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German Pages [313] Year 2021
Brigitta Schmidt-Lauber · Manuel Liebig (Hg.)
Begriffe der Gegenwart Ein kulturwissenschaftliches Glossar
Böhlau Verlag wien köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat : Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung : Johanna Uhrmann, Wieselburg Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21274-4
Inhalt
Brigitta Schmidt-Lauber · Manuel Liebig
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Brigitta Schmidt-Lauber
Begriffe der Gegenwart : Wortgebrauch in Gesellschaft und Wissenschaft – eine Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Manuel Liebig
Wissenschaft und Gesellschaft : Plädoyer für eine kritische Wissensvermittlung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Frank Biess
Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Sarah Nimführ
Asyl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Konrad Köstlin
Brauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Philip Dingeldey · Dirk Jörke
Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Hermann Bausinger
Deutsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Walter Leimgruber
Einheimisch.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Brigitta Schmidt-Lauber
Ethnisch.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
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Inhalt
Gisela Welz
Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Helen Schwenken · Helge Schwiertz
Fluchthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ove Sutter
Flüchtling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Timo Heimerdinger
Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Beate Binder
Geschlecht/Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Regina Römhild
Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Simone Egger
Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Alexa Färber
Identität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
Naika Foroutan · Frank Kalter
Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Riem Spielhaus
Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Wolfgang Kaschuba
Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Markus Tauschek
Kulturelles Erbe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
Sabine Hess
Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Martin Sökefeld
Migrationshintergrund .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Wolfgang Knöbl
Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Christian Geulen
Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
Moritz Ege
Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Manuela Bojadžijev
Rassismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Alexandra Schwell
Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Regina F. Bendix
Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Tatjana Thelen
Verwandtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
Jens Wietschorke
Volk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Silke Göttsch-Elten
Volkskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279
Magnus Schlette
Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
Nikolai Huke
Willkommenskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Autor*innenverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
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Brigitta Schmidt-Lauber · Manuel Liebig
Vorwort
Ein Buch entsteht mit vereinten Kräften, die oft unsichtbar bleiben. Darum möchten wir hiermit unseren großen Dank all jenen aussprechen, die am Entstehen dieses Bandes mitgewirkt und ihn ermöglicht haben. Allen voran den Autor*innen, die sich auf das spezifische Textformat eingelassen und damit von geläufigen akademischen Darstellungsweisen entfernt, auf knappem Raum viele Erkenntnisse und Wissen verbunden und dabei sowohl der Allgemeingültigkeit als auch der Beispielhaftigkeit Rechnung getragen haben. Das Buch ist einem Double-Blind-Peer Review-Verfahren unterzogen worden, für das wir den Gutachter*innen an dieser Stelle ebenfalls herzlich danken. Ein spezieller Dank geht an Maria Prchal, die uns unermüdlich als kritische Leserin und genaue Lektorin Rückmeldung gab und der die redaktionelle Vereinheitlichung der Texte zu verdanken ist. Dem Böhlau-Verlag, namentlich Johannes von Ooyen, mit dem das Projekt gemeinsam entwickelt wurde, und seinem Nachfolger Martin Zellhofer sowie Waltraud Moritz, ist für die verlegerische Unterstützung zu danken. Und schließlich gilt ganz besonderer Dank Johannes Moser, der das Projekt mit großem Zeiteinsatz, kritischem Draufblick und sehr guten Kommentaren begleitet und unterstützt hat.
Brigitta Schmidt-Lauber
Begriffe der Gegenwart : Wortgebrauch in Gesellschaft und Wissenschaft – eine Hinführung
Sprache stellt Welt her. In diesem Buch geht es um die Wirkmächtigkeit von Wörtern, die wir selbstverständlich im gesellschaftlichen Alltag verwenden. Wir nutzen sie, um uns zu verständigen und Ereignisse oder Verhältnisse einzuordnen oder zu erklären, hinterfragen sie aber selten. In den Blick kommen ausgewählte Begriffe zur Thematisierung gesellschaftlicher Selbst- und Fremdverständigung, die im gesellschaftlichen und politischen Diskurs der Gegenwart Aktualität besitzen oder in spezifischen Kontexten für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Begriffe wie →Kultur, →Geschlecht oder →Tradition, aber auch →Identität oder →Moderne sind Teil des Alltagsvokabulars der deutschen Sprache und werden in verschiedenen Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft geprägt und verhandelt. Sie transportieren spezifische Inhalte und haben ihre Bedeutung im Laufe der Zeit teilweise geändert. Denn mit der Gesellschaft ist auch Sprache fortlaufend im Wandel begriffen. Wörter erfahren Konjunkturen, etablieren sich, ändern ihre Inhalte und können auch wieder verschwinden. Die verschiedenen Auflagen von Konversationslexika bieten Hinweis auf das Kommen und Gehen einzelner Wörter. Ein auch in diesem Buch aufgenommener Terminus könnte bald ein solches Schicksal ereilen : Im Januar 2021 empfahl die Fachkommission Integrationsfähigkeit der deutschen Bundesregierung, den Begriff →Migrationshintergrund aus ihrem Vokabular zu streichen, der einst als demokratisierender Integrationsbegriff gefeiert wurde und nun als Ausgrenzungsbegriff entlarvt wird. Was also sagen wir aus, wenn wir geläufige Begriffe wie diesen verwenden ? In welchem Kontext werden sie von wem und wofür eingesetzt ? Wie erklären die Wissenschaften, die sich zuständig fühlen, gesellschaftliche Phänomene und welche Begriffe nutzen oder meiden sie ? Gesellschaftliches und wissenschaftliches Wissen stehen in engem Bezug zueinander und sind jeweils Spiegel der historischen Situation, in der sie G ültigkeit besitzen. Die Wissenschaft wird vielfach als Legitimationsinstanz adressiert, und das nicht erst in der vielberufenen Wissensgesellschaft. Das vorliegende Glossar möchte Bedeutungsdimensionen, Implikationen und gesellschaftliche Effekte von Begriffen des aktuellen Sprachgebrauchs vor Augen führen und aus
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Brigitta Schmidt-Lauber
der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen Einblick in die wissenschaftliche Begriffswahl und ihre Änderungen geben. Ziel ist es, Wörter, die im gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart Konjunktur haben, zu reflektieren, fach- und ge sellschaftsgeschichtliche Problemlagen in der Bedeutung und im Gebrauch darzulegen und darüber eine bewusste und informierte Wortwahl anzuregen. Schon in der Vergangenheit haben Autor*innen unterschiedlich ausgerichtete Stichwörterverzeichnisse erstellt, die an ausgewählten Beispielen die gesellschaftliche Verfasstheit einer Zeit aufzeigen. Zu nennen sind speziell Jürgen Habermas’ »Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹« (1979), Uwe Pörksens Inventar der »Plastikwörter« (1988) oder das »Glossar der Gegenwart« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004). Im vorliegenden Fall aber geht es nicht um eine wissenschaftliche Zeitdiagnose, die vor allem den akademischen Diskurs befruchten soll, vielmehr adressieren die Ausführungen auch Interessierte jenseits der engeren akademischen Grenzen, um Bedeutungsdimensionen selbstverständlichen Vokabulars aufzuzeigen. Das vorliegende Buch richtet sich an ein breites Publikum, an Multiplikator*innen wie Journalist*innen oder Lehrer*innen, an Wissbegierige, die sich eine eigene Meinung bilden wollen wie Schüler*innen und Studierende unterschiedlichster Fachrichtungen, sowie allgemein an politisch, sozial und kulturell interessierte Leser*innen, die den gesellschaftlichen Wortgebrauch reflektieren und ihr Begriffsverständnis schärfen wollen. Die Idee zu diesem Vorhaben reifte über mehrere Jahre hinweg. Seit langem sind die Präsenz und wachsende Relevanz kultur- und sozialwissenschaftlicher Begriffe im öffentlichen Diskurs zu beobachten. Zum Beispiel nimmt der →Heimatbegriff vielerorts eine Schlüsselstellung als Terminus der gesellschaftspolitischen Selbstverständigung ein und wird dabei nicht erst mit dem Bundespräsidentenwahlkampf in Österreich 2016 von konträren politischen Lagern zitiert. Und auch Begriffe wie →Volk oder →Asyl und Konzepte von →Verwandtschaft, →Globalisierung und →Rassismus tauchen im öffentlichen Sprachgebrauch in unterschiedlichen Bedeutungen auf und werden in den Medien genutzt, um Geschehnisse einzuordnen oder zu erklären. Angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Dynamiken und Polarisierungen auf lokaler wie globaler Ebene sieht sich die Wissenschaft, und speziell die Sozial- und Kulturwissenschaften, in der Verantwortung, für die Wortgewalt und Macht der Wörter zu sensibilisieren, über die Wahl und Bedeutung von Begriffen zu informieren und damit gesellschaftlich zu intervenieren. Die vielfältig zu beobachtenden ökonomischen, ökologischen und humanitären Krisen der Gegenwart – im Zuge des Klimawandels, zunehmenden Rechtspopulismus (→Populismus), der Folgen der Konsum- und Wegwerfgesellschaft mit globalen
Begriffe der Gegenwart
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Ungleichheiten sowie einer steigenden Zahl an Fluchtwegen und -biographien von Menschen aus dem Globalen Süden (→Asyl →Flüchtling →Migration) – gehen mit sozialen Ausgrenzungs- und Verteilungskämpfen einher. Dies schlägt sich auch im gesellschaftlichen Wortgebrauch nieder. Begriffe gesellschaftlicher Selbstverständigung sind Teil einer Ausgrenzungspolitik und -rhetorik. In den Kulturwissenschaften sprechen wir von »Othering« (Fabian 1990), wenn Wörter genutzt werden, die Menschen Positionen als »Andere« zuweisen und eine Grenze zwischen »eigen« und »fremd«, »wir« und »sie« ziehen bzw. plausibel und natürlich erscheinen lassen. Im Rahmen eines Kolloquiums startete am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien im Wintersemester 2018/2019 eine Vortragsreihe zum Thema »Begriffe als Probleme : Wortgebrauch in Wissenschaft und Gesellschaft«, die zu ausgewählten Wörtern Einblicke in den gesellschafts- und wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutungswandel und deren Wirkung gab. Das Fach ist eine empirische Alltagskulturwissenschaft, die nicht zuletzt den Alltagssprachgebrauch einer Zeit und eines (sozialen) Raumes untersucht. Daraus entstand die Idee, ein breites Publikum mittels eines Handbuchs zu adressieren und sich mit der Stimme der Wissenschaft vermittelnd in den gesellschaftlichen Diskurs und die gesellschaftliche Praxis einzubringen. Hierfür bedurfte es der Erweiterung und Veränderung der ursprünglich für den akademischen Diskurs bestimmten Begriffsauswahl und -reflexion. Das Glossar vereint Erörterungen zu 32 Begriffen der deutschen Sprache mit gesellschaftlichem Aktualitätsbezug. Der Fokus liegt dabei auf dem deutschsprachigen Raum, wiewohl klar ist, dass viele der mit den Begriffen benannten Verhältnisse keine länder- oder sprachspezifischen Eigenheiten sind. Doch trotz globaler Problemlagen und der internationalen Verbreitung von Wissen transportieren Wörter in unterschiedlichen Sprachen teils andere Bedeutungen und erklären sich aus anderen Zusammenhängen. Ob ein Staat etwa Kolonialmacht war oder nicht, spiegelt sich mitunter auch im Verständnis von der »Kultur« und »Bevölkerung« eines Landes – ganz zu schweigen vom Nationskonzept, Staatsbürgerschaftsverständnis und -recht. Und der englische Begriff race impliziert als soziokulturelles Konzept andere Bedeutungen als das deutsche Wort Rasse, das biologistische Bedeutungen transportiert und nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik weitgehend aus dem öffentlichen, gesellschaftlich akzeptierten Diskurs in deutschsprachigen Ländern verschwunden ist. Die Abhandlungen des vorliegenden Glossars wollen also keineswegs durch den Zuschnitt auf den deutschsprachigen Raum nationale Erzählungen feilbieten, aber differenzierend auf allgemeine Problemlagen und gesellschaftsgebundene Spezifika aufmerksam machen. Es ist das Anliegen aufzuzeigen, dass Begriffe his-
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Brigitta Schmidt-Lauber
torisch kontextualisiert, situativ und aus einer jeweiligen Sprecher*innenposition verwendet werden, also verschiedene Konnotationen bergen und unterschiedliche Verwendungsweisen erfahren können. Die Auswahl der Begriffe ist nicht repräsentativ und vielfältigen Umständen – wie nicht zuletzt der verlegerisch motivierten Seitenzahlbegrenzung – geschuldet. Sie erfolgte mit »informierter Willkür« (Habermas 1979 : 8) auf Basis von Beobachtungen des öffentlichen Diskurses, welche Schlagwörter also auf Wahlplakaten oder im Feuilleton der Zeitungen erscheinen sowie in Ansprachen von Politiker*innen, auf Demonstrationen, im öffentlichen Raum oder in Talkshows genutzt werden, um gesellschaftliche Themen zu verhandeln. Die daraus entstandene Liste an Wörtern enthält Begriffe, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und in verschiedenen Feldern eingesetzt werden : Mal handelt es sich um Grundbegriffe für das soziale und kulturelle Leben wie →Verwandtschaft, →Kultur, →Geschlecht oder →Identität, mal sind es Epochenbezeichnungen wie →Moderne und mal wissenschaftliche bzw. politische Kategorien wie →Rassismus, →Globalisierung oder →Demokratie ; zeittypische Begriffe des öffentlichen Lebens und der wissenschaftlichen Analyse wie →Fluchthilfe, →Willkommenskultur oder →Asyl sind ebenso aufgenommen wie Konzepte mit besonderer Bedeutungsvielfalt wie →Heimat, →Europa oder →Islam. Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und analytischen Beobachtungen der Autor*innen, erhebt aber weder einen Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität noch auf Wahrheit. Das spezifische Format eines Glossars erklärt den einheitlichen Aufbau und Stil der Beiträge. Gefragt waren keine wissenschaftliche Erörterung, kein Aufsatz und keine Abhandlung für ein Fachpublikum, sondern eine strukturierte und verständliche Information zu einem Begriff, die auf die gesellschaftliche Relevanz und Brisanz des Wortes aufmerksam macht und einen Überblick über seine gesellschaftspolitischen und wissenschaftsgeschichtlichen Dimensionen verschafft. Dem Handbuchcharakter gemäß zieht sich eine einheitliche Struktur durch die Texte : Nach einer knappen Definition des Wortes zu Beginn thematisiert ein Abschnitt zur gesellschaftlichen Situation die gesellschaftspolitische Aktualität des Lemmas ; es folgen eine knappe Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, die die Verwendung eines Wortes im Alltagssprachgebrauch sowie die sich wandelnde Bedeutung im Laufe der Zeit darstellt, und eine Erläuterung der Wissen schaftsgeschichte(n), in der die Perspektive wissenschaftlicher Disziplinen auf den Begriff erklärt sowie Zugänge, Fragestellungen, Theorien und Erkenntnisse in einer zeitlichen Abfolge vorgestellt werden. Den Abschluss bildet jeweils ein Ausblick, der Empfehlungen über eine angemessene Verwendungsweise des
Begriffe der Gegenwart
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fraglichen Lemmas gibt oder wissenschaftlichen oder (gesellschafts-)politischen Handlungsbedarf aufzeigt. Aus wissenschaftlicher Perspektive stellt diese Struktur in vielen Fällen eine Herausforderung dar, zumal Wissenschaftsgeschichte nicht von Gesellschaftsgeschichte zu trennen ist (vgl. Koselleck/Dutt 2013), also wissenschaftliche Erklärungen und Beschreibungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen oder Problemen zusammenhängen. Je nach Wort ist die Trennung von Begriffs- im Sinne von Gesellschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte mehr oder weniger leicht zu ziehen, für einzelne Begriffe stellt dies kein großes Problem dar, für einige wiederum war dies schwieriger, weil die Verwobenheit von gesellschaftspolitischem Geschehen und ihrer wissenschaftlichen Begleitung untrennbar scheint, und selten wie im Fall von →Fluchthilfe lässt sich de facto (noch) keine Wissen schaftsgeschichte benennen. Mit Blick auf das Zielpublikum jedoch schien eine Trennung zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Kontexten des Wort gebrauchs einerseits und wissenschaftsimmanenten Einblicken andererseits dennoch nützlich, da nicht alle Lesenden gleiches Interesse an wissenschaftlichen oder gesellschaftshistorischen Einblicken haben. Im Literaturverzeichnis, das knapp zu halten war, finden sich jedoch weiterführende Hinweise zur Wissenschaftsgeschichte eines Begriffes. Eingeladen mitzuwirken waren Autor*innen ganz unterschiedlicher Disziplinen : Viele Texte sind aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie bzw. Empirischen Kulturwissenschaft verfasst, der auch wir als Herausgebende angehören – einer Disziplin, die sich unter dem Namen Volkskunde in direktem Bezug zu gesellschaftlichen Bedürfnissen und Verhältnissen seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte und von Beginn an in einem speziellen Näheverhältnis zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit stand. Ihr Untersuchungsgegenstand ist das gesellschaftliche Leben um uns herum, die sogenannte Alltagskultur, womit sowohl die Fragestellungen als auch das Vokabular und die Methodik dieser Disziplin eine besondere Alltagsnähe aufweisen. Darüber hinaus sind auch Autor*innen aus der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie – der ehemaligen »Völkerkunde« –, der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, Soziologie oder Philosophie beteiligt. Da auch wissenschaftliche Disziplinen einem Wandel ihrer Untersuchungsgegenstände, Begriffe, Methoden und Theorien unterliegen, es Transferprozesse zwischen Fächern und Namensänderungen im Zuge gesellschaftlicher Transformationen gibt, existieren unterschiedliche Bezeichnungen für dieselbe Disziplin. Speziell ist dies im Bereich der Kulturwissenschaften und bei den sogenannten Ethnowissenschaften im deutschsprachigen Raum im Sinne der früheren »Volks-« und »Völkerkunde« der Fall, die je nach Kontext unter
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Begriffe der Gegenwart
so verschiedenen Namen verhandelt werden wie Ethnologie, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Volkskunde, Kultur- und Sozialanthropologie, Sozial- und Kulturanthropologie oder Alltagskulturwissenschaft. Für Außenstehende und Fachfremde mag die Namensvielfalt verwirrend sein. Trotzdem haben wir es den Autor*innen weitgehend überlassen, den von ihnen präferierten Namen zu verwenden, da die Namen Aussagen und Kennzeichen des jeweiligen Fachverständnisses transportieren und als solche Kontextinformationen sind (vgl. Bendix/Eggeling 2004). Das Glossar möchte sensibilisieren, genau hinzuschauen, wie Begriffe wann und von wem verwendet werden und was sie transportieren, und so zu einem differenzierten, historisch versierten Umgang mit Worten anregen. Denn die Bedeutung eines Begriffs ergibt sich weniger aus einer vermeintlich verbindlichen Definition als aus seinem Gebrauch.
Literatur Bendix, Regina/Eggeling, Tatjana (Hg.) (2004) : Namen und was sie bedeuten. Zur Namensdebatte im Fach Volkskunde. Göttingen. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2004) : Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main. Fabian, Johannes (1990) : Presence and Representation : The Other and Anthropological Writing. In : Critical Inquiry 16(4), S. 753–772. Habermas, Jürgen (1979) : Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit. Frankfurt am Main. Koselleck, Reinhart/Dutt, Carsten (2013) : Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche. Heidel berg. Pörksen, Uwe (1988) : Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart.
Manuel Liebig
Wissenschaft und Gesellschaft : Plädoyer für eine kritische Wissensvermittlung
Wissenschaft ist eine Akteurin, die gesellschaftliche Realitäten schafft und verändert, sie eröffnet Wahrnehmungshorizonte und bietet Sinnstiftungen. Bei der Deutung und Kritik sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer, politischer und kultureller Entwicklungen hat die Wissenschaft eine Schlüsselrolle inne. Die Kultur wissenschaftlerinnen Beate Binder und Sabine Hess konstatieren, »dass jede Form der Wissensproduktion eine zutiefst diskursive und politische Aktivität ist, die immer Realität mitproduziert und -konstituiert« (Binder/Hess 2013 : 27). Auf Basis wissenschaftlicher Studien und Erkenntnisse werden politische Entscheidungen getroffen, technologische Entwicklungen und medizinische Fortschritte angestoßen. Zudem bilden die von der Wissenschaft aufgebrachten und in Texten verhandelten Kategorien, Themensetzungen und Begriffe eine sprachliche Grundlage zur Fassung gesellschaftlicher Phänomene. Nicht zuletzt rassismuskritische und postkoloniale Akteur*innen sowie Geschlechterforscher*innen haben die gesellschaftskonstituierende Macht von Sprache immer wieder herausgestellt (→Geschlecht →Rassismus). So haben beispielsweise die Kulturwissenschaftlerin Susan Arndt sowie die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Nadja Ofuatey-Alazard in ihrem Nachschlagewerk »Wie Rassismus aus Wörtern spricht« ausgeführt, »wie stark Sprache durch rassistische Diskurse und Wissens felder geprägt ist und somit einen Rahmen dafür bietet, Rassismus weiterhin aktiv auszuüben« (Arndt/Ofuatey-Alazard 2011 : 11). Geläufig verwendete Wörter transportieren tradierte Bedeutungen und sind Teil des »Alltagsverstandes«, der »gebräuchliche Meinungen und Überzeugungen« (Sutter 2016 : 55) eines bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhangs benennt. Begriffe sind damit Teil von alltäglichen Diskursen, also sprachlichen Handlungen, die Sinngebungen und Machtverhältnisse festschreiben. Um den Umgang mit historisch besonders aufgeladenen Begriffen gibt es häufig Kontroversen. So wird beispielsweise diskutiert, ob in Neuauflagen von Kinderbüchern auf rassistische Stereotype und diskriminierende Bezeichnungen von Menschen verzichtet werden solle. Auf der einen Seite erscheinen eine Korrektur der etablierten (historischen) Bedeutungsaufladung kaum möglich und die politisch-wissenschaftliche Umdeutung nicht sinnvoll, um Begriffe von
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Manuel Liebig
ihrem ideologisch überformten Gehalt zu »befreien« (wie im Fall von »Rasse«). Insofern wird diskutiert, belastete Begriffe zugunsten anderer Bezeichnungen zu verwerfen. Eine andere Position argumentiert für das aktive (Wieder-)Aneignen von Begrifflichkeiten, um diese in ihrer Bedeutungsvielfalt darzustellen, neu zu konnotieren und nicht einem bestimmten politischen Feld zu überlassen, sondern bestmöglich inklusive und zeitgenössische Verwendungsweisen in alten und neuen Kontexten vorzuschlagen. Debatten um →Heimat stehen sinnbildlich hierfür. In dem vorliegenden Handbuch setzen Wissenschaftler*innen Begriffe in zeitliche und gesellschaftliche Kontexte, in denen diese etabliert sind und Bedeutung haben. Ziel ist, eine sachliche Auseinandersetzung um die Verwendungsweise anzuregen und einen reflektierten, bewussten Umgang über die Bedeutung von Wörtern zu ermöglichen. Der Band versteht sich aus der Position der Wissenschaft heraus und auf Basis alltagskultureller Beobachtungen, dem zufolge Begriffe normativ zur Herstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge und Legitimierung politischer Anliegen verwendet werden, als aufklärende Intervention in gesellschaftliche Öffentlichkeiten. Er eröffnet einen Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gesellschaft, um eine Demokratisierung des Wissens voranzubringen und damit als Wissenschaft Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung bedeutet in diesem Fall, über das gesellschaftliche Zusammenleben und seine zukünftige Gestaltung nachzudenken sowie die Wirkung wissenschaftlich generierten Wissens für gesellschaftliche Zusammenhänge zu eruieren, um die wissenschaftliche Praxis als Korrektiv gesellschaftlicher Entwicklungen auszurichten : »Wenn wir unsere Verantwortung als Wissenschaftler_innen ernst nehmen, bedeutet das […], dass wir Gesellschaft als gestaltet und gestaltbar ansehen, dass wir uns nicht mit den Gegebenheiten abfinden und diese lediglich analysieren, sondern an einer Verbesserung der Verhältnisse zu arbeiten bereit sein müssen« (Illing/Schneider 2019 : 303). Dies schließt die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Lösungsansätze in breitere Öffentlichkeiten ein, um Analysen und Kritik nicht zum Selbstzweck zu betreiben und sich in gesellschaftlichen Aushandlungen zu positionieren. Diese Ansätze sind natürlich nicht neu. So formulierte zum Beispiel der Soziologe Pierre Bourdieu in seiner berühmten Rede »Für eine engagierte Wissenschaft« (2001), dass Wissenschaft als distanzierte, unabhängige und objektive Beobachterin eine Illusion sei, sondern mit ihrer Arbeit stets gesellschaftliche Verhältnisse mitgestalte. Demnach sei eine nur nach »innen« wirkende Wissenschaft verhängnisvoll. Es benötige eine »scholarship with commitment« (Bourdieu 2001 : 34), die mit den Regeln und Normen der Wissenschaft erworbenes
Wissenschaft und Gesellschaft
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Wissen machtkritisch nach »außen« trage und damit auch die Verantwortung für die Folgen der eigenen wissenschaftlichen Handlungen übernehme. Diese Aufgabe der Wissenschaft ist heute aus verschiedenen Gründen besonders gefährdet : Erstens wird der Vermittlung und kritischen Positionierung in gesellschaftlichen Aushandlungen im inneruniversitären Tagesgeschäft wenig Wert beigemessen : Wissenschaftliche Laufbahnen – zumal häufig unter befristeten Arbeitsverhältnissen – richten sich eher am wissenschaftsinternen Wirken und den dort gültigen Kriterien aus als an öffentlichkeitswirksamen Tätigkeiten. Die Vermittlung erfolgt häufig lediglich im Rahmen von PR-Aktivitäten der universitären Wissenschaftskommunikation. Zweitens werden zunehmend Ansprüche an die Wissenschaft gestellt, die auf neoliberalen Entwicklungen beruhen und den »Wert« der wissenschaftlichen Erkenntnis verkürzen und allein an ökonomischen Maßstäben messen. Debatten um die »Relevanz« wissenschaftlicher Forschung kreisen beispielsweise um die praxisorientierte Kooperation mit Wirtschaftsunternehmen oder die über ihre öffentliche Finanzierung argumentierte Verpflichtung der Wissenschaft für die Gesellschaft. Die Kulturwissenschaftler*innen Timo Heimerdinger und Marion Näser-Lather haben diesbezüglich angemerkt, dass sich Forschungen zunehmend der Frage nach der »Nützlichkeit« stellen müssten und in third-mission- Konzepten von Universitäten eine Begründung ihrer Aktivitäten gegenüber der Gesellschaft gefordert werde (Heimerdinger/Näser-Lather 2019 : 18f.). Dies wirkt der Freiheit der Lehre und Forschung entgegen und beeinflusst die Themenpolitik. Zudem sind Universitäten immer stärker auf Drittmittel angewiesen, die durch Wissenschaftler*innen eingeworben werden müssen. Dadurch gewinnen Praxispartner*innen aus der Wirtschaft oder Fördergeber*innen wie Stiftungen als Akteur*innen im Wissenschaftsfeld zunehmend an Gewicht, indem über Förderschienen Themen, Outputs und auch eine bestimmte Wortwahl vorgegeben werden. Drittens ist eine Krise der Glaubwürdigkeit bzw. ein Ansehensverlust der Wissenschaft zu beobachten. Wissenschaft hat in gesellschaftlichen Teilen ein Legi timationsproblem. Besonders eindrücklich zeigte sich dies in der Politik des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der jedwede wissenschaftliche Erkenntnis als falsch zurückwies, die nicht seiner Agenda folgte. Das S chlagwort vom »postfaktischen Zeitalter« fasst diese Praxis, der zufolge politische Entscheidungen auf gefühlten Wahrheiten und emotionalen Effekten beruhen und eine Meinungsfragmentierung stattfindet, in der zunehmend handlungsleitende Informationen aus unüberprüfbaren Quellen bezogen werden, die keiner journalistischen oder wissenschaftlichen Qualitätskontrolle unterliegen. In der Wis-
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sensgesellschaft haben sich die Formen des Wissens und Zugänglichkeiten potenziert. Der Zugriff auf verschiedene Darstellungen eines Phänomens ist über den digitalen Raum vereinfacht und für jede*n zugänglich. So etablieren sich auch wenig fundierte Interpretationen von Welt, die sich in virtuellen Filterblasen reproduzieren und oft auf ideologischen Agenden oder Gerüchten beruhen. In die Kritik geraten in vielen Fällen Naturwissenschaften, indem zum Beispiel den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel oder zur Coronavirus- Pandemie »alternative Fakten« entgegengestellt werden, oder auch Sozial- und Kulturwissenschaften, wie die andauernden Auseinandersetzungen um die Gender Studies zeigen. Das vorliegende Buch versteht sich als Antwort auf diese Entwicklungen. Es hat den Anspruch, über wissenschaftsinterne Rezeption hinauszugehen, und ist kein Produkt ökonomisch motivierter Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Öffentlichkeiten. Vielmehr soll mit dem Versuch einer profun den Auseinandersetzung mit der Prozesshaftigkeit von Begriffen in Gesellschaft und Wissenschaft in gesellschaftliche Diskurse eingegriffen werden. Dies erscheint in einer Konstellation, in der zentrale kultur- und sozialwissenschaftliche Begriffe wie →Kultur, →Migrationshintergrund, →ethnisch oder →Identität zunehmend in fragwürdigen politischen Projekten Verwendung finden und wissenschaftliche Erkenntnisse delegitimiert werden, als eine mögliche Antwort : Wissenschaftler*innen stehen für eine reflektierte Verwendungsweise von Begriffen ein, nutzen über die Beiträge im vorliegenden Buch die Möglichkeit zur Intervention in Öffentlichkeiten und übernehmen Verantwortung für die Rolle der Wissenschaft in gesellschaftlichen Verhältnissen.
Literatur Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (2011) : Zum Geleit. In : dies. (Hg.) : Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Berlin, S. 11–17. Binder, Beate/Hess, Sabine (2013) : Eingreifen, kritisieren, verändern. Genealogien engagierter Forschung in Kulturanthropologie und Geschlechterforschung. In : dies. et al. (Hg.) : Eingreifen, kritisieren, verändern ! ? Interventionen ethnographisch und gendertheoretisch. Münster, S. 22–54. Bourdieu, Pierre (2001) : Für eine engagierte Wissenschaft. In : ders. (Hg.) : Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung. Konstanz, S. 34–42. Heimerdinger, Timo/Näser-Lather, Marion (2019) : Einführung : Gute Themen, schlechte
Wissenschaft und Gesellschaft
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Themen. In : dies (Hg.) : Wie kann man dazu nur forschen ? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie. Wien, S. 11–28. Illing, Jenny/Schneider, Ingo (2019) : Empirische Kulturwissenschaft als kritische Gesellschaftsanalyse. Kritik als theoretisch-praktisches Instrument einer Alltags- und Erfahrungswissenschaft. In : Eggmann, Sabine/Kolbe, Susanna/Winkler, Justin (Hg.) : Wohin geht die Reise ? Eine Geburtstagsgabe für Johanna Rolshoven 2019. Basel, S. 291–306. Sutter, Ove (2016) : Alltagsverstand. Zu einem hegemonietheoretischen Verständnis alltäglicher Sichtweisen und Deutungen. In : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 1+2, S. 41–70.
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Frank Biess
Angst
Kurzdefinition »Eine gewisse Empfindung von Unlust und ein beunruhigendes Gefühl, hervorgegangen aus der Vorstellung eines bevorstehenden Übels, das entweder verderblich oder doch schmerzhaft ist« (Demmerling/Landweer 2007 : 67f.). Diese Definition des Begriffs Furcht von Aristoteles beschreibt das auch heute noch gültige Verständnis von Furcht und Angst als ein negativ konnotiertes, im Imaginären existierendes und auf die Zukunft gerichtetes Gefühl. Eine universale und transdisziplinär verbindliche Definition von Angst und Furcht gibt es nicht. Vielmehr standen Angst und Furcht oft im Zentrum einer allgemeinen Auseinandersetzung um die begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von Emotionen an sich. Ansätze changierten dabei zwischen universalen biologistischen einerseits sowie sozialkonstruktivistischen Definitionen andererseits (vgl. Leys 2020).
Gesellschaftliche Situation Die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts steht in vielfacher Hinsicht im Zeichen einer oft diagnostizierten Angst. Die Krisenhaftigkeit einer globalisierten (→Globalisierung) →Moderne seit der Jahrtausendwende zeichnete sich aus durch immer neue Angstobjekte : Terrorismus, Fragilität der Wirtschaft und der Währung, →Flüchtlinge, Klimawandel oder ein global grassierendes Virus. Die überall entstehenden rechtspopulistischen Bewegungen beruhen auf einer dezidierten Politik der Angst (→Populismus). Für Protestbewegungen wie Pegida oder Fridays for Future fungiert Angst als soziales Bindeglied und politisches Mobilisierungsmittel. Allein darin zeigt sich schon die politische Vielschichtigkeit der Angst in der Moderne.
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Historisch ist Angst als Grundphänomen der →Moderne untrennbar v erbunden mit der Entdeckung einer zunehmend offenen Zukunft. Wie der Historiker Reinhart Koselleck argumentiert hat, weitete sich mit den Revolutionen der »Sattelzeit« um 1750 die Diskrepanz zwischen dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont zunehmend aus. In dem Maße, in dem die Zukunft immer weniger die Erfahrungen der Vergangenheit repliziert habe, sei auch die Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft und damit auch die Angst gestiegen (vgl. Koselleck 1995 [1979]). Zwar versuchten die teleologischen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts – der deutsche Idealismus, aber auch der Marxismus oder der liberale Fortschrittsoptimismus –, die Zukunftsungewissheit mit der Verheißung einer besseren künftigen Welt zu kompensieren. Doch spätestens die Katastrophe des Ersten Weltkrieges enthüllte den illusionären Charakter dieser hoffnungsvollen Zukunftsszenarien. Es ist daher kein Zufall, dass die philosophische und psychologische Begründung von Angst als einer ontologischen oder psychischen Grundbefindlichkeit des Menschen in die Zwischenkriegszeit fällt. Die faschistischen und stalinistischen Regime nutzten Angst als entscheidendes Herrschaftsinstrument. Der Terror der Geheimpolizei und des diktatorischen Verfolgungsapparates war konstitutiv für diese Regime ebenso wie die Erfahrung der Angst für die Millionen Opfer. Auch in dieser existentiellen Grunderfahrung zeigte sich die ambivalente Natur der Angst. Denn Hoffnung konnte für die Opfer des Faschismus und des Stalinismus tödlich enden. Angst dagegen war die adaptive Emotion und konnte zu einer höheren Überlebenschance beitragen. In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts offenbarte sich somit auch die Identifikation der Angst als die Grundemotion der tyrannischen Regierungsform, wie sie schon der Philosoph Montesquieu festgestellt hatte (vgl. Robin 2004). Deswegen charakterisierten antitotalitäre Bewegungen die Angst im 20. Jahrhundert gerne auch als das »Andere« der →Demokratie. Für den amerikanischen Präsi denten Franklin D. Roosevelt wurde die »Freiheit von Furcht« zu einem der alli ierten Kriegsziele im Zweiten Weltkrieg. Der Emigrant und Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft, Franz Neumann, identifizierte 1954 eine neurotische Angst als eine der Antriebskräfte des Nationalsozialismus und sah deren Überwindung als entscheidend für den Erfolg der Nachkriegsdemokratie an (vgl. Neumann 1954). Diese These von der Angst als dem »Anderen« der Demokratie setzte sich in der politischen Theorie bis in die Gegenwart fort. Im Jahr 1989 formulierte die Politikwissenschaftlerin und Emigrantin aus der Sowjetunion Judith Shklar die Vorstellung eines »Liberalismus der Furcht«, insofern die Hauptauf-
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gabe des liberalen Staates darin bestehe, ein Leben ohne Furcht zu garantieren (vgl. Shklar 2002 [1989]). Für den Soziologen Zygmunt Bauman könnte die Geschichte der Demokratie als Geschichte der »Eliminierung oder Eindämmung und Zähmung« von aufeinanderfolgenden Gründen der »Unsicherheit, Angst und Furcht« erzählt werden (Baumann 2006 : 157). Und die Philosophin Martha Nussbaum erklärte auch die politische Krise in den USA rund um die Präsidentschaftswahl 2016 mit einer »nebulösen und vielschichtigen Furcht in der amerikanischen Gesellschaft« (Nussbaum 2018 ; Übers. d. Verf.). Die binäre Opposition von Angst und →Demokratie beschreibt die Funktion der Angst in der →Moderne allerdings nur partiell (vgl. Biess 2019). Zweifelsohne hatte Angst das Potential, die Demokratie zu unterminieren. Im Kalten Krieg diente eine sowohl in den Demokratien des Westens wie auch in den Diktaturen des Ostens geschürte dezidierte Politik der Angst dazu, Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken oder nahezu gänzlich abzuschaffen. Gleichzeitig bestand die emotionale Ökonomie des Kalten Krieges auch aus konkurrierenden Ängsten – hier die Angst vor dem Kommunismus oder dem Kapitalismus, dort die Angst vor dem Krieg. Eine derartige Dialektik der Angst, in der sich wechselseitige Ängste neutralisieren oder bestärken, prägte oft auch die politischen Auseinandersetzungen nach 1945. So sahen in den westlichen Demokratien linke und rechte Bewegungen das mühsam erreichte demokratische Gleichgewicht immer wieder durch die jeweils andere Seite bedroht. Allerdings konnte Angst die →Demokratie auch stabilisieren oder gar zu ihrer Verteidigung mobilisiert werden. So war die Angst vor einer Rückkehr des Autoritarismus ein emotionaler Motor des demokratischen Wiederaufbaus in Westeuropa nach 1945. Angst war jene Emotion, die dynamische Erinnerungen an Krieg, Faschismus und Holocaust in spezifische Zukunftsszenarien transformierte, die es zu vermeiden galt. In den sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre fungierten die Empfindung und öffentliche Performanz von Angst als entscheidende emotionale Antriebskräfte politischer Mobilisierung. Gerade weil die Angst eine angemessene Wahrnehmung der ökologischen oder atomaren Gefahr darstellte, nahm sie den Charakter einer höheren Form der Vernunft an. Angst wurde zudem ein wichtiger Aspekt moderner Subjektivitäten. Bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts diktierte ein repressives Gefühlsregime die Unterdrückung der Angst, insbesondere für Männer. Das Gefühl blieb weiblich konnotiert und wurde oft als »neurotisch« und »hysterisch« pathologisiert (→Geschlecht). Erst im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts kam es zu einem affirmativeren Angstverständnis. Die wachsende Popularität der Psychotherapie
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rückte Ängste vor den oft unbewussten, autoritären und potentiell faschistischen Abgründen des Ichs in den Blickpunkt. Auch stieg die Angst vor dem Eindringen fremder und toxischer Stoffe in das Subjekt, die dieses dann von »innen« heraus zerstörten. Die Entstehung der modernen Umweltbewegung erklärt sich zum Teil aus dieser neuen Sensibilität (vgl. Uekötter 2014). Andererseits wurden die Erfahrung und Artikulation von Angst nun auch für Männer ein Indiz einer neuen Form authentischer und »gesunder« Subjektivität (vgl. Reichardt 2014). Damit veränderte sich auch die Geschlechtercodierung der Angst. In Zeiten beschleunigter →Globalisierung und internationaler Vernetzung verlieren Ängste ihren konkreten Ort. Für die wichtigsten Ängste der westlichen →Moderne wie vor der Finanzkrise, dem internationalen Terrorismus oder auch globalen Flüchtlingsbewegungen (→Flüchtling →Migration) lassen sich kaum mehr spezifische Ursprungsorte identifizieren. Der Angst vor dem Klimawandel fehlt nicht nur der Ort, sie ist auch die Angst vor einer »Katastrophe ohne Ereignis« (Horn 2014 : 111), deren Ursprung in unseren Alltagsgewohnheiten verankert ist.
Wissenschaftsgeschichte(n) Angst ist ein Thema ganz unterschiedlicher Disziplinen. Für Charles Darwin war die Angst eines der evolutionär ältesten Gefühle, die der Mensch mit dem Tier teile und die »seit einer weit zurückliegenden Zeit in ähnlicher Weise ausgedrückt wurde wie heute beim Menschen« (Darwin zitiert nach Weiss 2012 : 3). In der Nachfolge Darwins behaupten Neurowissenschaftler*innen gerne, Furcht und Angst seien universale und rein biologisch bestimmte Emotionen, die an einem bestimmten Ort im Gehirn, der Amygdala, produziert würden (vgl. LeDoux 1996). Aber auch diese These wird mittlerweile wieder in Frage gestellt. In den Neurowissenschaften wird zunehmend die Bedeutung kultureller Kontexte für die Empfindung und Artikulation von Angst betont (vgl. Feldman Barrett 2017). In der Philosophie wurde Angst zu einem der Grundbegriffe der →Moderne. Spätestens seit Kierkegaards »Der Begriff Angst« (1844) ist Angst als die »Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit« (Kierkegaard 2005 : 488) untrennbar mit der Kontingenz und Subjektivität menschlicher Existenz verbunden. Während Kierkegaard Angst vor allem mit Bezug auf den theologischen Horizont von Schuld und Sünde analysiert hatte, wurde der Begriff der Angst im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend säkularisiert (vgl. Moyn 2012). Das Verständnis von Angst in der Freud’schen Psychoanalyse veränderte sich grund-
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legend : War Angst für Freud vor dem Ersten Weltkrieg vor allem das Produkt sexueller Repression, so sah er sie 1926 in »Hemmung, Symptom und Angst« eher als Ursache denn als Folge der Repression. Gegenüber den Ansprüchen des »Es« und den Drohungen des »Über-Ichs« kam der Angst bei der Entwicklung des »Ichs« eine entscheidende Rolle zu (vgl. Freud 1992 [1926] : 25). In der Philosophie beschrieb Martin Heidegger Angst in »Sein und Zeit« von 1927 im Anschluss an Kierkegaard als eine ontologische Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz, als Angst vor dem »In-der-Welt sein selbst«, die dem Dasein die »Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit seines Seins offenbar« mache (Heidegger 2006 [1927] : 187, 191). Die oft auf Freud und Heidegger zurückgeführte gängige Unterscheidung von »Furcht« vor einem konkreten Objekt und »Angst« als einem Gefühl ohne Objekt lässt sich im alltagssprachlichen Gebrauch allerdings nicht nachweisen (vgl. Bergenholtz 1980). Oft beinhaltet diese Unterscheidung auch eine normative Wertung : Furcht erscheint als funktional und berechtigt, Angst als illegitim und neurotisch. Allerdings kann die Berechtigung bestimmter Ängste nicht a priori bestimmt werden, sondern muss erst im politischen und gesellschaftlichen Diskurs ermittelt werden. In der Psychologie gewann Angst zunehmend an Bedeutung als Warnsignal für eine gestörte Entwicklung des Ichs. Einflussreich im deutschen Sprachraum war insbesondere das 1961 erstmals veröffentlichte und bis heute in der 45. Auflage über eine Million Mal verkaufte Buch des Psychoanalytikers Fritz Riemann »Die vier Grundformen der Angst«, in dem Riemann spezifische Ängste als Ausdruck von vier von ihm identifizierten Ich-Störungen (schizoid, depressiv, zwanghaft, hysterisch) beschrieb (vgl. Riemann 2019 [1961]). Die 1971 erschienene Studie der Psycholog*innen Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Kette sah Angst nicht nur in endogenen, konstitutionell bedingten Faktoren begründet, sondern betonte die Bedeutung »extremer Erfahrungen« in Kriegs- und Nachkriegszeiten für die Ursache anhaltender Angststörungen. Dies hatte weitreichende Bedeutung für psychiatrische Gutachten und die damit verbundenen Rentenansprüche (vgl. von Baeyer/von Baeyer-Katte 1971). Die neuere klinische Psychologie erkennt ebenfalls, dass Furcht und Angst in der Regel adaptive Emotionen sind und die Grenze zu pathologischen Angststörungen mithin fließend ist. Exzessive Angst und Furcht liegen somit vor, wenn eine Person entweder die Wahrscheinlichkeit eines negativen Ereignisses oder dessen negative Bedeutung (oder beides gleichzeitig) überschätzt (vgl. McNally 2012 : 21f.). Allerdings sind derartige Einschätzungen nicht universal gültig, sondern variieren nach Zeit, Ort und Gesellschaft. Die 2020 erschienene Ausgabe
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des »Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders« (DSM-V) der American Psychiatric Association verweist sowohl auf kulturelle, geschlechterspezifische und exogene wie auch auf erbliche oder in der individuellen Biographie bedingte Faktoren als Auslöser verschiedener Angststörungen (vgl. DSM-V 2020).
Ausblick Die anhaltende gesellschaftspolitische und subjektive Bedeutung der Angst zeigte sich zuletzt in der Coronavirus-Pandemie. Eine Art globale Angstgemeinschaft sieht sich konfrontiert mit einem unsichtbaren tödlichen Virus, gegen das es längere Zeit keine medizinische Therapie oder vorbeugende Impfung gab. Mehr als andere Bedrohungsszenarien prägte die Angst vor dem Virus unser Alltagsleben. Gleichzeitig mobilisierten die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auch Ängste vor einem autoritären, übergriffigen Staat. Dieses Unbehagen verband sich mit rechtspopulistischen und oft rechtsextremen Stimmen, die in der Pandemie – mit kaum verhüllten antisemitischen Konnotationen – eine Verschwörung globaler Eliten sahen (vgl. Krastev 2020). In der Pandemie offenbarte sich somit erneut die grundsätzliche Ambivalenz der Angst in der →Moderne : Einerseits bot der neu entdeckte Möglichkeitsraum der Politik in Zeiten der →Globalisierung Anlass zur Hoffnung. Politische Interventionen wie Grenzschließungen, aber auch massive staatliche Hilfsprogramme, die zuvor undenkbar schienen, waren nun auf einmal möglich ; andererseits wirkte die mit dieser neu gewonnenen Kierkegaard’schen »Freiheit zur Möglichkeit« einhergehende Unsicherheit auch wieder angsterzeugend. Angesichts der auffallenden Krisenanfälligkeit der globalisierten Moderne ist zu vermuten, dass Angst in den künftigen politischen und gesellschaftlichen Konflikten auch weiterhin eine wichtige, wenn auch immer vielschichtige Rolle spielen wird.
Literatur Baumann, Zygmunt (2006) : Liquid Fear. Cambridge. Bergenholtz, Henning (1980) : Das Wortfeld »Angst«. Eine lexikographische Untersuchung mit Vorschlägen für ein grosses interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Sprache. Stuttgart. Biess, Frank (2019) : Die Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Reinbek.
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Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge (2007) : Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart. Feldmann Barrett, Lisa (2017) : How Emotions Are Made. The Secret Life of the Brain. Boston. Freud, Sigmund (1992 [1926]) : Hemmung, Symptom und Angst. Frankfurt am Main. Heidegger, Martin (2006 [1927]) : Sein und Zeit. Tübingen. Horn, Eva (2014) : Die Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main. Kierkegaard, Sören (2005 [1844]) : Der Begriff der Angst. München. Koselleck, Reinhart (1995 [1979]) : »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«. Zwei historische Kategorien. In : ders. (Hg.) : Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main, S. 349–375. Krastev, Ivan (2020) : Ist heute schon morgen ? Wie die Pandemie Europa veränderte. Berlin. LeDoux, Joseph (1996) : The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life. New York. Leys, Ruth (2020) : How Did Fear Become a Scientific Object, and what Kind of Object Is It ? In : Representations 110(1), S. 66–104. Moyn, Samuel (2012) : Anxiety and Secularization. Soren Kierkegaard and the Twentieth Century Invention of Existentialism. In : Judaken, Jonathan/Bernasconi, Robert (Hg.) : Situating Existentialism. Key Texts in Contexts. New York, S. 279–305. Neumann, Franz (1954) : Angst und Politik. Vortrag gehalten an der Freien Universität Berlin. Tübingen. Nussbaum, Martha (2018) : The Monarchy of Fear. A Philosopher Looks at our Political Crisis. New York. Reichardt, Sven (2014) : Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin. Riemann, Fritz (2019 [1961]) : Grundformen der Angst. 45. Auflage. München. Robin, Corey (2004) : Fear. The History of a Political Idea. Oxford. Shklar, Judith (2002 [1989]) : The Liberalism of Fear. In : Hoffman, Stanley (Hg.) : Political Thought and Political Thinkers. Chicago, S. 3–20. Uekötter, Frank (2014) : The Greenest Nation. A New History of German Environmentalism. Cambridge. Weiss, Max (2012) : Fear and Its Opposites in the History of Emotions. In : Lakan, Michael/ Weiss, Max (Hg.) : Facing Fear. The History of an Emotion in Global Perspective. Princeton, S. 1–9.
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Kurzdefinition »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen«, heißt es im Artikel 14(1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948). Dieses Grundrecht auf Asyl bezieht sich auf Personen, die aus diversen Gründen ihr für sie unsicher gewordenes Herkunftsland verlassen mussten und in einem sogenannten sicheren Aufnahmeland als Asylsuchende ein Schutzgesuch stellen. Welche Gründe für eine Asylanerkennung geltend gemacht werden können, ist in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK 1951) und in den jeweiligen nationalen Asylgesetzen definiert. Im Rahmen der nationalen Asylverfahren wird festgestellt, ob jemand Schutz vor Verfolgung benötigt und dieser gewährt wird. Häufig wird Asylsuchenden jedoch bereits lange vor der verfahrensmäßigen Feststellung der Schutzbedürftigkeit das Recht auf Schutz abgesprochen. Asyl benennt ein altes Menschenrecht, das im gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart aber zu einem politischen Kampfbegriff avanciert ist.
Gesellschaftliche Situation Im Sommer 2018 forderte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder eine Zurückweisung von Geflüchteten (→Flüchtling) an der deutschen Grenze, die über die Balkanroute geflüchtet waren. In den sozialen Medien twitterte er, dass der »Asyltourismus« beendet werden müsse.1 Als Asyltourist*innen bezeichnete der CSU-Politiker jene Geflüchteten, die im Zuge des »langen Sommers der Migration« (Hess et al. 2017) versuchten, die Drittstaatenregelung zu umgehen, um in Deutschland um Asyl anzusuchen. Damit nutzte er einen Begriff, der bereits in den 1990er Jahren in rechtsextremen Kreisen häufiger gefallen war. Mitte
1 Söder, Markus auf Twitter : 14. Juni 2018. URL : https://twitter.com/Markus_Soeder/status/1007226 345338830848 [10. Juni 2021].
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der 1990er Jahre wurden vor allem diejenigen als Asyltourist*innen bezeichnet, die einen spezifischen Zufluchtsort innerhalb Europas zum Ziel hatten. Der Begriff des Tourismus ruft Bilder und Assoziationen hervor, die nicht zwingend mit der darzustellenden Realität konformgehen. So konstatiert die Linguistin Elisabeth Wehling in einem Interview, dass Tourismus »nicht nur an Sommer, Sonne, Strand [erinnert], sondern […] auch [impliziert], dass es ein Zuhause gibt, in das man später zurückkehrt« (Fiedler 2018). Somit wird mit der Wortkombination »Asyltourismus« assoziiert, dass es sich um einen temporären und vor allem freiwilligen Aufenthalt von Menschen handle, die sich einen Urlaub finanziell wie zeitlich leisten könnten. Flucht wird im Rahmen dieses metaphorischen Framing als Urlaubsreise umgedeutet und negiert die Schutzbedürftigkeit der angesprochenen Personen. Weitere Wortkombinationen wie »Asylgehalt« als abwertende Bezeichnung der Sozialleistungen an Asylsuchende oder der negativ konnotierte Begriff »Asylindustrie« zur Benennung des Unterstützungsnetzwerks von Geflüchteten, verschieben den rationalen Blick auf die Realität, schüren die Ablehnung gegenüber schutzsuchenden Menschen und verstetigen eine bestimmte Semantik des Begriffs im alltäglichen Sprachgebrauch sowie in politischen und gesellschaftlichen Diskursen.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Begriff Asyl leitet sich aus dem griechischen Wort asylon/asylie ab, das einen Zustand bzw. zuerkanntes Privileg beschreibt, mit welchem Individuen, Gemeinschaften, aber auch sakrale Gegenstände im antiken Griechenland vor Verfolgungen geschützt wurden. Asylie resultiert vom Ritual der Hikesie, nach welchem die Schutzflehenden – die Hiketiden – in Tempeln und Altären durch die Götter temporär beschützt werden konnten. Das Rechtsinstitut der Hikesie kann aufgrund des gleichen Grundgedankens als Vorgänger des christlichen Kirchenasyls betrachtet werden (vgl. Frey 2018 : 12). Heute wird unter Asyl primär »politisches Asyl« verstanden, das anerkannten GFK-Flüchtlingen (→Flüchtling) zugesprochen wird. Der Begriff erlebte insbesondere im 21. Jahrhundert einen Wandel in seiner Verwendungsweise hin zu einem politisierten Terminus. Die Politisierung von →Migration und im Speziellen Asyl lässt sich auf die Diskurse rund um die »Gastarbeiter*innenmigration« in den 1970er Jahren und Fluchtbewegungen aufgrund des Zerfalls Jugoslawiens in den 1980er und 1990er Jahren zurückführen. Durch den Anwerbestopp der Gastarbeitenden entstand in Deutschland
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eine »Einwanderungssituation« (Bade 1993), ohne dass eine aktive Rückkehroder Einwanderungspolitik betrieben wurde. Eine Einwanderung nach Europa war häufig nur noch im Rahmen von Familienzusammenführungen oder als Asylsuchende möglich (vgl. Heck 2008). Gleichzeitig sahen sich einige europäische Länder mit steigenden Zahlen von Asylsuchenden aus dem ehemaligen Jugoslawien konfrontiert. Migrationspolitik wurde vor diesem Hintergrund vor allem als Sicherheitsproblem diskutiert (→Sicherheit) (vgl. Bade/Oltmer 2010 : 163f.). Im öffentlichen Sprachgebrauch etablierte sich in den 1970er Jahren der zunächst neutral verwendete Begriff des*der »Asylant*in«. Im Zuge von emotional aufgeladenen Diskussionen, die sich um Fragen des Zugangs zu Teilhabe, Bleibeperspektiven und Differenzierungen von legitimen oder illegitimen Fluchtgründen der Asylsuchenden drehten, kam es zu Umdeutungsprozessen, die zu einer immer stärkeren negativen Konnotation des Begriffs Asyl führten (vgl. Behrensen 2017 : 14f.). Ende der 1970er Jahre entstanden im medialen und politischen Diskurs zunehmend Begriffskreationen wie »Asylantenflut«, »Scheinasylanten« und »Wirtschaftsasylanten«. Die Konstituenten »Schein« und »Wirtschaft« suggerieren, dass die bezeichneten Menschen keine gerechtfertigten Gründe auf Asyl vorweisen könnten, sondern wirtschaftliche oder andere persönliche Motive als Anlass für ihr Asylgesuch genutzt hätten, die nicht in das vorgegebene Schutznarrativ der politischen Verfolgung passten (vgl. Wengeler 1995 : 740). Im Zuge von steigendem →Rassismus dominierte in medialen und politischen Diskursen ein Bild, dass sich Asylsuchende »heimlich« einschlichen und dadurch »Asylmissbrauch« begehen würden. Während in Österreich nie ein prinzipielles Grundrecht auf Asyl existierte, reagierte Deutschland 1993 mit einer Einschränkung des bis dahin geltenden Grundrechts auf Asyl (vgl. Bade/Oltmer 2010 : 163f.). Mit dem »Asylkompromiss« konnten Asylanträge fortan abgelehnt werden, wenn die Antragstellenden über einen »sicheren Drittstaat« eingereist waren. Durch diese Grundgesetzänderung wurden immer mehr Personen illegalisiert und mussten ungeregelt einreisen. Dies führte auch zu einer Veränderung des Diskurses in den 1990er Jahren : Aus dem Feindbild »Asylant*in« wurde der*die »illegale Einwanderer*in«. Gleichzeitig verlagerte und erweiterte sich der Exklusionsdiskurs hin zu einem Diskurs der Grenzkontrolle (vgl. Heck 2008). Als neuer Begriff setzte sich im alltäglichen Sprachgebrauch der des »Flüchtlings« durch. Zunächst fand dieser hauptsächlich in der Unterstützer*innengemeinschaft von schutzsuchenden Menschen Verwendung (vgl. Behrensen 2017 : 15). Das Motiv des Kommens von Asylsuchenden – die Flucht – wurde somit sowohl terminologisch als auch moralisch sichtbar (→Flüchtling).
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Der skizzierte Bedeutungswandel des Asylbegriffs hängt mit den sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen, einer wachsenden →Globalisierung und damit verbundenen Mobilitätssteigerung von Menschen sowie mit weltweit zu beobachtenden Renationalisierungsprozessen (→Nationalstaat) zusammen. Dieser Entwicklung folgte die GFK-Flüchtlingsdefinition trotz Erweiterungen nur ansatzweise. Im medialen und politischen Diskurs wird aber dennoch oftmals auf die Flüchtlingsdefinition der Vereinten Nationen rekurriert, die auf ein bestimmtes Schutznarrativ abzielt, welches sich auch in gesellschaftlichen Aushandlungen um Asyl niederschlägt. Die zentrale »Flüchtlingseigenschaft« des heutigen internationalen Rechts auf Asyl ist damit das der »politischen Verfolgung«. Diese Definition war im Kontext des Kalten Krieges entstanden und konstruiert ein Bild eines Individuums, das diktatorischen und unterdrückerischen Staaten ausgeliefert ist. Aufgrund von politischen Aktivitäten, abweichenden Meinungen, religiösen →Traditionen oder →ethnischen Zugehörigkeiten steht der einzelne Mensch einem Staat gegenüber, dessen Gewalt er fürchten muss, weshalb er in einem anderen Staat um Asyl ansucht (vgl. Schulze Wessel 2017).
Wissenschaftsgeschichte(n) Die gegenwärtige Asylforschung ist ein auf den Komplex Flucht_Migration2 und Asyl bezogener Teil der Migrationsforschung. In ihren Anfängen beschäftigten sich zunächst insbesondere Jurist*innen und Politolog*innen mit Asylthemati ken. Erste Publikationen zu Asyl erschienen in den 1960er Jahren in der Rechtswissenschaft und beschäftigten sich mit Asylrechtsverfahren. Daraus entstand in den 1970er Jahren eine menschenrechts- und völkerrechtsbasierte Interpretation des internationalen Flüchtlingsrechts. In der Politikwissenschaft und in den Geisteswissenschaften wurden diese Themen erst ab den 1980er Jahren diskutiert (vgl. Kleist 2015 : 155). Dabei setzte man sich insbesondere nach dem Anwerbestopp mit Fragen der Aufnahme und sozialen Inklusion von Flucht_ Migrant*innen auseinander (vgl. u. a. Heckmann 1981). Mit dem 1990 in Kraft getretenen Schengener Abkommen setzte eine europäisch vergleichende Asylforschung ein, die sich nationalen Regelungen der Aufnahme, Anerkennung 2 Kaufmann et al. (2019 : 6) folgend wird Flucht und Migration nicht als Dichotomie verstanden. Der Unterstrich verweist auf das Spektrum zwischen Flucht und Migration und geht damit von der Unmöglichkeit einer klaren Abgrenzung verschiedener Migrationsformen und einer Unterscheidung in Zwangs- und Freiwilligkeitsgrade aus (→Flüchtling →Migration).
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und Abschiebung widmete (vgl. Bommes 2004 : 19). Zu Fragen des Umgangs mit Asylsuchenden gab und gibt es zahlreiche sozial- und kulturwissenschaftliche Studien. Hervorzuheben ist die kritische Bestandsaufnahme des Migrationsforschers Klaus J. Bade (1994), der sich mit Exklusions- und restriktiven Asylpraktiken infolge des Asylkompromisses beschäftigte. Seit den 2000er Jahren wird die interdisziplinäre Asylforschung von der sogenannten Regimeperspektive inspiriert. Asylregime sind Teil von Migrationsregimen, die durch eine spezifische Akteurskonstellation und unterschiedliche Aushandlungsorte von Asyl geprägt sind. So beschäftigen sich verschiedene Studien mit Asyl an Staatsgrenzen (vgl. Hess/Karakayali 2007 ; Nimführ 2020), da sich besonders die »EU-Außengrenzen zu den neuralgischen Räumen des EU-Flüchtlingsschutzes entwickelt« haben (Klepp 2011 : 392 ; Herv. i. Orig.). Asylregime werden auch auf lokaler Ebene alltäglich ausgehandelt, was zu einer »local production of asylum« führt (Hinger/Schäfer/Pott 2016). In wissenschaftlichen Analysen stehen dabei insbesondere der Spracherwerb (vgl. Blank 2019), Aushandlungen um die Bestimmung des Alters (vgl. Otto 2020), gesonderte Wohnformen (vgl. Muy 2016), die Aneignung von Raum (vgl. Ataç et al. 2015), rechtliche Rahmenbedingungen (vgl. Pichl 2017) und (Des-)Integrationsprozesse (vgl. Nimführ/Otto/Samateh 2017 ; Hinger/Schweitzer 2020) im Fokus. Anknüpfend an den beschriebenen Bedeutungswandel des Asylbegriffs ist der aktuelle wissenschaftliche Diskurs zunehmend geprägt von einer Diskussion um Zuerkennungskriterien von Asyl, die stark mit der GFK-Flüchtlingsdefinition zusammenhängt. Die Politologin Julia Schulze Wessel (2017) argumentiert, dass Menschen früher häufiger aus Verfolgerstaaten geflohen seien und heute eher aus zerfallenden Staaten fliehen würden. Aufgrund mangelnder Ressourcen und Möglichkeiten, geordnete Strukturen aufzubauen, könnten zerfallende Staaten nicht mehr der Schutzpflicht ihrer Bürger*innen nachkommen. Die Motive für eine Flucht_Migration lägen somit häufig eher in der Perspektivlosigkeit, in Hunger oder in der Gefährdung durch konkurrierende Gruppierungen als in dezidierter Verfolgung. Ähnlich verhält es sich mit Klimaflucht bzw. Umweltmigration, bei welcher Verfolgung als Kriterium ebenfalls nicht greift. Klimaexpert*innen zufolge werden in den nächsten Jahren Millionen von Menschen gezwungen sein, ihren Lebensort aufgrund des Klimawandels zu verlassen. Bereits in den 1970er Jahren wurde erstmals der Begriff des environmental refugee verwendet (Boano et al. 2008). In späteren Debatten wurde eine »mögliche völkerrechtliche Ausgestaltung eines Schutzmechanismus für Umweltflüchtlinge« (Klepp/Herbeck 2019 : 278) diskutiert. Schulze Wessel (2017) zufolge ist aufgrund sich verändernder
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Flucht_Migrationsgründe eine Ausweitung des Begriffs des GFK-Flüchtlings notwendig, da dieser zu eng gefasst und nicht mehr zeitgemäß sei.
Ausblick Die wohl größte Herausforderung von Asyl liegt sowohl in seiner praktischen Umsetzung als auch in seinem begrifflichen Gebrauch. Dabei geht »Asyl« in der Regel von Einzelfällen aus und wird nur transitorisch gedacht. Insbesondere in Teilen der Migrationsforschung wird deshalb die Frage, ob Flucht_Migration ein Menschenrecht ist oder sein sollte, diskutiert bzw. gefordert (→Migration). Offen bleiben allerdings die Frage der gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Bedeutungen und Zuschreibungen des Asylbegriffs und die zugrunde liegenden Lebensrealitäten. Die Klimaforschenden Silja Klepp und Johannes Herbeck (2019 : 281) sehen in Anbetracht des aktuellen Umgangs mit Konventionsflüchtlingen im globalen Norden die Erfolgsaussichten einer Neuschaffung einer Umweltflüchtlingskonvention eher kritisch. In diesem Zusammenhang argumentiert auch die Politikwissenschaftlerin Angela Oels (2010 : 7), dass trotz einer völkerrechtlichen Verankerung eines Schutzstatus die Anerkennung als Flüchtling sowie damit verbundene Rechte in der Praxis weiterhin verweigert werden könnten und der Asylstatus Betroffene in einem Ausnahmezustand verharren lasse.
Literatur Ataç, Ilker et al. (2015) : Kämpfe der Migration als Un-/Sichtbare Politiken. In : move ments – Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1(2), S. 1–18. Bade, Klaus J. (1993) : Multikulturalismus und Einwanderungssituation : Deutsche Probleme und atlantische Perspektiven. In : Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 40(9), S. 801–811. Bade, Klaus J. (1994) : Ausländer – Aussiedler – Asyl. Eine Bestandsaufnahme. München. Bade, Klaus J./Oltmer, Jochen (2010) : Mitteleuropa Deutschland. In : dies. et al. (Hg.) : Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. P aderborn, S. 141–170. Blank, Martina (2019) : Räume des Asyls. Deutschlernen und die Rolle von Raum für die lokale Aushandlung von Asylregimen. In : Johler, Reinhard/Lange, Jan (Hg.) : Konflikt feld Fluchtmigration. Historische und ethnographische Perspektiven. Bielefeld, S. 173– 188. Behrensen, Birgit (2017) : Was bedeutet Fluchtmigration ? Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis. Göttingen.
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Sarah Nimführ
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Konrad Köstlin
Brauch
Kurzdefinition »Ein Brauch erfordert eine bestimmte Regelmäßigkeit und Wiederkehr, eine den Brauch ausübende Gruppe, für die dieses Handeln eine Bedeutung erlangt, sowie einen durch Anfang und Ende gekennzeichneten Handlungsablauf, dessen formale wie zeichenhafte Sprache der Trägergruppe bekannt sein muß«, so lautet die Definition in einem Lehrbuch der Volkskunde (Bimmer 2001 : 45). Als Begriff taucht »Brauch« als Neologismus im 19. Jahrhundert auf. Bräuche markieren den Jahres- und den Lebenslauf, zugleich finden sich spezifische B räuche in Verbänden, unterschiedlichen Berufsgruppen, Zünften, Korporationen, Burschenschaften und Ständen. Die Charakterisierung als Brauch ist also an eine Reihe von Merkmalen gebunden. Verstanden als →Tradition stiften Bräuche →Identität und gelten als Ausdruck und Beleg für den Zusammenhalt einer Gruppe. Sie werden heute oft als folkloristische Ereignisse aufgeführt und als regionales Kennzeichen unter anderem im Tourismusgeschäft inszeniert.
Gesellschaftliche Situation Gesellschaftliches Zusammenleben kennt vielfältige Bräuche im Sinne regelmäßiger, nach einem festen Schema ablaufender Handlungsroutinen. Spricht man vom Brauch, dann sind immer die Spielregeln und Gewohnheiten einer Gruppe gemeint, nicht die einer Einzelperson. Bräuche entstehen in jedweden Lebenssituationen, sogar unter unmenschlichen Bedingungen. Aber auch das Verhalten von Tourist*innen an Mallorcas »Ballermann« kann als »Brauchtum« gefasst werden.1 So lässt der Begriff immer häufiger eine gesellschaftskritische oder spöttische Tendenz ahnen im Gegensatz zu anderen Begriffen regelmäßigen Verhaltens wie Routine, Ritual, Konvention, Usancen oder Gewohnheit.
1 Vgl. Frank, Arno : Leider geil. In : Der Spiegel, 28. Juni 2019. URL : https://www.spiegel.de/kultur/ leider-geil-a-c0c6543f-0002-0001-0000-000164646578 [30. März 2021].
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Konrad Köstlin
Bräuche begleiten den Übergang von einem Status im gesellschaftlichen Leben in einen anderen – wie im Falle der Taufe, Firmung, Kommunion, Konfirmation, Hochzeit, bei Tod und Begräbnis. Sie markieren Anfang, Höhepunkte und Ende des Lebens. Derartige Übergangsrituale (rites de passage) sind oft religiös konnotiert, werden heute aber auch von Gruppen, die sich als exklusiv verstehen wollen, praktiziert. Solche (dazu erfundenen) Initiationsriten agieren mit Regeln, mit Gelöbnis oder Schwur und sanktionieren deren Verletzung. Geheime Praktiken als Bräuche nutzen auch mafiose Verbände, Gangs oder jugendliche Bünde wie die Pfadfinder*innen, die →Tradition und →Gemeinschaft betonen. Ein anderer im gesellschaftlichen Leben vielerorts präsenter Brauchkomplex rankt sich um Fasching, Fastnacht, Karneval etc. Anlässe in dieser »fünften Jahres zeit« oder auch die Nacht zum 1. Mai (»Maisteige«, »d’ Maienacht isch a freie Nacht«) erlauben Überschreitungen des Reglementierten, suchen Verhältnisse von Macht und Abhängigkeit, von »oben« und »unten« durch kritisches Spiel (»Narrengericht«) im Sinne einer »verkehrten Welt« umzudrehen. Die scheinbar befreiende Entfesselung von den Regeln des Alltags bestätigt diese zugleich gerade im temporären Überschreiten. Der mit vielen Bedeutungen hochbeladene Termin des 1. Mai (»Der 1. Mai ist Rot«, »Walpurgisnacht«) zeitigt in Großstädten wie Berlin oder Paris regelmäßig angesagte Praktiken vom politischen Protest bis zu Gewalt. Anlässe für Bräuche finden sich zahlreiche und stetig neue : Inzwischen gibt es Feiern zum ersten Zahn oder zum Jahrestag des ersten Treffens zweier Menschen – alles kann als Erinnerung brauchfestlich begangen werden. Umzüge, Lärm, gemeinsames Essen und Trinken, spezielle Lieder wie an Weihnachten oder besondere Be- oder Verkleidung werden als den Bräuchen zugehörig notiert. Als zeitgenössische Sozialfigur wird ferner der Fan im Sportgeschehen gehandelt, dessen Verhaltensroutinen Journalismus und Wissenschaften immer wieder als »Bräuche« benennen. In Medien, Politik und Wirtschaftszweigen sind heutzutage regelrechte Brauchagenturen zu beobachten. Bräuche lassen sich speziell im Tourismus gut vermarkten, womit sie zugleich identitätsstiftend (→Identität) wirken sollen. So schreibt das offizielle österreichische Tourismusportal Austria Info auf seiner Webseite unter »Brauchtum und Tradition« : »Österreich ist ein faszinierender Glücksfall : Naturverbunden und gemütlich legt es zugleich Wert auf Tradition und Etikette, bringt Kontraste in Harmonie und vereint Gegensätze stilvoll zu einem sinnlich-genießerischen Ganzen.«2 2 Vgl. Offizielle Webseite der Österreichischen Tourismusinfo : URL : https://www.austria.info/de/ aktivitaeten/stadt-und-kultur/brauchtum-und-tradition [8. März 2021].
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Allgemein lässt sich eine Tendenz zu wachsender Nachfrage und entsprechendem Angebot von traditionell-ländlichen Idyllen beobachten (wie es beispielsweise Zeitschriften wie Landlust, die regionalen TV-Programme in Deutschland oder der Spartenfernsehsender Servus TV belegen), die mit einem offenbar vermehrten Bedarf nach Bräuchen korrespondieren. So bat der Kultursender Ö1 Ende des Jahres 2020 seine Hörer*innengemeinde »um Ihre akustischen Bodenproben«, um bäuerliche Mundarten und Dialektausdrücke, die sprachlich ins Wurzel- und Erdhafte weisen. In Wochenendbeilagen von Regionalzeitungen finden sich Beschreibungen von Bräuchen meist – wie auch im Fernsehen – der Unterhaltung zugeordnet. Als Basis regionaler →Identität verstanden, werden Bräuche vielfach mit öffentlichen Mitteln gefördert. Längst sind regionale Bräuche und traditionelle Lebensformen zum Gegenstand und Feld internationaler Politik geworden : Das von der UNESCO Anfang der 2000er Jahre ausgerufene immaterielle →Kultur erbe setzt auf Bräuche und traditionelle Praktiken und macht sie zu regionalen Markern der Distinktion (→Tradition).3 Die von den nationalen Kommissionen bestimmte Qualität im Sinne der Einmaligkeit und Auffälligkeit von Bräuchen ist Gegenstand regionaler, nationaler und übernationaler Wettbewerbe.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Die Begriffsgeschichte von Brauch und die gesellschaftlichen Bedingungen seines Gebrauchs sind eng miteinander verwoben. Die »Oeconomische Encyclopädie«, zwischen 1773 und 1858 von dem Naturwissenschaftler und Arzt Johann Georg Krünitz verfasst, benannte das Wort Brauch vor allem im Sinne von Gebrauch, so die »herkömmlichen Gebräuche und Ceremonien, so bei den Kirchendiensten, als auch bei andern feierlichen Handlungen beobachtet zu werden pflegen« (Krünitz 1773). In der Archivüberlieferung findet man in historischen Polizeiakten Hinweise auf »Katzenmusik« und »Rügebräuche« als Aktionen gegen alle Arten von Obrigkeiten, aber auch über Vergütungen etwa für das Dreikönigssingen. Die katholische Kirche kritisierte in Visitationsprotokollen die »Unzucht« junger Leute anlässlich von Wallfahrten. Das Wort Brauch mutet heute altmodisch an, seine Kontur bildete sich aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus und gewann mit der →Moderne zu3 Vgl. UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes. URL : https://www.un esco.at/kultur/immaterielles-kulturerbe/die-unesco-konvention [30. März 2021].
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nehmende Bedeutung. Wo der Sohn eines Schusters nicht mehr davon ausgehen konnte, dass er als Schuster sein Leben würde fristen können, und Meister wie Schneider zu Flickschneidern wurden, als Konfektionsware zum gewöhnlichen Handelsgut wurde, hielten Handwerkerzünfte und Gilden besonders zäh an ihrem »Brauchtum« fest, das ihnen helfen sollte, ihren Status zu bewahren. Bräuche lassen sich insofern als Inszenierung einer vergangenen Ordnung verstehen, die wie ein Symbol der Überschaubarkeit aus einer vergangenen, »heilen« Welt erzählen. Eingebettet sind Bräuche in ein semantisches Umfeld, zu dem begriffsgeschichtlich auch »Sitte und Brauch«, →Gemeinschaft, »Stamm« und »Volkstum« (→Volk), →Tradition, später auch →Volkskultur und →Heimat gehören. Infolge des nationalistischen Aufbruchs Mitte des 19. Jahrhunderts wurden über diese Kategorien Gemeinsamkeiten konstruiert (→Nationalstaat). Der nationa listische Vordenker »Turnvater Jahn« verstand unter »Volksthum«, das er als »Kunstwort« geformt hatte, das »in jedem Volke unnennbare Etwas« und beließ so dessen Konkretion offen (Jahn 1810 : 4). Volkstum sollte sich anfangs durchaus revolutionär als Versuch der Erneuerung gegen Fremdherrschaft, Dynastien und Kirche richten. Analog zu »Volkstum« wurde als Gattungs- und Sammelbegriff für routinisierte, kollektiv gebundene Handlungsabläufe in diesem Zusammenhang das Wort Brauchtum kreiert, das das »Deutsche Wörterbuch« der Brüder Grimm 1860 noch nicht kannte. Mit Begriffen wie dem Brauch wurde zunehmend eine Stimmung verbalisiert, die die Vertreter des Germanischen in der Imagination von →Gemeinschaft und Volkstum (→Volk) hergestellt hatten. Die neue Disziplin mit dem Namen Germanistik, von der auch die spätere Volkskunde Impulse erhielt, sollte als Produzentin einer neuen Herkunftsgeschichte das gesamte Feld der →Kultur behandeln, so wie sich dann Slawistik, Romanistik, Skandinavistik oder Finno-Ugristik als sprachlich grundierte Kulturwissenschaften mit ähnlichen Begründungen ausbildeten. Den gesellschaftshistorischen Hintergrund für diese Entwicklungen bildeten die nationalistischen Bewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts, die sowohl politische Grenzen forcierten als auch kulturelle Gemeinsamkeiten erfanden und betonten (→Nationalstaat). Dies ging mit einem umfassenden geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel einher : War noch bei Winckelmann und Goethe die griechisch-römische Antike als Wiege der europäischen Kultur kanonisiert worden (→Europa), wurde nun Germanisches als nationaler Ursprungsmythos etabliert (→deutsch). Die Deutung und Nutzung der Vergangenheit diente gesellschaftspolitischen Zielen : →Gemeinschaft wurde gegen Gesellschaft, Stand wurde gegen Klasse gesetzt, Kollektives gegen das Individuelle. Ende des 19. Jahr-
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hunderts galten Bräuche – wie auch Trachten und Lieder – als →Volkskultur und in diesem Sinne als »national«. Ohne diese politische Genese gäbe es viele Bräuche heute so nicht (mehr), gäbe es weniger »Volkskultur« als distinktives Kapital. »Brauch« war als nationaler Ausdruck gemeinschaftlicher Homogenität also Teil der germanistischen Offensive. Vor allem im Nationalsozialismus wurde die vergemeinschaftende (→Gemein schaft) Eigenschaft von Bräuchen erkannt. Das Regime forcierte, unterdrückte, veränderte und verengte Bräuche in seinem Sinne. So wurde der Maibaum flächendeckend als »germanischer Lebensbaum« propagiert. Auch Weihnachten war (und blieb) seiner Zentralität und seines christlichen Gehalts wegen ein Problem für das Regime. An ihm bastelten das Amt Rosenberg wie auch die SS mit Versatzstücken aus Bündischem und völkisch-nordischer Mystik und schufen eine »Deutsche Weihnacht«, um das wichtige Familienfest mit den nationalsozia listischen Leitideen vereinbar zu machen. Mit Sammlungen für das Winterhilfswerk und anderen Gemeinschaftsaktionen oder mit »Weihnachtsringsendungen«, in denen ausgesuchte Soldaten aus besetzten Ländern berichteten, suchte man Weihnachten als ein »Fest des ganzen Volkes […] über Klassen, Stände und Konfessionen hinweg« (Foitzik 2001 : 161) zu inszenieren. Die Wichtigkeit der Bräuche für das Regime erhellt sich auch daraus, dass diese (mit Ausnahme der religiösen) in umfangreichen Erhebungen wie im Falle Südtirols erfasst wurden. Die gewohnten Bräuche sollten bei der Umsiedlung der deutschsprachigen Minderheit in Italien in noch zu erobernde Länder im größer gewordenen »Reich« wieder zur Verfügung stehen.
Wissenschaftsgeschichte(n) Wie in den vorausgehenden Ausführungen bereits deutlich wurde, ist Brauch als Begriff und vielfältige Praxis heute im Alltag in unterschiedlichen Milieus und Kontexten präsent. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bräuchen ist eng an die beschriebenen nationalistischen Einigungsbewegungen geknüpft. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm spielten in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle, indem sie »Germanisches« zusammentrugen. Sie waren damit der romantischen Erfindung des »Deutschen« (→deutsch) gefolgt – und dazu gehört speziell auch das genannte Begriffsinventar rund um »Brauch«, das auch für die spätere wissenschaftliche Disziplin der Volkskunde richtungweisend werden sollte. »Volksdichtung« galt seit Johann Gottfried Herder als Kulturleistung des nationalen Kollektivs →»Volk« und eröffnete bewährte Muster, Herkunftsgeschichten zu
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erzählen. Legitimität gewannen diese aus der Feder von Wissenschaftler*innen. Eine neue Klasse, die »Intellektuellen«, offerierte in diesem Sinne ihr Denken als Fakten. Auf dem Ersten Germanistentag, zu dem Jacob Grimm 1846 nach Frankfurt am Main geladen hatte, fanden sich Historiker, Juristen und Sprachwissenschaftler als »Germanisten« ein. Sie sahen das germanische Recht nahe beim als naturhaft verstandenen Brauch angesiedelt. Jacob Grimm schrieb »Von der Poesie im Recht« dort, »wo man recht und brauch noch nicht so wie heute unterschied« (Grimm 1815 : 37). Die Poesie des Rechts sah er in einem kollektiven Schöpfungsakt durch den »Volksgeist« begründet. Indem sie die Schöpferkraft im Volke ansiedelten, entwarfen Deutsche Philologie, Literatur, Geschichte und Jurisprudenz eine Herkunftsgeschichte als nationale Erinnerungskultur (→Nationalstaat). Diese Deutung wurde auch publizistisch ausgebaut. Brauch, als Vorform des Rechts verstanden, wurde in dem Bild von der (damals männlich dominierten) →Gemeinschaft zur Alternative eines als bedrohlich empfundenen Gesellschaftswandels (→Moderne). Merkmale des Brauchs unterscheiden sich je nach Kontext. Der Soziologe Max Weber schlug in seinen »Soziologischen Grundbegriffen« (1922) vor, Brauch mit Mode gleichzusetzen, was zur Theoretisierung des Brauchbegriffs jedoch nicht aufgegriffen wurde, wohl weil Mode damals als »flatterhaft« verstanden, der Seriosität und vermeintlichen Stabilität des Brauches nicht an die Seite gestellt werden sollte. Wissenschaftsgeschichtlich war vor allem die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende und sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich auch an Universitäten als eigenständiges Fach etablierende Volkskunde – neben der Völkerkunde bezogen auf außereuropäische Gesellschaften – für die Befassung mit Bräuchen zuständig. Sie schöpfte ihr Wissen aus archivalischen Zeugnissen, die vielfach von der Obrigkeit confirmiert, bestätigt und damit auch überprüft werden mussten. Insgesamt bekräftigte sie Brauch sowohl als Idee und Begriff einer konservativen, antimodernen Stimmung als auch als Angebot moderner identitätsbildender Praxis (→Identität). Vor allem innerhalb der Volkskunde entwickelte sich eine konzeptionelle Auslegung von Bräuchen, die zunächst zwischen Wunsch und Wirklichkeit oszillierte. Der Volkskundler Viktor Geramb hatte sein Werk »Deutsches Brauchtum in Österreich« (1924) mit dem Untertitel versehen, es solle »Ein Buch zur Kenntnis und Pflege guter Sitten und Bräuche« sein. 1948 wurde daraus das »Handbuch zur Kenntnis und Pflege guter heimischer Volksbräuche«. Impulse aus dieser frühen Zeit reichen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Generell war die Brauchforschung aus der Intention motiviert, Bräuche zu erhalten und zu »pflegen«. »Volk im Sinne der Volkskunde« war als pädagogisierende Idee
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der Wissenschaft nicht nur im Nationalsozialismus vielfach bestimmend. Mit ihren Beschreibungen diktierte die Volkskunde, wie das →Volk, wie die Menschen und ihre Bräuche sein sollten, um Ausdruck einer romantisierten Volksgemeinschaft zu sein (→Gemeinschaft). Nicht in dieses Raster passende Bräuche hatten zwar, in Gerichtsprotokollen beschrieben oder von den Obrigkeiten bekämpft, ihren Weg in wissenschaftliche Archive und wissenschaftliche Abhandlungen gefunden ; sie waren – wie auch anzügliche »Volkslieder« – zwar gesammelt, aber nur selten in gedruckte Sammlungen von »Volksbräuchen« aufgenommen worden. Der Klappentext der Aufsatzsammlung »Brauchforschung« aus dem Jahr 1991 belegt die anhaltende Relevanz des Untersuchungsfeldes für das Fach : »Zu den ureigensten Forschungsgegenständen der Volkskunde gehört seit je die Beschäftigung mit ›Brauch‹ und ›Sitte‹« (Scharfe 1991 : Klappentext). Insbesondere die Auseinandersetzung mit Formen sozialen Handelns und seinen Funktionen stehen hier im Fokus. Dies unterstreichen die 3.587 Titel, die die Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann für die Jahre 1945–1970 zum Lemma Brauch zusam mengetragen hatte (Weber-Kellermann 1973). Im akademischen Bereich gilt das Wort Brauch mittlerweile nicht nur als veraltet und unwissenschaftlich, sondern als missbraucht, als anrüchig. Dies hat mit der oben skizzierten Begriffsgeschichte und seiner besonderen Bedeutung als Baustein der nationalsozialistischen Ideologie und Politik zu tun. Dennoch ist für neu entstehende Formen von Gemeinsamkeiten, die mehr als bloße Routinen sind, an die deutlich sichtbare und gut belegbare historische Beweglichkeit von Bräuchen zu erinnern. Im Mikrokosmos des Alltags spürt die heutige Europäische Ethnologie Veränderungen der Usancen, Gewohnheiten und der Mehrdeutigkeiten von Bräuchen nach, die sich in Migrationsgesellschaften entwickeln (→Migration). Kulturwissenschaften deuten und erzählen die Gesellschaft kulturell, als Geschichte über das »Eigene« und das »Fremde«, als das, was Menschen als gemeinsam und als anders ansehen und wie sie damit historisch und in gegenwärtigen Alltagen umgehen. Dabei stellt die Forschung mittlerweile wissenschaftsgeschichtliche Analysen an und setzt sich reflexiv und kritisch mit ihrer eigenen Rolle im Gesellschaftsprozess auseinander : Wie kommen Wissen und seine Begriffe als kulturelle Konstitution zustande ? Woher also wissen Menschen, was sie wissen, und wer hat ihnen in welchem Interesse welche Geschichte(n) erzählt ?
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Ausblick Die in der Wissenschaft häufig zu beobachtende Abkehr vom Begriff Brauch und sein Ersetzen durch das Wort Ritual klingt zwar gelehrt und mag dem Missbrauch im Nationalsozialismus geschuldet sein, bedarf aber der genauen Abwä gung. Das Ritual ist – auch im heutigen Sprachgebrauch und abseits seiner religiösen Denomination – auch für das Individuum praktikabel. Ein Mann kann seine morgendliche Rasur zum individuellen Ritual stilisieren. Die Idee des Brauches aber besticht dadurch, dass Bräuche einer Gruppe bedürfen, sich historisch und alltagspraktisch als elastisch erweisen und, weil von Menschen gemacht, auch von Menschen in ihren Alltagen gemeinsam verändert werden. Der Begriff Ritual lehnt individuelle wie kollektive Handlungen an das Sakrale an und nobilitiert sie. Der Diagnose einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2017), die die Einzigartigkeit und Besonderheit von Individuen, aber auch von Kollekti ven und Ereignissen als Kennzeichen der Gegenwart betont, lassen gemeinschaftsbezogene Bräuche obsolet erscheinen. Doch auch in segmentierten und individualisierten Gesellschaften bilden sich Ad-hoc-Gemeinschaften (etwa als one-issue-movements), stellen sich Regelmäßigkeiten ein, die Bräuche genannt werden im Sinne von Gewohnheiten, Routinen, Praktiken mit unterschiedlicher Verbindlichkeit, offener Dauer und losgelöst von der Prämisse der Territorialität. Mit der →Moderne, die gesellschaftliche Transformationen und eine erhebliche Beschleunigung benennt, erfährt der Bedarf nach Fundierungen und f esten Rahmungen sogar Konjunktur. Die Zunahme an Jubiläen (und der Pflege von Bräuchen als »Brauchtumspflege«) seit dem 19. Jahrhundert wie das von der UNESCO etablierte immaterielle →Kulturerbe mögen als Beispiele dafür stehen, wie gesellschaftliche Kontinuitäten reklamiert werden. Das als »Erbe« ausgestellte Gebräuchliche einer Gesellschaft und Zeit wird zum Alleinstellungsmerkmal erklärt. Die Brüder Grimm hatten erkannt und darauf hingewiesen, dass Sprache als Medium der Herstellung von Bedeutung zentral sei : »was haben wir denn gemeinsames als unsere sprache und literatur ?« (Grimm 1854). Sie hatten verstanden, dass ihr philologischer Germanismus eine epochale kulturelle Wissensformation ausbildete, über die sich heute nachzudenken lohnt. In manchem erinnert die →Angst vor Veränderungen im 19. Jahrhundert an das heutige Interesse an →Heimat und Bräuchen als Konstanten, die, aus der Vormoderne heraufscheinend, wegleitend sein könnten. Für die Forschung hieße dies, den
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Fokus auf unsere eigene Implementierung der Vergangenheit in die Gegenwart zu untersuchen, statt die Vergangenheit der Gegenwart zu rekonstruieren.
Literatur Bimmer, Andreas C. (2001) : Brauchforschung. In : Brednich, Rolf W. (Hg.) : Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3. Auflage. Berlin, S. 445–468. Geramb, Viktor (1926) : Deutsches Brauchtum in Österreich - Ein Buch zur Kenntnis und zur Pflege guter Sitten und Bräuche. Graz. Grimm, Jacob (1815) : Von der Poesie im Recht. In : Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2(1), S. 55–99. Grimm, Jakob (1854) : Vorrede. In : Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 1, Spalte I–LXVIII. Leipzig. Jahn, Friedrich Ludwig (1810) : Deutsches Volksthum. Lübeck. Krünitz, Johann Georg (1773) : Oekonomische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft und der Kunst-Geschichte in alphabetischer Ordnung. Berlin. URL : kruenitz1.uni-trier.de [26. März 2020]. Reckwitz, Andreas (2017) : Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin. Scharfe, Martin (Hg.) (1991) : Brauchforschung. Darmstadt. Weber, Max (1992) : Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen. Weber-Kellermann, Ingeborg (1973) : Brauch und seine Rolle im Verhaltenscode sozialer Gruppen. Eine Bibliographie deutschsprachiger Titel zwischen 1945–1970. Marburg.
