Konkurrenz von lexikalischer und pragmatischer Bedeutung im individualsprachlichen Wörterbuch. In: Deutsche Sprache 4 (1976) 41–50. 9 Vgl. zum Umfeld Hartmut Schmidt: Sprachhistorische Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 24/2 (1992) 17 ff.; Dorothea Dornhof: Von der »Gelehrtenrepublik« zur marxistischen Forschungsgemeinschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Das Institut für deutsche Sprache und Literatur. In: Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, hg. von Petra Boden / Rainer Rosenberg (Berlin 1997) 173–201; Petra Boden: Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958. In: ebd. 119–149; Rudolf Benzinger: Das Institut für deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1952–1969) – Ort gesamtdeutscher Germanistik. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 11 (2004) 141–174, bes. 153 f., 161 f.

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einen anderen Weg gehen. Wir müssen unbedingt am Thesauruscharakter festhalten, haben aber in den letzten Jahren entschiedene Zeiteinsparungspotentiale beim gemeinsprachlichen Usualwortschatz freigesetzt, für Kernbegriffe jedoch teilweise die Bearbeitungszeit sogar noch erhöht. Hier sehen wir die Möglichkeiten der Arbeitsteilung mit dem Deutschen Wörterbuch. Die Stärken des Autorenwörterbuchs, nämlich die präzise Darstellung der kontextuellen Wortbedeutung, ja der Einbindung in ein breiteres Feld der Begriffsgeschichte, wollen wir dagegen ausbauen. Dabei sehen wir im Gegensatz zu Schadewaldt auch in der präzisen Bearbeitung des vielfältigen naturwissenschaftlichen, juristischen oder amtlichen Wortschatzes unsere Aufgabe, ebenso wie in einer noch zunehmend tiefgreifenderen Untersuchung von weltanschaulichen, ästhetischen oder kulturellen Kernbegriffen. Und trotzdem ist ein Problem kaum zu umgehen, das sich schon bei der Neubearbeitung des Goethe-Handbuchs in den 1990er Jahren gezeigt hat. Jedes Lexikon arbeitet in der Alphabetstrecke vorzugsweise wortbezogen. So hat beispielsweise der Autor des neuen Metzlerschen Handbuchartikels zu ›Ironie‹ natürlich fast nur die ›Ironie‹-Belege des Goethe-Wörterbuchs zugrunde gelegt, das breitere Wortfeld aber, vor allem dann, wenn es in der Alphabetstrecke noch weiter hinten steht, bleibt in der Einbeziehung der Bearbeiter meist zufällig und erklärt sich nur über Synonyme oder Wortableitungen am Ende. (Hierin besteht übrigens eine von Fachleuten wiederholt hervorgehobene Stärke des Goethe-Wörterbuchs.) All das führt dazu, daß die Möglichkeiten einer erkenntnisfördernden Auslotung der Begriffe oft nur unbefriedigend genutzt werden. Hinzu kommt, daß ein Lexikograph natürlich Generalist und Dilettant gleichermaßen ist. Er muß sich in der Taxonomie oder Chemie gegebenfalls genauso auskennen wie in der Ökonomie oder Philosophie und muß natürlich auch Philologe sein. Der Bearbeiter des Lemmas ›Hausvater‹ muß wenigstens ahnen, daß Goethe um die Wortbedeutung dieses alteuropäischen Ökonomiebegriffs wußte. Auf der Tagung zur Begriffsgeschichte, die im Februar 2004 am Zentrum für Literaturforschung in Berlin unter Beteiligung von Mitarbeitern der großen begriffsgeschichtlichen Wörterbücher und Lexika stattfand, versuchten wir resümierend, die Leistungen und Grenzen bisheriger lexikographischer, begriffsgeschichtlicher Arbeit zu bilanzieren. Mit dem theoretisch-methodischen Paradigmenwechsel, der als kulturwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften beschrieben werden kann, so eine Erkenntnis, sehen sich auch die begriffsgeschichtlichen Großprojekte konfrontiert. Während sich die bisherigen Lexika vornehmlich der reinen Geistesgeschichte zuwandten – und somit der Analyse einschlägiger programmatischer Texte –, kündigt sich nachhaltig eine Erweiterung des Gegenstandsfeldes semantischer Untersuchungen an, die mit der Überwindung segmentierter Kulturbegriffe und disziplinärer Grenzen einhergeht. Die kulturwissenschaftliche Orientierung bedeutet daher keineswegs ein abnehmendes Interesse an Theorien historischer

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Semantik. Vielmehr muß die jüngere Bedeutungsforschung stärker als die herkömmliche Begriffsgeschichte an disziplinübergreifenden kulturgeschichtlichen, sprachpragmatischen, diskurstheoretischen, metaphern- und mediengeschichtlichen Fragestellungen interessiert sein. In einem thesaurischen Wörterbuch stößt man aber – unter den bisherigen Bedingungen der Artikelproduktion und Darstellung – immer wieder an Grenzen. Ich will die aufgetauchten Probleme bei der Entwicklung von einer vorzugsweise rein sprachbezogenen Darstellung hin zu einer stärker kulturgeschichtlich angelegten an einem Wortartikel kurz zeigen. Goethe benutzte das Wort ›gotisch‹ in unterschiedlichen Zeiten verschiedenartig, anfangs, Johann Georg Sulzer folgend, kritisch, dann in bezug auf das Straßburger Münster patriotisch-apologetisch, später in Kritik der christlichpatriotischen Romantik wieder überwiegend kritisch. Und Goethe bezeichnete gleichzeitig die Sachsen-Gothaer Herzöge ausschließlich als die ›gotischen‹ Herzöge, die ›gotische Herrschaft‹, das Gothaer Schloß als das ›gothische Schloß‹ usw., obwohl er die Wortbildung ›gothaisch‹ sehr wohl auch in anderem Zusammenhang benutzte, ›gothaische Zeitung‹ etc. Im Goethe-Wörterbuch verschwindet die Kennzeichnung der Gothaer Herzöge als ›gotische‹ als Schreibungsvariante fast unbemerkt im Artikel ›gothaisch‹. Goethes Absicht, die fiktive genealogische Ableitung der Gothaer von den Goten zu bedienen, bleibt somit fast verborgen und taucht nicht im Artikel ,gotisch‹ auf, immerhin wird durch einen weiterführenden Literaturverweis zumindest im Artikel ›gothaisch‹ ein Hinweis darauf gegeben. In dem ›gotisch‹-Wörterbuchartikel des GWB 10 nun bekommt man das Belegmaterial gut geordnet angeboten und nach Bedeutungen und Verwendungsweisen getrennt dargestellt. Eine knappe Vorbemerkung leitet in die zeitgenössische Debatte (Sulzer) ein und versucht, wenn auch sehr knapp, eine gewisse Chronologie der Bedeutungsverschiebung nachzuvollziehen. Einige wenige Fußnoten verweisen auf wichtige Standardliteratur. Und doch vergeben wir uns durch diese stark verkürzende und oftmals noch zu sehr rein sprachorientierte Betrachtung manchmal das epistemologische Potential, das in Goethes Begriffsverwendung liegt, weil wir uns – wie begriffsgeschichtliche Wörterbücher auch – kaum aus der zeitgenössischen Ästhetik-Debatte zu lösen vermögen und das Lemmawort auf das kulturelle Gesamtspektrum zu beziehen verstehen. Goethe verwendet das Wort ›gotisch‹ nämlich mehrfach synonym für altdeutsch oder deutsch. Diese Bedeutung gibt uns auch das Deutsche Wörterbuch in seiner im sprachpatriotischen Barock häufig benutzten Form für germanisch, etwa bei Harsdörffers Schutzschrift für die deutschen Spracharbeit (1664) belegt. Gleichzeitig belegt der Grimm auch noch die Bedeutung im engeren Sinne für nord10 Art. gotisch. In: Goethe-Wörterbuch, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen u. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 4, Lfg. 3 u. 4 (Stuttgart, Berlin, Köln 2000) 384 f.

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deutsch bzw. schwedisch. Der Grimm geht jedoch programmatisch von einer allgemeinen diachronischen Wandlung der Wortbedeutung vom 17. Jahrhundert zum 19. Jahrhundert aus, die allgemein mehr oder weniger von einer stammesmäßigen hin zu einer stilistisch-ästhetischen verlaufe. »Die verwendung als sachliche stilbezeichnung setzt sich rasch durch.«11 Das Deutsche Wörterbuch übersieht dabei jedoch die politische und kulturelle Funktion, die das Wort im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert in bestimmten sozialen Trägerschichten besessen hat. Im großen Zettelarchiv der Berliner Grimm-Arbeitsstelle findet sich übrigens ein schöner Beleg in Joachim von Wedels Hausbuch aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, der die Belagerung der Gothaer Feste Grimmenstein durch die kaiserlichen Truppen, entsprechend als »gothische Belagerung« bezeichnet. Und auch Conrad Ferdinand Meyer spricht noch im 19. Jahrhundert vom »protestantischen, gotischen Gewissen« der nord- und mitteldeutschen Dichter.12 Goethe benutzte, wie gezeigt, über die im 18. Jahrhundert vorherrschende ästhetisch-stilistische Bedeutung ›unzeitgemäß, veraltet, unmodern‹, oder später eben positiv konnotiert wie ›altdeutsch‹ auch die unter den Fürstenhäusern vertraute genealogisch tradierte Bedeutung von ›gotisch‹ gleich ›gothaisch‹ gleich ›sächsisch‹. Goethe macht uns mit seiner Kennzeichnung des Fürstenhauses von Sachsen-Gotha als den gotischen Fürsten auf eine zeitgenössische Bedeutung aufmerksam, die tatsächlich die Grenzen enger lexikalischer oder begriffsgeschichtlicher Bedeutung im herkömmlichen Sinne sprengt. Goethe kannte diese Selbststilisierung der Ernestinischen Sachsen als treue Goten, die nicht nur den Römern, sondern auch als Träger der Reformation der römisch-katholischen Kirche getrotzt haben, nicht nur aus den Historienbüchern seit dem Humanismus.13 Er konnte sie direkt am Gothaer Rathaus, das früher das Ständehaus beherbergte, auf seinem Weg, etwa vom Gasthaus »Zum Mohren«, wo er logierte, zum Gothaer Schloß ablesen. Wie sehr die Gothaer Fürsten Wert auf die Bedeutung ihrer Genealogie und besonders ihre Verwandtschaft mit dem englischen Königshause legten, wußte Goethe aus dem Gothaer Taschenkalender, aus dem später der berühmte Gotha – das genealogische Standardwerk schlechthin – entstand.

11 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bearb. von Theodor Kochs, Joachim Bahr u.a. 4. Bd. 1. Abt. 5. Teil (Leipzig 1958) 1000–1016, hier 1010. 12 Archiv der Berliner Arbeitsstelle an der BBAW: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Neubearb.). 13 Vgl. hierzu: meine Aufsätze in: Jost Hermand / Michael Niedermeier: Revolutio Germanica. Die Sehnsucht nach der »alten Freiheit« der Germanen. 1750–1820 (Frankfurt a.M. u.a. 2002) 21–116, 117–158; M. Niedermeier: »Ancient Saxon Architecture … called Gothic«. Batty Langleys »Ancient Architecture Restored and Improved« (1742) und die politische Begründung der Neogotik. In: Wege zum Garten. Festschrift für Michael Seiler, hg. von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. (Berlin 2004) 97–106; vgl. neuerdings den interdisziplinären Tagungsband: Zur Geschichte der Gleichung »germanisch–deutsch«. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von Heinrich Beck u. a. (Berlin, New York 2004).

M. Niedermeier · Grund- und Wesenswörter

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Goethe, der sich – wie die Stürmer und Dränger alle – in dieser Zeit England und der englischen Literatur zuwandte, war durch die Lektüre von Paul Rapin de Thoyras Histoire d’Angleterre, David Humes History of England oder Albrecht von Hallers Alfred, König der Angel-Sachsen die Tatsache geläufig, daß seit Gottfried Wilhelm Leibniz die niedersächsischen Hannoveraner versuchten, eine genealogische Verknüpfung Englands mit den Sachsen zu erreichen. Unter Frederick von Wales und seiner Sachsen-Gothaer Gattin Augusta begann nicht zufälligerweise die Neugotik in England ihren Siegeszug. Batty Langley kam 1742 im freimaurerischen Gefolge des Frederick von Wales, der von der englischen Adelsopposition zum zukünftigen ›patriot king‹ in der Nachfolge des altsächsischen King Alfred stilisiert und um den herum die Ästhetik des englischen Landsitzes revolutioniert wurde, beim einführenden Abriß einer Geschichte der alten Sachsen in England in seiner Ancient Architecture restored (1742) zu dem Schluß, daß die Goten mit den Sachsen identisch seien und basierend auf der Darstellung Rapin de Thoyras ›Liberty‹ und ›Constituion‹ nach England gebracht hätten: »Notwithstanding, that every ancient Building which is not in the Grecian Mode, is called a Gothic Building, as Westminster Abbey, &c. for according to Mr. De Rapin Thoyras, in his History of England, the Goths […] were originally Itinerants in Germany: Who […] united themselves with the Saxons, and ever after looked upon themselves as one and the same People, and were in general called Saxons.« Langley nannte deshalb die gotische Baukunst auch Saxon: »in all ages of the Saxon monarchy there was no distinction of Goths from Saxons, but in general were called Saxons; that, therefore, all the Edifices raised by them were in general called Saxon (and not Gothic) Buildings.«14 Im Begriffsartikel ›Gotisch‹ in den Ästhetischen Grundbegriffen wurde übrigens – wie üblich – auf Langleys leichter zugängliche zweite Auflage von 1747 zurückgegriffen, die unter dem eingängigeren und lemmabezogenen Titel Gothic architecture Improved erschien. In dieser zweiten Auflage verzichtete Langley aber auf die historische Einleitung. So wird verständlich, warum auch im Artikel der Ästhetischen Grundbegriffe die politisch-genealogische Herleitung der Gotik ebenfalls übersehen wurde.15 Wie kann man aber trotz aller notwendiger Beschränkung in der Darstellung möglichst viel von dem kulturellen Wissen aus Wörterbüchern und Lexika herausholen und nutzen? Einmal scheint es mir unumgänglich, daß wir uns stärker mit dem kulturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftsbetrieb vernetzen. Wir vom Goethe-Wörterbuch versuchen es, indem wir uns als Kooperationspartner des am Zentrum für

14 Batty Langley / Thomas Langley: Ancient architecture, Restored, and Improved, by A Great Variety of Grand and usefull Designs, Entirely New In the Gothick Mode For the Ornamenting of Buildings and Gardens (London 1742) A. 15 Klaus Niehr: Gotisch. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u.a. Bd. 2 (Stuttgart, Weimar 2001) 867.

