Bedeutung und Gebrauch der deutschen Modalverben: Lexikalische Einheit als Basis kontextueller Vielheit 9783110540451, 9783110538403

An abstract juxtaposition of two intentional verbs, their internal directedness at the other, and the external relation

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Bedeutung und Gebrauch der deutschen Modalverben: Lexikalische Einheit als Basis kontextueller Vielheit
 9783110540451, 9783110538403

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Modalverben und semantische Kategorisierung
3 Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle
4 Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen
5 Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten
6 Modalverbformen und Bedeutung
7 Syntaktische Einbettung des Modalverbs und Bedeutung
8 Fazit
Literaturverzeichnis
Index

Citation preview

Carolin Baumann Bedeutung und Gebrauch der deutschen Modalverben

Linguistik – Impulse & Tendenzen

Herausgegeben von Susanne Günthner, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert und Thorsten Roelcke

Band 72

Carolin Baumann

Bedeutung und Gebrauch der deutschen Modalverben Lexikalische Einheit als Basis kontextueller Vielheit

ISBN 978-3-11-053840-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054045-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053842-7 ISSN 1612-8702 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Marcus Lindström/istockphoto Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die Vorstellung, wie man einen so vielbehandelten Gegenstand wie die Modalverben überhaupt (noch) angehen kann, hat sich im Verlaufe meiner Beschäftigung mit ihnen erheblich gewandelt. Das anfängliche Vorhaben einer korpusbasierten Untersuchung des erkenntnisbezogenen (oder: epistemischen) Modalverbgebrauchs, setzte eine semantische Beschreibung voraus, die sich auf die vorfindlichen Daten sinnvoll und erschöpfend anwenden lässt. Bald wurde einerseits klar, dass sich die Modalverben nur im Zusammenhang aller ihrer Lesarten behandeln lassen; zu wichtig sind die Analogien und Übergänge. Andererseits stellten sich Versuche, die Korpusdaten mittels der vorhandenen Modelle zu klassifizieren, wiederholt als unbefriedigend heraus: Es entstanden unzählige Zweifelsfälle, man sollte zusammenfassen, was doch ganz verschieden schien, und manche Belege ließen sich gar nicht unterbringen. Die Konsequenz war zunächst die vollkommene Hinwendung zu den Daten des verwendeten LIMAS-Korpus mit dem Vorsatz, möglichst unvoreingenommen zu sehen, was die entscheidenden Gemeinsamkeiten innerhalb der als semantisch zusammengehörig empfundenen Beleggruppen sind, worin der Zusammenhang besteht und wo sich Übergänge einstellen. Die Datensichtung und -analyse wurde so zum Ausgangspunkt für die Entwicklung eines semantischen Beschreibungsmodells, das alle Lesarten in Zusammenhang zu bringen sucht und, wie es mir scheint, großes Erklärungspotenzial hat für die vielfältigen Besonderheiten und vermeintlichen Idiosynkrasien des Modalverbgebrauchs. Dieses Modell zur synchronen Beschreibung der Modalverbsemantik ist das zentrale Ergebnis meiner Beschäftigung mit den Modalverben. Seine Einführung und Prüfung ist wesentlicher Gegenstand meiner Dissertationsschrift, die im Dezember 2015 an der Universität Siegen angenommen wurde und in diesem Band mit einigen wenigen Änderungen veröffentlicht ist. Eine wichtige Rolle im Arbeitsprozess wie auch in der Entwicklung des Beschreibungsmodells haben graphische Darstellungen gespielt. Die Arbeit enthält daher viele Abbildungen, die der Veranschaulichung dienen, stets den Rückbezug zum kausativ angelegten Grundmodell möglich machen und so auch dazu beitragen sollen, die Vielfalt der auseinandergelegten Fälle zusammenzuhalten. Danken für vielfältige Ermutigung und Unterstützung muss und möchte ich den Betreuern meiner Arbeit, Petra M. Vogel und Clemens Knobloch, sowie meiner direkten Kollegin während der Promotionszeit und darüber sehr guten Freundin Taivi Rüüberg. Unermüdliche Gesprächspartner und Informanten, vor allem aber unentbehrliche moralische Stütze in der Endphase der Arbeit an

VI | Vorwort

meiner Dissertation waren mir meine Freunde und Kollegen an der Uni Siegen sowie meine Freunde außerhalb der Universität und besonders meine Familie: Ich danke Euch! Littfeld, im Mai 2017

Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung | 1 Zum Problem: Gegenstand und Ziel | 1 Zum Vorgehen: Aufbau und Datengrundlage | 8 Zur Terminologie: Klärung wichtiger Begriffe | 11

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Modalverben und semantische Kategorisierung | 17 Modalität: offene Bedingtheit einer Situation | 18 Modale Relation: die Richtung der Bedingungsrelation | 26 Modale Quelle: die Verortung der Bedingungsrelation | 30 Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 38 Skopus: ausdrucksseitige Entsprechung der modalisierten Situation | 57

3 3.1

Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle | 61 Das modale Szenario: multiple Bedingtheit und valenzgerechte Interpretation einer modalisierten Situation | 62 Formalsemantische Beschreibung bei Angelika Kratzer (1976, 1981, 1991): mögliche Welten und Redehintergründe | 81 Pragmatische Beschreibung bei Konrad Ehlich und Jochen Rehbein (1972): Modalverb-Interrelationen und Sprechaktbezug | 88 Kognitive Beschreibung bei Leonard Talmy (1988): Modalverben als Ausdruck von Kräftedynamik („Force Dynamics“) | 94 Grammatikalisierungstheoretische Beschreibung bei Gabriele Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 100

3.2 3.3 3.4 3.5

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen | 113 Wollen: Absicht, Prospektion und Anspruch auf Zustimmung | 114 Mögen: (Dis-)Präferenz, Aspektion und Zugeständnis | 125 Sollen: Forderung, Prospektion und Anspruch auf Zustimmung | 136 Dürfen: Erlaubnis, Verbot und (Dis-)Präferenz | 145 Müssen: Unerlässlichkeit, umfassende Geltung und Einsicht | 149 Können: Handlungsoption, eingeschränkte Geltung und Annahme | 158

VIII | Inhaltsverzeichnis

4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.7.5 4.8 5 5.1

5.2

5.3

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4

Nicht brauchen, modale Infinitive, Halbmodale und Co.: Modale Bedeutung semantisch verwandter Verben | 166 Das siebte Modalverb: (nicht) brauchen | 166 Modale Infinitive: sein zu, haben zu und verwandte Konstruktionen | 170 Evidentialitätsverben: drohen zu, versprechen zu, scheinen zu | 178 Temporal basiertes Modalitätsverb: werden | 181 Kausative Verben: lassen, machen und heißen mit Aci | 184 Zusammenfassung und Überblick | 190 Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten | 197 Semantische Basis: die mediopassive Bedeutung der Präteritopräsentien als Grundlage der modalen Bedingtheitsstruktur | 198 Entfaltung des Wortfeldes zum modalen Szenario: Lexikalischer Wandel als Intentionalitätsbezug und Abstraktion der Bedingungsrelation | 199 Entwicklung der Lesarten: Zunehmende Variabilität in der Darstellung intentionaler Situationen | 203 Modalverbformen und Bedeutung | 207 Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand | 209 Indikativ Präsens: Unmarkierte Vergleichsfolie | 219 Indikativ Präteritum: Faktizität und historisches Futur | 220 Konjunktiv Präsens: Heische-Modus und indirekte Forderung | 239 Konjunktiv Präteritum: Verweis auf weitere Bedingungsrelationen | 254 Allgemeines: Die unabhängige Verwendung des Konjunktivs Präteritum bei den Modalverben | 257 Möchte-: höflicher Wille, indirekter Wunsch und höflicher Anspruch auf Zustimmung | 273 Sollte-: wertende Forderung/Empfehlung und Einschätzung | 280 Dürfte-: Gerechtfertigte Annahme | 289

Inhaltsverzeichnis | IX

6.5.5 6.6 6.7 6.8

Könnte- und müsste-: vorbehaltliche Aussicht/Annahme und vorbehaltliche Erwartung/Einsicht | 293 Perfekt, Futur und Indikativ Plusquamperfekt: eingeschränkter Gebrauch | 301 Konjunktiv Plusquamperfekt: Vergangene Modalität, Irrealität und Wertung | 306 Zusammenfassung | 314

7.4.6 7.5 7.6

Syntaktische Einbettung des Modalverbs und Bedeutung | 319 Modalverben im Satz: Kategorisierung und Komplementtypen | 321 Komplement: Dynamizität, Kontrolle und semantische Klassen | 339 Aspektualität des Komplements und Dynamizität der dargestellten Situation | 340 Kontrolliertheit und Intendiertheit der dargestellten Situation | 356 Modalisierte Sprechakte, modalisierte Denkreferate | 362 Subjekt: Personalität, Definitheit und grammatische Person | 373 Personalität das Subjekts: Intentionalität und Handlungsfähigkeit | 374 Definitheit des Subjekts: Individuelle Situationen und generelle Situationstypen | 381 Grammatische Person des Subjekts: Personaldeixis im modalen Szenario | 384 Satztyp: Verbstellung und Äußerungsmodus | 393 Sollte- in konditionalen Nebensätzen | 394 Soll- und sollte- in Fragesätzen | 402 Möge- in Verberst-Heischesätzen | 409 Mögen in Irrelevanzkonditionalen | 411 Wollte- im irrealen Vergleichssatz und konditionalen Nebensatz | 418 Weitere Einflüsse von Satztypen | 420 Negation | 421 Zusammenfassung | 434

8

Fazit | 439

7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5

X | Inhaltsverzeichnis

8.1 8.2 8.3

Zusammenfassung: Lesarten als valenzbasierte Interpretation | 439 Modalverbkonstruktionen? – Konstruktionsbegriff und empirische Erschließung | 441 Schluss | 446

Literaturverzeichnis | 449 Index | 459

Tabellenverzeichnis Tab. 2.1: Absolute und relative Häufigkeiten der Modalverben im LIMAS-Korpus.―37  37 Tab. 2.2: Lesarten als Typen modalisierter Situationen. | 46 Tab. 2.3: Unterlesarten der handlungsbezogenen Lesart nach Merkmalen der Bedingungsrelation. | 48 Tab. 2.4: Unterlesarten der erfahrungsbezogenen Lesart nach Merkmalen der Bedingungsrelation. | 51 Tab. 2.5: Unterlesarten der erkenntnisbezogenen Lesarten nach Merkmalen der Bedingungsrelation. | 52 Tab. 2.6: Merkmale und Übergänge der zentralen Lesarten als Typen dargestellter Situationen, ihre Erscheinungsformen in der modalisierten Situation und entsprechende Typen modalisierter Situationen. | 56 Tab. 2.7: Absolute und relative Häufigkeiten der drei zentralen Lesarten im LIMASKorpus. | 57 Tab. 4.1: Handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogen spezifizierte Bedingungsrelationen nach Modalverben. | 190 Tab. 4.2: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart im Indikativ Präsens nach Modalverblexem im LIMASKorpus. | 193 Tab. 4.3: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart nach Modalverblexem für alle Formen im LIMAS-Korpus. | 195 Tab. 6.1: Präteritum und Partizip II mit Vokalwechsel und/oder Dentalsuffix bei starken Verben (singen), schwachen Verben (lachen) und Präteritopräsentien (wissen, können). | 211 Tab. 6.2: Vokalwechsel zwischen Singular und Plural im Indikativ Präsens bei den Präteritopräsentien außer sollen. | 211 Tab. 6.3: Stammformen der Präteritopräsentien mit charakteristischen Vokalwechseln der Modalverben mögen, dürfen, können und müssen im Vergleich zu wissen. | 212 Tab. 6.4: Absolute und relative Häufigkeiten der Indikativ-Präsens-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus. | 219 Tab. 6.5: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart der Indikativ-Präsens-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus (vgl. Tabelle 4.2). | 220 Tab. 6.6: Absolute und relative Häufigkeiten der Indikativ-Präteritum-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus. | 237 Tab. 6.7: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart der Indikativ-Präteritum-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus mit signifikanten Abweichungen gegenüber dem Indikativ Präsens (vgl. Tabelle 6.5). | 238 Tab. 6.8: Absolute und relative Häufigkeiten der Konjunktiv-Präsens-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus. | 250 Tab. 6.9: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart der Konjunktiv-Präsens-Formen nach Modalverb im LIMAS-Korpus mit signifikanten Abweichungen gegenüber dem Indikativ Präsens (vgl. Tabelle 6.5). | 252

XII | Tabellenverzeichnis

Tab. 6.10: Absolute und relative Häufigkeiten der Konjunktiv-Präteritum-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus. | 271 Tab. 6.11: Absolute und relative Häufigkeiten der Konjunktiv-Präteritum-Formen nach Modalverb in handlungs- , erfahrungs- und erkenntnisbezogener Lesart im LIMASKorpus mit signifikanten Abweichungen gegenüber dem Indikativ Präsens (vgl. Tabelle 6.5). | 271 Tab. 6.12: Absolute und relative Häufigkeiten der Modalverblexeme in den analytischen Formen des Perfekts, Futurs I und Plusquamperfekts im LIMAS-Korpus. | 305 Tab. 7.1: Nicht-verbale Komplementtypen und ihre Verteilung auf die Modalverblexeme im LIMAS-Korpus. | 336 Tab. 7.2: Absolute und relative Häufigkeiten der Lesart im LIMAS-Korpus nach Tempus des Komplements (nur Belege mit verbalem Komplement). | 347 Tab. 7.3: Absolute und relative Häufigkeiten der Lesarten im LIMAS-Korpus nach Genus Verbi des Komplements (nur Belege mit verbalem Komplement im Präsens). | 349 Tab. 7.4: Die häufigsten Lexeme in präsentischen Komplementen nach Lesart im LIMASKorpus. | 351 Tab. 7.5: Type-Token-Relationen der Komplementverblexeme nach Lesart für die Grundgesamtheit der Belege mit verbalem Komplement und in gleich großen Stichproben (n=618). | 354 Tab. 7.6: Type-Token-Relationen der Komplementverblexeme in präsentischen Komplementen nach Lesart für die Grundgesamtheit der Belege mit verbalem Komplement in gleich großen Stichproben. | 354 Tab. 7.7: Merkmale und Übergänge der zentralen Lesarten als Typen dargestellter Situationen, ihre Erscheinungsformen in der modalisierten Situation und entsprechende Typen modalisierter Situationen erweitert um eine beziehungsbezogene Lesart in modalisierten Sprechakten (vgl. Tabelle 2.6). | 370 Tab. 7.8: Die Subjekte man, ich, wir und das Passiv als typische Umgebung der Komplementverben sagen, annehmen und feststellen. | 373 Tab. 7.9: Absolute und relative Häufigkeiten persönlicher und unpersönlicher Subjekte nach Lesarten im LIMAS-Korpus. | 379 Tab. 7.10: Absolute und relative Häufigkeiten persönlicher und unpersönlicher Subjekte bei aktivischem Komplement nach Lesarten im LIMAS-Korpus. | 380 Tab. 7.11: Absolute und relative Häufigkeiten persönlicher und unpersönlicher Subjekte bei perfektischem Komplement nach Lesarten im LIMAS-Korpus. | 380 Tab. 7.12: Absolute und relative Häufigkeiten der Person-Numerus-Formen nach Lesart im LIMAS-Korpus. | 385 Tab. 7.13: Absolute und relative Häufigkeiten der Modalverben in konditionalen Nebensatz nach Lesart im LIMAS-Korpus. | 401 Tab. 7.14: Absolute und relative Häufigkeiten der Modalverben im Fragesatz nach Lesart im LIMAS-Korpus. | 408 Tab. 7.15: Absolute und relative Häufigkeiten der Lesarten nach Lexem für Belege ohne Negation im LIMAS-Korpus. | 430 Tab. 7.16: Absolute und relative Häufigkeiten der Lesarten nach Lexem für Belege mit Negation im LIMAS-Korpus. | 431

Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Modale Bedingtheitsstruktur, bestehend aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation. | 6 Abb. 1.2: Modale Bedingtheitsstruktur, bestehend aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation, mit zentralem Partizipanten als „Scharnier“. | 15 Abb. 2.1: Grafische Darstellung einer faktischen und einer faktisch unbestimmten Situation, bestehend aus Partizipatum (Pfeil) und Partizipanten (Kreise). | 21 Abb. 2.2: Um Partizipanten (Kreise) reduzierte grafische Darstellung einer faktischen und einer faktisch unbestimmten Situation. | 21 Abb. 2.3: Semantische Basisstruktur einer modalisierten Situation als bedingte Situation mit Beispielen für sprachliche Ausdrucksmittel von Modalität (fett markiert). | 23 Abb. 2.4: Kausalität, Konditionalität und Modalität als Bedingungsstrukturen mit unterschiedlicher faktischer Bestimmtheit der beteiligten Relationen. | 24 Abb. 2.5: Die Organisation der multiplen Bedingungen einer Situation im modalen Szenario. | 25 Abb. 2.6: Modalisierte Situation mit initiativer und reaktiver Bedingungsrelation. | 28 Abb. 2.7: Notwendigkeit als Bestehen einer initiativen und Möglichkeit als Nicht-Bestehen einer reaktiven Bedingungsrelation in Bezug auf die modalisierte Situation. | 29 Abb. 2.8: Intentionalität als in einer Entität verortete Bedingungsrelation am Beispiel von sollen und unverorteten Bedingungsrelation am Beispiel von müssen. | 32 Abb. 2.9: Situationsexterne Intentionalität am Beispiel von sollen und situationsinterne Intentionalität am Beispiel von wollen. | 36 Abb. 2.10: Modales Szenario bestehend aus durch die Merkmale [+/–REAKTIV], [+/–VERORTET] und [+/–EXTERN] bestimmten Bedingungsrelationen. | 36 Abb. 3.1: Bedingtheitssituation, bestehend aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation (vgl. Abbildung 1.1 in Abschnitt 1.1). | 62 Abb. 3.2: Die Organisation der multiplen Bedingungen einer Situation im modalen Szenario (vgl. Abbildung 2.5 in Abschnitt 2.1). | 63 Abb. 3.3: Modale Bedingtheitssituation für sollen mit lexikalisch nach Ausrichtung und Verortung spezifizierter Bedingungsrelation unter Aufruf des gesamten modalen Szenarios. | 64 Abb. 3.4: : Zwei Teilszenarien des modalen Szenarios nach Intentionalität des zentralen Partizipanten mit opponierenden Bedingungsrelationen. | 66 Abb. 3.5: Abbildung relationaler Strukturen von Fragesatz, grammatischer Person und Indikativ Präteritum auf das von sollen aufgerufene Teilszenario. | 68 Abb. 3.6: Wollen in handlungsbezogener (i.e.S. volitiver) Lesart mit intentionalem dynamischem Verbkomplement und Zusammenfall von dargestellter und modalisierter Situation am Beispiel Anna will ein Eis essen. | 74 Abb. 3.7: Wollen in handlungsbezogener (volitiver) Lesart mit nominalem Komplement als THEMA der modalisierten Situation am Beispiel Anna will ein Eis. | 75 Abb. 3.8: Wollen in erkenntnisbezogener (quotativer) Lesart mit statischem verbalem Komplement als Thema der modalisierten Situation am Beispiel Anna will ein Eis gegessen haben. | 77 Abb. 3.9: Interrelation von möchte-, können und wollen nach Ehlich/Rehbein (1972: 321). | 89

XIV | Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.10: Interrelation von sollen, können und wollen nach Ehlich/Rehbein (1972: 322). | 90 Abb. 3.11: Die Bedeutung von can/may (not) und have to als Muster von Kräfteinteraktionen (‚force-dynamic patterns‘) nach Talmy (1988: 82ff.). | 96 Abb. 3.12: Relationale Struktur von Sprechaktverben nach Diewald (1999: 121). | 101 Abb. 3.13: Modalverben in handlungsbezogener Lesart mit dem Modalverb als „sekundärem Experiencerverb“ am Beispiel von (41) nach Diewald (1999: 118, 121). | 101 Abb. 3.14: Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart als Füllung der direktivischen Grundstruktur nach Diewald(1999: 207, 247) im Vergleich zur entsprechenden Struktur für die handlungsbezogene Lesart. | 105 Abb. 3.15: Die erkenntnisbezogene Lesart der Modalverben als Repräsentant der deiktischen Moduskategorie nach Diewald (1999: 170, 206f.). | 108 Abb. 4.1: Wollen als Ausdruck einer initiativen ([–REAKTIVEN]) instanzenbezogenen ([+VERORTETEN]) situationsinternen ([–EXTERNEN]) Situationsbedingung. | 115 Abb. 4.2: Wollen mit direktionalem Komplement im modalen Szenario anhand von Beispiel (47): Marlene will ins Kino, sie holt dich abends ab. | 117 Abb. 4.3: Wollen mit nominalem Komplement und sich aus dem modalen Szenario ergebendem Partizipatum der modalisierten Situation anhand von Beispiel (48): Martin will mehr Taschengeld. | 118 Abb. 4.4: Wollen in erfahrungsbezogener (prospektiver) Lesart anhand von Beispiel (23): Es sah aus, als wolle dieser Gigant auf die Kuppel herunterstürzen und sie zertrümmern. | 121 Abb. 4.5: Wollen in erkenntnisbezogener (quotativer) Lesart anhand von Beispiel (29): Ein paar Leute wollten allerdings gesehen haben, daß ... | 124 Abb. 4.6: Mögen als Ausdruck einer reaktiven ([+REAKTIV]) instanzenbezogenen ([+VERORTET]) situationsinternen ([–EXTERN]) Situationsbedingung. | 126 Abb. 4.7: Nicht mögen mit nominalem Komplement in handlungsbezogener Lesart anhand von Beispiel (52): Ich mag keinen Brei. | 128 Abb. 4.8: Mögen in erfahrungsbezogener Lesart anhand von Beispiel (55): Selbstzufriedenheit über diese Basis mag nicht aufkommen. | 132 Abb. 4.9: Mögen in erkenntnisbezogener Lesart anhand von Beispiel (68): [...] – das mag richtig sein, aber nicht neu. | 134 Abb. 4.10: Sollen als Ausdruck einer initiativen ([–REAKTIV]) instanzenbezogenen ([+VERORTET]) situationsexternen ([+EXTERN]) Situationsbedingung. | 137 Abb. 4.11: Sollen in handlungsbezogener (genauer: deontischer) Lesart anhand der Beispiele (69): Schließlich soll man doch gerade dann aufhören, wenn es am schönsten ist, meint Otto Höpfner und (70): Sie soll grüne Augen haben und ein grünes Kleid. | 140 Abb. 4.12: Sollen in erfahrungsbezogene (genauer: prospektiver) Lesart anhand von Beispiel (73): So haben wir von beiden Seiten eine Entwicklung gefördert, die – davon bin ich überzeugt – für das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern segensreich sein soll, [...]. | 142 Abb. 4.13: Sollen in erkenntnisbezogener (genauer: quotativer) Lesart anhand von Beispiel (74): „Wenn ihr kein Brot habt, müßt ihr eben Kuchen essen!“ soll Königin Marie Antoinette ihren verhungernden Untertanen geraten haben. | 143 Abb. 4.14: Dürfen als Ausdruck einer reaktiven ([+REAKTIV]) instanzenbezogenen ([+VERORTET]) situationsexternen ([+EXTERN]) Situationsbedingung. | 145

Abbildungsverzeichnis | XV

Abb. 4.15: Dürfen in handlungsbezogener (genauer: deontischer) Lesart anhand von Beispiel (75): Er darf dreiunddreißig Prozent darüber produzieren und verrechnen. | 146 Abb. 4.16: Müssen als Ausdruck einer einfachen ([–REAKTIV], [–VERORTET]) modalen Situationsbedingung. | 150 Abb. 4.17: Müssen in handlungsbezogener Lesart bei kontextbedingt situationsextern verortetem Ausgangspunkt der Bedingungsrelation anhand der Beispiele (84): Wer die niedrigste Karte hat, muß ein Drittel seines Einsatzes in die Bank (in die Tischmitte) bezahlen und (86): Ausgerechnet in diesem Moment muß sie an Mark Hollmann denken. | 152 Abb. 4.18: Müssen in erfahrungsbezogene Lesart anhand von Beispiel (18): Zum einen muß eine solche Gehilfentätigkeit Stückwerk bleiben, wenn sie zugleich zur Entlastung des Richters beitragen soll. | 155 Abb. 4.19: Müssen in erkenntnisbezogener Lesart anhand der Beispiele (92): Dann muß ich in diesen Jahren in einem Traumtheater gelebt haben, aber nicht im Deutschen Bundestag und (94): Anna war auf Sardinien. Das muss eine schöne Insel sein. | 157 Abb. 4.20: Können als Ausdruck einer reaktiven ([+REAKTIV], [–VERORTET]) modalen Situationsbedingung. | 158 Abb. 4.21: Können in handlungsbezogener Lesart mit kontextbedingt situationsextern bzw. -intern verortetem Ausgangspunkt der Bedingungsrelation anhand der Beispiele (98): Tritt eine Gefahrerhöhung ein, so kann der Versicherer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen kündigen und (90): Sie können ja sprechen! | 160 Abb. 4.22: Können in erkenntnisbezogener Lesart anhand von Beispiel (108): Das kann auch Filip-piii-ne heißen. | 165 Abb. 4.23: Nicht brauchen im modalen Szenario. | 168 Abb. 4.24: Sein zu als einfache Bedingungsrelation und in seiner extensionalen Bedeutung in Bezug auf das modale Szenario. | 173 Abb. 4.25: Haben zu im modalen Szenario. | 176 Abb. 4.26: Relationale Bedeutung von werden in verschiedenen Lesarten. | 183 Abb. 4.27: Kausatives machen anhand von Beispiel (135): Ein Datum, ein Ereignis, ausradiert, ausgelöscht, vergessen - vergessen gemacht [...]. | 186 Abb. 4.28: Kausatives heißen anhand von Beispiel (136): Sie hieß ihn den Raum verlassen. | 186 Abb. 4.29: Kausatives lassen anhand der Beispiele (133): Dann prüft sie den Entnahmeschein, läßt mich unterschreiben und heftet ihn ab und (134): X-RAY-3 ließ das Monster auf sich zukommen. | 187 Abb. 5: Die Bedeutung der ahd. Modalverben sculan, mugan und wellen in einem ahd. modalen Szenario. | 201 Abb. 6.1: Temporale Beziehungen und Faktizität im Indikativ Präteritum musste- anhand von Beispiel (150): Er mußte sie stützen. | 221 Abb. 6.2: Temporale Beziehungen und Faktizität im Indikativ Präteritum sollte- anhand von Beispiel (150)': Er sollte sie stützen. | 222 Abb. 6.3: Das historische Futur mit sollte- im modalen Szenario anhand von Beispiel (25): Diese Gedanken sollten erst im Liberalismus des 19. Jahrhunderts wirksam werden. | 232 Abb. 6.4: Der Konjunktiv Präsens als Ausdruck von Alterität der Sprecherinstanz. | 246

XVI | Abbildungsverzeichnis

Abb. 6.5: Möge- in heischender Verwendung und als Ausdruck einer indirekten Aufforderung. | 248 Abb. 6.6: Präteritum und Konjunktiv als Ausdruck von Distanz und Alterität mit Beispiel ist/sei/war/wäre. | 266 Abb. 6.7: Könnte- im modalen Szenario, vgl. Beispiel (186): „Und damit könnten wir unsere Baden-Probe beenden...“- „wenn wir wollten!“. | 269 Abb. 6.8: Müsste- im modalen Szenario, vgl. Beispiel (188): Wir müßten das Wohnzimmer [...] abschließen [...]. | 270 Abb. 6.9: Möchte- im modalen Szenario, vgl. Beispiel (190): „Ich möchte jetzt Badois trinken“ sagte sie. | 276 Abb. 6.10: Lexikalisierung von möchte- im modalen Szenario und damit verbundener Übergang auf die Verweisoptionen eines zweiten modalen Szeanrios. | 280 Abb. 6.11: Sollte- (Konj.) in handlungsbezogener Lesart im modalen Szenario, vgl. Beispiel (184): Beide Formen der Erziehung sollten sich normalerweise ergänzen. | 284 Abb. 6.12: Sollte- (Konj.) in erkenntnisbezogener Lesart im modalen Szenario, vgl. Beispiel (185): Hacken und Fräsen […] sollten in der Hofnähe in den ersten Jahren nach der Bepflanzung kein Problem sein. | 288 Abb. 6.13: Dürfte- in erkenntnisbezogener Lesart im modalen Szenario anhand, vgl. Beispiel (79): Sie dürften als „Wanderschutt“ schon im Eiszeitalter entstanden sein. | 291 Abb. 6.14: Müsste- in erkenntnisbezogener Lesart im modalen Szenario, vgl. Beispiel (205): Danach müssten die fehlenden Buchstaben leicht zu erraten sein. | 297 Abb. 6.15: Könnte- in erkenntnisbezogener Lesart im modalen Szenario, vgl. Beispiel (206): Die Eiben-Rune könnte einfach eine Modifizierung der Eis-Rune sein. | 297 Abb. 6.16: Die kompositionelle Semantik der Konjunktiv-Plusquamperfekt-Formen der Modalverben als Ausdruck von Kontrafaktizität der modalisierten Situation am Beispiel hätte- können. | 308 Abb. 6.17: Der Konjunktiv Plusquamperfekt der Modalverben als Ausdruck von Forderung des Irrealen resp. Dispräferenz am Beispiel hätte- können. | 311 Abb. 6.18: Erkenntnisbezogene Lesart bei den verschiedenen Lexemen und Formen als Ausprägungen des modalen Szenarios. | 317 Abb. 7.1: Der enge Negationsbezug bei sollen anhand von Beispiel (312): Aber man soll ihnen nicht unrecht tun. | 424 Abb. 7.2: Der weite Negationsbezug bei müssen anhand von Beispiel (314): er muß dabei nicht unbedingt die Kreuz-Dame ausspielen, [...]. | 425

1 Einleitung Wir sehen vor uns eine Handvoll Verben und einen Kosmos von kommunikativen Funktionen. (Fritz 1997: 2)

1.1 Zum Problem: Gegenstand und Ziel Gegenstand dieser Arbeit sind Bedeutung und Gebrauch der deutschen Modalverben wollen, mögen, sollen, dürfen, müssen und können. Ziel ist eine synchrone Beschreibung, die einen Brückenschlag erlaubt zwischen der (guten) Handvoll Verben bzw. der lexikalischen Einheit jedes einzelnen dieser Verben und der Vielzahl ihrer Verwendungsweisen, die dem von Fritz im obigen Zitat benannten „Kosmos“ kommunikativer Funktionen zugrunde liegt. Die vorgeschlagene Beschreibung geht davon aus, dass jedes Modalverb eine spezifische notwendige Bedingung bezeichnet und die von den sechs Modalverben bezeichneten Bedingungen über ihre semantischen Merkmale verbunden sind zu einer komplexen Bedingungsstruktur, einem gemeinsamen „Universum“, das hier als modales Szenario1 bezeichnet wird. Dieses modale Szenario ist insofern szenisch, als es aus intentional aufeinander bezogenen Instanzen und den Relationen zwischen ihnen besteht. Als modal ist es qualifiziert, indem seine Instanzen und Relationen in einem bedingenden Verhältnis zu einer Situation stehen, die Situation selbst mithin als bedingt oder genauer: als modalisiert erscheint. Für die Erfassung der Verwendungsweisen ist eine semantische Valenz oder sortale Argumentforderung als lexikalisch angelegte Voraussetzung jedes Modalverbs grundlegend, die die Lesarten als valenzgerechte Interpretationen eines gegebenen Satzes mit Modalverb beschreibbar macht. Die regelmäßig und darin musterhaft auftretenden Eigenschaften der Sätze, die im Sinne einer bestimmten Lesart interpretiert werden, bilden ein ausdrucksseitiges Pendant der Lesarten. Es wird dafür argumentiert, dass es sich bei den Modalverblesarten um vollständig kompositionell analysierbare Interpretationen einer einheitlichen lexikalischen Modalverbsemantik handelt und den mit ihnen assoziierten Konstruktionsmustern ein sekundärer Status zukommt; letztere sind im doppel-

|| 1 In diesem einführenden Kapitel werden einige zentrale Begriffe in Fettdruck eingeführt, auch um ein Nachschlagen zu erleichtern. Ein Register wichtiger Schlagworte findet sich am Ende dieses Bandes.

DOI 10.1515/9783110540451-001

2 | Einleitung

ten Sinne des Wortes symptomatisch für die Lesarten. Eine kognitive Nutzbarmachung wird damit freilich nicht ausgeschlossen. Die Modalverben gelten als gleichermaßen frequent und polysem, die Vielzahl ihrer Verwendungsweisen als geprägt von Idiosynkrasien und Tendenzen zur lexikalischen Spaltung. Zur Beschreibung der Polysemie hat sich eine Darstellung etabliert, in der für jedes Lexem zwei Lesarten angesetzt werden; zur Veranschaulichung dieser dualen Unterscheidung vergleiche man die Minimalbeispiele in (1): (1)

a. b.

Anna will/möchte/soll/darf/muss/kann singen. Anna will/mag/soll/dürfte/muss/kann zuhause sein.

In (1a) bringen die Modalverben, je nach Lexem, Absichten, Wünsche, Verpflichtungen, Erlaubnisse, Zwänge oder Möglichkeiten als Voraussetzungen einer Handlung zum Ausdruck, die im Rest des Satzes dargestellt ist. Diese Lesart soll im Rahmen dieser Arbeit entsprechend handlungsbezogen heißen. Die Lesart in (1b) wird analog erkenntnisbezogen genannt, weil sich die Modalverbbedeutung hier nicht auf eine im Satz dargestellte Handlung, sondern auf die Erkenntnis oder das Urteil des Sprechers bezüglich der entsprechenden Proposition bezieht mit dem Ergebnis, dass seine Überzeugung von der Wahrheit dieser Proposition bedingt und damit nur eingeschränkt gegeben erscheint (vgl. Palmer 1986: 51).2 Schon in diesen Minimalbeispielen tauchen die ersten morphologischen Unregelmäßigkeiten auf: In handlungsbezogener Lesart erscheint mögen nicht im Indikativ Präsens, sondern nur in der Konjunktiv-Präteritum-Form möchte. Anna mag singen ist ungebräuchlich und würde eher als transitive Konstruktion mit nominalem Komplement aufgefasst, d.h. als Ausdruck von Annas allgemeiner Vorliebe für das Singen. Noch eher, aber ebenfalls selten, findet man den

|| 2 Die Terminologie zur Bezeichnung der Lesarten ist vielfältig (vgl. Öhlschläger 1989: 28). Besonders gebräuchlich ist das Begriffspaar „deontisch“ und „epistemisch“, daneben auch „grundmodal“ und „epistemisch“. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden demgegenüber die Begriffe handlungs- und erkenntnisbezogen verwendet, weil sie wiedergeben, dass der Lesartunterschied in einem qualitativen Unterschied der Argumentsituation bei ansonsten analogen Bezügen liegt. In 2.4 und 3.1 wird diese Sichtweise im Detail eingeführt und dabei noch eine dritte, erfahrungsbezogene Lesart unterschieden, die gewissermaßen zwischen handlungs- und erkenntnisbezogener Lesart steht und auch die gelegentlich als „alethisch“ bezeichneten Verwendungsweisen einschließt. Im einleitenden Kapitel 1 wird zunächst noch von dieser dritten Lesart abgesehen, die auch in der Literatur oft nicht gesondert betrachtet wird, jedoch einen besonderen Erklärungswert für den Übergang zwischen den Lesarten hat.

Zum Problem: Gegenstand und Ziel | 3

Indikativ Präsens handlungsbezogen mit Negation: Anna mag nicht singen. In erkenntnisbezogener Lesart fällt dürfte ins Auge. Hier ist der Indikativ Präsens *Anna darf zuhause sein nicht in erkenntnisbezogen lesbar, sondern würde handlungsbezogen, als Erlaubnis, zuhause zu sein, aufgefasst. Die lexem- und formspezifischen Besonderheiten nehmen zu, wenn man das ganze Spektrum, den ganzen Kosmos, von Verwendungsweisen betrachtet, den schon eine verhältnismäßig kleine Datenbasis wie das in der vorliegenden Arbeit verwendete LIMAS-Korpus3 zu bieten hat. Man vergleiche etwa die folgenden Belege von sollen, das eine besondere Vielfalt von Verwendungsweisen zeigt. In Grammatiken und Literatur beschrieben werden meist nur Verwendungen wie die in (2) bis (5); dabei werden (2) bis (4) der handlungsbezogenen und (5) der erkenntnisbezogenen Lesart zugeordnet.4 (2) (3) (4) (5)

Du sollst nicht schon fortgehn, Papa, der Fabian malt. (so-1699) Ontologische Probleme sollen durch eine neue sprachkritische Methode überwunden werden. (so-1752) Im Interesse der Effektivität des Seminars sollte allen teilnehmenden Studenten folgende Literatur unbedingt bekannt sein: (so-1640) Im Jahre 200 vor Christus soll ein chinesischer Polizeiminister einen Gotteslästerer zum „Musiktod“ durch ohrenbetäubendes Trommeln und Pfeifen verurteilt haben. (so-225)

|| 3 Das LIMAS-Korpus (Linguistik und maschinelle Sprachbearbeitung) umfasst über 1.000.000 laufende Wortformen (Token) geschriebener Sprache und setzt sich zusammen aus 500 Textquellen, die 33 Rubriken zugeordnet sind (vgl. http://korpora.zim.uni-due.de/Limas/index. htm). Es gilt damit als ausgewogenes Referenzkorpus geschriebener Sprache. Zur Zusammensetzung vergleiche man Abschnitt 1.2. 4 Im Folgenden werden die Belege aus dem LIMAS-Korpus gekennzeichnet, indem das Kürzel für das jeweilige Modalverb (wo: wollen, moe: mögen, so: sollen, due: dürfen, mue: müssen, koe: können) und die Belegnummer, wie sie im Datenblatt fortlaufend vergeben wurde, mit Bindestrich verbunden in Klammern hinter dem Beleg angegeben werden. Aus der Literatur zitierte Belege werden durch die gängige Angabe des Autornamens, des Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl zitiert; darüber hinaus werden Belege aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) am Institut für Deutsche Sprache (http://www.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora/), das über das Portal COSMAS II (http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/) zugänglich ist, ergänzend hinzugezogen. Gemäß den Vorgaben des IDS werden diese Belege mit der Nennung des korpusinternen gegebenen Quellennachweises zitiert. Selten verwendete konstruierte Beispiele stehen ohne jeglichen Vermerk.

4 | Einleitung

Für Verwendungen von wertendem oder empfehlendem sollte- wie in (4) scheint der Bedeutungsunterschied zu soll- bzw. sollen in (2) und (3) als Ausdruck einer Aufforderung oder Absicht jedoch so groß zu sein und sich auch nicht auf Anhieb durch den Konjunktiv Präteritum erklären zu lassen, dass man eine lexikalische Spaltung von sollte- gegenüber sollen in Erwägung zieht (vgl. z.B. Glas 1984: 80). In (5) kommt zunächst weniger die eigene Erkenntnis des Sprechers, sondern die Wiedergabe von Informationen aus fremder Quelle durch das Modalverb zum Ausdruck. Beispiel (6), das für eine eigene, in der Literatur meist unbehandelte Beleggruppe steht, scheint dieses Merkmal des Verweises auf die Meinung eines anderen zu teilen. (6)

Und mir, was soll mir schon noch viel geschehen, wenn er mich erwischt! (so-1377)

Eine echte Sprechereinschätzung drückt hingegen (7) aus. (7)

Damit sollte es von der Geologie her möglich sein, auch bei weltweit steigendem Verbrauch die benötigten Voratsmengen [sic] an mineralischen Rohstoffen nachzuweisen. (so-727)

Wie erklärt sich aber die Form sollte, die man, obwohl ohne Kontext modusambig, als Konjunktiv Präteritum auffasst? Insgesamt bleibt diese Verwendung in der Literatur oft unerwähnt oder zumindest unerläutert. Verwendungen wie (8) sind an die Indikativ-Präteritum-Formen von sollen gebunden und gelten als idiosynkratisch, indem sie eine vergangene Nachzeitigkeit, das so genannte historische Futur oder Futurum in Praeterito, ausdrücken, die mit der Bedeutung von sollen in den vorgenannten Fällen mutmaßlich wenig zu tun hat. (8)

Georg Sund, der leider die Publikation des Werkes nicht mehr erleben sollte, und seinem Nachfolger, Herrn Ernst-Peter Wieckenberg. (so-893)

Zum Problem: Gegenstand und Ziel | 5

Auch die Fälle (9) bis (13) gelten als Sonderfälle und werden daher oft aus der Betrachtung ausgeschlossen bzw. gar nicht erst erwähnt.5 Dabei gehören sie doch zweifellos zum Verwendungsspektrum von sollen und müssen von einer umfassenden Bedeutungsbeschreibung erfasst werden. (9) (10) (11) (12) (13)

Sollten sich bei Ihnen noch Terminverschiebungen ergeben, so bitten wir um umgehende Nachricht. (so-238) Warum sollte ich über dich nachdenken, sagte er. (so-1674) Was soll das? (so-1987) Doch was soll’s? (so-1341) Das alles kennzeichnet zur Genüge, sollte man meinen, den französischen Typus des Werkes als einer „Revue“. (so-52)

Neben den bereits genannten flexionsmorphologischen Besonderheiten fällt spätestens auf den zweiten Blick auf, dass sich die verschiedenen Verwendungsweisen von sollen auch in unterschiedlichen syntaktischen und lexikalischen Kontexten einstellen, dass (9) bis (12) besondere Satztypen involvieren, in (4) die Perfektform des verbalen Komplements vorliegt und für die Verwendung in (13) das Komplementlexem meinen spezifisch ist, das man ohne Änderung der Lesart nur durch ähnliche Verben wie annehmen oder vermuten ersetzen könnte. Diese beispielhaften Beobachtungen für Verwendungen von sollen sind symptomatisch für den Modalverbgebrauch insgesamt. Dennoch kann es keine befriedigende Lösung sein, hier von mehreren, nur historisch zusammenhängenden Verwendungsweisen oder gar von verschiedenen Verben zu sprechen. Beschrieben wird in dieser Arbeit daher eine einzige lexikalische, d.h. allen Verwendungsweisen eines Modalverbs gemeinsame, Bedeutung, die einerseits Grundlage und Ursache dafür ist, dass die Modalverben einen „Kosmos“ von Verwendungsweisen entfalten, die ihn aber andererseits auch als lexikalische Einheit zusammenhält.6 Darüber hinaus beruhen auf dieser lexikalischen Semantik auch Besonderheiten im Bezug der grammatischen Kategorien, insbesondere des Konjunktivs Präteritum. Diese, so soll gezeigt werden, ergeben sich || 5 Vgl. z. B. Öhlschläger (1989: 176) zu diesen „Sonderfällen“ bei sollen; ähnlich auch Glas (1984: 86f.), der schreibt, sie seien „[f]ür eine Bedeutungsbeschreibung von sollen und sollte [...] nicht relevant“. 6 Wenn im Folgenden von der lexikalischen Bedeutung der Modalverben die Rede ist, dann ist die in diesem Sinne virtuelle Bedeutung im Gegensatz zur aktuellen Bedeutung in einer gegebenen Verwendung gemeint und nicht etwa die Qualifikation gegenüber einer grammatischen Bedeutung (vgl. z.B. Glück 2005: 380).

6 | Einleitung

daraus, dass die Modalverben über gemeinsame semantische Merkmale aufeinander bezogen sind und als relativ geschlossenes Wortfeld mit dem modalen Szenario eine komplexe abstrakte Bedingungsstruktur aus Instanzen und Relationen etablieren, auf die grammatische (und auch pragmatische) Relationalitäten abbildbar sind.7 Es wird angenommen, dass diese lexikalische Bedeutung eines einzelnen Modalverbs in der Bezeichnung einer Bedingungsrelation besteht, die als solche auf eine Situation bezogen ist. Letztere wird hier als bedingte oder modalisierte Situation bezeichnet. Beide Komponenten, Bedingung und modalisierte Situation sind relational konzipiert und konstituieren zusammen eine zweiteilige Struktur dynamischer Relationen, die als ganze den Zustand der Bedingtheit ausmacht (vgl. Abbildung 1.1).

Abb. 1.1: Modale Bedingtheitsstruktur, bestehend aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation.

Der Bezug der vom Modalverb bezeichneten und spezifizierten Bedingungsrelation auf eine bedingte Situation ist in der lexikalischen Semantik des Modalverbs als semantische Valenz oder Argumentrahmen angelegt, d.h. als Eigenschaft, eine entsprechende semantische Ergänzung zu fordern. Zu dieser semantischen Valenz gehören auch Eigenschaften der modalisierten Situation: Sie ist als dynamisch bestimmt und muss intentional sein, d.h. eine intentionale Instanz als ihren zentralen Partizipanten enthalten. Prototypisch für diesen || 7 Die Rede vom geschlossenen Wortfeld der Modalverben widerspricht der bisweilen formulierten Aussage, die traditionelle Auswahl der sechs Lexeme sei willkürlich (vgl. zur Diskussion Öhlschläger 1989: 4ff.), da es eine ganze Reihe an Verwandten gebe, die entsprechende Funktionen aufweisen. Gedacht ist dabei an die so genannten Halbmodale oder Modalitätsverben wie nicht brauchen, lassen, sein zu, haben zu, scheinen, drohen usw. Worin die semantische Annäherung solcher Verben, worin aber auch die Unterschiede und damit die Abgeschlossenheit des Wortfelds besteht, wird in Abschnitt 4.7 dieser Arbeit diskutiert.

Zum Problem: Gegenstand und Ziel | 7

Situationstyp sind von einem Agens intendierte und kontrollierte Handlungen oder Tätigkeiten (z.B. singen (Anna) in Anna will/möchte/... singen). Diese semantische Valenz, so wird hier angenommen, ist die Grundlage einer Differenzierung von handlungsbezogener und erkenntnisbezogener Lesart, indem die Informationen, die in Sätzen mit Modalverb im Rest des Satzes gegeben sind, gemäß dieser Valenz interpretiert werden. Wenn keine dynamische Situation mit intentionalem Partizipanten im Satz dargestellt ist, sondern etwa nur ein Zustand wie sein (Anna, zuhause) in Anna muss zuhause sein, wird dieser zur Spezifikation einer komplexeren dynamischen und intentionalen Situation herangezogen. Eine Möglichkeit ist dabei, dass der geforderte intentionale Partizipant aus der Äußerungssituation entliehen wird. Der Sprecher selbst füllt dann diese Position des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, die dargestellte Situation spezifiziert als Proposition der modalisierten Situation deren Thema mit dem Effekt, dass das Modalverb auf die Sprechererkenntnis bezogen, d.h. erkenntnisbezogen, erscheint. Diese valenzgerechte Interpretation im Einzelnen zu beschreiben und zu zeigen, wie durch sie die Lesarten entstehen, wird eine zentrale Aufgabe dieser Arbeit sein. Die weiteren Beobachtungen, dass sich manche der oben beispielhaft für sollen aufgeführten Verwendungsweisen erst mit bestimmten Flexionsformen oder in spezifischen Satztypen ergeben, lassen sich, so die These, ebenfalls synchron aus der Bedeutung der Modalverben ableiten, indem zwischen den einzelnen Modalverbbedeutungen, d.h. zwischen den spezifischen Bedingungsrelationen, die die Lexeme jeweils bezeichnen, semantische Implikationsbeziehungen bestehen: Wenn wir davon sprechen, dass jemand etwas (nicht) tun kann oder darf, dann ist damit impliziert, dass eine Initiative von dem Betreffenden vorausgegangen ist, dass er die jeweilige Handlung ausführen will; und wenn er umgekehrt etwas tun soll oder muss, ist davon auszugehen, dass er es nicht von sich aus tun will. Diese Implikationsbeziehungen ergeben sich aus semantischen Merkmalen, deren jeweilige Ausprägungen in den einzelnen Modalverblexemen in unterschiedlichen Konstellationen gebündelt sind. Die Differenzierung nach diesen Merkmalen begründet die Auffächerung einer einfachen Situationsbedingung in die sechs aufeinander bezogenen Einzelbedingungn des modalen Szenarios, das potenziell als ganzes die modalisierte Situation bedingt. Spezifiziert werden die relative Richtung der Bedingungsrelation im Verhältnis zur modalisierten Situation (vgl. müssen vs. können), die mögliche Verortung der Bedingungsrelation in einer personalen Instanz (vgl. sollen vs. müssen) sowie, im Falle einer solchen instanzenbezogener Verortung, die mögliche Zugehörigkeit der Trägerinstanz zur modalisierten Situation (vgl. wollen vs. sollen).

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Ausgehend davon, dass auch die grammatischen Kategorien Tempus, Modus und Person eine relationale Semantik haben und ebenso Satztypen wie der Konditional- und der Fragesatz, lassen sich die besonderen Verwendungsweisen der Modalverben in bestimmten Flexionsformen und Satztypen erklären durch die Abbildung der jeweiligen morphologisch oder syntaktisch kodierten semantischen oder pragmatischen Relationen auf die Strukturen des modalen Szenarios. Der Konjunktiv Präteritum hingegen, der selbst, wie die Modalverben, eine Bedingtheit der Faktizität bezeichnet, verweist, so soll gezeigt werden, innerhalb der modalen Bedingungsstruktur und referiert damit auf eine weitere Bedingungsrelation, zusätzlich zu der vom Modalverb selbst bezeichneten. Durch möchte- etwa wird so zusätzlich auf die wollen-Relation, durch sollte- auf die (wertende) mögen-Relation verwiesen. Auf diese Weise wird die Bedeutung des höflichen Wollens bzw. empfehlenden Sollens erklärbar. Neben der Entwicklung des Beschreibungsmodells selbst sind daher die vielfältigen morphologischen und syntaktischen Besonderheiten Gegenstand, ihre Klärung anhand des Modells und damit dessen Prüfung und Plausibilisierung Ziel der vorliegenden Arbeit. Es soll gezeigt werden, dass und wie die Annahme der szenisch angelegte Bedingungsstruktur eines modalen Szenarios eine synchrone Beschreibung der Modalverbverwendungsweisen in ihrem Zusammenhang einschließlich der Vielzahl an Besonderheiten ermöglicht als in einer lexikalischen Einheit begründet und im Kontext systematisch kompositionell entfaltet. Eine möglichst weitreichende Erschließung der Verwendungsweisen und der mit ihnen verbundenen Besonderheiten wird durch die erschöpfende Auswertung des LIMAS-Korpus angestrebt. Ergänzende quantitative Beobachtungen zeigen, inwiefern die Lesarten und Verwendungsweisen potenziell kognitiv gestützt werden durch wiederkehrende Merkmale ihrer ausdrucksseitigen Realisierung. Solche Regelmäßigkeiten können als Verwendungsroutinen repräsentiert sein, die im Übergang stehen zwischen der lexikalischen Einheit der Modalverben und der unendlichen Vielfalt ihres Gebrauchs.

1.2 Zum Vorgehen: Aufbau und Datengrundlage Der vorliegende Band ist grob gegliedert in zwei Teile, wobei der erste Teil, die Kapitel 2 bis 5, der allgemeinen, lexikalischen Bedeutungsbeschreibung der Modalverben und der Entwicklung des modalen Szenarios gewidmet ist und es im zweiten Teil, in den Kapiteln 6 bis 8, um dessen Anwendung auf morphologisch und syntaktisch komplexere Strukturen und ihre Bedeutung geht.

Zum Vorgehen: Aufbau und Datengrundlage | 9

In Kapitel 2 werden zunächst einige kanonische Kategorien zur semantischen Beschreibung der Modalverben eingeführt und im Sinne der hier vorgeschlagenen Beschreibung expliziert; dazu gehören Modalität als die semantische Kategorie, der die Modalverben angehören, modale Relation und modale Quelle als Merkmalskategorien ihrer lexikalischen Semantik, die Lesart als Kategorie zur Erfassung der spezifischen Bedeutung eines Modalverbs im morphologischen und syntaktischen Kontext und Skopus als Ergebnis eines Rückbezugs dieser semantischen Kategorie auf die Ausdrucksseite von Sätzen mit Modalverb. Kapitel 3 beginnt in 3.1 mit der Darstellung des hier vorgeschlagenen Modells zur umfassenden Beschreibung der Modalverbsemantik; in den nachfolgenden Abschnitten 3.2 bis 3.5 werden mit den Arbeiten von Angelika Kratzer, Konrad Ehlich und Jochen Rehbein, Leonard Talmy und Gabriele Diewald vier ähnlich umfassend angelegte Modelle vorgestellt, die den Gegenstand aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen, und mit dem hier vorgeschlagenen Modell in Beziehung gesetzt. Die Bedeutungsbeschreibung, die sich aus dem modalen Szenario für jedes Modalverb ergibt, wird in Kapitel 4 für jedes Modalverb im Einzelnen ausgeführt in Hinblick auf die verschiedenen Lesarten. Dabei werden vornehmlich nur solche Verwendungen berücksichtigt, in denen keine weiteren morphologischen und/oder syntaktischen Markierungen vorliegen, die die Lesart des Modalverbs beeinflussen; somit werden überwiegend Verwendungen der Modalverben im Indikativ Präsens im unmarkierten Verbzweit-Deklarativsatz betrachtet. Nach einem Exkurs in die Diachronie der Modalverbsemantik in Kapitel 5, der zusätzliche Evidenz für das vorgeschlagene Modell liefern soll, wird der Übergang zur Beschreibung von komplexeren Strukturen gemacht. Dabei stehen diejenigen Formen oder syntaktischen Strukturen im Fokus, für die in der Literatur Beschränkungen oder besondere Verwendungsweisen dokumentiert sind. Kapitel 6 ist der Morphologie der Modalverben, genauer: ihren Flexionsformen, gewidmet. Diese werden zunächst in ihren besonderen formalen Eigenschaften betrachtet und mit der Bedeutung der Modalverben in Verbindung gebracht (6.1); anschließend werden vor allem die markierten Formen des Präteritums und des Konjunktivs in Hinblick auf Besonderheiten ihrer Bedeutung betrachtet und diese mit Hilfe des hier vorgeschlagenen Beschreibungsmodells erklärt. Analog geht es in Kapitel 7 um die syntaktische Einbettung und Markierungen des syntaktischen Kontextes einer Modalverbform. Auch hier wird erst das allgemeine syntaktische Verhalten der Modalverben sowie die damit einhergehende Kategorisierung als Hilfs- oder Vollverben beschrieben und aus

10 | Einleitung

ihrer Bedeutung heraus erklärt, um dann diejenigen Merkmale des syntaktischen Kontextes näher zu betrachten, die in der Forschungsliteratur als lesartrelevant gelten. Dazu gehören vor allem Merkmale der Komplementform (7.2.1), des Komplementlexems (7.2.2) und des Subjekts (7.3); daneben wird das Verhalten der Negation betrachtet und auf die Bedeutungsstruktur zurückgeführt (7.5). Insbesondere in den Kapiteln 6 und 7 werden quantitative Korpusdaten herangezogen, um aufzuzeigen, wie sich das Bedeutungspotenzial einzelner Formen oder syntaktischer Strukturen im Gebrauch oder besser: in der Gebräuchlichkeit (vgl. Fritz 1997: 37) der Formen und Strukturen, niederschlägt. Als empirische Grundlage dient das gut 1.000.000 Token umfassende LIMASKorpus (Linguistik und maschinelle Sprachbearbeitung), das in einer TextVersion zur Verfügung stand. Es setzt sich zusammen aus 500 Quellen schriftlicher Texte à ca. 2.000 Token aus den Jahren 1970 und 1971, die insgesamt 33 thematischen Rubriken zugeordnet sind. Das LIMAS-Korpus gilt damit als eines der wenigen ausgewogenen Referenzkorpora für das Deutsche (vgl. z.B. Lemnitzer/Zinsmeister 2006: 111, Stefanowitsch 2009: 580). Neben den quantitativen Beobachtungen insbesondere in den Kapiteln 6 und 7 werden Belege aus diesem Korpus in der gesamten Arbeit zur Veranschaulichung herangezogen. Insgesamt ergeben sich die Überlegungen zur semantischen Beschreibung der Modalverben ganz wesentlich aus der Auseinandersetzung mit den in diesem Korpus enthaltenen Daten. Jede Modalverbform wurde als Beleg erhoben; der Satz, in dem sie vorliegt, bildet dabei als Bezugsgröße der Modalität (vgl. Palmer 1986: 2) die primäre Einheit der Analyse. Nicht erfasst wurden attributiv verwendete Partizipialformen und Substantivierungen der Modalverben. Insgesamt ergab sich so ein Datenkorpus von 12.198 Modalverbbelegen. Annotiert wurden die grammatischen Kategorien der Modalverbform, d.h. Person, Numerus, Tempus und Modus. Genus Verbi wurde nicht berücksichtigt, da das Passiv bei den Modalverben kaum vorkommt (vgl. 6.1).8 Weiter wurde das Subjekt bezüglich seiner Form und der Personalität seines Referenten betrachtet. Als persönlich wurden solche Subjekte gewertet, die auf ein menschliches Individuum oder eine Gruppe von Menschen verweisen, wobei unter Letztere auch Ausschüsse, Firmen, Institutionen, Regierungen etc. fallen, es sei denn, dass es erkennbar nur um Gebäude o.Ä. geht.

|| 8 Tatsächlich findet sich im Korpus nur ein einziger Satz mit zwei Vorkommen von wollen, die als Zustandspassiv (etwas ist gewollt), aber auch als prädikative Konstruktion aufgefasst werden können.

Zur Terminologie: Klärung wichtiger Begriffe | 11

Das Komplement wird ebenfalls zunächst nach seiner Form kategorisiert, wobei sich hier neben den infinitivischen verbalen Komplementen, Pronomina, substantivhaltige Nominalphrasen, Adverbien und Adverbialphrasen sowie Präpositionalphrasen finden (vgl. Abschnitt 7.1). Bei verbalem Komplement wurden weiter das Verblexem sowie seine grammatischen Kategorien Tempus und Genus Verbi annotiert. Schließlich wurde jeder Beleg einer zentralen Lesart zugeordnet. Zweifelsfälle bzw. solche Fälle, die zwischen zwei zentralen Lesarten zu kippen scheinen, werden im Laufe der Arbeit, insbesondere aber in Abschnitt 4, immer wieder thematisiert. Für die Zuordnung in der Datenanalyse wurde die kontextuell näherliegende gewählt.

1.3 Zur Terminologie: Klärung wichtiger Begriffe Nicht nur die Einführung eines Beschreibungsmodells, sondern auch die Vielfalt der vorliegenden Forschung lässt es ratsam erscheinen, wichtige Begriffe für die Zwecke der hier vorgeschlagenen Beschreibung im Vorfeld der Arbeit zu klären und einen Ort zu schaffen, wo sie auch während der Lektüre kurz nachgelesen werden können. Dies soll in diesem Abschnitt geschehen. Die Begriffe Modalverb, Modalverblexem und Modalverbform werden wie üblich verwendet, indem Modalverblexem die Gesamtheit aller Formen eines Wortes einschließt und daher vor allem verwendet wird, wenn es um die Beschreibung der allgemeinen, lexikalischen Semantik geht. Modalverb bzw. der Plural Modalverben wird als kürzere Variante für Modalverblexem(e) verwendet. Mit Modalverbformen wird auf die Flexionsformen eines Modalverblexems Bezug genommen. In einem konkreten Beispiel erscheint ein Modalverb natürlich immer in einer bestimmten Form, d.h. als Modalverbform; dennoch kann auch sinnvoll von dem Modalverblexem oder Modalverb in einem solchen Beispiel die Rede sein, dann nämlich, wenn es um Aspekte der lexikalischen Semantik und nicht der komplexen Semantik der Modalverbform geht. Auf Teilparadigmen oder Einzelformen wird durch Nennung des komplexen Stamms, z.B. sollte-, ggf. mit Spezifikation: konjunktivisches sollte-, bzw. der Form, z.B. solltest, Bezug genommen. Für das Komplement des Modalverbs wird entsprechend verfahren, indem durch die Verwendung zugehöriger Komposita und Nominalphrasen (z.B. Verbalkomplement bzw. verbales Komplement) auf den jeweiligen Formtyp verwiesen wird, mit Komplementverb oder Komplementverblexem hingegen auf den Kern der jeweiligen Phrase, also etwa sehen in Sie kann ihn nicht gesehen haben.

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Konkretes Sprachmaterial erscheint in Form von Beispielen und Belegen, wobei Letztere immer aus natürlichen Sprachdaten, vornehmlich aus dem LIMAS-Korpus (vgl. Abschnitt 1.2) stammen, während Erstere im Einzelfall auch erdacht sein können, etwa wenn es darum geht, etwas in aller Kürze zu veranschaulichen. Ein individueller Beleg oder ein Beispiel wird bezeichnet als Modalverbverwendung, wenn es darum geht, dass das Modalverblexem oder die Modalverbform in einer spezifischen Bedeutung erscheinen, die vor allem von den Zeichen abhängt, mit denen das Modalverb in der Verwendung kombiniert ist. Von einer Lesart ist die Rede in Bezug auf die über Einzelbelege generalisierte Interpretation eines Modalverbs, die durch den Bezug der modalen Bedingungsstruktur auf modalisierte Situationen eines bestimmten Typs charakterisiert ist: Es wird dabei zwischen handlungsbezogener, erfahrungsbezogener und erkenntnisbezogener Lesart unterschieden. Innerhalb dieser drei zentralen Lesarten werden mitunter Unterlesarten unterschieden, etwa die deontische und die volitive Lesart als spezifische Formen der handlungsbezogenen Lesart. Indem sich die Lesarten parallel bei verschiedenen Lexemen zeigen, wird der Begriff sowohl in Bezug auf bestimmte Verwendungen eines Lexems verwendet, z.B. wenn von der erkenntnisbezogenen Lesart von können die Rede ist, als auch lexemübergreifend. Der Begriff Verwendungsweise (vgl. Fritz 2006: 14ff.) oder Gebrauchsmuster ist schließlich die Abstraktion aus einer Gruppe von Verwendungen, in der semantische Merkmale mit formalen Gemeinsamkeiten, z.B. einer bestimmten Flexionsform, einem Satztyp o.Ä., verbunden sind. Es wird möglichst vermieden, den Begriff Konstruktion bzw. Modalverbkonstruktion in seinem allgemeinen Sinne für die syntaktische Verbindung, in der ein Modalverb eingebunden erscheint, zu verwenden. Im Rahmen der Konstruktionsgrammatik hat er eine andere Bedeutung bekommen, die mit der semantischen Nicht-Kompositionalität und/oder selbständigen mentalen Repräsentation komplexer sprachlicher Einheiten einhergeht.9 Da eine mögliche konstruktionsgrammatische Beschreibung der Modalverben in Abschnitt 8.3 thematisiert wird, könnte die Verwendung beider, des allgemeinen und des theoriespezifischen Konstruktionsbegriffs, zu Verwirrungen führen. Daher wird eher von Modalverbphrasen, Sätzen mit Modalverb, syntaktischen Strukturen

|| 9 Darauf, dass diese terminologische Wahl aufgrund der Etablierung des Begriffs für ebensolche, kompositionelle Strukturen, von denen man die Konstruktion im konstruktionsgrammatischen Sinne ja gerade abgrenzen will, nicht ganz glücklich ist, weist Stefanowitsch (2009: 569, Fn.) hin.

Zur Terminologie: Klärung wichtiger Begriffe | 13

oder Ähnlichem die Rede sein, wenn es um ein Modalverb bzw. eine Modalverbform in der syntaktischen Einbettung geht. Die bisher besprochenen Begriffe betreffen den Gegenstand der Beschreibung; nun sollen auch die Termini eingeführt werden, die in der in dieser Arbeit vorgeschlagenen semantischen Beschreibung der Modalverben eine wichtige Rolle spielen. Ganz grundlegend ist das Konzept von Situation und Partizipation, wie es von Hansjakob Seiler grundlegend beschrieben wurde und den Arbeiten in Seiler/Premper (1991) zugrunde liegt. Als Situation soll demnach das möglichst neutral adressiert werden, was von einem Verb wesentlich bezeichnet wird und das man auch, dann jedoch jeweils weniger allgemein, als Sachverhalt, Ereignis, Zustand, Vorgang, Prozess, Handlung o.Ä. bezeichnen könnte (vgl. Lyons 1977: 483); es ist die kognitive Repräsentation eines propositionalen Inhalts (vgl. Lehmann 1991: 188). Jede Situation besteht aus einem Partizipatum als ihrem zentralen relationalen Bestimmungsstück und einem oder mehreren Partizipanten als denjenigen Entitäten, die an der Situation beteiligt sind, d.h. an ihr partizipieren (vgl. Seiler 1988: 2, Premper 1991: 4, Lehmann 1991: 189). Ontologisch sind die Partizipanten aufzufassen als Entitäten, d.h. sie existieren voneinander abgegrenzt oder diskret; das Partizipatum ist hingegen eine Relation, die zwischen diesen Entitäten besteht.10 Genauer müsste man bei den Partizipanten von Instanzen von Entitäten sprechen, da eine Entität in der Zeit überdauernd existiert und eine Situation, je nach Partizipatum, zeitlich begrenzt ist, in jedem Fall aber zeitlich begrenzter gedacht wird als die Entität (vgl. Lehmann 1992a: 156). Was als Partizipant einer Situation erscheint, ist also eine Entität zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum, eben der Zeit, in der die Situation statthat, und insofern eher Instanz einer Entität als die Entität in ihrer Gesamtheit, d.h. in ihrer gesamten überzeitlichen Existenz. Diese Unterscheidung wird insbesondere dann relevant, wenn durch ein Verb eine Relation zwischen zwei Instanzen zum Ausdruck kommt, die zur selben Entität gehören, wie dies bei temporalen Bezügen der Fall sein kann, wenn mit dem Sprechzeitpunkt und dem Referenzzeitpunkt zwei Instanzen der Sprecherentität vorliegen. Dies wird auch für die Modalverben relevant, etwa wenn sie selbst zum Ausdruck temporaler Bezüge verwendet werden wie im so ge-

|| 10 Lyons (1977: 439) spricht von Eigenschaften erster Ordnung (first-order properties), die durch Verben und Adjektive ausgedrückt werden. Dies widerspricht der hier vorgeschlagenen Beschreibung des Partizipatums als Relation nicht, indem auch adjektivisch ausgedrückte Eigenschaften als Relationen verstanden werden können und von verbal ausgedrückten Zuständen nur graduell zu unterscheiden sind (vgl. etwa auch Vogel 1996: 195ff.).

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nannten historischen Futur, ausgedrückt von indikativischem sollte- in Sätzen wie Am darauffolgenden Abend sollte etwas schreckliches geschehen (vgl. Abschnitt 6.3). Die Unterscheidung von Instanzen und Relationen wird sich auch in der zur Veranschaulichung gewählten grafischen Darstellung widerspiegeln, in der Relationen als (relationale) Pfeile und Instanzen einer Entität als (abgegrenzte) Kreise dargestellt werden. Die Modalverben bezeichnen insofern eine besondere Art von Partizipata, als diese nicht allein in Relationen zwischen Entitäten bestehen, wie dies für gewöhnliche Verben der Fall ist: Schenken bezeichnet etwa ein Partizipatum als die Relation zwischen drei Instanzen, einem Schenkenden, einem Beschenkten und einem Geschenk, als Partizipanten; zusammen bilden Partizipatum und Partizipanten eine schenken-Situation. Bei den Modalverben ist demgegenüber eine dieser Instanzen, genauer: die von der bezeichneten Relation betroffene, notwendig bestimmt als der zentrale Partizipant zu einem zweiten, als dynamisch und intentional bestimmten Partizipatum, dem der modalisierten Situation. Durch diese doppelte Zuordnung einer Instanz wird das Bedingtheitsverhältnis etabliert zwischen der vom Modalverb bezeichneten Bedingungsrelation und der modalisierten Situation, die durch die das Modalverb komplementierenden Ausdrücke spezifiziert wird. Als zentraler Partizipant erscheint jeweils der obligatorische intentionale Partizipant der modalisierten Situation. Zentral ist dieser Partizipant, indem die Situation ohne ihn nicht denkbar wäre; er ist der wichtigste Situationsbeteiligte, damit für die Situation als ganze konstitutiv und Voraussetzung für die Beteiligung weiterer Partizipanten (vgl. Lehmann 2006: 157). So ist zum Beispiel der Referent von Anna in Anna trinkt den Kaffee aus ihrer Lieblingstasse als Agens konstitutiv für die dargestellte trinken-Situation und Voraussetzung für die Beteiligung der Referenten von Kaffee als Patiens und Lieblingstasse als Lokalität. Außer als intendierendes und kontrollierendes Agens tritt der zentrale Partizipant der modalisierten Situation auch als Experiens auf, so dass man ihn allgemeiner auch als Actor oder Initiant bezeichnen könnte (vgl. Drossard 1991: 449). Das vom Modalverb bezeichnete Partizipatum ist die Bedingungsrelation. Damit wird ausgedrückt, dass zwischen ihr und der modalisierten Situation ein Bedingungsverhältnis besteht, das in der semantischen Valenz des Modalverbs angelegt ist; die komplexe Struktur aus vom Modalverb ausgedrückter Bedingungsrelation und sie komplementierender modalisierter Situation kann als Bedingtheit bezeichnet werden. Der zentrale Partizipant fungiert dabei gewissermaßen als für die Bedingtheit konstitutives Scharnier zwischen den beiden

Zur Terminologie: Klärung wichtiger Begriffe | 15

beteiligten Relationen, indem er ein von der Bedingungsrelation betroffener Teil der modalisierten Situation ist (s. Abbildung 1.2).

Abb. 1.2: Modale Bedingtheitsstruktur, bestehend aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation, mit zentralem Partizipanten als „Scharnier“.

Da die modalisierte Situation nicht notwendig mit der Situation zusammenfällt, die durch ein verbales Komplement des Modalverbs im Satz bezeichnet wird, wird letztere als dargestellte Situation von der modalisierten Situation unterschieden. Von der dargestellten Situation wird mitunter auch gesprochen, wenn gar kein verbales Komplement, sondern nur ein direktionales adverbiales oder präpositionales Komplement vorliegt, da auch dieses relational ist und das Partizipatum einer Situation, genauer: der modalisierten Situation, spezifiziert. Bei nominalem Komplement wird dieser Begriff hingegen nicht verwendet, da hier kein relationaler Ausdruck vorliegt, dem die Funktion der Darstellung einer Situation zugesprochen werden kann. Nichtsdestoweniger spezifizieren diese Komplementtypen die modalisierte Situation in gleicher Weise wie verbale Komplemente. Somit werden diejenigen Ausdrücke, die die Art der modalisierten Situation spezifizieren, seien sie infinitivisch verbal (Anna will singen.), direktional adverbial (Anna will nach Hause.) oder akkusativisch nominal (Anna will ein Eis.), sämtlich als Komplemente des Modalverbs bezeichnet. Eine besondere Art von Bedingungsrelationen bilden diejenigen, die innerhalb einer Instanz verortet sind; im prototypischen Fall ist das der Wille einer Person. Eine solche Verortung ist in der lexikalischen Semantik von wollen, mögen, sollen und dürfen angelegt, indem alle diese Modalverben eine „wollende“ Instanz voraussetzen; können und müssen sind bezüglich dieses Merkmals unbestimmt und können auch auf ganz allgemeine, objektive oder äußere Not-

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wendig- bzw. Möglichkeiten verweisen. Eine verortete Bedingung kann als Relation nicht direkt auf andere Entitäten in der Welt bezogen sein, da die Instanz, in der sie verortet ist, per definitionem abgegrenzt ist; die Bedingungsrelation kann also gewissermaßen nicht „hinaus“. Die Relation zu anderen Entitäten, somit auch zum zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, erscheint daher mittelbar, man könnte vielleicht sagen: vermittelt über mentale Repräsentationen der Instanz von der Welt, die als solche innerhalb der Instanz liegen und auf die sich die innere Bedingungsrelation somit direkt beziehen kann. Das Vorhandensein einer solchen „inneren“ Bedingungsrelation zeichnet ihren Träger als intentionale Entität aus. Eine verortete Bedingungsrelation wird hier als Intentionalität bezeichnet und übergreift auf verschiedenen Ebenen oder Stufen die psychologische Intentionalität als Wille oder Absicht, phänomenologische Intentionalität als Gerichtetheit in der Wahrnehmung und im Urteil und soziale Intentionalität als das einem Anderen zugewendete Face; die Trägerentität bzw. -instanz ist als Person bzw. als personale oder intentionale Instanz charakterisiert. Der Begriff Intentionalität steht eigentlich für die Eigenschaft von Entitäten, intentional zu sein, d.h. sich mental auf etwas beziehen zu können. Ein konkret vorliegendes Bezogensein ist eher in dem Begriff der Intention gegeben. Dieser wird jedoch vor allem mit der Bedeutung ‚Absicht‘, d.h. handlungsbezogen, gebraucht und erfasst daher nicht alle Arten des Gerichtetseins, die in den verschiedenen Lesarten der Modalverben relevant werden. Daher wird hier Intentionalität (auch im Plural: Intentionalitäten) für ein Gerichtet- oder Bezogensein im allgemeinen Sinne gebraucht, das, je nach Lesart, als Wunsch/Absicht oder Präferenz, als Erwartung oder Erfahrung, als Erkenntnis, Sprechakt oder auch soziales Face erscheinen kann. Weitere relevante Begriffe werden im Zuge der Argumentation eingeführt und dann am Ort erklärt.

2 Modalverben und semantische Kategorisierung Gegenstand dieses Kapitels sind die semantischen Kategorien, die für die lexikalische Bedeutung der Modalverben eine Rolle spielen. Als lexikalische Bedeutung eines Modalverbs ist der semantische Beitrag zu verstehen, den es in allen Verwendungen zur Satzbedeutung leistet. Die gemeinsame Bezeichnung als Modalverben suggeriert, dass die lexikalische Bedeutung der Modalverben der semantischen Kategorie der Modalität zuzuordnen ist. In Abschnitt 2.1 wird diese übergeordnete Kategorie, die außer von den Modalverben durch eine Vielzahl weiterer Ausdrücke realisiert wird, als eine besondere Form von Bedingtheit einer Situation eingeführt. Die sechs Modalverblexeme realisieren Modalität in Form unterschiedlich spezifizierter Bedingungsrelationen, deren Merkmale in den Abschnitten 2.2 und 2.3 eingeführt werden. Es handelt sich zum einen um die Ausrichtung der Bedingungsrelation und zum anderen um deren Verortung relativ zur bedingten resp. modalisierten Situation. Die Unterscheidung mehrerer Lesarten eines Modalverblexems (vgl. Abschnitt 2.4) bzw. die lexemübergreifende Charakterisierung der Modalverben als polysem spiegelt die in verschiedenen Verwendungen unterschiedliche Form der Modalität als Voraussetzung von Handlungen, allgemeine Wahrscheinlichkeit und konkrete Erwartung von Ereignissen und Vermutung im Bezug auf Propositionen.11 Die Beschreibung der Modalverbsemantik anhand der Kategorien von modaler Relation und modaler Quelle gehen dabei vor allem auf die Arbeiten Gunnar Bechs (vgl. v.a. 1949) zurück und können als kanonisch gelten. Eine meist duale Unterscheidung von Lesarten ist grundsätzlich ebenfalls Allgemeingut in Grammatiken und Modalverbforschung, wird in ihrer spezifischen Grenzziehung jedoch mitunter unterschiedlich gefasst und bedarf daher der Spezifikation und Präzision für die hiesigen Zwecke. In diesem Kapitel werden in Hinblick auf eine grundlegende Bedeutungsbeschreibung überwiegend morphologisch und syntaktisch unmarkierte Verwendungen von Indikativ-Präsens-Formen in Aussagesätzen betrachtet.12 Markierte

|| 11 In Abschnitt 7.2.3 wird diskutiert, ob die Gruppe der so genannten modalisierten Sprechakte, z.B. Man kann sagen, dass..., eine vierte Form von Modalität als beziehungsbezogenen Anspruch auf Anerkennung und Wertübernahme durch das kommunikative Gegenüber konstituiert. 12 Auch Bedeutungsaspekte dieser vermeintlich unmarkierten Verwendungen sind nicht in der lexikalischen Bedeutung der Modalverben angelegt, sondern ergeben sich erst durch den Indikativ Präsens bzw. den Aussagemodus. Dazu gehört zum Beispiel die temporale Nachzei-

DOI 10.1515/9783110540451-002

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Flexionsformen und mit ihnen einhergehende semantische Besonderheiten und lesartspezifische Beschränkungen sowie Beschränkungen und Besonderheiten in bestimmten syntaktischen Kontexten sind Gegenstand der Kapitel 6 und 7. Die hier (sowie die einzellexemspezifischen Beobachtungen in Kapitel 4) eingeführten Merkmale dienen der Erfassung der lexikalischen Semantik, bilden also die Grundlage aller Verwendungen und die Basis komplexer Bedeutungen in morphologisch und syntaktisch markierten Kontexten.