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Demokratie
Kurzdefinition Demokratie bedeutet kollektive Selbstbestimmung als politisches Prinzip und benennt eine Staatsform. Ihr Zweck ist es, politische Entscheidungen nach dem Willen der Bürger*innen zu bilden. Neben dieser eher abstrakten Bedeutung gibt es jedoch große Unterschiede zwischen antiken und modernen Demokratievorstellungen. Gegenwärtig ist in Öffentlichkeit und Wissenschaft umstritten, worauf sich Demokratie bezieht, welche Verfahren mit ihr verbunden sind und wer zum demos – also zum Staatsvolk – gehört.
Gesellschaftliche Situation Westliche Industriegesellschaften erleben sei ca. 20 Jahren die Gleichzeitigkeit einer fortschreitenden Entdemokratisierung und Demokratisierung. Insbesondere sind durch den Machtzuwachs internationaler (Finanz-)Märkte, Internationaler Organisationen wie die WTO und die Weltbank sowie supranationaler Gebilde wie die Europäische Union die Entscheidungskompetenzen gewählter Politiker*innen erheblich eingeschränkt worden (→Globalisierung →Europa). Zugleich hat in den vergangenen Jahren eine wahre Explosion neuer Verfahren der Bürger*innenbeteiligung stattgefunden, etwa durch die Einführung von Referenden, Bürger*innenhaushalten oder gelosten Bürger*innenversammlungen. Auch werden Forderungen nach einer Ausweitung demokratischer Rechte etwa auf Nichtinländer*innen oder zukünftige Generationen immer lauter (→Migrationshintergrund). In der Semantik der »Demokratisierung« ist die Demokratie im Prinzip ein nie endender Prozess, bei dem ihre Grenzen und Ziele immer wieder neu diskutiert werden müssen. »Demokratie« und »demokratisch« sind zudem zu Kampfbegriffen in der Auseinandersetzung mit Protestbewegungen und -parteien geworden, die als »populistisch« (→Populismus) bezeichnet werden, selbst aber in Anspruch nehmen, die Interessen des →Volkes zu vertreten. »Demokratisch« und »nichtdemokratisch« stellen im gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart mithin Synonyme für »gut« und »schlecht« dar.
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Dem etymologischen Ursprung im antiken Griechenland zufolge bedeutet demokratia »Macht des Volkes«. Diese gilt als das Gegenteil von Tyrannei und Sklaverei. Die begriffliche Kombination von →Volk (demos) und Macht (kratos) ist eine optimistische Aussage zur kollektiven Stärke eines demos. Während monarchia oder oligarchia die Frage, wie viele Menschen herrschen, dem Namen nach beantworten (einer oder wenige), ist der demos aber eine umfassende Gesamtheit, deren Größe unbestimmt ist. Während es sich bei den antiken Herrschaftsformen mit dem Suffix -archie (wie Monarchie oder Oligarchie) um Herrschaft als staatliches Amtsmonopol handelt, ist dies beim kratos anders. Kratos bezeichnet keine konkrete Amtsgewalt, sondern eine unspezifischere Form politischer Macht und benennt in keiner Kombination (wie demokratia oder aristokratia) die Zahl der Amtsinhaber. Vielmehr beschreibt es die Qualität des Regierungsprinzips (etwa die Herrschaft der »Besten« in der Aristokratie). Dabei ist der demos-Begriff inklusiv und bezieht sich auf alle potentiellen Machthabenden, die als Kollektiv politisch handeln. Dies wurde im antiken Athen verstanden als die gleichberechtigte Partizipation der Bürger*innenschaft, als →Identität von Herrschenden und Beherrschten oder das abwechselnde Regieren und Regiertwerden, mit einem von Geburt, Vermögen und Eigentum unabhängigen Partizipationsrecht (vgl. Ober 2017). Demokratie und demokratisch waren immer auch Kampfbegriffe zur (De-) Legitimierung der Herrschaft der Vielen. Im antiken Schrifttum wurde Demokratie oft als Chaos bezeichnet (vgl. Aristoteles 1995 [1279] : b 34–80 a 4). Da das →Volk selbst in der Volksversammlung per Mehrheitsbeschluss zentrale Beschlüsse verabschiedete und die Mehrheit des demos aus den Armen eines Landes bestand, kann man Demokratie als Macht der Vielen, der Nichtbesitzenden bezeichnen. Gleichwohl umfasst der demos-Begriff auch eine umfangreiche, aber unspezifische Gesamtheit, die sich nicht auf eine Zahl, Eigentumsverhältnisse, Geburt etc. reduzieren lässt. Daher bleibt der Demokratie eine Doppeldeutigkeit inhärent. Bis in die Aufklärung wurde die Demokratie von Gelehrten meist negativ bewertet. Erst im 17. Jahrhundert wurde bei dem Philosophen Baruch de Spinoza der klassische Demokratiebegriff aufgewertet. Zudem beziehen sich einige Denker positiv auf demokratische Elemente, ohne sie als solche zu benennen, wie der Philosoph Jean-Jacques Rousseau. In seinem Republikanismus eines kleinen, homogenen Agrarstaates wird der Gemeinwille direktdemokratisch realisiert. Auch manche Staaten benutzten schon im Zeitalter der Aufklärung demokrati-
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sche Entscheidungsverfahren, wie die Schweiz oder die Niederlande. Gleichzeitig wurde die Demokratie im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts auch diskreditiert, etwa indem sie vor allem von konservativen und liberalen Kräften bis ins 19. Jahrhundert mit dem jakobinischen Terror der Französischen Revolution assoziiert wurde. Mit den bürgerlichen Revolutionen änderte sich aber auch das Verständnis von Demokratie. Galt es im klassisch-griechischen Stadtstaat noch als demokratisch, wenn die Menge sich selbst versammelte und regierte, gilt im modernen →Nationalstaat die Wahl von Repräsentant*innen als demokratisch, die im Namen des →Volkes politische Entscheidungen treffen. Diese Transformation ist insofern erstaunlich, als das liberal-repräsentative Modell ursprünglich von demokratiekritischen Vordenkern der bürgerlichen Revolutionen (wie bei den Autoren der US-amerikanischen »Federalists Papers« oder Joseph Emmanuel Sieyès, einem der Haupttheoretiker der Französischen Revolution) stammt, die ein solches System gerade als nichtmonarchischen Schutz vor zu viel Volksmacht entworfen hatten. Ihnen galt Demokratie als Anarchie und Mehrheitstyrannei, als Willkürherrschaft der armen Massen. Selbst im 19. Jahrhundert bediente noch der Philosoph und Politiker Alexis de Tocqueville antidemokratische Reflexe der Liberalen, wenn er eine »Tyrannei der Mehrheit« fürchtete und die Volksmacht streng reguliert sehen wollte (vgl. Tocqueville 1976). Doch Demokratie wurde nun nicht länger schroff abgelehnt, sondern als repräsentative Elitenherrschaft mit Eigentumsschutz umgedeutet. Verstand man in der Antike unter Demokratie eine Gleichheitsordnung eines autonomen Kollektivs, wurde Demokratie unter dem Vorzeichen des Liberalismus in der →Moderne zu einer Ordnung der negativen Freiheit, also von individuellen Schutzrechten vor der Einmischung des Staates oder Dritter (vgl. Dunn 2006 ; De Dijn 2020). Somit unterscheiden sich beide Varianten grundlegend, da im modernen Fall das →Volk seine Macht an Eliten delegiert. Aus der liberal-repräsentativen Regierungsform konnte dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Massendemokratie werden, in der die Interessen von Parteiapparaten organisiert wurden, sodass es zu einem Wettbewerb von Parteien und Politiker*innen kam, wobei die Wahl als das geeignete Mittel der Elitenrekrutierung klassifiziert wurde (vgl. Schumpeter 2000 [1940]). Heute gilt die Demokratie nahezu universell als →Wert, assoziiert mit Rechtsstaatlichkeit und nomineller Volkssouveränität. Zugleich hat der Demokratiebegriff aber auch einen normativen Überschuss, geht mit ihm doch trotz aller semantischen Verschiebungen immer noch das Versprechen auf eine politische Gleichheit der Bürger*innen einher.
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Wissenschaftsgeschichte(n) Die zuletzt erwähnten Elitentheorien der Demokratie, die die politische Beteiligung der Bürger*innen auf die periodische Wahl von Repräsentant*innen beschränkt wissen wollten und darüber hinaus eher auf eine Begrenzung der Macht des demos abzielten, dominierten auch die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Downs 1957) bis in die 1980er Jahre (vgl. Sartori 1987). Doch diese liberal-konservativen Ansätze sahen sich sowohl in der politischen Praxis als auch in der wissenschaftlichen Diskussion mit Forderungen nach einem »Mehr« an Demokratie konfrontiert. Ein erster Forschungsschwerpunkt in den 1970er Jahren fokussierte die Frage der Demokratisierung weiterer gesellschaftlicher Bereiche, insbesondere der Wirtschaft, der Arbeitswelt und der Bildungseinrichtungen. Gesellschaftliche Forderungen nach mehr Demokratisierung manifestierten sich in Theorien der »starken« oder »radikalen« Demokratie (Barber 1996). In den 1980er und 1990er Jahren bildeten feministische Demokratietheorien einen zweiten Forschungsschwerpunkt. Ausgehend von der empirisch begründeten Annahme eines Gendergap in modernen Demokratien ist ihr Ziel die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen und »weiblichen Perspektiven« in den politischen Prozess (→Geschlecht/Gender) (vgl. Holland-Cunz 1998). Aus einer dritten Debatte, die zu Inklusion geführt wurde, entwickelten sich Konzepte der multikulturellen Demokratie (vgl. Kymlicka 1995). Ausgehend von der Beobachtung, dass Minderheiten in liberalen Demokratien in vielerlei Hinsicht diskriminiert und nicht adäquat repräsentiert werden, zielen diese Konzepte darauf ab, die unterschiedlichen kollektiven →Identitäten in die politische Sphäre zu integrieren, etwa durch spezielle Mechanismen der Gruppenrepräsentation wie Quoten oder Vetorechte (vgl. Young 1990). In jüngeren Überlegungen wird zudem für eine Einbeziehung von Kindern, zukünftigen Generationen oder Säugetieren (vgl. Kymlicka/Davidson 2013) in den demokratischen Prozess plädiert. Schaut man hingegen nicht auf die Frage nach dem »Was« der Demokratisierung, sondern nach den Pfaden, um ein »Mehr an Demokratie« zu erreichen, so gibt es insbesondere zwei Positionen, die momentan die demokratietheoretische Diskussion prägen : Theorien der deliberativen Demokratie und radikale Demokratietheorien. Der Aufstieg der Theorie der deliberativen Demokratie in den letzten drei Jahrzehnten hat gezeigt, dass die Frage der Rationalität politischen Entscheidens deutlich an Relevanz gewonnen hat. Das deliberative Geben und Nehmen von Argumenten zielt auf die Überwindung partikularer Interessen ab. Die Erwar-
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tung ist, dass im deliberativen Prozess alle Argumente, die nur privaten Zielen dienen, eliminiert werden könnten. Aus diesem Grund behaupten die Befürworter*innen der deliberativen Demokratie, dass ihre Ergebnisse einen höheren Grad an Legitimität hätten als Wahlen und Abstimmungen (vgl. Bohman/Rehg 1997). Radikale Demokratietheorien begegnen der Gleichsetzung von Demokratie und Rationalität dagegen mit großer Skepsis und heben die Rolle der k ollektiven Leidenschaften hervor (vgl. Mouffe 2007). Grundlegend für diese Ansätze ist eine Unterscheidung zwischen der gewöhnlichen, Herrschaftsstrukturen reproduzierenden Parteipolitik und jenen Momenten des Politischen, in denen die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen herausgefordert oder überwunden werden. Das Politische als Ausdruck einer radikalen Demokratie besteht mithin in der Infragestellung grundlegender politischer wie sozialer Herrschaftsstrukturen (vgl. Flügel-Martinsen 2020). Die Frage nach den Pfaden der Demokratisierung steht auch im Zentrum der Debatte über die räumliche Erweiterung demokratischer Herrschaft. Es lassen sich zwei Richtungen innerhalb der Debatte über Demokratie in der globalen Ordnung ausmachen. Die erste Gruppe von Autor*innen versucht, die Institutio nen der nationalen Demokratie, wie Parlamente, Parteien und Gewaltenteilung, auf die supranationale und globale Sphäre zu übertragen. Für die Verfechter*innen einer kosmopolitischen Demokratie ist daher ein Weltparlament erstrebenswert. Dieses Parlament soll von allen Bürger*innen der Welt (zumindest jenen der demokratischen Staaten) gewählt werden und das Recht haben, weltweit gültige Gesetze zu erlassen. Einige Autor*innen propagieren sogar die Idee eines Weltstaates und damit einer Weltregierung, um globale Gerechtigkeit und demokratische Forderungen durchzusetzen (vgl. Held 1995). Eine zweite Gruppe erarbeitet angesichts des Demokratiedefizits des globalen Regierens ein neues Verständnis von Demokratie. Ausgehend vom Postulat einer wachsenden globalen Öffentlichkeit und einer zunehmenden Konstitutionalisie rung werden internationale Nichtregierungsorganisationen als wesentlicher Bestandteil einer neuen demokratischen Weltordnung gesehen. Dabei wird oftmals an die deliberative Demokratietheorie angeknüpft. Inspiriert vor allem durch den Philosophen Jürgen Habermas (1998) stützen sich einige Autor*innen auf die epistemischen Funktionen transnationaler Entscheidungsgremien (vgl. Bohman 2007). Eine andere Möglichkeit, die sich verändernde Realität der Demokratie im Zeitalter der →Globalisierung zu erfassen, eröffnet der Soziologe Colin Crouch (2008), der die politischen Systeme des Westens als »Postdemokratien« beschreibt.
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Crouch zufolge existieren die genuin demokratischen Institutionen wie das Parlament, regelmäßige Wahlen, Parteienwettbewerb und Rechtsstaatlichkeit zwar weiterhin. Dennoch würden diese Institutionen durch die Prozesse der →Globalisierung und die Schwächung der Fähigkeit des Staates, die Wirtschaft zu regulieren, sukzessive untergraben. Dies führe nicht nur dazu, dass zentrale demo kratische Wege der politischen Entscheidungsfindung im Neoliberalismus an Bedeutung verlören, sondern auch zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten globaler Eliten. Die wichtigsten Folgen dieser neuen Machtstruktur sind der Niedergang der egalitären Politik und die Ausbreitung des politischen Marketings.
Ausblick Die Idee der Demokratie wird immer wieder neu gedacht. Das liegt an ihrer diskursiven Hegemonie : Der Begriff ist fast zur universellen Norm geworden, um dessen Deutungshoheit Wissenschaftler*innen sowie politische Akteur*innen konkurrieren. Das Attribut »demokratisch« kann also einerseits legitimierend wirken, andererseits ist der Kern dessen, was demokratisch sein soll, relativ vage und politisch umstritten. Im Angesicht der zunehmenden Entdemokratisierung oder Oligarchisierung von Politik wirken die akademischen Diskurse um eine Erweiterung der Demokratie, die oben erwähnten Verfahren von mehr Bürger*in nenbeteiligung und die normative Selbstvergewisserung der eigenen Position als demokratisch zunehmend wie eine bloße Simulation einer Demokratie in postdemokratischen Zeiten (vgl. Blühdorn 2013). Auf einer grundlegenden Ebene lässt sich zudem bezweifeln, ob moderne, pluralistische wie bürokratisierte Gesellschaften mit hyperkomplexen Regelungsbedarfen überhaupt demokratisch sein können (vgl. Greven 2012). Schließlich existiert in modernen Marktgesellschaften eine große Dichotomie zwischen formeller rechtlicher Gleichheit und sozioökonomischer Ungleichheit, die demokratische Prozesse verunmöglicht. Die Rede von der Demokratie war so gesehen in der →Moderne schon immer Betrug.
Literatur Aristoteles (1995 [1279]) : Politik. In : Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 4. Darmstadt.
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Barber, Benjamin (1984) : Strong Democracy : Participatory Politics for a New Age. Berke ley. Blühdorn, Ingolfur (2013) : Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Frankfurt am Main. Bohman, James (2007) : Democracy across Borders. From Demos to Demoi. Cambridge. Bohman, James/Rehg, William (Hg.) (1997) : Deliberative Democracy : Essays on Reason and Politics. Cambridge. Crouch, Colin (2008) : Postdemokratie. Berlin. Dijn, Annelien de (2020) : Freedom. An Unruly History. Cambridge. Downs, Anthony (1957) : An Economic Theory of Democracy. New York. Dunn, John (2006) : Setting the People Free. The Story of Democracy. London. Flügel-Martinsen, Oliver (2020) : Radikale Demokratietheorien zur Einführung. H amburg. Greven, Michael Th. (2012) : War die Demokratie jemals »modern« ? Oder : Des Kaisers neue Kleider. In : Vorgänge 3, S. 92–100. Habermas, Jürgen (1998) : Die Postnationale Konstellation. Frankfurt am Main. Held, David (1995) : Democracy and the Global Order. Cambridge. Holland-Cunz, Barbara (1998) : Feministische Demokratietheorie. Thesen zu einem Projekt. Opladen. Kymlicka, Will (1995) : Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford. Kymlicka, Will/Donaldson, Sue (2013) : Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin. Mouffe, Chantal (2007) : Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt am Main. Ober, Josiah (2017) : Demopolis – oder was ist Demokratie ? Darmstadt. Sartori, Giovanni (1987) : The Theory of Democracy Revisited. Chatham. Schumpeter, Joseph (2000 [1940]) : Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Stuttgart. Tocqueville, Alexis de (1976) : Über die Demokratie in Amerika. 2 Bde. München. Young, Iris Marion (1990) : Justice and the Politics of Difference. Princeton.
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Kurzdefinition Das Adjektiv deutsch bezieht sich überwiegend auf Deutschland als Nation und bezeichnet die Zugehörigkeit zu diesem Staat oder die Zuständigkeit des Staates. Mit der Bezugnahme auf die deutsche Sprache und manchmal auch auf deutsche Literatur werden die Staatsgrenzen überschritten. In der Benennung von Institutionen ist deutsch ein neutraler Hinweis auf den Geltungsbereich und wird als Teil des Namens meist nicht weiter reflektiert, wie bei »Deutscher Städtetag« oder »deutsches Strafrecht«. Mit dem Wort können aber auch weitere Konnotationen abgerufen werden, die inhaltliche Unterschiede gegenüber anderen Nationen betonen (»deutsches Rechtswesen«) und häufig Überlegenheit unterstellen (»deutsche Zähigkeit«), aber auch Kritik implizieren können (»deutsche Bürokratie«). Diese Weiterungen lassen sich im historischen Wandel verfolgen, bestimmen aber auch aktuelle Kontroversen.
Gesellschaftliche Situation Die Fußballweltmeisterschaft der Männer wurde 2006 in Deutschland organisiert und ausgetragen und als sogenanntes deutsches Sommermärchen g efeiert. Die Begeisterung erreichte ein ungeahntes Ausmaß. Sie galt der deutschen Mannschaft, die den dritten Platz einnahm ; aber sie wandte sich auch den ausländischen Sportlern und Besucher*innen zu – die »deutsche Gastfreundschaft« wurde in allen Reportagen herausgestellt (Gervers 2018). In Berichten wurden vereinzelt »deutsche Tugenden« gepriesen, die man nicht nur in der Spielweise der Mannschaft erkannte, sondern auch dem im Ganzen disziplinierten Publikum zubilligte, und viele begrüßten die Situation als Wiedergewinn eines kollektiven nationalen Selbstbewusstseins. Tatsächlich wurden die deutschen Farben, die vorher – abweichend vom Usus in anderen europäischen Staaten – fast nur im öffentlichen Raum im politischen Rahmen zu sehen waren, zu einem allgemeinen, auch im privaten Bereich gezeigten bunten Zeichen und Symbol. Ebendies löste aber auch Kritik aus. Man-
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che Beobachter*innen sahen darin das Signal der Erneuerung überheblicher nationalistischer Einstellungen (vgl. Russau 2014). Für beide Bewertungen galt, dass »deutsch« nicht nur als neutrale Zuordnung verstanden wurde, sondern weitergehende Eigenschaften repräsentierte : positiv gesehen kosmopolitisch gelockertes Nationalgefühl, in kritischer Sicht dagegen politische Abgrenzung und unangemessene Distanzierung von anderen Nationen (→Nationalstaat).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Für eine lange Zeitstrecke der deutschen Geschichte gilt, dass das Adjektiv deutsch weniger als Bezugnahme auf ein bestehendes Staatsgebilde gebraucht wurde. Vielmehr war die Bezeichnung abgeleitet vom Gebrauch der deutschen Sprache in der Bevölkerung, mitgeprägt durch Martin Luthers Wirken. Im 16. Jahrhundert wurde auch das Substantiv Deutschland allgemein gebräuchlich, zielte aber ebenfalls mehr auf die kulturelle (→Kultur), vor allem sprachliche Gemeinsamkeit als auf die politische Struktur. Diese war, obwohl es politisch handlungsfähige Institutionen des Reichs gab, von der Aufteilung in oftmals sehr kleine Territorien bestimmt. In den zahlreichen Staatswesen entwickelten sich Eigenbewusstsein und Loyalität, und dies prägte auch in den während der napoleonischen Ära entstandenen Ländern die Einstellung der Bevölkerung. Das Wort deutsch fungierte in der Bildungsschicht zunächst vor allem als Zielvorstellung wie in den teutschen Sprachgesellschaften nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die Schreibung mit t wurde teilweise mit dem Namen des von Tacitus erwähnten germanischen Gottes Tuisto in Verbindung gebracht und damit historisch legitimiert ; aber die Herleitung war nicht gesichert und statt der intendierten Steigerung wirkte die veränderte Form bald künstlich und verlor sich allmählich. Deutsch wurde nun als umfassende Volkssprache (→Volk) und als Ausdruck einfacher Lebensverhältnisse gesehen – im Gegensatz zur eindringenden französischen Bildungssprache und den damit verbundenen Konventionen. Nach Napoleon war der Begriff deutsch stark ausgerichtet auf das Ziel eines einheitlichen Deutschen Reichs, relativ unabhängig von den verschiedenen Vorstellungen über dieses Reich und den kontroversen Konzepten zur Verwirklichung. Nach der Reichsgründung verband sich mit dem Wort häufiger als vorher die Assoziation der Überlegenheit, abgeleitet aus tatsächlichen ökonomischen und technischen Befunden, die als »deutsche Wertarbeit« mit der Formel »Made in Germany« vermittelt wurden, oft aber auch ohne konkrete Fundierung. Der verlorene Erste Weltkrieg beseitigte diese Einstellung nicht ; vielmehr wurde
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»deutsche Exzellenz« vielfach als Auslöser von Neid und Gegnerschaft europäischer Nachbarn gesehen (→Europa). Im Nationalsozialismus begünstigte der historisch gewachsene, vor allem aber propagierte Nationalstolz die imperialistischen Aktionen. Die Vokabel deutsch stand in der NS-Propaganda allerdings nicht im Vorder grund. Hitler rühmte die Gründung des Deutschen Reichs vor allem deshalb, weil der Akt »nicht im Geschnatter einer parlamentarischen Redeschlacht« vollzogen worden sei (zitiert nach Hartmann et al. 2016 : 603) ; er warnte vor den »deutschvölkischen Wanderscholaren« und den »religiösen Reformatoren altgermanischen Wesens« (ebd.: 925, 929). Das »Deutschlandlied«, 1922 zur Nationalhymne erhoben, wurde nicht völlig verdrängt, und es bot sich mit seinen ersten Zeilen (»über alles in der Welt«) ja auch für eine imperialistische Interpretation an ; aber als wichtigere Hymne fungierte das Lied »Die Fahne hoch«, das an die Kämpfe der nationalsozialistischen Bewegung erinnerte. Auch die Bezeichnung der Nation (→Nationalstaat) als das »Dritte Reich« profilierte das Neue der politischen Struktur, stand mit der Verwendung der Zahl aber in Konflikt mit dem Anspruch des Regimes auf Dauer. Für die Nation setzte sich Großdeutsches Reich als offizielle Bezeichnung durch. »Deutsch« gehörte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht zu den »verbrannten Wörtern«, die man nicht mehr gebrauchen konnte (vgl. Heine 2019), aber angesengt war das Wort. Im öffentlichen Raum zeigte sich eine distanzier tere Einstellung ; so wurden deutsche Schulen in Mittel- und Südamerika in Humboldt-Schulen umbenannt. Das Problem wurde auch offenkundig bei internationalen Begegnungen von Jugendlichen, etwa bei Treffen von Pfadfinder*innen, in den United World Colleges und später im Schüler*innenaustausch. Die gewünschte Präsentation von »typisch Deutschem« scheiterte, die nationale Zugehörigkeit lieferte nicht mehr die legitime Grundlage des Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung. Als Ausweg bot sich der Rückgriff auf Regio naltypisches an, und das auch in der Tourismuswerbung herausgestellte Bayerische – mit Dirndl und Lederhose, Bier und Blasmusik – avancierte vielfach zum nationalen Repräsentanten (→Tradition). Auch die Alltagskommunikation zeigte einen zurückhaltenden Umgang mit nationalen Ausdrucksformen. Die bekennende Selbstdarstellung »Wir Deutschen …« war kaum mehr zu hören ; Unterhaltungen und Diskussionen über »die Deutschen« fanden dagegen statt. Auch mit der Berufung auf »deutsche Eigenschaften« ging man zurückhaltend um. Am ehesten wurde nach wie vor emotionale Tiefe betont. →Heimat gebe es nur hierzulande, wurde verschiedentlich in politischen Reden verkündet ; aus der Unmöglichkeit einer direkten adäquaten Übersetzung wurde so wesenhafte
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Einmaligkeit abgeleitet. Einem positiven Selbstbild arbeiteten auch die Überwindung der deutsch-deutschen Spaltung und die weitgehende Akzeptanz Deutschlands in der Europäischen Union zu (→Europa) ; doch blieb ein hoher Grad selbstkritischer Zurückhaltung bestehen.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die wissenschaftliche Fachgeschichte kann großenteils in Korrelation zu dieser allgemeinen Entwicklung gesehen werden. Mit der Konsolidierung von Deutsch als Verkehrssprache der Gebildeten im 16. Jahrhundert wandten sich gelehrte Personen auch den besonderen Formen sprachlicher Tradition wie Fabeln, Märchen und Sprichwörtern zu ; Sprichwörtersammlungen wurden beispielsweise von Martin Luther und Sebastian Franck angelegt (vgl. Franck 1993 [1541] ; Luther 1900). In der Folgezeit blieb das Interesse an solchen sprachlichen Traditionen und an der deutschen Sprache selbst erhalten. Eine umfassendere Orientierung an den vielfältigen Ausdrucksformen der »deutschen →Volkskultur« entwickelte sich dagegen erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts und brachte Anfang des 19. Jahrhunderts entsprechende Forschungsprogramme hervor. Diese Ansätze standen im Zeichen der Aufklärung und waren beeinflusst von den fortschrittlichen Maßnahmen staatlicher Ordnung in Frankreich. Es handelte sich dabei um den vielfach der Statistik zugeordneten Versuch der Erschließung der Lebensverhältnisse in schon länger bestehenden wie in neu geschaffenen Staatsgebilden (→Nationalstaat), in Gang gesetzt zur Stärkung der Loyalität in den verschiedenen Herrschaftsgebieten. Während des 19. Jahrhunderts wurde jedoch die nationale Tendenz immer stärker. Manche Dokumentationen und Sammelwerke bezogen sich umfassend auf »deutsche →Tradition«, wobei die Begrenzung entweder durch die historische Zugehörigkeit zum Reich oder durch die Reichweite der deutschen Sprache bestimmt wurde. Als Beispiel können Uhlands Arbeiten zum deutschen Volkslied angeführt werden (vgl. Wilhelm 1929), vor allem aber die vielfältigen Studien der Brüder Grimm mit der Gründung des »Deutschen Wörterbuchs« als Höhepunkt. Viele Erhebungen, die schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Etablierung einer akademischen Disziplin Volkskunde führten, die sich für deutsche →Kultur und Gesellschaft zuständig fühlte, blieben jedoch räumlich beschränkt – nicht nur aus praktischen Gründen mit Blick auf den Umfang und die Bewältigbarkeit, sondern auch mit Rücksicht auf die Bedeutung kleinräumiger
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historischer →Traditionen. Gleichzeitig und oft vorrangig bilden sie aber ein Bekenntnis zur nationalen Tradition und Kultur. Die so entstehende volkskundliche Sammlung und Forschung bezieht einen Teil ihrer Attraktion aus der farbigen Vielfalt regionaler Überlieferung, ist aber auch ein Instrument der Stärkung des nationalen Bewusstseins. Mitte des 19. Jahrhunderts publizierte Ernst Meier »Deutsche Volksmärchen aus Schwaben« (1852), die der aus Niedersachsen stammende Orientalist während seiner Zeit an der Tübinger Universität sammelte. Er legte Wert darauf, schwäbische Eigenart in den Geschichten zu zeigen ; aber seine Vorrede setzt ein mit der Erinnerung, dass die Brüder Grimm »in ihren Kinder- und Hausmärchen das unergründlich reiche Wesen des deutschen Volksmärchens« erschlossen hätten (ebd.: 5). Die Bezeichnung »Deutsche Volksmärchen« im Buchtitel Meiers war kein überflüssiger Hinweis auf die deutsche Sprache, sondern transportierte ein nationales Bekenntnis. Wenige Jahre nach dieser Veröffentlichung hielt der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl einen Vortrag über »Die Volkskunde als Wissenschaft«, in dem er die Dominanz des Nationalen pointierend hervorhob : »Diese Studien über oft höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der Tat für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe durch ihre Beziehung auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit« (Riehl 1898 : 128). Kulturelle →Traditionen wurden also nicht in ihrer Funktion der Strukturierung alltäglicher Lebenswelten gewürdigt, sondern ausschließlich als nationales Gut. Diese Bewertung wurde in der – erst Mitte der 1960er Jahre beginnenden – kritischen Auseinandersetzung mit der völkischen Ideologie des Nationalsozialismus mehrfach zitiert, weil schon hier explizit die nationalistische Spur gelegt war. Dabei wurden allerdings der Einfluss und die Wirkung Riehls überschätzt. Während der Zeit seines publizistischen Wirkens und in der Phase der institutionellen Gründung des Fachs Volkskunde entwickelte sich auch eine »völkisch nicht beschränkte Volkskunde« (Warneken 1999). Sie bildete sich vor allem auch im Museumswesen aus, das auf Vielfalt und damit auf Grenzüberschreitungen angelegt ist. Im Zeichen einer allgemeinen Anthropologie wandte sich Rudolf Virchow in Berlin dem außereuropäischen Bereich der Völkerkunde zu ; der Volkskundler und Indologe Michael Haberlandt strebte in Wien, ausgehend von der politischen Struktur des Habsburger Imperiums, die Präsentation aller dort vorhandenen nationalen und →ethnischen →Kulturen an (vgl. Haberlandt 1911) ; und auch in der mehrsprachigen Schweiz lagen vergleichende Studien nahe (vgl. Hoffmann-Krayer 1913).
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In Deutschland blieb Volkskunde aber größtenteils ein Anhängsel der Germanistik, und die deutsche Prägung wurde in weiten und keineswegs immer gesicherten Brückenschlägen altgermanischen Ursprüngen zugewiesen. Als Musterbeispiel können die Maskenbräuche der Fastnachtszeit angeführt werden, die lange als vorchristliche »urdeutsche →Tradition« betrachtet wurden, obwohl schon die geographische Verbreitung religiös-christliche Sinngebung nahelegte (→Brauch). Nationale Abschließung, ein kultureller Führungsanspruch und verbreitete Ignoranz gegenüber allem Fremden charakterisierten wichtige Strömungen in der fachlichen Orientierung. Erst die radikalere, die vermeintlichen historischen Wurzeln prüfende Kritik nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete neue Perspektiven. Dabei spielte die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche Rolle. Die Bevölkerungsverschiebungen und die generell wachsende Mobilität führten weg von dem statischen Bild geschlossener Gemeinwesen (→Migration), und zwar sowohl bezogen auf die einzelnen Dörfer, Städte, Regionen wie für den Blick auf die deutschen Länder und die deutsche Nation (→Nationalstaat). Der Zuzug der deutschen Heimatvertriebenen bewirkte eine erste extensive und intensive Durchmischung, die nach anfänglichen Schwierigkeiten dank des wirtschaftlichen Aufschwungs relativ rasch akzeptiert war. Es folgte die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte, die in Verkennung der ökonomischen Bedingungen lange als nur vorübergehend bleibende »Gastarbeiter*innen« gesehen wurden (→Migration →Migrationshintergrund). Deshalb blieb auch in dieser Phase weithin die Vorstellung erhalten, es gebe eine klare Unterscheidung zwischen deutschen →Einheimischen, die manchmal als »Alteingesessene« definiert wurden, und ausländischen Fremden. Dem entsprach die kulturwissenschaftliche Achtsamkeit auf die →ethnischen →Traditionen zugezogener Bevölkerungsgruppen.
Ausblick Erst als die Zahl der aus politischen, religiösen, ökonomischen und ökologischen Gründen in Deutschland Asylsuchenden (→Asyl →Flüchtling) sehr stark a nstieg und Deutschland auch offiziell als »Einwanderungsland« verstanden wurde, ist es hinsichtlich nationaler Zugehörigkeiten zu einer Neuorientierung gekommen, die allerdings durch ein erhebliches Maß von Unsicherheit belastet ist. Schritte der Anpassung einschließlich der Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft haben die Bezeichnung »Deutsche mit →Migrationshintergrund« hervorgeru-
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fen, die oft in Presseberichten und behördlichen Nachrichten auftaucht, aber auch einigermaßen populär geworden ist. Sie deckt den Bedarf an generalisierten Einblicken, bringt aber die Gefahr mit sich, dass die je spezifischen Ausgangsbedingungen von Zugewanderten ignoriert werden. Außerdem wird so ein Befund zementiert, der offen ist für Veränderungen. Für kulturwissenschaftliche Analysen ist es zwingend, die jeweilige Situation genau zu bestimmen – hinsichtlich der Herkunft, aber auch hinsichtlich der sehr unterschiedlichen Modalitäten von →Integration : Eheschließungen, Begegnungen bei der Arbeit, Engagement in Bildungseinrichtungen, Schulpflicht und Freizeitorientierung der Kinder. Wichtig ist die Einsicht, dass die Kennzeichnung »deutsch« gewissermaßen ins Wanken geraten ist. Dies wird nicht nur offenkundig, wenn Personen definiert werden müssen, sondern auch beim kommunikativen Umgang mit überlieferten Bedeutungen und Charakterisierungen von »deutsch«. In Feldforschungen während der »Gastarbeiter*innenzeit« wurde die Frage, ob es denn auch Auslän der*innen im Dorf gebe, manchmal verneint, obwohl einige italienische Familien dort lebten – Begründung : Das seien keine Ausländer*innen mehr. Und inzwischen kommt es immer wieder vor, dass sich Angehörige einer jüngeren Generation von Zugewanderten, in Deutschland geboren und aufgewachsen, ärgern müssen über das dubiose »Kompliment« : »Sie sprechen aber gut Deutsch« (→Integration →Migrationshintergrund). Auch die Unterscheidung von Autostereotypen, also Selbstbildern, und den von »außen« eingesetzten Heterostereotypen ist indifferenter geworden. Wenn reklamiert wird, dass die Deutschen ordnungsliebend und pünktlich seien, kann dies beiden Perspektiven – der von »außen« und dem Selbstverständnis – entsprechen ; und in beiden Fällen kann die Feststellung ernst oder ironisch, lobend oder kritisch sein. Die Abhängigkeit der Konnotationen nicht nur vom sprachlichen, sondern auch vom situativen sozialen Kontext ist immer gegeben, aber ihre Beachtung ist in der komplexeren Welt dringlicher geworden.
Literatur Franck, Sebastian (1993) [1541] : Sprichwörter. In : Knauer, Peter Klaus (Hg.) : Sebastian Franck : Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Berliner Ausgaben Band 11. Stuttgart. Gervers, Susanne (2018) : Das klassische Verständnis von Gastfreundschaft – Erleben wir aktuell eine Renaissance ? In : Pechlaner, Harald/Nordhorn, Christian/Marcher, Anja (Hg.) : Flucht, Migration und Tourismus – Perspektiven einer »New Hospitality«. Berlin, S. 83–104.
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Haberlandt, Michael (1911) : Österreichische Volkskunst. Aus den Sammlungen des Museums für Österreichische Volkskunde in Wien. Wien. Hartmann, Christian et al. (Hg.) (2016) : Hitler, Mein Kampf. Eine Kritische Edition. München/Berlin. Heine, Matthias (2019) : Verbrannte Wörter : Wo wir noch reden wie die Nazis und wo nicht. Mannheim. Heiske, Wilhelm (1929) : Ludwig Uhlands Volksliedersammlung. Leipzig. Hoffmann-Krayer, Eduard (1913) : Feste und Bräuche des Schweizervolkes. Zürich. Luther, Martin (1900) : Luthers Sprichwörtersammlung. Nach seiner Handschrift zum ersten Male herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Ernst Thiele, Prediger in Magdeburg. Weimar. Meier, Ernst (1852) : Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Stuttgart. Riehl, Wilhelm Heinrich (1896) : Kulturstudien aus drei Jahrhunderten. 5. Auflage. Stuttgart. Russau, Christian (2014) : Mit Flagge und Flip-Flop : Die Rückkehr der Nationalsymbole seit der WM 2006. In : ders. (Hg.) : Ein Sommermärchen ? Rückblicke auf die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Berlin, S. 23–27. Warneken, Bernd Jürgen (1999) : Völkisch nicht beschränkte Volkskunde. Eine Erinnerung an die Gründungsgeschichte des Fachs vor 100 Jahren. In : Zeitschrift für Volkskunde 95, S. 169–196.
Walter Leimgruber
Einheimisch
Kurzdefinition Das Adjektiv einheimisch bedeutet im deutschen Sprachraum, in einem Ort oder Land ansässig, beheimatet, heimisch, gebürtig, inländisch, hiesig, eingesessen zu sein und geht als Differenzbegriff oft mit der Unterscheidung in »wir« und »Andere« einher. Fachsprachliche Synonyme sind »endemisch« oder »autochthon«. »Eingeboren« (älter) und »indigen« (neuer) werden primär für Bevölkerungen verwendet, die an einem Ort ansässig waren, bevor dort Europäer*innen oder andere Fremde Fuß fassten (vgl. WDG : einheimisch).
Gesellschaftliche Situation Mit dem Status des Einheimischseins sind implizite Eigenschaften verbunden, seien das kulturelle oder formelle wie der Besitz eines Passes. Gruppen, die diese Gemeinsamkeiten nicht vorweisen können, gehören daher meist nicht zu den Einheimischen oder zu den »Eigenen«, wie ein synonym verwendeter Begriff lautet. Der Begriff stellt also eine →Gemeinschaft her, die sich in der Regel nicht nur räumlich, sondern auch über Merkmale definiert (Sprache, Religion, Herkunft). »Ähnlich wie Juden/Jüdinnen werden auch Muslim/innen häufig nicht als integraler Bestandteil der einheimischen Mehrheitsgesellschaft betrachtet, sondern als ›Fremde‹« (Zick et al. 2011 : 47). Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das Einheimischsein an Bedeutung. Da waren zunächst die Geflüchteten (→Flüchtling) und Vertriebenen, die selbst dann als Fremde empfunden wurden, wenn sie die gleiche Nationalität besaßen. Und immer mehr Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit als »Fremd-« oder »Gastarbeiter*innen« (→Migrationshintergrund), wie sie genannt wurden, in ein anderes Land. Prozesse des Fremdwerdens, der »Überfremdung« in der politischen Propaganda, wurden zum politischen Dauerthema. Nach einer Phase der Forderung nach Assimilation, also der Anpassung an die jeweils lokale →Kultur und einer weiteren Phase des Feierns der neuen Multikulturalität ist seit der Jahrtausendwende eine Schließungsbewegung zu erkennen. Viele, die sich als »Ein-
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heimische« sehen, pochen auf ihre Vorrechte gegenüber »Fremden« oder sehen ihre →Kultur und Lebensweise bedroht. Andere fühlen sich nicht mehr daheim (→Heimat), weil die gesellschaftlichen Veränderungen zu →Ängsten führen, für die sie Fremde, aber auch Eliten, Medien oder andere Institutionen verantwortlich machen. Zugleich ist nicht mehr klar, wer genau die Einheimischen sind. Begriffe wie →Migrationshintergrund zeigen, dass ein großer Interpretationsspielraum besteht. Die Argumente sind je nach Kontext kulturell (»Leitkultur«), formal (Staatsbürgerschaft) oder biologisch (ius sanguinis). Radikale Nationalist*innen reklamieren Begriffe wie »Biodeutsche« für sich oder reden umgekehrt von »Pa pierli-Schweizern«, die eben nur auf dem Papier, dem Pass, Einheimische sind. Andererseits appellieren Politiker*innen an ein neues »Wir«, um den Zusammenhalt zu festigen »zwischen denen, die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon so lange einheimisch sind, dass sie vergessen haben, dass vielleicht auch ihre Vorfahren von auswärts kamen«.1 Fundamentale Umwälzungen wie →Globalisierung und Digitalisierung und die damit verbundene Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft lösen ebenfalls ein Gefühl des Sich-nicht-mehr-einheimisch-Fühlens aus, führen zu einer Entfremdung, die nicht nur räumlich, sondern auch strukturell ist, und erklären das Interesse an Konzepten wie →Heimat, →Gemeinschaft, »Verwurzelung« (Pfaff-Czarnecka 2012 : 12). Auch eine profitorientierte Seite des Einheimischseins besteht, etwa im Tourismus, der davon lebt, dass die Reisenden sehen wollen, wie Einheimische anderswo leben. »Einheimisch« hat sich somit von der Beschreibung des einfachen Sachverhaltes, zuhause und an einem bestimmten Ort ansässig zu sein, zur Metapher für wünschens- und erstrebenswerte Verortungen und Zugehörigkeiten und umgekehrt für die Ausgrenzung aller, die diese Vorstellungen nicht erfüllen, gewandelt.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Im 15. und 16. Jahrhundert sagte man »einheimisch sein« für »zuhause sein« und »einheimisch werden« für »nach Hause kommen«, was dem Heim entsprach. Diese Zuordnung weitete sich auf den Ort oder den Stadtteil, das Tal, die Region, 1 Wulff, Christian (2010) : Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit. URL : https://www. handelsblatt.com/politik/deutschland/wulff-rede-im-wortlaut-der-islam-gehoert-zu-deutsch land/3553232-all.html [10. Mai 2020].
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schließlich auf den Staat aus. Daneben wurden auch einheimische Tiere und Pflanzen sowie die einheimische Sprache schon früh erwähnt (vgl. DW Bd.3 : Sp. 197ff.). Wichtig war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der Bezug auf die lokale, meist städtische Zugehörigkeit, etwa wenn es um Rechte ging : »[…] crafft deßen Wir hiemit nachmahln ernstlich gebiethen vnd wollen / daß Niemand / Er seye Frembd oder Einheimisch / in dieser Statt vnd dero Obrigkeit / einige Seiden färben / oder aber allbereit gefärbte / einführen / verarbeiten oder verhandlen solle«.2 Als Synonyme tauchen neben »heimisch« auch »anheimisch« (SI 1885 : 1286), »inländisch« (Zedler 1734 : 291) oder »einländisch« (Krünitz 1773) auf. Der Gegenbegriff war meist »fremd«, seltener »ausheimisch« (Staub/Tobler/Schoch 1885 : 1287), »auswärtig« (Zedler 1734 : 291) und »ausländisch« (DW Bd. 4 : Sp. 125–129). Es überrascht nicht, dass Minderheiten wie der jüdischen das Einheimischsein verwehrt wurde : »Ein Volk, das solche Hofnungen hat, wird nie völlig einheimisch, hat wenigstens nicht die patriotische Liebe zum väterlichen Acker […]. Wolte man sie den ältern, einheimischen Gliedern der Gesellschaft gleich machen, so würden sie sich zu sehr vermehren und diese verdrängen« (Dohm 1783 : 12, 48). Optimist*innen waren allerdings überzeugt, dass der Mensch »leicht unter jedem Himmelsstriche einheimisch« werde (Fichte 1808 : 313). Ein Schriftsteller populärer Romane wie Karl May erklärte seinen Erfolg damit, »daß ich [May] ein echt deutsches, also einheimisches, psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen zu können« (May 1910 : 209). Im 18. und frühen 19. Jahrhundert explodierte die Verwendung des Begriffes aufgrund der Transformationen durch Modernisierung, Nationalstaatsbildung und Kolonialisierung. Mit dem Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen wurde das Fremde exotisiert, manchmal mit Vorbildcharakter, etwa in der Figur des »edlen Wilden«, meist jedoch als das primitive Gegenbild dessen, was die europäische Zivilisation hervorgebracht habe (→Europa). Der →Nationalstaat etablierte das Ideal der Sesshaftigkeit und definierte auf allen Ebenen geographische Grenzen zwischen Einheimischen und Fremden, der Kolonialismus verfestigte die Typenbildung nach angeblich biologisch abgrenzbaren »Rassen« (→Rassismus). Diese Grenzziehungen zwischen »Einheimischen« und »Fremden«, »Zivilisierten« und »Primitiven« wurden zu ebenso wirkungsmächtigen wie zerstö2 Der Statt Straßburg Policeij Ordnung. Straßburg, 1628, S. 77. URL : http://www.deutschestextar chiv.de/book/view/oa_policeij_1628 ?p=117 [3. März 2020].
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rerischen Denkstilen des 19. und des 20. Jahrhunderts (vgl. Bitterli 2004 ; Mosse 2006 ; Osterhammel 2009).
Wissenschaftsgeschichte(n) Einen Boom erlebte der Begriff mit dem Beginn der modernen Wissenschaften. Einheimisch meinte etwa in der Medizin nicht nur Krankheitsarten, sondern zum Beispiel auch Säfte, die im Körper einheimisch sind (vgl. Blumenbach 1795 : 260). Die Wirtschaftswissenschaft sprach von »einheimischen Manufacturen« und »einheimische[m] Fleiß« (Möser 1775 : 222f.). Gedanken und Ideen konnten im Geist einheimisch sein (vgl. Tieck 1828 : 215), aber auch in Kollektiven : »der geist des aufruhrs […] schien hier einheimisch zu wohnen« (Schiller 1810 : 51). Kant unterschied zwischen dem überfliegenden (»transscendenten«) und einheimischen (»immanenten«) Gebrauch von Ideen (Kant 1867 : 435). In den Lexika des 19. Jahrhunderts erhielt der Begriff aber nur selten einen eigenen Eintrag (vgl. Krünitz 1773). Stärker war das Antonym »Fremd(e)« präsent. Die Frage der Zugehörigkeit, der Abgrenzung von Anderen oder Fremden gehört für die Sozial- und Kulturwissenschaften zu den zentralen Themen. Tönnies stellte →Gemeinschaft als echte, traditionale, authentische und organische Verbindung von Menschen der Gesellschaft als künstliche, rationale, mechanische und kalte Assoziation gegenüber (vgl. Tönnies 1922 : 3ff.). Damit lieferte er eine wirkungsmächtige Negativsicht auf die moderne Gesellschaft (→Moderne). Simmel wies darauf hin, dass die Abgrenzung nach »außen« umso hermetischer ausfalle, je grösser der Homogenitäts- und Angleichungsdruck nach »innen« sei (vgl. Simmel 1995 : 124). Die Grenzen, die über Inklusion und Exklusion entscheiden, sind nach Bernhard Waldenfels offen und nicht definiert, werden flexibel eingesetzt. Der Philosoph unterscheidet territoriale, eigentumsförmige (Familie, Kommune etc.) und habituelle (Sprache, Sitten, →Traditionen) Formen (vgl. Wadenfels 1995). Die radikalste Form ist die Freund-Feind-Logik, wie sie im Nationalismus (→Natio nalstaat) angelegt ist. Die Imagination der Einheit, einer geteilten Geschichte sowie eines »Volksgeistes« (Herder) schaffe erst die Nation, zumindest diejenige, die sich wie die →deutsche als »Kulturnation« verstand (Meinecke 1962 : 9ff.). Auch wenn der Begriff einheimisch nie zentral wurde für die Volks- und Völkerkunde, bestimmte er doch zusammen mit dem Antonym fremd die Sichtweisen der sich herausbildenden Fächer, die sich als zuständig für das eine bzw. das andere sahen. Doch wurden die Begriffe selten genau definiert, sondern mal auf
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gruppenspezifischer, mal auf sprachlicher, mal auf nationaler Ebene als untermalendes Beiwort in jenen Konzepten verwendet, die sich als wirkungsmächtig erwiesen, etwa →Volk oder »Rasse«. Der Volkskundler Utz Jeggle plädierte für eine Orientierung am Lokalen und Alltäglichen, denn »die Erfahrung von Fremdheit als Grunderfahrung des Anthropologen ist nicht an lokale Ferne und nicht an spektakuläre kulturelle Distanzen gebunden, sondern auch im kleinen Unterschied festzumachen« (Jeggle 1993 : 239). Und so wurde seit den 1970er Jahren diesem »Fremden« im »Eigenen«, dem Entdecken des Unvertrauten im eigenen Lebensraum viel Gewicht beigemessen (vgl. Greverus et al. 1988). Die Forschung machte deutlich, dass es trotz des Denkens in Dichotomien keine Etablierung des Selbst ohne die*den Andere*n, »kein Eigenes ohne NichtEigenes, Fremdes« (Köpping 1995 : 190) gebe. Fremdheit wie Eigenheit seien keine Eigenschaften, sondern »die Definition einer Beziehung« (Hahn 1994 : 140). »Erst über die Bezeichnung einer Person, Sache oder Situation als ›fremd‹ wird das jeweils ›Eigene‹ konturiert« (Albrecht 1997 : 86).
Ausblick Die Mehrfachzugehörigkeit im Sinne einer Teilhabe an verschiedenen kulturellen, sozialen und anderen Gruppen ist ein immer häufigeres Phänomen. Immer mehr Menschen sind »einheimisch – zweiheimisch – mehrheimisch« (Pfanzelter et al. 2017). Doch gerade dies setzt Kräfte des Eingemeindens und damit des Ausgrenzens frei – in radikalster Form in Fundamentalismen aller Art, die eine spezifische Lebensform als einzig richtige ansehen. Mit der Suche nach Verortung verbunden ist auch die Tatsache, dass in den letzten Jahren der Begriff des kulturellen Erbes an Bedeutung gewonnen hat (→Kulturerbe). »Authentizität« spielt dabei eine zentrale Rolle. Kulturelles Erbe muss nach dieser Vorstellung irgendwo einheimisch, räumlich verortbar sein – trotz der universellen Konstante des Wanderns, Adaptierens und Aneignens von kulturellen Formen und Praxen. Die Begriffe »heimisch« und »einheimisch« finden sich auch in weiteren Zusammenhängen, etwa in der Frage des sich im eigenen Körper Daheim-Fühlens, aber auch in der Auseinandersetzung mit Natur und Nachhaltigkeit, in der ähnliche Konzepte von »einheimisch« und »fremd« verwendet werden wie bei den Menschen (vgl. Körner 2000). Und Pandemien machen uns in einem ungewohnten Ausmaß »in-heimisch« im ursprünglichen Sinn des Zuhause-Sitzens, führen aber auch zu einem erneuten Aussortieren des angeblich eindeutigen Dazugehörens und Nichtdazugehörens.
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Kurzdefinition Das Adjektiv ethnisch beschreibt die Zugehörigkeit oder Zuordnung von Menschen zu einer Gruppe, die auf der Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft und →Kultur gründet, die sie von anderen Gruppen unterscheide. Ethnisch ist eine relativ neue Kategorie zur Beschreibung von Bevölkerungsunterschieden in postkolonialen und spätmodernen Gesellschaften (→Moderne). Es ist ein Strukturmerkmal sozialer Ungleichheit neben anderen (wie →Geschlecht oder Klasse), das gesellschaftspolitisch mit einer Ausschließungspolitik, -rhetorik und -praxis einhergehen und von den Mitgliedern als Ressource zur Durchsetzung von Interessen eingesetzt werden kann. »Ethnisch« ist im Alltagsgebrauch ein unscharfer Begriff, der neben kulturellen Spezifika auch sprachliche, religiöse, staatsbürgerschaftliche und/oder physiologische (race) Bedeutungsinhalte transportiert. Aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht handelt es sich um eine relationale Kategorie, die im (deutschsprachigen) gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart insbesondere Menschen mit →Migrationshintergrund, aber auch Angehörige nichtchristlicher Religionen adressiert und als jeweils »Andere« einer kulturell vermeintlich einheitlichen Mehrheitsgesellschaft gegenüberstellt.
Gesellschaftliche Situation Die deutsche Gesellschaft für Kommunikationsforschung veröffentlichte 2013 eine Studie mit den »größten ethnischen Gruppen« Deutschlands : Dort sind »Türken«, gefolgt von den Kategorien »Russen, Polen, Ex-Jugos., Italiener« und zuletzt »Rumänen« aufgelistet und als gesellschaftlich »Andere« subsumiert.1 Die Beschreibung der Bevölkerungsmehrheit als →deutsch wird demgegenüber nicht als ethnisch aufgefasst. Das verdeutlicht, dass ethnisch im deutschen Sprachgebrauch der Gegenwart ein Begriff zur kulturellen Bestimmung und Po1 Data 4 U (2013) : Ethnische Gruppen in Deutschland. 7. März 2013. URL : https://data4u-online. de/ethnische-gruppen-in-deutschland/ [14. September 2020].
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sitionierung von Minderheiten in der Gesellschaft darstellt, die darüber selbst als vermeintlich homogene Mehrheitsgesellschaft erscheint (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2003). Indem ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit im gesellschaftlichen Mainstream als durch Herkunft und Abstammung bestimmt und damit essentialistisch gesehen wird, erscheint sie als nicht wandelbar ; das erklärt zugleich, warum selbst Nachkommen von Eingewanderten in der dritten Generation noch als Migrant*innen deklariert werden (→Migrationshintergrund). Medial und politisch kommt der Begriff auffällig häufig in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Problemfeldern zur Sprache, etwa im Bildungsbereich, aber auch bei sozialen Konfliktsituationen wie in städtischen »Problemvierteln«. »Ethnische Signale« sind negativ konnotiert und führen zu Ungleichheiten in der Schulbildung und am Arbeitsmarkt (Scherschel 2020 : 137). Der Europäische Ethnologe Wolfgang Kaschuba (1995) analysierte derartige Adressierungen von →Kultur im Kontext sozialer Ungleichheit als Verschleierungstaktik sozialer Unterschiede durch Kulturalisierung : Ungleichheiten erscheinen demnach verkürzt als Resultat ethnisch-kultureller Zugehörigkeit. Es handelt sich mithin um eine politisch instrumentalisierbare und vielfach instrumentalisierte Kategorie. Entsprechend zentral ist die Rede von »ethnischen Minderheiten« in rechtspopulistischen Milieus (→Populismus), wo die Kategorie andere Menschen als »Fremde« markiert, als Gefahr für die Gesellschaft darstellt und vielfach in Zusammenhang mit →Rassismus (vgl. Hall 1994) und Islamophobie steht. Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang der Volkswirt und Politiker Thilo Sarrazin, der in seinem 2010 erschienenen Buch »Deutschland schafft sich ab« Bedrohungsvisionen infolge der Zuwanderung vor allem aus islamischen Ländern entwarf.2 Erneut erklärte er in »Feindliche Übernahme« (2018) den →Islam zum Übel der →deutschen Gesellschaft und verband dies mit rassistischen Thesen zu Charaktermerkmalen der als homogen angesehenen islamischen Bevölkerungsgruppe.3 Beide Titel erreichten sogar den 1. Platz der Spiegel-Bestsellerliste. Gegenüber einer solchen sozialen Ausgrenzung unter dem Banner des »Ethnischen«, die im 21. Jahrhundert nicht zuletzt angesichts wachsender Islamopho bie an Schärfe und Akzeptanz gewinnt, zeichnete sich vor allem in europäischen Großstädten ab den 1980er Jahren eine andere Entwicklung ab : Eine ökonomi2 Vgl. Sarrazin, Thilo (2010) : Deutschland schafft sich ab : Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München. 3 Vgl. ders. (2018) : Feindliche Übernahme : Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. München.
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sche Inwertsetzung »ethnischer Diversität« fand statt, die in ästhetischer und kulinarischer Hinsicht (etwa im Kleidungs- und Musikangebot sowie in der Gastronomie) zu einer regelrechten »Ethnowelle« sowie zur Kommodifizierung »kultureller Vielfalt« beispielsweise in Veranstaltungsformaten wie dem »Karne val der Kulturen« in Berlin führte (→Kultur). Auch bestimmte Räume, wie Großstädte oder einzelne Stadtteile, werden mit Versprechen wie »multikulturelles urbanes Ambiente« beworben (vgl. Lanz 2007). Kulturelle Merkmale unterliegen in postmodernen Gesellschaften einer zunehmenden Wertschöpfung, werden vermarktet und zum exotischen Erlebnisinhalt, der konsumierbar ist : Ethnische Gruppen veräußern wie →Nationalstaaten ihre →Kultur als Ware auf dem (globalen) Markt, über den wiederum kollektive →Identitäten geprägt werden (vgl. Comaroff/Comaroff 2009). Die Frage, wie Gesellschaften ethnische Zugehörigkeiten und Herkunftsfragen ihrer Bürger*innen verhandeln, steht in Zusammenhang mit historischen Entwicklungen sowie internationalen Beziehungen des jeweiligen Landes (→Nationalstaatsbildung, nationales Selbstverständnis, Kolonialgeschichte etc.) sowie gegenwärtigen gesellschaftlichen Dynamiken (unter anderem →Globalisierung und →Migration). Für Großbritannien etwa muss die Relevanz ethnischer Kategorien in Zusammenhang mit historisch gewachsenen Beziehungen zu seinen früheren Kolonien betrachtet werden (vgl. Hall 1994). Und die USA verstehen sich explizit als Einwanderungsland, was sich im Laufe der Zeit in verschiedenen politischen Programmen bezüglich kultureller Pluralität manifestierte : Nachdem sich die Idee des melting pot, die die Assimilation von Einwanderer*innen propagierte, nicht erfüllte (vgl. Glazer/Moynihan 1963), setzte ab den 1970er Jahren ein ethnic revival ein, das mit Debatten und Programmen des Multikulturalismus einherging und dem Bild einer multikulturellen Gesellschaft als salad bowl folgte (vgl. Scherschel 2020). Deutschsprachige und andere europäische Staaten lassen demgegenüber andere Wege erkennen. Deutschland etwa sah sich lange Zeit explizit nicht als Einwanderungsland und auch andernorts dominiert das Verständnis einer vornehmlich homogenen Gesellschaft. Auch Österreich generierte nach dem Zweiten Weltkrieg das Selbstverständnis eines →Nationalstaates mit einer vermeint lich kulturell homogenen Bevölkerung, innerhalb derer Migrant*innen als ethnische Minderheiten und »Andere« erscheinen.
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Etymologisch geht »ethnisch« auf das altgriechische Wort ethnos zurück, das ein anderes →Volk bedeutet und mit Bezug auf die »Ethnie« auch im Namen der sogenannten Ethnowissenschaften Europäische Ethnologie und Ethnologie geführt wird. Das Adjektiv ethnisch ist genauso wie das Substantiv Ethnizität, das die kollektive →Identität einer ethnischen Gruppe beschreibt, erst ab den 1990er Jahren Teil der deutschen Sprache geworden, vor allem in Zusammenhang mit exotisch konnotierten Konsum- und Modeströmungen. Ethnisch ist kein geläufiger Begriff des Alltagssprachgebrauchs ; eher findet er in journalistischen und wissenschaftlichen Texten Gebrauch. Gesellschaftspolitisch benennt er gesellschaftliche Grenzziehungen und Ausgrenzungen unter kulturellen Vorzeichen. Ethnisch erscheint in unterschiedlichen Kontexten, markiert aber in jedem Fall gesellschaftlich »Andere«, wobei die Andersheit je nach Zusammenhang kulturell im Sinne von Herkunft, aber auch erst-sprachlich, religiös oder phänotypisch begründet wird. Das Wort steht im Kontext eines Begriffsumfeldes mit Termini wie Volksgruppe, →Volk, »Rasse« oder »Stamm«, die in zunehmenden Teilen der Gesellschaft als veraltet oder inadäquat gelten – im Unterschied zum angelsächsischen Raum, wo etwa die Kategorie race weiterhin in Gesellschaft und Wissenschaft zum gebräuchlichen Vokabular zählt, auch wenn die UNESCO 1950 empfahl, race durch den Alternativbegriff ethnic zu ersetzen. Auffällig häufig findet sich das Wort in Zusammenhang mit Herausforderungen spätmoderner Gesellschaften und →Nationalstaaten, die sich zunehmend durch (eine wie auch immer definierte) kulturelle Pluralität gekennzeichnet sehen und nicht mehr im Konzept des wissenschaftlich so benannten »ethnischen Nationalismus« bzw. der »Kulturnation« aufzugehen scheinen. Dieses entstand im 19. Jahrhundert, setzte sich in Deutschland in Gestalt der Idee der völkischen Nation durch und bot ein kulturell begründetes Identifikationsmodell für die Angehörigen einer Nation (→deutsch →Identität →Volk). Das jeweilige Zugehörigkeitsverständnis zu einer mehr oder minder einheitlich konzipierten Nation manifestiert sich eindrücklich im Staatsbürgerschaftsrecht. Der angelsächsische Rechtsraum inklusive USA und Kanada sowie viele frühere Kolonien folgten darin primär dem ius soli, also der Staatsbürgerschaftsverleihung qua Geburtsort. In anderen Staaten wie der Schweiz, Österreich und Deutschland dagegen galt das ius sanguinis, also die Zugehörigkeit kraft Abstammung und Herkunft, wonach Kindern die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern verliehen, quasi vererbt wird. Dieses Prinzip gewann über das völkische Verständnis der Nation des 19. Jahrhunderts speziell in deutschsprachigen Ländern an Be-
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deutung (→deutsch). In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das »reine« Abstammungsprinzip in Deutschland wiedereingeführt, das den Ausschluss nicht als vermeintlich »arisch-deutsch« identifizierbarer Menschen begründete. Die Nürnberger Gesetze hoben 1935 das Abstammungsprinzip für jüdische und polnische Bürger*innen auf. »Reichsbürger« konnte nach dem gleichnamigen Gesetz nur mehr werden, wer »deutschen oder artverwandten Blutes« war. Bis 2000 folgte Deutschland dem ius sanguinis ; seither gilt hier ebenso wie in den meisten Staaten heute eine Mischung aus beiden Prinzipien der Staatsbürgerschaftsverleihung. Eine zweifelhafte Popularität erlangte das Lemma mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren durch die Bezeichnung »ethnische Säuberung«, die von der Gesellschaft für Deutsche Sprache 1992 zum »Unwort des Jahres« erklärt wurde. Auch der Darfur-Konflikt, der seit 2003 im Sudan schwelt, ging unter diesem Begriff in die Geschichte ein. Wenn Ethnizität zur Prämisse politischer Systeme erhoben wird oder gewalttätige Konflikte bis hin zum Ethnozid zu legitimieren scheint, zeigt sich die politische Brisanz der Kategorisierung differenter ethnischer Gruppen innerhalb eines Staates.
Wissenschaftsgeschichte(n) Zwei unterschiedliche Theoriestränge erklären ethnische Zugehörigkeiten : Der Primordialismus versteht ethnische Zuordnungen als »natürlich« kraft gemeinsamer Herkunft, Geburt und Aufwachsen in einer →Gemeinschaft und erklärt Ethnien somit zu essentialistischen Kategorien, zu Tatsachen einer »ursprünglichen« Zugehörigkeit und eines (zufälligen) Hineingeborenwerdens (vgl. Isaacs 1975). Dabei hatte schon Max Weber in den 1920er Jahren in seinem zentralen Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« (1922) erklärt, dass die ethnische Gruppe – im Unterschied zur »Sippe« als verwandtschaftlich zusammengehörende Gruppe von Menschen (→Verwandtschaft) – »eben an sich nur (geglaubte) ›Gemeinsamkeit‹, nicht aber ›Gemeinschaft‹ ist, wie die Sippe, zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftshandeln gehört. Die ethnische Gemeinsamkeit (im hier gemeinten Sinn) ist demgegenüber nicht selbst Gemeinschaft, sondern nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes Moment. Sie kommt der allerverschiedensten, vor allem freilich erfahrungsgemäß : der politischen Vergemeinschaftung, fördernd entgegen« (Weber 1956 : 237 ; Herv. d. Verf.). Umgekehrt kann politische →Gemeinschaft ethnischen Gemeinschaftsglauben wecken, der über die politische Organisation hinaus Bestand haben kann. Was Weber als »künstliche Art der Ent-
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stehung eines ethnischen Gemeinschaftsglaubens« proklamierte, formulierte der Ethnologe Fredrik Barth 1969 als Theorie ethnischer Grenzziehung aus. Damit prägte er die weitere Forschung nachhaltig. Weniger entscheidend ist demnach die »objektive« Unterscheidbarkeit der Mitglieder einer ethnischen Gruppe von einer anderen angesichts kultureller Gemeinsamkeiten, sondern dass zwischen beiden Gruppen aktiv Grenzen gezogen werden. Deutlich wird dies schon bei der kolonialen Einteilung der indigenen Bevölkerung in ethnische Gruppen als Machtinstrument, womit eine Erfindung vorgeblicher →Traditionen einherging (vgl. Hobsbawm/Ranger 1983). Insofern folgen neuere Erklärungsmodelle zunehhmend einem prozessualen Ansatz : Der Sozialkonstruktivismus – auch instrumentell genannt – geht im Unterschied zum Primordialismus von der aktiven Herstellung ethnischer Zuordnungen durch Diskurse und soziales Handeln auf der Mikro- und Makroebene aus. Derartige Erklärungsansätze analysieren folglich die gesellschaftliche Situation, in der ethnische Kategorien als gesellschaftliche Ordnungsprinzipien eingesetzt werden und die ethnische Zuordnung – oft für politische Ziele – sinnhaft erscheinen lassen (vgl. Dittrich/Radtke 1990 ; Wallerstein 1992).4 Der Anthropologe Abner Cohen prägte diesbezüglich den Begriff der political ethnicity (Cohen 1969), um zu beschreiben, dass Ethnizität im Verteilungskampf um knappe Ressourcen eingesetzt wird. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in Analysen postkolonialer und moderner Gesellschaften die Rolle des →Nationalstaates, welcher entweder die Strategie der Vereinheitlichung (Assimilation) oder der Sichtbarmachung ethnischer Unterschiede (Multikulturalismus) verfolgt. Letztere geht oftmals mit einer Politik der Segregation einher, die Ethni sierung auf Seiten der ethnischen Gruppen zur Folge haben kann. Der Sozialwissenschaftler Wolf-Dietrich Bukow (1996) hat diesbezüglich ethnische Zuordnungen als strategische Antwort auf einen Mangel an →Integration erklärt und gemeinsam mit seinem Fachkollegen Roberto Llaryora schon in den 1980er Jahren für Deutschland verschiedene Ebenen und Akteur*innen der »Soziogenese ethnischer Minderheiten« analysiert (Bukow/Llaryora 1988). So erklärt sich auch die breite sozial- und kulturwissenschaftliche Kritik am Konzept der »Parallelgesellschaft« (vgl. Schiffauer 2008). Das konstruktivistische, heute in den Ethnound Kulturwissenschaften dominante Erklärungsmodell versteht also ethnische Zuordnungen praxeologisch als Ergebnis sozialen Handelns ungeachtet realer Gemeinsamkeiten, die dabei aber entstehen können (vgl. Schmidt-Lauber 1998). 4 Eine andere Unterscheidung folgt der Intentionalität ethnischer Zuordnungen. Demnach ist Ethnizität einerseits ein strategisches Konzept der Selbst- oder Fremdzuordnung, andererseits anscheinend interessenslose »symbolische Identität« (Gans 1979).
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Das Konzept »ethnischer Gruppen« bzw. von »Ethnizität«, das das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, oftmals verbunden mit der Aufwertung der eigenen »Wir-Gruppe« gegenüber anderen Gruppen beschreibt, ist vor allem im angelsächsischen Raum, besonders in der amerikanischen Chicago School of Sociology sowie der angelsächsischen Cultural und Social Anthropology, entwickelt worden (vgl. Banks 1996). Erstmals Erwähnung findet es bei dem US-amerikanischen Anthropologen und Sozialpsychologen W. Loyd Warner in den 1940er Jahren, der Ethnizität als Strukturmerkmal sozialer Ungleichheit bezogen auf Immigrant*innen und Afroamerikaner*innen untersuchte. Damit nahm zugleich die Race-and-Ethnic-Relations-Forschung ihren Anfang (vgl. Bös 2005 : 102). Die Soziologen Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan diagnostizierten Anfang der 1960er Jahre, dass kulturelle Unterschiede und Herkunftsfragen entgegen der Modernisierungserwartung (→Moderne) weiterhin eine große Rolle innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerung spielten (vgl. Glazer/Moynihan 1963). Die gesellschaftliche Realität eines ethnic revival in den USA hatte die erwartete Assimilation (vgl. Park 1950) von Einwander*innen widerlegt, was zu einem Paradigmenwechsel in der Theoriebildung führte. Und auch in afrikanischen Großstädten oder Industriezentren beobachteten Forscher*innen der britischen Manchester School ethnische Identifikationen im Zuge gesellschaftlicher postkolonialer Transformationen (vgl. Mitchell 1956 ; Cohen 1974). Im deutschsprachigen Raum häuften sich ab den 1980er Jahren Untersuchungen zu ethnischen Gruppen und Ethnizität speziell im Kontext von →Migration und →Integration, während zuvor kulturelle Zuordnungen und Mobilitäten unter anderen Fragestelllungen und Begriffen verhandelt wurden wie vor allem Flucht und Vertreibung deutscher Bevölkerungsteile oder Arbeitsmigrationen von »Gastarbeiter*innen«, denen kein Anspruch auf ein Bleiberecht oder Zugehörigkeit zur →deutschen Gesellschaft zugestanden wurde. Ethnische Kennzeichnungen und das ihnen zugrunde liegende Konzept haben sich mithin im Zuge von Untersuchungen unterschiedlicher Prozesse sozialen Wandels etabliert und differenziert. Ethnisches findet Anwendung als Phänomen komplexer Gesellschaften, urbaner Ballungsgebiete oder Industriekontexte, in Zusammenhang mit Wanderungsbewegungen (→Migration) sowie für vorkoloniale soziale Einheiten (»Stämme« und Dörfer) in neuen (postkolonialen) staatlichen Strukturen. Die Ethnologie unterscheidet diesbezüglich, ob Menschen sich selbst als ethnische Community benennen und zugehörig fühlen (emisch) oder ob sie analytisch als solche kategorisiert werden (etisch). In Wortbildungen wie »ethnische Ökonomien« etwa in der Gastronomie oder in speziellen Handwerkszweigen –
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oft gleichgesetzt mit »migrantischen Ökonomien« – zeigt sich die mögliche Dialektik dieser Zuordnungen. Ab den 1980er Jahren setzte sich in der Ethnologie zunehmend die Erkenntnis durch, dass Ethnolog*innen »ethnische Gruppen« und »fremde Kulturen« nicht einfach beschreiben, sondern diese im Schreiben herstellen und mithin konstruieren : »Culture ist the essential tool for making other« (Abu-Lughod 1986). Diese in Gesellschaft und Wissenschaft beobachtbare Praxis der Erklärung von Menschen als kulturell und gesellschaftlich »Andere« wird mit dem Ethnologen Johannes Fabian (2014) – dem Orientalisten Edward Said (1978) folgend – Othering genannt. Othering ist damit immer auch eine Artikulation von Macht und eine Herrschaftsstrategie, eine »Darstellung von machtlosen ›Anderen‹ gemäß den Interessen der Mächtigen« (Gingrich 2011 : 323). Die ethnische Kategorisierung von Menschen kann als eine Form des Othering verstanden werden.
Ausblick Ethnisch ist ein etablierter Begriff in der deutschen Sprache geworden, der Menschen als kulturell spezifisch und »anders« beschreibt und damit eine Pluralität gegenwärtiger Gesellschaften zum Ausdruck bringt und schafft. Der Begriff ethnisch ist vielfältig konnotiert und politisiert, hebt sowohl positiv als wertvoll anerkannte Aspekte kultureller Spezifik und Heterogenität als auch negativ von »ethnischen Minderheiten« angeblich verschuldete gesellschaftliche Missstände hervor. In der Tourismusindustrie fungiert er als Zertifikat für exotisierende Erlebnisversprechungen und in Teilen der Pädagogik sowie anderen Sozialwissenschaften dient er als Erklärung fehlender Bildungsmobilität. Aus Sicht der ethnologischen Disziplinen, die gesellschaftliches Zusammenleben und damit die Relevanz ethnisch-kultureller Identifikationsprozesse und Zuschreibungsdynamiken analysieren, steht der »Erfolg« des Begriffes in Zusammenhang mit einer Konjunktur der Kulturwissenschaften und speziell der Kultur- und Sozialanthropologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist gerade aus dieser Perspektive Skepsis geboten und zu prüfen, wieweit Anrufungen des Ethnischen soziale Ausgrenzung verschleiern oder legitimieren und damit soziale Positionen innerhalb der Gesellschaft kulturalisieren. Ethnische Kate gorisierungen sind stets an die konkreten Situationen und Machtverhältnisse zu knüpfen und daraufhin zu befragen, welche Aussage sie treffen bzw. welche Funktion sie für die Kategorisierenden erfüllen.
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Literatur Abu-Lughod, Lila (1991) : Writing against culture. In : Fox, G. Richard (Hg.) : Recapturing Anthropology : Working in the Present. Santa Fe, S. 137–162. Banks, Marcus (1996) : Ethnicity : Anthropological Constructions. London/New York. Barth, Fredrik (1969) : Introduction. In : ders. (Hg.) : Ethnic Groups and Boundaries : The Social Organization of Cultural Difference. Bergen et al., S. 9–38. Bös, Mathias (2005) : Rasse und Ethnizität : Zur Problemgeschichte zweier Begriffe in der amerikanischen Soziologie. Wiesbaden. Bös, Mathias (2010) : »Rasse« und »Ethnizität« W.E.B. Du Bois und die wissenschaftliche Konstruktion sozialer Großgruppen in der Geschichte der US-amerikanischen Soziologie. In : Müller, Marion/Zifonun, Dariuš (Hg.) : Ethnowissen. Wiesbaden, S. 37–59. Bukow, Wolf-Dietrich (1996) : Feindbild : Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Zur Funktion Von Ethnisierung. Fragen Der Gesellschaft. Opladen. Bukow, Wolf-Dietrich/Llaryora, Roberto (1988) : Mitbürger Aus Der Fremde. Soziogenese Ethnischer Minoritäten. Opladen. Cohen, Abner (1969) : Custom and Politics in Urban Africa : A Study of Hausa Migrants in Yoruba Towns. London. Cohen, Abner (1974). Urban Ethnicity. London. Comaroff, Jean/Comaroff, John L. (2009) : Ethnicity. Chicago. Dittrich, Eckhard J./Radtke, Franz-Olaf (Hg.) (1990) : Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten. Opladen. Fabian, Johannes (2014) : Time and the Other : How Anthropology Makes Its Object. New York. Gans, Herbert J. (1979) : Symbolic Ethnicity. The Future of Ethnic Groups and Cultures in America. In : Ethnic and Racial Studies 2, S. 1–20. Gingrich, André/Knoll, Eva-Maria/Fernand Kress (2011) : Lexikon der Globalisierung. Bielefeld. Glazer, Nathan/Moynihan, Daniel P. (1963) : Beyond the Melting Pot : The Negroes, P uerto Ricans, Jews, Italians and Irish of New York City. Massachusetts. Hall, Stuart (1994) : Ausgewählte Schriften 2 : Rassismus und Kulturelle Identität. H amburg. Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (1983) : The Invention of Tradition. New York. Isaacs, Harold R. (1975) : Idols of the Tribe : Group Identity and Political Change. New York. Kaschuba, Wolfgang (1995) : Kulturalismus. Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In : Zeitschrift für Volkskunde 91, S. 27–46. Lanz, Stephan (2007) : Berlin aufgemischt : abendländisch – multikulturell – kosmopolitisch ? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt. Bielefeld. Mitchell, James Clyde (1956) : The Yao Village : A Study in the Social Structure of a Malawian Tribe Manchester. Manchester. Park, Robert Ezra (1950) : Race and Culture. 3. Auflage. Glencoe. Said, Edward (1978) : Orientalism. New York.
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Gisela Welz
Europa
Kurzdefinition Europa ist ein vielschichtig konnotierter Begriff, der sowohl einen Raum (Kontinent) als auch ein politisches System (EU) sowie einen Gesellschaftsprozess (Europäisierung) beschreibt. Aktuell wird Europa im Alltagssprachgebrauch häufig gleichgesetzt mit der Europäischen Union (EU). In Politik und Medien wird entsprechend der Begriff Europäisierung als Synonym für den politischen Einigungsprozess Europas seit dem Zweiten Weltkrieg verwendet und die Bezeichnung »Europäer*innen« Bürger*innen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorbehalten – eine Praxis, die zwar gültige Rechtsnormen spiegelt, aber andere Bedeutungsdimensionen verdeckt, zum Beispiel die Menschen anderen Glaubens und anderer Hautfarbe ausgrenzende Gleichsetzung von Europa mit dem »Abendland«. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gilt es, jegliche begriffliche Engführung von Europa und den Europäer*innen zu hinterfragen.
Gesellschaftliche Situation Wo fängt Europa an, wo hört es auf ? Geographisch gesehen ist Europa der westliche und deutlich kleinere Teil der eurasischen Landmasse. Nur im Osten bilden keine Meeresküsten eine klare Abgrenzung ; deswegen sind hier die geographischen Koordinaten je nach Länderperspektive unterschiedlich. So gelten im deutschsprachigen Raum seit dem 19. Jahrhundert das Uralgebirge in Russland und das Tiefland nördlich des Kaukasusgebirges, das sich zum Schwarzen Meer öffnet, als Übergang nach Asien. In anderen europäischen Ländern zählen auch Teile des Kaukasus zu Europa. Was unter Europa zu verstehen ist, ist also keineswegs eindeutig. Die Antworten fallen je nach historischen Epochen, geopolitischer Perspektive und kulturellen Erfahrungen höchst unterschiedlich aus. Die Insel Zypern etwa, im östlichen Mittelmeer unweit der Küsten der Türkei und Syriens gelegen, wurde schon lange vor dem Beitritt der Republik Zypern zur Europäischen Union im Jahre 2004 – auch aufgrund ihrer historischen Verbindungen zu Großbritannien und Griechenland – als zu Europa gehörig begriffen.
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Dagegen käme niemand auf den Gedanken, die Überseeterritorien Frankreichs im Indischen Ozean, in der Karibik und im Pazifik als zum europäischen Kontinent gehörig zu begreifen, obwohl diese völkerrechtlich – als Teile der Europäischen Union – sehr wohl als europäisch gelten. Politisch gesehen ist Europa in Gestalt der Europäischen Union eine transstaatliche Organisationsform europäischer Länder, die aus dem politischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist und seitdem ständig expandiert. Allerdings verliert sie durch einen ersten Austritt eines Mitgliedslandes – den »Brexit« (Britain Exit) des Vereinigten Königreichs – und einige ins Stocken geratene Beitrittsprozesse weiterer Staaten – wie der der Türkei – an Dynamik. Die Rechtsakte der Europäischen Union, die zu einer europaweiten Standardisierung von Prozessen und Produkten führen, sind die Instrumente, die dieses EU-Europa konstituieren. Die Europäische Integration schreibt das Konzept des europäischen →Nationalstaates als territoriale Form der politischen Organisation und Souveränität fest und löst es gleichzeitig auf. Die EU kann nur operieren durch und über die Integrität der jeweils einzelnen souveränen Staaten und schränkt deren Autonomie zugleich in vielen Bereichen ein. Landestypische Spezialitäten, in deren Herstellungsprozesse die EU-Regularien der Lebensmittelhygiene eingreifen, gehören noch zu den harmloseren Beispielen. EU-Beitrittsländer haben die tiefgreifenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Lebenswelt und Umwelt und die dem Beitritt vorausgehende langjährige Angleichung ihrer Gesetze und Institutionen an EU-Normen insofern in Kauf genommen, als sie sich von der EU-Mitgliedschaft den Anschluss an westliche Prosperitätsentwicklungen, gesellschaftliche Öffnung und die Stabilisierung demokratischer (→Demokratie) und rechtsstaatlicher Strukturen versprechen. Freilich ist der Grad der Durchsetzung und Durchdringung durch EU-Normen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich, wie auch die Akzeptanz EU-Europas in der Bevölkerung differiert. Seit der Jahrtausendwende expandierte die EU signifikant nach Osten. 2004 kamen zehn neue Mitgliedstaaten hinzu : Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Polen, die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie die beiden Mittelmeerinselstaaten Malta und Zypern. Im Jahr 2007 traten Bulgarien und Rumänien bei, 2013 Kroatien. Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei gelten als Kandidatenländer für eine Aufnahme, weitere mögliche Beitrittskandidaten sind der Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina. Gerade die aus dem Transformationsprozess Osteuropas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hervorgegangenen postsozialistischen Gesellschaften wurden von Westeuropa nach 1989/1990 lange als Noch-nicht-Europäer*innen behandelt,
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die aus dieser Perspektive rückständig erschienen. Mit der Festsetzung von Westeuropa als Messlatte für Modernität (→Moderne), welche schon die koloniale Expansionspolitik europäischer Staaten über den Globalen Süden legitimieren sollte (vgl. Randeria/Römhild 2013), wird auch heutigen Beitrittskandidaten die Fähigkeit zur Gestaltung eigener Entwicklungsrichtungen abgesprochen. Euro päischsein war und ist eine wichtige Ressource in Distinktionskämpfen sowohl zwischen als auch innerhalb von Gesellschaften. Eliten betonen die Inanspruchnahme einer europäischen →Identität, um unerwünschte Andere, Minderheiten und Zuwanderer*innen (→Migration) auszuschließen. Zum europäischen Selbstverständnis gehört auch, Menschen von außerhalb Europas, die in ihrer →Heimat Verfolgung, Gewalt und Krieg ausgesetzt sind, aufzunehmen und ihnen Schutz zu geben (→Asyl →Flüchtling). Mit der sukzes siven Ratifizierung und Implementierung des Schengener Vertragswerkes seit den 1990er Jahren durch die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer (und weitere europäische Länder) ist eine hohe Durchlässigkeit von Staatsgrenzen im Binnenraum EU-Europas ermöglicht worden, aber zugleich die Abschottung gegenüber ungewollter Einwanderung gestärkt und der Zugang für Asylsuchende erschwert worden. Die hochriskante Überquerung des Mittelmeers ist für viele die einzige Möglichkeit geworden, Bedrohung und Elend zu entkommen. Zu keiner Zeit ist das mehr diskutiert worden als während der »Flüchtlingskrise« 2015. Die Bezeichnung Flüchtlingskrise hebt einen Zeitraum besonders hervor, in dem Geflüchtete insbesondere aus dem Bürgerkriegsland Syrien in größerer Zahl als zuvor nach Europa kamen (→Flüchtling), ein Zeitraum, in dem das EU-Grenzregime durch eigenmächtige Entscheidungen verschiedener →Nationalstaaten mit ganz unterschiedlichen Intentionen und Effekten temporär aufgehoben war.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Europa kam zunächst als Bezeichnung für die geographische Region um das antike Griechenland und seine Kolonien auf. Im späteren Verlauf – insbesondere im Mittelalter – fand eine Aufladung des Begriffs statt, die diesen mit humanistischen Vorstellungen in Verbindung brachte und zunehmend mit christlichen Ideen gleichsetzte. Der zeitgenössische Begriff Europäisierung wiederum spricht mehrere Ebenen an, auf denen Europa hergestellt worden bzw. aktuell noch in der Entstehung ist. In der eng an den Aufbau- und Erweiterungsprozess der Europäischen Union und ihrer Vorgängerorganisationen angelehnten Version, die von Politikwissen-
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schaftler*innen und Historiker*innen, seit den 1990er Jahren auch von Sozialund Kulturanthropolog*innen geprägt wurde (vgl. Welz 2013), meint Europäisierung erstens die Gesamtheit aller Prozesse, in denen formelle und informelle Regeln generiert, definiert und konsolidiert werden, um dann auf vielfältige Weise in die Logik der Diskurse, →Identitäten, politischen Strukturen und Öffentlichkeiten europäischer Länder eingebunden zu werden (vgl. Radaelli 2001 : 110). Erheblich früher als die Entstehung der Europäischen Union datieren zweitens andere Prozesse, die auch als Europäisierung betitelt werden und den historischen Einfluss europäischer Gesellschaften in Weltregionen außerhalb des europäischen Kontinents meinen. Diese nahmen spätestens im 15. Jahrhundert mit der kolonialen Expansion europäischer Königreiche ihren Anfang. Das Selbstverständnis einer vermeintlichen Überlegenheit europäischer Kulturen und die damit einhergehende Zivilisierungsmission machen diese Dimension des Begriffs Europäisierung problematisch und führen zu seiner Ablehnung seitens kolonialisierter Gesellschaften, zumal Europäisierung, verstanden als weltweite Ausbreitung »imperialer Formen eines europäischen Regierens«, nach wie vor die Wurzel fortdauernder globaler Ungleichheits- und Machtverhältnisse ist (→Globalisierung) (Randeria/Römhild 2013 : 11ff.). Diese Debatte über Europa reicht weiter zurück in Antike und Mittelalter und führt zu einem dritten Begriffsverständnis. In der Frühen Neuzeit kam es zu ersten Versuchen der Systematisierung menschlicher Diversität, die in der Vorstellung einer europäisch genannten »Menschenrasse« mündete. Diese diente später dazu, »den globalen Erfolg und Überlegenheitsanspruch von Europa und seinen Einwohnern zu rationalisieren, zu legitimieren und durchzusetzen« (Patel/Lipphardt 2008 : 9) (→Rassismus). Mittlerweile hat sich ein von Vorstellungen der Dominanz und Höherwertigkeit der Bewohner*innen des europäischen Kontinents freies Verständnis der Europäer*innen entwickelt, das diese begreift als »Menschen, die sich selbst so verstehen bzw. von anderen so bezeichnet werden, die als Europäer [handeln], europäische Lebenswelten [schaffen] und Vorstellungen von Europa Sinn und Ausstrahlungskraft« (Patel/Lipphardt 2009 : 15) verleihen. Das bedeutet, dass sich selbst als Europäer*innen identifizierende Menschen auch außerhalb Europas leben können und nicht notwendigerweise Nationalitäten oder Erstsprachen haben müssen, die zum europäischen Bestand gezählt werden. Ein solches geistesgeschichtlich und gesellschaftsphilosophisch fundiertes, sozialkonstruktivistisches Bild der Sozialkategorie »Europäer*in« spiegelt sich allerdings nicht in der Praxis des EU-Grenzregimes, die ein viertes Europaver-
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ständnis zeigt. Dessen eng an die europäische Staatsbürgerschaft gekoppeltes Auffassung von Europäer*insein wirkt faktisch ausgrenzend, analog zu der Operation, mit der an den Außengrenzen der EU durch Pass- und Visakontrollen, Zollstationen und Patrouillengänge von Grenzpolizist*innen zwei Kategorien von Menschen – EU-Bürger*innen und sogenannte Drittstaatsangehörige – hervorgebracht werden. Gleichwohl ist eine Deutung, die als Europäer*innen jene Menschen bezeichnet, die die Staatsangehörigkeit eines der – seit dem Austritt Großbritanniens am 31. Januar 2020 – 27 Mitgliedsländer der EU haben, auch kulturwissenschaftlich berechtigt. Denn man muss davon ausgehen, dass im Binnenraum der EU in den vergangenen Jahrzehnten →Integration und Stabilität auch die Alltagspraxen und Subjektivitäten der Menschen verändert haben.
Wissenschaftsgeschichte(n) Während sich Rechtsgeschichte, Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeographie schon lange mit europäischen Entwicklungslinien und Sonderwegen beschäftigen, ist die kulturwissenschaftliche Europaforschung historisch neu und entstand erst Ende des 20. Jahrhunderts. Die Vorgängerdisziplin der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie, die Volkskunde, hatte ihre angestammten Forschungsgebiete im deutschsprachigen Raum und war zudem häufig stark landschaftlich und regional ausgerichtet. Die Ausweitung des Horizonts auf ganz Europa, die Abkehr von der primär kulturhistorischen Perspektive der Volkskunde und die Beschäftigung mit europäischen Gegenwartsgesellschaften gehören zu den wichtigen Modernisierungsmomenten der Volkskunde im 20. Jahrhundert (vgl. Welz 2013). Heute hat sich die kultur- und sozialanthropologische Europäisierungsforschung etabliert und merklich erweitert (vgl. Kockel et al. 2012). Themen sind die EU, ihre Entscheidungsträger*innen und Akteur*innen, die Wirkungen der EU im Alltag der Menschen und Europa als Kontaktzone von Mobilitäten und globalen Einflüssen vor allem an den Grenzen und jenseits der »Ränder« der EU (→Globalisierung). Aus der Perspektive der Kulturanthropologie wird die politische Integration Europas als ein kultureller Prozess analysiert, der oft unmerklich, im alltäglichen Funktionieren und Handeln der beteiligten Organisationen und Akteur*innen geschieht (vgl. Welz/Lottermann 2009 : 11) und wechselseitig – in den Mitgliedsländern, aber auch in den Gremien und Behörden der EU – Veränderungen anstößt (vgl. Immerfall 2013).