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Literaturforschung in Berlin entwickelten Antrags für ein DFG-Projekt zur kulturgeschichtlichen Perspektive der Begriffsgeschichte einbringen und zum zweiten das Angebot nutzen wollen, beim an der Humboldt-Universität im Entstehen begriffenen Sonderforschungsbereich zur Transformation der Antike mitzuarbeiten. Darüber hinaus sehen wir noch einen Synergieeffekt in der Digitalisierung. Die Verknüpfung der Redaktion, die das Register eines Lexikons baut, kann die Einheit der Begriffsfelder wenigstens in Ansätzen erst am Schluß des Gesamtunternehmens erstellen, semantische Felder, die der Autor eines Artikels oft nicht genug berücksichtigen kann. Unter den Bedingungen des Internets ist es allerdings möglich, die unterschiedlichsten Wörterbücher und Lexika wort- und begriffsbezogen zu vernetzen. Das Wörterbuchportal der Berlin-Brandenburgischen Akademie und der Heidelberger Akademie (www.woerterbuch-portal.de), das bisher nach einer Idee von Hartmut Schmidt das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG), das Digitale Wörterbuch der Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS), das Rechtswörterbuch (DRW), das Verzeichnis der Idiotismen in plattdeutscher Mundart und in absehbarer Zeit auch das Goethe-Wörterbuch (GWB) verlinkt, möchte in Zukunft alle großen Wörterbücher, die wir 2002 zur ersten Internationalen Lexikographie-Konferenz in Berlin begrüßen konnten – es waren mehr als 50 –, vernetzen. Aber wir hoffen auch sehr auf das Hinzustoßen der großen begiffsgeschichtlichen Lexika, um die Synergien für die Lexikographen und Lexikonbearbeiter, insbesondere aber für die Nutzer durch die Zusammenschau und Verlinkung der Wortartikel zu erreichen und so auch die Eigenheiten und Leistungen jedes einzelnen lexikalischen Wörterbuchtyps besser zum Tragen zu bringen.

Robert Charlier

Synergie und Konvergenz Tradition und Zukunft historischer Semantik am Beispiel des Goethe-Wörterbuchs

Die wachsende Zahl (retro)digitaler Wörterbücher und lexikographischer OnlineRessourcen zeigt: Wortschatzforschung, Begriffsgeschichte und allgemeine Enzyklopädik wachsen strukturell und technisch zusammen. Die immensen Möglichkeiten von intertextueller Verlinkung, Korpusintegration und Volltextsuche sorgen für systematisch nutzbare Synergien. Neue Verfahren der methodischen und materiellen Arbeitsteilung zwischen Wörterbüchern, Enzyklopädien und Lexika eröffnen bislang ungeahnte Dimensionen der komplementären Ergänzung und wechselseitigen Durchdringung der einzelnen Nachschlagewerke. Anhand des Akademienvorhabens Goethe-Wörterbuch (GWb) möchte ich im folgenden einige wesentliche Aspekte dieser Synthese vergegenwärtigen, die sich mit der Verbindung der wissenschaftlichen Fachlexikographie zu einer virtuellen Plattform für historische Semantik abzeichnet.

I. Historische Enzyklopädik und Lexikographie Zunächst ist zwischen historischer Sach- und Sprachlexikographie zu unterscheiden. Der Anschaulichkeit halber spreche ich im ersten Fall von Enzyklopädik,1 im zweiten von deutscher Wortschatz-Lexikographie (z. B. die Wörterbücher von Johann Christoph Adelung, Joachim Heinrich Campe oder der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm). Die ideen- und begriffsgeschichtliche Lexikalik nimmt in dieser Systematik eine Zwischenstellung ein, die sie zugleich für eine besondere Mittlerrolle prädestiniert.

1 Im deutschsprachigen Raum handelt es sich vor allem um Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1732–1754) und die Oekonomisch-technologische Encyklopädie von Johann Georg Krünitz. Dieses Mammutwerk des Berliner ›Enzyklopädisten‹ verstand sich zunächst als Übersetzung entsprechender französischsprachiger Vorbilder. Es erschien seit 1773 über eine Zeitspanne von 85 Jahren in 242 Teilen, zunächst – bis einschließlich Band 32 – mit dem Titel Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft. Mit Band 33 nannte Krünitz sein Lexikon Oeconomisch-technologische Encyklopädie, im Untertitel mit dem modifizierten Zusatz: »allgemeines System, der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, und der Kunstgeschichte«. Dieser Fall ist ein schönes Beispiel für das unmittelbare Wechselspiel zwischen zeitgenössischer Sach- und Sprachlexikographie. Denn das Wort »Technologie« erhielt in dieser Zeit eine Bedeutung im Sinne von »Kunstlehre, das Wort Kunst in weiterer Bedeutung [...] Genauer, die Kunst- und Handwerk- oder

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Die Unterscheidung zwischen Real- und Begriffslexikographie erweist sich keineswegs als selbstverständlich. So bemerkt Goethe in seinen sog. Maximen und Reflexionen: »Wenn einem Autor ein Lexikon nachkommen kann, so taugt er nichts.«2 Diese Invektive diskreditiert keineswegs den zeitgenössischen Positivismus der Enzyklopädisten allein.3 Vielmehr rührt Goethe hier an das Inkommensurable des autonomen Dichterwortes überhaupt: Dichtung ist letztlich nie rational oder eindimensional übersetzbar – weder in den Bereich analytischer Sacherklärung noch in den Wortschatz einer fremden Sprache. Versucht man, das Diktum spontan in eine Fremdsprache zu übertragen, z. B. das Englische, wäre wohl zweigliedrig zu übersetzen, etwa mit »lexicon« und »dictionary«. Die ›französische‹ Enzyklopädistik – von Denis Diderot / Jean Le Rond D’Alemberts Jahrhundertwerk bis zur Schweizer Encyclopédie d’Yverdon des in Rom geborenen Fortuné Barthélemy de Félice (erschienen 1770–1780) – begründete um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Ordnung und Verteilung des Wissens im Zeichen der europäischen Aufklärung. Lexikographische Produktion und Lexikon-Rezeption beförderten das Erwachen bürgerlicher Öffentlichkeit zum Jahrhundertwechsel. Dieser ›Strukturwandel‹ wird dann den sog. Konversationslexika4 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wahre Konjunktur bescheren und eine neue Popularisierung und Medialisierung des Wissens vorantreiben. Die Goethezeit schied also – noch ganz im Sinne der Spätaufklärung – ›Diktionär‹5 und ›Lexicon‹ nur sehr unscharf. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie deren Gewerblehre«, vgl. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke [1801] (Braunschweig 21813) 582. 2 Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. Aus dem Nachlaß, Hecker-Nr. 1059, Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4 Abteilungen in 143 Bdn. (Weimar 1887–1919) [im folgenden WA], hier I/42.2 (1907) 252. 3 Goethes Skepsis gegenüber dem Lexikon- und Wörterbuchwesen ist ambivalent. Zum einen bedenkt er die Enzyklopädik mit viel Spott. Andererseits ist Goethe ein fleißiger Benutzer der Hand- und Wörterbücher seiner Zeit (z. B. der Werke von Johann Christoph Adelung, Pierre Bayle, Joachim Heinrich Campe, George Samuel Albert Mellin, Friedrich Wilhelm Riemer oder Johann Georg Sulzer u. a.). Die ein- und zweisprachige Lexikographie seiner Zeit fundiert sein Schaffen dabei ebenso wie viele bedeutende begriffsgeschichtliche und enzyklopädische Wörterbücher. Allerdings wettert er vor allem gegen die ›Verewigung‹ von naturwissenschaftlichen Irrtümern in Lehrwerken und Lexika (vgl. z. B. Maximen und Reflexionen, Hecker-Nr. 1261 u. 1293, Über Naturwissenschaft im Allgemeinen. In: Allgemeine Naturlehre, WA II/11 (1893) 108 f. bzw. 112). Dabei hat er aber in erster Linie Lehr- und Nachschlagewerke im Sinn, die z. B. Elemente der Newtonschen Physik als vermeintliche ›Fehler‹ perpetuieren. In seiner Bearbeitung der Vögel des Aristophanes lästert die komische Hauptfigur: »Hier sind die großen Lexica, die großen Krambuden der Literatur, wo jeder einzeln sein Bedürfniß pfennigweise nach dem Alphabet abholen kann!« (WA I/17 (1894) 95). 4 Goethes widersprüchliche Haltung zur Lexikographie kulminiert in seinen Äußerungen zu einem der wichtigsten Bildungsmedien des bürgerlichen Zeitalters: »Conversations-Lexikon heißt’s mit Recht, / Weil, wenn die Conversation ist schlecht, / Jedermann / Zur Conversation es nutzen kann.« (›Zahme Xenien‹ V, 1225–1228, WA I/3 (1890) 317). Dagegen heißt es an anderer Stelle in den Maximen und Reflexionen: »Gescheidte Leute sind immer das beste Conversationslexikon.« (Hecker-Nr. 196, WA I/42.2 (1907) S. 131). 5 Goethe verwendet das eingedeutschte Wort als Neutrum im doppelten Sinn: »Enzyklopädie,

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gemeinsamem Ursprung zeitlich näher war. Auf diese genetische Verwandtschaft von Lexikon und Wörterbuch verweist Diderot/D’Alemberts Epochenwerk schon titelimmanent: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers [...], Paris 1751–1780.6 Historisch entwickelten sich die einsprachigen Wörterbücher aus den zweisprachigen. Die (früh)mittelalterliche Glossographie bildete den Ursprung des Diktionärs aus dem Geiste der zwei- oder mehrsprachigen Wortsynopse. Noch das Teutsch-Lateinische Wörterbuch von Johann Leonhard Frisch (1741) markiert als gleichsam ›erster‹ Wortschatz des Neuhochdeutschen und Dokument der Fremdsprachenlexikographie zugleich diesen Verzweigungsprozeß.7 Die fremdsprachenbezogene Herkunft aller Wörterbücher ist in der Goethe-Lexikographie noch deutlich zu erkennen. So besteht Paul Fischers Goethe-Wortschatz von 1929 – erster, noch unvollständiger Versuch eines Goethe-Wörterbuchs – aus zwei Teilen: Auf eine Lemmatisierung der deutschen Wörter im Hauptteil folgt ein separater, verknappter und ebenfalls alphabetisierter »Fremdwörterteil«.8 Auch das neuere, eigentliche Goethe-Wörterbuch basiert auf diesem Genotypus, indem es alle Vorlagenwörter der Übersetzungen und Bearbeitungen bucht, die Goethe ins Deutsche übertragen hat. Fremdsprachige Wörter, von Goethe appellativ oder terminologisch gebraucht, werden nach genau festgelegten Kriterien sogar eigens angesetzt. Innerhalb der historischen Wortschatzforschung ist des weiteren zwischen älteren, zumeist abgeschlossenen Wörterbüchern und jüngeren zu trennen, die sich noch in der Bearbeitung befinden. Allein diese neueren Projekte können die Möglichkeiten der neuen Medien progressiv nutzen. Neuauflagen oder -bearbeitungen mit (lokaler) digitaler Komponente gehören inzwischen zum Nutzungsstandard einschlägiger ›Seller‹ unter den allgemeinsprachlichen Wörterbüchern wie Duden oder Kluge.9 Insbesondere haben sich (retro)digitale Wörterbücher zu global verfügbaren Erkenntnishelfern und Informationsinstanzen entwickelt. Als feste Forschungsgrundlage dienen sie Netzphilologie, Kulturwissenschaften und interessiertem Fachpublikum. Zugleich garantieren sie eine stetig wachsende Wirksamkeit

(Real-)Lexikon« und »Wörterbuch«, vgl. Goethe-Wörterbuch, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 2 (Stuttgart, Berlin, Köln 1989) 1205 s. v. ›Diktionär‹ [im folgenden GWb]. 6 Zur Wortgeschichte seit dem 17. Jahrhundert vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 14/II (Leipzig 1960) 1559 f. s. v. ›Wörterbuch‹. 7 Vgl. Ulrike Haß-Zumkehr: Die Wörterbuchpraxis von Frisch (1741/1977). In: dies.: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte (Berlin, New York 2001) 100–105. 8 Paul Fischer: Goethe-Wortschatz (Leipzig 1929) 787 ff. 9 Vgl. z. B. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Friedrich Kluge, neu bearb. Aufl. von Elmar Seebold (Berlin, New York 2002) mit CD-ROM.

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und Nützlichkeit der meist akademiegestützten Forschung in den Augen einer breiteren Öffentlichkeit.10 Nichts fordert das ganz Neue so wie das sehr Alte – nach diesem Grundsatz beeindruckt die historische deutsche Sprachlexikographie mit einer einmaligen Synthese von geisteswissenschaftlicher Tradition und technischer Innovation. Den konsequent beschrittenen Weg vom lexikographischen Monument zum gemeinnützigen Webwörterbuch dokumentiert hier nur eine Auswahl der wichtigsten Beispiele (Stand bei Drucklegung): – Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1793–1801; elektronische Volltextedition auf CD-ROM, Digitale Bibliothek, 40 (Berlin 2000); digitale Rekonstruktion der Ausgabe Wien 1808: www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/adelung/grammati/; parallele Imageund Volltextversion derselben Ausgabe in der Auflage von 1811 (im Rahmen der »Verteilten digitalen Forschungsbibliothek« der Staatsbibliothek München): http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung – Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 1854–1971; anspruchsvolle Retrodigitalisierung, u. a. mit Gliederungsansicht: www.dwb.unitrier.de/index.html; elektronische Volltextedition auf 2 CD-ROMs, u. a. mit komplexen Suchmöglichkeiten, rückläufigem Stichwortindex und sog. RandomReading-Funktion: Der digitale Grimm, hg. vom Kompetenzzentrum Trier in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2004): www.zweitausendeins.de/GrimmForum – Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch: zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke. 3 Bde. (Leipzig 1872–1878); CD-ROM (Stuttgart 2002); vernetzte Volltextdigitalisierung im Wörterbuchverbund unter http://gaer27.uni-trier.de/MWV-online/MWVonline.html. – Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bzw. d. Akad. d. Wiss. der DDR von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. 6 Bde. (Berlin 1961–1977); restrukturiertes Volltextdigitalisat auf der Internetseite des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts unter www.dwds.de, Hyperlink ›Wörterbuch‹.