2.1 Modalität: offene Bedingtheit einer Situation Die semantische Beschreibung der Modalverben in den Grammatiken wie in der Fachliteratur geht, zumindest implizit, aus von der funktional-semantischen Gemeinsamkeit der Mitglieder dieser Verbklasse, die auch ihre Bezeichnung als Modalverben rechtfertigt: Sie dienen dem Ausdruck von Modalität. In der Literatur wird Modalität selten allgemein definiert, sondern eher in ihrer spezifischen Ausprägung bei einem bestimmten sprachlichen Ausdruck. Grundlegend für die Beschreibung sprachlicher Modalität ist ein aus der modalen Logik stammender Modalitätsbegriff, dem zufolge Modalität über den Ausdruck von Möglichkeit und Notwendigkeit definiert ist. So führt z.B. Lyons (1977: 787) Modalität über Notwendigkeit und Möglichkeit als „die zentralen Begriffe der traditionellen Modallogik“ ein, ohne darüber hinaus eine umfassende Definition zu geben. In diesem Sinne gibt auch Kratzer (1981: 39) die positive, wenn auch vage Definition: „[m]odality has to do with necessity and possibility.“ Wie im Weiteren noch ausgeführt wird, erfasst die Opposition von Notwendigkeit und Möglichkeit nur einen, wenn auch zentralen, von mehreren Aspekten der Modalverbbedeutung, der allein die ausdifferenzierte Bedeutung des Wortfeldes sowie die verschiedenen Lesarten jedes Einzellexems nicht zu erklären vermag.13 Nuyts (2006: 1) betont die Schwierigkeit, Modalität als allgemeine semantische Kategorie positiv zu bestimmen. Modalität gehöre zum selben Bereich

|| tigkeit des modalisierten Situation in handlungsbezogener Lesart (durch den Indikativ Präsens in Ich will schwimmen erscheint die Schwimmsituation nachzeitig gegenüber der Sprechzeit) oder die Faktizität der modalen Bedingung (mit Ich will schwimmen wird das Vorliegen meines Willens als faktisch assertiert). Da man irgendwo anfangen muss, wird diese Tatsache bei der semantischen Beschreibung im Hinterkopf behalten, um Vermischungen zu vermeiden, aber nicht weiter expliziert. Relevant wird sie in den Abschnitten 6 und 7 im Kontext der anderen, markierten Flexionsformen bzw. Satztypen. 13 Kratzer führt in ihren Arbeiten daher zusätzlich die Kategorien des Redehintergrundes und der Ordnungsquelle ein; vgl. dazu Abschnitt 3.2.

Modalität: offene Bedingtheit einer Situation | 19

(„domain“) wie Tempus/Zeit und Aspekt, verhalte sich komplementär zu ihnen, sei aber schwerer, wenn nicht unmöglich, zu definieren.14 In der Literatur werde Modalität daher meist beschrieben durch eine Menge spezifischerer, besser zu beschreibender Subkategorien (vgl. ebd.). Eine solche negative Bestimmung von Modalität als komplementäre Kategorie zu Tempus und Aspekt bzw. besser: Temporalität und Aspektualität, sofern von einer semantischen, nicht von einer grammatischen Kategorie die Rede ist, erscheint enger als die Definition über Notwendigkeit und Möglichkeit. Die Komplementarität zu Temporalität und Aspektualität deutet auf eine vergleichsweise Abstraktheit der Kategorie, indem sie nicht auf eine bestimmte Art von Bezügen wie Aspektualität auf Abgeschlossenheit als lokal konzipiertes Verhältnis von Sprecher und Situation oder Temporalität als deren zeitliches Verhältnis festgelegt ist, sondern praktisch eine Restklasse gleichartiger Bezüge umfasst. Ein Zusammenhang der Kategorien zeigt sich darin, dass die Modalverben oft auch temporale Bezüge implizieren, manchmal sogar vorwiegend deren Ausdruck dienen (vgl. das so genannte historische Futur Das sollte sich bald ändern, Abschnitt 6.3) bzw. indem Verortung in Bezug auf eine abgeschlossene Entität eines der wesentlichen Bedeutungsmerkmale der Modalverben ist (vgl. z.B. sollen vs. müssen, s. Abschnitt 2.3) und sie in ihrer Lesart vor allem von der Aspektualität der sie ausdrucksseitig komplementierenden Situation abhängig sind (vgl. Abschnitt 7.2.1). Noch enger wird Modalität etwa bei Talmy (1988: 80) gefasst, wenn er „modality“ in Opposition zu „epistemics“ verwendet, wonach die Modalverben nicht in allen ihren Verwendungen dem Ausdruck von Modalität dienen. Im Rahmen dieser Arbeit wird demgegenüber davon ausgegangen, dass die Opposition zwischen den Modalverblesarten innerhalb der semantischen Kategorie der Modalität zu verorten ist, dass die Lesarten mithin verschiedene Arten der Modalität realisieren (vgl. Abschnitt 2.4). Die Bestimmung eines umfassenden Modalitätsbegriffs ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Dem vorgeschlagenen Beschreibungsmodell zur Modalverbsemantik liegt jedoch ein allgemeines Verständnis von Modalität als spezifische Form von Bedingtheit einer Situation zugrunde. Meist wird dieser Zusammenhang nur für die erkenntnisbezogene Lesart als Ausdruck bedingter Geltung (vgl. z.B. Dietrich 1992: 81ff.) in ihrem Zusammenhang mit Konditionalität gesehen (vgl. Kratzer 2012: 98). Doch auch die handlungsbezogene Lesart lässt sich als Bedingtheit fassen. Brinkmann (1971: 357) definiert Modalität als sprachlich zuerkannte Geltung einer Äußerung, wobei Geltung gemeint ist als || 14 Nuyts zitiert hier Bybee u.a. (1994: 176), ähnlich auch Palmer (1986: 1f.).

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Ergebnis einer Setzung, die „sagt, d a ß etwas gilt“ (ebd.: 359). Er unterscheidet zwei „Ebenen der Modalität“, auf denen modale Ausdrücke wie Modus und Modalverben „entweder Voraussetzungen einer R e a l i s i e r u n g oder Bedingungen für die Geltung einer I n f o r m a t i o n“ bezeichnen (ebd.: 359, Hervorhebungen im Original). Diesen Ebenen entspricht die bereits eingeführte Unterscheidung von handlungs- und erkenntnisbezogener Modalverblesart. Sowohl die Explizierung von Voraussetzungen für eine Realisierung als auch von Bedingungen für die Geltung einer Information bedeuten den Ausdruck einer Form von Bedingtheit, durch die die vom modalen Ausdruck modifizierte Situation, Realisierung oder Information, als faktisch unbestimmt erscheint.15 Entsprechend wird in der Duden-Grammatik in Bezug auf die Modalverben festgestellt, mit ihnen werde „keine unmittelbare Aussage über die Wirklichkeit“ (2005: 562) gemacht; in der IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 1882) heißt es, der „Sprecher [erhebe] nicht direkt einen Wahrheitsanspruch für den thematisierten Sachverhaltsentwurf gegenüber der Welt“. Modalität als faktische Bedingtheit lässt sich darstellen als Zusammenhang zweier Situationen, von denen die eine die Bedingung, die andere die bedingte Situation bildet. Situationen werden durch Pfeile symbolisiert, ihre Faktizität durch die durchgezogene oder gestrichelte Darstellung der Pfeillinie. Die Darstellung als Pfeil beruht zum einen darauf, dass Situationen in der Zeit ablaufen bzw. realisiert werden; zum anderen bildet sie ab, dass eine Situation primär durch eine Relation zwischen den an ihr beteiligten Entitäten bestimmt ist, wobei diese Relationalität für viele Situationen ebenfalls an raum-zeitliche Abläufe gebunden ist. Wie in Abschnitt 1.3 eingeführt, wird die eine Situation als Kern bestimmende Relation als Partizipatum, die an ihr beteiligten Entitäten als Partizipanten bezeichnet (vgl. z.B. Premper 1991: 4). Abbildung 2.1 zeigt die grafische Darstellung einer einfachen faktischen Situation, wobei die Partizipanten als Kreise, die Relation selbst als Pfeil mit durchgezogener Linie erscheint, und ihre faktisch unbestimmte Entsprechung, wie sie z.B. in einem Inhaltssatz ohne weiten Kontext gegeben ist, mit gestrichelter Linie.16 Die Dar-

|| 15 Ein wichtiger Punkt der für die Modalverben vorgeschlagenen semantischen Beschreibung ist, dass die Situation, deren Bedingtheit der modale Ausdruck bezeichnet (die modalisierte Situation), nicht identisch sein muss mit der im Satzrest dargestellten Situation bzw. es nur in einer Gruppe von Fällen ist. Der Zusammenhang zwischen dargestellter und modalisierter Situation wird in Abschnitt 3.1 bei der Einführung des modalen Szenarios und in Abschnitt 7.1, wo es um verschiedene Komplementtypen geht, genauer ausgeführt. 16 Eine ähnliche Darstellung, in der Entitäten als Kreise und Relationen als Pfeile erscheinen, findet sich auch bei Langacker (2008: 69). In seiner Beschreibung der Modalverben erscheinen auch gestrichelte Pfeile (ebd.: 304ff.), die jedoch keine unbestimmte Faktizität, sondern ein

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stellung der Kreise mit durchgezogener Linie zeigt an, dass die Existenz der Partizipanten auch in einer faktisch unbestimmten Situation als faktisch, sie selbst damit als real oder existierend, vorausgesetzt werden, was auf der referierenden Funktion der Ausdrücke, typischerweise Nominalphrasen, beruht, durch die sie sprachlich repräsentiert sind.17

Abb. 2.1: Grafische Darstellung einer faktischen und einer faktisch unbestimmten Situation, bestehend aus Partizipatum (Pfeil) und Partizipanten (Kreise).

Im Folgenden werden die Partizipanten nur dann eigens dargestellt, wenn sie expliziter Teil der Bedeutung eines modalen Ausdrucks sind; ansonsten sind sie als im Partizipatum, das als Relationspfeil dargestellt ist, enthalten zu denken (vgl. Abbildung 2.2), zumal die relevanten Partizipanten ja auch sprachlich im Verb als dem Partizipatum entsprechendem Ausdruck (z.B. singen für eine Singen-Situation) angelegt sind in Form von dessen semantischer Valenz.

Abb. 2.2: Um Partizipanten (Kreise) reduzierte grafische Darstellung einer faktischen und einer faktisch unbestimmten Situation.

Modalität bringt nun, wie oben ausgeführt, die faktische Unbestimmtheit einer Situation aufgrund einer Bedingung zum Ausdruck. Diese Bedingung wird || von einem Modalverb zugewiesene Tendenz („propensity“) oder ein Potenzial („potency“) symbolisieren, die in der Darstellung hier etwa der Bedingungsrelation entsprechen. Insgesamt ist die Darstellung bei Langacker, von der grundlegenden Symbolik, nach der Kreise Entitäten und Pfeile Relationen darstellen, abgesehen, der hier vorgeschlagenen deutlich verschieden. Sie gehört in den Kontext kognitiver Beschreibungen, die auf der Idee der „force dynamics“ von Leonard Talmy beruhen. Dazu vergleiche man Abschnitt 3.4. 17 Diese Voraussetzung oder Präsupposition der Existenz der Partizipanten ist der Grund, warum Sätze über den gegenwärtigen König von Frankreich und Einhörner als sinnlos gelten (vgl. z.B. Rehfus 2003: 565).

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durch den jeweiligen modalen Ausdruck selbst, z.B. ein Modalverb, bezeichnet und spezifiziert; die modalisierte Situation, die aufgrund der Bedingtheit als faktisch unbestimmt erscheint, wird spezifiziert durch den modalen Ausdruck komplementierende Satzteile.18 Das Bedingtheitsverhältnis wird grafisch durch die linear benachbarte Anordnung von Situationspfeilen dargestellt. Die Bedingung erscheint dabei selbst als Pfeil, da sie als Relation in Bezug auf die modalisierte Situation konzipiert ist, mit der gemeinsam sie das komplexe Gefüge einer Bedingtheit bildet. Abbildung 2.3 zeigt eine allgemeine Darstellung von Modalität als Bedingtheit einer faktisch unbestimmten Situation. Man könnte für diese Konstellation von einer offenen Bedingtheit sprechen. Die lineare Anordnung der Pfeile für die Bedingung und die modalisierte Situation ist dabei auch als temporale Abfolge zu verstehen; die Pfeile zeigen eine „Wirkungsrichtung“ an. Zugleich werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Beispiel von morphologisch (Modus, Futur I), lexikalisch (Modalverben, modale Adverbien) oder syntaktisch (konditionale Konjunktion mit Verbletztstellung, Verberststellung) realisierter Modalität in ihrem Bezug auf das Bedingtheitsgefüge angegeben.19

|| 18 In diesem Sinne ist auch davon zu sprechen, dass ein Modusmarker durch einen ganzen, modal unmarkierten Satz als Ausdruck einer Situation komplementiert wird. Dass der Modusmarker selbst am finiten Verb erscheint, beruht dabei auf der Tatsache, dass dieses über die Person-Numerus-Kongruenz das Subjekt als Ausdruck des wichtigsten ausdrucksseitig gegebenen Partizipanten mit dem Verb als Ausdruck des Partizipatums zum Satz als Ausdruck der Situation verbindet, die durch weitere Satzglieder ausgebaut werden kann. 19 Auch der Äußerungsmodus einer Aussage kann als Ausdruck von Modalität gelten, so z. B. wenn ein modal unmarkierter Aussagesatz zur Tätigung einer Aufforderung verwendet wird, etwa Du singst jetzt, Anna! Die Gesamtheit aller modalen Ausdrucksmittel wird mitunter als „Modalfeld“ bezeichnet (vgl. z. B. Heidolph u. a. 1981: 521).

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Abb. 2.3: Semantische Basisstruktur einer modalisierten Situation als bedingte Situation mit Beispielen für sprachliche Ausdrucksmittel von Modalität (fett markiert).

Die Bedingungsstruktur lässt sich in Beziehung setzen zu Kausalität und Konditionalität, die ebenfalls Bedingungsstrukturen bezeichnen. Während modale Bedingtheit durch das Vorliegen, d.h. die Faktizität, der Bedingung und die damit einhergehende unbestimmte Faktizität der bedingten Situation gekennzeichnet ist, liegen bei Kausalität und Konditionalität jeweils die gleichen Faktizitätswerte bei Bedingung und bedingter Situation vor: Für Kausalität sind sie als faktisch bestimmt, für Konditionalität als faktisch unbestimmt. Abbildung 2.4 zeigt die Bedingungsstrukturen von Kausalität, Konditionalität und Modalität vergleichend als unterschiedliche Faktizitätswerte der beteiligten Relationen.

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Abb. 2.4: Kausalität, Konditionalität und Modalität als Bedingungsstrukturen mit unterschiedlicher faktischer Bestimmtheit der beteiligten Relationen.

Die spezifische Bedingungsstruktur der Modalität lässt sich auf die einfacheren Fälle von Kausalität und Konditionalität zurückführen: Eine Kombination aus einer erfüllten Bedingung und einer faktisch unbestimmten Folge ergibt sich dann, wenn entweder die Folge von mehreren Bedingungen abhängt, so dass die Erfüllung einer einzelnen Bedingung nicht hinreichend ist zum Eintreten der Folge, oder die Bedingung negativ zu verstehen ist als Aufhebung einer hinreichenden, somit kausal wirksamen Bedingung, deren Wegfallen die Folge faktisch unbestimmt, in einer Abhängigkeit von anderen, ungenannten Bedingungen zurücklässt. Logisch handelt es sich hierbei um denselben Fall, betrachtet aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Grammatisch, d.h. durch den verbalen Modus und syntaktische Mittel, markierte Modalität wird meistens im zweiten Sinne als negative kausale Bedingtheit beschrieben, indem die Bedingung in der Entferntheit (auch „Distanz“ (vgl. Thieroff 1992: 274ff.) oder „remoteness“ (vgl. z.B. Lyons 1977: 819)) vom Sprecher und seiner Realität, somit im Wegfall der garantierenden Sprecherverantwortlichkeit als hinreichende Bedingung für Faktizität, besteht. So ist der Konjunktiv Ausdruck einer alternativen Realität und im Frageoder Aufforderungssatz sowie im Imperativ wird die Verantwortlichkeit an eine andere Person, den jeweiligen Adressaten, übergeben (vgl. v.a. in den Abschnitten 4.3 zu sollen und 7.4 zu sollen im Fragesatz). In Abschnitt 6 wird der Konjunktiv insgesamt als Ausdruck von Alterität vom Sprecher und seiner Realität beschrieben. Die lexikalisch durch die Modalverben markierte Modalität drückt positiv die Erfüllung einer Bedingung aus, die allein nicht hinreichend ist, somit die Erfüllung einer notwendigen oder Teilbedingung.20 Im Folgenden wird vor die|| 20 In diesem Unterschied, dass grammatische modale Zeichen die Aufhebung einer Relation, nämlich der zum Sprecher als Verantwortlichem, die Modalverben aber eine bestehende Rela-

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sem Hintergrund die Bedeutung der Modalverben insgesamt als multiple Bedingtheit verstanden. Jedes Modalverb bezeichnet dabei eine dieser noch weiter zu spezifizierenden Teilbedingungen. Die Bedingungen werden beschrieben als organisiert in einem modalen Szenario, das außer den Bedingungen selbst und der eingebetteten modalisierten Situation, auch personale Instanzen als Träger von Bedingungsrelationen enthält; letztere sind damit als Intentionalitäten bestimmt (vgl. Abschnitt 2.3). Abbildung 2.5 stellt im Vorgriff auf dessen detaillierte Herleitung in den folgenden Abschnitten die Organisation der multiplen Bedingungen im modalen Szenario mit den ihnen entsprechenden Modalverben dar. Richtung und Position der einzelnen Bedingungspfeile sind Gegenstand der folgenden Abschnitte. Die modalisierte Situation ist zur besseren Sichtbarkeit und Unterscheidung von den Bedingungsrelationen als dicker grauer Pfeil dargestellt, die Bedingungsrelationen als dünne schwarze Pfeile.

Abb. 2.5: Die Organisation der multiplen Bedingungen einer Situation im modalen Szenario.

Zurückführen lässt sich die multiple Bedingtheit durch die verschiedenen Modalverbrelationen darauf, dass diese teils alternative, teils aufeinander folgende Schritte oder Stufen in der Handlungsplanung als „semantische Voraussetzungsstruktur von Tätigkeiten“ bezeichnen (vgl. Ehlich/Rehbein 1972: 321, Fn. 8 und siehe Abschnitt 3.3). Wollte man abschließend das Besondere der Modalverb-Modalität erfassen, etwa auch, um einen Prüfstein für die semantische Nähe anderer Verben zu

|| tion bezeichnen, kann m. E. als Begründung dafür herangezogen werden, dass grammatische Ausdrücke von Modalität als Modifikatoren, die Modalverben jedoch als regierende Ausdrücke betrachtet werden können. Dies wird durch die hier vorgeschlagene Beschreibung nahegelegt, die von einer einheitlichen lexikalischen Bedeutung jedes Modalverbs ausgeht und die im Satz gegebene Ergänzung(en) zur modalisierten Situation konfiguriert.

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dieser Gruppe zu gewinnen, so müsste man sie als auf multipler Konditionalität basierende Modalität, d.h. faktische Bedingtheit, einer Situation charakterisieren, wobei jedes Modalverb, sofern es assertiv verwendet wird, die Erfüllung einer der Handlungsbedingungen ausdrückt. Aufgrund der Verknüpfung der multiplen Handlungsbedingungen ist damit zugleich die Frage nach dem Status der Co-Bedingungen impliziert. Dass die Modalverben damit immer auf ein Bedingungsgefüge verweisen, ist Voraussetzung dafür, dass andere Ausdrücke von Modalität, vor allem der Konjunktiv Präteritum, mit einem Modalverb kombiniert dazu gebraucht werden können, um innerhalb des Bedingungsgefüges zu verweisen auf die implizierte Co-Bedingung der vom jeweiligen Modalverb ausgedrückten Bedingung. Dies ist eine Erklärung dafür, warum die Konjunktiv-Präteritum-Formen der Modalverben so gebräuchlich sind und oft „selbständige“ Bedeutungen entwickeln; zur ausführlichen Beschreibung und Herleitung vergleiche Abschnitt 6.5. Die je individuellen Merkmale der multiplen Handlungsbedingungen bestehen in ihrer Ausrichtung und Verortung im Verhältnis zur modalisierten Situation und in ihrer Instanzenbezogenheit. Diese Merkmale werden im Folgenden unter den Begriffen der modalen Relation (Ausrichtung der Bedingung, Abschnitt 2.2) und der modalen Quelle (instanzenbezogene Verortung und Verhältnis zur modalisierten Situation, Abschnitt 2.3) beschrieben. In Abschnitt 2.4 werden die Modalverblesarten eingeführt als unterschiedliche Bezugssysteme für das modale Szenario als Bedingungsstruktur.

2.2 Modale Relation: die Richtung der Bedingungsrelation Als modaler Ausdruck dienen Modalverben der Darstellung von Bedingtheit einer Situation, indem sie eine Bedingungsrelation bezeichnen, in der der Bezug auf eine modalisierte Situation angelegt ist. Für jedes Modalverblexem ist die Bedingungsrelation hinsichtlich ihrer Ausrichtung und Verortung in Bezug auf die modalisierte Situation spezifiziert, so dass diesbezügliche Merkmale zur semantischen Beschreibung der Modalverben herangezogen werden. Das erste Merkmal, in dem sich die von den verschiedenen Modalverben charakterisierten Bedingungsrelationen unterscheiden, beruht auf der Ausrichtung der Bedingungsrelation im Verhältnis zur modalisierten Situation. In der Literatur findet sich dafür regelmäßig die Bezeichnung „modale Relation“ (vgl. z.B. Zifonun u.a. 1997: 1887). Auch als „modale Stärke“ (vgl. Duden

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2005: 563)21 oder „Modalfaktor“ (vgl. Bech 1951: 6) wird diese Kategorie bezeichnet, in der man traditionell zwischen „Notwendigkeit“ und „Möglichkeit“ unterscheidet. Demnach gelten wollen, sollen und müssen als Modalverben zum Ausdruck einer Notwendigkeit, mögen, dürfen und können als Modalverben zum Ausdruck einer Möglichkeit (vgl. z.B. Duden 2005: 563).22 Die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit stammen aus der modalen Logik. Ihre Übersetzung in Quantoren hatte großen Einfluss in der linguistischen Beschreibung modaler Ausdrücke im Rahmen der so genannten „Mögliche-Welten-Theorie“. Modalverben (und andere modale Ausdrücke) fungieren in diesem Ansatz als Quantifikatoren über eine Menge möglicher Welten, die als Menge denkbarer Zustände der Welt verstanden werden können (vgl. Abschnitt 3.2). Notwendigkeit wird durch den Allquantor („Für alle möglichen Welten gilt ...“), Möglichkeit durch den Existenzquantor („Es gibt wenigstens eine Welt in der Menge möglicher Welten, für die gilt ...“) beschrieben. Diese Darstellung hat ihren Platz in einer formalen Beschreibung der Modalverbsemantik, vermag aber die semantischen Spezifika der einzelnen Lexeme, Formen und syntaktischen Strukturen nicht zu erfassen. Diese Unterschiede werden in den schwer greifbaren Bereich der so genannten Redehintergründe verlagert (vgl. auch dazu Abschnitt 3.2 zu den einflussreichen Arbeiten Angelika Kratzers). In den meisten anderen Beschreibungen werden Notwen-

|| 21 Die Rede von modaler Stärke (vgl. Duden 2005: 563) lässt sich in dem Sinne verstehen, dass eine Notwendigkeit eine stärkere, engere Beziehung zwischen Sachverhalt und Realität ausdrückt als eine Möglichkeit, indem bei einer Notwendigkeit Bedingungen bestehen, die auf die Realisierung des Sachverhaltes hinwirken, während eine Möglichkeit Bedingungen beinhaltet, die die Realisierung des Sachverhaltes nur zulassen, ihn aber nicht befördern. Auch stellt ‚Notwendigkeit‘ ein Mehr an Information dar und hat somit stets eine kleinere Denotation als eine entsprechende Möglichkeit; denn jede Notwendigkeit impliziert (zumindest rein logisch) die entsprechende Möglichkeit, jedoch nicht umgekehrt. 22 Daneben gibt es Darstellungen, denen zufolge zwar dürfen und können eine Möglichkeit, sollen und müssen eine Notwendigkeit, wollen und mögen aber weder das eine, noch das andere zum Ausdruck bringen, sondern einen Willen als dritten Fall, der sich nicht als Möglichkeit oder Notwendigkeit fassen lässt (vgl. z. B. Hentschel/Weydt 2003: 80 in Anschluss an Bech 1949, vgl. auch Bech 1951). Dem liegt die Unterscheidung zwischen ‚Modalität‘ und ‚Volition‘ als nebeneinander stehende semantische Kategorien zugrunde. Während Modalität Notwendigkeiten und Möglichkeiten als objektive Gegebenheiten umfasst, beschreibt Volition eine präferierende (oder dispräferierende) Haltung, aus der noch nichts folgt. Der fremde Wille, der durch dürfen und sollen zum Ausdruck kommt, kann zumindest unter bestimmten sozialen Verhältnissen zum objektiven, zulassenden oder zwingenden, Umstand werden. Das hier verwendete, weite Verständnis von Modalität als Bedingtheit (vgl. Abschnitt 2.1) schließt Volition mit ein, wobei volitive Bedingungsrelationen als Intentionalitäten qualifiziert werden.

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digkeit und Möglichkeit als grundlegende semantische Kategorien vorausgesetzt und nicht weiter begründet. Wie oben bereits angedeutet, wird die modale Relation hier aufgefasst als basierend auf der Ausrichtung der Bedingungsrelation gegenüber der modalisierten Situation. Diewald (1999: 129) erfasst diese Eigenschaft der Bedingungsrelation als Reaktivität. Dem zugehörigen Merkmal [+/–reaktiv] liege eine „Sequenzierung von Sprechhandlungen“ beim „Erteilen einer Direktive“ zugrunde, die Diewald für sollen und dürfen veranschaulicht, indem [–REAKTIVES] sollen als Ausdruck einer Aufforderung oder Verpflichtung mit der Initiative des Direktivengebers einhergeht, während [+REAKTIVES] dürfen als Ausdruck einer Erlaubnis eine Initiierung durch den Direktivenempfänger, etwa als Bitte um Erlaubnis, ausdrückt (ebd.: 129; vgl. auch Abschnitt 3.5 zu Diewalds direktivenbasiertem Modell). Die Sequenzierung der Bedingungsrelationen lässt sich grafisch durch die Anordnung vor oder hinter der modalisierten Situation und die Reaktivität als Pfeilrichtung darstellen wie in Abbildung 2.6.

Abb. 2.6: Modalisierte Situation mit initiativer und reaktiver Bedingungsrelation.

Die Pfeilrichtung gibt die Richtung der jeweiligen Relation wieder, die Leiss (1992: 153) als „Verbalrichtung“ bezeichnet. Diewald spricht von der Linearisierung der Situation (vgl. Diewald 1999: 111); in der Partizipationsterminologie ist von Gerichtetheit oder Orientierung (vgl. Serzisko 1991: 273) die Rede. Diese semantische Linearisierung bildet ein Gegenstück zu der nicht notwendig parallel verlaufenden syntagmatischen Linearisierung der entsprechenden Satzglieder. Sie setzt die Partizipanten über ihre semantischen Rollen zueinander in Beziehung und bleibt auch gleich, wenn die Verteilung der Rollen auf die Satzgliedern verändert wird, wie es etwa im Passiv der Fall ist (vgl. Leiss 1992: 152). So verändert sich zwar in einem passivischen Satz wie Ein Apfel wird von Anna gekauft gegenüber dem aktivischen Pendant Anna kauft einen Apfel die Verteilung der semantischen Rollen auf die Satzglieder Subjekt und Objekt sowie die Reihenfolge ihrer Nennung in der unmarkierten Stellung; gleich bleibt aber die Orientierung, indem die Situation als von Anna als Agens ausgehend und den

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Apfel als Patiens betreffend verstanden wird. Dies wird auch dadurch wiedergegeben, dass die Partizipanten in der Darstellung der Situation kaufen (Anna, einen Apfel) in beiden Fällen in der gleichen Reihenfolge angegeben werden. Allein mit der Unterscheidung nach Reaktivität scheint der Unterschied zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit jedoch nicht hinreichend erfasst. Das unmittelbare [+reaktive] Pendant einer initiativen Bedingungsrelation, etwa der initiativen Direktive bei Diewald (1999: 129), wird man zunächst nicht in einer Erlaubnis, sondern vielmehr in einem Verbot sehen, wie es durch nicht dürfen bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, wie sie von mögen, dürfen und können bezeichnet wird, wäre demnach eher zu beschreiben als Abwesenheit einer reaktiven Bedingungsrelation im Sinne von Nicht-Ablehnung, Nicht-Verbot und Nicht-Unmöglichkeit. Die Abbildung 2.6 könnte demnach zur Darstellung von Notwendigkeit und Möglichkeit ergänzt werden um ein Element, das die Abwesenheit der hinderlichen Bedingungsrelation im Falle der Möglichkeit anzeigt. Diese Abwesenheit ist in Abbildung 2.7 durch ein N-förmiges Durchstreichen des reaktiven Relationspfeils dargestellt.

Abb. 2.7: Notwendigkeit als Bestehen einer initiativen und Möglichkeit als Nicht-Bestehen einer reaktiven Bedingungsrelation in Bezug auf die modalisierte Situation.

Indem sie eine solche intrinsische Negation beinhalten, können die Möglichkeitsmodalverben mögen, dürfen und können als Negativa charakterisiert werden (vgl. Brütsch 1986: 199). Wie die Verben ausbleiben, unterlassen oder fehlen bringen sie zum Ausdruck, dass etwas nicht getan wird oder der Fall ist. Verben dieser Art werden auch als privative Verben (von lat. privare ‚berauben‘, vgl. Glück 2005: 512) bezeichnet (vgl. Heinemann 1983: 197f.).

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Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich jedoch zeigen, dass die Möglichkeitsmodalverben nur in handlungsbezogener Lesart in diesem Sinne als Negativa beschrieben werden können und auch hier etwa mögen und dürfen eine Intentionalität als Bedingungsrelation voraussetzen, die trotz Reaktivität der Realisierung der modalisierten Situation nicht entgegensteht. Die Reaktivität der jeweils bezeichneten Bedingungsrelation geht vielmehr in der Perspektive eines personalen Gegenübers auf. Notwendigkeit und Möglichkeit eignen sich somit nur eingeschränkt zu einer Beschreibung der Modalverbsemantik, die alle Lesarten für alle Modalverben erfasst. Im Folgenden wird daher vor allem von initiativen und reaktiven Bedingungsrelationen die Rede sein. Gelegentlich wird auf wollen, sollen und müssen bzw. mögen, dürfen und können als Notwendigkeitsmodalverben bzw. Möglichkeitsmodalverben vereinfachend Bezug genommen. An den Grafiken 2.6 und 2.7 wird bereits die grundlegende Symmetrie des modalen Szenarios deutlich, die auf den beiden möglichen Ausrichtungen der Bedingungsrelation beruht und die Voraussetzungen für die Entwicklung der jüngeren Lesarten schafft (vgl. Abschnitt 2.4). Die Entwicklung dieser Opposition stellt auch einen wichtigen Schritt in der Entstehung des heutigen Wortfelds dar (vgl. Abschnitt 5.2).

2.3 Modale Quelle: die Verortung der Bedingungsrelation Als „modale Quelle“ (vgl. z.B. Duden 2005: 563, Diewald 1999: 76ff.), auch „modal force“ (vgl. Heine 1995: 30f.) oder „Lokalisierung des Modalfaktors“ (vgl. Bech 1951: 7) wird eine Kategorie bezeichnet, die zum einen die semantischen Unterschiede zwischen wollen/mögen/sollen/dürfen einerseits und müssen/können andererseits erfasst, zum anderen aber auch die zwischen wollen/mögen einerseits und sollen/dürfen andererseits. In einem Beispiel wie Anna muss/soll/will aufräumen erscheint die Situation aufräumen (Anna) als modalisierte Situation. Der Unterschied zwischen muss einerseits und soll/will andererseits besteht darin, dass mit soll/will die Modalität in einer Aufforderung oder Annas eigene Handlungsabsicht begründet ist, somit jeweils an eine Person gebunden ist, wohingegen muss eine ganz objektive Unerlässlichkeit ausdrückt, die zwar auf eine Person zurückgehen kann, der Anna zu Gehorsam verpflichtet ist, aber ebenso auch auf äußere Umstände, etwa hygienische Gründe in Anbetracht eines vernachlässigten Haushalts. Soll und will unterscheiden sich darin, ob es eine andere, nicht genannte Person oder Anna selbst als zentraler Partizipant der modalisierten Situation ist, deren Wille die Modalität begründet.

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Diewald (1999: 95ff.) beschreibt diese Unterschiede als Merkmale der modalen Quelle, die den Ausgangspunkt der modalen Relation bilde. Die modale Quelle wird dabei als Entität verstanden mit der Eigenschaft [+/–DIFFUS] für den Unterschied zwischen müssen und sollen und [+/–INTERN] für den Unterschied zwischen wollen und sollen, wobei „intern“ sich auf die modalisierte Situation bezieht (s. dazu weiter unten). Heine (1995: 29) konzipiert seine „modal force“ einerseits relational, wenn er sie als „Kraft“ („force“) einführt, andererseits aber auch als Entität, indem er weiter ausführt, dass sie potenziell mit dem Sprecher oder dem kontrollierenden Agens identisch sein könne (vgl. ebd.: 30). Bech (1951: 7) spricht von der „Verortung“ einer Relation, die bei ihm „Modalfaktor“ heißt. Hier wird, wie bei Bech, davon ausgegangen, dass sich die semantischen Unterschiede am besten als Verortung der Bedingungsrelation beschreiben lassen. Die Modalverblexeme unterscheiden sich demnach zunächst danach, ob die von ihnen jeweils bezeichnete Bedingungsrelation explizit in einer Instanz verortet ist oder nicht. Eine solche Verortung liegt für wollen, mögen, sollen und dürfen vor. Hempel (1969: 236) thematisiert diese Gleichartigkeit, indem er alle diese Modalverben als „ins volititve Gebiet“ gehörig beschreibt: Die Bedeutung aller vier Modalverben besteht im Verweis auf einen Willen im ganz allgemeinen Sinne bzw., für mögen und dürfen in handlungsbezogener Lesart, auf einen nicht vorhandenen Wider-/Gegenwillen (vgl. Abschnitt 2.2 zur Beschreibung der Möglichkeitsmodalverben als Negativa). Und ein solcher ganz allgemeiner Wille ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht zwischen Instanzen besteht, sondern als Relation innerhalb einer Instanz zu verstehen ist, etwa zwischen einer inneren, mentalen Origo und ihren mentalen Repräsentationen. Die Verbindung oder Relation zu den Dingen in der Welt besteht in einem Willen nur mittelbar über das Repräsentationsverhältnis, das zwischen Repräsentationen als unmittelbaren Gegenständen der volitiven Relation und der Welt besteht und in dem ein „Willensträger“ auf die Welt gerichtet ist. Eine solche allgemeine Gerichtetheit mentaler Zustände wird in der Psychologie und in der Philosophie des Geistes als Intentionalität bezeichnet (vgl. z.B. Brentano 1955, Searle 1983, Crane 2001, Schlicht 2008). In Anschluss daran werden hier verortete Bedingungsrelationen statt als „Wille im allgemeinsten Sinne“ als Intentionalitäten bezeichnet (vgl. Abschnitt 1.3). Abbildung 2.8 veranschaulicht die Verortung der Bedingungsrelation und den damit verbundenen mittelbare Bezug auf den zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, somit die geringere „Verbindlichkeit“ der Bedingungsrelation, am Beispiel von sollen als Ausdruck einer Intentionalität im Vergleich zu müssen als Ausdruck einer unverorteten, in diesem Sinne „objektiven“ Bedingungsrelation. Zur Verdeutlichung ist der zentrale

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Partizipant der modalisierten Situation hier ebenfalls als abgegrenzte Instanz, d.h. als (grauer) Kreis, dargestellt.

Abb. 2.8: Intentionalität als in einer Entität verortete Bedingungsrelation am Beispiel von sollen und unverorteten Bedingungsrelation am Beispiel von müssen.

Die von müssen und können bezeichneten Bedingungsrelationen sind [-VERORTET] und damit von grundlegend anderer Qualität als die von den anderen Modalverben bezeichneten Bedingungsrelationen. Sie sind nicht als Intentionalitäten bestimmt, die innerhalb einer Person vorliegen, sondern sind Relationen zwischen Instanzen konzipiert, von denen die eine unbestimmt und ggf. aus dem Kontext zu entnehmen, die andere mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation identisch ist. Im Unterschied zur Beschreibung bei Diewald (1999: 96) liegen damit umgekehrte Markiertheitsverhältnisse vor: Bezüglich des semantischen Merkmals [+/–DIFFUS] für den Ausgangspunkt der modalen Relation sind müssen und können als [+DIFFUS] (hier: [–VERORTET]) ausgewiesen, wollen, mögen23, sollen und dürfen hingegen als [–DIFFUS] (hier: [+VERORTET]). Die Beschreibung über das Merkmal [+/–VERORTET] hat damit den Vorteil, dass sie einer Intuition entspricht, nach der müssen und können gegenüber wollen/sollen bzw. mö-

|| 23 Diewald (1999: 98), die diese Beschreibung anhand der handlungsbezogenen Lesart vorstellt, nennt hier allerdings nur möchte-. Es wird jedoch gezeigt werden, dass die Verortung der Bedingungsrelation ein semantisches Merkmal des Lexems mögen insgesamt darstellt, das auch in den anderen Lesarten zum Tragen kommt.

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gen/dürfen semantisch schlanker, d.h. durch weniger semantische Merkmale markiert, sind. Weiter besteht ein Vorteil der hier vorgeschlagenen Beschreibung darin, dass sie den qualitativen Unterschied zwischen Wille/Präferenz/ Forderung/Erlaubnis und allgemeiner Notwendigkeit/Möglichkeit nicht nur erfasst, sondern auch erklärbar macht: Mit der Verortung einer Bedingungsrelation in einer abgegrenzten Instanz wird diese als intentional, somit als Person qualifiziert; damit ist auch eine mentale Qualität der Bedingungsrelation gegeben. Dass es sich bei den „abgegrenzten Entitäten“ als Ausgangspunkt der modalen Relation um Personen handelt, geht hingegen aus Diewalds Beschreibung nicht hervor; auch Dinge sind abgegrenzte Entitäten. Ebensowenig ergibt sich die mentale Qualität der Bedingungsrelation und deren gegenüber unverorteten Bedingungsrelationen geringere Verbindlichkeit unmittelbar aus dem Merkmal [+/-DIFFUS], wie dies oben in Abbildung 2.8 für die Opposition bezüglich [+/-VERORTET] gezeigt wurde.24 Auch aufgrund dieser Vorteile werden hier die ins „volitive Gebiet“ gehörigen Modalverben wollen, mögen, sollen und dürfen als merkmalhaft angesehen bezüglich der Verortung der Bedingungsrelation in einer Instanz, d.h. als [+VERORTET]. Die eine verortete Bedingungsrelation bzw. Intentionalität bezeichnenden Modalverben wollen, mögen, sollen und dürfen unterscheiden sich darin, in welchem Verhältnis die intentionale Instanz als Träger der Bedingungsrelation zur modalisierten Situation steht, ob sie ein Teil, d.h. ein Partizipant, von ihr ist oder nicht. Hempel (1969: 236) formuliert das so, dass die Verben den „Standpunkt beim Wollenden [...] [oder] beim Betroffenen [nehmen]“. Wollen und mögen beziehen sich demnach auf eine Intentionalität innerhalb der modalisierten Situation, nehmen also den Standpunkt des Wollenden ein; ihr Träger wird mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation identifiziert, z.B. wenn in Anna will singen der Referent von Anna der Träger der Intentionalität ist, die hier als ‚Wunsch‘ oder ‚Absicht‘ umschrieben werden

|| 24 Die Unterschiede zu Diewald sind hier noch grundlegender. Die Feststellung, dass [+/-DIFFUS] nach Diewald Merkmal einer Entität, der modalen Quelle, ist, wohingegen [+/-VERORTET] Merkmal einer Relation, der Bedingungsrelation, ist, zeugt von einer anderen Konzeption der Modalverbbedeutung. Allein, dass es [+DIFFUSE] Entitäten geben kann, ist infrage zu stellen, indem der Begriff der Entität doch grundsätzlich mit dem Merkmal [-DIFFUS], d. h. Abgegrenztheit, einhergeht. Auch die von Diewald als [+DIFFUS] betrachteten Entitäten, d.h. Sachverhalte und Propositionen, sind zwar in sich komplex und beinhalten dabei einen relationalen, in einem Verb realisierten Kern; in dem Moment jedoch, da sie als Entitäten aufgefasst werden, wird diese innere Relationalität irrelevant, indem der ganze Komplex als ein abgeschlossenes „Ding“ betrachtet wird. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Diewalds Beschreibungsmodell erfolgt in Abschnitt 3.5.

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kann, und zugleich zentraler Partizipant der modalisierten Situation singen (Anna), d.h. die Sängerin. Sollen und dürfen verweisen hingegen auf eine externe Intentionalität, deren Träger nicht genannt ist bzw. ggf. aus dem Kontext ergänzt werden kann. Etwa in Anna soll singen (in handlungsbezogener Lesart) ist klar, dass dort irgendjemand ist, der will, dass Anna singt, jedoch durch das Modalverb und seine Komplemente nicht näher bestimmt wird. Ein denkbarer Kontext, in dem die Trägerinstanz spezifiziert wird, wäre beispielsweise Anna soll aufräumen; die Mutter verlangt es. Indem im Satz von Anna die Rede ist, wird der Standpunkt der Betroffenen eingenommen. Bei Diewald entspricht dieser Unterscheidung das Merkmal [+INTERN] für wollen und mögen bzw. [–INTERN] für sollen und dürfen bezüglich der modalen Quelle; müssen und können sind hinsichtlich des Merkmals [+/–INTERN] unbestimmt (vgl. 1999: 95ff.). In der Anlage des Merkmals als [+/–INTERN] wird deutlich, dass die interne Verortung als merkmalhaft aufgefasst wird, was zunächst angemessen erscheint, wenn man die Bedingtheitsstruktur in Betracht zieht und annimmt, dass eine Bedingung normalerweise als von dem, was sie bedingt, verschieden erscheint. Hempel (1969: 241f.) spricht hingegen von Verschiebung, wo eine [–INTERNE] Bedingungsrelation ausgedrückt wird, d.h. bei sollen und dürfen25, was umgekehrt die Merkmalhaftigkeit der beiden, nach Diewald [–INTERNEN] Modalverben, suggeriert. Dieser Perspektive liegt m.E. die Annahme zugrunde, dass im unmarkierten „Normalfall“ eine intentionaldynamische Situation von ihrem zentralen Partizipanten intendiert und kontrolliert wird wie in Anna will aufräumen oder einfacher: Anna räumt auf. Die „Verschiebung“ bei Hempel lässt sich dann verstehen als Abweichung von diesem Default durch Verschiebung oder Verlagerung der Intentionalität nach außen, auf eine andere intentionale Instanz.26 Die verschobene modale Quelle greift Hempel in seinen Bedeutungsbeschreibungen auf mit Formulierungen wie „ich [...] oder: eine Macht, die moralische Satzung, die Ordnung der Dinge, das Schicksal“ oder „mein oder einer anderen Macht Wille oder Forderung“ (ebd.: 241): Mit „ich oder eine Macht“ wird die nur als verschoben bestimmte und ansonsten implizite modale Quelle explizit. In den sprachlichen Ausdrücken, || 25 Eine „Verschiebung“ liegt nach Hempel (1969: 241f.) auch bei müssen und können (und weiter bei werden und nicht brauchen) vor. Diese ist in der hier gewählten Beschreibung jedoch bereits im Merkmal [–VERORTET] implizit, so dass bezüglich des hier zur Diskussion stehenden Merkmals, [+/–INTERN] bei Diewald, nur [+VERORTETE] Bedingungsrelationen zu bestimmen sind. 26 Diewald spricht ganz ähnlich von der „‚Auslagerung‘ des Ausgangspunktes der Modalverbrelation aus dem Satzrahmen“ (1999: 119).

Modale Quelle: die Verortung der Bedingungsrelation | 35

d.h. etwa sollen und dürfen, liege eine entsprechende gedankliche Verdichtung vor, so Hempel. Diese Dichte besteht darin, dass die Modalverben „rein verbal in beiden Gliedern [wirken], die fast zu so etwas wie einem Einheitsverb, einer Vorstellungseinheit verschmelzen“ (ebd.: 240). Dies entspricht der hier vorgeschlagenen Beschreibung der modalen Bedingtheit als Verknüpfung einer Bedingungsrelation mit einer modalisierten Situation, wobei das Modalverb die Bedingungsrelation bezeichnet und eine modalisierte Situation als Argument fordert. Hempels Ausführungen machen nun deutlich, dass für [+VERORTETE] Bedingungsrelationen, d.h. Intentionalitäten, andere Markiertheitsvoraussetzungen gelten als für eine unverortete Bedingungsrelation: Als Intentionalitäten sind sie im unmarkierten Fall innerhalb der modalisierten Situation verortet, d.h. zunächst sind wir in unseren Intentionen auf unsere eigenen Handlungen, Erfahrungen und Erkenntnisse gerichtet und nicht auf die der anderen. Daher wird hier die Merkmalsopposition [+/–EXTERN] gewählt. Sollen und dürfen bezeichnen demnach [+EXTERN] verortete Bedingungsrelationen bzw. Intentionalitäten, wollen und mögen [–EXTERN] verortete Bedingungsrelationen bzw. Intentionalitäten. Es ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass sich dieses lokal angelegte Merkmal auf die modalisierte Situation als „Ort“ bezieht, d.h. [-EXTERN] bedeutet, dass die verortete Bedingungsrelation bzw. Intentionalität innerhalb der modalisierten Situation verortet ist, genauer: in ihrem zentralen Partizipanten, oder anders ausgedrückt: dass die Instanz, in der die Bedingungsrelation verortet ist, der zentrale Partizipant der modalisierten Situation ist.27 Abbildung 2.9 veranschaulicht diese Verhältnisse für [+EXTERNES] sollen im Vergleich zu [–EXTERNEM] wollen, wobei die bezüglich der modalisierten Situation [–EXTERNE] Verortung der Intentionalität bei wollen durch die überlagerte

|| 27 Im Unterschied dazu bezieht Diewald (1999: 95) ihr Merkmal [+/-INTERN] auf das Satzsubjekt, d. h. ein bestimmtes Satzglied, was zunächst als vereinfachte Ausdrucksweise für den Subjektreferenten gelten mag. Schwierigkeiten der fehlenden Unterscheidung zwischen Satz und Situation zeigen sich, wenn Diewald die entsprechende, ebenfalls auf das Subjekt bezogene Merkmalsausprägung [+/-EXTERN] für das modale Ziel, d. h. den zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, abhängig macht vom Auftreten eines entsprechenden Satzglieds, somit den Satz Und das muß vorbereitet werden als [+EXTERN] beschreibt, weil der zentrale Partizipant aufgrund des Passivs nicht im Subjekt realisiert ist, während Jemand muß das vorbereiten als [-EXTERN] klassifiziert wird, weil im Subjekt jemand ein Ausdruck des modalen Ziels resp. zentralen Partizipanten der modalisierten Situation vorliegt (vgl. ebd.: 271f., s. auch ebd.: 103). Es besteht hier jedoch kein semantischer Unterschied mit Bezug auf das Modalverb, sondern lediglich einer in der Perspektivierung der modalisierten Situation.

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Darstellung mit dem dicken grauen Pfeil erfasst wird, der die modalisierten Situation symbolisiert.

Abb. 2.9: Situationsexterne Intentionalität am Beispiel von sollen und situationsinterne Intentionalität am Beispiel von wollen.

Das modale Szenario als Gesamtstruktur der von den sechs deutschen Modalverben bezeichneten Bedingungsrelationen ist mit den Oppositionen [+/-VERORTET] und [+/–EXTERN] sowie dem in Abschnitt 2.2 beschriebenen Merkmal [+/–REAKTIV] bereits vollständig bestimmt, wie in Abbildung 2.10 dargestellt.

Abb. 2.10: Modales Szenario bestehend aus durch die Merkmale [+/–REAKTIV], [+/–VERORTET] und [+/–EXTERN] bestimmten Bedingungsrelationen.

Modale Quelle: die Verortung der Bedingungsrelation | 37

Die Merkmale betreffen sämtlich die vom jeweiligen Modalverb bezeichnete Bedingungsrelation und nicht deren abgegrenzten Ausgangspunkt. Als modale Quelle wird im Folgenden die personale Trägerinstanz einer [+VERORTETEN] Bedingungsrelation bezeichnet bzw. eine unbestimmte, ggf. aber aus dem Kontext ableitbare, Instanz als Ausgangspunkt einer [-VERORTETEN] Bedingungsrelation. Semantische Merkmale, die die Modalverblesarten voneinander unterscheiden, werden hier nicht angesetzt, indem die einheitliche lexikalische, mithin lesartübergreifende, Bedeutung der Modalverben beschrieben wird.28 An dieser Stelle sei nun ein erster Überblick gegeben über die Verteilung der Modalverblexeme im LIMAS-Korpus, das als empirische Basis der vorliegenden Arbeit dient. Tab. 2.1: Absolute und relative Häufigkeiten der Modalverben im LIMAS-Korpus.

wollen

mögen

sollen

dürfen

müssen

können

SUMME

1.152

456

1.987

666

2.556

5.381

12.198

9,4%

3,7%

16,3%

5,5%

21,0%

44,1%

100%

Die Verteilung entspricht insgesamt etwa der bei Diewald (1999: 11), in deren gesamten neuhochdeutschen Korpus mündlicher und schriftlicher Texte lediglich die relativen Positionen von wollen und sollen vertauscht sind. Lexikalisch ist der Modalverbgebrauch dominiert von müssen und können, die als Ausdruck objektiver, d.h. nicht in einer abgegrenzten Instanz verorteter, Bedingungsrelationen semantisch weniger komplex sind als die auf Intentionalitäten verweisenden Modalverben wollen, mögen, sollen und dürfen. Semantische Einfachheit und Häufigkeit mögen der Grund dafür dein, dass müssen und können oft als die prototypischen Modalverben erscheinen. Notwendigkeits- und Möglichkeitsmodalverben, die initiative bzw. reaktive Bedingungsrelationen bezeichnen, treten annähernd gleich häufig auf: 46,7% der Modalverbbelege im LIMAS-Korpus entfallen auf die Notwendigkeitsmodal-

|| 28 In Abschnitt 3.5 wird das Merkmal [+/–ORIGO] (für den (deiktischen) Bezug zum aktuellen Sprecher) diskutiert, das Diewald zur Unterscheidung der Lesarten einführt und in dieser Funktion als das „hierarchiehöchste“ Merkmal ansieht (vgl. 1999: 99). Indem sich der für die erkenntnisbezogene Lesart charakteristische Sprecherbezug kontextuell ergibt, müsste auch geklärt werden, welche Einheit hier Merkmalsträger ist. Diewald (ebd.: 99) spricht vom „deiktischen Gebrauch“, dem dieses Merkmal zukomme. Dem entspricht hier die erkenntnisbezogene Lesart.

38 | Modalverben und semantische Kategorisierung

verben wollen, sollen und müssen, 53,3% auf die Möglichkeitsmodalverben mögen, können und dürfen. Innerhalb der Gruppen sind die Verteilungen jedoch deutlich unterschiedlich, indem die Gruppe der Möglichkeitsmodalverben mit können das Lexem mit den mit Abstand meisten Belegen (44%) und mit mögen und dürfen die Lexeme mit den wenigsten Belegen (3,7% bzw. 5,5 %) umfasst. In der Gruppe der Notwendigkeitsmodalverben sind die Verhältnisse ausgeglichener. Sie vereinigt das Mittelfeld, wobei auch hier das an semantischen Merkmalen schlankste Modalverb, müssen, mit 21% aller Belege gegenüber sollen mit 16,3% und wollen mit 9,4% überwiegt. In diesen Verhältnissen könnte man den Reflex der Tatsache sehen, dass (Handlungs-)Initiativen prototypisch personengebunden sind, während Widerstände eher in objektiven Gegebenheiten bestehen.

2.4 Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen In den vorangehenden Abschnitten 2.1 bis 2.3 wurde die lexikalische Bedeutung der Modalverben in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden ausgehend von den kanonischen Kategorien beschrieben und für die hier gewählte Darstellung spezifiziert. Für jedes Modalverblexem ergibt sich so die Bestimmung einer Bedingungsrelation durch semantische Merkmale, die seine lexikalische Einheit begründet. Die Frage nach den Lesarten, die Gegenstand dieses Abschnitts ist, bedeutet den Übergang vom der lexikalischen Einheit zur kontextuellen Vielfalt der Modalverbbedeutung, d.h. zu ihrer Polysemie. In Literatur und Grammatiken wird diese ganz unterschiedlich erfasst: In vielen allgemeinen Darstellungen und Grammatiken findet sich eine zentrale Unterscheidung zweier Lesarten (vgl. z.B. Hentschel/Weydt 2003: 76f. (objektiv oder deontisch vs. subjektiv oder epistemisch), Helbig/Buscha 2001: 116f. (objektiv (deontisch) vs. subjektiv (epistemisch)), Engel 2004: 245 (subjektbezogen vs. sprecherbezogen), Duden 2005: 563 (nicht epistemisch vs. epistemisch)). Auch allgemein-sprachwissenschaftliche Arbeiten setzen im Begriffspaar „grundmodal“ und „epistemisch“ eine duale Unterscheidung relevant (vgl. v.a. die Arbeiten von Abraham und Leiss). Innerhalb der Literatur sieht Buscha (1984: 213) einen „Pol“ der semantischen Betrachtungsweise in den Arbeiten Gunnar Bechs (vgl. 1949, 1951, 1955), in denen für jedes Modalverb eine Grundbedeutung als „Hauptdefinition“ angesetzt wird. Ähnlich versucht Kratzer (1976: 3) den potenziellen „Scharen“ oder „Hundertschaften“ von Modalverbbedeutungen durch Bestimmung eines „nichttrivialen gemeinsamen Bedeutungskern[s]“ zu begegnen, der der Ergän-

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 39

zung aus dem Kontext in Form so genannter „Redehintergründe“ bedarf (vgl. 1976, 1981, 1991; s. Abschnitt 3.2). Diewald (1999: 67) bezeichnet Kratzers Herangehensweise als „Extrem“, indem sie ein „Bedeutungsskelett[s]“ jedes einzelnen Modalverbs beschreibt. Sie selbst (ebd.: 68) setzt für alle Modalverben „eine einheitliche, gemeinsame semantische Grundstruktur“ an, die aber zur semantischen Beschreibung nicht hinreichend sei, so dass man von zwei, ggf. drei, Bedeutungen für jedes Modalverb ausgehen müsse, zwischen denen die zentrale funktionale Grenze zwischen lexikalischer und grammatisch-deiktischer Bedeutung verlaufe. Eine große Zahl von Bedeutungen wird in den Schriften Gerhard Kaufmanns angeführt (vgl. 1962, 1963, und 1965), dem Buscha (1984: 213) eine „Atomisierung der Modalverbbedeutungen“ attestiert. Fritz (1997: 24) bringt diese „großzügige Bemessung“ der Lesarten bei Kaufmann in Zusammenhang mit der didaktischen Adressierung dieser Arbeiten; gleiches stellt er für die lexikographischen Zwecke des Deutschen Wörterbuchs und die Vielzahl der dort für die Modalverben unterschiedenen Lesarten fest. Welche Lesarten wie voneinander zu unterscheiden sind, hänge vom jeweiligen Untersuchungsziel ab (vgl. ebd.: 26; ähnlich auch Diewald 1999: 73). In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, eine einheitliche lexikalische Bedeutung jedes Modalverbs zu bestimmen, die alle Lesarten erfasst und vor allem: erklärbar macht. Ein dafür wesentlicher Teil der Modalverbbedeutung ist ihre semantische Valenz, die eine intentional-dynamische Situation als Ergänzung fordert. Die Lesarten selbst erscheinen dann als valenzgerechte Interpretationen der vorliegenden Komplemente, für die, obwohl auf eine einheitliche lexikalische Semantik zurückführbar, eigene mentale Repräsentationen nicht ausgeschlossen sind (vgl. dazu Kapitel 8). In diesem Abschnitt sollen die Lesarten in ihrer spezifischen Semantik eingeführt und ihr grundsätzliches Zustandekommen als valenzgerechte Interpretationen aufgezeigt werden. Dabei werden zunächst nur Verwendungen betrachtet, die keine besonderen morphologischen und syntaktischen Markierungen zeigen, die die Lesart beeinflussen, indem ihre Bedeutung auf das modale Szenario abgebildet werden kann; diese Fälle sind Gegenstand der Kapitel 6 und 7. Bereits in der Einleitung wurde in Abschnitt 1.1 die Unterscheidung zwischen zwei Lesarten eingeführt, die hier als handlungsbezogene und erkenntnisbezogene Lesart bezeichnet werden. Diese wurden veranschaulicht an dem Minimalbeispiel in (1):

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(1)

a. b.

Anna will/ möchte/ soll/ darf/ muss/ kann singen. (handlungsbezogene Lesart) Anna will/ mag/ soll/ dürfte/ muss/ kann zuhause sein. (erkenntnisbezogene Lesart)

Von einer solchen zweigliedrigen Unterscheidung geht man in den meisten Darstellungen aus. Zu ihrer Bezeichnung finden sich in der Literatur unterschiedliche Begriffe.29 Die Bezeichnungen lassen insgesamt die Tendenz beobachten, dass es die erkenntnisbezogene Lesart ist, die terminologisch positiv bestimmt wird, wohl weil sie als besonders erscheint (vgl. auch Öhlschläger 1989: 28f.). Die handlungsbezogene Lesart wird dann oft nur als Komplementmenge mit einem entsprechenden Gegenbegriff ex negativo bezeichnet. So wird eine inferentielle von einer nicht-inferentiellen (vgl. z.B. Eisenberg 2006: 93f.), eine epistemische von einer nicht-epistemischen (vgl. z.B. Duden 2005: 563, Zifonun u.a. 1997: 1884),30 eine deiktische von einer nichtdeiktischen (Diewald 1999: 13) Lesart unterschieden. Positiv bestimmt sind beide Lesarten in den gängigen Bezeichnungen als „epistemisch“ und „deontisch“31 (vgl. z.B. Helbig/Buscha 2001: 116f., Hentschel/Weydt 2003: 76) sowie als „subjektiv“ und „objektiv“32 (vgl. z.B. Eisenberg 2006: 93f., Helbig/Buscha 2001: 116f., Hentschel/Weydt 2003: 76) oder „epistemisch“ und „grundmodal“ (vgl. z.B. Abraham 1998, Leiss 2011). Wie bereits erwähnt unterscheiden sich diese Kategorisierungen zunächst nicht erkennbar sachlich. Vielmehr wird im jeweils gewählten Terminus auf einen charakteristischen Aspekt vor allem der als besonders empfundenen, hier

|| 29 Öhlschläger (1989: 28) gibt einen Überblick über die vielfältige Terminologie, mit der die beiden Verwendungsweisen seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Literatur beschrieben wurden, nachdem man zuvor, in den Anfängen der neueren Forschung zu den deutschen Modalverben, noch auf eine Vereinigung möglichst aller Verwendungsweisen eines Modalverbs unter einer Hauptde_nition bedacht war (vgl. die Arbeiten Bechs 1949, 1951 und 1955). Kürzere terminologische Überblicke finden sich auch bei Lyons (1977: 792) und Buscha (1984: 214); Hinweise auch bei Ehlich/Rehbein (1972: 320). 30 Genauer beziehen sich beide Grammatiken in Anlehnung an Angelika Kratzer (1976, 1981, 1991) auf epistemische bzw. nicht epistemische Redehintergründe. Kratzers formalsemantisches Beschreibungsmodell wird in Abschnitt 3.2 vorgestellt. Dort wird auch ausgeführt, dass die Lesartunterscheidung in ihrem Modell der Unterscheidung von Redehintergründen entspricht. 31 Diese Unterscheidung wird auf von Wright (1951) zurückgeführt (vgl. Diewald 1999: 73). 32 Diese Unterscheidung führen Zifonun u. a. (1997: 1886) auf Fourquet (1970) zurück, der jedoch nur den „subjektiven“ Gebrauch beschreibt; auch hier scheint der Begriff „objektiv“ im Sinne von „nicht subjektiv“ komplementär ergänzt worden zu sein.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 41

als erkenntnisbezogen bezeichneten, Lesart Bezug genommen. Als wesentliche Merkmale der erkenntnisbezogenen Lesart erscheinen dabei Sprecherbezug („subjektiv“, „deiktisch“) und Wissens- oder Erkenntnisbezug („inferenziell“, „epistemisch“). In handlungsbezogener Lesart besteht die vom Modalverb bezeichnete Bedingungsrelation in Voraussetzungen einer Handlung als modalisierter Situation. Eine Handlung ist eine intentionale und kontrollierte dynamische Situation, deren zentraler Partizipant als intendierendes und kontrollierendes Agens spezifiziert ist (vgl. z.B. Lyons 1977: 483, Lehmann 2006: 157). Die Voraussetzungen für eine Handlung sind vielfältig und erscheinen je nach Modalverb als Absichten und Wünsche des zentralen Partizipanten, für ihn bestehende Verpflichtungen und Erlaubnisse oder allgemeine Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Ein Beleg für eine handlungsbezogene Verwendung von müssen ist Beispiel (14) aus dem LIMAS-Korpus: (14)

Mutti muß für 2 Tage verreisen. (mue-733)

Hier ist im Rest des Satzes ohne Modalverb die Handlung verreisen (Mutti) dargestellt. Als Handlung ist die Reise von einem Agens unmittelbar intendiert und kontrolliert, hier vom Referenten des Subjekts Mutti. Indem es diese im Satz dargestellte Situation ist, die durch das Modalverb muss bedingt erscheint, bildet sie zugleich die modalisierte Situation; dargestellte und modalisierte Situation fallen hier also zusammen. Vom Modalverb wird eine Bedingtheit der modalisierten Situation bezeichnet. Ob es eine dienstliche Verpflichtung, das Bedürfnis nach Erholung oder die Notwendigkeit einer Flucht vor dem Gesetz ist, was die modalisierte Situation bedingt, ist dem Satz allein nicht zu entnehmen; über die inhaltliche Beschaffenheit der Gründe gibt das Modalverb keine Auskunft. Es bringt lediglich zum Ausdruck, dass bedingende Gründe bestehen, d.h. dass es eine Bedingungsrelation gibt, die hier, im Falle von müssen, positiv bedingend mit der modalisierten Situation verbunden ist, also in Bezug auf sie förderlich wirkt, und auch, etwa im Gegensatz zu wollen und sollen, nicht als Intentionalität spezifiziert ist (vgl. Abschnitt 2.3). Für die erkenntnisbezogene Lesart werden, wie bereits aus den Bezeichnungen für diese Lesart hervorgeht, Wissens- und Sprecherbezug als charakteristisch empfunden. Man vergleiche das folgende Beispiel aus dem LIMASKorpus: (15)

Genosse Pjotr muß sie mir geklaut haben. (mue-1953)

42 | Modalverben und semantische Kategorisierung

Als dargestellte Situation erscheint hier haben (GE (klauen (Genosse Pjotr, sie, mir))).33 Erkennbar handelt es sich dabei nicht um eine Handlung, sondern um einen Zustand, das vom Perfekt ausgedrückte Geklaut-Haben als statische Situation, die über die Zeit hinweg stabil ist (vgl. Lyons 1977: 483). Diese dargestellte Situation erscheint nun nicht in gleicher Weise bedingt wie Muttis Reise oben in Beispiel (14), indem keine Voraussetzungen für den Diebstahl oder den daraus resultierenden Zustand selbst ausgedrückt werden. Vielmehr ist es – und hier kommen Sprecher und Wissen ins Spiel – die Geltung der entsprechenden Proposition, die als bedingt erscheint. Es wird nicht einfach festgestellt, dass Genosse Pjotr etwas geklaut hat; stattdessen kommt eine diesbezügliche Vermutung, Annahme o.Ä. zum Ausdruck. Und dafür ist offenbar die vom Modalverb bezeichnete Bedingtheit verantwortlich. In Abschnitt 3.1 wird das in dieser Arbeit vorgeschlagene Beschreibungsmodell noch ausführlich vorgestellt. Es sei aber bereits an dieser Stelle angemerkt, dass es für die erkenntnisbezogene Lesart die Erkenntnis des Sprechers in Bezug auf die dargestellte Situation ist, die durch das Modalverb als bedingt, somit als modalisierte Situation, erscheint. Die dargestellte Situation wird als Proposition zum Gegenstand oder Thema der modalisierten Situation. Auch in erkenntnisbezogener Lesart werden durch das Modalverb keine Gründe angegeben, weshalb der Sprecher sich, etwa in Beispiel (15), zwingend veranlasst sieht, die dargestellte Situation haben (GE (klauen (Genosse Pjotr, sie, mir))) als wahre Proposition anzuerkennen; müssen drückt nur aus, dass es solche Gründe gibt, durch die sich der Sprecher befördert sieht in seiner diesbezüglichen Erkenntnis. Der entscheidende semantische Unterschied zwischen den beiden Lesarten besteht demnach darin, dass in handlungsbezogener Lesart irgendein zentraler Partizipant irgendeiner modalisierten Situation von der Bedingungsrelation betroffen ist, während in erkenntnisbezogener Lesart der Sprecher selbst in einer ganz bestimmten, sein Wissen begründenden Situation als zentraler Partizipant erscheint. Die modalisierte Situation ist dann als Erkenntnissituation spezifiziert, womit auch die Bedingungsrelation auf eine bestimmte Art von propositionalen Kräften oder Gründen festgelegt ist. Was ein Modalverb in erkenntnisbezogener Lesart ausgedrückt, wird in der Literatur beschrieben als Grad der Sprecherüberzeugung (vgl. z.B. Lyons 1977:

|| 33 Eine alternative Darstellung wäre PERFEKT (klauen (Genosse Pjotr, sie, mir)). Es soll jedoch verdeutlicht werden, dass es sich nicht um eine Handlung, sondern um einen Zustand handelt, der hier durch das Perfekt dargestellt wird. Daher wird das Perfekthilfsverb haben, das Träger dieser Zustandsbedeutung ist, als Ausdruck des Partizipatums aufgefasst.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 43

797, Palmer 1986: 51, Bybee u.a. 1994: 179), Einschätzung der Zutreffenswahrscheinlichkeit (vgl. z.B. Nuyts 2006: 6), Einschätzung von Zutreffensbedingungen (Hentschel/Weydt 2003: 77). Eine solche grundlegende Bestimmung der Lesart, die den Bezug zum Sprecher einerseits und den Bezug zu einer Proposition oder einem Sachverhalt andererseits beinhaltet, gilt als unumstritten (vgl. Nuyts 2006: 6). Hier wird dieser Bezug genauer bestimmt als Erkenntnissituation des aktuellen Sprechers, die im unmarkierten Falle den Äußerungen des Sprechers vorausgesetzt wird, durch das Modalverb aber als bedingt expliziert wird. Indem der Sprecher in seiner Äußerung diese Bedingtheit markiert, wird für diese, genauer für deren Inhalt, die dargestellte Situation als Thema der bedingten Erkenntnissituation, ein eingeschränkter Geltungsanspruch, eine eingeschränkte Sprecherüberzeugung oder Zutreffenswahrscheinlichkeit verstanden. Mit der semantischen Unterscheidung gehen Unterschiede in der Art der ausdrucksseitigen Realisierung einher: Anders als Mutti in (14) ist der Sprecher als zentraler Partizipant der modalisierten Situation in erkenntnisbezogener Lesart wie in (15) nicht in einem Satzglied gegeben, sondern in der Äußerungssituation. In Beispiel (14) ist hingegen die dargestellte Situation mit der modalisierten Situation identisch. Der Referent des Subjekts Mutti ist identisch mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, über den die Verbindung zwischen Bedingungsrelation und modalisierter Situation besteht. Dies ist jedoch auch in handlungsbezogener Lesart nicht zwingend der Fall, was schon Fälle mit passivischem Komplement zeigen. Man vergleiche Beispiel (16) aus dem LIMAS-Korpus: (16)

Daher muß, wie wir in Abschnitt [sic] ausführten, der anomale Skineffekt nicht berücksichtigt werden. (mue-2282)

Die modalisierte Situation ist hier die Berücksichtigung des Skineffekts. Das Agens dieser Situation, d.h. ihr zentraler Partizipant, ist ausdrucksseitig nicht realisiert. In diesem Sinne bemerkt auch Nuyts (2006: 3), dass in handlungsbezogener Lesart nicht nur das erste Argument des Modalverbs Träger der Modalität (hier: der zentrale Partizipant der modalisierten Situation) sein kann, sondern auch eine implizit gegebene kontrollierende Instanz. Der Sprecher ist in handlungsbezogener Lesart als zentraler Partizipant der modalisierten Situation natürlich nicht ausgeschlossen; vergleiche z.B. den folgenden Beleg aus dem LIMAS-Korpus: (17)

Deshalb muß ich stets auf den Druck achten. (mue-532)

44 | Modalverben und semantische Kategorisierung

Der Sprecherbezug wird hier jedoch personaldeiktisch durch ein Personalpronomen der 1. Person hergestellt und entsteht nicht durch die Lesart des Modalverbs. In (17) wird das Modalverb handlungsbezogen gelesen; der Sprecher ist nur „zufällig“ bzw. durch den expliziten deitkischen Bezug des Subjekts referenzidentisch mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, während in erkenntnisbezogener Lesart der Sprecher als Sprecher diese Position einnimmt. Neben den der etablierten dualen Unterscheidung von zwei Lesarten wird hier noch eine dritte Gruppe von Verwendungen einer eigenen Lesart zugeordnet. Man vergleiche den folgenden Beleg aus dem LIMAS-Korpus: (18)

Zum einen muß eine solche Gehilfentätigkeit Stückwerk bleiben, wenn sie zugleich zur Entlastung des Richters beitragen soll. (mue51)

In (18) kommt weder die Bedingtheit einer Handlung durch Volition oder äußere Umstände, noch die Bedingtheit einer Erkenntnis durch propositionale Gründe oder fremde Behauptungen zum Ausdruck, wie es für die handlungsbezogene und erkenntnisbezogene Lesart beschrieben wurde. Vielmehr scheint von einer Art Regel oder Regelmäßigkeit die Rede zu sein, die hier durch das Modalverb müssen als ausnahmslos erscheint. Zu klären ist folglich, inwiefern eine Regel sich als Ausdruck von Bedingtheit fassen lässt. Die dargestellte Situation ist bleiben (eine solche Gehilfentätigkeit, Stückwerk). Sie ist statisch wie in erkenntnisbezogener Lesart und es ist kein agentischer Partizipant erkennbar, der als zentraler Partizipant fungieren könnte. Wie in erkenntnisbezogener Lesart kann die dargestellte Situation daher nicht mit der modalisierten Situation identifiziert werden, sondern erscheint, als Entität aufgefasst, als deren Thema. Von einer Erkenntnissituation in Bezug auf die dargestellte Situation als Proposition wie in erkenntnisbezogener Lesart lässt sich hier aber nicht sprechen: Es geht nicht um die Frage, ob bleiben (eine solche Gehilfentätigkeit, Stückwerk) wahr ist oder nicht, sondern eher darum, ob diese Situation auf- oder eintritt. Anders als in erkenntnisbezogener Lesart wird damit die dargestellte Situation als Thema der modalisierten Situation nicht als wahrheitsfähige Proposition, sondern als Ereignis aufgefasst. Damit ist auch die modalisierte Situation selbst nicht als Erkenntnis-, sondern eher als Erfahrungsoder Erlebnissituation spezifiziert. Die entsprechende Lesart des Modalverbs in Belegen wie (18) wird daher als erfahrungsbezogen von der erkenntnisbezogenen Lesart unterschieden.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 45

In vielen Arbeiten, insbesondere in Grammatiken, wird eine solche erfahrungsbezogene Lesart nicht eigens erwähnt bzw. entsprechende Belege werden einer anderen Lesart zugeordnet. Die Duden-Grammatik führt entsprechende Belege von müssen und können als eigene Gruppe innerhalb der „nicht epistemischen“ Lesart auf, in denen eine Situation als „extrasubjektiv bedingt [...] durch die Natur der Dinge, die Beschaffenheit der Welt“ erscheint (Duden 2005: 563). Als Belege werden genannt: (19) (20)

Wir müssen alle sterben. (ebd. : 563; Hervorhebung CB) Der Vulkan kann jederzeit wieder ausbrechen (ebd.: 563; Hervorhebung CB)

In der IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 1888) werden erfahrungsbezogene Verwendungen von müssen als Grenzfall charakterisiert und als „‚absolute[n]‘ Notwendigkeit“ der „circumstantiellen“ Lesart zugeordnet; das Beispiel lautet hier, ähnlich wie in der Duden-Grammatik: (21)

Alle Menschen müssen sterben. (ebd.: 1888; Hervorhebung CB)

Entsprechende Verwendungen von können erscheinen hingegen ohne besondere Hervorhebung unter dem Label der erkenntnisbezogenen (dort: epistemischen) Lesart; vgl. das Beispiel (22): (22)

[...], aber diese Liebe kann sehr innig, sehr leidenschaftlich sein, [...] (ebd.: 1888; Hervorhebung CB)

Diewald (1999: 31ff., 86) ordnet solche Fälle als „objektiv-epistemisch“ der bei ihr „nicht-deiktisch“ genannten Lesart zu, der vor allem die hier als handlungsbezogen bezeichneten Belege angehören. Lyons (1977: 797) hält hingegen fest, eine Unterscheidung zwischen objektiv-epistemischer und subjektivepistemischer Modalität (Letztere „deiktisch“ bei Diewald) sei im gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht scharf zu ziehen und auch ihre epistemologische Berechtigung sei zumindest ungewiss (vgl. auch Abraham 1998: 233). Bei Nuyts (2006: 4), der nicht primär Lesarten von Modalverben, sondern Arten von Modalität beschreibt, erscheinen entsprechende Verwendungen als „situationsdynamisch“ einer dynamischen Modalität zugeordnet, die ansonsten vor allem Fälle erfasst, die hier als handlungsbezogen charakterisiert werden. Diese uneinheitliche Zuordnung unterstreicht die Position der erfahrungsbezogenen Lesart zwischen handlungs- und erkenntnisbezogener Lesart. M.E.

