Begegnungen mit psychisch Kranken: Gelingen und Verfehlen ärztlicher Personenorientierung [1 ed.] 9783896448439, 9783896730923

In diesem Buch wird das Thema »Begegnungen mit psychisch Kranken« unter verschiedenen Aspekten offen beleuchtet und zeit

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German Pages 304 [305] Year 2000

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Begegnungen mit psychisch Kranken: Gelingen und Verfehlen ärztlicher Personenorientierung [1 ed.]
 9783896448439, 9783896730923

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Hans-Joachim Bochnik Wolfram Oehl (Hrsg.)

Begegnungen mit psychisch Kranken Gelingen und Verfehlen ärztlicher Personenorientierung

Mit Beiträgen von:

O. Bach, W. Becker-Glauch, P. Berner, W. Blankenburg, H.-J. Bochnik, J. Bohl, H. Gärtner, G. Gross, B. Hackenberg, H. Heimchen, H. Hinterhuber, G. Hole, G. Huber, E. Lungershausen, U. J. Niemann, W. Oehl, B. Pauleikhoff, P. Pichot, W. Richtberg, H. Schipperges, J. Splett, L. Süllwold

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Begegnungen mit psychisch Kranken : Gelingen und Verfehlen ärztlicher Personenorientierung / Hrsg.: Hans-Joachim Bochnik ; Wolfram Oehl. - Sternenfels: Verl. Wiss, und Praxis, 2000 ISBN 3-89673-092-4

ISBN 3-89673-092-4 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2000 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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Printed in Germany

Inhalt Verzeichnis der Autoren.........................................................................................7 Geleitwort der Herausgeber.................................................................................. 9 Bernhard Pauleikhoff

Vorwort.......................................................................................

13

I. Ärztliche Begegnungen: Hintergründe, Befähigungen undErfahrungen....... 15 Hans-Joachim Bochnik

Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen......................................... 17 Eberhard Lungershausen

Über Gesundheit, Krankheit und Kranke.................................................... 45 Heinrich Schipperges

Eines Medizinhistorikers Begegnung mit psychisch Kranken...................... 55 Otto Bach

Menschenbild und Psychiatrie - historische und perspektivische Aspekte... 63 Hartmann Hinterhuber

Der ethische Hintergrund ärztlicher Begegnungen.....................................77

II. Zur Klinik und Praxis von Begegnungen........................................................ 95 Hans-Joachim Bochnik

Ärztliche Begegnungen und die notleidende Kunst des ärztlichen Verhaltens...............................................................................97 Werner Richtberg

Vom Zuhören zur Begegnung...................................................................111 Günter Hole

Die Rolle der Herzlichkeit in der Patientenbegegnung............................ 123 Peter Berner

Die „Verfügbarkeit" des behandelnden Arztes.......................................... 135 Pierre Pichot

Der Placeboeffekt als Instrument zur Untersuchung der Arzt-Patient-Beziehung............................................................................ 143

5

Inhalt

LiloSüllwold

Begegnungen mit Schizophrenen - Was fasziniert mich an der Schizophrenie?...................................................................................153 Gisela Gross ♦ Gerd Huber

Kommunikation mit psychisch Kranken und phänomenologische Psychopathologie............................................................................................157 Brigitte Hackenberg

Unterschiedlichkeit als Wert - Begegnungsmodelle in der Kinderund Jugendpsychiatrie.....................................................................................173 Wulf Becker-Glauch

Begegnung im Bild.....................................................................................179

III. Rechtsfragen ärztlicher Begegnungen........................................................ 213 Hanfried Helmchen

Die Arzt-Patient-Beziehung und der Behandlungsvertrag......................... 215 HelmutGärtner ♦ Hans-Joachim Bochnik

Feindliche Begegnungen. Wenn der Patient zum Prozeßgegner wird....... 227 IV. Zur Theologie, Philosophie und Transzendenz von Begegnungen.......... 241 Wolfram Oehl

Zur medizinischen Philosophie der Begegnung........................................... 243 Jörg Splett

»... ein Gespräch wir...« Der Mensch als dialogisches Wesen................ 247 Ulrich Niemann

Begegnungen im ganzheitlich-menschlichen Rahmen: Pastoralmedizin gestern und heute............................................................... 255 Jürgen R. E. Bohl

Vom Schwachsinn erlöst: Späte Begegnung mit Dementen - Gedanken eines Pathologen -....................................................................273 Wolfgang Blankenburg

Empathie und Eingriff - polare Konstituentien der Arzt-Patient-Beziehung............................................................................ 291

6

Verzeichnis der Autoren Bach, Otto, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie

und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Fetscherstr. 74, 01307 Dresden Becker-Glauch, Wulf, Dr. med., Oberarzt des Alexianer-Krankenhauses Mün­

ster-Amelsbüren, Hauptstr. 66, 59320 Ennigerloh-Enniger Berner, Peter, Prof. Dr. med., em. Direktor der Psychiatrischen Universitätskli­

nik Wien, 14 Rue Mayet, F-75006 Paris Blankenburg, Wolfgang, Prof. Dr. med., em. Direktor der Psychiatrischen

Universitätsklinik Marburg, Rudolf-Bultmann-Str. 8, 35039 Marburg Bochnik, Hans-Joachim, Prof. Dr. med., em. Direktor Zentrum der Psychiatrie

der Universität, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. Bohl, Jürgen R. E., Dr. med., Oberarzt der Neuropathologie der Johannes Gu­

tenberg-Universität Mainz, Langenbeckstr. 1, 55131 Mainz Gärtner, Helmut, Dr. med. Dr. jur., Rechtsanwalt und Notar, Brandströmstr. 2,

65343 Eltville am Rhein Gross, Gisela, Prof. Dr. med., Leiterin des Bereichs Verlaufspsychiatrie im Zen­

trum für Nervenheilkunde der Universität Bonn, Psychiatrische Uni­ versitätsklinik, 53105 Bonn (Venusberg) Hackenberg, Brigitte, Prof. Dr., Lt. Ärztin des Bereiches Kinder- u. Jugend­

psychiatrie der Univ.-Klinik für Psychiatrie Innsbruck, Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck Helmchen, Hanfried, Prof. Dr., em. Direktor der Psychiatrischen Klinik der

Freien Universität, Eschenallee 3, 14050 Berlin Hinterhuber, Hartmann, Univ.-Prof. Dr. med., Direktor der Univ.-Klinik für

Psychiatrie Innsbruck, Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck Hole, Günter, Prof. Dr. med., em. Direktor der Psychiatrischen Universitätskli­

nik Ulm/Weisenau, Kantstr. 5/3, 88213 Ravensburg Huber, Gerd, Prof. Dr. med., Dr. med. h.c., em. Direktor der Universitäts-

Nervenklinik Bonn, Auf dem Rosenberg 18, 53343 Wachtberg Lungershausen, Eberhard, Prof. Dr. med., em. Direktor der Psychiatrischen

Universitätsklinik Erlangen, Zum Aussichtsturm 9, 91080 MarloffsteinRathsberg Niemann, Ulrich J., Priv.-Doz. Dr. med., Lie. phil. et theoL, Philosophisch-

Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstr. 224, 60599 Frankfurt a. M.

7

Verzeichnis

der

Autoren

Oehl, Wolfram, Dr. med., Leitender Arzt des St. Valentinus-Krankenhauses,

Psychiatrisches Krankenhaus, Suttonstr. 24, 65399 Kiedrich/Rhg. Pauleikhoff, Bernhard, Prof. Dr. Dr., Universitäts-Nervenklinik, Roxeler Str.

131,48129 Münster Pichot, Pierre, Professeur, Membre de l'Academie Nationale de Medecine, 1.

Präsident der World Psychiatrie Association, 24, Rue des Fosses SaintJacques, F-75005 Paris Richtberg, Werner, Dr. phi I., Dipl. Psych., Zentrum der Psychiatrie der Univer­

sität, Heinrich-Hoffmann-Str. 2 a, 60528 Frankfurt a. M. Schipperges, Heinrich, Prof. Dr. med., Dr. phil., Institut für Geschichte der Me­

dizin, Im Neuenheimer Feld 368, 69120 Heidelberg Splett, Jörg, Prof. Dr., Professor für philosophische Anthropologie und Religi­

onsphilosophie an den Jesuitenhochschulen in Frankfurt (St. Georgen) und München, Isenburgring 7, 63069 Offenbach Süllwold, Lilo, Prof. Dr., Psychiatrische Universitätsklinik Frankfurt, Heinrich-

Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M.

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Geleitwort der Herausgeber Das Buch entstand aus sehr persönlichen Antworten der vielseitig erfahrenen Autoren, auf unsere Frage nach ihren Begegnungen mit psychisch Kranken. Die Beiträge beleuchten dabei auch Hintergründe, die weit in Grundsätzliches von Arzt-Patienten-Beziehungen hineinreichen. Da die Ausgangsfrage zu weiterführenden Beiträgen angeregt hat, haben wir sie als anknüpfenden Buchtitel belassen.

Dies ist zu erklären:

Die Begegnungen zwischen Ärzten und Patienten werden als selbstverständli­ che Zugänge zu ärztlichen Hilfen wenig beachtet.

Begegnungen, die persönliche Resonanzen schaffen, können als bewußte Lei­ stung gelingen. Sie können auch - wie nicht selten - bewußt vermieden wer­ den. Schließlich können dilettantische Begegnungen mißlingen, wenn sie zu Mißtrauen, Abneigung odär sogar zu Verachtung und Haß führen, so daß man auch von „Zergegnungen" sprechen könnte, das noch deutlicher „als die Wort­ schöpfung Martin Bubers „Vergegnung" das Zerstörerische des Mißlingens der Begegnung anzeigt (s. Beitrag Oehl). Gleiches gilt für Begegnungen, die nur ausnutzen wollen, aber auch für eine verlogene pseudo-persönliche Routine. Wie selbstverständlich stimmen ärztliche und öffentliche Forderungen darin überein, daß Kranken einerseits bestens medizinisch geholfen werden muß und daß ihnen andererseits auch menschlich beizustehen ist, wenn sie Leiden ertra­ gen müssen, gestalten sollten und überwinden könnten. Nicht jeder Arzt-Patienten-Kontakt hat die Qualität einer echten Begegnung, die erst durch bewußte ärztliche Beachtung und Achtung der Person des Patienten erreicht wird und die wiederum den Patienten zur begegnenden persönlichen Öffnung anregen kann. In diesem Sinne bleiben viele Arzt-Patienten-Beziehungen begegnungsfrei, wenn sie sich auf „Übergabe und Annahme eines menschlichen Organismus zwecks Reparatur einer Störung" beschränken, der als Person eigentlich gleich­ gültig ist. In diesen Realitäten taucht das Spannungsverhältnis zwischen Person und Krankheit bzw. zwischen Individualität und Regel auf. Es versteht sich, daß die modernen Hilfsmöglichkeiten der Medizin auf der Er­ forschung von Regeln beruhen, die, ihrem statistischen Wesen nach, Opferung der beforschten Individualitäten und deren mikrokosmischen, persönlichen Vielfältigkeiten voraussetzen.