10 Einen Überblick über die virtuelle Wörterbuchlandschaft bietet: Lexilinks – kommentierte Linkliste zur Lexikographie unter http://grimm.adw-goettingen.gwdg.de/lexilinks (verantwortet von M. Schlaefer, M. Runte, W. Arndt und C. Hohmann). Zum Überblick über aktuelle netzgestützte Wörterbuchprojekte vgl. Wissenschaftliche Lexikographie im deutschsprachigen Raum, hg. von Thomas Städtler (Heidelberg 2003) 439–486 sowie U. Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher, a. a. O. [Anm. 7] 362–370.

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Typologisch gruppieren sich innerhalb der einsprachigen historischen Lexikographie allgemein-, fach- und individualsprachliche Wörterbücher.11 Genaugenommen gliedern sich die Wörterbücher zu den großen Repräsentanten einer Nationalsprache (z. B. zu William Shakespeare, Aleksandr S. Puschkin, Adam Bernhard Mickiewicz) wiederum in umfassende Autoren- bzw. selektive Werkwörterbücher. Die Forschungsgeschichte des GWb zeigt die seltene Genese eines (vollständigen) Autorenwörterbuchs aus Teilwörterbüchern zu einzelnen herausragenden Werken wie Götz, Werther, Divan oder Faust. Zu nennen sind hier vor allem Unternehmungen aus dem Umfeld der (Ost-)Berliner Akademie.12

II. Wortschatz-Sammlung als Ausdruck von Wertschätzung Seit der Erschließung von Wortkonkordanzen zur Bibel im Paris des 13. Jahrhunderts war es, wie Katharina Mommsen erinnert, »die Überzeugung von der Kostbarkeit eines jeden Worts der Heiligen Schrift«13, die Schreiber und Gelehrte zur Verfertigung vollständiger Vers- und Verbalkonkordanzen motivierte. Der Begriff Wortschatz offenbart bereits eine etymologisch sinnfällige, programmatische Wahrheit: Thesaurus, griech. qησαωρóς »Schatzkammer« oder »Vorrat, Schatz«, kontextuell übertragen auch für alles Teure, Wertvolle. Vor diesem bedeutungsgeschichtlichen Hintergrund erweist sich Wortschatzsammlung als ein Ausdruck von ›Wort-Schätzung‹ im Sinne höchster kollektiver Wertschätzung eines sprachlichen (Kunst-)Werkes. Die Wiederbegründung der Goetheforschung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an der damaligen Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin erhellt erst vor dem Hintergrund einer besonderen Klassikerwertschätzung zur deutschen »Stunde Null«. Mit Blick auf humanistische Traditionen annoncierte der klassische Philologe Wolfgang Schadewaldt das Klassiker-Wörterbuch als »Magna Charta für das neuere Deutsch«.14 Verstand sich Victor Klemperers

11 Vgl. dazu Angelika Storrer / Katrin Freese: Wörterbücher im Internet. In: Deutsche Sprache 24 (1996) 97–153, insbes. 107–116. 12 Vgl. die Werkwörterbücher Jutta Neuendorff-Fürstenau: Wörterbuch zu Goethes Götz von Berlichingen. Lfg. 1 u. 2 (Aal – Glück) (Berlin 1958–1963); Wörterbuch zu Goethes Werther, begr. von Erna Merker in Zusammenarbeit mit Johanna Graefe u. Fritz. Merbach, fortgef. u. vollendet von Isabel Engel u. a. 6 Lfg. (Berlin 1958–1966); Christa Dill: Wörterbuch zu Goethes West-östlichem Divan (Tübingen 1987) und Friedrich Strehlke: Wörterbuch zu Goethe’s Faust (Stuttgart u. a. 1891). 13 Katharina Mommsen: Vorwort. In: Verskonkordanz zu Goethes ›Faust, Erster Teil‹, bearb. von Steven P. Sondrup und David Chisholm. Indices zur deutschen Literatur, 18 (Tübingen 1986) VII. 14 Wolfgang Schadewaldt: Das Goethe-Wörterbuch. Eine Denkschrift. In: Goethe Jahrbuch. NF, Bd. 11 (1949) 294 – Zur Debatte um eine opportunistische Haltung Schadewaldts während der Gleichschaltung der Universitäten im Dritten Reich vgl. z. B. Gustav Seibt: Aus dem Souterrain einer moralischen Anstalt. Arbeit an der NS-Vergangenheit: Wie Walter Jens seinen

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LTI. Notizbuch eines Philologen (»Lingua Tertii Imperii«) von 1946 noch als Versuch kritischer Sprachinventur ex negativo, so bildete das GWb den ersten nennenswerten Versuch der Nachkriegszeit, sich positiv(istisch) auf das deutsche Sprach- und Kulturerbe zu besinnen. Eine personelle Verbindung aus der Gründerzeit des GWb vergegenwärtigt diesen Impuls der Projektväter. Ulrich Pretzel, seit 1947 Leiter der Hamburger Arbeitsstelle, war der Bruder von Raimund Pretzel alias Sebastian Haffner (1907–1999). Das Pseudonym des Emigranten und Heimkehrers wurde zum Inbegriff der Kontinuität eines anderen, kritisch-intellektuellen Deutschlands und seiner Sprache – als Heimat eines Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart.15 Heute sind solche historischen Projektionen nur noch bedingt auf den Wortschatz eines Klassikers an der Schwelle zum modernen Informations- und Kommunikationszeitalter übertragbar. Denn trotz auflebender Überlegungen zur Kanonisierung in Bildungswesen und Publizistik: Der gegenwärtige Zeitgeist scheint eher beherrscht von dem Wunsch nach enthierarchisierter Allverfügbarkeit kulturellen und historischen Wissens.16 Auch die Begriffe von ›Klassik‹ und ›Klassizität‹ scheinen wissenschaftlich weitgehend historisiert und nivelliert – damit aber auch im Diesseits der kanonkritischen Weltsicht angelangt. Ihre Berechtigung wahrt die kanonisierende Wertschätzung dennoch, zumindest im Sinne einer anthropologischen Konstante. Denn jede Epoche oder (Hoch-)Kultur kannte bislang ein personal oder textuell manifestes Heiliges oder Höchstes, eben ›Klassisches‹ – sei es eine Verkörperung durch ein – heroisches, auch vergöttertes – Individuum oder das Textkorpus eines berühmten Weisen oder Dichters.

III. Goethe: einziger Neunzigtausender der deutschen Literatur? In ihrer monumentalen Masse und phänomenalen Bedeutungsfülle bleibt die Sprachwelt Goethes historisch unerreicht. Goethes Wortgebrauch, sein dichterisches Schöpfertum erscheinen einzigartig: Kein bekannt gewordenes individuelles Sprachvermächtnis vereint eine derartige Verwendungsvielfalt von Gemein-, FachLehrer Wolfgang Schadewaldt 1977 in die Geschichte der Universität Tübingen einschrieb. In: Süddeutsche Zeitung, 11. 12. 2003, S. 15. Zum Sachverhalt vgl. Hugo Ott: Martin Heidegger: unterwegs zu seiner Biographie. Durchges. u. mit einem Nachw. vers. Neuausg. (Frankfurt a. M., New York 1992) 138–145, hier insbes. 140–143. 15 Zur institutionellen Einbettung der Berliner Goethe-Forschung und ihrer bedeutendsten Köpfe vgl. Rudolf Bentzinger: Das Institut für deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1952–1969) – Ort gesamtdeutscher Germanistik. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 11 (2004) 141–174; insbes. 151–154, 161 f., 165–167 sowie die im Aufsatz enthaltenen Kurzporträts von Wilhelm Wissmann (169), Wolfgang Schadewaldt (170) und Ernst Grumach (173). 16 Vgl. dazu Helmut Fuhrmann: Klassiker oder Computer? In: Goethe-Jahrbuch 113 (1996) 259–272.

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und Poesiesprache. Dies manifestiert sich in einem Gesamtwortschatz von bis zu 90.000 erfaßten einzelnen Wörtern. Dabei handelt es sich neben Wörtern wie Urphänomen, Wahlverwandtschaft oder Weltliteratur um weitaus häufiger belegte Goethesche ›Natur- und Wesenswörter‹, aber auch zahlreiche Begriffe aus der Amts- und Rechtssprache oder naturwissenschaftliche Termini sowie Einmalbildungen und poetische Neologismen.17 Goethes Wortschatz ragt aber nicht nur qualitativ in unerreichte Höhen. Denn die reiche Wortwelt seines schriftlichen Gesamtwerkes, eine enorme Menge von Gedichten, dramatischen und Prosatexten, Privatbriefen, Amtsschreiben und wissenschaftlichen Schriften – mit erhaltenen Tagebüchern und (aufgezeichneten) Gesprächen aus vielen Jahrzehnten – bildet den bisher wohl einzig bekanntgewordenen potentiellen ›Neunzigtausender‹ der deutschen Literatur. Zum Vergleich: Das für 2005 angekündigte Schiller-Wörterbuch (hg. von Rosemarie Lühr und Susanne Zeilfelder) wird Informationen zu ca. 32.000 Wörtern bieten.18 Die Aussagekraft rein zahlenmäßiger Betrachtungen ist allerdings eher begrenzt. Die Größe eines erschlossenen Wortschatzes allein erlaubt noch keine fundierten Rückschlüsse. Schließlich bleibt der Fokus eines jeden Ansetzungsrasters fließend. So kannte die Goethezeit noch keine allgemein verbindliche Getrennt- und Zusammenschreibung. Ernsthafte orthographische Normierungsversuche datieren erst aus nachgoethischer Zeit oder setzten sich erst nach dem Tode des Dichters durch.19 Singuläre Qualität und Quantität – dieses Merkmal von Klassizität ist auch für das GWb konstitutiv, indem es eine der letzten universalen und künstlerisch nahezu unerschöpflichen individuellen Sprachleistungen nach dem Thesaurusprinzip vollständig zu beschreiben anstrebt, und zwar nach dem Prinzip: Darbietung aller Wörter und Darstellung aller Bedeutungen eines jeden Worts bei Goethe.

IV. Lexikographie als Meta-System An den Akademien des deutschsprachigen Raums bilden neben einer Fülle wichtiger, oft international einmaliger Forschungsprojekte eigene Archive und Bibliotheken ein unverrückbares Fundament. Eckpfeiler der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung sind unter anderem Großvorhaben vom Typ Bibliographie, Edition, Lexikon oder Wörterbuch.20 Mit diesen Elementen kultivieren die Aka-

Vgl. dazu Otto Pniower: Goethe als Wortschöpfer. In: Euphorion 31 (1930) 362–383. Laut Selbstdarstellung des Verlages Walter de Gruyter [Stand bei Drucklegung]. 19 Vgl. etwa Johann Christian August Heyse: Handwörterbuch der deutschen Sprache: mit Hinsicht auf Rechtschreibung, Abstammung und Bildung, Biegung und Fügung der Wörter, so wie auf deren Sinnverwandtschaft. Nach den Grundsätzen einer Sprachlehre angelegt. Ausgeführt von Karl Wilhelm Ludwig Heyse. 3 Bde. (Magdeburg 1833–1849), aber auch Johann Christoph Adelung: Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung. 2 Teile (Leipzig 1788). 20 Diese Grobeinteilung erfaßt die enorme Vielfalt akademiegestützter Forschung keineswegs restlos. Zu den Interdisziplinären Arbeitsgruppen als innovatives Forschungsinstrument der Ber17 18

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demien gewissermaßen die Ordnungs- und Zugriffssysteme der modernen Medien- und Wissenswelt. Im technischen Sinn entspricht dies den Paradigmen ›Inhalt/Speicher‹ (content/memory) und ›Zugriff/Abruf‹ (retrieval). Umgekehrt hat die technische Medienwelt diese epistemischen Ordnungen verinnerlicht. Denn jeder Inhalt verlangt in der Welt der neuen Medien nach einer Verarbeitung im Sinne letztlich wissenschaftlicher Verfahren. Der Inhalt (nicht nur, aber in der Regel ein Text) verlangt elektronisch ediert, also in eine komplexe Struktur von Meta-Informationen eingebettet und formatiert bzw. annotiert zu werden. Für Kataloge oder (kommentierte) Linklisten muß er bibliographierbar und für eine Suchmaschine indexiert, d.h. im Sinne eines virtuellen Wörterbuchs der Suchbegriffe oder Lexikons der Schlagworte lemmatisiert werden. Schließlich werden Text und Metatext im wissenschaftlich-technischen Verarbeitungsprozeß wie jedes beliebige andere Datenobjekt in einem standardisierten Format archiviert. Die Frage: Gehört ein (sprach)historisches oder begriffsgeschichtliches Wörterbuch ins Internet? verdient deshalb vor diesem Hintergrund reverse Betrachtung: Trägt die Webwelt nicht eher umgekehrt die Signaturen der (Wörter-)Buchwelt von klassischer Bildungskultur und Wissenschaft? Aus der Sicht der historischen Lexikographie kann man dies zweifellos bejahen. Zwar ist die Mehrzahl der retrodigitalisierten historischen Wörterbücher noch weitgehend von der Formensprache und den Nutzungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts bestimmt.21 Es zeigen sich aber bemerkenswerte Strukturparallelen mit der technologischen Morphologie des 21. Jahrhunderts. Das verdeutlicht eine sprechende Gegenüberstellung der Module eines Goethe-Wortartikels mit den typisierten Elementen des Fundstellen-Eintrags einer Suchmaschine (z. B. Google).22 Die Bausteine eines Wortartikels sind in der linken Spalte vereinfachend benannt:23 Lemma Vorbemerkung Leitbemerkung Zitat Stellenangabe Verweise (zur Wortbildung) Synonyme Lemmaliste

Such-, Schlag-, Stichwort Meta-Information (Fundort, Seitenstatistik) Trefferkommentar referenziertes Dokument (Bild, Grafik, Ton) virtuelle Ortsreferenz (URL) Hyperlinks Angabe ähnlicher Seiten Index

lin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vgl. Dieter Simon: Akademie der Wissenschaften. Das Berliner Projekt. Ein Brevier (Berlin 1999) 100–104 bzw. 159–161. 21 Vgl. Michael Schlaefer: Standards retrodigitaler Wörterbücher. In: Lexikos (AFRILEXReeks) 10 (2000) 157–172, hier 165. 22 Gemäß einer Selbstdarstellung des Produktes ›Google‹ ergibt sich der Name der zur Zeit erfolgreichsten Suchmaschine aus einem mathematischen Begriff, nämlich »Googol, einer 1 mit einhundert Nullen«, vgl. Norbert Thomma: Wie denkt das größte Hirn der Welt? In: Der Tagesspiegel Nr. 17871 vom 1. 9. 2002. 23 Zum Gebrauch vgl. in: GWb, Bd.1 (1978) 1–14 bzw. 17–20. Zur aktuellen Orientierung, auch

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Die Parallelität in der Mikrostruktur von Wörterbuchartikel und Fundeintrag gilt hier nur für die semantische Funktion der einzelnen Module. Denn es gilt: Bleibt der (gedruckte) Wörterbuchtext stets einer statisch-hierarchischen Dimension verhaftet, so sind die Datenbankfelder einer Fundstellenausgabe stets dynamisch und seriell organisiert.24 Internet und neue Medien haben die nutzerspezifischen Anforderungen und technischen Möglichkeiten der sprachhistorischen Lexikographie zweifellos revolutioniert. Allerdings erwiesen sich die Schlüsselbegriffe historischer Wörterbuchkonzepte umgekehrt auch als unverzichtbare evolutionäre Konstituentien des weltweiten Wissensnetzes. Beinahe mühelos lassen sich die ›grammatischen‹ Elemente der lexikographischen Beschreibungssprache als technische Morphologie der Internetwelt verstehen: Begriffsparallelen wie Lemma/Suchwort, Textkorpus/Volltext oder Verweis/Hyperlink, aber auch statthafte Analogisierungen wie Wortschatz = Volltextlemmatisierung oder semantische Bestimmung = kommentierter Wortindex belegen: Viele Schlüsselbegriffe aus der Welt der Search engines oder Web crawler übersetzen Wörterbuchprinzipien in die Terminologie und Taxonomie der Suchmaschinen. Damit besetzen lexikalisch-thesaurische Muster eine sehr wichtige Schnittstelle zwischen semantisch-natürlichsprachlicher und logisch-maschinensprachlicher Welt.