46 | Modalverben und semantische Kategorisierung

ist dabei die modalisierte Situation und somit die vom Modalverb ausgedrückte Bedingtheit qualitativ deutlich verschieden von bedingter Handlung mit offener Realisierung in handlungsbezogener Lesart bzw. bedingter Erkenntnis mit eingeschränktem Geltungsanspruch in erkenntnisbezogener Lesart. Nicht Realisierung oder Geltung, sondern das Eintreten eines Ereignisses erscheint in Fällen wie (18)–(22) bedingt. Der zentrale Partizipant der modalisierten Situation als intentionale Instanz ist in Bezug auf ein Ereignis entsprechend nicht als absichtsvoll Handelnder wie in handlungsbezogener Lesart oder als epistemisch Urteilender wie in erkenntnisbezogener Lesart, sondern eher als phänomenologisch Erlebender oder Erfahrender, als Experiens, qualifiziert. Die modalisierte Situation ist damit als Erfahrungssituation, mithin als Ereignis mit intentionalem Partizipanten, spezifiziert, für das mit dem Modalverb eine modale Bedingtheit als Vorkommens- oder Eintretenswahrscheinlichkeit zum Ausdruck kommt. Diese Unterscheidung dreier zentraler Lesarten, in denen durch die Modalverben eine Bedingtheit unterschiedlicher Typen modalisierter Situationen zum Ausdruck kommt, sowie die damit verbundene lexemübergreifende Qualifikation der Bedingungsrelation und der Intentionalität des zentralen Partizipanten sind in Tabelle 2.2 überblicksartig zusammengefasst und mit einem Beispiel für können veranschaulicht. Tab. 2.2: Lesarten als Typen modalisierter Situationen.

handlungsbezogen

erfahrungsbezogen

erkenntnisbezogen

modalisierte Situation

Handlung

Erfahrung

Urteil

bedingt durch

natürliche und soziale Naturgesetze Handlungsvoraussetzungen

Wissen, Evidenz und Rationalität

zentraler Partizipant

AGENS (Handelnder)

EXPERIENS (Erlebender)

COGITANS (Urteilender)

Beispiel

Anna kann singen.

Anna kann scheitern.

Anna kann zuhause sein.

Die Typen modalisierter Situationen, die hier als Handlung, Erfahrung und Erkenntnis bezeichnet werden, haben die Beteiligung eines intentionalen Partizipanten gemeinsam und sind dadurch unterschieden, dass in ihnen Entitäten unterschiedlicher Ordnung als Thema erscheinen (vgl. Lyons 1977: 442f.): Handlungen haben typischerweise Dinge oder Personen, d.h. Entitäten erster

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 47

Ordnung, zum Gegenstand die in einem, prototypisch transitiven, Handlungsverb als Akkusativobjekte realisiert werden. Entitäten zweiter Ordnung sind nach Lyons (ebd.: 443) Ereignisse, wie sie den Gegenstand von Erfahrungssituationen bilden. Erkenntnissituationen haben Propositionen zum Gegenstand; diese sind nach Lyons (ebd.: 443) als Entitäten dritter Ordnung zu bestimmen. Hengeveld (2004: 1192f.) unterscheidet entsprechend drei Arten von Modalität nach dem „Ziel der Evaluation“ („target of evaluation“): partizipantenbezogene Modalität („participant-oriented modality“), ereignisbezogene Modalität („event-oriented modality“) und propositionsbezogene Modalität („propositionoriented modality“). Diese entspricht der hier getroffenen Unterscheidung von handlungs-, erfahrungs- und ereignisbezogener Lesart der Modalverben, verläuft aber nicht ganz parallel, indem nur für die handlungsbezogenen Lesart von einem Partizipantenbezug die Rede ist, wohingegen das hier vorgeschlagene Modell betont, dass modale Bedingtheit immer über den intentionalen, zentralen Partizipanten der modalisierten Situation etabliert wird und sich der Ereignis- bzw. Propositionsbezug in erfahrungs- und erkenntnisbezogener Modalität bzw. Modalverblesart aus dem Erfahrungs- bzw. Erkenntnischarakter der modalisierten Situation ergibt (vgl. dazu ausführlich Abschnitt 3.1). Hengeveld (ebd.: 1193f.) sieht hingegen den Evaluationsbereich („domain of evaluation“) als weitere, zum Ziel der Evaluation quer verlaufende Kategorie, in der zwischen fakultativer, deontischer, volitiver, epistemischer und evidentieller Modalität unterschieden wird, so dass es jeweils verschiedene Formen partizipanten-, ereignis- und propositionsbezogener Modalität gebe. Die Beobachtung jedoch, dass nicht alle modalen Ziele in allen modalen Domänen auftreten können, es zum Beispiel keine epistemische partizipantenbezogene Modalität und keine deontische propositionabezogene Modalität gibt (vgl. ebd.: 1193), bildet zumindest einen engen Zusammenhang beider Kategorien ab. Im Rahmen dieser Arbeit wird dafür argumentiert, dass beide Kategorien, Evaluationsziele und Evaluationsbereich bei Hengeveld, den Typ der modalisierten Situation – Handlung, Erfahrung oder Erkenntnis – abbilden, an den sortale Eigenschaften der Thema-Rolle und die Art der Intentionalität des zentralen Partizipanten gebunden sind. Die drei zentralen Lesarten sind lexemübergreifend konzipiert, d.h. sie finden sich entsprechend bei allen Modalverben, wie in Kapitel 4 im Einzelnen gezeigt werden wird. Damit sind sie explizit nicht durch die semantischen Merkmale der einzelnen Lexeme begründet, betreffen also die nicht bereits lexikalisch kodierten Bedeutungsunterschiede zwischen Modalverbverwendungen.

48 | Modalverben und semantische Kategorisierung

Bezieht man die lexikalischen Unterschiede mit ein, lassen sich insbesondere in handlungsbezogener Lesart Unterlesarten benennen. Während die zentralen Lesarten nach der Art der modalisierten Situation unterschieden sind, auf die die vom Modalverb bezeichnete Bedingungsrelation bezogen ist, sind die Unterlesarten über die Merkmalen der Bedingungsrelation spezifiziert. Das entspricht ihrer Begründung in der lexikalischen Semantik der Modalverben, die hier als Ausdruck der Bedingungsrelation aufgefasst werden. Die Bezeichnungen für die Unterlesarten müssen sich folglich aus der Qualität der jeweiligen Bedingungsrelation ergeben. Die handlungsbezogenen Verwendungen der [+VERORTETEN] Modalverben wollen, mögen, sollen und dürfen werden in diesem Sinne als volitiv charakterisiert, weil die verortete Bedingungsrelation oder Intentionalität, die sie bezeichnen, in Bezug auf eine Handlung, als Wille oder Absicht qualifiziert ist (vgl. auch Hempel 1969: 236). Sollen und dürfen können weiter als deontisch bestimmt werden, indem durch sie in handlungsbezogener Verwendung eine externe Intentionalität, somit eine Verpflichtung (oder Erlaubnis) zum Ausdruck kommt.34 Können und müssen in handlungsbezogener Lesart erhalten hier keine gesonderte Bezeichnung, was ihrer relativen Unmarkiertheit entspricht. Tabelle 2.3 gibt die Unterlesarten der handlungsbezogenen Lesarten im Überblick wieder. Tab. 2.3: Unterlesarten der handlungsbezogenen Lesart nach Merkmalen der Bedingungsrelation.

[VERORTET]

[EXTERN]

-



0

volitiv

+

+/–

volitiv i.e.S.

+

+

wollen/mögen

deontisch

+



sollen/dürfen

handlungsbezogen

Lexeme müssen/können wollen/mögen/sollen/dürfen

In erfahrungsbezogener Lesart erscheinen wollen und sollen in einer prospektiven Lesart, indem die vom Modalverb bezeichnete Intentionalität als Prospekti-

|| 34 Diese Taxonomie entspricht den Markiertheitsverhältnissen, wie sie in Abschnitt 2.3 beschrieben wurden. Indem sollen und dürfen bezüglich der Verortung der Bedingungsrelation mit [+VERORTET] und [+EXTERN] maximal markiert sind, ist auch zu erwarten, dass sie die kleinste positiv bestimmte Untergruppe einer Lesart ausmachen.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 49

on in Bezug auf ein nachzeitiges Ereignis erscheint. Die folgenden Belege aus dem LIMAS-Korpus zeigen, an welche Belege hier zu denken ist. (23)

Es sah aus, als wolle dieser Gigant auf die Kuppel herunterstürzen und sie zertrümmern. (wo-15)

(24)

[...], aber der Erfolg wollte sich dennoch nicht mehr einstellen. (wo248)

(25)

Diese Gedanken sollten erst im Liberalismus des 19. Jahrhunderts wirksam werden. (so-1866)

(26)

Erst über einen lokalen Aufruhr in Etrurien, in den Rom eingreift, soll es zu einer neuen Auseinandersetzung kommen. (so-236)

In (23) kommt durch wollen die Perspektive eines Betrachters zum Ausdruck, in der er das Eintreten bzw. sein Erleben eines Ereignisses, hier: das Herabstürzen, als bevorstehend wahrnimmt. In (24) und (25) liegt eine entsprechende Perspektive auf ein bevorstehendes Ereignis vor. Ein Unterschied besteht darin, dass die Perspektive von einem gegenüber dem Sprechzeitpunkt vorzeitigen Referenzpunkt aus eingenommen wird. So auch in (26), wo ein historisches Präsens als Erzähltempus vorliegt. Für sollen wird diese Verwendung in prospektiver Lesart auch als „historisches Futur“ bezeichnet (vgl. Abschnitt 6.3). Die prospektive Verwendung von wollen und sollen ist dabei offensichtlich noch an andere Merkmale des Kontextes gebunden wie die Tempus-ModusForm des Modalverbs und die syntaktische Einbettung, lässt sich aber nichtsdestoweniger auf ihre Eigenschaft als Ausdruck einer initiativen Intentionalität zurückführen. Bei müssen und können kann eine prospektive Lesart kontextbedingt entstehen, wenn die dargestellte Situation, d.h. das Ereignis als Thema der modalisierten Erfahrungssituation, als Einzelereignis erscheint. Man vergleiche etwa Beispiel (27) mit (18): (27)

das muß sich im Laufe des Spiels von selbst herausstellen. (mue501)

(18)

Zum einen muß eine solche Gehilfentätigkeit Stückwerk bleiben, wenn sie zugleich zur Entlastung des Richters beitragen soll. (mue51)

In (27) geht es um ein individuelles Ereignis herausstellen (das, sich); muss wird prospektiv gelesen als Ausdruck des notwendigen künftigen Eintretens dieses

50 | Modalverben und semantische Kategorisierung

Ereignisses. In (18) hingegen ist ein Ereignistyp gegeben: bleiben (Stückwerk (eine solche Gehilfentätigkeit)), was auch mit der Indefinitheit des Subjekts zusammenhängt im Gegensatz zur Definitheit von das und des Spiels in (27) (vgl. dazu Abschnitt 7.3.2). Das Modalverb wird hier eher als Ausdruck einer generellen Notwendigkeit des Eintretens von Ereignissen dieses Typs gelesen.35 Für wollen und sollen ist hingegen die „individuierte“ prospektive Lesart lexikalisch angelegt. Mögen und dürfen sind ebenfalls [+VERORTET], weisen aber außerdem das Merkmal [+REAKTIV] auf, das einer prospektiven Haltung genau zuwiderläuft. Erfahrungsbezogene Verwendungen von mögen sind daher auf eine generelle, situationsquantifizierende Lesart festgelegt, in denen das Modalverb regelmäßig evaluativ dem Ausdruck von Irrelevanz, dann meist in entsprechend markierten syntaktischen Kontexten (sog. Irrelevanzkonditionalen), dient (vgl. die Abschnitte 4.2 und 7.4.4). (28)

Denn die Unterschiede, wie zahlreich und vielfältig sie immer sein mögen, heben die gewichtigen, einfach mit dem Gegenstand gegebenen Übereinstimmungen nicht auf. (moe-248)

Prospektive und evaluative Unterlesart sind darin geeint, dass das Modalverb in Ihnen eine Perspektivierung als Ereignisbedingung zum Ausdruck bringt. Dürfen erscheint aufgrund seiner [+EXTERNEN] Verortung nur in der Konjunktiv-

|| 35 Diese Entsprechung von Nachzeitigkeit einer Einzelsituation und Situationstypisierung oder -quantifikation scheint allgemeinerer Natur zu sein; sie findet sich auch in anderen Kontexten. So wird eine Situation, die bei faktischer Unentschiedenheit nachzeitig erscheint, als quantifiziert, d. h. als Situationstyp, gelesen, wenn sie, etwa durch den Indikativ Präteritum (vgl. Abschnitt 6.2), als faktisch entschieden markiert in einem konditionalen Kontext erscheint. So zeigt ein Satz wie Wenn er nach Hause kommt, trinkt er ein Bier die für ein konditionales Gefüge im Indikativ Präsens typische faktische Unbestimmtheit der beteiligten Situationen und ermöglicht eine temporal-nachzeitige Lesart als ‚Wenn er (gleich) nach Hause kommt, trinkt er ein Bier‘ sowie eine generische Lesart ‚Jedes Mal wenn er nach Hause kommt, trink er ein Bier‘ (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2282). Mit der Modifikation zum Präteritum Wenn er nach Hause kam, trank er ein Bier sind die Situationen aufgrund des faktiven Indikativs Präteritum als faktisch gegeben, so dass das konditionale Gefüge nicht mehr temporal als *‚Wenn er (gleich)/Als er (später) nach Hause kam, trank er ein Bier‘, sondern nur generisch bzw. iterativ im Sinne von ‚Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, trank er ein Bier‘ gelesen werden kann. Die „Zeitlosigkeit“, d. h. auch: Nicht-Nachzeitigkeit, der Situation kann alternativ bzw. zusätzlich durch ein entsprechendes Adverbial immer gewährleistet sein, so dass auch im nicht-faktiven Indikativ Präsens die temporale Lesart ausgeschlossen, somit notwendig Iterativität ausgedrückt wird, vgl. Immer wenn er nach Hause kommt/kam, trinkt/trank er ein Bier.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 51

Präteritum-Form dürfte- erfahrungsbezogen, für die eine Modifikation der lexikalischen Bedeutung vorliegt (vgl. dazu Abschnitt 6.5). Im Überblick über die Unterlesarten der erfahrungsbezogenen Lesart ist dürfen daher zunächst ausgeklammert. Tab. 2.4: Unterlesarten der erfahrungsbezogenen Lesart nach Merkmalen der Bedingungsrelation.

erfahrungbezogen

[VERORTET]

[REAKTIV]

Lexeme

-



0

müssen/können

perspektiviert

+

+/–

wollen/sollen/mögen/(dürfen)

prospektiv

+



wollen/sollen

evaluativ

+

+

mögen/(dürfen)

Innerhalb der erkenntnisbezogenen Lesart etablieren die [–REAKTIVEN] [+VERORTETEN] Modalverben sollen und wollen ebenfalls eine eigene Unterlesart; vgl. die Beispiele (29) und (30): (29)

Ein paar Leute wollten allerdings gesehen haben, dass die siebzehnjährige Gerda nicht zu Fuß ging, sondern mit ihrem Fahrrad fuhr. (wo-171)

(30)

Vitamin E soll außerdem am Wachstum beteiligt sein. (so-675)

Die vom Modalverb ausgedrückte Bedingungsrelation besteht hier darin, dass eine vom Sprecher verschiedene Instanz eine Äußerung getan und darin die dargestellte Situation behauptet hat; hierdurch rechtfertigt sich die Bezeichnung dieser Unterlesart der erkenntnisbezogenen Lesart als quotativ (vgl. auch Palmer 1986: 51, Diewald 1999: 225). Die sprachliche Äußerung eines Anderen als Bedingungsrelation bildet dabei eine besondere Form von Intentionalität (vgl. auch Searle 1983: 4). Modalisiert, d.h. durch die Bedingungsrelation bedingt, ist die Anerkenntnis des geäußerten Inhalts (der dargestellten Situation sein (beteiligt (Vitamin E, am Wachstum))) durch den Sprecher. Die Äußerung erscheint als „Wille“ nach Anerkennung eines Inhalts durch eine zweite intentionale Instanz. Für die anderen Modalverben lässt sich weniger deutlich eine Unterlesart der erkenntnisbezogenen Lesart beschreiben. Für mögen wird, ähnlich wie in den erfahrungsbezogenen Belegen, ist regelmäßig eine konzessive Bedeutungs-

52 | Modalverben und semantische Kategorisierung

komponente festzustellen, die die Anerkennung eines propositionalen Inhalts durch den Sprecher, gleichzeitig aber seine Irrelevanz ausdrückt: (31)

Dies mag zwar sehr „populär“ sein, entbehrt jedoch jeglicher Progressivität, die man den Anhängern dieser Bewegung immer wieder vorzugaukeln versucht. (moe-162)

Dürfen ist für die erkenntnisbezogene Lesart auf die Formen des Konjunktivs Präteritum dürfte- beschränkt. Im Indikativ Präsens erscheint es kaum auf modalisierte Situationen bezogen, die eine Proposition zum Gegenstand haben; ein Beispiel ist die Wendung Das darf (doch) nicht wahr sein!, in der jedoch keine eingeschränkte Geltung durch bedingte Erkenntnis zum Ausdruck kommt, sondern vielmehr eine Wertung als Reaktion auf eine faktische Situation.36 Eine erkenntnisbezogene Unterlesart kann somit ebenfalls in einer evaluativen, d.h. faktisch anerkennenden, aber in argumentativer oder emotiver Hinsicht ablehnenden, Komponente gesehen werden. Quotative und evaluative erkenntnisbezogene Lesart verbindet das Merkmal des Subjektiven. Tab. 2.5: Unterlesarten der erkenntnisbezogenen Lesarten nach Merkmalen der Bedingungsrelation.

erkenntnisbezogen

[VERORTET]

[REAKTIV]

Lexeme

-



0

müssen/können

subjektiv

+

+/–

wollen/sollen/mögen/(dürfen)

quotativ

+



wollen/sollen

evaluativ

+

+

mögen/(dürfen)

Die hier angenommen zentralen Lesarten, die handlungsbezogene, die erfahrungsbezogene und die erkenntnisbezogene, sind in dieser Form auch dadurch begründet, dass sich im Korpus entsprechende Gruppen von Belegen gut unterscheiden lassen. Hinweise auf für die Lesart relevante Kontextmerkmale liefern || 36 Vor diesem Hintergrund erscheint Wertung oder besser: (Dis-)Präferenz als retrospektivreaktives Pendant zum prospektiv-initiativen Wunsch. Das bedeutet nicht unbedingt: (wertende) Reaktion aufgrund eines expliziten Wunsches im Vorfeld des Ereignisses, wie man vielleicht meinen könnte, sondern reaktive Haltung angesichts einer gegebenen Situation, d. h. in deren Nachgang. Umgekehrt könnte man Wünsche auch als prospektive Anlage von Präferenzen oder Wertmaßstäben bezeichnen.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 53

dabei vor allem die Verwendungen, für die zwei Lesarten denkbar erscheinen. Indem man herausstellt, von welchem Detail der dargestellten Situation es abhängt, welche Lesart prominent ist, lassen sich Hinweise über das Zustandekommen der Lesarten selbst gewinnen. In den Kapiteln 6 und 7 werden diese Faktoren im Einzelnen diskutiert. Hier sei jedoch bereits an einigen Beispielen aufgezeigt, wie solche Lesartübergänge aussehen, zumal auch die Zuordnung der Belege aus dem LIMAS-Korpus mit diesen Fällen umgehen musste. Man betrachte etwa den folgenden Beleg: (32)

Mit Kunststoffschäumen kann die Wärmeleitfähigkeit um eine weitere Dezimale auf 0,016 absinken. (koe-2836)

Beispiel (32) kann handlungsbezogen gelesen werden, indem die dargestellte Situation als ein intendiertes Ziel erscheint, dessen Erreichbarkeit durch das Modalverb zum Ausdruck kommt, etwa im Sinne von ‚Man kann mit Kunststoffschäumen erreichen, dass ...‘. In erfahrungsbezogener Lesart wird die dargestellte Situation als nicht intendierter Vorgang aufgefasst, wobei kann dann eine Auftretenswahrscheinlichkeit ausdrückt, so dass paraphrasiert werden kann: ‚Man kann in einigen Fällen beobachten, dass ...‘. In Fällen wie (32) ist meist aus dem inhaltlichen Kontext zu entnehmen, ob es sich, hier etwa beim Absinken der Wärmeleitfähigkeit, um einen gewollten Effekt handelt oder nicht. Entsprechend erfolgt die Zuordnung des Belegs. Ebenfalls ambig erscheinen Belege, in denen gegensätzliche Absichten beteiligt sind; vgl. (33): (33)

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse können, wie man weiß, zur Produktion verheerender Vernichtungswaffen ausgenutzt werden; (koe-1523)

Hier kann handlungsbezogen aus Perspektive des Ausnutzenden oder erfahrungsbezogen aus Sicht des Beobachters gelesen werden, dessen Sicht etwa mit der Bewertung in verheerend und ausnutzen, im inhaltlichen Gesamtkontext und nicht zuletzt in allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen als Weltwissen gegeben ist. Im Gegensatz dazu stelle man sich diesen Satz im Kontext eines Ratgebers für Terroristen vor.37

|| 37 Auch diachron scheint das Vorhandensein von mehreren, potenziell widerstrebenden Intentionalitäten, eine Rolle zu spielen, sowohl für die Entfaltung des Wortfeldes mit der Ent-

54 | Modalverben und semantische Kategorisierung

Für sich betrachtet machen Beispiele dieser Art deutlich, dass die Intendiertheit der dargestellten Situation den entscheidenden Faktor ausmacht für den Übergang zwischen handlungsbezogener und erfahrungsbezogener Lesart, d.h. zwischen Absicht und Erwartung als Intentionalität des zentralen Partizipanten im modalen Szenario. Zur Realisierung von Intendiertheit einer Situation im Satz vergleiche man Abschnitt 7.2.2. Für die Unterscheidung zwischen erfahrungsbezogener und erkenntnisbezogener Lesart spielen (In-)Definitheit und Faktizität der dargestellten Situation die entscheidende Rolle, so dass ein Kippen zwischen den Lesarten sich in Belegen zeigt, die bezüglich der Definitheit der dargestellten Situation unbestimmt erscheinen. Man vergleiche etwa (34): (34)

Zwar kann ihr der Seelsorger nicht sagen, was es im einzelnen für Ursachen sind, die den Sohn in seine jetzige Haltung hineingeführt haben, aber daß es keine schlechten Beweggründe sein müssen, daß sogar Ehrlichkeit, daß Suche nach Echtheit dahinterstecken kann, das ist ein großer Trost für sie. (koe-3046)

In (34) lässt sich kann in Bezug auf den aktuellen Fall erkenntnisbezogen lesen; versteht man die Aussagen des Seelsorgers hingegen als generelle Feststellungen in Bezug auf Fälle einer Art, so würde man den Beleg eher als Ausdruck einer generellen Auftretenswahrscheinlichkeit der erfahrungsbezogenen Lesart zuordnen. Zur Realisierung von Definitheit als Kontextfaktor vergleiche man Abschnitt 7.3.2. Schwierig einzuordnen sind auch Verwendungen, in denen zwar eine individuelle dargestellte Situation vorliegt, also Definitheit gegeben ist, diese jedoch gegenüber dem Sprechzeitpunkt nachzeitig, also faktisch unbestimmt, ist. (35)

Jede Sekunde können die Vasallen durchbrechen. (koe-45)

In (35) ist die Situation zwar insofern definit, als Beteiligte, Ort und Zeit feststehen, dennoch ist sie faktisch unbestimmt, da das entsprechende Ereignis noch aussteht. Hier berühren sich Definitheit und Faktizität von Situationen bzw. es wird deutlich, dass Definitheit einer Situation erst mit faktischer Entschieden|| wicklung der Opposition von Notwendigkeit und Möglichkeit (vgl. Abschnitt 5.2) als möglicherweise auch für die Entstehung nicht handlungsbezogener Lesarten, wie es die hier angestellten Überlegungen nahelegen: Das handlungsbezogene Können des Einen erscheint als erfahrungsbezogenes Können des Anderen.

Modalverblesarten: Typen modalisierter Situationen | 55

heit erreicht ist. Das Modalverb wird in (35) erfahrungsbezogen gelesen im Sinne von ‚Es kann jede Sekunde passieren, dass die Vasallen durchbrechen‘. Eine Modifikation der Tempus-Modus-Form zum Konjunktiv Präteritum scheint eine Subjektivierung zu bewirken, so dass eher eine individuelle, subjektive Erwartung eines Einzelnen in Bezug auf die dargestellte Situation zum Ausdruck kommt: (35)'

Jede Sekunde könnten die Vasallen durchbrechen.

Die Lesart wird dabei weiter als erfahrungsbezogen angesehen, indem es auch hier um die Bedingtheit einer Erfahrung oder eines Erlebnisses geht. Was in Bezug auf diese Übergangsfälle als Spitzfindigkeit erscheinen mag, zeigt seinen Effekt ganz deutlich an Fällen der erfahrungsbezogenen Lesart wie (36), in denen kein Nachzeitigkeitsbezug, sondern „Zeitlosigkeit“ im Sinne von Generalität der Aussage vorliegt. (36)

Die normalerweise 3-lappigen, 5-lappigen oder 7-lappigen Blätter können aber auch tiefer eingeschnitten sein als normal. (koe-5249)

Eine entsprechende Modifikation mit Konjunktiv Präteritum wie (36)' bedeutet hier den Übergang zur erkenntnisbezogenen Lesart: (36)'

Die normalerweise 3-lappigen, 5-lappigen oder 7-lappigen Blätter könnten aber auch tiefer eingeschnitten sein als normal.

Während in (36) das generelle Auftreten eines Phänomens, somit eine mögliche Erfahrung, zum Ausdruck kommt, ist (36)', sofern nicht als indirekte Rede von (36) verstanden, erkenntnisbezogen als Vermutung in Bezug auf die Faktizität eines individuellen Sachverhaltes zu lesen. Die instanzenbezogenen, [+VERORTETEN] Modalverben haben aufgrund der in diesem Merkmal angelegten Definitheit keine generelle erfahrungsbezogene Lesart und zeigen folglich auch den an morphologisch realisierte Definitheit bzw. Individuierung gebundenen Übergang nicht. Stattdessen ist es hier die fehlende Dynamizität einer faktisch bereits entschiedenen Situation, die von der erfahrungs- zur erkenntnisbezogenen Lesart überleitet. Aus der grundlegenden Abhängigkeit der Lesart des Modalverbs von Intendiertheit und Definitheit bzw. Dynamizität, die in Kapitel 7 noch im Einzelnen zur Sprache kommen, lässt sich ableiten, dass für sie entsprechende Anknüpfungspunkte in der lexikalischen Semantik des Modalverbs angelegt

56 | Modalverben und semantische Kategorisierung

sind und die Lesarten in der Interaktion dieser Merkmale mit dem Kontext der Verwendung entstehen. Diese Anknüpfungspunkte werden im in dieser Arbeit vorgeschlagenen Modell als semantische Valenz der Modalverben angesetzt, die die Komplementierung mit einer intentionalen dynamischen Situation als modalisierter Situation fordert. Die Lesarten ergeben sich durch Interpretationsprozesse, in denen die ausdrucksseitig gegebenen, formalen Komplemente (bei verbalem Komplement die im Satz dargestellte Situation) valenzgerecht aufgefasst werden, d.h. ggf. nur als Teil der intendiert-kontrollierten dynamischen modalisierten Situation. Dem Übergang zwischen den Lesarten, handlungsbezogener, erfahrungsbezogener und erkenntnisbezogener, entspricht dabei ein Übergang zwischen Typen der gegebenen dargestellten Situationen, den man als Deintentionalisierung und Individuierung bzw. Stativierung bezeichnen könnte. In der folgenden Tabelle sollen die Übergänglichkeiten zwischen den Lesarten veranschaulicht werden.38 Tab. 2.6: Merkmale und Übergänge der zentralen Lesarten als Typen dargestellter Situationen, ihre Erscheinungsformen in der modalisierten Situation und entsprechende Typen modalisierter Situationen.

Dargestellte Situation

erscheint als (Entitätstyp)

Modalisierte Situation

Lesart

Zustand

Proposition

Erkenntnis/Urteil

erkenntnisbezogen

↗ Stativierung/



Individuierung

Vorgang

Ereignis

Erfahrung

↗ Deagentivierung Handlung

erfahrungsbezogen ↑



Handlung

handlungsbezogen

Im Gebrauch unterscheiden sich die drei zentralen Lesarten deutlich nach Frequenz (vgl. z.B. auch Welke 1965: 53, Diewald 1999: 217). Die absoluten und relativen Häufigkeiten im LIMAS-Korpus gibt Tabelle 2.7 wieder.

|| 38 In Abschnitt 7.2.3 wird ein Vorschlag zur Erweiterung dieser Übersicht gemacht, so dass auch die Verwendungsweise in modalisierten Sprechakten erfasst wird. Man vergleiche dazu dort die entsprechend erweiterte Abbildung 7.7.

Skopus: ausdrucksseitige Entsprechung der modalisierten Situation | 57

Tab. 2.7: Absolute und relative Häufigkeiten der drei zentralen Lesarten im LIMAS-Korpus.

handlungsbezogen

erfahrungsbezogen

erkenntnisbezogen

SUMME

10.260

1.316

622

12.198

84,1%

10,8%

5,1%

100%

Mit der handlungsbezogenen Lesart überwiegt diejenige Lesart bei weitem, die die geringste Interpretationsleistung erfordert, indem hier die im Satz dargestellte und die vom Modalverb modalisierte Situation meist miteinander übereinstimmen. Für die erfahrungsbezogene Lesart ist zwar temporale Dynamizität (oder Quantifikation) in der dargestellten Situation gegeben, aber der intentionale zentrale Partizipant der modalisierten Erfahrungssituation muss ergänzt werden. In erkenntnisbezogener Lesart ist neben dem zentralen Partizipanten auch der dynamische Erkenntnisprozess als Partizipatum der modalisierten Situation Ergebnis einer Interpretationsleistung. Es lässt sich damit festhalten, dass je höher die Interpretationsleistung ist, die eine Lesart erfordert, desto niedriger ist ihre Gebrauchsfrequenz.

2.5 Skopus: ausdrucksseitige Entsprechung der modalisierten Situation Die Lesarten der Modalverben werden mitunter charakterisiert durch einen Unterschied im Skopus des Modalverbs. Laut IDS-Grammatik ist Skopus der „semantische[n] Geltungsbereich eines Ausdrucks“ und ein Ausdruck B steht im Skopus eines Ausdrucks A, wenn A einen Einfluss auf die semantische Auswertung von B hat. Boye (2012: 183f.) betont, dass es genau genommen nicht der Ausdruck, sondern die Bedeutung eines Ausdrucks sei, die einen Skopus über die Bedeutung anderer Ausdrücke hat. Er unterscheidet weiter expliziten und impliziten Skopus. Expliziter Skopus manifestiert sich dabei an der Ausdrucksseite, z.B. durch unterschiedliche Positionen im Satz, während impliziter Skopus den verstandenen oder gedachten Skopus ohne ausdrucksseitige Unterschiede meint. Da im Deutschen die Position der Modalverbform im Satz in den verschiedenen Lesarten gleich ist, muss der Skopusunterschied im Bereich des impliziten Skopus in Boyes Sinn liegen. Sofern in Bezug auf die Modalverblesarten Skopusunterschiede angenommen werden, ist für die handlungsbezogene Lesart ein enger, für die erkenntnisund erfahrungsbezogene Lesart ein weiter Skopus vorgesehen. In handlungsbe-

58 | Modalverben und semantische Kategorisierung

zogener Lesart (vgl. Beispiel (14)) bezieht sich das Modalverb in dieser Sichtweise nur auf die Verbalphrase und modifiziert diese (vgl. z.B. Diewald 1999: 3, 18). (14)

Mutti muß für 2 Tage verreisen. (mue-733) MÜSSEN (für 2 Tage verreisen) (Mutti)

Es ist dann die komplexe Semantik der modalisierten Verbalphrase müssen (verreisen), die über den Referenten des Subjekts Mutti prädiziert wird. In erfahrungsbezogener (vgl. (18)) und erkenntnisbezogener Lesart (vgl. (15)) erfasst die vom Modalverb ausgedrückte Bedingtheit die gesamte durch Subjekt und Verbalphrase ausgedrückte Einheit. (18)

Zum einen muß eine solche Gehilfentätigkeit Stückwerk bleiben, wenn sie zugleich zur Entlastung des Richters beitragen soll. (mue51) MÜSSEN (bleiben (eine solche Gehilfentätigkeit, Stückwerk))

(15)

Genosse Pjotr muß sie mir geklaut haben. (mue-1953) MÜSSEN (haben (GE (klauen (Genosse Pjotr, sie, mir))))

Mit dieser Analyse geraten Beschreibungen in Konflikt, in denen in handlungsbezogener Lesart das Satzsubjekt (bzw. sein Referent), in erkenntnisbezogener Lesart eine Proposition von der Modalität des Modalverbs als „modales Ziel“ betroffen sind (vgl. z.B. Diewald 1999: 207). Zumindest müssen sie damit umgehen, dass das modale Ziel in erkenntnisbezogener Lesart dem Skopus des Modalverbs entspricht, während es in handlungsbezogener Lesart mit dem Subjekt gerade durch den Teil des Satzes repräsentiert wird, der nicht im Skopus des Modalverbs liegt. In der hier vorgeschlagenen Beschreibung wird dagegen argumentiert, dass in allen Verwendungen die gesamte dargestellte Situation von der Bedingtheitsbedeutung des Modalverbs betroffen ist. In prototypischen handlungsbezogenen Verwendungen wie (14) ist das Partizipatum der modalisierten Situation im verbalen Komplement des Modalverbs und der zentrale Partizipant im Subjekt gegeben. Es wird auch gesagt, dass die modalisierte Situation in diesen Fällen der dargestellten, d.h. der im Satz durch Subjekt und verbales Komplement gegebenen, Situation entspricht. Ein weniger quantitativer, sondern vielmehr qualitativer Aspekt des Modalverbskopus steht im Raum mit der Frage, ob ein Zustand, Ereignis, Sachverhalt, eine Proposition oder ein Sprechakt im Skopus erkenntnisbezogen verwendeter

Skopus: ausdrucksseitige Entsprechung der modalisierten Situation | 59

Modalverben steht (vgl. Boye 2012: 187ff.), wohingegen klar zu sein scheint, dass im Skopus handlungsbezogen verwendeter Modalverben Handlungen stehen. Boye (ebd.: 191, 95ff.) betont für erkenntnisbezogene Verwendungen, dass nur die Proposition als semantische Einheit im Skopus des Modalverbs infrage kommt. Propositionen sind Informationen über die Welt; sie referieren und haben in Abgleich mit der Welt einen Wahrheitswert. Sachverhalte dagegen sind Dinge in der Welt; sie referieren nicht, sondern können existieren in Raum und Zeit, sind real oder irreal. Propositionen schließen immer auch Sachverhalte ein, gehen aber noch über diese hinaus: “Epistemic meanings have a state-of-affairs in their scope, but they do not have it as their scope” (ebd.: 197). In der hier vorgeschlagenen Bedeutungsbeschreibung wird in Bezug auf die quantitative Skopusfrage festgestellt, dass die Modalverben immer weiten Skopus haben, d.h. dass immer die Einheit aus Subjekt und Infinitivkomplement in ihren semantischen Geltungsbereich fallen. Der Unterschied zwischen den Lesarten wird erfasst, indem diese dargestellte Situation in unterschiedlichem Verhältnis zu der vom Modalverb unmittelbar als bedingt dargestellten modalisierten Situation steht: In handlungsbezogener Lesart entspricht in der Regel die dargestellte Situation der modalisierten Situation; in erfahrungs- und erkenntnisbezogener Lesart ist die dargestellte Situation Teil der modalisierten Situation als deren thematischer Partizipant. Sie erscheint dann abgegrenzt, insofern nicht mehr relational, sondern als verhältnismäßig abstrakte Entität, genauer als Entität dritter Ordnung nach Lyons (1977: 443), d.h. als Proposition, wie von Boye (2012: 191, 195ff.) betont.39 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Proposition unmittelbarer Gegenstand der Modalisierung durch das Modalverb ist. Das ist, wie in allen Modalverbverwendungen, eine intentionale und dynamische, also handlungsartige, modalisierte Situation mit relationalem Kern, in der die Proposition in der Rolle des Themas erscheint. Somit kann der Begriff Proposition verwendet werden, um die Entität zu charakterisieren, als die die dargestellte Situation in der modalisier-

|| 39 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht angemessen, Propositionen von Personen durch das Merkmal der Abgegrenztheit zu unterscheiden ([+/‒DIFFUS] entspricht [‒/+ABGEGRENZT], wie Diewald (1999: 96, 103) es tut. Dieses Merkmal unterscheidet Relationen von Entitäten. Indem es sich bei Propositionen wie bei Personen um Entitätstypen handelt, sind sie per Definition als abgegrenzt bestimmt. Es ist gerade diese Interpretation der dargestellten Situation als Entität (genauer: als Proposition), dass sie also als abgegrenzt und nicht als relational aufgefasst wird, die für die erkenntnisbezogene Lesart charakteristisch ist. Was Diewalds Beschreibung sicherlich ursächlich zugrunde liegt, ist die Eigenschaft propositionaler Entitäten, ausdrucksseitig ein relationales, genauer: verbales, Element zu involvieren; sie beinhalten Relationalität, ohne jedoch relational zu sein.

60 | Modalverben und semantische Kategorisierung

ten Situation erscheint; gegen Boye und in Anlehnung an das oben wiedergegebene Zitat von ihm kann aber gesagt werden: Ein erkenntnisbezogen verwendetes Modalverb hat eine Proposition in seinem Skopus, aber, sofern mit Skopus die Bezugsgröße des Modalverbs gemeint ist, nicht als seinen Skopus. Im Folgenden wird vom Gebrauch des Skopus-Begriffs abgesehen, da er mehr Verwirrung als Klarheit zu bringen verspricht. Stattdessen wird davon die Rede sein, dass der zentrale Partizipant der dargestellten Situation mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation zusammenfällt oder nicht und, wenn ja, ob er im Subjekt des Satzes realisiert ist.

3 Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle In diesem Kapitel wird das modale Szenario als Gesamtmodell zur semantischen Beschreibung der Modalverben zusammengeführt (Abschnitt 3.1). Es besteht aus einem Gefüge von Handlungsbedingungen, die in ihrer Ausrichtung und Verortung individuell bestimmt sind und je einem Modalverblexem entsprechen. Da die einzelnen Bedingungsrelationen über gemeinsame semantische Merkmale spezifiziert sind, bestehen zwischen ihnen Implikationsbeziehungen. Indem alle sechs spezifischen Handlungsbedingungen potenziell gemeinsam auf die bedingte resp. modalisierte Situation bezogen sind, wird die Modalverbsemantik als multiple Bedingtheit erfasst. In den Abschnitten 3.2 bis 3.5 werden vier ähnlich umfassend angelegte Beschreibungsmodelle vorgestellt, um die Entsprechungen und Unterschiede zum modalen Szenario hervorzuheben. Viele dieser Modelle arbeiten mit grafischen Darstellungen, die Pfeile und Objekte enthalten; diese stehen jedoch jeweils für ganz verschiedene Dinge. Die Ähnlichkeit der Darstellungen verweist darauf, dass Einigkeit darüber besteht, dass es sich bei den Modalverben um relationale Ausdrücke handelt, d.h. dass ihre Bedeutung durch Relationen zu beschreiben ist. Worin diese jedoch bestehen, darin gehen die Meinungen (und Darstellungen) auseinander. Obwohl unabhängig entstanden, lässt sich das modale Szenario durch den Bezug insbesondere auf das der kognitiven Linguistik zugeordnete Konzept der Force Dynamics von Leonard Talmy (vgl. 1988, s. Abschnitt 3.4) und die von den Pragmatikern Konrad Ehlich und Jochen Rehbein (vgl. 1972, s. Abschnitt 3.3) stammende Beschreibung der Modalverben als Instanzen einer Entscheidungsstruktur bei der Handlungsvorbereitung verorten und konkretisieren. Angelika Kratzers formalsemantischer Ansatz zur Modalverbsemantik hat mit dem Projekt der vorliegenden Arbeit den grundsätzlichen Impetus gemein, eine allgemeingültige, d.h. lesartübergreifende, Semantik der Modalverben zu bestimmen und die Lesarten als kontextbedingt aufzufassen (vgl. Kratzer 1976, 1981, 1991; s. Abschnitt 3.2). Gabriele Diewalds auf der Struktur einer Direktive basierende, wohl umfassendste neuere Beschreibung der deutschen Modalverben hat ihre semantische Entwicklung als Fall von Grammatikalisierung im Blick und wird von Diewald (1999) auch auf die grammatischen Kategorien, insbesondere den verbalen Modus, bezogen. Bereits in Kapitel 2 wurde wiederholt auf Diewalds Modell Bezug genommen. Seine umfassendere Einführung und die kritische Auseinan-

DOI 10.1515/9783110540451-003

62 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

dersetzung damit in Abschnitt 3.5 dient zum einen der Plausibilisierung des modalen Szenarios; zum anderen bildet sie die Grundlage der Auseinandersetzung mit Diewalds Beschreibung flexionsmorphologisch komplexer Modalverbformen, insbesondere mit denen des Konjunktivs Präteritum in Kapitel 6 (vgl. Abschnitt 6.5).

3.1 Das modale Szenario: multiple Bedingtheit und valenzgerechte Interpretation einer modalisierten Situation In Kapitel 2 wurden die kanonischen Merkmale zur semantischen Beschreibung der Modalverben ausgelegt als Merkmale von Bedingungen für eine Situation, die so genannte modalisierte Situation (vgl. Abschnitte 2.1 bis 2.3). Jedes Modalverb bezeichnet demnach ein duale Struktur aus einer Bedingungsrelation und einer bedingten Relation bzw. Situation, wie in Abbildung 3.1 dargestellt (vgl. auch Abbildung 1.1 in Abschnitt 1.1).

Abb. 3.1: Bedingtheitssituation, bestehend aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation (vgl. Abbildung 1.1 in Abschnitt 1.1).

In diesem Abschnitt soll diese Grundstruktur der modalen Semantik in Bezug auf die Modalverben genauer begründet werden, indem vor allem das Verhältnis zwischen der bedingenden Bedingungsrelation und der bedingten modalisierten Situation lexikalisch verankert als semantische Valenz der Modalverben beschrieben wird. Diese semantische Valenz ist die synchrone semantische Grundlage für die Entstehung der verschiedenen Lesarten bei den Modalverben im Gebrauch (vgl. Abschnitt 2.4). Zuvor werden die Modalverben, die jeweils Teilbedingungen bezeichnen, in der Darstellung zusammengefasst zum hier entwickelten modalen Szenario. Das modale Szenario insgesamt beschreibt eine komplexe Bedingungsstruktur, die

Das modale Szenario: multiple Bedingtheit und valenzgerechte Interpretation | 63

als ganze die modalisierte Situation bedingt, indem sie die Menge der Realisierungsvoraussetzungen für diese dynamische intentionale Situation erfasst. In Abbildung 3.2 ist das gesamte Szenario dargestellt, in dem alle sechs Bedingungsrelationen erscheinen, die den lexikalischen Bedeutungen der sechs Modalverben entsprechen und jeweils gemäß der in den Abschnitten 2.2 und 2.3 eingeführten Merkmale spezifiziert sind (vgl. auch Abbildung 2.10 in Abschnitt 2.3).

Abb. 3.2: Die Organisation der multiplen Bedingungen einer Situation im modalen Szenario (vgl. Abbildung 2.10 in Abschnitt 2.3).

Ein einzelnes Modalverb bezeichnet demnach eine Relation, wie es für Verben charakteristisch ist. Diese Relation ist in einem bedingenden Verhältnis zur modalisierten Situation als ihrem, ebenfalls relationalen, Argument definiert und in ihrer Ausrichtung und Verortung bezüglich dieses Arguments je nach Einzellexem spezifiziert. Als „modal“ ist das modale Szenario gekennzeichnet, weil in ihm die modalisierte Situation in ihrer Bedingtheit als faktisch unbestimmt erscheint; ein „Szenario“ ist gegeben, indem es sich um ein Gefüge aus intentional aufeinander bezogenen Instanzen und den Relationen zwischen ihnen handelt mit dem gemeinsamen Fokus der modalisierten Situation, genauer: ihres zentralen Partizipanten (vgl. Abschnitt 2.1). Dieser ist als zentrale intentionale Instanz in der modalisierten Situation gekennzeichnet und in dieser Funktion konfrontiert mit den Bedingungen, die die Welt insgesamt, seine Mitmenschen und auch Instanzen seiner selbst ihm potenziell auferlegen bzw. entgegenzusetzen haben. Mit der konkreten Verwendung eines Modalverbs wird auf eine dieser Bedingungen referiert, damit aber zugleich das gesamte Bedingungsgefüge adres-

64 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

siert. Die einzelne Bedingungsrelation ist in diesem Gefüge durch distinktive Merkmale spezifiziert und erscheint über diese auf die anderen Bedingungen bezogen. Wie in den Abschnitten 2.2 und 2.3 beschrieben, betreffen die Merkmale insbesondere die Ausrichtung und Verortung in Bezug auf die modalisierte Situation, indem sie die Bedingungsrelation in ihrer Richtung als initiativ oder reaktiv, in ihrer möglichen instanzenbezogenen Verortung und, sofern instanzenbezogen, mit Bezug auf die modalisierte Situation als situationsextern oder -intern charakterisieren. Die Ausrichtung ist in der Abbildung 3.2 durch die Pfeilrichtung, die Verortung durch die Darstellung in einem Kreis (Instanzenbezug) und die relative Position gegenüber der modalisierten Situation durch die Überlagerung mit dem dicken grauen Pfeil wiedergegeben, der die modalisierte Situation symbolisiert. Abbildung 3.3 stellt beispielhaft die Realisierung für Anna soll singen dar, in dem sollen die Aufforderung oder den Willen einer nicht näher genannten Person bezüglich der Situation singen (Anna) bezeichnet. Diese Aufforderung oder der Wille einer nicht spezifizierten Person fungiert hier als situationsextern in einer Instanz verortete Bedingungsrelation. In der Grafik wird diese von sollen bezeichnete Bedingungsrelation, die situationsexterne Intentionalität, als schwarzer Pfeil dargestellt; die Instanz, in der die von sollen bezeichnete Bedingungsrelation verortet ist, d.h. die intentionale Instanz Träger der Intentionalität, erscheint als schwarzer Kreis, in den der Bedingungspfeil eingebettet ist. Der Rest des modalen Szenarios ist hellgrau dargestellt, da er mit der Benennung der einzelnen Bedingung nur implizit mit aufgerufen wird.

Abb. 3.3: Modale Bedingtheitssituation für sollen mit lexikalisch nach Ausrichtung und Verortung spezifizierter Bedingungsrelation unter Aufruf des gesamten modalen Szenarios.

Von der einfachen Darstellung einer modalen Bedingtheitssituation aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation, wie sie in Abbildung 3.1 gegeben ist,

Das modale Szenario: multiple Bedingtheit und valenzgerechte Interpretation | 65

unterscheiden sich die Darstellungen in Abbildung 3.3, indem hier die jeweilige lexikalische Spezifizierung nach den einschlägigen semantischen Merkmalen durch Ausrichtung und Position des Bedingungspfeils und damit zugleich die Einbettung in das gesamte von diesen Merkmalen aufgespannte modale Szenario wiedergegeben ist. Diese multiple Bedingtheit ist das besondere Merkmal der von den Modalverben realisierten Modalität (vgl. Abschnitt 2.1). Vor allem die Merkmale [+/–REAKTIV], in dem sich in Anlehnung an Diewald (1999: 129) der Unterschied zwischen den Notwendigkeits- und Möglichkeitsmodalverben fassen lässt (vgl. Abschnitt 2.2), und [+/–EXTERN], das den Bezug einer verorteten Bedingungsrelation, d.h. Intentionalität, zur modalisierten Situation beschreibt, sind die Grundlage für eine Reihe von Implikationen innerhalb des modalen Szenarios, an denen der zentrale Partizipant bzw. die Intentionalität, deren Träger er ist, immer beteiligt ist. So impliziert (nicht) mögen als Ausdruck des reaktiven „(Wider-)Willens“ des zentralen Partizipanten bezüglich der modalisierten Situation eine Konfrontation mit ihr, d.h. eine anderweitige Initiative, wie sie von sollen und müssen bezeichnet wird; (nicht) dürfen und (nicht) können hingegen setzen seinen positiven, initiativen „Willen“ voraus, d.h. die Bedingungsrelation, auf die wollen referiert. Umgekehrt lassen sollen und müssen den Widerwillen des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation erwarten;40 wollen lässt fragen, ob der Wollende potenziell Widerständen, wie sie durch nicht dürfen und nicht können bezeichnet werden, ausgesetzt ist. Diese Implikationen hängen damit zusammen, was Ehlich/Rehbein (1972) (vgl. Abschnitt 3.3) als Abfrage- und Entscheidungsprozesse im Vorfeld einer Handlung beschreiben oder was bei Diewald (1999: 129) als „Sequenzierung von Sprechhandlungen“ im Kontext einer Direktive erscheint, und lassen sich zumindest für die handlungsbezogene Lesart durch solche Prozesse außersprachlich anschaulich begründen. Auch Hempel (1969: 240) zielt mit seine Beschreibung der „Ausdrucksdichte“ von verbal komplementierten Modalverben als „Doppelverba“ offenbar nicht nur auf die komplexe Bedingtheitsstruktur aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation (vgl. Abschnitt 2.3), sondern auch auf solche Implikationen, die auf die Haltung des zentralen Partizipanten verweisen. So hält er fest, dass „die Perspektive, in der es [das Geschehen, CB] erscheinen soll, vom Modalverb [komme; m]an vergleiche ‚Ich will schlafen, kann nicht schlafen‘ mit ‚Ich versuche zu schlafen, vermag nicht zu schlafen‘“.

|| 40 Nach Ehlich/Rehbein (1972: 323) verstößt es gegen die „präparatorischen Bedingungen für die Aufforderung“, wenn der Wille zur Handlung beim Handelnden bereits vorliegt (vgl. Abschnitt 3.3).

66 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Das Modalverb, in Hempels Beispiel: können, bringt diese Perspektive des zentralen Partizipanten, wollen bei Hempel, deswegen ein, weil die Bedeutungen der Modalverben als multiple Bedingungen qualifiziert und über ihre semantischen Merkmale miteinander verknüpft sind. Die Beschreibung möglicher Abläufe handlungsvorbereitender Abfrageund Entscheidungsprozesse legt auch Implikationen nahe, die nicht auf den zentralen Partizipanten zielen bzw. von ihm ausgehen, etwa wenn eine von sollen bezeichnete Forderung durch fehlende Möglichkeit, ausgedrückt durch nicht können, zurückgewiesen werden kann (vgl. Ehlich/Rehbein 1972: 324). Im Weiteren werden jedoch vor allem die Implikationen relevant, die den zentralen Partizipanten der modalisierten Situation involvieren, der nicht nur für die modalisierte Situation, sondern für das modale Szenario insgesamt die zentrale Instanz darstellt (vgl. auch zur Diachronie in Kapitel 5.2). Im modalen Szenario implizieren sich damit primär opponierende Bedingungsrelationen, d.h. die jeweils nächste [+REAKTIVE] Bedingungsrelation zu einer [–REAKTIVEN] Bedingungsrelation und umgekehrt, womit bei [+VERORTETEN] Bedingungsrelationen immer auch ein Übergang bezüglich des Merkmals [+/-EXTERN] verbunden ist. Abbildung 3.4 zeigt, dass diese primären Implikationen konstitutiv sind für zwei Teilszenarien, die sich dadurch unterscheiden, dass die Initiative vom zentralen Partizipanten ausgeht oder von außerhalb der Situation kommt, der zentrale Partizipant damit reaktiv oder initiativ erscheint (vgl. auch Ehlich/Rehbein 1972: 320ff. und Diewald 1999: 129).

Abb. 3.4: Zwei Teilszenarien des modalen Szenarios nach Intentionalität des zentralen Partizipanten mit opponierenden Bedingungsrelationen.

Das modale Szenario: multiple Bedingtheit und valenzgerechte Interpretation | 67

Wie an der Abbildung deutlich wird, ist die Beteiligung von zwei intentionalen Instanzen pro Teilszenario für das modale Szenario charakteristisch. Sie ist die Grundlage dafür, dass personaldeiktische und grammatische Relationen regelmäßig auf das modale Szenario abgebildet werden (vgl. die Kapitel 6 und 7). So initiiert die Abbildung der grammatischen Person auf das modale Szenario die Identifikation einer situationsexternen Instanz als modale Quelle mit dem Sprecher als Quelle oder Origo der personalen Deixis; vgl. Du darfst jetzt gehen – ‚Ich erlaube, dass du jetzt gehst‘. Im Fragesatz führt die Rollenzuweisung an den Hörer als Verantwortliche Instanz dazu, dass auch die Modalität auf ihn zurückgeführt wird; vgl. Darf/Kann ich jetzt gehen? – ‚Erlaubst du, dass ich jetzt gehe?‘. Das Verhältnis von Sprech- und Referenzzeit im Tempus kann auf die Instanzen des modalen Szenario abgebildet werden, wenn deren, ganz allgemein angelegte, Intentionalität der retro- und prospektiven Intentionalität der temporalen Bezugspunkte entspricht und der zentrale Partizipant mit der Sprechzeit assoziiert werden kann. Daher kann indikativisches sollte- zum Ausdruck des so genannten historischen Futurs (z.B. Das sollte sich bald ändern) verwendet werden, nicht aber durfte-, das zwar ebenfalls neben dem zentralen Partizipanten eine externe Instanz als Träger der Bedingungsrelation involviert, d.h. zwei Instanzen, die mit Sprech- und Referenzzeit parallelisiert werden könnten, aber nicht in der passenden Verteilung, die der Sprechzeit mit dem zentralen Partizipanten eine retrospektive Haltung und der Referenzzeit mit der externen Instanz eine prospektive Intentionalität zuordnen würde. Abbildung 3.5 veranschaulicht diese Identifikation von relationalen Strukturen beispielhaft für das von sollen aufgerufene Teilszenario.

68 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Abb. 3.5: Abbildung relationaler Strukturen von Fragesatz, grammatischer Person und Indikativ Präteritum auf das von sollen aufgerufene Teilszenario.

Eine besondere Funktion kommt dem Konjunktiv Präteritum zu, der nicht nur eine einfache Relation, sondern, da er die von Konjunktiv und Präteritum jeweils ausgedrückten Relationen vereint, eine faktische Bedingtheit ausdrückt (vgl. dazu Abschnitt 6.5). Wie oben bereits angedeutet, bildet er damit nicht, wie die anderen grammatischen Ausdrücke, eine instanzenbezogene Relation auf das modale Szenario ab. Vielmehr wird er in seiner „besonderen Funktion“ bei den Modalverben regelmäßig dazu verwendet, ausgehend von der vom Modalverb bezeichneten Bedingungsrelation auf die jeweils implizierte zu verweisen. Hier ist nicht zuletzt dürfte- zu nennen, das als Konjunktiv-PräteritumForm die erfahrungs- und erkenntnisbezogene Lesart von dürfen erst begründet, daneben aber auch empfehlendes sollte- in handlungsbezogener Lesart sowie könnte- und müsste-, die ein gewissermaßen „abgeschwächtes“ Können bzw. Müssen bezeichnen (vgl. Abschnitt 6.5). Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Qualität und Organisation der von den Modalverben bezeichneten Bedingungsrelationen in einem szenischen, d.h.

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als Konstellation interagierender Instanzen konzipierten, Modell auf diese Weise erklärend für die vielfältig so genannten formalen Beschränkungen, semantischen Besonderheiten und Idiosynkrasien herangezogen. Dabei stellen sich die vermeintlichen Unregelmäßigkeiten heraus als regelmäßige Abbildungen oder Identifikationen verschiedener grammatischer und semantischer Relationen, ausgedrückt durch die mit dem Modalverb kombinierten grammatischen und lexikalischen Ausdrücke, auf die Strukturen des von einem Modalverb adressierten modalen Szenarios. Diese gemeinsame Beziehbarkeit auf die Strukturen des modalen Szenarios spricht dafür, dass es Aspekte von allgemeinerer Natur enthält, die in der grundsätzlichen Zusammensetzung aus „sprecherartigen“, d.h. intentionalen, Instanzen und den Relationen zwischen ihnen besteht, wobei der Sprecher sich regelmäßig selbst mit einer (oder mehreren) dieser Instanzen identifiziert. Auf derlei Relationen beruhen auch die grammatischen Kategorien des Verbs und deren Beziehbarkeit ist durch die zweiphasige Grundstruktur insgesamt sowie die lexemspezifischen Ausprägungen wesentlich beeinflusst, wie im Folgenden noch im Detail zu zeigen ist (vgl. Kapitel 6). Es soll nun jedoch zunächst die modale Grundstruktur noch ein Stück weit genauer betrachtet, begründet und dabei die relationale Konzeption von Bedingungsrelation und modalisierter Situation unterschieden werden von deren Bedingungsverhältnis als der Relation, die zwischen diesen beiden Relationen besteht, auch um sie hier und in den folgenden Abschnitten 3.2 bis 3.5 mit anderen Beschreibungsmodellen in Beziehung setzen zu können. Die beteiligten Relationen können zunächst als Entsprechungen von Bechs „Modalfaktor“ und „Modalfeld“ angesehen werden, wobei das Modalfeld definiert ist als der „indefinite[n] nexus [...], der aus dem subjekt des modalverbums + dem vom modalverbum regierten infinitiv besteht“ (Bech 1951: 6) und der Modalfaktor als der „faktor [...], der den inhalt des modalfeldes notwendig macht oder fordert, bzw. ermöglicht oder erlaubt“ (ebd.: 7).41 Angewendet auf einen einfachen Satz wie Anna kann singen ist kann als Ausdruck eines Bechschen Modalfaktors zu verstehen, der den Inhalt des Modalfeldes singen (Anna) ermöglicht. Hier werden entsprechend Modalfaktor und Modalfeld als

|| 41 Diewald lehnt sich in der Beschreibung ihrer ebenfalls relationalen Basisstruktur der Modalverbsemantik stark an Bech an, wobei sie jedoch seinen Modalfaktor als „Ausgangspunkt einer Relation“ (Diewald 1999: 94) auffasst und folgert, dass das „Ziel der Relation“ das Modalfeld sein müsse (ebd.: 100). Modalfaktor und Modalfeld erscheinen damit, anders als in der hier vorgeschlagenen Beschreibung, nicht als Relationen, sondern eher als abgegrenzte Entitäten, denen Merkmale wie [+/–REAKTIV] und [+/–INTERN] zukommen.

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relational aufgefasst, so dass der Modalfaktor der Bedingungsrelation, das Modalfeld der modalisierten Situation entspricht. Dafür scheint auch zu sprechen, dass der Modalfaktor mit dem Modalverb immer und das Modalfeld im prototypischen Fall, d.h. in handlungsbezogener Lesart mit verbalem Komplement, durch ein Verb zum Ausdruck kommt.42 Dies ist in Einklang mit der Darstellung bei Bech, in der sich der Modalfaktor als „faktor“ – m.E. die Bezeichnung für eine Relation – auf das Modalfeld bezieht und „in einem nicht-nexuellen nominalbegriff (einem sehr oft persönlichen „agens“ enthalten [...] sein“ kann (Bech 1951: 7, s. Abschnitt 2.3 zur „modalen Quelle“). Das ist ein von der Identität des Modalfaktors mit diesem „Nicht-Nexus“, damit von einem nicht-relationalen Charakter des Modalfaktors als Entität, deutlich verschiedener Sachverhalt (vgl. aber die Auslegung bei Diewald, s. 3.5). Auch Brinkmann versteht die Modalverben vornehmlich als Ausdruck von Relationen, wenn er schreibt: „Sie [die Modalverben, CB] formulieren keine Vorstellungen, sondern Beziehungen, die durch die Verbindung mit einem Infinitivum wirksam werden“ (Brinkmann 1971: 385). Die in den Abschnitten 2.2 und 2.3 zur semantischen Beschreibung der Modalverben eingeführten Merkmale sind dann auch nicht Merkmale des Ausgangspunktes o.Ä. einer Relation, sondern Merkmale der Relation selbst, genauer: die Ausrichtung der Bedingungsrelation in Bezug auf die modalisierte Situation und ihre Verortung in einer, situationsinternen oder situationsexternen, Entität. Eine Relation impliziert natürlich, dass es einen Anfangs- und einen Endpunkt gibt. Insbesondere der Ausgangspunkt der Bedingungsrelation ist jedoch nicht mit der lexikalischen Bedeutung des Modalverbs gegeben. Er wird mit ihr verortet, liegt also bei wollen, mögen, wollen und sollen in einer intentionalen Instanz, und kann mitunter aus dem Kontext erschlossen werden, etwa als Beweggrund für eine Forderung oder Absicht, aber auch unbestimmt bleiben. Als Endpunkt der Bedingungsrelation ist stets der zentrale Partizipant der modalisierten Situation zu sehen,43 indem er von einer Bedingtheit dieser Situation

|| 42 Zur Beschränkung auf dynamische Verbkomplemente für eine solche Gleichsetzung vergleiche man Abschnitt 7.2. Demnach stellt auch ein verbales Komplement in handlungsbezogener Lesart nicht notwendig das Partizipatum der modalisierten Situation dar, sondern wird, wenn es statisch ist, z. B. in Anna soll still sein, als deren Zielzustand aufgefasst. Die modalisierte Situation selbst erscheint dann als dynamische Situation, die diesen Zielzustand hervorbringt, etwa machen (sein (Anna, still)), so dass Anna soll still sein zu verstehen ist als ‚Jemand (u. U. Anna selbst) soll machen, dass Anna still ist‘. 43 Diewald (1999: 118) fasst für die handlungsbezogene (bei ihr: deontische) Lesart das Subjekt des Satzes als Endpunkt einer von ihr angenommen direktivischen Grundlage der Modal-

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maximal betroffen ist und die prädestinierte Stelle in einer Situation ist, an der eine Bedingung angreifen kann. Bedingt ist aber die modalisierte Situation als ganze und der zentrale Partizipant ist auch nur in dieser seiner Rolle innerhalb der modalisierten Situation als Ziel der Bedingungsrelation zu verstehen. Das Bedingungsverhältnis zwischen Bedingungsrelation und modalisierter Situation (Modalfaktor und Modalfeld bei Bech), wie es oben in Abbildung 3.1 dargestellt ist, kann selbst als Relation aufgefasst werden, die in der Abbildung jedoch nicht als Relationspfeil, sondern in Form der linearen Anordnung gegeben ist.44 Die Modalverben werden als Bezeichnungen für Bedingungsrelationen erfasst, so dass die Frage zu beantworten ist, welche Rolle dem Bedingtheitsverhältnis zur modalisierten Situation zukommt. Hier wird vorgeschlagen, dieses Verhältnis als Valenzverhältnis zu erfassen, indem eine modalisierte Situation zwar im Modalverb als Argumentrahmen45 angelegt ist, die modalisierte Situation selbst aber nicht zur lexikalischen Bedeutung des Modalverbs gerechnet werden kann. Gleichwohl ist sie im Argumentrahmen bestimmt als dynamische Situation mit einem intentionalen zentralen Partizipanten und kann gemäß der morphosyntaktischen Valenz des Modalverbs auf unterschiedliche Weise realisiert sein, jedoch nicht beliebig: Das Modalverbkomplement muss immer das Partizipatum der modalisierten Situation spezifizieren, was wiederum durch die Bezeichnung für das Partizipatum, d.h. einen dynamisch-relationalen Ausdruck (dynamische VP

|| verbbedeutung auf. Diese Beschreibung ist aber bereits für Verwendungen mit passivischem Komplement, z. B. Es soll gesungen werden im Gegensatz zu Anna soll singen, nicht mehr zutreffend und muss für andere Lesarten erst recht abgeändert werden. 44 Bei Kratzer (vgl. Abschnitt 3.2) erscheint es als logisch implikatives Verhältnis zwischen einem kontextuell gegebenem Redehintergrund und der modalisierten Proposition. Bei Talmy (vgl. Abschnitt 3.4) ist es als Kausalbeziehung zwischen einem Kräfteinteraktionsmuster und dessen Resultat gegeben, das in der Handlung oder dem Verharren, d. h. der Nicht-Handlung, bestehen kann. Ehlich/Rehbein (vgl. Abschnitt 3.3) beschreiben das entsprechende Verhältnis als sequenzielle Beziehung zwischen Handlungsvorbereitungen und der Handlung selbst. Diewald (vgl. Abschnitt 3.5) sieht hier Ausgangspunkt und Ziel einer Direktive, wobei das Modalverb den resultativen Zustand dieser Direktive bezeichnet. 45 Lehmann (vgl. 1992b: 444f.) legt den Begriff „Valenz“ auf die grammatischen oder strukturellen Relationalität eines Ausdrucks, genauer: eines Lexems, fest, so dass für das semantische Pendant alternative Termini wie „Argumentrahmen“ zu verwenden seien. Es handele sich um eine „Entscheidung [...] ausschließlich terminologischer Natur“ die aus „Erwägungen der terminologischen Kontinuität von Forschungstraditionen und der begrifflichen Konsistenz in Termini, die mit Valenz zusammengesetzt sind“ (ebd.: 444). Im Rahmen dieser Arbeit wird alternativ von der semantischer Valenz oder dem Argumentrahmen des Modalverbs gesprochen.

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oder direktionale PP /AdvP), oder für das Thema der Situation (statische VP oder NP ) geschehen kann (vgl. Abschnitt 7.1).46 Indem damit aufgrund der in der Modalverbbedeutung angelegten semantischen Valenz oder ihres Argumentrahmens auch die Ausdrücke, mit denen die Ergänzung realisiert wird, nicht beliebig sind, kann auch allgemeiner von einer Valenz der Modalverben gesprochen werden, die eine semantische Grundlage hat und sich formal niederschlägt in den Ausdrücken, mit denen sie im bzw. zum Satz kombiniert werden (vgl. Abschnitt 7.1). Die Modalverben werden damit hier nicht als Ausdruck der Bedingtheitsrelation zwischen Bedingungsrelation und modalisierter Situation beschrieben, sondern als Ausdruck des ersten dieser beiden Relata, der Bedingungsrelation, wobei die Relata selbst Relationen sind, was zwar verwirren mag, sonst aber nichts zur Sache tut. Dafür spricht auch, dass außer der dargestellten Situation, die die modalisierte Situation spezifiziert, kein zweites Relatum im Satz gegeben ist, auf das eine vom Modalverb bezeichnete Bedingtheitsrelation bezogen werden könnte. Vielmehr bezeichnet das Modalverb selbst dieses Relatum; die Bedingtheitsrelation ist syntaktisch etabliert. In der Semantik des Modalverbs ist die Bedingungsrelation lexemspezifisch hinsichtlich modaler Relation und modaler Quelle qualifiziert (vgl. die Abschnitte 2.2 und 2.3) und ihr Bedingungsverhältnis zu einer modalisierten Situation angelegt. Zur Verdeutlichung vergleiche man die Verhältnisse bei einem gewöhnlichen Verb wie geben in Anna gibt Peter ein Buch. Dessen Bedeutung wird wohl normalerweise beschrieben als Ausdruck einer bestimmten Art von (hier: dynamischer) Relation, die zwischen den Referenten von Anna, Peter und ein Buch besteht, wobei der Referent von Anna das Agens als Ausgangspunkt, der Referent von Peter den Rezipienten als Ziel und der Referent von ein Buch das Thema ist. Geben qualifiziert die Relation und beinhaltet Vorgaben über die Zahl und Art der Partizipanten, z.B. die Belebtheit von Agens und Rezipienten, sowie über ihre ausdrucksseitige Realisierung im nominativischen Subjekt, Dativ- und Akkusativobjekt; das bezeichnet man als die Valenz des Verbs. Dies entspricht der hier vorgeschlagenen Beschreibung der Modalverbbedeutung als spezifische Bedingungsrelation und legt nahe, das Verhältnis zur modalisierten Situation als von einer semantischen Valenz gesteuerte Ergänzung zu betrachten, wobei die Valenz als Forderung nach Ergänzung samt der Vorgaben für die Ergänzung zur lexikalischen Semantik des Modalverbs zu rechnen ist, nicht aber die modalisierte Situation selbst. || 46 Auch kann eine pronominale NPAkk anaphorisch auf eine dynamische Verbalphrase verweisen; vgl. Anna backt einen Kuchen, obwohl sie das nicht soll.

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Zur Argumentforderung bezüglich der Ergänzung gehören Dynamizität und Intentionalität der modalisierten Situation. Dynamizität ergibt sich schon aus dem Verhältnis faktischer Bedingtheit selbst, das mit der bedingten Faktizität die Möglichkeit einer Auslösung und Realisierung in der Zeit impliziert. Intentionalität ist als Eigenschaft des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation vorgesehen, über den die Bedingtheit etabliert ist.47 Er ist der Teil der modalisierten Situation, an dem die Bedingungsrelation greift, d.h. ihr Angriffspunkt, und kann damit auch als Endpunkt der Bedingungsrelation betrachtet werden. Doch erst die modalisierte Situation als ganze, in Hinblick auf die der zentrale Partizipant ja auch nur als solcher verstanden werden kann, ist als Ziel der Bedingungsrelation, als durch sie Betroffenes, genauer: Bedingtes, zu verstehen. Dass es formal mehrere Möglichkeiten gibt, ein Modalverb zu komplementieren, hängt auch damit zusammen, dass es sich bei einer Situation um eine komplexe semantische Einheit handelt, die ohnehin immer nur selektiv dargestellt werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es unproblematisch, dass die im Satz mit Modalverb dargestellte Situation nicht zwingend mit der modalisierten Situation zusammenfällt bzw. in erfahrungs- und erkenntnisbezogener Lesart regelmäßig nur den thematischen Partizipanten als Teil der modalisierten Situation angibt. Anhand der verschiedenen Möglichkeiten, ein Modalverb formal zu komplementieren, lassen sich die Interpretationsprozesse aufzeigen, die auch für die Entstehung der Lesarten konstitutiv sind: Als einfachster Fall mag wohl gelten, wenn ein dynamisches Verbkomplement vorliegt, das einen intentionalen Partizipanten verlangt, z.B. in Anna will ein Eis essen, wo essen das dynamische Partizipatum bezeichnet, mit Anna und ein Eis die Partizipanten gegeben sind und der Referent von Anna eine Person, somit eine intentionale Instanz bezeichnet. Dargestellt ist hier eine Situation, die die Valenz des Modalverbs erfüllt, so dass diese dargestellte Situation mit der modalisierten Situation zusammenfällt. Das Modalverb wird handlungsbezogen gelesen, genauer: (i.e.S.) volitiv, als Ausdruck von Voraussetzungen für die Realisierung der im Verbkomplement essen mit seinen Ergänzungen ausgedrückten (Essens-)Situation als Handlung. Man vergleiche dazu die Darstellung in Abbildung 3.6.

|| 47 Das ‚element of will‘ im Sinne Jespersens (1968: 320f.) bzw. die ihm entsprechende ‚force‘ bei Heine (1995: 29), die als distinktives Merkmal der handlungsbezogenen Lesart angegeben wird, erscheinen vor diesem Hintergrund nur als besondere Form von Intentionalität.

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Abb. 3.6: Wollen in handlungsbezogener (i.e.S. volitiver) Lesart mit intentionalem dynamischem Verbkomplement und Zusammenfall von dargestellter und modalisierter Situation am Beispiel Anna will ein Eis essen.

Nun gibt es zweitens auch Verwendungen, in denen kein verbales Komplement vorliegt, sondern nur ein Akkusativ-Objekt wie in Anna will ein Eis. Hier werden die Referenten von Anna und ein Eis ebenfalls als Partizipanten der modalisierten Situation aufgefasst. Was gegenüber dem ersten Fall fehlt, ist ein dynamisches Verb als expliziter Ausdruck des Partizipatums der modalisierten Situation. Aufgrund des implikativen Gefüges von Bedingungsrelationen, kann dieses aber aus dem modalen Szenario entnommen werden und die ausdrucksseitig gegebenen Teile der modalisierten Situation ergänzen. In Anna will ein Eis erscheint so die modalisierte Situation nicht zufällig als eine BekommenSituation, in der Anna die Rolle eines Rezipienten zukommt (vgl. dazu ausführlich Abschnitt 7.1). Wie in Abbildung 3.7 deutlich wird, ergibt sich dies, indem die der wollen-Bedingungsrelation opponierende Bedingungsrelation als Partizipatum der modalisierten Situation erscheint. Als Bekommen-Situation ist sie auch qualifiziert durch die Art der beteiligten Partizipanten, die mit den Referenten von Anna als Person und ein Eis als Gegenstand gegeben sind. Abbildung 3.7 zeigt, wie sich durch die Ableitung des Partizipatums aus dem modalen Szenario die modalisierte Bekommen-Situation ergibt.

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Abb. 3.7: Wollen in handlungsbezogener (volitiver) Lesart mit nominalem Komplement als THEMA der modalisierten Situation am Beispiel Anna will ein Eis.