9

Geleitwort

der

Herausgeber

Es versteht sich daher auch, daß der Arzt im Einzelfall in der Individualität des Kranken nach der Regelhaftigkeit seiner Krankheit suchen muß, um regelhaft handeln zu können. Wäre es anders, gäbe es keine wissenschaftliche Medizin.

Angesichts der unüberschaubar anwachsenden Regelkenntnis ist es kein Wun­ der, daß über die Krankheit der Kranke - teils legitim teils fehlerhaft - unbeach­ tet bleibt. Legitim kann das Absehen von der Person des Patienten (jenseits der Personalien und des Kostenträgers) z. B. bei Radiologen, Serologen und bei Not­ fällen sein. Fehlerhaft ist es, wenn der Patient als Person sein Leiden mitverur­ sacht hat oder wenn seine Mitwirkung an der Überwindung der Krankheit mög­ lich oder notwendig ist, wie z. B. bei allen Rehabilitationen, in der Suchtbe­ handlung oder in der psychotherapeutischen Hilfe zur Selbsthilfe.

Kein Zweifel, daß die ärztliche Befähigung zur Personenorientierung neben der vordringlichen Krankheitsorientierung zu den unterbelichteten Bereichen der Aus-, Weiter- und Fortbildung gehört. Verlangt die „ Patienten psyche" in der Praxis dringend Beachtung, überläßt man sie gerne konsiliarischen Spezialisten, die psychiatrisch, psychotherapeutisch, psychosomatisch oder psychologisch kompetent sind, oft ohne dabei den Rück­ zug aus der eigenen Verantwortung zu bemerken. Die Wahrung der ärztlichen Verantwortung für die Person des Kranken erfordert eine Kultivierung der Begegnung, die eine reflektierte Verhaltensbildung vor­ aussetzt, die bei alltäglichen Begegnungen mit Patienten und Angehörigen ihre unvermeidliche erfahrungsbildende Bewährung findet.

Mängel der Personenorientierung der Medizin gehören zu den modernen Kla­ gen, hinter denen hilflose Schuldzuweisungen oder auch Forderungen nach „ganzheitlichen" Patentlösungen stehen, die in der schnell fortschreitenden Me­ dizin nichts bewirken können. Diese kritische Situation veranlaßte uns, das Zentralproblem der ärztlichen Personenorientierung, die menschliche Begeg­ nung, zu thematisieren. Überrascht hat uns die große Bereitschaft vieler namhafter Autoren und die Fül­ le der Gesichtspunkte in ihren Beiträgen. Den Autoren ist sehr zu danken, daß sie die Mühen der Darstellungen aus ihren verschiedenen persönlichen, wissen­ schaftlichen und wertorientierten Horizonten, auf sich genommen haben. Es wird dabei auch deutlich, daß die unmittelbare Praxis der Medizin am Pati­ enten keineswegs alle notwendigen Handlungen allein aus naturwissenschaftli­ chen Regeln begründen kann. Wenn der Mensch als Person eine Rolle spielt, sind auch soziale Konventionen, geistige Horizonte, verbindliche Werte und Sinndeutungen wirksam, gleichgültig, ob sie schon vom Arzt oder vom Patien­ ten reflektiert worden sind oder nicht.

Daß unsere psychiatrisch sehr erfahrenen Autoren auch immer wieder an die Begegnungen mit psychisch Kranken gedacht haben, (die gegenüber „normalen 10

Geleitwort

der

Herausgeber

Patienten" auch besondere „Begegnungsschwierigkeiten" mit sich bringen), mag auch dem Nichtpsychiater helfen, sich auch auf andere schwierige Patienten vorzubereiten, die ihm nicht täglich begegnen. Die Grenzen medizinischer Kompetenzen werden auch durch theologische und philosophische Beiträge beleuchtet, die beim Eintauchen in die medizinische Problematik diskussionswürdige, offene Probleme ausweisen, deren Hinter­ gründe zu bekennen, aber nicht zu beweisen sind. Existentielles Weiterdenken im Nichtbeweisbaren gehört seit jeher zur Kultur der Menschheit, da diese un­ entscheidbaren Sachverhalte tief in den erfahrbaren Alltag hineinwirken wie Bedeutung und Sinn von Geboren werden, Leben und Sterben. So sind wir auch den Autoren dankbar, die ihre Erwägungen jenseits wissenschaftlicher Beweisbarkeit und deshalb risikobewußt, offengelegt haben. Sie schenken uns Anregungen zum Weiterdenken und auch zum respektvollen Widerspruch. Die Autoren haben ihre Beiträge ohne Absprachen verfaßt. Der Reiz der un­ vermeidlichen thematischen Überschneidungen liegt in den persönlichen Sicht­ weisen.

Für die Veröffentlichung haben wir versucht, Gruppen verwandter Beiträge zu bilden, um zugreifendes Lesen zu erleichtern. Dem Leser wünschen wir die gleichen überraschenden Begegnungen mit dem Denken hervorragender Ärzte und Geisteswissenschaftler, die uns die spannen­ de Herausgeberschaft gelohnt hat. Als Leser wünschen wir uns Studierende, ler­ nende und praktizierende - wie auch forschende - Ärzte und Psychologen. Sie mögen die humane Ergänzungsbedürftigkeit der vorwiegend personenblind täti­ gen Medizin verstehen als Aufforderung zur Humanisierung der eigenen Praxis durch bewußte Kultivierung der persönlichen Begegnungsfähigkeit.

Wolfram Oehl

Hans-Joachim Bochnik

11

Bernhard Pauleikhoff

Vorwort Die „Begegnung mit psychisch Kranken" ist ein ebenso altes wie modernes Thema, das bei der Diagnose und in der Therapie unschätzbaren Wert besitzt. Seit Hippokrates und Sokrates ist es mit seinem Dialog überaus interessant und grundlegend wichtig für die Humanität sowohl in der Medizin als auch in der Philosophie. In der Ideengeschichte der Psychiatrie spielt es immer wieder eine mehr oder minder zentrale Rolle. Besonders verdienstvoll ist daher, in diesem Buch das Thema unter verschiedenen Aspekten offen zu beleuchten und zeit­ gemäß zu behandeln. In unseren Tagen erhält und gewinnt die Begegnung mit Gesunden und Kranken insofern hohe Aktualität, als die zwischenmenschlichen Beziehungen weithin arge Not leiden, da materialistisch-biologistisch-positivis­ tisches Denken in der Medizin sowie allgemein im Leben sich überall ausbreitet auf Kosten ganzheitlicher und geistiger Aspekte. Die Begegnung zwischen Men­ schen betrifft aber keineswegs nur ihre Körper oder gar allein ihre Gehirne, sondern stets den ganzen Menschen mit Leib-Seele-Geist und bildet von jeher zu allen Zeiten ein personalistisch-seelisch-geistiges Phänomen mit großer Be­ deutung gerade bei psychisch Kranken. Das Problem der Begegnung hat weniger mit den Verstand, vielmehr mit dem Herzen zu tun und wird als solches in der Ideengeschichte klar erkannt. Blaise Pascal (1623-1662) war schon früh ein genialer Naturwissenschaftler und ent­ deckte später als großartiger Geisteswissenschaftler seine „ordre du coeur" mit ihrem „esprit de finesse" als unverzichtbare Erfahrungsgrundlage und humane Geisteskraft, die der wissenschaftlichen Vernunft oft entgegengesetzt wirkt. Im Widerspruch zum modernen Rationalismus seines Zeitgenossen Rene Descartes sah er in der Herzenserkenntnis das dynamische Zentrum für die Begegnung, in dem die zwischenmenschlichen Beziehungen der Freundschaft und der Feind­ schaft, des Liebens und des Hassens wurzeln und entspringen, so daß Partner­ schaften entstehen und zerreißen, ohne daß Beweise des Verstandes vorliegen (müssen); denn das Herz besitzt in der Mitte humaner Existenz seine eigene Lo­ gik. Soweit heute rationalistische Erkenntnisweisen allein vorherrschend und selbst bei der Begegnung tonangebend sind, erlangen Pascals Einsichten um so größeres Gewicht und sind desto mehr zu beherzigen.

Bei der Begegnung mit psychisch Kranken bildet die Herzenserkenntnis mit ih­ rem Feinsinn eine unentbehrliche Basis. Sie gewinnt dadurch überragende Be­ deutung, daß die Kranken sehr häufig unter Kontaktstörungen leiden, die als Ausdruck und Folge einer im Kern veränderten „ordre du coeur" erscheinen, um den Dialog zu erschweren oder gar zu blockieren. Als Ziel der Therapie gilt 13

Vorwort

daher vor allem, die Kontaktfähigkeit zu bessern und verlorene Möglichkeiten der Begegnung wiederzufinden. Das Gespräch ist dabei insofern von hohem Wert, als sinnvolle Beziehung zwischen Ich und Du gleichzeitig Therapie be­ deutet, wo die Ursachen der Erkrankung im einzelnen auch immer liegen mö­ gen; denn der Kranke kehrt ins wirkliche Leben zurück, wenn er die Gelegen­ heit zur Begegnung nutzt. Sie spielt sich ab zwischen Personen und soll eine lebendige Beziehung zwischen Ich und Du herstellen, bei der die Person als Mitmensch und Partner in ihrer Einzigartigkeit angesprochen wird. Würde und Freiheit der Person - in der Krankheit meist gefährdet und oft eingeengt - sind stets überall zu achten. Das Menschenbild im Wandel der Zeit zeigt bis auf den heutigen Tag, wie Begegnung und Gespräch in verschiedenster Weise gestaltet und auch zerstört werden können. Das Thema der Begegnung könnte nicht zuletzt geeignet sein, die streng einsei­ tig-biologisch und die mehr ganzheitlich-anthropologisch orientierten Richtun­ gen in der Psychiatrie zusammenzuführen und zwischen ihnen ein sinnvolles Gespräch zu bewirken. Da dieses Problem - wie Pascal überzeugend erklärt keineswegs mit naturwissenschaftlichen Methoden allein lösbar ist, sind auch andere Fachrichtungen bis hin zur Philosophie und Theologie aufgerufen, bei seiner Lösung mitzuhelfen. Dieses Buch begleitet unser Wunsch, Anregungen zu dieser Begegnung mit einem solchen Gespräch zu bieten.