V. Konvergenz von Kulturwissenschaft und Worldwide Web Die Affinität zwischen moderner Web- und historischer Wörterbuchwelt erlaubt drei kurze Ausblicke über den engeren Rahmen der lexikographischen Betrachtung hinaus. Erstens: Lexikalische und lexikographische Techniken im medialen Umgang mit Wissen spiegeln auch eine Verwissenschaftlichung der Öffentlichkeit wider. Ordnungsbegriffe wie Archiv, Enzyklopädie, Katalog, Index, Register u. a. m. sind jedem Netznutzer unabhängig von seinem Bildungsstand geläufig. Man könnte sagen: Das Internet hat die epistemische Formensprache in ähnlicher Weise popularisiert und demokratisiert wie Nomenklatur und Einheitensysteme der Naturwissenschaften und der Technik (»Megahertz«, »Kilobit« u. ä.). Selbst usuelle Metaphorik des digitalen Zeitalters ist in weiten Bereichen der Kultur- und Wissensgeschichte entnommen. Man bedenke nur die Vorstellung des »Scrollens«, die

im Hinblick auf eine geplante elektronische Nutzung vgl. die Informationsbroschüre GoetheWörterbuch, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 2004) 12–15 sowie 22 –24 [Online-Dokumentation: Hyperlink ›Artikelaufbau‹ unter http://bibliothek. bbaw.de/Goethe/gw/fr_haupt.htm]. 24 Vgl. dazu Marc Meyer: Korpusbasierte Erstellung eines Wörterbuchs des Deutschen. Chancen und Schwierigkeiten (Mag.-Arbeit Univ. Marburg 2003) 57–59, zugl. unter http://www. marc-meyer.de [Stand bei Drucklegung].

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auf die antike Schriftrolle zurückgeht,25 das virtuelle Werkzeug des »Editors« oder die heuristische Vorstellung des Desktops als »Explorer« – in Anlehnung an den Begriff der wissenschaftlichen Entdeckerfahrt. Weitere Leitbegriffe der Web- und Medienwelt säkularisieren Elemente der Wissenschaftskultur: Fachwörter wie Software-Archiv, Digitale Bibliothek, elektronisches Buch, elektronische Edition, Viren-Enzyklopädie, Volltext-Index oder Internet-Katalog sind wahre Termini technici der neuen Medienwelt. Sie enthalten jeweils ein semantisches Zweitglied, das die jahrhundertealte Strukturwelt des Wissens aktualisiert. Zweitens: Auch im Blick auf die Standardisierung von Datenformaten, Programmiersprachen und Auszeichnungssystemen hat die Internetwelt die Wissenschaft um eines ihrer höchsten historischen Verdienste beerbt. Denn erst die akademische Konventionalisierung des Lateinischen oder Englischen als wissenschaftliche Verkehrssprache ermöglichten die Entstehung einer Scientific community. Dieses Prinzip der (sprachlichen) Standardisierung für die technisch schnelllebigen Windungen des kulturellen Gedächtnisses gewinnt in der digitalen Wissenswelt täglich an Bedeutung. Spezielle bibliotheks- und geisteswissenschaftliche Standards wie z. B. die Vorgaben der Open Archive Initiative (OAI) oder der Text Encoding Initiative (TEI) bedienen sich – zumindest was die semantische Seite technischer Normierung betrifft – altbewährter szientistischer Konventionalisierung. Klassifikationssysteme wie die sog. Dewey Decimal Classification (DDC) oder der Versuch einer Universalkodierung aller Schriftzeichen der Menschheit durch UNICODE gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Drittens: Der populärwissenschaftliche Umgang mit Internet und neuen Medien läßt historische Erfahrungsmuster als neue mediale Mythologeme wieder aufund fortleben. So hat der Internetbeauftragte des Vatikans in Gestalt des verkündenden Boten und Erzengels Gabriel einen Schutzheiligen für das weltweite Wissensnetz vorgeschlagen.26 Auch Software-Entwickler bedienen sich gerne biblischer oder mythologischer Figuren und Vorstellungen, um ihre Produkte in einen bedeutenden Namen zu bannen. In diesem Sinne konstituiert das datenbankgestützte Autoren- und Redaktionssystem FAUST zwar keinen näheren Bezug zu seinem Namenspatron. Dafür empfiehlt sich die Lese-Software zum Thesaurus Linguae Graecae (TLG) mit ihrem sprechenden Namen in sehr ambivalenter Weise als (Büchse der) PANDORA, die mit ihren Treffer- und Textmyriaden auch ein ›Übel des Zuviel‹ über den Nutzer ausgießt.27 Und der Korpusbrowser der Online-Bibliothek des Archimedes-Projektes, entwickelt am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, heißt nach der Geleiterin des Odysseus im 25 »Der in unsere Sprache herübergewanderte Ausdruck ›scrollen‹ macht es deutlich: Wir sind dabei, die kaiserzeitliche Entwicklung von der Buchrolle zum Codex wieder umzukehren.« Vgl. Christoph Markschies: Digitalisierung antiker Texte. In: Gegenworte 8 (2001) 35–37, hier 37. 26 Vgl. Daniel Williams: Das Internet sucht seinen Schutzpatron. Der Vatikan fahndet nach dem perfekten Heiligen für das Netz. In: Der Tagesspiegel Nr. 18022 vom 3. 2. 2003 sowie unter www.santiebeati.it. 27 Chr. Markschies: Digitalisierung antiker Texte, a. a. O. [Anm. 25] 35.

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Reiche des Phäakenkönigs (http://nausikaa2.mpiwg-berlin.mpg.de/ [Stand bei Drucklegung]). Schließlich waltet die Muse der Geschichte gleich mehrmals als Namensgeberin für wissenschaftliche Online-Projekte im Bereich der Geschichtswissenschaften (als www.CLIO-online.de, dem »Fachportal für die Geschichtswissenschaften«, oder als Datenbank KLEIO, eine Entwicklung des Instituts für Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung an der Universität Köln, s. unter www.hki.uni-koeln.de).

VI. Zur elektronischen Struktur des Goethe-Wörterbuchs Ein kurzer geschichtlicher Rückblick auf die Forschungs- und Methodengeschichte der Goethe-Lexikographie verspricht in diesem Kontext weiteren Erkenntnisgewinn. So erscheint das bewährte Neben- und Miteinander von thesaurischem und indexierendem Arbeitsprinzip in der germanistischen Literatur- und Sprachwissenschaft für zukünftige technische und konzeptionelle Entwicklungen in der Wörterbuchlandschaft aufschlußreich. Zunächst möchte ich am Beispiel der Literaturwissenschaft die Intentionen bestimmen, die die Anwendung linguistisch indexierender Verfahren auf ein literarisches Korpus motivieren können. Die literaturwissenschaftliche Korpusanalyse dient in der Regel: – der auktorialen Zuschreibung eines Textes oder Korpus – der Ermittlung von Form-, Stil- oder Motivaffinitäten oder – der strukturellen Inhaltsanalyse. Die erste, gleichsam ›forensische‹ Motivation korpuslinguistischer Arbeitsweisen ermöglicht mit Blick auf einen Text u. a. Antworten auf die Frage: Wer ist der Verfasser? Mittels entsprechender Wortschatz- und Stilanalysen konnte die ältere Forschung z. B. die Autorschaft Goethes für die Literatur-Rezensionen aus den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 im einzelnen bestimmen.28 Die zweite, intertextuelle Untersuchungsweise erlaubt vergleichende Aussagen über Parallelen, Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Autoren. Die dritte beschränkt sich auf die textimmanente Betrachtung, z. B. zur Verwendungshäufigkeit oder Schreibweise eines Wortes oder einer Wortgruppe innerhalb eines Textes. Die Kulturinformatikerin Martina Schwanke bemerkt dazu in ihrem Historischen Überblick über Versuche einer computergestützten Aufbereitung literarischer Texte: »Schon Ende der vierziger Jahre [des 20. Jahrhunderts, R. C.] wurde die Möglichkeit entdeckt, mit den neuen Rechenanlagen literaturwissenschaftliche Aufgaben zu lösen, von denen man wegen des immensen Personal- und Zeitaufwandes sonst zurückgeschreckt wäre. Damals begann man mit der auto28 Vgl. Wörterregister zu Goethes Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Leipzig 1959) I–VII [masch. Manuskr.].

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matischen Erstellung der ersten Werkindices und -konkordanzen, die wegen der noch geringen Leistungsfähigkeit der Anlagen zunächst einen nur bescheidenen Umfang haben konnten.«29 Die technischen Möglichkeiten der Verzettelung und ›Textzerlegung‹ beflügelten auch die Goethe-Lexikographie. Das belegt eine Reihe entsprechender Publikationen und Projekte.30 Für die Exzerptionsphase des GWb waren großrechnergestützte Verfahren der Korpusanalyse unverzichtbar. So bilanzierten Gerhard Stickel und Manfred Gräfe bereits im Erscheinungsjahr der ersten Lieferung des GWb die Debatte um »Natürliche Sprachen und elektronische Datenverarbeitung« mit ihrem nüchternen Bericht über Möglichkeiten und Mühsal der »[a]utomatische[n] Textzerlegung und Herstellung von Zettelregistern für das GoetheWörterbuch«.31 Die Werkzeuge aus dieser Frühzeit beliefen sich dabei noch auf Flußdiagramme in der Programmiersprache FORTRAN, umgesetzt auf den Lochkarten einer Rechenanlage vom Typ IBM 7090.32 Lange vor Einführung des Personal Computer wurde das Goethesche Werk mittels ›Verlochung‹ einzelner Textkorpora erstmals vollständig ausgewertet und durchlemmatisiert. Da aber noch keine komplette elektronische Fassung des gesamten Œuvres vorlag, ergänzte die maschinelle Exzerption lediglich die manuelle. Auch bei den automatisierten Analysen blieb eine »useful man/machine interaction« unverzichtbar.33 Die technikgeschichtlich bedingte Struktur der Arbeitsgrundlagen des GWb durch automatische Indexierung konstituiert auch die heutige Datenbasis des Wörterbuchs. Ein Beispiel: Die angesetzte Lemmaform ›Goethit‹ verweist ebenso auf den Gesamtwortindex wie die Synonymen-Verweise am Artikelende. Die zahlreichen Abkürzungen, Werk- und Namenssiglen referenzieren die indexierten Listen mit den Auflösungen der Textkonventionen sowie der Werktitel und Namen der Briefempfänger:

29 Martina Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe. Computergestützte Studien zu epischen Werken (Heidelberg 1992) 92. 30 Vgl. Alexander Rudolf Hohlfeld / Martin Joos / W. F. Twaddell: Wortindex zu Goethes Faust (Madison, Wis. 1940); Paula Margretha Kittel: Der Wortschatz der Bühnenprosa in Goethes ›Faust‹. Ein Nachtrag zum Wortindex zu ›Goethes Faust‹. 2. verm. u. verb. Aufl. besorgt von Norbert Fuerst (Madison, Wis. 1946); Peter Schmidt: Der Wortschatz von Goethes ›Iphigenie‹. Analyse der Werk- und Personensprache mit EDV-Hilfe. Mit Wortindex, Häufigkeitswörterbuch und Wortgruppentabellen. Indices zur deutschen Literatur: Index-Beihefte, 1 (Frankfurt a. M., Bonn 1970); Verskonkordanz zu Goethes ›Faust, Erster Teil‹, a. a. O. [Anm. 13]. 31 Vgl. Gerhard Stickel / Manfred Gräfe: Automatische Textzerlegung und Herstellung von Zettelregistern für das Goethe-Wörterbuch. In: Sprache im technischen Zeitalter 19 (1966) 247–257, hier 247. 32 Ebd. 251, 255–257. 33 Ebd. 254.