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Ausblick In den letzten Jahren ist Europa geprägt gewesen von den Schuldenkrisen in einer Reihe von europäischen Ländern, den Widersprüchen der EU-Politik im Hinblick auf Fluchtmigration (→Flüchtling →Migration) aus Kriegs- und Krisen gebieten außerhalb Europas, dem wiedererstarkenden Rechtspopulismus und Nationalismus (→Nationalstaat) in vielen Ländern, dem befürchteten Auseinanderbrechen der politischen Union in der Folge des EU-Austritts Großbritanniens sowie von den Herausforderungen wie der Coronavirus-Pandemie : Auch in Europa haben wir es mit einer andauernden Mehrfachkrise zu tun. In zeitlich dicht gedrängter Form gibt es zahlreiche Anfechtungen und Dilemmata, die die politische Tragfähigkeit der europäischen Idee belasten und zugleich die Forschungsdringlichkeit anzeigen. Die eigentliche Krise Europas war und ist die Unfähigkeit der europäischen Länder, Möglichkeiten legaler Zuwanderung für Menschen aus dem Globalen Süden zu definieren. Wenn Menschen Europäer*innen werden, drehen sich ihre →Identitäten nicht mehr um Religion, Volkstum (→Volk) oder die Verteidigung der n ationalen Grenzen (→Nationalstaat), sondern sie bekennen sich zu kultureller Vielfalt (→Kultur), zu demokratischen →Werten und einer globalen Wirtschaft (→Globalisierung), schrieb der amerikanische Kulturanthropologe John Borneman in seiner Analyse der Osterweiterung der EU im Jahr 2004 (vgl. Borneman/Fowler 2007). Es gehört zu den bitteren Ironien der jüngeren und jüngsten Geschichte der Europäischen Union, dass rechtspopulistische Politik in einer ganzen Reihe von Ländern erheblichen Zulauf gewonnen hat. Anders als es Bornemans Studie erwarten lässt, stellen ihre Befürworter*innen Religionszugehörigkeit und Volkstum über →Demokratie und Humanität und verfechten wieder die Schließung von Staatsgrenzen. Solchen Versuchen, die positiven Errungenschaften der Europäisierung preiszugeben, gilt es zu widerstehen. Die kulturwissenschaftliche Forschung ist aufgerufen, willkürliche Ausgrenzungen zu dekonstruieren und nicht ganze Gesellschaften als »europaunfähig« zu degradieren, sondern vielmehr eine Pluralität von Zugehörigkeiten und Interpretamenten sichtbar zu machen. Literatur Borneman, John/Fowler, Nick (1998) : Europeanization. In : Annual Review of Anthropology 26, S. 478–514. Immerfall, Stefan (2013) : Europa gegen Europa: Das real existierende Europa und die Sicht der Bürger. In: Johler, Reinhard (Hg.) : Where is Europe ? Wo ist Europa ? Où est
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l’Europe ? Dimensionen und Erfahrungen des neuen Europa. Studien und Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen (Bd. 46). Tübingen, S. 77–94. Kockel, Ullrich/Nic Craith, Máiréad/Frykman, Jonas (Hg.) (2012) : A Companion to the Anthropology of Europe. Oxford/Malden. Patel, Kiran Klaus/ Lipphardt, Veronika (2009) : Einleitung. In : Bluche, Lorraine/Lipphardt, Veronika/Patel, Kiran Klaus (Hg.) : Der Europäer. Ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken. Göttingen, S. 7–32. Radaelli, Claudio (2001) : The Domestic Impact of European Union Public Policy : Notes on Concepts, Methods, and the Challenge of Empirical Research. In : Politique Européenne 5, S. 107–142. Randeria, Shalini/Römhild, Regina (2013) : Das postkoloniale Europa. Verflochtene Genealogien der Gegenwart – Einleitung zur erweiterten Neuauflage. In : Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini/Römhild, Regina (Hg.) : Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erweiterte Auflage. Frankfurt am Main/New York, S. 9–30. Welz, Gisela (2005) : Ethnografien europäischer Modernen. In : Binder, Beate/Göttsch, Silke/ Kaschuba, Wolfgang/Vanja, Konrad (Hg.) : Ort. Arbeit. Körper. Ethnografie Europäischer Modernen. Münster et al., S. 19–31. Welz, Gisela (2013) : Europa : Ein Kontinent – zwei Ethnologien ? Nachdenken über einen Grenzfall. In : Bierschenk, Thomas/Krings, Matthias/Lentz, Carola (Hg.) : Ethnologie im 21. Jahrhundert. Berlin, S. 211–227. Welz, Gisela/Lottermann, Annina (2009) : Projekte der Europäisierung. In : dies. (Hg.) : Projekte der Europäisierung. Kulturanthropologische Forschungsperspektiven. Kulturanthropologie Notizen (Band 78). Frankfurt am Main, S. 11–16.
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Fluchthilfe
Kurzdefinition Der Begriff Fluchthilfe bezeichnet das unterstützende Handeln von Individuen oder Gruppen gegenüber Menschen vor, während und nach der Flucht (→Flüchtling). Die Hilfe umfasst das Teilen von Informationen, die Organisation von Reise- und Identifikationsdokumenten, den Transport von Menschen und die Unterstützung beim (irregulären) Grenzübertritt. Diese Aktivitäten können gegen Entgelt, andere Leistungen (zum Beispiel Arbeit, Sex) oder ohne Gegenleistungen erbracht werden ; teils werden die Remunerationen gewaltsam eingeholt. Aktivitäten zur Fluchthilfe können, müssen aber nicht illegal sein. Da aber die Flucht in der Regel unautorisiert erfolgt, sind auch alle fluchtunterstützenden Aktivitäten letztlich illegal und werden kriminalisiert. Eine weite Definition zählt zu Fluchthilfe auch die Aktivitäten, die politisch und diskursiv für mehr bzw. sichere Flucht- und Migrationsrouten eintreten. Um die Legitimität zu vergrößern, zielt der diskursive Rückbezug heutiger Fluchthilfeprotagonist*innen auf historische Akte von Fluchthilfe (zum Beispiel um dem Nationalsozialismus zu entkommen) ab, obgleich Fluchthilfe selten legal war.
Gesellschaftliche Situation Im Sommer 2015 wurde am Landgericht Verden der Fall eines in Deutschland wohnenden jesidischen Syrers verhandelt. Er war angeklagt, in fünf Fällen an »Luxusschleusungen« von jesidischen Syrer*innen aus der Türkei über Brasilien, Italien und Spanien nach Deutschland maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Dazu wertete die Staatsanwaltschaft mehrere Zehntausend Telefongespräche aus und verlas die übersetzten Inhalte vor Gericht zur Beweisführung. Die Anwältin des Angeklagten brachte in ihrem Schlussplädoyer vor, dass es für Geflüchtete keine legalen Fluchtwege gebe und auch die Landesaufnahmeprogramme für Syrer*innen nicht ausreichend seien. Am vierten Verhandlungstag wurde der Angeklagte zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Für den Angeklagten spreche, so der Richter, dass größtenteils Bürgerkriegsflüchtlinge geschleust
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worden seien und dass es sich um garantierte und begleitete Schleusungen auf einem sicheren Weg gehandelt habe. Gegen den Angeklagten spreche, dass er nicht nur Helfer gewesen sei, sondern auch eigene Aufträge entgegengenommen habe und vermutlich an mehr als den fünf angeklagten Taten beteiligt gewesen sei. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisierte das Urteil als einen »überzogenen und vollkommen unverhältnismäßigen Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaft gegen Fluchthelfer«.1 Als zur selben Zeit, im »langen Sommer der Migration« 2015, Tausende Flüchtende (→Flüchtling) von Griechenland über die sogenannte Balkanroute in nord- und westeuropäische Länder reisten, wurde von zahlreichen Freiwilligen an den sich schließenden innereuropäischen Grenzen Fluchthilfe geleistet – vor allem in Form von (oft unerkannten) Mitfahrgelegenheiten. Über eine koordinierte Aktion, den Refugee Convoy – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge, berichteten Medien umfassend. Dabei holten Aktivist*innen mit rund 170 Autos 380 Reisende auf ihrem Weg aus Ungarn ab und brachten sie direkt zum Wiener Westbahnhof (vgl. Szabó et al. 2015). Aufgrund des Asylparadoxons, dem zufolge Flüchtende gezwungen sind, illegal in ein Land einzureisen, um dort ordnungsgemäß einen Asylantrag zu stellen (→Asyl), sind Schutzsuchende zu einem Großteil auf Fluchthilfe angewiesen, weil beispielsweise in →Europa aufgrund von Asyl- und Grenzregimen kaum noch ein legaler Zugang zu den meisten →Nationalstaaten besteht. Fluchthilfe wird in aktuellen Fluchtbewegungen von sehr unterschiedlichen Personen geleistet. Die Linie zwischen gewinnorientiertem Geschäft und humanitärer Motivation bzw. Selbsthilfe in migrantischen Communitys ist in vielen Fällen nicht ganz eindeutig. Im Unterschied zu anderen Beteiligten sind es oft ehemalige Geflüchtete, die vor Gericht stehen (vgl. Buchen 2014). Der oben erwähnte Angeklagte ist einer von über 2.600 Personen, die selbst Flüchtlinge waren und in Deutschland zwischen Januar und September 2015 wegen »Schleusung«, also der Assistenz zu illegaler Einreise, festgenommen wurden.2 Parallel dazu wandelte sich die öffentliche Meinung : Im öffentlichen Diskurs wurde 2015 (zunächst noch) eine →Willkommenskultur gefeiert, der Slogan »Refugees Welcome« wurde populär und von 1 Prozessbeobachtung durch die Verfasserin sowie eine Kollegin, Protokolle auf Justizwatch 13.07. 2015 sowie 17./20./21.08.2015 ; vgl. Justizwatch (2015) : Protokolle aus dem S chleuserprozess Verden. URL : https://justizwatch.noblogs.org/prozessprotokolle/schleuserprozess-verden/ [9. Novem ber 2020]. 2 Vgl. Deutscher Bundestag (2015) : Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke et al., 21. Oktober 2015, Drucksache18/6445, Festnahmen wegen Schleusertätigkeit. URL : http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/064/1806445.pdf [9. Dezember 2020].
Fluchthilfe
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Politiker*innen der Bundesregierung und selbst Boulevardmedien aufgegriffen. Neben der direkten Unterstützung von Flüchtenden zählen zu Fluchthilfe so auch Aktivitäten, mit denen politisch und diskursiv für zusätzliche bzw. sichere Flucht- und Migrationswege eingetreten wird. Damit ist Fluchthilfe ein Aspekt der →Willkommenskultur, die Unterstützungspraxen für Flucht_migrant*innen begrifflich zusammenfasst. Dass Aktivist*innen auch direkte Fluchthilfe leisten, wie beim erwähnten Refugee Konvoi, ist eher selten.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Begriff Fluchthilfe ist ein vergleichsweise neuer Terminus des gesellschaftlichen Lebens, der sich im 20. Jahrhundert etablierte und seither im gesellschaftlichen Diskurs einen starken Bedeutungswandel erfahren hat. Ob Fluchthilfe so benannt wird, als kriminell oder vorbildlich gilt, als »Schlepperei« oder als »Menschenhandel« bezeichnet wird, hängt von den gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Umständen ab, wie im Folgenden vor allem für den deutschsprachigen Raum an paradigmatischen Fällen gezeigt wird. Dem Nationalsozialismus entkamen zwischen 1933 und 1945 viele Menschen durch illegale Grenzübertritte. Eine der wichtigsten Aktionen zur Rettung von Jüd*innen waren die illegalen Schiffstransporte in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina (vgl. Anderl/Usaty 2016 : 41). In Deutschland herrschte damals weitgehend Konsens, dass Fluchthilfe ein krimineller Akt sei – auch wenn im Strafgesetzbuch kein eindeutiges Verbot der Unterstützung verfolgter Jüd*innen verankert war. In juristischen Verfahren ging es um »Rassenschande«, Urkundenfälschung, Devisenvergehen, Verstöße gegen die Kriegswirtschaftsverordnung, »illegalen Grenzverkehr« oder »Rundfunkvergehen« ; »Judenbegünstigung« verfolgte die Gestapo sogar ohne Gerichtsverfahren (vgl. Kosmala 2004). Ab 1940/1941 bekämpfte das Deutsche Reich jegliche Form der Fluchthilfe im Zuge der NS-Vernichtungspolitik : Fluchthilfe war in der Folge nur noch in Gebieten mit einem breiten Widerstand in der Zivilbevölkerung möglich. Denunziation stellte eine allgegenwärtige Gefahr auch für Fluchthelfer*innen dar. Diese waren in den 1930er Jahren oftmals kommunistisch-sozialistische bzw. jüdische Personen, Gemeinden und Organisationen, arbeiteten teils kommerziell, teils unentgeltlich, teils auf Basis von Kostenerstattungen (vgl. Pfau 2008b : 99). Zwei Drittel der Fluchthilfeleistenden im Deutschen Reich, die von 1941 bis 1945 illegal dort lebende jüdische Menschen unterstützten, waren Frauen – wie die Widerstandskämpferin Lisa Fittko, die ihre Geschichte in dem Buch »Mein Weg
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über die Pyrenäen« (1989) dokumentiert hat. Geschlechterstereotypen (→Geschlecht/Gender) zufolge wurde Frauen Widerstand nicht zugetraut, was ihnen einen größeren Handlungsspielraum eröffnete (vgl. Kosmala 2004). Gruppen, die oft als Fluchthelfer*innen agierten, waren Erwerbslose, Fischer*innen und Bäuer*innen. Einige nutzten die Fluchthilfe auch als Zusatzverdienst und Gelegenheitsjob. So kam es teilweise zu einer Form von Professionalisierung, feste Tarife etablierten sich (vgl. Anderl/Usaty 2015 : 33f.). Fluchthelfer*innen aus der Zeit des Nationalsozialismus wurden erst später, in der Schweiz erst 2004, rehabilitiert. Die Schweiz spielte aufgrund ihrer politischen Lage und ihrer Neutralität eine besondere Rolle bei der Fluchthilfe. An ihrer Westgrenze arbeiteten ab 1942 viele sogenannte Passeur*innen – ortskundige →Einheimische – für jüdische und christliche Organisationen (vgl. Anderl/Usaty 2016 : 37). Eine andere Situation ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wo vor allem Flüchtende aus »dem Osten« gesellschaftlich relevant wurden : In Westdeutschland waren zu Zeiten des geteilten Deutschlands Flüchtende aus der DDR und dem »sozialistischen Block« anfangs sowohl politisch als auch wirtschaftlich erwünscht : »Die ›Illegalität‹ des Grenzübertritts stellte in dieser Lesart den legitimen Widerstand gegen ein selbst illegitimes Grenzregime dar« (Pfau 2008a : 29). So wurde das negative Bild vom ideologischen Feind gestärkt. Die deutsche Bundesregierung würdigte die damals geleistete Unterstützung im Nachhinein. Eine emblematische Figur des Fluchthelfers ist Burkhard Veigel. Er half 650 DDR-Bürger*innen bei der Flucht unter anderem durch Tunnel und umgebaute Autos. Für sein Engagement für die Freiheit erhielt Veigel 2012 das Bundesverdienstkreuz. Im Zuge dessen zog er Parallelen zur sogenannten Flüchtlingskrise 2015 : »Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem, was ich gemacht habe, und dem, was ein syrischer Fluchthelfer macht. […] Wenn ein Mensch in Not ist, hat er ein eigenes Gesetz. Und wenn ihm kein anderer hilft, müssen wir das eben tun.«3 Aus Sicht der DDR dagegen galten die damaligen Fluchthelfer*innen aus dem Westen als »kriminelle Menschenhändler-Bande« (Boesch 2008 : 236). Die Gegenüberstellung der Positionen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR macht die ideologische Färbung des Diskurses deutlich : Auf der einen Seite wurden die Helfer*innen dämonisiert, auf der anderen heroisiert (vgl. ebd.: 237). Bis in die 1990er Jahre war im Völkerrecht Fluchthilfe in den meisten Staaten nicht oder kaum strafbar (vgl. Schloenhardt 2015). Erst Anfang der 1990er Jahre wurde Schlepperei zunehmend durch völkerrechtliche Verträge kriminalisiert. Eines der ersten Dokumente hierzu war 1993 die Resolution »Prevention of the 3 Die Zeit : Der Flüchtling auf dem Rücksitz. 3. August 2015.
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Smuggling of Aliens« der Generalversammlung der Vereinten Nationen.4 Sie setzt Schmuggel und Schleusung von Ausländer*innen (smuggling) explizit in Verbindung mit Organisierter Kriminalität, Menschenrechtsverletzungen sowie einer Lebensgefahr für die Migrant*innen. Im sogenannten Budapest-Prozess, einem seit 1991 existierenden Forum für den zwischenstaatlichen Dialog im Bereich →Migration, steht die Bekämpfung der »Schleusung illegaler Migranten« seitens der zur Grenz- und Migrationskontrolle kooperierenden Staaten West-, Süd- und Zentraleuropas im Zentrum. Zur argumentativen Unterstützung der geforderten Kriminalisierung wurden auch Vergleiche zur Sklaverei gezogen : »Noting that smuggling of illegal migrants has the most harmful social and economic effects comparable to those which slavery had in the past and therefore should be considered as a crime in all countries.«5 Seither wurden nach und nach Abkommen zur Bekämpfung des Schleusens in unterschiedlichen Staatenkooperationen abgeschlossen und breit ratifiziert (zum Beispiel das Zusatzprotokoll gegen die Schlepperei von Migrant*innen auf dem Land-, See- und Luftweg).6 Dabei spielt der Bezug auf Sklaverei unter umgekehrten Vorzeichen eine Rolle, wenn sich gegenwärtige Fluchthilfeinitiativen, die wie Welcome to Europe die Weiterflucht quer durch →Europa unterstützen, auf die Underground Railroad beziehen, ein Netzwerk zur Sklavenbefreiung aus der US-amerikanischen Geschichte (Stierl 2020). Fluchthilfe ist zwar als Begriff zur Beschreibung unterstützender Handlungen von Flüchtenden im gesellschaftlichen Diskurs etabliert, aber als analytische Kategorie in wissenschaftlichen Disziplinen ist er bislang nicht eingeführt. Sehr wohl gibt es aus verschiedenen Disziplinen Untersuchungen zum Gegenstand, aber keine systematisierten Zugänge und Erklärungsmodelle, sodass in diesem Fall auf eine Darstellung der Wissenschaftsgeschichte verzichtet wird.
4 United Nations (1993) : Prevention of the Smuggling of Aliens, G.A. res. 48/102, 48 U.N. GAOR Supp. (No. 49) at 214, U.N. Doc. A/48/49. 5 Budapest Process (1993) : Final Communique of the Ministerial Conference to Prevent Uncontrolled Migration, February 1993, S. 3 ; Herv. i. Orig. 6 Vereinte Nationen (2004) : Zusatzprotokoll gegen die Schlepperei von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. In : BGBl. III. Ausgegeben am 31. Jänner 2008 – Nr. 11.
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Ausblick Der Begriff der Fluchthilfe bezieht sich auf unterschiedliche Handlungen und Maßnahmen, damit flüchtende Menschen ihre Wege fortsetzen und Zugang zu einem sicheren Ort finden können (→Sicherheit). Dies geschieht oft gegen geltende Gesetze. Fluchthilfe kann sowohl direkte Unterstützung des Grenzübertritts (etwa durch Transport oder Informationen) als auch indirekte Fluchthilfe bedeuten (etwa durch Kampagnen für sichere Fluchtwege und staatliche Aufnahmeprogramme). Fluchthilfe ist angesichts zunehmend geschlossener Grenzen und gefährlicher Fluchtwege ein besonders aktuelles Thema in →Europa und darüber hinaus. Repressionen treffen mittlerweile auch zivilgesellschaftliche Initiativen der Seenot rettung auf dem Mittelmeer. Diese wachsende Kriminalisierung der Solidarität mit Flüchtenden (»Solidaritätsverbrechen«, vgl. Zhang et al. 2018) hat jüngst zur Politisierung humanitärer Praxen geführt. So gründete sich Mitte 2018, als die neu gewählte rechte Regierung in Italien Schiffen privater Seenotrettungsinitiativen das Einlaufen in Häfen untersagte, zunächst in Deutschland die Protestbewegung »Seebrücke. Schafft sichere Häfen«. Mittlerweile gibt es in Deutschland, Österreich und anderen Ländern über 200 Städte, Gemeinden und Kommunen, die sich zu »sicheren Häfen« erklärt haben und die gegenwärtige Bedeutung von Fluchthilfe demonstrieren. Initiativen der Fluchthilfe spielen damit eine wichtige Rolle innerhalb der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Flucht_Migration,7 Grenzen und Solidarität in Europa und darüber hinaus (vgl. Schwiertz/ Schwenken 2020). Im Hinblick auf das weite Feld von Fluchthilfe sollten die verwendeten Begrifflichkeiten mit Bedacht gewählt werden. So könnte der verkürzten Dichotomisierung von »guter Fluchthilfe« und »schlechter Schlepperei« eine differenzierte Analyse der komplexen Unterstützungsformen von Fluchtprojekten gegenübergestellt werden. Dieses begriffliche Spannungsfeld zeigt zugleich, dass eine neutrale Beschreibung des Feldes nicht möglich ist. Der Begriff der Fluchthilfe kann durch seinen Bezug auf die Gegenwart neue Bedeutungen im komplexen und konfliktreichen Feld der Flucht_Migration erschließen.
7 Zur Begriffserklärung siehe Fußnote 2 im Kapitel →Asyl.
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Literatur Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.) (2016) : Schleppen, Schleusen, Helfen : Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien. Boesch, Ina (Hg.) (2008) : Grenzfälle. Von Flucht und Hilfe. Fünf Geschichten aus Europa. Zürich. Buchen, Stefan (2014) : Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden. Bonn. Fittko, Lisa (1989) : Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. München. Kosmala, Beate (2004) : Verbotene Hilfe. Rettung für Juden in Deutschland 1941–1945. In : Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.) : Gesprächskreis Geschichte 56. Bonn. Pfau, Jonas (2008a) : Prekäre Migration und Ausschluss : Die gesellschaftliche Perzeption von illegaler Migration, Fluchthilfe und Menschenschmuggel in und nach Mitteleuropa. In : Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 18(1), S. 23–41. Pfau, Jonas (2008b) Subversion am Rande. Fluchthilfe und Menschenschmuggel im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts und die Bedeutung der grenzregionalen Bevölkerung. In : Comparativ Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 18(1), S. 92–103. Schloenhardt, Andreas (2015) : Samariter, Schlepper, Straftäter : Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert. In : APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 25 : Flucht und Asyl. URL : https://www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migranten schmuggel [9. Dezember 2020]. Schwiertz, Helge/Schwenken, Helen (2020) : Mobilizing for Safe Passages and Escape Aid : Challenging the ›Asylum‹ Paradox between Active and Activist Citizenship, Humanitarianism and Solidarity. In : Citizenship Studies 24(4), S. 493–511. Stierl, Maurice (2020) : Of Migrant Slaves and Underground Railroads : Movement, Containment, Freedom. In : American Behavioral Scientist 64(4), S. 456–479. Szabó, Erzsébet/Hammer, Heide/Wendt, Kurto/Fittko, Lisa (2015.) : Fluchthelfer*innen – einst und jetzt. In : migrazine.at (1). URL http://www.migrazine.at/artikel/fluchthelfe rinnen-einst-und-jetzt [19. März 2021]. Zhang, Sheldon X./Sanchez, Gabriella E./Achilli, Luigi (2018) : Crimes of Solidarity in Mobility : Alternative Views on Migrant Smuggling. In : The Annals of the American Academy of Political and Social Science 676, S. 6–15.
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Kurzdefinition Der Begriff Flüchtling steht heute für Menschen, die ihren Herkunftsort verlassen müssen, weil sie aufgrund →ethnischer Selbst- und Fremdzuschreibungen, ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer politischen Einstellung oder geschlechtsspezifischer (→Geschlecht/Gender) Diskriminierung von politischer Verfolgung bedroht sind. Das gängige Verständnis ist dabei grundlegend von institutionellen Definitionen wie jener der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) geprägt. Diese rechtlich-politischen Kategorisierungen gehen mit gesellschaftlich kontroversen Aushandlungen über das Thema einher. Auch jene Menschen, die als Flüchtlinge bezeichnet werden oder sich selbst so nennen, wirken daran mit.
Gesellschaftliche Situation 2015 kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) das Substantiv Flüchtlinge zum Wort des Jahres. Das Wort sei zum einen »sprachlich interessant«, weil es in seiner Verbindung des Verbs »flüchten« mit dem Ableitungssuffix »-ling« tendenziell negativ und »abschätzig« sowie »passiv« konnotiert sei. Gleichzeitig stehe es synonym für das »beherrschende Thema des Jahres« :1 die Flucht und →Migration von Hunderttausenden Menschen vor allem aus Westasien sowie Nord- und Ostafrika nach →Europa. Diese wurde wiederum von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Willkommens- und Solidaritätsinitiativen in den Transitund Ankunftsländern entlang der Fluchtrouten durch Europa kurz- oder längerfristig unterstützt (→Willkommenskultur). Auf der anderen Seite verschärften europäische Länder wie Deutschland oder Österreich ihr Asylrecht (→Asyl), und auch die Europäische Union bemühte sich – unter anderem durch das EU-Türkei-Abkommen von 2016 – um eine weitere Abschottung ihrer Außengrenzen. Dort warten Tausende Menschen unter unmenschlichen Bedingungen 1 Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) (2020) : GfdS wählt »Flüchtlinge« zum Wort des Jahres 2015. URL : https://gfds.de/wort-des-jahres-2015 [22. November 2020].
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in Lagern auf eine Möglichkeit zur Weiterreise. Gleichzeitig konnten rechte und rechtsextreme politische Strömungen und Parteien das Thema für sich nutzen, um gesellschaftliche →Ängste vor »den Fremden« und »islamistischem Terrorismus« (→Islam) zu schüren. Insgesamt waren im Jahr 2015 weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 40,8 Millionen Binnenvertriebene, im Jahr 2019 sogar 79,5 Millionen, also 1 Prozent der Weltbevölkerung.2
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Das Wort Flüchtling wechselte im Laufe seiner langen Geschichte im Deutschen wie in anderen europäischen Sprachen und Ländern zwischen negativ und positiv besetzten Bedeutungen. Dem Historiker Philipp Ther zufolge geht eine frühe Verwendung auf den im Englischen und Französischen gebrauchten Begriff refuge zurück. Als refugés beziehungsweise refugees bezeichnete man Hugenott*innen, die ab dem 16. und bis ins 17. Jahrhundert hinein Frankreich infolge der Hugenottenkriege verlassen mussten (vgl. Ther 2017 : 41f.). Zum stehenden, wenngleich schon damals ambivalent definierten Begriff wurde »Flüchtling« im Ersten Weltkrieg mit seinen etwa 13 Millionen Kriegsflüchtlingen. Infolge dieses Ereignisses entwickelte sich das Phänomen der Massenflucht zu einer Alltagserfahrung in →Europa. Diese veränderte nicht nur das Leben der Geflüchteten, sondern auch die Aufnahmegesellschaften selbst (vgl. ebd.: 76f.). Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistischen Verbrechen der Shoah zwangen erneut Millionen Menschen in →Europa zur Flucht, darunter Kriegsflüchtlinge, befreite Zwangsarbeiter*innen und Zwangsverschleppte des natio nalsozialistischen Regimes (Displaced Persons). Ebenso zählen hierzu 12 bis 14 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie Angehörige der deutschsprachigen Minderheiten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Diese mussten infolge des Vormarsches der Roten Armee als Reaktion auf den deutschen Angriffskrieg und die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht an der Zivilbevölkerung flüchten sowie nach den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz von 1945 zwangsweise umsiedeln. Im Nachklang der Bevölkerungsverschiebungen der beiden Weltkriege – für den Zweiten Weltkrieg geht man von 60 Millionen Geflüchteten, Zwangsumgesiedelten und Deportierten aus – hat sich für das
2 UNHCR (2016) : Flucht und Vertreibung 2015 dramatisch gestiegen, 20. Juni 2016. URL : https://www. unhcr.org/dach/de/6483-flucht-und-vertreibung-2015-drastisch-gestiegen.html [6. April 2021].
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20. Jahrhundert die Bezeichnung »Jahrhundert der Flüchtlinge« etabliert (vgl. Oltmer 2016). Die deutschsprachigen Geflüchteten aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa nahmen für sich in den folgenden Jahrzehnten den emotional aufgeladenen Begriff »Heimatvertriebene« in Anspruch. Ab den späten 1940er Jahren engagierten sich Interessensverbände wie die schlesischen und sudetendeutschen »Landsmannschaften« und der 1951 gegründete Bund der Vertriebenen in politischer Lobbyarbeit (vgl. Hirsch 2003). Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gelang es ihnen ab den 1990er Jahren, auf die Erinnerungspolitik in Deutschland zunehmend Einfluss zu nehmen. Dies zeigt sich unter anderem in der 2008 gegründeten Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, in der der Bund der Vertriebenen 6 der 21 Mitglieder des Stiftungsrats stellt. In Deutschland zählen auch jene gesellschaftlichen Gruppen als Flüchtlinge, die ab den 1950er Jahren als »Sowjetzonenflüchtlinge« aus der DDR nach Westdeutschland kamen. Ihr Fluchtstatus und die Aufnahme waren vor allem in der Adenauer-Ära umstritten, und nur ein geringer Teil von ihnen wurde als politisch verfolgt anerkannt. Allerdings hätte eine Zurückweisung bedeutet, das »Dogma des unteilbaren Deutschlands« (Ther 2017 : 243) aufzugeben. Dies führte in den Folgejahren zu einer großzügigen Auslegung des Bundesnotaufnahmegesetzes (ebd.). Auf internationaler Ebene führten Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs 1950 zur Gründung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und ein Jahr später zur Verabschiedung der GFK. Auf diesem Abkommen fußt das internationale Flüchtlingsrecht bis heute. Gleichzeitig beinhaltet die Konvention eine maßgebliche und bis in die Gegenwart machtvolle Definition des Begriffs. Nach Artikel 1 ist die »Flüchtlingseigenschaft« einer Person zuzuerkennen, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will«.3
3 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (in Kraft getreten am 22. April 1954). Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (in Kraft getreten am 4. Oktober 1967). URL : https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/ Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf [2. September 2020].
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Staaten, die die GFK unterzeichnen, verpflichten sich, Menschen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus rechtlichen Schutz zu gewähren. Allerdings erfasst diese Definition lediglich jene Flüchtlinge, die nationale Grenzen (→Nationalstaat) überschreiten. Das gesellschaftlich ebenfalls relevante Phänomen der Binnenflucht fällt damit nicht unter das Mandat des UNHCR. In den folgenden Jahren wurde die Reichweite des Begriffs Flüchtling in Abkommen wie der Konvention der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) 1969 oder der Cartagena Declaration on refugees mehrerer lateinamerikanischen Staaten von 1984 erweitert (Kroner/Palmberger 2011). Wie schon das Beispiel der »Heimatvertriebenen« zeigt, sind Geflüchtete nicht nur passive Opfer, sondern aktive Gestalter*innen ihrer eigenen Biographie, aber auch der soziokulturellen und politischen Verhältnisse in den Ankunftsgesellschaften. Entsprechend haben sich auch im Zuge der jüngeren Migrationsbewegungen (→Migration) Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung (→Migrationshintergrund) in politischen Initiativen organisiert, um gegen die Bedingungen ihrer Unterbringung, die Restriktionen des Asylverfahrens (→Asyl) und die EU-Migrations- und -Grenzpolitik sowie für politische und soziale Rechte zu demonstrieren (vgl. Ataç/Rygiel/Stierl 2016). Dieses Ziel verfolgte etwa der Marsch von Traiskirchen nach Wien am 24. November 2012, in dem mehr als 200 Geflüchtete zusammen mit Unterstützer*innen aus Österreich gegen die Bedingungen des österreichischen Asylverfahrens demonstrierten. Im weiteren Verlauf errichteten sie im Wiener Votiv-Park das Refugee Protest Camp Vienna und besetzten für mehrere Monate die Votivkirche (vgl. Ataç 2016). Im Zuge dieser und vergleichbarer politischer Auseinandersetzungen haben sich die Akteur*innen die Kategorie »Flüchtling« – in englischer Form refugee – als politisierte Selbstzuschreibung angeeignet. Sie bilden darüber in gewissem Maße eine kollektive politische →Identität aus und formulieren gemeinsame politische Forderungen. Mit ihren Protestinitiativen und Forderungen überschreiten sie →nationalstaatliche Logiken in →Europa, die das Zugeständnis sozialer und politischer Rechte grundlegend an nationalstaatliche Zugehörigkeit knüpfen. Refugees stellen neue Fragen an das Prinzip der »Bürger*innenschaft« sowie die damit verbundenen Rechte (vgl. Bojadžijev/Liebelt 2014). Gleichzeitig fordern sie auch den Tenor der Migrationsforschung sowie der Flucht- und Flüchtlingsforschung im engeren Sinne heraus, der sie häufig vor allem als passive Opfer darstellt.
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Wissenschaftsgeschichte(n) Die internationale Flucht- und Flüchtlingsforschung entstand vor allem im Zuge der Erfahrungen der Gewaltmigration und »weitverbreiteter Staatenlosigkeit« (Kleist 2018 : 9) des Ersten und Zweiten Weltkriegs. In den 1950er Jahren bildeten sich internationale wissenschaftliche Assoziationen wie die Association européenne pour l’etude du problème des réfugiés (AER) und die Association for the Study of the World refugee Problem (AWE). Deutsche Wissenschaftler*innen ganz unterschiedlicher Disziplinen interessierten sich vor allem für Flüchtlinge in Deutschland und deren gesellschaftliche →Integration (vgl. Kleist 2018 : 10). In den 1960er Jahren entstand zudem in der Geschichts- und Literaturwissenschaft im Zuge der Student*innenbewegung die Exilforschung, wobei das Interesse an gegenwartsbezogener Flucht Ende der 1960er Jahre stark sank (vgl. ebd.). Erst in den 1980er Jahren widmete sich die Rechtswissenschaft im Kontext der Debatte um die Reform des Asylrechts dem Thema. Während die Flüchtlingsforschung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auch in den Sozialwissenschaften zunächst zunahm, wurde dem Politikwissenschaftler Olaf Kleist zufolge ab der Mitte der 1990er Jahre kaum noch zu Flüchtlingen geforscht (vgl. ebd.). Im anglophonen Raum etablierte sich die Flucht- und Flüchtlingsforschung seit den 1980er Jahren in Form der Refugee Studies. Demgegenüber blieb die Institutionalisierung in Deutschland bis ungefähr zur Mitte der 2010er Jahre weitestgehend aus (vgl. ebd.: 11). Die Wissenschaft differenziert unterschiedliche Migrationsformen zunächst entlang der Frage, ob diese freiwillig oder unfreiwillig geschieht. Bei Formen unfreiwilliger →Migration wird wiederum weiter zwischen »Wirtschaftsflüchtlingen« und »Konventionsflüchtlingen« unterschieden. Erstere sind aus wirtschaftlichen Gründen zur Migration gezwungen, während Letztere entsprechend den Kriterien der GFK aus politischen Gründen flüchten müssen (vgl. Binder/Tošić 2003 : 455). Ergänzend kommt allmählich auch die Kategorie der »Klimaflüchtlinge« in den Blick (vgl. Klepp 2018). Die Grenzen zwischen diesen wissenschaftlich unterschiedenen Migrationsgründen verlaufen jedoch keinesfalls eindeutig. So flohen zum Beispiel die »Gastarbeiter*innen« bis in den 1970er Jahre häufig auch vor autoritären Regierungen und Diktaturen in ihren Herkunftsländern (vgl. Schwenken 2018 : 43). In der gegenwärtigen Flucht- und Migrationsforschung wird die Kategorie Flüchtling sowohl als wissenschaftliche, staatlich-institutionelle wie auch als Kategorie des medialen und alltagsweltlichen Diskurses zunehmend kritisch betrachtet. So wird in Ankunftsgesellschaften entlang des Flüchtlingsstatus und
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damit auch des Begriffs permanent ausgehandelt und definiert, wer dazugehört und wer nicht, wer legitim und wer nicht legitim zugewandert ist. Staatliche Institutionen spielen in diesem Prozess eine wichtige Rolle (vgl. Schroeder zitiert nach Schütte 2019 : 22). Gleichzeitig wird die Kategorie des Flüchtlings als zu allgemein kritisiert und angemerkt, dass sie die »Komplexität von aktuellen Fluchtbewegungen, -szenarien und -definitionen« (ebd.: 22) nicht ausreichend erfassen könne. Ebenso seien mediale und häufig stereotypisierende Darstellungen von Menschen als Flüchtlinge kritisch zu betrachten, zumal hier individuelle Biographien vergleichsweise selten präsentiert würden. Stattdessen dominierten kollektivierende und zugleich negativ besetzte sowie bedrohlich wirkende Metaphern wie »Masse«, »Strom« oder »Welle« die mediale Darstellung (vgl. Binder/Tošić 2003). Ebenso wird kritisiert, dass dem politischen und medialen Diskurs um Flucht und →Migration, aber auch der Forschung oftmals ein problematisches Verständnis »kultureller Identität« (→Kultur →Identität) unterliege. Vor allem die sozial- und politikwissenschaftliche Migrations- und Fluchtforschung hat zudem verdeutlicht, dass in den Prozess, in dem sich bestimmte Bedeutungen des Begriffs Flüchtling durchsetzen oder miteinander konkurrieren und dieser zu einem Rechts-, aber auch Alltagsbegriff wird, sowohl staatlich-institutionelle als auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen involviert sind. Dies umfasst nicht zuletzt die so etikettierten Menschen selbst, wie die Migrations bewegungen von 2015 und die weiter oben erwähnten Proteste von refugees verdeutlicht haben, zu denen es mittlerweile eine breite Forschungslage gibt (vgl. Della Porta 2018). Flüchtende Menschen werden im Prozess ihrer →Migration immer wieder von »außen« mit dem Etikett »Flüchtling« bzw. refugee konfrontiert. Der Erziehungswissenschaftler Dominik Schütte hat verdeutlicht, dass Geflüchtete, die im Verlauf ihrer Flucht in Deutschland um →Asyl ansuchten, gegenüber Sachbearbeiter*innen in Ausländerbehörden ihre Fluchtgeschichte mittels bestimmter Merkmale darstellen müssten, damit die Erzähler*innen als Flüchtlinge und Asylsuchende anerkannt würden. Kriterien, an denen sich ihre Glaubwürdigkeit bemesse, seien von staatlich-institutioneller Seite festgelegt und definiert (vgl. Schütte 2019 : 23). Ein entsprechendes Wissen zirkuliert unter Geflüchteten und wird in der Befragungssituation umgesetzt. Sie müssen also im Umgang mit staatlichen Akteuren aktiv die Rolle des Flüchtlings annehmen und ausdeuten. Insbesondere die kritische Grenz- und Migrationsforschung sowie die rassismuskritische Forschung lehnen den Begriff Flüchtling als wissenschaftliche Kategorie unter anderem deshalb grundlegend ab, weil er eine staatliche Perspektive auf Migration bevorzuge und nahelege (→Rassismus) (vgl. Kleist 2018 : 7). So
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wird argumentiert, dass der Begriff vor allem juristisch und politisch besetzt sei. Außerdem berge er die Gefahr der Essentialisierung. Als Alternative wird der weniger vordefinierte und stärker auf die Aktivität der Flucht verweisende Begriff »Geflüchtete*r« bevorzugt, der zudem ermögliche, »eine Distanz zum Rechtsbegriff »Flüchtling« herzustellen« (ebd.: 8). Trotz dieser kritischen Sichtweisen wird der Begriff von Migrations- und Fluchtforscher*innen weiterverwendet.
Ausblick Der Begriff des Flüchtlings ist somit nicht nur innerhalb des politischen und medialen Diskurses sowie in zivilgesellschaftlichen Praxisfeldern, sondern auch in der Forschung zu Flucht und →Migration selbst umstritten und in Aushandlung. Wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzungen um genaue Benennungen sind unter anderem deshalb wichtig, weil sie die performative Wirkung und damit die Bezeichnungsmacht von Sprache sowie Prozesse der Bedeutungszuschreibung ernst nehmen. Gefragt sind Begriffe und eine Verwendungsweise, die jene Menschen, die als Flüchtlinge bezeichnet werden oder sich selbst in politischen Auseinandersetzungen refugees nennen, als handelnde und gestaltende zivilgesellschaftliche Akteur*innen adressieren. Aufgrund ihrer alltäglichen Lebenssituation und ihres häufig prekären sozialen und politischen Status stellen sie grundlegende Fragen an die politische, soziale und kulturelle Verfasstheit der Ankunftsgesellschaften. Literatur Ataç, Ilker (2016) : Refugee Protest Camp Vienna : Making Citizens through Locations of the Protest Movement. In : Citizenship Studies 10(5), S. 629–646. Ataç, Ilker/Rygiel, Kim/Stierl, Maurice (2016) : Introduction : The Contentious Politics of Refugee and Migrant Protest and Solidarity Movements : Remaking Citizenship from the Margins. In : Citizenship Studies 10(5), S. 527–544. Binder, Susanne/Tošić, Jelena (2003) : Flüchtlingsforschung : Sozialanthropologische Ansätze und genderspezifische Aspekte. In : SWS Rundschau 43(4), S. 450–472. Bojadžijev, Manuela/Liebelt, Claudia (2014) : Cosmopolitics, oder : Migration als soziale Bewegung : Von Bürgerschaft und Kosmopolitismus im globalen Arbeitsmarkt. In : Nieswand, Boris/Heike Drotbohm (Hg.) : Kultur, Gesellschaft, Migration 325. Studien zur Migrations- und Integrationspolitik. Wiesbaden, S. 325–346. Della Porta, Donatella (Hg.) (2018) : Solidarity Mobilizations in the »Refugee Crisis« : Contentious Moves. Cham.
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Hirsch, Helga (2003) : Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel. In : Aus Politik und Zeitgeschichte 40–41, S. 14–26. Kasparek, Bernd/Speer, Marc (2015) : Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. In : bordermonitoring.eu, 7. September 2015. URL : https://bordermonitoring.eu/ ungarn/2015/09/of-hope [7. Februar 2020]. Kleist, Olaf (2015) : Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung. Peripherie 35(138/139), S. 150–169. Kleist, Olaf (2018) : Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland : Akteure, Themen und Strukturen, mit einem Beitrag von Lars Wirkus. State-of-Research Papier 01, Verbundprojekt »Flucht : Forschung und Transfer«. Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Osnabrück. Klepp, Silja (2018) : Klimawandel und Migration : Heterogenes Forschungsfeld und politisierte Debatte. In : Aus Politik und Zeitgeschichte 68(21/23), S. 34–39. Kroner, Gudrun/Palmberger, Monika (2011) : Flüchtlinge. In : Kreff, Ferdinand/Knoll, Eva-Maria/Gingrich, Andre (Hg.) : Lexikon der Globalisierung. Bielefeld 2011, S. 85– 89. Oltmer, Jochen (2016) : Kleine Globalgeschichte der Flucht im 20. Jahrhundert. In : Aus Politik und Zeitgeschichte 26–27, S. 18–25. Schütte, Dominik (2019) : Die eigenen Verstrickungen reflektieren. In : Kaufmann, Margrit E. et al. (Hg.) : Forschen und Arbeiten im Kontext von Flucht. Reflexionslücken, Repräsentations- und Ethikfragen. Wiesbaden, S. 21–43. Schwenken, Helen (2018) : Globale Migration zur Einführung. Hamburg. Ther, Philipp (2017) : Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Frankfurt am Main.
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Gemeinschaft
Kurzdefinition »Gemeinschaft« ist ein soziologischer Grundbegriff. Er bezeichnet jene Formen des menschlichen Zusammenlebens, die in erster Linie durch ausgeprägte emotionale Beziehungen der Mitglieder untereinander bzw. durch traditionale Zusammenhänge gekennzeichnet sind und meist eine überschaubare Größe aufweisen. Zudem sind diese Sozialformen in der Regel von einer gewissen Dauer und werden von den Mitgliedern grundsätzlich positiv gesehen. Durch vielfältige politische und weltanschauliche Vereinnahmungen seit dem späten 19. Jahrhundert hat der Begriff Gemeinschaft jedoch starke inhaltliche Ausweitungen und Aufladungen erfahren.
Gesellschaftliche Situation In Krisenzeiten, wenn ein Gefühl der Unsicherheit um sich greift, appellieren Politiker*innen gerne an Gemeinsinn, Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Anrufung des Gemeinsamen hat in solchen Situationen Konjunktur. So erklärte der deutsche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Mai 2020, kurz nach der ersten Hochphase der Coronavirus-Pandemie und angesichts der zu diesem Zeitpunkt zunehmenden Protestdemonstrationen gegen das Regierungshandeln, in einem Zeitungsinterview : »Wichtig ist es, ein Gefühl dafür zu behalten, dass wir eine Gemeinschaft sind.« Und mit Blick auf die nötige Eigenverantwortung und Kooperation der Bürger*innen bei der Einhegung des Infektionsgeschehens resümierte er : »Am Ende müssen wir es alle gemeinsam wollen«.1 Schon in diesen kurzen Sätzen tauchen mit Begriffen wie »Gefühl«, »gemeinsam« und »wir« einige für das Verständnis des Konzepts Gemeinschaft bedeutsame Aspekte auf, die von Spahn in dieser Situation gesteigerter Dringlichkeit miteinander kombiniert wurden. 1 Völlinger, Veronika (2020) : Gesundheitsminister sieht Versäumnisse bei der Maskenbeschaffung. In : Zeit Online, 12. Mai 2020. URL : https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-05/jens-spahncoronavirus [20. August 2020].
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Doch der meist positiv besetzte Gemeinschaftsbegriff, der die gesellschaftlich zentrale »Frage nach dem ›Wir‹« (Gertenbach et al. 2010 : 183) aufwirft, wird politisch nicht nur in Krisenzeiten mobilisiert, sondern spielt auch in Grundsatzprogrammen quer durch das politische Spektrum eine wichtige Rolle. Damit kann er auf ganz verschiedene Weise instrumentalisiert werden. Exemplarisch lässt sich dies anhand der Programme der deutschen Partei Die Linke2 und der öster reichischen rechtspopulistischen FPÖ3 zeigen, gerade weil in der inhaltlichen Kontextualisierung deutliche Unterschiede erkennbar sind. Die Linke formuliert das politische Ziel einer ökosozialen Bürger*innengesellschaft und spricht von Gemeinschaften im Plural : »Unsere Vision sind solidarische Bürgerkommunen, in denen die Menschen ihre Angelegenheiten selbst entscheiden und gestalten und die soziale und ökologische Umgestaltung ihrer Gemeinschaften eigenständig in die Hand nehmen«.4 Demgegenüber bettet die rechtsgerichtete FPÖ den im Singular verwendeten Gemeinschaftsbegriff in ein umfassendes sprachlich-ethnisch-nationalkulturelles Bekenntnis ein : »Sprache, Geschichte und Kultur Österreichs sind deutsch. Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft«5 (→deutsch →ethnisch). Hier wird die Vorstellung einer geschlossenen und klar identifizierbaren Gemeinschaft nahegelegt, ganz so, als ob die Kategorien →Volk, Sprache und →Kultur notwendigerweise kongruent wären. Schon diese Schlaglichter veranschaulichen, wie verbreitet, inhaltlich weit, politisch umkämpft und semantisch offen der Gemeinschaftsbegriff in der deutschen Sprache heute ist. Dies zeigt sich auch daran, dass er in einem breiten Spektrum an Komposita auftaucht, die inhaltlich von so monumentalen Begriffen wie Welt-, Volks- oder Schicksalsgemeinschaft über etwas überschaubarere Varianten wie Solidar-, Glaubens- oder Lebensgemeinschaft bis hin zu vergleichsweise kleinräumigen Konzepten wie Wohn-, Fahr- oder Tippgemeinschaft reichen. Fast immer jedoch, und dies ist entscheidend, transportiert der Begriff der Gemeinschaft den Bedeutungsaspekt eines starken und emotionalen Zusammenhaltes innerhalb der je angesprochenen Gruppe. Damit ist die elementare Frage berührt, 2 Die Linke (2011) : Programm der Partei Die Linke, Oktober/Dezember 2011. URL : https://www. die-linke.de/fileadmin/download/grundsatzdokumente/programm_formate/programm_der_par tei_die_linke_erfurt2011.pdf [20. August 2020]. 3 FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) (2011) : Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Österreich zuerst, Graz 18. Juni 2011. URL : https://www.fpoe.at/fileadmin/user_ upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/2011_graz_parteiprogramm_web.pdf [20. August 2020]. 4 Die Linke (2011), S. 47. 5 FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) (2011), S. 5.
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wie sich Kollektive von Menschen eigentlich formieren und welche Kräfte und Faktoren hierbei für die Bildung von größeren oder kleineren Untereinheiten maßgeblich sind. Nicht umsonst nimmt Gemeinschaft im »begrifflichen Arsenal der Moderne« (→Moderne) als »schillernder und mächtiger« Terminus einen »zentralen Stellenwert« (vgl. Gertenbach et al. 2010 : 9) ein und ist dabei doch »notorisch unscharf« (ebd.: 174).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Begriff Gemeinschaft (mittelhochdeutsch gemeinschaft ; althochdeutsch gimeinscaf) ist etymologisch seit dem 8. Jahrhundert belegt. Er hat sich aus dem Adjektiv gemein (lat. communis, engl. common) entwickelt, das, aus der indogermanischen Wurzel mei (tauschen, wechseln) kommend, zunächst »mehreren abwechselnd zukommend« bedeutete und sich dann zu »gemeinsam« bzw. »gemeinschaftlich« weiterentwickelte (vgl. Duden Etymologie, Lemma »gemein«). Heute trägt dies die Bedeutungskomponente der Verbundenheit, insbesondere auch hinsichtlich der Ausprägung eines starken Wir-Gefühls : »sich durch etwas Gemeinsames verbunden fühlende Gruppe von Menschen, Zusammensein, Verbindung« (Pfeifer 2020 [1989] : 533). Im Laufe der Geschichte wurde der bis ins 18. Jahrhundert inhaltlich unscharfe Gemeinschaftsbegriff (vgl. Delitz 2008 : 376) auf ganz verschiedene menschliche Sozialverbände bezogen, die sich hinsichtlich ihrer Größe, Homogenität, Zielsetzung und Entstehung stark unterscheiden. Ausgehend von der bereits in der Antike bei Aristoteles artikulierten Vorstellung vom notwendigerweise gemeinschaftsbildenden Wesen Mensch, so eine Übersetzung von zoon politikón, wurde der Gemeinschaftsbegriff einerseits als eine zentrale Komponente der conditio humana und damit als ontologische Kategorie etabliert. Andererseits wurde er als politisch-ethische Kategorie auf ganz unterschiedliche Praxisformen bezogen (vgl. Gertenbach et al. 2010 : 17ff.). Neben kleineren Zusammenschlüssen wie Familie, →Verwandtschaft oder Freundeskreis sind hier insbesondere in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verwendung des Begriffs auch (berufs-) ständische oder religiöse Kollektive angesprochen, ab der beginnenden →Moderne dann auch zunehmend zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse wie Vereine oder Interessensverbände. Als durchgehende und alle diese gemeinschaftlichen Praxisformen betreffende Frage ist dabei jene nach der Freiwilligkeit versus Erzwungenheit von Belang, die je spezifisch und nicht zwingend analog zur Größe des jeweiligen Verbundes zu beantworten ist. So ist ebenso von kleineren
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oder größeren freiwilligen Gemeinschaften (Freundeskreise, zum Teil Glaubensgemeinschaften) wie von Zwangsgemeinschaften (Familie (→Verwandtschaft), Nation [→Nationalstaat]) die Rede. Der Gemeinschaftsbegriff ist oft mit einem ausgeprägten kultur- und modernisierungskritischen Impuls verbunden (→Moderne). Dies zeigt sich speziell in regionalen Bemühungen um die →Volkskultur, wie etwa im Programm der Tiroler Arbeitsgemeinschaft Lebendige Tracht und Volkskultur. Dort wird auf der Webseite der Gemeinschaftsbegriff – zeitdiagnostisch unspezifisch – mit Trachten in Verbindung gebracht und als Heilmittel empfohlen, da jene »in einer Zeit des Identitätsverlustes und der Entwurzelung Gemeinschaft und Zugehörigkeitsgefühl schaffen«6 könnten. Seine »bleibende Prägung« (Delitz 2008 : 376) erhielt der Gemeinschaftsbegriff erst in der theoretischen Gegenüberstellung zum Gesellschaftsbegriff ab Ende des 19. Jahrhunderts und erfuhr seine intensivste ideologische Aufladung im Begriff der Volksgemeinschaft, die ihn schließlich auch für die weitere wissen schaftliche Debatte in Deutschland nach 1945 desavouierte (vgl. ebd.: 377ff.).
Wissenschaftsgeschichte(n) Ausgehend von Ferdinand Tönnies’ theoretischem Grundlagenwerk »Gemeinschaft und Gesellschaft« (1887) avancierte der Begriff Gemeinschaft zu einer zentralen Kategorie wissenschaftlicher Theoriebildung. Der Soziologe unternahm in seinem Hauptwerk den Versuch, »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« als zwei grundlegend verschiedene menschliche Sozialformen einander kontrastierend gegenüberzustellen und dabei »Gemeinschaft« als organisch, direkt, verbindend und emotional warm zu kennzeichnen, Gesellschaft hingegen als mechanisch, kalt, funktional und nicht im eigentlichen Sinne menschlich verbindend (vgl. Gebhardt 1999). Tönnies machte in seinen Beschreibungen keinen Hehl daraus, dass er die Form der Gemeinschaft favorisierte und er sie der aus seiner Sicht defizitären Form der Gesellschaft deutlich überlegen sah. Letztere klassifizierte er als eine Art Verfallsstufe von Gemeinschaft : »Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäss, dass Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, 6 Verein für Heimatschutz und Heimatpflege in Nord- und Osttirol : Arbeitsgemeinschaft Lebendige Tracht und Volkskultur. URL : https://www.tiroler-heimatpflege.at/arbeitsgruppen_lebendige- tracht.php [20. August 2020].
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Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll« (Tönnies 1887 : 5). Aus heutiger Sicht kann Tönnies’ Entwurf als eine engagierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprozess gesehen werden (→Moderne). Er prägte die weitere Diskussion und Verwendung des Begriffes Gemeinschaft über lange Zeit und beflügelte die soziologische Theoriebildung. Insbesondere jene gemeinschaftlichen Kollektive, die die Frage nach der Beschaffenheit und Charakteristik von staatlichen Gebilden betreffen, wurden um 1900 zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Begriffsbestimmungen. Ab den 1920er Jahren entbrannten interdisziplinär immer wieder kritische Debatten um das Tönnies’sche Begriffsverständnis von Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Philosoph Helmuth Plessner widersprach 1924 Tönnies’ Vorstellung, dass es sich bei Gesellschaft um eine gegenüber der Gemeinschaft minderwertigere Form der menschlichen Sozialität handle. Er betonte stattdessen die zutiefst menschliche Eigenschaft und Fähigkeit, soziale Beziehungen sowohl im Modus der Distanzierung als auch dem der affektiven Verbindung zu leben und damit differenzierte soziale Gefüge zu schaffen. Er begriff Gemeinschaft und Gesellschaft als zwei gleichermaßen wichtige und berechtigte Seiten der Beschaffenheit menschlichen Beziehungshandelns (vgl. Gebhardt 2014 : 140). Der Soziologe Max Weber wiederum sah in Tönnies’ Werk eine zwar anregende, aber doch verkürzte Perspektive, in der Gemeinschaft und Gesellschaft wenig zutreffend als feststehende, statische Einheiten verstanden würden und dadurch der prozesshafte Charakter menschlichen Soziallebens nicht angemessen berücksichtigt sei. In der Folge strebte er nach einer dynamischeren und flexibleren Auffassung der Konzepte, die auch Entwicklungen und Übergänge in den Blick nehmen sollte. Weber schlug daher die Termini Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung als Prozessbegriffe vor, die weniger auf die Formen der Gruppenbildung an sich zielten, sondern das menschliche Beziehungshandeln in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen in den Mittelpunkt rückten (vgl. Lichtblau 2000). Auch in der ethnologischen Fachtradition hat der Begriff Gemeinschaft (Community) von Beginn an eine zentrale Bedeutung zur Beschreibung der Untersuchungseinheiten (→Kultur) oder spezifizierter, voneinander abhängiger sozialer Gruppen eingenommen, die über →Verwandtschaft, gemeinsamen Besitz und geteilte Interessen definiert wurden. Zunehmend wandelte sich das Begriffsverständnis seit den 1980er Jahren hin zu einem symbolisch und praxeologisch ausgerichteten Ansatz, demnach Gemeinschaften aktiv durch unterschiedliche Praktiken und Akteur*innen hergestellt würden und das geteilte Selbstverständ-
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nis der Mitglieder einer Gemeinschaft sowie Grenzen gegenüber anderen sozialen Gruppen voraussetzten, wobei diese Grenzen und Grenzziehungen variieren könnten. Jüngere sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze bemühen sich um weitere begriffliche Differenzierungen, die allesamt den pathetisch-monolithischen Charakter der Tönnies’schen Gemeinschaft abschwächen bzw. modifizieren. So wird heute etwa auch von »temporären« (zum Beispiel bei Event- oder Partyveranstaltungen) oder »posttraditionalen« (→Tradition) Gemeinschaften bzw. Vergemeinschaftungen (zum Beispiel bei Fan- oder Jugendszenen) gesprochen und damit der grundsätzliche Charakter der sozialen Nähe und emotionalen Dichte des Gemeinschaftsbegriffs zwar anerkannt, jedoch im Zusammenhang mit je bestimmten gesellschaftlichen oder situativen Rahmenbedingungen gesehen und damit deutlich flexibler konzipiert (vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). Zudem wird dadurch der von Tönnies stets mitgedachte agrarisch-vormoderne Familien- oder Dorfkontext in den Hintergrund gerückt und so von Romantisierungsvorstellungen entlastet. Damit kann er jedoch zugleich für vielfältige politische oder weltanschauliche Ziele instrumentalisiert und missbraucht werden. Die totalitären Phantasien und Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben dies eindrücklich vor Augen geführt, indem sie den Gemeinschaftsbegriff in die Nähe problematischer Homogenitäts- und Natürlichkeitsvorstellungen rückten. Dies zeigt sich nicht nur im ideologischen Überbau unterschiedlicher politischer Strömungen, sondern auch in konkreten alltagskulturellen Praktiken. Der Volkskundler Konrad Köstlin etwa hat vor Augen geführt, wie die Gemeinschaftsidee im Kontext der nationalsozialistisch verordneten »Eintopfsonntage« propagandistisch mobilisiert und überhöht wurde. Im romantisierenden Rückgriff auf das bäuerliche Essen aus einer gemeinsamen Schüssel und der Koppelung der Ideen von Tischund Volksgemeinschaft wurden die gemeinsame Eintopfmahlzeit wirkmächtig zur Solidaritäts- und Opfergeste mit sakralisierender Anmutung stilisiert (vgl. Köstlin 1986 : 229ff.).
Ausblick Eines hat die Gesellschaftsgeschichte und wissenschaftliche Debatte der vergangenen rund 100 Jahre in Bezug auf den Gemeinschaftsbegriff verdeutlicht : Er ist ebenso sinnvoll und notwendig wie heikel und ideologisch anfällig. Notwendig und produktiv ist er deshalb, weil er mit seiner Dimension der emotionalen Nähe
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und sozialen Unmittelbarkeit einen wichtigen, nicht zu vernachlässigenden Aspekt menschlicher Beziehungsbedürfnisse und -erfahrungen fasst. Der Gemeinschaftsbegriff ist so gesehen ein geradezu unverzichtbarer Terminus, um über menschliche Sozialformen zu sprechen, die durch persönliche und emotionale Nähe gekennzeichnet sind. Seine besondere Charakteristik bekommt er dadurch, dass in ihm drei grundlegende Mechanismen der menschlichen Gruppenbildung zusammenfallen : erstens ein emotionalisierendes Erlebnisversprechen nach »innen«, eine identitätsstiftende Abgrenzungsgeste nach »außen« (→Identität) und zudem eine diese beiden Aspekte überwölbende Homogenitätsvorstellung im Hinblick auf das Selbstverständnis der Adressierten (vgl. Gertenbach et al. 2010 : 66ff.). Doch gerade das ist der Stoff, aus dem auch politische Propaganda hergestellt werden kann (→Populismus). Wegen seiner inhaltlichen Aufladungen, die zumeist positive Assoziationen auslösen, ist der Gemeinschaftsbegriff auch besonders dazu geeignet, in einer irreführenden, agitierenden oder manipulativen Weise zu wirken. In manchen politischen Kontexten wird mit seiner Verwendung ein Zusammenhang behauptet, der über die unmittelbare inhaltliche oder emotionale Nahebeziehung von kleinen, überschaubaren Sozialgruppen hinausweist. Insbesondere in Kombination mit den naturalisiert gedachten Kategorien Sprache, →Volk oder →Kultur kann sich eine semantische Dynamik ergeben, die unmittelbar an völkische oder rassistische Denkfiguren anschließt (→Rassismus). Diese Verzerrungspotentiale sollten stets mitbedacht werden, wenn von Gemeinschaft gesprochen wird. Der Begriff sollte daher mit Bedacht eingesetzt und idealerweise nur dann verwendet werden, wenn es tatsächlich um Gemeinschaften im engeren Sinne geht und die Dimension der Unmittelbarkeit und persönlichen Nähe auch bewusst thematisiert werden sollen. Jens Spahn wird möglicherweise bewusst gewesen sein, dass es sich bei den rund 83 Millionen in Deutschland lebenden Menschen, an die er seinen Aufruf der Achtsamkeit und der Verantwortung in der Pandemiesituation richtete, nicht im engeren Sinn um eine Gemeinschaft handelt. Dass er über die Bevölkerung, für die er als Gesundheitsminister Verantwortung trägt, trotzdem in dieser Situation als Gemeinschaft spricht, hat also mehr metaphorisch-appellierenden als beschreibenden Charakter. Derartiges öffentlich-politisches Sprechen unter Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs bleibt vor dem Hintergrund seiner komplexen Geschichte also stets eine Gratwanderung.
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Literatur Delitz, Heike (2008) : Gemeinschaft. In : Gosepath, Stefan et al. (Hg.) : Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Berlin/New York, S. 376–380. Gebhardt, Winfried (1999) : »Warme Gemeinschaft« und »Kalte Gesellschaft«. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur. In : Meuter, Günter/Otten, Henrique R. (Hg.) : Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert. Würzburg, S. 165–184. Gebhardt, Winfried (2014) : Gemeinschaft. In : Endruweit, Günter/Trommsdorff, Gisela/ Burzan, Nicole (Hg.) : Wörterbuch der Soziologie. 3. Auflage. Konstanz et al., S. 140– 141. Gertenbach, Lars et al. (2010) : Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg. Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Pfadenhauer, Michaela (Hg.) (2008) : Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiesbaden. Köstlin, Konrad (1986) : Der Eintopf der Deutschen. Das Zusammengekochte als Kultessen. In : Jeggle, Utz (Hg.) : Tübinger Beiträge zur Volkskultur. Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen (Band 69). Tübingen, S. 220–241. Lichtblau, Klaus (2000) : »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs. In : Zeitschrift für Soziologie 29(6), S. 423–443. Pfeifer, Wolfgang (2020 [1989]) : Etymologisches Wörterbuch des Deutschen A–G. B erlin. Auch erweitert unter URL : https://www.dwds.de/wb/Gemeinschaft [15. Oktober 2020]. Tönnies, Ferdinand (1887) : Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin.
Beate Binder
Geschlecht/Gender
Kurzdefinition Geschlecht bzw. Gender gehört in der empirischen Kultur- und Sozialforschung wie auch im politischen Diskurs zu den Begriffen, mit denen gesellschaftliche Ungleichheiten thematisiert, hergestellt, analysiert und diskutiert werden. Bezeichnet wird mit Geschlecht zunächst die Zugehörigkeit zu einer der – inzwischen – drei Genusgruppen : weiblich, männlich, divers, wobei divers rechtlich gesehen die Personen zusammenfasst, deren Geschlecht medizinisch nicht eindeutig bestimmbar ist, während sich diejenigen, die sich nicht eindeutig geschlechtlich definieren wollen oder können, eher als nichtbinär, genderfluid, trans oder queer bezeichnen. Gender wurde in Abgrenzung zu biologischem Geschlecht in den 1970er Jahren als analytischer Begriff eingeführt, um kulturelle und soziale Zuschreibungen und Vorstellungen zu fassen : Gender meint das, was Weiblichkeit und Männlichkeit im jeweiligen zeitlichen wie räumlichen Kontext ausmacht. Das Geschlechterverhältnis gibt Aufschluss über soziale Differenzen und Hierarchien zwischen den Geschlechtern, damit auch über unterschiedliche Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe.
Gesellschaftliche Situation Wohl kaum ein anderes Konzept der empirischen Kultur- und Sozialforschung löst aktuell heftigere Kontroversen aus als Gender. Neben der gezielten Diffamierung von Forscher*innen wird in Tages- und Wochenzeitungen wie auch in populistischen Debatten (→Populismus) regelmäßig gegen den Begriff polemisiert und werden Gefahren der »Bevorteilung« von Frauen, der Sexualisierung von Kindern und generell von Gleichstellungspolitiken beschworen (vgl. Hark/Villa 2015). Im selben Atemzug wird die Beschäftigung mit Geschlecht bzw. Gender als überflüssig und ideologisch überfrachtet gebrandmarkt. Doch trotz des Versprechens der Gleichberechtigung aller Menschen, wie es in der Verfassung der Europäischen Union (→Europa) und etwa auch im deutschen und österreichischen Grundgesetz verankert ist, verbinden sich mit der Geschlechtszugehörigkeit noch
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immer unterschiedliche Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe. Ein Beispiel, an dem direkte wie indirekte Diskriminierung aufgrund der Geschlechterzuordnung deutlich wird, ist der sogenannte Gender-Pay-Gap, also die Tatsache, dass im statistischen Durchschnitt die Löhne von Frauen deutlich niedriger liegen als die ihrer männlichen Kollegen. Zudem differieren Berufsentscheidungen und Erwerbsbiographien von Frauen und Männern noch immer stark. Viele Berufe, in denen mehrheitlich Frauen beschäftigt sind, sind gesellschaftlich weniger anerkannt und an sich schon schlechter entlohnt, wie etwa in fürsorgenden, erzieherischen und betreuenden Bereichen.1 Diese doppelte Lohndifferenz ist einer der Gründe, warum Frauen weitaus häufiger von Altersarmut betroffen sind als Männer (vgl. Götz/Rau 2017). Darüber hinaus werden Erwerbsunterbrechungen und Teilzeitarbeit öfter von Frauen wahrgenommen als von Männern, etwa um sich um Kinder oder pflegebedürftige Familienangehörige zu kümmern (vgl. Scheele 2020) – die Coronavirus-Krise hat das deutlich zu Tage gefördert. Umgekehrt werden Führungspositionen in der Wirtschaft, in der Politik oder an Universitäten im deutschsprachigen Raum noch immer weitaus häufiger von Männern als von Frauen bekleidet, weshalb Frauen trotz eigener Betroffenheit weniger an Entscheidungen beteiligt sind. Im Alltag der Familienhaushalte kommt ein weiteres Geschlechterungleichgewicht zum Tragen : Entgegen der eigenen Selbstwahrnehmung kümmerten sich im Jahr 2016 – das ist die jüngste vorliegende europaweite Erhebung – in der EU 92 Prozent der Frauen und nur 68 Prozent der Männer täglich um die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder.2 Die Soziologin Angelika Wetterer spricht daher von einer »rhetorischen Modernisierung« : Alltagswissen und Alltagsrealität haben sich mit Blick auf Geschlechterarrangements in den letzten Jahren offensichtlich auseinanderentwickelt (Wetterer 2003). Auch im Sport sind Effekte der Geschlechterdifferenz wahrnehmbar : Bis heute ist Frauenfußball mit Vorurteilen konfrontiert, und das, obwohl die deutschen Frauenfußballerinnen bereits achtmal Europameisterinnen waren – beim ersten Mal erhielten sie ein Kaffeeservice als Prämie.3 Erst 2012 wurden Frauen 1 Statistisches Bundesamt : Gender-Pay-Gap. URL : https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/ Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/gender-pay-gap.html [16. März 2021]. Beim unbereinigten Lohnunterschied wird der Bruttostundenlohn aller erwerbstätigen Männer und Frauen verglichen. 2 Vgl. https://service.destatis.de/DE/FrauenMaennerEuropa/DE_DE_womenmen_core/bloc-3d.html? lang=de [16. März 2021]. Befragt worden waren Frauen und Männer zwischen 25 und 49 Jahren, in deren Haushalt Kinder unter 18 Jahren lebten. 3 Vgl. den Werbespot der Commerzbank, des offiziellen Sponsors des Teams. URL : https://www. youtube.com/watch ?v=vX2Q_o7BFQQ [11. Mai 2021].
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als Boxerinnen bei den Olympischen Spielen zugelassen, seit 2014 gehört auch Skispringen zu den olympischen Disziplinen für Frauen. In beiden Fällen war ein starkes Argument gegen die Zulassung von Frauen zu diesen Sportarten, dass weder der weibliche Körper noch der weibliche »Geschlechtscharakter« dafür geeignet seien.4 Einschränkungen aufgrund stereotyper Vorstellungen von einer adäquaten Geschlechterdarstellung treffen nicht nur Frauen, sondern auch Männer : Auch sie sind mit konkreten Erwartungen an ihr Auftreten, ihre Körper und Vorlieben konfrontiert. Noch schwieriger wird es für Menschen, deren eindeutige Lesbarkeit der Geschlechtszugehörigkeit nicht gelingt oder nicht gewollt ist. Eindeutigkeit wird vor allem durch Körpersprache, Kleidung und Frisur erzeugt, weniger durch körperliche Attribute ; sind diese Zeichen nicht eindeutig lesbar, »misslingt« die Einordnung. Obzwar sich die gesellschaftlichen Spielräume geweitet haben, provoziert eine »falsche« oder uneindeutige Performance noch immer Diskriminierung bis hin zu Gewalt. In den letzten Jahren haben insbesondere Stimmen von Trans- und Inter-Personen auf die damit verknüpften vielfältigen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung aufmerksam gemacht. Vor dem Hintergrund dieser knappen Situationsbeschreibung verwundert es wenig, dass die Thematisierung von Geschlecht gegenwärtig so viel Widerstand hervorruft, gelegentlich gar von »Genderwahn« oder »Gendergaga« die Rede ist. Im Kern geht es bei dieser Kontroverse um die Umverteilung von gesellschaftlichen Ressourcen nach geschlechtergerechten Kriterien. In diesem Sinne kann der »Antigenderismus« als Abwehrbewegung verstanden werden : Der Begriff Gender stellt tradierte gesellschaftliche Gewissheiten über die »Natur« des Geschlechts und die Selbstverständlichkeit von Geschlechterbildern wie -arrangements in Frage (vgl. Hark/Villa 2015). Auch wenn sich die Möglichkeitsräume, die als männlich, weiblich und divers gelesenen Personen zur Verfügung stehen, verschoben und erweitert haben, ist eine Gleichstellung der Geschlechter noch nicht erreicht und hat Geschlecht als Differenzkategorie seine Bedeutung noch nicht verloren.
4 Clever Girls – rebellisch, feministisch, wegweisend Frauenrollen im Kopfstand – Die Turnerin Els Schröder, URL : https://bit.ly/3bT0fbd [21. Januar 2021].
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Geschlecht bzw. Gender im beschriebenen Sinne seit den 1970er Jahren genutzt, um Geschlechterdifferenzen zu thematisieren. Im Zuge der ersten Frauenbewegung um 1900 wurden die Kämpfe für das Frauenwahlrecht und höhere Bildung oder gegen rechtliche Regelungen der Ehe, die Frauen in weitgehende Abhängigkeit von ihren Ehemännern brachten, eher unter dem Schlagwort der »Frauenfrage« verhandelt. Mit der zweiten Frauenbewegung in den 1970er/1980er Jahren wurden diese Forderungen aktualisiert, zugleich wurde das Geschlechterverhältnis zum Ankerpunkt für mehr Gleichberechtigung : Auf der politischen Agenda standen weiterhin Forderungen nach besseren Bildungschancen, nach gerechterer Entlohnung sowie nach einem selbstbestimmteren Umgang mit dem eigenen Körper. Die feministischen Kämpfe schlugen sich auch in den Universitäten nieder, wo neben sozialen Anliegen und dem Wunsch, diese Orte der höheren Bildung für Frauen stärker zu öffnen, auch gefordert wurde, Konzepte und Beschreibungen zu entwickeln, die alle Geschlechter in ihren unterschiedlichen Positionierungen berücksichtigen. In den Blick genommen werden musste dafür die Frage, wie das asymmetrische Verhältnis zwischen den Geschlechtern sich historisch wie lokal entwickelt und stabilisiert (hat). Aufgezeigt wurde, dass sich in gegenwärtigen Geschlechterarrangements noch immer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit niederschlagen, die in europäisch-westlichen Gesellschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Mit dem Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft wurde das Weiblichkeitsideal an die häusliche Welt, an Fürsorge und Reproduktionstätigkeiten gebunden, während das Männlichkeitsideal für beruflichen Erfolg und ein Agieren in der Öffentlichkeit stand (vgl. Hausen 1976). Diese Zuständigkeiten und Zuschreibungen haben sich nachhaltig in Bilder und Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit eingeschrieben. Die Frauenbewegung der 1970er Jahre berief sich häufig auf die gemeinsamen Erfahrungen von Frauen mit Sexismus und Patriarchat (→Gemeinschaft). Zugleich war diese Vorstellung eines Kollektivsubjekts Frau von Anfang an umstritten : Deutlich wird dies an den vielfältigen Protesten von Migrant*innen, Arbeiter*innen und anderen, die der Frauenbewegung eine Verengung auf bürgerliche, weiße, meist heterosexuelle Perspektiven vorwarfen (vgl. Moraga/Anzaldua 1983). In der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Diskussion setzte sich daher mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass Geschlecht als Kategorie allein nicht ausreiche, um gesellschaftliche Prozesse der Differenzierung zu verstehen
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(vgl. Lenz 2010). Mit dem Begriff Intersektionalität wird seit den 1990er Jahren untersucht und diskutiert, wie und mit welchen Effekten Geschlecht mit anderen sozial wirksamen Kategorisierungen verwoben ist, zum Beispiel mit →ethnischer Zugehörigkeit und race/»Rasse«, sozialen Positionen bzw. Klasse, Alter, Sexualität, Behinderung und vielen weiteren. Politisch verbindet sich hiermit die Frage nach Solidarität und Zusammenarbeit über interne Differenzen hinweg. Wissenschaftlich wird das Zusammenspiel unterschiedlicher Differenzkategorien unter dem Begriff der Intersektionalität untersucht, die sich in der Forschung in einer Ausdifferenzierung und wachsenden Sensibilisierung gegenüber Kategorien niedergeschlagen hat (vgl. Hess et al. 2011). Die dichte Verbindung von gesellschaftspolitischen mit akademischen Anliegen hat bis heute zur Folge, dass Geschlechterforschung häufig mit Gleichstellungspolitik in eins gesetzt wird. Doch auch wenn diese – wie andere politische Entscheidungen auch – durch wissenschaftliche Expertise beraten wird, handelt es sich um zwei Felder mit unterschiedlichen Praktiken, Diskursen, Anliegen und Vorgehensweisen.
Wissenschaftsgeschichte(n) Geschlechterforschung setzte zunächst an einer Kritik etablierten wissenschaftlichen Wissens an : Theorien und Begriffe, Methoden und Forschungsagenden unterlagen, so konnte an unterschiedlichen Beispielen gezeigt werden, einem männlichen Bias, waren also mehrheitlich an männlichen Lebensentwürfen und Körpern orientiert, ohne dass dies reflektiert wurde (vgl. Braun/Stephan 2005). Dies wurde auch als Folge der unzureichenden Teilhabe von Frauen an akademischen Institutionen ausgemacht. Forschung zu Geschlecht und Geschlechterverhältnissen wird häufig auch durch den Wunsch angetrieben, über die Beschreibung hinaus zur Kritik und Veränderung der auf Geschlecht basierenden Ungleichheitsverhältnisse beizutragen (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000). Die direkte Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen ist insofern Teil der Geschlechterforschung, doch leistet Geschlechterforschung zugleich einen eigenständigen Beitrag, indem analytische Perspektiven und theoretische Konzepte entwickelt werden, mit denen Funktionsweisen von Geschlecht erfasst werden können. Entgegen dem Vorwurf, ideologisch aufgeladen und parteiisch zu sein, folgt Geschlechterforschung den etablierten Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens, etwa indem methodisches Vorgehen und theoretische Vorannahmen dargelegt werden, durch das Benennen von Quellen für Nachvollziehbarkeit gesorgt
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wird und Darstellungen und Interpretationen in Evaluations- und Kritikverfahren eingebunden sind, wie sie in der Wissenschaft üblich und erforderlich sind. Ein zentraler Bezugspunkt der Geschlechterforschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften stellt bis heute das 1948 in Frankreich erschienene Buch »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir dar. Darin entfaltet die französische Philosophin zum ersten Mal eine Untersuchung gesellschaftlicher Machtverhältnisse unter Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht. Sie unterscheidet systematisch zwischen biologischem und kulturellem Geschlecht und konstatiert : »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« (Beauvoir 1968 : 265). Im Anschluss an diese Feststellung wurde in den 1970er Jahren in vielfältigen Untersuchungen gezeigt, wie Mädchen vor allem durch Erziehung in Familie und Schule zu Frauen »gemacht« würden (vgl. Nestvogel 2004). Zwar gab es Auseinandersetzungen rund um die Frage, wie der Anteil von nature (Natur) und nurture (Erziehung) in diesem Prozess zu gewichten sei ; doch Einigkeit herrschte darüber, dass natürliche Anlagen überformt und Geschlechtskörper und Verhaltensweisen durch gesellschaftliche Anforderungen an Männer und Frauen hervorgebracht würden. Um dies auch benennen zu können, wurde die aus dem US-amerikanischen Raum kommende Unterscheidung in sex und gender für die wissenschaftliche Auseinandersetzung aufgegriffen. Dieses Begriffspaar erlaubte es, analytisch zwischen dem biologischen Geschlecht – sex – und dem kulturellen – gender – zu trennen. Fortan prägte diese Gegenüberstellung die Forschung zu Geschlecht(erverhältnissen). Abgelöst wurden solche sozialisationstheoretischen Ansätze und die damit verbundene sex-gender-Unterscheidung seit den 1980er Jahren durch praxistheoretische Konzepte, die die Herstellung von Geschlecht und Geschlechtsunterschieden als einen fortwährenden und unabgeschlossenen Prozess fassen. Geschlecht wird nun weder als Eigenschaft oder Merkmal von Subjekten noch allein als Ergebnis von Sozialisations- und Erziehungsprozessen verstanden. Vielmehr werden Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität als etwas gesehen, das im alltäglichen Handeln vollzogen und durch gesellschaftliche Arrangements institutionalisiert und stabilisiert wird. Diese Institutionen, wie zum Beispiel die Ehe, die Aufteilung in private und öffentliche Räume oder die Steuergesetzgebung, folgen scheinbar dem von der Natur geschaffenen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Die Geschlechterdifferenz wird auf diese Weise naturalisiert, soziale Konstruktionsleistungen werden unsichtbar gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung wurde die Perspektive auf Geschlecht neu formuliert : Nicht die natürliche Differenz zwischen den Geschlechtern ist Grundlage für deren kulturelle »Überformung«, sondern die Unterscheidung in
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Männer und Frauen ist selbst das Ergebnis komplexer sozialer Prozesse. Die Soziologe*innen Don Zimmermann und Candace West rückten mit dem Konzept des Doing Gender (1987) die Frage ins Zentrum, wie, durch welche Praktiken und Institutionen das System der Zweigeschlechtlichkeit und mit ihm die folgenreiche Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses hergestellt und aufrechterhalten würden. Bereits die erste Ausformulierung dieses Konzepts basierte auf der Einsicht, dass die Art und Weise, wie weibliche und männliche Körper mit ihren Sexual organen wahrgenommen würden, bereits durch gesellschaftliche Konventionen und das zur Verfügung stehende (medizinische) Wissen bestimmt werde (vgl. ebd.). Konsequent weiterentwickelt wurde dieser Gedanke durch Judith Butler. In ihrem Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« (1991) formuliert die Philosophin die These, dass der Geschlechtskörper (sex) nicht einfach Natur sei, sondern ein – äußerst wirkmächtiger – Effekt von Machtverhältnissen sowie von vorherrschenden Diskursen in Wissenschaft und Gesellschaft. Nicht allein gender, so Butler, sondern auch sex könne nur durch das jeweilige kulturelle Wissen hindurch wahrgenommen werden. Das bedeutet mitnichten, dass Körper sich nicht unterscheiden. In Frage gestellt werden aber der angelegte Dualismus, damit die Möglichkeiten der eindeutigen Unterscheidung in Natur und →Kultur, in Körper und Geist, in Frauen und Männer und die damit verknüpften Bewertungen dieser Unterscheidungen. Butler zeigt, wie durch komplexe Prozesse der Selbst- und Fremdbestimmung eine Übereinstimmung zwischen Körpern und geschlechtlicher →Identität geschaffen wird. Gestützt durch die Norm gegengeschlechtlichen Begehrens – die Heterosexualität –, würden sozial versteh- und lesbare – intelligible – Geschlechter geschaffen. Doch bei allen Einhegungen, die mit der »heterosexuellen Matrix«, also dem Zusammenspiel von Körper, Geschlecht und Begehren, einhergehen, sind hierin nach Butler auch Spielräume und Unwägbarkeiten angelegt. Gerade die Notwendigkeit, Geschlecht immer wieder dar- und herzustellen, birgt die Möglichkeit für Veränderung. Geschlechterforschung fand zunächst innerhalb einzelner Disziplinen statt, die die jeweiligen Forschungsagenden um Geschlecht/Gender als Analyseperspek tive ergänzt und vor allem Grundüberzeugungen und Theorien in Frage stellten und reformulierten, die sich allein auf männliche Lebenswelten und Positionen bezogen. Zum besseren Verständnis von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen haben Geschlechterforscher*innen in der Soziologie, der Geschichts-, Erziehungs- und Literaturwissenschaft und den Kulturwissenschaften und vielen anderen mehr mit je eigenen Perspektiven und Konzepten beigetragen (vgl. Kortendiek et al. 2019). Während in den Sozialwissenschaften aktuelle Geschlech-
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terarrangements und -vorstellungen und deren stete Reproduktion im Fokus stehen, beschäftigen sich historische Studien mit dem Wandel von Geschlechterkonzepten und -verhältnissen über die Zeit. So zeigen Forschungen, wie in jeweiligen soziohistorischen Kontexten Menschen zu Männern und Frauen (gemacht) werden, Unterschiede innerhalb der Genusgruppen entstehen und die Geschlechterordnung organisiert, stabilisiert und/oder verschoben wird, immer im Zusammenspiel mit anderen Differenzsystemen, also aus intersektionaler Perspektive. Geschlechterforschung hat sich inzwischen als ein interdisziplinäres Wissensfeld und eigenständiger Studiengang entwickelt, nimmt also selbst einen Platz im Reigen der Disziplinen ein. Geschlechterforschung nimmt Geschlecht sein »Schicksal«, wie es Beauvoir formuliert hat, und seine vermeintlich naturgegebene Selbstverständlichkeit.
Ausblick Geschlecht wird gesellschaftlich und wissenschaftlich dort diskutiert, wo die Einteilung in Geschlechter zum Problem wird, im Sinne der Zurichtung und Beschränkung von Handlungsräumen, des Zugriffs auf Ressourcen und der ungleichen Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Geschlechterforschung analysiert gegenwärtig Formen von Ungleichheit und Macht, die durch Institutionen, Repräsentationen und Praxen gefügt, gefestigt oder verflüssigt werden. Geschlecht/ Gender wird dabei immer konsequenter aus intersektionaler Perspektive betrachtet und richtet dabei besondere Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von unterschiedlichen Machtstrukturen, allen voran Klasse, Ethnizität, race (→ethnisch →Rassismus) – Perspektiven, die sich auch mit postkolonialen Ansätzen verbinden. In den letzten Jahren rückten zudem die Auseinandersetzung mit Sexualität(en) im Sinne sexueller Praktiken und →Identitäten, Lebenswelten und Selbstentwürfe sowie zugleich auch Perspektiven von Trans- und Inter-Personen stärker in den Fokus (vgl. Weiss 2016). Im Verbund mit Queer und Trans Studies wird das Verhältnis von sex und gender immer komplexer gedacht, entsprechend müssen die Beschreibungen differenzierter werden. Das Ziel bleibt, jenseits einfacher Binarismen (zum Beispiel von Mann – Frau, Opfer – Täter, Macht – Ohnmacht, hetero – homo) die komplexen Prozesse zu verstehen, durch die Menschen zu Subjekten (gemacht) und in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden werden. Die gegenwärtigen Debatten bestätigen, dass das Nachdenken über Geschlecht und dessen Effekte nach wie vor ein zentrales Anliegen nach mehr Gerechtigkeit trifft, nach den Möglichkeiten der Entfaltung aller Ge-
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schlechter und der Anerkennung von Vielfalt und Diversität von Lebensweisen und Erfahrungen. Literatur Beauvoir, Simone de (1968) : Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek. Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (2000) : Feministische Theorien zur Einführung. Hamburg. Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.) (2005) : Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Weimar/Wien. Butler, Judith (1991) : Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Götz, Irene/Rau, Alexandra (2017) : Facetten des Alter(n)s : ethnografische Porträts über Vulnerabilitäten und Kämpfe älterer Frauen. München. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.) (2015) : Anti-Genderismus : Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld. Hausen, Karin (1976) : Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In : Conze, Werner (Hg.) : Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart, S. 363–393. Hess, Sabine et al. (Hg.) (2011) : Intersektionalität revisited : empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld. Kortendiek, Beate et al. (2019) : Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden. Lenz, Ilse (2010) : Intersektionalität. In : Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.) : Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden. Moraga, Cherríe/Anzaldúa, Gloria (Hg.) (1983) : This bridge called my back : writings by radical women of color. 2. Auflage. New York. Nestvogel, Renate (2004) : Sozialisationstheorien : Traditionslinien, Debatten und Perspek tiven. In : Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.) : Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden, S. 153–164. Scheele, Alexandra (2020) : Denn er weiß nicht, was sie tun. Ein Plädoyer für die wissenschaftliche Untersuchung von Geschlechterungleichheiten am Arbeitsmarkt, Feministische Studien URL : https://blog.feministische-studien.de/2020/11/denn-er-weissnicht-was-sie-tun/ [28. November 2020]. Weiss, Margot (2016) : Discipline and Desire : Feminist Politics, Queer Studies, and New Queer Anthropology. In : Lewin, Ellen/Silverstein, Leni M. (Hg.) : Mapping Feminist Anthropology in the Twenty-First Century. New Brunswick, S. 168–187. West, Candace/Zimmermann, Don H. (1987) : Doing Gender. In : Gender & Society 1(2), S. 125–151. Wetterer, Angelika (2003) : Rhetorische Modernisierung. Das Verschwinden der Ungleich heit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen. In : Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hg.) : Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik 2. Münster, S. 286–319.
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Globalisierung
Kurzdefinition Globalisierung meint grenzüberschreitende, weltumspannende Verflechtungen von Gesellschaften, Dingen, Ideen und Akteur*innen. Sie umfasst wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Dimensionen, die zu Annäherungen und Abhängigkeiten wie zu Ungleichheiten zwischen Menschen, Orten und Regionen beitragen. Grenzen werden durch Globalisierung einerseits durchlässiger, andererseits gewinnen Fragen der (Un-)Möglichkeit und der Notwendigkeit von Grenzen gerade dadurch an Bedeutung.