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I. Ärztliche Begegnungen: Hintergründe, Befähigungen und Erfahrungen

15

Hans-Joachim Bochnik

Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen Übersicht Soll man sich als Psychiater Gedanken über „Menschenbilder" machen, die hin­ ter den Begegnungen von Ärzten und Patienten stehen1 , kann man scheinbar alltagsfernen Fragen nach dem „Wesen des Menschen und seiner Sonderstel­ lung in der Welt" nicht ausweichen.

Zu fragen ist nach der Einbindung des Menschen in Erfahrungen und Denkwei­ sen der Medizin:



Vordergründig gehören dazu die Aufgaben und Methoden der wissen­ schaftlichen und praktischen Medizin, die dem Erkennen und Anwenden von Regeln dienen.



Dann ist zu prüfen, ob und wieweit die jeweils einmalige Person des Pa­ tienten geachtet und medizinisch beachtet wird. Diese Personenorientie­ rung der Medizin ist erheblich schwächer entwickelt als ihre naturwissen­ schaftliche personenunabhängige Hauptrichtung.



Erst hinter der bewußten Personenorientierung stehen Menschenbilder, als mehr oder weniger deutliche, mehr oder weniger unterschiedliche Überzeugungen von Sachverhalten und Werten.



Der Wert des Menschen, seine vielschichtige Existenz und seine Sonder­ stellung in der Welt, machen Personenorientierung in der Medizin so­ wohl zur ethischen Verpflichtung als auch zur praktischen Notwendig­ keit. Dies gilt besonders dann, wenn die Person ihre Krankheit mitverur­ sacht oder verschlimmert oder wenn sie an der Überwindung des Leidens beteiligt werden kann.



Hintergründige Menschenbilder lenken ärztliche Entscheidungen direkt nur in wenigen Bereichen: Dies gilt an den Grenzen von Leben und Tod, so für Schwangerschaftsab­ brüche, Sterbehilfe, Stellung zum Suizid, zur Tötung auf Verlangen und für die Todeszeitfeststellung zwecks Organtransplantation. Das ärztliche Menschenbild ist aber auch entscheidend, wenn es um die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen geht, dessen Einwil-

Erweiterung eines von W. Oehl erbetenen Vortrags im Psychiatrischen St. Valentinus-Krankenhaus Kiedrich zu Referaten von W. Oehl, J. Splett am 15.09.1996

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Bochnik

Iigung nach Aufklärung jeder ärztlichen Handlung erst die Rechtswidrig­ keit nimmt. Ein Menschenbild steht auch hinter ärztlich begründeten Eingriffen in die Freiheit Freiheitsunfähiger. Dies gilt auch, wenn es therapeutisch um Freiheit von Sucht oder um Freiheit zur Sucht geht, oder wenn Sinnfragen der persönlichen Existenz in der Psychotherapie und in der Rehabilitation abzuwägen sind.



Daß alle Ärzte dem gleichen Menschenbild denkend oder gläubig ver­ pflichtet sind, ist nicht anzunehmen. Diese verschiedenen Menschenbil­ der unterscheiden sich weiter durch Unschärfen und persönliche Perspek­ tiven.

Personenorientierung eine unterentwickelte Hauptsache der Medizin In allen Bereichen der praktischen Medizin ist zwar immer eine Persönlichkeit Schauplatz von Krankheiten und Störungen. Sie wird aber im Routinebetrieb der Praxis, abgesehen von der Aufnahme der Personalien und der Kostenträger, meist übersehen, ohne daß ihre Bedeutung für das Kranksein und Gesundwer­ den bemerkt oder gar genutzt wird. Dieser Mangel ist die Kehrseite eines erfolgreichen medizinischen Denkens, denn: Regelerkenntnis setzt Opferung von Individualität voraus.

Die wissenschaftliche Medizin hat ihre weltverändernden Erfolge durch Er­ kenntnisse von Regeln gewonnen. Regeln, die letztlich statistisch zu formulie­ ren sind, werden an vergleichbaren Patientengruppen durch Reduktionen auf relativ sehr wenige formalisierte Merkmale gewonnen, deren Häufigkeitsvertei­ lungen, Mittelwerte, Streuungen, Korrelationen und dergleichen mathematisch geprüft werden. Von den vielfältigen Eigenarten der beteiligten Individuen muß dabei abgesehen werden. Ja, um die Zusammenhänge zwischen bestimmten Symptomen, Syndromen und Krankheiten erkennen zu können, müssen die in­ dividuellen Besonderheiten der beteiligten Personen als Störfaktoren erkannt werden, die im Gang der Diagnostik zu eliminieren sind. Mit der schnellen Zu­ nahme medizinischer Spezialisierungen geriet die Personenorientierung - abge­ sehen von Bereichen der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie - zu­ nehmend in den Hintergrund. Um dies zu ändern, müssen Wertfragen^des Menschseins und damit auch wesentliche Belange der Patientenpersönlichkei­ ten in den medizinischen Prozeß mit dem Ziel der Humanisierung der techni­ schen Medizin eingebracht werden.

Es versteht sich, daß die Achtung der Person des Patienten eine Forderung an die Gesamtmedizin ist. Dagegen ist die Beachtung der Person, die Zuwendung, 18

Menschenbilder

hinter ärztlichen

Begegnungen

Zeit und Kompetenz erfordert, medizinisch seltener erforderlich und -verhält­ nismäßig.

Da die Humanisierung der Medizin der konkreten Personenorientierung bedarf, können psychiatrische Empfehlungen der rückständigen Praxis aufhelfen, um die heute noch bestehende Kluft zwischen allgemeiner Zustimmung zur Perso­ nenorientierung und der gering entwickelten Befähigung dazu zu überbrücken.

Die notwendige Werbung für eine konkrete Personenorientierung ist leider mühsam. Die Gründe:



In der Forschung ist eine professionelle Personenblindheit verbreitet, die den Menschen nur gruppenweise, organ- oder systemorientiert, statistisch wahrnimmt.



Die praktische Medizin kommt weitgehend ohne Personenorientierung zurecht, wenn dies auch bei der Behandlung chronischer Krankheiten, in der Rehabilitation und in der Psychotherapie mit Mängeln bezahlt werden muß.

Hier liegt ein Systemfehler der Medizin vor, weil diese zwar nur besteht, weil es Regeln gibt, die sich an Menschen abspielen, weil aber andererseits mit jedem konkreten Patienten auch eine einmalige Persönlichkeit erscheint, an der sich Krankheiten abspielen. Die asymmetrische Entwicklung der Medizin - mit star­ kem Regeldenken und schwacher Personenwahrnehmung - bedarf der bewuß­ ten Ergänzung. Denn leider wird heute noch routinemäßig übersehen, daß die Person an der Entstehung, Verschlimmerung, Heilung oder Überwindung ihres Leidens beteiligt ist oder beteiligt werden sollte. Das dies in der Praxis tatsäch­ lich häufig vorkommt, hat sich in mehreren größeren Untersuchungen in 2040% aller ambulanten Patienten bestätigt (Literatur: s.u.).

Die praktische Medizin bedarf daher stets der Beachtung und Achtung der krankheitstragenden Person. Diese notwendige Entwicklung setzt Klarheit über das Menschenbild voraus.

Bei der Durchsicht medizinischer Lehrbücher der Allgemeinmedizin und der fach- und organorientierten Disziplinen bis hin zur Psychiatrie, Neurologie und der rehabilitativen Medizin fand ich wenig bis nichts Konkretes, was darauf hinweist, daß ein systematisches Bild des Menschen als hintergründiges Leitmo­ tiv ärztlichen Handelns eine Rolle spielt, auch wenn dies in Sonntagsreden im­ mer wieder und im Grunde zurecht - behauptet wird.

So bleibt die Feststellung, daß die Beachtung der Person, d.h. das Bild des Men­ schen in seiner existentiellen Besonderheit, im Bewußtsein der Ärzteschaft eine weitgehend unreflektierte, ungenaue und zufällig gestückelte Selbstverständ­ lichkeit darstellt. 19

Bochnik

Nun zur anscheinend fernsten Frage: Was heißt hier „Menschenbild" Als Menschenbild können wir jede bewertende abstrakte Beschreibung dessen verstehen, was wir für „das Wesen des Menschen" halten. Menschenbilder können und müssen daher ebenso vielgestaltig sein wie die anerkannten, mehr oder weniger klar bewußten naturwissenschaftlichen, philosophischen, politi­ schen und religiösen Weltanschauungen. Darüber nachzudenken gehört keineswegs zum ärztlichen Alltag; wenn ich auch seit 1961 mehrfach auf Grundfragen gestoßen bin, die mit dem ärztlichen zentralen Spannungsverhältnis von Individuum und Regel Zusammenhängen (s. weiterführende Literatur). Elemente von Menschenbildern, die zu bedenken sind, zeigt Abb. 1. MENSCHENBILDER Vorstellungen vom „Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt" sind anhand folgender Themen zu verdeutlichen: Existenzfragen — Einmaligkeit als Person in Gemeinschaften - Sonderstellung des Menschen — durch Freiheitsfähigkeit mittels Besinnungsfähigkeit — trotz Abhängigkeiten und Bindungen — biologischer, psychischer, geistiger und sozialer Arten. — Persönliche Bedeutung von Zeugung und Tod — Arrivierter Affe und/oder Geschöpf Gottes

— — — — — —

Wertfragen Persönliche und soziale Leitwerte ... Würde, Ehre und Gewissen Freiheit von ... und Freiheit zur... Verantwortung für... und Verantwortlich gegenüber... Opfer- und Risikobereitschaft für... Angstauslösung durch ..., Verstoß gegen Werte ...