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Goethit von JGLenz 1806 in die mineralog Terminologie aufgenommener Name für Nadeleisenerz1) Wohlwollende Männer aus dem Westerwald entdecken ein schönes Mineral und nennen es mir zu Lieb und Ehren G.; denen Herrn Cramer und Achenbach bin ich dafür noch vielen Dank schuldig, obgleich diese Benennung auch schnell aus der Oryctognosie verschwand.2) Es hieß auch Rubinglimmer, gegenwärtig kennt man es unter der Bezeichnung Pyrosiderit N6,162,18 MetamPfl Nachtr B27,217,22 Cramer [6.11.16] K uö Syn Pyrrhosiderit Rubinglimmer 1) vgl

HFranke/VWahl, Zur Entstehung des Mineralnamens Göthit, GJb95, 1978,241ff nach G-s Tod wurde der Name zu einem festen Bestandteil der Terminologie (ebd 241)

2) erst

Die Wörterbuchartikel verstehen sich somit nicht nur als Erträge semantisch bestimmender, hermeneutischer Arbeit, sondern sie bündeln auch eine Fülle von Informationen, die allein aus analytischen Verfahren zu schöpfen sind. Bei einem historischen Belegwörterbuch wie dem GWb gehören dazu statistische Aussagen über die Verwendungsbereiche und die Gebrauchsgewichtung der einzelnen Wörter, aber auch Angaben zu (seltenen) Schreibungen oder Fehllesungen. Letztlich speisen sich fast alle Module des einzelnen Wortartikels aus einem Index als universeller ›Text hinter dem Text‹. Der lexikographische Arbeitsprozeß reflektiert damit die Genese der semantisch-thesaurischen Intensivform aus der automatisch indexierten Extensivform. Das technische Layout visualisiert den Entstehungsprozeß des Wörterbuchs als Aufstieg vom Index zum Thesaurus.

VII. Von der historischen zur korpusbasierten Lexikographie Ein Blick in die Geschichte der deutschen Wortschatzforschung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls aufschlußreich. Historisch betrachtet treten den älteren ›thesaurischen‹ Wörterbüchern des Deutschen heute nämlich zahlreiche moderne lexikographische Informationssysteme vom Indextyp gegenüber. Die Vertreter der traditionellen Lexikographie setzten in der Regel den Namen ihrer großen Pioniere ein Denkmal: Johann Christoph Adelung, Joachim Heinrich Campe, Jacob und Wilhelm Grimm – aber auch Moriz Heyne oder Hermann Paul. Die Wörterbuchsysteme vom Indextyp dagegen sprechen mit mehr oder weniger klingenden Akronymen wie CISLEX, COSMAS, DWDS, GERMANET, LIMAS oder NEGRA.34 Sie zeugen damit von ihrer Herkunft aus den anglo-amerikanischen Corpus linguistics. Anders als klassische Printwörterbücher rationalisieren diese digitalen Projekte den lexikographischen Produktions- und Rezeptionsprozeß, und zwar von der elektronischen Textquellenerschließung über die Segmentierung und Annotierung ihrer Korpora bis zur Extraktion ihres ›Wissens über Wörter‹. Kontrastiv läßt sich sich folgender Gegensatz von Thesaurus- und Indexprinzip konturieren: 34

Vgl. M. Meyer: Korpusbasierte Erstellung, a. a. O. [Anm. 24] 26–30, 77–79.

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a) Wörterbücher vom Thesaurustyp bestimmen Wortbedeutungen im Sinne der historischen Semantik. Sie gründen in der Regel – nach beendeter Exzerptionsphase – auf einem genau quantifizierten Korpus (im Falle der gemeinsprachlichen Wörterbücher) bzw. auf einem geschlossenen Wortschatz (Autorenwörterbücher) und lemmatisieren von A bis Z. Ihre Redaktoren gleichen semantischen Archäologen, die ihre Worterklärungen vor allem an philologischer Hermeneutik orientieren. Auf der Ebene der Wortartikel dominieren absolute Angabetypen, wie semantische, phonetische, morphologische, syntaktische oder pragmatische Aussagen, so z. B. der Verweis auf ein Hapax legomenon oder eine Erstdatierung. Es dominiert ein hierarchisierter Artikelaufbau. Medium dieses Typs ist das Print- oder (retro)digitalisierte Online-Wörterbuch. b) Wörterbuchsysteme vom Indextyp fokussieren weniger die ›Bedeutung‹ als die ›Eigenschaften‹ von Wörtern. Das betrifft vor allem das Verhalten von Wörtern im repräsentativen oder kontextabhängigen Massenverband. Sie basieren auf großen, in der Regel dynamisch erweiterbaren elektronischen Textkorpora, teilweise mit Hunderttausenden (oder gar Millionen, Milliarden) von Textwörtern und akkumulieren zumeist offene Wortschätze. Hier dominieren relative Angaben, basierend auf der seriellen Feldstruktur der zugrundeliegenden Datenbanken. Komplexe Retrievalfunktionen ermöglichen hauptsächlich objektivierte Wissensextraktion und favorisieren statistische, systematische oder heuristische Fragestellungen: Treten Wörter musterbildend miteinander in Verbindung? Haben sie gesetzmäßige Beziehungen zu bestimmten Textsorten? Medium dieses Typs sind Volltextdatenbanken mit mächtigen Benutzerschnittstellen und virtuelle Wörterbuchsysteme mit verteilten Online-Ressourcen. Allerdings dokumentiert diese Gegenüberstellung von ›Thesaurus‹ und ›Index‹ auch divergierende Tendenzen. So laufen nämlich die traditionellen Wörterbücher gelegentlich Gefahr, lediglich isolierte »Einzelwortschicksale« in arbiträrer Abfolge aufzulisten oder auf Artikelebene in unüberschaubare Wortmonographien auszuufern.35 Auf der anderen Seite verkümmert die dynamische Datenausgabe lexikographischer Datenressourcen nicht selten zum bloßen Formular für Zahlen und Zeichen. Das Besondere und Interessante droht dabei in Myriaden von Textwörtern zu versinken. Auch ist die Antinomie von Thesaurus- und Indextyp durch die technische Entwicklung in Bewegung geraten. Zum einen hat man einige historische Wörterbücher inzwischen zuverlässig (retro)digitalisiert, wie z. B. Adelung, Lexer oder Grimm. Soweit sie dabei im Volltext restrukturiert und annotiert vorliegen, werden

35 Vgl. Thomas Gloning / Rüdiger Welter: Wortschatzarchitektur und elektronische Wörterbücher: Goethes Wortschatz und das Goethe-Wörterbuch. In: Chancen und Perspektiven computergestützter Lexikographie. Hypertext, Internet und SGML/XML für die Produktion und Publikation digitaler Wörterbücher, hg. von Ingrid Lemberg / Bernhard Schröder / Angelika Storrer (Tübingen 2001) 117–132, hier 118.

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sie dadurch selbst zum (Teil eines) Korpus. Dies dokumentieren Wörterbuchverbünde wie das Trierer Projekt Mittelhochdeutsche Wörterbücher auf CD-ROM und im Internet (http://gaer27.uni-trier.de/MWV-online/MWV-online.html) oder das Wörterbuchportal der Berliner und Heidelberger Akademien der Wissenschaften (www.woerterbuch-portal.de). Andererseits haben korpuslinguistische Techniken im lexikographischen Arbeitsprozeß historischer Wörterbücher längst Einzug gehalten. So wird das Belegarchiv des GWb (mit rund 3,2 Millionen Textbelegen) laufend ergänzt durch die Arbeit mit der Datenbank Goethes Werke auf CD-ROM.36 Es handelt sich dabei um eine SGML-kompatible Volltexterschließung des Gesamtwerkes nach der Großen Weimarer oder Sophien-Ausgabe in 143 Bänden, Weimar 1887–1919. Die Auszeichnungstiefe dieser Datenbank ermöglicht u. a. eine Kommandozeilensuche, die auch korpuslinguistischen Verfahren und Abfragen entgegenkommt.37 Auf diese Weise wachsen traditionelle und korpusbasierte Lexikographie zusammen. Mit der universellen Verfügbarkeit digitaler Werkzeuge konvergieren auch Produktions- und Präsentationsverfahren, und zwar vom elektronischen Volltextkorpus auf CD-ROM bis zum Portal für alle Wörterbuchtypen. Diese Konvergenz von Thesaurus- und Indexprinzip illustriert ein letzter Blick auf die elektronische Struktur des GWb. Innerhalb der Präsentation von ›GWb online‹ auf dem Goethe-Server der Berliner Akademiebibliothek läßt sich über den Hyperlink ›Suche‹ in der oberen Menüleiste (s. Cursorposition, Abbildung im folgenden) das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS) ansteuern und der digitale Volltext des Wörterbuchs der deutschen

http://bibliothek.bbaw.de/Goethe/my_html/wortschatz.htm 36

Vgl. Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) auf CD-ROM. Vollständige elektronische Edition

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Gegenwartssprache (WDG) virtuell ›aufschlagen‹. Das enge Ineinander von Thesaurus und Index verdeutlicht dabei der Aufruf des Artikels ›Index‹ aus dem WDG. Dieses Wörterbuch des Deutschen, von 1952 bis 1977 erarbeitet an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, findet sich im Volltextrestrukturiert im Korpusverbund des DWDS: Als Repräsentation eines Thesaurustyp-Wörterbuchs eröffnet ›GWb online‹ zugleich den Zugang zu einer korpusbasierten lexikographischen Ressource wie dem DWDS, das ein enormes Textvolumen für die anspruchsvolle Analyse aufbereitet. Das moderne ›historische‹ WDG sorgt wiederum für vollständige semantische Ausdifferenzierung in Form eines geschlossenen, von A bis Z durchlemmatisierten Thesaurus. Dabei handelt es sich um den Wortschatz der modernen Gegenwartssprache der 1950er bis 1970er Jahre aus dem Blickwinkel der ostdeutschen Sprachwissenschaft. Das thesaurische WDG mündet damit in ein Referenzkorpus des Deutschen unter dem Dach des Indextyp-Wörterbuchs DWDS, das neben schöner und Gebrauchs-Literatur, Publizistik und Fachtexten ganze historische Wörterbücher in seinen Vorrat von über 100 Millionen laufenden Textwörtern inkorporiert (s. unter www.dwdscorpus.de). Die Verschmelzung von Thesaurus- und IndexWörterbuch (WDG bzw. DWDS) mit einem digital verfügbaren Referenzkorpus des Deutschen (DWDSCORPUS) verspricht, eine sinnvolle Vorform der großen lexikographischen Allsynthese von semantischer, struktureller und referentieller Worterschließung zu modellieren. Diese Konvergenz von Thesaurus, Index und Korpus überwindet die Grenzen gedruckter Wörterbücher und rückt zumindest theoretisch die Verwirklichung eines ›großen‹, kumulativen ›Thesaurus‹ des Deutschen in den Bereich des technisch Denk- oder sogar Machbaren. Auch die Vertreter von Fachlexikographie, Begriffsgeschichte und allgemeiner Enzyklopädik werden in absehbarer Zeit als enge Vernetzungspartner im Rahmen einer universellen Plattform für historische Semantik (vermutlich als Portallösung) unverzichtbar sein. Die Dimensionen dieser konvergenten Entwicklung vermag ein engerer Rückblick auf die Geschichte der historischen Lexikographie an der Berliner Wissenschaftsakademie zu verdeutlichen. Um 1900 hatten die ersten Erfolge des Thesaurus linguae Latinae (TLL) eine analoge Diskussion an der Preußischen Akademie der Wissenschaften um einen ›Thesaurus linguae Germanicae‹ entzündet. Kein anderer als Herman Grimm entwickelte diesen ›Thesaurus-Plan‹ im Jahre 1893 als Erweiterung und Korrektiv für das Deutsche Wörterbuch – immerhin das Lebensim Sinne eines Nachdruckes der sog. Sophien-Ausgabe der Werke Johann Wolfgang Goethes (Cambridge u. a.: Chadwyck-Healey 1995). 37 Vgl. dazu Fotis Jannidis: Goethes Werke auf CD-ROM. In: Arbitrium 16 (1998) 192–201. 38 Vgl. Ulrich Schröter: Von Moriz Heyne zur Deutschen Kommission. Zur Bearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von 1867 bis 1908. In: Das Grimmsche Wörterbuch. Untersuchungen zur lexikographischen Methodologie, hg. von Joachim Dückert unter Mitarbeit von Wilhelm Braun (Leipzig 1987) 91–124, hier 116 f.

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werk seines Vaters und Onkels. Das Projekt fußte bei aller Kontroverse auf einem Konsens: Es sollte sich nicht um ein gedrucktes Wörterbuch handeln.38 Auch eingefleischten Verfechtern des Thesaurus-Projekts schauderte nämlich vor der »Hektometerzahl, die die Bände des Ungetüms nebeneinander gereiht füllen könnten«,39 so Gustav Roethe, Vorsitzender der Deutschen Kommission, im Jahr 1913. An die Stelle des gedruckten Thesaurus trat vielmehr die Vorstellung eines großen historischen Material- und Wortarchivs, das der Forschung frei zugänglich sein sollte.40 Dies allerdings eher im Sinne eines offenen historischen Wortschatzarchivs, denn auch die Textmenge von (Referenz-)Korpora verlangt aufgrund struktureller und arithmetischer Gesetzmäßigkeiten nach sinnvoller Kappung. Schließlich werden Größe und Struktur eines Textkorpus in der Regel durch die sog. Type-Token-Ratio (TTR) bestimmt. Es handelt sich dabei um den Quotienten aus der »Anzahl der unterschiedlichen Wortformen« geteilt durch die »Anzahl sämtlicher Wörter« eines Korpus.41 Die zu lemmatisierende Grundform eines Wortes (›Type‹) liegt in der Regel in einer Vielzahl von morphologischen Erscheinungsformen vor (›Tokens‹). Wächst die Textmenge, werden neue Tokens inkorporiert und die Anzahl neu hinzukommender Types nimmt ab. Insofern konvergieren Textkorpora gegen einen kritischen Wert.42 Das beschriebene Konvergenzphänomen möchte ich abschließend durch ein Thesenbild verlebendigen. Es handelt sich dabei um die Übertragung eines naturgeschichtlichen Bildes in den Technikbereich. Als ›evolutionsgeschichtlich‹ ältere Daseinsform verkörpern demgemäß die historischen Wörterbücher die fiktive Spezies der ›Thesaurier‹. Digitale lexikographische Informationssysteme dagegen übernehmen gleichsam die Rolle imaginärer ›Indechsen‹. Während das thesaurische Prinzip die vernetzte Wissenswelt in ihrem Funktionskern modelliert, profitieren historische Korpora von den immer mächtigeren Möglichkeiten technischer Indexierung, und zwar, wie gezeigt, vom Mark-up bis zum Retrieval. Der (teil)automatisierte Index benötigt also semantische Erläuterung, der komplex kommentierte Wortschatz verlangt dagegen nach Umwandlung in einen abfragbaren Datenschatz. Thesaurier und Indechsen stehen in einem ko-evolutionären Verhältnis zueinander und optimieren sich gegenseitig.

39 Zit. nach Karl Stackmann: Historische Lexikographie. In: ders.: Philologie und Lexikographie. Kleine Schriften II, hg. von Jens Haustein (Göttingen 1998) 140. 40 Vgl. ebd. 138–142. 41 M. Meyer: Korpusbasierte Erstellung, a. a. O. [Anm. 24] 15. 42 Ebd. 16.