Dass Anna will ein Eis auch verstanden werden kann im Sinne von Anna will ein Eis haben oder Anna will ein Eis essen, lässt sich durch weitere finale Implikationen erklären, in die intentionale Handlungen häufig eingebettet erscheinen (vgl. v.a. zu (nicht) brauchen in Abschnitt 4.7): ‚Anna will ein Eis bekommen, so dass sie es hat, um es zu essen‘. Dieser Fall mit nominalem Komplement ist insofern einschlägig für die gesamte Bedeutungsbeschreibung der Modalverben, indem er deutlich macht, dass das Partizipatum der modalisierten Situation nicht notwendig im Satz gegeben sein muss und wie in einem solchen Fall das modale Szenario als Spenderdomäne eintritt. Während die Verwendungen mit nominalem Komplement eher selten sind und in der Beschreibung der Modalverben oft, mitunter als Vollverbverwendungen, ausgeklammert werden, wird der erkenntnisbezogenen Lesart große Aufmerksamkeit zuteil. Ihr Zustandekommen lässt sich, so eine zentrale These der hier vorgeschlagenen Beschreibung, analog zu Fällen mit nominalem Komplement beschreiben als valenzgerechte Interpretation der ausdrucksseitig gegebenen, d.h. dargestellten, Teile der modalisierten Situation. Betrachtet man den Satz Anna will ein Eis gegessen haben im Sinne von ‚Anna behauptet, ein Eis gegessen zu haben‘, d.h. in quotativer Lesart, scheint zunächst ein ähnlicher Fall vorzuliegen wie in Anna will ein Eis essen, indem beide Sätze ein verbales Komplement enthalten. Dennoch ist die Interpretation deutlich verschieden, was in vielen semantischen Beschreibungen der Modalverben zwar erfasst, aber nicht aus der Bedeutung der Modalverben selbst erklärbar wird. Eine Möglichkeit der Erklärung liefert die hier angenommene semantische Valenz mit ihrer oben genannten Bestimmung der modalisierten Situation als dynamisch und intentional. Die im verbalen Komplement mit seinen Ergänzungen ausgedrückte Situation erfüllt beide Kriterien nicht: haben

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(GE (essen (Anna, ein Eis))) bzw. PERF (essen (Anna, ein Eis)) ist ein Zustand, der das Bestehen eines Sachverhalts bezeichnet, der nicht dynamisch, d.h. sich in der Zeit verändernd, sondern statisch, d.h. zeitstabil, ist (vgl. z.B. Lehmann 1992a: 161f.). Auch wird dieser Zustand von niemandem intendiert, sondern ist bereits bestehendes Faktum.48 Wie in Verwendungen mit nominalem Komplement wird daher in einer valenzgerechten Lesart dieser Zustand als Partizipant einer intendierten und dynamischen modalisierten Situation interpretiert. Das bedeutet auch, dass er nicht mehr relational, sondern als Entität, genauer als Proposition, d.h. als Entität dritter Ordnung nach Lyons (1977: 443), aufgefasst wird. Das Partizipatum wird aus dem modalen Szenario entnommen und besteht auch hier in einer der wollen-Relation opponierenden Relationen. Indem eine Proposition als ihr Gegenstand erscheint und nur bestimmte Relationen, genauer Intentionalitäten, auf Propositionen bezogen sind, erscheint hier die dürfenRelation als Partizipatum der modalisierten Situation. Als [+REAKTIVE] Relation, die durch die volitive propositionsbezogene Haltung einer anderen persönlichen Instanz bedingt ist, lässt sich diese als Zustimmung, Anerkennung o.Ä. charakterisieren, so dass die vom will ausgedrückte Intention als Wunsch oder Wille nach bzw. Absicht auf Zustimmung erscheint, was der obigen Paraphrase mit behaupten entspricht.49 In Abbildung 3.8 sind diese Verhältnisse für das Beispiel Anna will ein Eis gegessen haben dargestellt.

|| 48 Eine handlungsbezogene Lesart von Anna will ein Eis gegessen haben ist denkbar, in der der Zustand 49 nicht als bereits bestehend, sondern intendiert, somit noch herbeizuführend, erscheint: Wenn Anna sich etwa vornimmt, bis zum Abend ein Eis gegessen zu haben, könnte man den Satz zur Bezeichnung dieser Verhältnisse verwenden. Haben (GE (essen (Anna, ein Eis))) fällt auch dann nicht mit der modalisierten Situation zusammen, sondern bezeichnet ihren resultativen Zielzustand. Zu diesen Fällen vergleiche man Kapitel 7. 49 Ehlich/Rehbein (1972: 338) sprechen davon, dass der Adressat der Äußerung „den assertorischen Charakter des Sprechakts [...] übernimmt“; vgl. Abschnitt 3.3 zu ihrem pragmatisch angelegten Modell.

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Abb. 3.8: Wollen in erkenntnisbezogener (quotativer) Lesart mit statischem verbalem Komplement als Thema der modalisierten Situation am Beispiel Anna will ein Eis gegessen haben.

Die der Bekommen-Situation in Fällen mit nominalem Komplement analoge Konzeption scheint sich auch im Ausdruck jemandem Recht geben wiederzufinden. Die weiter mit dem modalen Szenario gegebene Instanz, die potenziell Agens der modalisierten Zustimmen-Situation ist, kann mit dem Sprecher identifiziert werden. In ihrer Intentionalität erscheint sie der wollen-Relation entgegengesetzt, woraus sich die Distanzierung erklären mag, die mit der quotativen Lesart von wollen einhergeht.50 Wie damit beispielhaft für wollen skizziert wurde, liefert eine semantische Valenz der Modalverben zusammen mit dem szenisch organisierten Gefüge der Bedingungsrelationen eine Möglichkeit, die Entstehung einer konkreten Lesart synchron kompositionell aus der lexikalischen Semantik des jeweiligen Modalverbs zu erklären. In Kapitel 4 werden diese Interpretationsprozesse für die verschiedenen Modalverblexeme gesondert und in den sich aus der jeweiligen lexikalischen Bedeutung ergebenden Spezifika betrachtet.

|| 50 Derartige von der semantischen Valenz eines Ausdrucks ausgelöste Interpretationsprozesse sind dabei keineswegs auf die Modalverben beschränkt. Der Progressiv am Xen sein erscheint im Deutschen auf atelische dynamische Verben, mithin entsprechende Situationen, beschränkt, z. B. Ich bin am schlafen (vgl. Rothstein 2007: 9). Verwendungen mit telischen, ja sogar punktuellen, Verben sind dennoch möglich; vgl. ich bin (schon die ganze Zeit) am aufbrechen/kündigen. Bei Äußerungen dieser Art wird nicht die vom Verb bezeichnete Situation, also der Aufbruch oder die Kündigung selbst, als im Verlauf befindlich dargestellt, sondern eine entsprechende atelische Situation, die den Aufbruch bzw. die Kündigung zum Gegenstand hat, etwa die Überlegung, Absicht, Planung oder Vorbereitung bezüglich der jeweiligen telischen Handlung.

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In der Literatur wurden Interpretationsprozesse dieser Art in Anschluss an David Lewis (1979) als Anwendung von „Rules of Accommodation“ beschrieben, also als Entgegenkommen des Sprechers, indem er gegebene sprachlichen Ausdrücke im Sinne der Vorgaben interpretiert, die kombinierte Ausdrücke stellen. So führt Kratzer (1981: 61ff.) aus, wie über ein solches Entgegenkommen der lesartspezifische Bezugsrahmen („Redehintergrund“, vgl. Abschnitt 3.2) für die Verwendung eines Modalverbs entsteht, d.h. die Zielvorstellungen („ideals“) in Hinblick auf die die im Modalverb ausgedrückte Modalität besteht. Maché (2013: 257f.) bezieht dieses Verfahren auf den diachronen Übergang zwischen den Modalverblesarten. Von Maienborn (2003: 178ff., 193ff.) übernimmt er die Konzepte eines Temporaritäts- und eines Agentivitätseffekt als pragmatische Reparaturmechanismen. Maienborn beschreibt diese Effekte für Kopulakonstruktionen mit sein wie Heidi war in der Disco müde und Heidi war mit dem Auto in der Stadt, in denen der in der jeweiligen Kopulakonstruktion ausgedrückte Zustand müde sein bzw. in der Stadt sein aufgrund der Modifikation mit in der Disco bzw. mit dem Auto als zeitlich begrenzter Zustand bzw. agentivische Handlung aufgefasst wird, obwohl müde sein und in der Stadt sein, jeweils als Ausdruck eines atelischen Zustands, diese Bedeutung nicht vorsehen. Maché sieht einen entsprechenden Effekt für Sätze mit Modalverb, die ein statisches Komplement aufweisen: Durch Temporaritäts- und Agentivitätseffekt kann ein Satz wie Benedikt XVI. muss fromm sein handlungsbezogen gelesen werden, indem nämlich fromm sein als zeitlich beschränkte, agentivisch gesteuerte Handlung aufgefasst werde (vgl. Maché 2013: 257). Erst, so Maché (ebd.: 258), wenn eine Kopulakonstruktion, die hier als dargestellte Situation sein (Benedikt XVI., fromm) erscheint, ein Individuenprädikat benennt, das als Eigenschaft untrennbar mit seinem Träger verbunden ist, z.B. in Benedikt XVI. muss am 16. April 1927 geboren worden sein, unterbleibe der Reparaturmechanismus und es trete notwendig die erkenntnisbezogene Lesart ein. Das Aufkommen und die zunehmende Etablierung der erkenntnisbezogenen Lesart seien dann so zu erklären, dass neue Sprechergenerationen den Reparaturmechanismus in Fällen, in denen er noch möglich war, nicht mehr dekodieren konnten und entsprechende Belege erkenntnisbezogen und damit, so Maché, ökonomischer reinterpretiert haben, indem diese Lesart keinen Reparaturmechanismus erfordere (vgl. ebd.: 8, 430). Diese Erklärung zum diachronen Übergang zwischen des Lesarten ist sehr plausibel. Der spezifische semantische Unterschied, der zwischen handlungsund erkenntnisbezogener Lesart besteht, ist damit jedoch noch nicht erfasst. Es ist nicht klar, wie sich aus der handlungsbezogenen Lesart einer Unerlässlichkeit durch Unterbleiben einer pragmatischen Reparatur die erkenntnisbezogene

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Lesart einer starken Vermutung ergibt, wo das semantische Bindeglied zwischen beiden Lesarten ist. Der in einigen Fällen fast identische kommunikative Effekt beider Lesarten (vgl. Maché 2013: 61) erklärt sicher die Möglichkeit des Übergangs, nicht jedoch die Qualität des Ergebnisses. Vielmehr müssen die Lesarten schon als in ihrer jeweiligen Bedeutung bestehend vorausgesetzt werden, wenn davon die Rede ist, dass die erkenntnisbezogene Lesart ohne Reparaturmechanismus eintritt. Mit dem modalen Szenario und einer allen Lesarten gemeinsamen Bedeutung inklusive semantischer Valenz wird hier eine Beschreibung der Modalverben vorgeschlagen, die gerade auch die erkenntnisbezogene Lesart versteht als Ergebnis valenzgerechter Interpretation, die der „Rule of Accommodation“ bei Kratzer (1981: 61) oder dem „pragmatischen Reparaturmechanismus“ bei Maché (2013: 438) entspricht, jedoch mit Bezug auf eine einzige lexikalischen Bedeutung. Während für eine handlungsbezogene Interpretation innerhalb der dargestellten Situation ein Agens identifiziert wird, das zur Erfüllung der semantischen Valenz des Modalverbs beiträgt, tritt in erkenntnisbezogener Lesart der Sprecher selbst in die Rolle des zentralen Partizipanten. Die spezifische Qualität der resultierenden Lesart, dass das Modalverb als Ausdruck einer bedingten Erkenntnis, somit einer propositionalen Einstellung, etwa als Annahme oder Vermutung, erscheint, ergibt sich erst aus diesem Interpretationsmechanismus, in dem die dargestellte Situation als Thema (oder Stimulus) der modalisierten Situation, somit als abgegrenzte Entität und als solche aufgrund ihrer komplexen Beschaffenheit mit verbalem Kern als Proposition erscheint. Die modalisierte Situation ist mit diesem propositionalen Partizipanten als Erkenntnissituation spezifiziert, für die in einer gegebenen Äußerungssituation nur der aktuelle Sprecher verantwortlich zeichnen kann und so mit dem zentralen Partizipanten identifiziert wird. Ihr Partizipatum ergibt sich als jeweils opponierende Relation aus dem Bedingungsgefüge des modalen Szenarios, was auch die lexemabhängige Qualität der erkenntnisbezogenen Lesart sowie auftretende formale Besonderheiten und Beschränkungen erklärt, die im Einzelnen in Kapitel 4 erläutert und mit Beispielen veranschaulicht werden. Diese systematische Ableitung ist m.E. auch ein Vorteil gegenüber Ansätzen, die erkenntnisbezogene Modalität ansehen als metaphorische Übertragung der handlungsbezogenen Modalität aus der soziophysischen Welt in die epistemische Welt (vgl. Sweetser 1988: 492), da das Verfahren dieser metaphorischen Übertragung nur schwer greifbar ist. Für die im Rahmen dieser Arbeit als erfahrungsbezogen unterschiedene dritte Lesart verhält es sich entsprechend. Nur werden hier nicht zentraler Partizipant und Partizipatum der modalisierten Situation aus dem modalen

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Szenario rekonstruiert, sondern es bedarf bei einer gegebenen dynamischen Situation nur der Ergänzung des intentionalen zentralen Partizipanten, durch die ein unkontrollierter Vorgang zur intentionalen Erfahrungssituation wird. Auch dieses Verfahren wird in Kapitel 4 einzellexemspezifisch anhand von Belegen aus dem LIMAS-Korpus nachvollzogen. Das modale Szenario als abstrakte Basis für die Abbildung von grammatischen relationalen Strukturen, wie es oben für sollen angedeutet wurde (vgl. Abbildung 3.5), ist Gegenstand der Kapitel 6 und 7. In Kapitel 6 wird dabei außerdem ausgeführt, inwiefern das es als Verweisraum für den Konjunktiv Präteritum genutzt werden kann, was die besonderen Bedeutungen der KonjunktivPräteritum-Formen der Modalverben als semantische Modifikationen erklärbar macht. Zunächst mögen aber die folgenden Abschnitten 3.2 bis 3.5 der weiteren Verdeutlichung des hier vorgeschlagenen Modells multipler Bedingtheit und valenzgerechter Interpretation dienen, indem hier vier ähnlich allgemein angelegte Beschreibungsmodelle in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden vorgestellt werden: Mit Kratzers formallogischer Beschreibung teilt das modale Szenario die Annahme einer einheitlichen Bedeutung jedes Modalverblexems in allen seinen Verwendungen (vgl. Abschnitt 3.2). Ehlich/Rehbeins (1972) pragmatische Interrelationen stellen auf gleiche Weise die intentionale Instanz in den Mittelpunkt ihrer Beschreibung, die sich mit den Gegebenheiten, die sie in der Welt vorfindet, inklusive anderer intentionaler Instanzen, auseinandersetzt, und liefern mit ihrem Schema einer phasischen Handlungsplanung eine außersprachliche Begründung für die Implikationen zwischen den Bedingungsrelationen im modalen Szenario (vgl. Abschnitt 3.3). Die grundsätzliche Beteiligung und gegenseitige Implikation mehrerer modaler Relationen, findet sich im kognitionslinguistischen Modell der „force dynamics“ von Talmy (1988) wieder, der statt von Bedingungsrelationen von opponierenden Kräften spricht (vgl. Abschnitt 3.4). Den Anspruch eines Beschreibungsmodells, dass die (hier: synchronen, dort: diachronen) Beziehungen sowie die Interaktion mit den grammatischen Kategorien zu erfassen vermag, hat das modale Szenario mit Diewalds (1999) direktivebasiertem Modell gemeinsam, das auf die Grammatikalisierung der erkenntnisbezogenen gegenüber der handlungsbezogenen Lesart zielt (vgl. Abschnitt 3.5).

Kratzer (1976, 1981, 1991): mögliche Welten und Redehintergründe | 81

3.2 Formalsemantische Beschreibung bei Angelika Kratzer (1976, 1981, 1991): mögliche Welten und Redehintergründe Die Arbeiten Angelika Kratzers (vgl. z.B. 1976, 1981, 1991, 2012) liefern eine formallogische Bedeutungsbeschreibung der deutschen Modalverben in den Begriffen der Mögliche-Welten-Theorie.51 Das explizite Ziel ist es, „einen nichttrivialen gemeinsamen Bedeutungskern“ (Kratzer 1976: 3) aller Verwendungen, d.h. insbesondere der verschiedenen Lesarten, eines Modalverbs zu erfassen. Kratzer proklamiert damit, dass es einen solchen gemeinsamen Bedeutungskern aller Verwendungen etwa von müssen gebe, was spätestens deutlich werde, wenn man die verschiedenen Lesarten des Modalverbs mit Fällen von Homonymie, etwa dem Zahlwort sieben und dem transitiven Verb sieben vergleicht. Diesen Bedeutungskern zu beschreiben sei Aufgabe der Semantik als Wissenschaft bzw. als Teilbereich verschiedener Wissenschaften wie der Linguistik und der Philosophie (ebd.: 2). Diese Grundannahme einer einheitlichen Bedeutung, die es zu beschreiben gilt, hat die hier vorgeschlagene Bedeutungsbeschreibung der Modalverbsemantik mit Kratzers Arbeit gemeinsam: Die Bedeutung eines Modalverbs als spezifische Teilbedingung für eine intentionale dynamische Situation inklusive der im Modalverb angelegten semantischen Valenz, die die Ergänzung einer solchen Situation fordert, stellt einen ebensolchen allen Verwendungen gemeinsamen Bedeutungskern dar, der der lexikalischen Einheit eines Modalverbs Rechnung trägt, also dem Zusammenhang aller Verwendungen, der sie von reiner Homonymie wie bei sieben unterscheidet. Es muss freilich gezeigt werden, dass ein solcher Bedeutungskern kompatibel ist mit den beobachtbaren Verwendungen der Modalverben, mehr noch: Im besten Fall sollte er eine Erklärung liefern, wie der Sprecher in einem gegebenen Kontext ein Modalverb im Sinne der einen oder anderen Lesart verwenden bzw. interpretieren kann. Kratzer (1976: 3) zeigt den gleich bleibenden Bedeutungskern eines Modalverbs in Verwendungen verschiedener Lesart auf, indem sie den die Lesarten || 51 Kern dieser Theorie, die in ihren Grundzügen auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgeführt wird, ist es, die Bedeutung einer Proposition, d. h. einer wahrheitsfähigen, satzwertigen Aussage, zu beschreiben als Menge möglicher, d. h. denkbarer, Welten, in denen diese Proposition wahr ist. Jemand, der die Bedeutung einer Proposition kennt, weiß, wie die Dinge in der Welt sein müssen, damit sie wahr ist, kann also für eine gegebene Welt entscheiden, ob die Proposition in ihr wahr oder falsch ist. Als einer der bekanntesten Vertreter der Mögliche-WeltenTheorie gilt David Lewis, auf den Kratzer sich vor allem bei der Einführung der „Ordnungsquelle“ (s. u.) beruft (vgl. 1981: 47, 1991: 644; s. Lewis 1981).

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mutmaßlich unterscheidenden Aspekt in einer Paraphrase separat erfasst mit im Hinblick auf X; in (37) und (38) sind Kratzers Beispiele wiedergegeben, wobei müssen in (37) handlungsbezogen gelesen wird und in (38) erkenntnisbezogen: (37) (38)

Alle Maori-Kinder müssen die Namen ihrer Vorfahren auswendig lernen. (Kratzer 1976: 2) Die Vorfahren der Maori müssen vor einigen hundert Jahren aus Tahiti gekommen sein. (ebd.)

In den Paraphrasen in (37)' und (38)' ist in müssen seine Kernbedeutung „isoliert“, indem der jeweils lesartspezifische Anteil in eine „Im-Hinblick-auf“Phrase ausgelagert wurde. (37)' (38)'

Im Hinblick darauf, was ihre Pflicht ist, müssen alle Maori-Kinder die Namen ihrer Vorfahren auswendig lernen. (Kratzer 1976: 3) Im Hinblick darauf, was bekannt ist, müssen die Vorfahren der Maori vor einigen hundert Jahren aus Tahiti gekommen sein. (ebd.)

Zur Kernbedeutung des Modalverbs, im vorliegenden Beispiel: müssen, gehört nun, was das isolierte müssen in den Paraphrasen (37)' und (38)' ausdrückt. Dies ist nach Kratzer die modale Relation einer einfachen Notwendigkeit (vgl. 1981: 45, zur modalen Relation allgemein siehe Abschnitt 2.2). Die Bedeutung von müssen ist jedoch noch nicht hinreichend erfasst, indem in ihr angelegt ist, dass sich die modale Relation, hier: Notwendigkeit, immer auf eine „Im-Hinblick-auf“-Phrase bzw. darin explizierte Information bezieht. Kratzer formuliert in diesem Sinne, dass es Teil der gleichbleibenden Bedeutung eines Modalverbs ist, dass es immer in einer bestimmten Lesart erscheint (vgl. 1976: 12). Sie nimmt also einen variablen Teil des Bedeutungskerns an. Dieser grundsätzlichen Bezogenheit von Modalverben und anderen modalen Ausdrücken auf so genannte „Redehintergründe“ ist eine Grundthese des Kratzerschen Beschreibungsmodells. Sie spricht in diesem Zusammenhang von „relativer Modalität“ (vgl. 1976: 1ff., 1991: 639f.) und auch andere Autoren beziehen sich auf ihre Theorie unter diesem Namen (vgl. z.B. Dietrich 1992 oder auch Ehrich 2001: 153). Die Information, die paraphrasierbar ist als Angabe in einer „Im-Hinblickauf“-Phrase, d.h. was die Pflicht der Maori-Kinder ist in (37)' und was bekannt ist in (38)', und immer aus dem Kontext ergänzt werden muss, bezeichnet Kratzer

Kratzer (1976, 1981, 1991): mögliche Welten und Redehintergründe | 83

als „Redehintergrund“ bzw. „conversational background“ (1981: 43, 1991: 641, 2012: 32f.).52 Der Redehintergrund ist meist nicht explizit im Satz gegeben, sondern ist aus dem Kontext zu entnehmen. Äußerungen mit Modalverben sind nach Kratzer daher „in gewisser Hinsicht elliptisch“, wobei sie diese Umschreibung selbst problematisiert (vgl. 1976: 5). Definiert ist ein Redehintergrund als Funktion f(x), die für eine mögliche Welt w eine Menge von Propositionen bestimmt, genauer: diejenigen Propositionen die das, was in der „Im-Hinblick-auf“-Phrase ergänzt wird, bezeichnen, also etwa alle Dinge, die Pflicht der Maori-Kinder sind oder alle Dinge, die bekannt sind.53 Eine Notwendigkeit bezeichnet nun die logische Folge oder Konsequenz der vom Modalverb modalisierten Proposition aus dem jeweils kontextuell gegebenen Redehintergrund, d.h. das quantitative Verhältnis, nach dem in jeder Welt, die Teil des Redehintergrundes ist, auch die modalisierte Proposition wahr ist. Im Gegensatz dazu ist die modale Relation der Möglichkeit definiert als logische Kompatibilität mit dem jeweiligen Redehintergrund, d.h. dass die modalisierte Proposition in mindestens einer Welt aus dem Redehintergrund wahr ist (vgl. ebd.: 7, 11, Kratzer 1981: 43, Kratzer 1991: 641f.). Die bisherige Beschreibung der Modalverbbedeutung umfasst verschiedene Arten von Notwendigkeit und Möglichkeit als Konsequenz bzw. Kompatibilität eines Satzes α aus bzw. mit einem Redehintergrund f(w); formaler wird diese Definition für müssen gefasst mit [muss|α]f = {w ∈ W: [α]f folgt aus f(w)} bzw. für können mit [kann|α]f = [w ∈ W: [α]f ist kompatibel mit f(w)}.54 Ist diese Folge- bzw. Kompatibilitätsbeziehung zwischen dem Satzinhalt und dem Redehintergrund in einer Welt (w ∈ W) gegeben, ist die zugehörige Aussage mit müssen bzw. können in dieser Welt wahr. Die Annahme, dass Not|| 52 An Kratzers Konzept der Redehintergründe schließt auch die semantische Beschreibung der Modalverben in der IDS-Grammatik an, die explizit von einer Bedeutung pro Modalverb ausgeht, die jedoch mehrere Redehintergünde umfassen könne (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1267). Konkret werden epistemische, normative, teleologische, volitive und circumstantielle Verwendungen erscheinen, die jedoch nicht alle für jedes Modalverb relevant sind (vgl. auch Duden 2005: 563). 53 Der Teil, in dem Kratzer diese Definition spezifiziert, um dem Problem des „ex falso quodlibet“ zu begegnen, d. h. der Tatsache, dass auch inkonsistenten Mengen von Propositionen alles folgt, was im Falle von inkonsistenten Redehintergründen zu beliebigen Folgerungen führen würde (vgl. Kratzer 1976: 17ff., Kratzer 1981: 12ff.), wird hier ausgespart. Zum Verständnis der Grundidee dieses Beschreibungsmodells ist dieser Aspekt m. E. nicht notwendig. 54 Diese Darstellung wird hier und ein weiteres Mal in einer Fußnote weiter unten nur aufgegriffen, weil sie das Pendant zu den grafischen Darstellungen in den anderen Modellen inklusive des hier verwendeten modalen Szenarios bildet.

84 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

wendigkeit und Möglichkeit sich als Implikation bzw. Negation der negativen Implikation, d.h. Konsequenz bzw. Kompatibilität, einer Proposition beschreiben lassen, entspricht der im modalen Szenario vorgeschlagenen Beschreibung der Modalverbbedeutungen als Bedingungen für eine modalisierte Situation. In Abschnitt 2.2 wurde beschrieben, dass zumindest in handlungsbezogener Lesart das Merkmal der Reaktivität einer Bedingungsrelation für die Notwendigkeitsmodalverben als Ausdruck des Bestehens einer [-REAKTIVEN] Bedingung, für die Möglichkeitsmodalverben als Ausdruck der Abwesenheit (Negation) einer [+REAKTIVEN] Bedingung gefasst werden kann. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Bedingungen im modalen Szenario immer als Teilbedingungen in einer komplexen Bedingtheitsstruktur erscheinen, was auch zur Folge hat, dass mit dem Bestehen einer Bedingung die Situation noch keineswegs entschieden ist, sondern vielmehr die Frage nach den Co-Bedingungen aufkommt. Kratzer zeigt, dass sich die Folge- bzw. Kompatibilitätsbeziehung auch beschreiben lässt als Zugänglichkeitsrelation zwischen der im Satz dargestellten Situation und den vom Redehintergrund benannten Welten, so dass können die Zugänglichkeit zu mindestens einer möglichen Welt, müssen die Zugänglichkeit zu allen möglichen Welten eines Redehintergrundes ausdrückt (vgl. 1981: 641f.). Diese Redeweise wird im Folgenden noch aufgegriffen. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass durch den Redehintergrund nicht nur die Lesarten unterschieden werden, die sich für jedes Lexem beobachten lassen, wie hier in Abschnitt 2.4 beschrieben. Auch die lexikalischen Unterschiede, z.B. zwischen sollen, wollen und müssen, werden durch die Annahme verschiedener Redehintergründe erfasst, die beschrieben werden als was Pflicht ist, was (zum Erreichen eines Ziels) notwendig ist und was gewollt ist und die Kratzer u.a. als deontische, teleologische und buletische Redegründe unterscheidet (vgl. ebd.: 44f., Kratzer 2012: 32f.).55 Die erkenntnisbezogene Lesart hat damit nicht den Sonderstatus, der ihr in der Unterscheidung von zwei oder drei Lesarten für jedes Modalverblexem zukommt, sondern besteht, wie die Unterscheidung der verschiedenen lexikalischen Bedeutungen, in der Spezifikation des Redehintergrundes als „epistemisch“ im Sinne von was die verfügbare Evidenz ist bei Kratzer (1991: 644).56 Erweitert wird Kratzers Modell schließlich noch aufgrund der Beobachtung, dass es so etwas wie Grade oder Abstufungen der Modalität gibt (vgl. 1981: 46ff.,

|| 55 Die IDS-Grammatik übernimmt in ihrer semantischen Beschreibung der Modalverben die Redeweise von verschiedenen Redehintergründen dieser Art. 56 Die hier als erfahrungsbezogen, in anderen Arbeiten als objektiv-epistemisch o.ä. bezeichnete Lesart entspricht etwa dem „realistischen“ Redehintergrund bei Kratzer (1981: 44).

Kratzer (1976, 1981, 1991): mögliche Welten und Redehintergründe | 85

1991: 643ff., 2012: 38ff.), d.h. dass etwa in handlungsbezogener Lesart unterschiedliche Grade von Verpflichtung, von Empfehlung bis Zwang, in erkenntnisbezogener Lesart unterschiedliche Wahrscheinlichkeits- oder Faktizitätsgrade, von vager Vermutung bis sicherer Annahme, zum Ausdruck kommen können. So kommt in (39) eine stärkere Möglichkeit („good possibility“) zum Ausdruck, in (40) hingegen nur eine schwache Möglichkeit: (39) (40)

Es kann gut sein, dass der Gauzner-Michl der Mörder war. (Kratzer 2012: 38; Hervorhebung im Original) Es besteht aber immer noch eine geringe Möglichkeit, dass der Kastenjakl der Mörder ist. (ebd.; Hervorhebung im Original)

Auch die Modalverben zeigen diese Unterschiede, wenn z.B. durch erkenntnisbezogenes muss in Er muss es gewesen sein eine größere Wahrscheinlichkeit oder Überzeugung zum Ausdruck kommt als durch erkenntnisbezogenes kann in Er kann es gewesen sein.57 Um diesen Unterschied zu erfassen, kommt ein weiterer Redehintergrund, dargestellt als Funktion g(w), ins Spiel, relativ zu dem die möglichen Welten geordnet werden, die durch den ersten Redehintergrund als epistemisch, deontisch, teleologisch usw. zugänglich bestimmt wurden.58 Dieser zweite Redehintergrund ist für die erkenntnisbezogene Modalität wie in den Beispielen (39) und (40) als „stereotypisch“ spezifiziert, indem er die Propositionen enthält, die normalerweise der Fall sind, somit den normalen Lauf der Dinge beschreibt (vgl. Kratzer 1991: 644, Kratzer 2012: 39). Aufgrund seiner Funktion wird er als „Ordnungsquelle“ („ordering source“) bezeichnet. Der erste Redehintergrund fungiert demgegenüber als „modale Basis“ („modal base“) (vgl. Kratzer 1981: 47, 1991: 644, 2012: 39), die die zu ordnenden Welten als zugänglich zur Verfügung stellt. Mittels der Ordnungsquelle unterscheidet Kratzer Fälle von Notwendigkeit, guter Möglichkeit, (einfacher) Möglichkeit, schwacher Notwendigkeit usw. (vgl. 1991: 644), indem die jeweilige modale Relation, Notwendigkeit oder Möglichkeit als die Konsequenz aus bzw. Kompatibilität mit einer Menge von möglichen Welten, besteht für eine Untermenge der über die modale Basis definierten Welten, die dem Ideal der Ordnungsquelle in mehr oder weniger großem Maße entspricht. (39) bedeutet demnach, dass der Satz Gauzner-Michl ist der Mörder

|| 57 Die lexikalischen Unterschiede erschöpfen sich jedoch keineswegs in diesem Unterschied; vgl. Kapitel 4. 58 Diese Idee der Ordnung aller möglichen Welten in Relation zu einer gegebenen Welt stammt von David Lewis (1981), auf den Kratzer sich bezieht.

86 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

in all denjenigen durch die modale Basis, also hier: die verfügbare Evidenz, zugänglichen möglichen Welten wahr ist, die der Ordnungsquelle mindestens in dem Maße entsprechen wie jede andere der zugänglichen Welten, d.h. eine gute Möglichkeit. (40) bedeutet demgegenüber, dass der Satz Kastenjakl ist der Mörder nur in denjenigen durch die modale Basis zugänglichen Welten wahr ist, für die es keine zugängliche Welt gibt, die von der Ordnungsquelle weiter entfernt wäre (ebd.: 644), d.h. eine geringe Möglichkeit. Für die Bedeutung der einzelnen Modalverblexeme ergibt sich aus Kratzers Beschreibungsmodell zunächst die Festlegung einer modalen Relation, Notwendigkeit oder Möglichkeit, wobei wollen, sollen und müssen als Notwendigkeits-, mögen, dürfen und können als Möglichkeitsmodalverben gelten. Dazu kommen ggf. Restriktionen bezüglich der Art des Redehintergrundes, der als modale Basis dienen kann. Beispielhaft gibt sie an, dass für müssen keine Beschränkungen in diesem Sinne gelten, dürfen hingegen nur deontische, buletische und teleologische Redehintergründe zulasse (vgl. 1981: 45f.). Daraus ergibt sich jedoch, dass die erkenntnisbezogene Verwendung von dürfte- separat betrachtet werden muss; ein gemeinsamer Bedeutungskern aller Verwendungsweisen von dürfen ist damit nicht gegeben bzw. besteht allenfalls in der Festlegung der modalen Relation auf eine Möglichkeit. Insgesamt erscheinen alle weiteren semantischen Unterschiede zwischen den Modalverblexemen, die etwa den „Grad der Modalität“ betreffen, nur durch die Ordnungsquelle und damit den aktuellen Kontext bedingt und nicht als zur Kernbedeutung der Modalverben gehörig erfasst. Dieser letzte Punkt widerspricht ein Stück weit der Beobachtung, dass verschiedene Facetten von Möglichkeit, die man als Grade bezeichnen mag, regelmäßig verbunden sind mit bestimmten Lexemen oder Lexemformen, z.B. die unterschiedlich starke Verbindlichkeit, die von müssen gegenüber sollen ausgedrückt wird. Für die erkenntnisbezogen verwendbaren Modalverb(form)en ist die Anordnung in einer Hierarchie der absteigenden Sprecherüberzeugung, etwa von Gewissheit/Überzeugung über Wahrscheinlichkeit bis zu Ungewissheit, nicht selten zu finden (vgl. z.B. Helbig/Buscha 2001: 121), wenn auch problematisch (vgl. z.B. Diewald 1999: 231ff.). Auch die Tatsache, dass einerseits verschiedene Lesarten desselben Lexems, etwa die handlungsbezogene und erkenntnisbezogene Lesart von müssen, und andererseits die unterschiedliche Bedeutung verschiedener Lexeme in derselben Lesart, etwa von handlungsbezogenem sollen und handlungsbezogenem müssen, in gleicher Weise über die modale Basis voneinander unterschieden werden, widerspricht m.E. der Intuition, dass der gemeinsame Bedeutungs-

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kern, den auch Kratzer erklärtermaßen zu beschreiben bestrebt ist, primär ist gegenüber der Unterscheidung von Lesarten eines Lexems. Von der formalen Darstellung abgesehen, sind dies die zentralen Punkte, in denen sich die hier vorgeschlagene Bedeutungsbeschreibung anhand des modalen Szenarios von Kratzers Modell in Bezug auf die Modalverben unterscheidet: Einige der Merkmale, die der Spezifikation der Redehintergünde zugrunde liegen, sind demnach in der lexikalischen Bedeutung angelegt und lassen sich unabhängig benennen. Dies ist, neben der Lesart selbst, vor allem die instanzenbezogene Verortung der Bedingungsrelation (vgl. Abschnitt 2.3). Der erkenntnisbezogenen und der erfahrungsbezogenen Lesart kommt, anders als bei Kratzer, ein klarer Sonderstatus zu, indem sie andere Arten oder Stufen der Intentionalität des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation involvieren als die handlungsbezogene Lesart, die bei Kratzer in deontische, teleologische und buletische Redehintergründe zerfällt. Anders als bei Kratzer enthält das hier vorgeschlagene Modell auch einen Vorschlag, das Zustandekommen der Lesart in einem gegebenen Satz zu erklären, der über den reinen Verweis auf den Kontext, genauer: die Forderung nach Ergänzung eines Redehintergrundes, hinausgeht, indem er die Lesarten versteht als basiert in der semantischen Valenz des Modalverbs, die eine intentional-dynamische modalisierte Situation als Argument des Modalverbs fordert und zu Übertragungen auf andere Stufen der Intentionalität führt, wenn die Argumentanforderung durch in die im Satz dargestellten Situation nicht erfüllt ist.59 Die verschiedenen „Grade der Modalität“ die über die Unterscheidung von Notwendigkeit und Möglichkeit hinaus zu beobachten sind, werden hier nicht als Grade im Sinne von Positionen auf einer Skala verstanden, wie Kratzers Idee der relativen Nähe zur aktuellen Welt suggeriert, sondern ergeben sich aus der szenischen Konstellation, in die die modalisierte Situation aufgrund der jeweiligen lexikalischen Semantik und ggf. deren flexionsmorphologischer Modifikation eingebettet erscheint (vgl. Kapitel 4 und 6). Diese Einbettung der modalisierten Situation im modalen Szenario etabliert eine je individuelle, lexemspezifische, u.U. flexionsmorphologisch modifizierte komplexe Bedingtheit der modalisierten Situation, die sie u.a. als in ihrer Realisation mehr oder || 59 Auch in der hier vorgeschlagenen Beschreibung ist die Frage zu beantworten, woher der Sprecher weiß, dass eine Situation intentional und dynamisch ist. Im Folgenden, insbesondere in den Abschnitten 7.2.1 und 7.2.2, soll gezeigt werden, dass diese Information oft im jeweiligen Komplementverb angelegt ist, Dynamizität etwa als Aktionsart und Intentionalität ebenfalls als Teil der lexikalischen Bedeutung (vgl. z. B. scheitern vs. Erfolg haben) oder als regelmäßig mit dieser Bedeutung assoziiert (z. B. verletzen vs. heilen). Erst wenn diese Quellen ausgeschöpft sind oder überlagert werden, ist auf den Kontext zu verweisen.

88 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

weniger stark befördert oder behindert erscheinen lässt, wodurch gewissermaßen „Grade“ einer modalen Stärke zustande kommen. Dass jedoch die Bedeutung aufgrund der spezifischen szenischen Einbettung komplexer ist und sich nicht auf einen Grad von Wahrscheinlichkeit oder Gewissheit o.Ä. reduzieren lässt, zeigen die Probleme, etwa für die erkenntnisbezogene Lesart eine allgemein zustimmungsfähige Skala der von den jeweiligen Modalverb(form)en ausgedrückten Faktizitätswerte zu erstellen (vgl. Diewald 1999: 231f.). Zentrale Gemeinsamkeit mit Kratzers Beschreibung bleibt die Annahme, dass eine Bedeutungsbeschreibung die Intuition bedienen muss, dass alle Verwendungen eines Modalverbs einen gemeinsamen semantischen Kern haben, der die lexikalische Einheit begründet und in einer synchronen Beschreibung nicht hinreichend mit dem diachronen Zusammenhang zu begründen ist.

3.3 Pragmatische Beschreibung bei Konrad Ehlich und Jochen Rehbein (1972): Modalverb-Interrelationen und Sprechaktbezug Eine pragmatische Beschreibung der Modalverbsemantik geben Ehlich/Rehbein (1972); Brünner/Redder (1983b) verstehen ihren Ansatz als Weiterentwicklung dieses Modells (vgl. ebd.: 40). Die Modalverben erscheinen in dieser Beschreibung als Ausdruck von Zuständen einer potenziell handelnden Person („Aktant z“) in Hinblick auf eine Handlung („Tätigkeit p-tun“) (vgl. Ehlich/Rehbein 1972: 320). Diese Zustände, z.B. z kann p tun, sind Gegenstand und Ergebnis von Abfragetätigkeiten und Entscheidungsprozessen im Vorfeld einer Handlung, deren genauer Status als psychologische oder semantische Abfolgen unklar ist, die aber in jedem Fall als an Tätigkeiten gebunden verstanden werden sollen (ebd.: 321, Fn. 8). Die von den Modalverben bezeichneten Zustände sind in einer geordneten Folge solcher Abfrage- und Entscheidungsprozesse miteinander verbunden. In dieser Verbindung bestehen nach Ehlich/Rehbein „Interrelationen“ zwischen ihnen. Grundlegend ist dabei die Interrelation zwischen möchte-, können und wollen, die bei Ehlich/Rehbein als erste eingeführt wird (vgl.1972: 320f.); die zugehörige schematische Darstellung ist in Abbildung 3.9 wiedergegeben.

Ehlich/Rehbein (1972): Modalverb-Interrelationen und Sprechaktbezug | 89

Abb. 3.9: Interrelation von möchte-, können und wollen nach Ehlich/Rehbein (1972: 321).

In dieser grundlegenden Interrelation bildet ein Wunsch oder eine Motivation der die Handlung „p-tun“ potenziell ausführenden Person („Aktant z“) den Ausgangspunkt für die Vorbereitung einer Handlung, der durch z möchte p tun bezeichnet ist. Ist dieser Wunsch gegeben, folgt die Abfrage einer entsprechenden Möglichkeit. Bei Bestätigung der Möglichkeit, bezeichnet mit z kann p tun, kommt es zum Entschluss, z will p tun, und schließlich zur Handlung: z tut p. Die Modalverben benennen dieser Darstellung zufolge bestimmte Zustände des Aktanten z, die als Gegenstand von Abfrageprozessen und Ergebnis von Entscheidungen Voraussetzungen für eine Handlungsausführung sind. Die durch Pfeile dargestellten Relationen im Schema stehen für einen „inneren Ablauf von Entscheidungsereignissen“, wobei diese Entscheidungsereignisse den auf einer Entscheidung beruhenden Übergang zwischen den Zuständen des Aktanten bedeuten, etwa den Übergang vom Wunsch (möchte-) über die Möglichkeit kann zum Entschluss (will). Ehlich/Rehbein (1972: 321, Fn. 8) sprechen die Problematik der genaueren Bestimmung dieser Relationen als psychologisch oder semantisch an und betonen dabei, dass sie bei aller Unklarheit doch an Tätigkeiten geknüpft zu verstehen seien, wobei mit „Tätigkeiten“ die den Übergängen im Ablaufschema zugrunde liegenden Entscheidungen und Abfragen gemeint sein dürften. Das Ablaufschema wird komplexer, wenn etwa bei sollen eine weitere Person als „Aktant x“ ins Spiel kommt, die die Voraussetzungen einer Handlung beeinflusst. Abbildung 3.10 gibt das entsprechende Schema von Ehlich/Rehbein (1972: 322) wieder.

90 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Abb. 3.10: Interrelation von sollen, können und wollen nach Ehlich/Rehbein (1972: 322).

Der Wille der zusätzlichen Person bildet dann statt des eigenen Wunsches des Aktanten den Auslöser oder die Initiative für den Ablauf der Abfrage- und Entscheidungsprozesse. Die „Transposition“ des fremden Willens in die Welt des Handelnden schlägt sich im Modalverb sollen statt möchte- oder wollen nieder. In der Abbildung 3.10 ist die Transposition als horizontal verlaufender weißer Pfeil dargestellt, der die Barriere zwischen den Welten der beteiligten Personen, dargestellt als graue Vertikale, überschreitet. Faktisch liege diesem Übergang ein direktiver Sprechakt als Äußerung des fremden Willens zugrunde (vgl. ebd.: 323). Unerläutert bleibt, warum der fremde Ausgangspunkt mit wollen statt mit möchte- bezeichnet wird, das doch den Ausgangspunkt der Struktur bildet, wenn nicht transponiert wird (vgl. Abbildung 3.9), warum der fremde Ausgangspunkt also als Entschluss statt als Wunsch oder Motivation erscheint. Eventuell besteht ein Grund darin, dass die Transposition des fremden Willens in die Welt des Aktanten durch einen Sprechakt, somit durch eine Handlung erfolgt, die ihrerseits einen Entschluss voraussetzt. Auf die Zielhandlung „p-

Ehlich/Rehbein (1972): Modalverb-Interrelationen und Sprechaktbezug | 91

tun“ kann dieser Entschluss schwerlich bezogen werden, da diese ja durch einen anderen Aktanten ausgeführt wird. Wie der eigene, so hat auch der fremde Wille die Abfrage der Möglichkeit des Aktanten (z kann p tun) zur Folge, und zwar sowohl durch den Wollenden x als auch durch den potenziell Handelnden z als vom fremden Willen Betroffenen. Bei Bestätigung der Möglichkeit folgt auch hier der Entschluss (wollen) von z und die Handlung selbst (vgl. Abbildung 3.10). Das Element des eigenen Wunsches von z (z möchte p tun) bleibt auch bei sollen implizit erhalten, ist aber für den Ablauf der Voraussetzungsstruktur irrelevant. In Abbildung 3.10 wird dies durch die gestrichelte Darstellung des Elements und seine fehlende Verbindung zum Ablaufschema verdeutlicht. Ehlich/Rehbein geben allerdings selbst zu bedenken, dass es sich bei dem Zustand z möchte p tun um einen „eigentlich die Initiierung des Sollens durch x hindernden Zusammenfall“ handele (1972: 323), dass also der eigene Wunsch von z in Hinblick auf eine Tätigkeit p-tun im Widerspruch steht zur Aufforderung durch eine andere Person x. Eine Aufforderung, wie sie zum Zustand z soll p tun führt, setze voraus, dass nicht bereits eine eigene Motivation des Aufgeforderten vorliegt; so sei „nach der Übernahme des Sollens durch z kein eigenständiges Mögen [gemeint im Sinne von: möchte-, CB] von z möglich“ (ebd.: 323). Bei müssen schließlich wird nicht nur die eigene Motivation des Aktanten z (z möchte p tun), sondern auch dessen Entschluss (z will p tun) irrelevant, indem die Motivation zur Handlung einen höheren Verpflichtungsgrad aufweise, als er durch den Willen einer andere Person wie bei sollen zustande kommt (vgl. Ehlich/Rehbein 1972: 324). Die Initiative wird als allgemeine Notwendigkeit in die Welt des Handelnden z transponiert, in der sie zum Zustand z muss p tun wird; nur ein Nicht-Vorliegen der von können bezeichneten natürlichen Möglichkeiten, also der Befund z kann p nicht tun, steht der Handlungsausführung dann im Wege (ebd.: 324f.). Weiter steht nicht brauchen für die Zurückweisung einer Aufforderung oder einer höheren Verpflichtung (ebd.: 326). Dürfen bedeutet eine „für den Aktanten positive Aufhebung einer Obligation“, durch die „der Aktant Handlungsmöglichkeiten erhält, die ihm zunächst verschlossen waren“ (ebd.: 327). Auch diese Prozesse der Zurückweisung bzw. Aufhebung sind zu verstehen als Tätigkeiten von und zwischen den Aktanten z und ggf. x. Die Übertragung in erkenntnisbezogener Lesart der Modalverben (bei Ehlich/Rehbein: Stellungnahme des Sprechers) führen Ehlich/Rehbein unächst für den besonderen Fall der quotativen Lesart aus und übertragen die Befunde dann auf die erkenntnisbezogene Lesart insgesamt. Grundlegend für alle Fälle

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ist ein assertiver Sprechakt mit dem Anspruch auf Übernahme dieser illokutiven Kraft bei Wiedergabe des Satzes. Dies setzt die Übernahme der Wahrheitsüberzeugung voraus (vgl. ebd.: 334ff.). Mit quotativem sollen etwa, z.B. in Udo soll Champignons gefunden haben, werde nun statt einer auf einer solchen Übernahme basierenden Wiedergabe ein kritischer Bericht gegeben, mit dem der Sprecher sich vom Inhalt des Sprechakts distanziere (vgl. ebd.: 337). Die Distanzierung ergebe sich allein aus der Tatsache, dass mit sollen die Aufforderung eines anderen Sprechers auf Übernahme des Inhalts berichtet werde, die Übernahme selbst aber erkennbar nicht erfolgt sei, da in diesem Falle der aktuelle Sprecher selbst eine Assertion des betreffenden Inhalts, etwa mit Udo hat Champignons gefunden, gemacht hätte (vgl. ebd.: 338). Auch bei quotativem wollen und möchte-, z.B. in Udo will/möchte Champignons gefunden haben,60 und ebenso bei den anderen Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart ist es nach Ehlich/Rehbein (1972: 338ff.) die Übernahme der „assertorischen Kraft des Sprechakts“, die am Ende der Voraussetzungsstruktur steht, also das Pendant der Handlung in handlungsbezogener Lesart bildet. Müssen, z.B. in Udo muss Champignons gefunden haben, drückt die Notwendigkeit, können entsprechend in Udo kann Champignons gefunden haben die Möglichkeit der Übernahme der assertorischen Kraft aus, jedoch nicht wie in quotativer Lesart durch den aktuellen Sprecher in Bezug auf die Äußerung eines Anderen, sondern durch den aktuellen Hörer in Bezug auf eine aktuelle Äußerung des Sprechers (ebd.: 339f.). Damit entsteht eine Einheitlichkeit der Beschreibung, indem immer eine nicht selbst für den Inhalt der Assertion verantwortliche Instanz überzeugt werden soll, und dies ist in quotativer Lesart der aktuelle Sprecher angesichts einer von ihm verschiedenen Informationsquelle und in nicht-quotativer erkenntnisbezogener Lesart der Hörer. Dass mit erkenntnisbezogenem müssen und können eine Aufforderung zur Übernahme eines assertorischen Urteils an den Hörer explizit wird, vermag jedoch nicht recht einzuleuchten. In der in 3.1 vorgeschlagenen Beschreibung, die in Kapitel 4 für die einzelnen Lexeme ausgeführt wird, wird daher vorgeschlagen, in allen Fällen erkenntnisbezogener Lesart, quotativ oder nicht, die (An-)Erkenntnis des Sprechers als modalisierte Situation anzusetzen. Sie entspricht in etwa der Übernahme des assertorischen Urteils bei Ehlich/Rehbein, geht aber nicht notwendig auf eine andere Person zurück und ist immer auf den aktuellen Sprecher, nicht auf den aktuellen Hörer, bezogen. Formale Besonderheiten und Beschränkungen spielen in der Beschreibung bei Ehlich/Rehbein, wie bei auch Kratzer (vgl. Abschnitt 3.2), keine Rolle. Für || 60 Die Verwendung von quotativem möchte- ist m. E. noch nicht sehr verbreitet.

Ehlich/Rehbein (1972): Modalverb-Interrelationen und Sprechaktbezug | 93

dürfen stellen sie zwar die formale Beschränkung in erkenntnisbezogener Lesart auf dürfte- fest, gehen dann aber nicht weiter darauf ein. Ebenso werden erkenntnisbezogenes nicht brauchen und werden genannt, aber explizit nicht weiter besprochen (vgl. Ehlich/Rehbein 1972: 340). Die Bedeutung der Modalverben wird im Modell von Ehlich/Rehbein nicht im Einzelnen durch semantische Merkmale o.Ä. beschrieben. Sie ist gegeben in der Benennung der verschiedenen modalen Elemente als Motivation/Wunsch (z möchte p tun) (1972: 321), Möglichkeit (z kann p tun), Entschluss (z will p tun) (vgl. ebd.: 321), Auftrag (z soll p tun) (vgl. ebd.: 322), Imponieren einer obligatorischen Handlung (z muss p tun) (vgl. ebd.: 324), Zurückweisen einer Obligation (z braucht p nicht zu tun) (vgl. ebd.: 326) oder Aufhebung einer Obligation (z darf p tun) (vgl. ebd.: 327). Die Bedeutung des Einzellexems (z.B. können) tritt damit in den Hintergrund zugunsten der Rolle, die der mit seiner Hilfe bezeichnete Zustand (z.B. z kann p tun) in einer relationalen Entscheidungsstruktur spielt, die zur Handlung führt. Die mit den verschiedenen Modalverben bezeichneten Zustände sind in dieser Entscheidungsstruktur als gegenseitige Vor- und Folgestufen des Ablaufschemas bzw. als alternative Stationen miteinander verbunden und definieren gegenseitig ihren Platz im Gefüge. Können und wollen etwa werden bei Ehlich/Rehbein gar nicht gesondert thematisiert, sondern erscheinen immer als Zwischenstufen in den Entscheidungs- und Abfrageprozessen, die durch die von den anderen Modalverben bezeichneten Zustände ausgelöst werden. Diesen Aspekt der gegenseitigen Bezogenheit in einer komplexen relationalen Struktur, die eine potenziell agierende Person und einen Gegenspieler als konstitutive Instanzen beinhaltet, sowohl in handlungsbezogener als auch in erkenntnisbezogener Lesart, hat das im Abschnitt 3.1 vorgeschlagene Beschreibungsmodell mit den Interrelationen bei Ehlich/Rehbein gemeinsam. Es ist den Interrelationen als Entscheidungsstrukturen jedoch insofern unter- oder vorgeordnet, als es auf die Modalverbbedeutungen selbst zielt, die bei Ehlich/Rehbein in den modalen Elementen je schon vorausgesetzt sind, was auch in deren Benennung mit einem vollständigen Satz mit Modalverb (z.B. z kann p tun) deutlich wird. Im modalen Szenario soll hingegen abgebildet werden, was kann in z kann p tun usw. bedeutet. Damit wird eine positive Bedeutungsbeschreibung angestrebt, in der die Bedeutung etwa von können nicht hinreichend damit beschrieben ist, dass es zur Bezeichnung des Zustands diene, der für den Übergang von z möchte p tun zu z will p tun, z soll p tun und z will p tun oder z muss p tun und z tut p vorausgesetzt ist (vgl. die Abbildungen 3.9 und 3.10), sondern die die semantische Voraussetzung bzw. den semantischen Niederschlag dieser pragmatischen Beziehungen erfasst. So sind die lexikali-

94 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

schen Bedeutungen der Modalverben im modalen Szenario, ähnlich wie die Interrelationen bei Ehlich/Rehbein, als Relationen konzipiert, die jedoch nicht zwischen modalen Bedingtheitszuständen, sondern zwischen einer intentionalen Instanz und der Welt bzw. zwischen zwei intentionale Instanzen bestehen und als Bedingung für die Ausführung einer Handlung, die Erfahrung eines Ereignisses oder die Erkenntnis einer Proposition durch die intentionale Instanz fungieren, die als zentraler Partizipant der jeweiligen intentional-dynamischen Situation erscheint. Im modalen Szenario sind diese modalen Relationen in ihrer Bezogenheit aufeinander dargestellt, die sich aus den gemeinsamen Merkmalskategorien ergibt. Die Annahme, dass opponierende modale Relationen sich gegenseitig implizieren, entspricht der Rückverfolgung von Folgebeziehungen zwischen den modalen Relationen und bildet damit den semantischen Reflex der von Ehlich/Rehbein als pragmatische Interrelationen beschriebenen Abfrage- und Entscheidungsprozesse im Rahmen von Handlungsplanung. Diese ergeben sich zwar aus dem modalen Szenario etwas anders als in den Schemata von Ehlich/Rehbein (1972: 321f.) dargestellt, die z.B. z möchte p tun als eigene „Station“ ansetzen. Der grundsätzlich analoge Zusammenhang zwischen den Implikationen opponierender modaler Relationen im modalen Szenario und einer Abfolge von Voraussetzungen in der Handlungsplanung ist davon aber unberührt.

3.4 Kognitive Beschreibung bei Leonard Talmy (1988): Modalverben als Ausdruck von Kräftedynamik („Force Dynamics“) Leonard Talmy (1988: 77ff.) beschreibt die Semantik der englischen Modalverben als basierend auf dem Ausdruck von Kräfteoppositionen. Dem zugrunde liegt das von ihm eingeführte Konzept der „Force Dynamics“ (vgl. Talmy 1976, 1988), das die Art und Weise beschreibt, wie Entitäten in Bezug auf Kraft bzw. Kräfte interagieren (ebd.: 49). Es handelt sich dabei genauer um eine verallgemeinernde Beschreibung von Kausalität durch einfachere semantische Kategorien, die es erlauben, auch komplexere kausal basierte Konzepte wie lassen, hindern, helfen usw. mit den selben Begriffen zu erfassen (vgl. ebd.: 50). Talmy nimmt an, dass es sich bei den Force Dynamics um ein Begriffssystem handelt, das gleichermaßen semantisch und kognitiv strukturierende Funktion hat und nicht nur physische, sondern durch metaphorische Ausdehnung

Talmy (1988): Modalverben als Ausdruck von Kräftedynamik („Force Dynamics“) | 95

des Konzepts („metaphorical extension“) auch psychische und soziale Kräfte, dann als „psychischen Druck“61 erfasse (vgl. ebd.: 50). Relevant für die Sprache sind die Force Dynamics nach Talmy, indem sie zu den grundlegenden Kategorien gehören, die regelmäßig mit der Grammatik natürlicher Sprachen erfasst werden, wie z.B. Anzahl in der grammatischen Kategorie Numerus (ebd.: 51). Das System der Modalverben bildet die Klasse, in der im Englischen wie im Deutschen die Force Dynamics am bezeichnendsten realisiert sind, so dass sich die Bedeutung der Modalverben lesartübergreifend als Konstellation opponierender Kräfte, als so genannte „force-dynamic patterns“, also Kräfteinteraktionsmuster, erfassen lässt. In diesem Punkt stimmt das hier als Beschreibungsmodell vorgeschlagene modale Szenario mit Talmy überein. Die Beteiligung mehrerer Kräfte wird hier als multiple Bedingtheit und wechselseitige Implikation opponierender Bedingungsrelationen beschrieben. Auch die flexible Beziehbarkeit auf physische, psychische, soziale, diskursive und ggf. weitere Kräfte haben die „force-dynamic patterns“ und das modale Szenario gemeinsam. Sie ist die Basis für die Polysemie der Modalverben, auf die Talmy jedoch nicht gesondert eingeht. Die basalen Elemente, mit denen Talmy die Kräftedynamiken beschreibt, sind zum einen ein Agonist und ein Antagonist62 als Kraftelemente („force elements“) oder Kraftentitäten („force entities“) (ebd.: 53f.). Diese erscheinen als Träger von Krafttendenzen („force tendencies“), die entweder einer Handlung zustreben („towards action“) oder auf ein Verharren („towards rest“) (vgl. ebd.: 54). In einem Interaktionsmuster aus Agonist und Antagonist, in dem jedem von beiden eine dieser Tendenzen zukommt, erscheint eine der Tendenzen als die stärkere, die andere als die schwächere. Dieses relationale Verhältnis der Tendenzen bezeichnet Talmy (ebd.: 54) als „balance of strength“, also etwa als Kräfteabgleich. Schließlich erfasst sein Modell ein Ergebnis der Kräfteinteraktion, das der jeweils stärkeren der beiden Krafttendenzen entspricht, somit entweder in der Handlung oder im Verharren besteht. In Abbildung 3.11 sind die Diagramme zusammengestellt, die sich bei Talmy (1988: 82ff.) für can’t bzw. may not, die nicht negierten Entsprechungen can bzw. may und für have to, das er äquivalent mit must behandelt, finden.

|| 61 Talmy (1988: 50) nennt die Psychologie Freuds, die mit kräftedynamischen Konzepten wie Trieben, Verdrängung und Spannungsreduktion arbeitet, als ein Beispiel früherer Anwendung der Grundidee. 62 Die Bezeichnungen entnimmt Talmy (1988: 53) der Physiologie, wo sie Paare gegeneinander arbeitender Muskelstränge o. Ä. bezeichnen.

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Abb. 3.11: Die Bedeutung von can / may (not) und have to als Muster von Kräfteinteraktionen (‚force-dynamic patterns‘) nach Talmy (1988: 82ff.).

Die Darstellung von can’t / may not links in Abbildung 3.11 zeigt, dass die Modalverben in ihrer negierten Form bestehende Kräfteinteraktionen bezeichnen. Talmy bezeichnet diese als „steady-state force-dynamic patterns“ (1988: 55). Demgegenüber stehen die nicht negierten Modalverben can und may (Abbildung 3.11 Mitte) für eine nicht bestehende Opposition der betreffenden Kräfte; genauer bezeichnen sie das Nicht-Vorhandensein eines gegenüber der Handlungstendenz des Agonisten stärkeren Antagonisten. Merkmal dieser bei Talmy so genannten „secondary steady-state force-dynamic patterns“ (ebd.: 59f.) ist ihm zufolge, dass der Antagonist als Hindernis des Agonisten wegfällt, er ist „out of the way of the Agonist“ (ebd.: 82). Die Bezeichnung als sekundär beinhaltet die indirekte Bestimmung der Bedeutung von can und may über einen positiv bestimmten Zustand, dessen Abwesenheit die Verben ausdrücken. So beschreibt auch Talmy can (‚können‘) und may (‚dürfen‘) zunächst in ihrer negierten Form („in the context of not“), um die kräftedynamische Grundbedeutung („core force-dynamic reference“) der Modalverben unmittelbar zu veranschaulichen (vgl. ebd.: 77ff.). Im modalen Szenario ist das als die Abwesenheit einer entsprechenden reaktiven Bedingungsrelation beschrieben. Diese Indirektheit der Bedeutung trifft auf alle Möglichkeitsmodalverben (im Dt. mögen, dürfen und können) zu. Sie wurden daher für die handlungsbezogene Lesart als Negativa charakterisiert (vgl. Brütsch 1986: 193, s. Abschnitt 2.2). Auch Talmy bemerkt für die von Möglichkeitsmodalverben bezeichneten „secondary steady-

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state force-dynamic patterns“ allgemein, sie seien abgeleitet und basierten auf einer Negation der grundlegenden oder primären Muster (1988: 59f.). Der semantische Unterschied zwischen can und may, mithin der zwischen können und dürfen, wird in Talmys Grafiken nicht erfasst. Sie erscheinen, wie in Abbildung 3.11, als identische Muster. Talmy zeigt den Unterschied dennoch auf, indem er die beiden Darstellungen den Überschriften „physical“ bzw. „psycho-social“ zuordnet, in denen die Art der wirkenden Kräfte bestimmt wird (ebd.: 83f.). Dazu ist kritisch anzumerken, dass die Handlungstendenz wohl immer auch psychisch zu qualifizieren ist, d.h. dass auch can bzw. können eine Kräfteopposition zwischen einem psychischen Willen und einer physischen Gegenkraft abbildet. Zudem verweist can wie können keineswegs immer auf eine physische Gegenkraft, sondern kann auch psycho-sozial im Sinne einer Erlaubnis verwendet werden. Es muss demnach eher als unbestimmt hinsichtlich der Art von wirkender Gegenkraft gelten.63 Im modalen Szenario sind die Bedeutungen der verschiedenen Lexeme in einer komplexen Darstellung repräsentiert, die die notwendig instanzenbezogene, somit psycho-soziale, Qualifikation des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation beinhaltet. Diese offene Qualifikation der von können bezeichneten Bedingungsrelation (resp. Kräfteinteraktion bei Talmy) wird so erfasst, dass dürfen (wie sollen) eine instanzenbezogene Bedingungsrelation, d.h. eine psycho-soziale Kraft im Sinne Talmys, bezeichnet, wohingegen können (wie müssen) eine unverortete Bedingungsrelation meint, die als objektiv bestehend erscheint und dabei sowohl auf, im Sinne Talmys, physische, d.h. nicht instanzenbezogene, als auch auf instanzenbezogene, somit psycho-soziale, Kräfte zurückgehen kann. Auch werden im Gegensatz zu Talmys Unterscheidung der Krafttendenzen in der hier vorgeschlagenen Beschreibung die Tendenz zur Handlung und die Tendenz zum Verharren als opponierende Relationen bzw. widerstrebende Kräfte einer Art dargestellt. So wird die Kraft, die einen Agonisten von der Ausübung seines Willens abhält, nicht als grundsätzlich verschieden von diesem Willen selbst aufgefasst, sondern als Kraft gleicher Art, weshalb dann auch eine Opposition und Interaktion zwischen diesen Kräften möglich ist. Im Unterschied zu Talmys Darstellung sich gegenüberstehender Kräfte von Agonist und Antagonist setzt dann auch das hier vorgeschlagene Modell die Bedingungsrela-

|| 63 Für have to und must stellt Talmy diese Unbestimmtheit später selbst fest, indem er aufzeigt, dass die Gegenkraft von einer zweiten Person als Antagonist ausgehen kann, die entweder anwesend und des Antagonistenwillens gewahr oder abwesend ist, oder aber von einem unpersönlichen Antagonisten, etwa den „Weltläuften“ (vgl. 1988: 86f.).

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tion nicht primär ins Verhältnis zu einer anderen Bedingungsrelation, sondern zur modalisierten Situation. Have to (inkl. must) als Entsprechung zu dt. müssen erscheint in Abbildung 3.11 als Vorhandensein eines stärkeren Antagonisten, der die Handlungstendenz des Agonisten blockiert, so dass das Verharren, d.h. das Ausbleiben der Handlung, Ergebnis der Kräftedynamik ist. Diese Beschreibung von müssen als unterdrückte Handlungstendenz ist umständlich, wenn nicht irreführend, da sie der Intuition widerspricht, dass have to wie müssen die Imponierung einer Handlung oder Handlungstendenz, nicht deren Verhinderung ausdrückt. Als Verharren bzw. Unterdrückung einer Agonisten-Tendenz kann have to / müssen nur verstanden werden, wenn die Tendenz des Agonisten eine Tendenz zum Nicht-Handeln, d.h. eigentlich zum Verharren, ist, das resultierende Verharren somit die Verhinderung dieser Tendenz zum Nicht-Handeln und damit letztlich ein Handeln. Talmy macht das deutlich in der Zuordnung des Labels „VP“, das für Verbalphrase als ausdrucksseitige Repräsentation der Handlung steht, entweder zur Handlungstendenz des Agonisten (bei can und may) oder zum Verharrenspunkt (bei have to) in den sich ansonsten entsprechenden Grafiken (vgl. Abbildung 3.11) Das verdeutlicht noch einmal, dass für have to die in der das Modalverb komplementierenden Verbalphrase ausgedrückte Handlung als Verharren aufgefasst werden muss, damit die Darstellung schlüssig ist. Hinter dieser Verwirrung steckt, dass nach Talmy die Ausrichtung des Interaktionsmusters, ob also die Tendenz zur Handlung von links nach rechts oder umgekehrt dargestellt wird, irrelevant ist, und dass ihm zufolge spiegelbildlich dargestellte Diagramme dieselben Muster repräsentieren (vgl. 1988: 54). Hier unterscheidet sich das modale Szenrio, indem Talmys Tendenz zur Handlung und zum Verharren nicht als zwei verschiedene Tendenzen, sondern als Relationen einer Art mit unterschiedlicher, initiativer oder reaktiver, Ausrichtung erscheinen. Das hat über das Erfordernis von weniger verschiedenen Elementen des Modells hinaus den Vorteil, dass die modalisierte Situation immer in einer Ausführung, nie in einem Verharren, besteht. Schließlich beschreibt Talmy noch die Bedeutung von should in den Begriffen der Kräftedynamik, dies jedoch ohne zugehörige grafische Darstellung (vgl. ebd.: 84ff.). Die Beschreibung enthält den Bezug zum Glaubens- und Wertesystem des Antagonisten und die Tatsache, dass die durch die Verbalphrase ausgedrückte Handlung für den Agonisten selbst besser wäre.64 Im Beschreibungs-

|| 64 Um auch auf die anderen Lesarten anwendbar zu sein, muss die Formulierung genauer gewählt werden. In Abschnitt 6.5 wird für die deutsche Entsprechung sollte- von englisch should vorgeschlagen, die Intention des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation

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modell der Kräftedynamik können diese Spezifika nicht ohne weiteres abgebildet werden. Allgemein mag man einen Vorteil von Talmys Darstellung darin sehen, dass die Gemeinsamkeit, nach der es sich in beiden Fällen, bei can’t / nicht können und have to / müssen um zwingende Umstände handelt, durch die weitestgehend analoge Struktur aus handlungsorientiertem Agonisten und verhinderndem Antagonisten hervorgehoben werden. Im modalen Szenario wurde einer Darstellung der Vorzug gegeben, in der die modalisierte Situation stets dieselbe Position und Richtung einnimmt und die grundsätzliche Gleichartigkeit der Bedingungsrelationen auch in ihrer jeweiligen opponierenden Funktion gegenüber einer Unterscheidung von Agonist und Antagonist hervorgehoben wird. Im modalen Szenario ist es zum einen die symmetrische Anordnung, zum anderen die entgegengesetzte Ausrichtung der Bedingungsrelationen, gefasst in der Merkmalsopposition [+/–REAKTIV] (vgl. Abschnitt 2.2), die beide Oppositionen erfasst, ohne die Gleichartigkeit der wirkenden Kräfte bzw. Bedingungsrelation zu überlagern. Darüber hinaus bietet es eine systematische Erklärung für das Zustandekommen auch der erfahrungsbezogenen und der erkenntnisbezogenen Lesart, die bei Talmy keine Rolle spielen. Nichtsdestoweniger weist Talmys Beschreibungsmodell durch die grundlegende Annahme, die Bedeutung der Modalverben lasse sich durch eine Konstellation opponierender Kräfte beschreiben, die lexemspezifisch bezüglich einzelner Merkmale weiter bestimmt sind, eine wesentlich Gemeinsamkeit mit dem modale Szenario auf. Es wird in dieser Darstellung betont, dass eine bestehende Bedingungsrelation als Kraft immer ihre Gegenkraft impliziert, was für die Bezüge im modalen Szenario charakteristisch und für die Entstehung bzw. Ableitung der Lesarten grundlegend ist.

|| (bei Talmy: der Agonist bzgl. der in VP ausgedrückten Handlung) als Bedingung neben dem Sollen anzusehen, auf die durch den Konjunktiv Präteritum in sollte- innerhalb des modalen Szenarios zurückverweisen wird. In erfahrungs- und erkenntnisbezogener Lesart ist diese Intentionalität nicht als Wille des Agonisten, sondern als Erwartung oder Vermutung des Sprechers qualifiziert (vgl. dazu Abschnitt 6.5). Es scheint auch, dass der Bezug zur Intention des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation in seiner durch den Konjunktiv Präteritum bezeichneten Bedingungsfunktion bezüglich des Sollens erschöpft ist und keine weiteren Implikationen dieser Relation mit dem Gebrauch von sollte- verbunden sind. Talmy sieht im interpersonellen Gebrauch von should eine Opposition des jeweiligen Willens von Agonist und Antagonist und demgegenüber „ebenenübergreifend“ den Gebrauch in Abwesenheit des Agonisten, der dann in der 3. Person erscheint, indem der Wille des Antagonisten den aktuellen Gegebenheiten, nicht einem anderen Willen, gegenüberstehe (1988: 86).

100 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

3.5 Grammatikalisierungstheoretische Beschreibung bei Gabriele Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität Gabriele Diewald (1999) beschreibt die Bedeutung der Modalverben als basierend auf einer direktivischen szenischen Struktur. Das Szenische dieser Beschreibung erscheint zunächst als Gemeinsamkeit mit dem in Abschnitt 3.1 vorgestellten modalen Szenario. Beide Darstellungen unterscheiden sich jedoch wesentlich in dem, was an ihnen „szenisch“ ist. Im modalen Szenario ist die Anordnung der von den verschiedenen Modalverblexemen bezeichneten Bedingungsrelationen in ihrer gegenseitigen Bezogenheit als Teile einer einzigen Struktur multipler Bedingungen als „Szenario“ erfasst. Die Szenestruktur in Diewalds Darstellung ist hingegen die Konstellation aus einer modalen Quelle (vgl. Abschnitt 2.3), einem modalen Ziel als von der Modalität betroffener Instanz (vgl. ebd.: 101ff.) und einer zwischen beiden bestehenden, mitunter komplexen, Modalrelation. Sie entspricht damit eher dem Bedingungsverhältnis zwischen der einzelnen Bedingungsrelation und der dargestellten Situation, das im modalen Szenario kein direktes Pendant hat. In der Diewaldschen Szenestruktur erscheint der Ausgangspunkt konzipiert als ein „Direktivengeber“, der dem modalen Ziel als „Direktivenempfänger“ etwas „gebietet“ oder „erlaubt“ das im Komplement als „inneres Ziel“ gegeben ist. Das Modalverb beschreibt dabei einen Zustand, der einem direktiven Sprechakt selbst folgt, d.h. „das ‚Bekommen-Haben‘ eines direktiven Sprechaktes als Zustand des Subjekts“ (ebd.: 123). Hier besteht eine Ähnlichkeit zur Beschreibung der Modalverben bei Ehlich/Rehbein (vgl. Abschnitt 3.3). Ein Satz wie (41) bringt also zum Ausdruck, dass jemand den Kindern erlaubt bzw. geboten hat, „nein“ zu sagen: (41)

Die Kinder dürfen/sollen auch „nein“ sagen. (Diewald 1999: 121; Hervorhebung CB)

In Abbildung 3.12 ist die relationale Struktur des vorausgesetzten Sprechakts wiedergegeben, wie sie bei Diewald (ebd.: 121) dargestellt ist. A bezeichnet dabei den Ausgangspunkt, d.h. den Direktivengeber, Zi das Ziel der Relation, den Direktivenempfänger, IZ ein inneres Ziel, das Gegenstand der Direktive und selbst eine Relation ist (in Beispiel (41) das Nein-Sagen der Kinder), die einen zweiten, inneren Ausgangspunkt A'i beinhaltet, von dem die als verbales Komplement realisierte eingebettete Handlung ausgeht, dies sind die Kinder selbst. Das Ziel Zi trägt den Index i, um anzuzeigen, dass es mit dem Ausgangspunkt

Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 101

des inneren Ziels identisch ist; beides sind für Beispiel (41) der Subjektreferent, also die Kinder (ebd.: 118f.).

Abb. 3.12: Relationale Struktur von Sprechaktverben nach Diewald (1999: 121).

Wofür die Pfeile in der Darstellung stehen, ist nicht ganz klar, zumal die Relation zwischen Ausgangspunkt und Ziel mit einer eigenen Instanz, als „Relator“, erscheint. Die Ausrichtung der Pfeile ergibt sich aus der nach Leiss (1992: 153) so genannten ‚Verbalrichtung‘, d.h. der Perspektivierung einer dargestellten Situation, in der etwa das Subjekt als agentischer Ausgangspunkt oder rezipierendes Ziel einer verbal ausgedrückten Relation erscheinen kann (vgl. Diewald 1999: 111f.). Dieses Prinzip wurde auch für das modale Szenario angewandt (vgl. Abschnitt 3.1). Abbildung 3.13 zeigt die vom Modalverb ausgedrückte Struktur des aus einer solchen Direktive resultierenden Zustands. Das besondere Merkmal der Modalverben in handlungsbezogener Lesart ist nach Diewald einerseits, dass das Subjekt Rollenmerkmale von Ausgangspunkt und Ziel auf sich vereint, somit als Experiens (EXP) erscheint, wie es für belebte Subjekte von stativen Verben charakteristisch ist. Diese Verben bezeichnet Diewald daher auch als „primäre Experiencerverben“ (vgl. ebd.: 116). Die Verschmelzung der Rollen A und Z in EXP wird in der grafischen Darstellung durch den doppelseitigen Pfeil symbolisiert (vgl. ebd.: 115f.) und ist im unteren Teil von Abbildung 3.13 in Bezug auf die ursprüngliche Struktur aufgelöst.

Abb. 3.13: Modalverben in handlungsbezogener Lesart mit dem Modalverb als „sekundärem Experiencerverb“ am Beispiel von (41) nach Diewald (1999: 118, 121).