Begründungen — Wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Grenzen — Anerkennungen gemeinschaftlicher Werte, wie Gewohnheiten, Sitten und Gesetze, sowie zeitgeistiger, weltanschaulicher, politischer und religiöser Überzeugungen. - Glaubensgewißheiten

Fazit Verschiedene Erkenntnisse, verschiedene Bekenntnisse bedingen verschiedene Menschenbilder Abbildung 1: Menschenbilder

20

Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen

Bei den erbetenen Überlegungen zur Stellung des Menschen in der Welt geriet ich in Grenzgebiete der Naturwissenschaften, insbesondere der Anthropologie, der Biologie bis hin zur Kosmologie und in Zentralbereiche der Philosophie, der Theologie und der Ethik, die ich bewundere aber nicht beherrsche. So bleibe ich aufWeiterdenken ärztlicher Erfahrungen angewiesen, die ihren naturwissen­ schaftlichen Grenzen nicht ausweichen kann: Es sind die Grenzen von Leben und Tod, an denen wir an Grenzen wissenschaft­ licher Erkenntnismöglichkeiten stoßen, die wir nur hypothetisch oder gläubig überschreiten können, wenn wir uns nicht mit Verzicht auf Fragen oder mit kurzsichtiger Ignoranz zufrieden geben. Denn sicher ist, daß wir zwar unseren Leib ziemlich genau kennen, daß wir aber wissenschaftlich nicht klären kön­ nen, woher wir als geistige Personen kommen und wohin wir gehen werden.

Hier, wie bei der Anerkennung leitender Werte, wie Geschöpftichkeit, Würde, Freiheitsfähigkeit und Sinn des Lebens in Abhängigkeiten und Bindungen, kann es nur um Klarheit des Bekennens von Positionen und nicht um Beweise gehen. Beweisen zugänglich sind dagegen die praktischen Konsequenzen gläubiger Positionen.

Die Welt eine Schöpfung oder eine zufällige Entwicklung? Arnold Gehlen bemerkte scharfsinnig, daß Menschen sich sehr verschieden verhalten können, je nach dem, ob sie sich als Geschöpfe Gottes verstehen und ich darf hinzufügen „geschaffen nach seinem Bilde" - oder als arrivierte Affen. Da beide Entstehungsmöglichkeiten, die sich nicht einmal ausschließen, dem wissenschaftlichen Erkennen letztlich unzugänglich sind, beschränkt Geh­ len sein Menschenbild im wesentlichen auf empirisch zugängliche Eigenschaf­ ten, das unser So-Sein, unsere Möglichkeiten und Risiken durchaus erhellen kann, ohne uns unsere Entscheidungen für oder gegen Werte, an denen wir uns orientieren müssen, abnehmen zu können. Diesem Denken bleiben Fragen üb­ rig, die sachlogisch nicht entscheidbar sind. Ob man bei der Erklärung der Weltentstehung ohne das Wirken eines Schöpfers auskommen kann, ist fraglich, eine Annahme jenseits wissenschaftlicher Be­ weisbarkeit, die dem Staunen über die erfahrbare Welt naheliegend erscheint. Die biblischen Zeugnisse der Genesis sind in menschlichen Sprachen verfaßt, die den Unbegreiflichkeiten weder eindeutig noch zureichend differenziert ge­ wachsen sind. Sie sind deshalb auch nur als hinweisende Symbole und nicht als realistische Beschreibungen zu verstehen. Es muß daher kein Widerspruch sein, wenn nach der Bibel die Welt in sechs Tagen erschaffen worden ist (mit einem siebten Ruhetag Gottes), während wir heute wissen, daß der bestehende Kos­ mos etwa 15 Milliarden Jahre alt ist, der sich - unverständlich - aus einer un­

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Bochnik

endlich dichten, winzigen „Singularität" explosionsartig entwickelt hat, mit ständig erneuerten Geburten neuer Welten, mit Nebeln, Galaxien, schwarzen Löchern und Sternen mit Planeten, deren Entstehen und Vergehen physikalisch und mathematisch weitgehend nachvollziehbar ist.

Unsere Erde entstand nach etwa 11 Vi Milliarden Jahren nach dem „Urknall". Nach etwa 13 Vi Milliarden Jahren taucht fortzeugendes Leben auf, während Menschen erst in den letzten 1-2 Millionen Jahren nachweisbar sind. Ziehen wir die 15 Mrd. Jahre auf 6 Tage zusammen, dann ist die Erde nach dem Urknall etwa am 4. Tage, das Leben am 6. Tag und Menschen erst in den letzten Minu­ ten entstanden.

Wie aus physikalischer Materie Leben entstanden ist, könnte hinsichtlich nied­ rigster Formen hypothetisch erklärbar sein. Verständlich ist aber nicht die viel­ fältige Entwicklung des Lebens auf dieser Erde mit ihren außerordentlich hohen Differenzierungen von Bauplänen, Strukturen und Funktionen in kleinsten und größten Dimensionen, die bewundernswerte Zweckmäßigkeiten aufweisen, die nur langsam und mühsam erforscht und verstanden werden. Sicher ist nur: Das Leben ist in die Welt gekommen und es zeugt sich immer­ während fort. In seiner Einmaligkeit ist jeder Mensch eine erneute Schöpfung, die Menschen wünschen oder verhüten aber nicht selbst „machen" können, zu der sie nur die Gelegenheit geben und die sie mit elterlichen Gaben ausstatten, die sie aber wie ein „Roulette der Gene" auch nicht selbst bestimmen können.

In dieser Entwicklung seit dem unverstandenen Urknall sind Lebensentstehung aus Materie, die Entstehung der Tierwelt und die Menschwerdung unverstande­ ne Brüche. Naturwissenschaftliche Modelle, die Lebensentwicklung, Tier- und Menschwerdung aus Zufällen verstehen wollen, müssen mit fast unendlich ge­ ringen Wahrscheinlichkeiten rechnen. Ein schöpferischer göttlicher Akt ist damit nicht ausgeschlossen, sondern eher die einfachste Deutung. Wegen wissen­ schaftlicher Unerklärbarkeit müssen Naturwissenschaftler diese Möglichkeit ausklammern, weshalb sie sie - trotz ihrer Befähigung zum Weiterdenken vielleicht auch deshalb meist verdrängen.

Zur Stellung des Menschen in der Welt Der Mensch ist dem Tier geschwisterlich verbunden. Das Bild vom arrivierten Affen ist ernst zu nehmen, insoweit der Mensch tieri­ schem Wesen in seiner lebendigen Existenz geschwisterlich verbunden ist. Weil dies so ist, können Tiere stellvertretend für Menschen in Experimenten zu Er­ kenntnissen beitragen, die die Diagnostik und Therapie der Humanmedizin ganz wesentlich gefördert haben und weiter fördern werden. 22

Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen

Verhaltenspsychologisch läßt sich zeigen, daß der Mensch in seelischer, aber auch in sozialer Hinsicht tierische Verwandtschaften zeigt. So können Tiere auch ängstlich, mutig, leichtsinnig, bedrückt, verunsichert, ausgelassen, aggres­ siv, antriebsreich, zutraulich, liebevoll, eifersüchtig, fürsorglich, ablehnend, wü­ tend, ärgerlich usw. sein. Tiere können Erfahrungen sammeln und daraus ler­ nen. Sie können Vertrauen und Mißtrauen ausbilden auch in das Verhalten ihrer menschlichen Umwelt. Tiere können in kleinen und großen geordneten Ge­ meinschaften und in hochentwickelten Sozialstaaten leben. Experimentell lassen sich Tiere „neurotisch" und „süchtig" machen, immer aber unterhalb menschlicher Wesensbesonderheiten. Weil dies so ist, waren aus der Verhaltensforschung mit Tieren auch keine wesentlichen neuen Einsichten in menschliche Neurosen oder Süchte zu gewinnen (wenn man z.B. von beding­ ten Reflexen absieht, die Tiere wie Menschen entwickeln können). Die Verwandtschaft macht aber weder das Tier zum Menschen, noch den Men­ schen zum Tier, was zu Unrecht, als abwertende Metapher, gebräuchlich ist.

Was macht die Sonderstellung des Menschen in dieser Welt aus? •

Ceschöpflichkeit teilt der Mensch zumindest mit Pflanzen und Tieren;



Einzigartigkeit mit individueller Geschichte kommt jedem Stück Materie zu. Jeder Stein, jedes Holz, jedes Tier hat eine ganz individuelle einzigar­ tige Geschichte im Werden und Vergehen. Dies gilt sogar für jedes Atom und für jedes Molekül im Kommen und Gehen, die auch unserer Organi­ sation immer nur zeitweilig zugehören;



Würde ist auch Tieren in ihrem Sozialverhalten anzusehen;



Einzigartig ist nur die Freiheitsfähigkeit des Menschen, die ihn von allem nicht-menschlichen Leben unterscheidet:

Als Organ der Freiheitsfähigkeit verstehen wir mit C. E. Störring die Besinnungs­ fähigkeit. Sie erlaubt, was Tieren unmöglich ist: Das grundsätzlich freie distan­ zierte Wahrnehmen und Bewerten innerer und äußerer Sachverhalte als Voraus­ setzung für ein freies motivbildendes Abwägen, das unabhängig von Trieben, Instinkten, Wünschen und Interessen, von Abhängigkeiten und Bindungen, sich an Werten verschiedenster Art orientieren und zwischen möglichen Alternati­ ven frei entscheiden kann.

Menschliche Freiheitsfähigkeit besteht nur innerhalb von Abhängigkeiten und Bindungen, die uns tragen und die wir mittragen.