Gunter Scholtz

Vom Nutzen und Nachteil des Computers für die Begriffsgeschichte So wie schon immer die begriffsgeschichtliche Forschung Bibliotheken und Buchdruck voraussetzte – andernfalls hätte sie gar kein gesichertes empirisches Untersuchungsfeld gehabt –, so wird sie heute durch den Computer am stärksten beeinflußt und in neue Richtungen gedrängt. 1. Die erste augenfällige Neuerung besteht natürlich darin, daß – je mehr Texte und Titel auf digitalen Datenträgern gespeichert sind – desto mehr Okkurenzen zu den Begriffen leicht zur Verfügung stehen. Das ist eindeutig und unbestritten immer dann ein Vorteil, wenn entweder das zu untersuchende Textkorpus überschaubar oder die Belegkette nicht sehr dicht ist. Aufgrund des elektronisch gespeicherten Werks von Kant läßt sich heute etwa sein Gebrauch und der Bedeutungsumfang des Wortes ›Maxime‹ sehr viel schneller eruieren als vormals,1 und wäre die gesamte Literatur des 19. Jahrhunderts bereits auf Datenträgern zugänglich, wir hätten z. B. ein etwas genaueres Bild von der Verbreitung des Ausdrucks ›Geisteswissenschaften‹, als es A. Diemer im Historischen Wörterbuch der Philosophie zeichnete;2 Ulrich Dierse hat es inzwischen um eine Reihe interessanter Belege ergänzt,3 aber wir können nicht davon ausgehen, daß die Belegkette jetzt vollständig ist und sich das Bild nicht mehr ändern wird. Erst recht sind Datenträger eindeutig hilfreich, wenn Unsicherheit herrscht, ob ein Wort überhaupt Verwendung fand, also ob tatsächlich der Begriff ›Historismus‹ erst von Friedrich Schlegel und Novalis verwendet wurde. Bisher sind aber nur Klassiker, und keineswegs alle, verfügbar, und darin steckt schon ein Problem, nämlich eine Schieflage. Enthielte das in Arbeit befindliche Register zum HWPh auch einen Personenindex (der mit Recht nicht geplant ist), dann würde dieser vermutlich aufdecken, daß besonders in den ersten Bänden dieses Handbuches sehr viel mehr Hegel als Schelling und sehr viel mehr Nietzsche als Dilthey zitiert wurde. Dieses Resultat hat seinen Grund nicht darin, daß der damalige Herausgeberkreis Hegel für den bedeutenderen Philosophen hielt (was tatsächlich zutrifft) und man Nietzsche wichtiger fand als Dilthey (was nicht der Fall war). Sondern das Ungleichgewicht dürfte vor allem darin seine Ursache haben, daß es zu den damals grundlegenden Werkausgaben von Hegel (die 1 Klaus Steigleder: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft (Stuttgart, Weimar 2002) 118–128. 2 A. Diemer: Geisteswissenschaften. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer [im folgenden: HWPh], Bd. 3 (Basel, Stuttgart 1974) 211–215. 3 Ulrich Dierse: Das Begriffspaar Naturwissenschaften – Geisteswissenschaften bis zu Dilthey. In: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hg. von Gudrun Kühne-Bertram / Hans-Ulrich Lessing / Volker Steenblock (Würzburg 2003) 15–33.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Glockner-Ausgabe) und Nietzsche (die Musarion-, Schlechta- und Kröner-Ausgabe) bereits Indizes gab, zu den Werkausgaben von Schelling 4 und Dilthey aber nicht. Diese Schieflage wird vermutlich durch die digitalisierten Texte verschärft, denn jetzt ist man nicht einmal auf die Register-Verfasser angewiesen, nichts entgeht – aber um so leichter das, was nicht gespeichert ist. Der Artikel ›Interpretation‹ im HWPh bringt zu Nietzsche immerhin einen Beleg (nachgewiesen in der Schlechta-Ausgabe), hingegen erscheint Diltheys Name ohne Literaturhinweis nur in einem allgemeinen, reflektierenden Satz, in welchem man ihn auch hätte streichen können.5 Dabei galt Dilthey schon damals als Hermeneutiker, als Philosoph der Interpretation, und die vorläufige Durchsicht seiner Texte (die jetzt durch die Register der amerikanischen Ausgabe erleichtert wird6) zeigt uns, daß Dilthey den Begriff der Interpretation mindestens in drei verschiedenen Bedeutungen gebrauchte7 und sich bei ihm schon die spätere Ausweitung des Bedeutungsgehaltes und die Inflation des Begriffs ankündigt, welche heute das Wort belastet. Die von den Klassiker-Ausgaben mit ihren Registern verursachte Dominanz bestimmter Texte wird also durch die Speicher der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) verschärft, und das bringt Nachteile besonders für die begriffsgeschichtliche Lexikographie; können wir doch keinesfalls davon ausgehen, gerade die berühmten Klassiker hätten bestimmte Begriffe geprägt und in Umlauf gebracht. Im Falle von ›Religionsphilosophie‹ und ›Nihilismus‹ war es, soweit wir bis jetzt wissen, jedenfalls anders. Wir können deshalb dankbar sein, wenn die heute oft maschinell basierte begriffsgeschichtliche Forschung weiterhin auch handwerksmäßig arbeitet, d. h. wenn man in den Bibliotheken nachschlägt und liest, und zwar mit dem durch solche Praxis geschärften Spürsinn, der die elektronischen Suchmaschinen ersetzt. 2. Nun nimmt die Computerisierung zu, und deshalb wird vermutlich jenes Ungleichgewicht zwischen den Klassikern und dem Rest der Autoren sich langsam ausgleichen. Es ist denkbar, daß demnächst z. B. nicht nur die Titel, sondern auch die Texte der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek auf Datenträger zugänglich werden. Wenn dadurch die Menge der Gelehrten, welche auf Symposien stolz ihre begriffsgeschichtlichen Trouvallien vorzeigen, abnehmen wird, muß man das nicht schon als Nachteil beklagen. Aber es entstünde eine viel größere Schwierig-

4 Nur die dreibändige Auswahlausgabe der Schriften Schellings, die Otto Weiß besorgt hatte (Leipzig 1907), enthielt auch Register. 5 H. Anton: Interpretation. In: HWPh, a. a. O. [Anm. 2] Bd. 4 (1976) 515. 6 Wilhelm Dilthey: Selected Works, ed. by Rudolf A. Makkreel / Frithjof Rodi (Princeton, New Jersey 1985 ff.). 7 Siehe demnächst vom Verf.: Traditionelle Hermeneutik – hermeneutische Philosophie. Zum Bedeutungswandel des Interpretationsbegriffs. In: Otto Friedrich Bollnow: Rezeption und Forschungsperspektiven, hg. von Friedrich Kümmel (Verlag Klett-Cotta, Stuttgart).

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keit als jenes Ungleichgewicht. Denn wer kann diese Mengen an Daten verarbeiten, wer in diesem Meer Orientierung geben? Es wäre nicht unrealistisch anzunehmen, daß dann ein Unternehmen wie das HWPh ganz unmöglich wird, nämlich wegen Informationsüberlastung der Autoren und Herausgeber. Welch einseitigen Fortschritt der Computer bedeutet, zeigen die Indizes und Register (diese gehören ja zu den Grundlagen der Begriffsgeschichte). Ich wähle aus Anlaß des Jubiläumsjahres die Kant-Register. Von 1797–1804 brachte George Samuel Albert Mellin ein Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie heraus. Es umfaßt sechs stattliche Bände, aber es verfolgt auch ein ehrgeiziges Ziel, nämlich »die Lehren der kritischen Philosophie, in ihrem ganzen Umfange, deutlich, faßlich und überzeugend vorzutragen.«8 Inzwischen hat Norbert Hinske einen Kant-Index auf EDV-Basis in Angriff genommen, der ein solches philosophisches und didaktisches Ziel nicht mehr im Auge hat, der aber allein den Fassungen von Kants Logik 14 Bände widmet, 14 Bände, weil Hinske ein neues, nicht-philosophisches Programm verfolgt, das auch nur mit dem Computer realisierbar ist: Unter bewußtem Ausschluß aller Interpretationsbemühungen wird der gesamte Sprachbestand vermessen und z. T. in eigenen Graphen die Worthäufigkeit dargestellt.9 Jenes Handbuch von Mellin ist heute nur für die Erforschung der damaligen Kant-Rezeption, nicht aber für die Kant-Forschung und -Lektüre interessant, da die Belege zu sparsam und der Ehrgeiz zu groß sind, das fertige, geschlossene und richtige System zu präsentieren. Ob aber umgekehrt nun Hinskes Unternehmen die Kant-Rezeption der Gegenwart in jeder Hinsicht beflügelt, dürfte auch nicht ganz sicher sein. Denn die Forderung von Heinrich Delfosse (einem Mitverfasser, der mit ihm auch den Lambert-Index erstellte), ein Index müsse »von vielen verschiedenen Menschen«, auch von »Drittsemestlern« benutzbar sein, scheint mir nicht recht erfüllt; kenne ich doch selbst Kollegen, die Hinskes Werk beiseite legten, weil sie keine Zeit fanden, die seitenlange Gebrauchsanweisung zu lesen. So ist dieses gewaltige Werk doch nur für die Experten nützlich. Auch ob es wirklich ganz »unterschiedlichen Erkenntnisinteressen« dient10 und wirklich viele »neue Fragestellungen« ermöglicht, wie Hinske sagt,11 scheint mir noch ungewiß, denn um den Nutzen solcher Indizes zu erweisen, appelliert Delfosse nur an die »Phantasie« der Benutzer, und Hinske kann als »frappierenstes« Beispiel für die Nützlichkeit seines Kant-Registers nur die Tatsache nennen, daß Kant erst mit 66

8 George Samuel Albert Mellin: Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie Oder eine fassliche und vollständige Erklärung der in Kants kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze, Bd. 1, Abth. 1 (Züllichau, Leipzig 1797, Neudr. Aalen 1970) V. 9 Norbert Hinske: Kant-Index (Stuttgart-Bad Cannstatt 1986 ff.). Da die Bände zuweilen sich in mehrere Teilbände gliedern, werden es faktisch weit mehr als 14 sein. Bis jetzt liegen Band 1–7 (insgesamt 11 Bände) sowie Band 14 vor. 10 Heinrich P. Delfosse: Indexformen und ihre Funktion. Hinweise zur computerunterstützten Texterschließung und Editionsphilologie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5/3 (1980) 29–44, hier 36. 11 Norbert Hinske: Elektronische Datenverarbeitung und Lexikographie. Welche neuen Im-

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Jahren die Wörter »Begründung« und »begründen« benutzte.12 Hinske und Delfosse sind sich durchaus der Einseitigkeit von Computerdaten bewußt. Delfosse schreibt: »Der Computer kann nur zählen, vergleichen, rechnen, umstellen. Aber das tut er schneller und exakter als wir alle zusammen. Die Gefahr, aber auch der Vorteil liegt in der Ausschließlichkeit, mit der er diesen Funktionen nachkommt.«13 Der Autor hat nicht erläutert, worin er die Gefahr sieht, daß aber eine Grenze vorliegt, ist deutlich, und seine Feststellung scheint mir ganz unstrittig zu sein. Die Kant-Register zeigen uns auch schon zwei Auswege aus der neuen Datenflut. a) 1930 erschien Rudolf Eislers Kant Lexikon, die noch ganz traditionelle Arbeit eines Kant-Kenners, der Zusammenfassungen und wichtige Zitate bietet. Es dürfte sich nicht nur bei Studierenden, sondern auch bei den Berufsphilosophen noch immer großer Beliebtheit erfreuen. Weil hier ein Kenner das Textkorpus interpretierend gefiltert hat und Orientierung vermittelt, wurde es inzwischen fünfmal nachgedruckt, und auch Hinske bestätigt, daß durch die Computer-Register die älteren Indizes keineswegs veraltet sind.14 Je wissenschaftlich aufwendiger und vollständiger EDV-Register sind, desto kleiner wird der Kreis ihrer Benutzer, und deshalb bleiben die konventionellen Indizes weiterhin aktuell. Vielleicht werden analog also auch das HWPh, die Geschichtlichen Grundbegriffe 15 und die Ästhetischen Grundbegriffe 16 im Nachdruck erscheinen, wenn alle Bibliotheken auf Datenträger gespeichert sind und man auf der Suche nach einem Überblick über die Gebrauchsgeschichte eines Terms in der Informationsflut ertrinkt. b) Die neue Kant-Konkordanz von Andreas Roser und Thomas Mohrs, welche die Akademie-Ausgabe ergänzt, ist auch auf EDV-Basis erstellt, aber die Herausgeber haben Lemmata ausgewählt (also eine Reduktion vorgenommen), sie »im wesentlichen der deutschen Gegenwartssprache angepaßt« und das Werk benutzerfreundlich gestaltet. Den Nachteil, daß es keine »Nachzeichnung der Kant’schen Sprachentwicklung« erlaubt, haben sie bewußt in Kauf genommen.17 Im Hinblick auf die Notwendigkeit, jeweils eine Auswahl zu treffen, wäre es wünschbar, wenn die Computerwissenschaften, besonders die Computerlinguistik, bessere Techniken und Programme erfänden, um durch technische Verfahren je-

pulse sind von der Verwendung der elektronischen Datenverarbeitung für die historisch-philologische Arbeit an den Texten zu erwarten. In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981) 153–159, hier 158. 12 Ebd. 156. 13 H. P. Delfosse: Indexformen, a. a. O. [Anm. 10] 35. 14 N. Hinske: Elektronische Datenverarbeitung, a. a. O. [Anm. 11] 154. 15 Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Stuttgart 1972–1997). 16 Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a. (Stuttgart, Weimar 2000 ff.). 17 Kant-Konkordanz zu den Werken von Immanuel Kant, hg. von Andreas Roser / Thomas Mohrs, 10 Bde. (Hildesheim, Zürich, New York 1992–1995) Bd. 1, V.