102 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Anders als bei primären Experiencerverben wie hoffen, lieben oder kennen erscheint das Subjekt handlungsbezogener Modalverben in beiden in ihm verschmolzenen Aspekten, Ausgangspunkt und Ziel, nicht auf dieselbe Situation bezogen. Es bildet das Ziel der Modalrelation, indem es (genauer: sein Referent) die von der Modalität betroffene Instanz ist. Ausgangspunkt ist der Subjektreferent jedoch von der inneren, vom verbalen Komplement ausgedrückten Relation, was durch den Index i, sowohl bei Ai als auch bei EXPi, angezeigt wird.65 Der Ausgangspunkt A der Modalrelation, die modale Quelle, ist nicht syntaktisch realisiert, sondern ist „aus dem Valenzrahmen des Modalverbs geschoben“ (Diewald 1999: 119). Diesen Unterschied zu den primären Experiencerverben greift Diewald auf, indem sie die Modalverben als „sekundäre Experiencerverben“ charakterisiert (ebd.: 119). Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die Merkmale der semantischen Rolle des Experiens für das Subjekt handlungsbezogen verwendeter Modalverben nicht hinfällig werden, wenn der Ausgangspunkt-Aspekt sich auf eine andere Relation bezieht, und ob das Subjekt dann nicht besser nur als Ziel bzw. Teil des Ziels der Modalrelation zu fassen ist. Im modalen Szenario kommt dem Ausgangspunkt der inneren Relation in der modalen Relation nicht grundsätzlich eine eigene Rolle zu. Er ist Teil der modalisierten Situation, die als ganze bedingt erscheint, somit dem Ziel in Diewalds Darstellung entspricht. Impliziert wird, dass bei einem Handlungsverb in einem aktivischen Komplement das Agens der modalisierten Situation als sie intendierender und kontrollierender Partizipant primär von dieser Bedingtheit betroffen ist. Dieser ist zwar regelmäßig, aber nicht notwendig im Satzsubjekt realisiert, indem etwa der intentional Handelnde bei passivischem Komplement (z.B. Das Eis darf gegessen werden) oder auch bei Verben, die keine intentionale Agens-Rolle vorsehen (z.B. Die Pflanze soll nicht zu viel Wasser bekommen), gar nicht als Satzglied erscheint. Die in Abbildung 3.13 wiedergegebene Struktur gilt im Prinzip für alle Fälle der handlungsbezogenen Lesart. In volitiver Lesart erscheint sie spezifiziert, indem der Ausgangspunkt der inneren Relation nicht nur mit dem Experiens der Modalverbrelation identisch ist, sondern auch mit dem Ausgangspunkt der || 65 Hier besteht m. E. eine Inkonsistenz in der Setzung des Index i, der an dieser Stelle den Bezug zur inneren Relation anzuzeigen scheint, somit bei Z nicht gesetzt wird, in Abbildung 3.12 bzw. in der entsprechende Darstellung bei Diewald (1999: 121) hingegen einfach Referenzidentität anzeigt, denn hier erscheint Zi (den Kindern) klar als Ziel der Direktive und nicht der inneren „Nein“-sagen-Relation. In diesem letzteren Sinne müsste der Index in Abbildung 3.13 auch bei Z erscheinen, womit aber seine Funktion, den unterschiedlichen Bezug der in EXP verschmolzenen beiden Rollenmerkmale aufzuzeigen, dahin wäre.

Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 103

direktivischen Modalrelation, die den modalen Zustand begründet (vgl. Diewald 1999: 139f.). Die Bedeutung der verschiedenen Modalverblexeme wird bei Diewald beschrieben als Spezifizierung von Ausgangspunkt resp. modaler Quelle und modaler Relation bezüglich Abgegrenztheit und Verortung der modalen Quelle anhand der Merkmale [+/–DIFFUS] und [+/–INTERN] (vgl. Abschnitt 2.3) und bezüglich der Ausrichtung der modalen Relation, repräsentiert im Merkmal [+/– REAKTIV] (vgl. Abschnitt 2.2). Diese Beschreibung ist ganz ähnlich wie die in den Abschnitten 2.2 und 2.3 vorgestellte. Letztere knüpft hier u.a. an Diewald und, wie diese, an die grundlegenden Arbeiten Gunnar Bechs an. Diewald wendet sich explizit gegen Talmys Beschreibung in Begriffen der „force dynamics“ (vgl. Abschnitt 3.4), indem sie zu Bedenken gibt, dass etwa ein Wille nicht zwangsläufig einen zu überwindenden Widerstand als entgegengesetzte Kraft impliziert; man könne hier allenfalls von konversationellen Implikaturen sprechen (ebd.: 108ff.). Sie geht davon aus, dass „[w]eder can noch das deutsche Pendant können [...] eine ‚force or barrier‘ [enthalten]“ (ebd.: 108). Dem widerspricht die Beschreibung im modalen Szenario: Mögen, dürfen und können beziehen sich gerade auf eine solche „barrier“ oder Gegenkraft und sind nur als solche als [+REAKTIV] zu verstehen (vgl. Abschnitt 2.2). In nicht negierter Form bezeichnen sie in handlungsbezogener Lesart die Abwesenheit einer Gegenkraft im Sinne der Talmyschen „barrier“. Einige weitere Unterschiede bestehen darin, dass bei Diewald die modale Quelle als Entität gefasst ist, die abgegrenzt, d.h. [–DIFFUS], oder [+DIFFUS] sein könne (ebd.: 96). Bei wollen, mögen, sollen und dürfen liegt demnach eine [-DIFFUSE] Entität als modale Quelle vor, bei müssen und können eine [+DIFFUSE] (ebd.: 98, 134, 150, 161). Da Entitäten in der hier vorgeschlagenen Darstellung per definitionem im Gegensatz zu Relationen abgegrenzt, somit [–DIFFUS], sind, kann dieser Darstellung terminologisch nicht gefolgt werden. Was hingegen denkbar wäre, ist die Rede von der [+/–DIFFUSEN] Verortung der Bedingungsrelation, wobei [–DIFFUSE] Verortung meint: die Verortung in einer, notwendigerweise [–DIFFUSEN], Entität, und [+DIFFUSE] Verortung, dass eben keine Verortung in einer Entität ausgedrückt wird (vgl. Abschnitt 2.3). Dass sich das Merkmal [+/–DIFFUS] auf den „Ort“ einer Bedingungsrelation bezieht, der nicht mit der Relation identisch ist, scheint auch die von Diewald an anderer Stelle getane Umschreibung von ‚Wunsch‘ bzw. ‚Absicht‘ zu zeigen, die sie als „Direktive des Subjekts an sich selbst“ bezeichnet (ebd.: 75), so dass das Subjekt zwar als „Ort“, in dem sich die Direktive abspielt, zu verstehen ist, deshalb aber nicht mit der Direktive identisch ist. Diese „Direktive an sich selbst“ wird hier mit dem allgemeineren Begriff der Intentionalität gefasst.

104 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Eine modale Quelle mit dem Merkmal [–DIFFUS] kann bei Diewald in Bezug auf das Subjekt (genau gemeint ist wohl: der Subjektreferent) [+/–INTERN] verortet werden (vgl. ebd.: 95). Bei wollen und möchte- ist sie so [+intern], bei sollen und dürfen [–INTERN] verortet; mögen wird von Diewald nicht berücksichtigt. Hier liegt eine kleine Unschärfe im Ausdruck vor, wenn man die modale Quelle als Entität versteht und auch das Subjekt (bzw. der Subjektreferent) als Entität zu verstehen ist, so dass dann von einer Verortung (bei Diewald 1999: 102 „Lokalisiation“) einer Entität in einer anderen die Rede ist; gemeint ist eher die Identifizierung der einen mit der anderen Entität. Die Festlegung auf das Subjekt als Bezug des Merkmals [+/–INTERN] bzw. Ziel der Verortung wird dann problematisch, wenn mögen in die Beschreibung einbezogen werden soll. In handlungsbezogener Lesart ist zwar auch für mögen die modale Quelle regelmäßig im Subjekt realisiert (vgl. Anna mag Eis, Anna mag nicht kommen), nicht aber in erkenntnisbezogener Lesart (vgl. Anna mag recht haben). Bezieht man das Merkmal hingegen, wie hier vorgeschlagen, auf die modalisierte Situation, lassen sich wollen und mögen in allen Lesarten durch das Merkmal [+INTERN] charakterisieren. Zudem entstehen keine Probleme für Verwendungen von wollen in erfahrungsbezogener, genauer: prospektiver, Lesart (vgl. (23)) und in einigen handlungsbezogenen Verwendungen (vgl. (42)), die sonst als metonymische Verschiebungen der modalen Quelle o.Ä. gefasst werden müssten: (23) (42)

Es sah aus, als wolle dieser Gigant auf die Kuppel herunterstürzen und sie zertrümmern. (wo-15) Itote’s Bericht will weit mehr als die beiden anderen eine Verteidigungsschrift sein und ist entsprechend vorsichtiger auszuwerten. (wo-374)

Auch hier ist die jeweilige intentionale Instanz, obgleich nicht ausdrucksseitig realisiert, innerhalb der modalisierten Situation verortet, indem sie in (23) als Betrachter, in (42) als Berichtender erscheint.66

|| 66 In Abschnitt 2.3 wurde für den Bezug einer verorteten Bedingungsrelation zur modalisierten Situation das Merkmale [+/–EXTERN] vorgezogen, somit umgekehrte Markiertheitsverhältnisse. Begründet wurde dies damit, dass verortete Bedingungsrelationen als Intentionalitäten normalerweise dem Handelnden selbst zukommen und nicht einer weiteren, situationsexternen Instanz. Eine Verortung außerhalb der modalisierten Situation erscheint so als markierter Fall.

Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 105

Vor allem zur Unterscheidung der Lesarten führt Diewald darüber hinaus das Merkmal [+/–EXTERN] und [+/–DIFFUS] für das modale Ziel ein und [+/–ORIGO] zusätzlich für die modale Quelle. Mit [+EXTERN] in Bezug auf das modale Ziel wird der besondere, daher merkmalhafte, Fall beschrieben, dass das Subjekt nicht als modales Ziel erscheint, etwa wenn in handlungsbezogener Lesart ein verbales Komplement im Passiv vorliegt, z.B. Das Eis soll gegessen werden. Wie beim Merkmal [+/–INTERN] für die modale Quelle führt es auch hier zu Schwierigkeiten, das semantische Merkmal in Hinblick auf ein Satzglied bzw. überhaupt die ausdrucksseitige Realisierung im Satz zu formulieren. Auch hier müsste sich, sofern man überhaupt eine Instanz als modales Ziel ansetzen will, das Merkmal auf die modalisierte Situation beziehen, womit nicht nur Fälle mit passivischem Komplement, sondern auch solche mit statischen Komplementen wie Mein Kaffee muss stark sein, in denen als Ziel der Modalität wohl derjenige zu verstehen ist, der den Kaffee jeweils zubereitet, und nicht etwa der Kaffee selbst. Das Merkmal [+/–ORIGO] wird weiter unten thematisiert, da es für die erkenntnisbezogene Lesart spezifisch ist; Diewald (ebd.: 99) sieht es aus diesem Grund als das „hierarchiehöchste“ an. In erkenntnisbezogener Lesart ist die direktivische Grundstruktur anders ausgefüllt, indem der Sprecher als Ausgangspunkt die modale Quelle bildet, die dem modalen Ziel, das in erkenntnisbezogener Lesart eine Proposition darstellt, einen Faktizitätswert zuweist. Dieser Zusammenhang ist in Abbildung 3.14 nach Diewald (1999: 207) wiedergegeben. Zum Vergleich ist die Struktur für die handlungsbezogene Lesart darunter eingefügt wie bei Diewald (ebd.: 247), außerdem ein Beispiel zur Veranschaulichung.

106 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Abb. 3.14: Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart als Füllung der direktivischen Grundstruktur nach Diewald(1999: 207, 247) im Vergleich zur entsprechenden Struktur für die handlungsbezogene Lesart.

Im Gegensatz zur handlungsbezogenen Lesart erscheint in erkenntnisbezogener Lesart nicht das Subjekt, sondern die gesamte Proposition, verstanden als [+DIFFUSE] Entität, als modales Ziel. Das führt zu der ungewöhnlichen Redeweise, dass der Proposition ein Faktizitätswert „erlaubt/geboten“ werde (vgl. z.B. ebd.: 207). Hierbei handelt es sich m.E. nicht allein um eine Merkwürdigkeit, die sich aus der Abstraktion der direktivischen Basisstruktur ergibt. Vielmehr liegt die Ursache in einer unangemessenen Parallelisierung mit dieser direktivischen Struktur in handlungsbezogener Lesart, die auch darin deutlich wird, dass sich die komplexe Struktur des inneren Ziels IZ in erkenntnisbezogener Lesart auflöst und ihr nur ein einfacher Faktizitätswert [+/‒NICHTFAKTISCH] entspricht, als dessen Pendant in handlungsbezogener Lesart doch viel eher ein „deontischer Wert“ wie ‚verpflichtet‘ oder ‚befugt‘ gelten könnte. Im in Abschnitt 3.1 vorgeschlagenen Beschreibungsmodell erscheint der Sprecher in erkenntnisbezogener Lesart als zentraler Partizipant der modalisierten, d.h. bedingten, Situation. In Diewalds Darstellung wäre er damit als Ziel der modalen Relation, nicht als ihr Ausgangspunkt, zu bezeichnen.67 Inneres || 67 Das Konzept eines modalen Ziels muss im modalen Szenario nicht gesondert angesetzt werden. Es ergibt sich eher implikativ, indem der kontrollierende Partizipant einer Situation von deren Bedingtheit primär in seinen Kontroll- bzw. Handlungsmöglichkeiten betroffen erscheint, so dass über ihn die Bedingtheitsrelation etabliert ist, die jedoch die modalisierte Situation als ganze betrifft. Folglich ist der zentrale Partizipant immer in dieser koppelnden

Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 107

Ziel IZ wäre immer die modalisierte Situation, während sie bei Diewald in handlungsbezogener Lesart durch die Hauptverb-Relation, der in der hier vorgeschlagenen Beschreibung die dargestellte Situation entspricht, in erkenntnisbezogener Lesart durch den Faktizitätswert [+/‒NICHTFAKTISCH] gegeben ist, ohne dass zwischen beiden eine erkennbare konzeptuelle Entsprechung vorläge. Die Proposition, die bei Diewald in erkenntnisbezogener Lesart das Ziel der modalen Relation bildet, ist angemessener als Gegenstand oder Ziel innerhalb der modalisierten Situation zu beschreiben, die sich als Erkenntnissituation charakterisieren lässt (vgl. Abschnitt 3.1). Indem sie als Gegenstand bzw. Ziel, also als Partizipant der modalisierten Situation fungiert, hat sie Entitätscharakter, was bereits aus der Bezeichnung als ‚Proposition‘ hervorgeht. Propositionen sind nach Lyons (vgl. 1977: 443) Entitäten dritter Ordnung. Indem sie Entitäten sind, sind sie jedoch, im Gegensatz zu Relationen, als abgegrenzt, somit [-DIFFUS] in Diewalds Sinne, definiert, unabhängig davon, dass der zugehörige sprachliche Ausdruck ein relationales, d.h. verbales, Element enthält. Diese Tatsache mag dazu geführt haben, dass Diewald Propositionen als [+DIFFUSE] Entitäten auffasst, was ein Widerspruch in sich ist, wenn man Entitäten im Unterschied zu Relationen als abgegrenzt versteht. Eine Abbildung, die die Bedeutung eines erkenntnisbezogen verwendeten Modalverbs beschreibt, gibt es nicht. Diese kann ja nicht mit der zugrundeliegenden Direktive, wie sie in Abbildung 3.14 wiedergegeben ist, identisch sein, da die Modalverben, wie mehrfach betont wird, nicht die Direktive selbst bezeichnen, sondern Ausdruck des „Resultat[s] einer Faktizitätsbewertung durch den Sprecher“ sind (Diewald 1999: 208; Hervorhebung CB). Der Versuch einer solchen Darstellung bringt ebenfalls eine Unstimmigkeit in der Besetzung der positionalen Rollen zum Vorschein, indem hier der Sprecher als Ausgangspunkt und die Proposition als Ziel nicht, wie in handlungsbezogener Lesart, in der Rolle des Experiens zusammenfallen können. Nimmt man hingegen den Sprecher als Ziel der modalen Relation bzw. zentralen Partizipanten der modalisierten Situation an, wie in Abschnitt 3.1 vorgeschlagen wird, könnte er diese Rolle einnehmen, in der er sich dann selbst etwa zu einer bestimmten Erkenntnis „veranlasst“, „genötigt“ oder „befugt“ sieht. Die hier abgelehnte Identifikation der modalen Quelle mit dem Sprecher in erkenntnisbezogener Lesart hat bei Diewald weiterführende Annahmen zur Folge. So beschreibt sie die erkenntnisbezogene Lesart als deiktisch in Anlehnung an eine analoge Beschreibung der grammatischen Kategorien des Verbs

|| Funktion das Ziel der Bedingungsrelation; es besteht hier kein lesartunterscheidendes Merkmal. Man vergleiche dazu Abschnitt 3.1.

108 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

und postuliert vor diesem Hintergrund die Zugehörigkeit der Modalverben in erkenntnisbezogener (bei ihr: deiktischen) Lesart zum Paradigma des grammatischen Modus als so genannte „analytische Modi“ (vgl. ebd.: 16, 25, 167ff.). In ihrem Verständnis besteht die deiktische Bedeutung von Tempus und Modus in der Zuweisung eines temporaldeiktischen bzw. modaldeiktischen ([+/‒NICHTFAKTISCH]) Werts durch den Sprecher als deiktische Origo (vgl. Diewald 1999: 167ff.). Über diese Beschreibung der grammatischen Kategorien als Zuweisung von Werten stellt Diewald einen Zusammenhang her zur direktivischen Basisstruktur der Modalverben. Abbildung 3.15 bildet den postulierten Zusammenhang ab.

Abb. 3.15: Die erkenntnisbezogene Lesart der Modalverben als Repräsentant der deiktischen Moduskategorie nach Diewald (1999: 170, 206f.).

Die deiktische Qualität der grammatischen Kategorien besteht aber m.E. nicht in der Tatsache, dass der Sprecher Ursprung einer „Zuweisung“ von Werten wie [+VORZEITIG] oder [+NICHTFAKTISCH] ist. Diese Funktion hat er für jede Form von Prädikation, auch etwa für die Zuweisung von semantischen Merkmalen wie [+BELEBT], [+SÄUGETIER] usw. mit dem Gebrauch eines einfachen Substantivs wie Katze; deiktisch ist der Ausdruck Katze jedoch deswegen nicht. Tempus und Modus sind insofern deiktisch, als in den semantischen Merkmalen selbst, d.h. in den temporal- oder modaldeiktischen Werten, wie sie bei Diewald heißen, eine (temporale bzw. modale) Relation zum Sprecher zum Ausdruck kommt, der in Bezug auf diese Relation als Origo oder Ausgangspunkt zu verstehen ist. Diese Relation ist Teil der Ausdrucksbedeutung und hat mit dem Akt der Prädikation als Zuweisen von Merkmalen gerade so viel zu tun, dass der die Prädikation ausführende Sprecher als Referenzpunkt für die Bedeutung des relationalen deiktischen Ausdruck eines Tempus oder Modus herangezogen wird. Diese Referenzidentität bedeutet aber nicht, dass Deixis und Prädikation gleichgesetzt werden. Man könnte den Zusammenhang für Tempus und Modus vielleicht so fassen, dass der Sprecher einen temporal- oder modaldeikti-

Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 109

schen Wert zuweist (Prädikation), indem er einen sprachlichen Ausdruck verwendet, der eine temporale oder modale Relation zum Sprecher bezeichnet (Deixis): Der Sprecher prädiziert, der Ausdruck zeigt.68 Ohnehin ist es, wie oben beschrieben, nach der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Beschreibung gar nicht Merkmal der erkenntnisbezogenen Lesart, dass der Sprecher die modale Quelle besetzt, so dass er in diesem Rahmen gar nicht als Ausgangspunkt oder Origo der Modalität zu beschreiben ist. Vielmehr wäre er, wenn man Diewalds Kategorien übernimmt, als Ziel der modalen Relation zu verstehen, indem er als zentraler Partizipant der modalisierten Situation erscheint. Die semantische Gemeinsamkeit von durch verbalen Modus und erkenntnisbezogenes Modalverb modalisierte Situationen besteht, wie schon in Abschnitt 2.1 beschrieben, darin, dass die jeweilige dargestellte Situation als nichtfaktisch erscheint. Dies kommt jedoch durch verschiedene Verfahren zum Ausdruck, indem im verbalen Modus (und Tempus) durch das Verweisen aus der temporalen und modalen Origo des Sprechers diese als Garant bzw. hinreichende Bedingung für temporale Aktualität bzw. modale Faktizität aufgehoben wird, während beim erkenntnisbezogenen Modalverb umgekehrt die im unmarkierten Fall ebenfalls vorausgesetzte Erkenntnis des Sprechers bezüglich der dargestellten Situation als nur teilbedingt, d.h. potenziell nicht hinreichend begründet markiert ist. Mit dem Verhältnis zum grammatischen Modus ist auch die Annahme der Grammatikalisierung angesprochen, die den theoretischen Hintergrund und deren Beschreibung das Hauptziel von Diewalds Arbeit bildet. Demnach ist die diachrone Entwicklung der erkenntnisbezogenen Lesart aus der handlungsbezogenen Lesart als Grammatikalisierung zu beschreiben. Die Grammatikalisierungsparameter, die Diewald (1999: 19ff.) in Anlehnung an Lehmann (1985: 306) als Integrität, Paradigmatizität, paradigmatische Variabilität, Skopus, Gebundenheit und syntagmatische Variabilität formuliert und auf die Modalverblesarten anwendet, können hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Dennoch sollen einige möglicher Einwände, die sich vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Beschreibung ergeben und den Status der erkenntnisbezogenen || 68 Redder (2005: 60) sieht jedoch die Beschreibung erkenntnisbezogener Modalverben als Deiktika bei Diewald insgesamt als Fehlinterpretation des Bühlerschen Deixiskonzepts an, die der Übernahme des Origo-Konzepts unter Ausblendung der Handlungsfunktion von Deixis geschuldet sei. Dies lässt sich auf die Beschreibung grammatischer Kategorien als deiktisch insgesamt übertragen (vgl. etwa auch Leiss 1992: 7). Redder schlägt stattdessen die Zuordnung zum Arbeitsfeld vor, dessen Ausdrücke in operativen Prozeduren immer über andere Ausdrücke operieren, wohingegen deiktische Prozeduren selbständig funktionieren (vgl. 2005: 46).

110 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Lesart als grammatikalisiert zumindest ein Stück weit relativieren, festgehalten werden: Diewald (1999: 22) selbst stellt fest, dass nicht alle Grammatikalisierungsparameter nach Lehmann (1985: 306) für die erkenntnisbezogene Lesart der Modalverben erfüllt sind. Als distinktiv für die beiden zentralen Lesarten sieht sie die semantische Integrität, d.h. das größere semantische „Gewicht“ in handlungsbezogener Lesart, die Paradigmatizität als verhältnismäßige Geschlossenheit der Gruppe in erkenntnisbezogener Lesart und die postulierte Integration in das Paradigma des grammatischen Modus, die sog. paradigmatische Variabilität, bezogen auf die Flexionsformen, deren Bestand in erkenntnisbezogener Lesart eingeschränkt(er) erscheint, und die syntagmatische Variabilität, die semantisch Restriktionen bezüglich Subjekt und Komplementverb erfasst (vgl. Diewald 1999: 22ff.). Bezüglich der semantischen Integrität führt Diewald an, dass in handlungsbezogener Lesart die verschiedenen Modalverblexeme nicht ohne „erhebliche Veränderung der propositionalen Bedeutung“ gegeneinander austauschbar seien. Anders verhalte es sich in erkenntnisbezogener Lesart, in der zwar „subtile, aber präzise angebbare Bedeutungsunterschiede wahrnehmbar“ seien, die sich aber alle „im Bereich der grammatischen Kategorie der Faktizitätsbewertung“ bewegten (ebd.: 23). Der Anschluss an die grammatische Kategorie wurde oben bereits im Zusammenhang mit deren Deiktizität hinterfragt. Für die handlungsbezogene Lesart könnte man entsprechend festhalten, dass sich die Varianten mit verschiedenen Modalverblexemen alle im Bereich der Handlungsvoraussetzungen bewegten. Die empfundene Subtilität der Bedeutungsunterschiede allein scheint nicht hinreichend als Argument für den Verlust semantischer Integrität. Auch Diewald (1999: 24) gesteht Letzteres in Anlehnung an Sweetser (1988) im Prinzip ein und spricht statt von einer ausgeblichenen von einer neuen Bedeutung69, betont dann aber, dass diese neue, grammatische Bedeutung gleichberechtigt neben der älteren, lexikalischen Bedeutung bestehe und zwischen beiden kein Ableitungverhältnis vorliege, so dass die Beschreibung einer einzigen Bedeutung für jedes Modalverb „nur unter Einbußen an deskriptiver Prägnanz möglich“ sei (1999: 24); ähnlich argumentiert sie später gegen Kratzer (vgl. ebd.: 68, zu Kratzer s. Abschnitt 3.2). Ein notwendiger Verlust von Prägnanz in der Beschreibung einer einzigen Bedeutung für jedes Modalverb wird hier zurückgewiesen. Es wird versucht, genau eine solche allgemeine Bedeutung zu beschreiben und die Unterschiede || 69 Vgl. auch Hempel, der feststellt: „Die Modalverba haben keine solche Bedeutungsentleerung erfahren“ (1969: 235).

Diewald (1999): direktivische Basisstruktur und Deiktizität | 111

zwischen den Lesarten als sich systematisch aus dem jeweiligen Verwendungszusammenhang ergebend zu erfassen, wofür die Verwendung mit nominalem Komplement als Analogon und Evidenz dient. Damit ist auch eine synchrone Ableitbarkeit nicht der einen Lesart aus der anderen, aber aller Lesarten und Verwendungsweisen aus derselben lexikalischen Bedeutung behauptet. Der von Diewald in diesem Zuge weiter angeführte Wechsel der semiotischen Funktion, hin zum Deiktikon, wurde bereits oben kritisch behandelt. Eine Zunahme an Paradigmatizität, die bei Lehmann (1985: 307) als „Paradigmatisierung“ benannt im Sinne einer Integration syntaktischer Konstruktionen als periphrastische Formen in ein morphologisches Paradigma, ist bei Diewald für die Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart eng an die These gebunden, sie seien zu einem Teil des Modus-Paradigmas geworden (vgl. 1999: 25). Von einem gemeinsamen Paradigma im Sinne einer Austauschbarkeit mit den verbalen Modi kann allerdings insofern nicht die Rede sein, als letztere immer noch am Modalverb selbst realisiert werden und so mit diesem gemeinsam auftreten. Und auch funktional scheinen die Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart eher in ein Wortfeld adverbial verwendbarer bzw. satzregierender Ausdrücke unterschiedlicher formaler Typen zu gehören, etwa Adjektive wie vermutlich, Adverbien wie vielleicht, Matrixsätze wie Es spricht nichts dagegen / wird angenommen / behauptet, dass. Das „wesentlich reduzierte[s] Flexionsparadigma“ der erkenntnisbezogen verwendeten Modalverben muss m.E. auch nicht als Verlust paradigmatischer Variabilität gewertet werden, die nach Lehmann (1985: 307) als „Obligatorifikation“ zu verstehen ist im Sinne einer grammatikalischen geregelten Auswahl eines Elements aus dem Paradigma gegenüber der freien Wahl nach den aktuellen kommunikativen Bedürfnissen. Obligatorisch ist die Verwendung von Modalverben m.E. in keiner Lesart, d.h. es gibt keinen Fall, in dem das Modalverb nicht frei gewählt oder ganz weggelassen werden könnte bzw., sofern man die Zugehörigkeit zum grammatischen Modus doch zugestehen wollte, die Wahl auf ein erkenntnisbezogenes Modalverb als „analytischen Modus“ fallen muss. Diewald (1999: 25f.) bezieht diesen Parameter der paradigmatischen Variabilität auf die Flexionsformen der Modalverben, wobei doch eher die Modalverblexeme als Instanzen eines Modus-Paradigmas gelten müssten. Die Tatsache, dass die analytischen Flexionsformen in erkenntnisbezogener Lesart seltener oder gar nicht vorkommen, ist als semantisch begründete Beschränkung beschreibbar (vgl. Abschnitt 6.6), ähnlich wie die Tatsache, dass bestimmte Substantive nur Singular- oder Pluralformen aufweisen; man könnte auch sagen, dass entsprechende kommunikative Bedürfnisse nur für die Verwendung der Präsensund Präteritumformen existieren.

112 | Das modale Szenario und andere Beschreibungsmodelle

Schließlich wird auch die syntagmatische Variabilität herausgestellt, die Diewald auch an anderen Stellen wiederholt als Abbau semantischer Restriktionen in erkenntnisbezogener Lesart betont (vgl. Diewald 1999: 255ff.). So sei die „Aufhebung der Subjektrestriktionen und der lexikalisch-semantischen Restriktionen des Hauptverbs [...] ein deutliches Zeichen der stärkeren Grammatikalisierung der deiktischen [hier: erkenntnisbezogenen, CB] Gebrauchsweisen“ (ebd.: 265). Auch diese Feststellung wird im Folgenden (vgl. Abschnitt 7.2) hinterfragt, indem man eher von größeren Beschränkungen in erkenntnisbezogener Lesart sprechen könnte, da hier überwiegend statische Komplemente vorkommen, die meist mit den Verben haben und sein, transitiv, als Kopula oder als Hilfsverben in perfektischen Infinitiven, gegeben sind. Insgesamt deuten diese Aspekte darauf hin, dass nicht eine einzelne Lesart (oder zwei) als grammatikalisiert zu bezeichnen sind, sondern vielmehr von der Grammatikalisierung des gesamten Modalverbkomplexes die Rede sein müsste. Ergebnis dieser Grammatikalisierung ist die abstrakte Bedeutung der Modalverben, wie sie in Kapitel 2 beschrieben wurde. Diese grammatikalisierte Bedeutung ermöglicht es, dass sich die modale Bedingtheit auf verschiedenen Formen der Intentionalität beziehen kann und damit die Modalverben verschiedene Arten von Modalität zum Ausdruck bringen, die als Lesarten erscheinen (vgl. Abschnitt 2.4).

4 Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen Nachdem in Kapitel 2 die allgemeinen Begriffe zur semantischen Beschreibung der Modalverben eingeführt sowie in Hinblick auf das modale Szenario konkretisiert und in Kapitel 3 das modale Szenario als Beschreibungsmodell umfassend eingeführt und mit anderen Beschreibungsmodellen in seinen Gemeinsamkeiten und Unterschieden verglichen wurde, soll in diesem Kapitel nun jedes Modalverblexem mit seinen Lesarten einzeln beschrieben werden. Dabei wird die Grundthese fortgeführt, dass allen Lesarten eines spezifischen Modalverbs eine einheitliche Semantik zugrundeliegt, die die lexikalische Einheit rechtfertigt und gegeben ist mit der Referenz auf eine bestimmte Bedingungsrelation im modalen Szenario. Das einzelne Modalverb bezeichnet damit einen Teil der komplexen, szenisch angelegten Bedingungsstruktur, die als ganze eine intentionale dynamische Situation bedingt, die modalisierte Situation. Diese entspricht nicht unbedingt der im Rest des Satzes, ohne Modalverb, gegebenen Situation, d.h. der dargestellten Situation. Vielmehr entstehen die Lesarten gerade auch dadurch, dass die dargestellte Situation als modalisierte Situation oder als Partizipant der modalisierten Situation aufgefasst wird. Darüber, wie und in welchen Belegen sich die Lesarten lexemspezifisch äußern, soll dieses Kapitel mit Hilfe von Beispielen aus dem LIMAS-Korpus einen Überblick geben; auch, um die umfassende Anwendbarkeit des in dieser Arbeit vorgeschlagenen Beschreibungsmodells zu belegen, mehr noch: um aufzuzeigen, wie scheinbar idiosynkratische Bedeutungsaspekte aus der Anlage des modalen Szenarios erklärbar werden. Dabei wird es auch darum gehen, in der Literatur als „Sonderfälle“ behandelte Verwendungen auf ihre Einordenbarkeit in das System aus lexikalischen Modalverbbedeutungen und Lesarten zu prüfen und ihre Zuordnung, wie sie für die Belege des LIMAS-Korpus erfolgt ist, zu rechtfertigen. Zur Veranschaulichung werden überwiegend Belege mit Modalverbformen im Indikativ Präsens, möglichst im Verbzweit-Aussagesatz und ohne Negation, gewählt. Der teils „besonderen“ Bedeutung von Tempus und Modus bei den Modalverben ist Kapitel 6 gewidmet; Abschnitt 7.4 in Kapitel 7 zeigt, wie der Satztyp die Lesart modifizieren kann. Belege mit nicht-verbalem Komplement werden teils erläutert, sind aber auch expliziter Gegenstand in Kapitel 7, Abschnitt 7. Die Reihenfolge, in der die Modalverblexeme in diesem Kapitel behandelt werden, weicht von der in den meisten Grammatiken und Arbeiten ab, die in

DOI 10.1515/9783110540451-004

114 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

einer semantisch motivierten Abfolge vorgehen.70 Indem mit wollen und mögen begonnen wird, dann sollen und dürfen folgen, schließlich müssen und können den Abschluss bilden, ist eine (fast) genau entgegengesetzte Folge gewählt etwa gegenüber der Duden-Grammatik (2005: 562ff.), der IDS-Grammatik (1997: 1888ff.) und Welke (1965: 46ff.). Es wird damit nicht einer zunehmenden semantischen Komplexität von den merkmalarmen Lexemen müssen und können ausgehend gefolgt, sondern eher einer zunehmenden Komplexität der modalen Bedingtheitsstruktur; man könnte auch sagen: einer abnehmenden Prototypizität der Bedingtheit einer intentionalen und dynamischen Situation. So kann als prototypischer Fall einer bedingten Situation die Handlungsabsicht gelten, die wollen in handlungsbezogener Lesart bezeichnet, so dass nur der Handelnde selbst involviert ist; mögen bildet das reaktive Pendant, in das über die Reaktivität bereits äußere Einflüsse eingehen. Sollen und dürfen bedeuten die Auslagerung der Absicht bzw. Bedingungsrelation aus der modalisierten Situation, d.h. die Einbringung einer zweiten Instanz, und müssen und können schließlich die „Entintentionalisierung“ der ausgelagerten Bedingungsrelation, somit die Abstraktion von personengebundenen hin zu allgemeinen Handlungsvoraussetzungen unterschiedlicher Art.

4.1 Wollen: Absicht, Prospektion und Anspruch auf Zustimmung Wollen bezeichnet eine Intentionalität, d.h. eine [+VERORTETE] Situationsbedingung, die initiativ, also [–REAKTIV], angelegt und deren Träger mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation identisch ist, so dass die Intentionalität [–EXTERN] verortet erscheint. Bei Bech (1949: 5) ist von dem gerichteten Willen des Subjekts die Rede, was, sofern „Wille“ ganz allgemein und initiativ aufgefasst wird, der hier vorgeschlagenen Beschreibung entspricht. Abbildung 4.1 zeigt den entsprechenden Ausschnitt aus dem modalen Szenario.

|| 70 Helbig/Buscha (2001: 114ff.) und Hentschel/Weydt (2003: 73ff.) behandeln die Modalverben hingegen in alphabetischer Reihenfolge.

WOLLEN

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Abb. 4.1: Wollen als Ausdruck einer initiativen ([–REAKTIVEN]) instanzenbezogenen ([+VERORTETEN]) situationsinternen ([–EXTERNEN]) Situationsbedingung.

In den verschiedenen Verwendungen, die sich in einem Korpus finden, erscheint diese initiative situationsinterne Intentionalität in unterschiedlicher Ausprägung; die folgenden Belege sollen einen Überblick geben: (43)

In der Nachbarschaft will der LWV dann zugleich ein Haus für Gehörgeschädigte bauen. (wo-765)

(44)

Hier will ich meine Ruhe haben! (wo-44)

(45)

Dazu wollen die nachstehenden Aufsätze unter einer bestimmten Fragestellung einen Beitrag liefern. (wo-487)

(23)

Es sah aus, als wolle dieser Gigant auf die Kuppel herunterstürzen und sie zertrümmern. (wo-15)

(46)

Das Rattern der nächtlichen Straßenbahn Nummer Vier brachte mir Angstträume mit, und das Knirschen des Sandes unter meinen Füßen, das nicht aufhören wollte, so oft wir auch auskehrten, tat mir in den Ohren weh. (wo-965)

(29)

Ein paar Leute wollten allerdings gesehen haben, dass die siebzehnjährige Gerda nicht zu Fuß ging, sondern mit ihrem Fahrrad fuhr. (wo-171)

Wollte man paraphrasieren, worin die Bedingtheit in diesen Fällen besteht, wovon in dem jeweiligen mit wollen modalisierte Satz gegenüber einem entsprechenden Satz ohne Modalverb die Rede ist, so würde man in (43) von einer Absicht, in (44) etwa von einem Wunsch, in (45) wohl von einem Zweck oder

116 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

einer Bestimmung, in (23) und (46) von einem Bevorstehen oder Augenschein und in (29) von einer Behauptung sprechen. Nicht alle diese Fälle lassen sich so auf den ersten Blick zwei zentralen Lesarten zuordnen, wie sie etwa in der IDS-Grammatik mit „Absichten, Vorhaben und Wünsche“ bzw. „glauben machen wollen“ beschrieben werden (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1896). Dabei kann es keine befriedigende Lösung sein, die verbleibenden Belege als metaphorisch oder marginal abzutun. Anhand des modalen Szenarios soll beschrieben werden, wie sich die verschiedenen Fälle als Ausprägungen der einheitlichen lexikalischen Bedeutung von wollen ergeben. Die Belege (43) und (44) sind prototypische Belege für die handlungsbezogene, genauer: volitive, Lesart von wollen. Die von wollen bezeichnete Bedingungsrelation erscheint als handlungs- oder handlungszielbezogener Wille. Handlungsbezogen, wie in (43), kann dieser Wille genauer als ‚Absicht‘ oder ‚Vorhaben‘ charakterisiert werden; zielbezogen, wie in (44), erscheint er eher als ‚Wunsch‘ oder ‚Forderung‘. Man vergleiche die Paraphrasen in (43)' und (44)': (43)'

Der LWV hat vor / die Absicht, in der Nachbarschaft dann zugleich ein Haus für Gehörgeschädigte zu bauen.

(44)'

Ich wünsche/fordere, dass ich hier meine Ruhe habe.

In (43) entspricht dabei die dargestellte Situation bauen (der LWV, ein Haus für Gehörgeschädigte) der modalisierten Situation und besteht in einer Handlung, die als durch eine Absicht des Agens dieser Handlung, d.h. des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, bedingt dargestellt wird. Etwas anders ist in (44) ein Zustand haben (ich, meine Ruhe) dargestellt, dessen Eintreten der Subjektreferent als zentraler Partizipant der modalisierten Situation wünscht. Genau genommen ist diese hier nicht mit der dargestellten Situation identisch; vielmehr ist sie als eine dynamische Situation zu verstehen, die zum dargestellten Zustand führt. Dies könnte in Beispiel (44) sein, dass die Anwesenden aufhören zu reden oder eine andere Lärmquelle ausgeschaltet wird. Indem es sich dabei ebenfalls um eine dynamische Situation, typischerweise eine Handlung, handelt, die der zentrale Partizipant zumindest mittelbar kontrolliert, sind auch Belege dieser Art der handlungsbezogenen Lesart zuzuordnen. Da die kontrollierende Rolle des zentralen Partizipanten jedoch im Vergleich zu (43) auf dessen Intention, seinen zielbezogenen Willen, als Auslöser reduziert erscheint, worin auch die Lesart als ‚Wunsch‘ gegenüber ‚Absicht‘ besteht, und keine unmittelbare Handlungskontrolle des Ausführenden mehr ist, ist bereits ein Über-

WOLLEN

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gang zur erfahrungsbezogenen Lesart angelegt (vgl. zur Rolle der Kontrolliertheit der dargestellten Situation Abschnitt 7.2). Als Ausdruck einer Absicht erscheint wollen auch in Fällen wie (47), in denen ein direktionales Adverbial Komplementfunktion hat: (47)

Marlene will ins Kino, sie holt dich abends ab. (wo-232)

Mit der direktionalen Ergänzung ins Kino ist die modalisierte Situation als dynamische Bewegungssituation, etwa SICH BEWEGEN (Marlene, ins Kino)71 gegeben. Das Partizipatum der modalisierten Situation erscheint ausdrucksseitig nicht als Verb, ist jedoch in der direktionalen Phrase als Bewegung implizit (vgl. Abbildung 4.2).

Abb. 4.2: Wollen mit direktionalem Komplement im modalen Szenario anhand von Beispiel (47): Marlene will ins Kino, sie holt dich abends ab.

Ein Wunsch kommt hingegen in (48) zum Ausdruck, wo ein nominales Komplement vorliegt: (48)

Martin will mehr Taschengeld. (wo-1145)

Der Gegenstand des Wunsches ist bestimmt über die Zielsituation HABEN (Martin, mehr Taschengeld), also eine Besitzrelation, in der der Subjektreferent als

|| 71 Die Großbuchstaben sollen anzeigen, dass es sich nicht um ein ausdrucksseitig gegebenes Komplementverb, sondern um ein hier zur Verdeutlichung ergänzte Angabe des Partizipatums handelt. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass ein entsprechendes Verb im Satz fehlt oder ausgelassen wurde, sondern nur, dass sich die Art des Partizipatums erst zusammen mit dem Modalverb ergibt und daher bei der separaten Wiedergabe der dargestellten Situation ohne Modalverb u. U. nicht deutlich wird.

118 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Possessor erscheint. Dabei ist es wollen, das neben seiner modalen Bedeutung in Fällen wie (48) zugleich das Besitzverhältnis zwischen den im Subjekt und Objekt realisierten Entitäten etabliert (vgl. Lehmann/Shin/Verhoeven 2004: 8). Als modalisierte Situation ist hier dann die dynamische Situation zu verstehen, deren Ergebnis die Besitzrelation als Zustand und damit die Possessor-Rolle des Subjektreferenten ist, mithin eine Situation, in der letzterer als Rezipient erscheint. Offen bzw. dem Kontext überlassen bleibt, wer als kontrollierende Instanz auftritt. So ist in (48) nur aus dem Weltwissen über die Konstellation der an einer Taschengeldausgabe gewöhnlich Beteiligten klar, dass die Zielsituation vermutlich nicht von Martin selbst herbeigeführt bzw. die modalisierte Situation, etwa BEKOMMEN (Martin, mehr Taschengeld) oder GEBEN (Martins Eltern, Martin, mehr Taschengeld), nicht von ihm als Agens kontrolliert wird. Doch auch in Fällen, in denen der Subjektreferent die modalisierte Situation selbst kontrolliert, z.B. wenn ein erwachsener Martin in Martin will ein neues Handy selbst für die Anschaffung verantwortlich ist, erscheint er immer, dann reflexiv, zugleich als Rezipient der modalisierten Situation. Dass die modalisierte Situation bei wollen mit nominalem Komplement immer eine geben- bzw. bekommen-Situation ist, dass wollen also ein Besitzverhältnis etabliert, ergibt sich aus dem modalen Szenario. Das ausdrucksseitig nicht eigenständig realisierte Partizipatum der modalisierten Situation wird aus dem Relationsgefüge des modalen Szenarios ergänzt. Genauer wird diejenige Bedingungsrelation als Partizipatum der modalisierten Situation aufgefasst, die der wollen-Bedingungsrelation unmittelbar opponiert (vgl. dazu auch Abbildung 3.7 in Abschnitt 3.1).

Abb. 4.3: Wollen mit nominalem Komplement und sich aus dem modalen Szenario ergebendem Partizipatum der modalisierten Situation anhand von Beispiel (48): Martin will mehr Taschengeld.

WOLLEN

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Insgesamt erscheinen Verwendungen von wollen mit nicht-verbalem, das heißt nominalem oder adverbialem Komplement, nur in handlungsbezogener Lesart. Vergleiche zu diesen Fällen im Gesamtzusammenhang aller Lexeme Abschnitt 7.1. Bemerkenswert ist die Entsprechung von dynamischen verbalen Komplementen wie bauen in (43) und direktionalen adverbialen Komplementen wie der Präpositionalphrase ins Kino in (47) einerseits und statischen verbalen Komplementen wie haben in (44) und nominalen Komplementen wie mehr Taschengeld in (48) andererseits, die sich darin äußert, dass für Erstere wollen eher als ‚Absicht‘ für Letztere eher als ‚Wunsch‘ gelesen wird. Belege wie (29), in denen wollen einen Zweck oder eine Bestimmung bezeichnet, werden hier ebenfalls der handlungsbezogenen Lesart von wollen zugeordnet. Auch hier erscheint die von wollen bezeichnete Bedingungsrelation als Intentionalität einer Instanz, genauer: des zentralen Partizipanten, der die modalisierte Situation in seiner Absicht intendiert und kontrolliert, und zwar mittels eines Werkzeugs oder, wie im Falle von (45), eines Werkstücks. Der Unterschied zu prototypischen Fällen wie (43) besteht darin, dass der zentrale Partizipant nicht mit dem Subjektreferenten identisch ist. Dennoch erscheint Letzterer als Träger einer Art von Intentionalität, die ihm vom, ausdrucksseitig nicht realisierten, zentralen Partizipanten übertragen oder auferlegt wurde. Engel (2004: 248) spricht in diesen Fällen von Subjektschub. Bech (1949: 8) bezeichnet sie als Animismus. Diewald (1999: 269) sieht eine metonymische Übertragung mit metaphorischem Effekt. Es ist die „übertragene“ oder „verschobene“ Absicht, die den Zweck oder die Bestimmung des Subjektreferenten ausmacht. Hier soll weniger von Metapher die Rede sein, sondern von Verschiebung im Sinne der Darstellung eines anderen Ausschnitts der selben modalisierten Situation. Vergleiche hierzu die Paraphrasen (45)' und (45)'' von (45): (45)'

Die nachstehenden Aufsätze haben den Zweck, dazu unter einer bestimmten Fragestellung einen Beitrag zu liefern.

(45)''

Jemand will dazu mittels der nachstehenden Aufsätze unter einer bestimmten Fragestellung einen Beitrag liefern.

Auch die Paraphrase mit sollen ist weitestgehend sinnerhaltend (siehe zu einer entsprechenden Verwendung von sollen Abschnitt 4.3). (45)'''

Dazu sollen die nachstehenden Aufsätze unter einer bestimmten Fragestellung einen Beitrag liefern.

120 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Im Unterschied zur Konstruktion mit wollen ist hier in der Semantik des Modalverbs eine situationsextern verortete Bedingungsrelation explizit. In beiden Fällen gilt, dass mit der Darstellung eines wirkenden Werkzeugs oder Werkstücks der damit mittelbar Wirkende als zentraler Partizipant der modalisierten Situation implizit ist. ‚Zweck‘-Belege wie (45) und ‚Wunsch‘-Belege wie (44) verhalten sich komplementär in ihren Gemeinsamkeiten zu ‚Absicht‘-Belegen wie (43): Beim Ausdruck eines Wunsches ist im Subjekt die intendierende, nicht notwendig aber die unmittelbar kontrollierende, Instanz gegeben. Beim Ausdruck eines Zwecks erscheint mit dem Werkzeug oder Werkstück die unmittelbar kontrollierende, nicht aber der Benutzer oder Schöpfer als eigentlich intendierende oder initiierende Instanz im Subjekt realisiert. Wunsch und Zweck erscheinen so als Aspekte einer entzerrten Absicht in Situationen mittelbarer Kontrolle, wobei der Wunsch den Mittelnutzer, der Zweck das Mittel fokussiert. Die Absicht selbst erscheint demgegenüber rekursiv als auf sich selbst gerichteter Wunsch resp. sich selbst auferlegter Zweck und kann als prototypisch für die handlungsbezogene Lesart von wollen gelten. Mit 49 von insgesamt 1.152 Fällen stellt die Zweck-Lesart aber immerhin 4,3% der wollen-Belege im LIMAS-Korpus. In Verwendungen wie (23) und (46), die hier noch einmal angeführt sind, erscheint wollen als Ausdruck eines unmittelbaren Bevorstehens der dargestellten Situation, einer Absehbarkeit oder Prospektion (vgl. auch Duden 2005: 567, Engel 2004: 248, Helbig/Buscha 2001: 120). (23)

Es sah aus, als wolle dieser Gigant auf die Kuppel herunterstürzen und sie zertrümmern. (wo-15)

(46)

Das Rattern der nächtlichen Straßenbahn Nummer Vier brachte mir Angstträume mit, und das Knirschen des Sandes unter meinen Füßen, das nicht aufhören wollte, so oft wir auch auskehrten, tat mir in den Ohren weh. (wo-965)

Die von wollen bezeichnete Intentionalität, die die modalisierte Situation bedingt, erscheint hier nicht als eine Handlung initiierende Absicht eines Agens, sondern als auf ein Ereignis gerichtete Intentionalität, mithin als Erwartung oder Prospektion hinsichtlich eines Erlebnisses für den zentralen Partizipanten als Träger dieser Intentionalität. Diese Fälle gehören damit zur erfahrungsbezogenen Lesart (vgl. Abschnitt 2.4). Im modalen Szenario ist die prospektive Intentionalität in der wollen-Bedingungsrelation gegeben, der Erfahrungscharakter der modalisierten Situation in der reaktiven Haltung des zentralen Partizipanten in einer unmittelbar opponie-

WOLLEN

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render Relation, die im modalen Szenario der mögen-Bedingungsrelation entspricht (vgl. Abbildung 4.4).

Abb. 4.4: Wollen in erfahrungsbezogener (prospektiver) Lesart anhand von Beispiel (23): Es sah aus, als wolle dieser Gigant auf die Kuppel herunterstürzen und sie zertrümmern.

Träger der wollen-Bedingungsrelation und zentraler Partizipant der modalisierten Situation sind damit referenzidentisch als situationsinterne Instanz bestimmt. Die unterschiedlichen Intentionalitäten der wollen- und mögen-Bedingungsrelation können ihr daher auch nur durch den zeitlichen Versatz von Bedingungsrelation und modalisierter Situation zukommen, der einen Zustandswechsel bedingt, d.h. dynamisch ist, wobei diese Dynamizität mit der dargestellten Situation eingebracht wird. Prospektion erscheint damit als temporal-initiative Intentionalität, die eine entsprechende reaktive Intentionalität bedingt, und somit als Erwartung eines künftigen Ereignis, genauer: des eigenen damit verbundenen Erlebnisses. Denn nur bei dem Erlebnis eines Ereignisses, doch nicht bei dem Ereignis selbst, handelt es sich um eine kontrollierte intentionale Situation, die die Valenz des Modalverbs erfüllt. Helbig/Buscha (2001: 120) erwähnen ebenfalls eine Variante dieser Art, der sie auch Fälle wie (49) zuordnen: (49)

Ich wollte ihn (gerade) fragen, aber sie hielt mich zurück. (zitiert nach Helbig/Buscha 2001: 120; Hervorhebung CB)

Hier ist die Abgrenzung zur handlungsbezogenen Lesart nicht deutlich, da von einer Absicht die Rede ist. Ein Satz wie (49) rückt aber in die Nähe von erfahrungsbezogenen Verwendungen wie (23) und (46), indem durch die jeweilige Form von wollen mit der Absicht auch auf einen Zeitraum vor der modalisierten

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Situation verwiesen wird, also auf den Zeitpunkt, in dem die Aussicht auf die Situation als unmittelbar bevorstehendes Ereignis besteht. Mit dieser Unterscheidung verbunden ist ein Wechsel der Perspektive: Die Absicht des Handelnden entspricht der Prospektion des Beobachtenden als einer vom Handelnden verschiedenen, ihm gegenüberstehenden, die Situation nicht kontrollierenden oder intendierenden, sondern nur beobachtenden Instanz. Wie in Abschnitt 2.4 ausgeführt, ist es dieser Perspektivwechsel vom planenden Agens als zentralem Partizipanten der modalisierten Situation zum aufmerksamen Experiens, in dem der Übergang von der handlungsbezogenen zur erfahrungsbezogenen Lesart besteht. Er wird zuerst möglich für Situationen, in denen beide Perspektiven, also eine handelnde und eine beobachtende Instanz, vertreten sind. Erst mit der Aufgabe der Intendiertheit und Kontrolle der dargestellten Situation durch den zentralen Partizipanten der modalisierten Situation wird die Unterscheidung von dargestellter und modalisierter Situation zwingend notwendig. In prototypischen Fällen der erfahrungsbezogenen Lesart wie in (23) ist keine handelnde, sondern eine beobachtende Instanz als intentionaler, nicht aber intendierender und kontrollierender, Partizipant der modalisierten Situation gegeben. Im Korpus wurden Belege wie (49), in denen beide Lesarten in der beschriebenen Weise möglich sind, der handlungsbezogenen Lesart zugeordnet. Beleg (29) ist schließlich ein Beispiel für die hier so genannte erkenntnisbezogene, genauer: quotative, Verwendung von wollen, die sich mit ‚behaupten‘ paraphrasieren lässt wie in (29)': (29)

(29)'

Ein paar Leute wollten allerdings gesehen haben, daß die siebzehnjährige Gerda nicht zu Fuß ging, sondern mit ihrem Fahrrad fuhr. (wo-171) Ein paar Leute behaupteten allerdings, sie hätten gesehen, dass die siebzehnjährige Gerda nicht zu Fuß ging, sondern mit ihrem Fahrrad fuhr.

Während diese Fälle mit der handlungsbezogenen Lesart das persönliche Subjekt teilen, ist die dargestellte Situation, hier: haben (GE (sehen (ein paar Leute, dass ...))), ein Zustand, der, wie der Vorgang in erfahrungsbezogener Lesart, nicht kontrolliert oder intendiert ist. Dies ist unabhängig davon der Fall, dass das Sehen-Ereignis, das zu diesen Zustand geführt hat, kontrolliert und intendiert ist; der resultierende Zustand des Gesehen-Habens ist es nicht. Anders als in erfahrungsbezogener Lesart wird hier mit dem verbalen Komplement keinerlei, d.h. auch keine unkontrollierte, rein temporale Dynamizität

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eingebracht, so dass nicht nur der zentrale Partizipant, sondern auch das Partizipatum der modalisierten Situation aus den Bedingungsstrukturen des modalen Szenarios entliehen werden. Hierin entsprechen sich Fälle der erkenntnisbezogenen Lesart und Fälle der handlungsbezogenen Lesart mit nominalem Komplement im Gegensatz zur erfahrungsbezogenen Lesart bzw. handlungsbezogenen Lesart mit direktionalem Adverbial als Komplement. Der zentrale Partizipant kann ohne temporale Dynamik und damit mögliche Veränderung der Perspektive wie in erfahrungsbezogener Lesart (vgl. Abbildung 4.4) nicht mit dem Träger der wollen-Bedingungsrelation referenzidentisch sein; vielmehr sind zwei verschiedene opponierende intentionale Instanzen, gleichzeitig in einer Situation verbunden, beteiligt. Diese ist aufgrund des propositionalen Charakters des thematischen Partizipanten als Kommunikationssituation qualifiziert. In der IDS-Grammatik wird wollen in quotativer Verwendung paraphrasiert mit ‚glauben machen wollen‘ (Zifonun u.a. 1997: 1896). Diese Paraphrase beinhaltet, dass sich der ausgedrückte Wille bzw. die Intentionalität auf eine andere Instanz, genauer: einen (potenziellen) Kommunikationspartner, richtet. Dieser ist als zentraler Partizipant der modalisierten Situation zu verstehen. Die modalisierte Situation selbst, die durch die wollen-Intentionalität bedingt ist, d.h. auf deren Realisierung der bezeichnete „Wille“ zielt, entspricht der mögenRelation und kann in prototypischen quotativen Verwendungen wie (29) als Zustimmung oder Anerkennung durch den zentralen Partizipanten beschrieben werden. Diese Zustimmung oder Anerkennung lässt sich dann auch als Abwesenheit von Widerspruch verstehen, was einer Beschreibung von mögen als Negativum entspräche (vgl. Abschnitt 2.2). Die Intentionalität selbst, egal ob zustimmend oder widersprechend, ist jedoch konstitutiver Teil des kommunikativen Gegenübers und als bestehend vorausgesetzt. Abbildung 4.5 soll diese Zusammenhänge veranschaulichen.

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Abb. 4.5: Wollen in erkenntnisbezogener (quotativer) Lesart anhand von Beispiel (29): Ein paar Leute wollten allerdings gesehen haben, daß ...

So erscheint auch die sprachliche Äußerung bzw. der Sprechakt, der hier die Bedingungsrelation bildet, als Form von Intentionalität, die gerichtet ist auf die anerkennende, d.h. nicht widersprechende, Intentionalität eines anderen. Als erkenntnisbezogen bzw. quotativ wurden im Korpus alle diejenigen Belege gewertet, in denen wollen in dieser Weise auf eine Äußerung verweist. Dazu gehören dann auch Fügungen wie wenn man so will, womit ein Sprecher die Form, das „So“, seiner Äußerung einem allgemeinen Sprecher (man) in den Mund legt und so seine eigene Äußerung bescheiden als reaktive Anerkennung inszeniert. Die Fügung etwas wissen wollen für ‚fragen‘ hingegen wird trotz der Spezifikation als Sprechakt, genauer: als Frage, nicht der quotativen Lesart zugeordnet. Hier erscheint die modalisierte Situation nicht erkenntnisbezogen als Anerkennung eines Geltungsanspruchs, sondern als handlungsbezogen mit Bezug auf die Antwort, also die Handlung, mit der das Gegenüber dem geäußerten Wunsch entspricht. Ein besonderer Fall quotativer Lesart liegt in das will etwas heißen vor, da hier die wollen-Intentionalität nicht in der Äußerung einer Person, sondern in der indexikalisch zu verstehenden Zeichenhaftigkeit eines unbelebten Gegenstands oder eines Sachverhalts besteht. Das Merkmal der quotativen Lesart, eine Anerkennung des Inhalts einer Äußerung bzw. allgemein gesprochen: eines Zeichengehalts, ist auch für diese Fälle gegeben. Anzumerken ist, dass die distanzierende Bedeutungskomponente der quotativen Lesart von wollen hier nicht vorliegt; der Sprecher steht voll hinter den Erkenntnissen, um die es geht, was einleuchtet vor dem Hintergrund, dass sie allein seiner eigenen Interpretationsleistung, nicht dem opponierenden Geltungsanspruch eines anderen entstammen.

MÖGEN

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4.2 Mögen: (Dis-)Präferenz, Aspektion und Zugeständnis Der Status von mögen als Modalverb ist nicht unumstritten, da es in den unmarkierten Formen des Indikativs Präsens in der oft als grundlegend angesehenen handlungsbezogenen Lesart standardsprachlich praktisch nicht, allenfalls negiert, vorkommt. So schließen z.B. Ehlich/Rehbein (1972: 318) und Brünner/Redder (1983a: 41) mögen aus ihrer Betrachtung aus und behandeln nur möchte-. Anhand des modalen Szenarios lässt sich jedoch zeigen, dass es in der Semantik von mögen begründet liegt, dass es im Indikativ Präsens kaum handlungsbezogen verwendet wird, sondern nur im Indikativ und Konjunktiv Präteritum (siehe Abschnitt 6.5 zu möchte-) sowie heischend im Konjunktiv Präsens (vgl. Abschnitt 6.4). (50)

(51)

Da Misereor offensichtlich kein Geld für die ärmsten seiner Brüder hat, möchte ich aus der Kirche austreten und meine Steuer überweisen. (moe-313) Als Beispiel möge die chemische Industrie dienen. (moe-412)

Es ist die reaktive Intentionalität, auf die mögen im modalen Szenario verweist, die zusammen mit ihrer situationsinternen Verortung, d.h. der Zuordnung zum zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, der initiativen semantischen Rolle des Agens widerspricht, als der der zentrale Partizipant in handlungsbezogener Lesart qualifiziert ist. Der mit der mögen-Intentionalität ausgestattete zentrale Partizipant passt demgegenüber aufgrund der Reaktivität seiner Haltung in der Rolle eines Rezipienten oder Experiens. Dass mögen mit Negation eher handlungsbezogen erscheinen kann, lässt sich darauf zurückführen, dass es eine Weigerung angesichts des Situationsentwurfs bezeichnet, wodurch die modalisierte Situation selbst als kontrafaktisch impliziert wird, der Widerspruch also nicht zum Tragen kommt. Positives mögen, das ein Zulassen bezeichnet, impliziert hingegen die Realisierung der modalisierten Situation; hier würde der Widerspruch zwischen Reaktivität und Agentivität wirksam. Diese Beschränkung, nach der mögen in handlungsbezogener Lesart aus semantischen Gründen blockiert ist, wohingegen möchte- verwendet werden kann, findet sich analog bei sollen und dürfen, die nur im Konjunktiv Präteritum sollte- bzw. dürfte- (im engeren Sinne) erkenntnisbezogen verwendet werden. In diesem Abschnitt wird vorerst nur von den unmarkierten Formen des Indikativs

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Präsens die Rede sein; die Konjunktiv-Präteritum-Formen sind Gegenstand von Abschnitt 6.5.73 In Abbildung 4.6 ist die Bedeutung von mögen grafisch veranschaulicht.

Abb. 4.6: Mögen als Ausdruck einer reaktiven ([+REAKTIV]) instanzenbezogenen ([+VERORTET]) situationsinternen ([–EXTERN]) Situationsbedingung.

Die Möglichkeitsmodalverben wurden in Abschnitt 2.2 für die handlungsbezogene Lesart insgesamt als Negativa beschrieben und so verweist (nicht negiertes) mögen auf das Nicht-Bestehen einer entsprechenden wirksamen Bedingungsrelation. Mit dieser Eigenschaft als Negativum hängt es zusammen, dass mögen in handlungsbezogener Lesart zwei Bedeutungsvarianten zeigt. Bech erfasst diese Varianten in der Unterscheidung von zwei Hauptdefinitionen, von denen die eine („Hauptdefinition II – Das passive «mögen»“) die Situation als

|| 73 Dort wird beschrieben, wie durch den Konjunktiv Präteritum die Reaktivität in der lexikalischen Semantik von mögen überbrückt wird. Der Konjunktiv Präteritum ist als morphologischer Marker von Modalität selbst Ausdruck einer Bedingtheit (vgl. Abschnitt 6.5.1); kombiniert mit einem Modalverb wird die Bedingtheitsstruktur des Konjunktivs Präteritum auf die Strukturen des modalen Szenarios bezogen. Dies geschieht, sofern die Modalität nicht anderweitig gebunden ist, d. h. wenn der Ausgangspunkt der Bedingung nicht außerhalb der vom Modalverb ausgedrückten Bedingungsstruktur liegt, z. B. in einem konditionalen Kontext durch einen konditionalen Nebensatz oder in indirekter Rede durch einen Matrixsatz mit Sprechaktverb. Mittels der auf das modale Szenario abgebildeten Bedingtheitsstruktur des Konjunktivs Präteritum wird dann entlang der sich implizierenden modalen Relationen verwiesen, im Falle von mögen auf die unmittelbar opponierende müssen-Relation. Der Konjunktiv Präteritum möchte- wird somit erklärbar als Bereitschaft im Falle der Unerlässlichkeit, was bei initiativer Äußerung, ohne dass tatsächlich äußere Zwänge erkennbar wären, als indirekte, somit höfliche, Willensäußerung erscheint.

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„kein Unlustgefühl [...] hervorrufend“, die andere („Hauptdefinition I – Das aktive «mögen»“) als „ein Lustgefühl [...] hervorrufend“ kennzeichnet (Bech 1949: 21), was die wertende Bedeutung von mögen unterstreicht. Die IDSGrammatik (Zifonun u.a. 1997: 1895f.) macht diese Unterscheidung in Bezug auf mögen, indem sie in einer Gruppe zwischen Sprecherwunsch und dessen Nichts-dagegen-einzuwenden-Haben unterscheiden. Bei Vater (2010: 101, vgl. Fn.) liegt dieser Unterschied in der Unterscheidung seiner „deontischen“ und „dispositionellen“ Lesart von mögen vor. Diese Varianten scheinen aufgrund der internen Negation aufzutauchen, wohingegen bei expliziter Negation stets eine Ablehnung zum Ausdruck kommt. Zur ersten Unterscheidung der Lesarten von mögen sollen daher zunächst Belege mit Negation betrachtet werden, in denen dann das Vorliegen einer reaktiven Haltung des zentralen Partizipanten als Bedingungsrelation zum Ausdruck kommt. Man vergleiche dazu die folgenden Belege aus dem LIMAS-Korpus: (52) (53) (54) (55) (56)

Ich mag keinen Brei. (moe-373) Ich mag Erbsen nicht leiden. (moe-374) Und wenn Ihr Kind die allgemeine Verpflegung nicht essen kann oder mag, dürfen sie selbst kochen. (moe-129) Selbstzufriedenheit über diese Basis mag nicht aufkommen. (moe-120) Das mag natürlich nicht jedermanns Sache sein. (moe-73)

In (52), (53) und (54) ist offenbar von einer Abneigung oder Verweigerung die Rede. Um das beobachtete Ausbleiben eines Ereignisses geht es in (55). In (56) drückt mögen das In-Erwägung-Ziehen einer Gegenposition aus. Der handlungsbezogenen Lesart werden hier Belege wie (52), (53) und (55) zugeordnet. Die von nicht mögen bezeichnete Bedingung erscheint darin als Ablehnung oder Weigerung in Bezug auf eine Handlung, die in der dargestellten Situation gegeben ist, hier als ESSEN (ich, Brei), leiden (ich, Erbsen) bzw. essen (ihr Kind, die allgemeine Verpflegung). Mit der reaktiven Haltung von mögen scheinen dabei nur wenige Handlungstypen vereinbar, eben nur solche, in denen die Rolle des Handelnden mit der reaktiven Rolle des Rezipierenden zusammenfällt und dies nicht zufällig, sondern angelegt in der Situation bzw. der Bedeutung eines entsprechenden Verbs. Dies trifft, wie die Belege zeigen, in erster Linie auf Handlungen des Essens und Trinkens zu, der Aufnahme oder Rezeption in ganz grundlegender Form. Nur in solchen Fällen besteht eine initiative Handlung in der reaktiven Rezeption.

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Entsprechend erscheint in Belegen mit nominalem Komplement wie (52) die von (nicht) mögen bezeichnete rezipierende Haltung aus dem modalen Szenario zur modalisierten Situation ergänzt um die referenzidentische wollen-Instanz als Agens. Abbildung 4.7 veranschaulicht die handlungsbezogene Verwendung von nicht mögen mit nominalem Komplement.

Abb. 4.7: Nicht mögen mit nominalem Komplement in handlungsbezogener Lesart anhand von Beispiel (52): Ich mag keinen Brei.

In (53) und (54) erscheinen Komplementverben, die ebenfalls eine rezeptive Handlung bezeichnen. Leiden in (53) erhält dabei seine Handlungssemantik als, so merkwürdig es klingen mag, aktives, d.h. kontrolliertes Leiden im Sinne von ‚ausstehen/aushalten‘ zusammen mit dem Modalverb; ohne Modalverb ist leiden nicht als Handlungs-, sondern nur als Empfindungsverb gebräuchlich. Vor diesem Hintergrund sieht Welke (vgl. 1965: 116) leiden mögen als lexikalisierte Verbindung, deren Bedeutung sich nicht von Verwendungen von mögen mit nominalem Komplement wie in (52) unterscheidet. Auch Öhlschläger (vgl. 1989: 72f., 178) ordnet Belege für leiden mögen einer der Gruppe mit nominalem Komplement zu. In der Tat erscheint leiden als Explikation der Relation, die bei nominalem Komplement zur Vervollständigung der modalisierten Situation aus dem modalen Szenario entliehen wird. Standardsprachlich ungebräuchlich und im Korpus nicht vorhanden sind handlungsbezogene Verwendungen des Indikativs Präsens von mögen in Bezug auf andere Handlungstypen, z.B. Ich mag nicht rennen. Hier könnte der Zusammenfall der Rollen von Handelndem und Rezipierendem in einem inneren Interessenkonflikt gesehen werden, bei dem einerseits initiativ eine Notwendigkeit gesehen wird, andererseits aber auch ein diesbezüglicher Widerwille. Somit unterscheidet sich mag nicht m.E. auch deutlich von möchte- nicht, indem Ersteres eine deutlichere reaktiv-emotive Komponente aufweist, wohingegen bei

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möchte- die Referenz durch den Konjunktiv Präteritum auf eine initiative Intentionalität „übergeleitet“ ist und die Reaktivität von mögen in der Indirektheit oder Höflichkeit dieses Bezugs aufgeht (vgl. dazu Abschnitt 6.5). Ohne Negation scheint sich die handlungsbezogene Lesart von mögen zu verändern. Als fehlende Abneigung, also etwa neutrale Haltung, ist positives mögen kaum zu verstehen; allenfalls wieder in Bezug auf nominale und verbale Komplemente die Lebensmittel bzw. Rezeptionshandlungen wie essen und leiden bezeichnen. Im LIMAS-Korpus finden sich keine Belege dieser Art, denkbar wäre aber etwa (57). (57)

Keine Sorge, ich mag Tomaten.

Hier, jedoch gebunden an die Kontextualisierung einer vorausgehenden Frage, scheint mag tatsächlich das neutral Fehlen eines Widerwillens oder einer Abneigung ausdrücken. In den meisten Belegen von mögen ohne Negation kommt aber statt einer nur fehlenden Abneigung, d.h. einer gewissermaßen neutralen Haltung, in Bezug auf Lebensmittel eine positiv wertende Haltung zum Ausdruck, ein gern mögen; so in den folgenden beiden Beispielen aus dem LIMASKorpus: (58) (59)

Die Person mag übrigens den Geruch des Borocain. (moe-266) Er mochte die Beatles, und er war stolz darauf, zu den Leuten zu gehören, die fünfzig Jahre alt sind und die Beatles mögen. (moe452/453)

Hier findet sich nun die von Bech (1949: 21) in seinen Hauptdefinitionen gemachte Unterscheidung zwischen „passivem“ und „aktivem“ mögen, die mit Negation nicht in dieser Form hervortritt. Dies lässt sich m.E. dadurch erklären, dass nicht mögen in Bezug auf Essens- und andere Situationen, z.B. Ich mag nicht rennen als Ausdruck der Abneigung verstanden werden kann, weil in Bezug auf Konsumhandlungen Verweigerung und Abneigung miteinander einhergehen. Erst ohne Negation, wenn die von nicht mögen bezeichnete Intentionalität implizit negiert ist, zeigt sich, dass in Bezug auf Handlungen des Zu-sich-Nehmens nur die Verweigerungshaltung als negiert werden kann. Die reaktive Intentionalität des zentralen Partizipanten als wertende Haltung selbst kann also offenbar nicht negiert werden, sondern ist immer vorhanden und weist dabei in Bezug auf die modalisierte Situation in die eine oder andere Richtung.

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So kann durch mögen in Bezug auf Essenssituationen die implizite Negation der Verweigerungshaltung als Nicht-Verweigerung und damit als rezipierende Handlung verstanden werden; so sagt man statt ich mag Tomaten ja auch in einem generellen Sinne auch ich esse Tomaten, ohne dass damit eine besondere Vorliebe, sondern einfach das Nicht-Verweigern ausgedrückt wird. Bezüglich der Präferenz kann dann durchaus, wie in (57), eine neutrale Haltung gegeben sein, die einfach nur besagt, dass ihr Träger das betreffende Lebensmittel nicht verweigert. Wo es nicht um Essen und Trinken, sondern um andere Formen der Rezeption geht, scheint die Intentionalität als (Nicht-)Verweigerung gegenüber einer wertenden Haltung stark in den Hintergrund getreten, wenn nicht zu ihren Gunsten aufgegeben. Ist hier mit mögen die Bedingungsrelation implizit negiert, betrifft dies somit eher die Abneigung als wertende Haltung und kehrt diese in ihr Gegenteil; zum Ausdruck kommt eine positive Wertung oder Präferenz wie in (58) und (59). So ist der Zusammenfall der Rollen des Handelnden und des Rezipierenden nicht nur bei Konsum-, sondern auch bei Bewertungshandlungen gegeben, wenngleich die Sequenzierung innerhalb der Situation anders gelagert zu sein scheint. Ebenfalls zur handlungsbezogenen Lesart werden hier Belege wie (60) und (61) gerechnet. (60) (61)

Als Trivialvergleich mag die Vorstellung herhalten, dass [...]. (moe137) Einen Vorgeschmack auf die Entdeckungen, wieweit es mit der Vergiftung der Welt schon steht, mag die Reportage von SPIEGELRedakteur Karl-Heinz Krüger geben. (moe-311)

In ihnen kommt ein Anspruch oder eine Bestimmung zum Ausdruck. Darin entsprechen sie den handlungsbezogenen Lesarten von wollen als Ausdruck eines Zwecks, der in Abschnitt 4.1 als mittelbare Volition beschrieben wurde. In der Duden-Grammatik werden diese Lesarten dementsprechend als „extrasubjektiv-willensbezogen“ bezeichnet (vgl. 2005: 566); „extrasubjektiv-volitiv“ in der IDS-Grammatik (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1895). So lassen sich diese Fälle auch halbwegs sinnerhaltend mit wollen oder sollen (vgl. auch Welke 1965: 113) paraphrasieren: (60)' (61)'

Als Trivialvergleich ?will/soll die Vorstellung herhalten, dass [...] Einen Vorgeschmack auf die Entdeckungen, wieweit es mit der Vergiftung der Welt schon steht, will/soll die Reportage von SPIEGELRedakteur Karl-Heinz Krüger geben.

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Mit mögen erscheint der zentrale Partizipant der modalisierten Situation in einer reaktiven Haltung. Diese ist deshalb mit der handlungsbezogenen Lesart, d.h. einer Handlung als modalisierter Situation, vereinbar, weil die Kontrolle über das Mittel, Werkzeug oder Werkstück, in den obigen Beispielen die Vorstellung bzw. die Reportage, nur mittelbar ist, die eigentlich kontrollierende Instanz also mit dem reaktiven zentralen Partizipanten zusammenfallen kann, der die Wirkung des von ihr eingesetzten Mittels initiiert und wieder in Empfang nimmt. Indem in diesen Belegen die Rolle des zentralen Partizipanten reaktiv erscheint und die Situationskontrolle nur mittelbar, ist hier der Übergang zur erfahrungsbezogenen Lesart angelegt. Noch deutlicher wird das in Fällen wie (62), in denen die mittelbare Kontrolle über eine belebte Instanz erfolgt: (62)

Und wenn man das Ergebnis Stil nennen will, so mag man es tun; (moe-367)

Im Sinne der handlungsbezogenen Lesart behält auch hier der zentrale Partizipant die Kontrolle über die dargestellte Situation, indem deren Realisierung durch den Subjektreferenten von seiner Billigung oder Erlaubnis abhängt. Fasst man den Beleg jedoch so auf, dass der zentrale Partizipant die Situation nicht kontrolliert, sondern nur kommentiert, erscheint mögen nicht mehr handlungsbezogen, sondern erfahrungsbezogen als Ausdruck einer Billigung oder Wertung. Eine ähnliche Verwendungsweise beschreibt Fritz (1997: 45f.) als marginal. Er zitiert ein Beispiel vom Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Deutschen Wörterbuch: (63)

er mag nur aufpassen, sonst passiert ein Unglück (DWb 12, 2460, zitiert nach ; Hervorhebung CB)

Mögen lässt sich hier durch sollen ersetzen; die Verwendung dient dem Ausdruck einer Aufforderung und ist nach Fritz heute ungebräuchlich. Dazu passt, dass der zentrale Partizipant der modalisierten Situation hier nicht reaktiv erscheint. Vielmehr fällt er mit dem Subjektreferenten zusammen, der das Agens der dargestellten Situation bildet; die dargestellte Situation aufpassen (er) entspricht der modalisierten. Erfahrungsbezogen sind Belege wie (55). (55)

Selbstzufriedenheit über diese Basis mag nicht aufkommen. (moe120)

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Hier ist die dargestellte Situation aufkommen (Selbstzufriedenheit) ein unkontrolliertes Ereignis, kann also nicht mit der modalisierten Situation zusammenfallen, die per semantische Valenz als intentional bestimmt ist. Vielmehr wird dieses Ereignis als Entität zweiter Ordnung zum Gegenstand der modalisierten Situation, die damit als Erlebnissituation spezifiziert ist. Eben dieses beobachtende Erlebnis durch den zentralen Partizipanten, seine reaktive ExperiensHaltung in Bezug auf das Ereignis, ist es, was durch das Modalverb hier eingebracht wird. Dies ist in Abbildung 4.8 für Beispiel (55) veranschaulicht; die Negation ist dann auf die gesamte bedingte Erfahrungssituation zu beziehen (vgl. dazu Abschnitt 7.5).