Gesellschaftliche Situation Globalisierung im Sinne weltweiter Verflechtungen und Interdependenzen gilt heute als Faktum. Welche Wirkungen davon ausgehen und wie →Nationalstaaten oder auch internationale Organisationen diesen Prozess regulieren können, ist indes umstritten und immer auch von der Situierung der jeweiligen Betrachtung abhängig. Einer der vorherrschenden Thesen der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskussion zufolge treibt Globalisierung aktuell vor allem Prozesse einer Neoliberalisierung voran, die mit einem zunehmenden Rückzug des Staates aus sozialen und ökonomischen Steuerungsaufgaben und mit einem weltweiten Siegeszug kapitalistischer Wirtschaftsformen einhergehen. Globalisierungskritiker*innen wie etwa Vertreter*innen der Attac-Bewegung sehen hier eine staatliche Sozialpolitik wie auch eine internationale Politik in der Pflicht, den sich durch einen globalen Kapitalismus verschärfenden Ungleichheiten innerhalb und zwischen Staaten wie Weltregionen entgegenzuwirken. Globalisierung setzt vor allem den Anspruch des Nationalstaates auf politische und ökonomische Souveränität sowie die damit verbundenen nationalen →Identitäten unter Druck, die in →Europa weitgehend vom Bild der ortsfesten, →einheimischen Mehrheiten gegenüber fremden Minderheiten geprägt sind. Daraus speisen sich einerseits liberale Hoffnungen auf zunehmend trans- und postnationale, kosmopolitische Selbstverständnisse und Organisationsweisen
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der Gesellschaften. Andererseits macht sich gerade an den entgrenzenden Dimensionen der Globalisierung ein verstärkter Rekurs konservativer bis hin zu offen faschistischen und rassistischen Kräften (→Rassismus) fest, den →Natio nalstaat als ökonomische, identitäre und bevölkerungspolitische Bastion zu reinstallieren. Angesichts der Globalisierung hat sich so weltweit eine paradoxe Gemengelage an Reaktionen herausgebildet, die von emanzipatorischen Perspektiven der Grenzöffnung bis zu revanchistischen Projekten eines ausgrenzenden Nationalismus reichen.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Begriff der Globalisierung hat seit den 1980er Jahren Einzug in die öffentliche Diskussion, zunächst vor allem der westlichen Gesellschaften, gehalten. Am Beginn der Diskussion über Globalisierung standen ökonomische Entwicklungen, die zunehmend auf eine globale Arbeitsteilung hinausliefen zwischen den postfordistischen Dienstleistungsgesellschaften des Globalen Nordens und dem Globalen Süden, in den aufgrund der dort geringeren Kosten Produktion und Arbeitsplätze ausgelagert wurden. Als Folgen dieser Entwicklung zeigten sich jedoch bald auch verschärfte soziale Ungleichheiten zwischen den Weltregionen, politische Krisen mit weitreichenden Auswirkungen und zunehmende inner- und transkontinentale →Migration. Hinzu kamen ökologische Krisen, die sich aufgrund einer global durchgesetzten Industriemoderne und der mit ihr einhergehenden rigorosen Ausbeutung von Menschen und Natur abzeichneten (→Moderne). Globalisierung wurde nicht zuletzt durch den soziologischen Bestseller »Risikogesellschaft« von Ulrich Beck (1986) mit den »Grenzen des Wachstums« assoziiert, die der internationale Zusammenschluss von Expert*innen Club of Rome schon 1972 (vgl. Meadows et al. 1972) prognostiziert hatte. Becks Buch erschien 1986 und damit im selben Jahr, in dem sich die Nuklearkatastrophe im Reaktor von Tschernobyl, in der damals noch sowjetischen Ukraine, ereignete ; beides trug entscheidend dazu bei, dass die Ökologiebewegung und kritische soziale Netzwerke zunehmend gegen derartige Folgen der Globalisierung mobilisierten. Ein weiteres Szenario, das den Begriff der Globalisierung geprägt hat, ist das der durch Technologien beschleunigten und sich immer weiter ausdehnenden Mobilität von Menschen, Gütern und Ideen. Insbesondere die neuen Medien, allen voran das World Wide Web und die digitale Vernetzung, veränderten die beruflichen, ökonomischen und sozialen Welten vieler Menschen wie auch ihre Imaginationen anderer möglicher Leben (vgl. Appadurai 1996 : 3ff.) von Grund
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auf. Noch vor dem eigentlichen Beginn dieser Entwicklung hatte der kanadische Philosoph und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan den Begriff des »globalen Dorfes« bereits in den frühen 1960er Jahren geprägt, um damit die Folgen einer zukünftig immer engeren medialen Vernetzung zu beschreiben. Der Ausdruck wurde zum geflügelten Wort. Vielen, die auf das Internet als egalitären Ort des kulturellen Austauschs setzten, schien die Entwicklung die Demokratisierung globaler Kommunikation zu verheißen (→Demokratie). Kritische Kommentator*innen der digitalen Vernetzung befürchteten dagegen den unwiederbringlichen Verlust spezifischer →Kulturen und →Identitäten im Zeichen einer zunehmenden ökonomischen und kulturellen Vereinheitlichung, was vielfach das Bild globaler Verwestlichung, wenn nicht gar Amerikanisierung nach dem Vorbild einer »McDonaldisierung« (Ritzer 1996) heraufbeschwor. Mit dem Ende des sogenannten Kalten Krieges, den Grenzöffnungen und Transformationen des ehemaligen Ostblocks in den 1990er Jahren vervielfältigten sich diese Szenarien und erfassten nun auch einen Teil der Welt, der zuvor aus westlicher Sicht aus der Globalisierung ausgeklammert schien. Statt der bis dahin angenommenen Nord-Süd-Achse einer unter westlicher Regie fortschreitenden Globalisierung erschien nun eine zunehmend multipolare Welt am Horizont, in der die Folgestaaten des sowjetischen Kosmos wie auch weite Teile Asiens das weltpolitische und das globale ökonomische Geschehen als involvierte Global Player mitbestimmten. Die Zunahme von Konflikten globalen Ausmaßes, die sich, zumindest vordergründig, entlang kultureller und religiöser Differenzlinien entfalten, hatte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in seinem aufsehenerregenden, umstrittenen Buch »Clash of Civilizations« (1996) als Ausdruck dieser neuen, dezentrierten Weltordnung prophezeit. Der von islamistischen Terroristen ausgeführte Anschlag auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 schien diese Prophezeiung unmittelbar zu bestätigen. Der damalige US-Präsident George W. Bush rief daraufhin einen globalen »Krieg gegen den Terror« aus. Dies sollte eine anhaltende Abfolge von Gewalt auf allen beteiligten Seiten nach sich ziehen. Zugleich verschärften sich antimuslimische Feindbilder bis hin zu einem grassierenden antimuslimischen →Rassismus in der westlichen Welt ; Feindbilder, die sich vielfach pauschalisierend gegen Muslim*innen gleich welcher politischen Haltung sowie gegen Migrant*innen aus der vormals kolonialisierten Welt richten (→Islam →Migration). So findet der »Krieg gegen Terror« seine aktuelle Fortsetzung auch in restriktiven, sich auf →Sicherheit berufenden Grenzpolitiken in allen Teilen der westlichen Welt. Auf politischer Ebene evoziert Globalisierung vor diesem Hintergrund das Bild einer unaufhaltsamen, längst selbst globalisierten, deterritorialisierten Spirale der
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Gewalt. Dass auf diese Weise kolonial begründete, ungelöste Konfliktstoffe in die postkoloniale Gegenwart hineinreichen, hat zu neuen Diskussionen geführt, die sich mit den Folgen der modernen kolonialen Weltordnung im Dienst einer die Vielen der Welt einschließenden, konvivialeren Zukunft auseinandersetzen : so etwa in einer mittlerweile globalen Rezeption der Black-Lives-Matter-Bewegung, in der dekolonialen Kritik des Umgangs mit kolonialem Erbe und →Rassismus in →Europa wie in der Solidaritätsbewegung mit Migrierenden (→Migration) und Geflüchteten (→Flüchtling).
Wissenschaftsgeschichte(n) Auch in der Wissenschaft war die Diskussion über Globalisierung zunächst vor allem eine Domäne der Ökonomie. Dass dieser Prozess aber nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaften weltweit grundlegend verändern würde, machten die Sozialwissenschaften ab den 1980er Jahren zu ihrem Thema. Viele Wissenschaftler*innen sahen in dieser Dimension der Globalisierung einen weiteren, nun tatsächlich weltumspannenden Siegeszug der →Moderne, Entwicklung und Demokratisierung (→Demokratie) nach westlichem Vorbild, vor allem nach dem Fall des Ostblocks. Demgegenüber versteht die Theorie der »Reflexiven Modernisierung« (Beck et al. 1996) die globalisierte Moderne als Ausgangspunkt vielfältiger, nicht intendierter Nebenfolgen, die auf ihren Ursprung – den modernen Westen – zurückwirken (reflexiv) und dessen Grundlagen massiv erschüttern. So wirke sich die mit Industrialisierung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen einhergehende Modernisierung ungewollt destruktiv aus, indem sie menschengemachte, aber vom Menschen nicht kontrollierbare Kombinationen von Natur und →Kultur, sogenannte »Hybride« (Latour 2006), hervorbringt, die globale Risiken und Bedrohungen, etwa des Klimawandels oder viraler Pandemien, nach sich ziehen. Diese Konsequenzen erforderten ein grundlegendes Überdenken und eine kosmopolitische Revision der →Werte, Institutionen und Organisationsformen der Ersten Moderne, wie Ulrich Beck vor allem mit Blick auf →Europa (vgl. Beck/Grande 2007) betonte. Dies solle im Sinne eine der fortschreitenden Globalisierung angemessenen Öffnung zur Welt geschehen, die insbesondere die kontraproduktive Festlegung auf den →Nationalstaat, von Beck als politischer »Zombie« bezeichnet, überwindet (Beck 2004). In diese, noch immer weitgehend vom Westen aus mit eurozentrischem Blick (→Europa) geführte Debatte intervenierten ab den 1990er Jahren internationale Kulturwissenschaftler*innen und Anthropolog*innen, die generell eine
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Diskussion über die kulturellen Dimensionen der Globalisierung anregten und das Modernekonzept selbst globalisierten (→Moderne). So kamen etwa mit den Ausführungen von Ulf Hannerz (1996) und Arjun Appadurai (1996) die kulturellen Aneignungen und Umdeutungen einer eben nicht nur westlich bestimmten Moderne in den Blick. Und jenseits des Modells eher paralleler Entwicklungen, »Multipler Modernen«, wie sie der Soziologe Shmuel Eisenstadt nannte, wurde insbesondere die Perspektive »verflochtener Modernen« und »geteilter Geschichten« einflussreich, die von der postkolonialen Anthropologin Shalini Randeria in die Diskussion gebracht wurde (Conrad/Randeria/Römhild 2013). Die Erkenntnis, dass die Moderne keine genuin westliche Erfindung, sondern von vornherein als globales Projekt angelegt gewesen sei, in dem den Kolonien der Status von »Laboratorien« zugekommen sei (Stoler/Cooper 1997), trug dazu bei, →Europas Rolle in dieser Entwicklung zu provinzialisieren, wie der Historiker Dipesh Chakrabarty in seinem einflussreichen Werk gleichen Titels im Jahr 2000 postulierte (Chakrabarty 2000). Diese kulturwissenschaftlich formulierten postkolonialen Perspektiven haben insbesondere die Geschichtsschreibung der Globalisierung nachhaltig geprägt sowie die Geschichtswissenschaft, in der sich ein eigenes Forschungsfeld der »Globalgeschichte« jenseits national und eurozentrisch begrenzter Vorstellungen entwickelte. Hatten die ökonomische und soziologische Globalisierungsforschung ihren Gegenstand noch primär als spätmodernes Phänomen datiert, das erst mit den technologischen Entwicklungen der 1980er Jahre einsetzte, so ist mit der Historisierung aus postkolonialer Perspektive deutlich geworden, wie sehr die heutigen Verflechtungen, Abhängigkeiten, Ungleichheiten und Konflikte auf langen Zeiträumen beruhen, in denen der europäische Aufstieg zur kolonialen Weltmacht, verbunden mit der Ausbeutung und der erobernden Besiedlung, einschließlich gewaltförmiger, vielfach genozidaler Unterwerfung nichtwestlicher Gesellschaften, bis heute nachwirkt. Neuere dekoloniale Ansätze datieren den Beginn der Globalisierung und Modernisierung zurück ins 16. Jahrhundert, in die Zeit der Kolonialisierung Lateinamerikas, und konstatieren eine bis heute darauf aufbauende, weltumspannende »Kolonialität« (Quijano/Ennis 2000) der Machtverhältnisse. Ein wesentlicher Ertrag dieser Debatten ist die Erkenntnis eines kontingenten Verlaufs der globalen Geschichte, der →Europa und den Westen, entgegen eurozentrischer Vorstellungen, nicht zwangsläufig und keineswegs immer privilegiert habe. Nach der kolonialen Ära europäisch-westlicher Hegemonie scheint sich aktuell eine Dezentrierung und Multipolarisierung der Welt mit noch ungewissem Ausgang abzuzeichnen.
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Ein weiterer Beitrag zur Relativierung und Differenzierung makroökonomischer und -soziologischer Theorien der Globalisierung kam von der kulturanthropologischen Migrationsforschung, die als Erste auch eine Globalisierung »von unten«, im Alltag der →Migration und ihrer transnationalen Räume (vgl. Basch/ Glick-Schiller/Szanton Blanc 1994), sowie einen Kosmopolitismus »von unten« thematisierte. Dass Migration ihrerseits zu einer Vernetzung der Weltregionen, zur Mobilisierung von Menschen, Ideen und Gütern sowie zur Durchlässigkeit nationaler Gesellschaften beiträgt, ließ sie zu einem wesentlichen Feld der Globalisierungsforschung werden. Dabei wurde jedoch auch deutlich, dass Globalisierung sich angesichts diverser multidirektionaler Migrationsbewegungen nicht nur in den Regionen der Welt unterschiedlich entfaltet und auswirkt, sondern auch spezifische transnationale Ausprägungen der darauf bezogenen Politiken hervorbringt. So ist eine tatsächlich globale Mobilität nur wenigen immer noch privilegierten Menschen möglich, während die Bewegung der Vielen weltweit durch ein Geflecht unterschiedlicher Grenzregime eingeengt wird. Vor diesem Hintergrund gilt Globalisierung heute als ein höchst komplexes, umstrittenes, multidirektionales und multipolares Geschehen mit kolonialen Wurzeln, das keineswegs nur von transnationalen Unternehmen, Organisationen und Politiken, sondern auch von unterschiedlich situierten und interessierten Alltagsakteur*innen gestaltet wird.
Ausblick In jüngster Zeit sind die planetaren Folgen der globalisierten Industriemoderne in den Fokus der Globalisierungsdebatte getreten (vgl. Tsing 2015). Bislang verlief die Diskussion über diese Folgen weitgehend entlang eurozentrischer, spätmoderner Logiken. Ein grundsätzliches Umdenken, das auch die bisher ausgegrenzten Erfahrungen und das Wissen nichtwestlicher Gesellschaften über die Probleme des Anthropozäns gleichberechtigt einzubeziehen im Stande ist, steht noch aus. Nach Dipesh Chakrabarty (2015) würde dazu auch gehören, das nur scheinbar inklusive, egalitäre Konzept des Menschen (Anthropos) kritisch zu reflektieren. Denn nicht nur mit Blick auf Natur, sondern auch in der Perspektive eines politischen Begriffs von Menschheit sind nach wie vor Ungleichheiten wirksam, die auf koloniale Ausschlüsse der europäischen →Moderne, etwa von indigenen Bevölkerungen außerhalb des Westens, aber auch von Frauen zurückgehen (→Europa →Geschlecht/Gender). Diese doppelte Ungleichheit, die sich auch heute wieder in der weit dramatischeren Bedrohung nichtwestlicher →Kul-
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turen und Naturen durch die Risiken der Globalisierung bemerkbar macht, ist inzwischen die größte Herausforderung einer globalen Moderne, die, so Dipesh Chakrabarty in seiner Einleitung zu »Provincializing Europe«, nur mehr für und »von den Rändern her erneuert werden kann« (Chakrabarty 2000 : 16).
Literatur Appadurai, Arjun (1996) : Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis. Basch, Linda/Glick Schiller, Nina/Szanton Blanc, Cristina (1994) : Nations Unbound. Transnational Projects, Postcolonial Predicaments, and Deterritorialized Nation-States. London/New York. Beck, Ulrich (1986) : Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Beck, Ulrich (2004) : Der kosmopolitische Blick oder : Krieg ist Frieden. Frankfurt am Main. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1994) : Reflexive Modernization. Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Stanford. Beck, Ulrich/Grande, Edgar (2007) : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt am Main. Chakrabarty, Dipesh (2015) : The Human Condition in the Anthropocene. The Tanner Lectures in Human Values- Yale University. URL : https://tannerlectures.utah.edu/Chak rabarty%20manuscript.pdf [3. Februar 2020]. Chakrabarty, Dipesh (2000) : Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton/Oxford. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini/Römhild, Regina (2013) : Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2. erweiterte Auflage. Frankfurt am Main/New York. Hannerz, Ulf (1996) : Transnational Connections. Culture, People, Places. London. Huntington, Samuel P. (1996) : The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York. Latour, Bruno (2006) : Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main. Meadows, Dennis/Meadows, Donella/Zahn, Erich/Milling, Peter (1972), Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart. Quijano, Aníbal/Ennis, Michael (2000) : Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America. In : Nepantla 1(3), 533–580. Ritzer, George (1996) : The McDonaldization of Society. Thousand Oaks. Stoler, Ann Laura/Cooper, Frederick (1997) : Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda. In : dies. (Hg.) : Tensions of Empire : Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley/Los Angeles, S. 1–56.
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Tsing, Anna Lowenhaupt (2015) : The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton.
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Kurzdefinition »Heimat« ist in der deutschen Sprache ein vielfältig aufgeladener Begriff mit einer langen Geschichte, der zunächst das Recht auf Aufenthalt und Versorgung benannte und im Laufe des 19. Jahrhunderts politisch, symbolisch und emotional zum Sehnsuchtsort wurde. Was Heimatgefühle hervorruft, hat in erster Linie mit dem persönlichen Empfinden zu tun und ist kulturell vermittelt : ein vertrauter Geruch, eine bestimmte Landschaft, Beziehungen zu anderen Menschen oder eine Erinnerung an die Kindheit. Dabei ist es möglich und prägt →Identitäten, mehrere Heimaten zu haben. Ob jemand das Recht besitzt, an einem Ort heimisch zu werden, wird von staatlichen Institutionen zu- oder aberkannt (→Integration →Nationalstaat).
Gesellschaftliche Situation »Heimat« ist im deutschsprachigen Raum seit Beginn der 2000er Jahre auffallend präsent – in ästhetisch-materieller Hinsicht und in Verbindung damit als zentraler Gegenstand der politischen Diskussion. Deutungsoffenheit und ein gewisses spielerisches Moment bilden die Voraussetzung dafür, dass sich der Topos »Heimat« auf verschiedene Weise interpretieren lässt und zum Thema vielfältiger Debatten wurde. Die Werbung verspricht, mittels Heimat aus Wohnraum ein Zuhause zu machen, und im wachsenden Bemühen um nachhaltigen Landbau ist Heimat zu einem Gütesiegel geworden. Vom Karton mit Freilandeiern lächeln Familien in Tracht, die →Tradition und Authentizität verkörpern sollen. »Heimatrauschen«, so auch der Titel einer Sendung im Bayerischen Fernsehen, die »Tradition und modernen Stil« verbinden will, setzt sich aus Versatzstücken zusammen : Bilder von ikonischen Orten, historische Verweise, Narrative, Aspekte der →Volkskultur und sprachliche Besonderheiten werden miteinander verwoben. »Heimat« heißt das Restaurant in einem Designhotel im Hamburger Hafen. »Heimat« ist der Name einer Werbeagentur mit Sitz in Zürich, Wien und Berlin.
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Mit der Postmoderne, in der etablierte Zuordnungen an Eindeutigkeit verloren haben, erweiterte sich der Kreis derjenigen, die sich mit dem Begriff auseinandersetzten. In der urbanen Mitte der Gesellschaft wurde Heimat zu einer Frage der Lebensart und stand nicht mehr per se für einen konservativen Politikstil, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen war. Zunehmend lässt sich ein gesteigertes Interesse an lokalen Wissensbeständen bei einer global vernetzten Generation ausmachen, deren Alltag beruflich wie privat von Mobilität geprägt wird (→Globalisierung) (vgl. Bausinger 2001). Diese Popularität von Heimat wurde in den letzten Jahren in Deutschland und Österreich auch entlang des Parteienspektrums rezipiert. Eine popkulturell ästhetisierte Heimat war in den vergangenen Jahren für alternative und liberale Deutungen offen und geriet auch in den Blick konservativer und rechtsnationalistischer Kreise. In deren Auslegung wurde der Begriff auf Besitzansprüche, die es vor »Fremden« zu wahren gelte, reduziert und in Aushandlungen vor allem mit dem Thema →Sicherheit verknüpft. Aus rechtspopulistischer Sicht ist von »Heimatschutz« die Rede (→Populismus) – das Spielerische, das Heimat zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Blackbox für Begegnungen werden ließ, findet darin keinen Platz. Anders hingegen bei Heimaten e. V., einem Netzwerk für Bildung, Austausch und interkulturellen Dialog : Der Organisation von jungen Erwachsenen mit →Migrationshintergrund geht es um Chancengerechtigkeit in der bundesdeutschen Gesellschaft.1 Heimat ist ein »soziales und kulturelles Spannungsfeld« (Bausinger 2001 : 134) und als solches Ort der politischen Auseinandersetzung, wie der 2016 geführte Wahlkampf um das österreichische Bundespräsident*innenamt zeigt. »Heimat braucht Zusammenhalt« lautete der Slogan von Alexander Van der Bellen, der sich parteilos und unterstützt von den Grünen um die Position des österreichischen Staatsoberhaupts bewarb. In einem Statement, das die Suche nach Heimat als gemeinsame Suche nach einem guten Leben auslegt, schrieb der Kandidat, der die Geschichte seiner estnisch-russischen Familie, die Flucht aus dem Baltikum in den 1940er Jahren und sein Aufwachsen im Tiroler Kaunertal immer wieder explizit thematisiert : »Heimat bedeutet zusammenhalten, nicht entzweien. […] Ich werde mich dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft nicht weiter durch die Schere zwischen Arm und Reich gespalten wird. Ich möchte Sie einladen, da mitzutun.«2 Sein Konkurrent Nobert Hofer von der rechtsextremen FPÖ vertrat 1 Heimaten e.V. Netz für Chancengerechtigkeit. URL : http://www.heimaten.de/ [10. Dezember 2020]. 2 Van der Bellen, Alexander : Heimat braucht Zusammenhalt. URL : https://www.facebook.com/
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dagegen einen anderen Heimatbegriff : »Aufstehen für Österreich – Deine Heimat braucht dich jetzt«,3 war seine Parole. Territorialität und Nation stehen im Fokus dieser Auslegung von Heimat als Recht.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Begriff Heimat ist im deutschsprachigen Raum bereits seit dem Mittelalter nachgewiesen. Dem Wörterbuch der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm zufolge taucht die heute gebräuchliche Schreibweise im 15. Jahrhundert auf (vgl. DWB 1971). Der Begriff bezog sich zunächst auf die Zugehörigkeit zu Haus und Hof, zu einem Landstrich oder Wald und Flur, aber auch auf das elterliche Heim, was die Rolle der Familie und damit die soziale Dimension unterstreicht (→Verwandtschaft). Heimat hatte man durch Geburt oder ständigen Aufenthalt, dokumentiert über den »Heimatschein«, eine »obrigkeitliche bescheinigung über die ortsangehörigkeit jemandes« (ebd.). Wer dieses Heimatrecht im deutschsprachigen Raum besaß, wurde beispielsweise mit Zuschüssen unterstützt und konnte sich in der Not auf die →Gemeinschaft verlassen. In der Verfassung Österreich-Ungarns wurde diese Art der Absicherung 1849 festgeschrieben und im Heimatrechtsgesetz von 1863 verstetigt, bis in die 1930er Jahre behielt es Gültigkeit (vgl. Heindl/Saurer 2000). Im Zuge der Industrialisierung verließen im 19. Jahrhundert vor allem Menschen aus armen Regionen Europas ihre erste Heimat, um an einem anderen Ort oder auf einem anderen Kontinent ein Auskommen zu finden und heimisch, das heißt Teil einer neuen Gesellschaft zu werden. Durch Mobilität und →Migration wurde das Recht auf Versorgung in der Herkunftsregion, wenn es überhaupt bestanden hatte, häufig verwirkt. Heimat hatte einen »männlichen Akzent«, nur jeweils der Älteste bekam die Heimat (vgl. Köstlin 1996 : 329). Die meisten Menschen, allen voran Arbeiter*innen, die vom Land in die Stadt gekommen waren, galten als heimatlos, ehe die Fürsorge für Bürger*innen des Landes mit der Gründung des Deutschen Reichs 1870/1871 in ein Unterstützungswohnrecht und 1913 in ein modernes Staatsbürgerrecht überführt wurde (vgl. Nassehi 2019 :
alexandervanderbellen/photos/pcb.1155460851165622/1155460414498999/?type=3&theater [21. März 2016]. 3 Hofer, Norbert : Aufstehen für Österreich. URL : https://www.facebook.com/norberthofer2016/vide os/1716147045329256/ [21. März 2016].
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173). Das institutionelle und soziale Zugestehen oder Verwehren von Heimat war und ist immer auch politisches Instrument. Um 1800 wurde Heimat als romantischer Sehnsuchtsort mit emotionaler Bedeutung aufgeladen und in Bildern, Liedern und literarischen Texten ästhetisch in Szene gesetzt. Dichtung und Malerei adressierten individuelles Empfinden, das Naturerleben wurde zum philosophischen Programm. Das romantisierte und ästhetisierte Heimatverständnis verband sich zunehmend mit einem poli tischen Nationalismus, der das Ziel hatte, eine geeinte →deutsche Nation zu konstruieren (→Nationalstaat). Die Sprachwissenschaftler Wilhelm und Jacob Grimm oder die Schriftsteller Achim von Arnim und Clemens Brentano sammelten und bearbeiteten Märchen und Lieder, um damit nationale →Identität zu stiften. In Grimms Wörterbuch werden Dichter wie Friedrich Schiller oder Heinrich Heine zitiert, die von einer deutschen Heimat schreiben und sie zugleich kritisieren. Der Maler Caspar David Friedrich schuf mit den »Kreidefelsen auf Rügen« und dem »Wanderer über dem Nebelmeer« (beide 1818) eine nationale Sehnsuchtslandschaft, die bis heute wirksam eine Verbindung von Natur, Heimat, Identität und Nation artikuliert. Vor allem das Landleben wurde in bürgerlich-städtischen Kreisen im 19. Jahrhundert nostalgisch verklärt zur idealen Heimat erkoren, die auf eine gute alte Zeit verwies und auch Projektionsfläche für moralische Anliegen war. Künstler*innen lieferten Bilder vom beschaulichen Dorfleben, die sich durch neue technische Möglichkeiten unter Angehörigen aller sozialen Schichten verbreiteten. Mit dem Aufkommen des Fremdenverkehrs avancierte Heimat zeitgleich zu einer performativen Praxis. Zur Schau gestellt werden bis heute ästhetisierte Heimatlandschaften, die für Erholung abseits des Alltags werben. Die Ästhetik ließ sich in den 1930er und 1940er Jahren auch ideologisch besetzen, mit dem Obersalzberg inszenierte sich der Faschismus in alpenländischer Idylle. »Es gibt Wörter, bei denen die jahrhundertelange Benützung nicht dazu geführt hat, daß die alten Bedeutungen abgeschliffen wurden und die jetzige Substanz glatt und klar zutage tritt, die vielmehr die Nuancen früheren Gebrauchs mit sich tragen und deshalb von jeder Seite wieder etwas anders aussehen«, bilanziert der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger zum Heimatbegriff (1986 : 89). Im gesellschaftlichen Diskurs ist bis heute in unterschiedlichen Kontexten von Heimat die Rede, verschiedene Bedeutungen werden gleichzeitig aufgerufen. Die Migrationsbewegungen des Jahres 2015 haben beispielsweise nicht nur zu einem Erstarken des Rechtspopulismus (→Populismus) in →Europa und einer Engführung des Heimatbegriffs geführt, sondern auch ein bürgerschaftliches Engagement der Beheimatung gegenüber Geflüchteten (→Flüchtling) hervorge-
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bracht. 2019 war Heimat sowohl das Jahresthema der deutschen Bundesvereinigung für City- und Stadtmarketing e.V. (bcsd) als auch der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die Auseinandersetzung mit Heimat ist in besonderer Weise ein Thema der historischen Volkskunde, die sich im 19. Jahrhundert institutionalisierte. Vertreter*innen der Disziplin haben wesentlich zu populären Vorstellungen von Heimat und →Volkskultur beigetragen. Auch in der Philosophie, der Landesgeschichte, der Kunst- und Literaturwissenschaft war und ist Heimat ein Gegenstand der Auseinandersetzung. Der Blick auf das Land, das Interesse an →Brauch und →Traditionen entsprach einer Auffassung von regionalen Lebenswelten, die vor allem für das städtische Bürgertum typisch war. So prägte der Statistiker, Theologe und Kunsthistoriker Wilhelm Heinrich Riehl an der Münchner Universität seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine konservative Kulturgeschichte »des Volkslebens« (vgl. Gerndt 2002 : 65). Um dieses Volksleben, das durch die Industrialisierung im Wandel oder im Verschwinden begriffen war, zu bewahren, etablierte sich eine von Wissenschaftler*innen und Lai*innen getragene Heimatpflege. Politisch wurden diese Bemühungen als identitätsstiftend (→Identität) unterstützt. Der deutschsprachigen »Heimatschutzbewegung«, die sich um 1900 in zahlreichen Vereinsgründungen manifestierte und vor allem von Städter*innen mit kunsthistorischem und architektonischem Wissen getragen wurde, ging es um Natur- und Landschaftsschutz in ländlichen Regionen (vgl. Köstlin 1996 : 332). Auch erste Universitätslehrstühle für Volkskunde wurden im deutschsprachigen Raum etabliert. Die romantische Suche nach dem »Volkscharakter« (→Volk) durch wissen schaftliche Disziplinen erwies sich auch in den 1930er Jahren als politisch anschlussfähig (vgl. Bausinger 1986 : 105). In Verbindung mit einem v ölkischen Denken wurde die ideologisch motivierte Verknüpfung von Heimat und →Volkskultur mit dem Nationalsozialismus durch Fächer wie Volkskunde, Landes- und Kunstgeschichte sowie Kulturinstitutionen vorangetrieben. Die Rede von »Blut und Boden« gewann auf diese Weise an Legitimation. In den 1930er Jahren prägte die »Wurzelmetapher« die Auslegung des Heimatbegriffes und verband ihn mit einem politischen Idealbild des Bauern und des ländlichen Raums (vgl. Köstlin 1996 : 333). Im Zuge einer fachlichen Neuausrichtung nach 1945 reorientierte sich die akademische Volkskunde als Empirische Kulturwissenschaft/Kulturanthropo-
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logie und untersuchte Heimat im Alltag der Gegenwart. Vor dem Hintergrund politischer, ökonomischer und sozialer Transformationen nach dem Zweiten Weltkrieg rückte der Prozess der Beheimatung angesichts von biographischen Brüchen und dem Verlust von Zugehörigkeit in den Mittelpunkt der Forschung. Untersuchungen befassten sich mit der Situation von Heimatvertriebenen oder der Erfahrung von Krieg und Vertreibung (vgl. Bausinger/Braun/Schwedt 1959 ; Lehmann 1991). Ein programmatisch von Hermann Bausinger vorangetriebener Paradigmenwechsel führte im Verlauf der 1960er Jahre zum »Abschied vom Volksleben« (Geiger/Jeggle/Korff 1970) ; und doch blieb Heimat als Thema im Blick. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus postulierte in ihrer Habilitationsschrift, dass Heimat kein Terminus technicus sein könne. Aus anthropologischer Perspektive auf das »Heimatphänomen« der →Moderne fragte sie seit den 1960er Jahren, was Heimat als »Satisfaktionsraum« ausmache : nämlich das Empfinden von →Sicherheit und Vertrautheit sowie die Möglichkeit des Aktivwerdens innerhalb der eigenen Lebenswelt (Greverus 1972). Als moderne Erscheinungsform thematisierte auch Konrad Köstlin den Heimatbegriff über die Jahre immer wieder in verschiedensten Ausführungen, rekapitulierte dessen Geschichte aus kompensationstheoretischer Sicht als Suche nach Sinnstiftung und machte eine regelrechte »Identitätsfabrik« ausfindig (Köstlin 1996). Die Europäische Ethnologin Beate Binder nahm den Begriff zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf und fragte, welche Rolle er für die Untersuchung gegenwärtiger Gesellschaften spielen könne (vgl. Binder 2008). Als Prozess aufgefasst, definiert Heimat eine sozialräumliche und politische Schnittstelle. Binder schlägt einen praxeologischen Zugriff vor, der von konkreten Lebenswelten ausgeht und das alltägliche Aushandeln von Heimat analytisch in den Blick nimmt. »Heimat ist etwas, was ich mache«, lautet der Titel eines Bandes von Beate Mitzscherlich (1997). Auch für die Psychologin stehen in der postmodernen Gegenwart die »subjektive Konstruktion« von Heimat sowie individuelle Prozesse der Beheimatung im Mittelpunkt des Interesses. In den vergangenen Jahren wurden auffällig viele Symposien und Ringvorlesungen veranstaltet sowie Publikationen herausgegeben, die sich mit Zugehörigkeiten befassen (vgl. Hasse 2018 ; Costadura/Ries 2019 ; Barboza/Krug-Richter/Ruby 2020). Heimat hat interdisziplinär Konjunktur und wird im Kontext zeitgenössischer Entwicklungen verhandelt. Der Dialog zwischen verschiedenen Sichtweisen – unter anderem der Sprachwissenschaft, der Theologie, der Kunstgeschichte, der Philosophie, der Kulturwissenschaften – soll der Komplexität von »Heimat« gerecht werden.
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Ausblick Der Soziologe Armin Nassehi sieht Heimat als Gegenstand des politischen Diskurses, der alltäglich von Bedeutung bleibt (vgl. Nassehi 2019). Angesichts einer relativen Offenheit und gleichzeitig hohen Bindungskraft kann Heimat mit unterschiedlichen politischen Inhalten belegt werden. Die Statik, die dem Begriff mitunter angeheftet wird, führt perspektivisch in die Enge und schließt Veränderungen, wie sie mit Heimat als Praxis und sich ändernden Lebenssituationen verbunden sind, per Definition aus. Auf die Dynamik zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit in der →Moderne und die Bedeutungen von Heimat innerhalb dessen weist die Kulturwissenschaftlerin Johanna Rolshoven (2006) hin. In einer globalisierten (→Globalisierung) Welt stellt sich die Frage nach Beheimatung für viele Menschen im Laufe ihrer Biographie immer wieder neu – durch berufliche Mobilität, →Migration oder Flucht (→Flüchtling) und Vertreibung. Der Verlust von Heimat, die Suche nach einer neuen Heimat oder der persönliche Prozess der Beheimatung sind strukturell mit Kämpfen verbunden. »Eure Heimat ist unser Albtraum«, lautet der Titel eines interdisziplinären Sammelbands, der mit zwölf Positionen darauf reagiert, dass das deutsche Bundesministerium des Inneren 2018 mit dem Zusatz »Heimat« versehen wurde. Als People of Color setzen sich die Autor*innen mit der Geschichte und Gegenwart des Begriffs in einer weißen, männlich dominierten Mehrheitsgesellschaft auseinander und stellen ihre Erfahrungen zur Diskussion (vgl. Aydemir/Yaghoobifarah 2019). Zugleich ist Heimat als emotionales Thema populistisch verwertbar (→Populismus) und spricht gezielt Menschen an, die sich aus einer rassistischen (→Rassismus) Motivation heraus und/oder um eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren gegen heimatlose Geflüchtete positionieren. Heimat weder zu verklären noch zu negieren, sondern als kontroverses Schlüsselthema der →Moderne zu verstehen, gibt den Blick frei auf verschiedene Kontexte und Prozesse der Inklusion und Exklusion – von nationalen Grenzziehungen (→Nationalstaat) über die Konstruktion →ethnischer Konflikte und Zugehörigkeiten bis hin zu individuellen Biographien. Auch wenn »Heimat« in der →deutschen Sprache eine spezifische Bedeutung hat und Gesellschaftsgeschichte spiegelt, geht der Ethnologe Christoph Antweiler davon aus, dass Heimat alle Menschen betreffe und ein Grundbedürfnis beschreibe, das sich kulturell und sozial vermittle (vgl. Antweiler 2020). Aus diesem Blickwinkel eröffnen sich neue Felder und Fragen, unabhängig von politischen Lagern.
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Literatur Antweiler, Christoph : Heimat als Ortsbezogenheit. Zwischen lokaler Verortung und planetarer Beheimatung. In : Bönisch, Dana/Runia, Jil/Zehschnetzler, Hanna (Hg.) (2020) : Heimat revisited. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf einen umstrittenen Begriff. Berlin/Boston, S. 191–208. Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.) (2019) : Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin. Barboza, Amalia/Krug-Richter, Barbara/Ruby, Sigrid (Hg.) (2020) : Heimat verhandeln ? Kunst- und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Köln/Weimar/Wien. Bausinger, Hermann (1986) : Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In : Kelterer, Jochen (Hg.) : Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Weingarten, S. 89–115. Bausinger, Hermann (2001) : Heimat und Globalisierung. In : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Band LV (104), S. 121–135. Bausinger, Hermann/Braun, Markus/Schwedt, Herbert (1959) : Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts Tübingen. Stuttgart. Binder, Beate (2008) : Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse ? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung. In : Zeitschrift für Volkskunde 1, S. 1–17. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hg.) (2019) : Heimat global. Modelle, Medien und Praxen der Heimatkonstruktion. Bielefeld. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB) (1854). 16 Bände in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Geiger, Klaus/Jeggle, Utz/Korff, Gottfried (Hg.) (1970) : Abschied vom Volksleben. Tübingen. Gerndt, Helge (2002) : Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen. Münster et al. Greverus, Ina-Maria (1972) : Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt am Main. Hasse, Jürgen (Hg.) (2018) : Das Eigene und das Fremde. Heimat in Zeiten der Mobilität. Freiburg/München. Heindl, Waltraud/Saurer, Edith (Hg.) (2000) : Grenze und Staat : Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867. Wien/Köln/Weimar. Köstlin, Konrad (1996) : »Heimat« als Identitätsfabrik. In : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde L (99), S. 321–338. Lehmann, Albrecht (1991) : Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland. München. Mitzscherlich, Beate (1997) : Heimat ist etwas, was ich mache : Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Herbolzheim.
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Nassehi, Armin (2019) : Woher kommst Du nicht ? Sieben Exkursionen zu einer Soziologie der Heimat. In : Kursbuch Heimatt 198, S. 172–183. Rolshoven, Johanna (2006) : Woanders daheim. Kulturwissenschaftliche Ansätze zur multilokalen Lebensweise in der Spätmoderne. In. Zeitschrift für Volkskunde LX (109), S. 179–191. Sievers, Kai Detlev (2001) : Volkskundliche Fragestellungen des 19. Jahrhunderts. In : Brednich, Rolf (Hg.) : Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin, S. 31–51.
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Kurzdefinition Identität beschreibt die Vorstellung einer Übereinstimmung von mindestens zwei unterschiedlichen Aspekten. Am geläufigsten ist die Vorstellung von Identität als die Übereinstimmung von Individuen mit einer spezifischen gesellschaftlichen Zuschreibung wie dem Namen, →Geschlecht, der Klasse oder Ethnizität (→ethnisch). Identität ist ein vieldimensionierter Begriff, der sowohl gesellschaftliche Fremdzuschreibungen und Selbstverortungen von Individuen beschreibt als auch kollektive Anliegen mit politischer Dimension transportiert. So gesehen ist Identität vor allem ein Differenzbegriff, der zwischen »ich« und »du«, »wir« und »sie« unterscheidet. Während Identität damit ein grenzziehender, häufig politisierter Begriff ist, verweisen Konzepte der kulturwissenschaftlichen Analyse wie Identifikation auf die Praktiken, Materialitäten, Prozesse und Situationen, in denen Identität reklamiert wird und als Orientierung für vergemeinschaftende soziale Beziehungen wirkt.
Gesellschaftspolitische Situation Identitäten sind Gegenstand komplexer Identitätspolitiken im gesellschaftlichen Leben, an denen unterschiedliche Akteur*innen und Instanzen beteiligt sind. Die Spannung zwischen vorgestellter Übereinstimmung und beobachtbarer Differenz, die den Identitätsbegriff kennzeichnet, zeigt ihre Wirkung in der jüngsten Vergangenheit auf vielfältige Weise. Als gesellschaftlich umkämpftes Anliegen motiviert Identität die auf rassistische Diskriminierungen reagierenden Aktionsbündnisse Black Lives Matter oder auch die unterschiedlichen genderbezogenen Bewegungen, die im vergangenen Jahrzehnt (wieder) erstarkt sind. Diese Bewegungen reklamieren gesellschaftliche Gleichbehandlung, indem sie auf die strukturellen Ausschluss- und Unterdrückungspraktiken sowie alltägliche Gewalt aufmerksam machen, die auf einzelne Identitätsmerkmale gerichtet sind : in diesen Fällen auf Ethnizität/race (→ethnisch →Rassismus) bzw. auf →Geschlecht/ Gender. Viele Akteur*innen formulieren ihre identitätsbezogenen Forderungen
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heute eingedenk der Tatsache, dass sie sich damit häufig gegen Mehrfachdiskriminierungen wenden, und schaffen damit vergemeinschaftende soziale Beziehungen (→Gemeinschaft). Im weiteren Zusammenhang dieser emanzipativen Bewegungen sind Auseinandersetzungen um cultural appropriation zu beobachten. Zur Debatte steht dabei, ob kulturelle Produkte wie zum Beispiel Schmuck, Kleidung, Musik oder Ähnliches, die von einer Gruppe als symbolisch eindeutige Identitätsmarker reklamiert werden, von Menschen, die nicht als Teil der Gruppe identifiziert werden, genutzt werden dürfen. Diesbezügliche Konflikte um die Aneignung identitätsstiftender Symbole werden durch unterschiedliche Faktoren verstärkt, wie unter anderem durch Machtverhältnisse zwischen der als dominant wahrgenommenen aneignenden Position und derjenigen, die das Identitätssymbol reklamiert und auf damit verbundene Diskriminierungserfahrungen verweist (vgl. Lenard/Balint 2020). Die mobilisierende Wirkung des Identitätsbegriffs ist zudem in Anliegen zu finden, die unter ganz unterschiedlichen politischen Vorzeichen stehen. Neben emanzipatorischen Projekten rekurrieren auch repressive Programme auf den Identitätsbegriff, wenn etwa die rechtsextreme Identitäre Bewegung auf eine europäische Identität setzt, die es zu verteidigen gelte (→Europa). Diese werde demnach von Migrant*innen bedroht, die keine europäischen Identitätsmarker (des »christlichen Abendlandes«) besäßen, sondern, so das am häufigsten herangezogene Gegen- bzw. Feindbild, »orientalisch« (türkisch, arabisch) oder muslimisch seien (→Islam). Die darin erkennbare essentialisierende Vorstellung von Identität behauptet eine Übereinstimmung von →Kultur (europäisch) sowie Religion (christlich) mit einer »authentischen«, →einheimischen europäischen Bevölkerung und deren vermeintlich homogenen Wertekanon (→Werte). Ob emanzipatorisches Anliegen, repressive Strategie oder aber, wie der Historiker Valentin Groebner schreibt, »unwiderstehliches Schlagwort«, »Zauberwort« und »Etikett« : »Es gibt nicht viele Begriffe, die gleichermaßen in der Lage sind, Vorstellungen exakter sozialwissenschaftlicher Analyse und von ehrfurchtgebietender historischer Tiefe aufzurufen, von über Jahrhunderten gewachsenen Strukturen und gleichzeitig individuellen Gestaltungsspielräumen und Emanzipationsbewegungen« (Groebner 2018 : 110).
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Die grundsätzliche Spannung des Identitätsbegriffs in Alltags- und Diskursräumen gründet im lateinischen Wort identitatem. Im Mittelalter wurde als identitatas zum einen die Verbindung zwischen unterschiedlichen Elementen bezeichnet, was im Gedanken der Übereinstimmung seinen Widerhall findet ; zum anderen sind im Begriff identidem Wiederholung und Differenz angesprochen : »Identität heißt deswegen wörtlich Zugehörigkeit zu Ähnlichem : Es steht für Wiederholung und Vervielfältigung« (Groebner 2018 : 111). Die für heutige europäische Gesellschaften prägnanteste Folge des Gedankens, eine Zugehörigkeit zu Ähnlichem als Identität zu bezeichnen, manifestiert sich im Nationsgedanken ab dem 18. Jahrhundert (→Nationalstaat). Mit der Nationenbildung wurden Bevölkerungsgruppen spezifische Identitäten zugeschrieben und durch Regierungspraktiken nationale Zugehörigkeiten bestimmt. Gleichzeitig grenzen sich die neuen Nationalstaaten auf Grundlage dieser erfundenen nationalen Identitäten voneinander ab. Die neuen Disziplinen Soziologie, Volkskunde und Völkerkunde tragen ab Ende des 19. Jahrhunderts zur Profilierung von nationalem Bewusstsein bei, indem sie einerseits die nach »innen« differenzierenden Aspekte dieser auf Identität bezogenen sozialen Verbindungen sowie andererseits die spezifischen Unterschiede zwischen ihnen analysieren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich zudem sozialwissenschaftlich-psychologische Vorstellungen von Person und Subjekt in einer Weise verbunden und popularisiert, dass Identität ein alltagsweltlicher Bezugspunkt für (Selbst-)Verortungen in sozialen Gefügen (→Gemeinschaft, Gruppe, Szene, Gesellschaft, Nation etc.) geworden ist. Das Ineinanderfallen von (Selbst-)Verortung und gruppenbezogenen Anerkennungskämpfen, die um →ethnische und kulturelle Identitätsmarker kreisen (→Kultur), ließ sich in →Europa besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beobachten : Unter dem Eindruck des Wandels kolonialer Machtverhältnisse diente Identität besonders in den europäischen Staaten, die sich als ehemalige Kolonialmächte mit den Folgen der postkolonialen Emanzipationsbewegungen konfrontiert sahen, als mobilisierende, identitätsschaffende Projektionsfläche. Auch wenn die Auseinandersetzungen beispielsweise in Großbritannien, Portugal, Italien und Frankreich jeweils spezifische Ausprägungen gefunden haben, so stand die Frage der Zugehörigkeit, Anerkennung und gesellschaftlichen Teilhabe ehemaliger Kolonisierter in den jeweiligen →Nationalstaaten unter kulturalisierenden Selbst- und Fremdzuschreibungen allgemein zur Debatte. Zugespitzt durch die Ölkrise Anfang der 1970er Jahre äußerte sich dieses Wechselspiel gegenseitiger Zuschreibungen in wenig differenzierten Selbst- und
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Fremdbildern : So wurde in Frankreich beispielsweise das Bild des Ölscheichs, der sich in den westlichen Metropolen Europas vergnügt und dort sein Geld für Glücksspiel und Luxusgüter ausgibt, zum prägnanten Gegenüber. In der Gegenüberstellung mit dem orientalischen »Neureichtum« wirkte das Europäische umso seriöser und tiefsinniger (vgl. Färber 2017). In dieser vielschichtigen Krisensituation wurden deshalb auch nicht zufällig Bemühungen um einen »Dialog der Zivilisationen« (zwischen →Europa und der arabischen Welt) laut (vgl. Morin 1991), der zu diesem Zeitpunkt ein durchaus konservatives Anliegen war und sogar von rechtsextremen Bewegungen unterstützt wurde. Diese kulturalisierende Selbstbesinnung eines europäischen Westens beruht auf einer Semantik kultureller Abgrenzung und überformt das Soziale (vgl. Kaschuba 1995). Dies gilt auch für die damaligen Anerkennungskämpfe von Migrant*innen in →Europa (→Migration) : Nachdem in den 1970er Jahren die (nicht nur) arabischstämmigen Migrant*innen für ihre Rechte als Arbeiter*innen gekämpft hatten, verschob sich der Identitätsbezug zunächst in Frankreich, dann aber auch in Deutschland : Im Laufe der 1980er Jahre verlangte in Frankreich die »zweite Generation« zunächst in lokalen Jugendaufständen in den Banlieues und später in den landesweiten Antirassismusbewegungen kulturelle Anerkennung als junge Menschen mit französischer Staatsbürgerschaft und migrantischer Herkunft (→Migrationshintergrund →Rassismus). Für die selbsternannten Beurs, die ihre gesellschaftliche Marginalität als sozialräumliche Randlage identifiziert hatten, galt die →ethnische Herkunft als Marker kultureller Differenz und Identität (→Kultur). Diese als Kulturkonflikt ausgetragenen Identifikationsprozesse transformierten auch das Selbstverständnis von Religion, in diesem Fall des →Islams, woran auch arabische Staaten, die Türkei und islami(ist)sche Organisationen beteiligt waren. Für die jugendlichen Beurs konnte eine Bezugnahme auf Islam als eine Facette jugendlicher, (sub-)kultureller Identitätsentwürfe dienen. Wie in Frankreich veränderte sich auch in Deutschland binnen eines Jahrzehnts die gesellschaftliche Wahrnehmung von vormals »türkischen Gastarbeiter*innen« (ab den 1960er Jahren) hin zu »immigrierten Muslim*innen« (in den 1970er/1980er Jahren) (vgl. Spielhaus 2011). Und auch hier fand eine emanzipative Selbstidentifikation mit Herkunft und Differenz von Seiten der »zweiten Generation« statt, als in den späten 1990er Jahren Aktivist*innen unter der provokativen Selbstbezeichnung »Kanak Attak« kulturelle Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe einforderten.4 4 Kanak Attak (1997) : Manifest. URL : https://www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html [13. Januar 2021].
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Diese alltäglichen Kämpfe der »zweiten Generation« in Deutschland und Frankreich verweisen vor allem darauf, dass die gelebten Realitäten von Identität vielfältigen gesellschaftlichen Anerkennungsprozessen entsprechen (vgl. Bausinger 1987). Kulturelle Identität wirkt in diesen Fällen als »starker Handlungsimpuls« (Schiffauer 2008 : 14) und ist zugleich ein »Balanceakt, der aus der Notwendigkeit, sich selbst treu zu bleiben (also eine Kontinuität herzustellen), und dem Bedürfnis, sich selbst zu verwirklichen (also sich gerade nicht auf seinen Hintergrund festzulegen), resultiert« (ebd.). Dass dies, wie oben angedeutet, auch für andere Identitätsbezüge gilt, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem an den gesellschaftlichen Aushandlungen von Geschlechtsidentitäten gezeigt. Die Anerkennungserfolge vielfältiger geschlechtlicher Identifikationen sind im Sprachlichen, Materiellen und Symbolischen alltäglich erfahrbar, vom Gendersternchen bis zu diversen Umkleidekabinen (→Geschlecht/Gender).
Wissenschaftsgeschichte(n) Die widersprüchlichen gesellschaftlichen Stoßrichtungen des Identitätsbegriffs lassen sich auch im wissenschaftlichen Gebrauch von Identitätskonzepten nachzeichnen. Während in den vergangenen zwei Jahrzehnten Identität eher als beschreibender Begriff für empirisch vorfindbare Identitätspolitiken verwendet wurde, war Identität zuvor auch als analytisches Konzept forschungsleitend. Die analytische Orientierung von Identitätskonzepten geht auf deren grundsätzliche erkenntnistheoretische Qualität zurück. Identität erlaubt, wie →Kultur auch, das Eigene und das Andere oder, wie der Volkskundler Hermann Bausinger schreibt, das Subjekt und seine Umgebung voneinander zu unterscheiden (vgl. Bausinger 1978). Denn weder das Spezifische einer Kultur noch die Kontur oder der Kern einer Identität lassen sich ohne eine andere Kultur bzw. ein Gegenüber denken. Wie Kultur auch kann Identität, selbst wenn sie im Plural gedacht ist, als Differenzkonzept am Individuum – jemand hat Identität – oder an Kollektiven ansetzen. Identität als analytisches Konzept erlaubt demnach, das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Verortung individueller und kollektiver Akteur*innen zu untersuchen. Dieses seit dem späten 19. Jahrhundert bestehende empirische Interesse kann als Reaktion auf die Modernisierung der Gesellschaften und die damit einhergehenden Verunsicherungen gedeutet werden (→Moderne) (vgl. Zirfas 2010 : 10). Während sich die Aussagen hinsichtlich individueller Identität zunächst aus der Psychologie und den historischen Kulturwissenschaften speisen,
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stellt das beobachtbare kollektivierende Potential von Identität ein gemeinsames Interesse weiterer Disziplinen dar, wie der Empirischen Kulturwissenschaft, der Kultur- und Sozialanthropologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte. Die ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Psychologie und Psychoanalyse entwickelten Konzepte von Person und Subjekt boten zahlreichen Disziplinen Anknüpfungspunkte für die auf Individuen bezogene wissenschaftliche Auffassung von Identität. Dazu zählen beispielsweise die über Fächergrenzen hinweg einflussreichen Arbeiten des Sozialpsychologen George Herbert Mead (1934) zur Herausbildung von Identität und Bewusstsein durch soziale Interaktion. »Identitätsbildung« wird heute in den Sozial- und Kulturwissenschaften als gesellschaftlicher Prozess der Subjektwerdung und -aushandlung analysiert, indem Menschen in ihren »Alltagspraktiken, ihren Strategien der Selbstregulierung und der Problembewältigung, ihrem emotionalen Habitus und ihren Identitätsentwürfen« untersucht werden (Seifert 2015 : 8). Ein anderer Forschungsschwerpunkt liegt auf Konzepten der Erinnerung als einerseits individueller, andererseits kollektiver Praxis, mit denen die Vorstellung von Individuum und Subjekt als Identitätsträger*in eng verbunden ist. Anknüpfend an das vom Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfene Konzept der »kollektiven Erinnerung« (1939) beschäftigt sich die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung seit den 1980er Jahren mit der (Nicht-)Übereinstimmung ebendieser (in Form beispielsweise von kulturellem, sozialem, kommunikativem Gedächtnis) und den damit identifizierbaren größeren sozialen Gebilden wie Nationen (→Nationalstaat) (vgl. Assmann 1999 ; Erll 2017). Dass kollektive Erinnerung im Kontext von Nation für die einen identitätsschaffend und damit für die anderen eine ausschließende Kategorie sein kann, zeigen Untersuchungen zu Auseinandersetzungen um Erinnerungsorte und Denkmäler (vgl. Binder/Kaschuba/Niedermüller 2001). Die Verbindung von Identitäts- mit Erinnerungskonzepten hat deshalb nicht nur zur Erforschung von Erinnerungspolitiken geführt, sondern auch von Identitätspolitiken, die auf Nationen bezogen sind (→Nationalstaat). Seit den 1970er Jahren setzen sich Sozial- und Kulturwissenschaften mit Identitätspolitiken auseinander, die sowohl als Auslöser für Konflikte verstanden als auch als Antwort auf Verunsicherung erfahren und proklamiert werden : »Von Identität ist deshalb so viel die Rede, weil Identität zum Problem geworden ist. Der Begriff verkörpert, so weit die Konnotationen im einzelnen auseinanderlaufen mögen, ein Moment der Ordnung und Sicherheit inmitten des Wechsels ; und sein besonderer Reiz liegt dabei darin, dass er nicht eigentlich die Bedeutung von Starrheit oder Erstarrung
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vermittelt, sondern dass er verhältnismäßig elastisch etwas Bleibendes in wechselnden Konstellationen anvisiert« (Bausinger 1978 : 204). Diese grundsätzlich sozialkonstruktivistische Auffassung der Verbindung von Identität und Nation bestimmt auch die Untersuchungen des Verhältnisses von Identität und Ethnizität. In einer Vielzahl von Studien wurde seit den 1990er Jahren die machtvolle Semantik von Identitätspolitiken untersucht, wofür nicht zuletzt die Kriege im damaligen Jugoslawien (1991–2001) ausschlaggebend waren. →Ethnisch und ethnisch-religiös markierte Identitätspolitiken zeigten in »eindringlicher Weise die beständige gesellschaftliche Suche nach kulturellen Mustern innerer wie äußerer Übereinstimmung« (Kaschuba 1999 : 133). Migrationsbewegungen fordern diese nationalen kulturellen Identitäten stets aufs Neue heraus, unter anderem in Form →ethnischer Identitätspolitiken (→Migration). Vor diesem Hintergrund und im Spannungsfeld postkolonialer Repositionierung wurde das Konzept der Identität in den Kultur- und Sozialwissenschaften immer wieder nachhaltig problematisiert. Besonders in den Cultural Studies hat das Nachdenken über den Identitätsbegriff zu einer Verschiebung hin zu »Identifikation« als konzeptionellem Zugriff geführt. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Stuart Hall (1996) plädiert dafür, einerseits Identitätspolitiken als kollektive Identifikationsprozesse zu untersuchen und andererseits die Vielfalt und Kontextspezifik individueller Identifikationen zu erkennen. Darüber hinaus betont er, dass auch diese Perspektive nicht vor Essentialisierungen gefeit sei. Er argumentiert, dass »Identität« und »Identifikation« als notwendig und gleichzeitig unerreichbar aufgefasst werden müssten (vgl. Hall 1996 : 16) : »Identities are thus points of temporary attachment to the subject positions which discursive practices construct for us« (ebd.: 6). Mit dieser als »postkolonial« bezeichneten Welt beschäftigen sich auch die Kultur- und Sozialanthropologie sowie die Literaturwissenschaft, die sich in den 1990er Jahren unter anderem mit dem Konzept der »hybriden Identitäten« auseinandersetzten (vgl. Bhabha 2007 ; Werbner 1997). Sie reagierten damit ebenfalls konzeptionell auf gesellschaftliche Transformationen durch →Migration (aus den ehemaligen Kolonien) und versuchten, das grundsätzlich Vielfältige oder gar Unabgeschlossene von Identitäten zu thematisieren. Das Konzept der »hybriden Identität« attestiert die vielfachen kulturellen und sozialen Zugehörigkeiten jedoch vor allem den Eingewanderten, was das Argument theoretisch schwächt, aber interventionistisch relevant gemacht hat. Die Debatten um Dekolonialität verändern wiederum die Reichweite von Identitätskonzepten. Dekolonialisierende Ansätze suchen nach Wegen, Bestandteile und Wirkmächte greifbar zu machen, die von der hegemonialen analytischen Brille des Kolonialen, die auch
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im Postkolonialen noch nachwirke, bisher vernachlässigt wurden (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015). Eine andere Forschungsrichtung widmet sich repräsentations- und wissens analytischen Perspektiven, die unterschiedlichen historischen Praktiken der Identifikation und Identifizierung nachgehen. Sie untersuchen die Reichweite, die Situationen und Konstellationen, in denen »Identität« durch wirkmächtige institutionelle Wissenspraktiken hervorgebracht wird. Ausgehend von der performativen Kraft von Identifikationspraktiken aller Art kann beispielsweise das Ineinandergreifen von Polizei, Medizin und Medien sichtbar gemacht werden, wie im Fall der historischen Rekonstruktion der »Identität« eines Verbrechers (vgl. Regener/Doßmann 2019). Und auch die Untersuchung aktueller Identifikationspraktiken an den Grenzen →Europas erlaubt es aufzuzeigen, wie digitale Infrastrukturen und Repräsentationsformen individueller Identifikation wie der Personalausweis letztendlich zur Unterscheidung europäischer und nichteuropäischer territorialer Identitäten beitragen (vgl. Kuster/Tsianos 2016). Die wissensanalytische Verschiebung von Identitätskonzepten zu Identifikation als Forschungskonzept zeigt die unterschiedlichen »Äußerungsformen« von Identität in alltäglichen Identifikationspraktiken und -medien auf und wie diese jeweils Differenz erzeugen.
Ausblick Die wissenschaftliche Beobachtung subjektiver wie kollektiver Äußerungen von Identität ist in den vergangenen Jahrzehnten zu Recht mit einem Unbehagen gegenüber manchen ihrer Ausformungen einhergegangen. Denn Interessen, die mit der Artikulation von Identität verbunden werden, sind sehr unterschiedlich, teils sogar widersprüchlich. Angesichts der mit Identität verbundenen sowohl emanzipativen als auch spaltenden Anliegen ist die Erforschung von Identitätsäußerungen ein Balanceakt. Schließlich wirkt jedwede essentialisierende Behauptung kollektiver Identität vor allem ausgrenzend. Genau das ist das folgenreiche Paradox eines Identitätsbegriffs, von dessen historischer Komplexität nur der Gedanke der Übereinstimmung (und nicht der Differenz und Wiederholung) gesellschaftliche Plausibilität erlangt hat. Aus der Perspektive der Kulturanalyse dürfte deutlich werden, dass Identität von einem Alltagsverständnis geprägt ist, das nicht so widerspruchsfrei gelebt wie proklamiert wird. Gerade in diesem schwierigen, machtdurchdrungenen Terrain der Identitätspolitiken und der Politik mit Identität könnte es sich loh-
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nen, noch mehr die gelebten Diskrepanzen zwischen Identitätsdiskursen und Identitätspraktiken herauszuarbeiten. Mit einer analytischen Aufmerksamkeit für diese Inkonsistenzen des Alltagsverstands lässt sich viel Stoff finden, um ausgrenzende Identitätsbehauptungen nicht nur zu problematisieren, sondern gegen sie zu intervenieren.
Literatur Assmann, Aleida (1999) : Erinnerungsräume : Formen und Wandlungen kulturellen Gedächtnisses. München. Bausinger, Hermann (1978) : Identität. In : ders./Jeggle, Utz/Korff, Gottfried/Scharfe, Martin (Hg.) : Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt, S. 204–265. Bausinger, Hermann (1987) : Neue Felder, neue Aufgaben, neue Methoden. In : Jeggle, Utz/ Chiva, Isac (Hg.) : Deutsche Volkskunde - Französische Ethnologie. Frankfurt am Main. Bhabha, Homi (2007) : Die Verortung der Kultur. Tübingen. Binder, Beate/Kaschuba, Wolfgang/Niedermüller, Peter (Hg.) (2001) : Inszenierungen des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln u. a. Castro Varela, Mario do Mar/Dhawan, Nikita (2015) : Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld. Erll, Astrid (2017) : Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart. Färber, Alexa (2017) : Zurück in die Zukunft : Das Institut du Monde Arabe und die Erfindung des Arabischen im Dialog. In : kuckuck : notizen zur alltagskultur 1, S. 6–11. Hall, Stuart (1996) : Introduction : Who Needs Identity ? In : ders./du Gay, Paul (Hg.) : Questions of Cultural Identity. London, S. 1–17. Groebner, Valentin (2018) : Identität. Anmerkungen zu einem politischen Schlagwort. In : Zeitschrift für Ideengeschichte XII(3), S. 109–115. Kaschuba, Wolfgang (1995) : Kulturalismus. Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In : ders. (Hg.) : Kulturen – Identitäten – Diskurse. Perspektiven Europäischer Ethnologie. Berlin, S. 11–30. Kaschuba, Wolfgang (1999) : Einführung in die Europäische Ethnologie. München. Kuster, Brigitta/Tsianos, Vassilis (2016) : Hotspot Lesbos. In : E-Paper Reihe »Aus den Augen, aus dem Sinn – Flüchtlinge und Migranten an den Rändern Europas«. Heinrich- Böll-Stiftung. URL : https://www.boell.de/sites/default/files/160802_e-paper_kuster_ tsianos_hotspotlesbos_v103.pdf [1. April 2021]. Lenard, Patti Tamara/Balint, Peter (2020) : What Is (the Wrong of) Cultural Appropriation ? In : Ethnicities 20(2), S. 331–352. Mead, George. H. (1934) : Mind, Self, and Society : From the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago. Morin, Edgar (1991) : Europa denken. Frankfurt am Main.
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Alexa Färber
Regener, Susanne/Doßmann, Axel (2019) : Fabrikation eines Verbrechens. Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte. Leipzig. Schiffauer, Werner (2008) : Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft ? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld. Seifert, Manfred (2015) : Personen im Fokus. Zur Subjektorientierung in der Europäischen Ethnologie. In : Zeitschrift für Volkskunde 1, S. 5–30. Spielhaus, Riem (2011) : Wer ist hier Muslim ? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung. Würzburg. Werbner, Pnina (Hg.) (1997) : Debating Cultural Hybridity. Multi-cultural Identities and the Politics of Anti-racism. London. Zirfas, Jörg (2010) : Identität in der Moderne. Eine Einleitung. In : Jörissen, Benjamin/ders. (Hg.) : Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden, S. 9–18.
Naika Foroutan · Frank Kalter
Integration
Kurzdefinition Integration bezeichnet einen individuellen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, rechtlichen und symbolischen Prozess der Herstellung von Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe (kurz : ACT) für alle Bürger*innen einer Gesellschaft, ungeachtet ihrer kulturellen, →ethnischen, religiösen oder nationalen Herkunft (→Nationalstaat) und ihres →Geschlechts, ihrer Sexualität, ihrer Schicht und ihrer Abilität. Integration beinhaltet Zugangsmöglichkeiten zu ökonomischen Ressourcen und strukturellen Gütern, aber auch kulturelle, soziale und symbolische Zugehörigkeit und Anerkennung (→Kultur). Integration als politische Aufgabe bezieht sich vor allem auf Zielgruppen, denen die mit ACT benannten Ansprüche nicht oder unzureichend gewährt werden. Da Gleichheit neben Freiheit als zentrales Versprechen moderner →Demokratien gilt (→Moderne), ist das normative Ziel der Integration, deprivilegierten und marginalisierten Individuen oder Gruppen den Zugang zu zentralen Ressourcen und Gütern der Gesellschaft zu ermöglichen.
Gesellschaftliche Situation Integration ist ein gesellschaftlich umkämpfter Begriff. Obwohl er grundsätzlich eine sehr allgemeine Bedeutung hat, wird er in gesellschaftspolitischen Debatten vor allem auf phänotypisch markierte bzw. rassifizierte Personen mit und ohne →Migrationshintergrund bezogen (→Rassismus). Im Fokus stehen deren strukturelle Lage, aber auch die kulturellen, sozialen und symbolischen Lebensstile, die als abweichend empfunden werden oder denen eine Abweichung zugeschrieben wird. Diese werden in Debatten und in Medien oft mit denen der Mehrheitsoder Dominanzgesellschaft kontrastiert. Die implizite Minderheits-Mehrheits-Perspektive in Integrationsdebatten spiegelt immer weniger die demographischen Verhältnisse. Laut Statistischem Bundesamt (2019) haben aktuell 21,2 Millionen Menschen und somit 26 Prozent
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der Bevölkerung in Deutschland einen →Migrationshintergrund.1 Darunter fällt eine Person, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit →deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund ist selbst in Deutschland geboren und verfügt somit nicht über eine eigene Einwanderungserfahrung. Von den unter 18-Jährigen mit Migrationshintergrund sind 2019 79 Prozent in Deutschland geboren. Davon haben 85 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit.2 Vor allem in den westeuropäischen Großstädten ist Migration allgegenwärtig. So hat zum Beispiel in Frankfurt am Main bereits jede*r zweite Einwohner*in eine Migrationsgeschichte.3 Mit der zunehmenden Kopplung des Integrationsbegriffes an →Migration ist auch der Widerstand der adressierten migrantischen Gruppen gegen die fortgesetzte Anrufung als »Andere« gestiegen. Insbesondere Menschen, die zur sogenannten zweiten oder dritten Generation gerechnet werden, stehen dem Gebrauch des Integrationsbegriffs skeptisch gegenüber. Die Kritik an der Reduktion des Begriffs Integration auf Migrant*innen erfolgt darüber hinaus aus unterschiedlichen Richtungen wie von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, von aktivistischer Seite und von Nichtregierungsorganisationen (NGO) oder aus der Kunst- und Popkulturszene. Dabei wird dem Begriff zunehmend mit Skepsis bis Widerstand begegnet (vgl. Czollek 2018). In sich abfolgenden Bezeichnungen wie Ausländer*innen, Migrant*innen, Menschen mit →Migrationshintergrund bis hin zur noch allgemeineren Formulierung →ethnische Minderheit werde das Anderssein durch Kategorien perpetuiert, die die Integrationsforschung erschaffen habe (vgl. Yildiz 2009 ; Supik/Spielhaus 2019). Auch Wissenschaftler*innen äußern Kritik, teils mit ausdrücklichem Plädoyer, den Integrationsbegriff als analytische Kategorie abzuschaffen, zumindest soll die mit ihm verbundene Forschung in der gängigen Routine nicht weitergeführt werden (vgl. Karakayali 2009 ; Mecheril et al. 2013 ; Schinkel 2018) : »Wenn wir über die Verhältnisse 1 Statistisches Bundesamt (2019) : Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2019, S. 36. URL : https://www.destatis.de/DE/Themen/ Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/_inhalt.html#sprg228898 [13. Januar 2021]. 2 Statistisches Bundesamt (2020) : Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2019, S. 68. URL : https://www.destatis.de/DE/Themen/ Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/ migrationshintergrund-2010220197004.pdf ?__blob=publicationFile [1. Februar 2020]. 3 Amt für multikulturelle Angelegenheiten (Hg.) (2017) : Frankfurter Integrations- und Diversitätsmonitoring. Partizipation und Lebenslage der Bevölkerung, S. 184. URL : https://amka.de/sites/ default/files/2018-05/Frankfurter%20Integrations-%20und%20Diversit%C3%A4tsmonito ring_2017_0.pdf [27. Januar 2021].
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und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen, dann müssen wir aufhören, von Integration zu reden«, hieß es 2010 in einem Appell von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit.4 Im politischen Alltag ist der Begriff aber weiterhin maßgeblich und prägend für Entscheidungen.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Begriff integrare steht im Lateinischen für erneuern, ergänzen und geistig auffrischen und kommt in der →deutschen Sprache in verschiedenen Zusammenhängen und Bedeutungen vor. In der Technik beispielsweise steht er für den Zusammenschluss von einzelnen Einheiten bzw. Bauelementen eines Systems in ein komplexeres Objekt, das die gleichen Funktionen erfüllt. Der Begriff Integration kann sowohl eine Zustandsbeschreibung sein und somit ganz allgemein zur Bezeichnung, Bestimmung oder Bemessung dienen (wie zum Beispiel in der mathematischen Integralrechnung, zur Berechnung von Flächen unter Kurven) ; er kann als Prozess definiert werden (zum Beispiel als Weg der Eingliederung in bereits bestehende Strukturen) oder als Ziel (zum Beispiel bei der Zusammenführung von internationalen Märkten in der Wirtschaft). Ab Mitte der 1950er Jahre prägte vor allem der Begriff der Europäischen Integration die Vorstellung eines kohäsiven Prozesses des »immer engeren Zusammenschluss[es] der europäischen Völker«5 (→Europa). Auch hier wurde eine idealisierte Vorstellung von Anpassung, Angleichung und Homogenisierung ohne ausreichende Reflexion hierarchischer Ordnungsstrukturen erkennbar. Mit der Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen ab Mitte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre wurde der Begriff der Integration in Deutschland – auch infolge des »Kühn-Memorandums« von 1979 zu »Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland«6 – zunehmend in einen Zusammenhang mit Migrationsprozessen gebracht und ist in diesem Nexus zu einem bestimmenden gesellschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Thema geworden. Auch hierbei war 4 Kritnet (2010) : Nein zur Ausgrenzung. In : Die Tageszeitung, 30. September 2010. URL : https://taz. de/Appell-zum-20-Jahrestag-der-Einheit/ !5134775/ [13. Januar 2021]. 5 Erwägungsgrund der Präambel des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) 1954. 6 Bundesminister für Arbeit u. Sozialordnung (1979) : Memorandum d. Beauftragten d. Bundesregierung. Bonn.
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zunächst die Vorstellung der Homogenisierung und Hierarchisierung erkenntnisleitend, die sich bis heute im Alltagsverständnis hält. Ein Wandel im unilateralen Integrationsverständnis ist erst in den 1990er Jahren erkennbar und spiegelt sich sinnbildlich in der Aussage »Integration ist keine Einbahnstraße« (Alba/Nee 1997). Gesellschaftspolitisch und alltagssprachlich wirkt der Integrationsbegriff dennoch weiterhin in seiner Bedeutung als Anpassung von Migrant*innen an die »Einheimischen« fort (→einheimisch) (vgl. Canan 2015).
Wissenschaftsgeschichte(n) Integration ist ein in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gebräuchlicher Begriff und steht für einen Zustand, einen Prozess und ein Ziel. Die Sozialwissenschaften nehmen die Begriffsbreite auf und wenden diese analog auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt an. Als Aspekt der sozialen Ordnung ist Integration als zentraler Begriff schon im Denken soziologischer Klassiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie bei Herbert Spencer, Emile Durkheim oder Georg Simmel verankert, die ihn vor allem ordnungstheoretisch verwenden. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden : Mit Talcott Parsons (1951) soziologischem Verständnis von Gesellschaft und in der damit verbundenen Systemtheorie wird der Begriff Integration ab Mitte der 1960er Jahre vorwiegend auf die Veränderung von Gesellschaft als Ganzes bezogen, was der Soziologe David Lockwood (1964) als »Systemintegration« bezeichnet. Daneben unterscheidet Lockwood die Integration im Sinne einer Einbindung von Akteur*innen in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme (Wirtschaft, Bildung, Religion, Politik etc.). Er bezeichnet dies in Abgrenzung zur Systemintegration als »Sozialintegration«, es ist jedoch treffender von »Individualintegration« zu sprechen. In der empirischen Forschung stehen vor allem Fragestellungen zur Individualintegration im Mittelpunkt. Die angelsächsische Migrations- und Integrationsforschung wurde in ihren Anfängen vor allem durch den Begriff der Assimilation bestimmt. Ihre Anfänge liegen in der Chicago School der 1920er Jahre, die die »klassische Assimilationstheorie« entwickelte (vgl. Park 1950). Assimilation wird hier im Prinzip als universelles Ergebnis von Migrationsprozessen gesehen, also als eine Frage der Zeit bzw. der Generationen. Sie meint in den klassischen Beiträgen der US-amerikanischen Soziologie weniger die Aufgabe aller kulturellen Merkmale auf Seiten der Einwanderer*innen und ihrer Nachkommen als vielmehr das Einfließen in den gesellschaftlichen Mainstream (melting pot), der sich im Zuge von Zuwanderun-
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gen laufend wandelt (Alba/Nee 2003 : 19). Später entwickelte Theoriestränge kritisierten die Annahmen und Schlussfolgerungen der klassischen Assimilationstheorie, revidierten und relativierten auch den Assimilationsbegriff weiter (vgl. Alba/Nee 1997). Dabei wird unter anderem betont, dass Assimilation kein einseitiger Prozess sei, nicht normativ, sondern deskriptiv-analytisch zu verstehen sei und unterschiedliche Teilaspekte bzw. Dimensionen enthalte (zum kulturwissenschaftlich-ethnologischen Begriffsverständnis und Integrationskonzepten siehe Schmidt-Lauber 2007 ; Hess/Binder/Moser 2009). Der Begriff der Integration wird häufig und zunehmend anstelle eines solchen erneuerten Assimilationsverständnisses verwendet. In Deutschland etablierte der Theologe Rudolf Smend den Begriff Integration in den 1920er Jahren in der Staatsrechtslehre und postulierte eine harmonisierte Interaktion von »Staat« und →Volk zum Zwecke des Entstehens eines Gemeinwesens. Erst dann entstehe aus einer fragmentierten Gesellschaft eine übergeordnete →Gemeinschaft (vgl. Smend 1928). Sehr früh war also die Idee von Integration mit der Herstellung einer idealisierten Form von Homogenität verbunden, die Hierarchien und Herrschaftskonstellationen nicht reflektierte. 2004 erläuterten der Historiker Klaus Bade und der Sozialwissenschaftler Michael Bommes für den damaligen Zuwanderungsrat der Bundesrepublik Deutschland den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel hin zu einer erweiterten Integrationsprämisse. Bade formulierte es in einem Interview treffend und knapp : »Integration ist die messbare Teilhabe aller an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, das heißt an Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Recht, Sozialem bis hin zur politischen Partizipation« (Bade zitiert nach Dernbach 2013 ; Herv. d. Verf.). Noch weiter geht die Forderung einer postmigrantischen Definition, die den Integrationsbegriff begriffsgeschichtlich gänzlich von seiner Engführung auf Migrant*innen und ihren Nachkommen löst und in das breitere Feld der allgemeinen Ungleichheits- und Demokratieforschung einbettet. Ziel dieser postmigrantischen Integrationsperspektive ist die Formulierung einer gemeinsamen politischen »Aufgabe« im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes als zentrales Versprechen der pluralen →Demokratie (vgl. Foroutan 2019). Als zu integrierend gelten wissenschaftlich demnach jene Personen(gruppen), die von strukturellen, sozialen oder kulturellen Ungleichheitsverhältnissen betroffen sind oder politisch, rechtlich und symbolisch nicht repräsentiert werden. Quantitative Ansätze zur Operationalisierung der Sozialforschung fokussieren auf messbare Aspekte. Für die deutschsprachige Soziologie hat Hartmut Esser (2000) die zentralen Dimensionen der Messbarmachung von Integration grob in
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vier Kategorien zusammengeführt. Demnach gibt es eine »strukturelle« Ebene, die den Zugang zu Positionen benennt (zum Beispiel Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit), eine »soziale« im Sinne von Beziehungen zu anderen Menschen (zum Beispiel Freund*innen, Nachbar*innen, Partnerschaften), von »kultureller Integration« ist in Zusammenhang mit kulturellen Kenntnissen und Praktiken die Rede (zum Beispiel Sprache, Religion, Kunst, Popkultur), und »affektive« Integration zielt auf Prozesse der Identifikation und Selbstverortung sowie der emotionalen Verbundenheit (zum Beispiel Zugehörigkeit, Sicherheit, Werteakzeptanz etc.). In der empirischen Praxis wird die Messung von Integration vorwiegend als Angleichungsprozess zwischen Migrant*innen bzw. ihren Nachkommen und einer bestimmten »Referenzgruppe«, wahlweise als Mehrheitsgesellschaft, Mainstream, Allochthone, Einheimische (→einheimisch) oder Aufnahmegesellschaft bezeichnet, analysiert (vgl. Kalter et al. 2018). Die Angleichungsperspektive, die eben nicht nur auf ökonomische Gleichheit, sondern besonders auf kulturelle Angleichung im Sinne von Assimilation abzielt, führte zu zunehmender Kritik besonders von Seiten der Kulturwissenschaften, der Ethnologie und der Postcolonial Studies. Infolgedessen entwickelte sich eine weitgehend qualitativ ausgerichtete Forschungsrichtung, die »Kritische Migrationsforschung«. Diese bemängelt die Homogenisierung und Binarisierung sozialer Verhältnisse als Widerspruch zur Diversifizierung der Gesellschaft in der Konstruktion defizitärer »Anderer« und einer »integrierten« Kerngruppe. Die gesellschaftspolitische Verwendung des Integrationsbegriffes fungiere demnach weiterhin als Hierarchisierungs- und Herrschaftsinstrument zur Sicherung von Privilegien und Macht und postuliere die Norm der Anpassung (vgl. Castro-Varela 2013 ; Pries 2015). Die Migrations- und Integrationsforschung in Deutschland ist also tendenziell in zwei konkurrierende Lager gespalten, die in den letzten Jahrzehnten weitgehend aneinander vorbeigeforscht haben. Deren wissenschaftstheoretische Positionen, Prämissen, Prioritäten und Perspektiven unterscheiden sich ebenso stark voneinander wie das jeweilige Set an Fragestellungen, Theorien und Methoden. Selbst sprachlich manifestieren sich die Unterschiede in sichtbar abweichenden Begrifflichkeiten und Schreibstilen. Dennoch fokussieren die Forscher*innen den gleichen Gegenstand : die durch →Migration pluralisierte Gesellschaft und die damit verbundenen Prozesse. Selten jedoch werden die elaborierten Vorgehensweisen der quantitativ-empirischen Sozialforschung, ihre deskriptive Stärke und analytische Klarheit mit den theoretisch komplexen Annahmen der kritischen Migrationsforschung verknüpft, die deskriptive Analysen zu dekonstruieren vermag, eingeschliffene
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empirische Kategorien hinterfragt und konzeptionell neue Denkanstöße und Begriffe zur Gesellschaftsanalyse anbietet.
Ausblick Gesellschaftspolitisch impliziert Integration, im Sinne einer Individualintegration, einen Prozess einzuleiten, der desintegrierten oder marginalisierten Menschen erlaubt oder sie befähigt, gleichberechtigt in die Gesellschaft (und ihre Subsysteme) eingebunden zu sein bzw. teilhaben zu können. Das bedeutet aber, dass der Zugang von marginalisierten Gruppen zu Ressourcen und Positionen vom Rest der Gesellschaft als berechtigt angesehen wird (Anerkennung), dass Ausgangslagen für ein sicheres und gleichberechtigtes Leben und Zusammenleben mit Anderen ohne Voreinschränkungen ermöglicht werden (Chancengleichheit) und dass die Zugänge zu Ressourcen und in verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche zum einen individuell gesucht, zum anderen auch gesellschaftlich, rechtlich und politisch gewährt werden (Teilhabe). Teilhabe ist also durchaus nicht nur im Sinne von »Teil-Werden« zu verstehen, sondern auch im Sinne von »Teilen«. Im ACT-Ansatz der Integration heißt Anerkennung auch Anerkennung von Differenz. Chancengleichheit bedeutet auch Wissen um eigene Privilegien und die Hürden marginalisierter Gruppen sowie die Bereitschaft, politische Konzepte zur Regulierung und zum Abbau von Ungleichheiten einzuleiten. Und Teilhabe bedeutet im Sinne einer integrativen →Demokratie, nicht nur die Möglichkeit zur Partizipation grundsätzlich zu gewähren, sondern politische, mediale und öffentliche Räume entsprechend der gesellschaftlichen Komposition sichtbarer und repräsentativer zu gestalten und aktiv zu öffnen. Wissenschaftlich verlangt die Analyse der Vielschichtigkeit pluraler Demokratien einen interdisziplinären Zugang, um strukturelle und soziale Fragen der Ungleichheit mit affektiven und emotionalen Fragen (zum Beispiel nach Identifikation (→Identität) und Zugehörigkeit) und symbolischen Fragen (nach kultureller Repräsentation und Anerkennung) zu verbinden. Dem Integrationsbegriff wohnt ein breites analytisches Potential inne, indem er sowohl auf strukturelle und soziale Ungleichheiten rekurriert als auch auf kulturelle und emotionale Fragen abzielt, die an Symbolik, Macht und Herrschaft gekoppelt sind. Damit ist er als analytischer Begriff in hochgradig komplexen Gesellschaften – trotz der berechtigten Kritik – nicht zu streichen. Gleichzeitig sollte die Integrationsforschung die zivilgesellschaftlich und aktivistisch formulierte Kritik wahrnehmen und kritisch prüfen, welche Konsequen-
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zen Kategorienbildungen und Analysen, die einer binären Logik folgen, haben, und eine erweiterte Perspektive anstreben, die die Integrations- und Desintegra tionsmechanismen in Gesellschaften breiter fokussiert. Eine entsprechende Schärfung des Integrationsbegriffes scheint in diesem Zusammenhang vielversprechender als eine Verabschiedung des Begriffes.
Literatur Alba, Richard/Nee, Victor (1997) : Rethinking Assimilation Theory for a New Era of Immigration. In : International Migration Review 31(4), S. 826–874. Alba, Richard/Nee, Victor (2003) : Remaking the American Mainstream : Assimilation and Contemporary Immigration. Harvard. Binder, Jana/Hess, Sabine/Moser, Johannes (Hg.) (2009) : No integration ? ! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld. Canan, Coskun (2015) : Identitätsstatus von Einheimischen mit Migrationshintergrund : Neue Styles ? Wiesbaden. Castro-Varela, María do Mar (2013) : Ist Integration nötig ? Eine Streitschrift von María do Mar Castro Varela. Soziale Arbeit kontrovers (Band 5). Freiburg. Czollek, Max (2018) : Desintgeriert euch. München. Dernbach, Andrea (2013) : Integration muss weg vom Innenministerium. In : Der Tagesspiegel, 7. Oktober 2013. URL : https://www.tagesspiegel.de/politik/vor-der-regierungsbildung-integration-muss-weg-vom-innenministerium/8894400.html [17. Februar 2021]. Esser, Hartmut (2000) : Soziologie. Spezielle Grundlagen Band 2 : Die Konstruktion der Gesellschaft. Frankfurt am Main. Foroutan, Naika (2019) : Die postmigrantische Gesellschaft : ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld. Kalter, Frank et al. (2018) : Growing up in Diverse Societies : The Integration of Children of Immigrants in England, Germany, the Netherlands and Sweden. Oxford. Karakayali, Serhat (2009) : Paranoic Integrationism. Die Integrationsformel als unmöglicher (Klassen-)Kompromiss. In : Hess, Sabine et al. (Hg.) (2009) : No Integration ? ! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld, S. 95–104. Lockwood, David (1964) : Social Integration and System Integration. In : Zollschan, George K./Hirsch, Walter (Hg.) : Explorations in Social Change. London, S. 244–257. Mecheril, Paul et al. (2013) : Migrationsforschung als Kritik ? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten. In : dies. (Hg.) : Migrationsforschung als Kritik ? Spielräume kritischer Migrationsforschung. Wiesbaden, S. 7–55. Park, Robert Ezra (1950) : Race and Culture. Glencoe. Parsons, Talcott (1951) : The Social System. London. Pries, Ludger (2015) : Teilhabe in der Migrationsgesellschaft : Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs. In : IMIS-Beiträge 47, S. 7–36.
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Schinkel, Wilhelm (2018) : Against ›Immigrant Integration‹ : For an End to Neocolonial Knowledge Production. CMS 6(31), S. 1–17. Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) (2007) : Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin. Smend, Rudolf (1928) : Verfassung und Verfassungsrecht. München Supik, Linda/Spielhaus, Riem (2019) : Special Issue : Matters of Classification and Representation : Quantifying Ethnicity, Religion and Migration introduction. In : Ethnicities 19(3), S. 455–468. Yildiz, Erol (2009) : Was heißt hier Parallelgesellschaft ? Von der hegemonialen Normalität zu den Niederungen des Alltags. In : Binder, Jana/Hess, Sabine/Moser, Johannes (Hg.) : No integration ? ! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld, S. 153–170.
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Islam
Kurzdefinition Das Substantiv Islam (adjektivisch : islamisch) bezeichnet eine Religion. »Musli m*in« (adjektivisch : muslimisch) charakterisiert dem Islam zugehörige Menschen. Der Islam gilt als eine der Weltreligionen und blickt auf eine etwas mehr als 1.400-jährige Geschichte zurück. Muslimische Bevölkerungsmehrheiten leben zwischen Indonesien und Senegal, Sansibar und Usbekistan. In Westeuropa gehören Muslim*innen zu den diskursiv signifikanten Minderheiten, seit Ende des 20. Jahrhunderts rückten sie im Kontext von →Migrations-, →Integrationssowie →Sicherheits-Debatten vermehrt in den Fokus. Besonders die in jüngerer Zeit zu beobachtende politische Instrumentalisierung des Islams durch extremistische Bewegungen trug hierzu bei.
Gesellschaftliche Situation Der Ausspruch des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« anlässlich des Tags der Deutschen Einheit 2010 ist auch heute noch Gegenstand von Diskussionen.1 Er antwortete damit explizit auf die Thesen des SPD-Politikers Thilo Sarrazin, dessen umstrittenes Buch »Deutschland schafft sich ab« aufgrund zahlreicher rassistischer und kulturalistischer Abwertungen Kritik erfuhr.2 Lange Zeit war in Wissenschaft und Gesellschaft die Annahme verbreitet, dass sich moderne Gesellschaften (→Moderne) zunehmend säkularisieren würden und Religion allmählich an Bedeutung im gesellschaftlichen wie im privaten Leben der Menschen verliere. Seit den frühen 2000er Jahren haben Sozialwissen1 Vgl. Strack, Christoph : Der Islam und Deutschland – Die Geschichte eines Satzes. In : DW.com, 18.09.2020. URL : https://www.dw.com/de/der-islam-und-deutschland-die-geschichte-eines-satzes/ a-54966467 [4. Mai 2021]. 2 Vgl. Sarrazin, Thilo (2010) : Deutschland schafft sich ab : Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München.