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weils eine Auswahl unter verschiedenen Perspektiven treffen zu können, was durch eine kombinierte Recherche ja auch teilweise schon möglich ist. Hätten wir Programme, welche sofort eine neue Semantik signalisierten, Joachim Ritters ursprüngliche Absicht, in den Artikeln seines Handbuches jeweils nur die Gelenkstellen, die Umbrüche in der historischen Belegkette aufzuweisen – ein sinnvolles Reduktionsprinzip –, wäre leichter realisierbar. Jedenfalls muß die Forschung heute mit dem jeweiligen Stand der Computertechnik und mit deren Möglichkeiten und Grenzen vertraut sein. Mag sich die Computerwissenschaft aber wie immer fortentwickeln, es scheint mir ziemlich sicher, daß in der Begriffsgeschichtsschreibung sich der Trend einer Akzentverschiebung fortsetzen wird. Kostete es vormals sehr viel Arbeitszeit, die einschlägigen Okkurenzen eines Lemmas zu finden, so ist es heute in vielen Fällen umgekehrt sehr zeitaufwendig, die Menge des leicht auffindbaren Materials zu verarbeiten, zu interpretieren und in eine lesbare Darstellung zu verwandeln. Aber je mehr Daten, desto nötiger gerade die Interpretation, da das Datenmaterial sonst stumm bleibt. Das für die Begriffsgeschichte typische Interpretationsverfahren scheint mir zweistufig zu sein, darin ähnlich der Interpretation in der Geschichtswissenschaft. Wie diese erstens den Sinn der Quellen erhebt und zweitens daraus vergangene Ereignisse und Situationen rekonstruiert, so erhebt die Begriffsgeschichte einerseits die Bedeutung von bestimmten Lemmata und setzt sie andererseits in Bezug zu einer Frage, zumeist zur Frage nach dem Verhältnis zum Kontext, mag dieser auch nur der zeitlich vorangegangene und spätere Wortgebrauch sein. (Natürlich könnte man bei jenen Stufen an die ältere Unterscheidung von Hermeneutik und Kritik denken.18) Jene erste Interpretation ist jedenfalls philologisch, und für sie gelten deshalb alle Regeln, die z. B. August Boeckh auflistete; hier bleibt der Interpret eng an sein Interpretandum gebunden. Jene zweite Interpretation aber, welche ein bestimmtes Ziel verfolgt, z. B. einen Erzählzusammenhang konstituiert und dabei über die Wichtigkeit oder Belanglosigkeit von Belegen entscheidet, dürfte viel weicher sein, viel mehr Spielraum gewähren – so viele Begriffshistoriker, so viele Begriffsgeschichten aufgrund derselben Okkurenzen. Aber auch diese Interpretationsstufe ist keineswegs Sache der Willkür; waren es doch bestimmte Verfasser von Texten, welche Begriffe prägten oder neu definierten, nicht die interpretierenden Begriffsgeschichtler, und ist die Erkenntnis, daß eine ganze Generation von Autoren einer bestimmten Konvention treu blieb – etwa der des Wolffianismus –, nicht rein subjektiv. Aber mag dies auch manchem strittig 18 Siehe z. B. August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck. Erster Hauptteil: Formale Theorie der philologischen Wissenschaft (unveränd. rep. Nachdr. der 2., von Rudolf Klussmann besorgten Aufl. Leipzig 1886, Darmstadt 1966). Laut Boeckh hat die Hermeneutik die Aufgabe, »die Gegenstände an sich zu verstehen«, die Kritik aber untersuche ihr »Verhältnis« zu anderen Gegenständen, »zu ihrer Umgebung« (77). Die Grundlage dieser Unterscheidung bildet sicherlich das aristotelische Begriffspaar kath’ auto – pros ti.

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oder unklar sein, so ist mir hier nur dies wichtig: Je mehr Daten, desto wichtiger für die Begriffsgeschichtsschreibung deren Interpretation, und da diese nicht von Maschinen bewerkstelligt werden kann, desto wichtiger wird auch ein Gelehrtenstand, der mit geschulter Urteilskraft zu interpretieren vermag. Der EDV-Fortschritt schafft also den Menschen nicht ab, sondern macht diesen in neuer Weise nötig – allerdings stets am Rand seiner Überforderung. 3. Bekanntlich gibt es inzwischen Forschungen, welche überhaupt nur mit Hilfe von Computern möglich sind. Sie nennen sich nicht ›Begriffsgeschichte‹, sind aber von dieser schwer abgrenzbar, da man deren Namen sehr liberal handhabt. Zumeist spricht man von »Lexikometrie«,19 und diese ist zumeist das Metier von Sozialhistorikern, die sich linguistischer Methoden bedienen. Man kann mit diesen Techniken exakt die Worthäufigkeit und die entsprechenden Verbindungen der Wörter mit anderen erfassen und vermessen. Wenngleich sich dieses Vorgehen in seiner reinsten Form aller Interpretationen enthält, scheint es mir meine Bemerkungen zu deren Wichtigkeit nicht zu widerlegen. Denn wie bei aller Statistik hängt die Relevanz der Ergebnisse erstens von der Frage und zweitens von der Interpretation der quantitativ erfaßten Daten ab. Ein Beispiel, etwas vereinfacht: Ergäbe etwa eine Computer-Recherche, daß sich in den Flugschriften der Französischen Revolution unter den Substantiven sehr häufig die Wörter Freiheit und Gleichheit finden, wäre das noch kein beeindruckendes wissenschaftliches Ergebnis, da man nur erfährt, was man eigentlich schon wußte. Zeigte die Statistik eine größere Häufigkeit von Freiheit als von Gleichheit, wäre das schon bedeutsamer. Aber erst, wenn man über die Häufigkeitsfeststellung hinausgeht und fragt, woher dieses Ungleichgewicht stammen könnte, dürfte die Forschung wirklich interessant werden. Aber diese letzte Frage wäre nicht ohne eine semantische Analyse, d.h. nicht ohne Interpretation in jenem ersten, philologischen Sinn möglich. Es wäre nämlich zu entscheiden, ob etwa die Freiheit die Gleichheit einschloß oder ob sie als wichtiger angesehen oder ob gar die Gleichheit bisweilen schon als Bedrohung der Freiheit gedacht wurde. Ähnlich scheint es mir in einem von Rolf Reichardt angeführten Beispiel zu sein: Wenn er sagt, es ließe sich schon an der Häufigkeit des Wortes peuple in den Flugschriften jener Revolution »die Besessenheit der Revolutionäre« von jenem Begriff ablesen,20 dann ist eben diese Besessenheit nichts, was der Computer von sich aus preisgibt – wäre es aufgrund der Statistik doch auch denkbar, daß sich alle Revolutionäre immer und immer wieder gegen den Gedanken zur Wehr setzten, das Volk könne die Revolution unmöglich allein und ohne Führer durchsetzen.

19 Rolf Reichardt: Historische Semantik zwischen lexicométrie und New Cultural History. Einführende Bemerkungen zur Standortbestimmung. In: Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 21: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte (Berlin 1998) 7–28. 20 Rolf Reichardt: Einleitung. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, hg. von Rolf Reichardt / Eberhard Schmitt. H. 1/ 2 (München 1985) 60.

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Damit soll aber nicht der Nutzen solcher Recherchen bestritten werden. Denn natürlich können solche statistischen Untersuchungen, die in sog. ›Frequenz-Wörterbüchern‹ festgehalten werden, das Instrument für fruchtbare Nachforschungen sein. Wann genau wurde ›Postmoderne‹ zum Leitbegriff, und wann begann er wieder abzudanken? Wann und in welchem Maße nahmen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts die Wörter ›Kultur/kulturell‹ an Häufigkeit in der Sprache der Geisteswissenschaften zu, und wann trat der Gebrauch der Wörter ›Gesellschaft/gesellschaftlich/sozial‹ zurück? Wie verhält sich statistisch der Gebrauch von ›Kultur‹ und ›Gesellschaft‹? Hat man eine genaue Statistik, kann man besser und gezielter nach den Ursachen suchen. In vielen Fällen ist es wünschbar, daß die Begriffsgeschichte künftig die Ergebnisse der Lexikometrie mit aufnimmt, sich integriert. Das hat z. B. W. Hübner im HWPh-Artikel ›Ordnung‹ auch schon getan.21 Das in Italien in Arbeit befindliche Projekt Lessico Intellettuale Europeo ist mit seinen Konkordanzen deshalb auch kein Konkurrenzunternehmen zur Begriffsgeschichte, sondern eine wichtige Basis für diese, ja es scheint mir als Ergänzung die Begriffsgeschichte geradezu zu benötigen. 4. Es dürfte ein Kennzeichen unserer Wissensgesellschaft sein, sehr viel Nichtwissen zu ertragen, ja zu produzieren; und zwar nicht nur durch die von den Wissenschaften erzeugten neuen Fragen, also sozusagen wissenschaftliches Nichtwissen, das nur Experten haben können, sondern schlichte Ignoranz, also Nichtwissen von dem, was man durchaus wissen kann oder sogar wissen sollte. Der Historiker Alfred Heuß hat in diesem Sinne die These aufgestellt, mit dem Fortschritt der Geschichtswissenschaft gehe die Schrumpfung der historischen Erinnerung und ein enthistorisiertes Bewußtsein in der Bevölkerung einher22 – und zwar nicht durch Zufall, sondern als Folge: Wenn das Wissen von der Vergangenheit so schwierig, vielgestaltig, komplex und strittig ist, wie es sich in der Geschichtswissenschaft darstellt, dann muß man sich von dieser »Last von Geschichte« (von der schon Kant sprach23) freihalten. Georg Simmel hat das die wachsende Trennung von objektiver und subjektiver Kultur genannt.24 Während jene stetig fortschreite, bleibe diese, die Bildung, mehr und mehr zurück und schließlich auf der Strecke. Man kann diesen Prozeß an der Gesellschaft ablesen: auf der einen Seite die wenigen Experten – und auf der anderen die große Menge an Laien, und dazwischen keine Brücke. Natürlich gilt das auch für den einzelnen: Je mehr Spezialwissen er erwirbt, desto mehr Wissensgebiete werden ihm fremd. Jene Struktur könnte aber ähnlich auch noch für die Disziplinen zutreffen: Je mehr sie in einer W. Hübner: Ordnung. In: HWPh, a. a. O [Anm. 2] Bd. 6 (1984) 1255 f. Alfred Heuß: Verlust der Geschichte (Göttingen 1959) bes. 55–57. 23 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784]. Gesammelte Schriften [Akademieausgabe], Bd. 8 (Berlin 1912, Nachdr.1969) 30. 24 Georg Simmel: Persönliche und sachliche Kultur [1900]. Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 5 (Frankfurt a.M. 1992) 560–582. Ders.: Vom Wesen der Kultur [1908], ebd. Bd. 8 (1993) 363–373. Ders.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911/12], ebd. Bd. 12 (2001) 194–223. 21 22

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Hinsicht fortschreiten, desto mehr bleiben sie in anderer Hinsicht zurück. Der Computer begünstigt eine Begriffsgeschichtsschreibung, die in der vollständigen Auflistung von Zitaten besteht. Zitatensammlungen können ein äußerst nützliches Material sein – aber nur für den, der Fragen hat und solches Material zu verarbeiten versteht. Die Begriffsgeschichte ist nicht als wissenschaftlicher Selbstzweck in die Welt getreten, und sie wird nicht deshalb am Leben bleiben, weil sie noch wissenschaftlicher betrieben werden kann, wie das einigen Linguisten vorschwebt. Vielmehr waren es bestimmte Schwierigkeiten und Probleme, welche die ja zumeist aufwendigen Unternehmen auf den Weg brachten: – z. B. die Schwierigkeit, sich nicht immer auf das Definieren beschränken zu können und die Vieldeutigkeit der Begriffe bewußt machen zu müssen, die aus seinem Gebrauch in verschiedenen Kontexten resultiert; – die Schwierigkeit, stets in Versuchung zu sein, die Bedeutung unserer eigenen Begriffe in fremde Texte hineinzuprojizieren; – und deshalb die Schwierigkeit, die Andersartigkeit fremder Kulturen, Epochen, Schulen, Systeme, Disziplinen usw. berücksichtigen zu müssen, in denen anders definiert wurde und wird; – die Schwierigkeit, an eine schon belastete Sprache gebunden zu sein, die nicht immer angemessen ist, die wir aber nicht tilgen, sondern nur bewußt machen können; – die Schwierigkeit, daß historische Situationen, Ereignisse, Handlungen sich oft nicht ohne die Berücksichtigung der zugehörigen Sprache rekonstruieren lassen und daß Sprache ein wichtiger Teil der sozialen Wirklichkeit ist; – die Schwierigkeit, daß Sache und Wort zuweilen – ich drücke mich vorsichtig aus – so eng gekoppelt sind, daß der Zugang zur Sache ohne Rücksicht auf das Wort nicht möglich erscheint. (Die begriffsgeschichtliche Forschung wurde etwa in der Musikwissenschaft als »Instrument des Erkennens und Verstehens der Sachen und Sachverhalte in ihrem geschichtlichen Sein und Gelten« konzipiert, wie Hans Heinrich Eggebrecht schreibt.25) Die Begriffsgeschichte wird künftig lebendig bleiben, insofern erstens solche Fragen und Schwierigkeiten im Bewußtsein bleiben und insofern die Begriffsgeschichte zweitens evident macht, daß sie zur Bewältigung jener Probleme beiträgt oder sogar unerläßlich ist. Jene Fragen entstehen sowohl in der Philosophie als auch in allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, und es ist m.E. nicht zu befürchten, daß ihnen jene Fragen in absehbarer Zeit abhanden kämen. Würden sie die Divergenz der Sprachen und Denkweisen vergessen, wäre das sicher kein Fortschritt. Die Begriffsgeschichte hilft mit, jene Divergenzen bewußt zu machen. Damit sie ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt, dürfen ihre Arbeiten durch Stil und Gestalt über ihren Sinn keinen Zweifel lassen und müssen für einen möglichst 25 Hans Heinrich Eggebrecht: Das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 12 (1968) 114–125, hier 114.