Neben biologischen Grenzen unserer Freiheitsfähigkeit begrenzen unsere ver­ innerlichten Werte die Reichweiten unseres motivbildenden Abwägens. So "sind 23

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z.B. das Verleihen einer Zahnbürste, das Verleihen der Ehefrau, Mord und Menschenfresserei - individuell unterschiedlich-zwar in der Phantasie so ziem­ lich allen zugänglich, aber im Entscheiden und Handeln nur sehr wenigen. So kann der Mensch durch Entscheidungen für Werte und durch freie Nutzung von Möglichkeiten innerhalb von Abhängigkeiten und Bindungen aus seinem Sein mit seinem Lebenslauf auch ein Kunstwerk seiner selbst machen. Dies ist Tieren so nicht möglich. Das Konzept der Besinnungsfähigkeit, das C. E. Störring der Psychiatrie 1952 geschenkt hat, das aber kaum beachtet wurde, haben wir aufgegriffen (Bochnik, Gärtner-Huth, Richtberg 1981 u.a.O.). Besinnungsfähigkeit meint die komplexe höchste Befähigung des Menschen, in der Verstand, Gefühl und Wille im Be­ wußtsein leitender Werte Zusammenwirken können.

Diese Komplexität wird wissenschaftlich noch weitgehend übersehen, da die Forschung ihre großen Erfolge der Isolierung von Systemen verdankt. So wurden „Bewußtsein", „Intelligenz", „Antrieb", „Motivation", „Emotionen", „Affekte" usw. methodisch isoliert und mit reichen Ergebnissen analysiert. Vergessen wurde darüber die durch Selektion der Methode ausgeschlossene Komplexität der realen Zusammenhänge. Kurz gesagt: Freiheitsfähigkeit verdankt der Mensch seiner Besinnungsfähigkeit, mit der er begabt ist, die er aber - wie andere Begabungen - mehr oder wenig nutzen kann, er kann sie verkümmern lassen oder bewußt kultivieren. Auch die ungeübte Besinnungsfähigkeit kann ein Nothelfer im Alltag sein. Die „Anstren­ gung der Besinnung" kann im Alltag durch Gewohnheiten, Konventionen, Sitten und Gesetze vermieden werden. Man weiß, was man in dieser oder jener Situa­ tion zu tun hat, ohne es groß in Frage zu stellen oder ohne Alternativen abzu­ wägen. Anders in ungewohnten Lagen und insbesondere in Krisen und Notsi­ tuationen, in denen die Besinnungsfähigkeit der zukunftsorientierten Bewälti­ gung von Schwierigkeiten dienen kann. „Besinnung auf Vorrat" kann in Notsituationen vor verhängnisvollen Überra­ schungen schützen (z.B. Vorsorge vor möglichen Konflikten und Belastungen, vor Angst und Panik, vor Gefahren und dergleichen, z.B. vor Lawinenunglükken, Brandkatastrophen, Schiffsuntergängen und Kriegsgefahren) (Bochnik).

Als Weiterentwicklung der nervenärztlichen Beratung haben wir - ausgehend von der Besinnungsfähigkeit - eine Besinnungstherapie systematisch entwickelt (Bochnik, & Gärtner-Huth 1984).

Glaube und Gewissen Splett, der als katholischer Philosoph im Gewissen des Menschen seine zentrale Wesenhaftigkeit sieht, (Referat am 15.09.96, s.o.) ist entgegenzuhalten, daß

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auch Haustiere wie Katzen und Hunde beim Übertreten ihnen bekannter menschlicher Gebote ein „schlechtes Gewissen" zeigen können. Die Diskussi­ on machte mir deutlich, daß nicht das Gewissenserleben den entscheidenden Unterschied zum Tier machen kann, sondern die Art der auslösenden verinner­ lichten Werte, denen aber der Mensch - wenn auch nur grundsätzlich und nicht immer tatsächlich - frei gegenüberstehen kann.

Die Menschheitsgeschichte hat jedenfalls erwiesen, daß die sehr unterschiedli­ chen religiösen, ethnischen und politischen Leitwerte die Gewissen der Beteilig­ ten, an Kriegen, Hexenprozessen, Holocaust, ethnischen Säuberungen, Verge­ waltigungen und dem weltweiten Terrorismus, gut schlafen lassen.

Ein Menschenbild steht hinter unserem Grundgesetz Wissenschaftler übersehen leicht, daß die Leitwerte unseres Handelns nicht wissenschaftlich erweisbar sind, daß sie geglaubt, beachtet, zu bekennen oder abzulehnen sind. Unser Grundgesetz sieht als einzigen verbindlichen Glaubens­ grundsatz die Würde des Menschen vor als Kern der freiheitlichen, demokrati­ schen und sozialen Grundordnung.



Artikel 1 Grundgesetz besagt, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Ge­ walt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und un­ veräußerlichen Menschenrechten als Grundlage der menschlichen Ge­ meinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Die weiteren unantastbaren Freiheitsrechte setzen unausgesprochen aber zwin­ gend Freiheitsfähigkeit als wesentliches Merkmal der Menschenwürde voraus:



Artikel 2 GG die Gleichheit vor dem Gesetz;



Artikel 3 GG die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit;



Artikel 4 GG die Meinungs- und Pressefreiheit;



Artikel 5 GG die Freiheit der Kunst und Wissenschaft - um nur die wich­ tigsten Freiheitsrechte zu nennen;



Die Väter des Grundgesetzes haben an die besonderen Probleme frei­ heitsunfähiger psychisch Kranker und geistig stark Behinderter nicht ge­ dacht. Diese sind jedoch zweifelsfrei Träger der Würde nach Artikel 1 GG. Therapeutisch notwendige Freiheitsentziehungen wurden nur im Hinblick auf polizeiliche Probleme in Artikel 104 GG geregelt.

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Würde: Unverlierbar, aber zu beschädigen Würde ist, auf Geschöpflichkeit, Einzigartigkeit und Freiheitsfähigkeit gründend, unantastbar. Das kann nur heißen, daß sie in jeder Person - auch im jämmer­ lichsten, unwürdigsten Zustand - zu achten ist, als unverlierbare Eigenschaft. Andererseits ist die Würde des Einzelnen auch von außen zu beschädigen, sie muß deshalb geschützt werden, auch wenn sie nicht verloren gehen kann. Der Mensch selbst kann seine unverlierbare Würde beschädigen, wenn er dem An­ spruch zum würdigen Gebrauch seiner Freiheitsfähigkeit nicht gerecht wird. Praktisch psychiatrisch ist aus Artikel 1 CG z. B. auch die Pflicht zur Suchtver­ meidung und zur Suchtheilung, soweit möglich, abzuleiten, weil Suchten die Freiheitsfähigkeit des Menschen und damit seine Würde beschädigen. Es bedeu­ tet aber auch, daß unheilbar Süchtige, dank ihrer unverlierbaren Menschenwür­ de, nicht aus unserer Verbundenheit herausfallen dürfen. Daraus folgt auch, daß wir den freiheitsunfähigen, psychisch Kranken oder Süchtigen würdige Hilfen bereitstellen müssen. Da Süchtige die Opfer unserer Freiheiten sind, die wir nicht entbehren wollen, sind wir zur Hilfe verpflichtet, aus Humanität, Brüder­ lichkeit, Solidarität oder auch aus Gefährdungshaftung, wie man es auch sehen mag (s.u.).

Würde, Ehre und Gewissen Die Ehre gebietet den Schutz der Würde, in der verinnerlichte Pflichten, Rechte und Geltungsansprüche eingeschlossen sind, auf deren Verletzung das Gewis­ sen zum Erhalt der Ehre wie der Würde anspricht. Die Stimme des Gewissens kann laut werden bei Verletzung der Selbstachtung oder vor dem Urteil geach­ teter oder geliebter Mitmenschen angesichts des Versagens vor der eigenen Ehre und Würde. Das Bewußtsein der eigenen Ehre ist die „Außenseite" der eigenen Würde, kurzgesagt:

Die Ehre ist der Mantel der Würde.

Die Respektierung der Würde des Einzelnen wegen seiner Einzigartigkeit kann zwar als willkürliche, menschliche Wertung verstanden werden, sie kann aber auch gläubig geachtet werden als Mitgabe der Schöpfung, was den Vätern des Grundgesetzes nahegelegen haben mag, da sie dieses „im Bewußtsein der Ver­ antwortung vor Gott und den Menschen" entworfen hat (so die PräambePdes Grundgesetzes). Das Menschenbild des Grundgesetzes bahnt unmittelbar be­ stimmte Problemlösungen: Die Pflicht zur ärztlichen Aufklärung und die Achtung des Rechtes des Patien­ ten auf Einwilligung oder Ablehnung ärztlichen Tuns das rechtlich als Körper­ verletzung gewertet wird, ist unmittelbarer Ausfluß des Grundgesetzes.

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Der Mensch wird im Grundgesetz als freiheitsfähiges, autonom entscheidendes Wesen geachtet, das verantwortungsvoll mit der Freiheit des Nächsten und der tragenden Gemeinschaft und mit der Achtung vor geltenden Werten umgehen soll. Verantwortung für sein Handeln ist ihm immer dann zuzurechnen, wenn er im Besitz der Freiheitsfähigkeit war, auch wenn er sie nicht nutzte, wenn er unbe­ sonnen oder bewußt gegen geltende Werte verstoßen hat. Unser bürgerliches Recht und unser Strafrecht gehen von dieser Freiheitsfähigkeit aus, solange sie nicht nachweislich durch psychische Störungen gemindert oder aufgehoben ist.

Die Pflicht zur Aufklärung und die Befähigung zur Einwilligung ist ein Lehrstück freiheitlich geordneter geistiger Beziehung zwischen Arzt und Patient.

Die Analyse von Aufklärungen in ihrer praktischen Alltäglichkeit zeigt deren Vielschichtigkeit bei dem zwar geistig freien, dabei aber seelisch-emotional ge­ bundenen Menschen: Der Arzt informiert rational über Krankheit und Therapievorschläge. Er wird da­ bei als Person wahrgenommen. Der Patient filtert durch Ängste Befürchtungen und Hoffnungen sowohl die rationalen Informationen wie seine Wahrnehmung des Arztes. Wenn bedrohliche Erkrankungen zur Diskussion stehen, dann geht es den meisten Patienten weniger um sachliche Aufklärung, sondern mehr um Begründung des nötigen Vertrauens zum Arzt, der helfen soll. Denn:

Ärztliche Hilfe ist nur durch Anvertrauen oder Auslieferung zu erreichen.