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schaftler*innen die Säkularisierungstheorie jedoch zunehmend kritisiert, sodass mittlerweile von einer Rückkehr der Religion in das öffentliche Leben die Rede ist (vgl. Casanova 2009). Religionssoziolog*innen und Theolog*innen weisen darauf hin, dass religiöse Bezüge auch in westeuropäischen Gesellschaften niemals gänzlich verschwunden seien, sondern vielmehr eine Individualisierung religiöser Lebens- und Organisationsformen erfolgt sei (vgl. Krech 2011 : 163ff.). Nachdem der Islam in der Spätantike und zu Beginn des Frühmittelalters bereits in weiten Teilen Asiens, Afrikas und →Europas Bedeutung hatte, kehrte er mit der »islamischen Revolution« in Iran 1979 sowie mit islamistischen Terror anschlägen, die mit Bezug auf den Islam Legitimation beanspruchen, auf die Bühnen der Weltpolitik zurück. Der 11. September 2001 wurde in dieser Hinsicht prägend für die folgende Dekade in westlichen Ländern. Zuvor hatte der amerikanische Politologe Samuel Huntington in seinem Buch zu »Kampf der Kulturen« (1996) Religion als Auslöser für dem Kalten Krieg folgende Konfliktkonstellationen postuliert. Neben der weltpolitischen Bedeutung islamistischer Bewegungen wuchs seitdem die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit für muslimisches Leben in →Europa. Zunehmend beschäftigen religions(verfassungs)rechtliche Fragen, Forderungen und Anliegen nichtchristlicher Religionsgemeinschaf ten wie islamischer Glaubensgemeinschaften Verwaltungen, Gerichte und Politik (vgl. Steinberg 2021). In westeuropäischen Islamdebatten ist eine häufige Gleichsetzung von Muslimsein und →Migrationshintergrund festzustellen. Nicht mehr »der*die Ausländer*in« oder »der*die Türke*in« sind primäre Bezugspunkte der gegenwärtigen Debatte um →Migration und →Integration in Deutschland oder Österreich, sondern es sind Diskussionen über Muslim*innen, die zunehmend Fragen der demographischen Entwicklung, der Stadtplanung, der Schulbildung und insbesondere der →Sicherheit dominieren. Der Diskurs ist auffällig problemorientiert : Zahlreiche Medienbeiträge, populärwissenschaftliche Abhandlungen und wissenschaftliche Studien befassen sich mit der Sichtung, Kategorisierung und Einschätzung der muslimischen Bevölkerung in westeuropäischen Staaten, warnen vor islamistischen Bedrohungen, vor der Gefahr einer Islamisierung und damit verbundenem Verlust europäischer oder nationaler →Werte, vor populistischen Islamkritiker*innen und vor einer Zunahme islamfeindlicher Tendenzen bzw. vor Islamophobie und antimuslimischem →Rassismus in der Bevölkerung. Gesellschaftliche Debatten portraitieren den Islam insbesondere im Hinblick auf ihm (vermeintlich) inhärente patriarchale Geschlechterverhältnisse (→Geschlecht/Gender), in Bezug auf sein Verhältnis zu →Demokratie und Menschenrechten sowie bezüglich Homophobie und Antisemitismus (vgl. Attia 2009).
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Das aus dem Arabischen entlehnte Substantiv Islam bezeichnet eine Religion. Ableitungen sind das arabische Partizip des Stamms slm zu »muslimisch« (aktiv) und »islamisch« (passiv). Auch wenn »muslimisch« im Arabischen ausschließlich für die Charakterisierung von vernunftbegabten Lebewesen und »islamisch« für Gegenstände, Organisationen und Ideen verwendet wird, werden die beiden Adjektive im Deutschen häufig synonym genutzt. Die Selbstbezeichnung von sich zum Islam bekennenden Menschen lautet »Muslim*in« bzw. wie im Arabischen »Muslim*a«. Eine sprachliche Grenzziehung nehmen das Substantiv Islamismus und das dazugehörige Adjektiv islamistisch vor, die extremistische Bewegungen und Ideologien kennzeichnen. Die Verflechtungen zwischen »christlichem Abendland« und »islamischem Morgenland« reichen weit in die kulturelle und ideelle Geschichte →Europas zurück und lassen sich keineswegs auf einen Antagonismus oder eine Geschichte von gegenseitigen Kreuzzügen reduzieren. So fanden Karl der Große und der Abbasidenkalif Harun Al-Rashid um 799 gemeinsame Positionen gegenüber dem Omayyadenkalifat von Cordoba, und der französische König Ludwig XIV. teilte Interessen mit dem Osmanischen Reich gegen die Habsburger Monarchie, das 1683 zum zweiten Mal Wien belagerte. Auch in der Musik- und Kulturgeschichte hinterließ die ambivalente Beziehung identitätsstiftende Spuren : von Johann Wolfgang von Goethes Gedichtsammlung »Westöstlicher Diwan« (zuerst veröffentlicht 1819) – durch den persischen Dichter Hafez inspiriert – bis zu Wolfgang Amadeus Mozarts »Entführung aus dem Serail« (Erstaufführung 1782) (vgl. Heine 2003 : 7ff.). Im späten 19. Jahrhundert etablierte sich im deutschsprachigen Bildungsbürgertum der Begriff der Islamischen Welt als weithin gebrauchte Bezeichnung für die Gesamtheit der Länder, Regionen und Gesellschaften mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung (vgl. Aydin 2017). Referenzpunkt waren Kulturkreistheo rien des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. Schulze 1994 : 11ff.). Mitte des 20. Jahrhunderts regte sich allmählich Kritik an pauschalisierenden Bezeichnungen wie »islamische Kunst« oder »islamische Wirtschaft«, die ein Verständnis repräsentierten, das jegliche »Lebensregungen von Muslimen und alle Erscheinungen der von ihnen bewohnten Welt auf den Islam zurückführt« (Krämer 2005 : 7). Religionsbezogene Diskursstränge verstehen den Islam vorwiegend neben Christentum und Judentum als abrahamitische – also auf Abraham zurückgehende – oder monotheistische Religion, die nur einen Gott anerkennt. Weitergefasste religionswissenschaftliche Auseinandersetzungen ordnen den Islam neben Buddhismus, Hinduismus, Sikhismus und weiteren als eine der großen Weltreli-
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gionen ein. Islamkritische oder -feindliche Akteur*innen sehen den Islam nicht als Religion, sondern als politische Ideologie, die europäischen →Werten und Normen entgegenstehe (→Europa). Das verbreitete Verständnis des Islams als monolithischer Block impliziert jedoch eine Homogenität, die nicht der weltweit großen Vielfalt an Interpretationen, theologischen Auslegungen und Lebensformen von Muslim*innen in Gegenwart und Vergangenheit gerecht wird. Es bildeten sich indes Glaubensrichtungen, Schulen und Strömungen, die sich hinsichtlich ihrer Islaminterpretationen unterscheiden und gelegentlich in Konflikt miteinander stehen (vgl. Raudvere 2015) : »There are as many Islams as there are situations that sustain it« (al-Azmeh 1993 : 1). Wird diese Diversität ausgeblendet, fehlt etwa auch das Verständnis, wieso Muslim*innen in einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung religiös verfolgt werden können, was sich in weiterer Folge auf die Bewertung von Asylanträgen auswirken kann (→Asyl). Während einige Regionen in Südosteuropa oder das Baltikum seit Jahrhunderten kontinuierlich von Muslim*innen bewohnt waren (vgl. Larsson/Račius 2010), etablierte sich der Islam in West- und Nordeuropa im 20. Jahrhundert in Gestalt einer religiösen Minderheit. Erste Moscheen und Gebetsräume entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts in großen europäischen Städten wie Berlin, London, Paris oder Wien. Österreich-Ungarn hatte sich 1909 gegenüber dem Osmanischen Reich zur religiösen Gleichstellung der bosnischen Muslim*innen im Lande verpflichtet. In Österreich ist der Islam (hanafitischer Rechtsschule) seit 1912 in einem Islamgesetz als Religionsgesellschaft anerkannt. Während der Zeit des »Dritten Reichs« kam das plurale religiöse Leben in einigen europäischen Großstädten allerdings weitgehend zum Erliegen, auch islamische Vereine wurden aufgelöst, Publikationen wie die 1924 gegründete Moslemische Revue eingestellt, aktive Mitglieder zogen sich aus dem Gemeindeleben zurück und einige emigrierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zunächst Moscheevereine und in den 1960er Jahren wurden Moscheen etwa in Zürich, Hamburg oder Frankfurt am Main gebaut (Jonker 2020). »Gastarbeiter*innen« (→Migrationshintergrund) gründeten in den 1980er Jahren in größerem Umfang in europäischen Staaten Moscheevereine und -verbände. Diese wandten sich mit der Forderung nach islamischem Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder nach Mekka ausgerichteten Grabstellen mit unterschiedlichem Erfolg an die jeweiligen nationalen Behörden. In Deutschland dauerte es noch fast 20 Jahre, bis Muslim*innen im politischen Diskurs als solche wahrgenommen, diskutiert und schließlich in diesen einbezogen wurden (vgl. Schlerka 2021). Im Vorfeld der Debatte zur Reform des →deutschen Staatsangehörigkeitsrechts 1999 stellte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die erste Große Anfrage zur Anzahl und Organi-
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sationsform von Muslim*innen im Land. Im Nachgang wurden Ausländer*innen diskursiv als Migrant*innen (→Migration) oder Muslim*innen gerahmt und somit als »Andere« verortet (vgl. Yurdakul 2009). Seither fällt auf, dass die Kategorien »Muslim*in« (Angehörige*r einer Religion) und »Migrant*in« (über nationale Grenzen Zu- bzw. Eingewanderte*r) im gesellschaftlichen und politischen Diskurs austauschbar verwendet werden (vgl. Johansen/Spielhaus 2018). Dabei benennen die Begriffe unterschiedliche Aspekte und die adressierten Personengruppen sind – trotz Schnittmengen – nicht kongruent. Die Verknüpfung der Kategorien Muslim*in und Migrant*in bzw. Migrationshintergrund geht häufig einher mit der Frage nach deren →Integration und der Regulierung muslimischer Religiosität. Seit 2006 befasst sich auch die Deutsche Islam Konferenz (DIK) in einem »langfristig angelegten Dialog« zwischen Institutionen des deutschen Staates und Repräsentationen von in Deutschland lebenden Muslim*innen beispielsweise mit Fragen des gesellschaftlichen Konsenses als Wertegemeinschaft (→Werte) sowie der Ermöglichung von Religionspraxis oder der islamischen Wohlfahrtspflege. Die meisten Angelegenheiten der Religionspolitik sind in Deutschland allerdings auf Landesebene geregelt. Österreich erließ 2015 nach einer mehr als dreijährigen Verhandlungsphase ein Islamgesetz, das Rechte und Pflichten für die islamischen Religionsgesellschaften definiert.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die europäische Forschung zum Islam ist auffällig interdisziplinär. Zunächst war der Islam aus dieser Perspektive ein Untersuchungsfeld der christlichen Theologie, wurde im 18. und 19. Jahrhundert dann aber vor allem im Kontext der Philologien betrieben. Diese waren anfangs geschichtswissenschaftlich ausgerichtet und orientierten sich im 20. Jahrhundert zunehmend hin zur kulturwissenschaftlichen Beforschung des islamisch geprägten »Orients« (vgl. Poya/Reinkowski 2015 : 11ff.). Auch die Religionswissenschaft und die Ethnologie untersuchten die islamische Religion(spraxis), im Unterschied zu Orientalistik und Islamwissenschaft jedoch mit einem Interesse an der (religiösen) Alltagspraxis (vgl. Loimeier 2021). Politologische Zugänge fassten in der Folge ab den 1970er Jahren die Orientalistik als Nahostwissenschaft und rahmten sie explizit als Regionalwissenschaft, wobei unter anderem literaturwissenschaftliche Zugänge Eingang fanden (vgl. Ammann 2008). Ein weiterer Ansatz versteht Islam als Diskursfeld, das im Hinblick auf die um Durchsetzung ringenden Islambilder unterschiedlich
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mächtiger Diskursakteure – zu denen bei Weitem nicht nur Muslim*innen gehören – untersucht wird (vgl. Halm 2015). Eine für Westeuropa vergleichsweise neue Disziplin befasst sich in bekennend-normativer Form mit dem Islam : die Islamische Theologie. Die Universitäten Wien und Innsbruck richteten 2006 Lehrstühle für Islamische Theologie ein. Die deutsche Bundesregierung finanzierte nach einer Empfehlung des Wissenschaftsrates 2010 und Beratungen in der Deutschen Islam Konferenz an staatlichen Universitäten mehrere Professuren in sechs Zentren für Islamische Theologie. Neben der Ausbildung von Lehramtsstudierenden für den islamischen Religionsunterricht arbeiten diese Einrichtungen an der Entwicklung eines normativen Selbstverständnisses des Islams, das sich grundsätzlich von distanzierte(re)n Formen des Forschens über Islam und Muslim*innen in anderen Disziplinen unterscheidet. Der Islamdiskurs begünstigt bestimmte Forschungsperspektiven und Fragestellungen. Politische Debatten schreiben sich über die Forschungsförderung bestimmter Vorhaben oder die Beauftragung von kostenintensiven quantitativen Umfragen diskursiv in die Wissensproduktion zu Islam und Muslim*innen in Westeuropa ein. So werden seit 2015 verstärkt Forschungen zu »radikalem Islam« gefördert. Diese verbinden sozialwissenschaftliche und kriminologische Perspektiven mit ethnologischen Ansätzen sowie islamwissenschaftlichen und islamtheologischen Verständnissen. Einen neueren Trend bilden Studien, die islamistische und antimuslimische Extremismen als einander bedingende Phänomene und einander verstärkende Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft betrachten.
Ausblick Eine zentrale Frage ist, welche Effekte die oben charakterisierte politisierende und mit Zuschreibungen einhergehende Debatte um Muslim*innen hat. Diese Debatte gibt zugleich Aufschluss über das Verständnis von sich als nichtmuslimisch positionierenden Personen, →Gemeinschaften und Gesellschaften. Forschung zum Islam in →Europa gibt Auskunft in Bezug auf das, was als »islamisch« verstanden wird, und in Bezug auf das vermeintlich »Europäische«. Denn über die Grenzziehungen zwischen muslimisch und europäisch – auch durch die jeweilige nationalstaatliche Kategorie ersetzbar – werden Zugehörigkeit und Fremdheit verhandelt (→Nationalstaat). Gleichzeitig ist das Diskurs- und Forschungsfeld »Islam in Europa« so stark mit dem Migrationsdiskurs (→Migra-
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tion) verknüpft, dass es der genauen Kontextualisierung und Präzisierung bedarf, um wissenschaftliche und gesellschaftliche Verkürzungen wie die Gleichsetzung von »Migrant*in« und »Muslim*in« sichtbar zu machen oder zu umgehen. Besonders in diesem Feld sind die Modi und Bedingungen der Wissensproduktion relevant, da akademisches Wissen zur Legitimierung politischer Maßnahmen – etwa zur Verschärfung von Einwanderungsgesetzen oder Änderungen des Schulgesetzes – herangezogen wird. In jedem Fall bedürfen Überschneidungen und Inkongruenzen der Kategorien »Muslim*in« und »Migrant*in« der kritischen Befragung und methodischen Operationalisierung in Deskription und Analyse, und auch das Sicherheitsparadigma erfordert Reflexion. Zugleich verdeckt die Dominanz politischer Themen mitunter relevante Forschungsfragen wie nach der Alltäglichkeit gelebten Islams, den Herausforderungen marginalisierter muslimischer Minderheiten oder den vielfältigen Deutungs- und Interpretationsangeboten, die der Islam in Mehrheits- und Minderheitskontexten angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher, politischer oder technologischer Entwicklungen beispielsweise durch soziale Medien erfährt.
Literatur al-Azmeh, Aziz (1993) : Islams and Modernities. London. Amman, Ludwig (2008) : Islamwissenschaften : Ein Fächer von Fächern im Wettbewerb um Mittel und Macht. In : Poya, Abbas/Reinkowski, Maurus (Hg.) : Das Unbehagen in der Islamwissenschaft Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien. Bielefeld, S. 271–282. Attia, Iman (2009) : Die »westliche Kultur« und ihr Anderes : Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld. Aydin, Cemil (2017) : The Idea of the Muslim Word. A Global Intellectual History. Cambridge. Casanova, José (Hg.) (2009) : Europas Angst vor der Religion. Berlin. Halm, Dirk (2015) : Der Islam als Diskursfeld. Bilder des Islams in Deutschland. Wiesbaden. Heine, Peter (2003) : Islam zur Einführung. Hamburg. Huntington, Samuel P. (1996) : The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York. Johansen, Brigitte/Spielhaus, Riem (2018) : Die Vermessung der Muslime : Ein Jahrzehnt quantitativer Forschung zu Muslimen in Westeuropa. In : Amir-Moazami, Schirim (Hg.) : Der inspizierte Muslim : Zur Politisierung der Islamforschung in Europa. Bielefeld, S. 125–157. Jonker, Gerdien (2020) : On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin. Leiden.
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Krämer, Gudrun (2005) : Geschichte des Islam. Bonn. Krech, Volkhardt (2011). Wo bleibt die Religion ? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft. Sozialtheorie. Bielefeld. Larsson, Göran/Račius, Egdunas (2010) : A Different Approach to the History of Islam and Muslims in Europe : A North-Eastern Angle, or the Need to Reconsider the Research Field. In : Journal of Religion in Europe 3, S. 350–373. Loimeier, Roman (Hg.) (2021) : Negotiating the Religious in Contemporary Everyday Life in the »Islamic World«. Göttingen Series in Social and Cultural Anthropology 19. Göttingen. Poya, Abbas/Reinkowski, Maurus (Hg.) (2015) : Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien. Bielefeld. Raudvere, Katharina (2015) : Islam – An Introduction. New York. Schlerka, Sebastian Matthias (2021) : Islamdebatten im Deutschen Bundestag 1990–2009. Eine Habitusanalyse zur Formierungsphase deutscher Islampolitik. Wiesbaden. Schulze, Reinhard (1994) : Geschichte der Islamischen Welt im 20. Jahrhundert. München. Spielhaus, Riem (2018) : Zwischen Migrantisierung von Muslimen und Islamisierung von Migranten. In : Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (Hg.) : Postmigrantische Perspektiven : Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt am Main, S. 129–143. Steinberg, Rudolf (2021) : Vom Staatskirchenrecht zu einem zeitgemäßen Religionsrecht : Religion in einer multireligiösen Gesellschaft. Baden-Baden. Yurdakul, Gökce (2009) : From Guestworkers into Muslims. The Transformation of Turkish Immigrant Associations in Germany. Cambridge.
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Kultur
Kurzdefinition Kultur umfasst all jene sozialen Ordnungen, Institutionen, Räume und Praktiken, die unseren privaten wie öffentlichen Alltag regeln – vom Wohnzimmer über das Straßencafé bis zum Internet. Sie verkörpert damit ein hochkomplexes, historisch gewachsenes und gemeinsam getragenes Orientierungssystem, das jedoch in unserem »Leben in Gesellschaft« permanent neu verhandelt wird. Mehr denn je wollen wir uns heute kulturell selbst entwerfen : als soziale Individuen, die sich über das Gemeinsame wie das Trennende in Lebensstilen, -werten und -welten definieren. Kulturelle Muster, →Werte und Normen prägen so all unsere sozialen Bindungen wie moralischen Einstellungen, unsere religiösen wie sexuellen Orientierungen, unseren Geschmack wie unsere Gefühle, unsere gemeinschaftlichen Regeln wie Rituale.
Gesellschaftliche Situation Kultur steht heute nicht mehr nur für »große« Literatur, Kunst und Musik, sondern im weiten Sinne für das gesellschaftliche Leben insgesamt. Mehr noch : Sie ist zum neuen Paradigma, zur strategischen Repräsentations- und Leitidee der sozialen Akteur*innen geworden. Denn deren Lebensstile und -entwürfe orientieren sich bewusst an kulturellen Mustern und →Werten : vom Beruf bis in die Freizeit, von der Familie bis zur Beziehung, von der Musik bis zur Mode, vom Essen bis zum Smartphone. Ich bin, was ich höre, lese, trage, esse, wie ich mit wem verkehre, genieße, rede, streite, was ich kaufe, sammle, schätze, ablehne, wen ich liebe, respektiere, dulde, hasse. Mit dem Cultural Turn seit den 1970er Jahren erweitert sich das Spektrum der kulturellen Perspektiven und ihrer sozialen Akteur*innen nachhaltig und in den gesellschaftlichen Alltag hinein. Denn mit der damaligen Vergesellschaftung und Politisierung des Kulturbegriffs bildeten sich neue populäre Kulturformen und demokratische Kulturmuster ebenso heraus wie neue Ich- und Wir-Bilder. Insbesondere in den urbanen Räumen bestätigt sich damit heute auch das neue
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Gewicht des Kulturellen : Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln sich gerade in →Europa dort am erfolgreichsten, wo durch die Zuwanderung von neuen Menschen und Ideen die soziale und kulturelle Vielfalt der Migrationsgesellschaft zur Normalität wird (→Migration). Umgekehrt führen soziale Abschließung und kulturelle Normierung zu entscheidenden Verlusten an regionaler Entwicklungsund Zukunftsfähigkeit sowie Bindungskraft – oft auch zur Abwanderung der jungen Generation vom Land in die Stadt. In diesen vielfältigen Koordinaten der Kultur – nicht umsonst von Google und Facebook als Big Data gesammelt – bilden sich die individuellen und kollektiven Muster unseres Alltagshandelns detailliert ab. Nicht wenige dieser Muster werden von uns dabei heute mit dem nachdrücklichen Verweis auf einen angeblich authentischen Kern versehen, in dem sich unsere →Identität als Individuum oder Gruppe essentiell ausdrücke : weil es dabei um »unsere« Herkunft oder Religion gehe, um »meinen« besonderen Lebensstil oder Musikgeschmack, um unverzichtbare ökologische oder esskulturelle Grundsätze. So entstehen zugleich vielfältige Formen eines kulturellen Alltagsfundamentalismus, der sich bewusst egozentrisch legitimiert, primär moralisch argumentiert und zunehmend politisch agiert. Die Kehrseite dieses Siegeszuges der Kultur lässt sich insofern als eine umfassende »Kulturalisierung« sozialer Praktiken beschreiben. Denn nun ist es der Kulturbegriff selbst, der strategisch eingesetzt wird : Parteien wie Firmen, soziale Gruppen wie Regierungen benutzen kulturelle Symbole, Bilder und →Werte vermehrt dazu, soziale Deutungshoheit und politische Macht zu rechtfertigen. Entlang von religiöser, →ethnischer und nationaler Zugehörigkeit wie von Lebens- und Konsumstilen werden neue Grenzen errichtet, um vermeintlich »Eigenes« von »Fremdem« zu trennen – etwa gegenüber geflüchteten oder queeren Gruppen (→Flüchtling →Geschlecht/Gender). Damit bedroht dieser »Kultura lismus« (Kaschuba 1995) seine eigene Ausgangsidee : die der vielfältigen und offenen Gesellschaft. Hinzu kommt ein »Kulturkampf von rechts«, in dem rechtspopulistische und rassistische Bewegungen behaupten, im Gefolge von 1968 und vor allem durch →Migration und Mobilität sei nationales →Kulturerbe zerstört und eine »Umvolkung« in Gang gesetzt worden (→Populismus, →Rassismus). Daher versuchen sie, insbesondere die kulturelle Vielfalt der Bewegungen und Einrichtungen, in denen sich europäische Einwanderungsgesellschaften heute präsentieren, als »fremd« zu delegitimieren, um sie auszugrenzen (vgl. ebd.).
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte In der Antike bezieht sich das lateinische Wort cultura zunächst auf die Pflege der Landschaft und der natürlichen Ressourcen, also auf Besiedlung, Ackerbau und Viehhaltung. Dadurch unterscheidet sich gepflegtes »Kulturland« vom wilden »Naturland« – wird Kultur als »Menschenwerk« also bereits als Gegenbegriff zur Natur entworfen. Zu dieser kolonisatorisch-materiellen Bedeutung tritt die Pflege von Literatur und Philosophie hinzu, also die Idee einer geistigen Kultur. Diese ideelle Dimension weitet sich bis in die europäische Neuzeit hinein auf den gesellschaftlichen Kernbereich des Würde- und Weihevollen aus, vor allem im Umfeld von Herrschaft und Repräsentation, von Residenz und Kirche. Durch Kult und Ritual, durch Fest und Feier, durch Gefolgschaft und Glaube wurden die ebenso fragilen wie hierarchischen Feudalordnungen stabilisiert. Erst mit der bürgerlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde in →Europa dann das Wissen zum Grundprinzip gesellschaftlicher Entwicklung erklärt, zum Paradigma menschlicher Humanität und gesellschaftlichen Fortschritts. Wissen statt Glauben, Werden statt Sein, Selbstbestimmung statt Schicksal : Mit dem ideellen und politischen Übergang von der feudalen →Gemeinschaft zur bürgerlichen Gesellschaft beginnt die eigentliche Karriere der Kultur als leitendes Konzept und als zentrales Architekturprinzip national organisierter Gesellschaften auf ihrem Weg in die →Moderne (→Nationalstaat). Nun wird dieses Wissen, Lernen, Entwickeln auch in jene gesellschaftlichen Programme und institutionellen Formen umgesetzt, die uns bis heute vertraut sind : in Modelle einer allgemeinen Schul- und Berufsausbildung, der öffentlichen Museen und Bibliotheken, der Zeitungen und Bildmedien, also in moderne wissenskulturelle und massenmediale Formate. Dahinter steht die bürgerliche Idee einer »Kultur der gebildeten Gesellschaft«. Es ist damit eine erste transkulturelle Konstruktion : der Entwurf von Menschen- und Gesellschaftsbildern, die das lokal eingegrenzte Leben hin zur Welt öffnen und die als Grundmuster europäischer Zivilisation nun auch für universell gültig erklärt werden (→Europa). Zunächst gilt dies nur für eine begüterte bürgerliche Minderheit, dann mit der Entwicklung von Industrie und →Nationalstaat allmählich auch für die Mehrheit. Nun werden die offenen Städte zu den Zielorten von Mobilität und →Migration, zu den Austauschzonen von Menschen, Ideen und Dingen und damit zu Experimentierfeldern und Laboratorien moderner Kultur. Hier entsteht eine industrielle Massenkultur, in der neben neuen Formen von Arbeit und Verkehr, von Wohnen und Konsum, von Wissen und Bildung stets auch kapitalistische Ausbeutung und soziale Ausgrenzung den Alltag bestimmen. Damit bleibt
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ein dichotomischer Kulturbegriff existent, der in den europäischen Nationalgesellschaften wie Kolonialreichen bewusst unterscheidet zwischen einer »Hochkultur« der Bürger, Eliten und Kosmopoliten einerseits und einer »primitiven Kultur« der Bauern, Arbeiter, »Eingeborenen« andererseits – und der die Frauen aus der Geschichte und Kultur (noch) fernhält (→Geschlecht/Gender). Dieses ideologische Regime in der Geschichte des Kulturbegriffs wird erst in den 1970er Jahren aufgebrochen, als im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen ein anglomarxistisches Konzept von Kultur diskutiert wird. »Culture« soll nunmehr »the whole way of life« meinen, also »das ganze Leben« in all seinen sozialen Formen und Formationen (Williams 1977). Dieser Vorschlag hebt die falsche Trennung von Hochkultur und Massenkultur auf, vereint die ideellen, materiellen und symbolischen Dimensionen kultureller Praxis in sich und sieht Geschichte und Gegenwart in der Erfahrung der Akteur*innen selbst verbunden. Mit diesem weiten Kulturbegriff verändern sich nachhaltig auch politische Wertehorizonte und gesellschaftliche Wir-Bilder. Wenn kulturelles Leben den ganzen Alltag meint, nicht mehr nur den exklusiven Abend in Theater oder Oper, und wenn Kultur damit umgekehrt auch den gesamten Alltag durchdringt, dann ist die Forderung nach »Kultur für alle« nur eine logische politische Konsequenz. Denn eine Gesellschaft, die nicht mehr nur ein Denkmal für Nation (→Nationalstaat) und Hochkultur sein will, benötigt neue Vorstellungen ihrer sozialen wie nationalen →Identität. Und diese Identität bezieht sich zunehmend auf kulturelle Muster und Orientierungen, die vielfältig und divers sind, die Lokales mit Globalem verbinden (→Globalisierung), die sich in unseren Migrationsgesellschaften (→Migration) permanent verändern und die daher immer neu ausgehandelt werden müssen (vgl. Kaschuba 2015) – von der Musik bis zur Esskultur. Mit dem Cultural Turn ist der Kulturbegriff also endgültig geöffnet hin zu Wandelbarkeit und Wählbarkeit, zu Mischung und Hybridität und damit zu neuen Welt-Anschauungen, die nun postnationales und postkoloniales Denken einfordern.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kultur folgt zunächst den begriffsgeschichtlichen Prägungen und Wendungen. Sie orientiert sich dabei einerseits an den vormodernen materiellen »Landeskulturen«, wie sie in der Statistik, der Ökonomie und der Medizin beobachtet werden. Andererseits werden seit der Frühen Neuzeit auch vielfältige Formen feudaler und bürgerlicher Hochkultur
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systematisch gepflegt : von der Architektur bis zur Literatur, von der Malerei bis zu Musik. Daraus entstehen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend kulturgeschichtliche Sammlungen, Abhandlungen und Übersichten, die Kultur eher enzyklopädisch erschließen. Erst im 20. Jahrhundert wird sie unter dem Eindruck dramatischer Erfahrungen mit der Nationalisierung (→Nationalstaat) und Militarisierung wie der Industrialisierung und Demokratisierung (→Demokratie) europäischer Gesellschaften (→Europa) als zentrales Navigationsmedium moderner Gesellschaftlichkeit (→Moderne) neu konzipiert und bildet nun das Zentrum neuer universitärer Konzepte – auch von »Volkskunde« und »Völkerkunde«. Vorstellungen von einer Volks- wie einer Arbeiterkultur, von bürgerlichen Bildungs- wie künstlerischen Subkulturen gehen darin ebenso auf wie neue Blicke auf sozialkulturelle Wirkungen von modernem Verkehr und Handel, von Großindustrie und Massenmedien, von →Migration und Kolonialpolitik. Dabei treten bereits soziale Vermischungen und internationale Transfers des Kulturellen in den Vordergrund, wie sie die europäischen Metropolen und Massenkulturen prägen und von soziologischen Klassikern wie Max Weber, Georg Simmel oder Émile Durkheim beschrieben werden. Faschismus und Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust unterbrechen diesen sozial- und kulturwissenschaftlichen Ausarbeitungsprozess dann brutal. So dauert es bis in die 1970er Jahre, bis mit dem »weiten« Kulturbegriff der radikale Paradigmenwechsel von der Hochkultur zur Gesellschaftskultur endgültig stattfindet (vgl. Williams 1977 ; Bourdieu 1983). In der Folge rücken weitere Cultural Turns (vgl. Bachmann-Medick 2007) neue Akzentuierungen wie den Klassen- oder den Genderbezug des Kulturellen stärker in den Vordergrund, später auch seine zeichenhaft-ikonische wie seine räumlich-soziale Struktur (vgl. Eggmann 2009). Zugleich entfalten sich neue Formen einer Kulturkritik, die eine dominant weiß und europäisch imprägnierte Weltanschauung mit einer postkolonialen Perspektive konfrontiert. Darin werden solche Machtverhältnisse als blinde Flecke in unseren eigenen Wissens- wie Wissenschaftskulturen markiert, die selbstkritisch aufzuarbeiten sind. Intensiv wird nunmehr aber auch über andere Formen kultureller Dominanz diskutiert, die sich im Zuge der →Globalisierung neu abzeichnen. Dabei rückt eine neue globale Elite der »Kreativen« und »Kosmopolit*innen« in den Fokus, die beruflich wie räumlich eher mobil ist, an urbanen Lebenswelten und Lebensstilen orientiert und an einer offenen, diversen und toleranten Gesellschaftsstruktur interessiert. In ihr wird nun die Trägerin einer »Kulturalisierung von oben« gesehen, die ihre privilegierten und individualisierten Lebensentwürfe und ihre
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hochmobilen und ökologischen Lebensstile zum Leitmotiv einer neuen und »moralisch« verbindlichen Hyperkultur erklären möchte (vgl. Reckwitz 2019).
Ausblick Begriffs- wie zivilisationsgeschichtlich markiert Kultur eher einen langgezogenen und vielfältigen Prozess des Nachdenkens über die Gesellschaft als ein semantisch und normativ fest umrissenes Bedeutungsfeld. In Gestalt von Kultur errichtete sich die Gesellschaft auf ihrem Weg in die →Moderne in rasantem Tempo immer wieder neue Spiegel der Selbstbeobachtung und neue Modi der Selbstreflexion : in Gestalt der Wissenschaft wie der Kunst, vom Museum bis zum Archiv, von den Parlamenten bis zu den Medien, von bürgerlich gemischten Vereinen bis zu offenen religiösen Gemeinden. Dies ermöglicht uns heute auch tiefere Einblicke in die sozialen und kulturellen Prozesse der →Globalisierung, die jedoch keineswegs zu einem »Clash of Civilizations« im Sinne kulturell motivierter Konflikte führen (Huntington 1996). Vielmehr handelt es sich dabei um neue wirtschaftliche und politische Machtkämpfe, in denen das Argument der kulturellen Differenz strategisch missbraucht wird (vgl. Appadurai 1996). Weil sich damit zugleich die gesellschaftlichen Formationen und Räume rasant erweitern, die explizit »kulturell« definiert erscheinen, lässt sich Kultur als eine Vielfalt an Perspektiven der Wahrnehmung und Betrachtung von Welt verstehen und eher über Fragen und Diskurse weiter erschließen als durch Definitionen und Handbücher : Was bezeichnet Kultur heute unter den Bedingungen globaler Gesellschaft und Mobilität (vgl. Kaschuba 2015) ? Was bewirken postnationale und postkoloniale Perspektiven in unserer politischen wie Alltagskultur ? Und was bedeutet die digitale Durchdringung von Kommunikation und Gesellschaft künftig im Blick auf unsere »öffentliche« wie »private« Kultur ?
Literatur Appadurai, Arjun (1996) : Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis. Bachmann-Medick, Doris (2006) : Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek. Bourdieu, Pierre (1983) : Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main.
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Eggmann, Sabine (2009) : »Kultur«-Konstruktionen. Die gegenwärtige Gesellschaft im Spiegel volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissens. Bielefeld. Huntington, Samuel P. (1996) : The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York. Kaschuba, Wolfgang (1995) : Kulturalismus. Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In : ders. (Hg.) : Kulturen – Identitäten – Diskurse. Perspektiven Europäischer Ethnologie. Berlin, S. 11–30. Kaschuba, Wolfgang (2015) : Lili Marleen in Shenzhen – oder : Kultur als globales Repräsentationskonzept. In : Schneider, Ingo/Sexl, Martin (Hg.) : Das Unbehagen an der Kultur. Hamburg, S. 111–142. Reckwitz, Andreas (2019) : Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Frankfurt am Main.
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Kulturelles Erbe
Kurzdefinition Kulturelles Erbe ist ein Konzept der nationalen wie internationalen Kulturpolitik, das mit der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) in Verbindung steht, inzwischen aber auch jenseits der UNESCO im Kontext der Vergegenwärtigung von Geschichte von verschiedenen Akteur*innen und Institutionen (von der Denkmalpflege bis zum lokalen Geschichtsverein) genutzt wird. Kulturerbe ist eine Zuschreibung und im Fall der UNESCO eine konkrete kulturpolitische Auszeichnung, die Landschaften, Gebäuden, einzelnen Artefakten oder auch →Traditionen verliehen wird, um diese als besonders geschichtsträchtig zu markieren. Damit verbunden wird oftmals die Verantwortung, das damit ausgezeichnete Erbe auch an die folgenden Generationen weiterzugeben. Während die UNESCO ein weitestgehend essentialistisches Verständnis kulturellen Erbes vertritt, das heißt davon ausgeht, dass das kulturelle Erbe gleichermaßen von Natur aus existiere und nur durch eine entsprechende wissenschaftliche (zum Beispiel archäologische oder kunsthistorische) Expertise identifiziert werden müsse, vertreten kulturwissenschaftliche Disziplinen vorwiegend sozialkonstruktivistische Ansätze. Diese fragen unter anderem danach, wie kulturelles Erbe entsteht, welche Auswahlprozesse hier vonstattengehen und welche Rolle das kulturelle Erbe als Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit in gegenwärtigen Gesellschaften spielt.
Gesellschaftliche Situation Kulturerbe ist ein vielschichtiger Begriff : Im Tourismus verspricht er authentische Geschichtserlebnisse und eine entsprechende Qualität in der Aufbereitung und Dokumentation von Vergangenheit ; in der Denkmalpflege und der Archäologie markiert er jene Artefakte, Gebäude, baulichen Ensembles oder historischen Relikte, die geschichtskulturell und wissenschaftlich bedeutsam sind und deshalb erhalten und dokumentiert werden sollten ; in der internationalen und nationalen Kulturpolitik ist er ein diplomatisches Instrument. Der Begriff und die damit
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bezeichneten Gegenstände vermitteln Ideen, →Werte und Bilder, wie sich eine Weltgemeinschaft (→Gemeinschaft) oder auch ein →Nationalstaat heute mit Berufung auf die Vergangenheit sehen möchten. Insbesondere die Stätten des sogenannten dark oder difficult heritage, also Orte, die auf belastetes Erbe verweisen (etwa den Nationalsozialismus, die Sklaverei oder der Abwurf der Atombombe in Hiroshima), erinnern nicht nur an konkrete historische Ereignisse, sie vermitteln immer auch ethisch-normative Botschaften und betonen etwa die Bedeutung von →Demokratie und Menschenrechten und die Überwindung von in der Gegenwart als problematisch gedeuteten historischen Ereignissen. Aktuelle Beispiele zeigen immer wieder eindrücklich, dass das Konzept Kulturerbe mit machtvollen Aushandlungsprozessen verbunden und mitunter in hohem Maße politisiert ist. Zunächst ist zu fragen, welche Ausschnitte von Geschichte überhaupt als Kulturerbe autorisiert werden (vgl. Smith 2006). Denn bekanntermaßen ist nicht jeder kunst-, kultur- oder architekturhistorisch bedeutsame Ort von der UNESCO als Kulturerbe anerkannt. Das Freiburger Münster etwa ist kein durch die UNESCO autorisiertes Kulturerbe, wenngleich einige Akteur*innen vor Ort den gotischen Kirchenbau, dessen Turm der Baseler Kunsthistoriker Jacob Burckhardt schon im 19. Jahrhundert wegen seiner außerordentlichen Schönheit rühmte, sehr wohl als Kulturerbe begreifen. Der Kölner Dom, dessen Türme im Gegensatz zu dem des Freiburger Münsters erst im 19. Jahrhundert im Zuge nationaler Selbstvergewisserung fertiggestellt wurden, hingegen trägt die Auszeichnung. Die Stadt Dresden wiederum hat den Status UNESCO-Weltkulturerbe verloren, weil sich die Stadt für den Bau einer Brücke entschieden hatte, die den UNESCO-Vorgaben zum Schutz des Kulturerbes widersprach. Trotz des Verlusts des Titels argumentierten die politischen Akteur*innen vor Ort, man bleibe auch weiterhin eine bedeutsame Kulturerbestätte. Die politische Dimension kulturellen Erbes sieht man besonders gut in jenen Fällen, in denen von der UNESCO autorisiertes Erbe ganz bewusst zerstört wurde : Einschlägiges Beispiel sind die Stätten des frühen Islam in Timbuktu, die islamistische Fundamentalisten im Jahr 2012 sprengten. Die politische Dimension des Konzepts Kulturerbe zeigte sich auch, als die UNESCO Palästina im Jahr 2012 als Vollmitglied anerkannte, woraufhin die USA und Israel aus der UNESCO austraten. Ähnlich konfliktreich war die Anerkennung der Altstadt von Hebron durch die UNESCO im Jahr 2017. Und auch die erneute Umwandlung der 1985 von der UNESCO zum Weltkulturerbe deklarierten Hagia Sophia in Istanbul auf Veranlassung von Staatspräsident Recep Erdoğan in eine Moschee 2020 rief internationale Kritik hervor, die sich aus der symbolischen Aufladung des Gebäudes als kulturelles Erbe der gesamten Menschheit speist.
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All diese Beispiele belegen, dass Kulturerbe umstritten sein kann und als (geschichts- und identitäts-)politische Ressource fungiert. Die Zerstörung kulturellen Erbes wird häufig als politische Provokation interpretiert ; die Zerstörenden verbinden damit nicht selten die Hoffnung, die kulturelle →Identität, die sich mit dem jeweiligen Erbe verbindet, werde mit der Zerstörung ausgelöscht. Kulturerbe ist ein kulturpolitisches Instrument, mit dem die Erwartung verbunden ist, kulturelle Identitäten in ihren vielfältigen Formen zu bewahren. Ein gutes Beispiel ist hier etwa das 2018 ausgerichtete Europäische Kulturerbejahr mit dem programmatischen Titel »Sharing Heritage«, in dem ein gemeinsames europäisches Erbe betont wurde. Insbesondere eines der jüngeren kulturpolitischen Instrumente, die 2003 verabschiedete UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes, verfolgt dieses Ziel. Ähnlich wie die Weltkulturerbekonvention ist diese ein international erfolgreiches kulturpolitisches Instrument : Bis heute haben weit über 170 Staaten diese Konvention ratifiziert und in nationales Recht übersetzt. Im Januar 2020 umfasste die mit der Konvention eingeführte internationale Liste des immateriellen Erbes 549 Einträge aus 127 Ländern. Geschützt werden →Bräuche, Handwerkstechniken, traditionelles Wissen (→Tradition), aber auch abstrakte Formen wie die Genossenschaftsidee, der Alpinismus oder das traditionelle Gastmahl in Frankreich. Hier zeigt sich, wie expansiv das Konzept Kulturerbe ist und immer weitere Bereiche jenseits eines klassisch-bildungsbürgerlichen und hochkulturell verstandenen Kulturbegriffs umfasst (→Kultur).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Die Idee, das gesamte Erbe der Menschheit zu schützen, wie sie sich in den verschiedenen Kulturerbeprogrammen der UNESCO abzeichnet, ist das Ergebnis eines sich globalisierenden Denkmalschutzes in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Einerseits sorgte die kriegsbedingte Zerstörung von Kulturgütern für wachsende internationale Kooperationen und Maßnahmen : Als Instrument des Völkerrechts regelt etwa die 1954 verabschiedete Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut in bewaffneten Konflikten den Erhalt beweglicher und unbeweglicher Kulturgüter. Ökonomische, ökologische und infrastrukturelle Transformationen wurden vor dem Hintergrund fortschreitender →Globalisierung als zunehmende Gefahr für Kulturgüter verstanden. Als Schlüsselereignis gilt die Translozierung der Tempel von Abu Simbel zwischen 1963 und 1968, die durch den Bau des Assuan-Hochdamms bedroht waren. Regierungsvertreter*innen aus
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Ägypten und dem Sudan wandten sich 1959 mit der Bitte um internationale Unterstützung an die UNESCO. In der Retrospektive wurde diese Intervention als eine der Grundlagen für die im November 1972 verabschiedete Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage interpretiert, mit der die Vorstellung eines weltweit gültigen Erbes der Menschheit kodifiziert war. Diese Konvention gilt als eines der weltweit erfolgreichsten völkerrechtlichen Instrumente. Inzwischen haben über 190 Staaten die Konvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, den Welterbegedanken und die damit verbundenen Maßnahmen des Erhalts in nationales Recht zu überführen. Die Unterscheidung in Natur- und Kulturerbe ist seitdem durchlässiger geworden ; ebenso hat die UNESCO das Spektrum potentieller Kulturerbeobjekte stetig erweitert, sodass heute auch ganze Kulturlandschaften, Industrieanlagen oder seit 2003 auch Phänomene der sogenannten immateriellen Kultur zum Welterbe deklariert werden. Daneben transportiert der Begriff Kulturerbe immer auch Vorstellungen kultureller Vielfalt. Gerade die Kulturerbeaktivitäten der UNESCO stehen in einem sehr engen Bezug zur Vorstellung, →Kultur sei in ihren vielfältigsten Ausdrucksformen eine wichtige Ressource für ein friedliches Zusammenleben. Daraus wird das Argument begründet, Kulturerbe müsse für die nachfolgenden Generationen erhalten werden. Mit den kulturpolitischen Aktivitäten der UNESCO wurde die Kulturerbeidee globalisiert (→Globalisierung). Dabei ist die Vorstellung, als besonders wertvoll interpretierte Gebäude oder Artefakte schützen zu müssen, wesentlich älter. Sie entstand im Laufe des 18. Jahrhunderts, erhielt ihre kulturpolitische und ideologische Kontur während der Genese der europäischen →Nationalstaaten und wurde als Denkmalschutz und Denkmalpflege um 1900 institutionalisiert und in der Folge auch entsprechend rechtlich und gesetzgeberisch verankert. Heute ist der Begriff Kulturerbe nicht zuletzt durch die UNESCO so weit verbreitet und etabliert, dass er andere Begriffe wie Monument, Denkmal oder →Tradition abzulösen begonnen hat (vgl. einführend Tauschek 2013).
Wissenschaftsgeschichte(n) Die wissenschaftliche Untersuchung kulturellen Erbes hat mit der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes international an Fahrt aufgenommen. Insbesondere die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung vertritt ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Kulturerbe. So hat etwa die Kulturwissenschaftlerin Regina Bendix pointiert darauf hingewiesen, dass Kulturerbe
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nicht einfach nur da sei und durch wissenschaftliche Prüfverfahren identifiziert werden könne : »Kulturelles Erbe ist nicht, es wird« (Bendix 2007 : 340). Bendix geht in Anlehnung an die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Barbara Kirshenblatt-Gimblett davon aus, dass die Zuschreibung als Kulturerbe das Ergebnis komplexer (politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher) Aushandlungsprozesse sei. Kirshenblatt-Gimblett hat in ihren Arbeiten immer wieder betont, Kulturerbe sei ein geschichtspolitisches Instrument der Gegenwart, das aus der Vergangenheit schöpfe und dabei immer etwas Neues produziere. Dieses Neue liege bereits darin begründet, dass die Auswahl und Auszeichnung kulturellen Erbes ein »metakultureller Prozess« sei (Kirshenblatt-Gimblett 2004). Mit diesem Begriff weist die Kulturwissenschaftlerin darauf hin, dass mit dem Konzept Kulturerbe ein reflexiver Blick auf Kultur im weitesten Sinne verbunden sei. Dies lässt sich allein durch einen kritischen Blick auf die Verfahren der Auszeichnung von Kulturfragmenten als Kulturerbe belegen : Die UNESCO verlangt in ihren wettbewerblich organisierten Verfahren verschiedene Nachweise – etwa der Integrität und Authentizität einer Stätte oder die Vitalität für das sogenannte immaterielle Erbe. Bei Letzterem müssen die Trägergruppen einer Bewerbung zustimmen. Jeder Antrag muss einen »Erhaltungsplan« enthalten mit Ausführungen zu Maßnahmen, wie das jeweilige Erbe weitergegeben wird. Die jüngere Forschung hat darauf hingewiesen, dass mit der Auszeichnung Kulturerbe auch der staatliche Zugriff auf →Kultur verbunden sei und es immer auch um Fragen der Macht gehe (vgl. Hafstein 2012). In demokratischen Staaten mag dies als weniger problematisch interpretiert werden (→Demokratie). In autoritären Staaten hingegen kann die Auszeichnung insbesondere des immateriellen Erbes auch staatliche Kontrolle über die Kultur von Minderheiten mit sich bringen. In jedem Fall evoziert die Transformation von Kultur in kulturelles Erbe auch die Veränderung der solchermaßen ausgezeichneten Kultur. Insbesondere die US-amerikanische Folkloristin Dorothy Noyes (2006) hat nachdrücklich Wirkungen herausgearbeitet, die mit einer Auszeichnung als Kulturerbe verbunden sind. So nehme die Kontrolle über Kultur zu (ein Beispiel wäre die Aberkennung des Titels in Dresden, wo die lokalpolitische Entscheidung für ein Infrastrukturprojekt auf nationaler wie internationaler Ebene diskutiert wurde und verhindert werden sollte), Kultur werde Gegenstand von Management, sie werde zu einer Ressource und globalen Märkten zugeführt, sie werde zunehmend auch verrechtlicht (vgl. auch Kirshenblatt-Gimblett 2006). In der Tat zeigen sich häufig unintendierte Effekte der Zertifizierungsverfahren. Gerade im Rahmen des sogenannten immateriellen Erbes, das sich laut UNESCO-Definition durch seine Lebendigkeit und Dynamik auszeichne, lässt sich vielfach beobachten, dass
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Akteur*innen vor Ort die Auszeichnung auch dazu nutzen, um beispielsweise →Traditionen noch weiter festzuschreiben. Die interdisziplinäre Kulturerbeforschung hat darauf hingewiesen, dass mit der Auszeichnung kulturellen Erbes auch Fragen des kulturellen Eigentums verbunden seien (vgl. Groth/Bendix/Spiller 2015). Der Welterbegedanke impliziert, dass das gelistete Erbe auf einer symbolischen Ebene der ganzen Menschheit gehöre. Beim sogenannten immateriellen Erbe wird es noch komplizierter, haben doch viele Praxisformen (wie etwa Heiligenprozessionen oder Schützenfeste) gar keine eigentlichen Urheber*innen oder Erfinder*innen, die Eigentumsrechte für sich beanspruchen könnten. Die Eigentumsfrage wird seit einigen Jahren mit den Begriffen Restitution und Repatriierung insbesondere vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten zum Teil äußerst kontrovers diskutiert. In vielen europäischen Museen lagern Objekte, die im Zuge des Kolonialismus zum Teil gewaltsam und illegitim nach →Europa gelangt waren. Eigentumsrechte sind dabei vielfach nicht geklärt und häufig umstritten. Prominentestes Beispiel ist sicherlich die sich auf der Berliner Museumsinsel befindliche Büste der Nofretete. Rückgabeforderungen aus Ägypten belegen, dass die Nofretete hier als ägyptisches Kulturerbe gedeutet wird, auch wenn sich die Büste rechtlich im Besitz der Bundesrepublik befindet – zum Kulturerbe avancierte die Büste hingegen erst dadurch, dass sie durch die Inszenierung im Museum entsprechend mit Wert versehen wurde, worin erneut die politische Dimension kulturellen Erbes evident wird. Schließlich hat die Kulturerbeforschung herausgearbeitet, dass Kulturerbe in einem engen Zusammenhang mit einer Kultur der Rechenschaft (audit culture) stehe, im Rahmen derer Prüf- und Zertifizierungsverfahren immer wichtiger würden. Parallelen zu anderen Mechanismen der Qualitätskontrolle – etwa rechtliche Instrumente zum Schutz geographischer Herkunftsangaben im Bereich der Lebensmittelproduktion (beispielsweise Parmigiano Reggiano, Champagner oder Weißwurst) – liegen auf der Hand (vgl. Welz 2015). Auch dabei geht es um Fragen der Authentizität, der historischen Patina, der Lokalisierung, Festschreibung, Musealisierung und Verrechtlichung von →Kultur.
Ausblick Kulturerbe ist kein harmloses kulturpolitisches Konzept. Werden Ausschnitte von →Kultur als Kulturerbe ausgezeichnet, dann laufen machtvolle Prozesse ab, die Kultur musealisieren und homogenisieren (das ist alleine schon in den enorm standardisierten Prüfverfahren begründet) und die damit in gewisser Weise auch
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dem Ziel, kulturelle Vielfalt zu erhalten, widersprechen. Gerade im Kontext zunehmender Renationalisierungstendenzen in →Europa lässt sich beobachten, dass das Prädikat Kulturerbe auch dazu genutzt wird, vermeintlich homogene nationale →Gemeinschaften heraufzubeschwören (→Nationalstaat). So erklärt sich zugleich, warum das nationale Expertenkomitee Immaterielles Kulturerbe der deutschen UNESCO-Kommission betont hat, es gehe um immaterielles Erbe in Deutschland und nicht um →deutsches Kulturerbe. Damit ist der Heterogenität und Vielfalt gesellschaftlicher Akteur*innen in besonderer Weise Rechnung getragen, und es wurde versucht, nationalisierenden Tendenzen einen Riegel vorzuschieben. Denn insbesondere rechtspopulistische Parteien (wie etwa die AfD in Deutschland) haben in jüngerer Zeit Kulturerbe ebenfalls als politische Ressource für ihre Ziele erkannt – es geht ihnen via Kulturerbe gerade nicht darum, kulturelle Vielfalt zu erhalten, sondern das vermeintlich homogene Eigene nationalistisch zu überhöhen (→Populismus). Die kritische Auseinandersetzung mit Kulturerbe und den vielfältigen Formen der Vereinnahmung für unterschiedliche politische Zwecke scheint vor diesem Hintergrund wichtiger denn je zu sein.
Literatur Bendix, Regina (2007) : Kulturelles Erbe zwischen Wirtschaft und Politik : Ein Ausblick. In : Hemme, Dorothee/Tauschek Markus/Bendix, Regina (Hg.) : Prädikat Heritage. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen. Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie (Band 1). Berlin, S. 337–356. Groth, Stefan/Bendix, Regina/Spiller, Achim (Hg.) (2015) : Kultur als Eigentum. Instrumente, Querschnitte und Fallstudien. Göttinger Studien zu Cultural Property (Band 9). Göttingen. Hafstein, Valdimar (2012) : Cultural Heritage. In : Bendix, Regina/Hasan-Rokem, Galit (Hg.) : A Companion to Folklore. Oxford, S. 520–536. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (2004) : Intangible Heritage as Metacultural Production. In : Museum International 56, S. 52–65. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (2006) : World Heritage and Cultural Economics. In : Karp, Ivan et al. (Hg.) : Museum Frictions : Public Cultures/Global Transformations. London, S. 161–202. Noyes, Dorothy (2006) : The Judgement of Solomon : Global Protections for Tradition and the Problem of Community Ownership. In : Cultural Analysis 5, S. 27–56. Smith, Laurajane (2006) : Uses of Heritage. London/New York. Tauschek, Markus (2013) : Kulturerbe. Eine Einführung. Berlin. Welz, Gisela (2015) : European Products. Making and Unmaking Heritage in Cyprus. New York/Oxford.
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Migration
Kurzdefinition Migration ist eine durch gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Blickregime und Kategorisierungspraktiken geprägte Form der Mobilität, die einen oder mehrere Ortswechsel meist über nationale Grenzen hinweg bedeutet (→Nationalstaat). Als »Migrant*in« kategorisiert, verlieren die Subjekte im neuen Aufnahmekontext meist ihre durch den Herkunftsstaat verliehenen Bürgerrechte und werden einem langen bürokratischen und kulturellen Aufnahmeprozess unterworfen, der nach gängigem Rechtsverständnis erst mit der Aufnahme der neuen Staatsbürgerschaft gleichwertige Rechte garantiert (→Asyl →Integration).
Gesellschaftliche Situation »Migration ist die Mutter aller Gesellschaften«1, lautete die Erwiderung von ein wanderungspolitischen Akteur*innen auf den Ausspruch des deutschen Innenministers im Sommer 2018, der nach rechtsextremen Ausschreitungen in deutschen Städten Migration »als Mutter aller Probleme« bezeichnet hatte.2 Diese zwei Positionen zeigen deutlich, wie kontrovers das Phänomen grenzüberschreitender Mobilität in westlichen Gesellschaften verhandelt wird. So ist in den letzten zehn Jahren im gesellschaftlich-kulturellen Bereich eine positive Bezugnahme auf eine »postmigrantische Gesellschaft« festzustellen, die grundlegend durch historisch sich überlagernde Prozesse der Ein- und Durchwanderung gekennzeichnet ist (vgl. Foroutan/Karakayali/Spielhaus 2018). Demgegenüber hat sich die politische Migrationsdebatte in den letzten Jahren stark polarisiert, wobei antimigrantische Strömungen mittlerweile in vielen europäischen Ländern 1 Perspektive online (2018) : Demo : »Migration ist die Mutter aller Gesellschaften«. URL : https://per spektive-online.net/2018/09/demo-migration-ist-die-mutter-aller-gesellschaften/ [27. Juli 2021]. 2 Vgl. DPA/Welt-Redaktion : »Mutter aller Probleme ist die Migration.« In : Die Welt, 5. September 2018, URL : https://www.welt.de/politik/deutschland/article181434586/Seehofer-nach-ChemnitzMutter-aller-Probleme-ist-die-Migration.html [17. Juni 2021].
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über rechtspopulistische und explizit rechtsextrem positionierte Parteien auch in den Parlamenten vertreten sind. Dabei kommt kein Einführungswerk zu Migrationsforschung umhin, Migration als ein nahezu zeitloses soziales und kulturelles Phänomen zu klassifizieren und darauf zu verweisen, dass zu allen Epochen Menschen in Gruppen oder alleine ihren angestammten Wohnsitz aus vielerlei Gründen verließen und woanders hinzogen, um dort ein besseres bzw. anderes Leben führen zu können. Und die Zahlen steigen : Im Jahr 2019 zählte die UN 272 Millionen Menschen, die nicht in ihrem Herkunftsland leben, was 3,5 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht (2000 waren es noch 2,8 Prozent).3 Doch Migration, verstanden als »dauerhaft werdende[r] Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen« (Treibel 2011 : 21), ist keine zeitlose Konstante. Vielmehr beschreibt sie eine spezifische Form der Mobilität : Der Begriff ist hochgradig durch politisch-gesellschaftliche Vorstellungen einer national-territorialisierten Gesellschaft und ihrer Kategorisierungspraktiken geprägt, die »Migration« heutzutage als unilinearen Wechsel von einer national gedachten Gesellschaft in eine andere verstehen lassen (→Nationalstaat). Damit haftet Migrant*innen oft das Stigma eines Fremdkörpers und Problems an, weshalb sie entweder als abzuwehren oder als zu assimilieren und zu integrieren gelten (→Integration). So zeigen historische Studien, dass es erst der Nationalisierung der Gesellschaften im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und einer Vielzahl verwaltungstechnischer Akte und Technologien, wie einer territorialen Grenze, Staatsangehörigkeitsgesetze (Preußen 1842), eines Passes (in Preußen galt ab 1813 die Passpflicht), Geburten- und Melderegister, »Ausländerpolizeiverordnungen« (in Deutschland 1938 eingeführt) sowie eines Vollstreckungsapparates bedurfte, um aus räumlichen Bewegungen von Menschen »Migration« im heutigen transnationalen Verständnis zu machen (vgl. Sassen 1996). Damit einher gingen sogleich auch Unterscheidungspraktiken, die zwischen verschiedenen Formen erwünschter und unerwünschter grenzüberschreitender Mobilität (Tourismus, Arbeits-, Bildungs-, Fluchtmigration, irreguläre Migration) klassifizierten und den jeweiligen Migrant*innen unterschiedliche Rechte zuwiesen oder, wie im Falle der zur illegalen Einwanderung erklärten Mobilität, entzogen (→Asyl →Flüchtling).
3 AFP/Welt-Redaktion : Zahl der Migranten weltweit auf 272 Millionen gestiegen. In : Die Welt, 18. September 2019, URL : https://www.welt.de/politik/ausland/article200487226/UN-Bericht-Zahlder-Migranten-weltweit-auf-272-Millionen-gestiegen.html [17. Juni 2021].
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Die rechtlichen und gesellschaftlichen Unterscheidungspraktiken sind jedoch hochgradig dynamisch. So hat die Europäische Union als regionaler Staatenverbund mit der Berufung auf die vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) eine neue bürgerrechtliche Kategorie, nämlich die der »Unionsbürger*innen« hervorgebracht und damit bislang im globalen Vergleich am weitestgehenden für ihre Bürger*innen EU-intern die Bewegungsfreiheit hergestellt (→Europa). Parallel dazu schuf sie jedoch mit der Kategorie der »Drittstaatler*innen« die Nichtdazugehörigen und erklärte der Bewegungsfreiheit aller nichteuropäischen Bürger*innen eine Absage. Dazu wurde das Instrument der »Außengrenze« entwickelt (→Sicherheit). Generell lässt sich von einer hohen Politisierung der Migrations- und Fluchtdebatte in Europa sprechen, wobei Genderfragen in letzter Zeit einen großen Stellenwert einnehmen (→Geschlecht/Gender). Über Gender werden die sogenannte Integrationsfähigkeit und -willigkeit von Migrierenden verhandelt und Differenzen zwischen der eigenen Gesellschaft und den »Anderen« vermessen (→Integration) (vgl. Hess/Neuhäuser/Schwenken 2017). So stellt das Vermitteln des Gleichstellungsgedankens mittlerweile einen zentralen Baustein zahlreicher Integrationskurse dar. Zudem ist eine Verschränkung von Ethnisierungsnarrativen (→ethnisch) und Genderdiskursen zu beobachten, weshalb die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze von »Ethnisierung des Sexismus« bzw. »Ethnosexismus« spricht (2016). Die vielfältigen staatlichen Kontrollversuche wurden im Laufe der Zeit immer wieder durch die Migrationswirklichkeiten unterlaufen und herausgefordert, sei es im Kontext der sogenannten →deutschen und österreichischen Gastarbeiterpolitik der 1960er bis 1970er Jahre oder der ab den 1980er Jahren dominant werdenden Migrations- und Asylpolitik (→Asyl).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Die geschilderte nationalisierte Perspektive auf Mobilitäten bestimmt auch die Begriffsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Bewegung wie etwa dem Tourismus und Migration, wobei Letztere noch einmal in eine »freiwillige« (Arbeits-, Bildungsmigration etc.) und eine »erzwungene« Migration (Flucht und Vertreibung) unterschieden wird (→Flüchtling). Während für Letztere mit der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) ein internationales Schutzregime nach den Erfahrungen der massen-
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haften Flucht und Vertreibung im Kontext des NS-Vernichtungskrieges und des Holocaust geschaffen wurde, gibt es für Formen der Arbeitsmigration bis dato keine vergleichbaren internationalen Rechtsregime. Erst 2018 haben sich die meisten Staaten weltweit über den Global Compact on Migration als freiwillige und vage Schutzkonvention verständigt. Die Komplexität von Migrations- und Fluchtverläufen bildet die dargestellten rechtlichen wie auch gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Ordnungsraster nicht ab. So können etwa Migrierende, die einmal aus ökonomischen Gründen ihr Land verließen, auf der Strecke zu gefährdeten und verfolgten Migrierenden werden und damit eine Flüchtlingseigenschaft annehmen. Hinzu kommt, dass mit der Klimakrise auch ökonomische Motive zunehmend als unfreiwillige Flucht zu verstehen sind (→Flüchtling). Gesellschaftspolitisch beansprucht der Staat die Macht für sich zu bestimmen, welche Mobilitätspraxen als legitim erachtet werden und wie die Migrant*innen mit Rechten ausgestattet werden. Außer Acht gelassen werden dabei viele uneindeutige Mobilitätspraktiken und mobile Wanderungsverläufe, die die globale Migrationsgeschichte prägten und in einigen Teilen der Welt bis heute weiterhin bestehen. Darunter fallen insbesondere zirkuläre Mobilitätspraktiken oder saisonale Lebens- und Arbeitsstile, wie sie bis heute in vielen Regionen der Welt üblich sind – wie schon die »Schwabenkinder«, die vom 16. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts alljährlich aus den Alpenregionen abwanderten und sich im Allgäu verdingen mussten. Das Ende des Ost-West-Konflikts und damit die Aufhebung des sogenannten Eisernen Vorhangs ließen auch auf dem europäischen Kontinent solche höchst mobilen, pendelnden und temporären Mobilitätsstrategien aufs Neue erheblich anwachsen. Dies erforderte auch wissenschaftlich neue Konzeptualisierungen, wie Begriffe wie »Pendelmigration« oder »zirkuläre Migration« zeigen.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die Gründungsväter der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung hatten zunächst einen weiten Migrationsbegriff angelegt, wie Ernst Georg Ravenstein in seinem wegweisenden Beitrag zu den »Gesetzen der Wanderung« (1885) oder auch in den frühen soziologischen Arbeiten von Vertretern der Chicago School wie etwa zu den »Hobos«, nordamerikanischen Wanderarbeiter*innen (Anderson 1969). Das Migrationsverständnis schloss – in der Diktion Ravensteins – lokale Wandernde, Nahwandernde (Hauptgruppe der Wandernden, heute als internal migration gefasst), Etappenwandernde, Fernwandernde
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und temporäre Wandernde (Saisonarbeitende, Studierende, aber auch beispielsweise Gefängnisinsass*innen) mit ein. Viele dieser Mobilitätspraktiken fanden und finden nicht international zwischen den verschiedenen Kontinenten statt, sondern im regionalen Nahraum und bei Weitem auch nicht nur in Süd-NordRichtung, welche die internationale Aufmerksamkeit in den letzten Jahrzehnten auf sich zog. Wie im gesellschaftlichen Diskurs fand auch im wissenschaftlichen eine Verengung nach dem Zweiten Weltkrieg statt, wobei zentrale Konzepte entlang politischer Kategorisierungen gebildet wurden, die die Unterscheidungen in freiwillige und erzwungene sowie die verschiedenen politischen Einwanderungsformate wie Arbeits- oder Bildungsmigration wissenschaftlich reproduzierten. Auch wenn seit längerem empirische Forschungen darauf hinweisen, dass insbesondere die grundlegende Unterscheidung in eine freiwillige und eine erzwungene Migration nicht aufrechtzuhalten ist, da Freiwilligkeit und Zwang in individuellen Mobilitätsentscheidungen stark ineinandergreifen, hält sich diese Unterscheidung auch wissenschaftlich hartnäckig und führt zu einer Segmentierung der Forschungslandschaft in eine Flucht- bzw. Flüchtlingsforschung (→Asyl →Flüchtling) und eine Migrationsforschung, die sich Formen nichterzwungener Mobilität zuwendet. Besonders die transnational argumentierende Migrationsforschung in den späten 1990er Jahren, wie sie etwa die Sozialanthropologinnen Nina Glick Schiller, Linda Bash und Christina Scantoz Blanc mit ihrem einschlägigen Artikel »From Immigrant to Transmigrant : Theorizing Transnational Migration« (1995) anstießen, öffnete den wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Blick wieder für die Pluralität und Flexibilität grenzüberschreitender Mobilitäts- und Lebenspraktiken. Sie war auch eine Reaktion auf die Kritik am »methodologischen Nationalismus« eines Großteils der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2002), wie er in nationalen Zuschnitten von Forschungsfeldern, Fragestellungen und Konzepten zum Ausdruck kam. Zum anderen stellte die transnationale Migrationsforschung das in der politischen und auch wissenschaftlichen Debatte hegemoniale Integrationsparadigma (→Integration) in Frage, indem sie auf Arbeits- und Lebensverläufe hinwies, die in transnationalen sozialen Räumen situiert sind und mehr als einen Staat oder eine Gesellschaft und mehrere kulturelle Bezüge zu vereinen versuchen. Diese sozial- und kulturwissenschaftliche Neuorientierung, die die soziale und kulturelle Pluralisierung und Heterogenität vor allem in Großstädten der Welt in den Blick nahm und diese positiv als Ressource und innovative Kraft konnotierte (vgl. Römhild/Bergmann 2003), lässt sich ohne die Globalisierungsdebatte nicht verstehen, die Zirkulation und Fluidität zu neuen Paradigmen und
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zu einer wesentlichen Kapitalsorte der Spätmoderne erklärte (→Globalisierung →Moderne). Empirisch-ethnographisch arbeitende Migrationsforschungen von Sozialund Kulturwissenschaftler*innen machen deutlich, dass Migrationen vielfach in historisch etablierten transnationalen Netzwerkstrukturen (zum Beispiel eine Diaspora) verlaufen, über die Migrant*innen auf kollektives Wissen, Erfahrungen und unterstützende Infrastrukturen zurückgreifen können (vgl. Hess/Petrogianis 2020). Die Ethnolog*innen Peter Bräunlein und Andrea Lauser formulierten schon für die 1990er Jahre, dass Migration in vielen Ländern Teil des biographischen Projekts sei (1997), was in zahlreichen afrikanischen Gesellschaften eine spezifische →Kultur der Migration und Mobilität hervorgebracht hat. Hieran knüpft das Paradigma der »relativen Autonomie der Migration« an, welches die Handlungsmächtigkeit (Agency) und Eigenlogik der Migrationsbewegungen in den Mittelpunkt stellt. So zeigen historische wie gegenwärtige Studien, dass sogenannte push- und pull-Faktoren, anhand derer zahlreiche Migrationstheorien Migrationsbewegungen analysieren, nicht hinreichend die Direktionalität und Praktiken der Mobilität erklären können (vgl. Mezzadra 2005). Darüber hinaus wies Ravenstein bereits Ende des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass »Frauen mehr als Männer« (1885) migrierten – eine Erkenntnis, die angesichts einer androzentrisch gefärbten Wissenschaftskultur aus der Forschung wie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand. Infolgedessen etablierte sich die Frauenmigrationsforschung, die in eine genderanalytische Migrationsforschung überging, um nicht nur den Anteil von Frauen, sondern die Rolle von Gender als Strukturkategorie in der Migrationsdebatte sichtbar zu machen (→Geschlecht/ Gender). In den letzten Jahren hat sich die Forschung stark auf Fragen der Steuerung und der Kontrolle unter dem Begriff des migration management insbesondere im Zusammenhang mit den weltweit steigenden Zahlen an Fluchtmigrant*innen konzentriert (→Flüchtling). Dabei zeigen auch in dieser Hinsicht empirisch-ethnographische Forschungen, dass den meisten Aufbrüchen multifaktorielle Motive zugrunde liegen, was einige Forschende von einem asylum-migration-nexus oder von refugee_migrants sprechen lässt (→Asyl) (Black 2003). Zudem machen neuere internationale Migrationsforschungen deutlich, dass angesichts der Migrationskontrollpolitiken der reichen Länder des Nordens die Migrationswege immer gefährlicher werden und sich die Migrationsprojekte zunehmend in die Länge, teils über mehrere Jahre ziehen und erstrecken können, was als protracted migration bezeichnet wird (vgl. Hess/Petrogiannis 2020).
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Ausblick Die hier in Kürze dargestellten gängigen wissenschaftlich-analytischen und recht lich-politischen Ordnungsversuche und Konzeptualisierungen werden zu einem großen Teil der Komplexität von Migrationen nicht gerecht. Deshalb ist eine empirisch-qualitative Migrationsforschung erforderlich, die an den P raktiken und den Motiven der mobilen Akteur*innen ansetzt. Zugleich gilt es, die politischen und wissenschaftlichen Ordnungsversuche selbst einer eingehenden Analyse und Beschreibung im Sinne einer reflexiven Gesellschaftsanalyse zu unterziehen und die Migrationsforschung zunehmend in eine Einwanderungsgesellschaftsforschung übergehen zu lassen.
Literatur Anderson, Nels (1969 [1923]) : The Hobo. The Sociology of the Homeless Man. Chicago. Letzte Auflage. Black, Richard (2003) : Breaking the convention : researching the ›illegal‹ migration of refugees to Europe. In : Antipode 35(1), S 34–54. Bräunlein, Peter/Lauser, Andrea (Hg.) (1997) : Ethnologie der Migration. KEA – Zeitschrift für Kulturwissenschaften (Band 10). Bremen. Dietze, Gabriele (2016) : Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um die Kölner Sylvesternacht. In : movements : Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft 2(1). URL : https://movements-journal.org/issues/03.rassismus/10.dietze--ethnosexismus.html [10. Dezember 2020]. Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (2018) : Postmigrantische Perspektiven : Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt am Main. Glick Schiller, Nina/Basch, Linda/Szanton Blanc, Cristina (1995) : From Immigrant to Transmigrant : Theorizing Transnational Migration. In : Anthropological Quarterly 68(1), S. 48–63. Hess, Sabine/Neuhauser, Johanna/Schwenken, Helen (2017) : Wie lässt sich genderanalytisch auf Geschlecht und Flucht blicken ? Skizze eines Forschungsprogramms. In : Onnen, Corinna/Rode-Breymann, Susanne (Hg.) : Zum Selbstverständnis der Gender Studies. Methoden – Methodologien – theoretische Diskussionen und empirische Übersetzungen. Opladen/Berlin, S. 71–88. Hess, Sabine/Petrogiannis, Vasileios (2020) : Border Experiences and Practices of Refugees - Comparative Report. RESPOND Working Paper Series. URL : https://respondmigra tion.com/wp-blog/border-experiences-and-practices-of-refugees-comparative-report [10. Dezember 2020]. Mezzadra, Sandro (2005) : Der Blick der Autonomie. In : Eryılmaz, Aytaç/Kölnischer
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Kunstverein (Hg.) : Projekt Migration. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Köln, S. 794–795. Ravenstein, Ernst Georg (1885) : The Laws of Migration. In : Journal of the Statistical Society 48, S. 167–227. Römhild, Regina/Bergmann, Sven (Hg.) (2003) : global heimat. Ethnographische Recherchen im transnationalen Frankfurt. In : Kulturanthropologische Notizen (Band 71). Frankfurt am Main. Sassen, Saskia (1996) : Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Frankfurt am Main. Wimmer, Andreas/Glick Schiller, Nina (2002) : Methodological nationalism and the study of migration. Archives Europeennes de Sociologie 43, S. 217–240.
Martin Sökefeld
Migrationshintergrund
Kurzdefinition Migrationshintergrund ist eine Kategorie, die Menschen umfassen soll, welche aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft aufgrund von →Migration in irgendeiner Weise nicht der unhinterfragten »Norm« entsprechen und daher – oft mit der Absicht, Diskriminierungen sichtbar zu machen – gesondert betrachtet und statistisch erfasst werden. Als Differenzkategorie perpetuiert Migrationshintergrund die Exklusion von Menschen oft entgegen der Absicht ihres Gebrauchs.
Gesellschaftliche Situation »Wir wollen selbst entscheiden, wie wir bezeichnet werden. Zum Beispiel als Menschen mit Vibrations- oder Migrationshintergrund, mit Migrationsvordergrund, Migrant*innen, bikulturelle, crosskulturelle, Schwarze-Menschen, Turkodeutsche oder Deutschkurden, People of Color oder einfach nur Mensch. Fragen Sie uns.«1 Spöttisch stellen die Neuen Deutschen Organisationen auf ihrer Webseite die Kategorie Migrationshintergrund in Frage. Migrationshintergrund ist eine Differenzkategorie, die an andere Differenzkategorien anschließt, welche sich auf »Herkunft« oder »Abstammung« beziehen. Migration gilt im Rahmen des →Nationalstaats als gesellschaftlicher Sonderfall. Die Logik des Nationalstaates ist eine Logik der Ausgrenzung (vgl. Wimmer 2002), die zweiseitig operiert : Nach »außen« grenzt sich der Nationalstaat gegenüber anderen Nationen ab, nach »innen« ist er bemüht, Homogenität herzustellen. Der Migrationshintergrund zieht eine Grenze zwischen Bevölkerungskategorien. Die Kategorie »mit Migrationshintergrund« operiert mit einer ähnlichen Logik der Differenz wie die Kategorie →ethnisch : Die Behauptung des Unterschieds macht den Unterschied. Das heißt, die Grenze, die hier gezogen wird, ist tautologisch, aber wirkmächtig. Im Laufe der Zeit wurde die Grenze zwischen 1 Vgl. Webseite Neue Deutsche : Über uns. URL : https://neuedeutsche.org/de/ueber-uns/wer-wirsind/#collapse-680 [2. April 2021].
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Martin Sökefeld
Staatsbürger*innen/Inländer*innen und Nichtstaatsbürger*innen/Ausländer*innen durchlässiger. Viele soziale Rechte gelten heute auch für Ausländer*innen, und zwar nicht nur für EU-Ausländer*innen. Während diese Entwicklung auf Deutschland schon länger zutrifft, gilt sie für Österreich erst seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 (vgl. Perchining/Troger 2011 : 292). Vor allem wurde der Erwerb der Staatsbürgerschaft erleichtert. Da im deutschsprachigen Raum Staatsbürgerschaft an Abstammung und das ius sanguinis gebunden war, war der Erwerb der Staatsbürgerschaft für Ausländer*innen nur als Ausnahme gedacht, die jedoch ausgeweitet wurde. So können seit 2013 »besonders gut integrierte Personen« in Österreich bereits nach sechs statt nach zehn Jahren rechtmäßigen Aufenthalts die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben (→Integration).2 Und in Deutschland kam es 2000 mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zu einem regelrechten Systembruch, der bis heute umstritten ist : Kinder nichtdeutscher Eltern bekommen neben der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auch die →deutsche Staatsbürgerschaft, sofern ein Elternteil mindestens acht Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt hat. Dem ius sanguinis wurde also das ius soli zur Seite gestellt und damit die Doppelstaatlichkeit erlaubt, allerdings nur vorübergehend und nicht generell. Der starke Widerstand nicht nur der damals oppositionellen CDU/CSU, sondern auch großer Teile der Bevölkerung gegen diese Reform zeigt, dass die in Deutschland vorherrschende Vorstellung von Staatsangehörigkeit immer noch an Abstammung geknüpft ist. Deutsche mit türkischem Namen werden von »Abstammungsdeutschen« in der Regel fraglos als »Türk*innen« kategorisiert. Durch Einbürgerung wird man in der Wahrnehmung vieler kein*e »richtige*r« Deutsche*r, sondern nur ein*e Ausländer*in mit einem deutschen Pass. Es gibt somit eine Zwischenkategorie : Menschen, die rechtlich Deutsche sind, aber von vielen Mitbürger*innen nicht wirklich als →deutsch und dazugehörend wahrgenommen werden. Rassistische Diskriminierung endet folglich keineswegs mit der Einbürgerung (→Rassismus).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Nach der Katastrophe des Holocaust, bei dem die Ausgrenzungslogik des natio nalsozialistischen Regimes direkt in den Völkermord mündete, war die politische Entwicklung →Europas von der Idee dominiert, nationalstaatliche Grenzen durchlässiger zu machen (→Nationalstaat). Die europäische Einigung 2 Vgl. https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2013/PK0652/ [18. Juni 2021].
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schritt voran und machte für die Kernstaaten des Subkontinents nationalstaatliche Grenzen tatsächlich weniger sichtbar und alltagsrelevant. Damit wurden Grenzen aber auch externalisiert : Parallel zur wachsenden Durchlässigkeit der Binnengrenzen Europas wurde die Bedeutung der Außengrenzen betont (→Sicherheit). Konstant blieb, vor allem im deutschsprachigen Raum, die Problematisierung der →Migration, obwohl die Arbeitsmigration, die Ende der 1950er Jahre nach Deutschland und Anfang der 1960er Jahre nach Österreich begann, als Lösung eines Problems gedacht war : des Arbeitskräftemangels der Nachkriegswirtschaft. Der damals übliche Ausdruck »Gastarbeiter« löste die von den Nazis diskreditierte Bezeichnung »Fremdarbeiter« ab und drückte aus, dass man von den Arbeiter*innen erwartete, dass sie bald wieder gingen. Dass dies nicht so erfolgte, ist ein Beispiel für Planungsdynamiken in Politik und Gesellschaft, die selten das Handeln derjenigen, die »verplant« werden, und die unbeabsichtigten Handlungsfolgen einbeziehen. Aber auch dieser Terminus verschwand weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs : Aus Gastarbeiter*innen wurden Ausländer*innen, aus Ausländer*innen Zuwanderer*innen und aus Zuwander*innen wurden Menschen mit Migrationshintergrund – so zumindest die Abfolge der Bezeichnungen in Deutschland. Spätestens seit James Scotts Buch »Seeing Like the State« (1998) wissen wir, dass staatliche Beschreibungstechniken über die Bevölkerung in der Regel stark vereinfachen. Die Wirklichkeit (die Bevölkerung eingeschlossen) ist viel zu komplex, als dass sich der Staat differenziert mit den unterschiedlichen Lebenslagen seiner Bürger*innen auseinandersetzen könnte. Er macht sich die Welt lesbar, indem er sie einem groben Raster von Kategorien unterwirft. Statt sich an die Welt anzupassen, passt er sich sozusagen die Welt an und entwickelt einen »Tunnelblick« (ebd.: 11), dem viele Details zum Opfer fallen. Für die Beschreibung der Bevölkerung bildete die Unterscheidung von Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen, also Ausländer*innen, eine zentrale Differenz (→Nationalstaat). →Migration wurde über diese Differenz erfasst, Migrant*innen avancierten zu Ausländer*innen. Der Staat kann sich aber nicht auf Wissen über seine Staatsbürger*innen beschränken, da die Bevölkerung auch Nichtstaatsbürger*innen umfasst. Staatliche Wissenspraktiken werden immer wieder von »der Gesellschaft« hinterfragt, vor allem von dem Teil der Gesellschaft, der sich mit der Beschreibung der Bevölkerung befasst, nämlich von den Sozialwissenschaften im weitesten Sinne. Die Kategorie »Ausländer*in« ist hier vor allem aus zwei Gründen unzureichend : Zum einen ist die Kategorie sehr divers – für die Lebenssituation in Österreich oder Deutschland ist es etwa ein großer Unterschied, ob man ein*e
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eingewanderte*r weiße*r US-Bürger*in oder ein Kind von türkischen »Gastarbeiter*innen« ist. Zum anderen waren längst nicht mehr alle Menschen, die landläufig als »Ausländer« bezeichnet werden (eben eher die ehemaligen Gastarbeiter*innen als die US-Bürger*innen) tatsächlich Ausländer*innen im rechtlichen Sinne. Sie waren eingebürgert und damit rechtlich Österreicher*innen oder Deutsche, aber keineswegs im Sinne der vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung. Wer sich einbürgern ließ, fiel aus der Ausländerstatistik heraus und war für den Staat nicht mehr als »Migrant*in« lesbar, da der Migrant*innenstatus an den Ausländer*innenstatus geknüpft war. Dazu kommen speziell in Deutschland die sogenannten Spätaussiedler*innen, also die »deutschstämmigen« (→deutsch) Einwanderer*innen aus Gebieten der ehemaligen UdSSR, die aufgrund des ius sanguinis sofort die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Sie schienen in keiner Ausländerstatistik auf, waren aber offensichtlich Migrant*innen und erfuhren ähnliche Alltagsausgrenzungen wie Ausländer*innen (→Rassismus). Auf Vorschlag der Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning wurde im »Zehnten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung« (1998) der »weichere« Begriff Migrationshintergrund eingeführt (vgl. Perchinig/Troger 2011 : 296). Boos-Nünning war Mitglied der Sachverständigenkommission, die den Bericht erstellte. Der Text verwendet den Begriff 22 Mal und geht dabei vor allem auf Kinder und Familien »mit Migrationshintergrund« ein, die »Deutschen« gegenübergestellt werden, ohne aber zu definieren, was genau »Migrationshintergrund« ist. Der »Migrationshintergrund« löst den Ausländer*innenstatus jedoch nicht vollständig ab. Die Kategorie dient dazu, besondere Lebenslagen und Unterstützungsbedarf zu identifizieren. Sie bleibt jedoch eine Kategorie der Ab- und Ausgrenzung, wie die Gegenüberstellung mit den »Deutschen« deutlich macht. Bemerkenswerterweise fehlte ein Hinweis darauf, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund Deutsche sind. In der öffentlichen Debatte hat der Begriff Migrationshintergrund inzwischen den »Ausländer« weitestgehend abgelöst. Der Erfolg des Begriffs zeigte sich vor allem darin, dass er in Deutschland zu einer Kategorie der amtlichen Statistik wurde : Im Mikrozensus des Jahres 2005 wurde die Bevölkerung in Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unterschieden. Dabei wurde Migrationshintergrund folgendermaßen definiert : »Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt. Die Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen : 1. zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer ; 2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte ; 3. (Spät-)Aussiedler ; 4. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Nachkommen der drei zuvor genannten Gruppen« (Sta-
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tistisches Bundesamt 2005 : 4). Die Definition verweist auf die Staatsbürgerschaft qua Geburt und beinhaltet damit ein Element der Abstammung. So werden teilweise auch Angehörige der »dritten Generation« als »Menschen mit Migrationshintergrund« erfasst, nämlich dann, wenn ihre Eltern zwar in Deutschland, aber als Ausländer*innen geboren wurden. Der »Migrationshintergrund« avanciert damit bis heute zu einem unlöschbaren Marker. Auch in der jüngsten Fassung wird deutlich, dass →deutsch nach wie vor als Abstammungskategorie gedacht wird : »Kinder von [deutschen] Eltern ohne Migrationserfahrung können keinen Migrationshintergrund haben«.3 Abstammung löscht also Migrationserfahrung, denn die machen etwa die Kinder deutscher Eltern, die im Ausland geboren wurden, genauso wie die Menschen mit Migrationshintergrund im Inland. Pointiert lässt sich bilanzieren : Deutsche können keinen Migrationshintergrund haben. Der Migrationshintergrund markiert eingebürgerte Deutsche migrantisch und suggeriert, sie seien den Ausländer*innen, mit denen sie in eine statistische Kategorie gefasst werden, ähnlicher als der Referenzgruppe der (nichtmarkierten, »normalen«) Deutschen ohne Migrationshintergrund, von denen sie unterschieden werden (vgl. Will 2018 : 11). Die Definition des Statistischen Bundesamtes ist allerdings nicht allgemeingültig. So verwenden verschiedene Behörden eigene Bestimmungen. Auch Österreich folgt einem eigenen Verständnis. Danach hat man offiziell Migra tionshintergrund, wenn beide Elternteile im Ausland geboren wurden – und nicht schon, wie in Deutschland, wenn dies nur bei einem Elternteil der Fall ist. Eine »richtige« Definition des Migrationshintergrundes kann es nicht geben. Der Sprachgebrauch zeigt, dass die ursprüngliche Intention des Begriffs weitgehend ins Gegenteil verkehrt wurde. »Migrationshintergrund« ist heute in vielen Kontexten die »politisch korrekte« Weise, »Ausländer« zu sagen. Im allgemeingesellschaftlichen Sprachgebrauch war auch der Begriff Ausländer keineswegs ausschließlich an die formelle Staatsbürgerschaft geknüpft – Ausländer*innen wurden immer schon gedacht als »Menschen mit Migrationshintergrund«, egal, welchen Pass sie besaßen. Man kann demnach eigentlich nicht →deutsch »werden« – man muss als deutsch geboren werden, um »richtig« deutsch zu sein. Diese Gewissheit konnte weder durch die 3 Vgl. Destatis (2018) : Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2017. In : Fachserie 1 (2.2). Statistisches Bundesamt. URL : https:// www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publika tionen/Downloads-Migration/migrationshintergrund-2010220177004.pdf?__blob=publication File&v=4 [6. November 2019].
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erleichterte Einbürgerung noch durch »weichere« Begriffe wie den Migrationshintergrund erschüttert werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch bleibt das ius sanguinis eine »eingefleischte« Folie, die Menschen anderer Herkunft etikettiert, unabhängig von rechtlichen Regelungen. Die apriorische Nichtzugehörigkeit der Menschen mit Migrationshintergrund zeigt sich deutlich an einem anderen paradigmatischen Konzept : der →Integration. Menschen mit Migrationshintergrund, auch Deutsche, stehen unter einem Integrationsvorbehalt. Integration negiert selbstverständliche, fraglose Zugehörigkeit und verstärkt und perpetuiert die Sonderkategorie der »Menschen mit Migrationshintergrund«.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die Sozialwissenschaften sind Komplizen dieser gesellschaftlichen Ausgrenzung und ihrer Perpetuierung : Sie stellen ihre Terminologie bereit bzw. legitimieren sie. »Ausländer« wurde etwa in der kritischen Erziehungswissenschaft als problematischer Begriff betrachtet, da er ausgrenzt und allein über Nichtzugehörigkeit kategorisiert. Deshalb wandelte sich die »Ausländerpädagogik« zur »interkulturellen Pädagogik« (Mecheril 2010). In einer Schulklasse als »Ausländerkind« definiert zu werden, erschwert Inklusion. So war die Erziehungswissenschaft bemüht, die Brille der ausgrenzenden Ausländerpädagogik abzusetzen, die letztlich eine Form der Sonderpädagogik war. Dennoch bleibt die Problematik bestehen, dass staatsbürgerliche Inklusion ausgrenzende Erfahrungen keineswegs beendet (→Rassismus). Die meisten Erziehungswissenschaftler*innen gehen davon aus, dass mit der Herkunft aus einem anderen Land oft besondere Eigenschaften und Bedingungen verbunden seien, die als problematisch betrachtet werden, mit der Einbürgerung ebenfalls nicht verschwänden und daher weiter erfasst und analysiert werden müssten – wie zum Beispiel Sprach»probleme«. Damit bedurfte es einer anderen Kategorie, die diese »Problemlagen« auch bei eingebürgerten neuen Deutschen, also ehemaligen Ausländer*innen, sichtbar macht. In verschiedenen Disziplinen wurde der Begriff Ausländer kritisiert ; mittlerweile ist er weitestgehend dem Migrationshintergrund gewichen. Doch so lange Menschen mit Migrationshintergrund in Forschungen als solche identifiziert und gesondert untersucht werden, vor allem auch im Hinblick auf ihre →Integration, wird diese Kategorie reproduziert und verstärkt. Wenn etwa der Bildungserfolg von Menschen mit Migrationshintergrund untersucht wird, steht der Migrationshintergrund als potentielle Kausalerklärung vorab fest und wird zur
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selbsterfüllenden Prophezeiung. Menschen mit Migrationshintergrund werden damit immer wieder zu einer Sonderkategorie. Den Soziologen Bernhard Perchinig und Tobias Troger zufolge könne man den Bildungserfolg von Menschen ebenso nach »Körpergröße, Gewicht oder Augenfarbe« (Perching/Troger 2011 : 301) aufschlüsseln. Der Unterschied zwischen der Relevanz der Augenfarbe und der des Migrationshintergrunds ist angesichts der Diversität dieser Kategorien kein empirischer, sondern einer der gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibung. Herkömmliche Migrationsforschung bleibt immer einem methodologischen Nationalismus verhaftet und reproduziert ihn, insofern Migration im Rahmen nationalstaatlicher Gegebenheiten gedeutet und zum Beispiel die »Integration« von »Menschen mit Migrationshintergrund« jeweils im nationalstaatlichen Rahmen eruiert wird (→Nationalstaat). Die Epistemologie von Migrations- und Integrationsforschung ist nationalstaatlich (vgl. Dahinden 2016). Der Soziologe Willem Schinkel stellt das Integrationsparadigma aus grundsätzlicher gesellschaftstheoretischer Sicht in Frage, da es von einem (nationalstaatlich) essentialisierten Gesellschaftskonzept ausgeht, welches Gesellschaft als Einheit versteht und Differenz außerhalb der Gesellschaft verortet (Schinkel 2018). Differenz gilt demnach nicht als konstitutiv für Gesellschaft generell (obwohl das in komplexen gegenwärtigen Gesellschaften empirisch gesprochen immer der Fall ist), sondern wird nur »den anderen« (mit Migrationshintergrund) zugeschrieben, die nicht Teil dieser Einheit sind, sondern das per →Integration erst werden müssen. Menschen ohne Migrationshintergrund sind von diesem Integrationsvorbehalt freigesprochen ; sie gelten immer schon als integriert. Der Unterschied, so Schinkel, sei dann nicht der zwischen Menschen, die »gut integriert« seien, und solchen, die das nicht seien, sondern der zwischen Menschen, die sich integrieren müssten, und denen, für die das keine Frage sei (Schinkel 2018 : 5). Schinkel fordert daher, die Integrationsforschung aufzugeben und dass sich die Sozialwissenschaften gegen staatliche Integrationspolitik stellen sollten. Die Schweizer Migrationsforscherin Janine Dahinden (2016) empfiehlt, die Migrationsforschung zu »entmigrantisieren«, zum Beispiel durch einen radikal reflexiven Blick auf die Kategorien der Forschung. Ziel ist es dann nicht mehr, über Menschen mit Migrationshintergrund zu arbeiten, sondern die Entstehungsbedingungen und Wirkungen des Konzeptes Migrationshintergrund zu untersuchen.