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breiten Leserkreis zugänglich sein. Sollten – in Anlehnung an Johann Gottfried Herder gesagt – die Köche nur für die Köche kochen, die Straßenfeger nur für die Straßenfeger fegen und die Begriffshistoriker nur für die Begriffshistoriker forschen und publizieren:26 dann wäre dies das Ende der Köche, Straßenfeger und Begriffshistoriker. Als typisch für die Lexikometrie gilt, daß ihre Ergebnisse zu würdigen eine linguistische Vorbildung erfordert. Aber das sollte sich die Begriffsgeschichte m.E. nicht zum Vorbild nehmen, zumal die Popularität der Linguistik nicht gerade wächst und ihre Einheit fraglich wurde. Deshalb halte ich es für keinen Nachteil, wenn das Vorwort der Ästhetischen Grundbegriffe sogar eine essayistische Präsentationsweise rechtfertigt27 – vorausgesetzt natürlich, eine solche Darstellung fälscht oder verdeckt nicht die historischen Sachverhalte. Begriffsgeschichte ist eine empirische Disziplin und muß deshalb für alle einschlägigen Daten dankbar sein, gerade auch für die der Datenbanken. Aber sie muß sich dabei m.E. an dem sog. Vater des Empirismus, an Francis Bacon orientieren. Dieser lehrte in seinem Novum Organon, die Philosophie – wir würden sagen: die Forschung – solle nicht wie die Spinnen ihre Gewebe aus sich selbst heraus entwickeln, aber auch nicht alles wie die Ameisen »zum einstigen Gebrauche« bloß zusammentragen, sondern sie müsse wie die Bienen den von den Blumen der Felder und Gärten gesammelten Stoff auch durch eigene Kraft verarbeiten.28 Das gilt auch für die Begriffshistoriker. Wenn sie die Begriffsentwicklung – wie Johann Gottlieb Fichte die Weltgeschichte – aus dem eigenen Kopf herausspinnen, ist das so wenig fruchtbar, wie wenn sie bei endlosen Zitatensammlungen stehenbleiben. Denn wie die Spinnen nur jeweils sich selbst ernähren, mag eine bloß erdachte Begriffsgeschichte dem jeweiligen Autor zwar große philosophische Befriedigung einbringen, aber sein Produkt wird sich keiner großen Anerkennung erfreuen und die Leser hungern lassen. Umgekehrt mögen die riesigen Haufen an trockenen Tannennadeln, welche die Ameisen zusammentragen, vielleicht sehr haltbar sein, aber für die Ernährung taugen sie ebensowenig. Genauso können die computertechnisch gesammelten Materialien an Vollständigkeit unübertreffbar sein und für alle Zeiten in den Bibliotheken stehen, aber den geistigen Hunger werden sie nicht stillen können, ja vielleicht nicht einmal Appetit wecken. Deshalb bedarf es der begriffsgeschichtlichen Bienen. Sie sind bienenfleißig, aber nicht nur beim Sammeln, sondern auch beim Verarbeiten, Durchdenken, und deshalb können sie auch andere ernähren. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die Artikel in den großen begriffsgeschichtlichen Handbüchern daraufhin zu betrachten, inwieweit sich die Autoren mehr den Spinnen oder den Ameisen nähern oder gute Bienen 26 Johann Gottfried Herder: Denkmal Johann Winckelmanns [1777]. Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 8 (Berlin 1892, 3. unveränd. Nachdr. Hildesheim 1994) 437–483, hier 448. 27 K. Barck u. a.: Vorwort. In: a. a. O. [Anm. 16] Bd. 1. 28 Francis Bacon: Novum Organon, lib. I, aph. XCV [1620]. The Works of Francis Bacon, ed. by James Spedding / Robert Leslie Ellis / Douglas Denon Heath, Bd. 1 (London 1857, Faks.Nachdr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963) 201.

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sind. Das allgemeine Ergebnis dürfte sein, daß Zugriff und Deutungsrahmen sich stets in einer gewissen Spannung zu den aufgewiesenen oder verfügbaren Belegen befinden und es deshalb nur darauf ankommt, diese Spannung nicht zu Widersprüchen werden zu lassen.

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Ernst Müller. Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive The introduction reviews traditional concepts of Begriffsgeschichte with special regard to the so called cultural turn within the humanities. Begriffsgeschichte in Germany, as presented in the Historisches Wörterbuch der Philosophie and comparable projects, is deeply influenced by the hermeneutical method, which implies its separation from the history of natural sciences. Against this background, the author proposes that not only could Begriffsgeschichte be stimulated by cultural studies, but that the latter would also profit by adopting the methodical knowledge of the first. Hence four principal aspects are taken into account: 1. the interdisciplinary configuration of the subject of Begriffsgeschichte, with particular respect to sciences and works of art, 2. the relation of Begriffsgeschichte to historical semantics of political and social language, 3. the extension of Begriffsgeschichte to the history of discourse and rhetorics, particularly the metaphorical, 4. the medial conditioning of conceptual knowledge. Having reviewed contact points between Begriffsgeschichte and the history of sciences, especially in the French tradition, an outlook is held for the new possibilities for research and representation of historical semantics within the world wide web. Ralf Konersmann: Wörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik Concerning its public efficiency and from a general point of view, the history of »Begriffsgeschichte« is a story of success. After fifty years of lively research, the results are available in various dictionaries of the humanities. Less obvious than these research results are the conceptional challenges which have emerged during this time. In the initial period of the project, it was defined as the continuation of what Hegel, in his Logik, had called »Arbeit des Begriffs«. The function of Begriffsgeschichte was seen in specifying and updating philosophical notions and concepts. The editing of the important dictionaries has now entailed these expectations being abandoned. Besides the temporal and linguistic character of concepts, the worldliness [Welthaltigkeit] of concepts is gradually becoming apparent. Begriffsgeschichte is actually broadening to »historical semantics« – a formulation coined by Ernst Cassirera. Today, it is about time It seems that now is the time to discuss the consequences of the studies of Begriffsgeschichte concerning the status and standing of philosophical concepts.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2005 · ISBN 3-7873-1693-0

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Margarita Kranz: ›Wider den Methodenzwang‹? Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosophie – mit einem Seitenblick auf die Ästhetischen Grundbegriffe Since 1970, the methodological discussion of a history of concepts was focussed on the project of ›Geschichtliche Grundbegriffe‹ rather than on the philosophical project of the ›Historisches Wörterbuch der Philosophie‹. For the philosophical project a sort of pragmatic dealing led to outspoken neglect of methodology and to constant differentiation in practice in the course of the following three decades. One of the remaining challenges of a history of concepts is the complexity of a conceptual development across different languages. Comparing the articles devoted to the conceptual field of ›Passion‹ in ›Historisches Wörterbuch der Philosophie‹ and the new Dictionary ›Ästhetische Grundbegriffe‹ we find more differences deriving from the manner of representation (number and lengths of articles, alphabetical order) than from the methodology.

Dietrich Busse: Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie The essay will answer the questionwhether or not a linguistic-based analysis of the structures (the ›architecture‹) of human knowledge (the ›episteme‹ in terms of Foucault’s approach) is possible. Social knowledge can be an object of linguistic research as a knowledge that provides the basis for the interpretation and understanding of texts (as part of an ›interpretive semantics‹). The main concern will be with the following questions. (1) Are there structures of social knowledge? And if there are: what kind of structures, with what kind of (scientific, philosophical) status? (2) Can structures of social knowledge be described? Or will a scientific description (perhaps: a systematic description) of knowledge structures never be possible? (3) What about the relation between stasis and the dynamics of social knowledge (between persistence or tradition and change)? (4) Why are these questions (and their possible answers) discussed by a linguist? The considerations in this essay are understood as part of an approach to a future linguistic epistemology.

Helmut Hühn: Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹, ›Orient‹ und ›Okzident‹ als begriffsgeschichtliche Herausforderung The history of concepts is currently not, as a matter of fact, undergoing a radical change; rather, methodological innovations and enlargements of perspectives have been introduced gradually and unspectacularly. By contrast with this field of research’s beginnings, however, the understanding of the complexity of investigation into the use of concepts has improved immensely over the years. When the history of concepts is combined with metaphorological analyses, it becomes particularly

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evident that the reconstruction and reflexion of a line of thought must include its complete sphere of expression. Stefan Willer: Metapher und Begriffsstutzigkeit The importance of metaphors for the historiography of concepts has become more and more evident during the last years. But what exactly is the role of metaphors in the making and changing of concepts? My examination subsumes a difference between the metaphor as concept on the one hand and metaphorical manners of speaking on the other. Yet this distinction is blurred by the fact that ›metaphor‹ itself is an effect of metaphorical speech. So, what does the literal topology of ›trans-ferring‹ contribute to metaphor as an abstract concept? I argue that the current distinction between ›metaphorical‹ and ›literal‹ is misleading when the very literalness of metaphor itself is under consideration. These deliberations might lead to a re-thinking of conceptuality as such. The metaphorical component in concepts shows that there is some difficulty in distinguishing word and concept, etymology and history, naming and defining. I suggest that ›Begriffsgeschichtsschreibung‹ could use some ›Begriffsstutzigkeit‹ – which in German not only means dullness or stupidity, but also the ability to stop and query the conceptuality of concepts. Klaus Krüger: Bild – Schleier – Palimpsest. Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik The purpose of this article is to focus on the structural heterogeneity of interpictorial and intermedial processes in the visual image. Against the background of its repeatedly productive application within the discourses of cultural and literary studies, the concept of palimpsest is here discussed as an operative thought model, by means of which the coherence, or rather coexistence of original and copy, model and image, memory and presence, identity and difference etc. – made concrete in the image through interpictorial processes – can be understood as a heterogeneous order of layers, and thus conceptualized theoretically as a symbolic network of references of appropriation and loss, of taking and giving. As regards the task of outlining the formational rules and structures of the pictorial production of meaning in terms of their ›difference‹ to rhetorical nomenclatures and conceptual-theoretical systems of thought, the model of the palimpsest presents itself as an interpretative category which, by virtue of its metaphorical charge, constitutes in itself, to use Blumenberg’s phrase, a »means of articulation of the uncomprehensible and the precomprehensible« – in other words, it is also conceptually untranslateable into »real speech«, at least not without losing its interpretative potential.

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Clemens Knobloch: ›Rasse‹ vor und nach 1933 – vornehmlich in den Geisteswissenschaften The text aims at reconstructing the connotative potentials of ›race‹ in the German humanities before and after 1933. With the well educated ›Bildungsbürger‹, so it is shown, the popular ›race‹-topics were primarily considered to be attacks on their legitimate territory by promoters of natural sciences (›Naturwissenschaften‹). When the Nazis seized power in 1933, the status of ›race‹-topics changed considerably, mainly because ›race‹ could be implemented as battle ground for politically driven careers. Within the academic field of the humanities though, there was no pressure to adopt ›race‹ as a master term. For those that did, ›race‹ replaced and sustituted old master terms like ›style‹, ›personality‹ or even ›Geist‹ and ›Kultur‹. Martin Wengeler: Tiefensemantik – Argumentationsmuster – soziales Wissen: Erweiterung oder Abkehr von begriffsgeschichtlicher Forschung? This contribution includes some empirical research evidence, which – on the basis of Dietrich Busse’s programme of »Historische Semantik« – is to be regarded as an empirical and methodological extension of research concerning the history of concepts. In the course of this programme of a discourse analytical linguistic historiography, key words of the political public debates in the federal republic of Germany are scrutinized as are the habitual argumentation patterns of these public »discourses«. Once these examinations in a theoretical and methodical approach have been classified, their limits and possibilities in reconstructing social knowledge in past times are represented and discussed on the basis of the key word »Soziale Marktwirtschaft« and other crucial topics of the German migration discourse. Dieter Kliche: Zwischen Lemmatisierung und Registrierung. Über die Schwierigkeit, ästhetische Grundbegriffe zu bestimmen The Lemma-inventory of the historical dictionary of Aesthetische Grundbegriffe has listed comparatively few terms (altogether 170 basic aesthetic notions). The idea of this limitation to only a few terms has been guided by the consideration that the complex meanings of fundamental aesthetic concepts can only be grasped if they are embedded in more elaborate contextual historical narratives. The index at the end of the dictionary of Aesthetische Grundbegriffe invites the reader to reverse the procedure by cross-referencing the terms. The complex notions must become legible again via the words of an index which then informs a reading of the single item in a comparative perspective.

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Michael Niedermeier: Grund- und Wesenswörter. Probleme der Darstellung in einem thesaurischen Autorenwörterbuch. Ein Werkstattbericht The Goethe-Dictionary is a dictionary dedicated to the language of a single author and its purpose is indiscriminately to elucidate semantically all the words Goethe used and detail this in individual articles for each word. Goethe’s vocabulary is by far the largest that has ever been documented. Our archive of words consists of approximatly 90.000 entries and contains more than 3,2 million different references. At the beginning of the project, Wolfgang Schadewaldt tried to place special emphasis on Goethe’s so-called »timeless« roots and essential words (e. g. action, graceful, enjoy, etc.). As a manifestation of the post-war period, an attempt was made to interpret Goethe »unideologically« and hermeneutically through Goethe in order to apologize for and purify the German language and the Germans. Presently, a change is taking place in the realm of dictionaries focused on the history of concepts. This change, a cultural turn, is also taking place in other disciplines in the humanities. The Goethe-Dictionary project sees this as an opportunity to stress more clearly a broad cultural-studies context by concentrating on the wide spectrum of Goethe’s concepts and by shortening our emphasis on some of the obvious everyday words. For example, the lemma »gothic« clearly demonstrates that the representation of the cultural context in the Goethe-Dictionary may be more successful than in other dictionaries and lexicons. Here, the meaning of the idea, specific to a certain social stratum and political situation, can be made apparent by elucidating the context in which Goethe used the word. Robert Charlier: Synergie und Konvergenz. Tradition und Zukunft historischer Semantik am Beispiel des Goethe-Wörterbuchs The increasing amount of dictionaries that are currently available in electronic form as well as a great number of lexical on-line resources show to what extent various works in the field of corpus linguistics and historical semantics are about to converge both in terms of structure and of technology. Challenging in the first instance are not only the enormous possibilities of intertextual hyper-reference but also the incorporation of new quantities of digitalized and therefore fully searchable textcorpora. First focussing on the Goethe Dictionary, the paper undertakes in a second step to reflect the adaption of traditional structures of information through the world of new media and the Internet. The paper concludes with a discussion of synergetic effects connected with the vision of an integrated virtual platform, or portal, of historical semantics as projected in the joint effort of the Berlin and Heidelberg Academies of Science and Humanities.

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Gunter Scholtz: Vom Nutzen und Nachteil des Computers für die Begriffsgeschichte By digitizing literature, the research of the history of concepts undergoes a change: Firstly, it is necessary not to neglect those texts which are not yet available in digital form. Secondly, its focus naturally shifts. Now, the main problem is not, as it used to be, to actually find the references. The problem is how to process and analyse huge quantities of data – which are all easily accessible – in a reasonable and useful way. Even if computer linguistics may be of help, literary texts must still be interpreted with regard to specific questions, and the results must be presented to as many readers as possible. Unless the history of concept keeps contributing to solving problems and unless its research results are accessible not only to a small elite of linguistically trained specialists, it will not survive.