Abb. 4.8: Mögen in erfahrungsbezogener Lesart anhand von Beispiel (55): Selbstzufriedenheit über diese Basis mag nicht aufkommen.

Wie bei wollen finden sich Belege, die prospektiv, als Erwartung, zu lesen sind; man vergleiche etwa (64): (64)

Hieraus mag eine Neigung zu problemarmen, in ihren Konsequenzen leicht überschaubaren Sparformen resultieren. (moe-139)

Hier ist mit der mögen-Bedingungsrelation die Perspektive der nachzeitigen Ereigniszeit gewählt, so dass, umgekehrt wie bei wollen, die wollen-Instanz als aktuelle Sprechzeit impliziert ist. (64) lässt sich auch im nicht-prospektiven Sinne erfahrungsbezogen lesen. So kann die dargestellte Situation resultieren (eine Neigung ..., hieraus) als Situationstyp verstanden werden, der eine Menge von Einzelfällen umfasst. Das Modalverb bringt dann zum Ausdruck, dass einem Beobachter Ereignisse dieses Typs begegnen können, dass sie also vor-

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kommen (vgl. dazu auch Abschnitt 2.4). Präferent ist diese generelle erfahrungsbezogene Lesart in Beispiel (65): (65)

Dieses Urteil mag man für zu hart halten. (moe-247)

Weiter lassen sich der erfahrungsbezogenen Lesart auch Belege wie (66) zuordnen, die regelmäßig in markierten syntaktischen Kontexten, den so genannten „Irrelevanzkonditionalen“ (vgl. Zifonun u.a. 1997: 2321) vorkommen; siehe dazu Abschnitt 7.4. (66)

Mag die Entlastung von mancherlei häuslichen Arbeiten auch zunächst als eine Erleichterung empfunden werden, nach kürzerer oder längerer Zeit überwiegt das Gefühl der Leere. (moe-216)

Wie aus der Bezeichnung hervorgeht, handelt es sich um einen speziellen syntaktischen Kontext, hier einen mit Verberststellung markierten konditionalen Nebensatz, in dem gerade keine Abhängigkeit zwischen den Bedingungen im Nebensatz und dem Sachverhalt im Hauptsatz, sondern eine Unabhängigkeit, mit anderen Worten: die Irrelevanz jener für diesen ausgedrückt wird. Allein durch das Modalverb mag kommt auch hier zum Ausdruck, dass Instanzen der dargestellten Situation empfinden (X, die Entlastung, als Erleichterung) vorkommen, d.h. dass sie für den intentionalen zentralen Partizipanten erlebbar sind. Der Übergang zur erkenntnisbezogenen Lesart bedeutet den Übergang von der reaktiven Haltung des Experiens zur reaktiven Haltung des Urteilenden. Nicht sind die Instanzen des Situationstyps Gegenstand der Wahrnehmung oder des Erlebens, sondern die Proposition ist als Ganze Gegenstand des Urteils. Beispiele aus dem LIMAS-Korpus sind (67) und (68): (67)

(68)

Die im Vergleich zu den Sandgruben WALTER niedrigere Lage, zudem im Bereich des Rheines, mag die Ursache für die stärkere Ausbildung des verbraunten Bodenhorizontes sein. (moe-227) Damit gehöre ich zu der Hauptrichtung vom Typ Bildung – das mag richtig sein, aber nicht neu. (moe-343)

In (67) ist mit sein (die niedrige Lage, die Ursache für ...) eine statische Einzelsituation dargestellt, die nur als Partizipant einer modalisierten Situation als Erkenntnissituation aufgefasst werden kann. Entsprechend verhält es sich in (68) für die dargestellte Situation sein (das, richtig).

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Die reaktive Bedeutungskomponente von mögen ist dabei in (67) aufgegriffen, indem es sich um eine Erkenntnis aufgrund von erfahrungsbezogener Evidenz handelt. In (68) hingegen bringt das Modalverb eine epistemischen Haltung des zentralen Partizipanten bezüglich einer in der dargestellten Situation gegebenen Proposition zum Ausdruck. Diese ist einerseits zustimmend, andererseits aber auch eingeschränkt was ihre argumentative Reichweite betrifft. Erkenntnisbezogenes mögen erscheint dabei als sequenzielle Fortsetzung von erkenntnisbezogenem, genauer: quotativem, wollen (vgl. Abschnitt 4.1). Quotatives wollen lässt sich so als Ausdruck einer These verstehen, die die Anerkennung oder Akzeptanz durch den zentralen Partizipanten offen lässt. In erkenntnisbezogenem mögen ist diese als Antithese explizit und bedingt die Synthese einer globalen epistemischen Position, etwa die Richtung der Argumentation, als modalisierte Situation. Abbildung 4.9 soll diese Verhältnisse für Beispiel (68) veranschaulichen.

Abb. 4.9: Mögen in erkenntnisbezogener Lesart anhand von Beispiel (68): [...] – das mag richtig sein, aber nicht neu.

Typisch für erkenntnisbezogenes mögen ist, dass eine zweite Proposition thematisiert wird, für die die Geltung der ersten, in der Modalverbkonstruktion dargestellten, als irrelevant dargestellt wird. Diese Opposition, die mit der reaktiven Bedeutung von mögen einhergeht, wird bisweilen als konzessive Bedeutungskomponente erkenntnisbezogener Verwendungen von mögen thematisiert. So sehen etwa Diewald (1999: 236), die Duden-Grammatik (2005: 567) und die IDSGrammatik (Zifonun u.a. 1997: 1894) eine Beschränkung auf konzessive Kontexte; Welke (1965: 110) spricht von einer Spezialisierung auf Umgebungen mit einer „zusätzliche[n] Funktion der Einräumung“. Diewald (1999: 236ff., 287f.)

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charakterisiert solche Verwendungen als phorisch, da einhergehend mit der konzessiven Semantik stets ein Verweis auf einen anderen, meist im Text realisierten, Sachverhalt bestehe. Dass dieser Verweis nicht konzessiv sein muss, zeigen Belege wie (67); die modale Bedingtheit erscheint hier weniger konzessiv als etwa evidentiell, indem auf Wahrnehmung beruhende Erkenntnis zum Ausdruck kommt. Öhlschläger (1989: 179) bezeichnet (bzw. zitiert) auch solche Verwendungen von mögen als konzessiv, in der das Modalverb zum Ausdruck bringt, dass „der Sprecher es zuläßt, daß der mit der IP [Infinitivphrase, CB] bezeichnete Sachverhalt eintritt“ (ebd.: 179), z.B. Karl mag Klavier spielen im Sinne von ‚Ich habe nichts dagegen, dass Karl Klavier spielt‘ oder ‚Soll er doch spielen!‘ (ebd.: 178). Belege dieser Art wurden oben anhand von Beispiel (62) der handlungsbezogenen Lesart zugeordnet, weil in ihnen eine Erlaubnis als Handlungsbedingung zum Ausdruck kommt. Insgesamt scheint in der Konzessivität ein bewertendes Moment der Bedeutung von mögen wieder aufzutauchen, das oben bereits für die handlungsbezogenen Fälle mit nominalem Komplement und billigende Verwendungen wie in (62) gezeigt wurde. Es kommt zwar eine erkenntnisbezogene Anerkennung zum Ausdruck, jedoch zusammen mit einem übergeordneten Widerspruch, indem die betreffende Proposition als wahr zugestanden, dabei aber als irrelevant bewertet wird. So erscheint mögen, im Gegensatz zu wollen als seinem initiativen Pendant, eher emotional gefärbt. Bech (1949: 37) beschreibt entsprechend mögen als „emotiv“ und Welke (1965: 116) sieht bei mögen immerhin eine „besondere[n] emotionale[n] Komponente“. Auch dieser qualitative Unterschied hängt m.E. mit der Reaktivität der Bedingungsrelation zusammen: Die von wollen bezeichnete initiative Intentionalität erscheint kalkuliert und rational gerichtet auf die damit zu erreichenden Ziele und Effekte. Demgegenüber ist die reaktive Intentionalität, auf die mögen sich bezieht, als „Widerwille“ im wahrsten Sinne des Wortes unwillkürliche, damit eine eher emotionale oder wertende Reaktion. Diese bezieht sich auch nicht unbedingt auf eine individuelle Situation oder einen einzelnen Gegenstand, sondern typischerweise auf indefinite Situations- und Entitätstypen, was sich darin äußert, dass mögen im Gegensatz zu wollen auch mit konditionalem Satzkomplement stehen kann (vgl. Ich mag/*will (es), wenn es regnet und siehe Abschnitt 7.1) und nominale Ergänzungen oft als kontinuative Massebezeichnungen (vgl. Vogel 1996: 112ff.) zu verstehen sind, entweder als singularische Massenomen (z.B. Anna mag (kein) Bier) oder als artikellose Pluralformen (z.B. Anna mag (keine) Tomaten). Individuen (z.B. Anna mag Peter (nicht)) können in

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diesem Sinne aufgefasst werden als Menge von Situationen, in denen man mit ihnen konfrontiert ist, d.h. als Menge von Instanzen dieser Person. Auf den allgemeinen Zusammenhang zwischen Reaktivität/Indefinitheit und Präferenz kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Für einen solchen Zusammenhang zwischen einer reaktiv-emotiven oder wertenden Haltung und Quantifikation bzw. kontinuativer Konzeption spricht auch, dass quantifizierende Adjektive und Adverbien mit einer entsprechenden Bedeutung oft auch Verwendungsweisen im je anderen Sinn zeigen: Häufig findet sich, dass Ausdrücke wie stark, groß oder auch mega auch wertend verwendet werden, etwa in eine starke Veranstaltung, eine große Leistung oder ein mega Auto. Umgekehrt kann z.B. das emotiv-wertende Adverb gern(e) auch quantifizierend erscheinen, etwa in Äußerungen wie An Pfingsten regnet es gerne mal. Gemeint ist, dass es ‚regelmäßig‘ oder ‚häufig‘ oder ‚immer wieder mal‘ an Pfingsten regnet. Diese Quantifikation findet sich entsprechend in der erfahrungsbezogenen Lesart von mögen (und können, vgl. Abschnitt 4.6), in der dann Situationstypen modalisiert erscheinen (s. etwa oben die Beispiele (64), (65) und (66)).

4.3 Sollen: Forderung, Prospektion und Anspruch auf Zustimmung Die Grundbedeutung von sollen besteht, wie bei wollen, in eine initiativen Intentionalität, die jedoch außerhalb der modalisierten Situation verortet, damit nicht dem zentralen Partizipanten zuzuordnen ist. In traditionellen Termini entspricht das dem Ausdruck einer Notwendigkeit mit einer dritten Person als modaler Quelle. Bech (1949: 11) beschreibt diese Referenz von sollen als „einen nicht dem Subjekt innewohnenden «Willen» [...] oder die Forderung (den Willen) eines Prinzips“. Die allgemeine Beschreibung als Bedingungsrelation im modalen Szenario übergreift diese Unterscheidung zwischen persönlichem Willen und prinzipieller Forderung. In Abbildung 4.10 ist diese Bedeutung als Ausschnitt des modalen Szenarios dargestellt.

SOLLEN

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Abb. 4.10: Sollen als Ausdruck einer initiativen ([–REAKTIV]) instanzenbezogenen ([+VERORTET]) situationsexternen ([+EXTERN]) Situationsbedingung.

Die Bedingung der modalisierten Situation durch die Bedingungsrelation ist dabei nur mittelbar. Wie in der Abbildung durch Abstand zwischen der situationsexternen Instanz und der modalisierten Situation symbolisiert wird, bleibt offen, ob mit der situationsexternen Intentionalität eine tatsächliche Wirkung auf die modalisierte Situation verbunden ist. Diese offene „Verbindlichkeit“ im wahrsten Sinne des Wortes ergibt sich allein daraus, dass hier zwei abgegrenzte Instanzen im Spiel sind: Die modale Bedingtheit zwischen Bedingungsrelation und modalisierter Situation wird über den zentralen Partizipanten innerhalb der modalisierten Situation, d.h. eine Instanz, hergestellt, die als solche abgegrenzt ist, und die von sollen bezeichnete situationsexterne Intentionalität ist ebenfalls an eine abgegrenzte Entität gebunden, so dass die Wirkungsmöglichkeit der einen auf die andere erst durch eine weitere, äußere Relation gegeben sein kann, die zwischen beiden Instanzen bestehen müsste; eine entsprechende Relation wird von müssen bezeichnet (vgl. z.B. Abbildung 2.10). Eine solche äußere Relation (d.h. Nicht-Intentionalität) zwischen abgegrenzten Instanzen besteht in handlungsbezogener Lesart kontextuell etwa als Weisungsbefugnis im weitesten Sinne.74 In erfahrungsbezogener Lesart besteht

|| 74 In der IDS-Grammatik ist von einem „Macht- oder Autoritätsverhältnis“ die Rede, wenn müssen verwendet wird als Ausdruck einer Notwendigkeit aufgrund eines situationsextern verorteten Willens („extrasubjektiv-volititve Lesart“ von müssen in der IDS-Grammatik) (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1890). Dort heißt es, ein solches Machtverhältnis sei Voraussetzung für die betreffende Verwendung von müssen. Mit den hier gemachten Ausführungen zu sollen könnte man treffender sagen, müssen bezeichne eben dieses Machtverhältnis in dem Moment, in dem aus dem Kontext heraus klar wird, dass der Relation eine personale Instanz als Ausgangspunkt

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sie in den Zeitläuften, d.h. in der Abfolge von Ereignissen. In erkenntnisbezogener, genauer: quotativer, Lesart von sollen schließlich verbindet das gemeinsame Hier-und-Jetzt der Kommunikationssituation die externe Instanz mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation. In dieser Mittelbarkeit, die sich aus der Abhängigkeit von einem solchen Verhältnis zwischen den beteiligten Instanzen ergibt, liegt die Ursache für den intuitiv (und juristisch institutionalisiert) geringeren Verpflichtungsgrad, der von handlungsbezogenem sollen im Gegensatz zu müssen ausgeht (vgl. auch Ehlich/Rehbein 1972: 324, Helbig/Buscha 2001: 119). In der IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 1887) wird die Meinung vertreten, der Bedeutungsunterschied zwischen müssen und sollen sei als Grad der Verbindlichkeit oder Verpflichtung zu sehen. Damit wendet man sich gegen eine Sichtweise als „Abstufung der modalen Beziehung“ in der Unterscheidung zwischen „uneingeschränkter und relativierter Notwendigkeit“. Anhand des modalen Szenarios lässt sich beides erklären: Sollen bezeichnet sowohl eine Intentionalität, die aufgrund der Abgegrenztheit ihres Trägers nur als Anspruch auf Verbindlichkeit erscheint und mit der modalisierten Situation nur mittelbar im modalen Bedingtheitsverhältnis steht, das man damit als „abgestuft“ gegenüber der unmittelbaren Verbindlichkeit bezeichnen mag, die müssen bezeichnet. Davon unberührt ist die Tatsache, dass in einem Satz mit sollen ein sehr hoher Verbindlichkeitsgrad zum Ausdruck kommen kann, der dann aber aufgrund von Weltwissen über die Autorität der intentionalen Instanz entsteht, etwa wenn Gott sagt Du sollst…! Umgekehrt wird mit müssen mitunter ein vergleichsweise geringer Verbindlichkeitsgrad repräsentiert, wenn zum Beispiel für Das musst du probieren! aus dem Kontext deutlich wird, dass die objektiv zwingenden Gründe sich aus dem Wunsch ergeben, dem anderen ein kulinarisches Genusserlebnis zu verschaffen, und nicht etwa, das Überleben der Spezies zu sichern – obwohl auch das natürlich in einem entsprechenden Kontext denkbar wäre.75

|| zugrunde liegt. Im Gegensatz zu sollen ist eine Verortung bei müssen nicht in der Modalverbbedeutung angelegt. 75 Im Detail kann daher die Darstellung bei Zifonun u.a. jedoch nicht nachvollzogen werden: Dass bei sollen und müssen „unterschiedlich verbindliche oder verpflichtende normative Redegründe“ (Zifonun u. a. 1997: 1887), verstanden als „Teile des Text- und Diskurswissens“ (ebd.: 1882) vorliegen, erscheint unplausibel, wenn man Belege wie Das musst du dir anschauen! oder Du sollst nicht töten in Betracht zieht, wo doch gerade aus dem Text- und Diskurswissen (und auch aus dem Weltwissen) für den müssen-Beleg ein geringerer Verpflichtungsgrad zu folgen scheint als für den sollen-Beleg. Damit wird deutlich, dass die Wahl des Modalverbs ein Mittel

SOLLEN

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Je nachdem, welche Art von dargestellter Situation vorliegt, erscheint sollen in handlungsbezogener, genauer: deontischer, in erfahrungsbezogener, genauer: prospektiver, oder erkenntnisbezogener, genauer: quotativer, Lesart. Verwendungen, die an besondere Tempus-Modus-Formen des Modalverbs gebunden sind, werden hier noch nicht berücksichtigt. Die zur handlungsbezogenen Lesart gerechnete empfehlende Verwendung von konjunktivischem sollte- und die im engeren Sinne erkenntnisbezogene Lesart dieser Formen werden in Abschnitt (6.5) beschrieben; indikativisches sollte- im so genannten historischen Futur gehört zur erfahrungsbezogenen Lesart und wird in Abschnitt 6.3 thematisiert. Ebenfalls erst später, in Kapitel 7, behandelt werden an modal markierte Satztypen gebundene Verwendungsweisen wie konjunktivisches sollte- im konditionalen Nebensatz und sollen/sollte- im Fragesatz. Die folgenden Beispiele aus dem LIMAS-Korpus geben zunächst einen Überblick über Belegtypen von sollen im unmarkierten Indikativ Präsens und außerhalb modal markierter syntaktischer Kontexte. (69) (70) (71) (72) (73)

(74)

Schließlich soll man doch gerade dann aufhören, wenn es am schönsten ist, meint Otto Höpfner. (so-59) Sie soll grüne Augen haben und ein grünes Kleid. (so-470) Das soll heißen, eine historische Monographie mit einem extensiven Gegenstand, die [...], wird danach beurteilt, wie [...] (so-38) Die Bezeichnung soll dabei zugleich die Funktion angeben: (so-1144) So haben wir von beiden Seiten eine Entwicklung gefördert, die – davon bin ich überzeugt – für das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern segensreich sein soll, die keinem anderen Staat schaden wird und die den Frieden in Europa dauerhaft machen kann. (so-258) „Wenn ihr kein Brot habt, müßt ihr eben Kuchen essen!“ soll Königin Marie Antoinette ihren verhungernden Untertanen geraten haben. (so-62)

Die Belege (69) bis (72) repräsentieren die handlungsbezogene Lesart. Sollen bezeichnet, wie wollen, eine Absicht, einen Wunsch oder Zweck, der aber explizit von außerhalb der modalisierten Situation herrührt, d.h. der Träger der betreffenden Intentionalität ist nicht selbst Teil, genauer: zentraler Partizipant, der modalisierten Situation. Vielmehr ist der externe Wille auf den zentralen || der Darstellung von mittelbarer und unmittelbarer Verbindlichkeit unabhängig von Wissenshintergründen ist.

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Partizipanten als Agens einer Handlung gerichtet. Sollen bezeichnet damit die Auslagerung der Initiative zu einer Handlung aus der Handlung. Anders als in (69) liegt in (70) und (71) mit haben (sie, grüne Augen) bzw. heißen (das, PASSIV (beurteilen(...))) jeweils eine statische dargestellte Situation vor, die damit nicht mit der modalisierten Situation identisch sein, sondern nur als deren Ziel verstanden werden kann. Indem dieses Ziel durch eine Handlung hervorgebracht wird, hier etwa: durch eine Auswahl und das Annähen der Puppenaugen, ist die modalisierte Situation entsprechend qualifiziert, die Bedingungsrelation handlungsbezogen, entsprechend die Lesart des Modalverbs.76 Abbildung 4.11 zeigt, wie die dargestellte Situation jeweils auf das modale Szenario bezogen ist anhand der Beispiele (69) und (70).

Abb. 4.11: Sollen in handlungsbezogener (genauer: deontischer) Lesart anhand der Beispiele (69): Schließlich soll man doch gerade dann aufhören, wenn es am schönsten ist, meint Otto Höpfner und (70): Sie soll grüne Augen haben und ein grünes Kleid.

In (72) liegt eine Lesart der mittelbaren Volition vor, die bereits für wollen und mögen als ‚Zweck‘ oder ‚Bestimmung‘ beschrieben wurde (vgl. die Abschnitte 4.1 und 4.2). Mit sollen erscheint die Intentionalität in der modalisierten Situation nun vollends auf das betreffende Mittel, Werkstück oder Werkzeug, hier

|| 76 Belege wie (71), die unmittelbar mit der Kommunikationssituation verbundene Handlungen betreffen, werden von Glas (1984: 71) genannt als „Absichtsäußerungen, die eine metakommunikative Funktion haben“. Hier besteht ein enger Bezug zu den modalisierten Sprechakten und Denkreferaten, die in Abschnitt 7.2.3 thematisiert werden. Während jedoch in Beispiel (71) die dargestellte Situation heißen (das, beurteilen(...)) noch als ausstehend, weil vom Verständnis des Hörers abhängig, aufgefasst werden kann, sind die Sprechakte und kognitiven Vorgänge, die in modalisierten Sprechakten (z. B. Man kann festhalten, dass...) und Denkreferaten (z. B. Es muss angenommen werden, dass...) als dargestellte Situationen erscheinen, als im Augenblick der Äußerung faktisch zu verstehen.

SOLLEN

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gegeben in die Bezeichnung, übergegangen, da der eigentliche Urheber situationsextern verortet ist. Die Intentionalität des zentralen Partizipanten ist damit als Zweck oder Bestimmung eines Gegenstands als dinglichen Willensträgers gegeben. Nicht gesondert betrachtet werden hier Fälle, in denen aus dem Kontext hervorgeht, dass es sich bei dem externen Träger der Intentionalität um den Sprecher handelt, d.h. eine Wunsch- oder Absichtsäußerung vorliegt. Dies ist etwa bei (70) der Fall, indem hier die künftige Puppenbesitzerin selbst ihre Wünsche äußert. Diese sprechaktsensitive Unterscheidung zwischen Verwendungen, in denen Aufforderungen getätigt, bestehende Aufforderungen festgestellt (mit Sprecherüberzeugung über das Bestehen) oder wiedergegeben (ohne Sprecherüberzeugung) werden, findet sich etwa bei Lyons (vgl. 1977: 832ff.); ähnlich auch bei Glas (1984: 66ff.), der zwischen „Aussagen über Absichten und Absichtsäußerungen“ unterscheidet. Während sich diese Unterscheidung in Fällen wie (70) erst aus dem inhaltlichen Kontext heraus ergibt, wird in Abschnitt 7.3.3 thematisiert, inwiefern etwa mit du sollst durch die Abbildung personaldeiktischer Referenz auf das modale Szenario Sprecherabsichten und -forderungen zum Ausdruck kommen. Auch (73) kann handlungsbezogen gelesen werden, wenn die dargestellte Situation sein (Entwicklung, segensreich) als Handlungsziel verstanden wird. Diese Lesart wird aber durch die Parenthese davon bin ich überzeugt blockiert: Eine auf ein Handlungsziel gerichtete Intentionalität ist eine Absicht oder ein Wunsch. Überzeugung ist hingegen typischerweise auf Propositionen, so dass die Parenthese auf die vom Modalverb ausgedrückte Vorbestimmtheit eines künftigen Ereignisses bezogen verstanden werden muss. Sollen selbst erscheint dann in einer erfahrungsbezogenen Lesart als Ausdruck einer prospektiven Perspektive. Als zentraler Partizipant wird aus dem modalen Szenario die opponierende mögen-Instanz entliehen, da die dargestellte Situation keine intentionale Instanz hergibt. Zur Veranschaulichung vergleiche man Abbildung 4.12.

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Abb. 4.12: Sollen in erfahrungsbezogene (genauer: prospektiver) Lesart anhand von Beispiel (73): So haben wir von beiden Seiten eine Entwicklung gefördert, die – davon bin ich überzeugt – für das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern segensreich sein soll, [...].

Diese erfahrungsbezogene Verwendung des Indikativs Präsens von sollen ist jedoch untypisch.77 Gewöhnlich sind es die Formen des Indikativs und Konjunktivs Präteritum, die die erfahrungsbezogene Lesart von sollen realisieren (vgl. dazu die Abschnitte 6.3 und 6.5). Die Verwendung des Indikativs Präsens ist hier blockiert, weil die Konstellation aus der initiativen sollen-Instanz außerhalb der modalisierten Situation, d.h. ihr gewissermaßen vorgelagert, und dem reaktiven zentralen Partizipanten der modalisierten Situation der prospektiven Nachzeitigkeitsbedeutung widerspricht. Der zentrale Partizipant der modalisierten Situation bildet gewöhnlich die Origo des modalen Szenarios, so dass bei temporaler Interpretation des Szenarios, wie sie mitunter in erfahrungsbezogener Lesart vorliegt, der modalisierten Situation vorgelagerte Relationen und Instanzen als vor-, nicht aber als nachzeitig aufgefasst werden können. Im Indikativ und im Konjunktiv Präteritum kommt es mit der morphologischen Modifikation zur Abbildung der temporalen Instanzen auf die Instanzen des modalen Szenarios bzw. zu Verweisungen innerhalb des Szenarios, durch die der Ausdruck von Nachzeitigkeit möglich wird (s. 6.3 und 6.5). Beispiel (74) ist schließlich ein Beleg für die erkenntnisbezogene, genauer: quotative Lesart von sollen. Hier kommt durch sollen zum Ausdruck, dass eine vom Sprecher verschiedene Instanz die der dargestellten Situation entsprechende Proposition als faktisch behauptet. Der über diese Lesartbedeutung hinausgehende Ausdruck von sprecherseitige Skepsis gegenüber dem propositionalen Inhalt (vgl. z.B. Duden 2005: 567) tritt nicht notwendig auf und wird

|| 77 Es mögen hier stilistische Erwägungen für die Wahl der Form eine Rolle gespielt haben, die auf die hübsche Reihung der Modal- bzw. Hilfsverben soll – wird – kann zielen.

SOLLEN

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von Letnes (2008: 33) vor allem dem Kontext, weniger dem Modalverb zugeschrieben. (74) ließe sich also wie folgt paraphrasieren: (74)'

Jemand behauptet, dass Königin Marie Antoinette ihren verhungernden Untertanen geraten habe: „Wenn ihr kein Brot habt, müßt ihr eben Kuchen essen!“.

In Rückführung auf das modale Szenario lässt sich die Referenz von sollen auch in dieser Lesart als situationsexterne initiale Intentionalität verstehen. Die dargestellte Situation haben (GE (raten (Königin Marie Antoinette, ihren verhungernden Untertanen, ...))) ist als resultativer Zustand statisch, so dass hier die dargestellte nicht mit der modalisierten Situation identisch sein kann. Letztere erscheint hingegen als reaktive Haltung des zentralen Partizipanten in Bezug auf die Assertion der entsprechenden Proposition. Sollen selbst ist dabei Ausdruck der Äußerung, die, da mit dem Anspruch auf Anerkennung durch das Gegenüber im modalen Szenario verbunden, als Behauptung erscheint und die Bedingung für die inhaltliche Anerkennung durch den Sprecher als kommunikatives Gegenüber bildet. Dies ist in Abbildung 4.13 veranschaulicht.

Abb. 4.13: Sollen in erkenntnisbezogener (genauer: quotativer) Lesart anhand von Beispiel (74): „Wenn ihr kein Brot habt, müßt ihr eben Kuchen essen!“soll Königin Marie Antoinette ihren verhungernden Untertanen geraten haben.

Die sprachliche Äußerung ist damit bestimmt als eine Form von propositionsbezogener Intentionalität, und zwar eine solche, die als reaktive Haltung eine Anerkenntnis bezüglich der geäußerten Assertion eines anderen ist. Damit unterscheidet sie sich von anderen propositionalen Haltungen, als welche die Intentionalitäten des modalen Szenarios in der im engeren Sinne erkenntnisbezogenen Lesart zum Ausdruck kommen. Diese involvieren keine andere Instanz,

144 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

sondern bleiben in der mentalen Welt des Einzelnen und erscheinen dort als Meinungen, Vermutungen u.Ä. Etwas sprachlich äußern bedeutet demnach, etwas meinen mit dem Ziel der Anerkennung durch den anderen.78 Dass der Sprecher hier als zentraler Partizipant der modalisierten Situation erscheint, passt zu der Beobachtung von Mortelmans (2009: 186), die quotatives sollen mit dem Konjunktiv Präsens als Ausdruck indirekter Rede vergleicht. Sie stellt fest, dass quotatives sollen eher auf den berichtenden Sprecher, der Konjunktiv Präsens hingegen auf den referierten Sprecher verweist (vgl. dazu auch Abschnitt 6.4).79

|| 78 In ähnlicher Weise bringt Peirce das englische Verb to mean in seiner handlungsbezogenen Bedeutung ‚etwas beabsichtigen‘ mit dem Substantiv meaning für ‚Bedeutung‘ eines Wortes in Zusammenhang: „In truth the only difference is that when a person means to do anything he is in some state of consequence of which the brute reactions of things will be moulded [in] to conformity to the form to which the man’s mind is itself moulded, while the meaning of a word really lies in the way in which it might, in a proper position in a proposition believed, tend to mould the conduct of a person into conformity to that to which it is itself moulded.“ (Peirce 1978: 174). Absicht, Meinung und Bedeutung stehen also in engem konzeptionellem Zusammenhang. 79 Dazwischen angesiedelt sieht Mortelmans das niederländische zou-, das sie mit den beiden Alternativen im Deutschen vergleicht (vgl. Mortelmans 2009: 186).

DÜRFEN

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4.4 Dürfen: Erlaubnis, Verbot und (Dis-)Präferenz Dürfen bezieht sich auf eine situationsextern verortete reaktive Intentionalität. Auch dürfen lässt sich für die handlungsbezogene Lesart als Negativum verstehen, also als Ausdruck dafür, dass eine hinderliche Bedingung im Sinne eines Verbots nicht besteht; dennoch ist auch im Falle einer Erlaubnis eine potenziell verbietende Intentionalität adressiert. Abbildung 4.14 veranschaulicht die Position der entsprechenden Bedingungsrelation im modalen Szenario.

Abb. 4.14: Dürfen als Ausdruck einer reaktiven ([+REAKTIV]) instanzenbezogenen ([+VERORTET]) situationsexternen ([+EXTERN]) Situationsbedingung.

Dürfen stellt das reaktive Pendant zu sollen dar und verhält sich zu ihm wie mögen zu wollen und können zu müssen. Die folgenden Belege aus dem LIMASKorpus repräsentieren die Verwendung außerhalb besonderer morphologischer und syntaktischer Kontexte:80 (75) (76) (77)

Er darf dreiunddreißig Prozent darüber produzieren und verrechnen. (due-113) Tee durfte Steinfeld trinken, es war seine ganze Freude. (due-133) Der mittelalterliche Ritter dagegen darf für seine Brüder kämpfen. (due-239)

|| 80 Der Indikativ Präteritum in (76) ist zwar morphologisch markiert, aber in seiner Funktion unauffällig.

146 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Diese sind sämtlich handlungsbezogen, genauer: deontisch, im Sinne einer Erlaubnis zu lesen. Als dargestellte Situation ist mit verrechnen/produzieren (er, 33% darüber), trinken (Steinfeld, Tee) und kämpfen (der mittelalterliche Ritter) jeweils eine intendierte Handlung gegeben, die zu verstehen ist als von einem Agens intendiert und kontrolliert, so dass sie die Valenz des Modalverbs erfüllt und als modalisierte Situation fungieren kann. Dies ist in Abbildung 4.15 beispielhaft für Beispiel (75) dargestellt.

Abb. 4.15: Dürfen in handlungsbezogener (genauer: deontischer) Lesart anhand von Beispiel (75): Er darf dreiunddreißig Prozent darüber produzieren und verrechnen.

Von mögen unterscheidet sich dürfen darin, dass die der Bedeutung von dürfen zugrundeliegende Bedingungsrelation situationsextern verortet ist, während die mögen-Bedingungsrelation situationsintern verortet ist. Wie in Abschnitt 4.3 für sollen im Verhältnis zu müssen beschrieben, erklärt sich aus der situationsexternen Verortung eine Bedeutungskomponente der Mittelbarkeit oder bedingten Verbindlichkeit, die vor allem bei Negation, im Vergleich von nicht dürfen mit nicht können, deutlich wird. Diese ergibt sich aus der Offenheit der Relation zwischen den beiden abgegrenzten Instanzen, dem situationsexternen Träger der Bedingungsrelation und dem in der modalisierten Situation enthaltenen zentralen Partizipanten, die sich als „Verbindlichkeit“ im wahrsten Sinne des Wortes oder allgemein als abstrakte Kausalbeziehung beschreiben lässt und im modalen Szenario der können-Relation entspricht.81

|| 81 Wohl kann man bei dürfen, wie auch bei sollen, von der Implikation einer Verbindlichkeit oder „Weisungsbefugnis“ sprechen, die sich aus der konversationellen Maxime der Relevanz ergibt. Dies scheint sich auch in der Intuition zu bestätigen, dass der mit dürfen (oder sollen) bezeichnete Anspruch auf Verbindlichkeit oder Weisungsbefugnis wohl selten ausdrücklich ratifiziert wird, sondern ihm umgekehrt, bei fehlender Weisungsbefugnis, widersprochen wird, z. B. mit Du hast mir gar nichts zu sagen!

DÜRFEN

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Die reaktive Komponente führt dazu, dass in handlungsbezogener Lesart dürfen die Abwesenheit einer hinderlichen Bedingunsgrelation und negiertes nicht dürfen ihr Bestehen bezeichnet, weshalb die Möglichkeitsmodalverben sich insgesamt als Negativa beschreiben lassen (vgl. Abschnitt 2.2). So steht dürfen in (75) für eine Erlaubnis im Sinne einer nicht vorhandenen widersprechenden Intentionalität bzw. dafür, dass die bestehenden Intentionalitäten nicht widersprechend sind; in Beispiel (78) ist nicht dürfen Ausdruck eines bestehenden Hindernisses, genauer: als hinderliche Intentionalität, mithin eines Verbots. (78)

Er darf nicht in der ersten Klasse des Mittelschullehrganges (Real)schullehrganges oder des Aufbaulehrganges Verwaltung bleiben, wenn seine Nichteignung durch Konferenzbeschluss festgestellt wird. (due-50)

Ehlich/Rehbein (1972: 327) beschreiben die Bedeutung von dürfen als „eine für den Aktanten positive Aufhebung einer Obligation“ und erfassen so in ihrer pragmatischen Beschreibung der Modalverbbedeutung das charakteristische Merkmal von dürfen als Möglichkeitsmodalverb. Auch hier ist jedoch festzuhalten, dass die von dürfen bezeichnete Intentionalität unabhängig von ihrer hinderlichen Wirksamkeit besteht; in erfahrungs- und erkenntnisbezogener Lesart geht die Reaktivität in der rezeptiven Rolle eines Experiens bzw. argumentativen Gegenparts auf. Der erfahrungs- bzw. erkenntnisbezogenen Lesart widerspricht jedoch zunächst, wie bei sollen, die situationsexterne Verortung der von dürfen bezeichneten Intentionalität, indem der in diesen Fällen aus dem modalen Szenario entliehene Partizipant doch Teil der modalisierten Situation, d.h. situationsintern verortet, sein muss.82 Wie bei sollen mit sollte- wird daher mit dem Konjunktiv Präteritum dürfte- in die modalsierte Situation, genauer: auf die Intentionali-

|| 82 Diewald (1999: 220f., 286) sieht hier hingegen allein das Merkmal [+REAKTIV] als ausschlaggebend an, das aber ja auch bei können vorliegt, welches durchaus im Indikativ Präsens erkenntnisbezogen verwendet wird (vgl. Abschnitt 4.6). Somit schließt Reaktivität der Bedingungsrelation allein die erkenntnisbezogene Lesart nicht aus; indem sie jedoch keine Definierung der dargestellten Situation leistet, bestehen an den Kontext entsprechend größere Anforderungen. Definitheit des Subjektreferenten oder auch Konjunktiv Präteritum oder Negation können die Definitheit der dargestellten Situation dann hervorbringen (vgl. dazu die Abschnitte 6.5, 7.3.2 und 7.5, vgl. auch ebd.: 221). Zum Zusammenhang zwischen Reaktivität und Indefinitheit siehe auch Abschnitt 4.2 zu mögen.

148 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

tät des zentralen Partizipanten, verwiesen und damit die Verbindung hergestellt; (79) ist ein Beispiel aus dem LIMAS-Korpus: (79)

Sie dürften als Wanderschutt schon im Eiszeitalter entstanden sein. (due-165)

Diese Verweismöglichkeit beruht auf der gegenseitigen Bezogenheit der Relationen innerhalb des modalen Szenarios (vgl. Abschnitt 3.1) und wird in Abschnitt 6.5 genauer beschrieben. Das Implikationsverhältnis zwischen der dürfen-Bedingungsrelation auf der ihr opponierenden wollen-Bedingungsrelation findet sich in der IDS-Grammatik beschrieben als Besonderheit von dürfen, dass „in der Regel bei demjenigen, der etwas tun darf, der Wunsch oder das Bedürfnis, eben dies zu tun, vorausgesetzt wird“ (Zifonun u.a. 1997: 1892). Diewald sieht das Merkmal in der Abfolge von Sprechakten begründet, indem eine Erlaubnis auf eine Bitte folge (vgl. 1999: 128ff.). Hier wurde eine abstraktere Beschreibung gewählt, die in semantischen Merkmalsoppositionen gepaart mit dem Charakteristikum der Teilbedingung begründet ist, um auch nicht-handlungsbezogene Verwendungen erfassen zu können. Ein Effekt der Implikation der wollen-Relation zeigt sich auch in Verwendungen wie (80), die bei Diewald als Hörbeleg genannt wird: (80)

Zuhause durfte ich dann einer Ehekrise meiner Eltern beiwohnen. (Diewald 1999: 131; Hervorhebung CB)

(80) wird ironisch verstanden (vgl. auch ebd.: 131), indem die aus dem Kontextund Weltwissen hervorgehende Dispräferenz der dargestellten Situation, hier: beiwohnen (ich, eine Ehekrise meiner Eltern), der von dürfen implizierten Intendiertheit widerspricht. Ein entsprechendes Beispiel aus dem LIMASKorpus ist (81): (81)

Davon, daß dieses große Vermögen damals ernsthaft gefährdet war und nur durch eine große öffentliche Stützungsaktion gerettet werden konnte (für die der Steuerzahler geradestehen durfte), war in diesem Zusammenhang natürlich nicht die Rede. (due-140)

Das oben genannte Beispiel (77) ist diesbezüglich ambig und mag so als Übergangsfall gelten. Während es durchaus nicht als allgemein erstrebenswert gilt, zu kämpfen, kann man einem mittelalterlichen Ritter diese Intention durchaus

MÜSSEN

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unterstellen. Je nach Perspektive würde (77) dann rein handlungsbezogen als Erlaubnis oder ironisch-evaluativ gelesen. Dürfen dient mit Negation regelmäßig zur Formulierung genereller Anforderungen in Bezug auf einen Situationstyp; man vergleiche etwa Beispiel (82): (82) Es [das Schlachtvieh, CB] darf nicht brünstig sein oder verletzt. (due-389) Dürfen verhält sich dann ganz analog zu mögen, das ebenfalls eine reaktive Intentionalität bezeichnet (vgl. Abschnitt 4.2). Da die dargestellte Situation als Handlungsziel zu verstehen ist, die modalisierte Situation also als machen / dafür sorgen (nicht (sein (es, brünstig/verletzt))), werden Belege wie (82) hier der handlungsbezogenen Lesart zugeordnet. Im reaktiven Bezug auf einen bereits gegebenen Einzelfall kann die Anforderung nicht mehr als generelles Handlungsziel aufgefasst werden, sondern erscheint als individuelle Wertung des Gegebenen. So verhält es sich mit der wertenden Wendung Das darf nicht wahr sein!, in der dürfen auf eine faktische Situation bezogen ist.

4.5 Müssen: Unerlässlichkeit, umfassende Geltung und Einsicht Müssen bezeichnet eine initiative, d.h. nicht reaktive, unverortete Bedingungsrelation, d.h. keine Intentionalität, sondern eine Relation, die als unmittelbar zwischen abgegrenzten Instanzen bestehend konzipiert ist. Abbildung 4.16 veranschaulicht die Bedeutung von müssen als einfache Teilbedingung im modalen Szenario. Anhand der grafischen Darstellung wird deutlich, dass die von müssen bezeichnete Bedingungsrelation der bei sollen unbestimmten Verbindung zwischen situationsextern verorteter Intentionalität und Situation entspricht. Dieser Unterschied begründet die nur mittelbare Bedingtheit durch die sollen-Bedingungsrelation und den „höhere[n] Grad der Verpflichtung“ bei müssen, wie es z.B. Ehlich/Rehbein (1972: 324) formulieren (vgl. auch Abschnitt 4.3 zu sollen).

150 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Abb. 4.16: Müssen als Ausdruck einer einfachen ([–REAKTIV], [–VERORTET]) modalen Situationsbedingung.

Die Aussage, dass die durch müssen ausgedrückte Bedingungsrelation weder situationsintern noch -extern verortet ist, ist nicht so zu verstehen, dass die müssen-Bedingungsrelation nicht von einer abgegrenzten Entität ausgehen könnte, die ihrerseits innerhalb oder außerhalb der modalisierten Situation verortet ist. So ist zum Beispiel in der Duden-Grammatik (2005: 563f.) von müssen als Ausdruck von Normen und Vorschriften mit hoher Verbindlichkeit die Rede, die gewöhnlich als von persönlichen oder institutionellen Instanzen etabliert gedacht werden. Das zugehörige Beispiel in der Duden-Grammatik ist (83); ein einschlägiger Beleg aus dem LIMAS-Korpus ist mit (84) wiedergegeben: (83) (84)

An unserer Schule mußten sich die Schüler früher vor Schulbeginn in Reih und Glied aufstellen. (Duden 2005: 564; Hervorhebung CB) Wer die niedrigste Karte hat, muß ein Drittel seines Einsatzes in die Bank (in die Tischmitte) bezahlen. (mue-497)

Hier ist es jeweils die Autorität des Lehrers oder der Schulregeln bzw. das Regelwerk beim Kartenspiel As-Jagd, von denen die modale Bedingungsrelation ausgeht. Daneben wird auch ein „intrasubjektiv bedingt[er]“ handlungsbezogener Gebrauch angenommen, wenn müssen als Ausdruck eines „inneren Zwang[s]“ erscheint; das Beispiel im Duden lautet: (85)

Sie musste ständig niesen. (Duden 2005: 564; Hervorhebung CB)

Im LIMAS-Korpus findet sich als entsprechender Beleg:

MÜSSEN

(86)

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Ausgerechnet in diesem Moment muß sie an Mark Hollmann denken. (mue-27)

Hier geht es um körperliche bzw. unwillkürliche kognitive Vorgänge und indem aufgrund allgemeiner Vorstellungen Intentionalität und unwillkürliche Körperlichkeit zusammen die Einheit einer Person bilden, mag man davon sprechen, dass die Instanz, von der die modale Bedingtheit ausgeht, mit der Instanz identisch ist, die von der Bedingungsrelation unmittelbar betroffen ist, d.h. mit dem zentralen Partizipanten der modalisierten Situation. Mit dem Modalverb wird aber gerade die Zwiespältigkeit bzw. die Spaltung einer intentionalen, prototypisch: personalen, Entität in die (unwillkürlich) zwingende und die intentionale Instanz explizit. Dies zeigt sich auch darin, dass die Bedeutung von müssen in (83) und (84) einerseits sowie in (85) und (86) andererseits nicht etwa der von sollen bzw. wollen entspricht.83 Sollen unterscheidet sich im Verbindlichkeitsgrad von müssen und der interne Zwang zu niesen oder an jemanden zu denken ist von der mit wollen bezeichneten initiativen Intentionalität weit entfernt, die in Bezug auf Nies- und Denksituationen handlungsbezogen als Absicht, zu niesen oder an jemanden zu denken, aufgefasst würde. Abbildung 4.17 soll verdeutlichen, dass trotz kontextbedingter „Verortung“ des Ausgangspunktes der von müssen bezeichneten Bedingungsrelation keine Verortung der Bedingungsrelation selbst vorliegt, so dass sie auch nicht als Intentionalität im Sinne von sollen oder wollen aufgefasst werden kann.

|| 83 Hier zeigt sich eine weiterer Vorteil gegenüber der Merkmalzuweisung bei Diewald (vgl. Abschnitt 3.5): Müssen und sollen sind dort durch das semantische Merkmal [+/–DIFFUS] bezüglich der modalen Quelle bzw. des Ausgangspunktes der modalen Relation voneinander unterschieden, die in etwa der hier so genannten Bedingungsrelation entspricht. Wenn nun aber durch den Kontext wie in (83), (84), (85) und (86) dieser Ausgangspunkt als persönliche oder institutionelle, somit als abgegrenzte, [–DIFFUSE] Instanz, spezifiziert wird, tritt keine Synonymie mit sollen bzw. wollen ein. Hierfür hat das Beschreibungsmodell von Diewald m. E. keine Erklärung.

152 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Abb. 4.17: Müssen in handlungsbezogener Lesart bei kontextbedingt situationsextern verortetem Ausgangspunkt der Bedingungsrelation anhand der Beispiele (84): Wer die niedrigste Karte hat, muß ein Drittel seines Einsatzes in die Bank (in die Tischmitte) bezahlen und (86): Ausgerechnet in diesem Moment muß sie an Mark Hollmann denken.

Dem widerspricht nicht, dass müssen in Verwendungen wie (84), in denen eine Verpflichtung zum Ausdruck kommt, mit sollen paraphrasiert werden kann; man vergleiche (84)': (84)'

Wer die niedrigste Karte hat, soll ein Drittel seines Einsatzes in die Bank (in die Tischmitte) bezahlen.

Mit einer solchen Ersetzung wird jedoch die Verbindlichkeit als objektive Relation zwischen den Instanzen aus der sprachlichen Darstellung allein auf den Kontext verlegt, etwa indem es für das Spiel konstitutiv ist, dass die Verbindlichkeit des Regelwerks für alle Mitspieler gegeben und von ihnen akzeptiert ist. In komplementärer Ergänzung aus Ausdrucksbedeutung und Kontextwissen mag die Paraphrase mit sollen daher zwar nahezu synonym mit müssen erscheinen; nichtsdestoweniger bezeichnet müssen, wie können und im Gegensatz zu sollen und den anderen bisher im Einzelnen behandelten Modalverben, keine Intentionalität, sondern eine objektive, äußere Relation zwischen Instanzen (vgl. auch Abschnitt 2.3). Die folgenden Belege aus dem LIMAS-Korpus geben einen Überblick über das Verwendungsspektrum von müssen:

MÜSSEN

(87) (88)

(89) (18)

(90)

(91)

(92)

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Er muß sich seinen Mitmenschen gegenüber hilfreich und fair verhalten. (mue-1920) Die Behandlung muß in rascher Digitalisierung, Gabe von hohen Steroiddosen, breitspektrigen Antibiotika, Sauerstoff, Diuretica, salzloser Diät und strengster Ruhe bestehen. (mue-1938) Die Analyse muß vielmehr immer das Phänomen berücksichtigen. (mue-2168) Zum einen muß eine solche Gehilfentätigkeit Stückwerk bleiben, wenn sie zugleich zur Entlastung des Richters beitragen soll. (mue51) Es ist einleuchtend, dass das erstgenannte Verfahren kostspieliger sein muß, da ja beim zweiten der Film selbst, ohne weitere Prozesse oder zusätzliche Materialien, bereits das fertige Bild ist. (mue-2319) Bemerkenswert muß aber auch erscheinen, daß Christian 1. Wünsche seines Bruders, des Grafen Gerd von Oldenburg, an den Kurfürsten übermittelte: (mue-2399) Dann muß ich in diesen Jahren in einem Traumtheater gelebt haben, aber nicht im Deutschen Bundestag. (mue-1815)

Während in den meisten Darstellungen nur zwei Lesarten von müssen unterschieden werden, etwa in der Duden-Grammatik (vgl. 2005: 563f.) und in der IDS-Grammatik (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1888ff.) eine „nicht epistemische“ bzw. „circumstantielle“ von einer „epistemischen“, finden sich auch für müssen die in Abschnitt 2.4 beschriebenen drei zentralen Lesarten: die handlungsbezogene, die erfahrungsbezogene und die erkenntnisbezogene. Die Beispiele (87), (88) und (89) werden hier der handlungsbezogenen Lesart zugeordnet. Mit (87) liegt der prototypische Fall vor, dass im Subjekt der zentrale Partizipant der modalisierten Situation gegeben ist, der, von der Bedingungsrelation unmittelbar betroffen, das Bindeglied im modalen Bedingtheitsverhältnis darstellt. Diese Interpretation ergibt sich, weil es sich bei der dargestellten Situation sich verhalten (er, hilfreich/fair) um eine intendierte dynamische Situation, kurz: um eine Handlung, handelt, die der semantischen Valenz des Modalverbs entspricht. Etwas anders verhält es sich mit (88), indem hier nicht die Handlung selbst, sondern ein Handlungsziel als Zustand in der dargestellten Situation bestehen (die Behandlung, in ...) gegeben ist, wobei die Darstellung den zentralen Partizipanten nicht enthält. Dieser ist jedoch implizit als Teil der (selektiv dargestellten) Situation gegeben, indem eine Behandlung einen Behandelnden voraussetzt. Indem es sich dabei um einen in einer Handlung, d.h. intendierten

154 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

dynamischen Situation, gezielt herbeiführbaren Zustand handelt, wird er als Ziel der modalisierten Situation aufgefasst, die damit selbst als Handlung, das Modalverb entsprechend handlungsbezogen interpretiert wird. Entsprechende Fälle wurden in den vorangehenden Abschnitten auch für die anderen Modalverben beschrieben. Bei (89) handelt es sich um einen Fall, der den Verwendungen von wollen, mögen, sollen und dürfen im Sinne eines Zwecks entspricht (vgl. die Abschnitte 4.1, 4.2, 4.3 und 4.4). Die dargestellte Situation berücksichtigen (die Analyse, das Phänomen) in Beispiel (89) lässt sich dabei zwar einerseits als Zweck verstehen, der einer Analyse aufgrund der Intentionalität eines eigentlich kontrollierenden „Schöpfers“ zukommt. Indem jedoch die Referenz des Subjekts die Analyse indefinit, nicht auf eine ganz bestimmte Analyse bezogen, zu verstehen ist, erscheint die Modalität nicht einfach als Ausdruck eines solchen Zwecks, sondern als allgemeine Bedingung der Zweckdienlichkeit einer Analyse, die man auch als objektiven Anspruch oder Wertmaßstab bezeichnen könnte. Dass es sich hier um einen generellen Anspruch oder Wertmaßstab handelt, wird durch das Adverbial immer explizit. Handlungszielbezogen sind auch Verwendungen, in denen das Erfüllen des Anspruchs als Handlungsziel wie in (88) erscheint, die modalisierte Situation mithin als Handlung zur Herbeiführung dieses Ziels, als „Dafür-sorgen-dass“. (18) wurde als Beleg für die erfahrungsbezogene Lesart bereits in Abschnitt 2.4 genannt. Die dargestellte Situation bleiben (eine solche Gehilfentätigkeit, Stückwerk) lässt sich zwar durchaus dynamisch auffassen, indem bleiben mit impliziter Negation etwa ‚sich nicht verändern‘ bedeutet; intendiert ist die Situation jedoch nicht, sondern erscheint als unkontrollierter Vorgang. Dies ergibt sich im vorliegenden Beispiel weniger aus der Bedeutung des Verblexems, sondern vielmehr aus dem Kontextwissen, dass niemand will, d.h. intendiert, dass die Gehilfentätigkeit, um die es geht, Stückwerk bleibt. Dies ist der entscheidende Faktor, der erfahrungsbezogene Belege wie (18) von handlungsbezogenen Verwendungen wie (88) oder (89) unterscheidet (vgl. dazu Abschnitt 7.2.2). Indem die dargestellte Situation weder als Handlung noch als Handlungsziel aufzufassen ist, kann sie nur als Widerfahrnis in einer modalisierten Situation erscheinen, die damit als Erfahrungssituation zu verstehen ist, in der der zentrale Partizipant als Experiens und somit erfahrungsbezogen intentional erscheint. Da weder durch Definitheit des Subjekts (vgl. Abschnitt 7.3.2) noch durch lexikalischen Instanzenbezug im modalen Szenario eine explizite Individualisierung der dargestellten Situation vorliegt, kann müssen hier im Sinne einer generellen Notwendigkeit gelesen werden: Es ist grundsätzlich, unabhängig vom aktuellen Einzelfall, unvermeidlich, dass eine solche Gehilfentätigkeit

MÜSSEN

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Stückwerk bleibt. In Abbildung ist diese erfahrungsbezogene Lesart von müssen für Beispiel (18) grafisch veranschaulicht.

Abb. 4.18: Müssen in erfahrungsbezogene Lesart anhand von Beispiel (18): Zum einen muß eine solche Gehilfentätigkeit Stückwerk bleiben, wenn sie zugleich zur Entlastung des Richters beitragen soll.

Auch (90) lässt sich erfahrungsbezogen verstehen als generelle Notwendigkeit. Dies ist der Fall, wenn die dargestellte Situation sein (das erstgenannte Verfahren, kostspieliger) als Situationstyp verstanden wird, d.h. die Menge von individuellen Anwendungssituationen des betreffenden Verfahrens umfasst. Daneben ist auch erkenntnisbezogene Lesart möglich, nämlich dann, wenn die dargestellte Situation nicht als Situationstyp, sondern als aktuelle Einzelsituation verstanden wird. Dann wird die dargestellte Situation als Gegenstand der Erkenntnis und somit als Proposition aufgefasst, in Bezug auf die sich der Sprecher in seiner aktuellen Erkenntnis kausal bedingt sieht (vgl. dazu auch Abschnitt 7.3.2). Würde man die dynamische dargestellte Situation bleiben (eine solche Gehilfentätigkeit, Stückwerk) in (89) hingegen individuieren, käme eher eine prospektive Erwartungshaltung in Bezug auf ein nachzeitiges Einzelereignis als eine generelle Notwendigkeit zum Ausdruck; man vergleiche die folgende Modifikation des Beispiels in (18)': (18)'

Diese Gehilfentätigkeit muß Stückwerk bleiben.

Solche Fälle werden hier ebenfalls der erfahrungsbezogenen Lesart zugeordnet, so dass man innerhalb dieser Lesart für müssen zwischen genereller Notwendigkeit oder auch umfassender Geltung einerseits und prospektiver Erwartung andererseits unterscheiden kann.

156 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Eindeutig erkenntnisbezogen ist schließlich Beispiel (92). Die dargestellte Situation ist haben (GE (leben (ich, in einem Traumtheater))); sie besteht in dem Nachzustand eines Ereignisses und ist damit statisch, nicht kontrolliert oder intendiert, individuell und faktisch entschieden. Verstanden wird sie als propositional-thematischer Teil einer intentionalen dynamischen Situation, die die semantische Valenz des Modalverbs verlangt. Da weder Handlung noch Erfahrung einen derartigen Gegenstand haben können – es gibt nichts mehr zu handeln oder zu erfahren – kann die modalisierte Situation nur eine Erkenntnis sein mit der dargestellten Situation als propositionalem Gegenstand. Wie in den anderen Lesarten von müssen ist mit der lexikalischen Semantik kein Ausgangspunkt der Bedingungsrelation gegeben. In einigen Belegen erscheint ein solcher Ausgangspunkt als im weitesten Sinne kommunizierende Instanz, gar als anderer Sprecher; man vergleiche (93) aus dem LIMAS-Korpus, in dem einer Karte Informationen entnommen werden, und das konstruierte Beispiel (94), für das sich im Korpus kein entsprechender Beleg findet. (93)

(94)

Er war erleichtert, als er auf der Karte ein Viereck fand, das er in der Landschaft nicht wiederfand: das Haus, das dort stehen mußte, stand nicht da, und die Straße, die an dieser Stelle eine Kurve machte, verlief in Wirklichkeit geradeaus. (mue-652) Anna war auf Sardinien. Das muss eine schöne Insel sein.

Obwohl gewisse Gemeinsamkeiten mit der erkenntnisbezogenen, genauer: quotativen, Lesart von sollen bestehen, kann nicht von Synonymie gesprochen werden. Die jeweilige im weitesten Sinne „sprechende“ Instanz, Landkarte bzw. Anna, ist kontextbedingt als Ausgangspunkt der von müssen bezeichneten Bedingungsrelation bestimmt; die Bedingungsrelation bleibt jedoch als äußere, [-verortete] Bedingungsrelation bestehen, d.h. sie wird nicht zur Intentionalität. Der Unterschied zu quotativem sollen wird auch daran deutlich, dass das Bedeutungselement der sprecherseitigen Vorbehalte, das mit sollen in quotativer Lesart oft einhergeht, sich hier nicht beobachten lässt. Vielmehr stellt der Sprecher die Erkenntnis der dargestellten Situation als Folgerung aufgrund einer vorhandenen Information dar. Dass deren Ergebnis in (93) sogleich durch die Realität eine Aufhebung erfährt, tut dem keinen Abbruch. Begründet liegt dieses Verhalten in der lexikalischen Bedeutung von müssen und sollen: Anders als bei sollen kommt durch müssen keine Opposition aufeinander bezogener Intentionalitäten zum Ausdruck, aufgrund derer die modalisierte Situation bei quotativem sollen weniger als Erkenntnis- denn als Anerkenntnissituation erscheint, in die der Sprecher als reaktiv-opponierende

MÜSSEN

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Instanz möglicherweise Vorbehalte einbringt (vgl. in Abschnitt 4.3 insbesondere Abbildung 4.13). Mit Abbildung 4.19 soll die erkenntnisbezogene Lesart von müssen anhand der Beispiele (92) und (94) veranschaulicht werden.

Abb. 4.19: Müssen in erkenntnisbezogener Lesart anhand der Beispiele (92): Dann muß ich in diesen Jahren in einem Traumtheater gelebt haben, aber nicht im Deutschen Bundestag und (94): Anna war auf Sardinien. Das muss eine schöne Insel sein.

Abschließend sei noch auf eine Funktion von müssen hingewiesen, die in handlungsbezogener Lesart als Wertung durch den zentralen Partizipanten erscheint. Durch müssen erscheint die betreffende Situation als erforderlich aufgrund von nicht kontrollierbaren, in der Regel äußeren, Umständen. Das impliziert, dass die Situation zwar möglicherweise intendiert und kontrolliert, aber nicht präferiert ist. Demgegenüber beinhaltet können in seiner reaktiven Bedeutung den Rückbezug auf die wollen-Bedingungsrelation, d.h. einen Willen oder eine Absicht. Ein entsprechendes Ereignis erscheint daher mit können sowohl intendiert und kontrolliert als auch präferiert. Man vergleiche die folgenden Sätze als Minimalbeispiel: (95) (96)

Er muss das ganz Haus zerstören[, wenn er die Erde darunter freilegen will]. Er kann das ganz Haus zerstören[, wenn er sich Mühe gibt].

Für beide Modalverben gilt, dass die Lesart in dem Moment in eine erfahrungsbezogene umschlägt, in dem die Situation als unkontrolliertes Ereignis erscheint. (97)

Er kann/muss das ganz Haus zerstören[, wenn er nicht umsichtiger ist].

158 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Der wertende Bezug auf Intentionen und Präferenzen entfällt und geht in der erfahrungsbezogenen Möglichkeit vs. Notwendigkeit als Wahrscheinlichkeitsgrad auf.

4.6 Können: Handlungsoption, eingeschränkte Geltung und Annahme Können bezeichnet wie müssen eine Relation zwischen Entitäten und nicht, wie die anderen vier Modalverben, eine Intentionalität. Anders als initiatives müssen verweist können auf eine reaktive Bedingungsrelation. In Abbildung 4.20 ist dies im Kontext des modalen Szenarios dargestellt.

Abb. 4.20: Können als Ausdruck einer reaktiven ([+REAKTIV], [–VERORTET]) modalen Situationsbedingung.

Auch für können bedeutet das Merkmal der Nicht-Verortung in einer Instanz nicht, dass die äußere, objektive Bedingungsrelation nicht von einer intentionalen Instanz ausgehen könnte. Man vergleiche etwa die folgenden Belege aus dem LIMAS-Korpus: (98) (99)

Tritt eine Gefahrerhöhung ein, so kann der Versicherer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen kündigen. (koe-1794) Sie können ja sprechen! (koe-41)

In (98) lässt sich die Bedingungsrelation aufgrund des Kontextes eines Gesetzes auf eine intentionale Instanz außerhalb der modalisierten Situation zurückführen. In (99) scheint, wohl vor allem aufgrund des Komplementverbs sprechen, die jeweilige Bedingungsrelation ihren Ausgangspunkt in gewisser Weise „innerhalb“ des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation zu haben. Dem entsprechen die in Abschnitt 4.5 für müssen angeführten Beispiele (84)

KÖNNEN

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und (86) aus dem Kontext eines Spielregelwerks bzw. mit dem Komplementverb denken (an jdn.). Man könnte hier auch von deontischen Verwendungen von können sprechen, da die Modalverben hier nicht auf eine einfache Möglichkeit, sondern spezifischer auf eine Erlaubnis bezogen erscheinen (bei müssen entsprechend statt auf eine einfache Notwendigkeit auf eine Verpflichtung). Wie in Abschnitt 4.5 für müssen in Abgrenzung zu sollen und wollen gezeigt, ist auch können in (98) nicht mit dürfen, in (99) nicht mit mögen synonym, wie man erwarten könnte, wenn der Bedeutungsunterschied zwischen den Lexemen tatsächlich in der Spezifikation des Ausgangspunktes der modalen Bedingungsrelation bestünde (so angenommen bei Diewald, s. Kapitel 3.5). Wie müssen im Gegensatz zu sollen bringt auch können im deontischen Kontext wie in (98) eine objektive Relation zum Ausdruck, die man als eine von den Absichten der Beteiligten unabhängige Verbindlichkeit bezeichnen kann. In (99) ist es der allgemein angenommene Zusammenhang von Wille und permanenten körperlichen, aber auch geistigen Gegebenheiten in der Einheit einer personalen Entität, aufgrund derer die reaktive modale Bedingung als Fähigkeit dem intentionalen zentralen Partizipanten zugeordnet erscheint. Das Modalverb bringt aber gerade die Opposition dieser Instanzen, der intentionalen Volition und der mitunter hinderlichen psycho-physischen Konstitution, der möglichen Behinderung in der Ausführung der Absichten durch körperliche und geistige Gegebenheiten, zum Ausdruck. Können im Sinne einer Fähigkeit erscheint folglich nur als Sonderfall (vgl. auch Palmer 1979: 37), wenn die grundsätzliche Annahme bezüglich dessen, was eine personale Entität als Einheit umfasst, den Instanzen im modalen Szenario übergestülpt wird. Brinkmann (1971: 396) spricht für können als Ausdruck einer Fähigkeit von positiver Motivierung. Negative Motivierung bedeutet die Abwesenheit von Hindernissen, positive Motivierung das Vorliegen ermöglichender Ursachen, die er mit „in der Lage (imstande) sein“ paraphrasiert (vgl. ebd.: 396). Wie bei entsprechenden Verwendungen der anderen reaktiven Modalverben, mögen und dürfen, erscheint die modalisierte Situation hier indefinit, d.h. als permanente Eigenschaft bzw. Fähigkeit, die in einer Menge von Einzelsituationen zum Tragen kommt. Bei mögen entspricht dem eine grundsätzliche (Dis-)Präferenz, bei dürfen ein genereller Anspruch. In Abbildung 4.21 soll verdeutlicht werden, wie diese verschiedenen Fälle der einheitlichen lexikalischen Bedeutung von können entsprechen (vgl. die entsprechende Abbildung 4.17 zu müssen).

160 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Abb. 4.21: Können in handlungsbezogener Lesart mit kontextbedingt situationsextern bzw. -intern verortetem Ausgangspunkt der Bedingungsrelation anhand der Beispiele (98): Tritt eine Gefahrerhöhung ein, so kann der Versicherer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen kündigen und (90): Sie können ja sprechen!

Auch hier spricht die potenzielle Austauschbarkeit von können und dürfen nicht gegen den beschriebenen Unterschied, der schlicht einer in der Darstellung der modalen Verhältnisse ist. Unterschiedlichen Darstellungen können durchaus ähnliche Gegebenheiten entsprechen, wie Beispiel (100) in der Koordination von können und dürfen zeigt. (100)

Das sind die kleinen Autos, in die man sich für 50 Pfennige setzen kann und dann fahren darf. (koe-3578)

Die folgenden Belege aus dem LIMAS-Korpus sollen einen Überblick über die Gruppen von Belegen geben, die sich für können im Korpus finden: (101)

(102) (103)

(104) (105)

Der Bäcker kann die Gefahr einer zu kühlen Sauerführung ausschließen, wenn er die Temperatur jeder Sauerstufe mit einem Teigthermometer kontrolliert. (koe-1200) Der Gaul ist schlank und kann schnell laufen. (koe-3394) Die Maschine kann also nach Belieben Männerstimmen, Frauenstimmen oder Kinderstimmen künstlich herstellen und ebenso das Timbre jedes Instrumentes imitieren. (koe-1686) Jetzt kann der Sand in die unten hängenden [sic] Schale rinnen. (koe-1522) Wer jetzt nicht aufpasst, kann die 30%ige Zusatzprämie, die der Staat Kleinverdienern und Mittelverdienern zur Bauspargrundprämie gewährt, für sieben Jahre verlieren. (koe-323)

KÖNNEN

(106) (35) (107) (108)

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Sprachstörungen können auftreten, mitunter auch Gereiztheit. (koe282) Jede Sekunde können die Vasallen durchbrechen. (koe-45) Aber auch die Lagebeziehungen des Fossils zum Sediment sowie zu anderen Fossilresten können wichtig sein. (koe-5333) Das kann auch Fi-lip-piii-ne heißen. (koe-4352)

In (101) lässt sich können als Ausdruck einer konkreten Handlungsmöglichkeit beschreiben. Die dargestellte Situation ausschließen (der Bäcker, Gefahr) erscheint als intendierte, kontrollierte und dynamische Situation und stellt die modalisierte Situation; die Lesart des Modalverbs ist handlungsbezogen. Diese Verwendung von können impliziert die Intentionalität, genauer: die Intention oder Absicht, des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, sein Wollen. Für Beispiel (102) kann von einer Fähigkeit gesprochen werden, deren konstitutionelle Ursache mit ist schlank im Satz auch explizit ist. Die dargestellte Situation laufen (der Gaul, schnell) fällt auch hier als intendierte Handlung mit der modalisierten Situation zusammen, wird aber nicht als konkrete Einzelsituation, sondern als indefiniter Situationstyp aufgefasst, der alle möglichen Einzelsituationen umfasst, in denen eine entsprechende Intention des zentralen Partizipanten vorliegt. Ob dieser nun der Gaul oder sein Reiter ist, mag dahingestellt bleiben und ändert nichts an der Zuordnung zur handlungsbezogenen Lesart. Im zweiten Fall würde man dann genauer die dargestellte Situation als Handlungsziel auffassen, das durch eine intendierte Handlung VERANLASSEN (laufen (der Gaul, schnell)) als modalisierte Situation hervorzubringen ist. Die Fähigkeit wäre dann keine des Gauls, schnell zu laufen, sondern die Möglichkeit des Reiters, den Gaul schnell laufen zu lassen. Der Gaul als belebter, aber nicht menschlicher Subjektreferent erscheint hier als Zweifelsfall zwischen Agens und Instrument. Deutlicher als Zweck denn als Handlung erscheint die dargestellte Situation in Beispiel (103). (103)

Die Maschine kann also nach Belieben Männerstimmen, Frauenstimmen oder Kinderstimmen künstlich herstellen und ebenso das Timbre jedes Instrumentes imitieren. (koe-1686)

Wie schon für die anderen Modalverben beschrieben wurde, liegt hier ein Zweck als „übertragene“ Intentionalität eines Mittels, Werkzeugs oder Werkstücks vor. Die dargestellte Situation herstellen (die Maschine, Männerstimmen...) bzw.

262 | Modalverbformen und Bedeutung

einer möglichen und beabsichtigten Situation ja nichts im Wege steht. Diese Schlussfolgerung bzgl. der Situation hat dann aber tatsächlich den Status einer Implikatur und muss von der kompositionellen Bedeutung des Modalverbs im Konjunktiv Präteritum unterschieden werden. Letztere besteht im Fall von könnte- in der faktischen Unbestimmtheit aufgrund eines unbestimmten Willens bei bestehender Möglichkeit. Lötscher geht hier noch einen Schritt weiter: Im Konjunktiv Präteritum werde „zusätzlich signalisiert, daß zu erwarten ist, daß der Spieler diesen Zug nicht ausführt“ (1991: 341); aus einer Blockierung der Faktizitätsimplikatur folgt also die Implikatur der Kontrafaktizität. Diesen Punkt Lötschers greift Diewald auf und möchte mit Hilfe von Fortsetzungstests zeigen, dass keine Implikatur der Kontrafaktizität bezüglich der Situation vorliege (vgl. 1999: 196):

(189)

Jetzt könnte ich mit meinem Springer deine Dame schlagen – und das werde ich auch tun/aber ich tue es nicht. (Diewald 1999: 196, Hervorhebung CB)

Die Fortsetzungen in (189) seien nur möglich, wenn der Vollzug eben nicht durch eine Implikatur ausgeschlossen wäre, und die Partikeln auch bzw. aber nur konsistent, wenn eben keine Kontrafaktizität impliziert sei (ebd.: 196). Die Blockierung einer Vollzugsimplikatur bedeutet also nicht die Implikatur des Nicht-Vollzugs. Was dieses Beispiel belegt, ist wieder die unbestimmte Faktizität der modalisierten Situation aufgrund der (doppelten) Abhängigkeit von einem Willen bei bestehender Möglichkeit. In (189) ist mit dem Gedankenstrich gerade die Entscheidung des unbestimmten Willens markiert, was dessen im vorausgehenden Satz mit könnte ausgedrückte Unbestimmtheit nur unterstützt. Die Implikatur der Kontrafaktizität der modalisierten Situation, die Lötscher (1991: 341) feststellt und Diewald kritisch aufgreift, ergibt sich nicht (allein) durch das Modalverb oder den Konjunktiv Präteritum, sondern durch die 1. Person des Subjekts sowohl in Lötschers als auch in Diewalds Beispielen. Von beiden Autoren bleibt dieser Faktor jedoch unerwähnt. Die Identität von Sprecher und Subjekt bedingt die für die Implikatur der Kontrafaktizität entscheidende Präsupposition, dass der Inhaber oder Träger eines Willens um den Status seines Willens weiß. Aus der Tatsache, dass der Sprecher mit dem Konjunktiv Präteritum der 1. Person ausdrücklich auf die Abhängigkeit von seinem eigenen (!) Willen hinweist, kann der Hörer aus Relevanzgründen schließen, dass trotz Möglichkeit aufgrund eines fehlenden Willens die Situation nicht zustande kommt.

KÖNNEN

(105)

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Wer jetzt nicht aufpasst, kann die 30%ige Zusatzprämie, die der Staat Kleinverdienern und Mittelverdienern zur Bauspargrundprämie gewährt, für sieben Jahre verlieren. (koe-323)

Hier ist es nicht der weitere Kontext, sondern es geht bereits aus der Komplementphrase, im Besonderen aus dem Komplementverb verlieren hervor, dass es sich bei der dargestellten Situation verlieren (wer jetzt nicht aufpasst, die 30%ige Zusatzprämie) nicht um eine vom Subjektreferenten intendierte kontrollierte Situation handelt, obwohl dieser, angelegt als persönliche Instanz, agensfähig ist. Dies mag die Modifikation (105)' verdeutlichen, in der der Kontext Intendiertheit suggeriert, sowohl im Subjektsatz in Form des nicht negierten Verbs aufpassen als auch im Komplementverb sich sichern, und damit eine handlungsbezogene Lesart des Modalverbs eintritt: (105)'

Wer jetzt aufpasst, kann sich die 30%ige Zusatzprämie, die der Staat Kleinverdienern und Mittelverdienern zur Bauspargrundprämie gewährt, für sieben Jahre sichern.

Beispiel (106) zeigt ebenfalls eine erfahrungsbezogene Lesart von können, jedoch in ihrer generellen Form, d.h. als Ausdruck einer Auftretensmöglichkeit oder -wahrscheinlichkeit innerhalb einer Gruppe von Einzelfällen. (106)

Sprachstörungen können auftreten, mitunter auch Gereiztheit. (koe282)

Die dargestellte Situation auftreten (Sprachstörungen) stellt ein Ereignis dar, mithin einen Gegenstand des Erlebens; können bezeichnet die „Erlebbarkeit“ solcher Ereignisse, somit die Existenz entsprechender Fälle. Man könnte entsprechend paraphrasieren: Es kommt vor, dass... oder auch, quasi redundant, Es kann vorkommen, dass... Dass diese generelle erfahrungsbezogene Modalität zusammenhängt mit der Indefinitheit der dargestellten Situation als Situationstyp (vgl. auch Abschnitt 4.2 zu mögen) und der Permanenz entspricht, die sich in handlungsbezogener Lesart von können vor allem im Ausdruck von Fähigkeiten niederschlägt, scheinen auch analoge Verwendungen von kennen zu bestätigen, das zwar etymologisch mit können verwandt ist, heute aber vor allem eine Bekanntheit mit einer Person, einem Gegenstand o.Ä. als permanenten Zustand oder Eigenschaft bezeichnet. Das folgende Beispiel ist ein (nicht objektsprachlicher) Beleg aus der Duden-Grammatik:

164 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

(109)

Diesen Gebrauch kennen auch die Verben drohen und versprechen: (Duden 2005: 859; Hervorhebung CB)

Hier wird kennen als Ausdruck einer generellen erfahrungsbezogenen Modalität im Sinne von Es kommt vor, dass die Verben... verwendet. Die dargestellte Situation ist, anders als bei den Modalverben, nicht als infinitivisches Verbkomplement, sondern als akkusativisches Verbalabstraktum Gebrauch gegeben. Auch müssen kann, wie in Abschnitt 4.5 beschrieben, in diesem generellen Sinne erfahrungsbezogen verwendet werden; die Generalität muss bei müssen insgesamt aber offenbar stärker durch den Kontext gestützt werden als bei können. Verwendungen in handlungsbezogener Lesart im Sinne eines generellen, d.h. permanenten Zwanges etwa, die denen von können im Sinne einer Fähigkeit entsprechen würden, können erst mit einem „iteratisierenden“ Adverbial wie immer(, wenn...) entstehen; man vergleiche die folgende Modifikation von Beispiel (86) aus Kapitel 4.5. (86)'

In solchen Momenten muß sie immer an Mark Hollmann denken.