Empirische Untersuchungen zeigten, daß im Gegensatz zur juristischen Fiktion der „informierten Einwilligung" (informed consent) die meisten Patienten die Aufklärungsinhalte nach kurzer Zeit nicht mehr wiedergeben können. Wohl aber das Zustandekommen der Vertrauensbildung (Lit.: s. Bochnik u.a.). Ärztliche Vertrauenswürdigkeit ist ein Anspruch an die Würde des Arztes.

Mit der Würde des Menschen ist die Pflicht der Vertrauenswürdigkeit verbun­ den. Ärztliche Vertrauenswürdigkeit ist ein vielseitiges und heute besonders dringliches Problem, daß nicht nur den einzelnen Patienten, sondern die Ärzte­ schaft in der Gesellschaft und den Zeitgeist direkt betrifft. Einen Zeitgeist, der Vertrauen durch Kontrollen überflüssig machen möchte, sieht damit auch von der verpflichtenden Würde der Beteiligten ab. Da im Arzt-Patienten-Verhältnis nicht alles sofort kontrollierbar ist, kann Vertrauen zueinander sich nur auf die Gesinnung der Beteiligten stützen. Der Patient muß darauf vertrauen können:



Daß der Arzt zur Erfüllung der vorliegenden Aufgabe die erforderliche Kompetenz besitzt, die Wissen, 'Können, Erfahrung und spezifischärztliches Verhalten umfaßt.

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Daß der Arzt im entscheidenden Augenblick konzentriert, gründlich ohne Rücksicht auf Ermüdung oder eigene Sorgen sein Bestes gibt.



Daß er Interessen des Patienten, in erkennbaren Grenzen, in den Vorder­ grund stellt.



Daß er den Patienten wahrheitsgemäß aufklärt, soweit dieser es verstehen und ertragen kann.



Daß er seine Geheimnisse auch über den Tod hinaus wahrt,

Der Arzt muß darauf vertrauen können, daß der Patient ihn wahrheitsgemäß und vollständig informiert, um optimal helfen zu können. Mißtrauen ist manchmal gerechtfertigt, aber eine grundsätzlich mißtrauische Medizin, die alles kontrollieren will, ist nicht nur inhuman, sondern auch unbe­ zahlbar. Die Gesellschaft muß darauf vertrauen können, daß sich der Arzt an rechtliche, sittliche, soziale und ökonomische Regeln hält, die eine geordnete, menschen­ würdige, gute Krankheitsversorgung sichern.

Rechtliche Entwertung von Vertrauen setzt Menschenwürde herab: Niklas Luhman 1973 hat Vertrauen als „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexitäten" erkannt. D.h. Vertrauen vereinfacht den Umgang zwischen Menschen und Institutionen, weil es Berechenbarkeit bedeutet und weil es Vor­ sorge gegen schädlichen Mißbrauch vertrauensvoller Erwartungen überflüssig macht. Vertrauen erwarten und Vertrauen schenken kann und soll Ausdruck der Würde des Menschen im Geben und Nehmen sein. Wer Vertrauen durch Kontrolle ge­ genstandslos macht, spricht dem Beteiligten in diesen Bereichen ihre Vertrau­ enswürdigkeit ab und damit einen Teil ihrer Würde. Daß manche Gemein­ schaftsforderungen, angesichts gesellschaftsschädigender Neigungen, Kontrollen und Sanktionen bedürfen, steht außer Frage (so z. B. durch das Steuerrecht). Ein negatives Beispiel von systematischem Mißtrauen: Das Datenschutzrecht geht von der Vertrauensunwürdigkeit forschender Ärzte aus:

Hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit des Arztes als Therapeuten besteht all­ gemeiner Konsens. Während dem forschenden Arzt durch das Datenschutzrecht die Vertrauenswürdigkeit glatt abgesprochen wird, die auf die zuverlässige Wahrung von Patientengeheimnissen zielt. Um mit der unterstellten Vertrau­ ensunwürdigkeit forschender Ärzte zurechtzukommen, wurden in den Krebsre­ gistergesetzen zwischen datenerhebenden und forschenden Ärzten komplizierte anonymisierende Institutionen eingesetzt. Die Arbeitsgemeinschaft medizinisch­ wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF), der 110 deutsche Gesellschaften angehören, hat sich energisch gegen diese Fehlentwicklung gewendet und Vor­

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schlage zur gesetzlichen Einführung eines Forschungsgeheimnisses gemacht, das dem ärztlichen Berufsgeheimnis entspricht. So könnten sowohl berechtigte Patienten interessen an Geheimhaltung als auch wichtige epidemiologische For­ schungsmöglichkeiten in Deutschland gesichert werden.

Das es hier um die Würde forschender Ärzte geht, wird leider vielfach überse­ hen. (Literatur zum Vertrauen: s. Bochnik, Gärtner, Richtberg 1981 und Literatur zum medizinischen Forschungsgeheimnis siehe Bochnik 1995). Menschenwürde und psychiatrisch begründete Zwangsmaßnahmen: Wenn ein Mensch infolge einer psychischen Erkrankung sich oder andere in erhebliche Gefahren bringt, kann er auch gegen seinen Willen in einer ge­ schlossenen Krankenstation untergebracht werden, notfalls auch medikamentös beruhigt oder sogar an das Bett gefesselt werden, wenn erhebliche Gefahren für sich und andere anders nicht abzuwenden sind. Dies ist in den Freiheitsentzie­ hungsgesetzen der Länder geregelt, die an Artikel 104 des Grundgesetzes orien­ tiert sind, bei deren Entstehung niemand an die Problematik psychisch Kranker gedacht hat, sondern ausschließlich an polizeiliche antikriminelle Maßnahmen.

Von unkundigen „Antipsychiatern" werden Zwangsmaßnahmen bei psychisch Kranken als Verstoß gegen die Würde des Menschen gewertet. In solchen em­ pörten Behauptungen mischen sich berechtigte Vorwürfe gegen inhumane Mo­ dalitäten der Zwangsmaßnahmen, die sich seit der Psychiatrieenquete der Bun­ desregierung seit 1971 im Großen und Ganzen gebessert haben, die aber weiter besserungsbedürftig sind, mit einer grundsätzlichen Verkennung des Zusam­ menhangs von Würde und Freiheitsfähigkeit des Menschen. Genau genommen ist das Wort „Freiheitsentziehung" nur dann richtig, wenn es um Zwangsmaßnahmen gegen freiheitsfähige Rechtsbrecher im Sinne des Arti­ kel 104 Grundgesetz geht. Der freiheitsunfähige psychisch Kranke dagegen hat seine Freiheit des besonnenen Abwägens und Entscheidens bereits verloren. Richtig ist daher, daß Zwangsmaßnahmen bei Freiheitsunfähigen dem Schutz ihrer Würde vor sich selbst dienen, die auch dann verletzt werden kann, wenn sie im Zustand der Freiheitsunfähigkeit andere gefährden. Vieldeutigkeit des Wortes „Freiheit"

Die Fehleinschätzung der psychiatrisch indizierten „Freiheitsentziehung", die der Würde des Patienten dient, entstammt der Vieldeutigkeit des Wortes Frei­ heit im gewöhnlichen Sprachgebrauch:



Ein mathematisch definiertes System kann Freiheitsgrade haben, d.h. ver­ schiedene Möglichkeiten der Entwicklung.



Ein Hund kann angekettet sein oder frei herumlaufen, ohne dabei menschliche Freiheitsfähigkeit zu besitzen. 29

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Der freiheitsunfähige Kranke kann sich frei bewegen und frei (d.h. hier willkürlich) handeln. Nur diese Freiheit, die eigentlich „Befähigung im Rahmen des Möglichen" genannt werden könnte, wird ihm aus psychia­ trischen Gründen entzogen.

Psychotherapie und Freiheit Die nötige Personenorientierung in der Psychotherapie führt zur zentralen Frei­ heitsfrage. Denn: Pathologie und Psychopathologie reduzieren persönliche Freiheitsfähigkeiten und Freiheitsmöglichkeiten. Die Besinnungsfähigkeit als Organ der Freiheitsfähigkeit kann eingeschränkt, „einseitig erblindet" sein, gefesselt von Leidenschaften und beherrschenden In­ teressen, aber auch von süchtiger Depravation. Sei kann von hirnorganischen, endogen-psychotischen Veränderungen geschädigt sein oder auch durch Zerstö­ rung einzelner Voraussetzungen wie Bewußtsein, Intelligenz und Gedächtnis. Auf die Qualität der Besinnungsfähigkeit wirken auch normale Affekte, Interes­ sen, Glauben, besonders aber auch tiefgreifende Verstimmungen wie Verzweif­ lung, Antriebsstörung alltäglicher und nichtpsychotischer Ursachen. Diese Selbstverständlichkeiten von Freiheitsverlusten blieben auch „selbstverständ­ lich" weitgehend unreflektiert und deshalb aus wissenschaftlichen Erörterungen ausgeschlossen. Die Folge des Absehens von der Freiheitsfrage ist eine eigent­ lich subhumane Physiologie, Pathologie und Psychopathologie hinsichtlich Diagnostik, Prognostik und Therapie. Diese Mängel bedenkend haben wir deshalb eine psychiatrische Phänomenolo­ gie unter dem Leitgesichtspunkt der Freiheitsfähigkeit und ihrer Störungen ver­ faßt (s. Psychiatrie Lernen - Erkennen, Erfahren, Handeln, H.J. Bochnik, C. Gärtner-Huth, W. Richtberg, 1986, Perimed). In der Psychotherapie sollte die Beachtung der Freiheitsfähigkeit, ihre Störungen und ihre Förderungen und ihre Humanorientierung an Werten selbstverständ­ lich sein. Sie ist es nicht. Wir haben deshalb bei der Entwicklung der sogenann­ ten „Besinnungstherapie" durch systematische Fortentwicklung der nervenärzt­ lichen Beratung die Besinnungsfähigkeit in den Mittelpunkt gestellt. Damit wur­ de auch einer Forderung Viktor Frankls (1973) entsprochen, der im Hinblick auf die Psychoanalyse mit seiner „Logotherapie" „eine Rehumanisierung der Psy­ chotherapie" gefordert hat, weil diese in vielen Konkretisierungen die_auch subhumanen Werte Lust, Unlust und Stimmungen in den Mittelpunkt gestellt hat, was teilweise aber keineswegs als Endziel der Psychotherapie berechtigt und nützlich ist (s. Bochnik und Gärtner-Huth, Besinnungstherapie (Psycho, 1984 und auch Bochnik, Gärtner-Huth, Richtberg, Psychiatrie lernen, Perimed, 1986 sowie Bochnik, Demisch, Gärtner-Huth, Sprechende Allgemeinmedizin, Personale Orientierung und psychiatrische Praxis, Dt. Ärzteverlag Köln, 1989).