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Ausblick Widerstand gegen die Kategorie Migrationshintergrund kommt nicht nur aus der Wissenschaft. Vor allem »Deutsche mit Migrationshintergrund« stellen sie in Frage und verweisen auf ihren Ausgrenzungseffekt. Aus der Erkenntnis heraus, dass das »Problem« nicht im Migrationshintergrund besteht, sondern in den Vorstellungen darüber, was eigentlich →deutsch ist, ist die Bezeichnung »neue Deutsche« entstanden. So wurde 2009 der Verein Neue deutsche Medien macher und 2015 der eingangs zitierte Dachverband Neue deutsche Organisationen (NDO) gegründet, ein Netzwerk von hundert Vereinen, Initiativen und Projekten des postmigrantischen Milieus. Ziel dieser Projekte ist, offensiv zu vertreten, dass Deutschsein längst vielfältiger sei, als den »durchschnittlichen Biodeutschen« bewusst sei. Die NDO verlangen, die Integrationspolitik, die immer auf einen Migrationshintergrund rekurriert und damit Ausgrenzung perpetuiert, durch eine »Gesellschaftspolitik für alle« zu ersetzen.4 Die nationalstaatliche Epistemologie schafft →Gemeinschaft durch die Ausgrenzung der »Anderen«, die nicht als dazugehörig gelten, aber, als Immigrant*innen und deren Nachkommen, dennoch Teil der betreffenden Gesellschaft sind. Nicht alle »Menschen mit Migrationshintergrund« sind deutsche Staatsbürger*innen, Wohnbevölkerung und Staatsbürgerschaft klaffen auseinander. Bei aller Kritik der Ausgrenzungseffekte des Begriffs sollte man jedoch nicht vergessen, dass die Kategorie Migrationshintergrund auch dazu dienen sollte, Diskriminierungslagen zu erkennen und diese mit Fördermaßnahmen zu entschärfen. Die Abschaffung des Begriffs würde ebenso wenig zum Ende gesellschaftlicher Ausgrenzung führen, wie die Abschaffung von Geschlechtsstatistiken die Gleichheit der →Geschlechter zur Folge hätte. Dennoch bleibt das Dilemma, dass selbst gut gemeinte Förderprogramme Ausgrenzung verstärken können und somit ihre Intention ins Gegenteil verkehren. Die einzige Möglichkeit, diesen ausgrenzenden Effekt zu vermeiden, bestünde darin, Fördermaßnahmen radikal zu individualisieren, ohne bei der Identifizierung des Bedarfs auf irgendwelche Kollektive und »Hintergründe« Bezug zu nehmen. Sprachförderung zum Beispiel wäre dann allein am Kenntnisstand der individuellen Sprecher*innen orientiert, unabhängig davon, ob diese Migrationshintergrund haben oder nicht. Dabei bliebe allerdings unbeachtet, dass die Chancen und Möglichkeiten von Individuen durchaus von kollektiven Gegebenheiten und sozialen Lagen abhängen. Man liefe Gefahr, der Illusion des Liberalismus zu erliegen, und müsste sich fra4 URL : https://neuedeutsche.org/de/ueber-uns/wer-wir-sind-was-wir-wollen/ [7. Juni 2021].
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gen, ob die Blindheit für Diskriminierungsstrukturen nicht auch eine Form der Diskriminierung ist. Nur durch ständige Problematisierung von Begriffen wie Migrationshintergrund, durch kritische und reflektierende Arbeit an den Begriffen – statt sie einfach nur zu verwenden – ist es möglich, auf die Schwierigkeiten und potentielle Diskriminierung hinzuweisen. Erst so könnte gelingen, dass der Sprachgebrauch möglichst wenig essentialisiert und ausgrenzt. Die Fachkommission Integrationsfähigkeit der (deutschen) Bundesregierung forderte in ihrem Bericht Ende 2020, zukünftig in offiziellen Statistiken auf den Begriff des Migrationshintergrunds zu verzichten. Ob sich diese Forderung durchsetzt und ob sie Auswirkungen auf den allgemeinen Sprachgebrauch hat, wird sich zeigen müssen.
Literatur Dahinden, Janine (2016) : A Plea for the ›De-migranticization‹ of Research on Migration and Integration. In : Ethnic and Racial Studies 39, S. 2207–2225. Perchinig, Bernhard/Troger, Tobias (2011) : Migrationshintergrund als Differenzkategorie. Vom notwendigen Konflikt zwischen Theorie und Empirie in der Migrationsforschung. In : Polak, Regina (Hg.) : Zukunft. Werte. Europa. Die europäische Wertstudie 1990–2010. Wien, S. 283–319. Schinkel, Willem (2018) : Against ›Immigrant Integration‹ : For an End to Neocolonial Knowledge roduction. In : Comparative Migration Studies 6, S. 1–17. Scott, James C. (1998) : Seeing like a State : How Certain Sschemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven. Sökefeld, Martin (2007) : Problematische Begriffe : »Ethnizität«, »Rasse«, »Kultur«, »Minderheit«. In : Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) : Ethnizität und Migration. Berlin, S. 31– 50. Will, Anne-Kathrin (2018) : Migrationshintergrund im Mikrozensus : Wie werden Zuwanderer und ihre Nachkommen in der Statistik erfasst ? Berlin, Mediendienst Integration. URL : https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_Me diendienst_Integration_Migrationshintergrund_im_Mikrozensus.pdf [2. April 2021]. Wimmer, Andreas (2002) : Nationalist Exclusion and Ethnic Conflict : Shadows of Modernity. Cambridge.
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Kurzdefinition »Moderne« ist eine auf die jüngere und jüngste Geschichte bezogene Epochenbezeichnung bzw. die Bezeichnung einer in dieser Zeit vorfindlichen spezifischen Problemkonstellation. Sozial- wie Kulturwissenschaftler*innen behaupten damit, dass sich in den letzten Jahrhunderten ein bestimmtes Institutionengefüge (bestehend aus Kapitalismus, →Nationalstaat, Wissenschaft und anderem) und/ oder neuartige kulturelle Praktiken, →Werte und Einstellungen (säkularisierte Lebensformen, Individualismus, Fortschrittsoptimismus und anderem) herausgebildet hätten, die diese Epoche von vorangehenden Perioden (etwa dem sogenannten Mittelalter) und möglicherweise von aktuellen Entwicklungen und Trends (in der sogenannten Postmoderne) abgrenzten. Der Begriff der Moderne war und ist normativ aufgeladen, weshalb sich vehemente Verteidiger*innen der Moderne ebenso finden wir deren scharfe Kritiker*innen.
Gesellschaftliche Situation Ob Moderne, modernity, modernité oder modernidad – der Begriff wurde und wird verwendet, um auf abstrakte Weise entweder die Errungenschaften oder Schattenseiten der jüngsten Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in einen scheinbar eindeutigen und klar definierten Interpretationsrahmen zu stellen. Dabei kann die Debatte grundsätzlich nicht ohne eine Berücksichtigung des jeweiligen geographischen, kulturellen und auch zeitlichen Kontexts beleuchtet werden : Während der gewaltsame, durch Kolonialismus und Imperialismus erfolgende Einbruch »westlich-moderner« Denk- und Herrschaftsformen in gesellschaftliche Strukturen Afrikas oder Lateinamerikas kaum anders als durch einen höchst kritischen Modernediskurs bewertet werden konnte (der Begriff der Postmoderne spielte in diesen Kontexten eher eine marginale Rolle), wird in vielen intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen des heutigen China die Moderne geradezu gefeiert, sieht man sich dort doch angesichts des kometenhaften wirtschaftlichen Aufstiegs des Landes als Speerspitze eben dieser Moderne.
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Der Begriff der Moderne, so wie er Mitte der 1960er Jahre in den Sozialwissenschaften eingeführt und geprägt worden war, wurde zunächst in zeitdiagnostischer Absicht dazu verwendet, um die Errungenschaften, aber auch die jeweiligen Probleme vorwiegend westlicher Industriegesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu benennen. Moderne ist demzufolge die Epoche, in welcher sowohl die geistesgeschichtlichen Grundlagen als auch die scheinbar reife institutionelle Struktur des demokratischen →Nationalstaates und seiner marktwirtschaftlichen und industriellen Basis zu finden sind (→Demokratie). Historisch orientierte Forscher*innen identifizierten ganz bestimmte Ereignisse und Prozesse als konstitutiv für die beginnende Moderne – ob nun die »Entdeckung« Amerikas Ende des 15. Jahrhunderts, die Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die Entstehung eines neuen wissenschaftlichen Weltbildes bei Forscher*innen und Denker*innen wie Kepler, Galilei und Descartes an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, die beginnende Industrielle Revolution in England zur Mitte des 18. Jahrhunderts oder die politischen Revolutionen in den nordamerikanischen Kolonien und in Frankreich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Je nach Gewichtung dieser Ereignisse und Prozesse konnte man unterschiedliche Grundlegungen und Anfänge eben jener Moderne behaupten. Der alltägliche Gebrauch des Begriffs war stets eng verzahnt mit den wissenschaftlichen Debatten um die Moderne. Intellektuelle und Sozialwissenschaftler*innen stellten aufgrund von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA, aber auch im »Westen« die Frage nach der Legitimität und Zukunft der Institutionen und kulturellen Praktiken der (»westlichen«) Moderne. Die problematischen Aspekte der Moderne gerieten also zunehmend ins Zentrum der Diskussion. Darüber hinaus wurde der Begriff dann aber auch auf sehr viel weitere Kontexte bezogen, nicht zuletzt, weil man den weltumspannenden Einfluss der westlichen Moderne meinte diagnostizieren zu können, so, dass man dann oft auch – wie der Politikwissenschaftler Marshall Berman – von der Erfahrung der Moderne sprach, die überall auf der Welt gemacht werde, eine Erfahrung, die positiv wie negativ konnotiert sein, die Freiheit und Emanzipation ebenso meinen könne wie Entfremdung und Verdinglichung. Mit der zunehmenden Debatte um die Krisen und Verwerfungen vor allem in westlichen Gesellschaften tauchte schließlich die Frage auf, wie all dies im Rahmen des Modernekonzepts zu deuten sei : Ist die Moderne noch nicht ganz und noch nicht vollständig durchgesetzt, sodass das Projekt der Moderne zur Krisenvermeidung nur noch weitergetrieben und vollendet werden muss (nach dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas (1985) ? Oder waren und sind die sich im Westen zeigenden Probleme ein Hinweis darauf, dass die dortigen Ge-
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sellschaften bereits in eine neue Epoche, die »Postmoderne«, eingetreten sind, in der man ganz andere Akteurskonstellationen und Konfliktmuster, auch andere Zukunftsvorstellungen und Wahrnehmungsformen beobachten kann (nach dem Philosophen Jean-François Lyotard [1982]) ? Im Rückblick lässt sich sagen, dass die vor allem in den 1980er und 1990er Jahren geführte Debatte um die Postmoderne keine wirkliche Breitenwirkung entfaltet hat. Sie war Thema von Intellektuellen und Wissenschaftler*innen, dominant blieb in der Alltagssprache der westlichen Welt der Begriff der Moderne, dessen Verwendung seit den 1970er Jahren explosionsartig zunahm und mit dem man auf die schnellen Veränderungsprozesse der jüngsten Geschichte hinwies, die es vermeintlich erlauben, irgendwie von einer neuen Epoche oder ganz neuem Zeitalter zu sprechen.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Im Unterschied zum Adjektiv modern, das – etwa als modernus – bereits in der Antike vorkam, und im Kontrast zur Rede von den »Antiken« und den »Modernen« in der kunsttheoretischen »Querelle des Anciens et Modernes« des 17. und 18. Jahrhunderts ist der Begriff der Moderne (und seine schon genannten Äquivalente in anderen europäischen Sprachen) eine Prägung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. In Deutschland etwa tauchte das Adjektiv modern schon relativ früh auf – nämlich in den 1730er Jahren (vgl. Anton 1965 : 11). Und Friedrich Nietzsche sprach in den 1870er Jahren in »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« (1874) vom »modernen Menschen« und von seinesgleichen als »wir Modernen«. Doch der Begriff der Moderne wurde erst 1886 vom Kulturkritiker Eugen Wolff eingeführt, allerdings noch nicht im Sinne einer Epochenbezeichnung, sondern als ein Terminus, der den wahrgenommenen zeitgenössischen Wandel in der Kunstwelt adressierte, insofern nun, in der »Moderne«, nicht mehr die »stille« Antike das höchste Kunstideal liefere, sondern Kunst – so Wolff – ihre Maßstäbe aus dem faszinierenden »Tosen und Brausen« (Wolff 1886 : Zweites Beiblatt) der Gegenwart gewinne. An der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert war der Modernebegriff in intellektuellen Debatten Deutschlands präsent, aber in erster Linie als ein kulturund kunsttheoretischer Begriff, der auf ein partiell aufscheinendes neues Zeitbewusstsein und auf neuartige Phänomene verwies. Man sprach deshalb häufig noch wie Nietzsche von »dem Modernen« und adressierte »das Moderne«, was darauf hinwies, dass man Moderne kaum je als einen Terminus verstand, der
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sich eignete, um in zeitdiagnostischer Absicht ein umfassendes Institutionenensemble oder epochenspezifische kulturelle Merkmale, die ganze Gesellschaften oder sogar ganze Weltregionen charakterisieren sollen, zu bezeichnen. So dominierten bis in die Mitte der 1960er Jahre in den Sozialwissenschaften wie in der Geschichtswissenschaft Begriffe wie »industrielle Welt« oder »technische Zivilisation«, um zeitdiagnostische Aussagen (und dies nicht selten auch in kulturkonservativer Absicht) zu treffen. Es überrascht deshalb nicht, wenn selbst in der Philosophie zumeist andere Termini verwendet wurden, um die jüngste Epoche zu benennen. Der Modernebegriff tauchte nur selten auf, nur ein wenig häufiger sprach man vage allenfalls von »Modernität«, was darauf hindeutet, dass noch große Unsicherheiten herrschten über den Status der Moderne im Sinne einer Epochenbezeichnung – Unsicherheiten, die zumindest in Deutschland bis in die frühen 1970er Jahre anhielten. Weniger zögerlich war man in der US-amerikanischen Modernisierungstheorie und in der von ihr inspirierten Entwicklungsländerforschung, insofern sich mit Beginn der 1960er Jahre der Begriff der modernity zu etablieren begann. Gleiches lässt sich auch mit Blick auf französische Intellektuelle und Soziolog*innen feststellen ; hier diente die Kategorie Moderne der sozialwissenschaftlichen Analyse und Diagnose – etwa beim marxistischen Soziologen und Kulturphilosophen Henri Lefebvre (»Introduction à la modernité« [1962]), und dann – einflussreicher – beim liberalen Soziologen Raymond Aron (»Les Désillusions du progrès. Essai sur la dialectique de la modernité« 1969]), der zwar ebenfalls kulturtheoretisch argumentierte, aber gleichzeig vor Spekulationen über →Werte, geistesgeschichtliche Grundlagen und intellektuelle Fundamente der Moderne warnte. Diese Warnung sollte sich als prophetisch erweisen angesichts der Tatsache, dass die spätere Modernedebatte noch stets zwischen institutionen- und kulturtheoretischen Herangehensweisen und Definitionsversuchen schwanken sollte. Unabhängig davon begann sich seit den 1970er Jahren der Modernebegriff in den Sozial- und Kulturwissenschaften international zu etablieren, zumal sich mit ihm auch normative Debatten führen ließen, die sich zumeist als verkaufsfördernd erweisen sollten : Monographien wie »Das Unbehagen in der Modernität« (Berger/Berger/Kellner 1973) aus den frühen 1970er Jahren oder »All that Is Solid Melts into Air : The Experience of Modernity« (Berman 1982) aus den frühen 1980er Jahren transportierten eine von eher konservativer bzw. dann eben auch von linker politischer Seite artikulierte und schon an den Buchtiteln ablesbare Kritik an den Auswüchsen oder Pathologien der Gesellschaft, an Überforderung und Entfremdung, während etwa »Der philosophische Diskurs der Moderne«
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(Habermas 1985) aus der Mitte der 1980er Jahre selbstbewusst die Rationalität des auf die europäische Aufklärung zurückgeführten philosophischen Denkens gegen dessen Kritiker*innen verteidigte. Sammelbände wie »Zur Diagnose der Moderne« (Meier 1990) oder »Mythos und Moderne« (Bohrer 1983) versuchten, die Moderne bereits zu bilanzieren oder scheinbar Unvereinbares zu vereinbaren, eben den vormodernen Mythos und den Rationalitätsanspruch der Moderne. Im Alltagsgebrauch und in politischen Auseinandersetzungen wurde und wird die Moderne als Adjektiv oder Substantiv in unterschiedlicher Bedeutung adressiert : entweder in unspezifischer Weise als Verweis auf die unmittelbare Gegenwart, die »Jetztzeit« ; oder die Verwendung des Begriffs meinte – und hier zumeist positiv konnotiert – die Strukturen und Lebensformen bzw. das Selbstbewusstsein einer spezifischen, meist westeuropäischen Gesellschaft in Abgrenzung zu anderen Gesellschaften.
Wissenschaftsgeschichte(n) In den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft spielte der Modernebegriff lange Zeit keine Rolle (vgl. Knöbl 2017). Selbst wenn in Arbeiten zur Disziplingeschichte der Soziologie deren Klassiker oder Gründerväter oftmals als Analytiker der Moderne adressiert und charakterisiert werden, tauchte der Begriff selbst bei ihnen kaum je auf. Autoren wie Max Weber, George Herbert Mead, Emile Durkheim und andere sprachen in den Jahren zwischen 1890 und 1920 von modernem Kapitalismus, modernen Bürokratien und modernen Parteien, vom modernen Geist oder von der modernen Welt – von »Moderne« hingegen sprachen sie fast nie, was bedeutet, dass man für zeitdiagnostische Zwecke andere Begriffe verwendete, weil man – so die Vermutung – vor allzu starken Homogenitätsunterstellungen, welche die Rede von »der Moderne« mit sich bringt, zurückscheute. Dies gilt im Übrigen auch für die maßgeblichen Autoren der »Kritischen Theorie« (also etwa Adorno, Horkheimer, Benjamin), die weder in der Zeit der Weimarer Republik noch im späteren Exil den Modernebegriff prominent verwendet hatten, sondern ihn allenfalls in kunsttheoretischen Zusammenhängen benutzten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Modernebegriff von politisch engagierten Intellektuellen für zeitdiagnostische Zwecke und mit Blick auf gesamtgesellschaftliche oder gar nationenübergreifende Kontexte genutzt. Einen Anfang machte 1947 der in Deutschland geborene jüdisch-amerikanische Philosoph Horace Meyer Kallen in einer kleinen Broschüre mit dem Titel »Modernity and Li-
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berty« (1947), in der er ein äußerst positives Bild der Gegenwart, die er Moderne nennt, zeichnet. Diese Moderne sei wissenschaftsgläubig, demokratisch verfasst (→Demokratie), industriell organisiert und friedlich. Bereits hier fällt auf, was auch in späteren Definitionsversuchen immer wieder zu sehen ist, nämlich wie viel die entsprechenden Charakterisierungen dem jeweiligen Zeitgeist und den hier vorherrschenden normativen Impulsen zu verdanken haben : Die Moderne als friedlich zu bezeichnen, konnte nur dann als sinnvoll erscheinen, wenn die jüngsten Weltkriege und der Holocaust nicht als zur Moderne gehörig gezählt wurden und wenn man gleichzeitig für die allernächste Zeit – in den demokratisch regierten Teilen der Welt – eine bessere Zukunft erwartet. Nur langsam setzte sich der Modernebegriff in den Kultur- und Sozialwissenschaften durch, zunächst in der US-amerikanischen und französischen Soziologie der 1960er Jahre, etwas verspätet auch in der →deutschen, bis der Begriff Ende der 1970er Jahre schließlich etabliert war. In den Debatten zeigte sich, dass institutionen- und differenzierungstheoretische Versuche, die »Moderne« zu definieren (beispielsweise über Merkmale wie die Marktwirtschaft, parlamentarische →Demokratie, sozialstaatliche Sicherungssysteme, eine freie Wissenschaft, ein autonomer Kunstbetrieb, eine entpolitisierte religiöse Sphäre und anderes), die Frage aufwerfen, ob gegenwärtige Gesellschaften, die derartige Institutionen nicht kennen oder nur rudimentär ausgebildet haben, nicht zur Moderne gehören. Umgekehrt sind kulturtheoretische Versuche, die »Moderne« über kulturelle Aspekte wie Säkularisierung, Individualisierung, die Suche nach Gewissheit und Wahrheit zu definieren, mit dem Problem konfrontiert, dass häufig unklar bleibt, ob diese Merkmale tatsächlich in allen Gesellschaften, die westliche Sozialwissenschaftler*innen gewöhnlich als zur »Moderne« zugehörig bezeichnen (also etwa die Gesellschaften der USA, Frankreich, Großbritanniens und Deutschlands), ungebrochen vorzufinden sind und – wenn ja – wer genau sie dort zum Ausdruck brachte oder propagiert (vgl. etwa Münch 1986). Diese ungelösten Fragen schwangen im Modernediskurs immer mit, wurden aber selten thematisiert. Weitaus stärker im Mittelpunkt stand Ende der 1980er Jahre eine andere Frage, nämlich ob das zumindest im Westen stark verbreitete und vor allem von im weitesten Sinne als liberal zu bezeichnenden Intellektuellen gepflegte Modernebild, das den demokratischen (→Demokratie) und sozialstaatlich verfassten →Natio nalstaat als höchste und gelungenste Ausprägung der Moderne feiert, nicht schon deshalb problematisch sei, weil es die dunklen Seiten der Vergangenheit wie Genozide oder industriell geführte Kriege exkludiere. Zu einem wichtigen Refe renzautor wurde hier der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, der mit seinem 1989 erschienenen »Modernity and the Holocaust« die kulturtheoretisch
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begründete These verfocht, dass das in der Moderne vorfindliche Streben nach Reinheit, Eindeutigkeit, Klarheit und Widerspruchsfreiheit nicht zuletzt dazu geführt habe, dass in einer Art Gärtner*innenmentalität all das »ausgemerzt« habe werden müssen, was sich dieser »Reinheit« zu widersetzen schien – nicht zuletzt auch Bevölkerungsgruppen wie die Juden und Jüd*innen, die nicht bzw. eingeschränkt in den Nationalstaat integriert wurden. Einen anderen Aspekt hob der Soziologe Ulrich Beck in seinem 1986 publi zierten Bestseller »Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne« hervor, indem er die Frage stellte, ob nicht durch die vermehrt auftretenden, industriell produzierten Verwerfungen und Umweltschäden neue Konfliktmuster und Akteurskonstellationen entstanden seien, welche gewissermaßen reflexiv auf die Probleme der alten Moderne reagierten. Nicht zuletzt die Neuen Sozialen Bewegungen (von der Frauenbewegung bis hin zur Umweltschutzbewegung) würden die eingelebten Strukturen der westlichen Gesellschaften verändern und auf eine neue, eine »zweite«, nicht mehr notwendig nationalstaatlich verfasste »Moderne« hinsteuern, in der etwa der sorglose Verbrauch von Umweltressourcen vor dem Hintergrund der Ideologie einer immer weiter zu steigernden Produktion und Produktivität zunehmend in Frage gestellt werden würde. Klar war hierbei, dass sich Beck mit seinen Thesen über das Aufkommen einer anderen Moderne gegen die bisherige, von Konservativen wie von klassischen Sozialdemokrat*innen propagierte und auch betriebene und auf wirtschaftliches Wachstum setzende nationalstaatliche Industrialisierungs- und Infrastrukturpolitik wendete, eine Kritik, die dann in Teilen der sich formierenden grünen Bewegung großen Zuspruch fand. Becks und Baumans wegweisende Bücher führten dazu, dass die Debatte um die Moderne immer weiter vorangetrieben und differenziert wurde. Mit einem sensiblen historischen und dabei auch gesellschaftsvergleichenden Blick wurde etwa gefragt, ob es nicht schon im 19. und 20. Jahrhundert Zäsuren gegeben habe, die es ratsam erscheinen lassen, von unterschiedlichen Phasen der Moderne zu sprechen (vgl. etwa Wagner 1995). Als weniger seriös sind jene Zeitdiagnosen zu bezeichnen, die beim Auftreten neuer Phänomene sofort eine neue »Moderne« ausrufen : Aktuelle Redeweisen von der »globalen« (→Globalisierung), »digitalen«, neoliberalen, »regressiven« Moderne versprachen und versprechen eher Verkaufserfolge als analytischen Gewinn. Sehr viel wichtiger sind demgegenüber seit den 1990er Jahren zu beobachtende Versuche, die Rede von der »Moderne« von ihren ethno- und eurozentri schen Wurzeln zu lösen, war doch unverkennbar, dass die Moderne bis dato fast ausschließlich unter Heranziehung von Merkmalen industrialisierter Länder der
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Nordhalbkugel definiert wurde. Damit ergaben sich zumindest zwei Fragen : Erstens : Welche Implikationen haben Epochenbegriffe, die – wie im Fall der Moderne – nur auf bestimmte Regionen der Welt zutreffen ? Die Antwort war, dass man entweder die nicht dazugehörigen Regionen aus dieser Moderne exkludiert oder alles am Maßstab einer westlich gedachten »Moderne« misst. Dies führte zur Debatte um die multiple modernities, die vor allem vom Soziologen Shmuel Eisenstadt (2000) vorangetrieben wurde, der in kultur- und zivilisationsvergleichender Absicht auf die je unterschiedlichen Wandlungsmuster in verschiedenen Teilen der Welt hinwies und damit von je unterschiedlichen Modernen sprach. Zweitens stellt sich die Frage, ob der Eintritt der westlichen Länder in die Moderne ohne den zumeist unfreiwilligen Beitrag der kolonialisierten Regionen außerhalb →Europas und Nordamerikas erfolgte. Es wurden Verflechtungsfragen gestellt, die unter anderem zu dem von der Kulturanthropologin Shalini Randeria (2002) geprägten Begriff der entangled modernities führte, der darauf aufmerksam macht, dass weder die kulturellen Merkmale und institutionellen Strukturen des Globalen Südens noch diejenigen des Nordens unabhängig voneinander gedacht werden könnten – Einsichten, die etwa in der im 21. Jahrhundert aufstrebenden Globalgeschichte höchst präsent sind (→Globalisierung).
Ausblick Der Modernebegriff ist seit den 1970er Jahren zu dem Zentralbegriff geworden, mit dem sich sozial- und kulturwissenschaftlich angeleitete Zeitdiagnosen plausibilisieren lassen, Zeitdiagnosen, die sich nicht auf eine Gesellschaft beschränken, sondern die ganze Welt oder zumindest große Teile davon im Blick haben. Wie angeführt waren aber alle Versuche der Herbeiführung klarer Begriffsbestim mungen vergeblich, was daran lag, dass der Modernebegriff zum einen fast unvermeidlich mit starken Wertungen verknüpft war und zum anderen immer nur auf bestimmte Regionen der Welt nachvollziehbar angewandt werden konnte, was dazu führte, dass ständig neue Anstrengungen unternommen werden mussten, die begrifflich Exkludierten wieder zurück unter das Dach der »Moderne« zu bringen. Überzeugend war dies nicht, was sich daran zeigte, dass der Moderne begriff entweder pluralisiert (je unterschiedliche »Modernen«) oder mit Adjektiven näher bestimmt wurde (»europäische Moderne« und andere). Solange keine alternativen Begrifflichkeiten für abstrakte und generalisierte Zeitdiagnosen zur Verfügung stehen, wird man das Weiterleben, vielleicht sogar eine Verstärkung des Modernediskurses vermuten dürfen (oder befürchten
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müssen). Ob damit viel Neuland zu gewinnen sein wird, darf man bezweifeln. Denn der analytische Ertrag bisheriger Debatten (und sie füllen mittlerweile Bib liotheken) war und ist nicht zuletzt deshalb so gering, weil »Moderne« wie zahlreiche andere Zentralbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften »essentially contested concepts« (Gallie 1956) sind, die weniger aufgrund ihrer Präzision und Fruchtbarkeit weiterleben, sondern aufgrund des normativen Gehalts, den sie mit sich führen. Moderne – das hat früh der schon genannte Horace Kallen erkannt – war und ist noch immer ein Begriff, mit dem sich vorwiegend Sozialund Kulturwissenschaftler*innen und andere Intellektuelle beschäftigen und in ihrer je eigenen Deutung von vergangenen oder gegenwärtigen Phänomenen von anderen absetzen, durch den andere als (nicht) zu dieser Moderne gehörend aboder gegebenenfalls auch aufgewertet werden.
Literatur Anton, Herbert (1965) : Modernität als Aporie und Ereignis. In : Steffen, Hans (Hg.) : Aspekte der Modernität. Göttingen, S. 7–30. Aron, Raymond (1969) : Les désillusions du progrès. Essai sur la dialectique de la modernité. Paris. Bauman, Zygmunt (1989) : Dialektik der Ordnung : Die Moderne und der Holocaust. Hamburg. Beck, Ulrich (1986) : Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried (1973) : Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt am Main/New York. Berman, Marshall (1982) : All That Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity. New York. Bohrer, Karl Heinz (1983) : Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Berlin. Eisenstadt, Shmuel (2000) : Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist. Gallie, Walter B. (1956) : Essentially Contested Concepts. In : Proceedings of the Aristotelian Society 56, S. 167–198. Habermas, Jürgen (1985) : Der philosophische Diskurs der Moderne. Berlin. Kallen, Horace Meyer (1947) : Modernity and Liberty. The University of Buffalo Centenary Lectures on the Problems of Freedom in the Modern World. In : The University of Buffalo Studies 18(2), S. 73–130. Knöbl, Wolfgang (2017) : The Sociological Discourse on ›Modernization‹ and ›Modernity‹. In : Revue Internationale de Philosophie 71(281/3), S. 311–330. La Querelle des Anciens et de Modernes – XVIIe–XVIIIe siècles. Précédé d’un essai de Marc Fumaroli. Paris 2001.
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Lefebvre, Henri (1962) : Introduction à la modernité. Préludes. Paris. Lyotard, Jean-François (1982) : Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien. Meier, Heinrich (Hg.) (1990) : Zur Diagnose der Moderne. München. Münch, Richard (1986) : Die Kultur der Moderne. 2 Bände. Frankfurt am Main. Nietzsche, Friedrich (1874) : Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück : Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Leipzig. Randeria, Shalini (2002) : Entangled Histories or Uneven Modernities : Civil Society, Caste Solidarities and Legal Pluralism in Post-Colonial India. In : Elkana, Yehuda (Hg.) : Unraveling Ties. From Social Cohesion to New Practices of Connectedness. Frankfurt am Main/New York, S. 284–311. Wagner, Peter (1994) : Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin. Frankfurt am Main/New York. Wolff, Eugen (1886) : Die Moderne. Zur ›Revolution‹ und ›Reform‹ der Litteratur. In : Deutsche academische Zeitschrift. Organ der ›Deutschen academischen Vereinigung‹ 3(33), S. 4.
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Nationalstaat
Kurzdefinition Der Nationalstaat ist die heute global verbreitetste Form der politisch-staatlichen Ordnung moderner Gesellschaften (→Moderne). Er hat den Anspruch, das Prinzip der Volkssouveränität umzusetzen, indem er eine historisch entstandene und/oder kulturell imaginierte Zusammengehörigkeit von Menschen zur Grundlage einer politischen →Gemeinschaft erklärt, die als Legitimitätsquelle der staatlich-territorialen Herrschaft gilt (→Kultur →Volk). Umgekehrt hat der Nationalstaat damit das Recht, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben kontrollierend in die Lebenswirklichkeit seiner Staatsbürger*innen einzugreifen.
Gesellschaftliche Situation Unsere heutige Welt ist politisch fast vollständig in 193 anerkannte Nationalstaaten aufgeteilt. Diese Aufteilung erscheint uns schon deshalb fast »natürlich«, weil sie täglich, etwa in den Nachrichten, visualisiert wird, um das berichtete Geschehen zu lokalisieren. Derzeit gibt es 13 Nationalstaaten, deren völkerrechtlicher Status noch umstritten oder eingeschränkt ist (wie Palästina oder das Kosovo). Abgesehen von der »freien Hochsee« existiert kein Gebiet der Erde, das nicht zum Hoheitsgebiet irgendeines Nationalstaates gehört. Zugleich sind die allermeisten Menschen Angehörige nur eines Nationalstaats, also Mitglieder nur einer politisch-staatlichen →Gemeinschaft mit einem bestimmten Territorium, innerhalb dessen sie ihre politischen Rechte und Pflichten ausüben können. Nur relativ wenige Menschen besitzen aufgrund historisch-biographischer Umstände eine doppelte oder mehrfache Nationalstaatszugehörigkeit. Sehr viel größer dagegen ist die Gruppe derjenigen, die durch Flucht oder Vertreibung zu Staatenlosen geworden sind (→Flüchtling). In Deutschland wurde der erste Nationalstaat erst 1871 als Folge dreier »Einigungskriege« Preußens gegen Österreich, Dänemark und Frankreich errichtet, verdankt sich also keiner Vergemeinschaftung von »innen« oder »unten«, sondern einer außenpolitischen Aktion von »oben«. Und schließlich war die obses-
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sive Überbetonung nationalstaatlicher Konkurrenz und Abgrenzung am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts einer der wesentlichen Ursachen des Ersten Weltkriegs. Doch auch nach dieser schockierenden Erfahrung erklärte der damalige US-Präsident Woodrow Wilson das Modell möglichst homogener Nationalstaaten in seinem Konzept der national self-determination zum globalen Ordnungsprinzip einer durch den Völkerbund auf Dauer befriedeten Welt. Die Folge waren zum einen massive Praktiken der Bevölkerungsverschiebung etwa in Südosteuropa oder im Baltikum, zum anderen aber auch die ersten Anfänge des Dekolonialisierungsprozesses, insofern sich jetzt auch kolonisierte Völker auf Wilsons »Prinzip« berufen konnten. In →Europa zeugen die Grenzen zwischen Nationalstaaten von einer langen Geschichte territorialer Konflikte. Auf anderen Kontinenten dagegen, wie etwa in Afrika oder im Nahen und Mittleren Osten, markieren die meist schnurgerade gezogenen Staatsgrenzen ihre machtpolitische Implementierung durch die Europäer*innen als formale Abgrenzungen ehemals kolonialer Herrschafts- und Einflussgebiete. Dennoch verstehen sich inzwischen alle als Nationalstaaten. In diesem Sinne ist der Nationalstaat das erfolgreichste politische Ordnungsmodell der →Moderne. Dennoch bleiben seine Funktion, seine innere Zusammensetzung und sein Verhältnis zu den Bürger*innen, in deren Namen er seine Ordnungsmacht ausübt, umstritten. Insbesondere über die Frage, für wen nationalstaatliche Zugehörigkeit und politische Teilhabe möglich sind und für wen nicht, wird immer wieder heftig debattiert. Im Prinzip sieht jeder Nationalstaat Einbürgerungen vor (→Integration). Konkret wird aber meist sehr genau geprüft und darüber debattiert, welche Menschen aus welchen Herkunftskontexten zum jeweiligen Staat »passen«. Dahinter steckt die generelle Frage, wie viel kulturelle Vielfalt ein Nationalstaat integrieren kann und wie viel innere Homogenität er benötigt (→Migrationshintergrund). Mit voranschreitender →Globalisierung nimmt die gesellschaftlich-kulturelle Homogenität von Nationalstaaten gegenwärtig ab. Dennoch wird von einer Nation weiterhin ein Mindestmaß an vorpolitischer Gemeinsamkeit und Anpassung als Voraussetzung für Zugehörigkeit erwartet. Daraus ist etwa die Idee einer nationalen »Leitkultur« erwachsen, die in ihrer Identifizierung von Staat und →Kultur allerdings dem eigentlich nationalstaatlichen Prinzip einer politischen Integration vorpolitischer Pluralität zuwiderläuft. Unterhalb solcher Pauschalvorgaben gibt es in fast allen Nationalstaaten Integrationskurse, in denen der sprachliche und kulturelle Bildungskanon sowie die politischen, rechtlichen und moralischen →Werte und Besonderheiten der jeweiligen Nation vermittelt
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werden, um eine Mindestgemeinsamkeit zwischen »alten« und »neuen« Staatsbürger*innen herzustellen (→Integration →Migration). In diesen Formen einer didaktischen Vermittlung nationalstaatlicher Zugehörigkeit wiederholt sich im Kleinen der Vorgang der Nationsbildung, wie er im 18. und 19. Jahrhundert stattgefunden hat (vgl. Gosewinkel 2001).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Begriffsgeschichtlich muss der deutsche Sprachgebrauch von »Nation« und »Nationalstaat« zumindest bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein vom englischen und französischen unterschieden werden (vgl. Koselleck 1992). Im Englischen wie Französischen bedeutet nation seit dem 18. Jahrhundert die politische Gemeinschaft der Angehörigen eines angestrebten oder bereits existierenden Staats, während →Volk (people, peuple) die vorpolitische (kulturelle, sprachliche, →ethnische oder historische) →Gemeinschaft meint. Diese aber hieß im deutschen Staatsrecht genau umgekehrt lange »Nation«, während die politische Gemeinschaft als »Volk« bezeichnet wurde : »Jede Nation hat das Recht, einen Staat zu bilden, also Volk zu werden« (Bluntschli 1862 : 154). Erst die völkische Bewegung des 19. Jahrhunderts und dann der Nationalsozialismus haben diese politische Bedeutung des Volksbegriffs ideologisch aufgelöst, indem sie ihn mit »Rasse« und Bevölkerung gleichsetzten (→Rassismus →Volk). Daher wird der Volksbegriff in Deutschland – obschon er im Grundgesetz zentral ist – im politischen Sprechen heute vermieden. Erst in jüngster Zeit hat ihn etwa der Rechtspopulismus wieder stärker betont, meist im Sinne der »normalen« Bevölkerung im Gegensatz zu den »herrschenden Eliten« (→Populismus). Die Unterscheidung zwischen politischen und vorpolitischen Kriterien der Gemeinschaftsbildung stand von Anfang an im Zentrum der Entstehung und Entwicklung des Nationalstaatsgedankens. Sie wurde relevant, als im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Idee der Volkssouveränität und damit einer im Prinzip demokratischen Herrschaftslegitimation entstand (→Demokratie). Denn jetzt stellte sich die Frage, wer genau Träger*in dieser neuen Legitimitätsquelle sein kann und soll, wer also zum Herrschaft legitimierenden »Staatsvolk« gehört – und wer nicht (vgl. Lepsius 1990). In diesem Selbstfindungsprozess kam der Abgrenzung zu anderen Nationen eine immense Bedeutung zu. Als sich etwa in den noch über 200 einzelnen Staatsgebieten des →deutschen Sprachraums im 18. Jahrhundert die Rede vom deutschen »Vaterland« verbreitete, geschah dies in deutlicher Distanzierung von
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der französischen Nationalkultur (vgl. Blitz 2009). Mit der Französischen Revolution verschärfte sich dieser Gegensatz noch und blieb schließlich mit der napoleonischen Besetzung der deutschen Staaten als »deutsch-französische Erbfeindschaft« im Nationalismus beider Länder bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verankert (vgl. Jeismann 1992). Auch in anderen Ländern war die Herstellung einer neuen nationalen →Identität und Loyalität meist an Formen der Ab- und Ausgrenzung gebunden. Obwohl die totalitären Systeme der 1920er bis 1940er Jahre eher dazu tendierten, die staatlichen Ordnungen im Namen vorpolitischer Gemeinschaftskonzepte der »Rasse« (→Rassismus), der Klasse oder der →Volksgemeinschaft aufzulösen als zu stabilisieren (vgl. Arendt 1993 ; Geulen 2004), blieb der Nationalstaat auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das bevorzugte Modell politischer Ordnung und internationaler Beziehungen. Nation und Nationalstaat sind in ihrem Ursprung bedeutungsgeschichtlich wie auch politisch und sozialgeschichtlich aufs Engste an die moderne Idee der →Demokratie gebunden (→Moderne). Die Nation galt zunächst als eine →Gemeinschaft, die sich von allen hergebrachten Zugehörigkeitskriterien (Stand, Tradition, Religion, Landesherrschaft) unabhängig macht und eine rein politische Willensgemeinschaft darstellt (vgl. Renan 1882). Zur genauen Bestimmung der Zugehörigkeit zu dieser neuen politischen Gemeinschaft aber musste zugleich auf vorpolitische Bindungen und Zugehörigkeitskriterien (Sprache, →Kultur, Herkunft, Geschichte, Abstammung) zurückgegriffen werden. Damit hatte die Nation schon immer eine Doppelfunktion : Sie überwand die vormodernen Formen der Gemeinschaftsbildung und aktualisierte sie zugleich. Sie war – und ist – politischer Platzhalter der vorpolitischen Bindungen, die sie eigentlich überflüssig macht (vgl. Zizek 1994).
Wissenschaftsgeschichte(n) Diese doppelte Aufgabe des Nationalstaats, eine von allen hergebrachten Bindungen losgelöste und rein politische →Gemeinschaft zu repräsentieren, dieser aber eine vorpolitische (kulturelle) Gemeinschaft unterstellen zu müssen, bestimmte schon die Entstehungsphase der ersten modernen Nationalstaaten (→Moderne). Daher spricht die Nationalismusforschung hier von einer »Erfindung der Nationen« als »imaginierte Gemeinschaften« (Hobsbawm 1992 ; Anderson 2005). Denn eine gemeinsame, geschweige denn einheitliche Sprache, →Kultur, Geschichte oder »Abstammung« waren im 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht
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einfach abrufbar. Sie mussten vielmehr entdeckt, erfunden und erzeugt werden. Entsprechend untersucht die Nationalismusforschung derartige Produktionen : Ein nicht geringer Teil der literarischen, philosophischen, historiographischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und politisch-öffentlichen Kulturproduktion dieser Zeit hatte die direkte oder indirekte Funktion, diese Nationsbildung voranzutreiben und einen Kanon der »national« geteilten →Werte, Wahrnehmungen, Geschichten, Sprachformen, Loyalitäten und →Identitäten eines gemeinsamen »Vaterlands« herzustellen (vgl. Ely 1996). Darin spiegelt sich auch der doppelte Zusammenhang zwischen Nationalismus und Wissenschaft. Denn die Disziplinen, die heute – wie die Geschichtswissenschaft oder die Germanistik – die Kulturgeschichte des Nationalismus kritisch untersuchen, waren im 19. Jahrhundert an der Erfindung und Tradierung nationaler Identität und den Versuchen einer Selbstfindung maßgeblich beteiligt. Neben der Erfindung einer gemeinsamen Geschichte und →Kultur waren es vor allem kriegerische Konflikte, welche die Ausbildung nationalstaatlicher Strukturen förderten. Die Rolle nationaler Feindbilder stellt deshalb ein weiteres übergreifendes Feld der historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung dar (vgl. etwa Jeismann 1992) genauso wie der Zusammenhang von Bevölkerungspolitik, Dekolonialisierung und den Beziehungen zwischen Nationalstaaten, der die Geschichte des Nationalstaats im 20. Jahrhundert bestimmt. Interdisziplinäre Forschung widmet sich zudem der eingangs erwähnten Frage, welches Maß an Binnenheterogenität Nationalstaaten zulassen und ab welchem Punkt sie eine Gefährdung der politischen →Gemeinschaft annehmen. Historisch wird dieses Thema nicht zuletzt mit Blick auf das untersucht, was die Nationalstaaten vom 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts die »inneren Feinde« nannten. In den europäischen Staaten wurden etwa Jüd*innen wiederholt dazu gezählt ebenso wie Sozialist*innen oder teils auch Liberale, die man als »vaterlandslose Gesellen« und innere Gefahr für die nationale Ordnung ansah (Holz 2001 ; Geulen 2004). In den USA wurde immer wieder die nationale Integrationsfähigkeit der ehemaligen schwarzen Sklav*innen, der indigenen Bevölkerung oder bestimmter Einwanderer*innengruppen bezweifelt und heftig diskutiert. Bis heute sorgt diese Grundfrage nach der inneren Zusammensetzung der Nation in allen modernen Nationalstaaten für teils sehr intensive politische wie wissenschaftliche Debatten über Ein- und Ausgrenzungsformen besonders dann, wenn unter bestimmten Bedingungen der gesellschaftliche Zusammenhalt einer natio nalstaatlich organisierten Gesellschaft gefährdet scheint (vgl. Greenfeld 1992).
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Ausblick Heute gerät der Nationalstaat als Ordnungsmodell immer mehr unter Druck. Das betrifft nicht nur globale Herausforderungen wie den Klimawandel, sondern ebenso die immer engere mediale, ökonomische und verkehrstechnische Vernetzung des Planeten (→Globalisierung) sowie die weltweiten Migrationsbewegungen (→Migration). An ihnen lassen sich am besten die Grenzen der nationalstaatlichen Weltordnung aufzeigen. Denn gerade weil die meisten modernen nationalstaatlichen Verfassungen jene Menschen- und Bürgerrechte implementiert haben, die im 18. Jahrhundert den politisch-moralischen Anspruch einer nachständischen und nationalen Gesellschaftsordnung erst begründen halfen, ist der Anspruch auf diese Rechte bis heute an die formelle Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat gebunden. Wer diese verliert, also staatenlos ist, hat jenseits organisierter Formen der Nächstenliebe keine Möglichkeit, seine Menschen- und Bürgerrechte formell einzuklagen (vgl. Arendt 1993). Die weltweite Zahl dieser staatenlosen →Flüchtlinge nimmt seit Jahrzehnten zu. Darin liegt ein enormes Konfliktpotential. Doch auch innerhalb →Europas steigt längst die Spannung zwischen nationalstaatlicher Souveränität und der neuen, supranationalen →Gemeinschaft, die Europa sein will (vgl. Langewiesche 2000). Zum einen sind die europäischen Binnengrenzen für Menschen und Waren weitgehend aufgelöst, und die EU ist seit Jahrzehnten bemüht, so etwas wie eine europäische →Identität zu erzeugen und zu fördern. Auf der anderen Seite aber gibt es bislang weder eine europäische Verfassung noch eine europäische Öffentlichkeit. Zugleich hat in Großbritannien unter anderem die Angst vor einem Verlust nationaler Identität bereits zum Austritt aus der EU geführt. In vielen Debatten über Europa wird mehr europäische Zugehörigkeit mit weniger nationaler Zugehörigkeit gleichgesetzt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass auch Europa als neuer, erweiterter Nationalstaat gedacht wird, dessen sprachliche und kulturelle Binnenvielfalt als ein europapolitisch zu beseitigendes Problem gilt. Doch Europa ließe sich auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des modernen Nationalstaats als eine Form der politischen →Gemeinschaft denken, die sich aus jenem doppelten Anspruch politischer und vorpolitischer Gemeinsamkeit befreit. Gerade weil Europa aus klassischen Nationalstaaten besteht, die neben ihrer politischen Verfasstheit auch eine nationale →Kultur und Geschichte mitbringen, wäre die europäische Einigung als eine abstraktere, rein politisch-rechtliche Gemeinschaft ohne jeden Anspruch auf kulturelle Binnenhomogenisierung denkbar : ein transnationaler föderaler Staatenbund (vgl. Bö-
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ckenförde 1999). Dabei ginge es nicht um eine neue Nationsbildung, sondern um eine übergreifende politische Verfassung für mehrere Nationen. Dieses in den 1990er Jahren noch vieldiskutierte Modell ist derzeit aber in weite Ferne gerückt. Die grundlegende Ambivalenz politischer und vorpolitischer Vergemeinschaftung scheint sich jedenfalls auch auf der transnationalen, europäischen Ebene zu wiederholen. Nichts wäre wohl kontraproduktiver, als diese Tendenz zu fördern, indem man die Frage nach einer europäischen →Identität, nach ihren →Werten und ihren inneren und äußeren »Feinden« auf die Tagesordnung setzt – und damit Europa zu einer neuen Nation erhebt. Stattdessen wären jene politischen Mittel und Wege zu fördern und auszubauen, durch die sich Menschen, Regionen und auch Staaten unabhängig von ihrer Identität, →Kultur oder Herkunft als Legitimitätsquelle einer gesamteuropäischen Herrschafts- und Solidargemeinschaft verstehen können. Dazu wiederum gehört genau das, was am Beginn der modernen Nationalstaatsbildungen die politische Vergemeinschaftung als eine Befreiung von vorpolitischen Bindungen verdeutlichte und manifestierte : eine übergreifende Öffentlichkeit und eine Verfassung.
Literatur Anderson, Benedict (2005 [1983]) : Die Erfindung der Nation. Frankfurt am Main. Arendt, Hannah (1993 [1950]) : Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München. Blitz, Hans-Martin (2000) : Aus Liebe zum Vaterland : Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg. Bluntschli, Johann Caspar (1862) : Nation und Volk, Nationalitätsprincip. In : ders. (Hg.) : Deutsches Staatswörterbuch Band 7. Freiburg, S. 152–160. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1999) : Staat, Nation, Europa. Frankfurt am Main. Ely, Geoff/Suny, Ronald G. (Hg.) (1996) : Becoming National. A Reader. Oxford. Geulen, Christian (2004) : Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Hamburg. Gosewinkel, Dieter (2001) : Einbürgern und Ausschließen : Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen. Hobsbawm, Eric (1992) : Nationen und Nationalismus : Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main. Holz, Klaus (2001) : Nationaler Antisemitismus. Hamburg. Jeismann, Michael (1992) : Das Vaterland der Feinde : Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart. Koselleck, Reinhart (1992) : Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In : Conze, Werner/
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Brunner, Otto/Koselleck, Reinhart (Hg.) : Geschichtliche Grundbegriffe Band 7. Stuttgart, S. 141–451. Langewiesche, Dieter (2000) : Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München. Lepsius, Rainer (1990) : Nation und Nationalismus in Deutschland. Berlin. Renan, Ernest (1993 [1882]) : Was ist eine Nation ? In : Jeismann, Michael/Ritter, Henning (Hg.) : Grenzfälle : Über neuen und alten Nationalismus. Leipzig, S. 290–310. Zizek, Slavoj (1994) : Genieße Deine Nation wie Dich selbst. In : Vogl, Joseph (Hg.) : Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt am Main, S. 133–166.
Moritz Ege
Populismus
Kurzdefinition Der Begriff Populismus bezeichnet erstens eine Form von Kommunikation, die bewusst mit starken Vereinfachungen und/oder Emotionalisierungen arbeitet, und zweitens den Stil und die Forderungen bestimmter politischer Formationen (Bewegungen, Parteien, Plattformen), die in ideologischer Hinsicht gemeinsame Merkmale aufweisen. Zu Letzteren zählen der Anspruch, als politischer Akteur den Willen und die Interessen »des wahren Volkes« zu vertreten, sowie die Gegnerschaft zu (schlechten, unwürdigen) »Eliten« bzw. zum »Establishment« und der von ihnen dominierten Institutionen. Der Populismus diagnostiziert in vielen Fällen darüber hinaus eine Bedrohung, teils in Gestalt äußerer Feinde, aber auch aus der eigenen Gesellschaft heraus, vor allem durch Minderheiten, die von den Eliten ungerechterweise protegiert würden. In der Kultur- und Gesellschaftstheorie wird unter Populismus schließlich drittens eine diskursive Logik verstanden, die das Ziel verfolgt, aus heterogenen Gruppierungen und Forderungen eine (imaginäre) gesellschaftliche bzw. politische Einheit zu schaffen.
Gesellschaftliche Situation Die Rede vom Populismus ist in politischen Debatten fast immer kritisch, meist wertend und vorwurfsvoll : »Das ist doch Populismus !« Tadelnde Begriffsverwendungen dieser Art, wie sie zum Beispiel in Fernsehtalkshows oft zu beobachten sind, zielen ab auf sachlich unangemessene Vereinfachungen, intellektuelle Unredlichkeit oder Zynismus und damit eine Geringschätzung der Adressat*innen der populistischen Rede. Im deutschsprachigen Raum bekennen sich nur wenige Politiker*innen, wie zum Beispiel Alexander Gauland (AfD, nationalkonservativ-rechtsradikales Spektrum), offen zum Populismus.1 Allerdings sind die Grenzen zwischen populistischer und nichtpopulistischer Kommunikation fließend. 1 FAZ Redaktion : Alexander Gauland : Warum muss es Populismus sein ? In : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 2018, S. 8.
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Im Eifer des politischen Schlagabtausches mutiert jede*r Gegner*in schnell zum Populisten oder zur Populistin : Wenn der Fußballfunktionär und -lobbyist Joachim Watzke von Borussia Dortmund über »populistisches Fußball-Bashing«2 seitens der →deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel klagt, die laut darüber nachgedacht hatte, dass die Öffnung von Fußballstadien während der Coronavirus-Pandemie eine niedrigere Priorität habe als die der Schulen, dann ist das ein typisches Beispiel für den Versuch, die negativen Konnotationen des Wortes Populismus zu nutzen, um unliebsame Vorhaben zu diskreditieren. Fast alle Wortverwendungen im Sinne der zweiten oben angeführten Bedeutung, die auf politische Stile und die damit verknüpften Ideologien abzielt, haben ebenfalls einen pejorativ-kritischen Unterton. Demnach verweist der Begriff auf etwas, das – so die Kritik – für einen liberalen Rechtsstaat prinzipiell gefährlich ist : Der Populismus vereinfacht soziale und politische Verhältnisse, indem er ihre Komplexität leugnet sowie sie personalisiert und moralisiert, also die Welt in Gut und Böse einteilt. Er entwirft zugleich das faktisch falsche Bild eines homogenen →Volkes. Insgesamt neigt er zur Ausgrenzung von Minderheiten, im Rechtspopulismus insbesondere von Migrant*innen (→Migration). Insofern rechtfertigt und motiviert populistische Rhetorik nicht selten Gewalt. Sie konstruiert Feindbilder (»kosmopolitische Eliten«, »Integrationsverweigerer«, »die Kaste«, »Merkel-Bande« usw.), auf die sie alles Schlechte projiziert, und vergiftet damit die politische Auseinandersetzung. Auch hier schwingt der Vorwurf mit, Populismus sei prinzipiell unredlich, er spreche irrationale, »niedere« Instinkte an. Die populistische Elitenkritik speist sich häufig auch aus antisemitischen Gesellschaftsbildern und tendiert zu Verschwörungsdenken. Das illustrieren in den letzten Jahren nicht zuletzt die Kampagnen gegen den Finanzinvestor und liberalen Stifter George Soros, der von Rechtspopulist*innen in vielen Ländern als quasiallmächtiger Strippenzieher inszeniert wird.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Populismus ist ein relativ junger Begriff, der eher in der Bildungs- als in der Alltags- und Umgangssprache verwendet wird und ein international zu beobachtendes und erforschtes Phänomen fasst, das folglich räumlich und gesellschaftspo2 Vgl. Die Spiegel-Redaktion : Watzke beklagt »populistisches Fußball-Bashing«. In : Der Spiegel, 18. Oktober 2020. URL : https://www.spiegel.de/sport/fussball/hans-joachim-watzke-sieht-popu listisches-fussball-bashing-der-politik-a-94fdf685-000a-464b-abf4-7df84282d622 [9. März 2021].
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litisch verschiedene Bedeutungsdimensionen benennt. Eine Trennung zwischen Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte einerseits sowie Wissenschaftsgeschichte(n) andererseits erweist sich als besonders schwierig, da der Begriff stark durch sozialwissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtungen geprägt wurde und wird. Die Phänomene sind offenkundig sehr viel älter als das Wort. Das Sprechen im Namen des »echten« →Volkes, die Eliten- und Institutionenkritik usw. finden sich zum Beispiel bei römischen Volkstribunen, in der Reformation, unter den Levellers des 17. Jahrhundert in England, unter den russischen Narodniki des 19. Jahrhunderts und vielen anderen mehr. Das Wort Populismus dagegen ist eine moderne Erfindung, ebenso die Bezeichnungen Populist*in und populistisch : Sie entstanden in den USA des späten 19. Jahrhunderts im Umfeld der People’s Party. Die Vertreter*innen dieser Partei brachten die Unzufriedenheit vor allem in ländlichen Regionen gegenüber dem damals neuen Konzern- und Finanzkapitalismus und der Vorherrschaft der Großstädte zum Ausdruck. Im deutschsprachigen Raum tauchte der Begriff erst in den 1950er Jahren und unter US-amerikanischem Einfluss häufiger auf. Dies geschah zunächst an den Universitäten und in Thinktanks. Von dort aus verbreitete er sich in den folgenden Jahrzehnten in der Sprache der Politik und im Journalismus. Sehr viel relevanter wurde er in politischen Debatten Mitte der 1980er und in den 1990er Jahren. Er zielte damals vor allem auf eine neue Welle rechter Politik in →Europa ab. Die Vertreter*innen der nun (national bzw. rechts-)»populistisch« genannten Parteien polemisierten gegen →Migration, die Eliten, das erstarrte politische System und seine Institutionen. Sie standen teils in der Nachfolge faschistischer und – wie in Frankreich – kolonialrevisionistischer Parteien. »Populist*in« genannt zu werden, brachte für viele von ihnen deshalb auch eine gewisse Entlastung mit sich. Seit den 1990er Jahren hat der Begriff noch einmal einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren, der sich nach den Banken- und Wirtschaftskrisen 2007/2008 und den darauffolgenden Protestbewegungen und Wahlen, bei denen Populist*innen zunehmend Erfolge verbuchen konnten, noch einmal rapide beschleunigte. Während der Begriff in deutschsprachigen Ländern fast durchgängig abwertend verwendet wird, hat er anderswo ambivalente Konnotationen : In den USA und stärker noch in manchen lateinamerikanischen Ländern werden einige seiner Elemente – auch unter dieser Bezeichnung – als Bestandteile einer lebendigen →Demokratie verstanden (vgl. Priester 2012 : 13). Dieser Sprachgebrauch hängt mit der Geschichte der Parteien und Bewegungen, die in den jeweiligen Ländern als populistisch etikettiert werden, zusammen. Sie ist zum Beispiel in den USA
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oder Argentinien deutlich ambivalenter einzuschätzen als in Deutschland und Österreich, wo viele die populistische Kommunikation mit ihrer Feindbildkonstruktion in erster Linie als Echo des Faschismus bzw. Nationalsozialismus der 1930er und 1940er Jahre wahrnehmen und die ideologischen Kontinuitäten mit völkischen Traditionen betonen. Die eher affirmative Verwendung des Populismusbegriffs korrespondiert mit der dritten eingangs genannten Bedeutungsvariante, der zufolge Populismus eine Dimension des Politischen insgesamt benennt. Diese Sicht wird im Bereich der politischen Theorie prominent von Chantal Mouffe (2018) und Ernesto Laclau (2005) vertreten. Ihr Bekenntnis zum (linken) Populismus hat auch in →Europa politische Akteur*innen in verschiedenen Ländern inspiriert, zum Beispiel in Griechenland, Spanien und Frankreich.
Wissenschaftsgeschichte(n) Durch Analysen US-amerikanischer Politik- und Geschichtswissenschaftler*innen, die sich in den 1950er und 1960er Jahren mit den populists beschäftigten, wurde Populismus in den Sozial- und Kulturwissenschaften international zum analytischen (und weithin pejorativen) Begriff. Während viele Autor*innen bis dahin vor allem die Fortschrittlichkeit der populists des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts betont hatten, die im Sinne der progressive era weitreichende soziale Reformen einforderten, argumentierten Forscher*innen wie der Historiker Richard Hofstadter, der Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset oder der Soziologe Edward Shils, dass die populistische Beschwörung des Volkswillens von einer paranoiden und autoritären Denkweise gekennzeichnet gewesen sei und vielfach auch Antisemitismus und →Rassismus beinhaltet habe. Für den Erfolg der populists seien weniger ökonomische Interessen konkreter sozialer Gruppen der USA ausschlaggebend gewesen, sondern vielmehr ein diffuses kulturelles Bedrohungsgefühl und die →Angst vor der Verschlechterung ihres kollektiven Status – ein innovativer, wenn auch umstrittener Erklärungsversuch, der später auf Phänomene in immer mehr Ländern Anwendung finden sollte. Die Analysen der genannten Autoren waren eng mit Fragen der politischen Gegenwart der Forscher*innen in den USA und dem Kalten Krieg verbunden : In der Aufarbeitung der Geschichte der People’s Party sahen sie nicht zuletzt einen Schlüssel für das Verständnis der paranoiden Kommunist*innenjagd des US-Senators Eugene McCarthy und seiner Verbündeten oder des offenen Rassismus des weißen Nationalisten und Südstaatenpopulisten George Wallace. Dagegen vertraten Autor*innen wie Hofstadter einen moderaten, liberalen Pluralismus
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auf Basis der US-amerikanischen Gesellschaftsordnung im Kalten Krieg (vgl. Hofstadter 1965). Zugleich grenzten sie sich scharf nach links ab. Die kritische Thematisierung des Populismus geht also von Anfang an mit einem normativen Antipopulismus einher. In den Folgejahrzehnten übernahmen Wissenschaftler*innen in anderen Ländern den Sprachgebrauch und folgten dem Untersuchungsfeld. Sie bezogen den Begriff auf neuere Phänomene in globalem Maßstab (vgl. Ionescu/Gellner 1969) und entdeckten historische Vorläufer. Viele der prominenten zeitgenössischen Beispiele kamen aus Lateinamerika, wo Mitte des 20. Jahrhunderts unter anderem mit Juan Perón (Argentinien) und Gétulio Vargas (Brasilien) Populisten an der Regierung waren ; sie setzten stark auf ökonomische Umverteilung und die Entmachtung der lokalen Oligarchie, der Großgrundbesitzerklasse. In →Europa gewann der Begriff vergleichsweise spät an Bedeutung, zum Beispiel im Rückblick auf Pierre Poujades kleinbürgerliche (rechtspopulistische) Protestbewegung gegen die Steuerpolitik in Frankreich in den 1950er Jahren. Wissenschaftler*innen begannen, das breite Spektrum von Bewegungen und Parteien, die inzwischen als populistisch galten, genauer zu klassifizieren und zu systematisieren. So unterscheidet die politische Theoretikerin Margaret Canovan (1981) zwischen bäuerlichem Radikalismus, revolutionär-intellektuellem Populismus, populistischer Diktatur, Agrarpopulismus, populistischer Demokratie, reaktionärem Populismus und Populismus innerhalb von Volksparteien. Damit wurde immer deutlicher, dass es sich bei populistischen Bewegungen weder in der Geschichte noch in der Gegenwart um Ausnahmephänomene handelte. Der Populismus schien immer weiter an Bedeutung zu gewinnen, sich aber auch sehr unterschiedlich auszuprägen. Ende der 1970er Jahre sprach der Soziologe und Kulturwissenschaftler Stuart Hall mit Blick auf die politische Szenerie in England von einem neuen autoritären Populismus und erklärte die Tory-Politikerin Margaret Thatcher dann zu dessen prototypischer Vertreterin (vgl. Hall 2014). Thatcher beanspruchte, im Namen der »gewöhnlichen Leute« zu sprechen, die vom Staat »Recht und Ordnung« erwarten würden, eine Bestätigung der eigenen nationalen Größe sowie die Befreiung von staatlicher Bürokratie. Der »gesunde Menschenverstand« der Bürger*innen und ihre Entscheidungen als Unternehmer*innen und Konsument*innen sollten gegen die Bevormundung durch den Staat und die Intellektuellen verteidigt werden. Hall zufolge stand Thatcher gerade durch ihre populistisch-antiintellektuellen Positionen für den heraufziehenden Neoliberalismus, der in vielen Ländern bis heute die politische Mitte prägt. Autoritär-populistische Züge fanden sich in Deutschland auch bei vielen »volkstümlich« auftretenden Politiker*innen in den etablierten Parteien wie innerhalb
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der CDU/CSU bei Franz-Josef Strauß (vgl. Biebricher 2019). So überzeugend diese Analyse inhaltlich auch ist, so blieb der damit verbundene Begriffsgebrauch eher randständig. Angesichts des Erstarkens neuer Parteien am rechten Rand in den 1980er und 1990er Jahren unter anderem in Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich und Italien und dann zunehmend auch in osteuropäischen Ländern und der ehemaligen Sowjetunion verhalfen Politikwissenschaftler*innen dem Begriff (Rechts-) Populismus auch in Europa zu seinem endgültigen Durchbruch in wissenschaftlichen Debatten und in der journalistischen Gesellschaftsbeobachtung. Italien bot 1992 mit den Erfolgen von Umberto Bossis Lega Nord und Silvio Berlusconis Forza Italia ein prominentes Beispiel für einen »populistischen Moment«. Durch Korruptionsskandale schwand das Vertrauen der Bevölkerung in das etablierte Parteiensystem. Populistische Führungsfiguren traten auf den Plan, die mit Selbstinszenierungen eine auch mediengeschichtlich neue Synthese von Unternehmertum und politischer Demagogie prägten, bei der sie eigene Kommunikationsmedien für eine vermeintlich direkte Beziehung zum →Volk nutzten, vorrangig Fernsehsender, die sie oder ihre Verbündeten kontrollierten (»Telepopulismus«, Taguieff 2002). In Koalitionsregierungen gelangten Rechtspopulisten in einigen Fällen (Italien, Österreich) in diesen Jahren auch in Regierungsverantwortung. Um das Jahr 2000 konstatierten europäische Forscher*innen wie der Politikwissenschaftler Cas Mudde erneut einen »populistischen Zeitgeist« (Mudde 2004). Andere Autor*innen stellten eher das damit einhergehende Erstarken nationalistischer Ideologien in den Vordergrund und bevorzugten den Begriff Neonationalismus (vgl. Banks/Gingrich 2006). Die Forschung über die Rechts- oder Nationalpopulist*innen dieser Zeit arbeitete einerseits heraus, inwiefern sich diese von älteren Parteien der radikalen Rechten unterschieden : Demnach bekannten sie sich formal zu →Demokratie und Menschenrechten und distanzierten sich von Nationalsozialismus, Faschismus und biologistischem →Rassismus. Andererseits bestanden erhebliche personelle, organisatorische und ideologische Kontinuitäten. Die Sprache der betreffenden Politiker*innen, in der viel von »kultureller →Identität« und von der Verteidigung der heimischen →Kultur gegen »Überfremdung« die Rede war, rekurrierte angesichts aktueller Migrationsbewegungen auf ähnliche Bedrohungsängste wie ihre Vorläufer (→Angst →Migration) (vgl. Betz 1994). Die rechtspopulistische Identitätspolitik verabsolutierte Differenzen in »kultur-fundamentalistischer« Art und Weise (vgl. Stolcke 1995) und leistete damit einer modifizierten Form von kulturellem Rassismus Vorschub. Kontrovers diskutiert wurden in der Forschung nicht nur Zuordnungen wie diese, sondern auch die
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Frage, welche sozialen Schichten und Milieus die Kernwähler*innenschaft dieser Parteien bildeten und inwiefern sie in erster Linie Protestwähler*innen waren. So konnten Studien die These belegen, es handle sich vor allem um sogenannte Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer*innen (→Globalisierung →Moderne), die sich aus ökonomischen Gründen vor Abstieg und Statusverlust nach rechts wandten. In anderen Fällen bestätigte sich diese These jedoch nicht so eindeutig, als dass sie als allgemeine Erklärung hätte akzeptiert werden können (vgl. Betz 1994). Seit ungefähr 2010 wird noch sehr viel mehr über Populismus geforscht und geschrieben. Diese neue Welle der Populismusforschung geht offenkundig auf den politischen Erfolg des Populismus in dieser Zeit zurück, der bis in die Gegenwart reicht und ein größeres, heterogeneres Spektrum umfasst. Neben rechtsnationalistisch-souveränistischen Akteur*innen (wie Donald Trump in den USA oder die FPÖ in Österreich) prägen nun auch neue Bewegungen mit partizipativ-basisdemokratischer Orientierung »jenseits von links und rechts« (zum Beispiel das M5S in Italien, zum Teil Podemos in Spanien) sowie linkspopulistische Bewegungen und Parteien (Syriza in Griechenland, La France insoumise in Frankreich, zum Teil Podemos in Spanien) die Szenerie (vgl. Priester 2012). Sie wenden sich bewusst an »das →Volk« und nicht an die Arbeiter*innenklasse oder die abhängig Beschäftigten. Aber auch populistische Akteur*innen innerhalb von etablierten konservativen Parteien (Trump/Republikaner in den USA ; Boris Johnson/Tories in Großbritannien) oder Mitte-links-Parteien (Bernie Sanders/Demokraten in den USA, Jeremy Corbyn/Labour in Großbritannien) gewannen an Bedeutung. Bei all ihren Unterschieden haben sie das politische Spektrum insgesamt verschoben ; so wurde die Position der rechten Mitte in einigen Fällen (insbesondere in den USA) durch sowohl populistische als auch radikalere Kräfte usurpiert. Die neuere Forschung führt diese Erfolge von Populist*innen unterschiedlicher Couleur auf mehrere Ursachen zurück : Oft wird dabei zwischen politischen, ökonomischen und kulturellen Ursachen unterschieden. Die populistische Welle der letzten Jahre resultiert demnach zunächst einmal aus einer anhaltenden Krise der politischen Repräsentation. Das überlieferte Modell politischer Meinungsbildung und Teilhabe mittels der etablierten (»Volks«-)Parteien scheint in vielen Ländern überholt. Steigende soziale Ungleichheiten und die Verteilung der Lasten und Risiken der Banken- und Finanzkrisen nach 2007/2008 auf die Staatshaushalte und die darauffolgende Austeritätspolitik haben das ohnehin angeschlagene Vertrauen in die politischen Eliten und die von ihnen dominierten Institutionen beschädigt (vgl. Kalb 2009). Angesichts einer durch transnationale Verträge und supranatio-
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nale Entitäten wie die EU eingeschränkten politischen Souveränität nationalstaatlicher Regierungen verspricht der Populismus den Wähler*innen eine direktere demokratische Kontrolle (→Europa →Demokratie). Populismus ist in diesem Sinne immer auch ein Souveränitätsversprechen im Rahmen des →Nationalstaats oder, kritischer formuliert, eine Souveränitätsphantasie. Generell gibt der heutige Populismus vor, beantworten zu können, wie sich der ökonomische Lebensstandard einer breiten Masse der Bevölkerung »verteidigen« und ausbauen lässt, je nach Ausrichtung zum Beispiel gegenüber aufstrebenden Ländern (insbesondere China), gegen Migrant*innen (→Migration) oder gegen das »eine Prozent« der Reichen (vgl. Manow 2018). Zumindest auf einer imaginären Ebene verspricht der Populismus damit denjenigen »Schutz«, die zum →Volk gehören (→Sicherheit). Wer als zugehörig »zum echten Volk« gilt, macht sich meist an →ethnischen oder nationalstaatsbürgerschaftlichen Kriterien fest (→Nationalstaat), aber auch an moralischen (»anständige, hart arbeitende Leute«). Im Hintergrund des Populismus steht also immer auch die Frage, wer unter welchen Bedingungen am Reichtum teilhat, den die Menschen in der globalen Ökonomie produzieren, und wie sich diese Verteilung rechtfertigen lässt. Klassenkämpfe erscheinen vor allem im Rechtspopulismus primär als Machtkämpfe zwischen Nationalstaaten oder als gesellschaftsinterne Verteilungskämpfe auf moralischer Grundlage – zwischen »normalen Leuten« und vermeintlich unmoralischen Privilegierten (Minderheiten und »Eliten«) (vgl. Hochschild 2017). Die politisch-ökonomischen Aspekte populistischer Mobilisierungserfolge sind also immer schon mit kulturellen Dynamiken verflochten (→Kultur). Umgekehrt sind die kulturellen Aspekte nicht von der politischen Ökonomie abzulösen. Im Zeitalter der profitorientierten, monopolähnlichen sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram findet die Kommunikation zwischen Führungsfiguren und Anhänger*innenschaft zunehmend auf diesem vermeintlich direkten Wege statt. Damit verbreitet sich auch eine Beziehungsform der unbedingten Anhänger*innenschaft und der Verbundenheit innerhalb der politischen Lager, die gelegentlich eher an Fankulturen erinnert als an klassische Parteimitgliedschaften. Die aktuelle Konjunktur des Populismus ist also, wie die neuere Forschung festhält, in einen Medienumbruch eingebettet, der sich als Krise kultureller Ordnungen verstehen lässt, die wiederum eng mit den Geschäftsmodellen und Technologien der jeweiligen Medien verbunden ist (vgl. Gerbaudo 2018 ; Holtz-Bacha 2021). Forscher*innen, die stärker auf kulturelle Erklärungen setzen, weisen zudem darauf hin, dass die Erfolge des Populismus damit zusammenhingen, dass sich viele Menschen – auch im wohlhabenderen Bürgertum – von tonangebenden bzw. aufsteigenden Kräften der Gesellschaft nicht genügend berücksichtigt bzw. aner-
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kannt fühlten. Sie verteidigten die eigene, als traditionell geltende Lebensweise und die damit verbundenen Wertordnungen (→Werte). Diese »Verteidigung« hat eine ökonomische Dimension, sie wendet sich aber auch gegen vielstimmige Kritik an dieser Lebensweise, die geschlechterpolitisch (→Geschlecht), ökologisch oder antirassistisch motiviert ist und die offenbar das Selbstbild vieler Menschen, gut und richtig zu leben, erschüttert und zu Abwehrreaktionen Anlass gibt. Viele Populist*innen versprechen demnach Genugtuung, vielleicht sogar Rache durch die symbolische, in manchen Fällen auch tatsächliche Erniedrigung derjenigen, die sich moralisch »für etwas Besseres« zu halten scheinen. Sie lenken die Unzufriedenheit und den Zorn dabei sowohl auf ihre politischen Gegner*innen als auch auf Intellektuelle, auf Prominente und politische Aktivist*innen, die sich zum Beispiel für Geschlechtergerechtigkeit oder gegen die Klimakatastrophe engagieren. Personen wie Greta Thunberg werden von Populist*innen und ihren Anhänger*innen mit Spott und Hass überzogen, die sowohl Frauenfeindlichkeit als auch eine Rebellion gegen »moralische Vorschriften« in einem allgemeineren Sinn an die Oberfläche bringen (vgl. Koppetsch 2018) – und oft auch eine trotzig-dezidierte Zurschaustellung dessen, was als problematisch gilt. Der Sozialwissenschaftler Pierre Ostiguy spricht hier vom »flaunting of the low« (Ostiguy 2017). Zwar ist nicht abschließend geklärt, wie wichtig derartige Herabsetzungs- bzw. Bevormundungserfahrungen und -gefühle als Gründe für den Erfolg populistischer Positionen tatsächlich sind und woran sie sich festmachen. Von der Rhetorik rechtspopulistischer Akteur*innen, in der solche Erzählungen eine wichtige Rolle spielen, kann nicht unmittelbar auf die Motivationen ihrer Unterstützer*innen geschlussfolgert werden. Aber eine Reihe von soziologischen und ethnologischen Befunden legt zumindest nahe, hierin einen Motor des Populismus zu vermuten (vgl. Bourdieu 1997 ; Stückrad 2010 ; Hochschild 2017). Auf Unternehmer*innen bzw. die kapitalbesitzende Klasse richten rechte Populist*innen ihren Zorn dagegen deutlich seltener – abgesehen von einigen wenigen verhassten personalisierten Repräsentant*innen »der Elite« und »der Globalisten«. Ökonomischer Erfolg erscheint hier prinzipiell als ein legitimeres Kriterium für gesellschaftliche Anerkennung als zum Beispiel Bildungsabschlüsse, akademisch verbriefter Expert*innenstatus oder ethisch-politischer Idealismus.
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Ausblick Der Populismusbegriff ist mittlerweile zentral für gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatten, wobei sein Nutzen umstritten bleibt. So erfüllen nicht alle, die im politischen Diskurs als Populist*innen gelten, jedes der eingangs genannten Merkmale, mit denen die Sozial- und Kulturwissenschaften den Begriff zu definieren versuchen. Auf der anderen Seite kann der Populismusbegriff die Radi kalität von vielen Akteur*innen verharmlosen. Aus einer anderen Perspektive lässt sich fragen, ob die pauschale Populismuskritik nicht auf eine Verteidigung der gegebenen Verteilungs- und Anerkennungsverhältnisse hinauslaufen und damit auch berechtigte Kritik am Status quo vorschnell abwehren kann (vgl. Kapferer/Theodossopoulos 2018). Solche Unschärfen und das weite Bedeutungsspektrum machen den Begriff zwar problematisch, aber nicht per se sinnlos : Die Rhetorik, die Ideen und die politische Logik der Parteien, Führungsfiguren und Bewegungen, die in diesem Überblick erwähnt wurden, ähneln sich tatsächlich mit Blick auf einige Merkmale, auch wenn sie sich in anderen unterscheiden. Die Beobachtung dieser Ähnlichkeiten kann für Diagnosen der gegenwärtigen gesellschaftlich-politischen Konstellationen und Krisen nützlich sein. Der Begriff ist also nicht sinnlos, aber es gilt, ihn trennscharf und kontextspezifisch zu verwenden. Die entscheidende Frage lautet zum Beispiel nicht unbedingt, ob Linkspopulist*innen tatsächlich Populist*innen sind, wie es immer wieder diskutiert wird, denn das sind sie häufig durchaus absichtlich und programmatisch (vgl. Mouffe 2018). Wichtiger ist die normative und letztlich nicht wissenschaftlich zu klärende Frage, was aus dieser begrifflichen Zuordnung folgt. In welchen Fällen soll die Unterscheidung populistisch – nichtpopulistisch für politische Einschätzungen maßgeblich sein und in welchen Kontexten sollten andere Aspekte im Vordergrund stehen ? Wachsamkeit ist zum Beispiel angebracht, wenn der Begriff Populismus als Euphemismus dient, der etwa völkische, rassistische und antisemitische Ideologien beschönigt oder entschuldigt. Oft sprechen für antipopulistische Haltungen also gute Gründe, aber es bleibt – im Anschluss an Ernesto Laclau – zu bedenken, dass sich im Populismus wiederkehrende Grundprobleme moderner →Demokratien und politischer Ökonomien manifestieren.
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Literatur Banks, Marcus/Gingrich, André (2006) : Neo-Nationalism in Europe and Beyond. In : dies. (Hg.) : Neo-Nationalism in Europe and Beyond. Perspectives from Social Anthropology. New York/Oxford, S. 1–28. Betz, Hans-Georg (1994) : Radical Right-Wing Populism in Western Europe. New York. Biebricher, Thomas (2019) : Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Berlin. Bourdieu, Pierre (1997) : Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. Canovan, Margaret (1981) : Populism. New York. Gerbaudo, Paolo (2018) : Social Media and Populism : an Elective Affinity ? In : Media, Culture & Society 40(5), S. 745–753. Hall, Stuart (2014) : Die Bedeutung des autoritären Populismus für den Thatcherismus. In : ders. (Hg.) : Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Ausgewählte Schriften (Band 5). Hamburg, S. 121–132. Hochschild, Russell Arlie (2017) : Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt am Main/New York. Hofstadter, Richard (1965) : The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. Cambridge. Holtz-Bacha, Christina (2021) : The Kiss of Death. Public Service Media under Right-wing Populist Attack. In : European Journal of Communication 36(3), S. 221–237. Ionescu, Ghita/Ernest Gellner (Hg.) (1969) : Populism : Its Meanings and National Characteristics. London. Kalb, Don (2009) : Conversations with a Polish Populist : Tracing Hidden Histories of Globalization, Class, and Dispossession in Postsocialism (and Beyond). In : American Ethnologist 36(2), S. 207–223. Kapferer, Bruce/Theodossopoulos, Dimitrios (2019) : Introduction : Populism and its Paradox. In : dies. (Hg.) : Democracy’s Paradox. Populism and its Contemporary Crisis. Critical Interventions. A Forum for Social Analysis (Band 18). New York/Oxford, S. 1–34. Koppetsch, Cornelia (2018) : Die Gesellschaft des Zorns : Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Bielefeld. Laclau, Ernesto (2005) : On Populist Reason. London/New York. Manow, Philip (2018) : Die politische Ökonomie des Populismus. Berlin. Mouffe, Chantal (2018) : Für einen linken Populismus. Berlin. Mudde, Cas (2004) : The populist zeitgeist. In : Government and Opposition 39(4), S. 541– 563. Ostiguy, Pierre (2017) : Populism : A Sociocultural Approach. In : Kaltwasser, Cristóbal Rovira et al. (Hg.) (2017) : The Oxford Handbook on Populism, Oxford/New York, S. 1–26. Priester, Kathrin (2012) : Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon. Frankfurt/New York.
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Stolcke, Verena (1995) : Talking Culture : New Boundaries, New Rhetorics of Exclusion in Europe. In : Current Anthropology 36(1), S. 1–24. Stückrad, Juliane (2010) : »Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit !« Eine Ethnographie des Unmuts am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises, Brandenburg. Kiel. Taguieff, Pierre-André (2002) : L’Illusion populiste. De l’archaïque au médiatique. Paris.
Manuela Bojadžijev
Rassismus
Kurzdefinition Rassismus ist ein »totales gesellschaftliches Phänomen«,1 welches auf der Vorstel lung basiert, dass Menschen in distinkte biologisch-genetische Einheiten, »Rassen« genannt, unterteilt werden können, wobei sowohl biologische als auch kulturelle Kriterien zugrunde gelegt wurden und werden. Um die Vorstellung, es gebe »Rassen«, spinnen sich Narrative, in denen ein angeblicher Zusammenhang von »Rasse« und kulturellen Merkmalen der Persönlichkeit, des Intellekts, der Moral usw., die sich genealogisch reproduzieren würden, behauptet wird (→Kultur). Klassifizierungs- und Wertungssysteme, in denen bestimmte »Rassen« anderen per se überlegen sind, liefern Anordnungen, die in Diskursen, alltäglichen Praktiken, sozialen Institutionen und Infrastrukturen ausgearbeitet und, zum Teil gewaltvoll, umgesetzt werden. So begründen Rassevorstellungen historisch tiefverankerte und ebenso relativ neuartige Ungleichheiten in Bezug auf Reichtum, Bildung, Gesundheits- und Wohnungsversorgung, Bürgerrechte und vieles mehr. Der Begriff der biologischen Rasse gilt wissenschaftlich mehrheitlich als Erfindung, weshalb er in vielen Studien als methodischer Ausgangspunkt vermieden wird. Auch eine Streichung aus dem Deutschen Grundgesetz wird diskutiert.
Gesellschaftliche Situation In der medialen Öffentlichkeit wird Rassismus heute häufig dem Rechtsextremismus zugeschrieben, womit eine Dethematisierung, Verharmlosung und/oder Pathologisierung einhergeht, zumindest aber eine Delegation an den »rechtsextremen Rand«, den der gesellschaftliche Mainstream allzu lange für wenig 1 Als totales soziales Phänomen bezeichnet Marcel Mauss den Gabentausch (Mauss 1990 : 17). Den Begriff wende ich hier, einem Vorschlag Etienne Balibars folgend, für Rassismus an, denn auch dieser ist gleichzeitig eine juristische, wirtschaftliche, religiöse, soziale, ästhetische und auch morphologische Tatsache.
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machtvoll und bedeutend hielt. Rassistisch motivierte Taten werden zudem häufig als Aktionen von Einzeltäter*innen dargestellt. Sozialpsychologisierende Erklärungsmuster vermuteten als Ursache für rassistische Orientierungen und Praktiken lange soziale Desintegration und Anomie, was aber bereits seit den 1990er Jahren an den Arbeiten etwa der Bielefelder Schule des Soziologen Wilhelm Heitmeyer kritisiert wurde (vgl. Demirovic/Paul 1996). Über Jahrzehnte wurde der Begriff Rassismus in der Öffentlichkeit und den Wissenschaften in Deutschland, bis auf einen kleinen Kreis kritischer Forschender, meist vermieden oder umgangen und als unsachlich oder unwissenschaftlich delegitimiert. Politiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen sprachen jahrelang von »Ausländerfeindlichkeit« und »Fremdenhass« statt von Rassismus und wählten damit Begriffe, die die Objekte von Rassismus als Ausländer*innen oder Fremde vom nationalen »Wir« distanzierten oder sie, in weniger häufigen Fällen, verteidigend an dieses »Wir« anzunähern versuchten, in jedem Fall aber von einer Dichotomie ausgingen. Eine Aufweichung dieser ablehnenden Haltung gegenüber dem Begriff Rassismus erfolgte in Deutschland erst sukzessive nach der Aufdeckung der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im Jahr 2011. Bei der von den Angehörigen der Mordopfer geforderten Gedenkfeier 2013 in Berlin sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel explizit von Rassismus. Barbara John, die ehemalige Ausländerbeauftragte der deutschen Bundesregierung, die als Sachverständige für den Untersuchungsausschuss des Bundestags zum NSU einbestellt war, forderte mit Blick auf die Vermeidung des Begriffs in öffentlichen Diskussionen »die Begrifflichkeiten nicht zu scheuen«.2 Opferverbände hatten da schon lange nicht nur Fälle von Rechtsextremismus, sondern verstärkt auch (Alltags-)Rassismus aufgearbeitet und gingen den institutionellen und rechtlichen Grundlagen bzw. Formen von Rassismus nach, die nun auch von Medien verbreitet wurden.3 Zugleich wurde im Zuge der Aufklärung der Taten des NSU offensichtlich, dass die Nichtbenennung von Rassismus eine Analyse und Aufdeckung dieser Taten 2 Deutscher Bundestag, Drucksache 17/14600, S. 823. 3 Zu diesen Publikationen kommen zahlreiche Projekte in den letzten Jahren, die die mediale Repräsentation zu verändern suchten : Dazu gehören Medienprojekte wie Podcast-Serien, etwa »Vor Ort – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt. Die Podcastserie von NSU Watch und VBRG e.V.«, Dossiers auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung, des Mediendienst Integration und Zeitgeschichte Online sowie Kartierungen zu rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt durch Zeitungskooperationen von Die Zeit und Tagesspiegel oder der Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus »Berliner Zustände 2019« und vieles mehr.