Bei den Modalverben, die eine reaktive Bedingungsrelation bezeichnen, ist damit die Indefinitheit der dargestellten wie modalisierten Situation bereits angelegt. Ebenfalls der erfahrungsbezogenen Lesart zugeordnet werden Fälle wie (35). (35)

Jede Sekunde können die Vasallen durchbrechen. (koe-45)

Anders als in (106) ist die dargestellte Situation durchbrechen (die Vasallen) nicht als Situationstyp, sondern als Einzelsituation zu verstehen; dazu trägt sicher auch die temporale Angabe jede Sekunde bei. Auch hier kann die modalisierte Situation als Erfahrung oder Erlebnis eines Ereignisses beschrieben werden. Die Intentionalität des zentralen Partizipanten erscheint dann nicht als generelle Ereigniserwartung, sondern als spezifische Erwartung oder Aussicht in Bezug auf ein Einzelereignis. Generell erfahrungsbezogen zu lesen ist Beispiel (107). (107)

Aber auch die Lagebeziehungen des Fossils zum Sediment sowie zu anderen Fossilresten können wichtig sein. (koe-5333)

KÖNNEN

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Die dargestellte Situation sein (die Lagebeziehungen, wichtig) kann aufgefasst werden als Situationstypisierung über eine Menge von Einzelsituationen, die hier etwa in einzelnen Fossilfunden bestehen mögen. Können bringt dann generell erfahrungsbezogen zum Ausdruck, dass die Lagebeziehungen in einigen dieser Fälle wichtig sind. Ein Übergang zur erkenntnisbezogenen Lesart findet dann statt, wenn die dargestellte Situation als aktuelle Einzelsituation aufgefasst, die Modalität auf den Fall eines aktuellen Fossilfundes bezogen verstanden wird. Als modalisierte Situation erscheint dann keine Erfahrung von Einzelfällen, sondern die Erkenntnis in Bezug auf den aktuellen Fall; das Modalverb wird erkenntnisbezogen gelesen. Eindeutig erkenntnisbezogen ist (108). (108)

Das kann auch Fi-lip-piii-ne heißen. (koe-4352)

Die dargestellte Situation heißen (das, Fi-lip-piii-ne) ist als aktuelle Einzelsituation erkennbar, auch durch das offenbar situationsdeiktisch verwendete Demonstrativpronomen das. Die dargestellte Situation ist statisch und unkontrolliert, entspricht damit nicht der Valenz des Modalverbs, so dass sie als Proposition zum Gegenstand der modalisierten Erkenntnis- oder genauer: Annahmesituation wird. Abbildung 4.22 veranschaulicht diese Verhältnisse im modalen Szenario.

Abb. 4.22: Können in erkenntnisbezogener Lesart anhand von Beispiel (108): Das kann auch Filip-piii-ne heißen.

Indem sich hier die wollen-Relation als opponierende Bedingungsrelation für die Funktion des Partizipatums der modalisierten Situation ergibt, liegt, anders als bei müssen, eine initiative propositionsbezogene Intentionalität vor. Diese lässt sich angemessener als „Annahme“ fassen, während die reaktive propositi-

166 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

onsbezogene mögen-Intentionalität, die bei erkenntnisbezogenem müssen die modalisierte Situation bildet, eher als Erkenntnis erscheint, bei erkenntnisbezogenem, genauer: quotativem, sollen noch spezifischer als Anerkenntnis. So erklären sich die unterschiedlichen Qualitäten der Modalverben in erkenntnisbezogener Verwendung aus der spezifischen Position der von ihnen bezeichneten Bedingungsrelation im modalen Szenario, mithin aus ihrer jeweiligen lexikalischen Semantik.

4.7 Nicht brauchen, modale Infinitive, Halbmodale und Co.: Modale Bedeutung semantisch verwandter Verben Eine Reihe von Verben wird als den Modalverben semantisch nahe stehend empfunden. Hierzu gehören nicht brauchen als möglichweise siebtes Modalverb, sein zu und haben zu als modale Infinitive, gehören mit Partizip Perfekt, drohen zu, pflegen zu, scheinen zu, versprechen zu und werden. In den Grammatiken werden diese Verben als Halbmodale (Zifonun u.a. 1997: 1282) oder Modalitätsverben (Duden 2005: 568) bezeichnet. Alle diese Verben können ähnliche Funktionen erfüllen wie die Modalverben. Im Gegensatz zu diesen sind sie aber überwiegend nicht polyfunktional, indem sie mehrere modale Lesarten aufweisen würden. Es kann an dieser Stelle keine umfassende semantische Beschreibung der betreffenden Verben erfolgen. Es sollen jedoch einige Worte dazu verloren werden, wo sich die semantischen Gemeinsamkeiten, wo aber auch die Unterschiede in der Bedeutung dieser Verben gegenüber den Modalverben liegen und wie sich sowohl das eine wie auch das andere im Bezug auf das modale Szenario erklären lässt. Auch die kausativen Verben lassen und machen, beide mit Akkusativobjekt und Verbinfinitiv (Aci) konstruiert, haben einen Bezug zum modalen Szenario und werden in Hinblick darauf hier kurz behandelt.

4.7.1 Das siebte Modalverb: (nicht) brauchen Für nicht brauchen bemerkt Öhlschläger (1989: 8), dass es sich dahingehend von den (anderen) Modalverben unterscheidet, dass es nur eine handlungsbezogene Verwendungsmöglichkeit habe. Diese veranschaulicht der folgende Beleg aus dem LIMAS-Korpus:

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

(110)

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Während sie fressen, können sie ihre Umgebung weiter beobachten, sie brauchen ihren Kopf ja nicht immer wieder zur Nahrung herunter zu beugen. (bra-299)

Der Duden-Grammatik zufolge ist nicht brauchen äquivalent zu nicht müssen (vgl. 2005: 564); so sieht es auch die IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 1277). Und so lässt sich brauchen in (110) halbwegs sinnerhaltend durch müssen ersetzen: (110)'

Während sie fressen, können sie ihre Umgebung weiter beobachten, sie müssen ihren Kopf ja nicht immer wieder zur Nahrung herunter zu beugen.

Synonym ist die Paraphrase mit müssen jedoch nicht. Ein Unterschied besteht darin, dass die modalisierte Situation bei brauchen, die in (110) mit der dargestellten Situation herunterbeugen (sie, sich) zusammenfällt, in einen übergeordneten finalen Kontext eingebettet erscheint. In (110) ist dieser finale Kontext angedeutet im Ziel der Bewegungssituation und ließe sich auch formulieren als ..., wenn sie die Nahrung erreichen wollen. Diese finale Rahmung ist bei den Verwendungen von brauchen mit nominalem Komplement stets gegeben; was gebraucht wird, wird für einen bestimmten Zweck, zur Erreichung eines bestimmten Ziels gebraucht. In (111) ist das Ziel bzw. der Zweck im finalen Nebensatz explizit: (111) In beiden Fällen braucht man Fragebogen, um System in die Sache zu bringen, um die erhaltenen Antworten vergleichbar, zählbar, messbar zu machen. (bra-76) Auch eine entsprechende deontische Einbettung der brauchen-Bedingungsrelation ist möglich. Statt eines eigenen übergeordneten Handlungsziels des Agens erscheint dann die Absicht oder Wille eines Anderen als übergeordnete Bedingung, der es zu entsprechen gilt. Mit nicht brauchen wird ausgedrückt, dass die modalisierte Situation nicht nötig ist, um dem Willen des Anderen zu entsprechen; hierin besteht dann quasi das übergeordnete Handlungsziel. In Beispiel (112) ist es der Wille des Sprechers selbst, bezüglich dessen das potenzielle Agens der modalisierten Situation verstellen (sich) von dieser Handlung freigestellt wird. (112)

Brauchst dich nicht zu verstellen, ich weiß doch, dass dir die Klosterfabrik genauso zuwider ist wie mir. (bra-255)

168 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Auch in Beispiel (113) ist es ein übergeordnetes Handlungsziel des zentralen Partizipanten, hier: des Referenten von sie, auf das nicht brauchen Bezug nimmt, etwa die Aufgabe, Unfälle zu verhindern. (113)

Ich hab ihr klipp und klar gesagt, daß ich kein Kind mehr bin und daß sie mich nicht ständig zu beaufsichtigen braucht. (bra-242)

Gleichzeitig bringt der Sprecher aber auch seinen eigenen Willen zum Ausdruck. Dass die modalisierte Situation nicht aus den Handlungszielen des zentralen Partizipanten folgt, wird aufgegriffen, um dem eigenen Wunsch nach Unterlassung der modalisierten Situation beaufsichtigen (sie, mich) Ausdruck zu verleihen. Insgesamt scheint nicht brauchen so zwar auf die müssen-Bedingungsrelation zu verweisen, darüber hinaus aber einen intentionalen Ausgangspunkt vorauszusetzen, der bei müssen zwar aus dem Kontext heraus gegeben sein kann, aber nicht in der lexikalischen Semantik angelegt ist. Hieraus erklärt sich der deutlich empfundene Bedeutungsunterschied zwischen nicht brauchen und nicht müssen (vgl. z.B. auch Bechmann 2013: 308f.). Negiert erscheint bei nicht brauchen der objektive kausale Zusammenhang zwischen einer intentionalen Instanz und der modalisierten Situation, den man als Zweckdienlichkeit oder Verbindlichkeit auffassen kann und der der müssenBedingungsrelation entspricht (vgl. die Abschnitte 4.3 und 4.5 zu sollen und müssen). Im modalen Szenario ließe sich die Bedeutung von nicht brauchen in diesem Sinne darstellen wie in Abbildung 4.23, wobei die n-förmige Durchstreichung die Negation symbolisiert.

Abb. 4.23: Nicht brauchen im modalen Szenario.

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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Dem entspricht auch die Beschreibung des englischen Pendants need not zu nicht brauchen als Ausdruck der Freistellung des Subjekts von einer sozial basierten äußeren Verpflichtung bei Talmy (1988: 79). Ehlich/Rehbein (1972: 326) beschreiben die Bedeutung von nicht brauchen in diesem Sinne als „pragmatische Negation“, indem durch seine Verwendung ein an den Subjektreferenten („Aktanten“) gerichtetes Handlungsinitial rückgängig gemacht würde. Ehrich (2001: 149, 158ff.) spricht vom Ausdruck einer überflüssigen Handlung im Zusammenhang einer Handlungsentscheidung. Dieses Handlungsinitial ist im Falle einer finalen Rahmung der eigene, im Falle einer deontischen Rahmung ein fremder Wille, oft der des Sprechers, und ohne weitere Bestimmung eine beliebige Relation, von der ein Kausalzusammenhang mit der modalisierten Situation angenommen wird. Es ist dann nicht die jeweils rahmende Intentionalität selbst, die durch nicht brauchen negiert wird, sondern die Verbindung dieser Relation mit der Situation, die im modalisierten Satz ausgedrückt wird; nicht die eigene oder fremde Absicht in Hinblick auf ein übergeordnetes Handlungsziel wird verneint, sondern ihr notwendiger Zusammenhang mit der modalisierten Situation, durch den sie zur Konsequenz der rahmenden Absicht wird. Nicht brauchen erscheint somit semantisch reicher als nicht müssen und lässt sich durch nicht müssen, damit / um zu paraphrasieren, wobei das Handlungsziel implizit bleibt bzw. im Kontext gegeben sein kann. Die rein syntaktische Unterscheidung der IDS-Grammtik (Zifonun u.a. 1997: 1276) ist offenbar zu kurz gegriffen. Dass eine entsprechende modale Verwendung von nicht negiertem brauchen nicht existiert, liegt wohl daran, dass der Bezug zur intentionalen Rahmung nur dann relevant ist, wenn diese als zwar bestehend, die modalisierte Situation aber trotzdem nicht erfordernd dargestellt werden soll, wenn also etwa für Beispiel (113) die Sicherheit gewährleistet ist, auch wenn keine Beaufsichtigung stattfindet. Ein bestehendes Erfordernis wird hingegen durch müssen dargestellt, unabhängig davon, auf welche übergeordneten Gründe diese zurückgeht. Dieser finale Zusammenhang kann im Kontext explizit werden, so in Beispiel (114): (114)

Wir müssen ferner im agrarsozialen Bereich zu entscheidenden Verbesserungen kommen, um besonders älteren Landwirten die Betriebsaufgabe zu erleichtern. (mue-252)

Brauchen wäre in dieser Verwendung redundant:

170 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

(114)'

*Wir brauchen ferner im agrarsozialen Bereich zu entscheidenden Verbesserungen kommen, um besonders älteren Landwirten die Betriebsaufgabe zu erleichtern.

Dass nicht brauchen, entgegen der Feststellung Öhlschlägers (1989: 8), neben der handlungsbezogenen Lesart auch in erfahrungs- und erkenntnisbezogener Lesart vorkommt, zeigen die folgenden Belege aus dem LIMAS-Korpus. (115) (116)

(117)

die Delinquenz braucht dabei keinerlei Zusammenhang mit Sexualität zu haben. (bra-162) Die bekannten Rechtspositionen, an die die Bundesrepublik Deutschland gebunden bleibt, brauchen dem nicht im Wege zu stehen. (bra-46) Eine notwendige Folge braucht nicht Anlaß oder Mitbeweggrund für die Verwaltungsgliederung gewesen zu sein. (bra-99)

(115) wird generell im Sinne einer Vorkommenswahrscheinlichkeit, (116) als Erwartung in Hinblick auf oder Aussicht auf ein nachzeitiges Ereignis gelesen; beide Beispiele sind Belege für die erfahrungsbezogene Lesart von nicht brauchen. In (117) ist nicht brauchen erkenntnisbezogen aufzufassen als Ausdruck einer bedingten Erkenntnis bezüglich der dargestellten Situation sein (GE (sein (eine notwendige Folge, Anlass/Mitbeweggrund))) als Proposition. Eine erkenntnisbezogene Lesart von nicht brauchen ist auch in der IDSGrammatik (Zifonun u.a. 1997: 1277f.) erwähnt. In der Duden-Grammatik findet sich kein entsprechender Hinweis; dennoch wird nicht brauchen „seiner Verwendung nach“ den Modalverben zugeordnet (2005: 562). Von den Modalverben unterschieden ist nicht brauchen jedoch durch eine vergleichsweise komplexe Semantik, die den Verweis auf eine Konstellation aus zwei Bedingungsrelationen im modalen Szenario beinhaltet wie in Abbildung 4.23 veranschaulicht.

4.7.2 Modale Infinitive: sein zu, haben zu und verwandte Konstruktionen Die so genannten modalen Infinitive haben zu und sein zu sind der IDSGrammatik (Zifonun u.a. 1997: 1897) zufolge dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht auf eine modale Relation, Notwendigkeit oder Möglichkeit bzw. initiative oder reaktive Bedingungsrelation, festgelegt sind. Vor allem sein zu kann zum

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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Ausdruck beider modaler Relationen dienen. Zur Veranschaulichung werden in der IDS-Grammatik die folgenden Beispiele gegeben: (118) (119)

Ihr Lachen war bis hierher zu hören. (Zifonun u.a. 1997: 1897; Hervorhebung CB) Das ist bis morgen zu erledigen. (ebd.: 1897; Hervorhebung CB)

In (118) bringt sein zu offenbar eine Möglichkeit zum Ausdruck, die sich mit können paraphrasieren lässt, und in (119) eine Notwendigkeit, die mit sollen oder müssen erfasst werden kann. Bei der sinnerhaltenden Paraphrase von sein zu mit einem Modalverb muss dabei das Komplement ins Passiv gesetzt werden; man vergleiche (118)' und (119)': (118)' (119)'

Ihr Lachen konnte bis hierher gehört werden. Das soll/muss bis morgen erledigt werden.

M.E. kann man, in einer weniger prominenten Lesart, sein zu auch in (119) als Ausdruck einer Möglichkeit auffassen, im Sinne von Das kann man schaffen. Ob eine Möglichkeits- oder eine Notwendigkeitslesart eintritt, hängt vor allem damit zusammen, ob die Situation als vom, hier nur implizit gegebenen, zentralen Partizipanten als Agens selbst initiiert und intendiert erscheint. Ist dies der Fall, ist eine Möglichkeitslesart präferent; als Default erscheint jedoch eine Notwendigkeitslesart, was damit zusammenpasst, dass es sich bei einer Möglichkeit um die semantisch komplexere bzw. markierte Relation handelt (vgl. Abschnitt 2.2). Der Unterschied zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, der bei den Modalverben lexikalisch kodiert ist, entsteht bei sein zu erst über Informationen, die die Komplemente und der weitere Kontext liefern. Als diesbezüglich ausschlaggebendes Merkmal der Konstruktion ist vor allem das Komplementverb zu nennen. So gibt es Verben, die grundsätzlich präferierte Situationen beschreiben, die Intendiertheit implizieren, z.B. erreichen oder schaffen, aber auch die Verben der sinnlichen Wahrnehmung und der propositionalen Einstellung; Informationen über die Welt zu Erhalten erscheint als Grundinteresse des Menschen. Erscheinen diese Verben als Komplementverben, ist eine Möglichkeitslesart präferent: X ist zu sehen/hören/glauben/verstehen/erkennen ist dann zu paraphrasieren mit X kann gesehen/gehört/geglaubt/verstanden/erkannt werden. Dies bestätigen auch die Beobachtungen, die Gelhaus (vgl. 1977: 37ff.) für sein zu im Sinne von ‚können‘ macht, nach der „die Variante I (‚können‘) des sein-Gefüges vor allem – konkreter gesprochen: in drei von vier Fällen – an der Infinitiv-Stelle ein verbum dicendi oder sentiendi bietet“ (ebd.: 47). Bei genaue-

172 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

rer Durchsicht der betreffenden 294 Komplementverben, die Gelhaus hier charakterisiert und die 74% seiner insgesamt 399 Belege von sein zu im Sinne von ‚können‘ ausmachen, zeigt sich, dass die Sprechaktverben mit rd. 30 Belegen gegenüber den mentalen Verben den deutlich geringeren Anteil haben. Auch Stefanowitsch (vgl. 2009: 584f.) macht eine entsprechende Beobachtung, indem er befindet, dass Wahrnehmungs- und mentale Verben eine von zwei „systematischen Verbklassen“ bilden, die als Komplement von sein zu erscheinen, ohne jedoch auf den Zusammenhang mit der modalen Relation hinzuweisen. Zur zweiten Verbklasse, die sich durch die Bezeichnung von „Verwaltungsvorgängen“ auszeichnen, vergleiche man den Hinweis weiter unten in diesem Abschnitt. Für die Lesart von sein zu im Sinne einer Notwendigkeit wie in (119) stellt Gelhaus keine derartigen Besonderheiten der Komplementverben fest. Das spricht dafür, dass die Möglichkeitslesart, d.h. die Interpretation der modalen Bedingungsrelation als reaktiv, sich erst aus der Intendiertheit der modalisierten Situation ergibt, die kontextuell gegeben und nicht, wie bei den Modalverben, in der lexikalischen Bedeutung von sein zu angelegt ist. Das modale Bedingtheitsverhältnis zwischen Bedingungsrelation und modalisierter Situation wird schließlich auch nicht über den zentralen Partizipanten, sondern über das Patiens der modalisierten Situation hergestellt, wodurch auch bedingt ist, dass sein zu einer passivischen Konverse von müssen bzw. können entspricht. Dass eine modale Bedingtheit grundsätzlich auch als über einen anderen Teil der modalisierten Situation etabliert dargestellt werden kann, mag bestätigen, dass Modalität, auch handlungsbezogene Modalität, nicht etwas ist, das einer Person zukommt, wie die Rede vom engen Skopus des Modalverbs mitunter suggeriert, sondern auf eine ganze Situation zu beziehen ist. Gegenüber müssen und können scheinen Verwendungen von sein zu ausgeschlossen, in denen eine (körperlich) interne Ursache den Ausgangspunkt der modalen Bedingungsrelation bildet; in den Abschnitten 4.5 und 4.6 wurden diese als ‚innerer Zwang‘ bzw. ‚Fähigkeit‘ beschrieben. Auch der Bezug auf Intentionalitäten, deren Einfluss von offener „Verbindlichkeit“ ist, wie für sollen und dürfen beschrieben (vgl. die Abschnitte 4.3 und 4.4), ist mit sein zu nicht möglich. Demnach bezeichnet sein zu zwar eine Bedingungsrelation, diese ist jedoch im Gegensatz zu den Modalverben weder als initiativ oder reaktiv auf die Intentionalität des zentralen Partizipanten bezogen, noch ist sie als Intentionalität spezifiziert. Ersteres ist auch der Grund, warum keine erfahrungsbezogene und/oder erkenntnisbezogene Lesart von sein zu zu erwarten ist. Der fehlende Bezug zu Intentionalität und Präferenz des zentralen Partizipanten macht sein

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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zu geeignet zur Darstellung „sachlicher“ Handlungsbedingungen, die unabhängig von den Absichten und Wünschen des Ausführenden bestehen, mithin für Modalität im administrativen Kontext (vgl. Stefanowitsch 2009: 585ff.). Abbildung 4.24 zeigt die extensionale Bedeutung von sein zu im modalen Szenario, die die müssen- und die können-Bedingungsrelation erfasst. Intensional ist kein Merkmal [+/–REAKTIV] angelegt, so dass sein zu nicht auf eine modale Relation festgelegt ist; der Bezug auf eine einzelne Bedingungsrelation, müssen bzw. können entsprechend, kommt bei sein zu erst, wie beschrieben, durch den Kontext zustande.

Abb. 4.24: Sein zu als einfache Bedingungsrelation und in seiner extensionalen Bedeutung in Bezug auf das modale Szenario.

Die ebenfalls als modaler Infinitiv bezeichnete Konstruktion bleiben zu (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1280) verhält sich wie sein zu, weist daneben aber die zusätzliche Bedeutungskomponente auf, dass die Modalität auch vor der Referenzzeit schon bestand. Auch gehören mit einem Partizip II als infinitem verbalem Komplement fällt in die Gruppe der modalen Infinitive (vgl. ebd. 1280). Man vergleiche das folgende, aus der IDS-Grammatik übernommene Beispiel: (120)

„Das gehört doch verboten, das können die nur mit uns alten Frauen machen.“ (Mannheimer Morgen, 13.7.1985, 27; zitiert nach Zifonun u.a. 1997: 1280; Hervorhebung modifiziert)

Wie bei sein zu liegt eine Passiv-Konverse zu entsprechenden Konstruktionen mit dem Modalverb müssen vor: (120)'

Das muss doch verboten werden, das können die nur mit uns alten Frauen machen.

174 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Anders als sein zu ist gehören + Partizip II auf eine Notwendigkeitslesart festgelegt. Weiter ist der Sprecher als Urteilender gegeben, als diejenige Instanz, die die betreffende Notwendigkeit als bestehend ansieht, zugleich aber nicht selbst für die Realisierung der modalisierten Situation als deren zentraler Partizipant verantwortlich ist. (120)' erscheint so als Ausdruck einer Sprecherforderung. Hierin besteht dann auch die Spezifikation gegenüber handlungsbezogenem müssen oder sollen mit passivischem Komplement: Gehören + Partizip II ist Ausdruck einer objektiven Verbindlichkeit (vgl. müssen), die auf eine instanzenbezogene Haltung zurückgeht (vgl. sollen), die mit dem Sprecher identisch ist. So erscheint gehören + Partizip II als Kombination der Bedeutungen von müssen und sollen mit der zusätzlichen Information des Sprecherbezugs und ist somit semantisch komplexer als die Modalverben. Wie bei sein zu realisiert ein Satz mit gehören + Partizip II nicht das Agens der bezeichneten Situation. Darin stimmen sie mit entsprechenden Modalverbkonstruktionen mit passivischem Komplement überein. Duden (2005: 556) nennt außerdem das als umgangssprachlich bewertete gehen zu, das enger als sein zu und komplementär zu gehört + Partizip II nur Verwendungen im Sinne einer Möglichkeit zeigt. Der modale Infinitiv haben zu kann nur im Sinne einer Notwendigkeit gelesen werden. In der IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 1897) wird die Konstruktion mit Aci, z.B. etwas zu verschenken haben, in die Betrachtung einbezogen mit der Konsequenz, dass auch für haben zu eine Ambivalenz bezüglich der modalen Relation festgestellt wird (vgl. ebd.: 1897f.). An anderer Stelle wird die Konstruktion mit Aci als „Peripheriegruppe“ charakterisiert (vgl. ebd.: 1280) und angenommen, sie bringe im Gegensatz zu einfachem haben zu eine Möglichkeit zum Ausdruck (vgl. ebd.: 1282). Außerdem besteht ein klarer Unterschied im Verhältnis zu den Modalverben, indem der verbale Infinitiv auf das Akkusativobjekt bezogen verstanden wird, so dass z.B. etwas zu verschenken haben gelesen wird als ‚etwas haben, das man verschenken kann/muss‘ und weniger als ‚etwas verschenken können/müssen‘. Daher wird diese Konstruktion weiter unten separat betrachtet. Ein Beispiel für den (einfachen) modalen Infinitiv ist der folgende Beleg aus der IDS-Grammatik (ebd.: 1897): (121)

Sie haben sich beim Direktor zu melden. (Zifonun u.a. 1997: 1897; Hervorhebung CB)

Anders als bei sein zu ist im Haben-zu-Gefüge im Subjekt die handelnde Instanz realisiert, der Subjektreferent erscheint also als Agens. Haben zu kann entspre-

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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chend durch müssen oder sollen mit einem aktivischen Komplement paraphrasiert werden: (121)'

Sie müssen/sollen sich beim Direktor melden.

Ein Unterschied zu sollen besteht, wie bei sein zu, in der bestehenden Verbindlichkeit. Gegenüber müssen ist haben zu auf den Ausdruck deontischer Notwendigkeit festgelegt, d.h. auf eine intentionale Instanz als Ausgangspunkt der Verbindlichkeit; es kann also keine handlungsbezogene Notwendigkeit ausdrücken, die nicht auf intentionale Instanzen, sondern etwa auf Naturgesetzlichkeiten zurückgeht. Man vergleiche die deutlich unterschiedliche Akzeptabilität von müssen und haben zu in Verwendungen wie (122): (122)

Er muss/*hat den Regenschirm auf(*zu)spannen, wenn er nicht nass werden will.

Weiter scheint ein Unterschied in der Permanenz der Verpflichtung zu bestehen. Haben zu erscheint vornehmlich nicht bezogen auf eine einzelne, definite Situation im Sinne einer konkreten, akuten Forderung, sondern auf eine grundsätzlich geltende Vorschrift in Bezug auf regelmäßig wiederkehrende Situationen einer Art, die demnach auch eine stete Verbindlichkeit voraussetzt. Daher wirkt m.E. Beispiel (121) etwas schief, es sei denn, man versteht es in einem generalisierenden Kontext wie in (121)'' und (121)''': (121)'' (121)'''

Sie haben sich morgens als erstes beim Direktor zu melden. Sie haben sich beim Direktor zu melden, wenn er nach ihnen schickt.

Dies kann hier nicht allgemein nachgewiesen werden. Die Annahme passt jedoch, wie auch die persönliche modale Quelle bei gegebener Verbindlichkeit, zu der Beobachtung, dass haben zu für institutionelle, administrative, politische und juristische Kontexte typisch ist (vgl. Stefanowitsch 2009: 583), deren Geschäft gerade in der generellen Regelung wiederkehrender Abläufe besteht. Im modalen Szenario lässt sich die Bedeutung von haben zu entsprechend abbilden wie in Abbildung 4.25.

176 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Abb. 4.25: Haben zu im modalen Szenario.

Eine mit haben zu verwandte Konstruktion ist oben bereits erwähntes haben zu + Aci; in der IDS-Grammatik wird nur haben zu in seinen syntaktischen Bezügen als Modalverb aufgefasst,84 wohingegen haben zu + Aci als transitive Verwendung von haben gewertet wird, in der der mit zu erweiterte Infinitiv das Akkusativobjekt prädikativ modifiziert, nach Art eines lateinischen Gerundivums (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1281). Anders als haben zu können mit haben zu + Aci beide modale Relationen, sowohl Notwendigkeit als auch Möglichkeit, ausgedrückt werden. In der IDS-Grammatik jedoch (vgl. ebd.: 1282, 1897) wird haben zu + Aci als Ausdruck einer Möglichkeit haben zu als Ausdruck einer Notwendigkeit gegenübergestellt; ein Beispiel für haben zu + Aci wird genannt: (123)

Die Wirtin hat zwei Zimmer zu vermieten. (Zifonun u.a. 1997: 1280; Hervorhebung CB)

In (123) lässt sich haben zu halbwegs sinnerhaltend mit können paraphrasieren, wobei jedoch die Komponente in den Hintergrund tritt, dass die Möglichkeit sich aus einem Besitz des zentralen Partizipanten ergibt. Auch gibt es Fälle, in denen haben zu + Aci mit wollen zu paraphrasieren ist: (124)

Die Wirtin hat etwas bekanntzugeben.

Dass etwas zu Xen haben auch eine Notwendigkeit zum Ausdruck bringen kann, mag das folgende Beispiel veranschaulichen:

|| 84 In der semantischen Beschreibung werden beide Fälle im Kontext der Modalverben unter der Überschrift „sein zu und haben zu“ ohne weitere Differenzierung behandelt (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1897).

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

(125)

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Die Wirtin hat aktuell eine Durststrecke zu überwinden.

Hier scheint die Paraphrase mit müssen angemessen. Obwohl es durchaus möglich ist, davon zu sprechen, dass jemand eine Durststrecke hat, würde man nicht mehr von einem Besitzverhältnis sprechen. Dies hängt offenbar damit zusammen, dass eine Durststrecke etwas Negatives ist, das sich nicht mit der präferierenden initiativen Haltung des zentralen Partizipanten vereinbaren lässt, die mit einer Möglichkeit einhergeht. Noch anschaulicher mag das am folgenden Beispiel werden: (126)

Die Wirtin hat zehn Kinder durchzufüttern.

Während Kinder als Besitz bezeichnet und auch als positiv gewertet werden mögen, ist das Durchfüttern von Kindern ein mit Anstrengungen verbundenes, notwendiges Übel. Wie im Übergang von der pragmatischen zur empirischen Lesart der Modalverben scheint es bei haben zu + Aci die Intendiertheit oder Präferenz zu sein, die den Ausschlag gibt bezüglich der modalen Relation. Die Lesart im Sinne einer Notwendigkeit erscheint dann zunehmend als Abstraktion vom Besitz als einer positiven, befähigenden Eigenschaft, die über den negativen, einschränkenden „Besitz“ von Belastendem in der Konstruktion ganz ohne einen möglichen Besitz realisierendes Akkusativobjekt mündet, d.h. im einfachen modalen Infinitiv haben zu, der ausschließlich im Sinne einer Notwendigkeit gelesen wird. Analoges wurde oben für sein zu beschrieben. Bei den Modalverben ist die modale Relation hingegen lexikalisch kodiert, so dass etwa bei können Dispräferenz des zentralen Partizipanten bezüglich der dargestellten Situation nicht über einen Wechsel der modalen Relation kompensiert werden kann; stattdessen kommt es zum Übergang auf eine andere Ebene der Intentionalität (vgl. Abschnitt 2.4). Dass die statischen Verben haben, sein und gehören in den genannten Konstruktionen modal verwendet werden können, lässt sich darauf zurückführen, dass sie durch die so genannte Infinitivpartikel zu mit ihrer direktionalen Semantik „dynamisiert“ werden und damit zu modalen Bedingungen werden. In der lexikalischen Semantik der Modalverben hingegen ist diese Dynamizität bereits enthalten, so dass sie den einfachen Infinitiv ohne zu regieren (vgl. Abschnitt 7.1). Die direktionale Partikel oder Präposition zu, die einen Ausgangsund einen Zielpunkt impliziert, ist es, die die Relation zu einer Bedingungsrelation herstellt und die im einfachen Infinitiv ausgedrückte Situation als Ziel bzw.

178 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

modalisierte Situation erscheinen lässt, somit die statischen Verben haben, sein und gehören erst in modalem Sinne relational macht.85 Dass Stefanowitsch (2009: 574f.) die Infinitivpartikel in seiner Analyse nicht berücksichtigt, wie deren Vorliegen ja auch sonst in der Literatur allgemein als irrelevant gilt (vgl. z.B. Welke 1965: 20 und s. Abschnitt 7.1), erscheint vor diesem Hintergrund als Versäumnis, das die kompositionelle Analyse der modalen Infinitive notwendigerweise unvollständig macht, wie Stefanowitsch (2009: 576) selbst feststellt, und damit letztlich scheitern lässt. Dass zu einen Beitrag zur Bedeutung leistet, zeigt sich auch darin, dass die Partikel auch in anderen Sprachen in entsprechenden Ausdrücken vorkommt, vgl. engl. to have to, ndl. hebben te, frz. avoir à (ebd.: 575f.).

4.7.3 Evidentialitätsverben: drohen zu, versprechen zu, scheinen zu Die IDS-Grammatik behandelt drohen zu, versprechen zu und scheinen zu als „Halbmodale“ (vgl. Zifonun u.a. 1997: 1282ff.). Einschlägige Beispiele sind (127) aus dem LIMAS-Korpus für drohen zu, (128) aus der Tageszeitung Mannheimer Morgen für versprechen zu86 und (129) aus dem LIMAS-Korpus für scheinen zu: (127) (128)

Auslaufendes Benzin drohte sich zu entzünden. (LIMAS-Korpus; Hervorhebung CB) Der Prozeß versprach, einen Höhepunkt zu erreichen, als Koskotas Anfang Juni als Kronzeuge gegen Papandreou und seine Getreuen in den Zeugenstand trat; (Mannheimer Morgen, 15.01.1991, via COSMAS II; Hervorhebung CB)

|| 85 Auch die wertende Verwendung von zu in Bezug auf Adjektive, z. B. in Das ist (mir) zu kompliziert, lässt sich in diesen Kontext stellen. Auch hier bringt zu den Bezug einer statischen Situation, hier der vom Adjektiv bezeichneten Eigenschaft, zu einer Bedingungsrelation zum Ausdruck, die objektiv, als sich aus einem finalen Kontext ergebend, oder subjektiv, als instanzenbezogene Intentionalität, gegeben sein kann. Da hier keine dynamische Situation dargestellt ist, die mit ihrem zentralen Partizipanten die intentionale Instanz, auf die Bezug genommen wird, liefern könnte, übernimmt, wie bei der erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart der Modalverben, der Sprecher als intentionaler Partizipant der Äußerungssituation diese Funktion. Indem eine Eigenschaft unveränderlich, damit auch zur Äußerungszeitpunkt faktisch ist, kann die Sprecherhaltung nur reaktiv, somit wertend verstanden werden (vgl. entsprechend zu mögen in Abschnitt 4.2). 86 Im LIMAS-Korpus gibt es keinen einschlägigen Beleg; der einzige Beleg, in dem versprechen zu nicht eindeutig auf einen Sprechakt verweist, scheint einen Übergangsfall darzustellen und wird weiter unten noch thematisiert.

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

(129)

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Es scheinen gewisse Beziehungen dieses Vitamins zur Hirnanhangdrüse zu bestehen. (LIMAS-Korpus; Hervorhebung CB)

In allen drei Beispiel erscheint die dargestellte Situation, entzünden (auslaufendes Benzin, sich), erreichen (der Prozess, einen Höhepunkt) bzw. bestehen (gewisse Beziehungen dieses Vitamins zur Hirnanhangdrüse), als Ereignis, dessen Eintreten oder Bestehen aufgrund von vornehmlich perzeptueller Evidenz erschlossen wird (vgl. Diewald/Smirnova 2010: 213). Diewald/Smirnova plädieren daher für eine semantische Klassifizierung dieser Ausdrücke als evidentiell statt als modal (vgl. ebd.: 77f.). Evidentialität und erkenntnisbezogene (dort: epistemische) Modalität seien dabei als voneinander unabhängige Kategorien anzusehen, die sich vor allem darin unterscheiden, dass erkenntnisbezogene Ausdrücke auf den Sprecher als deiktische Origo eines Faktizitätsurteils verweisen (vgl. Abschnitt 3.5 zu dieser Auffassung erkenntnisbezogener Modalität bei Diewald), während evidentielle Ausdrücke auf eine Quelle von Evidenz, Hinweisen, Beweisen o.Ä. verweisen, die den Sprecher zu seiner Aussage veranlassen (ebd.: 81). Überlappungen mit erkenntnisbezogener Modalität kommen dann zustande, wenn aufgrund des evidentiellen Verweises auf perzeptuelle Grundlagen des Urteils vermittelt auch auf einen eingeschränkten Geltungsanspruch geschlossen würde, wie er für erkenntnisbezogene Modalität charakteristisch ist (vgl. ebd.: 92f.). Dies trifft auch auf die Beispiele (127), (128) und (129) sicherlich zu. Für drohen zu und versprechen zu, die auf ein bevorstehendes Ereignis verweisen, besteht ein enger Zusammenhang zur erfahrungsbezogenen Lesart in Bezug auf ein nachzeitiges Ereignis (vgl. Abschnitt 2.4); auch Diewald/Smirnova (ebd.: 213) sprechen davon, dass das Ereignis als erwartet („expected“) erscheine. In (127) kommt durch drohen zu außerdem eine Dispräferenz oder negative Bewertung des Ereignisses zum Ausdruck. Dementsprechend könnte für versprechen zu eine positive Bewertung erwartet werden (vgl. etwa ebd.: 95); in ihrem Gebrauch als Sprechaktverben unterscheiden sich drohen und versprechen ja gerade in der Bewertung durch den Rezipienten des betreffenden Sprechaktes: Mit negativen Dingen wird gedroht, positive werden versprochen. Für (128) lässt sich eine solche positive Bewertung jedoch nicht feststellen. Es ist nicht erkennbar, dass der Sprecher oder ein anderes Experiens das Erreichen des Prozesshöhepunkts als positiv empfindet; versprechen zu hat eher rein temporal-deskriptive Bedeutung in Bezug auf das Bevorstehen des Ereignisses. Positive Bewertung mag in (130) gegeben sein, was sich jedoch vor allem durch das Adjektiv spannend ergibt:

180 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

(130)

Der Fall begann spektakulär, versprach spannend zu werden. (Mannheimer Morgen vom 27.06.1995 via COSMAS II, Hervorhebung CB)

Mit negativer Wertung ist versprechen zu jedoch nicht vereinbar; entsprechend erscheint eine Ersetzung in Beispiel (127) merkwürdig: (127)'

???Auslaufendes Benzin versprach sich zu entzünden.

Somit ist versprechen zu mit einer positiven sowie einer neutralen Wertung kompatibel, während drohen zu negativ wertend ist.87 Die evidentielle Lesart von drohen zu und versprechen zu beruht darauf, dass sie als Sprechaktverben auf die Intentionalität einer rezipierenden Instanz verweisen; Drohungen und Versprechungen sind als solche nur in Bezug auf ihren Empfänger und seine (Dis-)Präferenzen zu verstehen. Diese Intentionalität ist es, die in einer modalen Lesart als Intentionalität des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation aufgefasst wird. Die reaktive Haltung des Rezipienten im Sprechakt erscheint dann als Intentionalität eines Experiens. Auch die mit scheinen zu bezeichnete Situation beinhaltet diese semantische Rolle derjenigen Instanz, der etwas so und so erscheint. Es ist davon auszugehen, dass drohen zu und versprechen zu in solchen Kontexten evidentiell gelesen werden, in denen die dargestellte Situation nicht als Gegenstand eines Sprechakts zu verstehen ist, etwa wenn es sich bei dem Subjektreferenten nicht um eine äußerungsfähige, d.h. persönliche, Instanz handelt. Einen interessanten Übergangsfall stellt Beispiel (131) dar, das als einzige nicht eindeutig sprechaktbezogene Verwendung von versprechen zu im LIMAS-Korpus zwar kein personales Subjekt hat, dennoch nicht rein evidenziell gelesen werden muss, sondern durchaus als auf ein Versprechen im Sinne eines Sprechakts verstanden werden kann. (131)

Er steht vor einer schweren Krankheit und ein einziges Medikament verspricht dabei wirklich zu helfen – aber es bewirkt unter Umständen auch Nebenerscheinungen. (LIMAS-Korpus; Hervorhebung CB)

|| 87 Hier zeigt sich eine parallele zu mögen mit nominalem Komplement: Nicht mögen ist eindeutig negativ wertend, während mögen, zumindest in Bezug auf Nahrungsmittel, sowohl neutral als auch positiv wertend verstanden werden kann (vgl. Abschnitt 4.2).

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Diese Verwendung erinnert an die Zweck-Lesarten der Modalverben, in denen auch unpersönliche Subjektreferenten mit einem Zweck als „übertragener“ Absicht als zentrale Partizipanten in handlungsbezogen modalisierten Situationen erscheinen können (vgl. die Abschnitte 4.1 bis 4.6). Pflegen zu, das in der IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 1282) gemeinsam mit scheinen zu und drohen zu unter der Überschrift „Halbmodale“ behandelt wird, passt semantisch nicht in diesen Rahmen, da es keine modale, sondern einer eher temporale Bedingtheit im Sinne einer Iteration ausdrückt.

4.7.4 Temporal basiertes Modalitätsverb: werden Auch werden zeigt Verwendungen, die ihrer Bedeutungen nach den Modalverben, genauer: deren erkenntnisbezogener Lesart, nahestehen; man vergleiche Beispiel (132) aus dem LIMAS-Korpus: (132)

Man wird inzwischen längst eingesehen und erkannt haben, wie tüchtig du bist, und sich an eine neue Frisur, an eine etwas hübschere Frau Doktor gewöhnen. (LIMAS-Korpus; Hervorhebung CB)

Die dargestellte Situation haben (GE (einsehen/erkennen (man, wie tüchtig du bist))) ist zunächst als Zustand gegeben, genauer: als Nachzustand eines vorausgehenden einsehen- und erkennen-Ereignisses. In (132) wird dieser Zustand als Proposition aufgefasst, für die durch werden zum Ausdruck kommt, dass der Sprechers von ihrer Faktizität ausgeht. Die IDS-Gramamtik behandelt werden im Kapitel zur semantischen Beschreibung der Modalverben (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1900ff.), rechnet es aber ganz explizit nicht den Modalverb zu (ebd.: 1701). Diewald/Smirnova (2010: 159ff.) sehen werden in entsprechenden Verwendungen nicht als modal, sondern als evidenzial, genauer: als inferenziell-evidenzial an. Inferenzielle Evidentialität („inferential evidentiality“) scheine, so Diewald/Smirnova (ebd.: 174), der angemessenste Kandidat einer grammatischen Kategorie für eine Zuordnung von erkenntnisbezogenem werden zu sein.88 Der erkenntnisbezogene

|| 88 Es kann hier nicht diskutiert werden, ob und inwiefern es sich bei inferenzieller Evidentialität um eine grammatische Kategorie handelt; dennoch sei darauf verwiesen, dass in Abschnitt 2.1 Modalität, von der Diewald/Smirnova Evidentialität als eigene Kategorie abzugrenzen bemüht sind, als semantische Kategorie beschrieben wurde, die im Deutschen sowohl grammatisch als auch lexikalische Realisierungsformen hat.

182 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Bedeutungsanteil, der hier als ‚Vermutung‘ formuliert wurde, hat dann den Status einer konversationellen Implikatur (vgl. ebd.: 93). Es ist sicher unbestreitbar, dass Evidentialität, wo sie zum Ausdruck kommt, erkenntnisbezogene Implikationen haben und auch umgekehrt erkenntnisbezogene Modalität durch evidentielle Information ergänzt erscheinen kann, wenn etwa der Anlass einer Vermutung aus dem Kontext hervorgeht. Nicht so offensichtlich ist jedoch m.E., dass werden in Verwendungen wie (132) überhaupt als Ausdruck von Evidentialität gelten sollte. Vielmehr wird hier eine dynamische Relation zwischen zwei Instanzen unter bestimmten Bedingungen als Partizipatum einer Erkenntnissituation aufgefasst, an der der Sprecher und eine Proposition als Gegenstand der Erkenntnis teilhaben. Die Bedingungen für diese erfahrungsbezogene Interpretation ist analog zu der bei den Modalverben (vgl. die Abschnitte 2.4 und 3.1): Indem die dargestellte Situation, haben (GE (einsehen/erkennen (man, wie tüchtig du bist))) in (132), aufgrund ihrer Stativität und faktischen Entschiedenheit nicht selbst als Ziel einer dynamischen Situation, mithin einer Veränderung, erscheinen kann wie in temporaler Lesart (z.B. Man wird erkennen...) oder in der Kopulakonstruktion mit adjektivischem oder substantivischem Prädikativum (z.B. Hans wird sauer/Bürgermeister), wird sie propositional und als Ziel bzw. Gegenstand der Sprechererkenntnis aufgefasst. Im Unterschied zu dem Modalverben erscheint werden dann nicht als Ausdruck bedingter Sprechererkenntnis, sondern einfacher als deren Explizierung: Die von werden bezeichnete Relation erscheint nicht als Bedingung eines (bei den Modalverben aus dem modalen Szenario entnommenen) Erkenntnis-Partizipatums, sondern als dieses Partizipatum selbst. Abbildung 4.26 soll diese Entsprechungen veranschaulichen.

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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Abb. 4.26: Relationale Bedeutung von werden in verschiedenen Lesarten.

Beobachten lassen sich auch über die Personalformen etablierte deontische (z.B. Du wirst jetzt dein Zimmer aufräumen!) oder im engeren Sinne volitive Ver-

184 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

wendungen (z.B. Ich werde jetzt erstmal aufräumen.) von werden. Mit der Personaldeixis innerhalb der aktuellen Äußerungssituation erscheint die Prospektivität der ersten Instanz in temporaler Lesart, die Nicht-Aktualität der zweiten Instanz beinhaltet, aufgehoben zugunsten einer aktuellen Volition. Bezeichnend ist dabei, dass die volitive bzw. deontische Lesart durch das temporale Adverbial jetzt gestützt wird; so sind ja auch die temporale Lesart und die Kopula-Verwendung von werden mit Subjekten der 1. oder 2. Person keineswegs ausgeschlossen, d.h. 1. und 2. Person führen nicht notwendig zu einer (i.w.S.) volitiven Lesart. Erst in einer solchen deontischen Verwendung erhält werden im in Abschnitt 2.1 beschriebenen Sinne modale Bedeutung, indem hier ein modales Bedingtheitsverhältnis zwischen einer (volitiven) Bedingungsrelation und einer modalisierten Situation vorliegt. Die erkenntnisbezogene Verwendung von werden wie in (132) hingegen unterscheidet sich in der hier vorgeschlagenen Beschreibung dahingehend von den Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart, dass keine bedingte Sprechererkenntnis zum Ausdruck kommt, sondern Sprechererkenntnis explizit wird. Wollte man etwa erkenntnisbezogenes müssen mit ‚Ich muss erkennen, dass...‘ paraphrasieren, so wäre erkenntnisbezogenes werden schlicht mit ‚Ich nehme an, dass...‘ beschrieben; es bezeichnet also die Intentionalität, die mit der Verwendung eines erkenntnisbezogenen Modalverbs bedingt, als modalisierte Situation, erscheint. Dazu passt auch, dass man in der IDS-Grammatik einen Unterschied in der Subjektivität bei erkenntnisbezogenem werden und müssen sieht, indem eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung mit werden subjektiver erscheine als eine mit müssen (Zifonun u.a. 1997: 1902). Die von müssen ausgedrückte Bedingung stellt einen Grund für die betreffende Annahme dar, der potenziell explizierbar und objektiv zugänglich ist, während werden „nur“ die Annahme selbst expliziert, die als solche alleinige Sache des Sprechers ist.

4.7.5 Kausative Verben: lassen, machen und heißen mit Aci Die Kausativa lassen, machen und heißen teilen ebenfalls einige semantische Merkmale mit den Modalverben, indem mit ihnen eine Situation als durch eine andere Situation bedingt dargestellt wird. Machen und heißen gelten als selten und typisch für literarischen Stil (vgl. Zifonun u. a.: 1411). Lassen ist nicht in dieser Weise markiert, kann aber, anders als die anderen beiden, als Ausdruck sowohl einer initiativen als auch einer reaktiven Bedingungsrelation dienen; in

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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der IDS-Grammatik ist von kausativer und permissiver Verwendung die Rede (vgl. ebd.: 1411). Man vergleiche die folgenden Beispiele: (133) (134) (135)

(136)

Dann prüft sie den Entnahmeschein, läßt mich unterschreiben und heftet ihn ab. (LIMAS-Korpus, Hervorhebung CB) X-RAY-3 ließ das Monster auf sich zukommen. (LIMAS-Korpus, Hervorhebung CB) Ein Datum, ein Ereignis, ausradiert, ausgelöscht, vergessen - vergessen gemacht von über anderthalb Jahrhunderte chauvinistischer Geschichtsschreibung, dummdeustcher Nationalpropaganda in Hörsälen und Klassenzimmern. (nach Zifonun u.a. 1997: 1412; Hervorhebungen modifiziert, CB) Sie hieß ihn den Raum verlassen.

Allen drei Verben ist gemeinsam – und das unterscheidet sie von den Modalverben und den anderen, bisher behandelten Verwandten – dass im Subjekt der zentrale Partizipant der Bedingungsrelation gegeben ist; man kann daher statt vom Ausdruck einer bloßen Bedingungsrelation davon sprechen, dass hier eine ganze Bedingungssituation beschrieben wird, deren Partizipatum jedoch mit dem jeweiligen Verblexem kaum weiter als in seiner kausativen Relation zur bedingten Situation spezifiziert ist. Machen wie in (135) bringt zum Ausdruck, dass eine im AcI-Komplement dargestellte Situation faktisch und in ihrer Faktizität bedingt ist durch eine andere Situation, deren Ausgangspunkt im aktivischen Satz als Subjekt realisiert ist. In (135) liegt eine passivische Konstruktion vor, so dass der Ausgangspunkt in einer Präpositionalphrase von über anderthalb Jahrhunderte chauvinistischer Geschichtsschreibung [...] gegeben ist. Abbildung 4.27 zeigt die Verhältnisse in der Darstellungsform, die hier zur Veranschaulichung der Modalverbsemantik gewählt wurde, anhand einer aktivischen Variante von Beispiel (135).

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Abb. 4.27: Kausatives machen anhand von Beispiel (135): Ein Datum, ein Ereignis, ausradiert, ausgelöscht, vergessen - vergessen gemacht [...].

Heißen wie in (136) erscheint als Ausdruck einer Aufforderung durch den Subjektreferenten an das Agens einer bedingten Situation, hier: verlassen (er, den Raum), das im AcI-Komplement als akkusativische Nominalphrase, hier: ihn, gegeben ist. Diese Verhältnisse soll Abbildung 4.28 veranschaulichen. Dass bei heißen keine Faktizität der bedingten Situation implizit ist, liegt daran, dass die Bedingungsrealation hier als Intentionalität spezifiziert ist, die als Aufforderung durch eine Person verstanden wird. Der zentrale Partizipant der bedingten Situation kann damit nicht unmittelbar von ihr betroffen sein; wie bei sollen (und dürfen) steht hier noch die offene Frage nach der Verbindlichkeit im Raum (vgl. zur Abgrenzung von sollen und müssen in 4.3 und 4.5).

Abb. 4.28: Kausatives heißen anhand von Beispiel (136): Sie hieß ihn den Raum verlassen.

Bei lassen wird ebenfalls im Subjekt eine Instanz realisiert, durch die bzw. deren Handeln die im Aci gegebene Situation bedingt erscheint. Dabei können Fälle initiativer Kausation wie in (133) von Fällen unterschieden werden, in denen die Verursachung reaktiv, als Erlaubnis, erscheint wie in (134).

NICHT BRAUCHEN, modale Infinitive und Co.

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Auch bei reflexiv gebrauchtem sich lassen können Fälle initiativer und reaktiver Kausalität unterschieden werden, indem etwa sich die Haare schneiden lassen (initiativ) kausativ und sich ausbeuten lassen (reaktiv) permissiv gelesen wird. Reflexives lassen gilt als Alternative zum werden-Passiv (vgl. Duden 2005: 556), ist aber semantisch komplexer. Der Subjektreferent und Referent des Reflexivpronomens ist nicht nur Patiens der dargestellten Situation, sondern erscheint zugleich als deren Kausator bzw. Permissor, der als solcher über mittelbare Kontrolle verfügt. Beide Fälle sind in Abbildung 4.29 anhand der Beispiele (133) und (134) dargestellt.

Abb. 4.29: Kausatives lassen anhand der Beispiele (133): Dann prüft sie den Entnahmeschein, läßt mich unterschreiben und heftet ihn ab und (134): X-RAY-3 ließ das Monster auf sich zukommen.

Es handelt sich bei reaktivem und initiativem lassen um Lesarten, die, wie die Lesarten der Modalverben, erst durch den Kontext entstehen. Die lexikalische Bedeutung von lassen ist schlanker und wäre wie die initiative Lesart im oberen Teil von Abbildung 4.29 darzustellen, wobei von der impliziten Sequenzierung von links nach rechts abstrahiert werden müsste. Wie bei den modalen Infinitiven ist in der lexikalischen Bedeutung von lassen das Merkmal [+/–REAKTIV] nicht spezifiziert, es kann jedoch kontextuell über die Intendiertheit oder NichtIntendiertheit der dargestellten Situation durch ihr Agens erzeugt werden, was zu der beschriebenen Unterscheidung zwischen initiativer bzw. kausativer und

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reaktiver bzw. permissiver Lesart führt. So wird die unterschreiben-Situation in (133) nicht bereits vom Referenten der akkusativischen Nominalphrase, hier der Sprecher, intendiert, die sitzen-Situation in (134) hingegen steht in seinem Interesse, so dass lassen in (133) als Ausdruck einer Veranlassung, in (134) als Ausdruck einer Erlaubnis oder eines Gewährenlassens erscheint. Es sei an dieser Stelle noch einmal herausgestellt, dass diese Interpretation, die eine Relationalisierung zu den Intentionen oder Absichten, d.h. zur handlungsbezogenen Intentionalität, des zentralen Partizipanten der modalisierten Situation ist, so bei den Modalverben nicht erfolgen kann. Bei den Modalverben ist die Relativität zur Intentionalität des zentralen Partizipanten in Form des Merkmals [+/-REAKTIV] in der lexikalischen Semantik der Modalverben angelegt (vgl. Abschnitt 2.2). So kann bei fehlender Passung mit der jeweils vorliegenden handlungsbezogenen Intentionalität nicht auf eine andere modale Relation ausgewichen werden; stattdessen findet der Übergang auf eine andere Ebene der Intentionalität statt, wodurch die erfahrungs- oder erkenntnisbezogene Lesart zustande kommt. Die beiden Verwendungen von lassen, kausativ wie in (133) und permissiv wie in (134), entsprechen den modalen Relationen Notwendigkeit und Möglichkeit (vgl. Abschnitt 2.2), sind aber keineswegs mit ihnen identisch, so dass es nicht angemessen wäre von lassen zum Ausdruck einer Notwendigkeit oder Möglichkeit zu sprechen. Kausativa bringen Kausalität, nicht Modalität, zum Ausdruck, das heißt, dass die jeweils bedingte Situation nicht in ihrer faktischen Unbestimmtheit bedingt erscheint, sondern in ihrer Faktizität: In (133) wird tatsächlich etwas unterschrieben, weil jemand dazu veranlasst (hat); in (134) setzt sich tatsächlich jemand, weil er von jemandem die Erlaubnis oder Gelegenheit dazu bekommt bzw. bekommen hat; in (135) wird tatsächlich etwas vergessen, weil eine bestimmte Art der Geschichtsschreibung und Propaganda stattfindet. Dieser Unterschied zu den Modalverben ergibt sich daraus, dass, wie in Abschnitt 2.1 beschrieben, jede von einem Modalverb bezeichnete Bedingung als Teilbedingung eines komplexen Gefüges von Situationsbedingungen, des modalen Szenarios, erscheint, so dass beim Erfülltsein einer Bedingung die Frage nach dem Status der anderen Teilbedingungen bestehen bleibt und nicht auf die Faktizität der modalisierten Situation geschlossen werden kann. Damit stehen die von Modalverben bezeichneten Bedingungsrelationen zwar auch in einem i.w.S. kausalen Verhältnis zur modalisierten Situation, jedoch ohne dass die Faktizität Letzterer aus der Faktizität einer einzelnen Bedingungsrelation folgen würde. So vereint die „Modalverb-Modalität“ Aspekte von Kausalität und

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Konditionalität, wohingegen die Kausativa „reine“ Kausalität oder Kausalität i.e.S. ausdrücken.89 Unter den Kausativa zeigt nur lassen eine Verwendungsweise, die sich als erkenntnisbezogen charakterisieren lässt; man vergleiche Beispiel (137): (137)

Lassen wir sie 85 Jahre alt sein. (Hörbeleg aus der Sendung „Wer wird Millionär?“ vom 04.02.2013)

Diese Verwendungsweise ist offenbar an adhortative bzw. imperativischen Konstruktionen mit Subjekten der 1. oder 2. Person gebunden (bzw. an die entsprechende Ersatzform für die formelle Anrede mit Sie). Ganz naheliegend erscheint die Erklärung dafür, warum lassen nur in Konstruktionen dieser Art erkenntnisbezogen verwendet werden kann: Als Kausativum realisiert es sowohl das Agens der Bedingungssituation als auch das der bedingten Situation – eine Konstellation, die einer erkenntnisbezogenen Lesart zunächst widerspricht (vgl. 6.5 zu sollen in im engeren Sinne erkenntnisbezogener Lesart). In adhortativen oder auch imperativischen Konstruktionen werden diese beiden Instanzen zu einer „Tätergemeinschaft“ zusammengefasst. Diese muss nicht aus dem aktuellen Sprecher und Hörer bestehen, auch wenn das nicht ausgeschlossen ist. Daneben kann der Sprecher selbst als aus verschiedener Perspektive, quasi intern dialektisch, auf die Proposition bezogen verstanden werden (vgl. dazu auch Abschnitt 6.5 zu sollte- und dürfte- in erkenntnisbezogener Lesart). Die faktische Entschiedenheit und Unkontrollierbarkeit der im Aci dargestellten Situation, hier: sein (sie, 85 Jahre alt), führt, wie bei den Modalverben, dazu, dass diese nicht selbst als kausativ bedingte Situation aufgefasst werden kann und daher als thematischer Partizipant innerhalb der modalisierten Situation, mithin als Proposition, erscheint. Die bedingte Situation selbst ist damit als propositionsbezogen, somit als Erkenntnissituation, ausgezeichnet. Erkenntnisbezogenes lassen tritt dabei offenbar vor allem mit Zeit-, Größen- oder Mengenangaben auf; seine Semantik lässt sich gut mit ‚Schätzung‘ beschreiben. Diese Schätzung ist das Ergebnis der (internen oder externen) Dialektik, die propositionsbezogenes lassen zum Ausdruck bringt: die Einigung, einen propositionalen Inhalt als Gegenstand einer Erkenntnis zuzulassen.

|| 89 In Abschnitt 6.3 wird davon die Rede sein, dass die Modalverben müssen und können im Indikativ Präteritum regelmäßig kausativ verwendet werden; dies ist jedoch ein kombinatorischer Effekt mit der Semantik des Präteritums, der auf die lexikalische Semantik von müssen und können anknüpft, jedoch nicht damit identisch ist.

190 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

4.8 Zusammenfassung und Überblick In den Abschnitten 4.1 bis 4.6 wurde anhand von Belegen gezeigt, wie für jedes Modalverblexem die Realisierung der drei in Abschnitt 2.4 unterschiedenen zentralen Lesarten aussieht und dass sich die spezifische Qualität der jeweiligen handlungs-, erfahrungs- oder erkenntnisbezogenen Lesart aus der lexikalischen Semantik, genauer: aus der Position der vom jeweiligen Modalverb bezeichneten Bedingungsrelation im modalen Szenario, ergibt. Diese ist auch der Grund dafür, dass dürfen auf eine Modifikation seiner lexikalischen Semantik angewiesen ist, um anders als handlungsbezogen verwendet zu werden (vgl. dazu Abschnitt 6.5). Die folgende Tabelle gibt einen Überblick darüber, in welcher qualitativen Ausprägung die von den Modalverben bezeichneten Bedingungsrelationen in den verschiedenen Lesarten nach Modalverblexem erscheinen. Die Bezeichnung der Lesarten eines Modalverbs, z.B. als „Aufforderung“, „ Prospektion“ und „Anspruch auf Zustimmung“ sind als annähernde Beschreibung zu verstehen und keineswegs als erschöpfende semantische Definition der Lesarten eines Modalverbs. Tab. 4.1: Handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogen spezifizierte Bedingungsrelationen nach Modalverben. wollen

mögen

sollen

dürfen

müssen

können

Aufforderung, Forderung, Zweck

Erlaubnis, Kriterium

Zwang, Erfordernis

Freiheit, Leistung

Prospektion

(Erwartung)

allg. Notwendigkeit, Erwartung

allg. Möglichkeit, Aussicht

Wissen/ Evidenz

Wissen/Evidenz

handlungsbezogen Absicht, Wunsch, Zweck

Präferenz, Bestimmung

erfahrungsbezogen Prospektion

Aspektion

erkenntnisbezogen Anspruch auf ZugeständZustimmung nis

Anspruch auf (Annahme) Zustimmung

Gemeinsame semantische Merkmale der Modalverblexeme spiegeln sich in Entsprechungen über die Spalten hinweg. So verweisen initiativ instanzenbezogene sollen und wollen in erkenntnisbezogener Lesart beide auf einen Anspruch

Zusammenfassung und Überblick | 191

auf Zustimmung bzw. Anerkennung. Diese Anerkennung selbst erscheint dann als modalisierte Situation. Für müssen, das keinen Instanzenbezug hat, ist die erkenntnisbezogene Modalität nicht durch eine instanzenbezogene Intentionalität, sondern durch eine äußere, objektive Bedingungsrelation begründet. Daher erscheint die modalisierte Situation nicht als Anerkenntnis der Äußerung eines anderen, sondern als durch Wissen und Evidenz bedingte Erkenntnis. In erfahrungsbezogener Lesart entsprechen dem Prospektion als Perspektive einer Instanz auf dem Zeitstrahl bei instanzenbezogenen sollen und wollen, wobei das faktische Ereignis, genauer: die Erfahrung des Ereignisses, als zweite Instanz auf dem Zeitstrahl prospektiv modalisiert erscheint, und eine generelle Notwendigkeit oder individuelle Erwartung bei müssen. Handlungsbezogen erscheinen die initiativen Intentionalitäten sollen und wollen als Aufforderung an das Agens bzw. eigener Handlungswille des Agens und die objektive Bedingungsrelation von müssen als genereller Handlungszwang, Erfordernis oder Unerlässlichkeit. Unter den reaktiven Modalverben ist instanzenbezogenes dürfen ohne weitere Modifikation nicht erkenntnisbezogen verwendbar und erscheint nur im Konjunktiv Präteritum (vgl. Abschnitt 6.5). Mögen tritt als Ausdruck einer reaktiven Anerkenntnis auf, mit der die Geltung der betreffenden Proposition als modalisierter Situation dem impliziten Gegenüber zugestanden wird. Können bedingt die initiative Annahme einer Proposition. In erfahrungsbezogener Lesart ist dürfen ebenfalls nicht unmodifiziert verwendbar (vgl. Abschnitt 6.5). Die von mögen bezeichnete reaktive situationsinterne Intentionalität erscheint in erfahrungsbezogener Lesart im Sinne einer das betreffende Ereignis begleitenden Beobachtung oder Aspektion. Können ist wie müssen nicht instanzenbezogen und bezeichnet in erfahrungsbezogener Lesart die nicht auf ein zeitlich bestimmtes Einzelereignis, sondern auf einen generellen Ereignistyp bezogene, generelle Auftretensmöglichkeit. Diese kann durch Individualisierung in der dargestellten Situation auf ein Einzelereignis bezogen werden und erscheint dann als Aussicht oder Erwartung. Handlungsbezogen sind die reaktiven Intentionalitäten dürfen und mögen als Erlaubnis bzw. Akzeptanz, nicht instanzenbezogenes können als Handlungsmöglichkeit oder Freiheit zu erfassen. Dass im Bereich der handlungsbezogenen Lesart mehrere Begriffe zur Charakterisierung dessen, was das jeweilige Modalverb zum Ausdruck bringt, verwendet werden, ist der Tatsache geschuldet, dass kein einzelner Begriff die in den Abschnitten 4.1 bis 4.6 diskutierten Belege erfasst. Unter den handlungsbezogenen Intentionalitäten entsprechen sich Absicht und Aufforderung sowie Präferenz und Erlaubnis, die jeweils Kontrolle und Intention als Charakteristika agentivischer Intentionalität vereinen. Wunsch und Forderung haben das

192 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Merkmal der fehlenden Kontrolle gemeinsam, so dass die Intentionalität auf ein expressives oder wertendes Moment reduziert erscheint. Ähnlich sind die Bestimmung bei mögen und das Kriterium bei dürfen Formulierungen von Wünschen und Anforderungen, deren Erfüllung außerhalb der Kontrolle des zentralen Partizipanten als Träger der betreffenden Intentionalität liegen. Der Zweck erscheint als Ausdruck der unmittelbaren Kontrolle durch ein Werkzeug oder Werkstück, wobei der Träger der Intentionalität als mittelbar kontrollierende und intendierende Instanz im Satz nicht realisiert ist; es wurde dafür plädiert, hier nicht von Metapher o.Ä. zu sprechen, sondern davon, dass ein anderer Ausschnitt der modalisierten Situation im Satz realisiert wird, der jedoch genug Informationen enthält, um die gesamte Situation als Handlung mit einem agentivischen Partizipanten zu charakterisieren; darunter mit dem Werkzeug oder Werkstück auch der Verweis auf dessen Nutzer oder Urheber.90 Für die von müssen und können bezeichneten objektiven, nicht instanzenbezogenen, Bedingungsrelationen bilden Handlungszwang bzw. -freiheit die prototypischen Fälle; Anforderung an bzw. Leistung eines Werkzeugs oder Werkstücks erscheinen als Entsprechungen von Bestimmung, Kriterien und Zwecken bei den anderen Modalverben, indem sie die Bedingtheit einer nur mittelbar kontrollierten Situation bezeichnen. Der intendierenden Instanz entspricht ein übergeordneter finaler Zusammenhang, aus dem sich die Anforderung ergibt bzw. vor deren Hintergrund etwas eine Leistung, z.B. eines Geräts, ist. Insgesamt erscheinen die Intentionalitäten der instanzenbezogenen Modalverben in erkenntnisbezogener Lesart als opponierende (Kommunikations-)Partner in der Wissensgenerierung, in erfahrungsbezogener Lesart als temporale Bezugspunkte in der Realitätsstrukturierung und in handlungsbezogener Lesart als handelnde Personen in der wirksamen Auseinandersetzung mit der Welt und den Anderen. Die nicht instanzenbezogenen Modalverben bezeichnen objektive Relationen, die erkenntnisbezogen als Evidenz, erfahrungsbezogen als Existenz, ggf. individualisiert zu Zeit, und handlungsbezogen als Zwang und Freiheit erscheinen. Dass die Übergänge zwischen den Lesarten und somit die Polysemie der Modalverben in ihrer spezifischen Semantik angelegt ist, wird im Vergleich mit semantisch verwandten Verben besonders deutlich. Diese bewegen sich über-

|| 90 Das Prinzip der selektiven Darstellung der modalisierten Situation ist keineswegs ungewöhnlich. Überhaupt mag man davon sprechen, dass Situationen als komplexe Gegebenheiten sprachlich immer nur skizziert werden. In den anderen, nicht handlunsgbezogenen Lesarten, aber auch bei nominalen Komplementen, ist systematisch kein Partizipatum ausdrucksseitig realisiert.

Zusammenfassung und Überblick | 193

wiegend im handlungsbezogenen Bereich. So sind die modalen Infinitive sowie lassen bezüglich der Opposition initiativer und reaktiver Bedingungsrelationen unbestimmt; erst in der Verwendung erscheinen diese Verben mitunter als Ausdruck einer reaktiven Bedingungsrelation (Möglichkeit), wenn durch kontextuelle Information die Intendiertheit der dargestellten Situation gegeben ist. Bei den Evidentialitätsverben ist die Intendiertheit lexikalisch kodiert; hier ist es die kontextuelle Information bezüglich der Kontrolle, die den Unterschied zwischen der sprechaktbezogenen und der evidentiellen Lesart ausmacht. Werden bringt gar keine Bedingtheit, verstanden als spezifisches Gefüge zweier Relationen, zum Ausdruck, sondern eine Relation zwischen zwei Instanzen, die als dasselbe Individuum in unterschiedlichen Zuständen, als temporale Referenzpunkte oder als Agens und Ziel einer Erkenntnissituation erscheinen. Der Unterschied zwischen temporaler und (rein) modaler Lesart ergibt sich aus der faktischen (Un-)Entschiedenheit der dargestellten Situation. Einzig (nicht) brauchen bringt die semantischen Voraussetzungen für ein Modalverb mit, erscheint aber semantisch gegenüber der zweiteiligen Bedingtheitsstruktur der Modalverben noch komplexer als eingebetteter Zwischenschritt in einem übergeordneten finalen Zusammenhang. Eine Darstellung wie in Tabelle 4.1 betont die weitreichenden Analogien zwischen den Modalverben und ihren Lesarten. Dass solche Analogien bestehen, spricht dafür, dass die Interpretation der Modalverben im Sinne der einen oder anderen Lesart bei allen Lexemen auf analoge Art und Weise funktioniert. Es bedeutet jedoch nicht, dass allen diesen Lesarten für ein gegebenes Modalverb oder auch im Sprachsystem insgesamt der gleiche Stellenwert zukommt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung der Lesarten bei den sechs Modalverben. Berücksichtigt wurden dabei zunächst nur die Belege, die ein Modalverb in der unmarkierten Indikativ-Präsens-Form enthalten. Tab. 4.2: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart im Indikativ Präsens nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus.

wollen

mögen

sollen

dürfen

müssen

können

SUMME

handlungsbezogen

754 98,6%

30 15,5%

1.063 92,3%

408 100%

1.623 91,3%

3.013 80,3%

6.891 85,6%

erfahrungsbezogen

9 1,2%

90 46,4%

11 0,9%

0 -

68 3,8%

681 3,8%

859 10,7%

erkenntnisbezogen

2 0,3%

74 38,1%

78 6,8%

0 -

86 4,9%

60 1,6%

300 3,7%

194 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Extremfälle hinsichtlich ihrer Lesartprofile stellen mögen und dürfen dar. Mögen, indem es als einziges Modalverblexem im Indikativ Präsens am seltensten handlungsbezogen gelesen wird; dürfen, weil es im Indikativ Präsens ausschließlich in handlungsbezogener Lesart auftaucht. Beides hat, wie in den Abschnitten 4.2 und 4.4 bereits angedeutet wurde und in Kapitel 6.5 noch ausführlicher dargelegt wird, seine Begründung in der lexikalischen Semantik des jeweiligen Modalverbs: Die situationsinterne reaktive Intentionalität von mögen widerspricht der semantischen Rolle des Agens, die dem zentralen Partizipanten in handlungsbezogener Lesart zukommt. Die situationsexterne Verortung der reaktive Intentionalität von dürfen bedeutet eine Alterität der Trägerinstanz vom zentralen Partizipanten der modalisierten Situation, wohingegen erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart gerade durch einen exklusiv verantwortlichen erfahrenden oder erkennenden zentralen Partizipanten gekennzeichnet sind. Bemerkenswert ist, dass mögen aufgrund des geringen Ausbaus der handlungsbezogenen Lesart im Indikativ Präsens mitunter der Modalverbstatus abgesprochen wird (vgl. Abschnitt 4.2), während man dürfen aufgrund der im Indikativ Präsens fehlenden nicht-handlungsbezogenen Lesarten nicht aus der Gruppe auszuschließen erwägt. Hier zeichnet sich das größere Gewicht der häufigeren handlungsbezogenen Lesart ab, das offenbar den semantischen Prototyp eines Modalverbs wesentlich bestimmt. Alle anderen Lexeme zeigen im Indikativ Präsens alle drei Lesarten. Auch ist die handlungsbezogene hier jeweils die häufigste, mit fast 99% am deutlichsten bei wollen; es folgen die anderen Notwendigkeitsmodalverben sollen und müssen mit gut 92% bzw. 91%. Können mit gerade 80% scheint demgegenüber etwas zurückzustehen, so dass ein deutliches Ungleichgewicht der Möglichkeitsmodalverben gegenüber den relativ ausgeglichenen Verhältnissen bei den Notwendigkeitsmodalverben hinsichtlich des Anteils der handlungsbezogenen Lesart auffällt. So erscheinen initiative Bedingungsrelationen vornehmlich als Handlungsinitiativen; reaktive Bedingungsrelationen hingegen sind in Abhängigkeit von ihrem Verhältnis zur modalisierten Situation Handlungsratifikationen einer externen Instanz (dürfen), weniger häufig objektive Ermöglichungen (können) und nur selten Handlungsratifikationen des zentralen Partizipanten als Handelndem selbst (mögen). Auch zeigt sich bei mögen und können unter den nicht-handlungsbezogenen Lesarten eine deutliche Präferenz der erfahrungsbezogenen Lesart, die sich mit Reaktivität der Bedingungsrelation in Zusammenhang bringen lässt. Bei sollen und müssen ist umgekehrt die erkenntnisbezogene Lesart häufiger.