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Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen

Die Freiheitsfrage ist Kern der Besinnungstherapie

Da Freiheit zwar allseitig leidenschaftlich beansprucht, aber als grundlegendes menschliches und soziales Problem in der Medizin kaum reflektiert wird, ist eingangs zu fragen, was unter Freiheit zu verstehen ist. Es geht dabei um die Wechselwirkung:



Innere Freiheitsfähigkeiten



mit äußeren Freiheitsmöglichkeiten



mit Freiheitsbewertungen des Patienten und



mit Freiheitsbewertungen der Umwelt.

Die inneren Freiheitsfähigkeiten sind abhängig von der Besinnungsfähigkeit, der Entscheidungsfähigkeit, von Werten der Lebensführung, von Lebenserfahrung und inneren Haltungen der Person. Die äußeren Freiheitsmöglichkeiten werden durch soziale Kontexte definiert.

Die Problematik der „Freiheit von" und „Freiheit zur" wurde schon im Zusam­ menhang mit den Suchtfragen angesprochen. Desgleichen ein Mißverständnis, das hinter der Formulierung z.B. „Freiheit für Schizophrene" (Basaglia) steht, bei dem es um die Freiheit der Freiheitsunfähigen geht, deren Freiheit nur in Möglichkeiten des - human und rechtlich gesehen - nicht freiheitlichen Erle­ bens und Handelns geht. Kurz gesagt gilt:

Objektive Freiheit ist Gestaltungsfähigkeit und Gestaltungsmöglichkeit. Subjektive Freiheit ist objektive Freiheit und ihre Bewertung.

Weitere Einzelheiten s. Abb. 2.

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Bochnik

(D ® ® ®

Innere Freiheit Äußere Freiheitsmöglichkeiten Freiheitsbewertungen des Patienten Freiheitsbewertungen der Umwelt

Objektive Möglichkeiten (D Innere Freiheitsfähigkeit des Patienten = Besinnungsfähigkeit (freies, mobiles Abwägen und Entscheiden)

abhängig von: - Intelligenz - Eigen- und Fremdantriebe, - Bindungs-, Liebesfähigkeit, Disziplin, - Selbstbestimmungsfähigkeit, - Abhängigkeiten und Bindungen (biologisch, psychisch, sozial, geistig) - Emotionale: rationale Bestimmbarkeiten, Triebe, Leidenschaften u. Interessen - Zügelungsvermögen und Einordnungs­ fähigkeit ® Äußere Freiheitsmöglichkeit des Patienten in der Umwelt = 1. Freiheiten zum Wählen, Ent­ scheiden und Handeln 2. Freiheit von Nötigungen und Zwängen, abhängig von Bilanzen wie: - Stützen: Belastungen - Forderungen: Hemmungen - Annahmen: Ablehnungen - Fremde Interessen: gleichsinnig­ neutral-gegensinnig - Zeit und Geld-Bilanzen (verfügbar, verwendet)

> und deren Wechselwirkungen

Bewertungen @ seiner Umwelt ® des Patienten Sinn des persönlichein und sozialen Seins Leitwerte Forderungen Zielsetzungen, Erwartungen Selbstwert, Selbstachtung, Achtung, Mißachtung Selbstvertrauen Gleichgültigkeit

Rationale und emotionale Bewer­ tung der Einzel­ sachverhalte unter Interessen, persön­ lichen und allge­ meinen Leitwerten

Rationale und emotionale Bewer­ tungen: Interessen Konventionen, Sit­ ten, Gesetze in be­ zug auf den Patienten

Abbildung 2: Besinnungstherapeutische Ansätze: Elemente persönlicher Freiheit

Eine Besinnungstherapie haben wir aus alltäglichen nervenärztlichen Beratun­ gen systematisch entwickelt, die reflektierend und übend durch Besinnungsfä­ higkeit auf Freiheitsfähigkeit zielt. Besinnungstherapie will alle Ebenen des Menschen ansprechen. Führend bleibt die personal geistige Ebene und deren Verbindung mit biologischen, psychischen und sozialen Dimensionen (näheres s. Abb. 3). 32

Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen

Personale Ebene

Lebenskonzepte, existentielle Entscheidun­ gen durch Suchen, Bestimmen, Bekennen von Werten zur Orientierung der Ansätze auf „tieferen" Ebenen

Biologische Ebene

Anpassende Gestaltung gegebener Abhän­ gigkeiten mit personaler Stilbildung und Kultivierung von Bedürfnissen: z.B. Ruhe und Bewegung, Freiräume schaffen durch Zeitökonomie

Psychische Ebene

Kopf - Herz - Belehrung Distanzierung von Zu- und Abneigung, von egozentrischen wie kollektiven Wünschen und Befürchtungen, von neurotischen Komplexen und Abwehrmechanismen

Soziale Ebene

Gestaltbare Freiräume suchen und schaffen durch:

- Zeit- und Finanzeinteilung - Prioritäten in Pflichten, Neigungen, Wahl des menschlichen Umgangs - Prüfung, was nach Gesamtlage nötig ist

Abbildung 3: Besinnungstherapeutische Ansätze an Existenzbereichen

Einstieg zur Bewirkung von Änderungen ist die Erkenntnisfähigkeit und Er­ kenntniskraft. Hier geht es um Distanzierung von Sachverhalten und Werten, um deren Inventarisierung und deren Bilanzierung nach Ist und Soll. Auf dieser Basis ist die Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungskraft zunächst an unbelastenden Inhalten zu üben, aus denen dann Handlungsfähigkeit und Handlungs­ kraft entwickelt werden. Einzelheiten des Vorgehens zeigt Abb. 4.

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Bochnik

1. Erkenntnisfähigkeit und -kraft

Distanzierung von Sachverhalten und Werten

-7- Inventarisierung

2. Entscheidungsfähigkeit und -kraft 3. Handlungsfähigkeit und -kraft

Kognitiv Emotional Im Verhalten In Abwehrmechanismen Störungsanalyse Behinderungsanalyse Alternativenentwürfe Persönliche Grenzen Ist: Soll

— Bilanzierung - Abwägen von Alternativen - Entscheiden nach Sinn, Wert, Möglichkeiten - Abschirmung verworfener Alternativen - Einleiten gegen Widerstände - Tragen und Verarbeiten von Folgen und Nebenfolgen - Durchhalten mit besonnener Situationsanpassung (Zielkontrolle und ggf. Zielkorrektur) - Beendigung der Handlung, Überführen in neue Situation mit neuen Zielen

Abbildung 4: Besinnungstherapeutische Ansätze an Kräften oder Schwächen der Ich-Funktionen

Der Mensch selbst ist keine behandelbare Krankheit

Wie jede Psychotherapie, die den Menschen als Person anspricht, kann auch Besinnungstherapie immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Der Grund: Der Mensch selbst ist keine heilbare Krankheit. Besinnungstherapie setzt dazu, erst den Wunsch, dann den Willen des Patienten auf Freiheitsge­ winn voraus. In der Therapie können unter genauer Kenntnis der Biographie der Vergangenheit, der Gegenwart, der mutmaßlichen Zukunft und der persönlich leitenden Werte dem Patienten die Augen für Chancen und Risiken geöffnet werden. Bewußt sind gefährdete Freiheiten zu sehen, verlorene Freiheiten - so gut es geht - wiederzugewinnen oder bewußt darauf zu verzichten. Insbeson­ dere geht es darum, Wege zu bisher ungenutzten Freiheiten zu eröffnen. Im the­ rapeutischen Prozeß ist der Patient zu ermutigen, die möglichen Wege zu durchdenken und durchzufühlen, um ihre Tragbarkeit und ihre Akzeptanz zu prüfen, um sich schließlich zu ihm bekennen zu können, um Freiheitsmöglich­ keiten zu gestalten.

Konkret ist dies unter Klärung der Leitwerte und Ziele möglich, die ganz persön­ lich biographisch sein können, die gesellschaftlich, familiär, beruflich, politisch oder auch religiös sein können: Klärung der Werte ebnet Wege.

Abbildung 5 weist auf die Beziehung zwischen Krankheit und Person hin.

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Menschenbilder hinter

ärztlichen

Begegnungen

Krankheit und Person Leiden

an Behinderung + Begrenzung der Lebensführung und des Lebens führt zu: -Schmerz -Angst -Depression -Verzweiflung - Resignation - Schwächung - Neurotisierung

Gestalten

annehmen -> damit leben lernen einbauen, ausklammern verbliebene Freiheiten gestalten

Nutzen und Ausnutzen

- Lernen und wachsen am Leid - Rechte einfordern (sozial-, zivil- und strafrechtlich) - Entlassung von Pflichten, Anstrengungen und Erwartungen, Abschirmung, Zuwendungen, Beachtung/Ansehen - Übertreibung, Simulation, „Rentenbegehren und Rentenneurose"

Abbildung 5: Krankheit und Person: Leiden und Gestalten

Menschenbild und Suizid Der Mensch hat die Freiheit, sich zu töten - eine Freiheit, die man unterschied­ lich bewerten kann, die aber Respekt verlangt. Aber: Die meisten Suizide werden nicht im Besitz der freien Willensbestim­ mung beschlossen und durchgeführt. Zumeist kommt es zu Suiziden unter dem Druck der Verzweiflung, die eine realitätsgerechte Wahrnehmung der inneren und äußeren Situation, eine sachgerechte Abwägung von Werten und Unwer­ ten, von Chancen und Risiken, von Gegenwart und Zukunft, verfälscht oder unmöglich macht. Der Tod erscheint als großer Vereinfacher, als Versuchung zur Flucht aus Schwierigkeiten. Der Blick des Suizidenten ist daher zumeist le­ bensorientiert. Was nach dem Sterben sein wird, wird nicht bedacht obwohl wenn auch für unseren Verstand nicht unterscheidbar - sowohl persönliche Vernichtung wie auch Veränderung der persönlichen geistigen Existenz in eine neue Form hinein sein kann.