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deutlich erschwerte. Institutionellen oder Alltagsrassismus in staatlichen Apparaten, in Kindergärten, Schulen und in der Wissenschaft, in der Polizei und in Sicherheitsdiensten, aber auch in Gewerkschaften und Parteien oder den Medien zum Thema zu machen, stieß und stößt aber noch immer auf eine bemerkenswerte Abwehr. Nach den antisemitischen und rassistischen Anschlägen in Halle im Oktober 2019 und Hanau im Februar 2020 wurde im März 2020 von der deutschen Bundesregierung ein Kabinettsausschuss gebildet, der konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus entwickelte. Nach den Black-Lives-Matter-Protesten, die gegen die rassistisch motivierte Polizeigewalt in den USA auch in →Europa viele Menschen im Frühjahr 2020 auf die Straße brachten, scheint sich in Deutschland ein neuer Rassismusdiskurs abzuzeichnen, der sich auch in einer Häufung von Tagungen, Wissenschafts- und NGO-Förderungen zu Rassismus seit 2020 abzeichnete.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Der Rassismusbegriff tauchte dabei in unterschiedlichen historischen Bedeutungen auf. Kritisch wurde er im Kontext des Kampfes gegen die Rassenideologie des deutschen Nationalsozialismus entwickelt. Aber gegen den sich formierenden antirassistischen und antikolonialen Widerstand artikulierte sich Rassismus immer wieder auch affirmativ als Programm. So etwa in miteinander konkurrierenden rassistischen Theorien, die sich voneinander distinguieren wollten, wenn sie etwa im Rahmen des britischen Kolonialprojekts sowie »nationaler Rassenideologien«, die Unterschiede zwischen italienischen, französischen und deutschen »Rassen« herauszuarbeiten suchten. Rassismus, auch adjektivisch »rassistisch«, wurde in →Europa auch also auch zustimmend und zur Konturierung des rassistischen Projekts genutzt : defensiv gegen Einwanderung aus den Kolonien nach Europa sowie mit antisemitischen Ideologemen versetzt und von Anfang an vergeschlechtlicht konstruiert (→Geschlecht →Migration) (vgl. Hund o.J.: 11). Damit ist Rassismus kein Begriff, der sich per se gegen Rassismus wendete (vgl. Hund o.J.: 3f.), sondern als Begriff umkämpft. Rassistische Diskurse und Praktiken haben sich spätestens im 19. Jahrhundert mit einer neuen Qualität, insbesondere mit dem Aufstieg der Wissenschaften und der globalen Ausbreitung des kapitalistisch-kolonialen Weltmarkts (→Globalisierung), herausgebildet und nach und nach konsolidiert, wenngleich die →Moderne auch Widerspruch und Kämpfe gegen Rassismus hervorgebracht hat. In vielen Gesellschaften →Europas wurden im Zuge des Kolonialismus im
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19. Jahrhundert Typologien von Menschen in den kolonisierten Ländern entworfen, definiert und erhoben (vgl. etwa Geulen 2007). Zugleich wurden Menschen neben ihrer angeblich vorliegenden biologischen Unterscheidbarkeit Eigenschaften einer »Rasse« attribuiert. Der Rassebegriff umfasste und umfasst unterschiedliche religiöse, sprachliche, ökonomische und Subsistenzgruppen auf vielfältige Weise mit Benennungen, die metonymisch den Rassebegriff kommunizieren und halfen, bestehende Herrschaftsordnungen zu reproduzieren, aber auch zu transformieren : die Trennung in »Eigene« und »Fremde« qualifizierte und systematisierte diese zugleich in »höhere« und »niedrigere« Menschen im Sinne einer unverrückbaren Natur. Dieser »Wunsch nach Unterscheidung« prägte auch die be- und entstehenden Taxonomien »europäischer Völkergruppen«. Das »Statement on Race« der UNESCO stellte schließlich 1950 »Rassenvorurteile« als unberechtigt fest. Rassistische Taxonomien wirken bis heute im gesellschaftlichen Alltag und tragen zur Herstellung und Akzeptanz gesellschaftlicher Spaltungen bei. Mit ihnen wird beispielsweise suggeriert, dass die Unterschiede zwischen den durch den Rassismus kategorisierten Gruppen so groß seien, dass sie nicht überwunden werden könnten. Erzählungen von sich gegenüberstehenden Zivilisationen verbinden sich mit Forderungen nach räumlicher oder kulturell-sozialer Segregation. Rassistische Diskurse legitimieren Ausbeutung und Ausschluss sowie gesellschaftliche Niedrigstellung bis hin zur Tötung von Menschen. Sie begründen außerdem Überlegenheitsansprüche (Suprematie), die sich in historischen Konjunkturen zu hierarchisch-vertikalen Gesellschaftsordnungen verdichten. Weltweit durchdringen und artikulieren rassistische Logiken bis heute viele politische und gesellschaftliche Konflikte (etwa die Diskussionen um politisch-religiöse Bewegungen oder als →ethnisch bezeichnete Konflikte) oder liefern deren Interpretation und Identifikationsmuster. Der Soziologe Michael Banton hat diese Entwicklung treffend als »racializing of the world« (1977 : 27ff.) bezeichnet und damit auch die Wandelbarkeit von Rassismus in der Geschichte betont. Rassistische Formationen setzen sich über Jahrzehnte und länger fort, verändern sich zugleich fortlaufend und bilden neue Figurationen heraus. Trotz dieser Beständigkeit muss betont und herausgearbeitet werden, wie dabei auch die Kritik am und der Widerstand gegen Rassismus stets zur »Auflösung von Normalismen, logisch erscheinenden Artikulationen, Ordnungen, Identitäten« (Demirovic 2008 : 26) beigetragen hat und weiterhin dazu beiträgt (vgl. Bojadžijev 2008). Die Kritik am Rassismus und am Begriff der Rasse artikulieren sich historisch unterschiedlich. Dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld wird maßgeblich zugeschrieben, als einer der Ersten unter dem Titel »Rassismus« eine Kritik an der natio
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nalsozialistischen Idee der Rassenreinheit publiziert zu haben, die er mit einer Empfehlung der Streichung des Begriffs Rasse verband (vgl. Hirschfeld 1938 : 57). Der historisch nach dem Nationalsozialismus diskreditierte Rassebegriff wird in Deutschland wenig genutzt. Auch durch den Einfluss anglophoner Debatten über Rassismus (auch in deutschen Texten auf Englisch und meist markiert genutzt : race) findet er neuerdings sowohl in antirassistischen aber auch rassistischen Konzepten wieder Verwendung. Dagegen wollten andere Positionen den Begriff des Rassismus zum Beispiel deshalb nicht nutzen, weil er den Rassebegriff reproduziere, da er auf eine wissenschaftlich nicht zu erhärtende Kategorie verweise (vgl. Institut für Sozialforschung 1994). Rassismus wird heute mehrheitlich kritisch eingesetzt, wiewohl er selbst in seiner Definition umstritten bleibt.
Wissenschaftsgeschichte(n) Analysen von Rassismus argumentieren entweder historisch-fallbezogen oder theoretisch. Im deutschen Sprachraum liegen wenige systematische Arbeiten zu Rassismus vor. Ein Forschungsprojekt zur »Genealogie der Rassismusforschung« in Deutschland (Bojadžijev et al. 2018) stellte fest, dass fundiertes Wissen über Rassismus immer noch schwach institutionalisiert und fragmentiert ist, auch wenn es in dieser Hinsicht seit den 1970er Jahren enorme Anstrengungen vorwiegend am Rande der Wissenschaft und in außerwissenschaftlichen Einrichtungen und Bewegungen gab. Die Rassismusforschung fand wenig Resonanz, außer zu Zeiten besonderer Ereignisse, nach Anschlägen und Übergriffen (etwa in der ersten Hälfte der 1990er Jahre), die jeweils kurzzeitig eine Fülle an Publikationen zur Folge hatten. Zudem basieren Forschungen zu Rassismus auf höchst unterschiedlichen Verständnissen und Annahmen über seine Funktionsweisen und nehmen sehr unterschiedliche Phänomene und Formationen in den Blick. Rassismustheorien und -analysen handeln oftmals von der Geschichte der Erfindung, der Transformation und Instrumentalisierung des Rassebegriffs. Eine Erkenntnis der Forschung lautet, dass Rassismus im Gespann mit strukturgleichen Begriffen (wie →Volk, →Nation, Ethnie (→ethnisch) oder →Kultur) auftritt und diese zu Metaphern wie etwa der »abendländischen Tradition« gebündelt werden. In den 1980er Jahren führte der Philosoph Étienne Balibar den Begriff »Neorassismus« (1992) ein, um dieses verdeckte Auftreten von Rassismus ebenso wie die historische Wandelbarkeit zeitdiagnostisch zu fassen. Einer der prominentesten Intellektuellen der antikolonialen Bewegungen sowie der Rassismusforschung war der französische Psychiater Frantz Fanon. Er
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untersuchte die fortdauernde koloniale Gewalt und den unerbittlichen Alltagsrassismus und interpretierte zugleich den gewaltvollen deutschen Nationalsozialismus als Invertierung des Kolonialismus auf dem europäischen Kontinent, also keineswegs als historische Ausnahme eines sonst zivilisierten →Europas (Fanon 1969). Fanon beobachtete und beschrieb, wie Rassismus die Psychopathologie und Praktiken der Kolonisierten ebenso wie der Kolonisierenden in seiner Wahlheimat Algerien prägte und wie sich diese im Zuge der politischen Auseinandersetzungen um den antikolonialen Widerstand wandelten. Fanons Studien sind in zahlreiche, einflussreiche Rassismustheorien eingegangen und bis heute relevant, insofern sie aus einer historischen Situierung von Rassismus erklären, wie durch den Widerstand antirassistischer Bewegungen Rassismus sich in seinen Konjunkturen wandelt. Insofern betonte Fanon das Relationale des Rassismus und zeigte, wie sich Subjekte in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und sehr konkreten Beziehungskonfigurationen konstituieren und bislang anerkannte (gruppenlogische, kulturelle, soziale etc.) Grenzen verschieben. Demnach finden die Selbstkonstruktion von →Identität und die Stiftung von Gemeinschaftlichkeit (→Gemeinschaft) sowohl unter jenen statt, die andere rassistisch abwerten und in die »rassistische Gemeinschaft« (Balibar 1992 : 24) symbolisch und materiell investieren, als auch unter denen, die durch Rassismus objektiviert werden (vgl. Opratko 2019). Diesem Verständnis von Rassismus folgend, haben Sozial- und Kulturwissenschaftler*innen in zum Teil ethnographischen Studien die Dynamiken rassistischer Verhältnisse untersucht und herausgearbeitet, wie rassistische Ideologien besonders dann Zusammenhalt und sozial-kulturellen Kitt bieten, wenn gesellschaftliche Verteilungskämpfe schärfer werden (vgl. Ege 2007) und Migrationsgesellschaften das bestehende rassistische »Zugehörigkeitsmanagement« unter Druck setzen (→Migration) (vgl. Mecheril 2014 ; El-Tayeb 2016).
Ausblick Mit der gesellschaftspolitischen Intervention der »Jenaer Erklärung«, die die Deutsche Zoologische Gesellschaft und die Friedrich-Schiller-Universität Jena 2019 veröffentlichten, konstatierten die unterzeichnenden Wissenschaftler*innen – wie schon zuvor Frantz Fanon – dass das Konzept der Rasse das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung sei : »Sorgen wir also dafür, dass nie wieder mit scheinbar biologischen Begründungen Menschen diskriminiert werden, und erinnern wir uns und andere daran, dass es der Rassismus ist, der
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›Rassen‹ geschaffen hat und die Zoologie/Anthropologie sich unrühmlich an vermeintlich biologischen Begründungen beteiligt hat. Der Nichtgebrauch des Begriffes ›Rasse‹ sollte heute und zukünftig zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehören«.4 Dieses Postulat der Anthropogenetiker*innen stellt in Alltag und Wissenschaft bis heute keinen Common Sense dar. Dennoch ist die für den Rassismus zentrale Konzeption von »Rasse« darüber (einmal mehr) wissenschaftlich disqualifiziert. Nach einer hier nur skizzenhaften Rückschau auf die Begriffsgeschichte zeigt sich, dass »Rasse« je nach Kontext und je nach Grad der Institutionalisierung viele Bedeutungen und Implikationen hat, je nach Zeit und Ort verschieden, sowohl rassistisch als auch emanzipativ eingesetzt wird und in jedem Fall als tendenziell »rein« und sich genealogisch entwickelnd im Sinne einer identitären Differenz konzipiert ist – wobei die »reine Differenz« nie gegeben ist (Sökefeld 2007). Sozial- und Kulturwissenschaften sollten vermeiden, differente soziale Gruppen so zu benennen, dass sie rassifizierend, ethnifizierend oder kulturalisierend definiert werden, womit ihre Existenz gerechtfertigt würde (→ethnisch →Kultur). Wichtig ist es demgegenüber zu untersuchen, wie Humandifferenzierungen und die ihnen zugrunde gelegten genealogischen Schemata produziert und reproduziert werden, wie durch ihre gesellschaftlichen Effekte Verwirrungen und Widersprüche be- und entstehen und wie schließlich ihre Normativität relativiert und unterlaufen werden kann. So würde die Instabilität von Rassismus untersucht und im besten Fall verstärkt. »Rasse« ist dementsprechend weniger als Kategorie zu denken, sondern als ein historisch »fließender Signifikant« (Hall 2021). Die feministische Rassismustheoretikerin Collette Guillaumin formulierte dafür treffend den paradoxalen Ausgangspunkt : »Race does not exist. But it does kill people« (Guillaumin 1995 : 107).
Literatur Balibar, Étienne (1992) : Gibt es einen »Neo-Rassismus« ? In : ders./Wallerstein, Immanuel : Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg, S. 49–87. Banton, Michael (1977) : The Idea of Race. London. Bojadžijev, Manuela (2008) : Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Mi gration. Münster. 4 Fischer, Martin/Hoßfeld, Uwe/Krause, Johannes/Richter, Stefan (2019) : Jenaer Erklärung. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung. URL : https:// www.uni-jena.de/190910_JenaerErklaerung [30. November 2020].
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Bojadžijev, Manuela et al. (2018) : Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre G eschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen. In : Beratungsnetzwerk Hessen (Hg.) : Leerstelle Rassismus. NSU und die Folgen. Schwalbach am Taunus, S. 59–73. Demirović, Alex (2008) : Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik. In : ders. (Hg.) : Kritik und Materialität, Münster, S. 9–40. Demirović, Alex/Paul, Gerd (1996) : Demokratisches Selbstverständnis und Herausforderung von rechts. Frankfurt am Main/New York. Ege, Moritz (2007) : Schwarz werden. »Afroamerikanophilie« in den 1960er und 1970er Jahren. Bielefeld. El-Tayeb, Fatima (2016) : Undeutsch : Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld. Fanon, Frantz (1969) : Aspekte der Algerischen Revolution. Frankfurt am Main. Geulen, Christian (2007) : Geschichte des Rassismus. München. Guillaumin, Collette (1995) : Racism, Sexism, Power and Ideology. London. Hall, Stuart (2021) : Selected Writings on Race and Difference. Durham. Hirschfeld, Magnus (1973 [1938]) : Racism. Kennikat. Hund, Wulf D. (o.J.) : Racism. The Birth of a Concept. URL : https://www.academia. edu/41989896/_Racism_The_Birth_of_a_Concept [30. November 2020]. Institut für Sozialforschung (1994) : Einleitung. In : dass. (Hg.) : Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Studien zur aktuellen Entwicklung. Frankfurt am Main/New York, S. 9–28. Mauss, Marcel (1990) : Die Gabe. Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main. Mecheril, Paul (Hg.) (2014) : Subjektbildung : interdisziplinäre Analysen der Migrationsgesellschaft. Bielefeld. Opratko, Benjamin (2019) : Im Namen der Emanzipation. Antimuslimischer Rassismus in Österreich. Bielefeld. Sökefeld, Martin (2007) : Problematische Begriffe : »Ethnizität«, »Rasse«, »Kultur«, »Minderheit«. In : Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) : Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin, S. 31–50.
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Kurzdefinition Sicherheit bedeutet die Abwesenheit von Bedrohung. Sicherheit ist zeit- und gesellschaftsgebunden und existiert stets in Beziehung mit Objekten und Akteur*innen. Zugleich gibt es ein individuelles und kollektives Grundbedürfnis nach Sicherheit. Sicherheit ist etwas, nach dem Menschen gesellschaftsübergreifend streben und das sie wertschätzen, unabhängig von ihrer Gesellschaftsform oder Schichtzugehörigkeit. Sicherheit wird immer erst dann zum Thema, wenn sie in Frage gestellt wird.
Gesellschaftliche Situation Im Mai 2016 eskortierten Sicherheitskräfte einen Mann noch vor dem Start aus einem American-Airlines-Flugzeug. Seine Sitznachbarin hatte einer Flugbegleiterin anvertraut, dass sie sich neben ihm nicht wohl fühle, da der Mann etwas in einer fremden Sprache gelesen habe – auf Arabisch, so ihre Vermutung. Dieser Umstand war für sie ausreichend, den Mann unter Terrorismusverdacht zu stellen ; sie sah sich außerstande, mit ihm im selben Flugzeug zu sitzen. Der verdächtige Mann musste daraufhin das Flugzeug verlassen und wurde verhört. Schnell stellte sich heraus, dass er weder »Terrorist« noch »Araber« war, sondern ein Wirtschaftswissenschaftler einer amerikanischen Elite-Universität, der sich auf dem Weg zu einer Konferenz befand. Die seltsamen Buchstaben, die seine Sitznachbarin für arabische Schriftzeichen gehalten hatte, waren tatsächlich höhere Mathematik, Differentialgleichungen. Diese Episode ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Sicherheitsdiskurse und →Angst die Lebenswelten von Menschen auf ganz unterschiedliche Weise regieren und einschränken können. Nach dem 11. September 2001 häuften sich mediale Berichte über Passagiere, die insbesondere in den USA aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Sprache Flugzeuge verlassen mussten. Arabisch im Flugzeug zu sprechen, als Muslim markiert zu werden (→Islam) oder, wie in dem oben erwähnten Fall, auch nur verdächtigt zu werden, Arabisch zu lesen, erzeugt
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bei manchen Menschen eine Vielfalt an Bildern, Bedrohungsszenarien und Emotionen, verbunden mit dem dringenden Wunsch, die durch den »arabischen Terroristen« repräsentierte Bedrohung zu eliminieren und damit die eigene Angst zu bekämpfen. Auf der anderen Seite erfährt der auf diese Weise als »Terrorist« markierte Wissenschaftler eine Erschütterung und Bedrohung seiner eigenen Sicherheit. (Un-)Sicherheit äußert sich über Bilder, Praktiken und Diskurse und ist räumlich verankert. Gesellschaftlich bilden sich vielerorts gated communities als Antwort und Lösungsversuch für subjektive Unsicherheitsgefühle (vgl. Low 2001). Solche privilegierten, abgeschlossenen Wohnkomplexe stellen ein Beispiel dafür dar, wie räumliche Praktiken und das subjektive Gefühl von (Un-)Sicherheit und Geborgenheit mit Praktiken der Zugehörigkeit und der Herstellung von Sicherheit zusammengehen und ironischerweise oft neue Unsicherheiten vor der Welt »dort draußen« schüren. In dem Versuch, das Sichere vom Unsicheren zu scheiden, zeigt sich, dass Grenzen ein integraler Bestandteil von (Un-)Sicherheitsräumen sind. So kann das bloße Errichten oder auch die Abschaffung einer Grenze einen gänzlich neuen perzeptiven Raum herstellen, auch wenn dieser Raum lediglich auf Vorstellungskraft beruht. Beispielsweise rückte mit der vollständigen Umsetzung des Schengener Abkommens in den östlichen Nachbarländern Österreichs und dem damit verbundenen Abbau der Grenzkontrollen die Staatsgrenze ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Landes (→Nationalstaat). In diesem Zuge verwandelte sich das bis dahin als »sicher« angesehene Österreich für zahlreiche rechtspopulistische und -extremistische Akteur*innen plötzlich in ein Land im Belagerungszustand (→Populismus) (vgl. Schwell 2011).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Ein grundlegendes Sicherheitsgefühl ist für die psychische und physische Entwicklung und Entfaltung des Menschen unerlässlich und ein menschliches Grundbedürfnis. Zum Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit gehören jedoch auch Kontextfaktoren, die dies erst ermöglichen. Das Englische ist hier präziser als die deutsche Sprache und unterscheidet die unterschiedlichen Dimensionen von Sicherheit, die das Deutsche mit einem einzigen Wort beschreibt : certainty (Gewissheit und Eindeutigkeit), safety, »bezogen auf den (Selbst-)Schutz der Person, von Familie, Körper und Wohlergehen«, und security, »als die institutionell organisierte und regulierte Sicherheit der Öffentlichkeit, einer abstrakten Allge-
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meinheit oder auch des Staats« (Eisch-Angus 2019 : 113). All diese Dimensionen existieren nicht strikt getrennt voneinander, sondern greifen ineinander. Menschen haben ein Recht auf Sicherheit in allen drei Dimensionen. Das Recht auf Sicherheit in einem weiten, umfassenden Sinne ist ein Menschenrecht, das nach dem Zweiten Weltkrieg an mehreren Stellen in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Eingang fand. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wurde hier ebenso verankert wie das Recht auf soziale Sicherheit, das als Grundvoraussetzung gesehen wird, um andere bürgerliche Rechte in Anspruch nehmen zu können. Diese Rechte bedürfen der staatlichen Umsetzung und basieren zugleich auf der Voraussetzung, dass der Staat selbst seine Sicherungsfunktion erfüllen kann. Denn nur derjenige Staat ist souverän, der in der Lage ist, der Bevölkerung innerhalb seines Territoriums Sicherheit zu garantieren, und dies sowohl im Inneren wie vor äußeren Bedrohungen (→Nationalstaat). Aus dieser völkerrechtlichen Definition von Staatlichkeit folgen die getrennten Politikfelder der äußeren und der inneren Sicherheit. Welche Rolle der Staat in Bezug auf die Sicherheit der Bevölkerung einnehmen soll, ist seit Jahrhunderten Gegenstand philosophischer und politikwissenschaftlicher Diskussionen. Während bereits im 17. Jahrhundert der Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes die Sicherheit des Staates zum Primat erhob, sah der Philosoph John Locke die vorrangige Notwendigkeit, die Bürger vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Entsprechend befindet sich Sicherheit in einem permanenten Spannungsverhältnis mit dem Begriff der Freiheit. Hier stehen sich zwei Konzepte scheinbar unversöhnlich gegenüber, die stets aufs Neue ausgehandelt werden müssen. Nicht jeder Staat ist in der Lage oder willens, seinem Sicherheitsversprechen nachzukommen. Entsprechend haben sich die Vereinten Nationen seit den 1990er Jahren dem Schutz der human security verpflichtet. Dabei folgen sie einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der sich dem ganzheitlichen Schutz der individuellen Sicherheit verschreibt. Damit sind neben politischer und gesellschaftlicher Sicherheit auch Bereiche wie wirtschaftliche, gesundheitliche oder Ernährungssicherheit im Fokus. Im Zuge der Diskussion um Klimagerechtigkeit rückt zudem seit Beginn der 2000er Jahre die Frage der human security für vom Klimawandel betroffene Gesellschaften in den Blick (vgl. Scheffran et al. 2012). Was in einer Gesellschaft als sicher oder unsicher gilt, welches Maß an (Un-) Sicherheit als zumutbar festgelegt wird und wie dieses Recht sich in Politiken wiederfindet, unterliegt historischem und gesellschaftlichem Wandel. Auch wenn das Menschenrecht Sicherheit prinzipiell umfassend gewährleisten soll, so legen in der
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Praxis Sicherheitspolitiken sowie Gesetze und Sicherheitsrecht eine Verteilungslogik von persönlicher und gesellschaftlicher Sicherheit fest. Dass als Referenzobjekte der (Un-)Sicherheit historisch häufig Akteur*innen oder Gruppen, wie Protestbewegungen, fokussiert wurden, die die staatliche Macht oder hegemoniale Diskurse herausfordern, verdeutlicht, dass (Un-)Sicherheit Subjekten und Objekten nicht qualitativ inhärent ist, sondern auf Zuschreibungen beruht. Wer oder was als Quelle von (Un-)Sicherheit qualifiziert wird, ist zwar historisch wandelbar, geschieht jedoch nicht zufällig, sondern ist eine politische und zugleich moralische Setzung sowie Spiegel der jeweils herrschenden Machtverhältnisse. Vorstellungen von Sicherheit und Sicherheitsbedrohungen sowie Politiken der (Un-)Sicherheit stützen sich auf eine Fülle tradierter Bilder und Erzählungen, von denen viele tief im Gesellschaftsleben, im Alltag und der jeweiligen Vorstellungswelt verankert sind. Das gilt beispielsweise für mediale, aber auch besonders für im Bildungsprozess erlernte oder populärkulturelle Narrative, die Beheimatungen emotional vermitteln und sie natürlich erscheinen lassen (→Heimat). Dabei privilegieren sie bestimmte Perspektiven und grenzen andere aus. Vorstellungen vom bedrohlichen Anderen, sei es der Nachbarstaat, Migrant*innen oder die Nachbar*innen von nebenan, stützen sich auf Geschichten, die wir einander erzählen, und auf stereotype Darstellungen, die zum Beispiel durch die Medien über die »Anderen« weitergetragen werden und in denen ihre »Andersheit« bekräftigt wird (→Migration). Diesen Vorgang zeichnete Edward Said (1979) in seinem Werk über den Orientalismus nach und zeigte, wie die koloniale Repräsentation der »Anderen« als Wissensregime und als diskursives System funktioniert, das so autoritativ und auch über die Zeit hinweg bis in die Gegenwart dominant ist, dass es für den Einzelnen nahezu unmöglich ist, sich dem zu entziehen. Die Medien, insbesondere der Boulevard, sind nicht der einzige, aber ein mächtiger Akteur bei der Verbreitung und Perpetuierung von (Un-)Sicherheitsvorstellungen. Seit dem 11. September 2001 spielen die öffentlichen Medien und zunehmend auch die sozialen Medien eine immer wichtigere Rolle dabei, →Angst vor Terrorismus zu beschwören und Muslim*innen und/oder Geflüchtete diskursiv mit Terrorismus zu verknüpfen (→Flüchtling →Islam).
Wissenschaftsgeschichte(n) Obwohl Sicherheit ein unabdingbares Element des menschlichen Lebens, von →Kulturen und Gesellschaften ist, spielte die Sicherheitsforschung als eigenes Untersuchungsfeld in den Sozial- und Kulturwissenschaften bis auf wenige Aus-
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nahmen lange Zeit keine nennenswerte Rolle. Zwar haben sich viele Disziplinen implizit oder explizit mit Fragen der Sicherheit und Unsicherheit befasst, diese jedoch häufig unter andere dominante Perspektiven und Schlüsselkonzepte wie etwa Räume (→Heimat), →Bräuche, →Verwandtschaft oder soziale Strukturen, die potentiell Sicherheit versprechen, subsumiert, wohingegen soziale Transformationen, Revolutionen, Kriege und ökonomische, ökologische oder epidemiologische Krisen der Unsicherheit zugeschrieben werden, die die Wahrnehmung der sozialen Welt sowie die Antizipation der Zukunft destabilisieren (→Angst →Globalisierung →Moderne). Die Sozialanthropologin Mary Douglas hat in diesem Zuge herausgestellt, dass gesellschaftlich ausgehandelte und etablierte Tabus und Moralvorschriften (→Werte) für Stabilität und damit für Sicherheit innerhalb sozialer Gruppen sorgten ; sie zögen Grenzen zu anderen Gruppen und sicherten so das Innere (vgl. Douglas 1984). Eine Sicherheitsforschung im engeren Sinne entstand nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der Internationalen Beziehungen, einem Teilgebiet der Poli tikwissenschaft, vorrangig in den USA. Lange Zeit handelte es sich dabei in erster Linie um strategische Studien, die sich auf die Sicherheitsinteressen und das Bestehen des Staates im internationalen politischen System des Kalten Krieges konzentrierten und einen entsprechend engen Sicherheitsbegriff anwandten. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich innerhalb der Internationalen Beziehungen in Europa eine »Kritische Sicherheitsforschung« (Buzan et al. 1998). Diese entwarf einen weitgefassten und konstruktivistischen Sicherheitsbegriff, der so gut wie alles einschloss, wovor Menschen →Angst haben können. Im Fokus der Sicherheitsüberlegungen stand nun nicht mehr allein der Staat, sondern auch andere gesellschaftliche Themen und Domänen : So wurden etwa Wirtschaft, Umwelt oder auch →Identität konzeptuell als Sicherheitsthemen analysiert (→Kultur). Darüber hinaus prägten die »Kritischen Sicherheitsstudien« den Begriff der securitization (»Versicherheitlichung«), um den Inszenierungscharakter und die Performativität von Sicherheit zu betonen. Damit strichen sie das Prozessuale von Sicherheitsbedrohungen und -maßnahmen sowie ihre inhärenten Machtasymmetrien heraus (vgl. Balzacq 2011). Dies führte zu der Erkenntnis, dass Versicherheitlichungen dann erfolgreich sind, wenn sie strukturell in den gesellschaftlichen Diskurs eingebettet sind, der eine Interpretation eines Phänomens vorgibt und damit eine Lesart privilegiert. Soziologische Studien fokussieren seit den 1980er Jahren auf Auswirkungen von Sicherheitsdiskursen und -politiken auf Gesellschaften und soziale Lebenswelten (vgl. Groenemeyer 2010). Der Soziologe Anthony Giddens spricht von der »ontologischen Sicherheit« als einer Art Grundvertrauen der meisten Menschen
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in die Beständigkeit ihrer eigenen →Identität und ihrer sozialen und materiellen Umgebung (Giddens 1990 : 92). Wir brauchen das Gefühl der Vorhersehbarkeit und Planbarkeit sowie die Gewissheit, dass die Welt morgen noch so sein wird wie heute. Dagegen umfasst Unsicherheit dem Soziologen Zygmunt Bauman zufolge drei Dimensionen : »[I]nsecurity (of position, entitlements and livelihood), of uncertainty (as to their continuation and future stability) and of unsafety (of one’s body, one’s self and their extensions : possessions, neighbourhood, community)« (Bauman 2000 : 161). Für Bauman sind diese Formen der Unsicherheit Kennzeichen einer zunehmend unübersichtlich werdenden und sich entgrenzenden Welt (→Globalisierung →Moderne). Dabei geht es nicht allein um körperliche Unversehrtheit, sondern um Gewissheiten wie den sozialen Status, Auskommen, Beruf, Lebensplanung oder auch nur den Baum vor dem Haus. Eine wichtige Schnittmenge eröffnet der Begriff des »Risikos« (vgl. Douglas/ Wildavsky 1982) bzw. der »Risikogesellschaft« (vgl. Beck 1986). In diesen Ansätzen stehen das Risikobewusstsein, aber auch die Ängste innerhalb einer spätmodernen Welt, die durch zunehmende Komplexität gekennzeichnet ist und immer weniger beherrschbar zu sein scheint, im Vordergrund (→Angst →Moderne). Eng verbunden mit dem sicherheitspolitischen Risikobegriff ist das Konzept der Resilienz, das auf die Disposition von Systemen, Gesellschaften oder auch Individuen abhebt, Störungen zu antizipieren, zu tolerieren und sich zu regenerieren (vgl. Lentzos/Rose 2008 : 99), dessen Implikationen für Gesellschaften in Krisenzeiten jedoch kritisch diskutiert werden (Reckwitz 2021). Eine zentrale Rolle spielte Sicherheit bereits in der Diskurstheorie des Philosophen Michel Foucault in den 1970er Jahren. Diese Theorierichtung widmet sich der Sicherheit im Sinne eines wirksamen Macht- und Kontrollinstruments. Foucault unterscheidet Sicherheitsmaßnahmen von Disziplinarmaßnahmen ; Erstere zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht auf totale Kontrolle und Überwachung ausgerichtet seien, sondern Unsicherheit explizit eingeplant werde, indem die Grenzen des Akzeptablen definiert würden und damit zugleich ein Rahmen festgelegt werde, wie viel Unsicherheit eine Gesellschaft aushalten müsse (vgl. Foucault 2006). In dieser Tradition stehen unter anderem die interdisziplinären Surveillance Studies, die sich etwa seit der Jahrtausendwende mit unterschiedlichen Formen der Überwachung und Überwachungstechnologien und -rationalen – von Überwachungskameras und Big Data über Biometrie bis hin zu digitalen Technologien der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung – beschäftigen (vgl. Zurawski 2007). Mit dem Begriff der Sicherheitsgesellschaft wird die übergreifende Relevanz von Sicherheit im Sinne eines Schlüsselkonzepts spätmoderner Gesellschaften gefasst,
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das eine Zunahme von Professionalisierung, Kontrollinstanzen, Sicherheitstechnologien und die Etablierung dieser Praktiken und Diskurse als Teil der sozialen Ordnung beschreibt (vgl. Eisch-Angus 2019). Mit dem weiten Sicherheitsbegriff der Kritischen Sicherheitsstudien, der Machtfrage sowie dem Fokus auf die lebensweltliche Handlungsperspektive wurde die Sicherheitsforschung auch für die Kulturwissenschaften, speziell die Europäische Ethnologie und die Kultur- und Sozialanthropologie, ab den 2000er Jahren international anschlussfähig. Kennzeichnend für zeitgenössische kulturanthropologisch-ethnologische Forschungen ist das Primat der Praxis und der Akteursperspektive. Anstatt ein für alle Mal zu definieren, was Sicherheit bedeutet, analysieren Ethnolog*innen und Kulturanthropolog*innen lokal spezifische (Un-)Sicherheitsverständnisse, die kollektiv wie auch individuell erlebt und geschaffen werden. Verschiedene Akteur*innen sind Teil des Prozesses der Aushandlung, Definition, Herstellung, Herausforderung, Entwicklung und Gestaltung von (Un-)Sicherheit. Das Ziel der kulturanthropologisch-ethnologischen Sicherheitsforschung ist es zu klären, was (Un-)Sicherheit für Akteur*innen in spätmodernen Gesellschaf ten unter Bedingungen von →Globalisierung und gesellschaftlicher Ungleichheit bedeutet. Zugleich eruiert sie die Rolle, die Politik, Medien, Alltag, Technologien, Architektur und Infrastrukturen für die gesellschaftliche Konstruktion von (Un-)Sicherheit spielen. Für das Eingangsbeispiel würde dies bedeuten, dass eine kulturanthropologisch-ethnologische Sicherheitsforschung untersucht, wie Sicherheitsdiskurse und -praktiken mit Ängsten und emotional aufgeladenen rassistischen Darstellungen zusammenspielen (→Angst →Rassismus), welche Erfahrungsdimensionen dies für alle beteiligten Akteur*innen beinhaltet und in welcher Wechselwirkung dies wiederum mit Politiken, Moral- und Rechtsvorschriften steht. Analysiert wird mithin die Relevanz von (Un-)Sicherheit in unterschiedlichen und miteinander verflochtenen gesellschaftlichen und kulturellen Arenen und Ebenen (vgl. Schwell/Eisch-Angus 2018).
Ausblick Unsicherheiten und subjektives Sicherheitsgefühl werden durch die mediale Berichterstattung, den politischen und öffentlichen Diskurs, Technologien, Infrastrukturen, Gesetze und Politiken geprägt. (Un-)Sicherheitsgefühle basieren auf tradierten Bildern und reproduzieren Stereotype, die durch Erzählungen, Populärkultur und Bildung vermittelt werden. Was Sicherheit an einem bestimmten
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Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt für wen bedeutet, unterliegt intersubjektiven Aushandlungen, symbolischen Interpretationen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Spätmoderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein ambivalentes Verhältnis zu (Un-)Sicherheit aus. Zwar praktizieren sie zunehmende Überwachung und Lenkung durch Algorithmen, Datensammlungen und biometrische Technolo gien. Doch trotz dieser immer umfassenderen und nicht zuletzt häufig auch selbstgewählten Selbst-Versicherheitlichung bleibt das Gefühl bestehen, sich in einer Art »Zeitalter der Unsicherheit« zu befinden (vgl. Samimian-Darash/Rabinow 2015). Paradoxerweise fungiert (Un-)Sicherheit im einen wie im anderen Fall als nicht zu unterschätzender gesellschaftlicher Kitt und verspricht eine unverwechselbare →Identität. (Un-)Sicherheit prägt sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene das Selbst- und Fremdbild von Akteur*innen, ihre Wahrnehmung, Erfahrung und Antizipation von Ereignissen und Emotionen prägt. (Un-)Sicherheiten in all ihren Dimensionen stets zu hinterfragen und zu analysieren, ist eine permanente gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufgabe.
Literatur Balzacq, Thierry (2011) : A Theory of Securitization : Origins, Core Assumptions, and Variants. In : ders. (Hg.) : Securitization Theory. How Security Problems Emerge and Dissolve. London/New York, S. 1–30. Bauman, Zygmunt (2000) : Liquid Modernity. Malden. Beck, Ulrich (1986) : Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Buzan, Barry et al. (1998) : Security : A New Framework for Analysis. Boulder. Douglas, Mary (1984) : Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London/New York. Douglas, Mary/Wildavsky, Aaron (1982) : Risk and Culture. An Essay on the Selection of technical and environmental Dangers. Berkeley. Eisch-Angus, Katharina (2019) : Absurde Angst-Narrationen der Sicherheitsgesellschaft. Kulturelle Figurationen : Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Wiesbaden. Foucault, Michel (2006) : Geschichte der Gouvernementalität 1 : Sicherheit, Territorium, Bevölkerung : Vorlesung am Collège de France 1977/1978. Frankfurt am Main. Giddens, Anthony (1990) : The Consequences of Modernity. Cambridge. Groenemeyer, Axel (Hg.) (2010) : Wege der Sicherheitsgesellschaft : Gesellschaftliche Transformationen der Konstruktion und Regulierung innerer Unsicherheiten. Wiesbaden. Lentzos, Filippa/Rose, Nikolas (2008) : Die Unsicherheit regieren : Biologische Bedrohun-
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gen, Notfallplanung, Schutz und Resilienz in Europa. In : Purtschert, Patricia/Meyer, Katrin/Winter, Yves (Hg.) : Gouvernementalität und Sicherheit : zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault. Bielefeld, S. 75–102. Low, Setha M. (2001) : The Edge and the Center : Gated Communities and the Discourse of Urban Fear. In : American Anthropologist 103(1), S. 45–58. Maguire, Mark et al. (2014) : The Anthropology of Security : Perspectives from the Frontline of Policing, Counter-Terrorism and Border Control. London. Reckwitz, Andreas (2021) : Die Politik der Resilienz und ihre vier Probleme. In : Der Spiegel 10. URL : https://www.spiegel.de/psychologie/corona-und-politische-resilienz-was- wir-aus-der-krise-lernen-sollten-a-3cea4d87-0002-0001-0000-000176138623 [30. Juni 2021]. Said, Edward (1979) : Orientalism. New York. Samimian-Darash, Limor/Rabinow, Paul (Hg.) (2015) : Modes of Uncertainty : Anthropological Cases. Chicago/London. Scheffran, Jürgen et al. (Hg.) (2012) : Climate Change, Human Security and Violent Conflict : Challenges for Societal Stability. Hexagon Series on Human and Environmental Security and Peace. Berlin/Heidelberg. Schwell, Alexandra (2011) : Zur De/Konstruktion des Ostens als Sicherheitsbedrohung. In : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXV/114(1), S. 25–50. Schwell, Alexandra/Eisch-Angus, Katharina (Hg.) (2018) : Der Alltag der (Un)Sicherheit. Kulturwissenschaftlich-ethnographische Perspektiven auf die Sicherheitsgesellschaft. Berlin. Zurawski, Nils (Hg.) (2007) : Surveillance Studies. Perspektiven eines Forschungsfeldes. Opladen.
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Tradition
Kurzdefinition Der Begriff Tradition benennt Anlässe, Tätigkeiten oder auch Verhaltensweisen, von welchen eine stete Wiederkehr bzw. eine Verankerung im sozialen Miteinander erwartet oder erhofft wird. Der Begriff bezeichnet vom Alltag abgehobene Ereignisse und kulturelle Praktiken. Traditionen betonen neben einer örtlichen oder kulturellen Spezifik den Wert von Hergebrachtem und Beständigem. Sie stehen im Gegensatz zu habitualisierten kulturellen Verhaltensweisen, die Menschen mehr oder weniger unreflektiert ausüben. Tradition wird ähnlich dem →Brauch organisiert und praktiziert sowie als eine Ressource sozialer, ideeller und ökonomischer Natur eingesetzt.
Gesellschaftliche Situation Die Verabschiedung der UNESCO-Konvention für das immaterielle →Kultur erbe im Jahr 2003 ist einer der jüngsten Schritte in einer lange beobachtbaren Pflege von Traditionen als wertvolles, weil regional, →ethnisch oder national »typisches« Kulturgut (→Kultur). Der Warnruf »vom Aussterben bedroht«, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sorge vor dem Verschwinden von Traditionen wuchs, findet sich bis heute in Zeitungsmeldungen zu Brauchtum, Handwerk oder traditionellem Pflanzenwissen. Darum setzen sich Individuen und Vereine dafür ein, sie zu erhalten, auch wenn – oder gerade weil – ihr Zusammenhang mit Arbeitsrhythmen oder religiösen Erinnerungen für den Großteil der Bevölkerung an Relevanz eingebüßt hat. Vor mehr als einem Jahrhundert war es die sich stetig modernisierende und technisierende Lebenswelt, die Anlass gab, bäuerliche Erntedankbräuche oder frühurbane Schützenfeste zu feiern und so verflossene Zeiten in nostalgischer Manier aufrechtzuerhalten (→Brauch). Heute schaffen lokale »Traditionen« wie die Dorfkirmes oder die nur in der eigenen Region erhaltene Pferdewallfahrt einen beschränkenden, auf das »Eigene« bezogenen Horizont und Sinn innerhalb eines Alltags, der längst global vernetzt ist (→Globalisierung). Dass Zeit vergeht und der Raum sich geöffnet hat, ist eine Erfahrung, die zum Beispiel über wiederkehrende, die →Gemeinschaft zusam-
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menführende Feiern gleichzeitig wahrgenommen und zumindest für die Dauer des Ereignisses im Bann gehalten werden (vgl. Bausinger 1961 ; 1969 ; 1991). Das ökonomische Potential von →Traditionen, das sich parallel zur Entwicklung von Tourismus entfaltet hat, ist global ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Wer Gäste beherbergt und möchte, dass diese länger verweilen, lässt sie teilhaben an der »lokalen Kultur« und sieht zu, dass sich Traditionsanlässe während der Hauptreisezeiten bündeln oder dass ein Reisezeitpunkt beworben wird, an dem Traditionen stattfinden. Manche Tradition, wie etwa das Unspunnenfest im schweizerischen Interlaken, entstand geradezu, um den ersten Tourist*innen 1805 eine Darbietung von alpinen →Bräuchen zu bieten, die in dieser gebündelten Form noch nie zuvor als Tradition gefasst worden waren (vgl. Bendix 2018 : 23ff.). Und etablierte Traditionen, wie etwa der Karneval im belgischen Binche, erfuhren durch neue, schnellere Verkehrsmittel wie die Eisenbahn überhaupt erst einen Besucher*innenaufschwung (vgl. Tauschek 2010). In der Gegenwart ist eine beeindruckende Zunahme an Traditionsspurensuchen oder -erfindungen zu beobachten. Verschiedene Sommerkarnevale haben sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet und damit den Begriff und die Semantik des im christlichen Jahreslauf eingebetteten Karnevals neu gefasst. Die zunehmend säkulare Gesellschaft und ein um wirtschaftliches Wohlergehen bemühtes Kulturmarketing führen zur Neuplatzierung und mit neuen Bedürfnissen konfrontierten Traditionssuche. Bei allem Interesse an einer geschichtserinnernden und identifikationsstärkenden Aufrechterhaltung von Traditionen schwingt in vielen Nutzungen traditioneller Feiern, Ausstellungen hergebrachten Handwerks und Zelebrieren lokaler Speisetraditionen also eine wirtschaftliche Begründung mit : →Kultur ist vielerorts eine der wenigen erneuerbaren Ressourcen ; sie zu nutzen gilt entsprechend nicht als Frevel, sondern als Notwendigkeit. Somit lässt sich von einem »Kulturerbe-Regime« sprechen (Bendix/Eggert/Peselmann 2012). Dieses gibt Ansporn dazu, das vorhandene Traditionsrepertoire auf nominierungstaugliche Elemente für nationales, europäisches oder globales →Kulturerbe zu inventarisieren und im touristischen Kontext zu kapitalisieren. Gleichzeitig erneuern sich die Bewertungskriterien in Handreichungen der internationalen ebenso wie der nationalen UNESCO-Bürokratien. So legen Expert*innenkomitees heute Wert auf eine »offene, inklusive und partizipative Traditionspflege« und durchsuchen Bewerbungsdossiers nach Erläuterungen zur Wandlungsfähigkeit der lebendigen Tradition.1 Die Verschiebung hin zu der 1 Vgl. UNESCO : Immaterielles Kulturerbe werden. URL : https://www.unesco.de/kultur-und-natur/ immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-werden [30. August 2020].
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Rolle von →Gemeinschaften in der Aufrechterhaltung traditioneller kultureller Praxen sowie die Schaffung einer UNESCO-Konvention zur Diversität widerspiegeln ein Grundelement von Tradition, das im Widerspruch zu ihrer konservativen Definition als bewahrende Praxis steht : Menschen erfinden Traditionen, wenn sie dafür Bedarf haben.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Im lateinischen Verb tradere und der daraus abgeleiteten traditio, woraus der Begriff im 15. Jahrhundert im Deutschen übernommen wurde, schwingt eine Zweideutigkeit mit : Zwischen übergeben, anvertrauen oder erzählen einerseits und ausliefern und verraten andererseits spannt sich ein Bedeutungsfeld auf, das sich heute im allgemeinen Sprachgebrauch verschoben hat zu einer meist positiv gedeuteten Bezeichnung : Wiederkehrende Jahres- und Lebenslauffeste, aber auch »hergebrachtes« Wissen und Können wie im Handwerk werden darunter gefasst. In Traditionen wurde über lange Zeit die »Echtheit« von vormodernen bzw. vorindustriellen Lebensstilen lokalisiert. Erst ein Hinterfragen davon, wer die Macht in Händen hielt, Unterscheidungen zwischen »echten« und vermeintlich »unechten« Traditionen zu treffen, verdeutlichte die von spezifischen Akteur*innen gesetzte und damit konstruierte Natur von Traditionen (vgl. Bendix 1997). Der Traditionsbegriff zeigt die enge Verflochtenheit der gesellschaftshistorischen Bedeutung mit wissenschaftlichen Aktivitäten auf : Die Bedeutungsaufladung von Traditionen im Zuge der Einführung des immateriellen Kulturerbes mit seinem Schwerpunkt auf Tradition in den Reigen von UNESCO-Konventionen zum Schutz und zur Wertschätzung kultureller Güter ist nicht zuletzt ethnographisch-ethnologisch tätigen Fächern geschuldet : Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss begleitete die Genese der Weltkulturerbekonvention von 1972. Der indisch-amerikanische Kulturanthropologe Arjun Appadurai brachte sich in die Formulierung der Deklaration für Universal Cultural Diversity ein. Und der finnische Folklorist Lauri Honko kämpfte für eine UNESCO-Anerkennung mündlicher Traditionen (1989). An seinem Beispiel lässt sich der wissenschaftliche Wandel des Traditionsverständnisses besonders gut illustrieren. Honko agierte über Jahre auf internationalem Parkett für eine Anerkennung von Folklore – für ihn identisch mit Tradition. Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er mit einem Konzept »unverdorbener« oder »reiner« Tradition. In der Folge entwickelte er eine Position, die Wandlungsprozesse betonte und sowohl politische wie wirtschaftliche Motivationen in Traditionsbildungen anerkannte (vgl. Honko
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1985 ; 1990). Er verdeutlichte die Wechselwirkungen zwischen Communities und Forscher*innen, die gemeinsam an Traditionsdiskursen und deren gesellschaftlicher Wahrnehmung arbeiteten.
Wissenschaftsgeschichte(n) Über lange Zeit war Tradition ein zentraler, unhinterfragter Bestandteil des Fachvokabulars von Volkskunde, Folkloristik und verwandten Ethnowissenschaften. So schrieb der Volkskundler Richard Weiss : »Traditionsgebundenheit haftet zwar jedem Menschen und damit allen sozialen Schichten an. Doch […] der Forscher [hat] die Tradition mindestens aus den wissenschaftlichen Bereichen seines Denkens wirklich verdrängt« (Weiss 1946 : 19). Der Folklorist Dan Ben-Amos kritisierte noch fast 40 Jahre später, dass der Begriff behandelt werde, als ob er keine Definition brauche (Ben-Amos 1984 : 87f.). Die Kritik am Konzept der Tradition setzte nicht von ungefähr in den 1960er Jahren ein. In dieser Zeit dekonstruierten Wissenschaftler*innen sowohl die nationalistischen als auch die wirtschaftlichen Verwertungen von Traditionen und eröffneten eine kritische Auseinandersetzung mit fachgeschichtlichen Fragen und der Vermittlung von Fachwissen in die Öffentlichkeit. Gerade deshalb lohnt es, die wissenschaftliche Geschichte des Traditionsbegriffs in der Gegenwart und mit der Inwertsetzung von Traditionen durch die UNESCO zu beginnen. Deren Beurteilungskriterien umfassen Qualitäten, die in der Empirischen Kulturwissenschaft im Laufe von gut 200 Jahren als Merkmale von Tradition gefasst worden waren. Gleichzeitig wird im UNESCO-Prozedere die Politik dessen, was als Tradition gilt, besonders deutlich (vgl. Hertz et al. 2018). In gewisser Weise bestätigt die Einverleibung des immateriellen →Kulturerbes in ein globales Werteregime die seit den 1960er Jahren steigende kulturwissenschaftliche Kritik am einst unhinterfragten Traditionsbegriff. Vor dieser aktiven wissenschaftlichen Teilhabe an der Institutionalisierung von Kulturerbe hatten zwei britische Historiker den Traditionsdiskurs nachhal tig erschüttert. Mit ihrem 1983 erschienenen Sammelband »The Invention of Tradition« zeigten Eric Hobsbawm und Terence Ranger, dass manches, was den Anschein zeitloser Tradition hatte, über detaillierte Quellensuche mit einem datierbaren Erfindungsmoment verbunden werden konnte (Hobsbawm/Ranger 1983). Was Hobsbawm in der Einleitung formulierte, war interdisziplinär greifbar und eingängig, indem er (erfundene) Tradition und →Brauch kontrastierte. Erstere charakterisierte er als invariant und beständig, wohingegen Bräuche stets
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veränderlich seien und gesellschaftlichen Wandel hervorriefen (vgl. Hobsbawm 1983 : 2f.). In dieser Fassung von »Brauch« zeichnet sich bereits die heute kulturwissenschaftlich vorherrschende praxeologische Auffassung ab, während »Tradition« als materielles und symbolisches Instrumentarium summiert wird, mit welchem auf Herkommen, Geschichte und damit Legitimation der Akteur*innen verwiesen wird. Hobsbawms Formulierung ist in der Rückschau weit weniger durchdacht als Vieles, was in ethnographisch fundierten Fächern ausgearbeitet worden war (vgl. Noyes 2009). Nichtsdestotrotz bot er eine handliche Differenzierung, die gut zu bereits etablierten, empirisch grundierten Blickrichtungen auf Prozesse und Performanzen passte. Ihre Erkenntnis wurde quer durch die Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften aufgenommen und war Anlass zu vielen Studien nicht nur, aber vor allem zur Traditionsnutzung zwecks Nations(er) findung (→Nationalstaat). Zuvor hatte es bereits wissenschaftliche Studien gegeben, die von den Autoren nicht rezipiert worden waren und die die Instrumentalisierung von Tradition im nation building in Fallstudien aufzeigten (vgl. Oinas 1978 ; Handler/Linnekin 1984). In den Kulturwissenschaften fokussierte man infolgedessen das Begriffspaar »Tradition und Innovation«, wie etwa in Auseinandersetzungen um das »gesunkene Kulturgut« versus die Kreativität und damit der »Erfindergeist im Volksmund« aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (vgl. Hafstein 2004) : Forscher*innen jener Zeit waren sich uneins, ob nur eine Oberschicht zur Innovation befähigt sei, das →Volk dagegen in gleichbleibende Traditionen gebunden, oder ob auch das »Volk« kreativ und innovativ handeln könne. In der Folge beforschten Ethnolog*innen erfundene und instrumentalisierte Traditionen. Ben-Amos skizzierte die sukzessive Verschiebung des Traditionsverständnisses in der Wissenschaft (Ben-Amos 1984) : Es gab die frühen Beschreibungen von Traditionen als »Wissen des Volkes«, die zum relevanten Forschungsgegenstand eines eher historisch orientierten Faches wurden. Strukturalistische Impulse verlagerten das Interesse, und Tradition erschien nun eher als dynamischer Wissensfundus, aus welchem Akteur*innen stets neue Performanzen erschaffen konnten. Aus der Erzählerin, die eine frühere Forschung als traditionsgebunden und stets gleich erzählend verstand, wurde eine aktive Figur, die Geschichten stets neu ausgestaltet und damit auch den Wissensfundus ändert. Die US-amerikanische Folkloristin Dorothy Noyes sieht in der hier nachgezeichneten kritischen Dekonstruktion des Traditionsbegriffes quer durch die Kulturwissenschaften der 1960er Jahre den transformativen Einfluss von bürgerrechtlichen und antikolonialen Bewegungen sowie postfaschistischer Vergangenheitsbewältigung (Noyes 2009 : 242). Auf der Suche nach einem neuen,
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gegenwärtigen Subjekt seien alternative Konzepte entworfen worden, die sich von einer vorgeblichen Kernannahme der ethnologischen Fächer, der kulturellen Kontinuität nämlich, distanzierten. In dieser Zeit entstanden Neudefinitionen des Forschungsgegenstandes, aus welchen Tradition und damit Kontinuität sukzessive eliminiert wurde (vgl. Bausinger/Brückner 1969). Zusammen mit der Thematisierung von Kreativität und Innovation im »Volksleben« lässt sich aus jenen traditionskritischen Jahren der 1960er und 1970er Jahre auch die über Jahrzehnte geläufige, wenn auch analytisch unscharfe Traditionsdefinition erkennen : Statt der für selbstverständlich genommenen Präsenz einer unveränderlichen, eben traditionellen Lebensweise entwickelte sich die beschriebene konstruktivistisch-praxeologische Perspektive auf Traditionen, die diese als von Akteur*innen gezielt erschaffen und zu verschiedenen Zwecken eingesetzt ansieht.
Ausblick Auch im 21. Jahrhundert erfolgt eine anhaltende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Traditionsbegriff (vgl. Noyes 2009 ; Isnart/Testa 2020). Die Tradition der Traditionsdiskussion dürfte allerdings mit der Relevanz von →Kultur erbe – sowohl in der Forschung wie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – ein Ende gefunden haben. Die Ethnowissenschaften haben die politischen Entscheidungen und daraus erwachsenen Handlungsrichtlinien rund um immaterielles Kulturerbe bzw. »traditionelle kulturelle Ausdrucksformen« stark mitgeprägt (vgl. Groth 2013 ; Hafstein 2018). Kulturwissenschaftler*innen nutzen heute einen akteur*innenzentrierten und politisch sensibilisierten Traditionsbegriff. Sie beforschen einerseits das Tauziehen zwischen politischer Wertung von Tradition und wirtschaftlicher Inwertsetzung derselben, bemühen sich aber gleichzeitig auch, Menschen und Gruppen in ihrem Bedürfnis nach Tradition zu begleiten.
Literatur Bausinger, Hermann (1961) : Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart. Bausinger, Hermann (1969) : Zur Kritik der Tradition. Anmerkungen zur Situation der Volkskunde. In : Zeitschrift für Volkskunde 65, S. 232–250. Bausinger, Hermann (1991) : Tradition und Modernisierung. In : Schweizerisches Archiv für Volkskunde 87, S. 5–14.
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Bausinger, Hermann/Brückner, Wolfgang (Hg.) (1969) : Kontinuität ? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin. Ben-Amos, Dan (1984) : The Seven Strands of Tradition. Varieties in its Meaning in American Folklore Studies. In : Journal of Folklore Research 21(2), S. 97–131. Bendix, Regina F. (1997) : In Search of Authenticity. Madison. Bendix, Regina F. (2018) : Culture and Value. Tourism, Heritage, and Property. Bloomington. Bendix, Regina F./Eggert, Aditya/Peselmann, Arnika (2012) : Introduction : Heritage Regimes and the State. In : dies. (Hg.) : Heritage Regimes and the State. Göttingen, S. 11–20. Groth, Stefan (2013) : Negotiating Tradition. The Pragmatics of International Deliberations on Cultural Property. Göttingen. Hafstein, Valdimar (2004) : The Politics of Origins : Collective Creation Revisited. In : Journal of American Folklore 117(465), S. 300–315. Hafstein, Valdimar (2018) : Making Intangible Heritage. El Condor Pasa and Other Stories from UNESCO. Bloomington. Handler, Richard/Linnekin, Jocelyn S. (1984) : Tradition, Genuine or Spurious. In : Journal of American Folklore 97(385), S. 273–290. Hertz, Ellen et al. (2018) : La Politique de la Tradition. Le patrimoine culturel immatériel. Lausanne. Hobsbawm, Eric (1983) : Introduction. Inventing Traditions. In : ders./Ranger, Terence : The Invention of Tradition. New York, S. 1–14. Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (1983) : The Invention of Tradition. New York. Honko, Lauri (1985) : Rethinking Tradition Ecology. In : Temenos 21, S. 55–82. Honko, Lauri (1989) : The Final Text of the Recommendation for the Safeguarding of Folklore. NIF Newsletter 17(2/3), S. 3–12. Honko, Lauri (1990) : Folkloreprosessi [The Folklore Process]. In : Sananjalka 32, S. 93– 121. Isnart, Cyril/Testa, Alessandro (Hg.) (2020) : Re-enchantment, Ritualization, Heritage- making – Processes Reconfiguring Tradition in Europe. In : Special Issue. Ethnologia Europaea 50(1), S. 5–108. Noyes, Dorothy (2009) : Tradition : Three Traditions. In : Journal of Folklore Research 46(3), S. 233–268. Oinas, Felix (1978) : Folklore, Nationalism and Politics. Columbus. Tauschek, Markus (2010) : Wertschöpfung aus Tradition. Der Karneval von Binche und die Konstituierung von kulturellem Erbe. Berlin. Weiss, Richard (1946) : Volkskunde der Schweiz. Erlenbach.
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Kurzdefinition Verwandtschaft bezeichnet die Vorstellung einer besonderen Verbundenheit zwischen Menschen, die durch unterschiedlichste (körperliche, emotionale, rituelle, rechtliche) Praktiken hergestellt werden kann. Als gesellschaftliches Ordnungsprinzip sind Rechte und Verpflichtungen an Verwandtschaft geknüpft, über welche soziale Positionen, →Identitäten und Hierarchien definiert und weitergege ben werden. Solche Verpflichtungen können zum Beispiel im Familien- und Erbrecht verankert sein oder sich in der Weitergabe von Gruppenzugehörigkeit (etwa der Zugehörigkeit zum →Nationalstaat, zur Bürgerschaft, zu einer →ethnischen Gruppe) bzw. von politischen Ämtern spiegeln.
Gesellschaftliche Situation Ideen und Praktiken der Verwandtschaft entfalten heute in vielen gesellschaftlichen Feldern weitreichende Wirkungen. Diese erscheinen jedoch oft so selbstverständlich, dass sie im Alltag kaum auffallen. Diese Naturalisierung hängt auch damit zusammen, dass wir in →Europa dazu neigen, Verwandtschaft als durch Abstammung gegebene Tatsache anzusehen. Die elterliche Fürsorge etwa gilt weithin als »natürlich« gegeben, zugleich ist sie gesetzlich geregelt. Deutlich wird die soziale Verfasstheit von Verwandtschaft oft erst durch Abweichungen von der Norm oder in Krisensituationen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn staatliche Instanzen entscheiden, Eltern die Sorge zu entziehen, oder wenn die Zuordnung von Elternschaft durch Leihmutterschaft in Zweifel steht. Auch wird das Wissen um die genetische Abstammung für die eigene →Identität als so essentiell empfunden, dass diese etwa im Falle einer Adoption oder Zeugung durch Samenspende als prekär gelten kann. Diese Zentralität von Abstammung in unserem Verständnis von Verwandtschaft ist vielfach gesellschaftlich und politisch legitimiert. Die normative Bevorzugung der Eltern-Kind-Beziehung gegenüber anderen Bindungen lässt sich zum Beispiel in gesetzlichen Regelungen zum Familiennachzug erkennen. Diese
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sehen solche Möglichkeiten selten für Geschwister oder Tanten bzw. Onkel vor, obwohl diese Beziehungen beispielsweise in westafrikanischen Herkunftsländern häufig normativ, emotional und praktisch durch mehr Nähe gekennzeichnet sind (vgl. Coe 2013). Hier zeigt sich, dass in Gesetze gegossene Vorstellungen über »natürliche« Fakten der Verwandtschaft unter anderem Migrationsbewegungen beeinflussen (→Migration). Zu dem weiten Feld der politisch-rechtlichen Legitimation verwandtschaftlicher Bindung gehören auch Erbregelungen. Diese erscheinen gesellschaftlich ebenfalls »natürlich« und zementieren zugleich soziale Ungleichheiten. Des Weiteren spielen Nachweise der Zugehörigkeit über verwandtschaftliche Abstammung in Zusammenhang mit der Anerkennung von Gruppenrechten (zum Beispiel Landrechte indigener Gruppen oder der politischen Repräsentation von Minderheiten) eine große Rolle. Nicht zuletzt zeigt sich die Bedeutung der staatlichen Anerkennung von Verwandtschaft auch in der Vorenthaltung solcher Rechte für bestimmte Personengruppen. Derartige Erfahrungen mündeten seit den 1970er Jahren in vielen westlichen Gesellschaften und darüber hinaus in sozialen Bewegungen, die eine Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Formen des Zusammenlebens forder(te)n. In der etwa zeitgleich angestrebten Gleichstellung von unehelich gegenüber ehelich geborenen Kindern drückt sich die sogar wachsende Bedeutung aus, die Verwandtschaft als biologischer Abstammung in westlichen Gesellschaften zugeschrieben wird. Trotz oder wegen der hier nur beispielhaft angeführten Reichweite und politischen Relevanz von Ideen der Verwandtschaft heißt es paradoxerweise vielfach, dass deren Bedeutung sich in →Europa auf dem Rückzug befinde. Wir gehen davon aus, uns als Individuen aus traditionellen Bindungen »befreit« zu haben (→Tradition) und Politik nun »rationaler« zu organisieren. Daran schließen sich umgekehrt negative Bewertungen einer Verbindung von Verwandtschaft und Politik an, wie es sich zum Beispiel in Begriffen wie »Vetternwirtschaft« spiegelt. Verwandtschaftliche Beziehungen mögen zwar für Einzelne wichtig sein, aber gesamtgesellschaftlich oder politisch erscheinen sie unwichtig. Im Kontrast dazu sprechen wir »anderen« Bevölkerungen, insbesondere solchen außerhalb →Europas, aber auch Minderheiten eine essentielle Beständigkeit »traditioneller« Verwandtschaftsbeziehungen zu (vgl. Thelen/Alber 2018). Das kann seinen Ausdruck darin finden, dass Entwicklungsexpert*innen verwandtschaftliche Verpflichtungen als Fortschrittshemmnis beschreiben. Noch existentieller wird es, wenn, wie Zitelmann (2018) anhand von US-Militärstrategien im Iran und Afghanistan darlegt, »feindliche« Verwandtschaft zerstört werden soll. Abwertende Zuschreibungen finden sich aber auch in Diskursen
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über Migrant*innen (→Migration →Migrationshintergrund →Rassismus), die scheinbar unveränderte »mittelalterliche« Verwandtschaftspraktiken »mitbringen«. Solche Ideen einer ungebrochenen Kontinuität verwandtschaftlicher Organisation durch Zeit und Raum lassen sich etwa in der medialen Berichterstattung über sogenannte Ehrenmorde oder »arabische Clans« erkennen (→Islam). In dieser werden Aktivitäten und Formen der Vergemeinschaftung oft nicht als Ausdruck und Folge gegenwärtiger Migrationssituationen bewertet, sondern als Manifestation »uralter« verwandtschaftlicher Traditionen präsentiert (→Gemeinschaft). All diese Diskussionen verweisen auf die aktuellen gesellschaftspolitischen Dimensionen von Verwandtschaft, die auch in einer Welt zunehmender Mobilität nicht an Bedeutung verlieren, und werfen gleichzeitig die Frage nach deren historischen Quellen auf.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Aufbauend auf der Idee von Verwandtschaft als universellem Ergebnis heterosexueller Fortpflanzung, erscheint die Abgrenzung von anderen Beziehungen auf den ersten Blick verhältnismäßig leicht. Als (natürlich) gegeben gilt sie im europäischen Verständnis als unauflösbar und steht damit Freundschaften, die normativ auf Freiwilligkeit beruhen, gegenüber. Ein historischer Blick auf diese Gegenüberstellung zeigt ein anderes Bild. Im Mittelalter waren die Begriffe für Verwandte und Freund*innen in →Europa noch weitgehend austauschbar. Verwandtschaft bezeichnete alle Personen, die in einem Haushalt zusammenlebten und/oder durch Abstammung, Heirat oder gefühlte Nähe miteinander verbunden waren (vgl. Teuscher 2013 : 100). Ab dem 17. Jahrhundert trennten sich Verwandtschaft und Freundschaft begrifflich, bis sie sich als konträre, einander ausschließende Beziehungstypen gegenüberstanden (vgl. Strathern 2020). Infolge dieser Entwicklungen wurde der Verwandtschaftsbegriff seiner politischen Dimension beraubt und auf private Familienbeziehungen verengt. Mit dem Aufkommen neuer wissenschaftlicher Disziplinen und Erkenntnisse setzte sich im 19. Jahrhundert zunehmend die Vorstellung von Verwandtschaft als auf heterosexueller Fortpflanzung beruhendes universelles Phänomen menschlicher Gesellschaft durch. Unterschiedliche Formen der Verwandtschaft galten fortan als kultureller Ausdruck biologischer Beziehungen (→Kultur). Im Zuge dieser Begriffsverschiebung entwickelte sich das Modernisierungsnarrativ, nachdem es sich bei Verwandtschaft um eine »frühere« Form der sozia
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len und politischen Organisation handelt, die durch die moderne Familie und den →Nationalstaat abgelöst wird (→Moderne). Diese Erzählung ist nicht nur angesichts der zahlreichen schon angeführten Politikfelder, in denen Verwandtschaft gegenwärtig eine große Rolle spielt, haltlos, sondern widerspricht auch den historischen Praktiken. Dies lässt sich sehr gut am Beispiel der Cousinenehe verdeutlichen, das zugleich zeigt, wie eine scheinbar neutrale Klassifikation verwandtschaftlicher Praxis mit politischen Begriffen wie »liberal« und »fortschrittlich« bzw. umgekehrt »konservativ« und »rückschrittlich« verbunden wird (vgl. Mc Kinnon 2019). Parallel zur zunehmend biologisierten Auffassung von Verwandtschaft als Abstammung setzte sich bis zum 19. Jahrhundert in →Europa die Vorstellung von Ehe als einem freiwilligen und individuellen Zusammenschluss von Mann und Frau durch. Im Verbund führten diese Entwicklungen zur Abwertung arrangierter Verwandtenehen, insbesondere der Cousinenheirat. Diese galt fortan nicht nur als medizinisch gefährlich, sondern wurde zunehmend als Praktik des Adels auch politisch-moralisch suspekt. Im gegenwärtigen europäischen Selbstverständnis wird daher davon ausgegangen, solche Eheschließungen seien ein Relikt der Vergangenheit. Tatsächlich aber galten im Mittelalter strenge Exoga mieregeln, das heißt, selbst weit entfernte Verwandte durften nicht heiraten. Diese Regeln machten erst ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Verbreitung der Cousinenehe in Europa und Nordamerika Platz. Auch unter Wissenschaftler*innen ist die Cousinenehe zu dieser Zeit gängige Praxis : So waren zum Beispiel Darwin, Weber und Durkheim mit ihren Cousinen verheiratet. Die Änderung der Verwandtschaftspraxis ging den politisch-wirtschaftlichen Verschiebungen dieser Zeit also nicht voraus. Sie war vielmehr eng verwoben mit der Entstehung neuer politischer Hierarchien und dem aufkommenden Kapitalismus (vgl. Sabean/Teuscher/Mathieu 2007). Cousinenheirat ist folglich – anders als im gesellschaftlichen Diskurs angenommen – kein altertümliches, sondern ein modernes Phänomen. Dennoch zeigen sich Anfeindungen der Cousinenehe als archaische Praxis bis heute in diversen gesellschaftspolitischen Debatten. Ein rezentes Beispiel ist das angestrebte Verbot der Cousinenehe im Regierungsprogramm der türkis-grünen Koalition in Österreich. Ähnliche Diskurse finden sich auch in anderen europäischen Ländern. Oft richten sich diese auf eine bestimmte nationale, →ethnische oder religiöse Gruppe, die als (politisch) rückständig betrachtet wird. So wird die Cousinenehe in Großbritannien oft in Zusammenhang mit pakistanischen Muslim*innen gebracht, in Deutschland und Österreich häufig mit Türk*innen (→Islam). Manchmal richten sich solche Diskurse auch gegen ländliche Bevölke-
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rungsgruppen. In all diesen Fällen jedoch wird sie abwertend in Zusammenhang mit anderen Wertungen gebracht wie »patriarchal« oder politischen Haltungen als »autoritär«. Einerseits deuten die hier angeführten historischen Bedeutungsverschiebungen auf die Verwobenheit gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Diskurse. Andererseits zeigen sie die Langlebigkeit spezifischer Ideen von Verwandtschaft, aus denen sich auch die sozial- und kulturwissenschaftliche Praxis erst im Zuge einer grundsätzlichen Kritik lösen konnte. So hat sich schließlich im Verlauf verschiedener Debatten ein weitgehend fluider Begriff von Verwandtschaft in den Sozial- und Kulturwissenschaften durchgesetzt.
Wissenschaftsgeschichte(n) Auch in Hinsicht disziplinärer Zuständigkeit und Fragestellungen hat sich die erwähnte Erzählung der →Moderne als einflussreich erwiesen. Der angebliche Bedeutungsverlust von Verwandtschaft in →Europa machte die emotionalisierte Klein- oder Kernfamilie zum Gegenstand der Soziologie, während Verwandtschaftsverhältnisse außereuropäischer Bevölkerungen zum charakteristischen Forschungsgegenstand der (außereuropäischen) Ethnologie wurden (vgl. Thelen/ Alber 2018). Diese wissenschaftliche Arbeitsteilung spiegelt und zementiert gleichzeitig die koloniale Dichotomie von »primitiv« und »zivilisiert«. Im Rahmen dieser Vorstellungswelt und der Idee universeller Bedeutung von biologischer Verwandtschaft sammelten Ethnolog*innen mit Unterstützung durch Missionare und Kolonialbeamte sowie deren Gesprächspartner*innen mit großer Energie weltweit vielfältige Systeme und Terminologien von Verwandtschaft, die sie der eigenen »zivilisierten« Gesellschaft gegenüberstellten (vgl. Kuper 1988). Diese Konstruktion positionierte gleichzeitig die eigene (wissenschaftliche) Haltung als universell gültig und außereuropäische Gesellschaften als näher an der Natur. Dass anderswo vorgefundene soziale Organisationsformen die heterosexuelle Zeugung als unwichtig ansehen könnten, oder umgekehrt, dass die eigene Orientierung kulturell verfasst sein könnte, blieb lange Zeit undenkbar in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Verwandtschaft. Erst als ab den 1970er Jahren dieses Begriffsverständnis innerhalb der Ethnologie zunehmend kritisch reflektiert wurde, veränderte sich auch der Fokus in der Forschung. Verschiedene Ethnolog*innen kritisierten den früheren Fokus des Faches auf Regeln und Terminologien, da dadurch historische Entwicklungen sowie Unterschiede zwischen Normen und Handeln weitgehend ausgeblen-
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det wurden (vgl. Schnegg et al. 2010). Der Kulturanthropologe David Schneider (1972) wies zudem nach, dass die Europäer*innen ihre eigenen kulturellen Vorstellungen über ein Primat der »Blutsverwandtschaft« in die Welt exportiert hatten, und richtete damit den Blick weg von den »exotischen« Verwandtschaftsvorstellungen anderer Gesellschaften auf die kulturelle Verfasstheit westlicher Ideen biologischer Verwandtschaft (→Kultur). Infolge dieser fundamentalen Kritik schien Verwandtschaft – einst ein zentraler Begriff der ethnologischen Disziplinen – überflüssig und durch neue Kategorien wie →Geschlecht/Gender ersetzbar. Mit den späten 1980er Jahren und verstärkt in den 1990er Jahren kam es zu einem erneuten Aufleben des Interesses an Verwandtschaft. Einerseits rüttelten neue Reproduktionstechnologien mit deren Möglichkeiten der Produktion von Verwandten an den Grundfesten biologischer Überzeugungen, beispielsweise durch Zeugung außerhalb des Körpers oder Aufsplittung von genetischer und leiblicher Mutterschaft. Zu gleicher Zeit schien die genetische Forschung andererseits ein biologisiertes Verständnis sogar noch zu verstärken (vgl. Nash 2004). Infolge dieser Entwicklungen richtete sich das Augenmerk ethnographischer Forschungen mehr und mehr auf die Herstellung der Trennung zwischen sozialer und biologischer Verwandtschaft in westlichen Ländern. Zugleich wiesen Ethnolog*innen nach, dass in der Praxis biologisch verstandene Bindungen nicht unauflösbar seien (vgl. Weston 1997). Zudem werden die tatsächlich gelebten Verwandtschaftsbeziehungen mit nichtbiologischen Aspekten begründet – wie etwa mit der emotionalen und geographischen Nähe (vgl. Edwards 2000). In diesem Sinne lassen nicht nur biologische, sondern auch soziale Prozesse Verwandtschaft als gegeben und unauflösbar erscheinen (vgl. Mason 2008). Statt einer formal festgelegten genealogischen Verbindung stehen daher in der neueren Forschung die alltäglichen Prozesse der Herstellung von Verwandtschaft im Mittelpunkt, das sogenannte doing kinship. So kann beispielsweise durch alltägliche Sorgepraktiken oder das Teilen von Nahrung Verwandtschaft aktiv geschaffen werden (vgl. Carsten 1997 ; Weismantel 1995). Auch geteilter Wohnraum oder geteilte Erinnerungen (vgl. Weston 1997) können ebenso wie rituelle und symbolische Bekräftigung (vgl. Schareika 2010) bedeutsam sein. In dieser Hinsicht sind alle Verwandtschaftsbeziehungen »assistiert«, denn sie brauchen verschiedene Techniken und beständige Bestätigung, um persönlich wie gesellschaftlich anerkannt und relevant zu werden (vgl. Goldfarb 2016).
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Ausblick Der Begriff der Verwandtschaft ist historisch und semantisch komplex. In der westlichen Vorstellungswelt verweist er auf ein Spannungsfeld zwischen anscheinend universalen »natürlichen« Beziehungen und ihrem »kulturellen« Ausdruck. Angesichts dieser Dichotomie in Verbindung mit der moralischen Aufgeladenheit von solchermaßen definierten Beziehungen stellt sich zunehmend die Frage, ob Verwandtschaft als wissenschaftliche Kategorie noch sinnvoll ist (vgl. Knecht 2003 ; Strathern 2020). Vorgeschlagene Alternativen wie Verbundenheit (relatedness) oder Zugehörigkeit (belonging) haben es jedoch bisher (noch) nicht vermocht, das semantische Korsett der Verwandtschaft zu ersetzen. Diese Beharrungskraft dürfte in der Zentralität der Verwandtschaftsidee für verschiedene Lebensbereiche, aber auch für die wissenschaftliche Wissensproduktion begründet liegen. Allerdings birgt dieser Zusammenhang erkenntnistheoretische und politische Probleme. Zum einen erschwert die historisch und kulturell tief verankerte Vorstellung der universellen Bedeutsamkeit von Verwandtschaft die Annäherung an andere Vorstellungswelten. Zum anderen versperrt sie auch innerhalb westlicher Gesellschaften neue analytische und politische Zugänge zu menschlicher Sozialität. Statt von Beziehungskategorien wie Verwandtschaft (und den als Pendant gedachten Beziehungen wie Freundschaft oder Patronage) ließen sich etwa von Praktiken der Versorgung und Verhandlungen der Verantwortungszuschreibung ausgehend neue Perspektiven auf Prozesse sozialer Organisation entwickeln (vgl. Thelen 2014). In die Politik übersetzt, könnte dies Möglichkeiten eröffnen, Formen zwischenmenschlicher Solidarität zu fördern, die über die derzeit rechtlich legitimierte (Klein-)Familie hinausgehen. Die rezente Forschung zu gesellschaftlichen Folgen der Reproduktionsmedizin hat diesbezüglich vor allem die Prozesse des Verwandt-Machens am Anfang des Lebens betont (siehe Reproduktionsmedizin und transnationale Adoptio nen). Diese stellen die angenommene Grenze zwischen biologisch und sozial in Frage, indem sie auf deren kulturellen Ursprung und Verhandlung verweisen (→Kultur). Aus dem Hype der 1990er Jahre rund um die für Europäer*innen neu entdeckte Flexibilität von Verwandtschaft resultiert aber auch eine Forschungslücke zu ähnlichen Prozessen über den Lebensverlauf sowie speziell am Ende des Lebens. Zudem wohnt dem umgekehrten Prozess – der Auflösung von Verwandtschaft – weiterhin Erkenntnispotential inne (ebd. 2014). Schließlich wurde die (oft unintendierte) Stabilisierung sozialer Ungleichheit und Marginalisierung als Konsequenz der politisch-rechtlichen Verankerung von Verwandtschaft ten-
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denziell übersehen. Möglicherweise entwickelt sich in diesen Feldern in Zukunft ein neues begriffliches Instrumentarium, das den analytischen und politischen Fragen der Zeit besser gerecht wird. Derzeit bleibt Verwandtschaft gesellschaftspolitisch – entgegen dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften – nach wie vor in vielen Facetten des täglichen Lebens relevant mit weitreichenden politischen und soziostrukturellen Folgen. Die Naturalisierung von Verwandtschaft als Abstammung ist eng verbunden mit der Naturalisierung der Weitergabe von Eigentum durch Vererbung und stabilisiert als solche soziale Ungleichheit. Zudem generiert das Narrativ der →Moderne auch Ideen »falscher Verwandtschaft«, die politisch aktiviert zu Marginalisierung führen können. Empirisch wird Verwandtschaft daher für lange Zeit relevant bleiben.
Literatur Carsten, Janet (1997) : The Heat of the Hearth. The Process of Kinship in a Malay Fishing Community. Oxford. Coe, Cati (2013) : Transnational Migration and Changes in Sibling Support in Ghana. In : Alber, Erdmute/Coe, Cati/Thelen, Tatjana (Hg.) : The Anthropology of Sibling Relations. Shared Parentage, Experience and Exchange. New York, S. 123–146. Edwards, Jeanette (2000) : Born and Bred. Idioms of Kinship and New Reproductive Technologies in England. Oxford. Goldfarb, Kathryn E. (2016) : Coming to Look Alike. Materializing Affinity in Japanese Foster and Adoptive Care. In : Social Analysis 60(2), S. 47–64. Knecht, Michi (2003) : Die Politik der Verwandtschaft neu denken. Perspektiven der Kultur- und Sozialanthropologie. In : Bulletin Texte 26, S. 52–70. Kuper, Adam (1988) : The Invention of Primitive Society. Transformations of an Illusion. London et al. McKinnon, Susan (2019) : Cousin Marriage, Hierarchy, and Heredity : Contestations over Domestic and National Body Politics in 19th Century America. In : Journal of the British Academy 7, S. 61–88. Nash, Catherine (2004) : Genetic Kinship. In : Cultural Studies 18(1), S. 1–33. Pauli, Julia (2013) : Sharing Made Us Sisters. Sisterhood, Migration, and Household Dynamics in Mexico and Namibia. In : Alber, Erdmute/Coe, Cati/Thelen, Tatjana (Hg.) : The Anthropology of Sibling Relations. Shared Parentage, Experience and Exchange. New York, S. 29–50. Sabean, David Warren/Teuscher, Simon/Mathieu, Jon (2007) : Kinship in Europe. Approa ches to Long-Term Developments (1300–1900). New York et al. Schareika, Nikolaus (2010) : Rituell gezeugt. Verwandtschaft als symbolische Interaktion bei den Wodaabe Südostnigers. In : Alber, Erdmute/Beer, Bettina/Pauli, Julia/Schnegg,
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Jens Wietschorke
Volk
Kurzdefinition Ein Volk ist ein Kollektiv, das auf der politischen Ebene durch staatlich-institutionelle Regeln und Praktiken sowie auf der kulturellen Ebene durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Geschichte und →Identität bestimmt ist. Allerdings gehen die Realitäten und Vorstellungen dessen, was als Volk gilt, in Geschichte und Gegenwart so weit auseinander, dass es keine verbindliche Definition geben kann. Allein die Spannungsverhältnisse zwischen politischen, →ethnischen und sozialen Bedeutungsdimensionen machen den Begriffsgebrauch kompliziert. Man ist daher gut beraten, Volk als einen Ordnungsbegriff zu verstehen, der nicht einfach etwas Bestehendes bezeichnet, sondern der vielmehr die Wissens ordnungen des bezeichneten Phänomens miterzeugt. Volk ist somit etwas, das »real und fiktiv zugleich« ist (Bormann 1998 : 44). Ferner ist Volk ein relationaler Begriff, der stets imaginäre Beziehungen sowie Unterschiede herstellt und ein Gegenstand komplexer Aushandlungsprozesse ist – was ein Volk ist und wer sich und andere als Volk versteht, lässt sich nur historisch-konkret bestimmen.
Gesellschaftliche Situation Dass der Ordnungs- und Beziehungsbegriff Volk weitreichende Probleme mit sich bringt, ist evident. Denn jede Behauptung über »ein Volk« oder »das Volk« arbeitet mit Techniken der Grenzziehung, der Inklusion und der Exklusion : Wer gehört dazu, wer nicht ? Die nationalsozialistische Idee der Volksgemeinschaft (→Gemeinschaft) hat in drastischer Weise gezeigt, wie das Volkskonzept genutzt werden kann, um radikale Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung von Menschen zu legitimieren : Kategorisch wurden »Volksgenossen« und »Gemeinschaftsfremde« (Peukert 1982) unterschieden (→Rassismus). Dennoch war nach 1945 die Kategorie Volk in Deutschland nicht einfach gesellschaftlich diskreditiert. Ihre semantische Flexibilität hat dafür gesorgt, dass nach wie vor in vielen verschiedenen Kontexten vom »Volk« die Rede ist. Und sogar der Begriff Volksgemeinschaft kommt im politischen Diskurs mittlerweile wieder vor :
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Ende 2015 schrieb der damalige Landesvorsitzende der AfD in Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, die in diesem Kompositum »enthaltenen Worte Volk und Gemeinschaft sind in keiner Weise negativ zu sehen, so wie der Begriff Volksgemeinschaft insgesamt«1. Die Hochkonjunktur nationaler und autoritärer Politikmodelle, die seit mehr als einem Jahrzehnt insbesondere in →Europa und den USA zu beobachten ist, spiegelt die aktuelle gesellschaftliche Relevanz des Volkskonzepts. Denn mit der Rede vom »Volk«, the people, le peuple, il popolo argumentieren Populist*innen europaweit und darüber hinaus (→Populismus). Als die Frontfrau des französischen Front National (mittlerweile : Rassemblement National) Marine Le Pen bei ihren Wahlkampfauftritten 2016/2017 mit der Parole »Au nom du peuple« antrat, bediente sie sich einer Formel, die seit den Anfängen der →Demokratie benutzt wird, um der eigenen Rede das symbolische Gewicht kollektiver Willensbildungs prozesse zu verleihen : »Im Namen des Volkes«, also im Auftrag des Volkes, mit dem Volk und für das Volk zu sprechen, stattet den*die Sprecher*in mit Legitimität und symbolischem Kapital aus. An sich gehört das zu den grundlegenden Vorgängen einer repräsentativen Demokratie. Wenn der verwendete Volksbegriff allerdings – wie das bei Marine Le Pen und anderen Rechtspopulist*innen der Fall ist – eine Abstammungsgemeinschaft impliziert (→Gemeinschaft →Verwandtschaft), dann dient er gleichzeitig als Instrument der Ausgrenzung. Der französische Philosoph Alain Badiou hat gute Hinweise zum praktischen Gebrauch des Volksbegriffs gegeben : »In Wahrheit ist ›Volk‹ heute so wie viele andere Wörter des politischen Wortschatzes ein neutraler Begriff. Alles ist eine Frage des Kontexts« (Badiou 2017 : 9). Badiou spricht dem Konzept Volk in der politischen Praxis wichtige Funktionen zu, etwa wenn es darum geht, koloniale Herrschaftsverhältnisse zu überwinden oder die demokratischen Rechte derer einzufordern, die vom politischen Prozess de facto ausgeschlossen sind. Allerdings macht Badiou eine wichtige Einschränkung : »Man sollte sich vor dem Wort ›Volk‹ in Acht nehmen, wenn ihm ein Adjektiv vorausgeht, besonders eines, das eine Identität oder Nation benennt« (ebd.: 10) (→Identität →Nationalstaat). Dann nämlich wird aus dem offenen, umkämpften Begriff Volk eine in sich geschlossene Einheit, deren Ein- und Ausschlusslogiken bekanntlich gefährliche politische Folgen haben können.
1 Poggenburg zitiert nach Wildt 2017 : 115.
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Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Zunächst einmal ist Volk ein genuin politisches Konzept, das ein Kollektiv als den Kern eines – realen oder fiktiven – Gemeinwesens konstruiert. Dabei gibt es drei diskursive Strategien, die benutzt wurden und werden, um den Begriff Volk mit Inhalt zu füllen. Diese drei Strategien lassen sich mit den griechischen Begriffen demos, ethnos und ochlos kennzeichnen. Während demos auf die Idee eines politischen Gemeinwesens im engeren Sinne zielt, dient die Kategorie ethnos dazu, unterschiedliche »Völker« als Herkunftsgemeinschaften voneinander zu unterscheiden. Ochlos impliziert dagegen eine soziale Abgrenzung und meint tendenziell die unteren Schichten im Gegensatz zu den Eliten – das »einfache Volk« oder die »einfachen Leute«. Diese drei Bedeutungsfelder sind nicht scharf voneinander getrennt, sondern gehen ineinander über. Die ideologische Brisanz des Volksbegriffs rührt nicht zuletzt daher, dass unterschiedliche Auffassungen von »Volk« immer wieder miteinander vermischt werden und sich gegenseitig verstärken. Eine begriffsgeschichtliche und ideologiekritische Analyse der Kategorie Volk muss daher die Implikationen der unterschiedlichen Bedeutungsfelder reflektieren. Dabei geht es wesentlich um die genannten Ein- und Ausgrenzungsstrategien : »Volk« impliziert unweigerlich Ordnungen von »innen« und »außen«, »oben« und »unten« (vgl. Koselleck et al. 1992). Der politische Volksbegriff dreht sich um die Mitglieder eines politischen Gemeinwesens, konkret gesagt um den demos der →Demokratie. Die Reichweite einer Demokratie war aber schon immer abhängig von den darin eingeschriebenen Ein- und Ausschlussverfahren. So bezeichnete der Begriff demos im altgriechischen Stadtstaat »die Versammlung der freien männlichen Bürger einer polis, wohingegen mit ethnos all diejenigen ›barbarischen‹ Völker benannt wurden, die außerhalb der griechischen Welt lebten« (Wildt 2017 : 15 ; Herv. i. Orig.). Neben der systematischen Ausgrenzung von Frauen, Unfreien und Fremden aus dem politischen Kollektiv war noch eine grundsätzliche soziale Abgrenzung nach unten wirksam : Weder wahl- noch in irgendeiner Form partizipationsberechtigt waren all jene, die als ochlos, als Pöbel, als das einfache Volk galten – die gebräuchlicheren lateinischen Termini dafür sind plebs und vulgus, von dem sich der heute negativ gebrauchte Begriff »vulgär« herleitet. Die Idee eines Gesellschaftsvertrags, wie er im 17. Jahrhundert von dem Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes oder in der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde, führte zunehmend zur Vorstellung eines einheitlichen Volkskollektivs als der Substanz politischer Willensbildung.