Zusammenfassung und Überblick | 195

Das Bild verschiebt sich etwas, wenn man alle Flexionsformen in die Betrachtung einbezieht. Die entsprechende Verteilung im LIMAS-Korpus zeigt Tabelle 4.3. Tab. 4.3: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart nach Modalverblexem für alle Formen im LIMAS-Korpus.

wollen

mögen

sollen

dürfen

müssen

können

SUMME

handlungsbezogen

1.124 97,6%

270 59,2%

1.761 88,6%

520 78,1%

2.292 89,7%

4.293 79,8%

10.260 84,1%

erfahrungsbezogen

21 1,8%

100 21,9%

87 4,4%

33 4,9%

136 5,3%

939 17,4%

1.316 10,8%

erkenntnisbezogen

7 0,6%

86 18,8%

139 7,0%

113 17,0%

128 5,0%

149 2,8%

622 5,1%

Für alle Modalverben außer für mögen bedeuten die morphologisch markierten Formen eine größere Wahrscheinlichkeit einer nicht-handlungsbezogenen Lesart. Insgesamt treten die Notwendigkeitsmodalverben mit einer stärkeren Präferenz für die handlungsbezogene Lesart hervor als die Möglichkeitsmodalverben. Mögen hingegen gleicht sein Lesartprofil erst mit morphologisch markierten Formen dem der anderen Modalverben an, indem, wohl vor allem mit den möchte-Belegen, die handlungsbezogene Lesart nun auch hier die häufigste wird. Dürfen erhält erst mit den Formen des Konjunktivs Präteritum die fehlenden erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Facetten seines Lesartspektrums, die dafür nun vergleichsweise deutlich ausgeprägt sind. Und für können ist die erfahrungsbezogene Lesart stärker ausgeprägt als im Durchschnitt des Gesamtkorpus. Die Extrema bilden nun wollen und mögen, die auf die Intentionalitäten verweisen, die sich innerhalb der modalisierten Situation unmittelbar gegenüberstehen. Sie erscheinen damit als Prototypen des vorwiegend handlungsbezogen bzw. des nicht-handlungsbezogen gelesenen Modalverbs, was mit der agensartigen bzw. experiensartigen Rolle korreliert, die sie im modalen Szenario definieren und die für den zentralen Partizipanten der modalisierten Situation in handlungsbezogener bzw. nicht handlungsbezogener Lesart charakteristisch ist. Die anderen Modalverben zeigen die gleiche Tendenz in abgeschwächter Form. Da die Möglichkeitsmodalverben mögen und können auch im Indikativ Präsens stärker ausgeprägte nicht-handlungsbezogene Lesarten zeigen als die

196 | Die Modalverblexeme und ihre Lesarten im Einzelnen

Notwendigkeitsmodalverben, erscheint fraglich, ob das semantische Merkmal [+REAKTIV], durch das sich die Möglichkeitsmodalverben auszeichnen, als für die erfahrungs- und erkenntnisbezogene Lesart hinderlich anzusehen ist, so dass es durch den Konjunktiv Präteritum „abgeschwächt“ oder „neutralisiert“ werden müsste (vgl. Diewald 1999: 225, 235). In Kapitel 6 wird noch zu zeigen sein, wo und wie markierte Tempus-Modus-Formen, insbesondere die Formen des Konjunktivs Präteritum (vgl. Abschnitt 6.5), die Lesart eines Modalverbs mitunter erst begründen oder doch präferent machen. Eher als von einer „Neutralisierung“ des Merkmals [+rEAKTIV] wird eine Beschreibung vorgeschlagen, nach der der Konjunktiv Präteritum eine Modifizierung der lexikalischen Semantik durch einen Verweis innerhalb des modalen Szenarios explizit macht, der situationsexternes reaktives dürfen (und initiatives sollen) an die modalisierte Situation anbindet. Die Beobachtung, dass der Einsatz morphologisch markierter Formen mit einem Ausgleich im Lesartprofil jedes Modalverblexems einhergeht, kann als funktional motivierte Ausschöpfung der lexikalischen Ressourcen betrachtet werden: Jedes Modalverb kann so jede Art von Modalität ausdrücken, auf jeden Typ modalisierter Situationen bezogen werden. Die Befunde passen insgesamt gut zu einem Stufenmodell der Intentionalität, wie es in verschiedenen Versionen in der Entwicklungspsychologie und der Philosophie des Geistes entwickelt wurde (vgl. Schlicht 2008 zu einem Überblick). Sowohl die einzelnen Lexembedeutungen, die über ihre Position im modalen Szenario bestimmt sind (vgl. die Abschnitte 2.2 und 2.4 und dieses Kapitel), als auch die für jedes Lexem beobachtbaren Lesarten (vgl. Abschnitt 2.4 und dieses Kapitel) lassen sich durch den Bezug auf Intentionalitäten verschiedener Stufe bestimmen. Es kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen auf Theorien der Intentionalität eingegangen werden, so dass es bei diesem allgemeinen Hinweis bleiben muss.

5 Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten Bisher wurde anhand des modalen Szenarios die synchrone Semantik der Modalverben in morphosyntaktisch unmarkierten Kontexten beschrieben. Die szenische Verknüpfung multipler Bedingungen einer dynamischen und intentionalen Situation wurde dabei als Beschreibungsmodell vorgeschlagen, das den Anspruch erhebt, die abstrakte Grundstruktur für alle Verwendungsweisen der Modalverben bzw. der einzelnen Lexeme zu liefern. Die Diachronie der Modalverbsemantik steht nicht im Fokus des Interesses der vorliegenden Arbeit; dennoch lässt sich auch die diachrone Entwicklung auf das modale Szenario beziehen, als Entfaltung in Bezug auf den lexikalischen Wandel und als Abstraktion, was die Entstehung der Lesarten betrifft. Damit lässt sich für das modale Szenario als synchrones Beschreibungsmodell aus der Forschung zur Diachronie der Modalverben (z.B. Birkmann 1987, Fritz 1997, Gloning 1997, Diewald 1999) Evidenz gewinnen. Die historische Entwicklung der Modalverben soll hier daher kurz in Bezug auf das modale Szenario und in Auseinandersetzung mit der Darstellung bei Diewald (vgl. ebd. 295ff.) skizziert werden. Zunächst wird die ursprünglich mediopassive Semantik der Präteritopräsentien, die indogermanische Aspektformen, genauer: Perfektformen, waren, als Grundlage der modalen Bedingtheitsstruktur beschrieben (vgl. ebd. 302ff.). Anschließend soll der lexikalische Wandel seit dem Althochdeutschen als beginnende Entfaltung des modalen Szenarios nachvollzogen werden, wobei die Ausrichtung an einer entitäts-, genauer: personenbezogenen Intentionalität den Scheitelpunkt dieser Entfaltung bildet. Schließlich erscheint die Entwicklung von Lesarten, v.a. der jüngeren erfahrungs- und erkenntnisbezogenen, als semantische Reduktion redundant gewordener Konstruktionen im Nachgang zunehmend variabler Beziehbarkeit des modalen Szenarios auf verschiedene Ebenen intentionaler Situationen, die bestimmt sind durch verschiedene Arten oder „Stufen“ von Intentionalität des jeweiligen zentralen Partizipanten. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass es sich bei der Entfaltung des modalen Szenarios und der Entwicklung neuer Lesarten um zwei getrennte, sequentiell aufeinander folgende Phasen handelt; vielmehr scheint es plausibel, dass beides parallel stattgefunden hat.

DOI 10.1515/9783110540451-005

198 | Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten

5.1 Semantische Basis: die mediopassive Bedeutung der Präteritopräsentien als Grundlage der modalen Bedingtheitsstruktur Das gemeinsame historische Merkmal der Modalverben91 ist ihre Herkunft in alten indogermanischen Perfektformen, die zwar die Vorläufer germanischer Tempusformen waren, selbst aber eher Wortbildungscharakter hatten und eine statische Aktionsart (vgl. Brinkmann 1987: 63) oder mediopassivische Diathese (vgl. Diewald 1999: 303) ausdrückten; ein Beispiel ist altgriechisch oida ‚ich weiß‘, das eine Perfektform von sehen darstellt (vgl. Birkmann 1987: 63f.). So erscheint das Subjekt im idg. Perfekt als in einem bestimmten Zustand befindlich, der durch etwas im weitesten Sinne „Vorausgegangenes“ bedingt. Dieser Zustand konnte je nach zugrunde liegendem Verbstamm intensiv-iterativ, resultativ oder passiv ausfallen (vgl. Birkmann: 87f. und Diewald 1999: 303f.).92 Zum Germanischen wurden die indogermanischen Perfektformen umgedeutet von einem Subjektzustand über einen Resultativzustand in eine temporale Vorzeitigkeit der Situation und begründeten so das Paradigma des germanischen starken Präteritums (vgl. Birkmann 1987: 63). Bei einigen Verben blieb diese temporale Umdeutung zum Germanischen aus. Temporal waren sie unmarkiert, kodieren also auch im Germanischen weiterhin Gleichzeitigkeit, wo die entsprechenden Formen der anderen Verben das neue Tempus Präteritum realisierten und damit Vorzeitigkeit ausdrückten; daher spricht man auch von Präteritopräsentien, obwohl diese Formen funktional nie Präteritumformen waren (vgl. Birkmann 1987: 64). In der Funktion des indogermanischen Perfekts liegt die Eigenschaft begründet, die seine Formen sowohl für die temporale als auch für eine modale Umdeutung geeignet machten, wie sie bei den Modalverben vorliegt; ihre Bedeutung schloss zwei sich bedingende Relationen ein: den aktuellen Zustand, ausgedrückt durch die Perfektform, und das, was ihn hervorbringt, ausgedrückt

|| 91 Die Ausnahme ist wollen, das sich erst sekundär der flexionsmorphologischen Gruppe angeschlossen hat, also nie die Semantik des indogermanischen Perfekts realisiert hat. 92 Die drei Fälle scheinen sich zu ergeben, indem das Moment des „Vorausgehenden“ auf das Partizipatum, einen einzelnen Partizipanten oder einen von zwei opponierenden Partizipanten der im Verb gegebenen Situation bezogen wird. So würde entweder die im Verb spezifizierten Situation quantifiziert (intensiv-iterativ), ein im Verb angelegter einzelner Partizipant als durch ungesteuerte Vorgänge verändert (resultativ) oder ein im Verb angelegter zweiter Partizipant als vom ersten Partizipanten verändert (passiv) dargestellt. Demnach wäre die Lesart des idg. Perfekts eng an den Situationstyp und die Partizipantenkonstellation gebunden, die ein Verb bezeichnet, was an konkreten Fällen geprüft werden müsste.

Entfaltung des Wortfeldes zum modalen Szenario | 199

in der enthaltenen Verbwurzel. So enthält z.B. können eine Wurzel mit der Bedeutung ‚erkennen‘ (vgl. ebd.: 70); können drückte dann ursprünglich einen Zustand des Subjekts aus, der auf einer Erkenntnis basierte, also ein Wissen oder Kennen. Im Germanischen wurde das relationale Gefüge, das der komplexen Zustandssemantik im Indogermanischen zugrundelag, anderweitig gefüllt: bei der Reinterpretation als Präteritum durch die temporale Relation zwischen Referenz- und Ereigniszeit einerseits und Sprechzeit andererseits, bei den heutigen Modalverben als abstraktere Abfolge aus Bedingungsrelation und durch diese bedingte, d.h. modalisierte Situation. Im starken germanischen Präteritum realisierte dann die lexikalische Semantik der Wortwurzel das betreffende Ereignis als vorzeitig und damit gewissermaßen (temporal) bedingende Relation, so dass die zeitliche Differenz zum Sprechzeitpunkt der (temporal) bedingten Relation entspricht. Bei den Modalverben lieferte analog ihre eigene lexikalische Semantik die (modal) bedingende Relation, die (modal) bedingte Relation wird durch ein relationales Komplement geliefert, in der Regel einen Verbinfinitiv mit seinen Komplementen. Die historische Semantik der Präteritopräsentien liefert so die Grundstruktur der modalen Bedingtheit, die durch die Modalverben und andere modale Ausdrücke realisiert ist (vgl. 2.1) und die Diewald (vgl. 1999: 306) als Grundstruktur einer Direktive auffasst93. Die lexikalische Semantik des je einzelnen neuhochdeutschen Modalverbs leistet eine weitere Differenzierung der bedingenden Relation, die sich in der hier vorgeschlagenen Beschreibung in den verschiedenen Positionen im modalen Szenario niederschlägt. Wie sich diese heutige Differenzierung mit einer ursprünglich lexikalisch qualifizierenden in Zusammenhang bringen und als Entfaltung des modalen Szenarios beschreiben lässt, soll im folgenden Abschnitt kurz umrissen werden.

5.2 Entfaltung des Wortfeldes zum modalen Szenario: Lexikalischer Wandel als Intentionalitätsbezug und Abstraktion der Bedingungsrelation Wie in 5.1 beschrieben, konnte die ursprünglich mediopassive Bedingtheitsstruktur durch die Rektion eines Verbinfinitivs im Sinne einer modalen Be-

|| 93 Zur Kritik an der Beschreibung, die nhd. Modalverben drückten den Zustand eines „Direktive-bekommen-Habens“ (vgl. Diewald 1999: 293) am Subjekt oder einer Proposition aus, vergleiche man Abschnitt 3.5.

200 | Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten

dingtheitsstruktur neu ausgefüllt werden. Im Althochdeutschen zeigen vier der heutigen sechs Modalverben (bzw. ihre Vorläufer) dieses Rektionsverhalten: mugan, sculan, wellen und muozan, die den neuhochdeutschen mögen, sollen, wollen und müssen entsprechen. Birkmann (1987: 161) bewertet diese vier Verben daher schon für das Althochdeutsche als Modalverben. Diewald, die über das Rektionsverhalten hinaus die Semantik einbezieht, schließt muozan noch als Modalverb aus, das noch eine lexikalische Ausgangsbedeutung ‚Raum haben‘ zeige und meist noch ganz konkret räumlich verstanden werden könne (vgl. 1999: 299, 335f.). Mugan, sculan und wellen weisen dagegen Bedeutungen auf, die denen der heutigen Modalverben ähnlich sind. Sculan erscheint noch mit Akkusativobjekt und bedeutet dann ‚schuldig sein, schulden‘; mit Infinitivkomplement entspricht es in seiner Bedeutung bereits weitgehend dem heutigen sollen (vgl. ebd.: 321f., Fritz 1997: 11). Auch wellen hat sich in seiner zentralen Bedeutung bis zu heutigem wollen kaum verändert (vgl. Diewald 1999: 327, Fritz 1997: 11). Ahd. mugan zeigt ein großes Verwendungsspektrum, indem es mit Verbinfinitiv eine sehr allgemeine Bedingtheit oder Möglichkeit ausdrückt, die durch den Kontext als ‚können, vermögen, mächtig sein, mögen; müssen, sollen, dürfen‘ spezifiziert sein kann (vgl. Diewald 1999: 309). Fritz (1997: 9) nennt einen Verwendungsschwerpunkt zur Bezeichnung eines körperlichen Vermögens. Diese Verwendungen sind dann teils solche mit Akkusativobjekt, teils solche, in denen das Infinitivkomplement eine körperliche Fähigkeit beschreibt (vgl. Diewald 1999: 310), so dass auch die Bedeutung ‚körperliche Fähigkeit‘ als Funktion des Kontextes zu sehen ist. Daneben weist mugan bereits eine erkenntnisbezogene Lesart auf (vgl. Fritz 1997: 9). Insgesamt lässt sich an mugan veranschaulichen, worin die zentrale semantische Entwicklung des Modalverbsystems seit dem Althochdeutschen besteht: Es ist die Entstehung der Opposition zwischen initiativer und reaktiver Bedingungsrelationen, mithin das Merkmal [+/–REAKTIV] nach Diewald (vgl. auch Abschnitt 2.2) bzw. die traditionelle Opposition zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit (vgl. Diewald 1999: 300).94 Im Gegensatz zu den heutigen Verhältnissen bestand so im Althochdeutschen zum einen eine Opposition [+/–VOLITIV] zwischen wellen und sculan einerseits und mugan, das alle Modalitäten bis auf die volitive ausdrücken konnte, andererseits; zum anderen unterschieden sich wellen und sculan dahingehend, ob es sich um einen internen oder externen Willen handelte, was der heutigen situationsinternen oder -externen Verortung

|| 94 Diewald kritisiert in diesem Kontext Bech (1951), der diese Opposition schon fürs Althochdeutsche annimmt und die historischen Veränderungen als bloße Verschiebungen der synchronen Merkmalsausprägungen ansieht.

Entfaltung des Wortfeldes zum modalen Szenario | 201

der Bedingungsrelation, erfasst im Merkmal [+/–EXTERN] entspricht (vgl. Abschnitt 2.3). Ahd. kunnan und thurfan stehen überwiegend ohne Infinitiv, sondern mit nominalem Komplement und werden mit der lexikalischen Bedeutung ‚kennen, erkennen, Kenntnis haben, wissen, verstehen‘ bzw. ‚nötig haben, brauchen‘ als Vollverben bewertet (vgl. Diewald 1999: 298f.). Der althochdeutsche Vorläufer des modalen Szenarios stellt sich demnach dar, wie in Abbildung 5.1 gezeigt. Zu betonen ist, dass die dargestellten Bedingungsrelationen ohne das zumindest implizite Gegebensein gegenläufiger Bedingungsrelationen nicht als [–REAKTIV] bezeichnet werden können; diese Opposition ist im Althochdeutschen noch nicht ausgeprägt.

Abb. 5: Die Bedeutung der ahd. Modalverben sculan, mugan und wellen in einem ahd. modalen Szenario.

Mugan realisiert hier Modalität in einem allgemeinen, unbestimmten Sinne, somit eine allgemeine faktische Bedingtheit. Fritz (1997: 69) bezeichnet daher schon den gotischen Vorläufer magan als „Urtyp des Modalverbs“. Den sich seit der althochdeutschen Situation vollziehenden Wandel beschreibt Diewald über weite Strecken als gesteuert durch konversationelle Implikaturen. Der entscheidende gemeinsame Faktor dieser Implikaturen scheint zu sein, dass die Situation in Relation zum Willen des Subjekts oder des Sprechers interpretiert wird. Diewald beschreibt die für ahd. muozan relevanten Übergang von ‚in der Lage sein‘ zu ‚müssen‘ im nhd. Sinne anhand eines neuhochdeutschen Beispiels: (138)

Er tut es mit Qualitäten, nach denen man in Erstlingen unserer Jahre lange suchen kann. (Diewald 1999: 342, Hervorhebung CB)

In diesem Beispiel erscheine aufgrund der „Implikatur, daß man solche Werke gerne häufiger antreffen würde, als es der Fall ist[,] suchen können als euphe-

202 | Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten

mistisch für suchen müssen“ (ebd.: 342). Der Bezug zum Willen des Subjekts bzw. Sprechers ist hier m.E. etwas anders zu fassen, indem es genau genommen nicht der Wunsch ist, solche Werke häufiger anzutreffen, sondern der Widerwille, nach ihnen zu suchen, der hier unmittelbar eine Rolle spielt. Es ist also das „In-der-Lage-Sein“, etwas Unliebsames zu tun, das im Sinne des heutigen müssen als Notwendigkeit verstanden wird. Daneben war muozan aufgrund der ursprünglich räumlichen Semantik als eher äußere Bedingtheit zu verstehen; demgegenüber drückte mugan mit einem semantischen Schwerpunkt auf ‚körperliches Vermögen‘ tendenziell interne Bedingtheit aus (vgl. Diewald 1999: 340). Zusammen mit der Tendenz, eher externe Bedingtheit gegenüber mugan als Ausdruck überwiegend interner Bedingtheit auszudrücken, führt diese Umdeutung zu einer Differenzierung des althochdeutschen modalen Szenarios hinsichtlich der Verortung bezüglich der modalisierten Situation und der Relation zu einem situationsinternen Willen. Der Wandel für thurfan verläuft offenbar analog, indem dieses ahd. Verb vorwiegend negiert verwendet wurde und die Bedeutung ‚nicht brauchen‘ angesichts eines implizierten Sprecherwillens umgedeutet wird in ‚nicht sollen/dürfen‘ (vgl. Diewald 1999: 354). Indem in der alten brauchen-Bedeutung bereits die Instanz, gegenüber der der Anspruch bestand, bzw. abstrakter: der Zweck, für den etwas gebraucht wurde, als externe Instanz, von der die Modalität ausging, enthalten war, erscheint die neue gegenläufige Relation ebenfalls extern verortet. Voraussetzung ist auch hier ein Kontextwissen über die Wünsche und Absichten, kurz: den Willen, des Subjekts, der dem impliziten Sprecherwillen entgegensteht. Auch die beiden zentralen Veränderungen von ahd. kunnan lassen sich als Reflexe einer Bezugnahme auf den antizipierten Willen des Subjekts erklären. Die beiden Aspekte sind die Herausbildung einer situationsexternen Bedingungsrelation sowie die Reaktivität der Bedingungsrelation (vgl. Diewald 1999: 347). Die Ursprungsbedeutung ‚geistige Fähigkeit‘ weist noch auf eine intern verortete Bedingungsrelation hin. Im Mittelhochdeutschen bis zum 14. Jahrhundert wird nun ein vorwiegender Gebrauch in negierten oder interrogativen Kontexten festgestellt (vgl. ebd.: 347); hier ist der Bezug zum Willen besonders naheliegend: Ein Nicht-Können ist insbesondere dann relevant, wenn ein ihm entgegenstehender Wille zur Handlung vorliegt; das Nicht-Können erscheint dann als dem Willen entgegengesetzte ([+REAKTIVE]) Bedingungsrelation, die in diesem Gegensatz zum intern verorteten Willen auch als situationsextern verortet aufgefasst werden kann. Die Nicht-können-Bedingungsrelation bildet das Gegenstück zur Müssen-Bedingungsrelation, womit die Opposition von initiativer und reaktiver Bedingungsrelation lexikalisch fixiert ist.

Entwicklung der Lesarten | 203

Mögen, das sonst als unmarkiertes Modalverb diese Kontexte abgedeckt hat, wird im Frühneuhochdeutschen zugunsten der spezialisierteren Verben verdrängt. Es erhält seinen heutigen Platz, indem es auf dem letzten verbliebenen Platz in der neuen Opposition zwischen gleich- und gegenläufigen Relationen verharrt: der intern verorteten reaktiven Bedingungsrelation. Die weniger rational-volitive, sondern eher physisch-emotive Konzeption dieses ‚Widerwillens‘ erscheint noch heute als Relikt der ursprünglich gerade [–VOLITIVEN], schwerpunktmäßig körperlich bestimmten Modalität. Möchte- als höflicher Ausdruck eines Willens oder Wunsches etabliert sich erst im 19. Jahrhundert (vgl. ebd.: 314) und lässt sich, wie in 6.5 ausgeführt, noch heute von der Grundbedeutung von mögen ableiten.

5.3 Entwicklung der Lesarten: Zunehmende Variabilität in der Darstellung intentionaler Situationen In der hier vorgeschlagenen Beschreibung der synchronen Modalverbsemantik werden die Lesarten als durch die semantische Kombinatorik bedingte Interpretationen betrachtet, in denen eine Spezifizierung der abstrakten Grundsemantik jedes Lexems erfolgt. Eine mit dieser synchronen Beschreibung kompatible Diachronie der Lesarten muss folglich nicht die Entstehung zweier grundlegend zu unterscheidender Systeme erklären. Vielmehr kann sie davon ausgehen, dass sich der für die Lexeme aufgezeigte semantische Wandel von im Hinblick auf das Verhältnis zur modalisierten Situation gleichartigen (vgl. Abbildung 5.1), aber qualitativ als geistig, körperlich etc. stärker differenzierten Bedingungsrelationen hin zu den im modalen Szenario in verschiedenen Oppositionen stehenden, dafür qualitativ weniger differenzierten Bedingungsrelationen für jedes Lexem weiter fortsetzt bis zur nahezu völligen qualitativen Unbestimmtheit der Bedingungsrelationen im komplett entfalteten modalen Szenario, die dann auch die heute beobachtete, nahezu uneingeschränkte Kompatibilität mit Komplementverben zulässt (vgl. Abschnitt 7.2). Demgegenüber stehen Ansätze, die synchron von zwei nebeneinander bestehenden Systemen ausgehen und so die Entstehung verschiedener Lesarten beschreiben müssen als Entstehung eines neuen Modalverbsystems neben einem älteren, konservativen, das die ältere Semantik bewahrt. Eine solche „Lexemspaltung“ beschreibt Diewald (1999: 361ff.) in ihrem grammatikalisierungstheoretischen Ansatz. Diewald beschreibt den Wandel in drei Phasen, die die semantischen und strukturellen Vorbedingungen, einen kritischen Kontext, in dem der eigentliche Wandel via Reinterpretation stattfindet, und eine Phase der Restrukturierung umfassen (vgl. ebd.: 363ff.). Anhand dieser drei Phasen

204 | Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten

seien kurz einige Kritikpunkte aufgezeigt, die ein solcher Ansatz mit sich bringt: Als semantische Vorbedingungen nennt Diewald Fälle mit generischem oder indefinitem Subjekt, in denen eine Lesart mit weitem Skopus leicht entstehe, weil kein definiter Träger der Modalität erkennbar sei (vgl. ebd.: 365). Sie veranschaulicht das an dem folgenden Beispiel: (139)

Man mac si morgen mehelen einem anderen man. (Diewald 1999: 366, Hervorhebung CB)

Nach Diewald kann (139) sowohl aufgefasst werden als ‚Man hat die Fähigkeit/Möglichkeit, sie morgen einem anderen Mann zu vermählen‘ als auch als ‚Es ist möglich / es besteht die Möglichkeit, dass man sie morgen einem anderen Mann vermählt‘. Die erste Bedeutung entspricht in ihrem Verständnis einem engen, die zweite einem weiten Skopus. Als Grund sieht Diewald, wie erwähnt, dass sich das generische Subjekt nicht optimal als Träger der Modalität eignet. M.E. liegen jedoch beide Möglichkeiten in gleicher Weise vor, wenn man das Subjekt durch ein maximal definites, etwa einen Eigennamen, ersetzt: (139)' Hans mac si morgen mehelen einem anderen man.

Auch hier lässt sich lesen ‚Hans hat die Fähigkeit/Möglichkeit ...‘ wie ‚Es ist möglich, dass Hans ...‘. Statt im indefiniten Subjekt scheint mir die Ambiguität darauf zu beruhen, dass ohne weiteren Kontext nicht klar ist, welchen Status die Handlung bzw. das Ereignis, um das es geht, aus der Perspektive des Subjektreferenten und des Sprechers hat, ob die Vermählung als etwas kontrolliertes, erwünschtes erscheint oder als ein unkontrollierbares Ereignis, womöglich ein Unheil, das außerhalb der Kontrolle desjenigen liegt, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Die strukturelle Voraussetzung ist nach Diewald die „Skopusausweitung“, die in Verwendungen mit passivischem Komplement vorliege; das Beispiel ist in (140) in gekürzter Form wiedergegeben: (140)

[...] noh fon irô niheinîgemo mohta uuesan giheilit. (zi-tiert nach Diewald 1999: 366; Hervorhebung CB)

(140) entspricht nhd. [...] und konnte von keinem von ihnen geheilt werden (vgl. Diewald 1999: 366). Der Skopus ist hier weit, weil aufgrund des Passivs das Agens nicht im Satz realisiert ist. Semantisch erscheint die Modalität jedoch klar auf dieses Agens bezogen, so dass nicht ganz einleuchtet, wie solche Belege die

Entwicklung der Lesarten | 205

Voraussetzung für einen Wandel der Lesart bilden sollen, der dann in ganz anderen Kontexten und kaum bei passivischem Komplement seinen Niederschlag findet. Ferner liegt in der zweiten Lesart von (139) ja bereits weiter Skopus vor, der sich dort auf einen Wechsel der Perspektive des intentional Handelnden Subjektreferenten zum bloß rezipierenden Sprecher ergibt. Der kritische Kontext, in dem der eigentliche Wandel, bei Diewald: die Grammatikalisierung, stattgefunden haben soll, sind Konstruktionen, in denen ein Modalverb mit Dentalsuffix vorliegt und als Komplement eine Konstruktion aus haben/hân oder sîn und Partizip II. Sowohl die Modalverbform als auch das Komplement seien ambig, indem die Modalverbform als Indikativ oder Konjunktiv aufgefasst werden könne, die Komplementkonstruktion als Infinitiv Perfekt oder aber als prädikative Konstruktion. Diewalds Beispiel ist (141): (141)

(von Veldeke der wîse man!) der kunde se baz gelobet hân. (zitiert nach Diewald 1999: 368, Hervorhebung CB)

Aufgrund von konventionellen Implikaturen, so die Annahme, werde eine handlungsbezogene Lesart ausgeschlossen: So sei die handlungsbezogene Lesart, in der eine Fähigkeit in Bezug auf ein vergangenes Ereignis im Sinne von ‚Der wäre jetzt in der Lage, sie besser gelobt zu haben‘ zum Ausdruck kommt, insgesamt nicht sinnvoll. Die Lesart, nach der eine vergangene Fähigkeit in Bezug auf ein gleichzeitiges Ereignis ausgedrückt wird im Sinne von ‚Der war in der Vergangenheit in der Lage, sie besser zu loben‘, sei wenig informativ und daher dispräferiert (vgl. Diewald 1999: 376, 379).95 Als einzige sinnvolle Lesart bleibe die erkenntnisbezogene übrig, die eine syntaktische Reanalyse der Konstruktion erzwingt und damit die Grundlage für das neue, deiktische Modalverbsystem bildet. Eine m.E. einfachere Erklärung, die im Einzelnen durch sprachliche Tatsachen belegt werden müsste, ist die, dass durch eine semantische Abstraktion des Modalverbs in Folge der redundanten Qualifizierung der Situation durch ein Modalverb, das zum Beispiel eine körperliche oder geistige Fähigkeit bezeichnet, und ein verbales Infinitivkomplement, das eine entsprechende körperliche

|| 95 Dazu ist allerdings anzumerken, dass Verwendungen dieser Art trotz ihrer mutmaßlichen fehlenden Informativität auch heute häufig sind. Bei einem Modalverb im Indikativ Präteritum liegt dann häufig eine Faktizitätsimplikatur bezüglich der modalisierten Form vor. Dem Modalverb kommt in diesen Fällen vor allem die Funktion zu, die faktische Situation in Hinblick auf ihre Intendiertheit zu charakterisieren, z. B. Er konnte sie retten vs. Er musste sie loslassen, womit auch eine Wertung implizit ist. Dazu vergleiche man Abschnitt 6.3.

206 | Exkurs: Diachrone Entfaltung des Wortfelds und Entstehung der Lesarten

oder geistige Tätigkeit bezeichnet, zunehmend mehr verschiedene Verben als Komplementinfinitive auftauchen können. Für das Modalverb hätte dann aufgrund von Redundanzen eine „Beschränkung auf einen Teil des Vorstellungsinhalts“ im Sinne Hermann Pauls (1995: 91ff.) stattgefunden. Diese semantische Reduktion ist m.E. schon Voraussetzung für die in 5.2 beschriebenen Bedeutungsveränderungen, wenn z.B. ahd. kunnan zunehmend nicht mehr nur geistige, sondern zum Mittelhochdeutschen auch allgemeine Fähigkeiten, schließlich allgemeine Möglichkeiten ausdrücken kann. Die Konstruktion mit dem Infinitiv scheint die Voraussetzung, zumindest aber ein Katalysator für diese Entwicklung zu sein, die sich schon im Althochdeutschen für das konsequent mit dem Infinitiv stehende mugan zeigt und erst später für kunnan und thurfan, die vorerst noch überwiegend mit nominalem Komplement stehen. Das Modalverb kann seine qualifizierende Bedeutung dadurch aufgeben, dass diese „in einem syntaktisch angeknüpften Worte noch einmal ausgedrückt ist“ (ebd.: 92), eben im Infinitivkomplement, das die modalisierte Handlung etwa als Ausübung einer geistigen Fähigkeit qualifiziert, so dass die entsprechende Qualifizierung der Bedingungsrelation durch das Modalverb redundant wird. So verlieren sich ja auch im Laufe der Zeit die spezifisch qualifizierenden Bedeutungen eines körperlichen Vermögens, einer geistigen Fähigkeit, einer Schuld oder eines Bedürfnisses zugunsten einer abstrakten Position im modalen Szenario. Aus der Bedeutungsreduktion des Modalverbs folgte die Verwendung mit einem zunehmend größeren Repertoire von Komplementverben bzw. auch dem Infinitiv Perfekt als Verbform, die sich vorher nicht kombinieren ließen, weil sie mit der noch spezifischeren Bedeutung des (Prä-)Modalverbs, wie von Diewald beschrieben, keine sinnvoll interpretierbare Äußerung bildeten. Synchron ist eine nahezu uneingeschränkte Kompatibilität der Modalverben mit jedem beliebigen Verbinfinitiv zu beobachten, der, im jeweiligen Kontext gelesen, eine Spezifizierung der Bedingungsrelation zulässt.

6 Modalverbformen und Bedeutung In den Kapiteln 2 und 4 wurde die lexikalische Bedeutung der Modalverben allgemein bzw. im Einzelnen beschrieben. In Abschnitt 3.1 wird das Auftreten verschiedener Lesarten als Interpretationsprozess erfasst, der bei fehlender Passung der im Satz dargestellten Situation mit der semantischen Valenz des Modalverbs in Gang gesetzt wird und den Einbezug des Sprechers vorsieht. Die gemachten Aussagen wurden vorwiegend anhand von Verwendungen veranschaulicht und belegt, die überwiegend die bezüglich Tempus und Modus unmarkierten Formen des Indikativs Präsens enthielten. Daher blieben auch einige Verwendungsweisen ausgeklammert oder wurden nur am Rande erwähnt, die auf bestimmte markierte Tempus-Modus-Formen beschränkt sind, z.B. die erkenntnisbezogene Lesart von dürfte-. Gegenstand dieses Kapitels sind die markierten Tempus-Modus-Formen der Modalverben, insbesondere diejenigen Fälle, die in den Beschreibungen der Grammatiken und Literatur als Besonderheiten erscheinen und entsprechend als solche behandelt oder eben auch, mit der Begründung, sie seien idiosynkratisch, nicht behandelt werden. Grundlage sind einerseits quantitative Beobachtungen, d.h. Beobachtungen bezüglich der Gebräuchlichkeit bestimmter Formen, etwa die fehlende Verwendung von Imperativformen,96 die Feststellung, dass die Konjunktiv-Präteritum-Formen anders als bei anderen Verben „auch umgangssprachlich sehr gebräuchlich“ seien (vgl. Hentschel/Weydt 2003: 74; s. auch Diewald 1999: 192, Jäger 1971: 271, Welke 1965: 98, Zifonun u.a. 1997: 1268) oder dass die Modalverben statt im Perfekt „vorzugsweise im Präteritum verwendet“ werden (vgl. Helbig/Buscha 2001: 134). Andererseits sind es qualitative, d.h. bereits auf die Semantik bezogene, Phänomene, die beschrieben werden, wenn man für eine Verwendungsweise formale Beschränkungen feststellt oder umgekehrt bestimmten Tempus-ModusFormen eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Als formale Beschränkung erscheint so das ausschließliche Auftreten der Konjunktiv-PräteritumFormen dürfte- und sollte- von dürfen und sollen in i.e.S. erkenntnisbezogener, d.h. nicht quotativer, Lesart (vgl. z.B. Duden 2005: 565 und s. oben in 4.3 und

|| 96 Die Feststellung, dass die Formen nicht gebildet werden können (vgl. z.B. Hentschel/ Weydt 2003: 74), scheint mir nicht zutreffend oder zumindest missverständlich. Wolle/Wollt! Möge/Mögt! Solle/Sollt! Dürfe/Dürft! Könne/Könnt! Müsse/Müsst! sind offenbar ohne Probleme bildbar und, wenn man das sagen kann, morphologisch akzeptabel. Die Formen werden aber wohl nicht verwendet, weil es „komisch“ ist, von jemandem zu verlangen, etwa zu wollen, mögen, sollen, dürfen, müssen oder können. Und das hat sicherlich semantische Gründe.

DOI 10.1515/9783110540451-006

208 | Modalverbformen und Bedeutung

4.4). Hier sollte man dann nicht mit Blick auf das Gesamtparadigma davon sprechen, dass die anderen Formen in der Lesart fehlen oder nicht verwendet werden, sondern davon, dass die komplexen Formen die Lesart erst begründen. Als besondere Verwendungsweise erscheinen demgegenüber z.B. die Konjunktiv-Präteritum-Formen sollte- von sollen zum Ausdruck von Empfehlungen (vgl. Glas 1984: 80f.); ähnlich wird für die Konjunktiv-Präsens-Formen mögevon mögen auch in den Grammatiken eine besondere, heischende Funktion festgestellt (vgl. Zifonun u.a. 1997: 664ff.); und möchte- als Konjunktiv Präteritum von mögen hat einen sozialen oder pragmatischen Bedeutungsanteil, indem es dem höflichen Ausdruck eines Wollens dient, das dann oft als Wunsch aufgefasst wird (vgl. z.B. Brinkmann 1971: 393). Auf der Basis des modalen Szenarios soll gezeigt werden, wie sich die vielfältigen Idiosynkrasien, die das Verwendungsspektrum der Modalverben zeigt, erklären lassen durch den systematischen Bezug auf die szenisch angelegte Bedeutung der Modalverben. Dabei wird aufzuzeigen sein, dass und wie die Semantik der grammatischen Kategorien auf das modale Szenario abgebildet wird. Aus dessen Anlage als Bedingungsgefüge lässt sich dann auch erklären, dass viele Besonderheiten sich im Bereich der Konjunktiv-Präteritum-Formen finden, da der Konjunktiv Präteritum selbst Ausdruck von Bedingtheit ist. Den Einstig in das Kapitel bildet Abschnitt 6.1 zu den allgemeinen Merkmalen der Modalverbflexion, dem Formenbestand und besonderen formalen Merkmalen, die sie, zusammen mit wissen, als eigene Flexionsklasse, die so genannten Präteritopräsentien, auszeichnen. Es werden hier einige Überlegungen angestellt, ob und wie auch diese formalen Merkmale im Zusammenhang stehen mit der besonderen Bedeutung der Modalverben bzw. sie auch in ihrer spezifischen Qualität widerspiegeln. Unter den sich anschließenden Abschnitten 6.3 bis 6.7 bildet Abschnitt 6.5 zum Konjunktiv Präteritum einen Schwerpunkt, da hier eine Vielzahl von „Sonderfällen“ zu beschreiben ist. Diese werden daher ausnahmsweise in eigenen untergeordneten Abschnitten (6.5.1 bis 6.5.5) betrachtet. Umgekehrt wird unter den analytischen Tempus-ModusFormen nur der Konjunktiv Plusquamperfekt gesondert betrachtet (6.7), wohingegen die anderen analytischen Tempusformen, für die vor allem eine eingeschränkte Gebräuchlichkeit zu begründen ist, in Abschnitt 6.6 zusammen behandelt werden.

Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand | 209

6.1 Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand Der Formenbestand der Modalverben wird in den Grammatiken meist gesondert von der Semantik beschrieben, jedoch in der Regel ohne Hinweise, ob und wie die Besonderheiten im Paradigma der Modalverben mit ihrer modalen Semantik in Zusammenhang stehen könnten. In diesem Abschnitt soll der Formenbestand beschrieben und mögliche Bezüge zur Bedeutung der Modalverben aufgezeigt werden. Flexionsmorphologisch sind die Modalverben durch die so genannte präteritopräsentische Flexion gekennzeichnet, „merkwürdigerweise“ wie z.B. Hempel (1969: 235) diesen Umstand kommentiert. Die Herkunft aller Modalverben außer wollen in indogermanischen Perfektformen bringt somit neben der in Abschnitt 5.1 behandelten semantischen Grundlage der modalen Bedingtheitsstruktur auch formale Besonderheiten mit sich. Präteritopräsentisch heißt die Flexionsklasse, weil ihre Präsensformen seit germanischer Zeit den Präteritumformen der starken Verben entsprechen. Historisch liegen dem Präteritum der starken Verben wie dem Präsens der Präteritopräsentien jedoch indogermanische Perfektformen zugrunde, weshalb Werner (1994: 21) anmerkt, man müsse eigentlich von „Perfekto-Präsentien“ sprechen (vgl. auch Hempel 1969: 235).97 Demnach ist die Bezeichnung „Präteritopräsens“ vor allem als synchrone Charakterisierung zu verstehen, als ‚Verb mit Präsensformen, die wie (starke) Präteritumformen aussehen‘ und wird hier in Bezug auf das Neuhochdeutsche auch in diesem Sinne gebraucht. Nur wollen ist kein historisches Präteritiopräsens, hat sich aber Merkmale dieser Klasse angeeignet, so dass seine Flexion synchron ebenfalls als präteritopräsentisch beschrieben werden kann (vgl. Duden 2005: 465). Neben den Modalverben gehört noch wissen in diese Flexionsklasse, das auch historisch ein Präteritopräsens ist (vgl. z.B. Bikmann 1987: 66f.). Ein Merkmal der präteritopräsentischen Flexion ist die Endungslosigkeit der 1. und 3. Person Singular im Indikativ Präsens Aktiv, die sie mit den Präteritumformen der starken Verben98 gemeinsam haben (vgl. z.B. Admoni 1982: 165,

|| 97 Missverständlich ist daher die Beschreibung, die Präsensformen der Präteritopräsentien seien aus Präteritumformen entstanden (vgl. z. B. diese Erklärung bei Hentschel/Weydt 2003: 73, Zifonun u. a. 1997: 53). Die Präsensformen der Präteritopräsentien waren nie Präteritumformen, teilen mit ihnen aber die historische Herkunft im indogermanischen Perfekt. 98 Sofern -te als Präteritummorphem angesetzt wird (vgl. Thieroff/Vogel 2009), trifft dieses Merkmal auch auf die schwachen Verben zu.

210 | Modalverbformen und Bedeutung

Duden 1995: 465, Engel 2004: 245, Helbig/Buscha 2001: 114, Hentschel/Weydt 2003: 73). Dieses Merkmal hat auch wollen, das ursprünglich kein Präteritopräsens ist, angenommen (vgl. ich will, er will), beginnend im Althochdeutschen und ab dem Mittelhochdeutschen dann systematisch (vgl. Birkmann 1987: 158f., 217). Auch brauchen zeigt im Neuhochdeutschen Tendenzen zur Endungslosigkeit in der ersten und dritten Person des Singular im Indikativ Präsens (vgl. z.B. Engel 2004: 245). Die Sonderstellung des Indikativs Präsens, der bei den anderen Verben das einzige Teilparadigma bildet, in dem die 1. und 3. Person Singular unterschiedlich markiert sind (ich sag-e – er sag-t), liegt damit bei den Modalverben nicht vor (ich kann – er kann). Wenn diese Markierung vorliegt, wird ihre Funktion im Bezug auf die unmittelbar wahrnehmbare Situation gesehen, in der das Objekt der Rede zwar „deiktisch erreichbar“ und in der 3. Person durch t-Suffix als deiktisch entfernt markiert sei (vgl. Bredel/Töpler 2007: 835). Dass diese Erreichbarkeit des deiktisch Entfernten bei den Modalverben auch im Indikativ Präsens nicht kodiert wird, lässt sich darauf zurückführen, dass die im Satz dargestellte Situation immer nur als bedingt thematisiert und somit eben nicht deiktisch erreichbar ist. Das Präteritum wird, wie bei den schwachen Verben mit Dentalsuffix -te gebildet, das Partizip II mit Zirkumfix ge_t. Wie für die schwachen Verben, die, anders als die starken Verben, aus dem indogermanischen keine Perfektformen mitbrachten, musste bei den Präteritopräsentien das Präteritum im Germanischen neu gebildet werden, nachdem diese zwar indogermanische Perfektformen hatten, diese aber nicht wie bei den starken Verben im Übergang zum Germanischen das Präteritum stellten, sondern aufgrund entsprechender indogermanischer Präsensformen die germanische Präsensfunktion übernahmen (vgl. z.B. Gaeta 2000: 209, Duden 2005: 465). Bei den starken Verben sind die Formen des Präteritums immer durch Vokalwechsel markiert; das Partizip II zeigt in der Regel ebenfalls einen Vokalwechsel gegenüber den Präsens-Formen,99 außerdem wird es mit dem Zirkumfix ge_en gebildet, dem dentalhaltiges ge_(e)t bei den schwachen Verben entspricht. Der Vokalwechsel bei den starken Verben entspricht also in seinem Auftreten dem Dentalsuffix bei den schwachen Verben und den Präteritoprä-

|| 99 Von 14 Mustern des Vokalwechsels bei den starken Verben, die Helbig/Buscha (2001: 32ff.) unterscheiden, beinhalten fünf den gleichen Vokal im Präsens und im Partizip II. Das sind die Verben vom Typ essen, lesen, fallen, schaffen und laufen.

Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand | 211

sentien; durch beide Verfahren werden die Präteritum-Formen und das Partizip II gegenüber den Präsens-Formen (und dem Imperativ) markiert.100 Tab. 6.1: Präteritum und Partizip II mit Vokalwechsel und/oder Dentalsuffix bei starken Verben (singen), schwachen Verben (lachen) und Präteritopräsentien (wissen, können).

Ind. Präs. Singular

Ind. Präs. Plural

Konj. Präs. Ind.Prät.

Konj. Prät.

Partizip II

singen

singt

singen

singe

sang

sänge

gesungen

lachen

lacht

lachen

lache

lachte

lachte

gelacht

wissen

weiß

wissen

wisse

wusste

wüsste

gewusst

können

kann

können

könne

konnte

könnte

gekonnt

Die Präteritopräsentien zeigen dennoch einen charakteristischen Vokalwechsel, der gleichen Ursprungs (im indogermanischen Perfekt) ist wie der tempusmarkierende Vokalwechsel der starken Verben, sich jedoch aufgrund der abweichenden Verteilung im germanischen Tempussystem anders entwickelt hat. Anders als bei den starken Verben hat sich so bei allen Präteritopräsentien außer bei sollen der Vokalwechsel zwischen Singular und Plural im Indikativ Präsens erhalten; auch dieses Merkmal hat wollen sich angeeignet (vgl. Tab. 6.2). Tab. 6.2: Vokalwechsel zwischen Singular und Plural im Indikativ Präsens bei den Präteritopräsentien außer sollen.

1./3. P. Sg. Ind. Präs.

1./3. P. Pl. Ind. Präs.

wissen

weiß

wissen

mögen

mag

mögen

dürfen

darf

dürfen

müssen

muss

müssen

können

kann

können

sollen

soll

sollen

wollen

will

wollen

|| 100 Bei einigen starken Verben gibt es einen Vokalwechsel im Imperativ Singular und in der 2. und 3. Person Präsens des Indikativs (vgl. Helbig/Buscha 2001: 31), der hier nicht berücksichtigt wird, vgl. lesen: lies! du/er liest.

212 | Modalverbformen und Bedeutung

Für sollen liegen keine Wechsel des Stammvokals vor. Für die anderen Präteritopräsentien außer für wollen gibt es einen weiteren, die Tempus-ModusFormen markierenden Vokalwechsel, der sich jedoch nicht bei allen Lexemen gleichermaßen zeigt, sondern innerhalb der Flexionsklasse eine Opposition zwischen den Modalverben und dem Nicht-Modalverb wissen erzeugt. Tabelle 6.3 gibt einen Überblick über diesen Vokalwechsel bei wissen und den betroffenen Modalverben: Tab. 6.3: Stammformen der Präteritopräsentien mit charakteristischen Vokalwechseln der Modalverben mögen, dürfen, können und müssen im Vergleich zu wissen.

Infinitiv

Ind. Präs. Ind. Präs. Sg. Pl.

Konj. Präs. Ind.Prät.

Konj. Prät.

Partizip II

wissen

weiß

wissen

wisse

wusste

wüsste

gewusst

mögen

mag

mögen

möge

mochte

möchte

gemocht

dürfen

darf

dürfen

dürfe

durfte

dürfte

gedurft

können

kann

können

könne

konnte

könnte

gekonnt

müssen

muss

müssen

müsse

musste

müsste

gemusst

Für wissen erscheint der Wechsel zwischen i- und u-haltigem Stammvokal parallel zur Markierung mit Dentalsuffix; damit zeigen die Formen des Präteritums und das Partizip II vom Präsens abweichende Stammvokale, die in keiner anderen Form auftauchen. Man könnte hier von einer redundanten Tempusmarkierung sprechen. Für die Modalverben stellt sich dieser Wechsel anders dar: Hier sind es nur der Indikativ Präteritum und das Partizip II, die einen Vokalwechsel gegenüber dem im Präsens vorherrschenden Vokal zeigen, während im Infinitiv, im Plural des Indikativs Präsens sowie im Konjunktiv Präsens wie Präteritum der gleiche Stammvokal vorliegt. Parallelität mit der Tempusmarkierung durch Dentalsuffix liegt damit hier nicht vor. Bei müssen fällt der Stammvokal des Indikativs Präteritum und des Partizips II mit dem Vokal im Singular des Indikativs Präsens zusammen (muss musste - gemusst); für mögen, dürfen und können teilen der Indikativ Präteritum und das Partizip II einen Stammvokal, der aber vom Singular des Indikativs Präsens abweicht. Dennoch stehen diese Vokale als Nicht-Umlaute gemeinsam in Opposition zu den anderen Formen des Paradigmas und erscheinen damit auf gleiche Weise gegenüber diesen markiert. Der Umlaut im Paradigma der Modalverben und die Markierung einzelner Teilparadigmen durch Nicht-

Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand | 213

Umlaut-Vokale scheint damit an die semantisch bestimmte Gruppe der Modalverben gebunden zu sein;101 nur sollen und wollen verhalten sich hinsichtlich dieser Opposition neutral, indem sie keinen Umlautvokal als Stammvokal haben und, vom Singular des Indikativs Präsens bei wollen abgesehen, keinen Wechsel des Stammvokals zeigen.102 Die Opposition bzgl. Umlaut-Vokal scheint zunächst überwiegend durch den Modus motiviert zu sein: Konjunktiv ist eine hinreichende Bedingung für den Umlaut-Vokal, Indikativ Präteritum für einen Nicht-Umlaut-Vokal; im Indikativ Präsens und für die infiniten Verbformen muss weiter differenziert werden nach Numerus bzw. Perfektivität, indem hier Plural bzw. der (imperfektive) Infinitiv Umlaut-Vokal bedeutet und Singular bzw. das (perfektive) Partizip II Nicht-Umlaut-Vokal. Die übergeordnete Kategorie, in der die Konjunktive, der Infinitiv und der Plural des Indikativs Präsens einerseits dem Singular des Indikativs Präsens, dem Indikativ Präteritum und dem Partizip II gegenüber stehen, könnte Quantifikation sein: Der Infinitiv typisiert eine modale Bedingtheitsstruktur (vgl. Abschnitt 2.1) und referiert damit auf eine Menge von Einzelsituationen dieses Typs; der Konjunktiv markiert eine Alterität der Bedingungsrelation (vgl. Abschnitt 6.4) und der Plural bringt partizipantenbezogene Quantifikation zum Ausdruck. Demgegenüber bezeichnet das Partizip II durch seine resultative Semantik eine Einheit, im Indikativ Präteritum erscheint die Situation durch ihre zeitliche Verortung abgeschlossen und vereinzelt, im Singular schließlich in Bezug auf einen einzelnen Subjektreferenten. Wollen und sollen sind über ihren initiativen Instanzenbezug immer schon definit; ebenfalls instanzenbezogene mögen und dürfen sind hingegen über ihre Reaktivität von der modalisierten Situation abhängig und damit hinsichtlich ihrer Definitheit unmarkiert, d.h. als indefinit zu charakterisieren (vgl. dazu auch die Abschnitte 4.2 und 4.4).103

|| 101 Ramat (1971: 179) spricht von einem „morphosemantischen Paradigma“ oder „morphosemantischen Feld“, das sowohl durch semantische als auch durch morphosyntaktische Merkmale begrenzt ist. 102 Den Umlaut-Vokal als Stammvokal des Infinitivs mit der modalen Semantik der Modalverben in Zusammenhang zu bringen, mag gewagt erscheinen und ist für die Zwecke dieser Arbeit auch nicht notwendig. Dennoch ist es auffällig, dass die andere Gruppe deutscher Verben, die systematisch einen Umlaut-Vokal im Infinitivstamm aufweisen, ebenfalls durch eine kausal basierte semantische Grundstruktur bestimmt sind; es sind die so genannten Kausativa, die eine Handlung als von außen veranlasst, also in gewisser Weise bedingt, bestimmen. Vgl. z.B. fällen, füttern, hängen, legen, setzen, tränken etc. 103 Für brauchen existieren alternative, durch Umlaut markierte Formen für den Konjunktiv Präteritum, z.B. bräuchte gegenüber brauchte. Im LIMAS-Korpus sind diese Formen kaum

214 | Modalverbformen und Bedeutung

Neben den Besonderheiten des Vokalwechsels weisen die Grammatiken einhellig darauf hin, dass es keinen Imperativ der Modalverben gebe (vgl. z.B. Duden 2005: 465, Eisenberg 2006: 91, Engel 2004: 245, Hentschel/Weydt 2003: 74, Welke 1965: 14). Sofern die Formen der Modalverben als präteritopräsentische Flexion zusammen mit wissen beschrieben werden, wird darauf hingewiesen, dass von wissen allerdings ein Imperativ wisse! / wisst! möglich sei (Duden 2005: 465). Auch hier liegt demnach eine Spezifik der Modalverben vor. So wird auch teilweise richtig bemerkt, wenn auch nicht ausgeführt (vgl. z.B. Duden 2005: 465, Helbig/Buscha 2001: 185), dass diese Einschränkung mit der Bedeutung der Modalverben zusammenhänge: Das (grammatische) Subjekt eines Modalverbs, das im Imperativ als Aufgeforderter erscheint, ist Teil der modalisierten Situation, die als ganze durch das Modalverb als bedingt erscheint; über diese Bedingtheit, die im Modalverb ausgedrückt ist, hat das Subjekt keine Kontrolle, sondern ist allenfalls von ihr betroffen. Eine Aufforderung setzt aber die Kontrollierbarkeit des Geforderten durch den Aufgeforderten voraus, die jedoch bei den Modalverben nicht gegeben ist. Bei wollen (und mögen) ist die vom Modalverb ausgedrückte Bedingungsrelation, zumindest in einer Lesart, in der im Subjekt gegebenen persönlichen Instanz verortet, so dass der mit dem Imperativ Aufgeforderte zumindest Zugang zu der Bedingungsrelation hat, die Gegenstand der Forderung ist; dies ist jedoch nicht mit Kontrolle identisch. So lässt sich aber vielleicht der Imperativ im Kant-Zitat Wolle nur, was du sollst, so kannst du, was du willst erklären, das Hentschel/Weydt (2003: 74) nennen, aber als Ergebnis „dichterische[r] Freiheit“ ansehen.104

|| vertreten; es findet sich nur zwei Belege, jeweils für bräuchte in der 1. Person Singular mit nominalem Komplement, z. B. Ins Theater gehen und was einkaufen, wenn ich was bräuchte. (bra-244). Im Deutschen Referenzkorpus DeReko am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim (http://www.ids- mannheim.de/kl/projekte/korpora/ [24.5.2013]) sind die Belegzahlen hingegen wesentlich höher. Die absoluten Häufigkeiten der Präteritum-Formen (Indikativ und Konjunktiv) mit und ohne Umlaut lauten wie folgt: brauchte/bräuchte: 46.687 Belege ohne, 12.906 mit Umlaut; brauchtest/bräuchtest: 79 Belege ohne, 133 mit Umlaut; brauchten/bräuchten: 20.261 Belege ohne, 11.897 mit Umlaut; brauchtet/bräuchtet: 8 Belege ohne, 17 mit Umlaut. Auffällig ist, dass in der 2. Person die Formen mit Umlaut die ohne Umlaut überwiegen. Dies erscheint als weiterer Hinweis darauf, dass der Umlaut die Alterität, und damit verbundene Quantifizierung, der Instanzen ikonisch abbildet. 104 Unter Umständen gilt für das Zitat wie auch für Imperativformen der anderen Modalverben, die ja durchaus gebildet werden können, dass durch sie ein, unter Umständen gewollter, Bruch hergestellt wird zwischen durch die Aufforderung suggerierter Kontrollierbarkeit und im Modalverb enthaltener Unkontrollierbarkeit. Ein Effekt könnte sein, nur scheinbar unkontrollierbare, zwingende Umstände als kontrollierbar herauszustellen.

Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand | 215

Eine Besonderheit im Bereich der analytischen Formen ist die Bildung der Perfekttempora (inklusive des Infinitiv Perfekt im Futur II), die statt mit dem Partizip II mit dem so genannten Ersatzinfinitv erfolgt (vgl. Duden 2005: 473, 478f., Helbig/Buscha 2001: 98, 115, Hentschel/Weydt 2003: 74, Zifonun u.a. 1997: 1254f.);105 vgl. etwa Beispiel (142) mit Ersatzinfinitv (hat müssen) statt mit Partizip II (hat gemusst): (142)

denn unter dieser Last hat er fast vier Jahre lang leben müssen. (mue-1461)

Das Partizip II erscheint als infiniter Teil der Perfektform, wenn kein verbales, sondern ein nominales, adverbiales oder präpositionales Komplement vorliegt (vgl. Duden 2005: 473, Helbig/Buscha 2001: 98, 115, 123; zu den Komplementtypen vgl. 7.1); vgl. Beispiel (143) aus dem LIMAS-Korpus und (144) aus dem St. Galler Tagblatt (DeReKo): (143)

Die haben Krieg gewollt. (wo-942)

(144)

Ständig habe sie in die Türkei gewollt. (DeReKo: St. Galler Tagbl., 27.05.2010, S. 37)

Bei nominalem Komplement ist der Ersatzinfinitiv ungrammatisch, bei präpositionalem Komplement mindestens stark markiert; vgl. die Modifikationen in (143)' und (144)': (143)'

*Die haben Krieg wollen.

(144)'

???Ständig habe sie in die Türkei wollen.

Man kann hier von einer „Aspektualitätskongruenz“ mit dem Komplement bzw. dessen Wortartsemantik sprechen, indem Verben prototypisch relationale, somit imperfektivische, Semantik haben und Nomina abgeschlossene Entitäten bezeichnen, daher perfektivische Semantik haben, was der imperfektivischen oder zumindest unbestimmten Aspektualität des Infinitivs bzw. der perfektivischen Aspektualität des Partizips II (vgl. Bredel/Töpler 2007: 854f.) als jeweils

|| 105 Engel (2004: 210) spricht von einem „infinitivförmige[m] Partizip II“, was jedoch eine Vermischung der Formkategorie „Partizip II“ mit der Funktionskategorie des infiniten Teils einer Perfekttempusform bedeutet.

216 | Modalverbformen und Bedeutung

infinitivischem Teil der analytischen Modalverbform entspricht.106 Direktionale stehen mit ihrer terminativen Semantik, die sowohl eine (Bewegungs-)Relation, vor allem aber das Ziel als lokale Entität beinhaltet, dazwischen. Diese Aspektualitätskongruenz mag als Hinweis darauf gelten, dass die Modalverben in den genannten Konstruktionen noch eher auf die beteiligten Entitäten als auf die zwischen ihnen bestehenden Relationen bezogen verstanden werden können. Bei verbalen Komplementen, die ja gar nicht unbedingt mehrere Entitäten einbringen, zwischen denen die Relationen bestehen würden, wird hingegen die Bezug auf ein imperfektivisches Komplement angezeigt; dies geschieht durch die dieser Aspektualität entsprechende Infinitivform des Modalverbs in der analytischen Verbform in Form des so genannten Ersatzinfinitivs.107 Im LIMAS-Korpus sind Perfektformen mit nominalen, adverbialen oder präpositionalen Komplementen überhaupt nur für wollen und mögen enthalten; hier erscheint das Modalverb dann stets im Partizip II. Das Passiv schließlich,

|| 106 Dazu passen auch die anderen Verwendungskontexte des Partizips II der Modalverben: Außer in analytischen Verbformen kommt es attributiv oder adverbial, dann als objektbezogenes prädikatives Attribut, daneben auch prädikativ, dann lexikalisiert als Adjektiv, vor, z.B. Doch die Bildaussage bleibt im Bereich des Oberflächlichen, auch wenn die Darstellungstechnik sehr sachgerecht und gekonnt ist. (DeReKo: Saarbrücker Zeitung, 22.09.2000). Das Partizip I tritt sehr selten attributiv mit subjektbezogen prädikativer Funktion auf, wobei das Modalverb auch in erfahrungs- oder erkenntnisbezogener Lesart erscheinen kann. Auch hier sind keine Belege im LIMAS-Korpus vorhanden, weshalb hier einige Beispiele aus dem DeReKo genannt werden. Weil sie besonders interessant erscheinen, wurden Belege für die nicht-handlungsbezogene Lesarten ausgewählt: [...] heute tatsächlich antiquiert wirken mögende Begriffe wie Avantgarde [...] (DeReKo: Standard, 11.01.2006, S. 24); [...] mit dem Menschen nicht gefährlich werden könnenden Faulbrutsporen [...] (DeReKo: SK, 20.03.2003); Der Juror Schulmeister – irgend etwas verwechselt haben müssend - [...] (DeReKo: Der Tagesspiegel, 27.04.2003); [...] Widerstand der sich dort verschanzt haben sollenden Lokalpolitiker; (DeReKo: Saarbrücker Zeitung, 15.02.2012); Die der Lehrerin bekannt sein dürfende offene Antwort des Leiters der SZ-Lokalredaktion, Frank Oehl, vom 1. November 2005 [...] (DeReKo: Sächsische Zeitung, 17.03.2006, S. 21); Die Aussagen der (nicht gesehen haben wollenden) Umstehenden [...] (DeReKo: TV, 11.08.2001). Dass die Modalverben insgesamt sehr selten im Partizip I vorkommen ist m.E. nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer modalen Semantik zu sehen, sondern ergibt sich aus ihrer Eigenschaft als Zustandsverben; wie die Semantik des Progressivs ist die des Partizips I dynamisch und daher mit der stativen Semantik von Zustandsverben nicht kompatibel (vgl. Rothstein 2007: 9). 107 Auch die finiten, synthetischen Formen des Modalverbs im finiten Modalverbkomplex müssten bezüglich des in ihnen enthaltenen Modalverbteil infinitivisch-imperfektivisch gelesen werden, ist doch die Finitheit in Person und Numerus vom Subjekt gesteuert, das nicht vom Modalverb, sondern vom komplementierenden Verb regiert wird.

Modalverbflexion: präteritopräsentische Merkmale und Formenbestand | 217

ebenfalls eine analytische Verbform, wird als bei den Modalverben praktisch nicht vorhanden betrachtet (vgl. Helbig/Buscha 2001: 116, Welke 1965: 14, Zifonun u.a. 1997: 1255). Sofern es auftritt, wird das Passiv regulär mit einer Form von werden und Partizip II des Modalverbs gebildet. Relativiert wird die „fehlende Passivierbarkeit“ in der IDS-Grammatik durch den Hinweis auf eingeschränkte Verwendungen des Passivs bei wollen, können und müssen (vgl. ebd.). Das Beispiel dort, in dem müssen hervorgehoben ist, enthält allerdings nur ein Komplement im Passiv, nicht jedoch das finite Modalverb selbst.108 Für passivisches wollen gelte eine Präferenz satzwertiger Komplemente (vgl. ebd.). Diese weisen im Gegensatz zu verbalen Komplementen perfektive Aspektualität auf, indem sie ganze, somit abgeschlossene, Situationen bezeichnen. Hierin verhalten sie sich wie nominale Komplemente, die sich in Belegen für die Modalverben im Passiv vor allem finden. Nicht im LIMAS-Korpus, aber im DeReKo wurden entsprechende Belege für mögen (vgl. (145)), dort sogar vergleichsweise häufig, aber auch für wollen und können (vgl. (146) bzw. (147)) gefunden: (145)

Und Kämpfer werden vom Publikum gemocht. (DeReKo: Standard, 11.01.2014, S. 22)

(146)

Abschlussprüfungen an Realschulen werden von uns nicht gewollt. (DeReKo: Saarbrücker Zeitung, 11.02.2000)

(147)

Zuerst wird der Umgang mit Textverarbeitungsprogrammen geübt. Größe, Schriftart, Blocksatz, Fehlerkorrektur, Ausschneiden, Kopieren, Einfügen und Verschönern von Texten mit Cliparts wird bald gekonnt. (DeReKo: Saarbrücker Zeitung, 10.05.2004)

Belege des Zustandspassiv sind kaum von prädikativen Kopulakonstruktionen zu unterscheiden, in denen das Partizip II der Modalverben als Adjektiv lexikalisiert erscheint; insbesondere für gekonnt ist die Semantik deutlich im Sinne von ‚professionell‘ spezifiziert. (148)

Unruhe in der gegnerischen Abwehr ist dagegen gewollt. (DeReKo: SBZ04/MAI.09465 Saarbrücker Zeitung, 26.05.2004)

(149)

Die Improvisation ist gekonnt. (DeReKo: SBZ04/MAI.09465 Saarbrücker Zeitung, 26.05.2004)

|| 108 Das Beispiel lautet Auch sterben muß gekonnt sein/werden. (Zifonun u. a. 1997: 1255, Hervorhebung im 1 06 Original). Der Infinitiv Passiv von können ist Komplement.

218 | Modalverbformen und Bedeutung

Dass bzw. wie die besonderen formalen Eigenschaften der Modalverben in Zusammenhang stehen könnten mit ihrer besonderen Semantik, bleibt in Fachliteratur wie Grammatiken meist implizit und wird eher damit in Verbindung gebracht, dass die Modalverben eine besondere Funktion haben, als mit der spezifischen Bedeutung, auf der diese Funktion beruht. So findet sich in der Duden-Grammatik (2005: 465) der Hinweis, dass brauchen der Bedeutung nach zu den Modalverben gehöre und sich ihnen flexionsmorphologisch annähere. Dies impliziert einen Zusammenhang von Semantik und Flexionsmorphologie, der eine Affinität von modaler Bedeutung und präteritopräsentischer Flexion voraussetzt. Nach Birkmann (1987: 55f.) stehen die Besonderheiten der präteritopräsentischen Flexionsklassen in enger Beziehung zu der Modalverbfunktion der meisten ihrer Mitglieder (auch wissen ist ein Präteritopräsens). Aus der Perspektive einer natürlichen Morphologie garantiert die Modalverbbedeutung als außermorphologische Motivation der Flexionsklasse deren Stabilität (ebd.: 55). Im Sinne der Sprachökonomie erklärt sie, warum sich diese Besonderheiten, die die Kompetenz der Sprachnutzer stärker belasten als regelmäßig(er)e Bildungen, im synchronen Sprachgebrauch trotzdem „lohnen“: Modalverben sind hochfrequente sprachliche Einheiten, wodurch kurze Flexionsformen eine Ersparnis bedeuten (vgl. ebd.: 56f.). Darüber hinaus erzeuge die fehlende regelmäßige Ableitbarkeit der Formen voneinander eine Redundanz, die auf Hörerseite das Verständnis der hochfrequenten, oft unbetonten Einheiten sichert. Diesen Vorteil bewertet Birkmann (ebd.: 57) als den bedeutenderen. Nachdem hier formale Merkmale der Modalverbparadigmen insgesamt aufgeführt und mögliche Hinweise auf einen Zusammenhang mit ihrer Bedeutung aufgezeigt wurden, werden im Folgenden nacheinander die markierten Tempus-Modus-Formen in ihrer Bedeutung betrachtet. Der Abschnitt zum Indikativ Präsens dient, insbesondere in Hinblick auf die Verteilung der Formen im LIMAS-Korpus, der Einführung einer Vergleichsfolie, von der sich die markierten Flexionsformen abheben. Wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, dass sich hinter den verschiedenen Lesarten eines Modalverblexems eine einheitliche Grundbedeutung desselben verbirgt, die seine lexematische Einheit begründet, soll hier dafür argumentiert werden, dass sich die teils besondere Bedeutung einzelner Formen kompositionell zurückführen lässt auf die jeweilige lexikalische Bedeutung des Modalverblexems und die Bedeutung der beteiligten grammatischen Kategorien. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Absatz zum Konjunktiv Präteritum. Dass diese komplexe Bedeutung einer Flexionsform als besonders oder verselbstständigt aufgefasst wird, ist dann darauf zurückzuführen, dass sich die komplexe Bedeutung zur Erfüllung bestimmter kommunikativer Aufgaben be-

Indikativ Präsens: Unmarkierte Vergleichsfolie | 219

sonders gut eignet, entsprechend häufig dafür verwendet wird und einen eigenen Eintrag im mentalen Lexikon der Sprecher erhält. Person und Numerus sind als Kongruenzmerkmale über syntaktische Bezüge von der dargestellten Situation her motiviert und werden in Kapitel 7 noch genauer betrachtet.

6.2 Indikativ Präsens: Unmarkierte Vergleichsfolie In den vorhergehenden Abschnitten, insbesondere in Kapitel 4, standen die Formen des Indikativs Präsens bei der grundlegenden semantischen Beschreibung der Modalverben und ihrer Lesarten im Vordergrund. In diesem Kapitel bilden Sie daher die Vergleichsfolie, vor der sich mutmaßliche Besonderheiten oder Idiosynkrasien der bzgl. Tempus und Modus markierten Formen zutage treten. Da neben den (vermeintlichen) semantischen Spezifika auch betrachtet werden soll, ob und wie sich Unterschiede in der Gebräuchlichkeit der Formen niederschlagen, gibt Tabelle 6.4 die Frequenzen der Indikativ-Präsens-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus wieder. Tab. 6.4: Absolute und relative Häufigkeiten der Indikativ-Präsens-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus.

wollen

mögen

sollen

dürfen

müssen

können

SUMME

765

194

1.152

408

1.777

3.754

8.050

9,5%

2,4%

14,3%

5,1%

22,1%

46,6%

100%

In Tabelle 6.5 ist wiedergegeben, wie sich die Indikativ-Präsens-Formen auf die drei zentralen Lesarten verteilen (vgl. auch Tabelle 4.2).

220 | Modalverbformen und Bedeutung

Tab. 6.5: Absolute und relative Häufigkeiten der handlungs-, erfahrungs- und erkenntnisbezogenen Lesart der Indikativ-Präsens-Formen nach Modalverblexem im LIMAS-Korpus (vgl. Tabelle 4.2).

wollen

mögen

sollen

dürfen

müssen

können

SUMME

handlungsbezogen

754 98,6%

30 15,5%

1.063 92,3%

408 100%

1.623 91,3%

3.013 80,3%

6.891 85,6%

erfahrungsbezogen

9 1,2%

90 46,4%

11 0,9%

0 -

68 3,8%

681 3,8%

859 10,7%

erkenntnisbezogen

2 0,3%

74 38,1%

78 6,8%

0 -

86 4,9%

60 1,6%

300 3,7%

Insbesondere dieses, für ein Teilparadigma jeweils spezifische, „Lesartprofil“ wird in den folgenden Abschnitten als Grundlage des Vergleichs mit den Lesartprofilen der anderen Tempus-Modus-Formen herangezogen.

6.3 Indikativ Präteritum: Faktizität und historisches Futur Ein erster Hinweis auf eine besondere Bedeutung der Indikativ-PräteritumFormen von müssen findet sich bei Helbig/Buscha (2001: 119) in einer Anmerkung zu sollen in handlungsbezogener Lesart, das hier von müssen abgegrenzt wird: In den Vergangenheitstempora werde „mit müssen [...] die Handlung als realisiert gesehen, mit sollen bleibt die Realisierung offen“ (vgl. auch Abraham 2010: 15f., Heine 1995: 34, Raynaud 1976: 229). Das folgende Beispiel aus dem LIMAS-Korpus veranschaulicht einen solchen Fall: (150)

Er mußte sie stützen. (mue-39)

In (150) wird nicht (nur) ausgesagt, dass in der Vergangenheit eine Notwendigkeit bestand, jemanden zu stützen, sondern vielmehr, dass jemand tatsächlich gestützt wurde. Das Modalverb müssen gibt dabei an, dass es ein handlungsbezogener Zwang war, der zur Situation geführt hat: (150)'

Er stützte sie, weil er musste.

Abraham (2010: 15f.) stellt fest, dass sich musste- und konnte- wie „implikative Verben“ verhalten. Er verweist hier auf Karttunen (1971), der implikative Verben im Gegensatz zu faktiven Verben wie wissen und erkennen als solche beschreibt,

Indikativ Präteritum: Faktizität und historisches Futur | 221

die eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine im Komplement ausgedrückte Situation bezeichnen, und dabei auch die modale Verbindung be able fürs Englische nennt (vgl. ebd.: 358). Eine Modifikation des Beispiels durch Ersetzung des Modalverbs mit sollen zeigt, dass dieser Effekt vom Modalverblexem abhängt: (150)''

Er sollte sie stützen.

In (150)'' erscheint im Gegensatz zu (150) nur die Bedingungsrelation als faktisch: Es bestand eine Aufforderung an ihn, sie zu stützen. Nicht deutlich wird, ob die modalisierte Situation realisiert wurde. Wie im Indikativ Präsens erscheint die modalisierte Situation als nachzeitig gegenüber der Bedingungsrelation und als bezüglich ihrer Faktizität unbestimmt, wenngleich ihre grundsätzliche faktische Entschiedenheit aufgrund der Vorzeitigkeit impliziert ist. Die Abbildungen 6.1 und 6.2 sollen die Verhältnisse im modalen Szenario veranschaulichen, wobei der durchgezogene dicke graue Pfeil für die modalisierte Situation in 6.1 die ausgedrückte Faktizität der Situation bei musste- symbolisiert (vgl. auch Kapitel 2.1), wohingegen der entsprechende gestrichelte Situationspfeil in 6.2 die Unbestimmtheit der Faktizität anzeigen soll.

Abb. 6.1: Temporale Beziehungen und Faktizität im Indikativ Präteritum musste- anhand von Beispiel (150): Er mußte sie stützen.

222 | Modalverbformen und Bedeutung

Abb. 6.2: Temporale Beziehungen und Faktizität im Indikativ Präteritum sollte- anhand von Beispiel (150)': Er sollte sie stützen.

Es ist nun zu klären, wie dieser Unterschied zustande kommt, der sich doch offenbar im Präsens nicht in gleicher Form zeigt. Abraham (2010: 16) bezeichnet den Effekt bei müssen (und können) als typisch für perfektive Verben und nennt ihn ein „Überschreiben“ der Modalität durch das Tempus. Indem die Modalverben sich hier, wie für die handlungsbezogene Lesart typisch (vgl. Abschnitt 7.2.1), auf eine Handlung als zeitlich begrenztes Ereignis beziehen, eröffnen sich zwei „Zugriffsphasen“, eine emergente Phase, in der das Ereignis angebahnt wird, und eine Resultatphase, die dem Ereignis folgt (vgl. ebd.: 16). Der Übergang zwischen diesen Phasen ist etwa die Erreichung des impliziten Ziels bei telischen Verben oder das Ende einer notwendig zeitlich begrenzten Handlung. Im Präsens liege nun Bezug auf die emergente Phase vor, die ja den abschließenden Vollzug noch offen lässt, im Präteritum hingegen sei die gesamte Konstruktion betroffen (Abraham spricht von „pRealisierung [...] für die gesamte Konstruktion“, 2010: 17). Diese Argumentation ist soweit nachvollziehbar und verläuft auch für musste- und konnte- parallel zu der hier anhand des modalen Szenarios vorgeschlagenen, indem emergente und Resultatphase bei Abraham dem Gefüge aus Bedingungsrelation und modalisierter Situation entsprechen. Sie erklärt aber nicht, warum sich aus der zweiphasigen Struktur des Komplements und den damit einhergehenden alternativen Zugriffsmöglichkeiten bei musste- (und konnte-), nicht aber bei sollte-, eine Faktizitätsimplikatur einstellt. In Kapitel 4 wurde zwar beschrieben, dass sollen im Vergleich zu müssen regelmäßig ein geringerer Verbindlichkeitsgrad zukommt, dennoch wird im Indikativ Präsens weder bei sollen noch bei müssen die modalisierte Situation so deutlich als faktisch dargestellt wie dies in (150) der Fall ist. Der semantische

Indikativ Präteritum: Faktizität und historisches Futur | 223

Effekt hat also offenbar mit dem Präteritum zu tun bzw., wie Helbig/Buscha (2001: 119) feststellen, mit dem Vergangenheitsbezug, der durch das Präteritum im Indikativ zum Ausdruck kommt. „Das Präteritum bezeichnet vergangene Sachverhalte“ (Helbig/Buscha 2001: 133, vgl. auch Duden 2005: 517, Hentschel/Weydt 2003: 112, Zifonun u.a. 1997: 1697). In dieser Beschreibung stimmen die allgemeinen Darstellungen in den Grammatiken überein. Oft wird sie durch die Reichenbachschen Termini von Ereigniszeit (E), Sprechzeit (S) und Referenzzeit (R) spezifiziert (vgl. Reichenbach 1999: 273ff.).109 In diesen Termini drückt das Präteritum die Vorzeitigkeit einer Referenzzeit vor der Sprechzeit und eine Gleichzeitigkeit der Ereigniszeit mit der Referenzzeit aus, also etwa: R