Es ist eine Erfahrung, daß Suizidenten zumeist „mit dem Rücken in die Grube gehen". Rettet man sie, so legen vier von fünf nie wieder die Hand an sich.

Höher ist das Suizidrisiko allerdings bei psychisch Kranken, deren Befähigung zur freien Willensbildung bereits vermindert oder aufgehoben ist.

In der akuten suizidalen Situation kann man als Arzt fast nie sicher erkennen, ob der Todeswille besonnen, abgewogen, willensfrei gebildet worden und daher Ausdruck zu achtender Freiheitsfähigkeit ist, oder ob die Freiheitsfähigkeit durch Depression oder Verzweiflung verlorenging. Die Rettung des Suizidenten ist daher zunächst einmal Pflicht zur Wiederherstellung der Freiheitsfähigkeit. Wer wirklich nicht mehr will, ist auf die Dauer nicht aufzuhalten. 35

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Das Menschenbild in der Abtreibungsfrage Die Kontroverse geht quer durch das Volk: Freigabe der Abtreibung zwecks Pflichtenvermeidung oder Konfliktlösung einerseits, oder Schutz des neuen Le­ bens andererseits, das einer noch unbekannten, mit Sicherheit einmaligen Per­ son gehört.

Da das Töten einer Person bei uns tabuisiert ist, aber andererseits die Tötung eines Ungeborenen nach Beratung zwecks Pflichtenvermeidung oder Konflikt­ lösung in ganz persönlichen Interessen der Mutter oder des Vaters oder anderer geduldet wird, wird die Abtreibung häufig umdefiniert als freiheitsentsprechen­ der Interessenschutz. Die befruchtete Eizelle wird dabei zum unpersönlichen Gewächs erklärt, dem die Eigenschaft abgesprochen wird, der Anfang der Exi­ stenz einer bestimmten Person zu sein, der mit der Konzeption bereits Einzigar­ tigkeit verliehen worden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar Abtreibung aus persönlichem Interesse für rechtswidrig erklärt, auf Strafbarkeit aber aus po­ litischer Opportunität verzichtet. In den Diskussionen bleibt § 1912 BGB meist unerwähnt, der eine Wahrung künftiger Rechte einer Leibesfrucht durch Errich­ tung einer Pflegschaft vorsieht. Dabei dürfte doch klar sein, daß ohne ein Recht auf Leben Wahrungen künftiger Rechte unmöglich sind. Rechtskonform aber undurchführbar wäre die Bestellung von Pflegern für Leibesfrüchte, die zur Ab­ treibung heranstehen. Es ist bedauerlich, daß in aktuellen Kontroversen weder zu Ende gedacht noch ehrlich argumentiert wird.

Organspende nach Feststellung des Todes Weithin gilt in der Medizin die Überzeugung, daß mit dem unabänderlichen Erlöschen der Hirnfunktion die Existenz der Person in diesem Leben beendet ist. Die Konsequenz daraus: Dem Hirntoten, aber noch lebenden Organismus kön­ nen Organe zur Spende für Lebende entnommen werden.

Von anderen wird dies für Unrecht gehalten, da die Unantastbarkeit der Person bis zum Erlöschen jedes zellulären Lebens gelten soll. Ich tjekenne mich zur ersten Gruppe, da ich der geistigen Existenz der Person eine führende Bedeutung unabhängig von ihrem Leib zuschreibe, durch den sie sich im Leben geäußert hat. Die Person hat das Haus und ihre Werkzeuge ver­ lassen, weshalb diesem nach dem Hirntot kein personaler Wert mehr zukommt, unbeschadet der Bedeutung des verlassenen Leibes für Trauernde und Geden­ kende.

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Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen

Menschenbild und Suchtbehandlung Wenn Freiheitsfähigkeit das höchste, das eigentliche menschliche Vermögen ist, dann ist der Verlust der Freiheitsfähigkeit in der süchtigen Depravation mit der Menschenwürde, die Artikel 1 GG schützt, nicht zu vereinbaren. Im Namen des Liberalismus stehen sich zwei unvereinbare Konzepte gegen­ über:

Freiheit von Sucht

oder

Freiheit zur Sucht

Grundsätzlich kann sich der Mensch zur Freiheit zur Sucht frei entscheiden. Es dürfte aber außerordentlich selten sein, daß diese Entscheidung frei getroffen wird. Die Freiheit zum Genießen wird bejaht; die Freiheit zum gelegentlichen Mißbrauch bis zur Abhängigkeit scheint man sich erlauben zu können, ohne sich zu gefährden, weil die einfache Abhängigkeit noch in die normale Lebens­ führung integrierbar ist. Ohne selbst noch entscheiden zu können, ist man auf diesem Wege bereits unfrei geworden und in der süchtigen Depravation ist das süchtige Bedürfnis der höchste Wert, dem alles einschließlich der normalen Le­ bensführung geopfert wird. Freiheit existiert nur, wenn man sie auch mißbrauchen kann.

Vollständige Mißbrauchsverhinderung hebt Freiheit auf. Daher sind die Men­ schen im süchtigen Freiheitsverlust auch Zeugen unserer Freiheit, die wir nicht missen wollen. Mit dem Freiheitsverlust wird auch die Würde des Menschen beschädigt. Die Parole, Freiheit zur Sucht entstammt einem werteblinden Liberalismus, der die Beschädigung der Würde der Person zugunsten freier Befriedigung von Be­ dürfnissen mißachtet.

Wer aber der Menschenwürde verpflichtet ist, wie der deutsche Staat, darf nicht zulassen, daß unerfahrene, unreife oder auch in Konflikten verzweifelte Men­ schen in die Versuchungen süchtiger Entwicklungen geführt werden, in denen ihre Freiheitsfähigkeit verlorengeht. Von gewissen Praktikern, die mir diesbe­ züglich in philosophischen Sonntagsreden zustimmen, wird aber der Sog in die Unfreiheit durch Achtung und Erfüllung süchtiger Bedürfnisse unterstützt. Glei­ ches gilt für eine permissive Drogenpolitik, die Drogenfreigabe will. Politiker in Hessen, Hamburg, Amsterdam, Zürich und anderen Ortes unterstützen die Frei­ heit zur Sucht. (Literatur: Bochnik, Suchtbehandlung, Drogenpolitik und Men­ schenwürde in: Sucht 1996).

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Bochnik

Begegnung als praktische Personenorientierung Bei der Anwendung von Regeln im Einzelfall ist der Arzt an zahlreiche Aus­ nahmen gewöhnt, er läßt sich durch Mißerfolge nicht entmutigen, sondern pro­ biert weiter im Rahmen denkbarer Erfolge. Die erfolgreiche Anwendung einer Regel setzt voraus, daß die für den Patienten wesentlichen Merkmale in der Re­ gel mit enthalten sind. Dies ist oft unsicher, weil die meisten Symptome selbst keine einfachen Sachverhalte sind, sondern wiederum Merkmalskomplexe hin­ sichtlich ihrer Entstehung. Beispielsweise die Höhe des Blutdrucks - eine ein­ deutige Zahl - kann von sehr vielen Dingen abhängen. Eine depressive Ver­ stimmung, die ich im Test quantifizieren kann, kann sehr verschiedene Ursa­ chen haben. Also ist das als gleich notierte Symptom bei verschiedenen Menschen nicht unbedingt das gleiche, wenn ich es bei einer Mehrzahl von Pa­ tienten registriere. Mit diesen Schwierigkeiten geht die Wissenschaft gelassen um, sie freut sich an Signifikanzen, positiven und negativen Korrelationen und statistischen Strukturerkenntnissen. Bei unzureichenden Erfolgen der Umsetzung von Regeln auf den Einzelfall ist immer mit der Komplexität des Systems zu rechnen. Hier ist die tragende Per­ son als geistiges, seelisches, biologisches und soziales Wesen zu sehen, an der sich die Krankheit mit zahlreichen Wechselwirkungen abspielt.

Ein Strukturmodell der kranken Person Abbildung 6 zeigt eine schematische Orientierungshilfe des komplexen Systems individueller Mensch, die durch Feststellung von Einzelheiten individuell kon­ kretisierbar ist. Hier kommt es auf Relationen von Eigenschaften an, die zwi­ schen den Hauptkomplexen stehen: •

So zwischen den Komplexen Krankheit und Person, die Relation von Be­ lastungen durch die Krankheit und Tragfähigkeit der Person.



Zwischen der Person und ihrem Sozialfeld bestehen vielfältige Relatio­ nen, so zwischen Stützen und Belastung, zwischen Wollen und Können und dergleichen, deren Beachtung insbesondere in psychotherapeuti­ schen und rehabilitativen Prozessen von großer Bedeutung sein können.



Schließlich gibt es noch Interaktionen zwischen dem abstrakten Krank­ heitskomplex und dem Sozialfeld, die sich, ohne Beachtung des einzel­ nen Kranken, im Krankheitsprestige, in der Fürsorge und in der gesetzli­ chen Regelung, z.B. Schwerbehindertengesetz und dergleichen äußern.

Eine Vertiefung in Abb. 6 und 7 mag zur Suche nach wesentlichen Relationen im Einzelfall anregen, die zwischen den Hauptkomplexen Krankheit, Person und Sozialfeld von Bedeutung sein können.

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Menschenbilder hinter ärztlichen Begegnungen

Diagnose Differentialdiagnose

Art

Schwere —

Behinderung Vergleich mit dem typischen Verlauf Zeitgestalt, Prognose

Diagnostik Risiken

©

r

:Chancen

Person - Krankheit Leid - Schmerz - Behinderung Tragfähigkeit Belastung Störung Kompensationsfähigkeit Leidensdruck Leidensgewinn passive Leidenshaltung aktive Leidensgestaltung angemessene Resignation irreale Auflehnung Schmerzzeit schmerzfreie Zeit Erlebnis Verständnis Ich-Nähe Ich-Ferne identifizieren distanzieren ignorieren wichtig nehmen Überwältigung Bewältigung Erfahrung Überraschung

Person - Sozialfeld leb(?nSge?taltunfi-^el