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»Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muß auch ihr Urheber sein«, schreibt der Philosoph Jean-Jacques Rousseau in seiner Abhandlung über den Gesellschaftsvertrag. Auch wenn der progressive Kern dieser Idee im Kontext der europäischen Aufklärung unübersehbar ist, wurde damit auch eine problematische Auffassung vom »Volk« als einer Entität mit eigenem »Volkswillen« (volonté générale) in Umlauf gebracht. Insbesondere in der Verknüpfung mit dem Nationalstaatsprinzip prägte die Idee eines kollektiven Willens ethnonationalistische Denkmuster (→Nationalstaat). Dabei ist die Idee der Nation als eine in sich geschlossene Abstammungsgemeinschaft eine historische Fiktion. Der Blick in die antike und frühmittelalterliche Geschichte zeigt, dass die →ethnischen und territorialen Verhältnisse stets viel komplexer und offener waren als die Kategorien, die zu ihrer Beschreibung verwendet wurden (vgl. Geary 2002). Auch später markierten weder Geographie noch →Verwandtschaft noch Sprache noch kulturelle →Traditionen eindeutig die Grenzen eines Volkes ; vielmehr hing die ethnische →Identität von Gruppen davon ab, inwiefern ihre Mitglieder an ihre Zusammengehörigkeit glaubten. Die romantische politische Philosophie vor allem des 19. Jahrhunderts und die von ihr angetriebenen nationalistischen Bewegungen suchten dessen ungeachtet die Wurzeln der Völker in der historischen Vergangenheit, bevorzugt im Mittelalter. Aus angeblich uralten ethnischen Identitäten wurden nationalstaatliche Ansprüche abgeleitet. Gleichzeitig trugen die Institutionen der neu entstandenen Nationalstaaten dazu bei, das Volk als angebliche politische Nation in der Alltagspraxis zu verankern. »Französisches Volk«, schreibt Alain Badiou, bedeute in Wirklichkeit nichts anderes als die »träge Gesamtheit derer, denen der Staat das Recht verliehen hat, sich Franzosen zu nennen« (Badiou 2017 : 11). In Einwanderungsgesellschaften ist ein solches juridisch-administratives Verständnis von Staatsbürgerschaft fest etabliert (→Migration) – die USA etwa verstehen sich dezidiert nicht als biologische Abstammungsgemeinschaft. Die Vertreter*innen völkischer Positionen deuten das Volk ganz anders. In rechtspopulistischen und rechtsex tremen Diskursen der Gegenwart lebt die romantische Tradition fort, in der dem Volk eine kollektive Existenz aufgrund einer »ethnischen Substanz« zugeschrieben wird und ebendiese Einheit des Volkes nur durch den systematischen und oft aggressiven Ausschluss alles »Fremden« behauptet werden kann (→Populismus). Schließlich meint das Volk im Sprachgebrauch seit dem Mittelalter immer auch die breiten Schichten der Bevölkerung, die nicht zu einer der Elitenformationen einer Gesellschaft zählen : die common people, die einfachen Leute. Hier kommt nun zusätzlich die Frage des »Popularen« und »Populären« ins Spiel. Wie das Volkskonzept überhaupt ist auch das Konzept der Popularität von implizi-
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ten Wertungen durchzogen. »Populärkultur« ist ein Gegenbegriff zur →Kultur der Eliten, zur »Hochkultur«, zum elaborierten Geschmack der Expert*innen. Sie kann abwertend oder wertneutral als »Massenkultur« ausgelegt werden oder aufwertend als →Volkskultur (vgl. Wietschorke/Schmidt-Lauber 2016 ; Penke/ Schaffrick 2018). Auch dieses semantische Feld macht deutlich, dass »Volk« nur relational zu begreifen ist, also stets in Beziehung zu all denen, die angeblich nicht dazugehören. Gleichzeitig ist es eine starke symbolische Ressource, auf die in wechselnden Kontexten affirmativ zurückgegriffen werden kann.
Wissenschaftsgeschichte(n) Die Wissenschaftsgeschichte(n) des Volksbegriffs spiegeln dessen Funktion als symbolische Ressource. Signifikant ist zunächst, dass sich mehrere wissenschaft liche Disziplinen im 19. Jahrhundert im engen Zusammenhang mit den damals intensiv geführten Debatten über »Volk« und »Völker« herausgebildet haben : Das betrifft die sogenannten Ethnowissenschaften wie die Völkerkunde/Ethnologie, die Ethnoarchäologie und die Volkskunde/Europäische Ethnologie, aber auch die Sprachwissenschaften und Philologien, schließlich die Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, die nationalistischen Prämissen folgten und umgekehrt das nationalistische Denken vorantrieben. Aber auch die soziale Dimension des Volkskonzepts war in diesem Prozess von Bedeutung : Bei der Entwicklung der Volkskunde zur akademischen Disziplin um 1900 spielte das Argument der bislang vernachlässigten →Kultur der »einfachen Leute« eine entscheidende Rolle. Später etikettierten prominente Historiker wie Otto Brunner, Werner Conze und Theodor Schieder ihre Sozialgeschichtsschreibung dezidiert als »Volksgeschichte«, um das nationalsozialistische Programm der »Volksgemeinschaft« historiographisch zu unterfüttern. Ende der 1960er Jahre legte der amerikanische Historiker George Boas eine Abhandlung zur Ideengeschichte des Volksbegriffs in Philosophie, Literatur, Kunst und Musik vor, in der es darum geht, wie Intellektuelle immer wieder versucht haben, die vox populi, also die »Stimme des Volkes«, zum Klingen zu bringen (vgl. Boas 1969). Für die einen war »Volk« der mythische Urgrund von Gesellschaft und eine Quelle von Authentizität, andere erhoben den Anspruch, für »das Volk« zu sprechen und seine Interessen zu vertreten. So gesehen markiert der Volksbegriff eine wichtige intellektuelle und künstlerische Legitimations strategie.
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Ausblick Volk, the people, le people, il popolo : Dieser Begriff, der zugleich das Subjekt wie das Objekt demokratischer Politik darstellt (→Demokratie), ist schillernd. Er ist Metapher, Imagination und Phantasma (vgl. Graczyk 1996), benennt aber auch eine wechselhafte soziale Realität als geglaubte →Gemeinschaft. Nicht selten wird eine Parteinahme für das »einfache Volk« mit hochproblematischen ethno nationalistischen bis völkischen Positionen verknüpft. Andererseits ging es den meisten bürgerlichen wie sozialistischen Revolutionen der Geschichte darum, dem Volk bzw. bisher ausgeschlossenen Teilen des Volkes eine Stimme zu geben. Theoretiker*innen eines linken →Populismus wie die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe meinen, dass die Kategorie des »Volkes« nicht einfach aufgegeben werden dürfe, sondern als strategisches Argument in der politischen Auseinandersetzung von Bedeutung bleiben müsse (vgl. Mouffe 2018). Ähnliche Positionen vertreten beispielsweise der Soziologe Gianpaolo Baiocchi oder der Historiker Pierre Rosanvallon. Sie halten – wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten – daran fest, dass das Volk bzw. ein wie auch immer zu bestimmendes »Wir« den Dreh- und Angelpunkt demokratischer Souveränität zu bilden habe (→Demokratie) (vgl. Baiocchi 2018 ; Rosanvallon 2020). Wenn andererseits wissenschaftliche Disziplinen wie die Volks- und die Völkerkunde sich mittlerweile vom Volksbegriff verabschiedet haben und zu anderen Selbstbezeichnungen wie »Empirische Kulturwissenschaft« oder »Europäische Ethnologie« resp. »Sozial- und Kulturanthropologie« übergegangen sind, dann ist das ein Ergebnis eines langen Diskussions- und Veränderungsprozesses seit den 1960er Jahren. Das Volk ist damit zwar als deskriptiver und analytischer Begriff passé. Als Konzept aber, das in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, weil sich soziale Gruppen in ihm wiedererkennen und darüber ihre Zugehörigkeiten definieren, ist es nicht so leicht zu verabschieden (→Identität). Bertolt Brecht schrieb im Jahr 1935 : »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung […] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht« (Brecht 1969 : 231). Wenn der Volksbegriff dennoch verwendet wird, ist er als offenes Konstrukt zu verstehen, über dessen Sinn und Inhalt es keinen abgeschlossenen Konsens und viel Streit geben kann und über dessen konkrete Bedeutung der Kontext und die Sprechenden entscheiden. »Volk« könnte so als »leerer Signifikant« verstanden werden – als etwas, was sich nicht universell definieren lässt, was aber der Gegenstand permanenter Debatten und Auseinandersetzungen bleiben muss.
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Literatur Badiou, Alain (2017) : Vierundzwanzig Anmerkungen über die Verwendung des Wortes »Volk«. In : ders. et al. (Hg.) : Was ist ein Volk ? Hamburg, S. 9–16. Baiocchi, Paolo (2018) : We, the Sovereign. Cambridge. Balibar, Etienne (1998) : Die Nation-Form : Geschichte und Ideologie. In : ders./Wallerstein, Immanuel : Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg, S. 107– 130. Bendix, Regina (1997) : In Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies. Madison. Boas, George (1969) : Vox Populi : Essays in the History of an Idea. Baltimore. Bormann, Alexander von (1998) : Volk als Idee. Zur Semiotisierung des Volksbegriffs. In : ders. (Hg.) : Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Würzburg. Bourdieu, Pierre (1992) : Der Begriff »Volk« und sein Gebrauch. In : ders.: Rede und Antwort. Frankfurt am Main, S. 167–174. Brecht, Bertolt (1969) : Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In : ders.: Gesammelte Werke Band 18. Frankfurt am Main, S. 222–239. Geary, Patrick J. (2002) : Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. Frankfurt am Main. Graczyk, Annette (Hg.) (1996) : Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma. Berlin. Koselleck, Reinhart et al. (1992) : Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In : Conze, Werner/ Brunner, Otto/Koselleck, Reinhart (Hg.) Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Band 7. Stuttgart, S. 141–431. Mouffe, Chantal (2018) : Für einen linken Populismus. Berlin. Penke, Niels/Schaffrick, Matthias (2018) : Populäre Kulturen zur Einführung. Hamburg. Peukert, Detlev J.K. (1982) : Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln. Rosanvallon, Pierre (2020) : Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte – Theorie – Kritik. Hamburg. Wietschorke, Jens/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) (2016) : »Volkskultur« 2.0. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2. Innsbruck. Wildt, Michael (2017) : Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburg.
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Volkskultur
Kurzdefinition Unter Volkskultur werden in der Regel jene kulturellen Aktivitäten und Artefakte verstanden, die von vielen Menschen praktiziert werden oder ihnen zumindest bekannt sind, die als regional bzw. national typisch gelten, an →Traditionen anknüpfen, deshalb vielfach als identitätsstiftend gelten (→Identität) und häufig institutionell gepflegt und gefördert werden. Ihr Wiedererkennungseffekt macht sie zu einem erfolgreichen Instrument von Marketingstrategien zum Beispiel in Tourismus und Werbung.
Gesellschaftliche Situation In Zeiten, in denen verstärkt über die Bedeutung von →Heimat und die Notwendigkeit von Identitätsangeboten in einer sich transformierenden und globalisierenden Gesellschaft diskutiert wird, erfährt der Begriff Volkskultur verstärkt Aufmerksamkeit (→Globalisierung →Identität). Gesellschaftliche Debatten und politische Programme diskutieren die Bedeutung von Heimat und Angebote wie Volkskultur, über die in einer durch Mobilität und →Migration geprägten Gesellschaft Inklusion und Exklusion verhandelt werden. Durch das Anknüpfen an alte Ideen von Volkskultur als einer →ethnisch homogenen, traditionsgeprägten und regionaltypischen →Kultur können Bilder einer homogenen Gesellschaft propagiert und Menschen anderer Herkunft und ethnischer Abstammung ausgegrenzt werden, während ein offenes, auf Partizipation und Teilhabe ausgelegtes Volkskulturverständnis integrative Modelle von Kultur fördern kann. Volkskultur bildet dann ein breites Spektrum von Praktiken, Initiativen und Veranstaltungen ab, die der Diversität, der kulturellen und historischen Vielfalt einer Gesellschaft und Region Rechnung tragen. Dennoch bleibt die Gefahr, Volkskultur vorschnell auf ein regional homogenes und traditionelles Verständnis zu verengen, selbst da, wo man eigentlich auf Weltoffenheit setzt. So heißt es auf der offiziellen Webseite der Stadt München : »Volkskultur beschreibt und umfasst regional traditionelle Kulturäußerungen in München und vermittelt sie allen interessierten
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Münchnerinnen und Münchnern. Alle Sparten (z. B. Singen, Instrumentalmusik, Tanz, Theater, Sprache – Dialekt, →Brauchtum, Bekleidung-Tracht u. a.) werden vermittelt und spezielle Kulturtechniken gelehrt. Das Lehren und Lernen soll Freude machen und den Menschen ihre regionale Verortung bewusst machen.«1 Das Beispiel zeigt, dass die Konnotationen, die dem Begriff im Laufe seiner Geschichte zugewachsen sind, stets mitschwingen und gesellschaftliche Wahrnehmungen bestimmen. Seine Offenheit und Bedeutungspluralität lassen unterschiedliche Verwendungen zu, verleiten aber auch dazu, den Begriff als Verständigungsformel zu verwenden, ohne zu prüfen, welche Bilder und Vorstellungen mit ihm aufgerufen werden. Seit Deutschland (2013) und Österreich (2009) das UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen →Kulturerbes ratifiziert haben, ist der Terminus immaterielles Kulturerbe (IKE) verstärkt an die Seite des Begriffs Volkskultur getreten (vgl. Kuhn 2016 : 82ff.). Während Volkskultur historisch determiniert ist und Traditionen einen Wert an sich zugesteht, richtet immaterielles Kulturerbe den Blick stärker auf die Gegenwart und betont die Bedeutung von →Traditionen und historischem Wissen für die Gestaltung einer nachhaltigen und wertebasierten Gegenwart und Zukunft. Beiden gemeinsam ist, dass sie einen regionalen Bezug herstellen und damit in einen Raum eingeschriebene Praktiken fokussieren.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Wie alle Komposita mit dem Wort →Volk hat auch der Begriff Volkskultur eine wechselvolle und ambivalente Geschichte. Als Folge der Aufklärung wird Volk im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr und mehr mit der Bevölkerung eines →Nationalstaats gleichgesetzt und zum Träger der Nationalkultur, als deren Merkmale (Volks-)Märchen, -Sagen, Lieder, →Bräuche etc. gelten, aufgewertet (→Kultur). Allen diesen Gattungen gemeinsam ist die behauptete überindividuelle Entstehung vor sehr langer, häufig sogar prähistorischer Zeit. Damit soll der Nationalstaat als quasi natürlich gewachsene Einheit legitimiert werden. Zahlreiche Sammlungen und Publikationen, von denen die von Jakob und Wilhelm Grimm die bis heute bekanntesten sind, untermauern diesen Ursprungsmythos. Einen
1 Webseite der Stadt München : Volkskultur. URL : https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwal tung/Kulturreferat/Volkskultur/Ueber-uns.html [15. Dezember 2020].
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übergreifenden Begriff wie Volkskultur allerdings, unter dem diese Gattungen subsumiert werden, gab es damals noch nicht. Die Karriere des Begriffs begann erst am Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Heimat- und Volksbildungsbewegung (vgl. Schmoll 2013 : 34). Volkskultur meinte nun sowohl ein ideologisch besetztes Gesellschaftsmodell als auch ein volkspädagogisches Konzept. Dabei blieb die aus der Romantik stammende Idee, dass Volkskultur die Ressource aller nationalen →Kultur sei, bestehen. Damit werden die bislang einzeln behandelten →Traditionen zusammengedacht, und Volkskultur wird als die bessere, weil national gesättigte Kultur gegen die damals entstehende moderne städtische (Massen-)Kultur in Stellung gebracht (→Moderne). »Volkskultur«, verstanden als materielle und immaterielle Überlieferung einer bäuerlichen Bevölkerung (Volkskunst, Trachten, traditioneller Hausbau, →Bräuche und mündliche Traditionen), ein als stabil und traditionsgebundenen Milieu, wird den rasanten Veränderungen durch Industrialisierung und Urbanisierung entgegengesetzt (vgl. Göttsch-Elten 2016 : 297). Es entstehen Heimatvereine und andere Initiativen, die sich dem Erhalt und der Wiederbelebung der Volkskultur verschreiben. Dabei geht es sowohl um die Revitalisierung historischer Formen als auch um die Erfindung von Traditionen. Volkskultur wird als Allheilmittel für eine angeblich aus den Fugen geratene Welt propagiert. Für die gesellschaftliche Verbreitung solcher Ideen spielt die breite Akzeptanz im bildungsbürgerlichen Milieu eine große Rolle. So bildet die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etablierende Heimatbewegung ein breites Spektrum der Gesellschaft vom liberalen bis hin zum national-konservativen Lager ab (→Heimat). Solche Befunde werden vor allem im Umfeld der literarischen Heimatkunstbewegung weiter zugespitzt. Der Abwehr und Dämonisierung der →Moderne werden die Hypostasierung des Landes gegenübergestellt. Solche Entwürfe werden mit der aufkommenden Rasseideologie verknüpft (→Rassismus), antisemi tisches Gedankengut wird gesellschaftsfähig gemacht und Begriffe wie »Deka denz« und »arteigen«, die der Abgrenzung vor allem von der französischen →Kultur und der Behauptung einer als »rein« gedachten Nationalkultur dienen, gewinnen in dieser Zeit an gesellschaftlicher Durchschlagskraft (vgl. Göttsch-Elten 2016 : 300). »Volkskultur« als Konzept entfaltet also in der damals stark rezipierten Kulturkritik eine große Wirkmacht. Kulturkritisches Denken und Argumentieren entsteht, so der Historiker Georg Bollenbeck, in der Auseinandersetzung mit Fortschrittsgläubigkeit. Die Erfahrung, dass sich vorwärts gewandte Utopien nicht oder nur teilweise erfüllen, die vertraute Lebenswelt aber zugleich verlorenzu-
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gehen scheint, bringt »Verlust- und Verfallsgeschichten« hervor (Bollenbeck 2003 : 7). Die Imagination einer von der jeweiligen Moderne mit ihren rasanten Veränderungen scheinbar unberührten Volkskultur bietet sich als Projektionsfläche kulturkritischer Gesellschaftsentwürfe an, um auf eine bessere, weil national grundierte, stabile und unveränderliche Lebensform zu verweisen (vgl. Göttsch-Elten 2016 : 294). Es ist also nicht überraschend, dass der Begriff im Nationalsozialismus eine weitere Aufwertung erfährt und noch einmal mehr rassistisch zugespitzt wird (→Rassismus). Trotz solcher Vereinnahmung erlebt er nach dem Zweiten Weltkrieg eine Renaissance und wurde trotz seines Missbrauchs in der Zeit des Nationalsozialismus ohne kritische Reflexion wiederaufgenommen. Zunächst spielt er vor allem im Umfeld der →Flüchtlings- und Vertriebenenintegration als Verständigungsformel über die verlorene →Heimat eine große Rolle. Aber auch die Freizeit-, Erlebnis- und Mediengesellschaft der Nachkriegszeit entdeckt das große Potential, das in diesem Begriff steckt. Heimatfilme der 1950er Jahre machen Volkskultur zur Kulisse, die das Bedürfnis der Nachkriegsgeneration nach Idylle befriedigt. Werbung, Tourismus und Freizeitkultur setzen erfolgreich auf das Label Volkskultur, wenn es um die Vermarktung regional typischer Produkte geht. Heimat-, Geschichts- und Regionalvereine kümmern sich um den Erhalt und die Inwertsetzung regionaler →Traditionen und tragen dazu bei, dass die aktive oder passive Beschäftigung mit Volkskultur jenseits wissenschaftlicher Forschung breite Akzeptanz findet. Volkskultur ist deshalb bis heute ein allseits anerkanntes Feld staatlicher und kulturpolitischer Fördermaßnahmen.
Wissenschaftsgeschichte(n) Volkskultur stellt ein zentrales Konzept und Forschungsgegenstand der früheren Volkskunde dar. Trotz seiner langen Tradition und seiner augenscheinlichen Einschlägigkeit für das Fach ist der Begriff selbst erst spät in die Fachterminologie aufgenommen worden. Die inhaltlichen Weichen allerdings sind bereits in den Anfängen der Fachentwicklung gestellt worden. Die volkstümlichen Überlieferungen wie Märchen, Sagen, →Bräuche etc. gehören um 1890 zum Gründungsinventar der Disziplin, ohne dass allerdings ein übergreifender Terminus gefunden wird. In den 1920er Jahren setzen verstärkt theoretische Bemühungen ein, den Gegenstandsbereich des Faches in Abgrenzung zu den Zuständigkeiten anderer Disziplinen zu bestimmen. Es gilt, einen Gegenbegriff zu dem an der bildungsbürgerlichen Elite orientierten Kulturbegriff zu entwickeln, der einerseits nationale und →ethnische, andererseits aber vor allem soziale Zugehörigkeiten
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umfasst. Dabei kommen solche Milieus in den Blick, die scheinbar nicht mit der »Hochkultur« (→Kultur) in Berührung gekommen sind und denen deshalb unterstellt werden kann, dass sie besonders lange und intensiv an →Traditionen festhalten. Begriffe wie »gesunkenes Kulturgut« und »primitive →Gemeinschaft« (beide Naumann 1921) enthalten qualitative Zuschreibungen, mit denen das Verhältnis von Volkskultur zu Elitenkultur beschrieben wird. Sie verdeutlichen die Ambivalenz von Abwertung und Inwertsetzung, die solchen Kategorisierungen zugrunde liegt und die gespeist wird aus bildungsbürgerlicher Überheblichkeit und Faszination für das »Primitive«, das »Unberührte«, die in jener Zeit ein nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den Künsten gängiges Paradigma sind (vgl. Warneken 2003 : 132). Wie und wann der Begriff Volkskultur sich tatsächlich im Fach Volkskunde etabliert hat, lässt sich nicht genau nachverfolgen. Offensichtlich wurde er in den 1930er Jahren gebräuchlicher. Es gibt Nachweise für Schweden (vgl. Schmoll 2013 : 36f.), aber auch für die Schweiz (vgl. Kuhn 2016 : 70ff.). In Deutschland wurde der Begriff in der interdisziplinär ausgerichteten rassistisch orientierten Volksforschung verwendet (→Rassismus) (vgl. Schmoll 2013 : 37). Seinen eigentlichen Aufstieg als volkskundliches Forschungs- und Verständigungskonzept erlebte er allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits 1946 veröffentlichte der Volkskundler Richard Weiß sein einflussreiches Buch »Volkskunde der Schweiz«, das vor allem der in Deutschland und Österreich durch den Nationalsozialismus desorientierten Volkskunde ein Vokabular und eine forschungstheoretische Perspektive an die Hand gab. Weiß greift den aus Schweden stammenden Begriff des Volkslebens (folkliv) als Gegenstand der Volkskunde auf und verweist auf →Volk und Volkskultur als dessen Konstituenten. Diese griffige Wortwahl eröffnet die Möglichkeit, sowohl an ältere Konzepte anzuschließen als auch einen neuen Weg zu gehen. Der Münchener Volkskundler Hans Moser stellt 1954 heraus, dass Volkskultur der genuine Forschungsgegenstand des Faches sei, und fordert zu dessen Erforschung eine historisch fundierte Quellenarbeit, die Volksleben und Volkskultur in ihren historischen, sozialen und räumlichen Bezügen sichtbar mache und sich dezidiert von mythologischem Spekulieren absetze. Diskussionen entzünden sich in der Folge vor allem an der Verwendung des Begriffs für rezente Phänomene. Die Beobachtung, dass historische Volkskultur zwar ein Element moderner Gesellschaften sei (→Moderne), aber sich in Funktion und Gebrauch wandle, veranlasste Hans Moser dazu, dem historisch verstandenen Volkskulturbegriff den des Begriff des Folklorismus an die Seite zu stellen, um die neue Qualität traditioneller Volkskultur in der Gegenwart zu erfassen (vgl. Göttsch 2003 : 87f.).
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Ende der 1960er Jahre gerät der Volkskulturbegriff – wie alle Komposita mit dem diffusen und ideologisch besetzten Wort Volk – mehr und mehr in die Diskussion. »Abschied vom Volksleben« lautet entsprechend der Titel eines wissenschaftskritischen Bandes von 1970, der zu einer Distanzierung der Volkskunde zu Begriff und Konzept →Volk und seinen Komposita führt (Geiger/Jeggle/Korff 1970). In den 1980er Jahren allerdings wurde die Auseinandersetzung mit Volkskultur durch das Aufkommen der interdisziplinären Historischen Anthropologie und die Rezeption der neueren angloamerikanischen, französischen und italie nischen Geschichtsschreibung neu belebt. Damit waren vor allem Vorstellungen einer longue durée, also einer über lange Zeit dauernden Kontinuität von Volkskultur, verbunden. Volkskundler*innen warnten demgegenüber vor einer unkritischen Verwendung des Begriffs, weil ihm die definitorische Schärfe fehle und zudem die Gefahr bestehe, dass die dem Begriff durch seine Geschichte eingeschriebenen Bedeutungen weiter mitschwängen (vgl. Köstlin 1984). In jüngerer Zeit gibt es eine erneute Beschäftigung mit dem Begriff, die nun vor allem nach den gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen sowie nach Begriffsgeschichte und wissenschaftlicher Theoriebildung fragt (vgl. Eggmann/Oehme- Jüngling 2013 ; Wietschorke/Schmidt-Lauber 2016). B ezeichnenderweise wird nun »Volkskultur« vielfach in Anführungszeichen gesetzt, um den Alltagsgebrauch vom wissenschaftlichen Konzept zu unterscheiden.
Ausblick Volkskultur ist ein Begriff, der seiner wechselvollen Geschichte zum Trotz populär geblieben ist. Er ist zu einem Topos geworden, wenn es darum geht, sich über regionale und meist traditionelle →Kultur zu verständigen. Allerdings lässt gerade die Offenheit des Begriffs, die ihm in seiner langen Geschichte und seinem Gebrauch zugewachsen ist, viele semantische Erweiterungen und Konnotationen zu, ohne dass diese explizit gemacht werden müssen. Wer also von Volkskultur spricht, sollte sich im Klaren darüber sein, was damit aufgerufen wird bzw. werden soll, und wenn über Volkskultur gesprochen wird, sollte genau hingehört werden, welche Subtexte dabei mit artikuliert werden.
Volkskultur
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Literatur Eggmann, Sabine/Oehme-Jüngling, Karoline (Hg.) (2013) : Doing Society. »Volkskultur« als gesellschaftliche Selbstverständigung. Basel. Geiger, Klaus/Jeggle, Utz/Korff, Gottfried (Hg.) (1970) : Abschied vom Volksleben (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 27). Tübingen. Göttsch, Silke (2003) : Volkskultur. In : Hügel, Hans-Otto (Hg.) : Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart, S. 83–89. Göttsch-Elten, Silke (2016) : Vom Ende der geordneten Welt – Kulturkritik und Krisenerfahrung um 1900. In : Bihrer, Andreas et al. (Hg.) : Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft. Bielefeld. Kaschuba, Wolfgang (1988) : Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt am Main. Köstlin, Konrad (1984) : Die Wiederkehr der alten Volkskultur. Der neue Umgang mit einem alten Begriff. In : Ethnologia Europaea 14, S. 25–31. Kuhn, Konrad (2016) : Ressource »Volkskultur«. Karrieren eines Konzepts zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Schweiz. In : Wietschorke, Jens/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) : »Volkskultur« 2.0. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaf ten 27(2), S. 67–91. Naumann, Hans (1921) : Primitive Gemeinschaftskultur. Jena. Schmoll, Friedemann (2013) : Konjunkturen und Reprisen der »Volkskultur«. Geschichte und Gebrauchsweisen eines Begriffes. In : Eggmann, Sabine/Oehme-Jüngling, Karoline (Hg.) : Doing Society. »Volkskultur« als gesellschaftliche Selbstverständigung. Basel, S. 28–43. Warneken, Bernd-Jürgen (2003) : Volkskundliche Kulturwissenschaft als postprimitivistisches Fach. In : Maase, Kaspar/Warneken, Bernd-Jürgen (Hg.) : Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln et al., S. 119–141. Weiss, Richard (1946) : Volkskunde der Schweiz. Grundriss. Bozen/Zürich. Wietschorke, Jens/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) (2016) : »Volkskultur« 2.0. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 27(2).
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Werte
Kurzdefinition Der Wertbegriff bezeichnet alltagssprachlich allgemein zum einen die Attraktivität von Gegenständen, Handlungen und Sachverhalten, zum anderen den Grund ihrer Bevorzugung gegenüber anderen Gegenständen, Handlungen und Sachverhalten. Der zivilgesellschaftliche Diskurs verhandelt Werte, die eine lebenspraktisch maßgebliche Orientierungsfunktion im moralischen, sittlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Selbst- und Weltverhältnis der Menschen erfüllen und für die Zusammengehörigkeit der Mitglieder von Kollektiven unterschiedlichen Umfangs bedeutsam ist. Aufgrund ihrer Bindungskraft stiften Werte Zusammengehörigkeit. Sie haben eine emotionale Erfahrungsbasis und werden als wichtig erlebt ; die Orientierung des Handelns an bestimmten Werten ist sozialisiert und habitualisiert, die Werte gehen mit Handlungsanweisungen für das Sozialverhalten einher. Können Menschen auf die Achtung von Werten verpflichtet werden und folgen aus ihrer Missachtung Sanktionen, spricht man von sozialen Normen.
Gesellschaftliche Situation Der gesellschaftliche Diskurs über Werte setzt auf die Bindungskraft der Werte für eine →Gemeinschaft. Dabei kommt ihr eine rhetorische Funktion zu : Wertekommunikation hat meist appellativen, selten argumentativen Charakter. Werte fungieren im gegenwärtigen Diskurs oftmals als Berufungsinstanz zur Begründung von Haltungen, Einstellungen oder Überzeugungen, kaum je sind sie selbst Gegenstand einer Begründung. Die so kommunizierten Werte haben daher oftmals die Funktion, strittige, kontrovers debattierte politische Haltungen, Überzeugungen und Entscheidungen zu fundieren. Öffentliche Debatten werden in der Gegenwart immer öfter im Zeichen eines Streites um gesellschaftlich maßgebliche Wertorientierungen geführt (vgl. Mohn/Weidenfeld/Werner 2006 ; Hennerkes/Augustin 2012). Dabei stehen vor allem die Konfrontation unterschiedlicher →Kulturen und Lebensstile, der gesellschaftliche Wertewandel im Zuge der Individualisierung sowie Lebensein-
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stellungen, die aus Gründen der Sicherung des Gemeinwohls einer Änderung unterworfen werden müssen, im Fokus der Auseinandersetzung. Ob die Berufung auf Mitgefühl oder Fleiß, Gastfreundschaft oder Solidarität, auf die Familie (→Verwandtschaft) oder die →Heimat, ob die Aufforderung zur Bewahrung der Schöpfung oder der Verteidigung des »Abendlandes«, ob die Adressierung der Bürger*innen als Deutsche (→deutsch), als Europäer*innen (→Europa) oder schlicht als Mitmenschen – in allen diesen Fällen werden Wertorientierungen in Anspruch genommen. Insbesondere die Berufung auf als fundamental gesehene Werte dient oftmals als conversation stopper : Sie markiert, worüber nicht mehr verhandelt werden könne, sondern was als Voraussetzung akzeptiert werden müsse. Daher resultiert die Verbitterung, mit der mitunter der Streit über Wertorientierungen in der Öffentlichkeit geführt wird. So werden zum Beispiel in der Konfrontation von prolife- und pro-choice-Aktivist*innen in der US-amerikanischen Debatte um das Recht auf Abtreibung mit dem Lebenswert des Embryos und dem Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frauen unterschiedliche Grundwerte als unverhandelbar gegeneinander in Stellung gebracht – mit der Konsequenz erheblicher gesellschaftlicher Verwerfungen. Ähnliche Diskussionen gibt es auch zu anderen Themen und in anderen Ländern, wie zuletzt speziell zu den Kontroversen um die Sterbehilfe in vielen Ländern Europas. Sollen Wertegemeinschaften (→Gemeinschaft) gesellschaftliche Kohäsion verbürgen, muss bedacht werden, dass sich vor allem grundlegende Werte in einem Spannungsverhältnis zueinander befinden. Die soziale Inklusion der einen in bestimmte Wertegemeinschaften kann mit der Exklusion anderer korrelieren ; damit verbunden besteht – in Fragen beispielsweise des Anfangs oder des Endes menschlichen Lebens und seiner Schutzwürdigkeit, des öffentlichen Stellenwertes religiöser Gebote, der Autorität von →Tradition und Herkunft, des Schutzes und der Nutzung der Natur – die Gefahr der Ausbildung von FreundFeind-Schemata und des Kommunikationsabbruchs zwischen den Lagern. Aus diesen Gründen hat der politische Liberalismus zugunsten der Institutionalisierung politischer Normen grundsätzlich für öffentliche Wertenthaltsamkeit plädiert. Normen fungieren, so die Argumentation, als Regeln der Verständigung und Entscheidungsfindung ohne die affektive oder gar ideologische Besetzung, die Werten anhänge. Debatten der politischen Philosophie zwischen den Lagern des Liberalismus und des Kommunitarismus betreffen ganz wesentlich auch die Bedeutung von Werten für die politische Gestaltung der Gesellschaft. Die Bindungskraft von Werten erklärt, warum der gesellschaftliche Diskurs über Werte speziell in Krisenzeiten zu beobachten ist. Fraglose, unstrittige und
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daher unproblematische Wertorientierungen bedürfen keiner appellativen Berufung auf Werte. Ein reger Diskurs deutet hingegen an, dass die Bindungskraft der adressierten Werte nicht (mehr) selbstverständlich ist. Insofern ist die Wertekommunikation ein Zeichen für den Wandel von Wertorientierungen : für ihr Verblassen, ihre bewusste Preisgabe oder sukzessive Transformation. Dabei lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die sozialstrukturellen Einbettungsverhältnisse von Wertorientierungen. Wertekommunikation hat in diesem Zusammenhang die Funktion entweder der Verzögerung und Abwendung oder der Beschleunigung und Verstetigung eines gesellschaftlichen Wandels. So bedingen beispielsweise sozialstrukturelle Faktoren wie die Pluralisierung von beruflichen Optionen oder die Abnahme traditional-familialer Bindungen (→Verwandtschaft) die Zunahme gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse, durch die bislang unproblematische Wertorientierungen strittig und gesellschaftlich debattiert werden (vgl. Junge 2002). Der Anstoß oder die Verarbeitung faktischer oder erwarteter sozialstrukturel ler Änderungen und damit einhergehender Veränderungen der Lebenswelt geht nicht zuletzt von politischen Bewegungen aus, die sich im Bemühen um Artikulation basaler Wertorientierungen formieren. So ist beispielsweise für die Migrationsdebatte – insbesondere im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 – eine zunehmende Polarisierung gesinnungs- und verantwortungsethischer Positionierungen in einander bekämpfende Lager (open borders vs. »Festung Europa«) verzeichnet worden (→Asyl →Flüchtling →Migration) (vgl. Ott 2016). Fundamentale Kontroversen zeigen heute immer öfter Tendenzen zur Konfliktverschärfung bis hin zur extremistischen Politisierung von Wertorientierungen (vgl. Weiß 2018).
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Etymologisch wird der Wertbegriff zur Bezeichnung einerseits des »Wert-seins« eines materiellen oder immateriellen Wertobjekts für einen Einzelnen oder eine bestehende →Gemeinschaft, andererseits aber dieses Wertobjekts selbst, des »Wert-Seienden« verwendet (Grimm 1954). Der früheste Gebrauch des Wertbegriffs im Sinne des »Wert-seins« versteht ihn im Sinne von »Preis« ; gebräuchlich ist ferner die Bedeutung der Geltung, und zwar zunächst einer Währung, darüber hinaus in fachsprachlichen Kontexten der Geltung von Messwerten in der Mathematik, von Wahrheitswerten in der Logik oder von Notenwerten in der Musik ; dann aber auch allgemein der Geltung einer Sache oder Handlung, die Einzelnen oder vielen etwas bedeutet und von Nutzen zu sein scheint ; schließlich
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auch der Geltung einer Person, ihres Ranges, Ansehens und ihrer Würde. Unter dem Wertseienden wiederum werden sprachgeschichtlich zunächst Zahlungsmittel verstanden, etwa eine Kaufsumme, der Erlös oder Ertrag aus einer finanziellen Transaktion oder der Lohn für eine erbrachte Leistung ; ferner bezeichnet der Wert materielle und immaterielle Güter. Die Unterscheidung zwischen Werten und Gütern ist wichtig, da sie es erlaubt, die etwaige Diskrepanz zwischen Werten und ihrer Verwirklichung oder Verkörperung in bestimmten Gütern begrifflich zu markieren. Auf der Behauptung einer →Identität von Gütern und Werten beruht beispielsweise die Werbung, und vielfach ist der Streit um Werte viel eher ein Streit um diejenigen Güter, in denen sich bestimmte Werte vermeintlich angemessener- oder unangemessenerweise verkörpern. So ist es beispielsweise in den USA zunehmend strittig, ob durch das Tragen von Waffen, garantiert durch den zweiten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, der zentrale Freiheitswert der amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wird oder ob es sich bei dem Selbstverständnis, mit dem dieses Recht in Anspruch genommen wird, um das Relikt eines rugged individualism handelt, das der engmaschigen und konfliktträchtigen Vernetzung der Menschen in einer bevölkerungsreichen, urbanen und industrialisierten Gesellschaft nicht mehr angemessen ist. Begriffsgeschichtliche Konjunkturen erfährt der Wertbegriff erstmals um 1900 und dann wieder etwa 100 Jahre später. In beiden Fällen ist die Verwendung des Begriffs symptomatisch für einschneidende Krisen der Gesellschaft oder einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen. Die besagten Konjunkturen des Wertbegriffs verdanken sich der Diffusion seiner theoriesprachlichen Verwendung aus den wissenschaftlichen Fachdiskursen der Philosophie sowie der Kultur- und Sozialwissenschaften in eine breitere Öffentlichkeit. Um 1900 ist die Konjunktur des Wertbegriffs im Kontext des »Nihilismusproblems« zu verorten : Friedrich Nietzsches Diktum von der »Umwertung aller Werte« bezeugt eine gesellschaftliche Orientierungskrise, in der basale Wertorientierungen reflexiv problematisiert werden (vgl. Schnädelbach 1983). Der Verlust einer traditionell verbürgten Wertordnung soll durch die Wertphilosophie kompensiert werden, die ein öffentliches Interesse auf sich zieht. Das Vorwort im ersten Band des »Logos«, der neu gegründeten und damals überaus prominenten Internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur, fordert 1910 »Einsicht in den Eigenwert jeder nationalen →Kultur« (Kroner/Mehlis 1910 : II). Die Zeitschrift widmet sich – mit einem Wort des Philosophen Heinrich Rickerts – dem Studium der »Kulturwerte«. Die Mehrzahl ihrer Leser*innen stammt aus dem Bildungsbürgertum. Eine Vielzahl bildungssprachlicher populärphilosophischer
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Publikationen greift den Wertbegriff auf, oftmals in Verbindung mit dem Begriff der Welt- und Lebensanschauung. Der Philosoph Max Frischeisen-Köhler versammelt in seiner auflagenstarken Anthologie »Weltanschauung« das Who’s Who der damaligen deutschen Gelehrtenwelt und stellt ihren Beiträgen zu dem Band in der Einleitung voran, »daß die Bausteine, welche die wissenschaftlichen Forscher herbeischaffen, in einen einheitlichen Gesamtplan der Wirklichkeit hineingehören, in welchem auch die Wertordnung unseres Lebens, unsere letzten Ziele, unser letztes Sein, verfestigt sind« (Frischeisen-Köhler 1911 : IX). Der Appell an die Werte ist hier vor allem sinnstiftend-erbaulich gemeint. Stand der »Logos« zur Zeit seiner Gründung noch im Dienst eines »Supernationalismus«, der den Besonderheiten der historischen Entwicklung in den nationalen →Kulturen ebenso gerecht werden wollte wie dem »Wert der einen, einheitlichen Kulturmenschheit« (Kroner/Mehlis 1910 : I), so ist in seinen Jahrgängen nach Beginn des Ersten Weltkriegs bereits eine schleichende Nationalisierung des Programms zu verzeichnen, die nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Umwidmung des Periodikums in Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie und schließlich zu seiner Einstellung führte (vgl. Rudolph 2020). Diese Entwicklung mag exemplarisch verdeutlichen, warum der Wertbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg für Jahrzehnte im öffentlichen Diskurs keine herausragende Rolle mehr spielte. Eine zweite Konjunktur des Begriffs deutete sich erst wieder um die Jahrtausendwende an. Nach dem Zerfall der großen ideologischen Blöcke der Nachkriegszeit, im Zuge der politischen Entwicklung der Europäischen Union (→Europa), der geopolitischen Auseinandersetzung mit dem Islamismus (→Islam) und der Debatte um →Migration einerseits sowie in Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel, die Auflösung klassischer Rollenmuster (→Geschlecht/ Gender) und die Pluralisierung von Beziehungsformen andererseits sind seit den 1990er Jahren vermehrt wieder »Werte« in unterschiedlichen Begriffsverbindungen in die öffentliche Aufmerksamkeit gelangt. Ging es um 1900 vornehmlich um die Sinndimension von Wertorientierungen – daher die enge Verbindung des Wertbegriffs mit dem der Lebens- und Weltanschauung –, steht um 2000 angesichts der »neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas 1985) die sozialintegrative Bedeutung von Werten im Vordergrund der Debatten. Darüber hinaus rückt die Frage nach der Bedeutung von Werten für das demokratische Gemeinwesen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit (→Demokratie). Die westlichen Gesellschaften befinden sich in einer Lage, die in der Fachliteratur als »Krise der Repräsentation« oder sogar schon als »Postdemokratie« bezeichnet worden ist. Das Selbstverständnis dieser Gesellschaften,
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das von der Idee der demokratischen Partizipation ihrer Bürger*innen an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens geprägt ist, wird durch wachsende Politikverdrossenheit einer Bewährungsprobe ausgesetzt. Die Anziehungskraft eines gemeinsam geteilten öffentlichen, politischen und kulturellen Raums als Ort wechselseitiger Anerkennung, die Bürger*innen im und durch den Austausch von Perspektiven, Erwartungen und Überzeugungen auf der Grundlage des Bewusstseins staatsbürgerlicher Gemeinsamkeit einander leisten, scheint nachzulassen. Wo die der Gegenwart vielfach attestierte Krise der Repräsentation im Kern als eine Krise des Gemeinsinns gedeutet wird, ist oftmals auch der Rekurs auf Werte zu verzeichnen. Besondere Prominenz hat in diesem Zusammenhang das sogenannte Böckenförde-Diktum des Staatsrechtlers und ehemaligen Richters des deutschen Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde erlangt : »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« (Böckenförde 1991 : 112). Zu diesen Voraussetzungen werden gemeinsame Werte und wertegenerierende Institutionen gezählt.
Wissenschaftsgeschichte(n) Der Wertbegriff wird zuerst im Rahmen der Werttheorien der klassischen politischen Ökonomie (Adam Smith, John Stuart Mill, David Ricardo und Karl Marx) aus seinen gebrauchssprachlichen gesellschaftshistorischen Verwendungskontexten in den theoriesprachlichen Diskurs der Wissenschaft überführt. Die Philosophie, insbesondere der Neukantianismus in Deutschland, übernimmt ihn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus der politischen Ökonomie, um mit ihm einen selbständigen Objektbereich von Geltungen zu bezeichnen und die Ontologie (als Lehre vom Seienden) durch die Axiologie (als Lehre von den Werten) zu ergänzen. Während die Philosophie nach der Geltung und den Geltungsgründen von Werten fragt, beschäftigen sich die Geschichts- und die Politikwissenschaft, die Kultur- und Sozialwissenschaften mit der Genese, Funktionsweise und Verkörperung von Werthaltungen in →Kultur und Gesellschaft. Sie sind primär an »broad motivational constructs« (Schwartz 2016 : 63) interessiert, die sich kulturellen oder religiösen Prägungen und Praktiken, sozialen Lagen oder psychischen Prädispositionen verdanken ; zugleich widmen sie sich den empirischen Wirkungen, die diese Konstrukte als »guiding principles« (ebd.) in einer Person oder sozialen Entität entfalten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts dient der Wertbegriff in der Geschichtswis senschaft sowie in den Kultur- und Sozialwissenschaften überdies dazu, die
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menschlichen Weltverhältnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausdifferenzierung in unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsbereiche zu untersuchen. Max Weber spricht von gesellschaftlichen Sphären mit spezifischen Wertorientierungen, die in ein Konkurrenzverhältnis zueinander treten könnten (vgl. Weber 1988 : 536ff.). Webers Ansatz war einflussreich für die Entwicklung von Theorien gesellschaftlicher Differenzierung bis zur Systemtheorie von Niklas Luhmann (vgl. Schimank 2007), denen zufolge die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche (zum Beispiel der Bereiche von Religion, Recht, Wirtschaft, Kunst) integraler Bestandteil der Entwicklungsgeschichte der →Moderne bzw. Moder nisierung sei. Die sozialwissenschaftliche Sensibilität für Werte erschöpft sich aber nicht in diesen Zugängen. Die Gesellschaft wird auch nach Maßgabe sphärenübergreifender Wertorientierungen und ihrer Spannungen untereinander untersucht, etwa anhand der Spannung zwischen universalen (alle Menschen unterschiedslos adressierenden) und partikularen (einzelne Gruppen von Menschen adressierenden) Werten, zwischen instrumentellen und intrinsischen Wertorientierungen, zwischen Werten mit unterschiedlichen (zum Beispiel religiösen oder erotischen) Quellen ihrer Bindungskraft (vgl. Joas 2017). Untersucht die Sozialtheorie die sozialen Grundlagen gesellschaftlicher Wertordnungen, ist die Beobachtung, Messung und Interpretation der Änderung faktischer Wert orientierungen der Gegenstand der historischen Werteforschung (vgl. Dietz/ Neumaier/Rödder 2014). Die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung zur gesellschaftlichen Funktion von Wertorientierungen entbindet freilich nicht von der Aufgabe, deren Geltungsanspruch zu prüfen, zumal Werte in den gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Diskursen faktisch vermehrt in Anspruch genommen werden. Daher kommt der axiologischen Grundlagenforschung der Philosophie in der Gegenwart erhöhte Bedeutung zu. Der Soziologe Hans Joas hat bereits in den 1990er Jahren auf diese Lage reagiert und mit »Die Entstehung der Werte« eine anthropologisch-sozialphilosophische Fundierung von Werten vorgelegt, die die ideengeschichtlichen Anregungen unterschiedlicher Theorietraditionen systematisch zusammenführt und die sozialtheoretische Relevanz des Wertbegriffs für eine Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen deutlich macht (vgl. Joas 1997). Geltungslogisch können drei Typen von Werttheorien unterschieden werden, die jeweils ihre eigene philosophische Tradition haben : Objektive Werttheorien (vgl. Scheler 1966) behaupten, dass Werte »in der Welt« seien und von den Subjekten »entdeckt« werden könnten ; subjektiven Werttheorien zufolge sind die Werte »in den Köpfen«, durch Akte der Zustimmung zu bestimmten Gegenständen, Sachverhalten oder Handlungen (vgl. Stevenson 1963) oder aber durch de-
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ren Empfehlung oder Forderung (vgl. Hare 1983) »gemacht« ; relationale Werttheorien verbinden beide Ansätze miteinander. Denn diese beiden Typen haben jeweils unterschiedliche Argumente für sich : Für die subjektiven Werttheorien spricht das kulturanthropologische Argument, dass die enorme Kulturvarianz von Werten die Existenz unterschiedlicher Lebensformen mit jeweils eigenen Präferenzstrukturen nahelegt. Die objektiven Werttheorien können für sich das formalanthropologische (Gegen-)Argument in Anspruch nehmen, dass es eine ganze Reihe von Werten gibt, die offenbar eine kulturinvariante und überzeitliche Geltung besitzen (wie Gastfreundschaft und Solidarität). Ferner kann der Wertobjektivismus das phänomenologische Argument in Anschlag bringen, dass wir zwischen subjektiven Präferenzen und solchen Werten zu unterscheiden vermögen, die wir als unabhängig von uns gegeben erleben ; entsprechend können wir auch Gewünschtes und Wünschenswertes auseinanderhalten. Zu den relationalen Werttheorien zählen zunächst naturalistische Ansätze. Sie verorten die Werte im evolutionären Entwicklungskontinuum der Organismus-Umwelt-Beziehung und führen menschliche Vorzugsordnungen von individuellen Bedürfnissen bis zu sozialethischen Wertorientierungen auf deren »Anpassungsvorteile« für das Überleben der Gattung oder Kerngruppe zurück (vgl. Boyd 1985 ; Dawkins 1989). Freilich wird diesem Erklärungsansatz vorgeworfen, dass er dem naturalistischen Fehlschluss von einem Sein auf ein Sollen unterliege und nicht dem Umstand gerecht werde, dass in menschlichen Gesellschaften eine Vielzahl von Verhaltensdispositionen, für die evolutionstheoretische und verhaltensbiologische Erklärungen in Anspruch genommen würden, gleichwohl moralisch verurteilt würden, während andere Verhaltensdispositionen, die auf diese Weise schwer erklärt werden könnten (zum Beispiel Formen der Selbstaufopferungsbereitschaft), unter Umständen besonders honoriert würden. Außerdem lässt sich im Einzelfall schwer zwischen evolutionären und kulturell erworbenen Dispositionen unterscheiden. So mag beispielsweise die Xenophobie evolutionäre Grundlagen haben, sie ist als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen aber niemals hinreichend biologisch erklärbar, da biologische Dispositionen auf jeweils unterschiedliche Weise enkulturiert und deren Objekte, im Beispielsfall der Xenophobie das jeweilige Fremde, zuallererst kulturell formiert werden (→Rassismus). Unter den naturalismuskritischen Vertreter*innen relationaler Werttheorien erkennt der Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor (1989) in den menschlichen Wertorientierungen das Resultat der »besten Artikulation«, die Menschen ihrer Erfahrung geben könnten ; die Erfahrung sei demnach untrennbar von ihrer Artikulation, die dem Erfahrenen erst die Prägnanz eines spezifi-
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schen Wertbewusstseins verleihe. Dabei müsse die Artikulation immer auf Vokabulare zurückgreifen, die dem Menschen durch seine jeweilige →Kultur zur Verfügung gestellt würden, so Taylor. Der Philosoph John McDowell (2009) wiederum schlägt vor, Werte nach dem Muster »sekundärer Qualitäten«, also Sinnesqualitäten wie Geschmack oder Farbe, zu verstehen. Dabei handle es sich um Eigenschaften eines Gegenstands mit der Disposition, in Beobachter*innen eine Wahrnehmung bestimmter Art zu evozieren. Analog sind McDowell zufolge Gegenstände wertvoll, deren Eigenschaften die Disposition haben, in den Subjekten eine Wertschätzung hervorzurufen. Auch McDowell berücksichtigt die Kulturvarianz der besagten dispositionellen Eigenschaften. Demgegenüber macht der Philosoph Thomas Nagel (1992) die Realität der Werte von intersubjektiven Begründungsverfahren abhängig, die vom Einzelnen erforderten, die Binnenperspektive seiner Präferenzen zu verlassen ; die Realität der Werte resultiere aus Wertungen, an denen wir von einem unparteiischen Standpunkt aus festhielten, der ganz unterschiedliche Perspektiven berücksichtige. Diesem Verständnis nach wird die Universalisierbarkeit zum Gradmesser der Objektivität von Werten.
Ausblick Werden Wertbegriffe als Beziehungsbegriffe und Werte als relationale Phänomene verstanden (vgl. Fuchs 2020), gelingt es, essentialistische und konstruktivistische Ansätze in Philosophie, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften zu verbinden und zwischen subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen der Werttheorie zu vermitteln. Relevant für den demokratischen Diskurs über Werte ist die Beachtung von vor allem folgenden drei Punkten : erstens die »tiefsitzende« Verankerung von Wertorientierungen im Organismus-Umwelt-Verhältnis, in der frühkindlichen Interaktion mit relevanten Bezugspersonen und in der Sozialisation ; zweitens die Artikulationsbedürftigkeit der kommunizierten Werte, insbesondere im Falle solcher Werte, die eine große Bedeutung für die Identitätsbildung von Individuen und Kollektiven spielen : Die sprachliche Artikulation dieser Werte trägt zu ihrer Prägnanzbildung wesentlich bei und ermöglicht erst, dass ihr Gehalt auch aus unterschiedlichen Perspektiven nachvollziehbar wird. Drittens schließlich ist ihre Umstrittenheit zu beachten, da insbesondere die vergemeinschaftende Artikulation von Werten Inklusion fördert und zugleich Exklusion bewirkt. Dabei ist nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen partikularen sowie zwischen partikularen und universalen Wertorientierungen zu berücksichtigen, sondern auch die Konkurrenz
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unterschiedlicher gesellschaftlicher Wertsphären (wie zum Beispiel im Falle der Beurteilung des Umgangs mit Mohammed-Karikaturen zwischen künstlerischer Freiheit und religiöser Toleranz als weitgehend konsensfähigen Werten westlicher Gesellschaften). Charles Taylor hat die Abhängigkeit der »starken«, das heißt der für die Lebensführung besonders relevanten Wertorientierungen, von der Fähigkeit der Menschen zur reflexiven Selbstbewertung ihrer Wünsche und Präferenzen im Lichte von höherstufigen Werten und Gütern hervorgehoben (vgl. Taylor 1988). Es zeichne den Menschen im Unterschied zu nichtmenschlichen Gattungen aus, dass er sich zu Werten und zu seinen jeweiligen Wertorientierungen wiederum – ablehnend, bejahend, abwägend, beurteilend – verhalten könne. Die zivilgesellschaftliche Verständigung über gemeinsam geteilte Werte bedarf insbesondere solcher »höherstufiger« Werte, die dazu motivieren, einen diskursiven Streit zugleich fair, respektvoll und mit wechselseitiger Verständnisbereitschaft zu führen. Dabei handelt es sich um Werte demokratischer Selbstverständigung der Bürger*innen. Im Anschluss an Hannah Arendt könnte man solche Werte auch als politische Tugenden bezeichnen (vgl. Arendt 2002). Insbesondere in den besonders harten Kontroversen über →Migration, über Selbstbestimmung und Schutz des Lebens sowie über die nötigen gesellschaftlichen Veränderungen zum Erhalt der Lebensbedingungen auf der Erde werden sich ohne die Förderung dieser Verständnis- und Verständigungsbereitschaft bestehende gesellschaftliche Verwerfungen voraussichtlich vertiefen.
Literatur Arendt, Hannah (2002) : Vita active oder Vom tätigen Leben. München. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1991 [1967]) : Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In : ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zu Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt am Main, S. 42–64. Boyd, Robert/Richerson, Peter J. Richerson (1985) : Culture and the Evolutionary Process. Chicago. Dawkins, Richard (1989) : The Selfish Gene. 2. Auflage. Oxford. Dietz, Bernhard/Neumaier, Christopher/Rödder, Andreas (Hg.) (2014) : Gab es den Wertewandel ? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren. München. Frischeisen-Köhler, Max (Hg.) (1911) : Weltanschauung. Berlin. Fuchs, Thomas (2020) : Wahrnehmung und Wirklichkeit. Skizze eines interaktiven Realismus. In : ders.: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin, S. 146–176.
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Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1854) : »Wert«. In : dies.: Deutsches Wörterbuch, 16 Bände in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Band 29, Sp. 460–469. Habermas, Jürgen (1985) : Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main. Hare, Richard M. (1983) : Die Sprache der Moral. Frankfurt am Main. Hennerkes, Brun-Hagen/Augustin, George (Hg.) (2012) : Wertewandel mitgestalten. Gut handeln in Gesellschaft und Wirtschaft. Freiburg. Joas, Hans (1997) : Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main. Joas, Hans (2017) : Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin. Junge, Matthias (2002) : Individualisierung. Frankfurt am Main. Kroner, Richard/Mehlis, Georg (1910) : Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 1(2). Tübingen. Mackie, John L. (1977) : Ethics. Inventing Right and Wrong. New York et al. McDowell, John (2009) : Werte und sekundäre Qualitäten. In : ders.: Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie. Frankfurt am Main, S. 204–230. Mohn, Liz et al. (Hg.) (2006) : Werte. Was die Gesellschaft zusammenhält. Gütersloh. Nagel, Thomas (1992) : Der Blick von Nirgendwo. Frankfurt am Main. Ott, Konrad (2016) : Zuwanderung und Moral. Stuttgart. Rudolph, Enno (2020) : Logos und die Politik. In : Zeitschrift für Kulturphilosophie 2, S. 93–100. Scheler, Max (1996) : Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern. Schimank, Uwe (2007) : Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Wiesbaden. Schnädelbach, Herbert (1983) : Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt am Main. Schwartz, Shalom H. (2016) : Basic individual values : sources and consequences. In : Brosch, Tobias/Sandner, David (Hg.) : Handbook of Value. Perspectives from Economics, Neuroscience, Philosophy, Psychology, and Sociology. Oxford, S. 63–84. Schwemmer, Oswald (Hg.) (1996) : »Wert(moralisch)«. In : Mittelstraß, Jürgen (Hg.) : Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Band 4). Stuttgart, S. 662–663. Stevenson, Charles L. (1963) : Facts and Values. Studies in Ethical Analysis. Yale. Taylor, Charles (1988) : Was ist menschliches Handeln. In : ders.: Negative Freiheit ? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt am Main, S. 9–51. Taylor, Charles (1996) : Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main. Weiß, Volker (2018) : Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart.
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Willkommenskultur
Kurzdefinition Willkommenskultur steht für eine Anerkennung und Wertschätzung gesamtgesellschaftlicher Vielfalt. Der Begriff beinhaltet eine positive Grundhaltung gegenüber Neuankommenden (»Willkommen«), die als spezifische Umgangsform in betrieblichen, nachbarschaftlichen und administrativen Alltagsroutinen verankert ist. Er schließt teilweise auch eine »Anerkennungskultur« gegenüber bereits im jeweiligen Land lebenden Menschen mit →Migrationshintergrund ein. Ziel der Willkommenskultur ist es, attraktive Lebensbedingungen für Menschen unabhängig von der Herkunft zu gewährleisten und →Integration zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu machen.
Gesellschaftliche Situation Der Begriff entwickelte sich im Sommer 2015 zu einem zentralen Leitbegriff politischer Debatten um →Migration und →Asyl. Ursache war die Welle zivilgesellschaftlicher Unterstützung, die 2015 in Deutschland und anderen europäischen Ländern als Reaktion auf den Flüchtlingszuzug, die temporäre Überlastung staatlicher Infrastrukturen und zum Teil in expliziter Abgrenzung zu rassistischen Übergriffen entstand (→Europa →Flüchtling →Rassismus). An zahlreichen Orten entwickelten sich Initiativen, die sich um eine Notversorgung und alltägliche Unterstützung der Geflüchteten bemühten. Ehrenamtliche übernahmen vielfältige Tätigkeiten, etwa »die Begleitung bei Behördengängen, Sprachunterricht, Übersetzungsarbeiten, Fahrdienste sowie Spenden« (Daphi/Stern 2019 : 270). Ausgelöst hatten die zivilgesellschaftliche Willkommenskultur tödliche Schiffsunglücke auf dem Mittelmeer, erfolgreiche massenhafte Praktiken der (Flucht-)Migration, die das europäische Migrationskontrollregime temporär außer Kraft setzten, überforderte staatliche Strukturen und in der Folge eine unmittelbar sichtbare Notsitua tion der in Europa ankommenden Geflüchteten (vgl. Ratfisch/Schwiertz 2016). Die »Willkommensinitiativen« entwickelten sich zwar in vielen Fällen eher spontan und unkontrolliert, profitierten aber infrastrukturell von zuvor bereits
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bestehenden aktivistischen und kirchlichen Strukturen, die Erfahrungen und Ressourcen zur Verfügung stellten (vgl. Daphi/Stern 2019 : 269). Die selbsterklärte Motivation der Engagierten reichte von karitativer Nächstenliebe und praktischem Humanismus bis hin zu einer explizit politisch artikulierten Kritik der europäischen und jeweils nationalen Grenz- und Migrationspolitik (→Europa →Nationalstaat) (Fleischmann/Steinhilper 2017). Flüchtlingshelfer*innen verbanden mit ihrem Engagement gleichzeitig auch eigene Interessen wie zum Beispiel die Erfahrung eines Gemeinschaftsgefühls in den Initiativen oder eine »andere →Kultur« kennenzulernen (→Fluchthilfe →Gemeinschaft) (vgl. Karakayali/Kleist 2016). Bei einigen Ehrenamtlichen, die vorwiegend aus der bürgerlichen Mittelschicht stammten, führten die mit dem Engagement verbundenen Erfahrungen zu einer Politisierung, zum Beispiel in der Wahrnehmung struktureller Gewalt des deutschen Wohlfahrtsstaates gegenüber Migrant*innen in Form von Konflikten mit der staatlichen Verwaltung oder Abschiebungen (vgl. Daphi/Stern 2019 : 275 ; Karakayali 2017 : 20). Das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete (→Flüchtling) im Jahr 2015 machte vorgängige Prozesse der sukzessiven Normalisierung von Diversität und der Anerkennung von Vielfalt sichtbar, durch die Vorstellung einer homogenen Kultur der Gesellschaft und mit ihnen einhergehende Einstellungsmuster in Teilen der Bevölkerung an Bedeutung verloren hatten (vgl. Foroutan 2019). Die Ankunft von Geflüchteten in Europa wurde in der Folge zwar von Teilen der Bevölkerung noch als Bedrohung erlebt. Andere – selbst dort, wo es zuvor »weniger Kontakt mit den Realitäten einer Migrationsgesellschaft« (Karakayali 2017 : 18) gegeben hatte – empfanden hingegen intuitiv eine solidarische Nähe zu den Neuankommenden, die mit einer hohen Bereitschaft einherging, Geflüchteten zu helfen. In politischen Konflikten um Willkommenskultur zeigte sich in der Folge exemplarisch eine gesellschaftliche Polarisierung zwischen explizit rassistischen (→Rassismus) und nationalistischen Verteidiger*innen einer imaginierten homogenen Nation (→Nationalstaat) und progressiv-liberalen Positionen, die Diversität befürworteten und sich für einen menschenwürdigen Umgang mit →Flüchtlingen positionierten (vgl. Bade 2016 ; Foroutan 2019). Seit 2015 hat der Begriff der Willkommenskultur deutlich an gesellschaftlicher Relevanz verloren.
Begriffsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Willkommenskultur ist ein relativ neuer Begriff, der seit dem »langen Sommer der Migration« (Hess et al. 2017) überwiegend zur Kennzeichnung einer Konjunktur von zivilgesellschaftlichem Engagement für neu angekommene Geflüch-
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tete im Jahr 2015 verwendet wird, das von Nothilfe über Sprachkurse bis hin zu verschiedenen Formen der Alltagsunterstützung (zum Beispiel bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie Behördengängen) reicht. Der Begriff wurde in den Jahren zuvor bereits als Bezeichnung für eine betriebliche →Kultur verwendet, die Diversität begrüßt und sich darum bemüht, positive Bedingungen für den Berufseinstieg von Migrant*innen zu schaffen.1 Darüber hinaus findet er sich als Chiffre für behördliche Transformationsprozesse und lokale Behördenkulturen, die über Strategie- und Organisationsentwicklung, Personalentwicklung und Vernetzung vor Ort die Ankunftsbedingungen für Migrant*innen zu verbessern versuchen (vgl. Imani et al. 2015). Ein Beispiel hierfür ist das von 2013 bis 2015 in Deutschland laufende Modellprojekt »Ausländerbehörden − Willkommensbehörden« des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das darauf abzielte, restriktive ordnungs- und sicherheitspolitische Ausrichtungen von Ausländerbehörden in Richtung integrationspolitischer Leitlinien zu öffnen (→Integration →Sicherheit) (vgl. Eule 2017 : 190). Die zuvor auf einzelne Betriebe oder Behörden begrenzte Aufgabe, eine Willkommenskultur zu etablieren, wurde in Deutschland 2015 im öffentlichen Diskurs auf die Gesamtgesellschaft ausgeweitet und etablierte sich als Begriff auch in anderen deutschsprachigen Ländern. Der Begriff der Willkommenskultur wurde 2015 sowohl von Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe als auch von Politiker*innen und Medien aufgegriffen und positiv hervorgehoben (vgl. Hemmelmann/Wegner 2017). »Deutschland setzt ein Zeichen : Flüchtlinge, willkommen !«, erklärte selbst die Bild-Zeitung, deren Berichterstattung oftmals durch rassistische Angstkampagnen und Bedrohungsszenarien geprägt ist (→Angst →Rassismus) (vgl. Jäger/Wamper 2017). Autoritär-populistische Akteure wie die AfD oder PEGIDA diffamierten das zivilgesellschaftliche Engagement hingegen als naiv und weltfremd (zum Beispiel über Begriffe wie »Bahnhofsklatscher« oder »Gutmenschen«, vgl. Huke 2019a : 79f.) (→Populismus). Bereits Ende 2015 – und verstärkt mit den breitdiskutierten Diebstahldelikten und der sexualisierten Gewalt auf dem Domvorplatz in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 (vgl. Arendt et al. 2017) – wurde medial ein »Ende« der Willkommenskultur konstatiert, während sich das zivilgesellschaftliche Engagement im Alltag – trotz deutlich sichtbarer Ermüdungserscheinungen – fortsetzte (vgl. Jäger/Wamper 2017 ; Vollmer/Karakayali 2017). Der alltägliche Einsatz für Geflüchtete wird mit der veränderten politischen Situation nach 2015 jedoch seltener als Element einer Willkommenskultur benannt. 1 Vgl. KOFA (2016) : Willkommenskultur im Unternehmen. URL : https://www.kofa.de/fileadmin/ Dateiliste/Publikationen/Handlungsempfehlungen/Willkommenskultur.pdf [14. Juli 2020].
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Stattdessen verwendete Begriffe wie Flüchtlingshilfe oder ehrenamtliches Engagement ordnen die unterstützenden Praktiken diskursiv weniger stark als Teil einer Bewegung in Richtung einer Anerkennung und Wertschätzung gesamtgesellschaftlicher Vielfalt ein. Die politischen Implikationen des Engagements geraten aus dem Blick, es wird auf individuelle Unterstützungsleistungen reduziert.
Wissenschaftsgeschichte(n) In der wissenschaftlichen Debatte um Willkommenskultur lassen sich vier zen trale Forschungsstränge identifizieren. Erstens werden Machtasymmetrien, Paternalismus und →Rassismus in der Flüchtlingshilfe herausgestrichen und kritisiert (vgl. Fleischmann/Steinhilper 2017 ; Braun 2019). Exemplarisch konsta tieren die Soziologen Philipp Ratfisch und Helge Schwiertz, dass der Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen für Geflüchtete (→Flüchtling) von ihrer Dankbarkeit – »›ein Lächeln reicht‹ – und direkt von der Laune der Helfenden abhängig« sei (Ratfisch/Schwiertz 2016 : 25). Zweitens werden Widersprüche zwischen einer immer restriktiveren Migrationskontrollpolitik und der von Medien und institutioneller Politik positiv hervorgehobenen zivilgesellschaftlichen Willkommenskultur identifiziert. Auf Deutschland bezogen kritisierten etwa Ratfisch und Schwiertz, das zivilgesellschaftliche Engagement werde von politischen Eliten genutzt, um »das Image der deutschen Nation aufzupolieren, das durch die rassistischen Proteste international stark beschädigt worden war« (ebd.: 24). Ein dritter Forschungsstrang widmet sich der Frage nach den gesellschaftlichen Folgen, wenn der Staat auf ehrenamtliches Engagement zurückgreift, um seine Aufgaben zu erfüllen. Die Soziologin Silke van Dyk und die Psychologin Elène Misbach (2016) stellen fest, dass es im Zuge der Willkommenskultur zu einer Indienstnahme bürgerschaftlichen Engagements durch den Staat komme. Das Engagement werde zu einem Element einer neoliberalen Transformation von Sozialstaatlichkeit, in der staatlich garantierte Rechte und professionelle soziale Arbeit durch deprofessionalisierte freiwillige zivilgesellschaftliche Leistungen ersetzt würden. Der vierte Forschungsstrang untersucht politische Implikationen eines sich selbst als pragmatisch-problemlösend und unpolitisch begreifenden alltäglichen ehrenamtlichen Engagements. Die Sozialwissenschaftlerin Katherine Braun (2019) beschreibt, wie im Zuge der Arbeit mit Geflüchteten gesellschaftliche Hierarchien durch alltägliche Interaktionen situativ herausgefordert würden, da
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in Begegnungsräumen Formen der Bezugnahme aufeinander und geteilte Erfahrungen entstünden. Der Kulturanthropologe Ove Sutter begreift Willkommenskultur als experimentelle alltagsweltliche Mikropolitik, die neue soziale Beziehungen hervorbringe, die »ansonsten im Alltag aufgrund sozialräumlicher Segregation eher unwahrscheinlich waren« (Sutter 2019 : 317).
Ausblick Die Kulturwissenschaftler*innen Werner Schiffauer, Anne Eilert und Marlene Rudloff sehen ein progressives Potential der Willkommenskultur darin, dass sich »die Kultur einer Einwanderergesellschaft entwickelt« und damit die Faktizität ein Einwanderungsland zu sein, auch »gesellschaftlich und kulturell nachvollzogen wird« (Schiffauer/Eilert/Rudloff 2017 : 14). Über den asyl- und migrationspolitischen Bereich hinaus trug die entstandene Willkommenskultur teilweise zu einer temporären zivilgesellschaftlichen Aktivierung zuvor eher passiver und vereinzelter Nachbarschaften bei (→Asyl →Migration). Das Engagement birgt damit das Potential, »als Vehikel einer zivilgesellschaftlichen Formierung gegen rechts« (Karakayali 2017 : 23) zu fungieren. Selbst dort, wo das Engagement aufgrund von Ermüdungserscheinungen nachgelassen hat, wirken Erfahrungen der Flüchtlingshelfer*innen im Zuge der Willkommenskultur als Katalysator des Erfolgs antirassistischer sozialer Bewegungen wie #Unteilbar, #Wirsindmehr oder der Seebrücke in den folgenden Jahren weiter nach.
Literatur Arendt, Florian/Brosius, Hans-Bernd/Hauck, Patricia (2017) : Die Auswirkung des Schlüsselereignisses »Silvesternacht in Köln« auf die Kriminalitätsberichterstattung. In : Publizistik 62(2), S. 135–152. Bade, Klaus (2016) : Von Unworten zu Untaten. Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen »Gastarbeiterfrage« und »Flüchtlingskrise«. In : IMIS (Hg.) : 25 Jahre IMIS. Jubiläumsveranstaltung am 29. Mai 2015. Osnabrück, S. 35–171. Braun, Katherine (2019) : Aufruhr in Bullerbü : Genderpolitiken und karitative Praktiken des »Willkommens«. In : Binder, Beate/Bischoff, Christine/Endter, Cordula (Hg.) : Care : Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven. Opladen, S. 255–274.
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Daphi, Priska/Stern, Verena (2019) : Engagement für und mit Geflüchteten. Reflexionen zur Zivilgesellschaft. In : Johler, Reinhard/Lange, Jan (Hg.) : Konfliktfeld Fluchtmigration. Historische und ethnographische Perspektiven. Bielefeld, S. 265–279. Eule, Tobias G. (2017) : Ausländerbehörden im dynamischen Feld der Migrationssteuerung. In : Lahusen, Christian/Schneider, Stephanie (Hg.) : Asyl verwalten. Zur bürokratischen Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems. Bielefeld, S. 175–194. Fleischmann, Larissa/Steinhilper, Elias (2017) : The Myth of Apolitical Volunteering for Refugees : German Welcome Culture and a New Dispositif of Helping. In : SI 5(3), S. 17–27. Foroutan, Naika (2019) : Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld. Hemmelmann, Petra/Wegner, Susanne (2017) : Refugees in the media discourse. URL : http://www.br-online.de/jugend/izi/english/publication/televizion/30_2017_E/Hem melmann_Wegner-Refugees_in_the_media_discourse.pdf [23. Januar 2018]. Hess, Sabine et al. (Hg.) (2017) : Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III. 2. korrigierte Auflage. Berlin/ Hamburg. Huke, Nikolai (2019) : Die neue Angst vorm schwarzen Mann. Moralpaniken als Reaktion auf Geflüchtete im Regierungsbezirk Tübingen. In : sub\urban 7(1/2), S. 69–92. Imani, Daniela/Otto, Marius/Wiegandt, Claus-C. (2015) : Kommunale Willkommenskultur für hochqualifizierte Migranten. In : Standort 39(1), S. 17–21. Jäger, Margarete/Wamper, Regina (Hg.) (2017) : Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung. Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016. URL : http:// www.diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2017/02/DISS-2017-Von-der-Willkommenskultur-zur-Notstandsstimmung.pdf [7. Dezember 2017]. Karakayali, Serhat (2017) : »Infra-Politik« der Willkommensgesellschaft. In : Forschungsjournal Soziale Bewegungen 30(3), S. 16–24. Karakayali, Serhat/Kleist, J. Olaf (2016) : EFA-Studie 2. Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland. URL : https://fluechtlingsrat-bran denburg.de/wp-content/uploads/2016/08/Studie_EFA2_BIM_11082016_VOE.pdf [1. Juli 2020]. Ratfisch, Philipp/Schwiertz, Helge (2016) : Antimigrantische Politik und der »Sommer der Migration«. URL : https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Analysen25_Antimigrantische_Politik.pdf [21. Juli 2016]. Schiffauer, Werner/Eilert, Anne/Rudloff, Marlene (2017) : Einleitung. Eine neue Bürgerbewegung. In : dies. (Hg.) : So schaffen wir das ? Eine Zivilgesellschaft im Aufbruch. 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten. Bielefeld, S. 13–35. Sutter, Ove (2019) : Präfigurative Politiken und kulturelle Figurierungen des Helfens. Konstellationen zivilgesellschaftlicher Willkommenskultur in den Migrationsbewegungen von 2015. In : Johler, Reinhard/Lange, Jan (Hg.) : Konfliktfeld Fluchtmigration. Historische und ethnographische Perspektiven. Bielefeld, S. 299–318. van Dyk, Silke/Misbach, Elène (2016) : Zur politischen Ökonomie des Helfens. In : PROKLA 46(183), S. 205–227. Vollmer, Bastian/Karakayali, Serhat (2017) : The Volatility of the Discourse on Refugees in Germany. In : Journal of Immigrant & Refugee Studies 29(3), S. 1–22.
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Bausinger, Hermann ist seit 1960 Professor der Universität Tübingen, wo er bis 1992 das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft leitete und umfassende Beiträge zur Volkskultur in der technischen Welt vorlegte. Danach wandte er sich stärker der regionalen, landesgeschichtlichen Forschung zu, publizierte aber weiterhin auch breiter angelegte Arbeiten zur Erzählforschung und zur Alltagskultur, zuletzt das Buch »Ergebnisgesellschaft«. Bendix, Regina F. ist Professorin für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Ihre Schwerpunkte liegen u. a. im Bereich der Fachgeschichte und Wissensforschung, dem Feld von Kulturerbe und kulturellem Eigentum und der Rolle der Sinne im Alltagsleben. Aus interdisziplinären Verbundprojekten und Projekten mit Studierenden erwuchsen Ausstellungen, digitale Lehrmaterialien, Filme und Publikationen für eine breitere Öffentlichkeit zu Themen wie dem Zuhören, über die Nacht, über Pflegekultur und über Handwerkswissen. Biess, Frank ist Professor für Europäische Geschichte an der University of California-San Diego. Seine Publikationen befassen sich vor allem mit der Politik-, Kultur- und Emotionsgeschichte Deutschlands nach 1945. Sein Buch »Die Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik« (2019) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert. Binder, Beate ist seit 2008 Professorin für Europäische Ethnologie und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht zur Verschränkung von Recht, Politik und Moral aus geschlechter- wie queertheoretischer Perspektive, außerdem zur Geschichte der feministischen Kulturanthropologie und den Möglichkeiten, durch Wissenschaft in gesellschaftliche Verhältnisse einzugreifen. Zusammen mit Kolleg*innen hat sie außerdem ein Onlinearchiv zur Geschichte von Aids/HIV aufgebaut : https://hu.berlin/HIV-Archiv. Ein weiteres Interesse ist es, die Möglichkeiten ethnographischen und allgemeiner wissenschaftlichen Schreibens zu erkunden.
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Bojadžijev, Manuela ist seit 2020 Professorin am Institut für Europäische Ethnologie und am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erforschung globaler und digitaler Kulturen, insbesondere in Hinblick auf Migration, Arbeit und Rassismus. Ihre Arbeiten hat sie bislang in multimodalen Formaten wie Publikationen, Tagungen, Ausstellungen, Installationen, Webseiten, Videos, Infographiken, Onlinearchiven und in künstlerischen Praktiken (Soundethnographien und Kartierungen) in Kooperation mit zahlreichen Kulturinstitutionen umgesetzt. Dingeldey, Philip ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Universität Greifswald. Er hat Politische Theorie (M.A.) in Frankfurt am Main, Darmstadt und Blacksburg (USA) sowie Politikwissenschaft und Geschichte (B.A.) in Erlangen-Nürnberg studiert. Sein Forschungsinteresse gilt der Geschichte politischer Ideen insbesondere in Bezug auf Demokratietheorie, Republikanismus, Liberalismus und Sozialismus. In seiner Dissertation hat er sich mit dem semantischen und konzeptuellen Wandel des Demokratiebegriffs im 18. Jahrhundert beschäftigt. Ege, Moritz ist Professor für Populäre Kulturen/Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Zürich. Zuvor war er an der Universität Göttingen, der LMU München und der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Er beschäftigt sich u. a. mit Kulturen sozialer Ungleichheit, städtischen Milieus und Protestbewegungen, kulturellen Aneignungsprozessen und mit Elitenkritik bzw. Antielitismus in Popkultur und Politik. Egger, Simone ist seit 2016 als Postdoc-Assistentin am Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt tätig. Ihre Themen sind Stadtanthropologie, historische Kulturanalyse und die Analyse des ländlichen Raums. Sie befasst sich mit Kunst, materieller Kultur sowie Fragen der Wissensvermittlung und hat das Museum Wattens. Alltags- und Industriegeschichte in Tirol konzipiert. 2020 hat sie das Tanz- und Theaterfestival »RODEO2020_Baustelle UTOPIA« für die Landeshauptstadt München kuratiert. Ihr Band »Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden« von 2014 richtet sich ebenfalls an eine breite Öffentlichkeit. Färber, Alexa ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Sie vertritt dort eine Alltagskulturanalyse, die mit Fragestellungen
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und Zugängen der Wissensanthropologie verknüpft ist. In ihren Arbeitsschwerpunkten Stadtforschung, Repräsentationsarbeit und audiovisuelle Forschung untersucht sie den Zusammenhang von Stadt und Versprechen, kollaborative und projektbasierte Arbeitspraktiken und entwickelt unterschiedliche Formate des Öffentlichmachens. Sie hat in Frankreich (Paris, Marseille), Marokko (Rabat) und Deutschland (Berlin, Hamburg, Hannover) geforscht. Foroutan, Naika ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin und dort Direktorin des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Außerdem ist sie (zusammen mit Frank Kalter) Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrationsund Migrationsforschung (DeZIM), einem bundesgeförderten Zentrum zur Vernetzung der Migrationsforschung in Deutschland. Geulen, Christian ist seit 2009 Professor für Neuere und Neueste Geschichte und deren Didaktik sowie seit 2020 Prodekan für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs der geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer an der Universität Koblenz-Landau. Seine zahlreichen Veröffentlichungen zu Rassismus, Nationalismus und Nation wurden genauso wie seine historischen Grundlagenwerke breit rezipiert. Als Historiker berät er öffentliche Institutionen wie z. B. die Kuration der Ausstellung »Rassismus : Die Erfindung von Menschenrassen« im Deutschen Hygienemuseum Dresden 2018/2019. Zudem ist er u. a. Mitherausgeber des Onlinemagazins »Geschichte der Gegenwart« (Zürich). Göttsch-Elten, Silke war bis 2018 Direktorin und Professorin am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Fach- und Wissenschaftsgeschichte, der Beschäftigung mit dem ländlichen Raum den Imaginationen von Ländlichkeit als rezentes und historisches Phänomen, der Frage nach der Herausbildung nationaler Identitäten und von Grenzregimen sowie der Genderforschung. Heimerdinger, Timo ist Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/i.Br. Seine Forschungsschwerpunkte liegen derzeit im Bereich der Medienaneignung, der Fach- und Identitätspolitik (insbesondere Trachtenforschung) und der kulturwissenschaftlichen Konsum- und Nachhaltigkeitsforschung. Von 2009 bis 2020 hatte er eine Professur für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck inne und ge-
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staltete dort als Leiter des Universitätsforschungsschwerpunktes »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« die Schnittstelle zwischen universitärer Forschung und Öffentlichkeit mit. Hess, Sabine ist seit 2011 Professorin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind u. a. die Migrations- und Grenzforschung in europäischer Perspektive. Seit 2018 leitet sie als Direktorin das Center for Global Migration Studies der Universität Göttingen. Huke, Nikolai ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratie, politische Handlungsfähigkeit, Migration, soziale Bewegungen, Europäische Integration und (Internationale) Politische Ökonomie. Von 2017 bis 2020 war er Verbund koordinator des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Projekt »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland«, im Rahmen dessen er u. a. in Kooperation mit Pro Asyl und der IG Metall eine Studie zu Rassismuserfahrungen von Geflüchteten veröffentlichte. Jörke, Dirk ist seit 2014 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie und der US-amerikanischen Ideengeschichte. Zudem hat er in den vergangenen Jahren Beiträge zur Populismusdebatte verfasst. Kalter, Frank ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie an der Universität Mannheim. Seine Forschungsprojekte sind am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) angesiedelt, dort leitet er als Principal Investigator seit 2010 auch den Children of Immigrants Longitudinal Survey in Four European Countries (CILS4EU). Seit 2018 ist er (zusammen mit Naika Foroutan) Direktor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin, das 2021 u. a. den ersten Bericht zum indikatorengestützten Integrationsmonitoring der Bundesregierung vorgelegt hat und gerade den Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor aufbaut. Kaschuba, Wolfgang war von 1992 bis 2015 Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2015 bis 2019 arbeitete er als Direktor mit am Aufbau des Berliner Instituts für Migrationsforschung (BIM) und wirkt seitdem auch als Vorsitzender des Fachausschusses Kultur im
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Vorstand der Deutschen UNESCO-Kommission mit. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im Bereich der Stadtgeschichte und der Metropolenentwicklung sowie im Feld urbaner Lebensstile und zivilgesellschaftlicher Bewegungen – in Letzteren ist er im Rahmen der Stiftung Zukunft Berlin selbst aktiv. Knöbl, Wolfgang ist seit 2015 Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der historisch-komparativen Soziologie, der Sozialtheorie und der Gewaltforschung. Köstlin, Konrad studierte u. a. Volkskunde, Soziologie und Philosophie in Tübin gen und München. Er lehrte an den Universitäten Kiel (1968–1980), Regensburg (1980–1988), Tübingen (1988–1994) und Wien (1994–2008) und als Gastprofessor in Prishtina, Kosovo (2002–2008). Dem Zusammenhang der Ideen von Volkskultur und/als Moderne geht er als altartiger Generalist mit Lust nach. Leimgruber, Walter leitet seit 2001 das Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migration/Mobilität, Inklusion/Exklusion, Materielle Kultur/Museum und visuelle Anthropologie/Fotografie. Neben Lehre und Forschung widmet er sich der Verbindung von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft als Mitglied der Fachkommission der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia, der Kulturkommission des Kantons Aargau und weiterer Institutionen und als Stiftungsrat des Stapferhauses und von erbprozent kultur. Zudem ist er als Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission EKM politisch tätig. Liebig, Manuel studierte Europäische Ethnologie in München und Berlin und Anthropologie in Buenos Aires. Anschließend war er am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) tätig. Aktuell promoviert er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien zum gesellschaftlichen Klima und alltagskulturellen Konflikten in städtischen Quartieren. Seine weiteren Schwerpunkte liegen in der Rassismus-, Migrations- und Grenzregimeforschung sowie in der Analyse sozialer Bewegungen. Nimführ, Sarah ist seit 2021 Postdoc-Mitarbeiterin in der Abteilung Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz. Sie lehrt, forscht und publiziert zu kollaborativer, dekolonialer Wissensproduktion, Zugehörigkeitsaushandlungen im Kontext von Flucht_Migration und Exil sowie zu transgenerationaler Erinne-
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rungsarbeit und Transmissionsprozessen der jüdischen Diaspora in der Karibik. Dabei bewegt sich ihre Arbeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und gesellschaftspolitischem Engagement (www.sarahnimfuehr.com). Römhild, Regina ist Kulturanthropologin und seit 2009 Professorin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem selbst entwickelten Schwerpunkt »Postkoloniale Anthropologie Europas«. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören darüber hinaus urbane Kulturen, Post/Migration, kritische Mobilitäts- und Grenzregimeforschung, politische und mediterrane Anthropologie. Sie organisiert das Berliner Labor Migration sowie das Labor Kritische Europäisierungsforschung und ist aktuell eingebunden in die interdisziplinäre, internationale Research Training Group »Minor Cosmopolitanisms«. Schlette, Magnus studierte Philosophie und Soziologie in Berlin, Kiel und Frankfurt/Main und habilitierte sich am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Er ist Privatdozent für Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg und Leiter des Arbeitsbereichs »Theologie und Naturwissenschaft« an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der interdisziplinären Anthropologie sowie im Schnittfeld von Sozial-, Kultur- und Religionsphilosophie. Schmidt-Lauber, Brigitta ist Professorin für Europäische Ethnologie und leitet seit 2009 das Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ethnographie und qualitativer Methoden sowie der relationalen Stadt-, Stadt/Land- bzw. Raumforschung. Die Ergebnisse ihrer Forschung zu gesellschaftlichen Themen wie dem Leben in Mittel- und Großstädten, Veränderungen des Alltags in Stadt und Land, Fußballfankulturen sowie Protestformen wurden unter anderem in Ausstellungen oder an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Büchern vermittelt. Schwell, Alexandra ist Professorin für Empirische Kulturwissenschaft am Institut für Kulturanalyse der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Co-Herausgeberin der »Ethnologia Europaea – Journal of European Ethnology«. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Anthropologie des Politischen, Grenzen, Mobilitäten, Institutionen und Bürokratien, ethnographische Methoden und Populärkultur. Ihre Forschungen zur identitätsstiftenden Funktion des Fußballs, der Wirkmacht von Sicherheit und Angst in der politischen und alltäglichen Praxis
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oder den Herausforderungen der Inszenierung eines prähistorischen Welterbes sind u. a. in internationalen Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Schwenken, Helen ist Professorin für Migration und Gesellschaft am und Direktorin des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück, Deutschland. Sie arbeitet zu Gender und Migration, Arbeitsmigration und sozialen Bewegungen. Schwiertz, Helge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Hamburg sowie korrespondierendes Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, wo er zuvor gearbeitet hat. Zu seinen Forschungsschwer punkten zählen Sozialtheorie und politische Theorie, Citizenship, Solidarität, Demokratietheorie, Rassismus- und Migrationsforschung und er ist Redaktionsmitglied von movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Sökefeld, Martin leitet seit 2008 das Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er arbeitet u. a. zu Migration, Flucht, Abschiebung, Diaspora und transnationaler Politik, Naturkatastrophen und Politik, sowie zur Ethnographie Gilgit-Baltistans. Seine regionalen Schwerpunkte liegen in Nordpakistan und in Europa. Spielhaus, Riem ist Professorin für Islamwissenschaft an der Georg-August- Universität Göttingen und leitet die Abteilung »Wissen im Umbruch« am Georg- Eckert-Institut, Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchforschung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen neben der Bildungsmedienforschung und weiblichen Autoritäten im Islam, die Institutionalisierung des Islams, die politische Partizipation und die Religionspraxis von, sowie die Wissensproduktion zu Muslim*innen in Europa. Sutter, Ove ist seit 2014 Professor für Volkskunde und Kulturanthropologie an der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der narrativen Praktiken, der Arbeitskulturen, des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Flüchtlingshilfe, des Protests und der gouvernementalen Entwicklung ländlicher Räume und Sozialitäten.
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Tauschek, Markus leitet seit 2015 das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg, wo er auch als Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik tätig ist. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der kritischen Kulturerbeforschung sowie in der Populärkulturforschung ; er befasst sich u. a. mit den kulturellen Dimensionen von Konkurrenz und Wettbewerb sowie in einem aktuellen Projekt mit Zukunftsentwürfen. Darü ber hinaus ist Markus Tauschek Mitglied des Expertenkomitees Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission. Thelen, Tatjana ist Professorin am Institut für Kultur und Sozialanthropologie der Universität Wien. Neben der Verwandtschaft liegen ihre Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Staat, Sorge und Eigentum. Ihre Publikationen beruhen auf ethnographischen Forschungen in Ungarn, Rumänien, Serbien und Deutschland. Sie befassen sich u. a. mit gesellschaftlichem Wandel und der Reproduktion von sozialer Ungleichheit. Welz, Gisela ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Stadt- und Siedlungsforschung sowie den theoretischen und methodologischen Problemen, die sich für Ethnographen im Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen stellen, gilt ihr besonderes Interesse. Aktuelle Forschungen betreffen Effekte der EU-Politik in Bereichen des Naturschutzes, der Stadt- und Regionalentwicklung sowie von Lebensmittelproduktion und -konsum. Wietschorke, Jens ist seit 2015 Akademischer Rat am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München und derzeit Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er beschäftigt sich mit Stadt-, Raum- und Architekturforschung, Geschichte und Theorie sozialer Ungleichheiten, religiösen Räumen und Praktiken sowie Wissensund Wissenschaftsgeschichte.